Fred Saberhagen
DIE GESTÄNDNISSE DES GRAFEN DRACULA Aus dem Amerikanischen von Malte S. Sembten
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Fred Saberhagen
DIE GESTÄNDNISSE DES GRAFEN DRACULA Aus dem Amerikanischen von Malte S. Sembten
FESTA
1. Auflage Mai 2006 Originaltitel: The Dracula Tape © 1975 by Fred Saberhagen © dieser Ausgabe 2006 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild und Umschlaggestaltung: Malte S. Sembten Literarische Agentur: Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen Druck und Bindung: PBtisk s.r.o. Pribram Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-86552-033-3
Saberhagen, Jahrgang 1930, Autor mehrerer Horror- und SF-Romane und einst Mitherausgeber der Encyclopedia Britannica, schuf mit seinen 1975 veröffentlichten „Geständnissen“ eine Neuinterpretation des genrebildenden „Dracula“Romans von Bram Stoker, der 1897 erschien. Während Graf Dracula in Stokers Original das Sinnbild des Bösen ist, der unschuldige Mädchen verfuhrt und sie aus Blutdurst und Lust zu Vampiren werden lässt, wirkt er bei Saberhagen als integrer, sympathischer Kunstmensch mit Witz und Esprit, fast unschuldig. Hier sind die Vampirjäger Van Helsing und Harker die Unehrenhaften, die Dracula aus seiner neuen englischen Heimat vertreiben und ihn von seiner großen Liebe Mina, der Verlobten Harkers, trennen wollen. Eine geistreiche, verhalten schaurig-morbide Liebesgeschichte, vom Untoten selbst mit gewissem Hintersinn auf Tonband gesprochen, während ein Urenkel Harkers mit seinem Wagen im Schneesturm feststeckt. Eine großartige Neuentdeckung, bei der Horrorfreunde (besonders bei Kenntnis des Originals) vielerorts und oft zugreifen werden.
Der folgende Text ist die Abschrift eines Tonbandes, das zwei Tage nach dem ungewöhnlich heftigen Schneesturm in Devon im Januar dieses Jahres in einem Aufnahmegerät auf dem Rücksitz eines Automobils gefunden wurde, dessen Besitzer Mr. Arthur Harker aus Exeter ist. Mr. Harker und seine Frau Janet, die beide an Entkräftung und Unterkühlung litten, wurden am Morgen nach dem Höhepunkt des Sturmes im All Saints Hospital in Plymouth aufgenommen. Sie berichteten, ihr Auto gegen Mitternacht auf einer unpassierbaren Straße zurückgelassen zu haben, doch gaben sie scheinbar nie eine überzeugende Erklärung dafür ab, warum sie die relative Sicherheit ihres Fahrzeugs zu einer Stunde aufgegeben hatten, als der Sturm am schlimmsten wütete, oder wann genau sie Plymouth erreichten. Das All Saints Hospital liegt gut dreißig Kilometer von dem Ort entfernt, an dem ihr Wagen in einer Schneeverwehung auf der Upham Road gefunden wurde, unmittelbar vor dem St.-Peter’s-Friedhof und buchstäblich am Rande von Dartmoor. Die körperliche Verfassung des Ehepaares Harker und der Zustand ihrer Kleidung beim Erreichen des Krankenhauses lassen vermuten, dass sie einen längeren Fußmarsch über Land hinter sich hatten. Ihr Wagen wurde unbeschädigt aufgefunden, und obwohl sämtliche Türen und Fenster verschlossen waren, steckte der Schlüssel im Zündschloss, bei ausgeschaltetem Motor. Der Tank war etwa zu einem Drittel gefüllt. Die Stimme auf dem Tonband ist männlich und ziemlich tief Sie spricht Englisch mit einem unbestimmbaren, leichten Akzent. Drei Sprachspezialisten, die zu ihrer Analyse herangezogen wurden, äußerten drei unterschiedliche Meinungen, was die Muttersprache ihres Besitzers betrifft. Die mäßige Aufnahmequalität des Tonbandes und die Hintergrundgeräusche, die sich darauf finden, stimmen laut
Meinung technischer Experten mit der Annahme überein, dass das Band in einem Fahrzeug aufgenommen wurde, während der Motor im Leerlauf lief, Heizung und Gebläse arbeiteten und draußen heftige Windstöße gingen. Die Harkers tun das Tonband als »Scherz« ab, leugnen alles Interesse daran und verweigern jeden weiteren Kommentar. Es wurde zuerst von Mitgliedern eines Rettungsteams abgespielt, die das Auto fanden und vermuteten, das Band beinhalte eine Notbotschaft der Wageninsassen. Aufgrund der Anspielungen auf Gewaltverbrechen, die es enthält, brachten sie das Band den zuständigen Behörden zur Kenntnis. Ein stichhaltiger Beweis für eine Verbindung des Tonbands mit dem mutmaßlichen Vandalismus und Leichenraub auf dem St.Peter’s-Friedhof dessen Untersuchung noch andauert, wurde nicht gefunden.
… Nur ein Knopfdruck, und meine Worte werden hier elektrisch für die Welt festgehalten. Wie schön. Nun, da wir es endlich auf uns nehmen, die Wahrheit zu erzählen. Welcher wirklichen Verbrechen kann ich beschuldigt werden, welcher so überaus grässlicher und verdammenswerter Sünden? Sie werden mich für den Tod von Lucy Westenra verantwortlich machen, wie ich vermute. Ah, ich würde meine Unschuld beschwören, doch welchen Schwur könnte ich leisten, dem sie gegenwärtig Glauben schenkten? Später, wenn Sie begonnen haben, ein paar Dinge zu verstehen, dann werde ich vielleicht schwören. Die liebreizende Lucy lag in meinen Armen, das ist wahr. Doch niemals gegen ihren Willen. Weder auf sie noch sonst irgendeine Frau habe ich jemals Zwang ausgeübt. An dieser Stelle flüstert eine andere, unidentifizierbare Stimme ein oder zwei unverständliche Worte.
Ihre Urgroßmutter Mina Harker? Sir, Sie werden mich gleich lachen hören wie einen Irrsinnigen, dabei ist es Jahrhunderte her, seit ich zum letzten Mal lachte, und nein, ich bin nicht wahnsinnig. Möglicherweise haben Sie kaum eine einzige Silbe von dem geglaubt, was ich Ihnen bisher sagte. Dennoch werde ich weitersprechen, zu dieser Aufzeichnungsmaschine, also können Sie ebenso gut zuhören. Und Sie beide sind trefflich gewappnet, zumindest ihrer eigenen Einschätzung nach, gegen alles, was ich vielleicht versuchen könnte Ihnen anzutun. Ihre Hand umklammert diesen Schraubenschlüssel, mein werter Mr. Harker, dass die Knöchel weiß hervortreten, und um den lieblichen Hals ihrer geschätzten Gattin hängt etwas, das Ihnen noch besser helfen sollte, sofern all die Berichte wahr sind, als selbst ein solch verlässliches Hiebinstrument. Das Problem ist nur, dass all diese Berichte mitnichten wahr sind. Ich wette, dass ich der letzte Fremde bin, den Sie jemals aus einem Sturm heraus in ihrem Fahrzeug willkommen heißen würden. Aber ich will Ihnen nichts Böses. Sie werden schon sehen, lassen Sie mich einfach reden. Lucy habe ich nicht getötet. Nicht ich war es, der den großen Pflock durch ihr Herz trieb. Nicht meine Hände schnitten ihren liebreizenden Kopf ab oder füllten ihren atemlosen Mund – diesen Mund – mit Knoblauch, als handelte es sich um ein Spanferkel, angerichtet für irgendein Gelage von Barbaren. Nur widerwillig machte ich sie zur Vampirin, und sie wäre auch nie ein Vampir geworden, wären da nicht dieser Narr Van Helsing und seine Taten gewesen. Narr ist noch einer der freundlichsten Namen, der mir für ihn einfällt… Und Mina Murray, später Mrs. Jonathan Harker. Im klassischen Understatement behaupte ich, dass ich der lieben Mina niemals irgendetwas Böses antun wollte. Mit diesen, meinen Händen brach ich das Genick ihres wahren Feindes,
des Irren Renfield, der sie andernfalls vergewaltigt und ermordet hätte. Ich weiß, welche Absichten er verfolgte, wenngleich die Ärzte, der junge Dr. Seward und der Narr, sie anscheinend nicht durchschauten. Und als Renfield mir direkt ins Gesicht sagte, was er meiner Liebsten antun wollte… Ah, Mina! Doch das ist lange her. Sie war eine alte, alte Frau, als sie 1967 in ihr Grab stieg. Und dann all die Männer von der Demeter. Falls Sie die Version der Ereignisse aus der Feder meiner Feinde gelesen haben, vermute ich, dass Sie mich auch der Ermordung dieser Seeleute bezichtigen. Nur warum bloß, in Gottes Namen, warum bloß sollte ich sie umgebracht haben… Was ist los mit Ihnen? An dieser Stelle äußert eine männliche Stimme, unter Vorbehalt als die von Arthur Harker identifizierbar, das eine Wort »Nichts«. Von wegen! Ihnen war nicht klar, dass ich das Wort ›Gott‹ aussprechen kann. Sie sind ein Opfer des Aberglaubens, schieren Aberglaubens, der eine abscheuliche Sache ist, und eine überaus machtvolle dazu. Gott und ich sind alte Bekannte. Zumindest bin ich mir seiner schon seit sehr viel längerer Zeit gewusst als Sie es sind, meine Freunde. Jetzt merke ich, dass Sie sich fragen, ob das Kruzifix um den Hals der Dame, aus dem Sie allmählich ein bescheidenes Maß an Trost zu ziehen begannen, gegenüber Ihrer gegenwärtigen Gesellschaft überhaupt eine Wirkung besitzt. Keine Sorge, glauben Sie mir, es ist haargenau so wirkungsvoll gegen mich wie… wie dieser schwere Schraubenschlüssel in der rechten Faust des Herrn es wäre. Bitte sitzen Sie jetzt ruhig. Wir sind inzwischen eine Stunde lang in diesem Schneesturm von der Außenwelt abgeschnitten, und es hat eine halbe Stunde gedauert – genau genommen, bis
Sie versuchten, mich im Innenrückspiegel zu erblicken – ehe sie auch nur anfingen, meinen Namen zu glauben und daran, dass ich keinen Scherz mache. Dass ich Sie nicht auf den Arm nehme, wie die Redewendung wohl lautet. Sie waren zu Beginn arg-, sorg- und schutzlos. Hätte ich vorgehabt, Ihre Leben zu nehmen oder Ihr Blut zu trinken, so wären diese rohen Taten längst vollbracht. Nein, meine Absichten in Ihrem Auto sind unschuldiger Art. Ich möchte lediglich, dass Sie eine Zeit lang einfach dasitzen und zuhören, während ich erneut versuche, mich vor der Menschheit zu rechtfertigen. Sogar in den abgelegenen Weiten, wo ich den größten Teil meiner Zeit verbringe, habe ich den Wind eines neuen Geistes der Toleranz verspürt, der in diesen letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts um das Antlitz der Erde zu wehen scheint. Daher will ich es noch einmal versuchen… Ich wählte Ihr Auto, weil Sie zufällig heute Nacht hier entlangfuhren – nein, lassen Sie mich ganz bei der Wahrheit bleiben, es wurden einige Vorkehrungen getroffen, damit Sie hier entlangfahren würden – und weil Sie, mein Herr, ein direkter Nachfahre eines guten alten Freundes von mir sind, und weil ich erfuhr, dass Sie dieses Tonbandgerät in ihrem Auto mitzuführen pflegen. Ja, sogar der Schneesturm entsprang gewissen Vorkehrungen, ein wenig zumindest. Ich wünschte diese Chance, damit ich dieses Vermächtnis anbieten kann, um meinet- und um anderer meiner Art willen. Nicht, dass es jemand anderen gibt, der mir gleicht… Mein Herr, dem Zustand der Aschenbecher entnehme ich, dass Sie Raucher sind, und ich könnte wetten, dass sie sich jetzt gerne eine Zigarette anzünden würden. Nur zu, legen Sie den Schraubenschlüssel in Reichweite Ihrer rechten Hand nieder und paffen Sie los! Vielleicht verlangt auch die Dame nach einer Zigarette, in einem so verlockenden Moment wie
diesem. Äh,… vielen Dank, aber ich selbst fröne nicht dem Tabakgenuss. Wir werden eine Zeit lang hier verweilen… Ich habe nur wenige Schneestürme erlebt, die diesen an Wut übertrafen, sogar in den Hohen Karpaten. Zweifellos werden die Straßen bis morgen Früh unbefahrbar sein. Ohne Schneeschuhe an den Füßen müsste man schon ein Wolf sein, um bei derartigen Schneeverhältnissen voranzukommen, oder des Fliegens mächtig… Ich nehme an, Sie – oder andere – würden gerne wissen, warum mir diese apologia pro vita sua so am Herzen liegt. Warum sollte ich, zu diesem späten Zeitpunkt, versuchen, meinen Namen reinzuwaschen? Nun, ich ändere mich mit dem Älterwerden – jawohl, das tue ich – und einige Dinge, zum Beispiel eine gewisse Art von Stolz, die einstmals von großer Bedeutung für mich waren, sind jetzt nichts weiter als Staub und Asche in meinem Grab. So wie Van Helsings entweihtes Bruchstück der Heiligen Hostie, das dort zu Staub zerfiel. Auch ich war dort, dort in meinem Grab, aber nicht, um darin zu bleiben. Nicht, um unter der schweren Steinplatte zu verharren, worauf nur ein Wort gemeißelt ist: Dracula.
1. TONBAND
Lassen Sie mich nicht mit dem Anfang meines Lebens beginnen. Sogar in dieser Abgeschlossenheit, während Sie aus nächster Nähe den Worten meiner Lippen lauschen, würden Sie die Geschichte jener Tage, als ich noch atmete und aß, allzu unglaubhaft finden. Später werden wir vielleicht eine Unterhaltung darüber führen. Haben Sie bemerkt, dass ich nicht atme, außer um den Wind zum Reden zu bringen? Beobachten Sie mich, während ich spreche, und Sie werden es erkennen! Möglicherweise eignet sich als Ausgangspunkt meiner Erzählung jener frühe Novembertag des Jahres 1891, am Borgo-Pass in jenem Land, das man heute Rumänien nennt. Van Helsing und die anderen glaubten damals, sie hätten mich erledigt und schlossen ihre Aufzeichnungen ab. Damals schneite es wie heute und meine Zigeuner gaben ihr Bestes, aber mit ihren Messern konnten sie wenig gegen Gewehre ausrichten, als die berittenen Verfolger mich bei Sonnenuntergang einholten und mich aus meinem Sarg zerrten und sich mit ihren langen Klingen über mein Herz und meine Kehle hermachten. Nein. Mir scheint, ich zäume das Pferd vom Schwanze her auf, wenn ich dort beginne. Wie kommt das? Ich will dort beginnen, wo die andere Aufzeichnung ihren Anfang nimmt, jene, die Sie kennen müssen. Sie beginnt früh im Mai vor jenem November mit der Ankunft eines gewissen Jonathan Harker auf meinem Stammsitz in Transsylvanien, einem Grünschnabel von einem Anwalt, der aus England geschickt
worden war, um mir bei dem Erwerb eines Grundstücks in der Nähe von London zu helfen. Sie merken, ich hatte mich aus einer Phase – einer etwas längeren Phase – großer Lethargie, Ruhe und Kontemplation emporgerafft. Neue Stimmen, neue Gedanken verlangten in der Welt Gehör. Selbst auf meiner abgelegenen Bergzinne, umschlossen von Jahrhunderte alten Wäldern und so gut wie unzugänglich, vermochte ich mit meinen besonderen Sinnen das Wispern der Telegrafenleitungen zu vernehmen, die Europa überspannten, die ersten spuckenden Regungen der Dampfmaschinen und Verbrennungsmotoren. Ich konnte den Qualm der Kohlen riechen und das Fieber einer Welt im Wandel. Das Fieber ergriff mich und stieg in mir. Schluss mit der Abgeschiedenheit im Kreise meiner alten Gefährten – falls man sie so nennen konnte. Schluss mit Wolfsgeheul, Eulenschreien, Fledermausgeflatter, dummen Bauern, die mich hinter gekreuzten Fingern anzischten. Schluss mit Kruzifixen, die ebenso wie zahlreiche Knüppel nach mir geschwenkt wurden, als sei ich ein türkisches Heer. Ich würde mich wieder der menschlichen Rasse anschließen, würde aus meiner Abgeschiedenheit hervorkommen und in den sonnenhellen Fortschritt der modernen Welt hinaustreten. Budapest, ja sogar Paris schienen nicht zu groß und nicht zu weit entfernt, um mir mein künftiges neues Leben zu eröffnen. Vorübergehend zog ich sogar in Betracht, nach Amerika zu gehen. Doch war eine größere Metropole als alle Städte der Neuen Welt näher gelegen und daher zugänglicher für eine Voraberkundung. Diese Erkundung kostete mich Jahre, aber sie war gründlich. Als Harker im Mai 1891 auf meinem Schloss eintraf, vermerkte er in seinem Kurzschrift-Tagebuch die »große Zahl englischer Bücher, Magazine und Zeitungen«, die mir zur Verfügung standen.
Harker. Für ihn empfinde ich mehr Respekt als für die anderen aus der Meute von Männern, die sich später im Gefolge Van Helsings auf meine Fährte setzten. Mut verdient immer Respekt, und er war ein mutiger Mann, wenn auch ziemlich beschränkt. Als der erste wirkliche Gast auf Schloss Dracula seit Jahrhunderten war er das Objekt meiner ersten Experimente zu dem Zweck, mich wieder erfolgreich in die Mitte der menschlichen Gesellschaft einzugliedern. Tatsächlich musste ich mich als mein eigener Kutscher verkleiden, um ihn über die letzte Etappe seiner langen Reise aus England zu befördern. Meine Haushaltshilfen waren, wie manche Reichen es auszudrücken belieben, nicht verlässlich, wenngleich sie nicht so vollständig unvorhanden waren wie Harker später vermuten sollte. Verfemte Zigeuner. Mir, den sie als ihren Herrn anerkannt hatten, auf abergläubische Weise loyal ergeben, doch ohne Eignung als Dienstboten im gewöhnlichen Sinne. Ich wusste, dass ich mich selbst um meinen Gast würde kümmern müssen. Die Eisenbahn hatte Harker bis nach Bistritz gebracht, von wo aus eine Postkutsche oder öffentliche Reisekutsche jeden Tag nordwärts und westwärts in die Bukowina, einen Teil Moldawiens, abging. Am Borgo-Pass, acht oder neun Reisestunden von Bistritz entfernt, würde meine Kalesche warten, wie ich meinen Besucher brieflich informiert hatte, und ihn bis vor meine Tür bringen. Die Postkutsche erreichte den Pass nahe der Geisterstunde um Mitternacht, eine Stunde früher als erwartet, gerade als ich, da ich kein Risiko eingehen wollte, mein eigenes Gefährt mit vier schwarzen Rossen dicht hinter die Postkutsche lenkte, die eben in der mitternächtlichen Landschaft zum Stehen kam, worin Kiefernwaldungen sich zwischen kargen Felshängen erhoben. Ich traf gerade rechtzeitig ein, um den Kutscher sagen zu hören: »Hier ist kein Wagen. Der Herr wird also gar nicht erwartet. Er fährt nun am
besten mit uns in die Bukowina weiter und kehrt dann morgen oder tags darauf zurück; besser am Tag darauf.« In diesem Augenblick bemerkten einige der Bauern in der Kutsche meine Ankunft und erhoben einen furchtsamen Krakeel aus Gebeten und Flüchen und Anrufungen; ich schloss dichter auf und erschien sogleich im Schein der Kutschenlampen, angetan mit der Kutscheruniform sowie einem breitkrempigen Hut und einem falschen braunen Bart als zusätzlicher Verkleidung, welch letztere Ausstattung ich von einem Zigeuner ausgeliehen hatte, der früher als Wanderschauspieler auf Tournee gewesen war. »Du bist früh dran heute Nacht, mein Freund!«, rief ich dem Postkutscher zu. »Der englische Herr war sehr in Eile«, stammelte der Mann als Antwort, ohne mir in die Augen zu blicken. »Ich nehme an, das ist auch der Grund, warum du ihn in die Bukowina mitnehmen wolltest. Mich kannst du nicht täuschen, mein Freund. Ich weiß zu viel, und meine Pferde sind flink.« Ich lächelte den weißen, angsterfüllten Gesichtern hinter den Kutschenfenstern zu, und jemand im Kutscheninnern flüsterte eine Zeile aus Lenore. »Denn die Toten reiten schnell«. »Gib mir das Gepäck des Herrn«, befahl ich, und es wurde mir rasch gereicht. Und dann erschien mein Gast höchstpersönlich, der Einzige unter den Passagieren, der mir in die Augen zu sehen wagte, ein junger Mann von mittlerer Größe und durchschnittlichem Aussehen, glatt rasiert, mit braunen, mitteldunklen Haaren und Augen. Sowie er neben mir auf dem Kutschbock saß, ließ ich die Peitsche knallen, und wir fuhren los. Die Zügel mit einer Hand haltend, warf ich einen Mantel um Harkers Schultern und eine Decke über seine Knie und sagte zu ihm auf Deutsch: »Die Nacht ist kalt, mein Herr, und mein Gebieter der Graf befahl
mir, gut auf Sie Acht zu geben. Unter dem Sitz finden Sie eine Feldflasche mit Slivovitz, falls Sie dessen bedürfen sollten.« Er nickte und murmelte irgendetwas, und obwohl er nichts von dem Schnaps trank, fühlte ich, dass er sich ein wenig entspannte. Fraglos, so dachte ich bei mir, hatten ihn seine Mitreisenden in der Kutsche mit wüsten Geschichten gefüttert, oder, wahrscheinlicher und schlimmer noch, lediglich ein paar Andeutungen über den furchtbaren Ort fallen lassen, der sein Reiseziel war. Aber noch hegte ich große Hoffnungen, jegliche unerfreulichen Vorurteile, die meinem Gast eingeimpft worden waren, überwinden zu können. Zunächst nahm ich absichtlich den falschen Weg, um ein wenig Zeit zu schinden, da zufällig die St.-Georgs-Nacht war, in welcher die geheimen Orte aller Schätze, die in jenen Bergen vergraben liegen, zur Geisterstunde vom Leuchten klar sichtbarer bläulicher Flammen verraten werden. Die Vorbereitungen für meine Expedition in die weite Welt hatten meinen eigenen Goldvorrat merklich beansprucht, und ich wollte die Gelegenheit, ihn aufzufrischen, nicht verpassen. Schon wieder zweifeln Sie. Glauben Sie denn, meine alte Heimat habe irgendeinem anderen Land geglichen? Gewiss nicht. Dort wurde ich geboren, und dort versäumte ich den Tod. Und in diesem meinen Land, um mit Van Helsings Worten zu sprechen, »gibt es tiefe Höhlen und Felsgespalten, die reichen wohin keiner weiß. Vulkane gab es dort… Gewässer mit seltsamen Eigenschaften und Gase, die tot oder zu leben machen.« Englisch war nicht Van Helsings Muttersprache.∗ Egal. Wichtig ist, dass ich die Gelegenheit jener besonderen Nacht ∗
Auch im Original-Dracula-Roman von Bram Stoker radebrecht Professor Van Helsing in Wort und Schrift ein ungelenkes Englisch, was die maßgeblichen deutschsprachigen Dracula-Übersetzungen unberücksichtigt
ergriff, um ein paar Schatzfundstellen zu kennzeichnen, wovon es einige gab, wie wir sehen werden. Naturgemäß war mein Fahrgast recht neugierig hinsichtlich dieser wiederholten Halte der Kalesche und des unheimlichen Glühens schwacher, unsteter blauer Flammen, die hier und da in der Landschaft aufschienen, wie auch bezüglich meines verschiedentlichen Abstiegs vom Kutschbock, um kleine Steinhaufen zu errichten. Diese Markierungen würden es mir in zukünftigen Nächten, wenn ich allein war, ermöglichen, die Schätze in aller Ruhe wiederzufinden und zu heben. Ich hatte erwartet, dass Harkers natürliche Neugier in Bezug auf diese Vorgänge sich irgendwann in Fragen Luft machen würde, woraufhin ich, in meiner Rolle als Kutschenlenker, in der Lage gewesen wäre, unwiderlegbar auszuführen, dass Transsylvanien Wunder bereithielt, die in England unbekannt waren. Auf diese Weise sollte er nach und nach zu einer geistigen Haltung gelangen, die ihn bereit für die ganze Wahrheit über mich und Vampire als Lebensform gemacht hätte. Womit ich nicht gerechnet hatte, war die – in diesem Fall – verdammte englische Sitte, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern, worin Harker meiner Meinung nach bis zur Lächerlichkeit übertrieb, selbst für einen diskreten und taktvollen jungen Anwalt. So saß er dort auf dem ungeschützten Bock meiner Kalesche, verfolgte meine Mätzchen mit den Steinhaufen, schwieg jedoch dazu. Erst als die Wölfe, meine Adoptivkinder der Nacht, aus der Dunkelheit der Waldesschatten kamen und im Mondlicht dicht um die Kutsche strichen, wobei sie ihn und die Pferde stumm anstarrten, entfloh ihm ein Ausruf. Und als ich zurückkehrte, nachdem ich meinen letzten Schatzfund dieser Nacht gekennzeichnet hatte, und die Wölfe mit einer Handbewegung lassen. (d. Ü.)
verscheuchte und ihren Kreis durchbrach, hatte Harker noch immer keine Fragen, obwohl ich seine Verkrampfung spüren konnte, als ich wieder den Kutschbock neben ihm einnahm, was mir zeigte, dass er Angst bekommen hatte. Harkers Angespanntheit blieb bis zum Ende unserer Fahrt bestehen, als ich »die Rosse in den Hof eines weiten, verfallenen Schlosses lenkte, aus dessen hohen schwarzen Fenstern kein Lichtstrahl drang und dessen bröckelnde Bastionen sich als scharf gezackte Linie gegen den mondhellen Himmel abzeichneten«, wie er meine Wohnstatt knapp beschreiben sollte. Ich ließ Harker vor der massiven, verschlossenen Eingangstür stehen und führte die Pferde in die Stallungen, wo ich mit einem Fußtritt den am wenigsten unzuverlässigen meiner schnarchenden Dienstboten aufscheuchte, damit er sich um sie kümmerte. Mich unterwegs des falschen Bartes, des Hutes und der Livree entledigend, eilte ich durch die dumpfen unterirdischen Gewölbe von Schloss Dracula zurück, um wieder meine eigene Identität anzunehmen und meinen Gast hereinzubitten. Als ich in dem Korridor innehielt, von dem die Zimmer abzweigten, die ich für meinen Besucher hergerichtet hatte, erfüllte ein Schimmern die dunkle Luft zu meiner Seite, welches für Augen, die der Dunkelheit weniger angepasst waren als die meinen, unsichtbar gewesen wäre; erfüllten Stimmen die Luft, so melodisch wie elektronische Musik und keinen Deut menschlicher; nahmen nach und nach drei Gesichter und drei Körper Fülle und Gestalt an, sämtlich sehr jung anmutend und weiblich geformt bis in die üppigen Details, obwohl sie anstandslos Kleider trugen, die seit einem Jahrhundert außer Mode waren. Selbst Macbeth auf seinem Moor erschaute nie ein Dreigestirn, das Männern Übleres verhieß.
»Ist er da?«, fragte Melisse, die größere des dunkelhaarigen Paars der drei. »Wann werden wir ihn kosten dürfen?«, begehrte Wanda, die kleinere, vollbusigere zu wissen. Im Winkel ihrer lächelnden rubinroten Lippen biss und saugte sie an einer Locke ihres rabenschwarzen Haars. »Wann schenkst du ihn uns, Vlad? Du hast es versprochen, weißt du noch?« Dies kam von Anna, strahlend blond, die älteste der drei, gemessen nach der Zeit, die sie bereits in meinen Diensten stand. Dienste ist allerdings nicht ganz der passende Ausdruck. Sagen wir lieber, gemessen an ihrer Ausdauer, in einem Spiel der Geistes- und der Willenskraft, das alle drei ohne Unterlass gegen mich austrugen und an dem ich seit vielen Jahrzehnten keinen Gefallen mehr fand und nicht mehr teilnahm. Ich betrat die Unterkunft, die ich für Harker vorbereitet hatte, schürte die brennenden Scheite im Herd, die bereits zuvor aufgeschichtet und angezündet worden waren, trug die Speisen, die auf der Herdplatte erwärmt worden waren, zum Tisch, und richtete über meine Schulter hinweg einige Worte in den düsteren Gang vor der Zimmertür. »Ich habe euch in der Angelegenheit des jungen Engländers nur eines versprochen, und ich wiederhole es nur ein einziges Mal: Falls irgendeine von euch ihre Lippen auf seine Haut legt, werde ich euch allen Grund geben, es zu bereuen.« Melisse und Wanda kicherten, ich schätze, weil sie glaubten, mich irritiert und verleitet zu haben, einen Befehl zu wiederholen, und Anna musste wie immer versuchen, das letzte Wort zu behalten: »Aber ein wenig Spaß musst du uns doch wenigstens gönnen. Wenn er seine Zimmer verlässt, dann ist er doch sicherlich vogelfrei?« Ich gab keine Antwort – es ist nie meine Art gewesen, mit Untergebenen zu handeln – stellte jedoch fest, dass ich alles
für Harker vorbereitet hatte, soweit es mir möglich war. Dann stürmte ich mit einer altertümlichen Silberlampe in der Hand nach unten zur Eingangstür, die ich gastfrei öffnete und meinen mittlerweile von Zweifeln heimgesuchten Besucher erblickte, der noch immer in der Nacht ausharrte, neben seinen auf dem Boden abgestellten Gepäckstücken. »Willkommen in meinem Hause!«, rief ich aus. »Treten Sie ungezwungen und aus freiem Willen ein!« Er lächelte mich an, dieser vertrauensvolle Ausländer, und erblickte in mir nichts weniger oder mehr als einen Menschen. In meiner Freude darüber wiederholte ich meinen Willkommensgruß, sowie der Ankömmling über die Schwelle getreten war, und umschloss seine Hände vielleicht ein wenig fester als ich es hätte tun sollen. »Treten Sie freien Willens ein!«, forderte ich ihn auf. »Gehen Sie unbeschadet, und hinterlassen Sie etwas von dem Glück, das Sie mit sich gebracht haben!« »Graf Dracula?« Harker, der unauffällig versuchte, ein wenig Leben in seine schmerzhaft gequetschten Finger zurückzuschütteln, sprach mit einem fragenden Unterton, so als hegte er noch immer begründete Zweifel. »Ich bin Dracula«, antwortete ich mit einer Verbeugung. »Und ich begrüße Sie in meinem Haus. Kommen Sie herein, die Nachtluft ist kühl, und Sie bedürfen der Stärkung und der Ruhe.« Ich hängte die Lampe an die Wand und machte Anstalten, Harkers Gepäck aufzunehmen, wobei ich seinen Einspruch überging. »Nicht doch, Sir, Sie sind mein Gast! Es ist spät, und mein Personal ist nicht mehr verfügbar. Also obliegt es mir selbst, für Ihre Bequemlichkeit Sorge zu tragen.« Er folgte mir, als ich seine Sachen die Treppe hinauf in die Unterkunft trug, die ich für ihn vorbereitet hatte. Ein Kaminfeuer erhellte den Raum, wo der Abendbrottisch gedeckt war, und ein weiteres wärmte das große Schlafzimmer, wo ich seine Koffer abstellte.
Mit meinen eigenen Händen hatte ich das Abendessen zubereitet, das auf ihn wartete – Brathähnchen, Salat, Käse und Wein – so wie ich es mit den meisten Mahlzeiten tat, die er während der Wochen seines Aufenthaltes als mein Gast zu sich nahm. Hilfe seitens der Mädchen? Ha! Sie zogen es vor, sich wie Kinder zu gebärden, die zuweilen durch Androhung von Strafe von Missetaten abgehalten werden können, die sich jedoch nicht dazu zwingen lassen, Dinge anständig zu verrichten. Das gehörte zu dem Spiel, das sie mit mir veranstalteten. Abgesehen davon wünschte ich sie keinesfalls in seinen Zimmern, sofern ich es vermeiden konnte. Also benutzte ich meine eigenen Hände, die Hände eines Prinzen der Walachei, verschwägert mit einem König, um sein schmutziges Geschirr und seine Essensreste abzuräumen und zu entsorgen, ganz zu schweigen von unzähligen Porzellannachttöpfen. Ich vermute, ich hätte mich überwinden können, das Geschirr zu reinigen, als wäre ich ein beliebiger Lakai, hätte sich nicht ein einfacherer Weg gefunden. Zugegeben, die meisten der Speiseplatten bestanden aus Gold, aber ich war entschlossen, nicht ausschließlich der Bewirtung meines Gastes zu dienen. Außerdem hegte ich kaum Zweifel daran, dass ich die goldenen Gegenstände, sollte ich irgendwann von meinem geplanten Auslandsaufenthalt zurückkehren, recht leicht vom Fuße der dreihundert Meter hohen Felszinne würde bergen können, von der Schloss Dracula herabblickte und die einen überaus geeigneten Müllabladeplatz darstellte. Das Tafelgeschirr würde immer noch dort sein, zweifellos vom Aufschlag zerbeult, dafür aber von den Jahreszeiten gereinigt und von Menschenhänden unangetastet. Gegen Diebe hegte ich stets Widerwillen, und ich glaube, die Bewohner der umliegenden Dörfer verstanden mich in dieser Hinsicht, wenn auch wahrscheinlich in keiner anderen.
Im Verlaufe der eineinhalb Monate, während derer mein zunehmend undankbarer Gast bei mir weilte, verbrauchte er goldene Tafelwaren, die als Lösegeld für einen Sultan gereicht hätten, und ich musste mich darauf beschränken, ihm auf Silber zu servieren. Gegen Ende hätte ich ihm die Speisen allerdings ebenso gut auf Scheiben aus Baumrinde vorsetzen können, er hätte es kaum bemerkt, so sehr hatten ihn gewisse Besonderheiten meines Wesens zu jenem Zeitpunkt in Schrecken versetzt. Er interpretierte diese Eigentümlichkeiten falsch, ohne jedoch ein einziges Mal offen um eine Erklärung zu ersuchen, während ich selbst, kluger- oder unklugerweise, aus eigenem Antrieb niemals eine abgab. Doch zurück zu jenem ersten Abend. Als mein Gast sich nach seiner Reise frisch gemacht hatte und zu mir ins Speisezimmer kam, fand er mich gegen den Kamin gelehnt und begierig auf seine Gesellschaft, genauso hungrig auf intelligente Konversation und Informationen aus erster Hand über die große weite Welt wie er es auf gutes Essen war. Ich bat ihn zu Tisch und sagte: »Bitte, nehmen Sie Platz, und genießen Sie Ihr Abendessen, wie es Ihnen beliebt. Sicher werden Sie mir nachsehen, dass ich nicht mit Ihnen speise; aber ich habe bereits gegessen, und Mahlzeiten zu so später Stunde bin ich nicht gewohnt.« Während Harker sich über das Hähnchen hermachte, las ich den Brief, den er mir ausgehändigt hatte. Er stammte von seinem Arbeitgeber, Hawkins, der seinen jungen Abgesandten als »voller Energie und auf seine Weise mit Talent begabt« beschrieb, »von äußerst pflichtbewusster Veranlagung« und ebenso als »diskret und verschwiegen«. Dies war sehr nach meinem Geschmack, und ohne Umstände begann ich eine Unterhaltung, die im Speisezimmer über Stunden andauerte, während Harker seiner Mahlzeit zusprach und anschließend eine Zigarre von mir annahm. Hauptsächlich
redeten wir über die Umstände seiner Reise – mein Interesse galt vor allem Eisenbahnen, die ich zu jener Zeit noch nie zu Gesicht bekommen hatte, und ich genoss unser Gespräch außerordentlich. Als der Morgen dämmerte, entstand ein freundschaftliches Schweigen zwischen uns, kurz unterbrochen vom Heulen zahlreicher Wölfe, das vom Tal heraufklang. »Hören Sie!«, sagte ich, die Vorsicht einen Moment lang außer Acht lassend: »Die Kinder der Nacht! Was für eine Musik sie machen!« Ein plötzlicher Ausdruck der Bestürzung trat in das Gesicht meines Gastes; ich hatte vergessen, dass er, während ich ihn in meiner Verkleidung als Kutscher die kurvige Gebirgsstraße heraufgebracht hatte, Wölfe aus beängstigender Nähe erlebt hatte. Eilig fügte ich hinzu: »Ah, mein Herr, Euch Stadtbewohnern sind die Gefühle des Jägers eben fremd.« Kurz darauf trennten wir uns, um unsere jeweiligen Ruhelager aufzusuchen. Nachdem er bis zum Morgenanbruch wach gewesen war, dazu erschöpft von seiner Reise, schlief Harker verständlicherweise bis weit in den Tag hinein, sodass ich annahm, keine Verwunderung bei ihm hervorzurufen, wenn ich bis zum Sonnenuntergang nichts von mir sehen oder hören ließ. Als ich nach Tagesende nach ihm sah, erschrak ich kurz, weil ich ihn nicht in seinen Räumen antraf. Ich hatte kein Verlangen, den Zauber jenes ersten Abends in menschlicher Gesellschaft zu zerstören, indem ich ihm zu erklären versuchte, wie gefährlich bestimmte Teile des Schlosses für ihn werden könnten. Zu meiner Erleichterung hatte er sich lediglich bis zur nahegelegenen Bibliothek entfernt, wo er »zu seinem Entzücken«, wie er in seinem Tagebuch schrieb, »eine reiche Auswahl englischer Bücher… Magazine und Zeitungen« vorfand, »die Bücher zu den unterschiedlichsten Sachgebieten
– Geschichte, Geografie, Politik, Nationalökonomie, Botanik, Geologie, Rechtspflege – allesamt mit Bezug auf England und englische Lebensart, englische Gebräuche und Sitten.« »Ich bin froh, dass Sie hierher gefunden haben«, erklärte ich aufrichtig, »denn ich bin sicher, Sie finden hier vieles, das Sie interessiert. Diese Gefährten hier« – ich wies auf die Bücher – »waren mir gute Freunde und haben mir manches Jahr lang, seit meinem ersten Gedanken daran, nach London überzusiedeln, viele, viele frohe Stunden beschert. Mit ihrer Hilfe habe ich Ihr großartiges England kennen gelernt; und es zu kennen bedeutet, es zu lieben. Ich kann es kaum erwarten, durch die belebten Straßen Eures mächtigen Londons zu wandeln, mitten in den Strom und Strudel der Menschheit einzutauchen, an ihrem Leben teilzuhaben, ihrem Wandel, ihrem Sterben, und allem, was sie ausmacht! Doch leider! Bisher kenne ich Ihre Sprache nur durch Bücher. Sie, mein Freund, sollen mir helfen, auch meine Zunge an sie zu gewöhnen!« »Aber Graf«, rief Harker aus, »Sie kennen und sprechen das Englische vorzüglich!« »Ich danke Ihnen, mein Freund«, entgegnete ich, »für Ihre allzu schmeichelhafte Anerkennung, doch fürchte ich, erst ein kurzes Stück auf der Straße vorangekommen zu sein, die ich bis ans Ziel bereisen will. Zugegeben, ich kenne die Grammatik und die Vokabeln, doch noch weiß ich nicht, wie man sie ausspricht.« »Auf mein Wort, Sir, Ihre Aussprache ist wirklich hervorragend!« »Bisher leider nicht. Wollte ich mich in Ihrem London bewegen und verständigen, gäbe es niemanden, der in mir nicht den Fremden erkennen würde. Und das ist mir zu wenig. Hier in meiner Heimat bin ich ein Edler, hier bin ich ein Bojar; das gemeine Volk kennt mich, und ich bin sein Herr. Doch ein
Fremder in der Fremde – er ist ein Niemand: Kein Mensch kennt ihn – und jemanden nicht zu kennen heißt, sich nicht um ihn zu scheren. Ich bin damit zufrieden, wenn ich wie alle anderen erscheine, sodass kein Mann innehält, wenn er mich sieht, oder seine Rede, wenn er meine Worte hört, mit dem Ausruf unterbricht: ›Oho, ein Fremder!‹ Ich bin so lange Herr gewesen, dass ich auch weiter Herr bleiben will oder dass zumindest kein anderer Herr über mich sein soll. Sie sind nicht nur als Agent meines Freundes Peter Hawkins aus Exeter zu mir gekommen, um mir alles über mein neues Anwesen in London zu erzählen. Sie werden, so hoffe ich zuversichtlich, etwas längere Zeit hier bei mir verweilen, damit ich anhand Ihres Vorbildes die richtige englische Betonung erlernen kann; und ich wünsche, dass Sie mir jeden Fehler in meiner Sprechweise, selbst den geringsten, aufzeigen. Es tut mir Leid, dass ich heute so lange abwesend war, doch vertraue ich darauf, dass Sie solches jemandem nachsehen, dem viele wichtige Geschäfte obliegen.« Harker unterstrich seine Bereitschaft, mir beim Verbessern meiner englischen Sprachfähigkeiten zu helfen, und fragte dann, ob er die Bibliothek nach Belieben nutzen dürfe. Dies schien eine gute Gelegenheit, meine Warnungen an den Mann zu bringen, daher sagte ich: »Aber natürlich. Sie dürfen im Schloss gehen wohin Sie wollen, außer hinter abgesperrte Türen, was Sie aber auch sicherlich nicht vorhaben. Es gibt gute Gründe dafür, dass die Dinge auf diese Weise geordnet sind, und könnten Sie mit meinen Augen sehen und wüssten Sie, was ich weiß, würden Sie es vielleicht besser verstehen.« »Ganz gewiss, mein Herr!« Doch wusste ich wohl, dass er nicht einmal ansatzweise begriff, bislang zumindest nicht, daher versuchte ich, die Sache klarer darzustellen, ohne schon jetzt zu viel preiszugeben.
»Wir befinden uns in Transsylvanien, und Transsylvanien ist nicht England. Wir sind von anderem Schlage als ihr, und viele Dinge werden Ihnen seltsam vorkommen. Fürwahr, nach dem, was Sie mir von Ihren bisherigen Erfahrungen berichtet haben, sind Ihnen einige der seltsamen Dinge, die es hier geben mag, bereits begegnet.« Nachdem ich das Gespräch auf diese Weise in die düsteren Gefilde des Seltsamen gelenkt hatte und das ernsthafte Nicken meines Gastes sah, mit dem er mir anscheinend zustimmte, zögerte ich einen Moment, kurz davor, mit allem herauszurücken; doch nein, sagte ich mir rechtzeitig, erst muss ich Harker zu meinem guten Freund machen. Er selbst ergriff nun die Gelegenheit, um mich zu fragen, was ich ihm über die geheimnisvollen blauen Flammen mitteilen könne, die er in der Nacht seiner Ankunft gesehen hatte, und über das absonderliche Gebaren des ›Kutschers‹. Als Antwort erzählte ich ihm einen wesentlichen Teil der Wahrheit. »Transsylvanien ist nicht England«, wiederholte ich, »und hier kommen Dinge vor, die verstandbestimmte Männer, Männer des Geschäfts und der Wissenschaft, vielleicht nicht begreifen können. In einer ganz besonderen Nacht des Jahres – tatsächlich war die vergangene Nacht eine solche – wenn alle bösen Geister nach dem Glauben der Landbevölkerung freien Lauf haben, wird eine blaue Flamme über jedem Ort sichtbar, wo ein Schatz versteckt liegt. Dass in dieser hiesigen Gegend viele Schätze verborgen sind, kann kaum einem Zweifel unterliegen; denn um diesen Boden wurde jahrhundertelang von den Walachen, den Sachsen und den Türken gerungen. Es gibt hier wirklich kaum einen Fußbreit Erde, der nicht das Blut von Verteidigern und Invasoren getrunken hat.« Über die Vergangenheit zu reden, begann sie mir wieder nahe zu bringen, so wie es jetzt der Fall ist; abermals fühlte ich den Galopp des Schlachtrosses unter mir, während seine Ohren den
Gefechtslärm tranken, das Aufeinanderklirren von Eisen und die Schreckensschreie. Wieder wittere ich den Gestank des Krieges, erschaue die Banner und das Blut. Ich erinnere mich an den Verrat der Bojaren und entsinne mich der wunderbaren, wundervollen Treue zu mir, dem Woiwoden, dem Kriegsherrn jener Männer, die das umkämpfte Land bestellten und wussten, ich war gerecht. Wie gut es sich anfühlte, die Luft mit ihnen zu atmen… Doch genug davon. An Harker gewandt fuhr ich fort: »In jenen alten Tagen gab es unruhige Zeiten, als die Österreicher und die Ungarn hordenweise anrückten und die Vaterlandstreuen auszogen, um sich ihnen entgegenzustellen – Männer wie Frauen, die Alten ebenso wie die Kinder – und ihre Ankunft auf den Felsen über den Gebirgspässen erwarteten, um durch vorsätzlich erzeugte Steinlawinen Tod und Verderben über die Feinde zu bringen. Falls dann der Eindringling dennoch obsiegte, fand er wenig an Gold und von Wert, denn alles hatte man dem Schoß der heimatlichen Scholle anvertraut.« Harker war inzwischen beinahe so weit, das kleine Wunder der Flammen und Schätze zu glauben. »Aber wie kommt es denn«, fragte er, »dass diese Schätze so lange ungehoben blieben, obgleich doch ein sicherer Hinweis zu ihnen führt, wenn man nur die Mühe auf sich nimmt, ihm nachzugehen?« Ich lächelte. »Weil der Bauer im Herzen ein Feigling ist und ein Narr dazu!« Dabei hatte ich die Dörfler drunten im Tal des Jahres 1891 im Sinn. »Diese Flammen zeigen sich nur in einer einzigen Nacht, und in dieser besonderen Nacht wird kein Mann dieses Landes, der nicht muss, seine vier Wände verlassen.« Unser Gespräch wandte sich anderen Themen zu und kehrte schließlich zu Immobilien zurück. »Bitte«, forderte ich meinen Gast auf, »berichten Sie mir über London und das Haus, das Sie für mich erworben haben.«
Während Harker in einem anderen Raum seine Geschäftsunterlagen zusammensuchte, nutzte ich die Gelegenheit, den Tisch von den Resten seiner letzten Mahlzeit zu befreien, indem ich alles ins leinene Tischtuch schlug und als Bündel aus einem der westlichen Fenster den Steilhang hinabbeförderte, wobei das schmutzige Geschirr in der Luft sang, bis die Essensreste beim Auftreffen auf den Felsboden hundert Meter tiefer aus ihm herausgeschleudert wurden. Als Harker sich wieder zu mir gesellte, hatte ich die Lampen angezündet und lag auf einem Sofa, vertieft in Bradshaw’s Guide. Der Papierkram, der zum Häuserkauf gehörte, war umfangreich, doch schien Harker sachkundig genug, mich durch seine Geheimnisse zu lotsen. Einmal erwähnte er meine Kenntnisse über die Umgegend des Anwesens – der Vorort Purfleet, gut zehn Kilometer östlich vom Zentrum Londons am Nordufer der Themse gelegen – welche ich mir sogar von meinem abgelegenen Aufenthalt aus hatte aneignen können, und ich erwiderte: »Aber mein Freund, musste ich das nicht tun? Wenn ich dort hinziehe, bin ich ganz auf mich allein gestellt, und mein Freund Harker Jonathan… nein, verzeihen Sie bitte, ich habe nach der Gewohnheit meines Landes Ihren Familiennamen vorangestellt… mein Freund Jonathan Harker wird nicht an meiner Seite sein, um mich zu berichtigen und zu beraten. Er wird in Exeter weilen, hundertfünfzig Kilometer und noch weiter von mir entfernt und wird wahrscheinlich zusammen mit meinem anderen Freund, Peter Hawkins, an juristischen Unterlagen sitzen. Daher!« Ich unterschrieb eine anscheinend nicht abreißende Anzahl von Papieren, die anschließend versandfertig gemacht und an Hawkins adressiert wurden. Meine Zigeuner, die Szgany, wie ich sie nannte, hielten sich häufig beim Schloss auf, und dank ihrer Furcht und loyalen Ergebenheit gegenüber meiner Person
konnte ich mich auf sie verlassen. Sie beförderten Post für mich, ebenso brachten sie mir Pferde und pflegten sie. Manchmal brachten sie mir Nahrung – ich werde später auf meine Essgewohnheiten eingehen – und stellten über einen langen Zeitraum hinweg eine nützliche, wenn auch schwankende Brücke zwischen mir und ihren Mitmenschen dar. Sobald die Dokumente unterfertigt und aufgegeben waren, las Harker mir seine Notizen vor, worin er mein neues Anwesen beschrieb und schilderte, wie er es gefunden hatte. An diese Beschreibung erinnere ich mich gut, ebenso wie an den Rest der Tagebücher meiner Feinde aus diesem Jahr. Ich werde schwerlich je ein Wort davon vergessen. »In Purfleet stieß ich an einer Nebenstraße auf einen Ort, der anscheinend genau den Anforderungen entsprach und an dem eine verwitterte Mitteilung hing, dass das Anwesen zum Verkauf stand. Es ist von einer hohen Mauer umfriedet, aus schweren Steinen in altertümlicher Bauart errichtet, und wurde seit vielen Jahren nicht mehr instand gesetzt. Die verschlossenen Türen und Tore bestehen aus schwerer alter Eiche und Eisenbeschlägen, die ganz von Rost zerfressen sind. Das Anwesen trägt den Namen Carfax, fraglos eine Verballhornung der alten Bezeichnung Quatre Face, denn das Haus hat vier Seiten, ausgerichtet nach den Kompasspunkten. Es umfasst alles in allem gut zwanzig Morgen Land, rings umschlossen von der bereits erwähnten Steinmauer. Zahlreiche Bäume wachsen darauf, die es stellenweise etwas düster machen, und es gibt einen tiefen, finster wirkenden Tümpel oder kleinen See, der sich augenscheinlich aus einer Anzahl Quellen speist, denn das Wasser ist sauber und fließt in einem breiten Bach ab. Das Haus selbst ist sehr groß und weist die Baustile aller vergangenen Epochen auf, bis zurück, schätze ich, ins Mittelalter, denn ein Gebäudeabschnitt besteht aus
außergewöhnlich dicken Steinen und besitzt nur wenige, hoch gelegene Fenster, die sämtlich schwer mit Eisengittern gesichert sind. Dieser wirkt wie der Bestandteil einer Burgfestung und liegt dicht bei einer alten Kapelle oder Kirche. Ihr Inneres konnte ich nicht betreten, da mir der Schlüssel zur Tür fehlte, die vom Haus aus hineingeht, doch habe ich mit meiner Kamera einige Aufnahmen aus verschiedenen Blickwinkeln angefertigt. In der unmittelbaren Nachbarschaft finden sich nur wenige Häuser, eines davon ist ein sehr großes Gebäude, erst kürzlich errichtet, das als private Irrenverwahranstalt geführt wird. Allerdings ist es vom Grundstück aus nicht zu sehen.« Letzteres war keine zutreffende Feststellung, wie ich später herausfand; aber ich war ohnehin gewillt, den unvermeidlichen Schönfärbereien eines solchen Verkaufsgespräches mit einem gewissen Maß an Nachsicht zu begegnen. »Ich bin froh darüber, dass das Haus alt und groß ist«, sagte ich, als er seine Schilderung beendet hatte. »Ich selbst entstamme einer alten Familie, und in einem neuen Haus zu leben würde mich umbringen. Ein Haus wird nicht an einem einzigen Tage wohnlich; und wie wenige Tage gehen doch dahin, bis ein ganzes Jahrhundert verflogen ist. Ebenso begrüße ich diese altertümliche Kapelle… Ich bin nicht mehr jung, und mein Herz ist nach vielen trauervollen Tagen der stummen Totenklage nicht mehr zum Frohsinn gestimmt… Ich liebe die Düsternis und die Schatten und ziehe die Einsamkeit meiner Gedanken vor, wenn es geht.« Wir verbrachten einen langen Abend miteinander, ähnlich dem vorangegangenen; und diese Stunden, die Nacht vom siebenten auf den achten Mai 1891, waren die letzten für eine lange Zeit, für viele Monate, während derer ihm oder mir der Gang der Dinge zusagte, ja wo wir einander nicht als Feinde betrachteten, zumindest als mögliche Feinde.
Natürlich hatte ich die Vorsichtsmaßnahme ergriffen, alle Spiegel aus jenen Zimmern des Schlosses zu entfernen, von denen ich annahm, dass mein Gast sie bewohnen oder betreten könnte. Am dritten Morgen von Harkers Aufenthalt besuchte ich jedoch sein Zimmer in den frühen Morgenstunden – keine angenehme Zeit für mich – und überraschte ihn dabei, wie er sich vor seinem Reisespiegel einer Rasur unterzog. Ich war einer Selbsttäuschung erlegen, als ich glaubte, dass, sowie die normale Welt erst begann, mich vorbehaltlos als menschlich anzuerkennen, die Geisteshaltung der meisten Männer und Frauen ihnen verwehren würde, sich die offenkundige Tatsache meines fehlenden Spiegelbildes einzugestehen, zumindest eines solchen, das sich unter gewöhnlichen Umständen dem Menschenauge offenbart. Hierzu gestatte man mir nebenbei anzumerken, dass Film und Kathodenstrahlröhre auch nicht ein und dasselbe sind. Doch was immer die Forschung in dieser Hinsicht herausfinden wird, an jenem Morgen hatte ich mich in der Annahme geirrt, dass die Denkweise dieses nüchternen, jedem Aberglauben abgeneigten Engländers ihm nicht erlauben würde, die glasklare Wahrheit zu erkennen: nämlich dass mein Körper, als ich während Harkers Rasur hinter ihm ins Zimmer eintrat, nicht in seinem Spiegel sichtbar wurde. Da lag ich falsch. Als ich ihm, fast schon direkt in sein Ohr, einen »Guten Morgen!« entbot, war er so überrascht, dass er zusammenzuckte und sein Rasiermesser ihm einen kleinen Schnitt am Kinn beibrachte. Zugleich erkannte ich, dass er das Fehlen meines Bildes in seinem Spiegel sehr wohl bemerkt hatte, denn er ließ seinen Blick nicht nur einmal, sondern mehrere Male von mir zum Spiegel und zurück wandern, wobei er darum rang, keinen entgeisterten Gesichtsausdruck zu zeigen. Dies war ein Schlag für mich, der erste Hinweis darauf, dass meine Pläne letztendlich undurchführbar sein könnten,
und er traf mich hart, wenn ich auch versuchte, Haltung zu bewahren. Nach einigen Augenblicken gab Harker es auf, mein Abbild in seinem Spiegel finden zu wollen, erwiderte tonlos meinen Gruß, legte sein Rasiermesser beiseite und suchte in seinem Waschbeutel nach einem Heftpflaster. Bluttropfen perlten über sein Kinn. Bin ich auch als Hämophiler (im wörtlichen, nicht im medizinischen Sinne) bekannt, so ist es doch unwahr, dass der bloße Anblick von Blut immer und unter allen Umständen ausreicht, mich in Anfälle gierhaften Verlangens nach dem guten roten Saft zu stürzen. Laut Harkers Tagebuch, das ich nie vergessen werde und aus dem ich wörtlich zitiere, »entbrannten« meine Augen »in einer Art dämonischer Raserei«, sobald ich seines Blutes ansichtig wurde, und ich »fasste urplötzlich« nach seiner Kehle. Nun möchte ich Sie fragen – lassen Sie sich vielleicht gern ein zartes, nicht ganz durchgebratenes Rindersteak schmecken? Natürlich. Und jetzt nehmen wir einmal an, Sie spazieren in Ihr Speisezimmer, wo ein Gast von Ihnen gerade seine Mahlzeit beendet, und entdecken ein Stück Fleisch, das auf seinem Teller übriggeblieben ist. Lässt dieser Anblick Ihre Augen in dämonischer Raserei entbrennen? Oder einmal angenommen, dass unter den denkbar schicklichsten Umständen eine junge Frau zu Ihren Gästen zählt, die auch noch attraktiv ist. Und stellen Sie sich ferner vor, dass Sie dank eines gänzlich arglosen Missgeschicks von Ihrer Seite oder der des Mädchens eine Tür öffnen und sie unbekleidet antreffen – versetzt Sie dieser Anblick dermaßen in unkontrollierte Wallungen, dass Sie tatsächlich nach ihr fassen, ohne einen Gedanken an die Folgen zu verschwenden? Sehen Sie, in keine heftigere Wallung gerate ich in entsprechenden Situationen. Gütiger Himmel, selbst wenn männliches Hämoglobin alles
wäre, wonach mich verlangt, so hätte ich wohl kaum die ganzen Mühen und Ausgaben eines Grundstückerwerbs in London auf mich genommen, nur damit man mir einen rotwangigen jungen Anwalt schickt. Einen gewissen Stachel des Verlangens – zugegeben – verspüre ich immer beim Anblick des Blutes. Doch war es Sorge um Harkers Unversehrtheit, sonst nichts, die mich veranlasste, einen Griff in Richtung seiner Schnittverletzung zu tun. Mein grausamer Schock der Ernüchterung, als ich gewahrte, dass er das Fehlen meines Spiegelbildes bemerkt hatte, wurde im selben Moment erheblich verstärkt, als meine vorzuckende Hand über den offenen Kragen seines Hemdes strich und unmittelbar darunter die Perlenschnur berührte, die eine alte Frau ihm in Bistritz aufgenötigt hatte, als sie von seinem Reiseziel erfuhr. Perlenschnur? Ich wusste ja im gleichen Augenblick, da ich sie entdeckte, dass es sich um einen Rosenkranz handelte, und dass an seinem Ende das Kruzifix baumelte. Und da ich im Laufe eines unserer Gespräche bereits erfahren hatte, dass Harker ein überzeugter Protestant war, ein Gefolgsmann der anglikanischen Hochkirche, wie er es ausdrückte, gab es für mich nur eine Art, sein Tragen eines Kruzifixes zu verstehen – er hatte es sich besorgt, oder es sich zumindest bereitwillig umhängen lassen, weil er es als Wappnung für seine Reise in den Schlupfwinkel eines Vampirs ansah. Ich, der ich mich bereits als von der menschlichen Gesellschaft anerkannt geglaubt hatte, sah meine närrischen Hoffnungen zerstört, noch ehe sie Bestätigung finden konnten. In den wenigen Augenblicken, bevor ich fähig war, meine Enttäuschung zu verwinden und mich selbst zur Geduld zu mahnen, reagierte ich unbesonnen. Mein erster Impuls war, Harker die Perlen vom Hals zu reißen, doch ein Empfinden der Ehrfurcht hielt mich davon ab – ich meinerseits bin ja
Katholik, müssen Sie wissen, wenngleich im orthodoxen Glauben geboren, und in jenen Tagen, als ich noch atmete, stiftete ich fünf Klöster. Eine Sekunde der Besinnung brachte mir die Unbilligkeit eines Angriffs auf Harkers Person zu Bewusstsein, einen unwissenden, wohlmeinenden, jungen Mann, der wohl kaum die ganze Tragweite des Talismans erfasste, den man ihm mitgegeben hatte. »Hüten Sie sich«, sagte ich, während ich meine Wut und meine Enttäuschung niederrang, »hüten Sie sich davor, sich zu schneiden, denn das ist in diesem Lande gefährlicher als Sie ahnen.« Bei dieser Warnung dachte ich an Anna, Wanda und Melisse, deren Reaktion auf den Anblick und die Witterung frischen jungen Männerblutes ganz sicher weniger gezügelt ausfallen würde als die meine. »Und dieses elende Ding ist schuld an allem!«, rief ich, von den frischen Wunden auf meiner Seele dazu getrieben, irgendeine Wuttat zu begehen, und packte das Symbol meiner Ausgrenzung als erwähltes Opfer meines Zorns. »Welch schäbiges Spielzeug menschlicher Eitelkeit. Hinfort damit!« Ich riss das schwere Fenster auf und schleuderte Harkers Rasierspiegel hinaus, der auf dem Pflaster des Schlosshofs in tausend Scherben sprang. Aus Angst, weitere Unvorsichtigkeiten zu begehen, verließ ich wortlos das Zimmer. All die Monate und Jahre meiner sorgfältigen, gewissenhaften Planung, waren sie alle vergeudet? Würde Harker die Wahrheit wie auch die grässlichen Lügen über mich als unheilvolles Gebräu mit in seine Heimat nehmen und Glauben dafür finden? Würde ich am Kai von Whitby oder auf dem Charing-Cross-Bahnhof in London eintreffen und einer Abwehrmauer priesterlicher Teufelsaustreiber und stinkender Knoblauchschwinger gegenüberstehen? Während ich an jenem schicksalhaften Morgen versuchte, meine Fassung zurückzugewinnen und meine Pläne zu
überdenken, begab Harker sich, wie er in seinem Tagebuch berichtet, auf eine etwas furchtvolle Erkundung jener Teile des Schlosses, die ihm nicht durch verschlossene Türen verwehrt waren: Da er allerdings auf eine große Anzahl der letzteren stieß, setzte er sich plötzlich in den Kopf, ein Gefangener zu sein. Nicht etwa, dass er mir diesen Verdacht jemals geradeheraus mitgeteilt oder mich einfach danach gefragt hätte. Wie er selbst schrieb: »… es ist zwecklos, dem Grafen meine Vermutungen zur Kenntnis zu bringen. Er weiß sehr wohl von meiner Gefangensetzung; und da er selbst dafür verantwortlich ist und zweifellos seine besonderen Beweggründe dafür hat, würde er mich nur anlügen, wenn ich ihm auf den Kopf zu sagte, was vorgeht… Mir ist klar, dass ich entweder wie ein Säugling einer Vorspiegelung meiner eigenen Ängste unterliege oder aber in einer verzweifelten Klemme stecke.« Kurz darauf kehrte Harker in sein Gastzimmer zurück, wo er mich dabei antraf, sein Bett zu richten, und wir tauschten ein paar höfliche Floskeln aus, ohne dass einer von uns den Vorfall mit dem Rasierspiegel erwähnte. Etwas später, am Abend, hellte sich meine Stimmung wieder auf, denn mein junger Besucher setzte sich mit mir wie gewöhnlich zum Gespräch zusammen und begann mir Fragen zur Geschichte meines Landes und meiner Familie zu stellen. Er versteht, so dachte ich, zumindest beginnt er zu verstehen, und er verurteilt mich nicht im Voraus, sondern grüßt mich und spricht zu mir noch immer wie ein Freund. Demnach traf alles zu! Traf zu, was ich gehört und gelesen hatte, über den vornehmen englischen Respekt vor jedermanns Privatangelegenheiten! Hatte ich zu einem früheren Zeitpunkt auch den Eindruck gewonnen, dass Harker diesen althergebrachten Respekt zu weit trieb, erkannte ich nun, wie vorteilhaft eine solche Haltung für meine Zwecke sein konnte.
In langen Schritten den Raum durchmessend und vor Erregung meinen Schnurrbart zwirbelnd, erweckte ich die ruhmvolle Geschichte meiner Familie und meiner Rasse zum Leben. Ich erzählte, wie unsere Wikingerahnen aus Island herabgekommen waren, um sich mit den Hunnen zu vermählen und zu mischen, deren Kampfeswut über die Welt hingefegt war wie eine leibhaftige Feuersbrunst, »bis«, so rief ich aus, »die sterbenden Völker von ihnen glaubten, ihre Adern durchschäume das Blut jener alten Hexen, die, aus dem Scythenland vertrieben, sich in der Wüste mit Teufeln gepaart hatten. Narren, Narren! Welcher Teufel, welche Hexe war denn jemals so groß wie Attila, dessen Blut durch diese Adern strömt?« Und ich reckte meine Arme empor – genau so. »Ist es denn ein Wunder«, fuhr ich fort, »dass wir eine Rasse von Eroberern waren; dass wir Stolz besaßen; dass wir die Magyaren, die Lombarden, die Awaren, die Bulgaren und die Türken, als sie zu Abertausenden über unsere Grenzen eindrangen, zurücktrieben?« Voller Hingabe und Freude erweckte ich die Heldentaten jener Jahrzehnte zum Leben, als ich noch unter den Atmenden weilte. »Wer sonst als ein Angehöriger meines eigenen Geschlechtes war es, der die Donau überquerte und den Türken auf seinem eigenen Boden schlug? Fürwahr, es war ein Dracula! Der, nachdem man ihn zurückgeworfen hatte, wiederkehrte, und wieder und wieder und wieder, obwohl er das blutgetränkte Feld alleine verlassen musste, wo seine Mannen hingemetzelt worden waren, weil er wusste, nur er allein konnte am Ende den Triumph erzwingen! Es hieß, er habe nur an sich selbst gedacht. Pah! Wozu taugen Bauern ohne Anführer? Wie soll ein Krieg zum Siege führen, wenn kein Hirn und Herz die Schlachten lenkt? Dann warfen wir nach dem Waffengang von Mohacz das ungarische Joch ab, und wir vom Blute der Draculas waren unter den Schlachtenlenkern, denn unser stolzes Wesen ertrug es nicht,
unfrei zu sein. Ah, junger Herr, die Szekely – ihr Name bedeutet ›Wächter der Grenze‹ – und die Draculas als deren Herzen, als ihr Blut und ihr Gehirn, als ihr Schwert – können sich einer Vergangenheit rühmen, welche Sippen von Emporkömmlingen wie die Habsburger und die Romanoffs niemals vorweisen werden. Doch die Tage der Kriegstaten sind längst gezählt. Blut ist ein zu kostbar Ding in dieser Zeit eines Feiglingsfriedens; und der Ruhm der großen Geschlechter gleicht einer Geschichte, die keine Fortsetzung findet.« Ich schwelgte und sang mein eigenes Lob, wie gesagt, und mein kleiner Engländer ertrug es geduldig, aber er war dumm, so dumm und begriffsstutzig. Ein Grübler war er, kein Träumer. Er besaß keine Phantasie, die man hätte entzünden können. Doch muss ich ehrlicherweise einräumen, dass es ihm, wäre er mit mehr Phantasie begabt gewesen, auf Schloss Dracula womöglich noch übler ergangen wäre als es der Fall war. Am folgenden Morgen, dem des elften Mai, führte ich eine letzte lange Unterredung mit Harker über englische Geschäftsgepflogenheiten, an deren Ende meine Bitte stand, er möge einige Briefe nach Hause schreiben. Ich fragte ihn: »Haben Sie seit Ihrem ersten Brief noch einmal an unseren Freund, Mr. Peter Hawkins, geschrieben oder an irgendjemand anderen?« »Das habe ich nicht getan«, entgegnete er, wobei eine Spur Verbitterung aus seiner Stimme klang, »da ich bisher keine Gelegenheit sah, Briefe an wen auch immer abzusenden.« »Dann schreibt also jetzt gleich, mein junger Freund«, sagte ich und legte ihm versöhnlich eine Hand auf die Schulter. »Schreiben Sie an unseren Freund Hawkins und wen es sonst angeht, und teilen Sie ihnen mit, dass Sie, sofern es beliebt, mir noch einen weiteren Monat zur Verfügung stehen werden.«
»Wollen Sie wirklich, dass ich so lange hier bleibe?« Seinen Mangel an Begeisterung bei dieser Aussicht konnte er nur schwer verhehlen. Unverkennbar weilten seine Gedanken bei irgendwelchen eigenen Schwierigkeiten, doch noch immer hegte ich große Hoffnungen, ihn für mich gewinnen zu können. »Mir liegt viel daran«, erklärte ich. »Mehr noch, ich werde keine Absage hinnehmen. Als Ihr Dienstherr, Arbeitgeber oder was auch immer sich verpflichtete, mir einen Handlungsbevollmächtigten an seiner statt zu senden, war es abgemacht, dass ausschließlich meine Belange im Vordergrund stehen. Ich war schließlich nicht kleinlich. Verhält es sich nicht so?« Er pflichtete mit einer stummen Verbeugung bei, zeigte jedoch ein so unglückliches Gesicht, dass ich es für besser hielt, mich des Inhalts der Briefe zu versichern, die er aufgeben würde. Daher fügte ich hinzu: »Ich möchte Sie bitten, mein junger Freund, in Ihren Briefen ausschließlich Geschäftliches zu berühren, ausgenommen eine Mitteilung an Ihre Freunde, dass Sie wohlauf sind und sich freuen, sie bald wiederzusehen. Verhält es sich nicht so?« Als ich ihn an jenem Abend allein ließ, in der Hand seine Briefe und einige Schriftsätze von mir selbst bezüglich meiner bevorstehenden Auslandsreise, verharrte ich an der Tür, leicht geplagt von meinem Gewissen. »Ich hoffe auf Ihre Nachsicht«, begann ich – doch Harker sah lediglich auf, seine Miene war abweisend, daher fuhr ich fort: »… doch habe ich heute Abend noch sehr viel Privates zu erledigen.« Es gab keinen Stoff mehr für unsere abendlichen Gespräche. »Sie finden sicherlich alles zu Ihrer Zufriedenheit.« Sein Groll hielt an, und ich fühlte deutlich, dass die Dinge falsch liefen, dass Ärger im Anmarsch war.
Bevor ich das Zimmer verließ, sagte ich noch: »Hören Sie meinen Rat, mein lieber junger Freund – nein, beherzigen Sie meine dringende Warnung! – Niemals und unter keinen Umständen sollten Sie diese Räume verlassen, in irgendeinem anderen Teil des Schlosses einschlafen. Es ist alt und voller Erinnerungen und birgt böse Träume für all jene, die unüberlegt dem Schlaf nachgeben. Seien Sie gewarnt! Sollte Sie jemals Müdigkeit übermannen, dann suchen Sie so schnell wie möglich Ihr Schlafzimmer oder diese Gemächer auf, nur dann wird Ihre Ruhe ungefährdet sein. Doch falls Sie diesbezüglich keine Vorsicht zeigen, so…« Ich beendete meinen Appell mit der Geste des Händewaschens. Noch immer starrte Harker mich lediglich an, ein mürrischer und zunehmend furchterfüllter Mann. Auf diesen Abend folgte dann auch die Nacht, in der Harker mich zufällig beim Verlassen des Schlosses beobachtete. Warum entschied ich mich ausgerechnet in dieser ganz bestimmten Frühlingsnacht dazu, mit dem Kopf voran die Mauer über dem Steilhang hinabzuklettern, statt mich unbemerkt in Gestalt einer Fledermaus auf ledernen Schwingen, weniger Furcht erweckend auf vier Beinen, oder völlig unverdächtig auf zweien zu entfernen? Darauf kann ich nur antworten, dass jede meiner verschiedenen körperlichen Gestalten und Fortbewegungsarten ihre eigenen Vor- und Nachteile hat, ihre angenehmen und unangenehmen Seiten; außerdem, um die Wahrheit zu sagen – und darum bin ich ja hier, nicht wahr, und diktiere diesem Aufzeichnungsapparat – versuchte ich Anna und ihrem endlosen Gebettel zu entgehen, ich möge ihr erlauben, Harkers Blut zu kosten, was ich durch ein Herausklettern aus dem Schloss am ehesten zu erreichen meinte. Und so beobachtete mich also der arme Jonathan, als er zufällig aus einem der Fenster ins Mondlicht hinaussah, dabei,
wie ich mich, laut seinem Tagebuch, »langsam aus (einer weiter unten gelegenen) Fensteröffnung schälte und die Schlossmauer über jenem schrecklichen Abgrund hinabzukriechen begann, Kopf voran und von den Mantelfalten wie von einem riesigen Flügelpaar umbauscht… Eine Täuschung war unmöglich. Finger und Zehen krallten sich deutlich sichtbar in die Fugen zwischen den Steinen« – meine Schuhe hatte ich mit ihren Schnürsenkeln an meinen Gürtel gebunden – »gerade so, wie eine Eidechse eine Mauer entlanghuscht. Welch ein Menschenwesen ist dies oder vielmehr, was für ein Geschöpf verbirgt sich hier in menschlicher Gestalt?« Drei Nächte später sah Harker abermals, wie ich mich auf dieselbe Weise entfernte, und während meiner Abwesenheit versuchte er das Schloss durchs Hauptportal zu verlassen. Ich hatte es allerdings sicher verriegelt, zu seinem eigenen Besten, und er machte enttäuscht kehrt, um nach einem anderen Ausweg zu suchen. Durch eine Tür, die ich aus Nachlässigkeit nicht fest genug abgesperrt hatte, gelangte er in den Westflügel des Schlosses. Dieser war, wie er vermutete, »jener Teil des Schlosses, der ehedem die Damengemächer beherbergte«. Diese Schlussfolgerung hatte er aus dem Vorhandensein »großer Fenster… und der dadurch gewährten Helligkeit und Behaglichkeit« gezogen, »wohin Wurfschleuder, Bogen oder Pulverrohr nicht reichten«, weil die Felshänge ringsumher zu hoch und steil waren. Hier, so malte er sich aus, hatten »Fräuleins früherer Zeiten gesessen und gesungen und ihr liebreizendes Dasein gefristet, während sich ihren holden Busen traurige Seufzer der Sorge über ihre Männer entrangen, die weit entfernt in erbarmungslosen Schlachten fochten.« Zum Glück waren die Fräuleins früherer Zeiten, ähnlich denen seiner eigenen Epoche, ein wenig robuster und tüchtiger als er
es ihnen auch nur ansatzweise zubilligte. Hätte er ein besseres Verständnis hierfür bewiesen, wäre manches anders gekommen, nicht nur in seinem Leben sondern auch in meinem eigenen. Doch ich greife meiner Erzählung vor. Nachdem er sich Zutritt zu diesen verschlossenen Gemächern verschafft hatte, bewunderte Harker eine Zeit lang ihre großzügigen, monderhellten Fenster sowie die Möbel, die »einen Eindruck größerer Bequemlichkeit« erweckten als alle, die er sonst im Schlosse gesehen hatte. Obwohl er in der Zimmerflucht eine »schreckliche Einsamkeit« empfand, die sein Herz umkrampfte, »war es immer noch besser als alleine in den Zimmern zu leben, die ich dank Graf Draculas Gegenwart mittlerweile verabscheue, und nachdem ich versucht hatte, meine Nerven ein wenig zu beruhigen, fühle ich eine süße Ruhe über mich kommen.« Ungeachtet meiner überaus ernsthaften Warnungen, beruhigte der Schafskopf selbstverständlich seine Nerven bis er einschlief. Ich kehrte rechtzeitig zurück, um ihn zu retten, wenn auch knapp, und selbst mich machte das Ausmaß seiner Torheit für einen Moment sprachlos. Ohne die Last, mit der ich das Schloss wieder betreten hatte, auch nur abzulegen, lauschte ich auf seine Atemgeräusche in den Gästezimmern, vernahm sie jedoch nicht; daraufhin rannte ich, immer schneller und schneller, durch die dunklen Gänge, mit Ohren und Augen nach meinem Gast forschend, erfüllt von ständig wachsender Sorge. Als ich auf die geöffnete Tür zum Westflügel stieß, die ich für gut verschlossen gehalten hatte, konnte ich nur noch beten, dass es nicht zu spät war. Gerade noch rechtzeitig für Harker, darf ich wohl sagen, kam ich über sie, in einem Gemach, erfüllt von fließendem Mondlicht, das einen Zauber über den altersbedingten tristen Verfall wob, Harker selbst hingestreckt auf ein altertümliches Sofa, welches er sich ungeachtet des Staubes zum Lager
erwählt hatte. Wanda und Melisse standen ein wenig abseits, ungeduldig, dass die Reihe an sie käme, während sich die blonde Anna über ihn beugte und bereits die Spitzen ihrer Eckzähne auf seine Kehle gelegt hatte. Ich wuchs in menschlicher Gestalt neben ihr empor und schloss meine Hand um ihren schlanken weißen Nacken, riss ihren schmiegsamen Körper hoch, der die Kraft von zehn starken Männern besaß, und schleuderte sie zurück, sodass sie durch das halbe Gemach strauchelte. Mit einem Blick auf Harker erkannte ich, dass seine Blutgefäße noch nicht verletzt waren. Er selbst lag beinahe bewusstlos, in einer Mischung aus Schlaf und Trance; seine Lippen waren zu einem törichten Grinsen geteilt, und ein Augapfelstreifen schimmerte unter jedem seiner schlaffen Lider. In der Hoffnung, dass er sich am Morgen der Szene nicht mehr erinnerte, senkte ich meine Stimme trotz meines Zorns zu einem Flüstern. »Wie könnt ihr es wagen, ihn anzurühren, auch nur eine einzige von euch? Wie könnt ihr es wagen, eure Blicke auf ihn zu richten, obwohl ich es verboten habe? Zurück, sage ich euch, alle drei! Dieser Mann ist mein! Seht euch vor, ihn anzurühren, oder ihr bekommt es mit mir zu tun.« Die blonde Anna, ohne Frage schmerzhaft enttäuscht, weil sie ihres Vergnügens beraubt worden war, als es ihr bereits sicher schien, stieß ein angewidertes, bitteres Lachen aus und erdreistete sich zu antworten: »Du hast ja nie geliebt; du kennst überhaupt keine Liebe!« Und die anderen Frauen fielen in ihr Lachen ein, als sie erkannten, dass ich nicht sofort Anstalten machte, Anna zu züchtigen. »Doch, auch ich kann lieben«, erwiderte ich sanft. Und in jenem Augenblick kehrten meine Gedanken in eine gänzlich andere Welt zurück, eine einstmals sonnige und lebendige Welt innerhalb dieses Schlosses, innerhalb ebendieses
Gemaches, das nurmehr mondbeglänzten Staub und Moder und Verfall enthielt. Aber jene Welt, die ich in meiner Erinnerung bewahrte, war nicht die ihre, und ich hatte nicht die Absicht, ihnen Stoff für ihren Spott zu liefern. »Ja, ich kann lieben«, sagte ich. »Ihr selbst könnt aus früheren Tagen davon erzählen. Oder etwa nicht? Gut also, ich verspreche euch, sobald ich seiner nicht mehr bedarf, mögt ihr ihn nach Herzenslust küssen. Jetzt jedoch geht, geht! Ich muss ihn wecken, denn es gibt Arbeit zu tun.« Diese Lügen erzählte ich den Frauen, um sie los zu werden, ohne sie zu bestrafen. Ich empfand kein Verlangen, sie für Harkers Dummheit büßen zu lassen. Grausamkeit liegt mir nicht, und ich bin nicht grundlos grausam. »Und wir sollen heute Nacht leer ausgehen?«, jammerte Melisse, wobei sie auf den Sack deutete, den ich mitgebracht hatte und der nun, schwach sich bewegend, auf dem Boden lag. Er enthielt die eher kärgliche Ausbeute meiner Nahrungssuche – ein ziemlich mageres Ferkel, das mir von einer Bäuerin ausgehändigt worden war, damit ich als Gegenleistung irgendetwas verdammenswert Schreckliches über eine ihrer Rivalinnen in Liebesangelegenheiten brachte. Ich nickte, und die Frauen versammelten sich mit einem Satz um den Sack und schleppten ihn mit sich fort. In diesem Moment gab Harkers liegende Gestalt einen ersterbenden Seufzer von sich. Ich blickte mich scharf nach ihm um und konnte nun gewiss sein, dass er der Welt so entrückt war wie ein Toter. Was ich zu jenem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass er mitbekommen hatte, wie die Frauen sich auf meinen Lebensmittelsack stürzten, und das Quieken, welches aus seinem Inneren drang, falls seine »Ohren ihn nicht täuschten«, für »ein Keuchen und leises Weinen« gehalten hatte, »wie von einem halb erstickten Kinde«. Mein phantasiearmer Anwalt war einer Ohnmacht anheimgefallen.
Es bedarf wohl kaum einer Erwähnung, dass keine Möglichkeit bestand, in jener Nacht Geschäftssachen mit ihm zu bearbeiten, selbst wenn mir der Sinn danach gestanden hätte. Ich trug Harker, der noch immer in einer seligen Ohnmacht befangen war, in sein Zimmer zurück und brachte ihn zu Bett. Noch immer hegte ich die Hoffnung, dass er seinen Abend mit den Mädchen lediglich als Albtraum in Erinnerung behalten würde, sofern er sich überhaupt daran erinnerte. Außerdem nahm ich mir die Freiheit, seine Taschen zu durchsuchen, und warf zum ersten Mal einen Blick in sein Tagebuch. Doch war es in Kurzschrift gehalten, ein Code, den ich erst viel später zu lesen lernte, und nach kurzer Überlegung ließ ich das kleine Buch dort, wo ich es gefunden hatte. »Falls ich geistig gesund bin«, schrieb er am folgenden Tag hinein, »so ist es doch gewiss zum Wahnsinnigwerden, sich bewusst zu machen, dass von allen ruchlosen Dingen, die dieser hassenswerte Ort birgt, der Graf für mich noch am wenigsten furchtbar ist; denn er allein garantiert meine Sicherheit und sei es auch nur, solange ich seinen Absichten diene.« Und ich hatte mir eingebildet, dass er, sollte irgendetwas von den mondbeschienenen Schrecken, denen er so knapp entronnen war, in seinem Gedächtnis haften geblieben sein, mich nach seinem Erwachen als seinen Beschützer und Freund preisen würde! So viel zu meinem arglosen und lange aufrecht erhaltenen Vertrauen in die menschliche Natur. Mir begann klar zu werden, dass mein Problem jetzt nicht mehr so sehr darin bestand, wie ich Harkers Freundschaft gewinnen könnte, sondern was ich mit ihm oder in Hinblick auf ihn, tun sollte. Entließ ich ihn nach Hause, dann hatte er zumindest einige recht sonderbare Geschichten über mich zu erzählen, wenn er dort eintraf. Meine eigene Abreise sollte am dreißigsten Juni stattfinden, also erst in über einem Monat, und
Harker konnte mit Leichtigkeit schon nach einer Woche zurück in London sein, wo er genug Zeit hätte, mir einen Empfang der hässlichsten Art zu bereiten. Seine Kenntnis meiner Geschäftsangelegenheiten in England war so umfassend, dass mir kaum Hoffnung bliebe, einer solchen Entwicklung zu entgehen, falls er Schloss Dracula als mein Feind verließ und die Rückreise mit einem Vorsprung antrat. Doch zugleich war er immer noch mein Gast, sodass meine Verantwortung als Gastgeber wie auch die Prinzipien von Ehre und Recht es mir verboten, ihm irgendein Leid anzutun. Ich sehnte mich danach, dass er endlich offene Bezichtigungen aussprach, auf die ich ebenso offen antworten konnte, und seine Freiheit einforderte, falls er sich an den verschlossenen Türen störte, oder aber dass er mir als Feind entgegentrat, damit ich eine Rechtfertigung besaß, ihn zu töten. Die letztere Lösung rückte greifbar nahe, als ich herausfand, dass er versucht hatte, einen Brief mit einer Geheimbotschaft aus dem Schloss zu schmuggeln. Dieser war an seine Verlobte adressiert, Miss Mina Murray, an die er erst tags zuvor auf mein Ersuchen hin offen geschrieben hatte. Harker warf diesen geheimen Brief sowie einen weiteren, an Hawkins gerichteten, zusammen mit einem Goldstück aus dem Fenster einem meiner Zigeuner zu, der mir die Schriftstücke natürlich zur Kenntnis brachte. Der heimliche Brief an Hawkins war sehr kurz und forderte diesen lediglich auf, mit Mina Murray in Verbindung zu treten; der an sie gerichtete Brief jedoch war codiert, abgefasst in der gleichen Kurzschrift wie Harkers geheimes Tagebuch. Als ich das Schriftstück untersucht hatte, stand ich kurz davor, in Harkers Gemächer zu kommen und ihm Gewalt anzutun. Ich musste mich mit aller Macht mahnen, dass mein Gast noch immer mein Gast war, dass er sich für einen durchschnittlichen, wenig gereisten Engländer in einer
seltsamen Lage befand und dass ich nicht mit Sicherheit wusste, ob das codierte Sendschreiben auch wirklich irgendwelche Unwahrheiten über mich verbreitete oder in der Absicht verfasst war, mir zu schaden. Dennoch war ich wütend. So wütend wie selten seit jenem Tag, da ich den türkischen Gesandten ihre Turbane auf die Köpfe nageln ließ, weil sie sich geweigert hatten, sie vor mir abzunehmen. Erinnern Sie mich später daran, Ihnen davon zu erzählen… Doch gerade wenn ich am wütendsten bin, trage ich Ruhe zur Schau. Ich nahm die beiden Briefe, begab mich damit in Harkers Zimmer und setzte mich neben ihn hin. Er blickte zu mir auf, mit jenem schuldbewussten, hoffnungslosen, verhärmten Ausdruck, der sein Gesicht jetzt mit jedem Tag deutlicher zeichnete. »Diese Briefe haben mir die Szgany ausgehändigt«, begann ich ruhig. »Wenn ich auch nicht weiß, woher sie stammen, muss ich doch von ihnen Kenntnis nehmen. Sehen Sie!« – und ich öffnete einen der Briefe erneut – »Einen haben Sie geschrieben, und zwar an meinen Freund Peter Hawkins; der andere« – und ich zog den stenografierten Brief aus seinem Umschlag – »ist ein garstiges Schundwerk, ein gemeiner Missbrauch von Freundschaft und Gastlichkeit! Er ist nicht unterschrieben. Gut so! Demnach geht er uns auch nichts an.« Mit diesen Worten verbrannte ich ihn ohne Zögern in der Flamme von Harkers Lampe… Ah, für elektrisches Licht habe ich herzlich wenig übrig. »Den Brief an Hawkins«, fuhr ich fort, »werde ich natürlich absenden, da er ja von Ihnen stammt. Ihre Briefe sind mir heilig. Verzeihen Sie, mein Freund, dass ich unwissentlich das Siegel erbrach.« Ich übergab Harker den Brief zusammen mit einem unbenutzten Umschlag und sah ihm zu, wie er das Kuvert neu adressierte und versiegelte. Sein Gesicht drückte eine solche Verzweiflung aus, begleitet von einem nervösen
Zucken seiner Wangen und Augen, und seine Finger zitterten dermaßen als er das Kuvert zu beschriften versuchte, dass mein Mitgefühl geweckt wurde und ich froh war, nicht strenger mit ihm gewesen zu sein. Zu jener Zeit hatte ich bereits seit über vierhundert Jahren oftmals Gelegenheit gehabt, menschliche Geschöpfe unter dem Einfluss von Stress zu beobachten, daher erkannte ich leicht, dass Harker am Rande eines Nervenzusammenbruchs schwankte. Das war im Grunde bedauernswert, und ich fühlte mich zumindest indirekt dafür verantwortlich; zugleich schien aber auch ein Gewicht von meinen Schultern genommen. Mit ein wenig Glück für mich würde er zwei Monate in einem Sanatorium verbringen, nachdem er mein Schloss verlassen hatte, und niemand würde Vampirgeschichten aus dem Munde eines Mannes Glauben schenken, dessen Geist derart offenkundig aus dem Gleichgewicht geraten war. Ich nahm an, dass Hawkins mich möglicherweise in Purfleet aufsuchen würde und dass vielleicht auch Harkers heiß geliebte Miss Mina Murray dies täte – ihr Name erweckte mein Interesse, sogar damals schon –, um in Erfahrung zu bringen, was in den Karpaten vorgefallen sein mochte, das den armen Jungen dermaßen außer Fassung gebracht hatte. Dann würde ich mich Anteil nehmend und freundlich zeigen, würde mich gastlich geben, zu welchem Zwecke ich meinen Besitz zumindest zum Teil nach modernen Komfortstandards renovieren lassen wollte. Bis Harker Glauben für seine Erzählungen gefunden hätte – sofern er nicht so klug war, sie statt dessen zu entschärfen oder von ihnen abzurücken – sollte es mir wohl gelingen, in England weitere Zufluchtsstätten für mich einzurichten, ja sogar mein Aussehen zu verändern und mich dem Zugriff möglicher Nachforschungen für immer zu entziehen.
Außerdem gab es noch die drei vordatierten Briefe, die ich einige Tage zuvor vorausschauend von Harker erlangt hatte, indem ich ihm etwas über die Unzuverlässigkeit der Postbeförderung vormachte. Hierbei handelte es sich um dahingeplauderte, unverfängliche Berichte über eine angenehme Reise und das gute Befinden Harkers, von ihm angeblich am zwölften, neunzehnten und einundzwanzigsten Juni verfasst, wobei der dritte Brief statt aus dem Schloss aus Bistritz datiert war. Ich hatte mir diese Briefe in Vorahnung eines unerfreulichen Endes von Harkers Besuch verschafft, und nun erwies sich diese Voraussicht als klug. Sollte er aus irgendeinem Grunde nicht bei guter Gesundheit zu Hause ankommen, würde mich kein Verdacht treffen. Als ich den neu adressierten – und nunmehr harmlosen – Brief an Hawkins zurück zu den Zigeunern brachte, setzte ich das Oberhaupt ihrer Sippe davon in Kenntnis, dass mein Gast im Begriff stand, non compos mentis zu werden und dass wir gut auf ihn Acht geben sollten. Tatra, ein dunkler, kompakter Mann, der mit seinem Pferd zu einem Zentaur verschmelzen konnte, nahm diese Neuigkeit aus irgendeinem Grunde mit wenig Überraschung auf. »Am Tag nach meiner Abreise, Tatra«, setzte ich hinzu, »sollst du die Kutscherlivree anlegen und ihn zum Pass hinabbringen, sodass er rechzeitig mit der Postchaise nach Bistritz abfahren und dort die Eisenbahn nehmen kann. Befolge seine Befehle oder Wünsche in allen kleinen Dingen, soweit sie vernünftig erscheinen; oder besser noch in überhaupt allem, soweit es ihn nicht in Gefahr bringt. Er trägt keine Schuld an dem, was er hier zu leiden hatte, oder zumindest nicht ausschließlich.« Tatra machte eine Verbeugung und schwor, seinem Meister zu willfahren. Im Stillen hoffte ich, dass ich mich wirklich darauf verlassen konnte.
Als ich zu Harker zurückkehrte und seine Zimmertür aufschloss – ich hatte ihn eingesperrt, weil ich mittlerweile befürchtete, er könnte etwas wirklich Unüberlegtes tun – war meine Stimmung so gelöst wie seit Tagen nicht mehr. Bei meinem Eintreten fand ich ihn auf einem Sofa schlafend vor. Er erhob sich, als ich ins Zimmer kam, und blickte mit abgezehrter Wachsamkeit zu mir hoch. Er wirkte fast schon zu ausgelaugt, um Angst zu haben. »Sie sind also müde, mein Freund?«, fragte ich, mir munter die Hände reibend. »Dann gehen Sie besser zu Bett. Dort finden Sie am sichersten Erholung. Ich werde heute Nacht das Vergnügen einer Unterhaltung mit Ihnen entbehren müssen, da zu viele Pflichten meiner harren.« Mein Nahrungsvorrat für ihn war fast verbraucht, nachdem er auch den größeren Teil des Ferkels verzehrt hatte, dessen Gequieke ihn bei früherer Gelegenheit auf so falsche Gedanken gebracht hatte. »Sie jedoch werden ruhig schlafen, hoffe ich.« Er kam wie ein Schlafwandler auf die Beine und taumelte nach nebenan zu seinem Bett, wo er sich mit dem Gesicht nach unten auf den Bezug fallen ließ. Binnen kurzem war er tatsächlich wieder eingeschlafen – wie er am folgenden Tag in sein Tagebuch schrieb: »Die Verzweiflung findet ihre eigene Ruhe« –, und ich nutzte die Gelegenheit, seine Papiere, sein Geld und so fort an mich zu nehmen, um es sicher zu verwahren. Desgleichen lieh ich mir seine besten Garderobenstücke aus, damit einige der Zigeunerfrauen nach dieser Vorlage ihr Geschick beweisen konnten und mir Kleider anfertigten, die mehr der englischen Mode entsprachen. Diese Schneiderarbeit nahm zwei Wochen in Anspruch, doch konnte ich das Ergebnis probehalber tragen, als ich in der Nacht des sechzehnten Juni abermals zur Nahrungsbeschaffung auszog. Ich wollte wissen, ob meine neue Einkleidung passte und dauerhaft gearbeitet war. Viel
später erst, als ich die Möglichkeit erhielt, Harkers Tagebuch in einer Schreibmaschinenabschrift zu lesen, wurde mir klar, dass er mir in jener Nacht erneut hinterher spioniert hatte und sich einbildete, ich sei in seinem eigenen Anzug die Mauer hinabgeklettert – mit dem Vorsatz, falls Sie das für möglich halten, sein Ansehen zu schädigen; damit eine eventuelle »Ruchlosigkeit«, die ich den Menschen der Umgegend zufügen würde, auf sein Konto ginge. Nein, Mr. Harker, ich versichere Ihnen – hören Sie mich jetzt, von ihrem vermutlichen Platz im Himmel aus? – dass andere Belange, die mir wichtiger erschienen als Ihren Ruf zu beflecken, meinen ganzen Einsatz erforderten. »Großer Gott!«, so wird gewiss irgendein Bauerntölpel in jener Nacht ausgerufen haben, als er meiner hoch gewachsenen Gestalt ansichtig wurde, mit weißem Haar, weißem Schnurrbart, rotäugig, und ausstaffiert wie für die Savile Row. »Das ist der Vampir in den Kleidern des jungen Engländers. Bestimmt hat er ihn aufgefressen!« Kaum hatte ich meine nächtliche Arbeit erledigt und war ins Schloss zurückgekehrt – in meinem prallen Sack ein neugeborenes Kalb transportierend, um meinen Mädchen ein wenig Frischblut und meinem Gast den Genuss von Kalbfleisch zu verschaffen – als diese arme Frau aus dem nächstgelegenen Dorf zum Schloss Dracula kam, um meine Hilfe zu erflehen. Jene arme, tapfere Frau, deren Gesicht ich niemals sah; nicht eine unter tausend hätte dergleichen im hellen Sonnenlicht gewagt, und schon gar nicht in der tiefsten Nacht. Aber die Mutterliebe verleiht zuweilen wundersame Kräfte. »Meister, finde mir mein Kind wieder!«, rief das arme Ding zu Harker hinauf, dessen mondlichtumspielte Gestalt in einem der hoch gelegenen Fenster sie mit meiner eigenen verwechselte. Oh ja, ich weiß, weiß es sehr wohl, dass er ihre Worte in seinem Tagebuch anders festhielt: »Monster, gib mir
mein Kind wieder!« Aber glauben Sie etwa, sie habe Englisch gesprochen? Oder dass Harker gerade seinen Polyglott zur Hand hatte, der ihm in der Bistritzer Kutsche vonnöten gewesen war, um sich mit eben jenem Menschenschlag zu verständigen? Ich für meinen Teil wusste ganz genau, dass die Frau dort draußen stand, auch ohne meinen Kopf zum Fenster hinauszustrecken und sie zu sehen. Und ich verstand ihre Worte. Und ich brauchte auch meine Stimme nicht zu erheben, um ein paar hübsche Exemplare meiner eigenen Kinder – Wölfe – aus einem oder zwei Kilometern Umkreis zusammenzurufen. Auf meinen Befehl hin machten sie sich ans Werk. Rasch durchkämmten sie den Wald und hatten das verirrte Kind binnen Stundenfrist gefunden. Sie bugsierten es mit Kniffen und Stübern in den Schlosshof, wo die dumme Frau – ich vermute, das Kind war durch irgendeine Nachlässigkeit ihrerseits abhanden gekommen – immer noch mit ihren Händen kraftlos gegen meine Pforte hieb, bis sie ihren Nachwuchs inmitten seiner heulenden Begleitschar erblickte. Im selben Augenblick schnappte sie sich das Kind und rannte nach Hause, und wenig Dank haben ich oder meine vierbeinigen Waldhüter jemals erfahren. Harkers Tagebuch hingegen lässt vermuten, dass ich, nachdem ich das Kind als Menü für mich selbst geraubt hatte, anschließend auch noch die Wölfe herbeirief, damit sie die Mutter verspeisten … Nun lese ich in Ihren Augen, dass Sie meiner Version der Ereignisse in diesem Fall überhaupt keinen Glauben mehr schenken. Aber warum sollte ich der Frau auch nicht geholfen haben, so, wie ich tausende von Malen half, als ich noch als Prinz herrschte? Sie kam zu mir in meiner Eigenschaft als Landesherr und erbat meine Hilfe, und meine Herrscherpflicht gebot mir, sie ihr zu gewähren. Dass solch elementare und rechtmäßige Handlungen, von ihrer wie von meiner Seite,
überhaupt einer Rechtfertigung und Beglaubigung bedürfen, zeigt, wie tief die Welt gesunken ist… aber jetzt klinge ich wie ein alter Mann. Sie zweifeln noch. Sie wollen den Glauben nicht aufgeben, dass ich einem Säugling lieber das Blut stehlen würde statt ihn auf meinen Knien zu schaukeln. Und Sie haben sogar Recht, oder hätten es zumindest, wären dies die beiden einzigen Möglichkeiten, mit einem Säugling zu verfahren, die mir zur Wahl stehen. Nun schön. Dieser Zeitpunkt passt so gut wie jeder andere, wir wollen uns also über das Bluttrinken unterhalten. Sie essen Fleisch. Essen Sie Fleisch von Frauen und Männern? Nun, vielleicht ein spielerischer Liebesbiss hie und da, aber mehr auch nicht, richtig? Und ebenso, sehr annähernd zumindest, verhält sich die Sache mit mir. Mein einziges Grundnahrungsmittel ist Blut, warm und bevorzugterweise von Säugern stammend, doch ist es mir letztlich egal, an welcher Spezies ich meinen Hunger stille. Nehmen Sie dies zunächst einfach als gegeben hin. Später werden wir, falls es die Zeit erlaubt, darüber sprechen, wie, meiner Meinung nach, der größte Teil der von mir benötigten Energie mir durch eine bislang unerforschte Sonnenstrahlung zufließt. Eine weitere Besonderheit der vampirischen Existenz besteht darin, dass die Fortpflanzungsorgane, ebenso wie andere Ausscheidungsvorrichtungen, ihre Funktion einstellen; unser Körper sondert weder Samen noch sonstige Säfte oder Auswurf ab. Damit soll nicht gesagt sein, dass es uns an Leidenschaft gebricht; weit gefehlt. Doch während in atmenden Männern und Frauen zahlreiche Begierden toben – verzichten Sie zwei Wochen lang auf Essen, zwei Tage lang auf Wasser, zwei Minuten lang auf Luft und überlegen Sie dann, ob ich die falschen Worte gebrauche – gar nicht zu reden
von der rein geschlechtlichen Begierde, ist für uns das Blut allein das Leben, ist das Blut schlechthin alles. Die Liebe zu Frauen habe ich mein Leben lang verspürt, und das Wesen der Liebe ändert sich für mich nicht. Gewandelt hat sich nur meine Art, sie auszudrücken, seit ich 1476 nach dem Empfang meiner tödlichen Wunde erwachte. Seit damals ist das Blut für mich alles. Oh, ich kann ohne das Blut süßer junger Frauen auskommen, zwei Monate, zwei Jahre, zwei Jahrhunderte lang. Zumindest könnte ich es wohl, wenn es einen Grund für eine derartige Enthaltsamkeit gäbe. Ich sagte Ihnen bereits, dass ich weder auf Lucy noch Mina noch irgendeine andere Frau jemals Zwang ausgeübt habe. Doch lassen wir das. Am Tage nach dem Besuch der armen Frau aus dem Dorf war Harker, schier irrsinnig vor Angst, so tollkühn, aus seinem Fenster zu steigen und so weit an der Außenmauer des Schlosses hinabzuklettern, dass er in meine privaten Gemächer eindringen konnte. Als er daraufhin einem tunnelartigen Gang bis zu einer unterirdischen Kapelle folgte, stieß er auf die erdgefüllten Kisten, die ich und meine Helfer für meine Reise vorbereitet hatten. Und als er in den Kisten herumschnüffelte, entdeckte er in einer davon niemand Geringeren als meine Wenigkeit, wehrlos schlafend. Er hätte mir auf der Stelle den Garaus machen können, wäre er nur schlau und bösartig genug gewesen, hätte nur seine Geistesgegenwart dem Narrenmut entsprochen, mit dem er die Schlossmauer überwunden hatte. Denn ich war, als er mich aufstöberte, naturgemäß nicht bei wachem Bewusstsein. Die vom Tageslicht bewirkte Trance, der wir meistens – allerdings nicht immer – zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang verfallen, beweist, wie ich glaube, unsere Abhängigkeit von der Sonne. Ähnlich wie atmende Menschen nicht ohne gesundheitliche Nachteile in der Lage sind, sich körperlich schwer zu verausgaben, während sie Nahrung
verzehren und verdauen, so sind wir von der vampirischen Zunft in Gegenwart der Sonne zumindest ein wenig lethargisch; auch erträgt es keiner von uns allzu lange, ihren Strahlen ungeschützt ausgeliefert zu sein. Wie auch immer, Harker entdeckte mich in der mit weicher feuchter Erde halb gefüllten Holzkiste liegend und im Trancezustand befindlich. Aus dem Griff dieser Tag-Trance kann man sich nur schwer befreien, wie wir sehen werden, und es ist ratsam, in diesem Zustand etwas wachsamer zu sein als im gewöhnlichen menschlichen Schlafzustand. Wir werden nicht im selben Sinne müde wie atmende Menschen, dennoch müssen auch wir letztendlich ruhen, und diese Ruhe ist uns nur in unvermischter Heimaterde gewährt. Warum das so ist, weiß ich nicht; vielleicht bleibt später etwas Zeit für ein oder zwei diesbezügliche Theorien von mir. Unschlüssig darüber, wie er meinen Zustand auffassen sollte – ohne Atmung, ohne Bewegung, aber zugleich irgendwie immer noch untot – kehrte Harker in seine Zimmer zurück; natürlich verschwieg er mir sein Eindringen hinterher. Vier Tage danach, am neunundzwanzigsten Juni, waren meine Pläne und ebenso die Vorbereitungen meiner Helfer fast bis zum Abschluss gediehen. Am späten Abend begab ich mich zu Harker und sagte: »Morgen, mein Freund, müssen wir uns trennen. Sie werden in Ihr schönes England zurückkehren, ich hingegen mich einer Aufgabe zuwenden, die vielleicht so ausgeht, dass wir einander nie wieder begegnen. Der letzte Brief, den Sie nach Hause geschrieben haben, ist auf den Weg gebracht; morgen werde ich nicht hier sein, doch sind bis dahin alle Reisevorkehrungen für Sie getroffen. Früh am Tag werden die Szgany kommen, die hier einige eigene Arbeiten zu verrichten haben, und ebenso einige Slowaken. Sobald sie fort sind, wird meine Kalesche Sie aufnehmen und rechtzeitig zum Borgo-Pass
bringen, damit Sie die Postchaise von der Bukowina nach Bistritz erreichen. Doch hoffe ich, Sie nicht zum letzten Mal auf Schloss Dracula gesehen zu haben.« Muss ich hinzufügen, dass ich in meinen Gesprächen mit Harker zuweilen der Diplomatie den Vorzug vor der Wahrheit gab? Wünschte ich doch aus ganzem Herzen, dass er mir nie mehr unter die Augen kommen möge. Meine unerwartete Erklärung traf ihn wie ein Schock, er war mehr als nur überrascht. Dies hatte eine belebende Wirkung auf ihn; er sprang auf die Füße, und ich konnte sehen, wie sich seine bescheidenen Geistesgaben zurückmeldeten, während er seinen letzten Mut zusammenraffte, um sich mir entgegenzustellen, was augenscheinlich eine größere Herausforderung bedeutete als über eine senkrechte Mauer zu klettern. Mit fester Stimme fragte er schließlich geradeheraus: »Warum kann ich nicht heute Abend noch abreisen?« »Weil, werter Herr, mein Kutscher und meine Pferde für mich unterwegs sind.« Tatsächlich weilte Tatra, der einzige unter den Szgany, den ich für geeignet hielt, mit einem heiklen Auftrag betraut zu werden, ohne dass ich ihm auf die Finger sah, in diesem Augenblick in einem Dorf in der Bukowina und verhandelte den Kauf eines neuen Pferdes; denn die drei geschätzten Damen meines Haushalts hatten in der Nacht zuvor einem schwarzen Hengst das Leben ausgesaugt, und ich nahm an, dass die Slowaken und ihre Hunde sich bei Tagesanbruch das Fleisch des Tiers schmecken lassen würden. Daraufhin lächelte Harker, so als hätte er mich jetzt in der Falle – es war ein verhaltenes, sanftes, diabolisches Lächeln, wenn ich so sagen darf – und dieser Anblick ließ mich befürchten, dass er bereits ein bisschen irre war, die erwartungsgemäße Folge seines langen, grüblerischen Nährens
von Ängsten und Zweifeln, anstatt sie in offener Aussprache mit mir auszuräumen. Er sagte: »Aber ich werde sehr gerne zu Fuß gehen; ich möchte sofort aufbrechen.« »Und Ihr Gepäck?« »Das macht mir keine Sorgen. Ich kann es später holen lassen.« In seinem Tagebuch hatte das freilich anders geklungen, da hatte er mich beschuldigt, seinen Sonntagsanzug, seinen Mantel und seine Reisedecke gestohlen und ebenso sein Leben und seine geistige Gesundheit bedroht zu haben. Jetzt jedoch stand er fest auf seinen Füßen und wirkte zum ersten Mal seit Wochen wie der selbstsichere und fähige junge Mann, der Anfang Mai auf Schloss Dracula eingetroffen war. Ich seufzte innerlich. Ich vertraute den Szgany nicht genügend, sogar Tatra nicht, um mich völlig darauf zu verlassen, dass sie meine Anweisungen bezüglich Harkers buchstabengetreu ausführten, zumindest nicht, sobald ich erst in eine Kiste eingeschlossen und auf See war. Also gut, überlegte ich, warum soll ich ihn nicht beim Wort nehmen und zulassen, dass er zum Pass hinabläuft? Die einzige wirkliche Gefahr, die ich dabei sah, ging von den Wölfen aus, und ein einziges Wort von mir zu einigen von ihnen, bevor Harker aufbrach, würde ihm eine Leibgarde zur Seite stellen, die seine Sicherheit garantierte, zumindest bis er die Gefilde gewöhnlicher Menschen erreichte, von wo an er wie jeder von uns selbst für sein Schicksal verantwortlich war. Dann lass ihn halt auf Schusters Rappen Abschied nehmen, dachte ich mir, es sind nur ein paar Kilometer bis zum Pass hinunter; und obwohl die Straße schlecht war, besaß sie keine Abzweigungen und führte fast die ganze Strecke über bergab. Ich vermute, dass ich ohne darüber nachzudenken annahm, er habe immer noch ein wenig eigenes Geld in seinen Taschen,
zusammen mit dem Tagebuch, welches er bei sich behalten hatte. Ebenso schätze ich, dass ich mich wahrlich nicht wegen der Goldmünze beschweren sollte, die er mir bei seinem Aufbruch stahl, da ich, oder besser gesagt mein Haushalt, dafür im Besitz eines Kreditbriefes und Harkers bester Bekleidungsstücke blieb – die ich einer Zigeunermagd zum Waschen gab, mit beklagenswertem Ergebnis – und ebenso seines Mantels und seiner Reisedecke, die ich bereits erwähnte, dazu der Zugfahrpläne und so weiter und so fort. Ich trat beiseite und gab den Weg durch seine Zimmertür frei, erleichtert, weil mein Gast nun endlich klar seinen Wunsch bekundet hatte, fortzugehen, und weil ich so schnell und unumwunden darin einwilligen konnte, dass er unweigerlich besser von mir denken musste. Ich beabsichtigte, ihm im letzten Moment einige schwere antike Goldstücke in die Hand zu drücken, zur Erinnerung an seinen Besuch. Mein großartiger, ausgeklügelter Plan, so glaubte ich, schien am Ende doch noch zu funktionieren. Wenn Harker sich erst in nüchterner menschlicher Umgebung wiederfand, würde er das, was er tatsächlich unter meinem Dach erlebt hatte, in einem anderen Licht sehen, oder dem, was er darüber erzählte, einen etwas anderen Anstrich geben. Und die Heimkehr würde ihm so gut tun, dass ein eventueller nervlicher Zusammenbruch sich letztlich vermeiden ließe. Wie Harker in seinem Tagebuch vermerkt, sagte ich an dieser Stelle zu ihm mit ›zuckersüßer Höflichkeit‹, sodass er sich die Augen rieb, weil ›es so echt anmutete‹: »Ihr Engländer habt eine Redensart, die mir aus dem Herzen spricht, denn sie atmet den Geist von uns Boyaren: Eintreffende Gäste soll man willkommen heißen; scheidende Gäste soll man nicht aufhalten. Kommen Sie mit mir, mein lieber junger Freund. Nicht eine weitere Stunde sollen Sie gegen Ihren Willen in meinem Haus verweilen, wenn auch Ihr Abschied und Ihr
plötzlicher Wunsch, von mir zu gehen, mich traurig stimmen. Aber kommen Sie!« Ich nahm eine Lampe und ging voraus über die Treppe nach unten, wobei mir Harker zögernd folgte, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, so als fürchtete er eine Falltür. Unterdessen machte ich von meiner telepathischen Verständigung gegenüber Tieren Gebrauch, um die drei oder vier Wölfe zum Schloss heraufzurufen, die zurzeit durch die nahen Wälder strichen, damit sie meinem Besucher auf seinem Fußmarsch als Begleitschutz dienten. Ich hatte vor, sie hereinzuholen und mit meinem Gast bekannt zu machen, sie seine Hände lecken zu lassen und ihnen zu vermitteln, dass sie ihn freundschaftlich behandeln mussten. Als wir die Innenseite des Hauptportales erreichten, heulten sie bereits im Schlosshof, und sowie ich es öffnete, warfen sie sich in den klaffenden Türspalt. Ich versperrte ihnen den Weg, bis ich sie genügend beruhigt haben würde, um ihnen meinen Auftrag mitzuteilen. Der Lärm jedoch, den sie veranstalteten, der Anblick der reißzahnbewehrten Mäuler, der hechelnden roten Zungen und geifernden Lefzen, die unter meinem Arm hervorschnellten, während ich im Eingang stand und meine Kinder zurückhielt, waren zuviel für Harker. In seinem Tagebuch zeiht er mich der »satanischen Abgefeimtheit«, ihn lebendigen Leibes von den Wölfen fressen lassen zu wollen, ebenso wie der Hintertracht, drei Frauen darauf angesetzt zu haben, ihm das Blut auszusaugen; zwei gleichermaßen ausgefallene Todesarten, so möchte mir scheinen, wie sie selbst Graf Dracula ein und demselben Opfer schwerlich zu bereiten vermag. »Schließen Sie die Tür!«, schrie Harker, woraufhin ich einigermaßen überrascht den Kopf umwandte und sah, wie er voll Verzweiflung gegen die Mauer sank, das Gesicht in den Händen vergraben. »Ich warte bis morgen.«
Es war offenkundig, dass er einen Zustand erreicht hatte, der es nicht gestattete, ihn nächtens über den Berghang spazieren zu lassen. Ich fühlte bittere Enttäuschung – recht heftig schmiss ich das letzte meiner heulenden Kinder in die Nacht hinaus und schmetterte die schwere Tür ins Schloss – aber ich verlor kein Wort mehr an Harker. Schweigend ging ich mit ihm in die Bibliothek zurück, wo ich mit einem äußerst knappen Gutenachtgruß von ihm schied. Erst als ich sein Tagebuch las, erfuhr ich, dass wenig später die drei verfluchten Frauen an seine Tür kamen, ihm vom Gang aus verlockende Einladungen zuflüsterten, ihn mit ihren Kussgeräuschen und ihrem Gelächter verhöhnten, sogar meine flüsternde Stimme nachahmten und einen Wortwechsel mit mir vortäuschten: »Zurück, zurück, woher ihr gekommen seid! Eure Zeit ist noch nicht da. Wartet! Habt Geduld! Heute Nacht bin ich am Zug. Morgen Nacht seid ihr dran!« Nein, Jonathan Harker, falls du mich jetzt hörst, ich glaube nicht, dass ich dir zum Vorwurf machen kann, was du mir später antatest. Auch verspürte ich wenig Mitleid für Melisse, Wanda und die blonde Anna, als dieser Sadist Van Helsing ihnen zu guter letzt seine Aufwartung machte… Doch der Reihenfolge nach. In der letzten Nacht, bevor ich Schloss Dracula verließ, tat ich mich ausgiebig an hellem Rinderblut gütlich – nicht aus reinem Appetit, wenn ich diesen auch verspürte, sondern in der Absicht, ein jugendlicheres Aussehen zu erlangen. Natürlich hatte ich mein eigenes Gesicht seit gut vier Jahrhunderten nicht mehr in einem Spiegel gesehen – es zeugt von einer gütigen Vorsehung, dass ich mich auch nicht regelmäßig rasieren muss – doch hatte ich aus gewissen beiläufigen Bemerkungen meiner gelegentlichen Gefährten den Schluss gezogen, dass meine jetzige Erscheinung die eines alten Mannes war, weißhaarig und weißbärtig, wenn auch ziemlich rüstig, und gelegentlich
rotäugig, so wie ein Tier, das vom Strahl einer dieser neuartigen elektrischen Lampen erfasst wird. Dieser Eigenart konnte ich durch regelmäßige, reichhaltige Nahrungszufuhr abhelfen und gedachte es auch zu tun, für den Fall, dass Harker tatsächlich Zeter und Mordio gegen mich schrie, sobald ich englischen Boden betrat. Ich speiste gut, wie gesagt, und hoffte auch ungestört zu schlafen, wobei ich diesmal ein anderes meiner robusten Reisebetten ausprobierte. Es gibt nicht viel, das einen Vampir am helllichten Tag aufwecken kann, wenn er sich satt gegessen in sein Erdbett legt. Ein unfehlbares Alarmzeichen ist natürlich die scharfe Spitze eines Holzpflocks, die in seinen Brustkorb eindringt, angetrieben von einem starken und entschlossenen Arm mit einem Hammer in der Hand. Das weiß ich gut, wenn auch bisher nicht aus eigener Erfahrung. Was hat Holz an sich, das diesem Material, unter den geeigneten Umständen, diese absolute, so bitterernste Tödlichkeit verleiht, die es für meine Art besitzt? Dass es, wie wir, einst lebendig war, nun jedoch nicht mehr? Metall, welches das Fleisch atmender Menschen so trefflich zerstückelt und den reichen Strom des Lebens aus ihnen herauslockt, lässt uns kalt, bei uns versagt seine tödliche Wirkung. Es prallt an unserem besonderen Fleische ab, dringt hinein und hindurch, vermag jedoch bei uns keine tödliche Kraft zu entfalten. Silberkugeln? Ihre Wirksamkeit ist reiner Aberglaube, soweit es Vampire betrifft. Und dennoch brachte mir Metall an jenem Tag eine Wunde bei, verletzte mich ein scharfkantiger Spaten, geschwungen im verzweifelten Griff Harkers, der abermals die Kletterpartie über die glatten Außenmauern des Schlosses gewagt hatte, um in meine Räume zu gelangen, der erneut meine Gemächer und Gruftgewölbe in der Hoffnung durchstöbert hatte, dort einen Schlüssel oder etwas anderes zu finden, womit er bei Tag auf eigene Faust aus dem Schloss gelangen konnte. Er entdeckte
mich wie zuvor in einer Kiste, und von Mordlust überwältigt, packte er das herumliegende Grabwerkzeug. Denken Sie sich den tiefsten Schlaf, den Sie jemals schliefen, aus dem aufzutauchen so schwierig ist wie nie zuvor, und verzehnfachen Sie diese Versunkenheit. So lag ich in traumloser Vergessenheit, und eine bleierne Lethargie, eine undurchdringliche Starre hielt meine Glieder wie in Ketten. Harker hätte mich aufspüren, fleddern, ausrauben können, nichts davon hätte mich vor Sonnenuntergang geweckt oder gekümmert. Aber als er die Faust um den Spaten schloss, traf mich der psychische Schlag, der blanke Mordvorsatz wie ein die Gewölbeluft zerreißender Fanfarenstoß und zerstörte meine Trance, begann mich ins Wachsein zu zerren, noch bevor das zischende Spatenblatt selbst sein Ziel traf. »Elendes Scheusal.« Seine Stimme war nur ein schwaches, atemloses Stöhnen, und doch vernahm ich es deutlich. »Widerwärtiger, mörderischer, blutsatter Egel.« Meine Augen standen offen, waren die ganze Zeit offen gewesen, und doch wich die Blindheit der Trance nur langsam und nebulös von ihnen. Ich gewahrte, dass der Deckel meiner Kiste aufgestemmt worden war, denn über mir zeichneten sich die steinernen Gewölbebögen ab. Und da war Licht, schwaches Tageslicht, das durch die Fluchten der Zimmer und Korridore herabrieselte. Und ganz am Rande meines Blickfeldes Harkers Gesicht, anfangs nur ein weiß verschwommenes Oval, dann jedoch, als meine Sicht klarer wurde und meine Augen ihn zu erfassen begannen, eine Maske des Wahnsinns, das Gesicht des atmenden Menschen, schlimmster Nachtmahr der Vampire, die Fratze des Jägers, Verfolgers, Pfählers, der seine Welt reinigt, indem er die Untoten als Blutopfer darbringt. Während ich so überaus langsam und hoffnungslos aus meiner Trance emporstieg – zu langsam, wie ich wusste, um mich noch wirksam verteidigen zu können – erkannte ich zum
ersten Mal und ohne Anteilnahme, dass Harker als mein Gast an Gewicht verloren hatte – seine Arme waren dünner in ihren verdreckten Ärmeln – dass sein Haar wirr um ein furchtbar verändertes Gesicht hing, dass er in den Wochen seit dem Verlust seines Spiegels allenfalls flüchtigen Gebrauch vom Rasiermesser gemacht hatte. »Elendes Scheusal!«, knirschte es wieder zwischen den Zähnen hervor, und mitten im letzten dieser Worte brach seine Stimme in ein Schluchzen ab. Und mit einem Atemzug, der wie ein dünner weinerlicher Aufschrei klang, hob er den Spaten, hielt ihn mit beiden Händen hoch in der Luft, bereit, die scharfe Kante seines Blattes mitten in mein Gesicht zu hacken. Ich prahle nicht, wenn ich behaupte, dass ich keine Angst empfand. Später werde ich etwas zum Thema Furcht sagen. Jetzt sage ich nur, dass ich zusah, obzwar kummervoll, wie die Schaufel wuchtig auf mich niederfuhr. Ich konnte unmöglich mehr tun als leicht meinen Kopf zu drehen und zu versuchen, meinen Angreifer anzustarren. Das Spatenblatt traf mich mitten in die Stirn, und ich ertrug den Schock und den Schmerz, den es durch meinen Schädel sandte, und versuchte nutzlos meine Hände und Füße zu rühren und glaubte, schon in der nächsten Sekunde werde der zweite Hieb erfolgen. Und Harker? Was sah er? »… ein höhnisches Lächeln auf dem gedunsenen Gesicht, das mich schier in den Wahnsinn trieb. Dies war die Kreatur, die dank meiner Hilfe nach London kommen würde, wo sie womöglich auf Jahrhunderte hinaus inmitten der wimmelnden Millionen ihren Blutdurst stillen und einen neuen und stetig wachsenden Kreis von Halbdämonen erschüfe, die sich an den Wehrlosen mästeten… Ich ergriff eine Schaufel… hob sie hoch empor und ließ sie dann mit der scharfen Kante des Schaufelblatts auf das verhasste Antlitz hinabfahren. Doch während ich zuschlug,
rollte der Kopf herum, und mich traf der schreckliche Basiliskenblick seiner flammenden Augen. Dieser Anblick sog alle Kraft aus meinen Gliedern, und ich verriss das Schaufelblatt, das sein Gesicht lediglich streifte und eine tiefe Furche in die Stirn grub.« Darauf kann ich nur entgegnen, dass der Anblick Harkers, der mit einem Spaten nach meinem Kopf hieb, auf mich ebenfalls etwas verstörend wirkte. Von meiner Bewegung und seinem Unvermögen, mich beim ersten Streich zu vernichten außer Fassung gebracht, verlor er die Schaufel aus den Fingern, die dabei irgendwie den Kistendeckel zufallen ließ, sodass ich im Dunkeln zurückblieb, seines nächsten Schrittes harrend. Vielleicht zum Glück jener, die an diesen historischen Begebenheiten interessiert sind, wurde unser tête-à-tête an dieser Stelle von »einer Zigeunerweise« unterbrochen, die »aus lustigen Kehlen erklang«, noch nicht in Sichtweite, aber näher kommend, und begleitet von weiteren Geräuschen der Szgany, die mit schweren Pferdewagen in den Schlosshof einzogen, um meine Umsiedlung in Angriff zu nehmen. Harker flüchtete wieder nach oben, wo er weiter in sein Tagebuch kritzelte. Sobald die Luft von Zigeunern rein war, nutzte er die Chance, um in einem tollkühnen Akt die gesamte Schlossmauer hinabzuklettern, und machte sich schnellstens in Eigenregie aus dem Staub. Meine Kalesche blieb an diesem Tag ungenutzt, und Tatra legte seine Kutscherlivree umsonst an. Wenn mein Gast ein wenig länger bei mir geblieben wäre und seine grauen Zellen bemüht hätte, hätte er mir sehr gut ernstliche oder sogar tödliche Verletzungen zufügen können. Ein schlichter Angriff mit einem Metallwerkzeug war natürlich zum Scheitern verurteilt, ein Umstand, an den Harker sich später nutzbringend hätte erinnern können, als er und ich unsere gesellschaftlichen Beziehungen wieder aufnahmen. Inzwischen ist das Mal restlos von meiner Stirne gewichen –
meinen Sie nicht auch? – oder zumindest können meine Finger den Narbenstrang nicht mehr erspüren, und niemand hat in den letzten Jahrzehnten eine Anspielung darauf gemacht. Damals jedoch hatte ich einen pochenden Schädel und neue Nahrung für meine Gedanken – die letzte Kommunion für meine Reise; ich war nicht in der Verfassung, mit meinen loyalen Szgany zu sprechen, als sie meinen Kistendeckel festnagelten und sich daran machten, mich die lange Straße zum Meer hinabzufahren.
2. TONBAND
Meine Reise zu Lande – mehrere hundert Kilometer durch die transsylvanischen Alpen und ostwärts durch die Banat, die fruchtbare Ebene – verlief ereignislos. Sobald wir die Berge hinter uns gelassen hatten, wurden die Straßen besser und die Szgany gelangten mit ihren Fuhrwerken gut voran. Die Sonne der ersten Juli tage brannte auf meine Kiste nieder, als wir durch die Stadt kamen, die Sie Bukarest nennen. Wussten Sie, dass ich sie Cetatesa Bucurestilor taufte, anno 1459, als sie eine meiner bedeutenden Festungen war? Eine Zeit lang diente sie mir als Hauptstadt. Wenig später überquerten wir die Donau, und am Abend des fünften Juli waren wir in Varna am Schwarzen Meer, dem Hafen, von dem aus ich nach England in See stechen wollte. Varna. Ich nehme an, der Name sagt Ihnen wenig oder gar nichts. Im Jahre 1444 starb der junge Polen-König Wladislaw III. nicht weit von dort in einer Schlacht unter türkischen Schwertern, und Janos Hunyadi hatte das Glück, dem Schlachtfeld mit Hilfe meiner walachischen Getreuen lebendig zu entrinnen. Nein, ich war nicht dabei. 1444 war ich dreizehn Jahre alt und focht bereits meine eigenen Schlachten aus, ohne den Beistand einer Armee. Als die Christen und die Türken bei Varna kämpften, weilte ich fern davon inmitten der Berge Kleinasiens, in Egrigoz, als Unterpfand für den Bund meines Vaters mit den Türken; zusammen mit mir wurde mein Bruder Radu festgehalten, der später den Beinamen ›der Schöne‹ erhielt und damals erst sechs Jahre zählte…
Können Sie sich mich als Kind vorstellen? Genau so wenig wie Hitler, nehme ich an. Doch haben alle, die irgendwann einmal menschlich waren, dieses Stadium durchlaufen, und ich erinnere mich noch daran. Ein Zweig wächst so, wie man ihn biegt… jene türkischen Kerkermeister meiner Jugend waren groß im Zweigebiegen. Egal. Sie sollten lernen, mich zu fürchten, bevor ich ihre Mauern gut vier Jahre später hinter mir ließ. Wie gesagt, meine Reise zum Schwarzen Meer verlief ereignislos. Meine Szgany überantworteten mich meinem Agenten, Petrof Skinsky, und dieser wiederum übertrug die Sorge für mich dem werten Herrn Leutner, mit dem ich in Briefkontakt gestanden hatte und der ein zu moderner Mann war, um Geschichten vom Nosferatu irgendeinen Glauben zu schenken, falls sie ihm zu Ohren kamen. Bei Skinsky war ich mir da nicht so sicher; später in meinem Bericht werde ich noch auf ihn zurückkommen müssen. Leutner nahm sich also meiner fünfzig großen erdgefüllten Kisten gewissenhaft an und sorgte dafür, dass sie an Bord eines Schiffes verladen wurden, ohne sich auch nur träumen zu lassen, dass ihr Absender mitreiste, während sein Gepäck an Geld und frischer Kleidung in einer stabilen Reisetasche verstaut unter ihm in der Erde ruhte. Ich kam in den Frachtraum des Schoners Demeter, der nach Whitby bestimmt war, das, wie einige meiner Zuhörer vielleicht nicht wissen, ungefähr dreihundert Kilometer nördlich von London an der Küste von Yorkshire liegt. Ich war bereits zuvor auf einer Art Flusskahn gefahren, an Bord der Demeter jedoch fuhr ich erstmals übers Meer. In der ersten Nacht auf See verließ ich meine Kiste – diejenige, worin ich mich befand, war unter mehreren anderen verstaut worden, doch kann ich zwischen Sonnenunter- und Sonnenaufgang nach Belieben sogar durch einen Spalt schlüpfen, der schmaler
ist als die Schneide einer Messerklinge – stieg in menschlicher Gestalt aus dem Laderaum empor und gelangte an Deck, indem ich durch die wasserdichte Verschalung einer Luke drang. In der wohltuenden Dunkelheit der Nacht konnte ich steuerbords eine Landmasse am Horizont erspüren; sonst gab es nur Meer um uns herum und ein frischer Ostwind füllte unsere Segel. Außer mir waren noch drei Männer an Deck, und ich blieb nicht lange. Durch vorsichtige Auskundschaftung brachte ich während dieser ersten Nächte meiner Reise in Erfahrung, dass sich außer mir insgesamt neun Mann an Bord befanden; fünf russische Matrosen, der Kapitän und der zweite Maat, beide ebenfalls Russen, dazu der Erste Maat und der Schiffskoch, die beide Rumänen waren. Auch nutzte ich meine Sinne fleißig, vor allem in den Stunden der Dunkelheit, um so viel über diese neue Welt der See zu lernen wie ich konnte. Wie Sie fraglos bemerken, gebiete ich in gewissem Ausmaß über Wind und Wetter und hatte natürlich erwogen, diese Gabe einzusetzen, um die Überfahrt zu beschleunigen. Die Schwierigkeit, so erkannte ich bald, bestand jedoch darin, dass ich zwar in der Lage war, mir unseren Kurs einzuprägen, während wir nacheinander jeden seiner Teilabschnitte zurücklegten – wir Vampire verfügen über eine Art Trägheitsnavigationssystem, wie man heute wohl sagen würde – ich dabei allerdings keinen blassen Schimmer hatte, welchen Kurs unsere Fahrt nehmen, in welche Richtung ich uns vom Wind vorantreiben lassen sollte. Wohl besaß mein Verstand die Information, dass der Name meines Reisezieles England lautete und dass man es durch eine weite Reise über das Schwarze Meer, das Mittelmeer und den Atlantik erreichte. Doch half dieses Wissen nicht viel bei dem Vorhaben, das Schiff seinem Ziel schneller entgegenzubringen, weswegen ich mich damit begnügte, zu beobachten und wenn möglich daraus zu lernen.
Fünf Tage nach unserem Auslaufen erreichten wir den Bosporus, und einen Tag später durchquerten wir die Dardanellen und gelangten in mittelmeerische Gewässer. Ungefähr um diese Zeit, vermute ich heute, bekam der Erste Maat Wind von meinen nächtlichen Ausflügen. Ich glaube nicht, dass er mich bis dahin leibhaftig gesehen hatte, doch die Grenzwahrnehmung, über die atmende Menschen manchmal verfügen, sagte ihm, dass eine zehnte Präsenz das Schiff nach Einbruch der Dunkelheit bevölkerte; dass einmal eine Planke leise unter dem Gewicht eines unvertrauten Schrittes knarrte; dass ein anderes Mal kein Schatten über das mondbeschienene Deck fiel, wo eigentlich einer hätte sein sollen, wohingegen Dunkelheit an Stellen herrschte, die eigentlich hell im Mondlicht hätten liegen müssen. Seeleute sind ein abergläubisches Volk; mir war bisher nicht klar gewesen, wie sehr diese Binsenwahrheit zutraf. Und der Maat war, wie ich heute vermute, ein Mann von unüblicher Empfänglichkeit für das Ungewöhnliche. Am vierzehnten Juli, dem achten Tag unserer Reise, als die Angst des ersten Maates unverkennbar auf die Mannschaft übergegriffen hatte, geriet einer der Burschen über irgendetwas mit ihm aneinander und wurde niedergeschlagen. Ob der Streit sich um eine nächtliche Erscheinung drehte oder um etwas völlig anderes, ist mir unbekannt, da er bei Tag entbrannte, als ich unter Deck verborgen lag, und alles, was ich darüber weiß, stammt aus den Niederschriften meiner Feinde. Laut diesen Aufzeichnungen war denn auch die folgende Nacht, jene vom fünfzehnten auf den sechzehnten Juli, die erste, in der ich von einem Mitglied der Besatzung leibhaftig gesehen wurde. Wie der Kapitän pflichtschuldig ins Logbuch eintrug, berichtete einer der Seeleute, »von Schrecken gepackt«, er habe »einen großen hageren Mann, der keinem Besatzungsmitglied glich«, dabei beobachtet, »wie er den Niedergang heraufkam, zum
Vorderdeck schritt und verschwand«. Ich war unachtsam geworden, und selbst eine kleine Unachtsamkeit ist immer schädlich. In jener Nacht hegte ich noch keinen Verdacht, dass meine Anwesenheit an Bord einen Aufruhr verursachte, doch als ich beim nächstfolgenden Sonnenuntergang meiner Kiste entstieg, bemerkte ich, dass sich meine gesamte Frachtraumumgebung in Unordnung befand. Alle meine Kisten waren zumindest leicht von ihren Plätzen gerückt worden, und der Ballast aus Feinsand wies die Abdrücke vieler Füße auf. Es gab keinerlei Hinweis auf ein Schiffsleck oder einen anderen seemännischen Notfall, der eine solch umfangreiche Arbeit der Mannschaft im Frachtraum erfordert hätte, noch hatte ich den Eindruck, ein Sturm sei über das Schiff hinweggegangen. Was also war geschehen? Alle Anzeichen führten mich zu dem Schluss, dass der Frachtraum durchsucht worden war, wenn auch zum Glück nicht mit der Gründlichkeit, die erforderlich gewesen wäre, um mich aus meinem Erdbett hervorzugraben. Demnach hatte die Mannschaft, oder zumindest ein Teil derselben, wahrscheinlich Verdacht geschöpft, dass etwas nicht stimmte. Aber nachdem sie ja bereits dort unten herumgestöbert hatten, würden sie den Laderaum nicht ohne guten Grund ein zweites Mal durchsuchen; zumindest sagte ich mir dies und beschloss, eine oder zwei Nächte lang in Deckung zu bleiben. Dadurch fand ich erst später heraus, dass einer der Seeleute in der Nacht vom fünfzehnten auf den sechzehnten Juli verschwand, ein wichtiger Umstand, von dem ich früher Kenntnis erlangt hätte, wäre ich nicht aus Vorsicht in meiner angenehmen, behaglichen Kiste geblieben. Ah, meine Erd-Refugien! Guter, transsylvanischer Mutterboden, vor so langer Zeit von demutsvollen und achtbaren Priestern als Grabstätte meiner Familie geweiht.
Manchmal frage ich mich, ob die Kraft, die ich aus meiner Heimaterde ziehe, nicht ein rein psychologisches Phänomen ist. Doch verhält es sich nun mal so, dass ich nirgends sonst wahre Ruhe finden kann, und ohne wahre Ruhe können weder der atmende Mensch noch der Vampir lange überleben. Gebeinreste meiner Ahnen stecken in meiner heimatlichen Scholle, bescheiden in ihrer Anonymität, gemeinsam mit einem vereinzelten beharrlichen Wurm oder Insekt, scheuen Geschöpfen, in Angst nicht weniger vor Ihnen als vor mir, ja vor allem, was sich regt und rührt. Überreste der Wurzeln starker Bäume und Kompost ihres Laubs, und hier und da vielleicht sogar Partikel vergrabenen walachischen Goldes, über denen zum St.-Georgs-Abend eine winzige blaue Flamme glimmt. Gute schwarze Erde, welche indessen die Kleidung nicht allzu sehr verunreinigt. Allenfalls sich darin zu suhlen würde Rückstände hinterlassen, doch bette ich mich überaus gesittet zum Schlaf, und beim Verlassen meines Lagers pflege ich nicht den kleinsten Erdklumpen aufzurühren. In England und überall sonst wäre ich verloren ohne die gute Erde meines Heimatbodens, wie ich sehr wohl wusste und wie auch meine Feinde in Erfahrung bringen sollten. Meine Hoffnung war, diese Geborgenheit im Laufe der Zeit auch in englischer Scholle zu finden… Doch zurück zur Demeter. Sie pflügte durch die rauhe See, in die sie beim Befahren des westlichen Mittelmeers geraten war, an Bord ein Erster Maat, der sich mit seinen Angstvorstellungen selbst in den Wahnsinn getrieben hatte, wenn man es ihm auch noch nicht anmerkte. Mich indessen hatte die Vernunft – ein tugendsames Wort, gegen das ich eine irrationale Abneigung hege – dazu veranlasst, in meinem Sarg versteckt zu bleiben, wo ich meinen Interessen nicht dienlich sein konnte.
Auf welche Weise verlor das Schiff jenen ersten von mir erwähnten Matrosen? Durch irgendeinen unglücklichen Unfall, würde ich annehmen. Offenbar war er während der Nacht auf seiner Wache abgelöst worden und über Bord gegangen, bevor er wieder in seine Koje kriechen konnte. So was kommt vor. Aber da war der Maat mit seinen Ängsten, dem genau diese geheimnisvolle Tragödie noch fehlte, um seinen Verstand ins Wanken zu bringen und in den dunklen Schlund des Wahnsinns abkippen zu lassen. Der Maat wurde irre – was der Kapitän selbst später für wahrscheinlich hielt –, und der Maat stammte, wie Sie nicht vergessen dürfen, aus irgendeinem Landstrich meiner eigenen Heimat und war infiziert von ihren abergläubischen Schrecknissen. Er muss so durchgedreht gewesen sein, dass er in jedem Gesicht Nosferatu erblickte, vor allem im Gesicht eines jeden Mannes, der bei Nacht allein auf dem einsamen Schiffsdeck an ihn herantrat. Und wusch! hatte er sein Messer in der Faust und stach zu, warf dann sein Opfer über Bord. Bedenken Sie, das war nichts anderes als eine geistesgestörte Art der Selbstverteidigung. Als ob ihm sein Messer im Ernstfall viel gegen mich geholfen hätte; doch vermute ich, dass der Maat ein bestenfalls halb gebildeter Mann war, aus irgendeinem Krähwinkel des Landes, und dass seine Ängste seine Kenntnisse der Materie bei weitem übertrafen. Bis der Juli vorbei war, beseitigte er vier weitere seiner Schiffskameraden auf dieselbe Weise, und die Überlebenden der nunmehr unterzähligen Mannschaft versahen ihre Pflichten wankend in erschöpfter Verzweiflung, ohne die leiseste Erklärung dafür, welch böser Stern sich ihrer Fahrt wohl bemächtigt haben mochte. Wir befanden uns bereits fast einen Monat lang auf See, als ich wieder aus meinem Versteck hervorkam. Obzwar ich die Lage anfangs natürlich nicht begriff, waren zu diesem Zeitpunkt nur noch der Kapitän und
der Erste Maat nebst zwei Matrosen zur Bedienung des Schiffes übrig; der Rest war einer nach dem anderen im Dunkel der Nacht umgekommen. Der Schoner hatte inzwischen Gibraltar passiert, die Bucht von Biskaya durchquert und näherte sich England. In der Nacht des zweiten August stieg ich aus dem Frachtraum herauf und fand das Vorderdeck verlassen vor, und als Landratte begriff ich nicht, welch ungutes Zeichen dies in einer Nebelnacht war. Ich genieße den Nebel und die Dunkelheit, und so stand ich am Schiffsbug und nahm beides in vollen Zügen in mich auf, verloren in irgendeinem törichten Traum von England, wie es meinem Wunschbild entsprach; ich als Herr eines sonnigen Landgutes, wo es niemanden kümmerte, dass der Hausherr sich tagsüber nicht blicken ließ, an meiner Seite ein Paar dieser großen Hunde, welche die englischen Maler so anmutig zu porträtieren verstehen, während mein Blick in das Feuer meines Kamins versunken ist… oder über die Wiesen und Felder meines Besitzes schweift… wo ein dralles angelsächsisches Bauernmädchen sein Tagwerk verrichtet, Heu bindet, während die Muskeln auf ihren Armen hervortreten und die Adern unter der sonnengebräunten Haut ihres Halses… Als ich den Maat hörte, war er bereits zu nah heran, und er kam zu schnell, um ihm wirkungsvoll auszuweichen – kein Wunder, dass keiner der atmenden Männer, an die er sich ebenso unbemerkt heranschlich, am Leben blieb. Sein scharfes Messer zerschlitzte meine Kleidung, glitt jedoch durch mein Fleisch wie durch einen Schatten, ohne etwas anderes außer brennendem Schmerz zu hinterlassen. Noch im selben Augenblick wurde ich eins mit dem Nebel. Meine arglose Narrheit verdammend, verflüchtigte ich mich unter Deck, wo ich in Fledermausgestalt auf einen Schrei wartete, auf einen
Suchtrupp mit Laternen und Waffen in den zitternden Fäusten. Aber kein Mensch zeigte sich mehr im Laufe der Nacht. Als der Tag dämmerte, verzog ich mich in die Erde einer der untersten Kisten, wobei ich hoffte, dass das Forträumen der darüber liegenden Behältnisse genug warnenden Lärm verursachen würde, sollte man den Laderaum tagsüber erneut durchsuchen, um mich aufzuwecken und zur Gegenwehr zu befähigen. Den ganzen Tag lang ruhte ich dort ungestört und erwachte früh, sobald die Sonne schwand; doch wartete ich bis zur tiefsten Dunkelheit, genau genommen bis Mitternacht, ehe ich in Nebelform aus dem Schiffsbauch auftauchte. Zu meiner Verblüffung traf ich die Decks vollkommen menschenleer an. Ein steter Wind blies aus achterlicher Richtung, vor dem das Schiff durch die Wellen schnitt, als folge es einem eigenen Willen. Ich war und bin kein Seemann, doch nahm ich an, dass eine solche Konstellation nicht lange gut gehen konnte. Ich tat, was in meinen Kräften stand, um zu verhindern, dass der Wind seine Richtung änderte, und lauschte dabei eingehend auf irgendwelche Lebenszeichen an Bord des Schoners. Die Vorstellung, auf einem unbemannten Schiff festzusitzen, das unweigerlich kentern oder an irgendeiner unbekannten Küste stranden musste, wobei meine gesamte mitgeführte Heimaterde in den Fluten versinken würde, war kaum dazu angetan, mich in Entzücken zu versetzen. Irgendwo unter mir im Inneren des Schiffes atmeten zwei Lungen; und zwei Herzen schlugen, wenn auch kaum im selben Takt. Zwei, nicht mehr. Gütiger Gott, dachte ich, sieben Männer tot, oder zumindest verloren! In den alten Tagen hätte ich eine Seuche oder Piraten als Ursache vermutet. Im Jahre 1891 wusste ich nicht, was ich vermuten sollte. Ich war drauf und dran, Fledermausgestalt anzunehmen und mich heimlich nach unten zu begeben, um mehr in Erfahrung
zu bringen, als das Geräusch von Schritten erklang, die den Niedergang heraufkamen, und der Kapitän höchstselbst erschien. Er war unrasiert und ausgemergelt, wie ein Mann, der tagelang mitten im Schlachtgetümmel gestanden hatte. Er sah mich nicht, obwohl der Blick seiner gequälten Augen kreuz und quer über das sonst verlassene Deck flog, von dem die Besatzung seines Schiffes Mann für Mann verschwunden war. Im nächsten Moment hatte der Kapitän begriffen, dass das Schiff keine Besatzung besaß, hatte sich ans Steuerrad geworfen und nach dem Maat gerufen. Kurz darauf tauchte der Rumäne auf, in Nachtwäsche, schmuddelig, ganz das Bild eines Wahnsinnigen. Sogleich trat er dicht zum Kapitän am Steuerrad hin und sagte mit einem heiseren Flüstern, welches in meinem nahe gelegenen Schattenversteck deutlich vernehmbar war, zu ihm: »Es ist hier, nun weiß ich’s. Auf meiner Wache letzte Nacht sah ich es, etwas Menschenähnliches, groß und dürr und gespenstisch bleich. Es stand am Bug und spähte hinaus. Ich schlich mich heran und gab ihm mein Messer zu kosten; aber das Messer fuhr durch es hindurch wie durch leere Luft.« Noch während der Maat sprach, zückte er zur Veranschaulichung abermals sein Messer; und meine nachttauglichen Augen bemerkten frische Blutspuren auf der Klinge, während er sie schwang. Mir war klar, dass es sich nur um das Blut des letzten Rudergängers handeln konnte, den er erst Minuten zuvor abgestochen haben musste. In diesem Augenblick wäre ich fast vorgesprungen und hätte den ersten Maat entwaffnet, da ich glaubte, er sei drauf und dran, den letzten Seemann an Bord, den Kapitän, umzubringen, der noch zwischen mir und fast sicherem Schiffbruch und Untergang stand.
Doch hatte der Wahnsinnige sein Messer schon wieder weggesteckt und entfernte sich von dem entsetzten Kapitän, der seinen Griff um das Steuerrad beibehielt. Der Maat fuhr stammelnd fort: »Aber es ist hier, und ich werde es finden. Im Laderaum, vielleicht in einer dieser Kisten. Ich werde sie eine nach der anderen aufhebeln und nachschauen. Sie bedienen weiterhin das Ruder.« Und indem er einen Finger an die Lippen legte, um Schweigen zu gebieten, stieg er hinab. Der Kapitän starrte ihm nach, und in seinen erschöpften Gesichtszügen spiegelten sich Mitleid, Grauen und Verzweiflung. Dass der Irre sich über meine Kisten hermachte, durfte ich nicht zulassen. Falls er sich mit ein paar Werkzeugen versah, würde er es dank der wilden Entschlossenheit, die der Wahnsinn bisweilen verleiht, ganz alleine fertig bringen, sie in kaum mehr als einer Stunde samt und sonders aufzubrechen. Dann würde ihr Inhalt, der überlebenswichtig für mich war, unrettbar mit dem Ballast in der Bilge vermengt werden. Wäre ich überzeugt gewesen, dass der Kapitän das Schiff ohne Hilfe in einen sicheren Hafen steuern konnte, hätte ich den Maat auf der Stelle umgebracht – doch nein, vielleicht hätte ich selbst dann nicht getötet. Als Soldat habe ich vor langer Zeit genug Metzeleien gesehen, und als Prinz mehr als nur genug, sodass es für eine längere Lebensspanne reicht als die meine. Obgleich ich kein Verlangen verspürte, das Leben des Maats zu opfern, musste ich doch etwas unternehmen, um ihn an seinem Vorhaben zu hindern. Ich bewirkte eine leichte Änderung der Windrichtung, die hoffentlich ausreichte, um den Kapitän am Ruder beschäftigt zu halten, und folgte dem Maat heimlich unter Deck. Er war bereits im Laderaum und holte gerade mit einem Zimmermannshammer aus, um den Deckel der ersten Kiste zu zertrümmern, als ich ihm entgegentrat.
Er stieß einen Schrei aus, der Hammer entglitt seinen Händen, und er schoss auf den Niedergang zu, um wieder ins Freie zu gelangen. Gestatten Sie mir die beiläufige Anmerkung, dass ich es sonderbar finde, wie viele Leute aus dem hingekritzelten Bericht des Kapitäns über die Ereignisse den Schluss gezogen haben, der Maat habe tatsächlich eine oder mehrere der Kisten geöffnet und mich schlummernd darin angetroffen. Ich möchte, erstens, darauf hinweisen, dass zu jener Zeit Mitternacht vorbei war, jene Stunde, ab der ich normalerweise wach und aktiv bin; und zweitens, dass er, hätte er mich in einem solchen Zustand vorgefunden, und nachdem er seit Wochen darauf aus war, einen Vampir zu vernichten, es wohl kaum versäumt haben würde, mich augenblicklich über Bord zu befördern, vielleicht mitsamt der Kiste und allem Drum und Dran; und drittens, dass niemand beanstandete, auch nur eine der Kisten sei gewaltsam geöffnet oder ohne Deckel gewesen, als sie schließlich in Whitby eintrafen. Es bedeutet vielleicht keinen großen Unterschied, ob er mich nun in einer Kiste schlafend oder munter auf den Beinen antraf, doch zeigt es immerhin, wie irreführend die Ereignisse ausgelegt werden. Doch zurück zur Sache. Der Maat stürzte wieder an Deck, nunmehr ganz zweifellos ein »rasender Irrer«, um die Worte des Kapitäns zu gebrauchen. Erst flehte er schreiend um Rettung, dann verfiel er in eine Art verzweifelter Ruhe; ganz offensichtlich hatte er erkannt, dass es diesseits des Todes kein Entrinnen vor den mörderischen Phantomvampiren seines kranken Geistes gab. Sich der Reling nähernd, sagte er mit plötzlich ganz gefasster Stimme: »Sie sollten mir lieber folgen, Kapitän, bevor es zu spät ist. Er ist hier. Jetzt kenne ich das Geheimnis. Die See soll mich vor ihm retten, das ist der einzige Ausweg!« Und bevor der Kapitän eingreifen konnte, hatte der glücklose Maat sich ins Meer gestürzt.
Ich hielt mich noch einige Zeit in den Schatten der Decksaufbauten verborgen, sorgte für einen steten, mäßigen Wind und bemühte mich, nachzudenken. Später in der Nacht machte ich den Versuch, an den tapferen Mann am Ruder heranzutreten; ich hatte den Wunsch, ihm meine Lage zu verdeutlichen, zumindest in Ausschnitten, und ihm klar zu machen, dass er und ich ein gemeinsames Interesse daran besaßen, unbeschadet einen Hafen zu erreichen. Das erste Grau der Morgendämmerung lag über dem Meer, als ich in Menschengestalt auf ihn zuging, beherzt und unbefangen, und offen in sein Blickfeld trat. Der Blick seiner blutunterlaufenen Augen blieb auf mir haften, nachdem er ein einziges Mal, beinahe sehnsüchtig, zur Reling hingeflogen war; der Kapitän würde seinen Posten nicht verlassen, und seine Finger umkrallten krampfhaft die Spaken des Steuerrades. Ich hielt inne, einige Schritte Abstand zu ihm wahrend, und lüftete meinen Hut. »Guten Morgen, Kapitän.« »Was – wer sind Sie?« »Ein Passagier, der nur den Wunsch hat, sicher in einen Hafen zu gelangen.« »Weiche von mir, Ausgeburt der Hölle!« »Ich weiß, dass Sie jetzt keine Mannschaft mehr haben, Kapitän, aber das ist nicht mein Werk. Ich bin bereit, um unser beider Überleben willen mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Vom Segelhandwerk verstehe ich nichts, doch kann und will ich Leinen einholen, Knoten binden, jede Arbeit verrichten, die auf einem Schifferforderlich ist – und noch mehr.« Ich hielt es nicht für ratsam, ihm sogleich anzubieten, das Wetter nach seinem Wunsche zu beeinflussen. »Sie werden feststellen, dass Ihre neue Mannschaft sogar stärker ist als die alte, wenn auch die alte den Vorzug besaß, zahlreicher zu sein.« »Satan, hinfort!«
Leider ließ mein Russisch zu wünschen übrig. Und der Mann am Steuerrad hörte mir nicht richtig zu, sondern murmelte Gebete und Anrufungen und Verwünschungen und vergaß das Ruder zu bedienen, so lange ich in Sicht blieb. Bald fürchtete ich, vielleicht zu Unrecht, dass diese Achtlosigkeit unser Schiff unverhofft zum Scheitern bringen könnte, daher zog ich mich wieder aus seinem Blickfeld zurück. Den ganzen nächsten Tag über, während ich unbehaglich unter Deck ruhte, harrte er schlaflos auf seinem Posten aus. Er nahm sich etwas Zeit, um die Fortsetzung des Logbuches auf einige Zettel zu kritzeln, die er anschließend in eine Flasche steckte und in seiner Kleidung verbarg – von diesem Logbuch erfuhr ich erst viel später, andernfalls hätte ich es ins Meer geworfen, nachdem er tot war. Als ich in der folgenden Nacht wieder auf Deck erschien, sah ich, dass er sich am Steuerrad festgebunden und sehr viel Kraft verloren hatte. Mich ihm wie zuvor nähernd, sprach ich ihn abermals in behutsamen Worten an; doch sein Grauen wuchs nur, bis ich aus schierem Mitgefühl aufhörte. »Unhold!«, schrie er. »Zurück mit dir in den Höllenschlund, dem du entkrochst! Weder mein Schiff noch meine unsterbliche Seele sollen dir zu eigen werden!« »Über beide mögen Sie weiterhin selbst verfügen«, erwiderte ich, wobei ich mich bemühte, so besänftigend wie möglich zu sprechen. »Ich bitte Sie nur um eines und um sonst nichts, nämlich dass Sie mir sagen, in welcher Richtung Whitby liegt – England.« Oh weh. In den Hallen meines eigenen Schlosses oder in anderer mir angemessener Umgebung vermag ich mich, wie ich mir schmeichle, wahrhaft begütigend, gewinnend zu geben. Welch milder und freundlicher Eindruck auch immer gefragt ist, ich kann ihn erwecken. Auf einem Schiff jedoch bin ich einfach nicht ich selbst. In meiner Ungeduld packte ich den armen Burschen beim Kragen und
schüttelte ihn grob. »Sprich, Schurke, Narrenkerl, wo liegt der Hafen von Whitby?« In diesem Stadium, glaube ich, wusste er nicht mehr als ich selbst. Mir war immerhin klar, dass wir inzwischen den Ärmelkanal durchquert und die Nordsee erreicht haben mussten, nicht allzuweit von meinem Ziel entfernt. Die Sterne wiesen mir eine grobe Richtung, wann immer ich ein kleines Loch in den Nebel blies, um freie Sicht auf sie zu erhalten. Ob auch der Kapitän sie sah und zum Navigieren benutzte, konnte ich zu jenem Zeitpunkt nicht sagen; später vermutete ich, dass er es irgendwie tat. Kurz vor der Dämmerung des nächsten Morgens starb er; sein Leichnam blieb ans Steuerrad gefesselt, an dessen Speichen er sich hatte festzurren können, indem er die letzten Knoten des Taus mit den Zähnen zuzog. Von dem Rosenkranz, den er unter seinen gekreuzten Händen befestigt hatte, wusste ich nichts, sonst hätte ich ihn entfernt, so wie ich die Flaschenpost fortgenommen hätte – damit nichts von beidem auf die Anwesenheit eines Vampirs an Bord des Schoners schließen ließ. Ich erwog, seinen Leichnam vom Steuerrad loszuknüpfen und ihn seinen Leuten im Kreise jener großen Kameradschaft zuzugesellen, welche in der Schwärze unter den Wogen ruht. Doch nachdem ich es näher bedacht hatte, beließ ich ihn dort, wo er selbst hatte bleiben wollen. Die Entdeckung eines Schiffes auf See, von dessen Mannschaft jede Spur fehlt, ist ein Geheimnis, das den menschlichen Geist weitaus stärker beschäftigt als es ein bloßes Wrack täte, weswegen es auch schärfer untersucht würde. Falls die Demeter, so nahm ich an, auf die eine oder andere Weise Land erreichte – und dies bewirken zu können traute ich mir dank meiner groben Herrschaft über die Winde durchaus zu, allerdings ohne vorherzusehen, ob sie dabei zerschellen oder nur auf Grund
laufen würde – käme man zu der Schlussfolgerung, dass die Mannschaft einfach in einem Sturm umgekommen sei. In dieser Annahme begann ich damit, ein Unwetter heraufzubeschwören, das schwer genug war, um ein solches Schicksal der Mannschaft glaubhaft erscheinen zu lassen. Das Erzeugen des Sturms war ein kalkuliertes Risiko; sollte das Schiff kentern oder unter mir im Meer versinken, würde mir nichts übrig bleiben, als mich mitten im Unwetter auf Fledermausschwingen emporzuheben. Meine Kisten mit Heimaterde wären unwiederbringlich verloren, und Nachschub wäre mehr als tausend Meilen Fledermausfluglinie entfernt. Unter diesen Umständen wären meine Überlebenschancen nicht groß. Der Sturm brodelte und grollte mehrere Tage lang über der Nordsee auf Skandinavien zu. Ich wollte, dass er weiterhin anhielt, bis ich mit einiger Sicherheit wusste, aus welcher Richtung seine Kraft auf mein dahin treibendes Fahrzeug einwirken sollte. Eine Woge der Erleichterung erfasste mich, als ich eines Nachts im Nordwesten eine Landspitze wahrnahm, und in Erinnerung an einige Zeichnungen und Beschreibungen, über denen ich in meiner weit entfernten Studierstube gebrütet hatte, glaubte, die aufragenden Klippen von Flamborough Head zu erkennen. Falls ich damit Recht hatte, musste Whitby keine dreißig Meilen in nordwestlicher Richtung liegen, und mit ein wenig Glück sollte es mir gelingen, den Schoner geradewegs in die Mündung des Esk zu dirigieren. Ich rief den Sturm langsam herbei, nur seine Ausläufer sollten das Schiff, auf dem ich fuhr, erfassen. Das Manövrieren erwies sich als weniger leicht als von mir erhofft, und den ganzen siebenten August über lag ich unter Deck in einer Kiste, nur dann und wann aus meiner Betäubung erwachend, jedesmal in der vagen Erwartung und Hoffnung, englische
Stimmen zu hören, die von einem anderen Schiff herüberriefen, und dann die Fußtritte der Männer zu vernehmen, die an Bord kamen, um herauszufinden, was es mit dem herrenlosen Schiff auf sich hatte. Diese Hoffnung schöpfte ich aus der Annahme, dass die Prisenjäger das Schiff, da sie es so nahe Whitbys in Besitz genommen hatten, auch in diesen von mir angestrebten Hafen schleppen würden. Doch kam kein Schiff nahe genug, um Interesse an der Demeter zu nehmen, und als abermals die Nacht hereinbrach, befand ich, dass es an der Zeit sei, mit meinen eigenen Mitteln an Land zu kommen, so gut ich es eben vermochte. Das Heraufbeschwören und Beherrschen eines größeren Sturms ist ein anstrengendes Geschäft, und nicht allzu erquicklich. Selbst nachdem ich den gesuchten Hafen ausgemacht und das Schiff in seine Nähe manövriert hatte, erforderte es beträchtliche Mühen, um den Schoner schließlich – »Wie durch ein Wunder«, laut den Worten eines Zeitungsberichtes – genau zwischen den Wellenbrechern hindurch zu schicken, welche die Hafeneinfahrt schützten, sodass er in fliegender Fahrt einlief und schließlich ohne größere Schäden zu nehmen auf einem Uferstreifen voll schwarzer Steine direkt unter der hohen Ostklippe strandete. Elektrisches Licht war damals in England seit gut zehn Jahren mehr und mehr in Gebrauch gekommen, doch in meiner rückständigen osteuropäischen Heimat hatte ich es noch nicht zu sehen gekriegt; und als der Suchscheinwerfer, der für jene Zeit schon ziemlich stark war, vom Hafendamm aus mein hereinjagendes Schiff erfasste, erschrak ich und fragte mich, was ich wohl als Nächstes zu gewärtigen hätte. Als das Licht aufflammte, befehligte ich gerade den letzten erforderlichen Windstoß, und zwar in Fledermausgestalt, um notfalls einem plötzlichen Aufprall beim Stranden in die Luft ausweichen zu können. Meine beiden Klauenfüße waren
bequem in die Takelage verkrallt und ich hatte meine Flügel im Wind eng um mich geschmiegt. Selbst im Gleißen des Scheinwerferstrahls vermochte keiner der Zuschauer, welche sich auf der Mole und am Strand drängten, meine kleine braune Gestalt an einem der Masten zu erspähen. Dass so viele Menschen zu dieser Nachtstunde ihre Betten verlassen hatten, um ihrer Neugier zu frönen, überraschte mich. Ich hatte mir nicht klar gemacht, dass Whitby eine Art Kurort darstellte, voller Urlauber, denen das Meer und seine Launen fremd waren, und so hatte der Sturm ganze Horden von Schaulustigen an den Strand gelockt. Fledermausaugen mögen den blendenden Strahl elektrischen Lichts nicht, und sobald ich erkannte, dass das Schiff in wenigen Augenblicken unabwendbar auf Grund laufen würde, flatterte ich in den Niedergang hinab und wählte die neue Gestalt eines Wolfs. Im selben Moment, als die Strandung ihre erste Erschütterung durch den Rumpf des Schoners sandte, sahen die Schaulustigen auf den Klippen zu ihrer Überraschung einen »riesenhaften Hund« – wie ein Reporter schrieb – aus dem Schiffsinneren auf das Deck springen. Vom Bug aus setzte er auf den Strand und war augenblicklich in der Dunkelheit verschwunden, wohin die Suchscheinwerfer nicht mehr reichten. Auf Wolfspfoten zu rennen ist eine wirkungsvolle und einfache Fortbewegungsweise, weniger unwirklich und weniger luftig als auf Fledermausschwingen und schneller und müheloser als auf zwei menschlichen Beinen. In kaum einer Minute hatte ich die dunkleren, innerstädtischen Bezirke erreicht, die jetzt so still und verlassen schienen, als sei die gesamte Einwohnerschaft ausgezogen, um Posten an der Küste zu beziehen und den Sturm zu bestaunen. Nachdem ich kurze Zeit zwischen den Schatten einer engen Gasse abgewartet hatte, war ich sicher, dass niemand mir vom Hafen aus
nachgespürt oder mich verfolgt hatte, und so schlüpfte ich in meine menschliche Gestalt zurück. Dieser Verwandlungsvorgang reizte einen großen Mastiff, der im gegenüberliegenden Hof einer Kohlenhandlung aus Angst vor dem Wolf gewinselt und gekuscht hatte. Als die Wolfswitterung zu einer menschenähnlichen Witterung wurde, fühlte die Bestie sich zum Angriff ermutigt und schoss auf mich zu. Normalerweise hätte ich das Tier wahrscheinlich besänftigt und wieder heimgeschickt, aber meine mentalen Kräfte waren nach dem Heraufrufen und Lenken des Sturms sehr erschöpft. Unter diesen Umständen betrachtete ich den Hund als Freiwild und trank sein Blut, um wieder zu Kräften zu kommen. Sein zerfleischter Kadaver wurde am nächsten Tag gefunden, doch nicht für lange mit der Ankunft von fünfzig großen Kisten im Hafen in Zusammenhang gebracht, deren Inhalt als Tonerde deklariert war. In den Stunden vor Tagesanbruch von neuen Kräften durchströmt, pirschte ich über die regennassen Straßen Whitbys, um eine Stelle zu finden, die mir gute Sicht auf den gescheiterten Schoner bot, ohne dass ich ihm zu nahe kommen musste. Meine Müdigkeit nahm mir die Lust, erneut Fledermausgestalt anzunehmen, doch wollte ich immer noch erfahren, was gegebenenfalls mit seiner kostbaren Fracht geschehen würde. Für diesen Zweck erwies sich der kleine Friedhof auf einer Klippe hoch über der Stadt als idealer Beobachtungsposten. Es war eine wilde, großartige Szenerie, die sich meinen Augen vor Einsetzen der Morgendämmerung, von dieser Felsspitze aus bot; mittlerweile hatte ich das Wetter natürlich aus meiner Gewalt entlassen, und es stürmte nurmehr schwach. Doch noch immer war das Meer dunkel und unruhig, und Wolkenfetzen jagten niedrig vor dem Himmel dahin. Ich fühlte mich gesättigt
und belebt vom Genuss frischen Blutes und erfreute mich überschwänglich an der Herrlichkeit des Ausblicks und meiner glücklichen Ankunft, die ich als Sieg über schlimme Widrigkeiten betrachtete. Die kleine Pfarrkirche, bei der ich stand, und die darüber aufragende stattliche Abteiruine waren menschenleer, und so blieb ich in die Aussicht versunken fast bis zum Tagesanbruch dort, bevor ich mich auf Fledermausschwingen hinunter zum Schiff begab. Falls mein Schlaf in meiner Kiste beim Löschen der Schiffsladung überhaupt gestört wurde, so besitze ich keine Erinnerung mehr daran. Mr. Billington, der rechtschaffene Agent in Whitby, an den die Schiffsladung aufgegeben war, hatte während der Frühebbe pflichtgetreu eine Anzahl von Schauerleuten an Bord der Demeter geschickt, und als ich bei Sonnenuntergang erneut erwachte, befand ich mich noch immer inmitten meiner fünfzig Kisten voll süßer Heimaterde, die nun in einem trockenen Lagerhaus gestapelt waren. Im Laufe der ersten darauf folgenden Tage führte ich ein ziemlich untätiges, aber dennoch riskantes Dasein. Nachforschungen über das Schiffswrack drohten. Die Admiralität, so hatte ich ein paar aufgeschnappten Worten entnommen, interessierte sich dafür; Hafengebühren waren fällig, und inmitten dieser bedrohlichen Komplikationen trödelte Billington dabei, die Vorkehrungen für meinen Weitertransport mit dem Zug nach London zum Abschluss zu bringen. Währenddessen war ich nachts natürlich unterwegs und amüsierte mich trotz dieser Probleme königlich. Wandel und Verheißung und Erfolg schienen die Luft zu würzen, zusammen mit dem salzigen Tangaroma der Nordsee, das ich allmählich zu genießen lernte. Bei meinen nächtlichen Streifzügen ertappte ich mich sogar dabei, nach Spiegeln
Ausschau zu halten; tatsächlich nährte ich Anflüge einer schwachen, grundlosen Hoffnung, dass jetzt zumindest ein geisterhafter Umriss meines Spiegelbildes sichtbar sein könnte. Die Spiegel trogen jedesmal, doch sonst war mein Dasein frei von Enttäuschungen. Das Leben des Küstenkurortes nahm auch nachts an der frischen Luft wie innerhalb der Häuser seinen Fortgang und niemand schien unter Heimlichtuerei oder Furcht zu leiden. Ich lauschte Platzkonzerten am Kai. Ich hörte häufiges Gelächter in den Straßen. Mir schien, dass selbst die Armen und Elenden dieses neuartigen Landes um all die Vergnügungen wussten, welche die Welt zu bieten hatte, und entschlossen waren, daran teilzuhaben. Frohes Staunen erfüllte mich. Nach der Tötung des Hundes hatte ich während jener ersten englischen Tage keine Nahrung mehr zu mir genommen. Im Grunde fühlte ich wenig Verlangen nach Blut; ein Umstand, der mich auf die Verwirklichung meiner Zukunftspläne hoffen ließ: Köstlichere Dinge als Blut schienen in der englischen Luft zu liegen – und meine Seele zu erfüllen. Ich sublimierte meine fleischlichen Gelüste und erfreute mich auf platonische Weise all der Frauen, die in der Stadt um mich waren. Gütiger Himmel! Wenn schon das kleine Whitby so voller Leben, Verheißung und menschlicher Vielfalt war – wie, dachte ich bei mir, musste es dann erst in London aussehen? In dieser lebensprallen Metropole würde ich selbst dann nicht in der Lage sein, ein gewöhnlicher Vampir zu bleiben, wenn ich es versuchte. Nicht dass ich einem der gewöhnlicheren Stadtbewohner gleichen wollte, deren Lungen pausenlos in der verrußten Luft keuchten, um doch nur ein wenige Jahrzehnte langes Leben zu ertrotzen. Nein, ich betrachtete mich selbst als eine künftige Synthese, den ersten Vertreter einer neuen Spezies, der Wärme und dem Licht zugetan wie atmende Menschen, erfüllt mit ebenso vielen Leidenschaften, die sich
befriedigen und auskosten ließen; zäh und langlebig wie der Nosferatu, in der Lage, sich mit Tieren zu verständigen, wenn auch nicht unbedingt fähig, ihre Gestalt anzunehmen. In wohligen Gedanken wie diesen schwelgte und verlor ich mich. Einer meiner Lieblingsorte während dieser ersten, von wilden Hoffnungen erfüllten englischen Nächte war der bereits erwähnte Friedhof. Er umhegte die Pfarrkirche St. Mary’s, die sich an die Ostklippe hoch über der Stadt schmiegte und unmittelbar unter der alten und verfallenen Abtei stand. In eben dieser Abtei von Whitby hat der Bauerndichter Caedmon mehr als zwölfhundert Jahre, ehe ich an diesen Ort kam, als Erster in England eine Hymne an den Schöpfergott der Christen gesungen. Ich fand die Stätte nach Anbrach der Dunkelheit stets verlassen vor und brachte dort, vielleicht ähnlich dem Dichter aus uralten Tagen, viele stille, sowohl gedanken- wie auch traumverlorene Stunden zu. Vor mir boten der Hafen und die friedliche Stadt sich ebenso wie das Meer meinen unersättlichen Augen dar, und der Landvorsprung namens Kettleness wölbte sich seicht vor dem Firmament. So stand ich da, an einen Mauerrest der Abtei gelehnt, hochgestimmt und in die Betrachtung der vom Mondschein übergossenen Landschaft vertieft, als meine Augen zum ersten Mal die bezaubernde Lucy erblickten. Es war beinahe zur zwölften Stunde, wie ich mich erinnere, ungefähr drei Nächte nach meiner sturmumtosten Ankunft. Meine Versunkenheit in den Anblick von Mond, Land und Meer wurde unterbrochen, als eine einzelne, von einer Art langem, weißem Kleid umflossene Gestalt mein Blickfeld streifte, die über die hohe, von der Stadt zum Friedhof führende Treppe heraufkam. Ich wandte mich dieser Gestalt zu, um sie näher in Augenschein zu nehmen, und erkannte, dass es sich um eine junge Frau von wohl kaum zwanzig Jahren und eher zartem Wuchs handelte, über deren Schultern sich eine Flut durchscheinenden Haars
ergoss. Ich rührte mich nicht. Obgleich ich sie mit meinen nachttauglichen Augen schon aus einiger Entfernung sehen konnte, stand ich selbst halb im Schatten und hielt es für unwahrscheinlich, dass sie mich bemerken würde, selbst wenn sie dicht an mir vorüberkam, was geschehen musste, falls sie die eingeschlagene Richtung beibehielt. Sie schlafwandelte, wie ich erkannte, als sie auf wenige Meter heran war, schlafwandelte mit bloßen Füßen und in einem dünnen weißen Nachtgewand. Das Gewand schimmerte an ihrem Körper bei jedem Federn ihrer Schritte, was an das Niederfallen reinsten Schnees erinnerte, oder an das Mondlicht luftiger Karpatenhöhen. Ihre Augen, vom seltenen Blau des sonnenhellen englischen Himmels, standen offen, aber selbst wenn sie normal bekleidet gewesen wäre, hätte ich erkannt, dass sie schlief – ich besitze ein Gespür in solchen Dingen. Blondes Haar, passend zu solchen Augen; und ein ungestümes Herz, welches ich, obzwar ich sein Pochen vernahm, da sie nun ganz nahe war, noch längst nicht zu verstehen begann. Sie schlafwandelte an meinem schattigen Standort vorüber, und ich glaubte, dass sie noch weiter hinauf gehen würde, zu den Abteiruinen, doch plötzlich verlangsamte sich ihr Schritt. Sie hielt inne und drehte sich um, sodass sie direkt von mir weg aufs Meer hinauszublicken schien; und in diesem Augenblick durchfuhr sie ein kleiner und kaum wahrnehmbarer Schauer, und sie erwachte. Sie beide, Mr. und Mrs. Harker, hätten, von meiner Position aus, eine derart schwache Veränderung wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Sogar Lucy wusste nicht genau, ob sie wachte oder träumte, wie ihre ersten Worte bewiesen. Ich bin niemand, der das Vorhandensein eines sechsten oder sogar sechzehnten Sinnes anzweifelt. Zu oft schon haben die atmenden Vertreter der Menschheit mich mit der Schnelligkeit und Schärfe ihrer Wahrnehmungen überrascht. Noch ehe sie
gänzlich aus ihrer somnabulen Trance aufgetaucht war, wandte Lucy ihr Gesicht nach mir um, und meine reglose, in Schatten gehüllte, gut zehn Schritt von ihr entfernte Gestalt war das erste Objekt, das ihre Augen erfassten. Sie blickte mich so ruhig an, als wäre es mitten am Tag und ich nichts anderes als irgendein eigentümlicher, malerischer Grabstein, der ihr Interesse weckte. Sie hob ihren Blick zu den fliehenden Wolken; zu den emporragenden Trümmern der Abtei, deren verstreute Steine zu ihrer Zeit seltsamere Dinge als einen Vampir erschaut haben mochten; sie blickte zum Mond hinauf, der zwischen den Wolken hervorblitzte; dann sah sie wieder zu mir hin. Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass ich daran arbeitete, mein Aussehen zu verändern, und ich vermute, sie sah glänzendes, welliges statt strähniges weißes Haar an mir und fast keine Falten in meinem Gesicht. »Also träume ich noch immer«, murmelte sie. »Werter Herr, was haben Sie in meinen Träumen zu schaffen? Gerade erst haben drei Männer um meine Hand angehalten; steht mir ein weiterer wortreicher Antrag bevor? Doch nein, Sie haben eher den Anschein eines alten Wikingers, eingehüllt in seinen Umhang, der gekommen ist, um mich über die Nordmeere zu entführen.« Und ohne dass ihr Gesicht einen Anflug von Furcht zeigte, durchfuhr sie ein langer, bebender Schauder, eine ganz und gar köstliche Regung, die irgendwo in ihrer Halsgegend begann und in Wellen abwärts bis zu ihren weißen Fußspitzen lief. »Vielleicht eher Hunne als Wikinger, liebwerte Dame«, sagte ich und löste mich aus meinem Schatten, um etwas näher zu treten. »Was die Entführung angeht, so hängt das ganz von Ihnen ab. Doch kommt es mir vor, als hätten Sie in dieser Beziehung bereits eine Wahl getroffen.« Sie wich nicht zurück, als ich näher kam, wenn sie auch ein wenig blasser wurde. Ihre Augen, deren Lider flatterten, als
greife der Schlaf wieder nach ihr, blickten unverwandt in meine. »Ich bitte lediglich darum, dass Sie mich nicht unter einem Wortschwall begraben«, murmelte sie. »So müde, oh so müde bin ich im wachen Leben all der Worte der Männer.« Die Eckzähne in meinem Oberkiefer schmerzten. Ohne ein weiteres Wort kam sie in meine Arme, so anschmiegsam und willig wie nur je ein Weib, das ich an meine Lippen oder Lenden gepresst hatte. Sie zitterte, als ich ihre Kehle küsste, und als mein Mund über ihre Halsschlagader strich, gaben ihre Knie nach. Ich führte sie zu einer nahe gelegenen Bank, stellte mich hinter sie, als sie sich setzte, und beugte mich vor, um an ihrem Hals zu knabbern. Irgendwo verkündete ein schweres Glockenwerk mit düster hallendem Schlag ein Uhr. Lucys warme, salzige Fülle des Lebens rieselte wie ein labender Strahl durch meine kalten Adern, als ein laut gerufener Name an mein Ohr drang: »Lucy! Lucy!«, erscholl eine Mädchenstimme, die mir weit entfernt vorkam, es aber nicht war. Lucy regte sich schwach unter meinem Mund und meinen Händen, doch als ich aufblicken wollte, um den Rufen auf den Grund zu gehen, schlang sie ihre Finger in mein Haar, um meine geöffneten Lippen gegen ihre Haut zu drücken. Dennoch hob ich meinen Kopf – was Lucy ein enttäuschtes Stöhnen entlockte – und sah und hörte das andere Mädchen vom oberen Ende der langen Treppe in unsere ungefähre Richtung kommen. Natürlich war es die liebreizende Mina, wenn ich sie damals auch noch nicht kannte und nur als Störung meiner Wonnen betrachtete. Sie eilte zielbewusst heran, möglicherweise hatte sie uns beide dort auf der Bank bereits gesehen; doch führte ihr Weg um die Kirche von St. Mary’s herum, und ein paar Minuten lang war sie wieder außer Sicht.
»Morgen Nacht«, versprach ich Lucy, wobei ich ihre Wangen mit meinen Händen umfing und in ihre Augen blickte, die nun beinahe geschlossen waren. Sie war jetzt höchstens noch halb wach – was nicht am Blutverlust lag, denn die Menge, die ich ihr entzogen hatte, konnte einem gesunden Mädchen von neunzehn Jahren nichts anhaben. Ich sah unerzwungenes Einverständnis in ihren Augen und vernahm es in ihrem allmählich abflauendem Atem. Bei Frauen ist Sexualität längst nicht so sehr auf einige wenige Körperregionen beschränkt wie es bei den meisten Männern der Fall ist. Als Mina dann hinter der kleinen Kirche hervoreilte und eine weitere der dahinjagenden Wolken den Mond freigegeben hatte, war ich schon wieder unsichtbar mit den Schatten verschmolzen. Mina rannte auf kürzestem Wege zu der Stelle hin, wo Lucy halb hingegossen auf der Bank wartete. Lucys Augen waren jetzt in beinahe natürlichem Schlaf ganz geschlossen, obwohl sie nach unserer erregenden Umarmung noch immer heftig atmete. Mina, mädchenhafte Zuneigungsbekundungen und Vorhaltungen flüsternd, bedeckte mein vormaliges Opfer mit einem Schal, dann kniete sie nieder, um ihre eigenen Schuhe schützend an Lucys Füße zu stecken. Ich sagte mir, dass dieses neue Mädchen, das einen eng geschlossenen Bademantel über dem Nachthemd trug, ebenfalls attraktiv war, wenn auch auf andere Weise. War Lucy zierlich und zart, so strahlte die Neue jugendfrische Kraft und Gesundheit aus, ohne es an Anmut fehlen zu lassen. Als die Mädchen den Friedhof verließen, wobei Mina ihre halbwache Freundin führte, folgte ich ihnen in einiger Entfernung, weil ich in Erfahrung bringen wollte, wo Lucy wohnte. Es verwirrte mich etwas, Mina – deren Namen ich noch immer nicht kannte – dabei zu beobachten, wie sie an einer Pfütze Halt machte und jeden ihrer nunmehr nackten Füße mit Schlamm beschmierte; mir kam in den Sinn, dass sie
dies tat, damit jemand, der ihnen zufällig über den Weg lief, glaubte, sie habe Schuhe an. Warum dies so wichtig sein sollte, begriff ich nicht – eine weitere Marotte des englischen Volkscharakters, über die ich mir den Kopf zerbrechen konnte. Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass die Mädchen sicher nach Hause gekommen waren, und nun wusste, dass sie augenscheinlich im selben Haus wohnten, zog ich mich früh zum Schlafen zurück und verbrachte eine angenehme Tagruhe. Was Lucy anging, so war Mina erleichtert, als sie am nächsten Morgen feststellte, dass ihre Freundin kein übles gesundheitliches Nachspiel ihres nächtlichen Abenteuers zu befürchten hatte: »… im Gegenteil, es ist ihr gut bekommen, denn sie sieht heute Morgen so gut aus wie seit vielen Wochen nicht mehr. Es tat mir Leid, festzustellen, dass mein Ungeschick mit der Sicherheitsnadel ihr eine Verletzung beigebracht hat. Es hätte sogar böse ausgehen können, denn die Haut ihres Halses wies Einstiche auf… zwei kleine rote Punkte wie von Nadelspitzen, und auf dem Kragen ihres Nachtgewandes war ein Tröpfchen Blut. Als ich mich entschuldigte und mir Vorwürfe darüber machte, lachte sie und herzte mich und behauptete, es gar nicht zu spüren. Zum Glück kann keinerlei Narbe zurückbleiben, so winzig sind die Wunden.« Lucy selbst, so vertraute sie mir später an, war immer noch im Zweifel, ob ihr schlafwandlerisches Abenteuer nur ein Traum gewesen war oder nicht. Sie verlor kein Wort mehr darüber, als die Mädchen ein Picknick unternahmen, begleitet von Lucys verwitweter Mutter, die den Badeurlaub als ihre Anstandsdame mitmachte. Wahrscheinlich war es ein Glück für Mrs. Westenra, dass keines der Mädchen das nächtliche Erlebnis ihr gegenüber erwähnte, denn sie litt schon zu dieser Zeit an einer ernsten Form von Herzschwäche; allerdings hatte
Lucy zu jenem Zeitpunkt ebensowenig Ahnung von der Krankheit ihrer Mutter wie ich. Ich kannte Lucys Namen und das Haus, in dem sie schlief, und in der folgenden Nacht hielt ich mein Wort und rief nach ihr. Ich rief sie wortlos, sandte die Botschaft von meinem Bewusstsein zu ihrem, was mir möglich war, seit wir uns teilweise im Fleische vereint hatten. Ohne dass Worte fielen, teilte sich Lucy der dringende Umstand mit, dass ihr Liebhaber nahe war und nach ihr verlangte; doch schlief sie in einem Zimmer mit Mina und konnte nicht ohne weiteres nach draußen gelangen. Lucy tat so, als schlafwandele sie wieder, doch diese List wurde vereitelt; ihre verlässliche und praktisch veranlagte Zimmergenossin hatte, um einem weiteren mitternächtlichen Aufstieg zur Ostklippe zuvorzukommen, die Schlafzimmertür abgesperrt und den Schlüssel um ihr Handgelenk gebunden. Lucy wurde unerbittlich ins Bett zurückgebracht und förmlich in die Matratze gepresst, bis sie ihren Widerstand aufgab. Ein oder zwei Stunden später rief ich erneut, während ich in Fledermausgestalt am Fenster der Mädchen saß. Diesmal schlief Lucy wirklich, als sie aufstand und an der Tür rüttelte. Mina war sofort wach und machte mir wie zuvor einen Strich durch die Rechnung. Wie Sie fraglos bereits irgendwo gelesen haben, gehört es zu den Besonderheiten der vampirischen Existenz, dass wir kein Haus betreten können, in das wir nicht zuvor bereits einmal eingeladen wurden. Unter diesen Umständen konnte ich in Bezug auf Lucy zunächst nichts weiter unternehmen. Enttäuscht machte ich mich in meiner Fledermausgestalt auf einen einsamen Streifzug durch die Stadt und sammelte dabei weitere Belege dafür, dass die Engländer, wenn sie erst in ihren Häusern und Betten waren und sich unbeobachtet glaubten, sich alles in allem gar nicht so grundlegend von den Mitteleuropäern unterschieden.
Am nächsten Abend, dem des vierzehnten Augusts, falls ich mich recht entsinne, wurde meine Ausdauer belohnt. Mina befand sich auf einem Spaziergang, als ich am Fenster der Mädchen auftauchte. Da ich nun freie Bahn hatte, war es kein großes Kunststück, die schlafende Lucy wortlos zu überreden, das Fenster zu öffnen und ihren Kopf hinauszulehnen, sodass ihre zarte weiße Kehle im Mondschein über der Fensterbank schwebte. Mit meinem kleinen Fledermausmund kostete ich erst aus der einen und dann aus der anderen der beiden Wunden, die meine menschengroßen Eckzähne so fein säuberlich verursacht hatten. Das liebenswerte Mädchen stöhnte leicht und hatte einen überaus angenehmen Traum. Mein kleiner Fledermausmagen hätte, dies steht fest, gar nicht so viel Blut aufnehmen können, dass es sich auf Lucys Gesundheit ausgewirkt hätte. Aber sie war nicht sehr kräftig. Am folgenden Tag schien sie leidend und matt, ohne dass sie ihrer besten Freundin gegenüber hierfür eine Erklärung gehabt hätte. In der nächsten Nacht war ich wieder zur Stelle, doch weilte Mina zu Hause und hielt Lucy erneut davon ab, auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen. Ich zog ein bescheidenes, aber unleugbares Vergnügen aus der jungen Eroberung, die mir geglückt war, und lächelte jedes Mal in mich hinein, wenn ich Lucy in meiner Erinnerung »Wikinger« zu mir sagen hörte. Ja, gefangen wie diese Liebelei mich nahm, ließ sie mich eine Zeit lang fast vergessen, dass mein eigentliches Ziel London hieß. Dennoch hatte ich, wie ich bekennen muss, zu meiner Affäre mit Lucy eine recht unbeschwerte Einstellung, welche mehr ins späte zwanzigste Jahrhundert passte oder in die Mitte des fünfzehnten – als ich selbst noch atmete – und weniger in ihre tatsächliche Zeit und zu ihrem tatsächlichen Schauplatz. Vielleicht trug diese Haltung Schuld daran, mehr als meine nachweisbaren Bluttaten, dass sich mir schließlich jene
hechelnde und geifernde Meute von Mördern an die Fersen heftete. Ja, manchmal glaube ich wirklich, es war meine Flatterhaftigkeit, die sie so unerträglich fanden. Hätte ich mich auf ein einziges ihrer süßen Mädels beschränkt und sie geheiratet und nur in privater ehelicher Sphäre an ihrem Hals geknabbert, dann wäre ich, so scheint mir, in ihrer häuslichen Gemeinschaft aus Anverwandten und Freunden, gleich einem exzentrischen Vetter, beinahe willkommen gewesen. Doch vielleicht überschätze ich auch das Ausmaß an Exzentrik, welches selbst ein Engländer hinzunehmen bereit ist. Aber egal. Wie ich schon sagte, war London bei mir fast in Vergessenheit geraten, sodass es mich geradezu wie ein Schock traf, als ich am Abend des siebzehnten August meine ausgeruhten Augen aufschlug und feststellte, dass die Kiste, in der ich den Tag verschlafen hatte, gemeinsam mit ihren neunundvierzig Gegenstücken in einen Bahnwaggon verladen wurde. Ich kam mir ein wenig vor wie einer der Diebe aus Ali Baba und die vierzig Räuber, die sich in den Ölfässern versteckt hatten. Die folgende, gut dreihundert Kilometer lange Reise auf dem Great Northern Railway war meine erste Zugfahrt, und es war kein Vergnügen. Dem Gestank brennender Kohle, der vom Dampfkessel der Lokomotive zu den Güterwaggons zurückwehte, haftete etwas organisches an, fast wie von Essen, das mich während der langen Stunden einer schweren Leidensprüfung unterzog. Als wir ungefähr fünfzehn Minuten lang in beinahe völliger Dunkelheit dahingerattert waren, entwich ich durch einen Spalt in meiner Kiste und materialisierte mich in Menschengestalt, um die Umgebung zu erkunden. In der langen sommerlichen Abenddämmerung gegen die schlingernden Bewegungen des Zuges ankämpfend, zählte ich meine Kisten ab, um sicherzustellen, dass keine zurückgelassen worden war. Mit
einem hohlen Aufbrüllen kreischenden Stahls flog eine Brücke unter den Rädern des geschlossenen Waggons hinweg, der mich und meine Heimaterde beförderte. Durch eine Ritze erblickte ich kurz das Glitzern eines Flusses unter uns, und ich nickte bewundernd angesichts der Leichtigkeit, womit der dahinfliegende Zug mich über fließendes Gewässer tragen konnte, ohne nervös auf der Stelle zu tänzeln oder zurückzuscheuen, wie es selbst die stärksten Pferde manchmal taten, wenn ein Vampir im Sattel saß. Ich zog die Tür des Güterwaggons ein Stückchen auf und blickte eine Weile lang auf die Sumpflandschaft von Yorkshire hinaus, die wir mit solch bemerkenswerter Geschwindigkeit durchquerten. Da ich auf keinen Fall irgendwelche Zwischenfälle hervorrufen wollte, die auch nur entfernt der Katastrophe meiner ersten Seereise glichen – vor meinem inneren Auge sprang von Grauen gepacktes Zugpersonal bei neunzig Kilometern pro Stunde von den Waggons ab und landete mit brutaler Wucht auf Viehweiden und in Misthaufen – suchte ich schon bald danach abermals meine Ruhekiste auf. Die restliche Nacht und einen Großteil des folgenden Tages, während ich in meiner gewohnten Tages-Trance lag, ratterten und schaukelten wir südwärts und hielten nur an, um regelmäßig Fracht, Passagiere oder Feuerungsmaterial aufzunehmen. Fast genau zur planmäßigen Ankunftszeit, am Dienstag, dem achtzehnten August 1891 um 16.30 Uhr, gaben mir schwach vernehmliche Rufe zu verstehen, dass wir in den Londoner Bahnhof King’s Cross einfuhren. Meine innere Erregung hatte den Schlaf verscheucht, sodass ich wach war, als meine Kiste zusammen mit den anderen direkt aus dem Güterwaggon auf irgendein schweres Fuhrwerk gehievt wurde. Ohne Zeit zu verschwenden nahmen die Fuhrleute ihre Plätze ein und ließen
ihre Peitschen knallen, die Pferde zogen an, und wir waren zu meinem neu erworbenen Anwesen, nach Carfax, unterwegs. Während der Fahrt lauschte ich auf die Geräusche des Londoner Lebens, wenn ich schon nicht aus meiner Kiste hinausschauen konnte. Diese große Metropole, durch die ich mich jetzt erstmals bewegte, war von vielleicht sechs Millionen lebenden, atmenden Seelen erfüllt; pfeifend, hustend, fluchend, singend, betend, handelnd, sich gegenseitig freudig oder wütend oder kameradschaftlich zurufend, während ihre von Pferden gezogenen Wagen in unüberschaubarer Zahl zu allen Seiten an dem meinen vorbeirumpelten. Ich schwelgte in dieser Symphonie, bis sie schließlich unter dem fortwährenden Lärm meines eigenen Gefährts bis zur Unhörbarkeit verklang. Purfleet, wo mein Haus Carfax stand, war, wie ich vielleicht schon erwähnte, ein Vorstadtbezirk von Essex am Nordufer der Themse, gut fünfundzwanzig Kilometer östlich vom Herzen Londons entfernt. Die Fuhrmänner schimpften vor sich hin und gebrauchten dabei deftige englische Begriffe, die ich von Harkers Lippen nie zu hören bekommen und in keinem Buch gelesen hatte, während sie den Herrn des Hauses hoben und schleiften und schleppten und schoben, bis sie ihn glücklich in sein neues Heim verfrachtet hatten. Meine eigenen Anweisungen zur Anlieferung, übermittelt durch Dillington & Sohn, wurden getreulich befolgt, und gegen halb neun Uhr am Abend war ich fertig eingerichtet. Die Schritte des letzten Arbeiters verklangen, und an meine erfreuten Ohren drang das Geräusch der Türen, die er hinter sich zuzog. Etwa um neun Uhr abends stieg ich aus meinem Sarg, begierig wie ein Kind, mein neues Zuhause zu erkunden. Ich stand in einer verfallenen Kapelle, die offenkundig vor meiner Zeit errichtet worden war und alle Anzeichen dafür aufwies, ebenso lange keinen atmenden Menschen mehr
gesehen zu haben wie mein eigenes Schloss. Eine derart einsame und erholsame Ungestörtheit meines Zufluchtsorts – und dabei London kaum einen Spaziergang weit entfernt! Ich segnete Harker und Hawkins, reckte meine Arme vor Freude hoch empor, und beinahe hätte ich erstmals seit dem Selbstmord meiner ersten Frau wieder gelacht… ein liebenswertes Mädchen, aber sie verlor den Verstand und sprang damals in der Blüte meines atmenden Lebens von einer Brustwehr des Schlosses. Schon vor jenem bitteren Tag hatte ich nur wenige weiche Züge besessen, seither jedoch so gut wie gar keinen mehr… Wo war ich stehen geblieben? Ah ja, bei der Beschreibung meines ersten Abends in Carfax. Eine erinnernswerte Nacht. Eifrig erkundete ich das große, verlassene, verfallene Gebäude, ab und an mit Ratten parlierend, und dann erforschte ich das baumbewachsene Grundstück, auf dem es stand. Ich vergaß auch nicht, meine Reisetasche mit dem Geld und den frischen Kleidern aus ihrem modrigen Erdversteck zu bergen. Die Kleider hängte ich an einem Ort auf, wo sie vor Feuchtigkeit geschützt waren und in einem vorzeigbaren Zustand blieben, bis ich Gelegenheit finden würde, sie bei gesellschaftlichen Anlässen zu erproben. Welch närrische Vorstellungen ich hegte… Im Laufe der Jahrhunderte meines Daseins habe ich die feste Überzeugung gewonnen, dass jene Recht haben, welche die Existenz von so etwas wie schierem Zufall im eigentlichen Sinne nicht anerkennen. Jawohl, ich hegte närrische Vorstellungen. Wie hätte ich denn wissen sollen, dass Carfax, von mir über eine Entfernung von vielen tausend Kilometern hinweg erworben, an eine Heilanstalt für Geisteskranke unter der Leitung eines Mannes, Dr. Sewards, grenzte, der erst vor Kurzem, wenn auch erfolglos, um die Hand meiner zarten, leidenschaftlichen Blondinenbekanntschaft vom Friedhof und
der Fensterbank angehalten hatte? Und dieser Umstand ist keineswegs das einzige, ja vielleicht noch nicht einmal das bemerkenswerteste Glied in der Kette von ›Zufällen‹ – ein treffenderer Ausdruck fehlt mir leider – welche mein Schicksal so unauflöslich mit dem von Harker, Mina, Lucy, Van Helsing und den anderen verknüpfte. Wer hätte sich auch nur erträumt, dass die kraftvolle junge Frau, die Lucy auf dem Friedhof von Whitby zur Hilfe gekommen war, wirklich und wahrhaftig die Verlobte und bald schon die Braut des jungen Harker war, den ich auf Schloss Dracula zurückgelassen hatte? Just in jenem Moment wälzte er sich auf einem Budapester Spitalbett delirierend im Griff eines Gehirnfiebers, wie es damals hieß, ohne dass seine Identität den guten Nonnen, die ihn pflegten, bekannt war. Nachdem er, die Tasche gefüllt mit gestohlenem Gold, an der Schlossmauer hinuntergestiegen war, hatte er sich irgendwie bis nach Klausenberg durchgeschlagen, wo er in den Bahnhof stürmte und mit lauten unzusammenhängenden Worten eine Fahrkarte nach Hause verlangte. Bahnhofsangestellte, die ihn »anhand seines groben Benehmens als Engländer erkannten«, beeilten sich, den größten Teil seines Geldes einzustreichen und ihn in einen Zug zu setzen, der die passende Richtung nahm. Er schaffte es jedoch nur bis Budapest, wo er infolge eines Nervenzusammenbruchs, wie man es heute nennt, in ein Nonnenspital eingewiesen wurde. Ich kann von diesen miteinander verschränkten Ereignissen nur die reinen Tatsachen berichten, zumindest wie sie sich aus meiner Sicht darstellten. Ein mächtigerer Verstand als der meine könnte vielleicht einen oder mehrere Fäden eines ursächlichen Zusammenhangs entdecken, die sämtliche Geschehnisse zusammenführen und miteinander verknüpfen; ich selbst vermag keine Erklärung für diese wirre Verkettung von »Zufallsereignissen« zu finden, ohne auf Begründungen
zurückzugreifen, die abseits und jenseits unseres gewöhnlichen Naturverständnisses liegen. Doch zurück nach Carfax während meiner ersten Nacht dort. Es dauerte nicht lange, bis meine Vorstellung von der Sicherheit, Geborgenheit und relativen Abgeschirmtheit meines neuen Besitzes über den Haufen geworfen wurde. Kurz nach zwei Uhr morgens, als ich freudig auf den kleinen See blickte, der mein Grundstück zierte, ging der Tanz los. Es begann mit einem Scharren an der Westseite der hohen Steinmauer, die ganz Carfax umfriedete, so als versuchte jemand, sie zu überwinden. ›Was mag das sein?‹, dachte ich und eilte zurück in meine staubige, verfallene Kapelle, wo meine wertvollen Kisten versammelt lagen und daher im Ernstfall alle miteinander in Gefahr waren. Sie zu beschützen war oberstes Gebot. Ich hörte, wie ein einzelnes atmendes Lebewesen die Mauer erkletterte und sich ungeladen auf mein Grundstück fallen ließ. Die stockende Hast, die den Bewegungen des Eindringlings anhaftete, ließ mich an einen Flüchtigen auf der Suche nach einem Unterschlupf denken; sicher konnte ich dessen jedoch nicht sein. Die allgemeine Nachtstille, so fern vom Getriebe der Großstadt, schärfte mein Gehör. Obwohl mein Besucher noch hundert Schritte entfernt war, vernahm ich ihn deutlich genug, um mir sicher zu sein, dass es sich um einen Mann handelte und nicht um eine Frau oder ein Kind. Meinerseits reg- und lautlos wie eine in der Sonne liegende Eidechse – sogar starrer und leiser noch, denn Eidechsen besitzen atmende Lungen – wartete ich in dem von Rattenspuren durchkreuzten Staub meiner Kapelle und lauschte. Die Füße des herankommenden Mannes schienen nackt, und er trug eine Art lockerer Bekleidung, die beim Laufen um seinen Körper schlackerte. Jetzt befand er sich direkt vor der Kapellenmauer, wo er sich
plötzlich zu Boden warf und damit begann, wie ein wildes Tier herumzuschnüffeln und zu -kriechen. Mit einem Gefühl wachsenden Entsetzens kam mir der Gedanke, er könne seinerseits ein Nosferatu sein. Wimmelte England bereits von meinesgleichen, und hatte Harker es aufgrund irgendeines geisteskranken Zartgefühls unterlassen, mir das mitzuteilen? Dann waren meine Hoffnungen wahrlich zum Scheitern bestimmt. Mit einiger Erleichterung nahm ich zur Kenntnis, dass dieser Mann nach wie vor atmete. Inzwischen war der geheimnisvolle Störenfried bis zu der eisenbeschlagenen Flügeltür gekrochen, die die Kapelle sicherte, und stemmte jetzt zwei offenkundig kraftstrotzende Arme dagegen, um sie aufzudrücken, sodass die Scharniere knirschten. Doch die Eichentür hielt stand. »Meister, mein Meister«, zischelte er nun, die Lippen dicht an der Tür. Es war ein gewispertes Begehren, das es fertigbrachte, wild und unterwürfig zugleich zu sein. »Meister, gebt mir Leben, viele Leben!« ›Was für ein angelsächsischer Dialekt ist dies?‹, überlegte ich, noch während er bereits fortfuhr: »Insekten habe ich jetzt, Meister, um sie zu Dutzenden, zu Hunderten zu essen, und auch Tiere kann ich bekommen… doch brauche ich die Leben von Menschen, Meister! Männer und Kinder und Frauen, vor allem Frauen! Frauen!« Er gab ein Geräusch zwischen einem Gurgeln und einem Lachen von sich. »Ich muss sie bekommen, und Ihr müsst sie mir gewähren, Meister!« Diese Litanei führte er viele Minuten lang fort, während ich vor der Innenseite der Tür stand, nicht mehr als eine Armlänge entfernt, wie ein Priester bei einer irrsinnigen Art von Beichte. Die Handflächen an die Schläfen gepresst, versuchte ich nachzudenken. Es gab nur eine Sache, an der ich nicht zu zweifeln brauchte: Dieser Mann wusste, dass ich dort war, wusste zu allermindest, dass etwas Außergewöhnliches sich
innerhalb der Kapelle aufhielt, und er war gekommen, um mir eine Art von eigennütziger Huldigung darzubringen. Meine schützende Anonymität, zu der ich mich gerade erst beglückwünscht hatte, und um derentwillen ich so viel Geld und Mühe investiert hatte, war bereits dahin. Als ich noch ratlos dort stand, vernahm ich weitere Schritte, von etwa vier oder fünf Männern, welche an derselben Stelle über die Mauer stiegen, wo schon mein erster Besucher auf das Grundstück geklettert war. In einem Anflug von Verzweiflung stellte ich mir anfänglich eine ganze Armee von Anbetern vor, deren Hohepriester, der Faselhans jenseits der Tür, ihr gemeinsames Kultobjekt ausfindig gemacht hatte und nun ihre Litaneien vorbeten würde: »Frauen… Meister… Leben… Meister… Frauen…« Doch statt der Jünger des Wahnsinnigen waren es natürlich seine Wärter, die ihn verfolgten, Seward sowie drei oder vier bullige Irrenaufseher, die er in kluger Voraussicht mitgenommen hatte. Erst zu diesem Zeitpunkt erinnerte ich mich an Harkers beiläufige Erwähnung der Verwahranstalt für Geisteskranke, die an meinen Besitz grenzte, und begann den tatsächlichen Sachverhalt zu begreifen. Draußen kamen die neuen Besucher schnell näher. Sie schwärmten fächerförmig aus, bildeten einen Halbkreis um den Mann, der an meiner Kapellentür kniete, und drangen planvoll gegen ihn vor. Inzwischen strömten die Bitten weiter über seine Lippen. »Ich will tun, was immer Ihr verlangt, Meister. Ich bin Euer Sklave, und Ihr werdet mich belohnen, denn ich werde treu sein. Ich habe Euch gehuldigt seit Langem und aus weiter Ferne.« Bis heute bin ich mir nicht klar, ob diese letzte Behauptung eine Lüge in der Absicht war, meine Gunst zu erschmeicheln, eine Wahnvorstellung aus dem kranken Hirn des Mannes, oder tatsächlich die Wahrheit. Fest steht, dass
Renfield – wie sein Name lautete, wie ich später erfuhr, ein Geisteskranker von etwa sechzig Jahren, jedoch mit erstaunlichen Körperkräften und aus sehr guter Familie war – fest steht, wie gesagt, dass Renfield sich meiner Anwesenheit irgendwie bewusst geworden war, sobald ich in Carfax eintraf, und fortan die Fähigkeit besaß, mein Kommen und Gehen zu verfolgen, ohne seine eigene Zelle oder sein Zimmer in der Irrenanstalt zu verlassen. Fast schon sabbernd schwafelte er weiter, mit einer widerwärtig zischelnden Stimme: »Da Ihr nun endlich hier seid, stehe ich Euch zu Diensten, und Ihr werdet mich nicht übergehen, nicht wahr, teurer Meister, wenn Ihr Eure guten Dinge verteilt?« Hinter ihm und von den Seiten kamen die Männer stetig näher. Jetzt hörte ich erstmals die Stimme Sewards, jung, selbstsicher und gebieterisch: »Renfield, es ist Zeit mit uns nach Haus zu gehen. Komm, sei ein braver Junge!« Dann eine andere, einschmeichelnd, mit einem Unterschichtakzent: »Komm schon, mein Herzchen. Ganz ruhig… Jetzt!« Ob befehlend oder zuckersüß, Worte verfehlten ihren Zweck in jener Nacht. Obwohl sie zu viert oder fünft gegen einen standen, war es kein leichter Kampf. Renfields Kräfte waren anormal, wie ich später selbst erfuhr. Später las ich, dass er buchstäblich ein Fenster mitsamt Einfassung aus der Wand seiner Zelle gerissen hatte, um seine Flucht in jener Nacht zu bewerkstelligen. Nach und nach gelang es Seward und seinen Männern, ihn zu überwältigen und in eine Zwangsjacke zu stecken, sodass sie ihn verschnürt wie ein wildes Tier über die Mauer hinweg fortschaffen konnten; die Stille und die Nacht gehörten wieder mir. Aber die Geräusche des stattgehabten Kampfes reichten aus, um auch mir klar zu machen, was Seward noch in derselben Nacht über seinen Patienten schrieb:
»Aus jeder seiner Regungen und Bewegungen spricht die Mordlust.« Und meine Träume von einem neuen Leben hatten einen weiteren niederschmetternden Rückschlag erlitten.
3. TONBAND
Ich wäre den Wärtern und ihrem Gefangenen unverzüglich zur Irrenanstalt gefolgt, um nach Möglichkeit herauszufinden, woher Renfields Fähigkeiten rührten, doch nahm ich an, dass er meine Gegenwart bemerken und zweifellos einen solchen Lärm darum machen würde, dass seine Betreuer, die seine Wahnvorstellungen bislang anscheinend nicht ernst nahmen, sich zu entsprechenden Nachforschungen veranlasst sähen. Außerdem gab es da noch meine Kisten, ohne welche ich obdachlos und in diesem fremden Land alsbald dem Untergang geweiht wäre. Ich begriff jetzt, dass ich sie keine einzige Stunde lang schutzlos lassen durfte, waren sie doch leichte Opfer für Zerstörungsakte oder selbst zufälligen Vandalismus, weswegen ich den Rest der Nacht damit zubrachte, meine Lage etwas sicherer zu machen, zumindest auf meinem eigenen Grund und Boden. Ich benötigte mehrere sinnvoll investierte Stunden, um die gute transsylvanische Erde einiger der Kisten – selbst zum jetzigen späten Zeitpunkt werde ich Ihnen die genaue Anzahl nicht verraten – gegen englische Erde auszutauschen, die in fast jeder Hinsicht ebenso gut war, außer dass sie mich längst nicht so wirtlich aufnahm. Einen geringen Teil meiner Heimatscholle gab ich dem Boden innerhalb der Kapelle von Carfax bei, und den Inhalt einiger weiterer Kisten vergrub ich an anderen Stellen meines Grundstücks, an von Dickicht überwucherten Orten, wo meine Erdarbeiten nicht leicht entdeckt werden konnten. Am nächsten Tag schlief ich daher während der hellen Stunden recht beruhigt, und bis zum darauf folgenden Abend hatte ich mir eingeredet, dass der Besuch des Geisteskranken
gar keine so große Bedeutung besitze. Überdies spürte ich keinerlei Verlangen, nachts um ein Irrenhaus herumzustrolchen; ich wollte London sehen, und das tat ich. Oder besser: Ich begann es zu sehen. Denn naturgemäß ist ein solches Unterfangen ohne Ende. Mich zur Abenddämmerung auf meinen kleinen ledrigen Schwingen emporhebend, legte ich die gut zwanzig Kilometer im Nu zurück. Noch bevor ich mich dem Herzen Londons auf einen Kilometer genähert hatte, schmerzte das Brausen seiner niemals zur Ruhe kommenden Straßen meine Ohren, und das Leuchten der Metropole verwirrte meine Fledermausaugen. Es war Nacht und Sommer, und viele der häuslichen Kohlenfeuer, welche den Himmel über mir an einem Wintertag förmlich schwarz gefärbt hätten, waren kalt. Dort schlängelte sich die Themse, überspannt von mächtigen Brücken und im Spiegelglanz einer Million funkelnder Lichter. Dort hinter dem Green Park erhob sich der Palast, wo Victoria höchstselbst die letzten Jahre ihrer langen Herrschaftszeit in Würde verbrachte; dort erklangen, dicht unter mir, die tiefen und feierlichen Glockentöne des Big Ben. Die größeren Verkehrsadern waren allesamt stark belebt, und hie und da erhaschte mein Auge das unvertraute, unnatürlich gleichförmige Strahlen elektrischen Lichtes. Am Piccadilly und entlang des Strandes leuchteten die Fronten von Läden und Restaurants; Westminster Abbey, stolzes Überbleibsel einer längst verblichenen Epoche, blickte in die Runde und sinnierte über eine Welt im Wandel. Im Parlamentsgebäude brannten ein paar Lichter und zeugten davon, dass die Regierung eines Weltreiches es sich nicht erlauben konnte, die Arbeit auf den nächsten Morgen zu vertagen. Jetzt reckte unter mir St. Paul’s seine Kuppel in die Höhe; gleich darauf überflog ich die labyrinthischen Gassen und verrohten Slums von Whitechapel und Bethnal Green…
Aber ich könnte stundenlang von dieser Stadt erzählen, muss es mir jedoch verkneifen. Lassen Sie mich daher nur sagen, dass ich Nacht für Nacht dorthin kam, und jede Nacht mich trunkener sah als die vorausgegangene. In der Zwischenzeit… Ich nehme an, man kann es nicht als außergewöhnlichen Zufall werten, dass Lucy fünf Tage nach meiner eigenen Ankunft in London eintraf – oder genauer gesagt in einem seiner nördlich gelegenen Vororte, wo ihre Familie ein Haus namens Hillingham besaß. London war und ist das Rom, wohin alle englischen Straßen unweigerlich führen. Ungefähr um jene Zeit begann sie ein Tagebuch, in welchem sie recht trübe Gedanken festhielt. Wohl möglich, dass sie nach einigen Lebensaugenblicken, die sie voller Leidenschaft mit ihrem Wikinger verbracht hatte, die Aussicht eines Daseins an der Seite von Arthur Holmwood gar nicht mehr verlockend fand. Holmwood – nach dem baldigen Tode seines Vaters sollte er Lord Godalming werden – war ganz ohne Frage der einflussreichste und begütertste von Lucys drei atmenden Freiern, und er war derjenige, den sie erhört hatte. Von ihm sollte ich schon bald Kenntnis erlangen. Dr. Seward war, wie ich schon sagte, ein weiterer von ihnen. Zum dritten kommen wir in Kürze. Da Lucy und ich im Blute eins geworden waren, hatte ich ein vages Gespür ihrer räumlichen Nähe, als ich am Abend des vierundzwanzigsten August erwachte. Doch lächelte ich nur zärtlich in mich hinein und machte mich auf, um abermals London zu erblicken, um den seelischen Nektar seiner Menschenmassen zu kosten, um in seine lebenspralle menschliche Vielfalt einzutauchen, um in seinen Bauwerken, Straßen und Denkmälern Zeugen seiner großartigen Vergangenheit zu studieren. Jede Stunde, die ich dieser Beschäftigung widmete, ließ mich wünschen, zwei weitere auf
die gleiche Weise zu verbringen, und nur unter Selbstüberwindung vermochte ich es, mir die Zeit für eine unabdingbare Maßnahme abzuringen: die Einrichtung meiner Rückzugsstätten. Von nun an war ich während der Tagesstunden regelmäßig auf den Beinen. Ich betrat das Büro eines Fuhrbetriebes, um den Abtransport einiger der Kisten von Carfax und ihre Verteilung auf diverse Ausweichruhestätten innerhalb der Stadt zu veranlassen. Es tat mir gut, zu erleben, dass der Geschäftsinhaber und seine Angestellten, sämtlich ehrbare Tageslichtbürger, sich einem Vampir gegenüber höflich und geschäftsmäßig betrugen: Sie nahmen mein Geld, ohne viel auf mein Gesicht zu geben. Zugleich ersetzte ich die Heimatscholle in einigen weiteren meiner Kisten durch englische Erde. Diese neu gefüllten Kisten beließ ich in der Kapelle von Carfax, während ich zur Aufbewahrung der transsylvanischen Erde mehrere große Kisten verwendete, die ich nächtens heimlich und eigenhändig bei einem Sargtischler in der Cheapside erbeutet hatte. Ich ließ eine Hand voll Goldstücke zurück, die ihn mehr als entschädigten. Was ich unbedingt vermeiden wollte, war Aufmerksamkeit zu erregen, indem ich solch einschlägige Güter offen erwarb, ohne ein Bestatter zu sein und ein Lager voller Leichen zu haben, die ich auf Verlangen vorweisen konnte. Diese modernen doppelwandigen Särge erwiesen sich als angenehme Domizile für mich; während meine heimatliche Erde die Außenhülle füllte, konnte ich völlig sauber und bequem im Inneneinsatz aus Blei schlafen. Einen dieser Spezialsärge vergrub ich in der Kapelle, einen weiteren im Hof eines Hauses am Mile End, um das ich bereits Kaufverhandlungen führte. Einen dritten Sarg behielt ich in Reserve, in einem Mietschuppen nahe Charing Cross. Ich sage Ihnen ganz offen, wo die Särge waren, denn sie sind nicht
mehr dort, wenn auch zwei davon sich immer noch in London befinden. Es dauerte bis zur Nacht des sechsundzwanzigsten August, bis ich Lucy wiedersah, und ich kam auch nur in Befolgung eines Hilferufes zu ihr. Aus ihrem mentalen Aufschrei sprach solch furchtbare Pein, dass ihn einfach zu übergehen grausam gewesen wäre und in meinen Augen auch unehrenhaft. So wartete ich also spät nachts in Menschengestalt vor dem großen Vorstadthaus namens Hillingham, wo Lucy mit ihrer kränkelnden Mutter und wenigen Dienstboten lebte. Ich sandte auf mentalem Wege eine Beruhigungsbotschaft an das schlafende Mädchen; sie stand auf, und es gelang ihr, das Haus zu verlassen, ohne einen der übrigen Bewohner aufzuwecken. Ich lächelte und streckte meine Hände aus, als ich ihre zarte Gestalt, umhüllt von einem Morgenmantel, durch den Garten unter den Bäumen herankommen sah. »Es ist also wahr«, murmelte sie, sich mir nähernd, während ihre weit geöffneten Augen meinen Blick suchten, »es waren nicht bloß Träume«. Ich glaube, sie hatte in diesem Augenblick beinahe Angst vor mir, obwohl wir einander schwerlich fremd waren. Ich hatte ihr viel Freude geschenkt und ihr, soviel ich wusste, nicht den mindesten Schmerz zugefügt. »Meine liebe Lucy, die Leuchtende«, begrüßte ich sie. »Ist es das, was dich so quält? Dass ich kein Traum bin? Ein Wink deiner kleinen Hand, der mich meiner Wege schickt, und ich trete dir niemals mehr vor Augen.« Ihr Blick war verwirrt und voller Schmerz. »Sie wissen demnach, dass ich Kummer und Angst leide.« »Sicher weiß ich das, Kind. Ich wäre nicht hier, hättest du mich nicht, wenn auch nur im Geiste, um Beistand gerufen.« »Aber wie ist so etwas möglich?« Ich wollte gerade versuchen, auf diese Frage eine Antwort zu geben, als sie mir
eine weitere stellte, die ihrer Meinung nach offenkundig der Beantwortung dringender bedurfte. Sie erfolgte in Form einer schlichten Feststellung: »Ich werde bald heiraten, müssen Sie wissen.« »Das war mir nicht bekannt, doch gestatte mir, meine Glückwünsche auszusprechen, soweit sie dir von einem Mann in meiner Lage annehmbar erscheinen.« Ich verbeugte mich. »Wissen Sie, ich werde Arthur wirklich heiraten.« Lucy errötete. »Ich liebe ihn – sehr sogar. Und er liebt mich.« Sie begann von Holmwood und seinen Manieriertheiten zu erzählen, von seinen Aussichten auf Reichtum und Rang, bis ich mich zu meinem Verdruss allmählich wie ein gestrenger Onkel oder älterer Bruder fühlte, der gnädig gestimmt werden musste, damit er dem Bund seinen Segen erteilte. Natürlich gab es zu jenem Zeitpunkt keine andere Vaterfigur in Lucys Leben – Van Helsing hatte den Schauplatz noch nicht betreten – und vielleicht wies sie ganz unpassender Weise mir diese Rolle zu. »… und deshalb liebe ich Arthur und werde ihn heiraten. Und Sie – Sie sind immer noch ein Traum oder entstammen einem solchen.« Hatte sie gehofft, mir eine eifersüchtige Liebeserklärung zu entlocken? Der Schmerz in ihrem Gesicht, als sie mich anblickte, war jetzt unverkennbar aus Leidenschaft geboren, und ihre Stimme brach. »Ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen!« Ich schwieg, unsicher, ob ich ihn ihr sagen wollte. Namen besitzen Macht, eine zweischneidige Macht. Ebenso war Lucy offenbar nicht wirklich sicher, ob sie mehr wissen wollte. »Halten Sie mich!«, war alles, was sie sagte, bevor sie mit einem leichten Zittern in meine Arme kam. Lucy wusste nur, dass unser gemeinsames Erlebnis ihr höchste Freuden geschenkt hatte und dass Arthur nicht der einzige Mann war, den sie liebte. Wir hatten keine theoretischen
Unterredungen über Vampirismus geführt, und ich möchte wetten, dass sie dieses Wort noch nie gehört hatte. Es mag sein, dass ich in jener Nacht ein bisschen zu tief aus ihr getrunken hatte, denn Lucy klammerte sich an mich und wollte mich nicht fortlassen… Ihre Hochzeit war für den siebzehnten September anberaumt, das war in wenigen Wochen. Ob Lucy die Affäre mit mir über jenes Datum hinaus fortsetzen wollte, vermag ich nicht zu sagen, denn Frauen sind unergründlich. Was wollen sie? So frage ich, mit Freud, in Momenten schwärzester männlicher Verzweiflung. Lucy kränkelte während der nächsten paar Tage. Auch mussten einige Spuren ihrer wiederholten nächtlichen Zeitvertreibe Arthur Holmwood aufgefallen sein, der sie nun, nachdem sie in die Umgebung Londons zurückgekehrt war, wieder häufig sah, denn wenige Tage später ließ er Dr. Seward kommen, sein Freund ebenso wie Lucys, damit dieser sie untersuchte. »Zunächst sträubte sie sich«, wie Arthur in einem Brief beklagte. Nun, vielleicht hätte sie ja einen Arzt bevorzugt, der kein von ihr abgewiesener Freier war, vor allem einen, dessen Fachgebiet nicht im Studium geistiger Krankheiten lag. Obwohl sie nicht Minas Voraussetzung standhafter Unabhängigkeit besaß, ist es sogar möglich, dass es ihr gegen den Strich ging, in einer Angelegenheit wie der Wahl ihres Arztes nicht selbst entscheiden zu dürfen. Seward unterbrach die Beobachtung seiner betuchten Geisteskranken lange genug, um Lucy flüchtig in Augenschein zu nehmen, und gelangte zu dem Schluss, dass der Grund für ihre – oder eher ihres Verlobten – Klagen »wohl auf seelischem Gebiet zu suchen« sei. Das stimmte auch soweit. Ah, Lucy – Lucy, was ›die Leuchtende‹ bedeutet – Lucy mit dem sanften und vertrauensvollen Naturell. Ich schätze, du warst kein besonders artiges Mädchen; doch wie so viele
Frauen deiner Zeit hättest du etwas weitaus Besseres verdient als das Schicksal es dir bescherte. Sie versuchte, Seward mit ein paar unbestimmten Geschichten über Schlafwandlerei abzuspeisen, die ja insoweit auch durchaus zutrafen. Aber er war für seine Zeit ein ziemlich guter Arzt; zumindest hatte er ein scharfes Auge, oder nennen wir es ein Gespür, für das Anormale. Nicht dass er großes Urteilsvermögen bewies, was den Umgang damit anbetraf. Sewards erste Handlung, nachdem er einen Hinweis auf etwas wirklich Bemerkenswertes an dem Fall entdeckt hatte – meinen Schatten oder meine Duftspur an dem Mädchen – bestand darin, nach Amsterdam zu schicken und seinen früheren Lehrer herbeizurufen, Abraham Van Helsing, Doktor der Medizin, Doktor der Philosophie, Doktor der Literatur und was nicht noch alles. Van Helsing… Verspürt irgendjemand, der jetzt meine Stimme abspielt, noch Furcht vor meinem Namen? Vertreten selbst die Furchtsamsten unter meinen Zuhörern die Ansicht, ich könnte eine ernsthafte Gefahr bedeuten? Sobald ich Ihnen erst die ganze bodenlose Narrheit dieses Mannes, Van Helsings, deutlich gemacht habe und Ihnen zugleich gestehe, dass er es schaffte, mich beinahe zu Tode zu hetzen, werden Sie nicht umhin können, zuzustimmen, dass man mich unter allen großen Bedrohungen dieser Welt am Wenigsten zu fürchten braucht. Dennoch machte Van Helsing einen eher vorteilhaften Eindruck, vor allem anfangs und auf junge und unerfahrene Menschen. Seward hatte eine überaus gute Meinung von diesem Mann, an der er unbelehrbar festhielt, und bescheinigte ihm »ein so großes Wissen auf dem Gebiet seltener Krankheiten, wie es nur je ein Arzt besaß«. Nun ja, das mag sein. Die Medizin befand sich in den 1890er Jahren noch auf
einem erbärmlichen Niveau. »Er ist scheinbar sehr von seinen Ansichten überzeugt, was aber daran liegt, dass er besser als jeder andere weiß, wovon er redet. Er ist ein Philosoph und ein Metaphysiker« – fürwahr; Arthur Holmwood, an den dieser Lobgesang geschrieben wurde, hätte gewarnt sein müssen – »und einer der fortschrittlichsten Wissenschaftler seiner Zeit; darüber hinaus ist er, wie ich glaube, völlig ohne Vorurteil. Das und seine Nerven aus Stahl, seine unerschütterliche Gemütsruhe, seine Willenskraft und Selbstbeherrschung sowie seine holländische Aufgeschlossenheit« – letzteres allerdings nicht gegenüber Vampiren – »sind Charaktervorteile, die seiner Mitwelt zum Segen geraten, dazu kommt das treueste und gütigste Herz, das je in einer Menschenbrust schlug…« Und Mina, die später mit ihm zusammenkam, sah und beschrieb einen »Mann von mittlerer Größe, kräftig gebaut, mit straffen Schultern über einem breiten, gewölbten Brustkasten und einem Hals, der so fest auf dem Rumpf sitzt wie der Kopf auf dem Hals. Die Haltung des Kopfes zeugt von Tiefe und Kraft der Gedanken; er ist edel, gut proportioniert und breit, der Hinterkopf ausgeprägt. Das glatt rasierte Gesicht besitzt ein hartes, kantiges Kinn, einen breiten, entschlossenen, ausdrucksvollen Mund, eine Nase von ebenmäßiger Form… Die Stirn ist breit und schön… sie ist so mächtig, dass das rötliche Haar nicht nach vorn, sondern auf natürliche Weise über die Schläfen und den Nacken fällt. Zwei große, dunkelblaue Augen, die weit auseinander liegen, wechseln rasch ihren Ausdruck und blicken mal unruhig, sanft oder ernst, je nach der Stimmung ihres Besitzers.« Nun denn, mal schaun, was wir alle diesem Ausbund an Tugend zu verdanken haben. Zum Zeitpunkt, als er Lucy zum ersten Mal untersuchte, am zweiten September, falls mich die Erinnerung nicht trügt, hatte sie sich von unseren vielleicht allzu stürmischen Umarmungen ein paar Nächte zuvor erholt
und sah schon deutlich besser aus. Van Helsing entschied, dass »ein großer Blutverlust hat eingetreten… doch von ihr der Zustand ist in keiner Art anämisch«. Wir müssen ihm ja zugute halten, dass Englisch nicht die Muttersprache des Professors war. Doch war sein Wissen über das Blut und seine Anomalien ebenso unzulänglich, ein Umstand, den bitter zu bedauern wir noch guten Grund haben sollten. Nachdem er den Kopf über Lucys Fall geschüttelt hatte, ohne jedoch viel zu sagen, kehrte er nach Amsterdam zurück, um nachzudenken. Mehrere Tage lang hatte ich mich von Lucy fern gehalten, um ihr Zeit zur Blutneubildung zu geben, und auch, weil ich ernsthaft den Gedanken verfolgte, die Beziehung zu ihr sofort und für immer zu beenden. Dazu entschloss ich mich denn, und als ich nachts nach Hillingham zurückkehrte, geschah dies im Bewusstsein, dass der Zeitpunkt des Abschiednehmens für uns gekommen war. Meine Entscheidung diente ihrem wie auch meinem Besten. Zunächst einmal wollte ich sie gar nicht zu einem Vampir machen, da sie in ihrer Unwissenheit – womit sie sich, wie mir schien, am wohlsten fühlte – überhaupt nicht im Stande war, klaren Blicks ihre Zustimmung zu geben, die Fährnisse und Freuden einer solchen folgenschweren Umwandlung vernünftig gegeneinander abzuwägen. Eine Fortsetzung unserer Begegnungen in der zuletzt angefallenen Häufigkeit hätte sie aber binnen kurzem an einen Punkt versetzt, wo man sehr ernsthaft mit der Möglichkeit ihrer Verwandlung in einen Vampir hätte rechnen müssen. An zweiter Stelle sagte ich mir selbst, dass, so sehr ich mich Lucys auch erfreute, mein Heimatland doch so manches willige Bauerndummchen beherbergte, das ebenso hitzig, atemlos und wohlgeformt war und mir die selben Freuden hätte schenken können, aber zu einem Bruchteil der Mühen und Kosten. Ganz sicher hatte ich meine Odyssee nicht um
weicher Haut und zarter Venen willen unternommen. Oh weh! Wie uns doch die Leidenschaft zu Narren macht! Bei meinem vermeintlich letzten Besuch, der knappen Erklärungen und dem Abschiednehmen hätte dienen sollen, drängte Lucy sich in meine Arme wie zuvor, und zu meinem Verdruss ließ ich sie abermals merklich geschwächt zurück. Dennoch stand mein prinzipieller Entschluss fest, und ich trennte mich von ihr in der Überzeugung, dass unser gerade beendetes Stelldichein unser letztes gewesen sei. Die Affäre war zu Ende, so glaubte ich gewiss, ob es Lucy nun klar war oder nicht. Die Möglichkeit, dass sie zum Vampir wurde, hatte noch vor wenigen Stunden recht fern gelegen; nun jedoch, nach unserer jüngsten Umarmung, war daraus eine deutliche, greifbare Gefahr erwachsen – oder eine Gelegenheit, was vom jeweiligen Standpunkt abhing. Naturgemäß sah Lucy am nächsten Tag, dem sechsten September, glaube ich, wieder ein wenig blass und schwach und etwas sonderbar aus. Holmwood war abwesend, weil er seinem allmählich dahinscheidenden Vater beistand, aber Seward kümmerte sich um sie, und was er sah, gefiel ihm nicht. Abermals rief er Van Helsing herbei, der sich erbeten hatte, mittels täglicher Telegramme über den Zustand der Patientin informiert zu werden. Der Professor kehrte schleunigst nach London zurück, in den Augen ein Leuchten, wie ich vermute, und in der Hand eine Tasche, prall gefüllt mit seinen Werkzeugen. Ehe mich auch nur die leiseste Ahnung von seinen Absichten oder auch nur dem Umstand beschlich, dass er Lucy behandelte – sie hatte seinen früheren Besuch mir gegenüber nicht erwähnt – hatte der Narr versucht, eine Bluttransfusion an ihr vorzunehmen, wobei Arthur Holmwood – aus rein gesellschaftlichen Rücksichten – als Spender ausersehen war.
Lassen Sie uns mal versuchen, diese Angelegenheit aus historischer Sicht zu betrachten. Erst im Jahr 1900, gut neun Jahre nach diesen Ereignissen, entdeckte Landsteiner die vier Grundblutgruppen des Menschen, A, B, AB und 0, und dies mag als der Wendepunkt gelten, von dem an Blutübertragungen ohne Lebensgefahr für den Patienten möglich wurden. Es stimmt, dass seit dem Altertum einige zählebige Individuen die Versuche ihrer experimentierfreudigen Ärzte, Blut von Mensch zu Mensch oder sogar von Tier zu Mensch zu transfundieren, überstanden haben; in vielen dieser Fälle verdankt sich das Überleben des Patienten zweifellos dem Versagen der Transfusionstechnik, wodurch keine nennenswerte Menge schädlicher Blutkörperchen in seine Blutbahn gelangte. Ich selbst ruhte anno 1492, als Papst Innozenz VIII. angeblich das gesamte Blut dreier junger Männer übertragen wurde, reglos in meiner Gruft; daher kann ich mir keine Meinung über den Wahrheitsgehalt dieser überaus schockierenden Geschichte erlauben. Während einer umtriebigen Lebensphase Mitte des siebzehnten Jahrhunderts las ich mit mehr als beiläufigem Interesse von Harveys epochaler Entdeckung des Blutkreislaufs. Noch immer sammle ich von Zeit zu Zeit neue Erkenntnisse und Gelehrtenmeinungen aus diesem Bereich. Obzwar meine eigenen Möglichkeiten, hierüber Forschungen zu betreiben, begrenzter sind als Sie vielleicht vermuten, und mein Wesen den Taten eher als der Denkarbeit zuneigt, hatte ich doch bis zum Jahr 1891 selbst einige Kenntnisse auf diesem Gebiet erworben, welches ja für mein eigenes Dasein von nicht geringer Bedeutung ist. Hätte ich geahnt, welche Maßnahme Van Helsing zur Behandlung eines Vampiropfers – so wie er die Sache sah – anzuwenden im Begriff stand, dann hätte ich ihn aufgehalten. Sie können mir glauben, dass ich Lucy nicht
gleichgültig ihrem Schicksal überlassen hätte. Aber wenn ich auch dank unserer fortwährenden geistigen Verbindung wusste, dass es ihr entschieden schlecht ging und sie litt, erahnte ich nicht den Grund dafür. Ob es nun an einer glücklichen zufälligen Verträglichkeit von ihrem und Holmwoods But lag oder an einem nicht minder glückhaften Versagen des Transfusionsbesteckes, das überhaupt nur wenig fremdes Blut in ihre Adern gelangen ließ, jedenfalls überlebte Lucy diese erste Prozedur nicht nur, sondern hatte am folgenden Tag auch etwas von ihrem gesunden Aussehen zurückgewonnen. Die Operation war unter Narkose vorgenommen worden, daher konnte sie sich nach dem Erwachen nicht sehr deutlich an das Geschehene erinnern, obwohl sie natürlich diese kleine, von einem Verband verdeckte Verletzung am Arm zurückbehalten hatte, die ihr Stoff zum Grübeln gab. Als sie die Männer, in deren Obhut sie war, danach fragte, erhielt sie die treusorgende Antwort, sie solle sich wieder niederlegen und schlafen. In der Nacht des neunten September erlitt sie einen Rückfall, oder vielleicht handelte es sich auch um eine neue Krankheit, die ihr mit dem Blut ihres Verlobten übertragen worden war. Van Helsings Rezept gegen diese Verschlechterung bestand in einer weiteren Transfusion, Spender war diesmal Seward als der jüngste und kräftigste gerade verfügbare Mann. Wer sich darüber wundert, dass das Mädchen auch diesen zweiten Anschlag – wie später auch einen dritten – von der Hand dieses unbändigen Wissenschaftlers überlebte, sollte an die ähnliche, ebenso erfolgreiche oder zumindest nicht tödliche Operation denken, die Lower 1667 in London vornahm. Oder an jene, die Denis im selben Jahr in Paris durchführte, wobei er dem Bericht zufolge das Blut eines Lammes in die Venen eines Jungen übertrug, den die übliche medizinische Behandlung jener Zeit – der Aderlass – in einen anämischen Zustand
versetzt hatte. Das England des neunzehnten Jahrhunderts besaß den Geburtshelfer Blundell und andere, welche mit zunehmender Häufigkeit einen Blutaustausch zwischen Menschen versuchten und oft ermutigende Resultate bekannt gaben. Doch muss es zahlreiche unveröffentlichte Versuche gegeben haben, die weniger glücklich endeten. Und Lucys zweite Transfusion mit dem Blute Sewards – der schrieb, nach der Spende sehr geschwächt gewesen zu sein – wirkte sich schlimm auf sie aus. Während sie im Bett darniederlag – und ich ahnungslos meinen eigenen Angelegenheiten nachging – erreichte am elften September die erste von mehreren Schiffssendungen mit Knoblauch aus Holland das Haus der Westenras, die sowohl Blüten als auch ganze Pflanzen enthielt. Diese waren natürlich eigens von unserem Philosophen und Metaphysiker angefordert worden, der mittlerweile wusste – wenn er es auch niemandem verraten hatte – dass ein Vampir im Busch war. Nun, der durchdringende Geruch von Allium sativum ist für einen Freier meiner Sorte etwa so abschreckend wie für jeden anderen der gewöhnlicheren Art – ja abschreckender sogar, denn selbst ungewürztes Essen kann einen Vampir mit Ekel erfüllen – aber es stellt nicht die unüberwindliche Schranke dar, auf die Van Helsing anscheinend hoffte. Dennoch, hätte ich wirklich das Verderben der armen Lucy im Sinn gehabt, wäre diese neue Strategie immerhin geeigneter gewesen, als ihr fremde Proteine einzuschleusen. In der Nacht des zwölften September verließ Mrs. Westenra, obwohl selbst gesundheitlich angeschlagen, ihr Bett lange genug, um die vermeintlichen Heilpflanzen aus dem Schlafzimmer ihrer Tochter zu entfernen und das Fenster zu öffnen. Vielleicht wurde ihr eigenes Leben dank dieser Beseitigung des lästigen Gestanks von Diallyl-Disulfiden und -
Trisulfiden und ähnlichem verlängert, von Lucy jedoch glaubte man – dies gilt zumindest für die Ärzte – dass es ihr Schaden war. Natürlich hatte einer der fortschrittlichsten Wissenschaftler seiner Zeit es versäumt, Lucys Mutter in seine Theorie einzuweihen, der zufolge ihre Tochter mit verrammelten Fenstern und im Raum verteilten stinkenden Blüten besser daran sei. Hätte er allerdings seine Vorstellungen gegenüber Lucys Mutter offen dargelegt, ich vermute, sie hätte die Pflanzen dennoch rausgeworfen und Van Helsing gleich mit ihnen, und uns allen wäre viel Unbill erspart geblieben. Aber egal… Selbstverständlich wurde Lucys vampirischer Besucher beschuldigt – damals von Van Helsing, später von der gesamten Bande – für ihren anhaltenden gesundheitlichen Verfall verantwortlich zu sein. In Wahrheit war ich in der nämlichen Nacht, als die Knoblauchblüten verteilt wurden, und fast bis zum Morgengrauen in den Straßen von Whitechapel unterwegs gewesen; allerdings hätte ich hierfür keine Gewährsleute beibringen können. In jener Nacht sprach und scherzte ich mit einer Augenzeugin der schockierenden Verbrechen, die der Ripper drei Jahre zuvor begangen hatte. Ich schenkte ihrer überraschenden Version jener Ereignisse Glauben, doch bezweifelte ich, dass ein Geschworenengericht ihre Aussage über meinen Aufenthaltsort oder ihr Leumundszeugnis für mich akzeptiert hätte. Ihre Gesellschaft war mir willkommen, denn während des größten Teils jener Nacht war ich alleine unterwegs und nährte jene bittere Sorte von Gedanken, die einen nach Mitternacht beschleicht. Zum ersten Mal meldeten sich ernsthafte Zweifel in mir, ob mein angestrebtes Wiedereintauchen in den Hauptstrom menschlichen Lebens durchführbar war. So sehr ich den Aufenthalt in London genoss, musste ich doch
einsehen, dass meine bloße Anwesenheit dort mich nicht so schnell änderte, wie ich erhofft hatte. Am dreizehnten September erfolgte, wie Seward in seinem Journal festhielt – das er, nebenbei bemerkt, mittels einer frühen Version des Phonographen führte, die aber bei weitem nicht so effizient war wie dieses treffliche Gerät, in welches ich gerade spreche: »Abermals dieselbe Operation, abermals die Narkose, abermals die Rückkehr von etwas Farbe in die fahlen Wangen…« Diesmal war Van Helsing der Spender, während Seward, nach Anweisung seines Meisters, die Operation durchführte. Angesichts einer solchen Flut körperfremder Zellen in ihren Adern ist es nur einem Wunder zu verdanken, dass die arme Lucy überhaupt so lange lebte. Ich muss nun die Ereignisse des siebzehnten Septembers berichten, des verhängnisvollsten Tages für uns alle. Jonathan und Mina Harker waren frisch verheiratet aus Budapest zurückgekehrt, wo er nach langer Pflege aus dem Nonnenspital entlassen worden war, und hatten nun glücklich ein Haus in Exeter bezogen. Mittlerweile kannte Mina das etwas überreizte Tagebuch ihres Bräutigams über seinen Aufenthalt in meinem Schloss, doch war das Thema Vampirismus zwischen ihnen nie zur Sprache gekommen, und fraglos glaubten beide, dass derartige Schrecken nie mehr Einzug in ihr Leben halten würden. Arthur Holmwood wachte noch immer am Sterbebett seines Vaters in Ring, moralisch unterstützt von einem jungen Amerikaner namens Quincey Morris, Arthurs häufigem Kameraden auf Jagdausflügen rund um die weite Welt und der dritte von Lucys atmenden Freiern. In der Irrenanstalt fiel Renfield, der sich erneut befreit hatte, Seward mit einem Küchenmesser an. Zu seinem Glück gelang es Seward, seinen kraftstrotzenden Angreifer mit einem
einzigen gezielten Faustschlag auszuschalten, und der Wahnsinnige wurde schleunigst entwaffnet und wieder in Verwahrung genommen. Van Helsing, der auf einer seiner üblichen Pendelreisen wieder in Antwerpen weilte, sich aber noch immer in löblicher Weise um seine Patientin Lucy sorgte, telegrafierte an Seward, dieser müsse unbedingt über Nacht in Hillingham Wache halten – Wache wogegen, diese Auskunft blieb Van Helsing schuldig. Natürlich hätte Seward ohne zu zögern eingewilligt, doch ging das Telegramm aus irgendeinem schicksalhaften Grund verloren. Es wurde erst mit zweiundzwanzig Stunden Verspätung zugestellt. Ich meinerseits besuchte am siebzehnten September den Regents Park. Meine Zweifel hatten mich nicht verlassen, und ich war entschlossen, noch härter an meinem Menschsein zu arbeiten. Ich saß auf einer bequemen Bank und las die tagesaktuelle Ausgabe der Londoner Times: CRYSTAL PALACE Staunen erregende Darbietung TIGER HÜTET ZIEGE … Genug davon. MASSAGE UND ELEKTRIZITÄT (System nach Weir/Mitchell) in kombinierter Anwendung mit schwedischen und deutschen Methoden. Da jede UNTERWEISUNG von zweistündiger Dauer täglich am lebenden Objekt erteilt wird, erfordert die Ausbildung nur 14 Tage. Quetschungen und Blutergüsse ausgeschlossen; ihre Verursachung geht auf unsachgemäße Unterweisung zurück…
Mary Jane Heathcote, 28, wurde des vorsätzlichen Mordes an Florence Heathcote angeklagt… ihrer kleinen Tochter… im Alter von fünf Jahren und sechs Monaten… In Clerkenwell wurde Henry Bazley, 29, Buchbinder, angeklagt… ein Mädchen namens Elisabeth Morley, 16 Jahre und 10 Monate alt, der elterlichen Obhut ihrer Mutter entzogen zu haben. Sie wurde in Highgate ausfindig gemacht, wo sie ein Zimmer bewohnte, für das der Beschuldigte nach weislich 5 Shillinge Wochenmiete entrichtete und wo er sie besuchte… Kriminalwachtmeister Drew, der den Haftbefehl für den Gesuchten vollstreckte, berichtete, diesen zu Hause angetroffen zu haben, wo er sich in einem Hinterhof verbarg. Der Beschuldigte ist ein verheirateter Mann und Vater von vier Kindern. Als ihm die Klageschrift verlesen wurde, bezeichnete er sie als Lüge. Auf Antrag des Staatsanwalts wurde der Beschuldigte in Untersuchungshaft genommen Hegen Sie Zweifel daran, dass ich all diese Meldungen wörtlich im Gedächtnis behalten konnte? Nun, ich fand sie ganz einfach erinnernswert. Überprüfen Sie die Mikrofilmdateien der Times in Ihrer öffentlichen Bibliothek, falls Sie mir nicht glauben. (An den Herausgeber) Sehr geehrter Herr! Entgegen meinem Wunsch ist mir die Aufgabe zugefallen, die von meinem Freund Mr. Haliburton während des Orientalischen Kongresses aufgestellte Theorie zu widerlegen, dass ein Volk von Zwergen zwischen dem Atlasgebirge und der Sahara beheimatet ist. Jas. Ed. Budgett Meakin Werter Herr! Die Notwendigkeit einer raschen Verständigung zwischen der Haupteingangstür und dem oberen Stockwerk
eines Hauses im Brand- oder einem sonstigen Notfall… ist zu augenfällig, um einer weiteren Erläuterung zu bedürfen… Ich habe folgende einfache Vorrichtung ersonnen: Eine laute Klingel wird im oberen Stockwerk angebracht; das untere Ende des Klingelzugs führt zu einer Kette an einem Haken im Kellergeschoss des Hauses. Der Haken wird abends an dem Schlegel der normalen Hausklingel befestigt und morgens wieder abgenommen… Dadurch würde außerdem die anstößige und gesundheitsschädliche Gewohnheit, einen Diener im Anrichteraum schlafen zu lassen, was einen solch fruchtbaren Boden für mannigfache Unmoral sowohl innerhalb als auch außerhalb des Haushalts darstellt, überflüssig gemacht. Mit freundlichen Grüßen, etc. C. H. PICCADILLY (mit Aussicht auf den Green Park) – abgeschlossene WOHNUNG – vier Zimmer, Bad, Aufzug, etc. zu VERMIETEN, Möbel zu verkaufen. Bitte bei Hausmeister anfragen, 98, Piccadilly, W. Das war interessant. Aber ich wollte lieber kaufen statt mieten, um nichts mit neugierigen Hauswirten zu schaffen zu haben. Werter Herr! Falls einer der Abgeordneten, die so lautstark zugunsten des Acht-Stunden-Tags argumentierten, auf seinem Heimweg von einer plötzlichen und bedrohlichen Krankheit ergriffen würde; und falls er, nachdem er seinen Arzt rufen ließ, zur Antwort erhielte, dass Letzterer gerade einen achtstündigen Arbeitstag hinter sich gebracht habe und die kommenden sechzehn Stunden seiner Entspannung und Zerstreuung zu widmen gedenke, was würde er wohl von der neuen Regelung halten? Hochachtungsvoll, J. R. T.
… und zurück zur Titelseite… MOULE’S PATENT-ERD-TOILETTEN-GESELLSCHAFT (mbH) Garrick-Street, Covent-Garden, LONDON MOULE’S STELLT JETZT HER: TOILETTEN – für den Garten TOILETTEN – für Jagdhütten TOILETTEN – für Ferienhäuser TOILETTEN – für jeden Ort TOILETTEN – jetzt auch in Komplettausstattung, versehen mit ›Auszieh‹-Vorrichtung TOILETTEN – versehen mit ›Hochzieh‹-Vorrichtung TOILETTEN – versehen mit selbsttätiger Vorrichtung TOILETTEN – gefertigt aus verzinktem Wellblech TOILETTEN – zerlegbar, zwecks einfachem Transport TOILETTEN – in zwei Stunden aufstellbar TOILETTEN – funktionell und zuverlässig TOILETTEN – einfach zu versorgen TOILETTEN – mit feinem und trockenem Humus TOILETTEN – dieser Bauart erfüllen stets ihren Dienst TOILETTEN – wenn man sie sachgerecht mit trockener Erde versorgt… Die Litanei setzte sich fort, und ich überflog sie weiter, mit geradezu hypnotisch gebannten Augen. Doch meine eigentlichen Gedanken galten immer noch diesem Dienstboten, der im Anrichteraum schlief. Warum war dies so »anstößig und gesundheitsschädlich«? Legte er seine Füße auf den Schinken, oder vergiftete sein ranziger Atem Tüten voller Zucker? Und welcher Stelle des »fruchtbaren Bodens« entspross das schädliche Unkraut der »Unmoral«? Musste ich
dunkle Andeutungen auf die Todsünde der Völlerei in den Brief hineinlesen? Die Londoner Zeitungen, die in meiner Heimat scheinbar Wunder verhießen hatten, wirkten nun immer verwirrender auf mich, je länger ich in der Welt lebte, die sie beschrieben. Es braucht eben seine Zeit, tröstete ich mich, und warf meine Zeitung in einen nahe gelegenen Mülleimer – der Park war sehr sauber. Ich stand auf und schlug den Weg zum Zoo ein. Der Himmel war bedeckt, und mit einem Zylinder angetan wie ein wahrer Gentleman, empfand ich die Sonne fast gar nicht als störend. Es war eine Erleichterung, den Zoo zu betreten und eine Zeit lang mehr Tiere als Menschen um mich zu haben. Große Menschenansammlungen wirkten, auch wenn ich sie gesucht hatte und nach wie vor Gefallen an ihnen fand, immer noch ermüdend auf jemanden wie mich, der so lange fernab menschlichen Gedränges gelebt hatte. Ich war wahrlich ein Fremder in einem fremden Land, ungeachtet einer brauchbaren Kenntnis der englischen Sprache und einer äußeren Erscheinung, die der Großstadt angemessen war. Naturgemäß zog es mich zum Wolfsgehege, wo die grauen Schönheiten in unwandelbarer Würde ihr schändliches Käfigdasein erlitten. Obwohl ich zunächst keinen Versuch unternahm, mich mit ihnen zu verständigen, erkannte mich einer der Wölfe; oder genauer, er erkannte, dass ich nicht wie die gewöhnlichen Menschen war, und dass ich ihm viel näher verwandt war als jeder Zweibeiner, den er je zuvor gesehen hatte. Er wusste, dass ich wusste, wie es ist, auf vier grauen Pfoten zu hetzen, zum tödlichen Sprung anzusetzen und das warme rote Blut vom Fleische zu trinken, das meine eigenen Zähne zerrissen hatten. Er wusste es und vermochte nicht, sein Wissen still zu wahren. Während seine zwei Artgenossen im Gehege, die vielleicht gleichfalls etwas wussten, sich aber
nicht darum scherten, schläfrig dalagen und ihm verwundert zusahen, warf er sich wie tollwütig gegen die Gitterstäbe und ließ seinen Gefühlen auf die einzige Art freien Lauf, die ihm zur Verfügung stand. Ein ältlicher Wärter tauchte irgendwoher auf und beäugte mich misstrauisch. Niemand außer mir war gerade in der Nähe, sodass nur ich die wölfische Wut auf mich gezogen haben konnte. Ich weilte nicht in London, um den Mr. Geheimnisvoll zu geben, sondern um mich besser an die breite Masse der Menschheit anzupassen. »Wärter«, sagte ich, nur um irgendetwas zu sagen, »diese Wölfe scheinen sich über etwas aufzuregen.« »Könnte sein, über Sie«, gab der Mann zurück, und seine finstere, mürrische Art erinnerte mich an einen türkischen Gefangenenaufseher, der mich einst bewacht hatte. Diese Ähnlichkeit entlockte mir ein Lächeln, während es zugleich noch mehr Mitgefühl mit dem eingesperrten Wolf in mir weckte. »Oh nein, sie würden keinen Geschmack an mir finden«, erwiderte ich unbestimmt, abgelenkt von einem Mitteilungsversuch anderen Ursprungs. Freiheit, sagte der Wolf und blickte aus seinem Gehege heraus. Es war keine Frage, sondern eine unmissverständliche Erklärung. Ich kann sie dir nicht geben, antwortete ich darauf. Nimm sie dir selbst, und sie gehört dir. »Oh doch, das würd’n se«, antwortete mir der alte Mann mit einer Impertinenz, die das Vorrecht griesgrämigen, gleichgültigen Alters ist. »Die mögen immer ‘n Knochen oder zwei, wo se zur Teezeit ihre Zähn’ dran putzen könn’, und Sie da sind’n ganzer Sack voll davon.« Freiheit!, kam es aus dem eisengrau vergitterten Gehege.
Nimm sie dir. Sprenge deine Grenzen. Begehrst du sie mehr als Fressen, mehr als deine Wolfsnatur zu bewahren? Willst du deinen Körper und seine lieb gewonnenen Annehmlichkeiten opfern, um das zu erlangen, von dem du sagst, dass du es begehrst? Nur um aus deinem Käfig freizukommen? Und die frühen Jahre meiner türkischen Gefangenschaft standen mir wieder einmal klar vor Augen. Radu war damals erst ein Kind gewesen, allzu leicht in Angst zu versetzen, um unseren einfallsreichen Gefängniswärtern eine Herausforderung zu bieten. Ich hingegen war vierzehn Jahre alt, als sie ihr Spiel mit mir begannen… Das Gehirn des Tieres kämpfte mit sprachlosen Gedanken, doch beruhigte der Wolf sich für den Augenblick und legte sich hin. Der Wärter bedachte ihn mit einem unsicheren Blick, sah wieder mich an und ging dann zum Gehege, streckte den Arm durch das Gitter und streichelte die Ohren des hechelnden Tiers. Um den Alten in Erstaunen zu versetzen, tat ich es ihm gleich, und wurde von seinem Gesichtsausdruck belohnt. »Obacht!«, rief er. »Berseker hier is fix!« »Keine Angst, ich habe Erfahrung damit.« Die Augen des Wolfs waren jetzt nicht auf mich, sondern in die Ferne gerichtet, während er in Gedanken durch unbegrenzte, schrankenlose Weiten rannte. »Sind Se auch inne Wolfshaltung tätig?«, fragte der Wärter, nun in freundlicherem Tonfall. Er nahm seinen Hut ab. Vielleicht hoffte er, einen oder zwei weitere Wölfe von mir kaufen zu können. »Nein, nicht direkt.« Und ich lüftete zum Abschied meinen Hut vor ihm und Berserker. »Aber ich hielt einige als Haustiere.« Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging meines Weges. Die sprachlose Gedankenstimme des Wolfs verebbte in meinem Bewusstsein zu einem nur noch gedämpften fernen Murmeln, doch die unendlich
wortreicheren Geräusche von Lucys Gedanken wurden wieder vernehmbar und zunehmend lauter. Ich wollte nichts von beidem hören. Irgendetwas stimmte absolut nicht mit Lucy, vor dieser Erkenntnis konnte ich mich nicht schützen, doch verschloss ich meinen Geist dagegen, noch mehr darüber zu erfahren. Unter keinen Umständen hätte ich vorausahnen können, dass Berserker nach Einbruch der Dunkelheit die Vergitterung seines Geheges überwinden würde, indem er die Eisenstangen aus ihren Halterungen brach, und sich zielstrebig auf den Weg machte, um mich aufzuspüren – bis nach Hillingham. Ich konnte nicht wissen, was die kommende Nacht für mich bereithielt. Aber während ich noch zum Parkausgang schritt, war ich im Geiste beunruhigt. Ich sagte Ihnen an früherer Stelle, dass ich noch auf Furcht zu sprechen käme, und nun ist es so weit. Ich will nicht behaupten, dass ich grenzenlose Furcht erfahren habe, doch lernte ich soviel Furcht kennen, wie mein Geist und meine Seele nur ertragen konnten, und noch mehr. Als meine türkischen Gefängniswärter mich in meinem Kerker nackt auszogen und mich, starr vor Angst und von meinen eigenen Exkrementen triefend, zum Pfählungspflock hinauszerrten, hegte ich nicht den geringsten Zweifel, dass ich auf dem Spieß sterben würde. Einige in meiner Lage wären ohnmächtig geworden, andere wahnsinnig. Ich hingegen… nun, vielleicht kann nur ein eingepferchter Wolf es annähernd verstehen. Natürlich starb ich nicht. Hätten die Wärter mich umgebracht, wäre ihnen das Vergnügen am nächsten Tag entgangen. Ich wurde noch nicht einmal wahrhaftig – oder sollte ich besser sagen: ›nicht dauerhaft‹ – gepfählt. Das Ende des senkrechten Pfahls war stumpf und ließ nicht sofort Blut austreten, als es in eine natürliche Öffnung meines Körpers eingeführt wurde; und indem ich mich auf die Zehenspitzen
stellte, konnte ich verhindern, dass er tief genug eindrang, um ernsthafte Verletzungen zu bewirken. Ich vermochte mich nicht unendlich lange auf Zehenspitzen zu halten, doch als ich meinem Gewicht nachzugeben begann, waren die Männer schnell zur Stelle und nahmen mich vom Pfahl herunter. Sie wollten bestimmt nicht, dass ich jetzt und hier auf ihm starb. Noch nie zuvor hatten sie jemanden gesehen, der bei Bewusstsein geblieben war, während er solch köstliche, solch grausame, solch irrsinnige Furcht empfand. Am nächsten Tag begannen sie ein neues Spiel, indem sie mir zunächst etwas zeigten, wovon sie behaupteten, es sei ein ordnungsgemäßer Hinrichtungsbefehl für mich. Abermals glaubte ich ihnen, meine Anfälligkeit für das Entsetzen ließ mir keine Wahl. Vielleicht übertreibe ich noch nicht einmal, wenn ich sage, dass ich an jedem dieser Tage vor lauter Angst starb. Das neue Spiel handelte vom Tod auf dem Scheiterhaufen, und ich trug Brandblasen und versengte Haare davon, bevor sie der Sache ein Ende machten. An einem der folgenden Tage beinhaltete das Spiel hungrige Ratten; an einem weiteren eine türkische Frau, deren Mann, wie sie behauptete, von Walachen zu Tode gefoltert worden war; und dann wieder… doch spüre ich nicht das Verlangen, Sie mit sämtlichen Einzelheiten anzuwidern. Als schließlich die Reihe wieder an die Pfählung kam, wurde mir plötzlich klar, dass ich nichts mehr zu fürchten hatte, dass ich keine Angst mehr empfand. Ich hatte alle Furcht aufgebraucht, die meine Seele jemals hervorbringen konnte, und würde ich auch tausend Jahre alt. Der Vorrat meines Lebens an Angst, Grauen, Furcht und Schrecken war sämtlich aufgezehrt, bevor auch nur ein Barthaar meinem Kinn entspross. Von jenem Tag bis heute empfand ich vor nichts mehr Angst. Ich bin nicht mutig und war es auch nie; das ist etwas völlig anderes…
Den besten Beweis für die Wahrheit dieser Einschätzung meines Zustandes sah ich darin, dass ich zugleich jedes Verlangen verlor, Rache an meinen Peinigern zu nehmen. Ein hoher Beamter des Sultans persönlich, der zufällig durch Egrigoz kam, beobachtete mit Staunen, wie ungerührt ich einige der vergeblichen späteren Versuche meiner Feinde ertrug, mir Angst zu bereiten. Tatsächlich unterzogen sie mich zu jenem Zeitpunkt der Folter, aber ist es nicht die akute Angst vor dem Schmerz, was den schlimmsten Teil des Schmerzes ausmacht? Dieser Beamte also zollte meinem vermeintlichen Mut Beifall und nahm Interesse an mir. Im Laufe der Zeit wurde er zu meinem Freund, und zwar so sehr, dass, wäre ich auf Rache aus gewesen, ich möglicherweise Vergeltung an meinen niederrangigen Quälern hätte üben können. Und es war mein Verzicht auf Rache – nicht aus irgendeiner heroischen christlichen Tugend heraus, sondern aufgrund schierer furchtloser Gleichgültigkeit – die wiederum sie in Angst versetzte. Der Mensch fürchtet das, was er nicht versteht, und ich hatte mich dem Begriffsvermögen dieser schlichten, aber bösen Männer längst weit entzogen… Während ich also die Londoner Straßen durchmaß, dachte ich nicht voll Furcht oder Hass, sondern finster grübelnd an die Türken zurück. Wollte ich wirklich wieder Teil des großen Menschenzirkus werden? Möglicherweise auf Kosten meiner Lebenserwartung? Nicht dass ich das Ende meines Lebens fürchtete oder sonst irgendetwas auf dieser Welt oder außerhalb derselben. Selbst Gott nicht, meine Freunde, obgleich ich ihn besser kenne als Sie es tun… Etwa eine Stunde, bevor um Mitternacht der Wolf ausbrach, stand ich an der Theke einer Spelunke in Soho, wobei ich mir der Tatsache deutlich bewusst war, dass der von Sprüngen durchzogene, trübe Spiegel hinter der Bar kein Ebenbild von
mir enthielt und dass das dralle Mädchen, das an meinem Arm hing, äußerst überrascht sein würde, sollte sie dies irgendwann bemerken. Ebenso deutlich war ich mir des warmen Elixiers bewusst, das so geschwind durch ihre Vena jugularis strömte, und der unerträglichen alkoholischen Ausdünstungen gegorenen Korns, die aus dem Glas aufstiegen, welches unberührt vor mir auf dem von unzähligen Ellenbogen glatt polierten Holz wartete. Aus tiefster Seele war ich mir des Abgrunds bewusst, der mich von jenen trennte, die mich umgaben und die sämtlich unbestreitbar menschlich waren, wenn auch verdorben an Geist, Körper und Gemüt. In dieser Verfassung befand ich mich, als ich Lucy mit erneuerter Dringlichkeit nach mir rufen, über die sechs oder sieben Kilometer Londons, die uns voneinander trennten, hinweg in schrecklicher Not nach mir schreien fühlte. In ihrer Angst und ihrem Elend erflehte sie meine Hilfe, rief mich an als ihren Beschützer und ihren Gebieter, und als solcher antwortete ich ihr. Aus den Schatten einer Gasse in Soho schwang ich mich in die Lüfte und glitt in dem dunklen, baumbestandenen Park von Hillingham wieder zu Boden. Von dort aus sandte ich Lucy wie zuvor meine wortlosen Rufe. Diesmal allerdings merkte ich schnell, dass sie nicht fähig oder willens war, zu mir ins Freie zu kommen. Ebenso wenig konnte ich aus eigenem Antrieb in das Haus gelangen. Ob die Physik oder die Psychologie die Erklärung dafür liefert, weiß ich nicht, doch Tatsache ist, dass ich die Behausungen atmender Menschen nicht zu betreten vermag, so lange ich nicht mindestens einmal von einem der Bewohner dazu aufgefordert wurde. Inzwischen wusste ich, welches Fenster des oberen Stockwerks zu Lucys Zimmer gehörte, und geschwind entfaltete ich wieder meine Schwingen und landete außen auf
dem Fenstersims. Der Vorhang war zugezogen, und zunächst konnte ich nicht in den Raum hineinsehen, doch deutlich erklang Lucys Stimme. Sie war in eine schrille Auseinandersetzung mit einer anderen, älteren Frau verwickelt, bei der es sich nur um ihre Mutter handeln konnte. Das Wortgefecht endete abrupt, als Lucy erschöpft auf ihr Bett zurückfiel, wodurch sie teilweise den schmalen Einblick kreuzte, den ich mir ins Zimmer verschafft hatte, indem ich meinen Fledermauskopf so dicht wie möglich an einer Stelle gegen die Scheibe drückte, wo ein Spalt zwischen Vorhang und Fensterrahmen klaffte. Um Lucys Hals, erkannte ich, waren die Blüten und langen grünen Blätter des Knoblauchs geschlungen, und das ganze Zimmer stank nach diesem Gewächs. Nahezu zeitgleich mit dieser schockierenden Entdeckung – die natürlich bedeutete, dass jemand gegen Vampire gerichtete Maßnahmen ergriffen hatte – vernahm ich Berserkers erstes langgezogenes Heulen unter mir im Gebüsch und blickte völlig entgeistert über eine Fledermausschwinge hinweg zu ihm hinab. Es mochte lange Minuten beanspruchen, den Wolf zu beruhigen und friedlich in den Käfig zurückzuschicken, aus dem er augenscheinlich erst vor kurzem entflohen war, und Lucys seelische Qual war zu dringlich, als dass ich mir diesen Zeitverlust hätte erlauben können. Mich wie ein General fühlend, der in seinem Feldquartier von einem Überraschungsangriff nach dem anderen in Atem gehalten wird, kauerte ich dort auf dem Fenstersims und versuchte, unbeirrt meine Gedanken zu ordnen. Konnte es irgendeinen Grund für den Knoblauch außer jenem geben, der mir am vertrautesten war? Zweifellos bestanden einige englische Bräuche, von denen ich noch nicht gehört hatte; doch hegte ich nur wenig Hoffnung, dass dies dazu zählte.
Die Frauen im Zimmer hatten den Wolf noch nicht vernommen, oder vielleicht glaubten sie, sein Heulen stamme von irgendeinem Hund aus der Nachbarschaft, denn die Geräusche machten keinen Eindruck auf sie. Indem ich meinen kleinen, pelzigen Körper verdrehte, strengte ich mich noch mehr an, um an dem Vorhangsaum vorbeizuspähen, und verschaffte mir eine bessere Sicht auf Lucy in ihrem Nachtgewand. Es traf mich wie ein Schock, zu sehen, wie krank sie wirkte. Ebenso erblickte ich Lucys Mutter in ihrem Hausmantel, die ihrerseits müde und abgeschlagen aussah – man erinnere sich, dass zu diesem Zeitpunkt weder Lucy noch ich selbst die geringste Ahnung von der schwerwiegenden Herzkrankheit Mrs. Westenras hatten – während sie aus dem Zimmer wankte und die Tür hinter sich zuzog. Dies bot mir meine Chance; ich sandte einen weiteren mentalen Ruf aus und klatschte zugleich mit meinen Fledermausschwingen gegen die Scheibe. Lucy drehte ihren Kopf leicht auf dem Kissen, das war alles. Ihre Augen blieben geschlossen. Mich in der Herbstnacht sorgsam am Steinwerk festklammernd, schlüpfte ich direkt auf dem Fenstersims in meine menschliche Gestalt zurück. Wie? – Ich konnte meine Masse und mein Gewicht vervielfachen, aus dem Nichts heraus? Sagen wir lieber, ich bezog es aus jener großen Vorratskammer, worin Gott dergleichen verwahrte, bevor er den Entschluss zur Schöpfung fasste, und zu welcher manchen seiner Kreaturen noch immer ein begrenzter Zugriff gewährt ist. Wie ich es zuwege brachte? Gestatten Sie mir als Antwort die Frage, wie Sie bei jedem Atemzug, mit dem Sie Ihre Lungen füllen, Myriaden von Sauerstoffatomen ausfiltern, um Ihr Blut damit anzureichern. Nun klopfte ich mit einem langen Fingernagel gegen die Scheibe und sprach mit vernehmlicher Stimme. Lucy erhob sich in ihrem Bett, im Gesicht einen Ausdruck der
Überraschung, der sich schnell in den der Freude verwandelte. Sie stand auf so schnell sie konnte und kam zum Fenster, und sie wollte gerade die Worte aussprechen, die mich zu ihr hereingelassen hätten; doch im selben Augenblick ging die Zimmertür abermals auf und Mrs. Westenras Gestalt stand deutlich vor meinen Augen – und ich, dummerweise, vor ihren. Lucy hatte den Vorhang bereits ganz aufgezogen. Als die ahnungslose alte Frau über die Schulter ihrer Tochter in die Nacht hinaus sah, blickte sie geradewegs in mein Gesicht, das zu den beiden Frauen hereinstarrte. Ich erwartete zwar eine schockierte Reaktion, nicht jedoch, was tatsächlich geschah. Mrs. Westenra streckte eine oder zwei Sekunden lang ihren Arm aus, stumm auf mich zeigend, das Gesicht vor Angst verzerrt; und dann drang ein gurgelnder Laut aus ihrer Kehle, und sie fiel wie von einer Axt getroffen zu Boden. »Mutter!«, schrie Lucy auf und eilte los, um ihrem betagten Elternteil aufzuhelfen; doch erwiesen sich der Schock und die Anstrengung in Lucys geschwächtem Zustand als zu übermächtig, und sie brach gleichfalls zusammen, von einer Ohnmacht übermannt. Mrs. Westenras Herz und Lunge hatten ihren Dienst bereits aufgekündigt, und ich war mir keineswegs sicher, dass Lucys Organe diesem Beispiel nicht bald folgen würden, so schwach war deren Tätigkeit. Sie hatte nach mir um Beistand gerufen, und es verlangte mich ungestüm – nein, geradezu verzweifelt – ihr zu Hilfe zu eilen, aber ich konnte es nicht. Noch fehlte mir die eindeutige Einladung, das Haus zu betreten, in dem sie lag. Ich, der ich wie Rauch durch Hindernisse zu dringen vermag, die atmende Menschen niemals überwinden können, wurde von einem Gesetz zurückgehalten, das für mich so zwingend war wie die Schwerkraft.
Ein erneutes tiefes Heulen, das aus dem Gebüsch heraufklang, rief mein träges Gehirn wieder zur Arbeit. Ich ließ mich leichtfüßig auf den Boden fallen, der sich gut drei Meter unterhalb der Fensterbank befand, und rief Berserker zu mir. Einen Augenblick lang hielt ich den großen grauen Wolf fest umfangen, eine Hand um seine Schnauze geschlossen, meine Augen auf seine gerichtet, und versuchte, seinem bereitwilligen Gehirn eine Kenntnis des Dienstes aufzuzwingen, den ich ihm abverlangte. Ich wollte, dass er sich Zugang in dieses Zimmer über uns verschaffte und über Lucys Gesicht leckte, um sie aufzuwecken; falls dies nicht gelang, sollte er sie an ihrem Nachthemd oder ihren Haaren ans Fenster zerren, wo sie vielleicht in meine Reichweite kam. Warum ging ich nicht stattdessen zur Haustür und klopfte auf meine höflichste und friedvollste Weise an? Es sei daran erinnert, dass all dies mitten in der Nacht stattfand und das Haus einsam gelegen war. Lucy hatte mir gegenüber einmal beiläufig erwähnt, dass keine männlichen Bediensteten im Haus schliefen – die Vorratskammer von Hillingham war anscheinend ein Ort unfehlbaren Anstands. War es also wahrscheinlich, dass die Frauen in dem Haus mir die Tür öffnen würden, unter welchem Vorwand auch immer ich um Einlass bat? Ich glaubte es nicht. Meine Instinkte rieten zu direktem Vorgehen, und ich habe gelernt, im Ernstfall auf meine Instinkte zu vertrauen. Ich brauchte zwei, drei kraftvolle Schwünge, um den schweren Wolf aufs Fensterbrett hinaufzuwerfen. Dessen Oberfläche, obzwar breit genug, dass ein schlanker und ziemlich akrobatischer Gentleman bequem darauf sitzen konnte, bot Berserkers Pfoten nur unzureichenden Halt. Er winselte bei der Behandlung, der ich ihn unterzog, schien jedoch zu erkennen, dass er, als er mich als seinen Herren auserwählt hatte, zugleich die Verpflichtung eingegangen war,
meine Befehle auszuführen. Im nächsten Moment hatte er seinen schweren Vorderleib herumgeworfen und schlug die Fensterscheibe ein. Ich sprang im selben Augenblick empor, um das Fenstersims mit beiden Händen zu ergreifen, als der Wolf wieder herabfiel. Während unsere Bahnen sich kreuzten, sah ich die roten Schnitte in seiner Schnauze und das winzige Glitzern eines Glassplitters, der aus seinem Fell ragte. Ich beabsichtigte, die Wunden des Tiers zu pflegen, das mir so treu gedient hatte, doch zuerst musste ich Lucy sehen. Ich werde menschlich sein, menschlich, sagte ich mir immer wieder. Ich hockte mich abermals auf die Fensterbank, mein Gesicht umrahmt vom Zackenrand der durchbrochenen Fensterscheibe. »Lucy!«, rief ich ins Zimmer, leise, jedoch eindringlich, sowohl auf geistiger Ebene wie mit meiner Stimme. Auf einem Teppich voller Glasbruchstücke und Knoblauchblüten regte Lucy sich und setzte sich langsam auf, scheinbar ohne wahrzunehmen, dass sie halb in dem Leichnam ihrer Mutter verfangen war. »Was… wer…?« »Lucy, dein Wikinger ist da, um dir beizustehen. Ruf mich herein! Ruf mich zu dir herein!« Langsam, verwirrt, hob sie den Blick, bis er mein Gesicht erfasste. Nun drang von unten das Rumoren einiger der Hausmädchen an mein Ohr; zweifellos hatte das Bersten des Glases sie aufgeweckt. Vor dem Haus heulte der Wolf ein weiteres Mal, jetzt vor Schmerz. Lucy hob eine Hand in dem Versuch, sich das blonde Haar aus dem Gesicht zu streichen, doch reichte ihre Kraft nicht und die Bewegung erstarb auf halbem Wege. »Lucy, mein Name ist Vlad. Bitte mich herein, schnell!« »Oh, so komm doch, Vlad. Ich fühle mich so krank, ich fürchte, dass ich sterben muss.« Anschließend, als ich sie in
meinen Armen emporgehoben hatte, vollführte sie eine Geste in Richtung der reglosen Gestalt, die auf dem Fußboden zurück geblieben war. »Mutter?« »Deine Mutter leidet nicht«, sagte ich und legte Lucy auf ihr Bett nieder. Dann, bevor ich noch mehr tun oder sagen konnte, kündigte das Schlurfen vieler Füße auf der teppichbelegten Halle jenseits der Schlafzimmertür das Eintreffen der verängstigten Gruppe von Hausmädchen an. »Miss Lucy? Ist alles in Ordnung bei Ihnen?« »Gib acht, was du antwortest«, flüsterte ich, Lucys Arme umklammernd. Meine Augen senkten sich in ihre, meine Stimme befahl und sie schien etwas von ihrer Kraft zurückzugewinnen. »Mir geht’s gut«, rief sie schwach nach draußen, »soweit zumindest.« »Ist Ihre Mutter bei Ihnen, Miss Lucy? Dürfen wir hereinkommen?« Ich nickte. »Kommt nur!«, rief sie, und die Türklinke begann sich zu senken; ehe sie die Bewegung vollendet hatte, lag ich unter Lucys Bett, in ganzer Länge ausgestreckt und jederzeit bereit, mich im nächsten Augenblick in Nebel aufzulösen oder zur Fledermaus zu werden. Acht nackte Mädchenfüße spazierten ins Zimmer und umrundeten den Teppich dicht neben meinem Kopf, begleitet von tanzenden Nachthemdsäumen, von Ausrufen und Klagen. Mrs. Westenras Körper wurde aufs Bett gehoben, das zerbrochene Fenster bestaunt und Grauen angesichts des anhaltenden Heulens bekundet, das der Wolf draußen veranstaltete. Verletzt wie er war – und im Glauben, betrogen worden zu sein, denn er kehrte in seinen Käfig zurück, bevor ich zu ihm hinausgelangen und seine Wunden pflegen konnte –
hatte er mehr Grund zu heulen als sie, und er machte weniger Lärm dabei. Außerdem lagen die ganzen Knoblauchblüten auf dem Fußboden verstreut, die nun geradezu in meine Nüstern getrampelt wurden. Vlad, fragte ich mich selbst angesichts dieser Lage, während ich unter dem Bett ausharrte, wie wird die Welt, die große weite Welt der atmenden Menschen, der du dich anzuschließen hoffst, all dies aufnehmen? Lucy saß erschöpft in einem Stuhl, während die Mädchen den Leichnam ihrer Mutter auf das Bett bahrten. Aber trotz ihrer Schwäche und Krankheit hatte sie noch genug Geistesgegenwart, um zu erkennen, dass ein in ihrem Bodoir versteckter Mann Gefahr lief, entdeckt zu werden, ein Umstand, der schlimmer wäre als der Tod. Und sie besaß genug Verstand, deswegen etwas zu unternehmen. Ich sah, wie sie plötzlich aufstand und das Zimmer verließ, und hörte ihre zarten Füße die Treppe hinabsteigen, während die Mädchen sich weiter um das Bett scharten, auf dem die tote Frau ruhte und unter dem der lebende Vampir versteckt lag. Die Mädchen bemerkten den Weggang ihrer jungen Herrin ebensowenig wie ihre leise Rückkehr eine Minute später. Während dieser Minute hatte ich, schwach aber deutlich, das kurze Tröpfeln einer Flüssigkeit vernommen, die irgendwo unten im Haus ausgeschenkt wurde. Lucy stand nun unter sichtlicher Anstrengung aufrecht in ihrer Schlafzimmertür. »Ihr alle«, befahl sie, wobei sie ihre Stimme leicht heben musste, um das anhaltende Geplapper der Mädchen zu übertönen, »geht hinunter ins Speisezimmer und trinkt jede ein Glas Wein. Aber Obacht, nehmt nur den Sherry! Kommt anschließend zurück, sobald ich euch rufe.« Einer solchen Anordnung wurde natürlich sofort Folge geleistet. Augenblicklich war die ganze gurrende und jammernde Schar verschwunden, und Lucy hatte die Tür hinter
ihnen zugedrückt und abgeschlossen. Ich schlängelte mich im Handumdrehen aus meinem Versteck hervor und traf Lucy abermals kurz vor einer Ohnmacht an. Sie hätte sich längst auf das Bett geworfen, wäre es nicht bereits von der sterblichen Hülle ihrer Mutter beansprucht gewesen. Dennoch legte ich sie darauf nieder, nachdem ich die alte Dame zur Wand hin gebettet hatte. »Die Dienstboten werden uns nun ungestört lassen«, teilte Lucy mir mit einer Stimme mit, die schnell immer undeutlicher und ferner klang. »Ich habe nämlich ein Schlafmittel in den Wein gegeben… oh, Vlad, bist du mein Tod? Manchmal ist dein Gesicht so… Falls du wirklich der Tod bist, dann flehe ich dich an. Wer auch immer du bist… meine Mutter ist tot, aber ich bin zu jung. Ich soll im September heiraten.« »Lieg jetzt ruhig. Ich glaube, du bist sehr krank.« Als ich Lucy auf die Schnelle untersuchte, bemerkte ich die verbundenen Einstiche in jeder Armbeuge. »Wer ist dein Arzt, und wogegen hat er dich behandelt?« »Es sind zwei: Dr. Van Helsing aus Amsterdam und Dr. Seward.« Der erste Name ließ mich scharf aufblicken; ich hatte ihn schon einmal gehört, von einem Vampir, den ich kannte. »Und wer ist Dr. Seward?« »Er ist um die dreißig und sehr nett. Er hat mir sogar…« Sie hielt inne. »Er ist ärztlicher Leiter eines Heims für Geisteskranke in Purfleet.« Meine Gedanken rasten im Versuch, dies alles zu verstehen. Doch lässt sich der Zufall – oder seine Imitation durch das Schicksal – nicht verstehen. »Und ihre Behandlungsmethode? Was bedeuten diese kleinen Wunden? Sie haben dich doch wohl nicht zur Ader gelassen, in unserer heutigen Zeit?« »Ah, Vlad, ich weiß es nicht. Die Ärzte sind freundlich; und sie meinen es gut, dessen bin ich mir sicher. Aber sie sagen mir
nichts und ich bin zu krank, um mit ihnen zu streiten und auf Erklärungen zu bestehen.« Nach einer Atempause, während derer ich den Verband an ihrem Arm wieder schloss, fuhr sie fort: »Sie bringen mir Knoblauchblüten und Knoblauchzwiebeln. Und ich bin schon dreimal betäubt worden, und der Doktor hat eine… eine Operation durchgeführt, deren Bedeutung ich nicht ganz begreife.« »Dreimal. Verdammt. Welcher der Ärzte nimmt die Operationen vor?« »Dr. Van Helsing, glaube ich. Ich fühle mich so sicher, wenn er bei mir ist. Und doch…« Sie war zu schwach geworden, um weiterzusprechen. Ich beugte mich vor und legte mein Ohr an ihre Brust, und die mühsam pumpenden Geräusche ihrer Lebensmaschine gefielen mir nicht. Nach modernen Begriffen bin ich sicher kein tauglicher Arzt, aber dasselbe gilt ebenso für viele, die im neunzehnten Jahrhundert in diesem Beruf ihr Brot verdienten. Ihre Augen sahen in meine, vertrauensvoll, flehend. »Lucy. Denke klar, leuchtendes Mädchen! Denke jetzt vollkommen klar! Es mag sein, dass wir in dieser Nacht eine Entscheidung von äußerster Tragweite treffen müssen.« Und ich liebkoste die goldene Pracht ihres Haars. In vierhundert Jahren des Kriegs und des Friedens hatte ich den Tod zu vielen Menschen kommen sehen, und ich hielt es für unwahrscheinlich, dass sie die Nacht überleben würde. Es sei denn… »Vlad, hilf mir, rette mich! Arthur ist nicht hier, und ich habe Angst, dass die anderen mich töten werden mit dem, was sie tun!« Ein Angstanfall hatte ihr vorübergehend neue Kraft verliehen. »Lass mich nicht sterben!« Und Lucy wurde von plötzlicher Übelkeit ergriffen und würgte kraftlos über dem Rand ihres Bettes. Ein saurer Geruch stieg auf, aber ihr Magen hatte nur wenig hergegeben. »Halte mich, Vlad!«
Dennoch zog ich sie nicht in meine Arme, sondern straffte mich und stand aufrecht neben dem Bett. Unten im Haus hatten alle Bewegungsgeräusche der Mädchen aufgehört, abgesehen vom schweren Atmen ihrer vier Lungen; was auch immer bevorstand, Lucy und ich waren ungestört im Haus. Es blieb zumindest ein wenig Zeit, um zu denken und zu planen. Vielleicht wirklich nur ein wenig; es war gut möglich, dachte ich, dass Lucy den Geist aufgab, bevor eine lange Unterredung geführt werden konnte. »Lucy. Der Tod kommt über kurz oder lang zu jedem von uns. Und er ist nicht das größte Übel in dieser Welt, wenngleich ich sehr wohl weiß, wie Furcht einflößend er bisweilen sein kann.« »Nein, nein!« Das Grauen verlieh ihr eine schreckliche, flüchtige Energie, und ihre Fingernägel versuchten sich in meinen Arm zu graben. »Rette mich, Vlad! Tu etwas. Ich erkenne in deinen Augen, dass es etwas gibt, was du tun kannst.« »Lucy, es gibt einen Weg, auf dem ich deinen Tod – nicht aufzuheben vermag, denn ich bin nicht Gott – aber ihn fernhalten kann, für einen unbegrenzten Zeitraum. Doch diesem Pfad zu folgen bedeutet, eine große Veränderung in dein Leben zu bringen. Größer, als du es dir jetzt womöglich vorstellen kannst.« »Wenn du mich nur rettest, Vlad, ich flehe dich an. Ich will nicht sterben!« Es ist mir unmöglich, die Gefühle zu beschreiben, die aus ihrer versagenden Stimme sprachen, als sie diese Worte hervorstieß. Ich hob ihren scheinbar gewichtslosen Körper vom Bett empor; während ich sie sanft in meinen Armen drehte, sodass die Blässe ihrer Kehle, wo ich bereits meine Male hinterlassen hatte, straff entblößt war, verlagerte ich auch meinen eigenen Körper ein wenig. Ein Spiegel hing an der gegenüberliegenden
Zimmerwand, und innerhalb seines vergoldeten Rahmens schien ihr Körper haltlos in der Luft zu schweben, ihr Nachtgewand an den Knien und ihrem Rücken von unsichtbaren Händen eingedrückt. Dann neigte ich meinen Kopf… Nachdem ich etwas von ihrem Blut genommen hatte, war es an der Zeit, sie tief von dem meinen trinken zu lassen. Ich öffnete meine Gewandung über meinem eigenen Herzen, spaltete das Fleisch an dieser Stelle mit einem meiner krallenartigen Fingernägel – kein anderes Instrument ist so geeignet für diese Aufgabe – und drückte Lucys Mund schnell an meine Brust, als wäre sie ein nuckelnder Säugling und ich eine nährende Amme. Sobald wir eine beachtliche Menge Blutes untereinander getauscht hatten, wischte ich ihre hübschen Lippen ab und legte sie ins Bett zurück, denn ich hatte getan, was in meiner Macht stand. Sie befand sich noch immer nahezu im Koma, doch wusste ich jetzt, dass sie nicht sterben würde, bevor die Nacht vorbei war, zumindest nicht an unverträglichem Blut, dass man ihr in die Adern geflößt hatte. Ich glaubte, dass sie jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht mehr zu sterben brauchte, zumindest nicht in absehbarer Zukunft. Zwar war es immer noch ziemlich wahrscheinlich, dass man sie bald zu Grabe tragen würde, doch wie wir wissen, ist das nicht unbedingt dasselbe. »Lucy«, sagte ich sanft und hielt der reglosen Gestalt auf dem Bett meine Hand hin. Sie griff danach und erhob sich, obwohl ihre Augen geschlossen blieben, bis sie anmutig auf die Füße gekommen war. Dann öffnete sie die Augen. Ah, so verändert… Van Helsings Blick würde das ganz sicher nicht entgehen, und was würde er daraufhin tun? Doch war ich in meinen eigenen Geschäften nach London gekommen und nicht, um mit dem Professor um diese Frau zu
kämpfen. Mir lag sehr wenig an dem Mädchen, außer bei ihrem Hilferuf nach mir, dem ich nun nach meinem besten Vermögen Folge geleistet hatte. »Lucy, du wirst heute nacht nicht sterben. Vielleicht wirst du dich krank fühlen. Doch falls sie morgen zu dir kommen, um dich zu betäuben und dir wieder Blut zu übertragen, so rate ich dir, das abzulehnen.« »Aber sie fragen mich nie.« Auch ihre Stimme hatte bereits eine Wandlung vollzogen; sie klang nun schon ein wenig lebhafter und weiter entfernt. »Bestehe darauf, dass dieser Arthur, von dem du gesprochen hast, hinzugezogen wird, damit er dir gegen die anderen beisteht. Verstehst du? Sie leiten das Blut fremder Menschen in deinen Kreislauf. Ich vermute, sie meinen es gut, doch haben ihre Maßnahmen dich an den Rand den Todes gebracht.« »Aber, Vlad… ich fühle mich bereits kräftiger. Ich glaube, du hast mich gerettet.« »Das habe ich auch, mein Liebes, vorerst zumindest. Dich dem Tod entrissen, den Jüngsten Tag für dich aufgeschoben. Nicht viele Männer können sich ernsthaft solcher Macht rühmen. Dies war, worum du mich gebeten hattest.« Ich seufzte. Die Warnung, die ich ihr mitzugeben versucht war, würde ihr, meiner Meinung nach, wenig helfen. Frisch geschaffene Vampire müssen ihren Weg erst einmal instinktgemäß finden, nicht anders als neugeborene Kinder. Ich fuhr fort: »Schon bald wirst du vielleicht – in ein weiteres Koma fallen. Falls du zulässt, dass sie dir eine weitere Blutübertragung zumuten, würde ich dies als sehr wahrscheinlich erachten. Und solltest du in dieses Koma fallen, wirst du daraus unter Umständen erwachen, die zunächst nur schwer begreifbar scheinen; sei jedoch guten Mutes, dann kommt das Begreifen von alleine.« Das
erstmalige Auferstehen aus dem Grab ist in der Tat eine einzigartige Erfahrung. »Ich will guten Mutes sein, Vlad. Oh, Vlad, sag mir noch einmal, dass ich nicht sterben werde!« »Du wirst nicht sterben.« Dies war eine Lüge, so wie man sie manchmal Verwundeten nach einer Schlacht erzählt. Eine Lüge deshalb, weil ich nicht wusste, was Van Helsing jetzt, da sie der Verwandlung unterworfen war, mit ihr anstellen mochte; und irgendwann muss jeder den endgültigen Tod sterben. Zuvor, als sie die große Entscheidung noch zu treffen hatte, war ich ihr gegenüber so ehrlich gewesen wie in der kurzen verfügbaren Zeit nur möglich. Nun blieben lediglich geringfügige, aber schmerzhafte Entscheidungen übrig, und ich hielt es für besser, einfach nur noch Trost zu spenden. »Nun also, Liebes. Die Frauen, die du so vorausschauend betäubt hast, müssen irgendwann erwachen, und auch andere Menschen werden vermutlich in dieses Haus kommen, sobald der Tag anbricht. Es gibt hier noch einiges, das einer Erklärung bedarf.« Ich seufzte; an ihrem Hals zeichneten sich frische Bissspuren ab, was sich nicht ändern ließ. Während ich sprach, streichelte ich Lucys nackten Arm und ihre Stirn, um ihr Kraft für die Aufgaben einzuflößen, die ihrer harrten. Da war das zerborstene Fenster, das nach einer Erklärung verlangte, und ebenso der Wolf draußen, dessen Heulen von den Mädchen gehört worden und dessen Rolle in den Vorgängen dieser Nacht, so weit ich wusste, vielleicht noch nicht ausgespielt war. Auf dem Bett lag ihre Mutter, von einem Herzanfall dahingerafft, was Lucy ebenso unerwartet getroffen hatte wie mich; und nicht zu vergessen die Dienstmädchen, die sicherlich allen Interessierten auch dann von ihrem Betäubungsschlaf erzählen würden, falls sie daraus erwachten, bevor irgendjemand sonst das Haus betreten hatte.
Vor allem aber war da der Zustand des Mädchens selbst. Van Helsing konnte kaum verfehlen, die Symptome beginnenden Vampirismus’ in ihr zu entdecken. Würde er Mitgefühl für sie aufbringen? Ich hielt das für möglich, sofern man sie als gänzlich unschuldiges Opfer des bösen Grafen ausgeben konnte. Unterdessen hatte ich Lucy weiter gestreichelt, und sie war jetzt ins Anfangsstadium einer hypnotischen Trance gesunken. »Besorge uns ein wenig Papier und Tinte, kleines Mädchen«, forderte ich. »Ehe ich dich verlasse, werden wir beide gemeinsam eine Kurzgeschichte zusammenfabulieren. Eine so tollkühne vielleicht wie jene aus der Feder Mr. Poes.«
Es war gegen zehn Uhr am folgenden Morgen, als die Doktoren Seward und Van Helsing, nahezu gleichzeitig und in verzweifelter Eile, in Hillingham eintrafen. Durch das fehlgeleitete Telegramm, das ich bereits erwähnte, waren sie in der Nacht zuvor verleitet worden, Lucy unbehütet zu verlassen. Beide waren ganz aus dem Häuschen deswegen. In Van Helsings Vorstellung rührte die Gefahr, gegen die sie beschützt werden musste, natürlich von Vampiren her; Seward hatte noch nicht einmal diese entstellte Ahnung von der Wahrheit, doch liebte er das Mädchen, oder glaubte dies zumindest, und wusste, dass sie in Gefahr schwebte; und dank seiner Unerfahrenheit folgte er seinem früheren Lehrer blind. Sie fanden das Haus von innen her verschlossen und verriegelt, und ihr immer dringlicheres Anklopfen blieb unerwidert. Schließlich verschafften sie sich durch ein Küchenfenster Zugang, woraufhin sie im Speisezimmer die vier Dienstmädchen bewusstlos auf dem Fußboden entdeckten. In Lucys Zimmer, ein Stockwerk höher, trafen sie die beiden
Frauen noch immer auf dem Bett liegend an, die jüngere zwar noch atmend, aber wieder ohne Bewusstsein. Lucy hatte noch nicht einmal eine Chance, sich gegen eine vierte Blutübertragung zu wehren, und genau diese verpasste Van Helsing ihr natürlich. Diesmal stammte das Blut aus den Adern des jungen Amerikaners, Quincey Morris, der nichts ahnend als Überbringer einer Anfrage von Arthur Holmwood am Schauplatz eintraf und, sozusagen, augenblicklich an die Front beordert wurde. »Das Blut eines tapferen Mannes ist das beste Mittel auf Erden, wenn ein Weib ist in Not«, wird Van Helsing von Seward zitiert, als sie abermals ihre Messer auspackten. Vermutlich muss es allgemein so erscheinen, als habe er Lucy etwas sehr ähnliches verordnet wie ich, wobei jedoch unglücklicherweise seine Operationsmethode anders als die meine ausfiel. Das gleiche gilt, traurig aber wahr, für das Ergebnis. Im Vorbeihasten war den eiligen Ärzten aufgefallen, dass die Sherrykaraffe auf der Anrichte im Speisezimmer einen eigentümlichen Geruch verströmte und tatsächlich mit dem Laudanum versetzt worden war, das nahebei in einer Flasche als Medizin für Mrs. Westenra bereit gestanden hatte. Und als sie Lucy von ihrem Bett aufhoben, um sie in ein belebendes heißes Bad zu legen, »fielen« ihnen »einige Briefbögen entgegen, die an ihrer Brust verborgen gewesen waren«. Van Helsings flüchtige Durchsicht der Papiere bewirkte »einen Ausdruck grimmiger Genugtuung auf seinem Gesicht wie bei jemandem, der einen Verdacht bestätigt sieht«. Diese Papiere enthielten natürlich nichts anderes als unser literarisches Debüt vom Vorabend. Es war der erste belletristische Versuch von Seiten eines in die Enge getriebenen Vampirs, der in einer fremden Sprache schrieb, und eines geistig halb entrückten Mädchens, das überdies
gerade erst einen Schock durch den plötzlichen Verlust seines einzigen verbliebenen Elternteils erlitten hatte. Sewards erster Kommentar nach der Lektüre unserer Räuberpistole lautete: »Was um Gottes willen hat das alles zu bedeuten? War sie oder ist sie irrsinnig; oder welche Art von grässlicher Gefahr lauert über uns?« Man sollte meinen, dass Professor Van Helsing in Erwiderung auf einen solch freimütigen und aus tiefstem Herzen dringenden Appell ausgerufen hätte: »Es ist ein Vampir, junger Mann! Eine abscheuliche Ausgeburt der Hölle, die dein Blut trinkt!« Doch vermutlich wäre das nicht philosophisch oder metaphysisch genug gewesen. Wie die Dinge lagen, »streckte Van Helsing seine Hand aus und nahm die Papiere an sich, wobei er sagte: ›Machen Sie sich darum jetzt keine Gedanken. Bannen Sie es vorerst ganz aus ihrem Kopf. Wenn die Zeit ist reif, werden Sie es erfahren und verstehen; doch noch ist es nicht so weit…‹« Als Lucy aus ihrem Koma erwachte, versuchte sie zunächst, die Geschichte, die wir ausgedacht hatten, zu zerreißen, ließ es dann jedoch bleiben, offenbar in der Erkenntnis, dass sie immer noch besser als gar nichts war, um als Erklärung der unheimlichen Ereignisse der vergangenen Nacht herzuhalten. Die Geschichte gab sich als »wahrheitsgetreue Niederschrift« jener Ereignisse aus, in ihrer eigenen Handschrift zu Papier gebracht fast noch während sie geschahen. Sie berichtete, wie Lucy von einem »Flattern am Fenster« aus friedlichem Schlummer geweckt worden war und kurz darauf ein »Heulen wie von einem Hund« vernommen hatte, »nur wilder und tiefer«. Sie war »ans Fenster getreten« und hatte »nach draußen geblickt, ohne jedoch etwas erkennen zu können, ausgenommen eine große Fledermaus, die offenkundig mit ihren Schwingen gegen die Scheibe geschlagen hatte«.
Ohne sich von diesem grundgewöhnlichen Vorfall in einem Vorort Londons aus der Ruhe bringen zu lassen, war Lucy in unserer Geschichte in ihr Bett zurückgekehrt. Gleich darauf hatte ihre Mutter ins Zimmer geschaut, hatte »noch zärtlicher und sanfter gesprochen als sonst« und sich anschließend gesellig zu ihrer Tochter ins Bett gekuschelt. Aber das »Flattern und Schlagen« erklang erneut am Fenster, unmittelbar gefolgt von »dem tiefen, langgezogenen Heulen aus dem Unterholz des Gartens, und kurz darauf zerbarst das Fenster, und Glassplitter hagelten über den Fußboden… in der Öffnung der zerbrochenen Scheibe erschien der Kopf eines großen, hageren grauen Wolfs. Mutter schrie angsterfüllt auf… umkrampfte den Blütenkranz, den ich nach Dr. Van Helsings Anweisung um den Hals tragen musste, und riss ihn mir weg.« Ich hielt es für wünschenswert, wenn meine Feinde weiterhin an die Wirksamkeit von Knoblauch glaubten. »Ein seltsames und grässliches Gurgeln drang aus ihrer Kehle; dann sackte sie zusammen… unzählige kleine Pünktchen schienen durch die zersplitterte Fensterscheibe hereinzuwehen und zu kreisen und zu wirbeln wie die Staubsäulen des Sandsturms, welche Wüstenreisende beschreiben. Ich versuchte mich zu rühren, doch lag eine Art Zauberbann auf mir…« Die scheue Annäherung des Vampirs mit einem Sandsturm zu vergleichen war, wie ich gestehe, meine Idee. Aus irgendeinem Grunde glaubte ich in jenem Moment, daraus ergebe sich ein lebendiges Bild. Unsere Geschichte erzählte im weiteren Verlauf, wie Lucy das Bewusstsein wiedererlangte; wie sie die Dienstmädchen hereinrief und sie, nachdem diese den Leichnam ihrer Mutter pietätvoll zurechtgelegt hatten, fortschickte, damit sie sich mit einem Schluck Sherry beruhigten. Als die Mädchen nicht in angemessener Zeit zurückkehrten, folgte sie ihnen ins Speisezimmer und entdeckte dort auf dem Fußboden »die
schlafenden Hausmägde, die jemand betäubt hatte… Die Atmosphäre scheint voller kreisender Pünktchen, die im Luftzug durchs Fenster hereinwirbeln, und die Lampen brennen blau und trübe… Ich werde diesen Briefbogen an meinem Busen bergen, wo man ihn finden wird, wenn man mich auf die Bahre legt…« So endet die Darstellung, von ein paar stilisierten Seufzerrufen abgesehen. Ich brauche wohl keine Entschuldigung für ihre Ungereimtheiten zu suchen, da sie ihren Zweck erfüllte, will heißen, sie wurde von Van Helsing und den Übrigen als wahrer Bericht über die Vorfälle jener Nacht hingenommen und wusch Lucy von jedem möglichen Vorwurf der Komplizenschaft rein. Und dennoch, beim Barte Allahs und den Gebeinen des Propheten! Wie irgendein Mensch, und sei er noch so töricht, im Angesicht derartiger Umstände ein solches Lügengebräu unbeanstandet durchgehen lassen konnte, gibt mir noch heute Anlass zum Staunen. Inspektor Lestrade hätte keine fünf Minuten darauf vergeudet – ganz zu schweigen von Sherlock Holmes. Nehmen Sie nur die Tatsache des mit Schlafmittel versetzten Weins. Wenn die Dienstmädchen ihn nicht getrunken hätten, wäre Lucy den äußersten Schrecken jener Nacht mutmaßlich entronnen, wie das Dracula-Westenra-Manuskript nahelegt. Also hat wohl eine schurkische Person das Laudanum in die Karaffe gegeben. Und dabei kann es sich nur um den bösen Grafen Dracula höchstselbst gehandelt haben – aber Moment mal, er konnte das Haus ohne Einladung ja gar nicht betreten, und wäre eine solche Einladung erfolgt, hätte keine Notwendigkeit bestanden, einen Wolf als ›Rammbock‹ einzusetzen. Und dass der Wolf auf diese Weise eingesetzt worden war, unterliegt keinem Zweifel, denn das arme Tier wurde dabei
gesehen, wie es am nächsten Tag müde in den Zoo zurückkehrte, wobei noch Bruchstücke von Fensterglas in seinem blutigen Fell steckten. Also muss eine andere Person den Wein im Dienste Draculas vergiftet haben. Doch gesetzt den Fall, dass sich eine solche Agentin Draculas im Haus befand, hätte ihr wichtigster Nutzen darin bestanden, ihrem Meister unmittelbaren Einlass zu gewähren, statt den Wein in der bloßen Hoffnung zu vergiften, dass zufällig genügend Menschen ihn trinken würden, um freie Bahn zu schaffen und dem Grafen ungehinderten Zugriff auf sein Opfer zu ermöglichen. Oder wäre es vernünftig anzunehmen, dass die vier Hausdienerinnen, als sie von Lucy fortgeschickt worden waren, um sich mit einem Schluck Wein zu beruhigen, den Entschluss fassten, sich stattdessen in völlige Besinnungslosigkeit zu flüchten, um den Schrecken der Nacht zu entgehen? Angesichts eines frei herumstreunenden Wolfs mit der Fähigkeit, jederzeit gewaltsam ins Haus einzudringen, hätte diese Erklärung Inspektor Lestrade, ja selbst Dr. Watson schwerlich eingeleuchtet. Jeder dieser verhältnismäßig scharfsinnigen Gentlemen hätte geradeheraus behauptet, genau zu wissen, wer Graf Dracula einließ… Doch zurück zur Sache. Beiläufig, so glauben Sie, habe ich mir die Wahrheit entschlüpfen lassen, und sie erweist sich als genau das, was meine Feinde behaupten. Ich habe nunmehr zugegeben, dass ich dieses Mädchen vorsätzlich in einen Vampir verwandelte. Ja, stimmt das denn nicht?, fragen Sie. Darauf antworte ich ganz unbefangen mit einer Redewendung, die der Menschheit seit jeher dazu gedient hat, alles Mögliche zu entschuldigen, von Völkermord bis zu abseitigen Sexualvorlieben: Ja, und was soll falsch daran sein?
Wollen Sie mir weismachen, dass die bloße Existenz eines Vampirs die Erde mit einem Schandfleck des beispiellos Bösen brandmarkt? Sie liefen Gefahr, beleidigend zu sein, wenn Sie dies zu Graf Dracula sagten. Doch lassen wir persönliche Befindlichkeiten für den Augenblick aus dem Spiel. Tatsache ist, dass Sie einem Zirkelschluss erliegen. Es ist böse, ein Vampir zu sein, denn ein solcher erschafft zuweilen weitere Vampire, die per definitionem böse sind. Schlichte Fortpflanzung galt unter Menschen nicht als Verbrechen, zumindest nicht bis vor sehr kurzer Zeit. Warum sollte ich nicht die Rechte aller anderen Menschen genießen dürfen? Es ist das Herbeizwingen des Todes oder einer Umwandlung des Lebens, das verbrecherisch ist, egal ob es nun durch die Reißzähne eines Vampirs erfolgt oder durch einen Holzpflock oder durch feinsinnigere Methoden, die gegen ein verwundbares Herz oder Gemüt gerichtet sind. Und ich sage es noch einmal: Mein Blut, und nichts sonst, das im Jahre 1891 zu Gebote stand, konnte Lucy in jener Nacht das Leben retten. Was nicht heißt, dass diese Lebensrettung von langer Dauer war. Am achtzehnten und neunzehnten September siechte Lucy dahin, abermals vergiftet von Van Helsings vierter Bluttransfusion; entfernt spürte ich ihren Schmerz, doch unternahm ich nichts, denn ich glaubte alles für sie getan zu haben, was in meiner Macht stand. Am zwanzigsten September starb sie, dies zumindest glaubten der gramverzehrte Arthur Holmwood und Dr. Seward, die ihr zu jener Zeit zusammen mit Van Helsing beistanden. Obwohl mehrere Kilometer entfernt, konnte ich dank unserer bestehenden geistigen Verbindung den Augenblick spüren, in dem ihr Atem versiegte, der einstmals so heiß und süß über meine Wange gestrichen war…
Am selben Tag kamen einige Tagelöhner nach Carfax, um einige meiner Kisten fortzuschaffen, so wie es mein Plan ihrer schrittweisen Streuung vorsah. Der Irre Renfield brach erneut durch das schwer gesicherte Fenster seiner Zelle aus, um über die Arbeiter herzufallen, weil sie ihn, wie er glaubte, seines »Herrn und Meisters« beraubten. Der Herr und Meister selbst stand zwischen einigen Bäumen hinter der hohen Mauer seines Anwesens – ich ruhte nicht in einer der Kisten, weil ich nicht genau wissen konnte, welche davon die Arbeiter mitnehmen oder genauer inspizieren würden – und hörte den Krawall, was ihn zu dem Entschluss brachte, die Streuung der Kisten zu beschleunigen und Carfax anschließend zu verkaufen, oder es einfach zu verlassen, sollte es nötig werden. Die Umgebung schien nun doch ein wenig zu lebhaft für meinen Geschmack, Tür an Tür mit dem unzähmbaren Renfield, dessen Betreuer obendrein mit Van Helsing zusammensteckte, der wiederum, wie ich wusste, Vampire gejagt hatte. Der zweiundzwanzigste September war wahrlich ein Trauertag für meinen kleinen englischen Bekanntenkreis. An jenem Tage wurden Lucy und ihre Mutter beide auf einem kleinen Friedhof nahe Hampstead Heath beerdigt. Auch wurde Jonathan Harkers ehemaliger Brotherr und zuletzt sein Geschäftspartner, Mr. Peter Hawkins, an diesem gleichen Tag zu Grabe getragen, erlegen einer – so weit ich weiß – natürlichen Todesursache, kaum dass die Harkers als Mann und Frau aus der Fremde zurückgekehrt waren. Auch Mr. Hawkins letzter Ruheplatz lag nahe bei London, und wie es der Zufall wollte, spazierten etwa eine Stunde, nachdem sie den Begräbnisfeierlichkeiten beigewohnt hatten, Mina und Jonathan Harker einander untergehakt den Piccadilly entlang. Mina beobachtete, wie sie in ihrem Bericht über die Ereignisse dieses Tages schrieb, »gerade ein ungewöhnlich schönes Mädchen mit einem überbordenden Hut, das vor
Guiliano’s in einer zweirädrigen Kutsche saß, als ich fühlte, wie Jonathan meinen Arm derart fest umklammerte, dass es mir wehtat, und gepresst hervorstieß: ›Mein Gott!‹ Ich bin stets besorgt um Jonathan, denn ich fürchte, dass irgendein Nervenanfall ihn aus der Bahn wirft… Er war ganz blass, und seine Augen schienen aus den Höhlen zu treten, als er, ebenso von Grauen gepackt wie verwundert, einen hoch gewachsenen, hageren Mann mit einer hakenförmigen Nase, mit schwarzem Schnauzer und dunklem Spitzbart anstarrte« – die jugendliche Farbe in meinen Haaren war natürlich das Ergebnis einer geregelten Ernährungsweise – »der das schöne Mädchen ebenfalls im Blick hatte. Er stierte sie so unverwandt an, dass er uns beide gar nicht bemerkte« – ah, liebste Mina, Wilhelmina, wie hätte ich wissen sollen, dass du in der Nähe warst? – »und daher konnte ich ihn ungeniert betrachten. Sein Gesicht war kein gutes Gesicht« – aber ein charaktervolles, stimmt’s, mein Schatz? – »Es war hart, grausam und sinnlich, und seine großen weißen Zähne, die desto weißer wirkten, da seine Lippen so rot waren, liefen spitz zu wie bei einem Tier.« Man sollte besser… Doch egal! »Jonathan starrte ihn so unentwegt an, dass ich Angst bekam, der Mann könnte es bemerken und böse aufnehmen, denn er wirkte ungehemmt und gemein. Ich fragte Jonathan, woher seine Erregung rührte, und er antwortete, wobei er anscheinend glaubte, ich wüsste ebensoviel von der Sache wie er selbst: ›Erkennst du ihn wieder?‹ ›Nein, Liebling, ich kenne ihn nicht. Wer ist es?‹ ›Er ist es selbst!‹« Als die schöne Dame wegfuhr, bemerkte Mina, dass »der düstere Mann ihr beharrlich nachstarrte… Er folgte in dieselbe Richtung und rief eine Mietdroschke. Jonathan blickte ihm hinterher und sagte wie zu sich selbst: ›Ich bin überzeugt, es ist
der Graf, aber er ist jung geworden. Gnade uns Gott, falls das stimmt!‹« Der arme Harker schwankte etwa eine Stunde lang am Rande eines Rückfalls in das Gehirnfieber, welches ihn wochenlang niedergeworfen hatte, nachdem er von meinem Anwesen geflohen war; doch hatte er sich wieder im Griff, als das Paar mit dem Zug zu Hause in Exeter eintraf. Dort erwartete sie ein Telegramm von Van Helsing, aus dem sie zum ersten Mal von Lucys rapidem gesundheitlichem Verfall und befürchtetem Tod erfuhren. Der Professor, der vom gramgebeugten Arthur ermächtigt worden war, Lucys gesamten Nachlass durchzusehen, hatte Minas letzte ungeöffnete Briefe an sie gefunden und auf diese Weise Kenntnis von Minas Namen und Anschrift erlangt. Schon bald lud sich der Professor selbst ein, die Harkers in Exeter zu besuchen und über Vampire zu sprechen; oder vielmehr um sie herum zu reden. Es sollte noch eine Weile dauern, bis er das grausliche Wort laut aussprach.
4. TONBAND
Einen Tag, nachdem er ihnen sein erstes Telegramm geschickt hatte, hatte Van Helsing mit Mina wie auch mit Jonathan eine Unterredung geführt, und er hatte eine Schreibmaschinenabschrift gelesen, die Mina vom transsylvanischen Tagebuch ihres Mannes erstellt hatte; ihr selbst war erst erlaubt worden, einen Blick hineinzuwerfen, nachdem Harker mich mit seinen eigenen Augen durch die Straßen Londons hatte spazieren sehen. Nun besaß Van Helsing nicht nur einen klaren Beweis, dass mindestens ein Vampir in der englischen Hauptstadt sein Unwesen trieb, sondern er wusste auch, wer ich war und sogar, dass mein Hauptwohnsitz wahrscheinlich in Carfax lag. Wären unsere Rollen vertauscht gewesen, hätte ich mich noch am selben Abend dort in der modrigen Kapelle eingefunden, wo ich die Kistendeckel aufgebrochen hätte, an meiner Seite so viele beherzte Freunde, wie ich hätte aufbieten können, bewaffnet mit hölzernen Pflöcken und Spießen. Doch wie die Sache stand, bevorzugte mein Feind, der Jäger, eine weniger offene Vorgehensweise. Zu jenem Zeitpunkt wusste ich von der Existenz Van Helsings, kannte seinen Namen und seinen Ruf, wusste ebenso, dass er einer von Lucys Ärzten gewesen war und mittlerweile eine Gefahr für mich darstellte; doch das war alles. Mir war noch nicht einmal klar, dass die Harkers in England weilten, noch weniger, dass sie mich auf dem Piccadilly gesehen hatten. Ich ging weiterhin friedlich meinen eigenen Angelegenheiten nach, bis am fünfundzwanzigsten
September einige Schlagzeilen in der Westminster Gazette meine Aufmerksamkeit erregten: EXTRABLATT DER SCHRECKEN VON HAMPSTEAD WIEDER EIN KIND VERLETZT DIE ›BLUTLADY‹ Ich vertiefte mich sofort in den Artikel und erfuhr, dass das erwähnte Kind nur das bisher letzte von mehreren innerhalb der jüngst vergangenen Tage gewesen war, die darüber geklagt hatten, von einer geheimnisvollen Frau entführt und misshandelt worden zu sein, die bei Dämmerung in Hampstead Heath umging. Dank einer gleichermaßen geheimnisvollen Übertragung der Kindersprache in den Sprachgebrauch von Journalisten hatte die unbekannte Frau den Titel ›Blutlady‹ erhalten. Halswunden, nicht größer als Nadelstiche, waren an jedem der Opfer entdeckt worden. Während ich in einem Zeitungsbüro weilte, wo ich den Ausgaben der letzten Tage so viele zusätzliche Informationen wie möglich entnahm, ging ich auch die Spalten mit den Todesanzeigen durch, um Lucys Bestattungsort zu erfahren. Es war höchst misslich, dass sie nach ihrer Wiederauferstehung damit begonnen hatte, Kinder zu behelligen; vielleicht, so überlegte ich, hatten die Blutübertragungen neben anderen Organen auch ihr Gehirn in Mitleidenschaft gezogen. Wenn ich mich auch im Grunde für ihre Beutezüge ebensowenig zuständig fühlte wie für die Taten von Mary Jane Heathcote, mutmaßliche Mörderin ihres eigenen Kindes, oder Tausender anderer Geisteskranker, die sich in der Hauptstadt tummelten, gingen mich ihre Umtriebe notgedrungen dennoch etwas an. Sehr wahrscheinlich nahm Van Helsing ebenfalls von den Zeitungsbeiträgen Kenntnis und würde ihr Grab aufsuchen.
Dies wiederum gab mir eine Gelegenheit, meinem Widersacher zu begegnen, ihn abzuschätzen, vernünftig mit ihm zu reden, falls so etwas möglich war, und falls nicht, andere notwendige Maßnahmen zu ergreifen. Natürlich ging ich davon aus, dass jedwede Aufwartung, die Van Helsing Miss Westenra in ihrem neuen Domizil abstatten würde, bei Tageslicht stattfände, wenn die geringste Gefahr drohte. Frisch erschaffene Vampire haben mit neugeborenen Säuglingen der atmenden Menschheit eines gemein: sie sind weitaus empfindlicher als sie es späterhin sein werden, und ihre Kräfte sind größtenteils noch unentwickelt. Ich vermochte durch ein Knoblauchfeld in voller Blüte zu stapfen, ohne dass es mich niederstreckte, konnte sogar einen kurzen Blick in die grelle Mittagssonne werfen, zumindest in den kalten höheren Breitengraden. Jedoch Lucy in ihrem zarten Neugeborenenzustand würde sogar von Knoblauch außer Gefecht gesetzt werden und hätte im hellen Sonnenlicht nicht lange überlebt, selbst unter den gemäßigten englischen Wetterverhältnissen. In der Nacht des fünfundzwanzigsten September machte ich das Westenra-Mausoleum auf dem kleinen Friedhof bei Hampstead Heath ausfindig, der damals noch in fast unberührter ländlicher Umgebung lag. Nachdem ich wie Rauch durch das verschlossene Portal des Mausoleums geschlüpft war, stand ich auf alten Steinfliesen und einem Teppich toter und verwelkender Blüten, die noch von dem Doppelbegräbnis herrührten, das drei Tage zuvor stattgefunden hatte. Vor mir, aufgebockt auf Steinstützen und verziert mit Ornamenten aus Eisen und Messing, befand sich der Sarg von Lucys Mutter mit seiner Fracht aus entseeltem Lehm. Und ihm gegenüber in geringem Abstand und von ebensolchem Aussehen der Totenschrein, in den Lucy gebettet worden war. Ich trat an ihn heran und konnte, als ich meine Hände auf den Eichendeckel
seiner Außenhülle legte, die Leere seines Sargeinsatzes aus Blei fühlen. Wo war das Mädchen, dem ich einst zu helfen versucht hatte? Auf Beutefang draußen im Heideland vom Hampstead höchstwahrscheinlich, falls die Zeitungsgeschichten der Wahrheit entsprachen. Aber ich hegte diesbezüglich meine Zweifel. Dennoch war der Sarg zurzeit ohne Frage leer. Ich wartete eine Stunde lang an Ort und Stelle, wobei ich im Geiste wieder und wieder durchspielte, was ich ihr wohl sagen und wie ich ihr helfen könnte, sobald sie zurückkam. Je länger ich wartete, desto unsicherer wurde ich, welche Art von Hilfe ich ihr jetzt wohl bieten konnte, und desto unsicherer auch, ob ich recht daran getan hatte, ihr nicht von vorneherein das Sterben zu gewähren. Und doch schien mir noch immer, als sei es meine Pflicht gewesen, ihrem Hilferuf in Hillingham zu folgen. Plötzlich und mit einer Macht, die meine sämtlichen Sinne in äußerste Bereitschaft versetzte, überkam mich die Erkenntnis, dass sie vielleicht überhaupt nicht auf Wanderschaft war, während ich neben ihrem Sarg auf sie wartete, sondern dass ihr Leichnam heimlich von diesem Ort weggeschafft worden war, nachdem man ihn mittels Pflock und Klinge endgültig zu Tode gebracht hatte. Falls Van Helsing ein so gefährlicher Gegenspieler war, wie ich gehört hatte, mochte dies sehr wohl zutreffen. Und falls Lucy auf solche Weise aus dem Wege geräumt worden war, blieb mir in dieser Angelegenheit vorerst nichts mehr zu tun. Ich wartete noch eine halbe Stunde, dann entfernte ich mich, erfüllt von Zweifeln und noch immer ohne Hinweis auf ihren Verbleib. Am Morgen und dann noch einmal am Nachmittag des sechsundzwanzigsten September suchte ich den Friedhof abermals auf, diesmal in menschlicher Gestalt. Bei Tageslicht konnte ich meinen Körper nicht nach Belieben verwandeln und
ebensowenig als Rauchschwade in die Gruft hinein und wieder heraussickern. Doch ich hielt noch immer nach meinem Gegner Ausschau und glaubte nach wie vor, ihn nur bei Tageslicht hier antreffen zu können. Nur sehr wenige andere Friedhofsbesucher waren in der Nähe. Und schließlich, ich lehnte an der Außenmauer der Westenra-Gruft, gelang es mir, eine schwache Ausstrahlung von Lucys im Tiefschlaf befindlichem Bewusstsein aus dem Gruftinneren zu empfangen. Natürlich atmete sie nicht, doch war sie ebenso lebendig wie ich. Der geheimnisumwitterte und mächtige Van Helsing war also bis jetzt doch nicht fähig gewesen, diesen Baby-Vampir aufzuspüren und zu töten! Doch kaum hatte ich mir die Erleichterung eines Lächelns gestattet, als mir der Gedanke kam, Lucy mochte nur deshalb verschont geblieben sein, um mir eine Falle zu stellen. Was bedeutete Lucy einem Van Helsing? Um einen Vergleich zu gebrauchen: nicht mehr als ein Tigerjunges, das nachts maunzend im Wald angepflockt ist, während Männer mit Blendlaternen und schweren Waffen den Ort heimlich einkreisen, in lautloser Lauer auf die Ankunft jener großen, grünen, leuchtenden Augen, zwischen denen eine ganze Handbreit schwarzer Nacht liegt! Jawohl, sie mochten bereit sein, sie nächtens umherstreifen zu lassen, bis ich zu ihr käme. Vielleicht erwarteten sie, dass ich sie hier in vampirischem Wissen unterwies, ihren Gefolgschaftsschwur entgegennahm oder sonst einen Dienst von ihr einforderte. Sie mochten kaltherzig und grausam genug sein, um ein oder zwei atmende Kinder in Gefahr zu bringen… aber hatte es wirklich irgendwelche Übergriffe auf Kinder gegeben? Konnte die ganze Serie von Zeitungsgeschichten womöglich nichts weiter als eine gerissene Fälschung sein zu dem Zweck, mich in die Falle zu locken?
Ich blickte hastig in die Runde. Im Augenblick konnte ich niemanden sehen; doch aus einem der umliegenden Mausoleen konnten Augen auf mich gerichtet sein, und eine Kamera mochte Lichtbilder auf Fotoplatten bannen, der Fotograf geschützt von jenen Mauern und Gitterstäben, die so stark waren, dass zwanzig Männer sie nicht mit bloßen Händen hätten aus ihrer Verankerung reißen können. Welch ein Glück für die Vampire dieser Welt, dass ich nicht der Jagdführer auf ihrer Fährte bin. Tatsächlich bestand zu jener Zeit keine wirkungsvolle Strategie gegen mich; mit dem eiligen Rückzug vom Friedhof, den ich antrat, handelte ich diesmal als übervorsichtiger General. Währenddessen war Van Helsing für seinen Teil vielleicht ein bisschen zu selbstgewiss. Er hatte den Friedhof sporadisch im Auge behalten und die Zeitungsberichte von Lucys Umtrieben gelesen, doch an jenem Abend suchte er ihre Gruft erst nach Einbruch der Dunkelheit auf. Mit sich brachte er einen verwunderten und zögerlichen Dr. Seward, dem er die Wahrheit über Lucys Zustand ansatzweise enthüllt hatte. Der Professor verfolgte die Absicht, Lucys Sarg zu öffnen und seinem jüngeren Kollegen die unfassliche Wahrheit vor Augen zu führen, die er ihm bereits nahezubringen versucht hatte. Natürlich kam Van Helsing wohlversehen mit religiösem Zubehör und Knoblauch, wodurch er sie beide angemessenen geschützt wähnte, zumindest gegen Lucy; darin bewies er etwas von der Geisteshaltung seiner Zeitgenossen, der indianischen Geistertänzer Nordamerikas, die ernstlich überzeugt waren, dass die Zeichen und Symbole ihres Glaubens die Kugeln der US-Kavallerie aufhalten würden. Ich befand mich in jener Nacht nicht in der Nähe von Lucys Grab und las erst später in Sewards Tagebuch von dieser Expedition. Seinem skeptischen Freund den Weg weisend, wobei er dessen geflüsterte Fragen mit vorzugsweise
rätselhaften und unheilvollen Worten parierte, betrat Van Helsing die Gruft – den Schlüssel hatte er sich bei der Beerdigung unter dem Vorwand besorgt, ihn an Arthur weiterzugeben – und öffnete den Totenschrein. Er erbrach den versiegelten inneren Sarg aus Blei, der auch diesmal leer war. Das Fehlen eines Leichnams wirkte gewiss überraschend auf Seward, genügte jedoch nicht, um ihn davon zu überzeugen, dass die liebe Lucy mit bluttriefenden Eckzähnen in Hampstead Heath unterwegs war. Etwas derart Ungeheuerliches hielt er selbst dann noch kaum für möglich, als den guten Doktoren später in der Nacht inmitten all der Bäume und Grabmonumente eine weiße Gestalt entwischte und sie auf deren Pfad ein entführtes Kleinkind fanden, das zum Glück unversehrt geblieben war. Und wo befand sich, indes die Herren Doktoren über das Gräberfeld pirschten und ihre Dispute führten, der böse Graf? Am siebenundzwanzigsten September war ich damit befasst, einige meiner beweglichen Güter – womit ich natürlich neun Kisten mit den Maßen großer Särge meine, eine jede voll mit schwerer Erde – von Carfax zu einem Haus zu verfrachten, das ich kurz zuvor in Piccadilly erstanden hatte. In der Absicht, es möglichen Jägern, die versuchen mochten, meine Bewegungen zu verfolgen, weniger leicht zu machen, traf ich die Entscheidung, diesmal nicht mit einem regulären Fuhrunternehmen zu arbeiten, sondern selbst loszuziehen, um einen geeigneten Arbeiter aufzutreiben. Nach verschiedenen interessanten Erfahrungen in den Kaschemmen des East End heuerte ich einen gewissen Sam Bloxam an, der über einen Karren und ein einzelnes Pferd verfügte. Damit wurden zwei Fuhren zwischen Carfax und der Innenstadt nötig, was den gesamten Tag in Anspruch nahm. Ich hätte die Angelegenheit vielleicht etwas beschleunigen können, indem ich die Kisten allein auf- und ablud, doch
wollte ich sie unter den Augen Mr. Bloxams nicht ohne Hilfe heben, der ja in seinen eigenen Knochen spürte, wie schwer sie waren. Also wuchteten wir sie gemeinsam auf den Karren und wieder herunter, er schnaufend und prustend unter den etwa vierzig Prozent des Gesamtgewichtes, die ich ihm zu bewältigen gestattete. Schließlich wurde ich ungeduldig und heuerte in Piccadilly von der Straße weg drei Wanderarbeiter an, damit sie Bloxam halfen, meine Kisten die hohen Treppen des Hauses hinaufzuschaffen. Daraus ergab sich eine neue Misslichkeit, denn als ich die Männer versehentlich zu hoch bezahlte, in Shillings statt Pence, zeigten sie sich nicht dankbar, sondern widerspenstig und forderten sogar noch mehr. Vielleicht hatte ihnen ein Instinkt verraten, dass der Job, für den man sie angeworben hatte, von solcher Art war, dass der Auftraggeber Wert auf Verschwiegenheit legte. Ihr selbst ernannter Wortführer, der größte von ihnen, wurde richtiggehend ungemütlich. Ich packte ihn an der Schulter, blickte ihm tief in die Augen und riet ihm, sich zu mäßigen; danach hörte ich nichts mehr von ihnen, bis sie die Straße einige Häuser weit hinabgegangen waren und sich in Flüchen Luft verschafften. Dergestalt verfolgte ich friedfertig meine eigenen Angelegenheiten, ohne Streit mit jenen zu suchen, die unbedingt in Feindschaft zu mir stehen wollten. Ich fühlte mich sehr heimisch in meinem Haus am Piccadilly und zog in Erwägung, eine Nachtklingel zu installieren, oder eher eine Tagesklingel, mitsamt einem Klingelzug, und freute mich, dass mein Anrichteraum keine männlichen Dienstboten beherbergte, was Anlass zu moralischen Bedenken hätte geben können. Am selben Tag, und natürlich ohne dass ich davon wusste, kehrten Van Helsing und Seward auf den Friedhof zurück, wo der Professor eine weitere Demonstration für seinen zweifelnden Zögling durchzuführen beabsichtigte. Sie
mischten sich unter die Trauergäste irgendeines zufälligen Begräbnisses, dann entwichen sie in einen menschenleeren Winkel des Gottesackers, wo sie sich verbargen, bis der Friedhofswächter die Tore geschlossen hatte. Als sie anschließend mit ihrem Schlüssel zur Westenragruft ein zweites Mal dort eindrangen, trafen sie Miss Westenra naturgemäß zu Hause an, wenn auch nicht unbedingt darauf vorbereitet, Besucher anstandsgemäß zu empfangen. Bei dieser Gelegenheit führte Van Helsing seinen kleinen schwarzen Koffer mit sich, einschließlich seines Inhalts aus Hammer und Pflöcken und Enthauptungsmessern, und er hätte seine tödliche Chirurgenkunst wohl unverzüglich praktiziert und seine Patientin an Ort und Stelle entsorgt. Doch sobald die Herren Doktoren in der Gruft waren und den Sarg geöffnet hatten und das noch immer wunderschöne Mädchen hilf- und bewusstlos vor ihnen lag, fiel dem Professor, wie er zu Seward sagte, folgendes ein: »Wie kann ich von Arthur erwarten, dass er glaubt? Er besaß Zweifel an mir, als ich ihn von ihrem Kuss entriss, kurz bevor sie starb… Er könnte denken, dass wegen einer falschen Vorstellung diese Frau wurde lebendig begraben… dass wir Verblendeten sie mit unseren Vorstellungen gemordet hätten, und er wäre dann für immer ganz unglücklich. Und doch er könnte nie sicher sein, und das ist am Schlimmsten von allem… Aber er könnte auch denken, dass wir recht liegen und dass seine so sehr Geliebte also doch eine Untote war…« Selbstverständlich kannte Van Helsing ein Rezept, um Arthur aus seinem Dilemma zu erlösen. »Er muss durch die bitteren Wasser waten, um die süßen zu erlangen. Der Ärmste, er muss eine Stunde durchleiden, die ihm selbst das Antlitz des Himmels verschwärzen wird…« Kurz gesagt, der alte Sadist wollte, dass Arthur den Mord selbst beging, oder zuallermindest Zeuge dabei war.
Nachdem er Seward nach Hause in sein Irrenheim geschickt und allein am Piccadilly gespeist hatte – letzteres vielleicht nicht weit von jenem Ort, wo ich meinen häuslichen Pflichten oblag – kehrte Van Helsing ins Berkeley Hotel zurück, wo er abgestiegen war. Er wappnete sich für eine lange Nachtwache und brachte einen eindrucksvollen Abschiedsbrief an Dr. John Seward zu Papier, »nur für den Fall…«. Diesen hinterließ er in seinem Handkoffer; er wurde niemals zugestellt. 27. September Freund John! Ich schreibe dies falls es kommt, dass etwas passiert. Ich werde alleine auf jenem Kirchhof Wacht halten. Es macht mich beglückt, dass die Untote, Miss Lucy, heute Nacht nicht kommt hervor, dann aber wird sie morgen Nacht umso begieriger sein. Ich werde daher einige Dinge anbringen, die sie nicht mag – Knoblauch und ein Kruzifix – und dadurch die Tür der Gruft zusiegeln. Sie ist noch eine junge Untote und wird wegschrecken. Und besser noch, dies wird nur ihr Hervorkommen hindern; es mag sie nicht hindern, hineinzuwollen; denn in solchem Fall ist der Untote in Verzweiflung und muss die schwächste Front finden, welche diese auch ist. Ich werde von Sonnenuntergang bis nach Sonnenaufgang dort dasein, und wenn es dort etwas zu erfahren gibt, werde ich es erfahren. Um Miss Lucy oder vor ihr habe ich keine Furcht; aber jener andere, von dem sie eine Untote ist, er hat nun die Macht, ihr Grab zu suchen und Schutz zu finden. Er ist schlau, wie ich von Mr. Jonathan weiß, und von der Art, womit er die ganze Zeit uns genarrt hat, als er mit uns um Miss Lucys Leben spielte, was wir verloren; und die Untoten sind in vielen Dingen stark. In seinen Händen stecken stets die Kräfte von zwanzig Männern, selbst von uns vieren die Kraft, die wir an Lucy vergaben, sie steckt nun ganz
in ihm. Außerdem kann er seinen Wolf herbeirufen und was weiß ich nicht alles noch. Wenn es daher ist, dass er in dieser Nacht herkommt, wird er mich finden; aber sonst niemand – bis es ist zu spät. Aber es kann auch kommen, dass er den Ort nicht besucht. Es gibt keinen Grund, warum er sollte; sein Jagdrevier ist viel mehr voller Wild als der Kirchhof wo die untote Frau schläft und der eine alte Mann Wacht hält. Wegen diesem schreibe ich dies hier nur für den Fall… Nehmen Sie die Papiere, die mit diesem zusammen sind, die Tagebücher von Harker und dem Rest, und lesen Sie sie, und dann sollen Sie diesen großen Untoten finden und seinen Kopf abschneiden und sein Herz verbrennen oder mit einem Pflock durchstechen, sodass die Welt möge vor ihm Ruhe haben. Falls es so soll kommen, leben Sie wohl! Van Helsing Auch ich werde es vielleicht nicht sehr bedauern, wenn die Zeit kommt, da ich von der Welt für immer Abschied nehme. Doch noch ist Graf Dracula nicht so weit, sich töten zu lassen, noch war er es damals. Wenngleich ich nichts sehnlicher wünschte, als in Frieden gelassen zu werden, konnte ich doch nicht vergessen, dass Van Helsing Kenntnis von mir haben musste und dass er ein Mordgeselle war. Ich mied Carfax tagsüber, und bei Nacht begab ich mich, gleich meinem Feind, erneut zu dem Friedhof, um dort in Erfahrung zu bringen, was es zu erfahren gab. Die Nacht des siebenundzwanzigsten war warm und lieblich und hätte all jene Filmemacher enttäuscht, die sich Vampiren und anderen ähnlich unmöglichen Kreaturen verschrieben haben, von denen man glaubt, dass sie Friedhöfe heimsuchen. Und dieses Mal war mir das Glück hold. Selbst aus beträchtlicher Entfernung konnte ich erkennen, dass etwas am Westenra-Mausouleum verändert worden war: An einer Kette,
befestigt an einem Dachornament, baumelte ein kleines hölzernes Kruzifix, mitten vor dem Doppelportal. Ich wurde wieder zu Nebel, in dessen Gestalt ich die Friedhofsmauer überwunden hatte, und zog näher heran. Doch bewegt man sich auf diese Weise nur sehr langsam fort, und es ist schwierig, dabei viel zu sehen oder zu hören. Im tiefen Schatten einiger Bäume kehrte ich zur menschlichen Gestalt zurück und wurde augenblicklich mit den schwachen Geräuschen eines einzelnen menschlichen Herzens und Lungenpaars belohnt, die nicht weit entfernt pumpten und atmeten. Mit dem breiten Rücken gegen ein Steinkreuz gelehnt, das zu einem benachbarten Grab gehörte, beobachtete ein Mann, der niemand anders als Van Helsing sein konnte, mit schlaflosen Augen die ruhige Außenumgebung von Lucys Gruft. Darinnen spürte ich ihr Bewusstsein, nicht völlig wach, doch gereizt. Vom Wunsch beseelt, zu einer vernünftigen Unterredung mit Van Helsing zu kommen statt ihn in die Flucht zu schlagen oder handgemein mit ihm zu werden, ging ich um ihn herum, um mich ihm von vorn zu nähern. Wenige Herzschläge später blickte er aufgeschreckt hoch, als er meiner Gestalt ansichtig wurde, die durch die Nacht über den grasgesprenkelten, selten benutzen Pfad auf ihn zuschritt. »In nomine Dei, retro, Satana!« Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und er zog die Beine an, um jeden Moment aufzuspringen. »Pax vobiscum«, entgegnete ich, aber mit so leiser Stimme, dass er es überhört haben mochte. »Dr. Van Helsing, nehme ich an«, setzte ich lauter hinzu, während ich herankam, in unbewusster Parodie auf Stanleys legendäre Begrüßungsworte zwanzig Jahre zuvor. Als ich weiter auf ihn zuschritt, kam Van Helsing auf die Beine, ein sturer Bulle, der die Hufe in den Boden stemmte,
um gegen eine Lokomotive anzurennen. Seiner düsteren Nachricht an Seward zum Trotz glaubte er sich doch tatsächlich geschützt. Das große Steinkreuz ragte noch immer hinter ihm auf; in seiner linken Hand erkannte ich ein kleines goldenes Kruzifix, und in seiner Rechten, nur teilweise sichtbar, das weiße Schimmern eines zusammengefalteten Papiers. Er hob beide Hände und streckte sie mir entgegen, als ich noch näher an ihn herantrat. Sollte er doch wähnen, diese Spielzeuge könnten mich aufhalten, falls er derartigen Unfug wirklich glaubte. Ich war auf eine Gelegenheit aus, mit ihm zu reden. Einige Sekunden lang maßen wir einander über das kleine Kruzifix hinweg mit Blicken. »Graf Dracula.« Er deutete eine Verbeugung an. Er bewies Haltung, sein Mund zeigte jetzt ein leichtes Grinsen. »Stets zu Ihren Diensten«, entgegnete ich und erwiderte seine Verbeugung. Er neigte den Kopf zu einem flüchtigen Nicken gegen die stumme Gruft hin. »Sie werden sie nicht länger mehr besitzen«, sagte er, noch immer lächelnd. »Sie gehört nicht länger mehr Ihnen.« »Mein lieber junger Herr, das gehörte sie nie.« Van Helsings Gesicht wies zu jener Zeit mehr Altersfalten auf als mein eigenes, dennoch verstand er. »Jedenfalls nicht auf die Art, wie Sie zu glauben scheinen.« »Du lügst, Höllenkönig Dracula. Wir kennen dich, besser als du wahrhast.« »Gut denn, Van Helsing, lassen wir die Artigkeiten beiseite. Ich kenne Ihren Namen, doch weiß ich nichts Gutes darüber. Was sind Ihre Absichten?« »Dass die so junge Miss Lucy soll Ruhe finden, und Frieden.« »Und was mich betrifft?«
»Wenn es so soll sein«, sagte er mit einer grimmigen, gemessenen Entschiedenheit, »dass du keinen anderen behelligst, wie du sie behelligt hast.« Ich wandte mich ab und wanderte ein wenig zwischen den Gräbern umher, die Hände auf meinem Rücken und unter meinem Umhang verschränkt, annähernd in der Art, wie ich Napoleon hatte auf und ab gehen sehen, wenn er tief in Gedanken versunken war. »Warum?«, fragte ich und hielt inne, meinem Widersacher erneut entgegentretend. Und da sah ich in seinem Gesicht, in seinen Augen, dass er womöglich meine Frage gar nicht richtig begriffen hatte. »Ich meine, warum, Professor, verfolgen und quälen Sie uns? Ich weiß von einem Vampir, den Sie in der Nähe von Brüssel abgeschlachtet haben, ebenso zwei weiteren, einem Mann und seiner Frau, bei Paris…« »Mann und Frau!« Er schäumte. »Wenn es nicht im Himmel Heiraten gibt, wie die Schrift sagt, dann gewiss auch nicht in der Hölle!« »Und wir sind natürlich Höllengeschöpfe; ich meine, in höherem Maße als andere Leute. Sagen Sie mir doch, Van Helsing, wenn ich ihrer Faust dieses Christkreuz entwinde und es mir um den eigenen Hals hänge, wären Sie dann noch immer so sicher, dass ich der Hölle entstamme?« Seine plumpen Finger schlossen sich fester um das Gold. »Ich kenne dich an deinen Taten, Dracula. Ich fürchte, es steckt viel Kraft in dir und dass du vielleicht Tricks mit Kreuzen machst und den anderen Dingen von Heiligkeit. In Brüssel, wo ich mein Werk der Barmherzigkeit verrichtete, hörte ich deinen Namen, und in Paris auch; und ich habe das Tagebuch des jungen Harker gelesen, von seinem Verbleiben in deinem verfluchten Schloss, aus dem die Mächte des Himmels ihn so gesegnet retteten.«
»Ah! Und ist Jonathan wohlauf und inzwischen wieder in London?« Während ich sprach, erinnerte ich mich des Notizbuches mit Harkers Geheimschrift. »Es würde mich freuen, zu wissen, dass es ihm gut geht, doch betrüben, wenn er meine Gastfreundschaft so schwer erträglich fand wie Ihre ingrimmige Stimme und Miene nahe legen.« Van Helsing behielt nun Schweigen bei, vielleicht bereute er, etwas preisgegeben zu haben, indem er Harker erwähnte. Äußerster Abscheu sprach aus seinen Augen, die mich fest im Blick behielten, aber auch so etwas wie Triumph, als er sah, dass ich mein Umherwandern wieder aufgenommen hatte, ohne dabei seinen Kreuzen irgendwie näher zu kommen oder dem weißen Kuvert in seiner rechten Hand, dessen Inhalt ich bereits glaubte erraten zu haben. Jetzt steckte er seine Hand in seine Rocktasche zurück, während er das kleine goldene Kruzifix schwenkte, um es direkt auf mich gerichtet zu halten als handelte es sich um eine geladene Pistole. Drei schnelle Schritte, eine Drehung meiner Arme, und er wäre ein bass erstaunter Leichnam gewesen. Doch wussten andere – Harker, Dr. Seward, ich konnte gar nicht raten, wer noch alles – fraglos von Van Helsings heutiger Nachtwache an diesem Ort. Sie mochten uns sogar in eben jenem Moment aus irgendeinem nahen Versteck heraus beobachten. Sollte ich sie dann ebenfalls töten? Je mehr ich umbrachte, desto größeren Zustrom mussten die Reihen meiner Feinde erfahren, gespeist aus dem Ozean der Unwissenden, in dem Vampirjäger wie auch Vampire bisher nur wenige vereinzelte Tropfen ausmachten. Aber was sollte ich sonst tun? Niederknien und einen Rosenkranz beten? Vielleicht wäre ich dazu imstande gewesen, doch niemals um einen Feind zu besänftigen, schon gar nicht einen debil grinsenden, selbstgerechten Feind wie diesen.
Noch einmal versuchte ich es mit offenen, ehrlichen Worten. »Ich bin nicht nach London gekommen, um Krieg zu führen, Van Helsing, sondern um Frieden mit allen Menschen zu schließen…« »Und was, Ungeheuer, ist dann mit dem Mädchen? Diesem so süßen jungen Fräulein, das in diese Mauern von kaltem Stein getan wurde; und das, was noch schlimmer, nicht darinnen blei…« »Van Helsing, Sie mögen glauben, dass ein Vampir zu sein schlimmer ist, als tot zu sein. Ich merke, dass ich Sie mit welchen Argumenten auch immer kaum werde umstimmen können. Doch anderen die Folgen dieser Glaubenshaltung aufzuzwingen, ist dann wohl doch eine andere Sache.« »Du wagst es, von Zwang zu sprechen, Ungeheuer?« Sein Mut wuchs noch mehr, als er bemerkte, dass ich weiterhin meinen Abstand wahrte. »Du, der du dieses Mädchen zwangest, dir ihr eigen Blut und Leben zu geben…« »Es reicht, Mörder!« Jetzt kam ich einen Schritt weit auf ihn zu. »Sie, der Sie diese splittrigen Pflöcke in die lebenden Körper meiner drei Freunde in Brüssel und Paris trieben! Und was Lucy betrifft, nur weil ich ihr Leben retten wollte, trank ich genug von ihrem süßen Blut, um sie zu dem zu machen, was sie jetzt ist – in Wahrheit waren Sie es, der sie ins Grab beförderte!« Er schüttelte leicht seinen massigen Kopf, ohne sein Grinsen abzulegen, weniger in Zurückweisung meiner Anklage, sondern selbst jetzt in fortgesetzter Unfähigkeit zu verstehen. Ich beugte mich zu ihm vor. »Sie haben ihr Leben beendet, indem sie immer wieder fremdes Blut in ihre Adern flößten.« »Nein!« Noch immer kein Anzeichen von Verständnis. »Doch.« Er setzte abermals zu Widerspruch an, den ich unterband: »Soll ich sie hier und jetzt herausbefehlen, damit sie es bezeugt?«
Stille dehnte sich über dem Friedhof aus, abgesehen vom Ruf einer ruhelosen Eule und dem entfernten Rumpeln einer Wagenfuhre, und darunter dem vielstimmigen Getöse des fernen Londons, das seit tausend Jahren nie wirklich ohne Laut gewesen war. Van Helsing hatte seine Pose kaum verändert, mich noch immer – wie er glaubte – mit seinem goldenen Kruzifix sicher auf Abstand haltend; doch konnte ich in der dunklen Nacht von seinem Gesicht ablesen, dass ich nicht daneben getroffen hatte. »Sie haben es bereits zuvor getan, Sie Metzger«, setzte ich nach, wobei ich nur riet, aber an seiner Miene erkannte, dass ich richtig lag, denn sie zeugte von einem weiteren Schlag, der sein Innerstes getroffen hatte. »Und mit ähnlichem Ergebnis. Ist es nicht so? Ist je ein Opfer Ihrer Blutübertragungen mit dem Leben davongekommen?« Sein Grinsen war erloschen, seine Hände und sein Kinn bebten, als er den kleinen weißen Umschlag wieder hervorzog und ihn zusammen mit dem Kreuz gegen mich erhob. »Fort mit dir! Zur Hölle!« Die Worte explodierten förmlich aus seinem Mund. »Wissen Sie mir nichts Intelligenteres zu sagen, Professor?« »Es soll…« Seine Stimme brach, und er musste von neuem ansetzen. »Es soll Krieg sein unter uns, Vampir. Krieg bis hin zum Tod.« »Besser sei es Frieden, sage ich. Oder eher gegenseitige Duldung. Aber denken Sie daran, dass ich im Krieg hunderte stärkere Männer überwunden habe als Sie es sind.« Und mit Wut und Trauer im Herzen wandte ich diesem schlechten Mann den Rücken zu und ging fort, wobei ich halb erwartete, den schmerzhaften wenngleich harmlosen Einschlag einer silbernen Kugel im Rücken zu spüren. Wenn er das tut, überlegte ich, werde ich kehrtmachen und ihm seine Kugel,
sofern ich ihrer habhaft werden kann, in seine eigene Fleischlichkeit pflanzen, und zwar an einer besonders schmerzhaften und unerfreulichen Stelle. Aber er unternahm nichts, und ich begab mich zu meinem neu erworbenen Haus, wo ich über die mondbeschienenen Bäume des Green Park zu Victorias Palast hinüberblickte und meinen närrischen Gedanken nachhing. Ein Krieg war also unausweichlich. Aber wie sollte ich ihn führen?
Als Van Helsing am folgenden Tag wieder mit seinen Gefährten zusammentraf, erzählte er ihnen, im Verlaufe seiner gefahrvollen Nachtwache nichts weiter gesehen zu haben, und dabei ließ er es bewenden. Wortreich wie er normalerweise war, hatte der Schuft doch immer dann versiegelte Lippen, wenn es darum ging, denjenigen Menschen unverstellte Tatsachen anzuvertrauen, die mit ihm zusammenarbeiteten oder es zumindest versuchten. Allerdings muss er sich gefragt haben, wie viel ich wirklich über seine fehlgeschlagenen Operationen auf dem europäischen Festland wusste und inwieweit ich mein Wissen nutzen konnte, um ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Ich muss wohl kaum erwähnen, dass ich eben dies getan hätte, wäre es mir möglich gewesen, doch verfügte ich über keine genaueren Einzelheiten, die ich hätte bekannt machen können, noch wusste ich, wie ich mir solche schnell verfügbar machen sollte. Was Van Helsing an jenem Tag tat, war, seine Truppen zu einer weiteren Expedition zur Westenra-Gruft zu sammeln. Diesmal kommandierte er nicht nur Seward ab, sondern auch Arthur Holmwood – der nach seines Vaters kürzlichem Tode Lord Godalming geworden war – sowie den Amerikaner, Quincey Morris. In einer anfeuernden Rede versicherte er ihnen allen – ich erfinde das nicht, Sie können es in Sewards
Tagebuch nachlesen! – dass eine »feierliche Pflicht«∗ ihrer Erfüllung harre. Und da wurde Van Helsing mitunter als humorloser Mann bezeichnet! Nun, das war er, jedoch nur, wenn er spaßig sein wollte. Natürlich stimmten sie alle zu, ihn zu begleiten, obwohl bislang nur Seward eine Ahnung davon haben konnte, was diese »feierliche Pflicht« wahrscheinlich beinhaltete. Soweit den anderen bekannt, war Lucy schlicht und einfach, wenn auch traurigerweise, tot. »Ich hätte gern gewusst«, wandte Arthur nach einer längeren Diskussion in Van Helsings Hotelzimmer ein, »worauf Sie abzielen. Quincey und ich haben uns darüber unterhalten; aber je länger wir darüber sprachen, desto rätselhafter wurde alles, so dass ich für meinen Teil bekennen muss, nun überhaupt nichts mehr zu verstehen.« Und er sollte auch so schnell keine Aufklärung erfahren. Der Professor brachte sie allesamt mit eindringlichen Bitten um ihr anhaltendes Vertrauen auf Linie, dramatisiert durch Andeutungen, dass Lucy sich in irgendeiner unbestimmten Gefahr befand, dem Höllenfeuer anheimzufallen (ich glaube, an einem bestimmten Punkt wäre er von Arthur fast geschlagen worden) oder dass sie vielleicht nicht tot gewesen war – nicht wirklich – als man sie begrub. Es war eine meisterliche Vorstellung von einer bezwingenden Persönlichkeit, und Van Helsing schaffte es nicht nur, einem Fausthieb zu entrinnen, sondern hatte die drei jüngeren Männer binnen kurzem in einen Zustand versetzt, der nur als still ergebene Hysterie bezeichnet werden kann. Dadurch trieb er sie abermals auf den Friedhof hinaus, und zwar in der Nacht des achtundzwanzigsten September. ∗
Im amerik. Original und in Stokers Roman: ›grave duty‹, d. h. ›feierliche‹ oder ›ernste Pflicht‹, aber auch ›Grabespflicht‹. Als Doppelsinnigkeit so nicht übersetzbar. (d. Ü.)
Nachdem sie Lucys verwüsteten Sarg – erneut – leer vorfanden, entflohen die vier Männer dem, was Seward »das Grauen des Grabes« nannte, um draußen frische Luft zu schöpfen. Dort kam Van Helsing zur Sache. In Sewards Tagebuch heißt es dazu: Zunächst entnahm er seiner Tasche ein Objekt, das wie ein dünner waffelartiger Keks aussah und welches sorgsam in eine weiße Serviette eingeschlagen war; anschließend holte er zwei Handvoll einer weißlichen Substanz hervor, die Teig oder Spachtelmasse glich. Er zerrieb die Waffel zu feinen Krümeln und knetete diese zwischen seinen Fingern in die Masse hinein… nachdem er sie zu dünnen Streifen ausgerollt hatte, begann er, sie in die Spalten des Gruftportals und seiner Einfassung zu drücken. Ich fragte ihn… was er da machte. Er gab zur Antwort: »Ich versiegele die Gruft, sodass die Untote nicht mehr hineinvermag.« »Und das Material, das Sie da anbringen, ist dazu geeignet?«, fragte Quincey. »Heiliger Strohsack! Soll das ein Spiel sein?« »So ist es.« »Was ist das für ein Material?« Diesmal fragte Arthur. Van Helsing nahm ehrfürchtig seinen Hut ab, als er erwiderte: »Die heilige Hostie. Ich brachte sie von Amsterdam. Ich habe dafür einen geistlichen Dispens erlangt.« Es war eine Antwort, die selbst dem ärgsten Zweifler unter uns in die Glieder fuhr. Und eine solche Wirkung sollte sie selbst auf den Kenntisreichsten und Ehrfürchtigsten gehabt haben. Dieser Schurke! Einen geistlichen Dispens, fürwahr! Als ob irgendein achtbarer Priester sich angemaßt hätte, ihm einen solchen zu erteilen, damit er seinem abergläubischen Unfug frönen konnte! Wie dem auch sei, nach einer niederdrückenden Wartezeit erblickten die Männer inmitten der Düsternis einer entfernt stehenden Baumgruppe »eine weiße Gestalt«, die ein
kleines Kind im Arm trug. Diese Gestalt war schließlich nahe genug herangekommen, um erkannt zu werden als Lucy Westenra, aber wie sehr verändert. Ihre einstige Lieblichkeit war zu glasharter, herzloser Grausamkeit gewandelt und ihre Reinheit zu wollüstiger Begierde. Van Helsing trat vor… in einer Reihe stellten wir vier uns vor dem Gruftportal auf. Van Helsing hob seine Laterne und öffnete die Blende: im gebündelten Lichtstrahl, der auf Lucys Gesicht fiel, erkannten wir, dass ihre Lippen von frischem Blute troffen. Obwohl das Kind, wie Van Helsing später zugab, »nicht viel verletzt« war.
Als Lucy – ich nenne das Ding, das vor uns stand, Lucy, weil es ihre äußere Gestalt besaß – uns erblickte, fuhr sie mit einem wütenden Fauchen zurück, so wie es eine Katze ausstößt, wenn sie aufgescheucht wird; dann maßen ihre Augen uns einen nach dem anderen ab. Es waren Lucys Augen in Form und Farbe, doch waren sie unrein und vom Feuer der Hölle erfüllt, nicht mehr die unschuldigen, freundlichen Augensterne, die wir kannten. In dieser Sekunde wandelte sich der letzte Rest meiner Liebe in Hass und Abscheu: Hätte ich sie jetzt töten können, ich hätte es mit wilder Freude getan. Lucy warf ihr Opfer fort – oder eher ihr Spielzeug, das sie in ihrem verwirrten Zustand aufgelesen hatte – und starrte Arthur an, ihren Geliebten, den sie noch immer zärtlich in Erinnerung hielt. Dann kam sie »mit ausgestreckten Armen und einem lüsternen Lächeln« auf ihn zu, woraufhin er »zurücktaumelte und die Hände vor das Gesicht schlug«. Sie indessen kam weiter heran und säuselte mit »teuflisch süßer Stimme«: »Komm her zu mir, Arthur. Lass diese anderen stehen und komm zu mir. Meine Arme sehnen sich
nach dir. Komm, dann werden wir gemeinsam ruhen. Komm, mein Gemahl, komm!« Als er diesen Ruf vernahm, schien Arthur wie »von einem Zauberbann gefangen; er hob das Gesicht aus den Händen und öffnete weit seine Arme. Sie wollte sich ihm entgegenwerfen, als Van Helsing vorpreschte und sein kleines goldenes Kruzifix zwischen die beiden hielt«. Erbost über diese Einmischung, die sie über das Grab hinaus verfolgte, und, wie ich vermute, aufs Äußerste bestürzt von Arthurs unterwürfiger Hörigkeit gegenüber derselben, prallte Lucy zurück und »stürzte mit plötzlich wutverzerrtem Gesicht an ihm vorbei, wie um in ihre Gruft zu gelangen«. Doch ihre Absicht, diese Zuflucht zu erreichen, wurde von Van Helsings Knete vereitelt, die zweifellos eine Beimischung von Knoblauch enthielt. Sie drehte sich zu uns um, und ihr Gesicht war im plötzlich durch die Wolken brechenden Mondlicht und dem Schein der Laterne, die dank Van Helsings eisernen Nerven nun nicht mehr schwankte, deutlich sichtbar… der schöne Teint wurde fahl, die Augen schienen Funken puren Höllenfeuers zu versprühen, die Falten der Brauen und der Stirn glichen einem Nest aus Medusenschlangen, und der liebliche, blutverschmierte Mund klaffte fast als Viereck wie in den Tragödienmasken der Griechen oder Japaner. Wenn je ein Antlitz den Tod verhieß – wenn Blicke töten könnten – dann wurden wir dessen jetzt ansichtig. Van Helsing brach das Schweigen, indem er Arthur fragte: »Antworten Sie mir, oh mein Freund! Soll ich in meinem Werk weiterschreiten?« Arthur warf sich auf die Knie und schlug wieder die Hände vor das Gesicht, als er erwiderte: »Tun Sie was immer Sie wollen… Nie und nimmer kann es etwas Grässlicheres geben als das.«
Nachdem er dieser Zustimmung sicher war, entfernte Van Helsing etwas von seiner Knete aus den Ritzen des Gruftportals. Wir alle starrten in Grauen und Staunen, als wir, nachdem er beiseite getreten war, sahen, wie die Frau, deren Leib in diesem Moment so körperlich und wirklich war wie wir selbst, durch den Spalt schlüpfte, in den kaum eine Messerschneide gepasst hätte. Jeder von uns empfand eine glückliche Erleichterung, als der Professor vor unseren Augen ruhig die Knetstränge wieder in die Fugen drückte. Anschließend kehrten der Professor und seine Messnerknaben heim, um sich von den Strapazen zu erholen. Doch schon am folgenden Nachmittag waren alle wieder zur Stelle, und während der Friedhof verlassen dalag, drangen sie in die viel besuchte Gruft ein – »wobei Arthur zitterte wie Espenlaub« – und öffneten Lucys Sarg zum fünften Mal seit ihrer Beisetzung.
Van Helsing begann in seiner gewohnten methodischen Vorgehensweise, den vielfältigen Inhalt seiner Tasche auszupacken und gebrauchsfertig zurechtzulegen. Zunächst förderte er einen Lötkolben und etwas Lötmetall zu Tage, dann eine kleine Öllampe, die… mit einer sehr heißen blauen Flamme brannte; anschließend seine Operationsmesser, die er griffbereit ablegte; und zuletzt einen hölzernen Pflock, der zwischen sechs und sieben Zentimeter dick und etwa einen Meter lang war. Das eine Ende war im Feuer gehärtet und scharf zugespitzt. Zusammen mit diesem Pflock holte er einen schweren Hammer hervor, wie man ihn benutzt, um daheim im Keller Kohlenbrocken zu zerkleinern. Auf mich wirken ärztliche Arbeitsvorbereitungen jeder Art inspirierend und
beflügelnd, doch sowohl bei Arthur wie bei Quincey riefen diese Vorkehrungen sichtliche Bestürzung hervor. Nachdem er seine inspirierenden Vorbereitungen beendet hatte, fand Van Helsing die Zeit für eine weitere Ansprache, die mit der Schlussfolgerung endete, dass Lucys bevorstehende Pfählung dazu diente, ihr ewige Glückseligkeit zu schenken, da sie die Beendigung ihrer höllischen Vampirexistenz bedeute, und dass dies ganz besonders Freude spendend für sie ausfalle, wenn es »von der Hand dessen« geschehe, »der sie am stärksten liebte; die Hand aus allen anderen, die sie selbst gewählt hätte, wenn an ihr wäre die Wahl gewesen… sagen Sie mir, ob solch einer ist unter uns.« Alle blickten auf Arthur, der dank seiner restlosen Gehirnwäsche durch den alten Sadisten nun tapfer vortrat. Van Helsing erteilte rasch seine Anweisungen. Arthur setzte die Spitze des Pflocks über Lucys Herz an, und beim Hinsehen konnte ich die Eindruckstelle in ihrem weißen Fleisch erkennen. Dann hob er den Hammer und schlug mit aller Kraft zu. Das Ding im Sarg krümmte sich, und ein grässlicher, markerschütternder Schrei drang zwischen den aufgerissenen roten Lippen hervor. Der Körper zuckte und bebte und bog sich in wilden Krämpfen; die spitzen weißen Zähne bissen aufeinander, bis die Lippen bluteten, und der Mut troff von tiefrotem Schaum. Doch Arthur hielt stand… ohne Zittern hob sich sein Arm und fuhr wieder herab, trieb den Gnade spendenden Pflock tiefer und tiefer, während das Blut aus dem durchbohrten Herzen spritzte und weit umher niederregnete. Sein Gesicht war starr, und hehre Pflichterfüllung schien aus ihm zu leuchten; dieser Anblick gab uns allen Mut, sodass unsere Stimmen, die ein Totengebet verlasen, lauter durch die enge Gruft klangen. Und dann ließ das Beben und Zucken des Körpers nach, die Zähne hörten auf zu knirschen, die
Gesichtsmuskeln lösten sich. Schließlich lag der Leichnam still. Die furchtbare Aufgabe war vollbracht. Der Hammer entfiel Arthurs Hand. Er taumelte und wäre gestürzt, hätten wir ihn nicht aufgefangen. Im Angesicht des toten Mädchens, das vor ihnen lag, gewahrten die Männer nun sämtlich die »unvergleichliche Süße und Reinheit«, deren sie sich an Lucy aus ihrem atmenden Leben erinnerten. Ich habe stets beobachten können, dass nichts den Charakter eines Menschen in den Augen der Welt so sehr emporhebt wie der Tod, endgültig und unumkehrbar. Und wie schon bei Lucys erstem ›Tod‹, staunten sie über ihre nunmehr ungefährliche Schönheit, die Seward als »Zeichen und irdisches Symbol jenes himmlischen Friedens« betrachtete, »den sie nun auf immer erlangt hatte«. Dies war der Tag, an dem sie hätte Arthur heiraten sollen; und nun, da sie jenseits allen Zweifels tot war, erteilte Van Helsing der einzigen Vereinigung seinen Segen, die das Paar jetzt noch erfahren konnte: »Und nun, mein Junge, dürfen Sie sie küssen. Küssen Sie ihre toten Lippen, wenn sie möchten… denn sie ist kein grinsender Teufel länger mehr – nicht länger mehr ein widriges Unding für alle Ewigkeit…« Arthur gab ihr seinen Kuss und verließ die Gruft; woraufhin die Ärzte »das obere Ende des Pflocks absägten, sodass die Spitze im Körper verblieb. Anschließend schnitten wir den Kopf ab und füllten den Mund mit Knoblauch…« Den Kopf mit einer metallenen Klinge abzuschneiden, was machbar ist, sobald erst Holz das Herz des Vampirs zerstört hat, bewirkt eine Durchtrennung der Nervenwege, wodurch das noch immer aktive Gehirn daran gehindert wird, eine Wiederherstellung des zerrissenen Herzmuskels herbeizuführen, was andernfalls durchaus möglich wäre. Eine weitere Sicherheitsvorkehrung des Vampirjägers besteht darin, die Spitze des Holzpflocks stecken zu lassen, zumindest bis der
Körper des Vampirs insgesamt einen fortgeschrittenen Zustand der Verwesung erreicht hat. Die Dauer dessen unterscheidet sich von Vampir zu Vampir und ist meist am längsten bei jenen, die wie Lucy ihr untotes Leben noch nicht lange führen. Ein alter, alter Nosferatu wie ich einer bin, löst sich möglicherweise gleich Poes M. Valdemar beinahe augenblicklich auf, sobald er gepfählt wird. Was das Ausstopfen des Mundes mit Knoblauch betrifft, so kann ich nur die Vermutung anstellen, dass es irgendeiner Verwechslung dieser Schlächterei mit Küchenkunst entspringt. Obgleich ich noch nie davon gehört habe, dass irgendein Vertreter der atmendenden Menschheit tatsächlich versucht hat, Vampirfleisch zu essen, bin ich doch ausreichend gut mit deren sonstigen Gebräuchen vertraut, um mich von dergleichen nicht allzusehr in Erstaunen versetzen zu lassen. So nahmen sie also dieses Leben, das Gott Lucy geschenkt hatte und das ich auf meine armselige, gut meinende Weise versucht hatte, ihr zu erhalten. Als sie damit fertig waren, löteten sie ihren geschundenen Körper in seinen Sarg ein, verließen dann die Gruft und versiegelten sie, und als sie draußen Umschau hielten, entdeckten sie, dass »die Luft lieblich war, die Sonne strahlte und die Vöglein sangen, und es schien, als sei die ganze Natur heiterer gestimmt. Überall herrschten Glück, Freude und Frieden…« Und Arthur stattete Van Helsing seinen tiefstempfundenen Dank ab. Die Idylle litt freilich noch unter der Existenz einer gewissen Adelsperson, und der Professor wollte seine Begleiter nicht vom Friedhof entlassen, ehe er sie Mann für Mann in aller Form einer »größeren Aufgabe« verpflichtet hatte, nämlich: »Den Urheber aller dieser unserer Kümmernisse zu finden und ihn wegzumerzen… haben wir nicht gelobt, bis ganz zum bitteren Ende fortzuschreiten?«
5. TONBAND
Von diesen Ereignissen im Zusammenhang mit der Ermordung Lucys hatte ich, wie ich schon sagte, zu jener Zeit keine Kenntnis. Als ich sie alleine mit Van Helsing auf dem Friedhof zurückließ, war ich überzeugt, dass es außerhalb meiner Macht stand, sie weiterhin zu beschützen, und konzentrierte daher alle meine Gedanken auf die Sicherung meines eigenen Überlebens. Lucy hatte mir berichtet, dass zu ihren ärztlichen Beiständen ein Dr. Seward zählte, Leiter einer Verwahranstalt in Purfleet; und sofern nicht die gesamte Nachbarschaft dort mit Irrenhäusern bebaut war, musste ich es für wahrscheinlich halten, dass dieser Seward mein unmittelbarer Nachbar sowie auch ein Verbündeter Van Helsings war. Dann war da noch Harker, dessen Tagebuch zumindest Van Helsing irgendwie zu lesen bekommen hatte; und Harker, der in so vielem meine ausführende Hand gewesen war, wusste, dass man mich aller Wahrscheinlichkeit nach in Carfax finden würde. Ich hatte keine Ahnung, ob Harker selbst wieder in England weilte, oder ob er überhaupt noch am Leben war oder bei Verstand. Ebenso wenig wusste ich, wo in England Van Helsings Quartier liegen mochte. Mit Dr. Seward war das natürlich anders, und ich betrachtete seine Anstalt als den besten Ort, um damit zu beginnen, meine Feinde unter Beobachtung zu stellen. Es handelte sich um ein sehr altes Steingebäude – wenn auch nicht ganz so alt wie Carfax – mit vielen Zimmern, verteilt auf zwei Stockwerke, wobei ein großer Teil des Untergeschosses den Zimmern oder Zellen der Insassen vorbehalten war. Diese stammten aus den oberen
Gesellschaftsschichten, und einige gehörten den vornehmsten Familien des Landes an – Renfield selbst war hierfür ein Beispiel. In der Nacht des neunundzwanzigsten September geisterte ich in Fledermausgestalt um diese zweckentfremdete Villa herum und machte meine Beobachtungen, wo immer ein offen stehender Fensterladen mir Einblick gewährte. Die erste Person, die ich wiedererkannte, war mein einstiger Besucher Renfield, der ruhig und mit gefalteten Händen in einem Zimmer des Erdgeschosses saß, dessen Fenster jüngst mit schweren Eisenstäben und einer neuen Holzverkleidung versehen worden war. Als ich vorüberflatterte, sah ich eine Art inneren Leuchtens auf dem Gesicht des Geisteskranken erstrahlen, und er sprang von seinem armseligen Stuhl auf – der zusammen mit einem schlichten Feldbett die hauptsächliche Einrichtung seines Zimmers ausmachte – und trat auf das Fenster zu; ich jedoch flog weiter, da ich nicht den Wunsch hegte, irgendeine Form von Tobsuchtsanfall bei ihm auszulösen. In anderen Zimmern des Erdgeschosses wiegten sich die wenigen weiteren Patienten, die zurzeit hier verwahrt wurden, ruhelos auf ihren Betten oder starrten auf ihre ineinander verschlungenen Finger oder tigerten auf und ab. Und hinter einem halb geschlossenen Fensterladen eines dieser Zimmer erklang eine Rede im Tonfall derartig furchtbaren, bitteren Kummers, dass selbst ich nicht anders konnte, als näher heranzuschweben, um nachzusehen, wem die betreffende Stimme gehörte. Ich blickte flüchtig auf Bücherregale, getäfelte Wände, und dann… Es handelte sich um Dr. Sewards Arbeitszimmer und ebenso um seine Stimme, wenn sie auch nicht aus seinem Munde erklang. Mit dem Rücken zu mir saß eine kräftige, braunhaarige junge Frau an einem Tisch, ihre Finger huschten
über die Tasten einer sonderbaren Maschine, die rhythmisch klickte und Worte auf eine Papierrolle druckte, die stoßweise aus ihr herauskam und von einem Drehzylinder aufgenommen wurde. Auf dem Lockenkopf der jungen Frau ruhte eine gabelförmige Vorrichtung aus Metall, deren schalenartig gewölbte Enden ihre beiden Ohren bedeckten, und aus diesen Ohrenschalen ertönte Sewards Stimme – wenn ich sie zu jenem Zeitpunkt auch noch nicht erkannte – verlangsamt zu einem zähen Stöhnen, das die Tipperin befähigte, mit dem Sprechtempo Schritt zu halten. Von den Kopfhörern verlief ein Draht zu einem kleinen Schrank auf einem nahebei stehenden Tisch. In diesem Schrank arbeitete ein federbetriebener Mechanismus, der alles in Gang hielt, und eine Nadel folgte scheinbar schwerelos einer Rille, die um eine Wachswalze verlief. Es handelte sich natürlich um eine einfache Version eines frühen Phonographen – kein Vergleich zu dem kleinen Wunderding, das ich gerade in der Hand habe! – auf den Seward sein Tagebuch zu sprechen pflegte, zu dessen Abschrift seine neue Verbündete Mina sich seit kurzem freiwillig verdingte. Ich erkannte in ihr fast auf den ersten Blick Lucys Freundin wieder, jenes Mädchen, das gekommen war, um Lucy zur Mitternacht vom Friedhof in Whitby nach Hause zu bringen. An Minas Hand schimmerte jetzt ein Ehering, wo ich zuvor keinen bemerkt hatte; doch hegte ich keine Zweifel, dass sie es war. Gerade betrat eine Hausbedienstete das Zimmer, und Minas Stimme, die schwach durch die bleigefasste Fensterscheibe drang, als sie kurz mit dem Mädchen sprach, war dieselbe, die auf der hohen Ostklippe Whitbys »Lucy! Lucy!« gerufen hatte, damals in jener Augustnacht, die bereits so weit zurückzuliegen schien.
Die Bedienstete verließ den Raum, und wenige Augenblicke später trat ein stämmiger Mann von etwa dreißig Jahren ein. Er besaß ein ziemlich strenges, gebieterisches Aussehen, obwohl die Stimme, mit der er sprach, eher sanft war: »Und wie schreitet die Arbeit voran?« Minas Maschine hörte auf zu klicken, und sie nahm ihren Kopfhörer ab. »Langsam aber stetig, Dr. Seward.« »Ich verspreche mir eine große Hilfe davon, es alles lesbar in verschrifteter Form vorliegen zu haben, Mrs. Harker.« Was Mina antwortete, weiß ich nicht. Ich hockte ganze zwei Minuten dort auf dem Fensterbrett und blinzelte mit meinen kleinen Fledermausaugen wie betäubt von dem neuerlichen Keulenschlag des Zufalls. Als ich mich schließlich abwandte und in die Luft aufschwang, befand ich mich bereits jenseits der Umfriedungsmauer in Carfax, ehe mir wieder einfiel, dass dies kein sicherer Ruheort mehr für mich war. Also flog ich weiter zu einem meiner neuen Verstecke, in Bermondsey gelegen, voller Dankbarkeit, dass mein Vorhaben, überall Kisten zu verteilen, bereits so weit gediehen war, und grübelte darüber nach, welche neuen Fallstricke mir das Schicksal in den Weg gelegt haben mochte. Dass Harker und seine Frau inzwischen mit Seward bekannt waren, bedeutete keine Überraschung; aber dass die Gattin meines Gastes, den ich in Transsylvanien zurückgelassen hatte, zufällig jenes zweite Mädchen sein sollte, das mir in England unter die Augen gekommen war, war eine verblüffende Überschneidung. Harker weilte zu jener Zeit in Whitby, wo er versuchte, meine Fährte aufzunehmen. Sein jüngstes Treffen mit Van Helsing hatte ihn derart weich gekocht, dass er sich in einen meiner begierigsten Verfolger verwandelt hatte. Doch wie sich erwies, gab es in Whitby nicht viel für ihn in Erfahrung zu bringen, abgesehen davon, dass meine Kisten nach England verschickt worden waren; und am nächsten Tag, dem
dreißigsten September, befand sich Harker wieder in Purfleet, in der Irrenanstalt, wo seine Frau bereits Gasträume bewohnte. Am selben Tag stießen Van Helsing, Arthur und Quincey Morris dort zu ihnen. Als ich in jener Nacht wiederkehrte, um die Anstalt erneut auszuspähen, ließ ich mich sofort auf einem hohen Fensterbrett vor Sewards Arbeitszimmer nieder; und mit der Empfindung, dass mir das Glück endlich einmal zulächelte, sah ich, dass die Fensterläden ein wenig offen standen und vor meinen Augen ein Kriegsrat im Gange war. Van Helsing präsidierte am Kopf eines großen Tisches, zu seiner Rechten Mina, die ein aufgeschlagenes Mitschriftbuch auf ihrem Schoß hielt, in der Funktion einer Stenografin. Neben ihr saß ihr Ehemann, dem Aussehen nach zur Gänze genesen. Am anderen Ende des Tisches hatte rechter Hand von Dr. Seward ein groß gewachsener junger Engländer Platz genommen, offenbar ein Mitglied der oberen Gesellschaftsschichten – Arthur, wie ich bald erkannte – und linker Hand, nahe am Fuß des Tisches, ein junger Amerikaner mit frischem Gesicht, Quincey Morris. Wie üblich sprach Van Helsing, während seine Schüler lauschten. Die Mienen spiegelten unterschiedliche Gefühle, von Grauen über Unglauben bis zu einer Art von Stumpfheit, die noch nicht direkt auf Langeweile hinauslief. Der Gegenstand des Vortrags war von einer Art, welche seine handwerklichen Mängel in den Hintergrund treten ließ. »Er hat eine Schlauheit von über Menschenmaß«, lauteten die ersten Worte, die ich erlauschte, »denn seine Schlauheit erwuchs mit Jahrhunderten; er hat Hilfe auch der Nekromantie… und gebietet allen Toten, an die er nahe kommen kann; er ist grausam, und noch mehr als grausam… Er kann in Grenzen erscheinen und verschwinden wie er will und wo, und in jeder Gestalt, die seine ist. Er kann in seinen
Grenzen den Elementen gebieten; dem Sturm, dem Nebel, dem Donner; er kann all den niederen Wesen gebieten; der Ratte und der Eule und der Fledermaus – der Motte und dem Fuchs und dem Wolf…« Hätte ich dem Bandwurm und der Kopflaus gebieten können, ich hätte sie ihm zuhauf an den Hals geschickt. Doch abgesehen von dem abergläubischen Blödsinn über Nekromantie entwarf er einen recht guten Steckbrief des Gesuchten, über dessen Identität keiner seiner Zuhörer im Zweifel war. Der beschwörende Wortstrom plätscherte endlos fort. Etwas von derselben Benommenheit, die ich auf den adeligen Zügen Lord Godalmings beobachtete, begann fraglos meine eigenen schwachen kleinen Fledermausaugen zu trüben, während diese Litanei uns beide berieselte. »Denn wenn wir in diesem Kampf liegen unter, sicherlich er muss gewinnen, und wo dann enden wir? Leben ist nichts; mir schert es nicht. Aber hier zu liegen unter bedeutet nicht nur Leben oder Tod; es bedeutet unser Werden wie er… abscheuliche Wesen der Nacht…« Harker hatte die Hand seiner Frau umfasst, womit er ihr Kurzschriftprotokoll behinderte; nicht dass diese Unterbrechung sie besonders zu kümmern schien. Ich war überrascht, so etwas wie einen Stachel der Eifersucht zu verspüren, den ich jedoch energisch unterdrückte. Als der Professor eine Atempause einlegte, tauschten die Frischvermählten einen verliebten Blick aus. »Ich nehme die Herausforderung an, was Mina und mich betrifft«, sagte Harker daraufhin fest. Also hatte er anscheinend doch zugehört. Und Mina, die gerade selbst den Mund aufgemacht hatte, besann sich eines Besseren und behielt ihre eigene Meinung lieber für sich.
»Zählen Sie auf mich, Professor«, verkündete der junge Amerikaner in schleppendem texanischem Akzent, der mir zu jenem Zeitpunkt recht sonderbar in den Ohren klang. »Ich bin dabei«, sagte Lord Godalming. »Allein schon um Lucys willen.« Daraufhin erhoben sich alle und legten über dem Tisch ihre Hände ineinander; ihre mörderische Verschwörung gegen mich wurde durch einen höchst feierlichen Pakt besiegelt, und mit einem matten Seufzer erkannte ich, dass ich vielleicht würde töten müssen, und mehr als einmal, um ihnen in die Parade zu fahren. Aber wie sollte ich dann mein Streben nach Frieden weiter verwirklichen? Die Versammlung nahm wieder Platz, und Van Helsing holte zu einer neuen Tirade aus. Ich musste am Fenster fast eingedöst sein, denn irgendwie war mir Morris’ scharfer Blick in meine Richtung entgangen; und als ich ihn aus dem Winkel meiner kurzsichtigen Fledermausaugen aufstehen und das Zimmer verlassen sah, dachte ich nur, dass er dem Ruf der Natur folgte oder dass eine angeborene Intelligenz ihm untersagte, sich das weiter anzuhören. Es entstand eine kurze Pause, während die Übrigen seinen Abgang verfolgten, einige nicht ohne Neid, jedoch ohne etwas zu sagen. Dann nahm der Professor seinen Faden wieder auf: »Wir wissen, dass vom Schloss nach Whitby fünfzig Kisten mit Erde kamen, von denen alle nach Carfax wurden gebracht; auch wissen wir, da wir dort sahen Karren und Tagwerker, dass wenigstens von diesen Kisten ein paar wieder wurden weggebracht. Mir kommt es vor, als sollte unser erster Schritt sein, hervorzufinden, ob all der Rest blieb im Haus oder ob noch weiter ein paar wurden wegverbracht. Wenn das letzte, ihre Spur wir müssen…«
Die Kugel aus Morris’ Pistole traf mich von hinten und durchschlug den oberen Teil meiner rechten Schwinge und dann das rechte vordere Viertel meines kleinen Schädels; wäre ich eine echte Fledermaus gewesen, hätte mein kleiner pelziger Körper einmal gezuckt und wäre tot vom Fensterbrett gefallen, ohne einen einzigen Flügelschlag zur Flucht getan zu haben. Wie die Dinge jedoch lagen, fühlte ich den Schmerz und den Schock, den die überschallschnelle Bahn der Bleikugel durch das fremdartige Gewebe meines Fleisches auslöste, bevor sie ihren Weg fortsetzte, ohne Blut zu verspritzen oder Haut zu zerfetzen. Fensterglas splitterte, und die Kugel zerschmetterte den oberen Teil des Fensterrahmens, bevor sie als Querschläger durch das Zimmer pfiff, wo Mina in ängstlichem Erschrecken aufschrie. Meine Regung unterdrückend, in menschlicher Gestalt vom Fensterbrett hinabzusteigen und den Verursacher der Schmerzen, die meinen Körper noch immer durchschauerten, in seine Bestandteile zu zerlegen, schwang ich mich stattdessen in die Luft empor. Ich flog in den bewaldeten Teil des Grundstücks, wo ich wieder zur menschlichen Gestalt zurückkehrte, mich gegen einen Baum lehnte und nachzudenken versuchte. Die Schmerzen des Revolvertreffers verebbten nur langsam, wie ein Gezeitenstrom flüssigen Silbers durch meine singenden Nervenbahnen. Die Wirkung war schlimmer als wenn ich in voller Größe angeschossen worden wäre. »Tut mir Leid«, erklang Morris’ Stimme aus der Richtung des Hauses. Aber er hatte nicht zu mir gesprochen. »Fürchte, ich hab’ Sie aufgeschreckt. Ich komm’ gleich wieder rein und erklär’ Ihnen alles.« Daraufhin hörte ich, wie eine Tür geöffnet und geschlossen wurde. Später erfuhr ich, dass Morris mich auf dem Fenstersims gar nicht erkannt hatte; allerdings hatte er es sich seit kurzem zur Gewohnheit gemacht, auf jede
Fledermaus zu ballern, die ihm ins Blickfeld geriet. Er hasste diese Tiere, seit meine atmenden, flatternden südamerikanischen Namensvettern eines seiner Lieblingspferde mit Tollwut infiziert hatten. Wie auch immer, es war an der Zeit für mich, meinen Beobachtungsposten zu verlassen, denn ich hatte genug erfahren. Die Feindesmacht würde, verspätet aber wild entschlossen und bedenkenlos, nach Carfax kommen. Was sollte ich tun? Mein Eigentum mit Gewalt gegen die Eindringlinge verteidigen? Doch das alte Gegenargument war so gültig wie zuvor: Je erfolgreicher ich gewaltsam gegen meine Feinde vorging, desto mehr Öffentlichkeit würde mir zuteil. Van Helsing im Krieg zu besiegen, darauf durfte ich wohl hoffen, nicht jedoch ganz England. Nein, Verstohlenheit und Schläue blieben meine wirkungsvollsten Waffen und mit dieser Erkenntnis im Kopf hielt ich meinen eigenen einsamen Kriegsrat und schmiedete meine Pläne… Meine Feinde waren mutig genug, vielleicht auch eher tollkühn genug, ihren Angriff noch in eben dieser Nacht durchzuführen. Mina ließen sie natürlich in den gemütlichen Gasträumen der Harkers zurück. Die Männer hatten beschlossen, dass sie von nun an gerade soviel von ihren gefährlichen Abenteuern erfahren sollte, wie ihr zartes weibliches Gemüt verkraften konnte; und obwohl sie in ihrem Tagebuch festhielt, dass diese ritterliche Behandlung ihr eine »bittere Pille« zu schlucken gab, gelangte sie zu dem Schluss, dass sie »nichts dagegen einwenden« konnte und ging folgsam zu Bett. Ich verbrachte den Rest der Nacht auf Wachtposten zwischen meinen Bäumen und war wenig überrascht, als die fünf Männer etwas unbeholfen über meine Mauer geklettert kamen, in den Händen ihre Taschen mit ihren Einbrecherwerkzeugen. Sie näherten sich meinem Haus so verstohlen sie konnten,
wobei sie sich möglichst in den Schatten hielten, so als ob sie sich gerade dort sicherer fühlten, wo nur Gott und Dracula in der Lage waren, jeden kleinsten ihrer Schritte zu verfolgen. Vor meinem Hauptportal machten sie Halt, und Van Helsing verteilte Knoblauch an die ganze Mannschaft und Kruzifixe sowie – gegen »Feinde welche eher weltlich«, wie er es flüsternd ausdrückte – Messer und Revolver. Die gut ausgerüsteten, wenn auch etwas schwerfälligen Abenteurer nahmen desgleichen kleine tragbare elektrische Lampen in Empfang, die sie an ihren Kleidern einhaken konnten; und als Letztes, wenn auch kaum als Geringstes, erhielt jeder ein kleines Kuvert gleich jenem, das Van Helsing bei unserer Begegnung auf Lucys Friedhof umklammert hatte, mit einem Stück der heiligen Hostie darin. Es war ein verlockender Gedanke, mich ihrer Gruppe heimlich anzuschließen, während sie sich in der Dunkelheit vor dem Eingangsportal herumdrückten, vielleicht ein paar Waffen aus Van Helsings Tasche zu stibitzen und später sachte ein paar Worte in sein Ohr zu flüstern, falls ich ihn alleine in einem finsteren Zimmer im Inneren des Hauses erwischte. Aber mir fehlte die Zeit für derartige Späße, und so begnügte ich mich damit, ihre Vorbereitungen aus den Schatten einiger Bäume heraus zu beobachten. Ich wollte sichergehen, dass sie sich im Haus befanden und vollauf beschäftigt waren, bevor ich meine eigene Exkursion antrat. Nachdem sie endlich so weit waren, öffneten die Eindringlinge meine Vordertür mit einem Dietrich und zogen sie unter lautem Ächzen der Scharniere auf. Sie hielten inne, um die Gnade Gottes für ihr Unternehmen zu erflehen, dann überschritten sie meine Schwelle. Alles in allem fanden sie ihren Besuch von nun an nicht allzu vergnüglich. Harker beschwerte sich in seinem Tagebuch über einen »widerlichen Gestank« sowie den Staub, den sie an jenem »abscheulichen
Ort« zu ertragen hatten, wo sie zu ihrem weiteren Missfallen entdeckten, dass nur noch fünfundzwanzig meiner fünfzig Kisten vorhanden waren. Um meine Gäste zu unterhalten, während dringende Geschäfte meine Anwesenheit andernorts erforderlich machten, hatte ich von umliegenden Feldern und Bauernhöfen ungefähr hundert Ratten zusammengerufen – Harker schreibt von »Tausenden«, eine unter den obwaltenden Umständen verzeihbare Übertreibung – und trug ihnen auf, den Besuchern so ungezwungen wie möglich Gesellschaft zu leisten. Dies wussten die Männer aber nicht zu würdigen und zerschlugen meine Hilfstruppen mit Hilfe eines Trios von Terriern, das Arthur in weiser Voraussicht oder auch nur aus Zufall mit zur Anstalt gebracht hatte. Indessen hatte ich nicht abgewartet, um den Krieg gegen die Ratten mitanzusehen. Ungefähr zur selben Zeit, als Lord Godalming seine Hunde herbeipfiff und die übrigen Eindringlinge Staubflocken aushusteten und Spinnweben beiseite wischten, näherte ich mich dem Zellenfenster des geisteskranken Renfield im Erdgeschoss der Anstalt. Woher auch immer seine seltsame Empfänglichkeit rührte, er spürte mein Nahen und sogar meinen Schweigewunsch; denn obwohl seine Freude über dieses Ereignis fast zuviel für ihn war, hielt er sich mit jeder äußeren Bekundung derselben zurück. Mit weit aufgerissenen Augen, die ergrauten Haare ein wildes Gefilz um sein von grauen Bartstoppeln überwuchertes rundes Gesicht, das verzerrt war vor Anstrengung, seine irrsinnige Erregung zu unterdrücken, erwartete er mich inmitten der schäbigen Aufgeräumtheit seines Zimmers. Zwischen den Eisenstäben seines jüngst vergitterten Fensters hindurch offenbarte ich ihm mein Gesicht und bezeigte mit einem Wink meinen Wunsch, hereingebeten zu werden.
Er brauchte einen Augenblick, ehe er sich so weit in der Gewalt hatte, um die verlangte Einladung auszusprechen: »TTre-tet ein, Herr und Meister!« Und als ich zwischen den Stangen des Fenstergitters hindurchglitt, verneigte er sich ohne Ende, so als stehe er vor einem Kaiser. Später sollte der sterbende Renfield den Ärzten erzählen, ich hätte ihm, damit er mir Einlass gewährte, die Leben von Ratten und Fliegen versprochen, die schon länger seinen Gaumen gekitzelt hatten. Dies stimmt jedoch nicht. Natürlich hätte ich dies und noch viel mehr getan, um in sein Zimmer zu gelangen, doch waren weder Versprechungen noch Geschenke notwendig, um Renfield auf meine Seite zu ziehen. Ich war bereits Gegenstand seiner Anbetung, wenn auch aufgrund einer Fehlannahme seinerseits, deren Natur ich aber erst bei einem späteren Treffen mit ihm zur Gänze begreifen sollte. Es waren keine Ratten und Käfer, die er von mir verlangte; diese Art Leben konnte er sich selbst oder mit Hilfe seiner Wärter beschaffen. Tatsächlich waren es Frauen, die er von mir erflehte und nach deren Leben und Leibern ihn gleichermaßen gelüstete. Diese Wahrheit kam in den prüden Tagebüchern meiner Feinde nie recht zum Vorschein, dennoch traf es zu. Und seit er sie am Tage ihrer Ankunft zum ersten Mal gesehen hatte, war es speziell Mina, die er haben wollte. Sie war die Gnadengabe, die er von mir begehrte, der Lohn all seiner Gebete. Diese Begehren, vorgetragen in einer leisen, vernünftigen und Schreck erregend ernsthaften Stimme, flossen von seinen Lippen, kaum dass ich erstmals in seinem Zimmer stand. Selbst der kurze Zeitraum, den ich zum Überqueren seines abgenutzten Teppichs bis zur Zimmertür benötigte, reichte ihm, mir in mehreren geschmacklosen Varianten kundzutun, was er mit diesem frischen jungen Mädchen anzustellen gedachte, sobald sie sich erstmal in seiner Gewalt befand.
Er war geisteskrank, ganz ohne Frage, und ich schenkte diesen Äußerungen damals wenig Beachtung, gewährte ihm jedoch ein Lächeln und nickte ihm zu, als ich an ihm vorbeiging. Ebenso wenig, dachte ich mir, würden die Ärzte ihm Beachtung schenken, wenn er von meinem Besuch erzählte. Ich legte mein Ohr an die Ritze seiner massiven, verschlossenen und verriegelten Zimmertür, und als ich mich überzeugt hatte, dass der Flur dahinter menschenleer war, sickerte ich hindurch. Ich fand mich in einem Korridor wieder, der fast durch das gesamte Haus verlief. In den angrenzenden Räumen verursachten Bedienstete und Insassen ihre unaufdringlichen Geräusche verschiedenster Art, doch im Moment war niemand in Sicht. Hinter seiner Zimmertür verhielt Renfield sich ruhig, ob aus Enttäuschung oder Befriedigung, war mir egal. Ich geisterte in Nebelform umher, bis ich eine Treppenflucht gefunden hatte, schwebte diese empor und durchquerte beinahe unsichtbar einen weiteren Gang. Wenn meine Einschätzung bezüglich der Innenaufteilung des Hauses und der von mir zurückgelegten Entfernungen zutraf, musste ich mich vor der Tür jener Räume befinden, welche die Harkers zurzeit bewohnten. Der obere Korridor war gegenwärtig ebenso verlassen wie es der untere gewesen war, aber ruhiger. Ich kehrte zur menschlichen Gestalt zurück, nahm meinen Hut ab und klopfte höflich an Minas Tür. »Ja?«, drang sogleich die Antwort in ihrer vertrauten Stimme durch die Tür. Offenkundig hatte sie noch nicht geschlafen. »Mrs. Harker?«, rief ich sanft. »Ich bin ein Nachbar von Dr. Seward und habe eine Nachricht, die ihren Gatten betrifft.« Im Zimmer wurde eiliges Füßetappen laut, ebenso das Rascheln eines Hausmantels, der übergeworfen wurde, und einen Augenblick später ging die Tür auf und offenbarte eine
Art kleinen Wohnzimmers, gemütlich eingerichtet, mit einer zweiten Tür am anderen Zimmerende, die wohl zu einem Schlafgemach führte. Minas Gesicht, eher breit, aber attraktiv, fest und intelligent, blickte mich aus dem Rahmen ihrer braunen Locken an. »Ist Jonathan etwas zugestoßen?« Sie schien in der Lage, schlechte Neuigkeiten gefasst zu ertragen, wenn sie eintrafen. »Nein, nein«, beeilte ich mich zu versichern, nun, da ich den Fuß gewissermaßen in der Tür hatte. »Zumindest war er noch vor kurzem bei guter Gesundheit und recht gut bei Laune.« Bei meiner Antwort bemerkte ich, dass ihre Sorge um ihren Gemahl, wenngleich aufrichtig, so doch nicht im Geringsten übertrieben wirkte, oder auch nur so tief, wie man angesichts der Umstände hätte erwarten dürfen. Auch sah ich in ihren Augen, dass sie mich wiedererkannte oder zumindest kurz davor stand. Wie das möglich sein konnte, war mir unklar, wusste ich doch bisher nicht, dass sie mich am Piccadilly beobachtet hatte, allerdings begriff ich, dass die Situation eine höchst delikate Vorgehensweise erforderte. »Sie werden verstehen«, setzte ich mit einer Stimme hinzu, in die ich so viel nüchterne Sachlichkeit legte, wie ich nach über vierhundertjähriger Übung nur vermochte, »dass Umstände von einiger Dringlichkeit es erzwingen, mich selbst bei Ihnen vorzustellen. Ich bin Graf Dracula.« Sie vollendete die Bewegung, die sie bereits begonnen hatte, und wich einen halben Schritt ins Zimmer zurück. Fast war sie versucht, mir die Tür ins Gesicht zu schlagen. Doch ich stand da, in der Haltung eines vornehmen männlichen Besuchers, gekleidet nach der Mode der Oberklasse. Ich versuchte nicht, gewaltsam einzudringen, wirkte nicht bedrohlich, aber überaus eindrucksvoll; ich bezweifle, dass irgendein viktorianisches Mädchen den Schneid besessen hätte, diese Tür zuzuwerfen. Dazu lächelte ich, und ich weiß, wie man Frauen anlächelt, da
ich auch diese Kunst über vierhundert Jahre lang vervollkommnen konnte. Meine Augen versenkten sich in ihre… Ich schlug sie nicht in einen hypnotischen Bann; solches vermag ich gegen den festen Willen der zu hypnotisierenden Person überhaupt nicht. Doch schien genau das mit ihr geschehen zu sein, als sie halb gegen ihren Willen vor mir stehen blieb, während eine ihrer Hände, von ihrer Sommerfrische noch leicht gebräunt, die Tür aufhielt, und die andere emporfuhr, um den Kragen ihres Hausmantels fest um ihren Hals zu raffen. Sie hatte ihren süßen Mund halb geöffnet, als wolle sie Hilfe herbeirufen, blieb jedoch stumm. Dann schüttelte sie ihren Kopf, während ihre wunderschönen Augen an mir hingen und mich verzehrten, bis ich mich selbst fast wie unter Hypnose zu fühlen begann. »Gestatten Sie mir, einzutreten, Madam? Es gibt einige Dinge von allerhöchster Wichtigkeit, die ich mit einem Vertreter dieses Haushalts besprechen muss, und ich hege den Verdacht, dass Sie das intelligenteste seiner Mitglieder sind. Glauben Sie mir, dass Sie nicht den geringsten Anlass haben, um Ihre eigene Sicherheit zu fürchten.« Als Mina sich noch immer nicht rührte, fügte ich hinzu – ganz ruhig, obwohl ich jetzt einen Bediensteten die Treppe heraufkommen hörte: »Mein Besuch betrifft tatsächlich die zukünftige Sicherheit Ihres Gemahls.« Nachdem sie nun einen annehmbaren Grund besaß, mich einzulassen, trat Mina zurück, und ich schritt in das Wohnzimmer und schloss die Tür hinter mir. Fast wie betäubt, wies sie auf einen Stuhl. »Möchten Sie Platz nehmen?« Als ich darauf einging, setzte sie sich selbst höchst dekorativ auf einen anderen Stuhl und sagte dann in stockenden Worten: »Graf… Sie… falls ich Ihre Worte durch
die Türe recht verstanden habe, bezeichnen Sie sich selbst als unser Nachbar?« »Ich habe diese Ehre, Madam!« Ich hielt meinen Zylinder fest auf den Knien. »Mein Besitz, Carfax, liegt unmittelbar hinter der hohen Steinmauer, die, wie Sie sicherlich bemerkt haben, nördlich an dieses Grundstück grenzt.« Sie nickte, noch immer benommen. »Ihr Gemahl, bedaure ich sagen zu müssen, befindet sich eben jetzt in meinem Haus, gemeinsam mit Lord Godalming, den Doktoren Seward und Van Helsing und einem amerikanischen Gentleman, falls dies die rechte Bezeichnung ist, der am vergangenen Abend einen Schuss auf mich abfeuerte.« »Quincey Morris«, entfuhr es Mina atemlos. Ich nahm die Information entgegen, indem ich mich aus dem Stuhl heraus leicht verneigte. »Heute nacht versuchen sie mich aufzuspüren. Gelänge es ihnen, würden sie alles daran setzen, mich mit einem Holzpflock zu durchbohren und mir dann den Kopf abzuschneiden.« Ich lächelte leicht, womit ich sie einlud, zuzugestehen, wie lachhaft das Ganze doch klang. »So wie sie es mit Lucy taten«, murmelte Mina leise, und aus ihren Worten hörte ich heraus, wie ihre Furcht anfing, gerade erst anfing, wieder emporzusteigen. »Eine überaus schockierende Angelegenheit, diese Sache mit Miss Westenra.« Ich nickte und legte einen betrübten Ausdruck in meine Miene. »Meine liebe Mrs. Harker, vor sich sehen Sie einen Mann, der – ganz furchtbar missverstanden wird.« Ich senkte meinen Blick vor dem ihren, so als habe Schüchternheit mich überkommen. »Lassen Sie mich Ihnen abermals versichern, falls es noch erforderlich ist, dass Sie für Ihre Person nicht den allergeringsten Grund zu der Befürchtung haben, ich könnte Ihnen irgendein Leid a-antun.« Man achte auf das einzelne vorsätzliche Stottern. Damit kriegst du sie immer, wie die Amerikaner vielleicht sagen würden.
»Warum auch, liebe Frau, sollte ich Ihnen ein Leid zufügen?«, setzte ich nach. »Sie sind es nicht, die auf meinen Grund und Boden eindringen, in mein Haus einbrechen, mein Eigentum zerstören, die todbringende Waffen gegen mich durch die Nacht transportieren.« Jetzt hob ich den Blick wieder. »Ihr Gemahl, muss ich zu meinem großen Kummer sagen, unternimmt all diese Dinge, unternimmt sie ohne Unterlass, und aufgrund unglücklicher Missverständnisse wird er vermutlich diesen wahnsinnigen Weg weiter beschreiten, bis er einmal Schaden nehmen wird. Jawohl: Schaden! Was aber soll ich tun? Wie kann ich es möglicherweise verhindern, ohne jede Hilfe? Die Männer sind einer wie der andere unter den Einfluss des fanatischen Van Helsing geraten, und ihre Augen und Ohren sind blind und taub gegen jeden dringenden Appell meinerseits. Es ist meine bescheidene Hoffnung, dass ich mit Ihrer Unterstützung und Weisung einen Weg finden möge, sie eines Besseren zu belehren, ihre Schritte auf den Weg der Geistesklarheit und der Gefahrlosigkeit zurückzulenken, bevor es zu spät ist!« Noch hatte Mina sich von meinem Auftauchen nicht ausreichend erholt, um zu sich selbst und ihrem gewohnten blitzgescheiten Verstand zurückzufinden. »Zu spät wofür, Graf Dracula?« Ich beugte mich zu ihr vor und sagte langsam: »Zu spät für ihr eigenes Wohlergehen, meine liebe Mrs. Harker. Ich habe nicht vor, mich umbringen zu lassen. Was sie Lucy angetan haben, sollen sie nicht auch mir antun.« »Ich verstehe das nicht«, murmelte die Dame und erhob sich, um sich sogleich wieder hinzusetzen, den Blick unverwandt auf mich geheftet. »Ich fürchte, ich verstehe es ganz und gar nicht. Vielleicht träume ich auch nur.« Ich schüttelte den Kopf und saß weiterhin in würdevoller Pose da, den Zylinder auf dem Schoß haltend.
»Graf – hat keiner der Bediensteten angeboten, Ihnen den Hut abzunehmen?« »Die Bediensteten wissen nichts von meinem Hiersein, gnädige Frau. Ich hielt es für klüger, eine hochvertrauliche Unterredung mit Ihnen zu suchen.« »Graf Dracula – denn dieser scheinen sie wahrhaftig zu sein – wie können Sie die furchtbaren Dinge erklären, die meinem Mann widerfuhren, während er auf Ihrem Schloss weilte?« »Gnädige Frau, ich selbst verließ das Schloss, bevor er es tat. Wie lang genau er nach meiner Abreise noch blieb, oder was ihm in dieser Zeit widerfuhr, vermag ich nicht zu sagen, wenn mir auch vielleicht eine gewisse prinzipielle Verantwortung dafür zukommt. Was aber all das betrifft, was ihm auf Schloss Dracula widerfuhr, bevor ich abreiste, so gebe ich Ihnen gerne eine Erklärung zu jedem Punkt, den Sie erhellt haben möchten.« »Mein werter Herr Graf…« Ich straffte mich. »… wer waren diese drei Frauen?« Binnen einer halben Stunde plauderten wir mehr oder weniger ungezwungen miteinander. Der süßen Mina war es unangenehm, mir keine Erfrischung anbieten zu können, doch ich versicherte ihr, dass ich weder trank noch speiste. »Mit einer Ausnahme freilich und selbst damit verhält es sich nicht genau so, wie Sie es wohl vermuten.« »Nein? Dann müssen Sie mir erläutern, wie es sich damit in Wahrheit verhält.« In jener Nacht sprach ich zu Mina fast so, wie ich zu einem intelligenten und teilnahmsvollen atmenden Mann gesprochen haben mochte, hätte es denn ein solches Wesen in meinem Universum gegeben. Ich streifte die ungewöhnlichen Aspekte meines Daseins nur flüchtig, stattdessen betonte ich meine Sehnsucht nach einem freien Leben ohne Versteckspiele, mein
schmerzliches Verlangen nach jemandem, auf den ich bei Bedarf zählen und vertrauen konnte, und mehr noch, das Fehlen auch nur eines Anflugs liebevoller Zuneigung in meinem Leben. Nicht dass ich all diese Bedürfnisse plump aufzählte, vielmehr ließ ich deren Vorhandensein nach und nach in ihr geistiges Blickfeld rücken. Es war seltsam, oder vielleicht gar nicht so seltsam, dass diese Frau von Beginn an auf den tiefsten Grund meines Herzens zu blicken schien. Ein wenig verspätet lenkte ich das Gespräch auf die Frage zurück, wie wir Jonathan und die anderen vor den Gefahren ihrer sturköpfigen Vorgehensweise bewahren konnten. Doch ehe Mina und ich irgendeine vielversprechende Einigung über die erforderlichen Handlungsmaßnahmen erzielen konnten, fing mein scharfes Gehör die Geräusche der erschöpften Jagdgesellschaft ein, deren Mitglieder mit schleppenden Schritten über das Anstaltsgelände heimkehrten. Als ich die unmittelbar bevorstehende Rückkunft ihres Ehegemahls ankündigte, schrak Mina empor. »Oh! Was wird geschehen, wenn man Sie hier entdeckt?« »Liebe Frau Mina, sie werden mich nicht entdecken: das heißt, sie werden es nicht, sofern Sie und ich rasch übereinkommen, dass ich Sie morgen Abend erneut aufsuchen darf. Oder wann immer Ihr Gatte sich das nächste Mal außer Hauses begibt. Wir müssen immer noch über eine Vorgehensweise entscheiden.« »Oh.« Sie horchte auf das Öffnen einer Tür im unteren Stockwerk, wo die Jäger mit ernsten, müden Stimmen eintraten, die für sie fast unhörbar sein mussten. »Ja, ja, Sie dürfen kommen. Ich begreife, dass wir uns beraten müssen, zu Jonathans eigenem Besten.« Ich verneigte mich und küsste ihre Hand, wandte mich dem Fenster zu und war im nächsten Moment verschwunden.
Kurz darauf schlich ihr Gemahl auf Zehenspitzen in ihr Schlafzimmer, wo er sie etwas blasser als gewöhnlich vorfand und, wie er glaubte, schlafend. Er setzte sich nieder und schrieb in sein Tagebuch, wobei er unter anderem seine Sorge um seine Frau erwähnte sowie eine Entscheidung, welche die Männer auf ihrem unrühmlichen Heimweg betreffs Mina gefällt hatten. Ich hoffe, die Besprechung von heute abend hat sie nicht zu sehr aufgeregt. Ich bin von Herzen dankbar, dass sie von unserem zukünftigen Tun, ja sogar von unseren Planungen fern gehalten wird. Es wäre mehr, als eine Frau zu ertragen vermag… daher muss unser Tun ein Buch mit sieben Siegeln für sie sein, zumindest bis die Zeit gekommen ist, da wir ihr sagen können, alles ist vorbei und die Erde um eine Ausgeburt der Hölle ärmer. Ich fürchte, es wird mir schwer fallen, die Geheimhaltung zu wahren, wo doch solches Vertrauen zwischen uns beiden herrscht; aber ich muss fest bleiben, und morgen werde ich nichts von unseren Taten der heutigen Nacht verlauten lassen und mich weigern, irgendwie über das Geschehene zu sprechen. Ich lege mich auf dem Sofa zur Ruhe, um die ihre nicht zu stören.
Viel später am selben Morgen, als die Sonne hoch am Himmel stand und die restlichen Mitglieder des Haushaltes alle auf den Beinen waren, musste Jonathan »zwei- oder dreimal rufen, ehe Mina erwachte«. Sie schien ihren Gemahl noch nicht einmal auf Anhieb zu erkennen, sondern starrte ihn zunächst »mit einer Art blanken Entsetzens« an. Ihr Leben hatte über Nacht eine Änderung erfahren, und noch konnten weder sie selbst noch ihr Ehemann im Geringsten erahnen, um welch bedeutende Veränderung es sich dabei handelte. Desgleichen besaß ich selbst keinerlei wirkliche Vorstellung davon,
welchem Wandel mein eigenes Leben von nun an unterworfen werden würde. Wie üblich schrieb Mina an diesem Tag, dem ersten Oktober, in ihr Tagebuch. Doch diesmal trug sie nichts von dem ein, was sich tatsächlich in der Nacht zuvor ereignet hatte. Vielmehr war es eine verblümte und verschlüsselte Art von Eintrag, der von einem Traum oder einem traumartigen Zustand handelte, worin sie Nebel über den Rasen kriechen und durch die Türritzen in ihr Zimmer hatte strömen sehen, und von einer verschwommenen Vision roter Augen. Sie zeigte ihn mir recht schüchtern, als eine Art mädchenhaften literarischen Versuchs, sobald ich am nächsten Abend wiederkam. Meine Feinde waren an diesem ersten Oktober von dem Versuch in Anspruch genommen, nachzuvollziehen, wo überallhin ich meine Kisten aus Carfax verlegt hatte. Mit dieser Aufgabe befasst, weilte Jonathan abermals außer Hauses, diesmal in Walworth, im Süden Londons, als ich bei Mina eintraf. Bei meinem neuerlichen Besuch entdeckte ich, dass ein Aufseher im Korridor vor Renfields Zimmer postiert worden war, offenbar um Wacht zu halten. Der Irrsinnige gebärdete sich plötzlich so ausgelassen, »fröhlich singend« und wie in alten Tagen Fliegen fangend, dass Seward misstrauisch geworden war. Renfield selbst hatte mich mit wilden Gesten, Grimassen und Daumenbewegungen auf die Gegenwart des Wachtpostens aufmerksam gemacht, sobald ich durch sein Fenster kam. Natürlich war ich nicht mehr länger darauf angewiesen, Renfields Bleibe zu durchqueren, um ins Haus zu gelangen, doch verspürte ich inzwischen eine gewisse Sorge um Mina, die ausgerechnet in Räumen untergebracht worden war, die unmittelbar über dem Zimmer dieses übermenschlich starken Mannes lagen, der danach gierte, sie zu schänden und
zu quälen. Ich wollte es nicht unversucht lassen, den Wahnsinnigen mit ein paar mäßigenden, besänftigenden Worten aus dem Munde seines Herrn und Meisters friedlicher zu stimmen. Doch zunächst musste ich mir den Aufpasser im Gang vornehmen. Es bedurfte keiner großen Anstrengung, diesen Posten, der schon kurz vor dem Einnicken stand, sicher in einen tiefen Schlaf zu versenken. Ich bewirkte dies, indem ich eine bestimmte elektrische Schwingung zwischen meinem Gehirn und dem seinen herstellte, eine Fähigkeit, die Ihre Wissenschaft gerade erst zu entdecken beginnt. Dann legte ich meine Hände auf Renfields Schultern und bedachte ihn mit ein paar sanften Worten. Er nahm sie recht unwirsch auf, wie mir schien. Es waren nicht Friede und Ruhe, wonach er verlangte. Aber ich hatte es wenigstens versucht… Ich ließ ihn ruhig, wenn auch nicht friedlich gestimmt zurück. Dann glitt ich gespenstergleich aus seinem Zimmer, vorbei an dem Wachtposten, der auf seinem Stuhl träumte, und die Treppe empor. Als ich an der Tür zu den Gasträumen der Harkers lauschte, vernahm ich aus ihnen das Atmen nur einer einzigen Lunge – der von Mina, wie ich bereits zu unterscheiden gelernt hatte. Ebenso erreichte meine empfindsamen Ohren das weiche, satte Schlagen ihres Herzens, ein ach so zartes Pumpen, welches ein solch reines Elixier durch ihre Adern sandte. Die Wurzeln der Fangzähne in meinem Oberkiefer schmerzten, als ich sacht an ihre Türe klopfte. Und bei meinem Pochen ging ihr Atem, den die Erwartung bereits beschleunigt hatte, noch ein wenig schneller… Falls man die Keuschheit als das bezeichnen darf, zu dessen Bewahrung ein Keuschheitsgürtel dient, dann verhielt sich Mina, wie schon Lucy vor ihr, mir gegenüber immer keusch. Doch da ich nun einmal der Wahrheit zu ihrem Recht
verhelfen will, muss ich berichten, dass Mina sich mir so vollständig hingab, wie sie konnte, und zwar bereits in jener Nacht, bei unserer zweiten Begegnung. Reichlich wenig kamen wir diesmal mit dem Pläneschmieden voran, sogar was uns selbst betraf und erst recht, was das künftige Wohlergehen ihres Gatten anging… Ah, Mina! Meine einzig wahre, unvergängliche Liebe! Angebetete, Herz meines Herzens… Bei seiner verspäteten Heimkehr an jenem ersten Oktober – will heißen: seiner Rückkehr in die Anstalt – traf Harker Mina tief im Schlafe an und fand sie…
… ein wenig zu blass; ihre Augen sehen verweint aus. Armes Liebes, ich zweifle nicht, dass es sie grämt, von uns im Dunkeln gelassen zu werden, und es mag ihre Sorgen um mich und die anderen verdoppeln. Und doch… ist es jetzt besser für sie, diese Unsicherheit und Angst durchzumachen, als dass die Belastung ihre Nerven zermürbt. Die Ärzte hatten ganz recht, als sie darauf bestanden, sie aus diesem grässlichen Geschäft herauszuhalten… Vielleicht wird das Schweigen ja am Ende doch keine so harte Pflicht für mich, da sie selbst zuletzt Zurückhaltung in Bezug auf diese Angelegenheit geübt und nicht mehr über den Grafen und seine Ränke gesprochen hat, seit wir ihr unsere Entscheidung mitteilten. Am nächsten Tag, dem zweiten Oktober, lag ich mit glasigem Blick in meiner Trance. An diesem Tag zogen Arthur und Quincey los, um sich Pferde anzusehen und vielleicht welche zu kaufen, falls irgendein Kavallerieeinsatz erforderlich werden sollte; sie waren ihrem Wesen nach Männer der Tat, deren Geduld unter Van Helsings Winkelzügen und Verzögerungen litt. Harker befragte weiterhin Fuhrleute, wodurch er systematisch die Lagerorte meiner Kisten aufspürte – obwohl er natürlich nicht herausgefunden hatte, dass einige
von ihnen nicht mehr ihre ursprüngliche Art von Erde enthielten. Seward hatte zu viel mit der Leitung der Anstalt zu tun, um irgendwelche Dummheiten zu machen; und einer der fortschrittlichsten Wissenschaftler seiner Zeit hockte dem Vernehmen nach im Lesesaal des Britischen Museums, und zwar »auf der Suche nach Mitteln gegen Hexen und Dämonen«, die, wie er Seward mitgeteilt hatte, »später mögen von Nutzen sein«. Mina konnte sich tagsüber ein wenig ausruhen, aber die geistige Anspannung ihrer zwiespältigen neuen Lage griff sie an, und als Harker am Nachmittag zu ihr zurückkehrte, machte sie noch immer einen erschöpften Eindruck auf ihn. Sie unternahm einen tapferen Versuch, heiter und fröhlich zu erscheinen… Es erforderte meine ganze Kraft, mich dem weisen Entschluss zu fügen, sie von unserer düsteren Aufgabe fernzuhalten. Irgendwie schien sie sich etwas besser damit abgefunden zu haben; oder vielleicht hat sie auch einen Widerwillen gegen die ganze Angelegenheit gefasst, denn wann immer eine versehentliche Anspielung darauf fällt, schaudert sie… Er hatte gerade erst mein Haus in Piccadilly aufgespürt, reif zur Plünderung; doch musste er bedauernd festhalten, dass er den anderen Männern keine Mitteilung von der großen Entdeckung des Tages machen konnte, so lange seine Frau bei ihm war. Daher brachte ich Mina nach dem Abendessen – wir machten noch ein wenig Hausmusik, um den Schein der Normalität selbst zwischen uns beiden zu wahren – in ihr Zimmer und ließ sie allein, damit sie zu Bett ginge. Das liebe Mädchen zeigte sich mir gegenüber noch anhänglicher als je zuvor und klammerte sich an mich, als wollte sie mich bei sich halten; doch es gab zuviel zu bereden, und ich machte mich los. Gott
sei Dank hat die Geheimniskrämerei nichts zwischen uns geändert. So manch ein gehörnter Gatte hat sich selbst belogen, denke ich mir, während ihm die letzte Chance, den ersten Platz im Herzen seines Mädchens zu behaupten, durch die Finger glitt, ohne dass er es merkte. Nun kommen wir zu einer Nacht, die einen weiteren Wendepunkt für uns alle bedeutete. Als ich nach Anbrach der Dunkelheit in Renfields Zimmer schlüpfte, saß er übellaunig auf einem Stuhl in der Mitte des kleinen Raums. Anscheinend hatte er den ganzen Tag über vor sich hin gebrütet und sich dabei eingeredet, dass ich ihn vorsätzlich getäuscht und irregeführt hätte, indem ich ihm erst Mina versprach und sie ihm dann zu meiner eigenen Ergötzung wegschnappte. Bei meinem Eintreten warf er mir einen scheelen Seitenblick zu und unterließ es zum ersten Mal, aufzuspringen und um mich herumzuscharwenzeln und mir seine Ergebenheit zu bekunden. Sein völliges Schweigen veranlasste mich, meine Schritte durch sein Zimmer zu verlangsamen und ihn genau anzusehen, wobei ich die Verschlagenheit mörderischen Wahnsinns bemerkte, die in seinen Augen glomm. Jetzt sprach er mich in einer überaus sanften und flehentlichen Stimme an und trug dabei die Miene völliger geistiger Gesundheit zur Schau, die er regelmäßig in seinen Auseinandersetzungen mit Seward und den anderen aufsetzte; aber Seward hatte dieser Anschein nie getäuscht und mich ebenso wenig. Renfield drängte mich abermals, ihm Mina zu seiner obszönen Lustbarkeit zu gewähren, so als wäre sie eine Sklavin oder Leibeigene, mit deren Körper und Liebesdiensten ich als Besitztümer nach Belieben verfahren könnte. Als ich genug davon hatte und mich anschickte, in Menschengestalt an
ihm vorbei zur Tür zu schreiten, explodierte er schließlich in frustriertem Zorn. »Gott, Gott, Gott!«, schrie er. »Dann werde ich sie mir selbst holen. Schon zweimal bin ich ausgebrochen und entflohen, um Euch mein Begehren vorzutragen; beim nächsten Mal werde ich gleich zu ihr gehen und mit ihr machen, was immer mir gefällt!« Er hatte noch einiges mehr mitzuteilen, vor allem gewisse Einzelheiten seines Vorhabens, die ich nicht wiederholen werde. Und damit warf er sich auf mich und griff mit den Klauen des Wahnsinns nach meiner Kehle. In all den Jahren, seit ich erstmals aus dem Grabe auferstand, habe ich niemals den Griff einer stärkeren Menschenhand verspürt; doch wenn Renfields Kraft in seiner äußersten Wahnsinnswut derjenigen von vier oder fünf starken Männern entsprach, so wiegt die meine schon im Normalzustand vier oder fünf tobende kraftvolle Irre seiner Art auf; und als ich jetzt seine Drohungen gegen Mina vernahm, stählte die Wut auch meine Muskeln. Es schenkte mir eine wilde Genugtuung, endlich Mann gegen Mann mit einem Feind ins Handgemenge zu kommen. Ich riss ihn wie eine Vogelscheuche empor und schleuderte ihn zu Boden, einmal, zweimal, ich weiß nicht wie oft. Ich hörte Knochen knirschen und brechen, und als ich von ihm abließ, bemerkte ich die unnatürlich verdrehte Haltung, in der er dalag. Sein Blut, sein Leben strömte haltlos aus verschiedenen Wunden seines Kopfes und Gesichts. Das Letzte was ich von Renfield sah, war seine verrenkte Gestalt inmitten einer wachsenden tiefroten Lache, die ich nur für Aas erachtete, als ich ihm den Rücken zukehrte und meiner Geliebten entgegeneilte, die in ihren Räumen auf mich wartete. Die Auseinandersetzung hatte genug Lärm verursacht, um den dösenden Wärter im Korridor aufzuwecken. Dieser beeilte sich nach einem schnellen Blick durch das
Beobachtungsfenster, Seward Meldung von dem »Unfall« zu erstatten. Ich hatte mich selbst so gut wie unsichtbar gemacht, ehe der Mann durch den Türspion hereinsah, und zu dem Zeitpunkt, als Seward sich in Renfields Zimmer hinunterbegeben hatte, war ich ein Stockwerk höher in dem von Mina, wo Harker in rechtschaffen biederer Erschöpfung auf seinem Kissen schnarchte, und wo meine Herzensdame in ihrem Nachtgewand am Fenster saß und in die Nacht hinausblickte, so als suchte sie den Trost des Mondes oder vielleicht auch ein Paar flatternder Schwingen. Mein Eintritt erfolgte vollkommen lautlos, doch sogleich war sie sich meiner hoch gewachsenen Gegenwart nahe der Tür irgendwie bewusst und sah sich mit einem scharfen Atemzug um. »Was tust du hier?«, fuhr sie mich in einem wütenden Flüstern an, während ihr Blick zwischen der schlafenden Gestalt ihres Gatten und mir hin und her flog. Ich warf ihm einen Blick zu und horchte auf seinen Atem und achtete auf die Rhythmen seines Herzens und seines schlummernden Gehirns. »Jonathan wird uns nicht stören«, versicherte ich und fuhr fort: »Es gibt Neuigkeiten. Der Irre Renfield aus dem Erdgeschoss war wild entschlossen, die Stelle deines Mannes wie auch meine einzunehmen; ich kühlte seine Leidenschaft im Vorbeigehen ziemlich ab, du kannst also heute Nacht wie immer unbesorgt schlafen.« »Unbesorgt schlafen?«, rief sie. »Guter Gott, Vlad, wie könnte ich das?« Einen langen Augenblick lang starrte Mina mich an als sähe sie mich erst jetzt zum ersten Male wirklich. »Demnach ist Renfield tot?« Ich verbeugte mich leicht. »Es geschah, um Euer Leben zu beschützen, Dame meines Herzens, welches mir wertvoller ist als mein eigenes.«
»Oh, Vlad.« Ihre Stimme sank kurz zu einem Flüstern baren Grauens herab. »Und du und Jonathan jagt einander wie… wie…« »Ich bin es nicht, der ihn jagt, Liebes.« Vom Bett her ertönte ein blasierter Schnarcher. Ich fuhr fort: »Mir stehen nun andernorts relativ sichere Aufenthaltsorte zur Verfügung, weitab von Carfax, und ich werde mein Anwesen verlassen. Wir werden nicht mehr länger Nachbarn sein.« Mina kam in meine Arme, seufzte leicht, als ich sie liebkoste, und trat dann zurück, wobei sie stolz den Kopf hob, um mir in die Augen zu blicken. »Nimm mich mit!«, verlangte sie. Es trat eine kurze Stille ein, während dessen ich vergebens nach einfühlsamen und besänftigenden Worten suchte. Abermals erklang ein schwaches, schlaffes Schnarchen vom Bett her. Ein Stockwerk unter uns rannten Füße, und die Schritte eines Wärters nahmen eilig die Stufen zu unserem Geschoss, kamen jedoch nicht an unsere Tür. Ich konnte den Mann an eine andere Türe, vielleicht der von Van Helsing, klopfen und dann in gedämpftem, dringlichem Tonfall sprechen hören. »Weißt du, was du da von mir verlangst?«, fragte ich schließlich. »Du willst mich also nicht mitnehmen? Aber ich halte diese… diese Anspannung… nicht mehr länger aus.« Unser beider Stimmen waren nahe daran, zu brechen, und ich konnte nicht länger widerstehen. Mina warf ihre Arme hoch, und ich fing ihren weichen Körper auf, drückte ihn – ah, so zärtlich, liebevoll, meine Hände mit der Kraft von zwanzig Männern solch köstlicher Beherrschung unterwerfend – drückte sie an mich, und meine Lippen suchten die ihren bevor sie abwärts wanderten, um ihrem Hals zu huldigen… Die Leidenschaft machte uns beide eine Zeit lang blind und taub. Mina, weiß vom Blutverlust, aber unter den Nachwehen
der Ekstase bebend, presste sich eng an meine Brust, bis ich sie schließlich freigab. »Nun gehöre ich ganz und gar dir«, seufzte sie. »Und du musst mich mitnehmen.« »Ja, ja, mein Liebling. Aber zunächst muss ich nachdenken und einen geeigneten Weg finden.« Ich hatte kapituliert; aber genau genommen war sie noch nicht ganz die meine, nicht im körperlich unwiderruflichen Sinne wie sie es zu glauben schien. Und aus diesem Grunde wäre es ein hirnrissiges Unterfangen gewesen, sie mit mir zu nehmen, wie sie selbst allzu bald würde einsehen müssen, sollten wir den Versuch dazu unternehmen. Wenn sie auch im Laufe der Zeit ein Vampir werden konnte – nein, werden musste, wenn die Dinge weiter so liefen wie sie es taten – so war sie doch bislang keiner. Sie konnte nicht auf gewöhnliche Nahrung verzichten, noch sich nach Belieben Kälte oder Hitze aussetzen, oder an luftlosen Orten auf Staub und Moder schlafen, oder wie ich durch einen haarbreiten Spalt schlüpfen. Ebenso wenig würden meine Feinde je bereit sein, von meiner Fährte abzulassen, falls ich Mina mitnahm. Und am Wichtigsten von allem: War sie erst ein Vampir, würde unsere Liebe, auch wenn sie weiterhin bestand, rein platonisch werden, beinahe unfähig, körperlichen Ausdruck zu finden. Für uns wäre es dann wie Inzest, oder Schlimmeres, einander die Adern zu öffnen und voneinander zu trinken, und sie würde sich atmende Geliebte suchen, so wie ich auch… Das aber wollte ich nicht, nicht für viele, viele kommende Jahre. Mina in ihrem vorübergehenden Schwächezustand wandte sich wieder dem Bett zu, und Harkers Atmung änderte sich leicht, als sie neben ihm niedersank. Ich vertiefte seinen Schlummer ein wenig, so wie ich es mit dem Wärter vor Renfields Tür getan hatte.
Und noch immer verlangte es mich mit meiner ganzen Seele danach, Mina mit mir fortzunehmen, wenn ich auch wusste, dass ein solcher Plan schiere romantische Narretei war. »Mina«, flüsterte ich, »in den Augen der Welt bist du die Frau meines Feindes. Doch in unseren Herzen wissen wir, dass du mein bist.« »Ja, Vlad.« Ihr Flüstern klang jetzt kläglich und furchtsam. »Und wir werden einen Weg finden, beisammen zu sein. Komm, ich werde ein weiteres Band zwischen uns knüpfen.« Und indem ich die Kleidung über meinem Herzen aufzerrte, zog ich den scharfen Nagel meines linken Zeigefingers über mein Fleisch, ausreichend tief, um genügend Blut austreten zu lassen. »Trinke!« Bevor sie trank, murmelte sie, dass ihre Hände kalt seien, und ich umschloss sie beide mit einer der meinen – glauben Sie, dass Vampirfleisch immer nur eisig ist? Mitnichten; es kann auch wärmend sein. Und mit meiner rechten Hand streichelte ich ihren Nacken, während ich sie in eine kniende Position auf dem Bett hob. Sie reckte sich kurz, um die Narbe zu küssen, die der Spatenhieb ihres Gemahls auf meiner Stirn hinterlassen hatte. Und dann wanderten ihre Lippen hinab bis zur Höhe meines Herzens, und legten sich zärtlich auf meine blutende Wunde, und sie trank einen Teil meines Lebens in sich hinein… Dadurch, Mina, meine über alles Geliebte, wurdest du Fleisch meines Fleisches; Blut meines Blutes; Seele meiner Seele; meine überfließende Weinpresse… In dieser Haltung verharrten wir, der Welt nicht achtend, als die Tür, die vom Schlafgemach zur Halle führte, plötzlich krachend aufflog und Van Helsing, Seward, Morris und Arthur förmlich ins Zimmer fielen. Der Professor ging tatsächlich zu Boden und behinderte dadurch den ersten Ansturm der anderen.
Die beiden Ärzte hatten eine Zeit lang an der Seite von Renfield verbracht, seit der Lärm unserer Rauferei die Aufmerksamkeit auf sein Zimmer gelenkt hatte. Van Helsing und Seward hatten auf der Stelle eine eilige Trepanation des Schädels durchgeführt, die der Patient nicht lange überlebte – nicht dass die besten aller Chirurgen ihn noch hätten retten können – und seinen Sterbeworten entnahmen sie, dass ich ihn getötet und Zugang zum Haus erlangt hatte. Die Herren Ärzte riefen umgehend ihre männlichen Genossen zur Jagd, und alle – mit Ausnahme Harkers – bewaffneten sich geschwind mit dem nämlichen Arsenal aus Symbolen und Plunderzeug, das sie beim Einbruch in mein Haus mitgeführt hatten. Sie mutmaßten richtig, in welchem der Zimmer ich wahrscheinlich anzutreffen war, beschlossen jedoch angesichts der zerschmetterten Leiche Renfields zu ihren Füßen, nichts zu überstürzen. Schließlich erklommen sie die Stufen, sicherlich nicht ohne ängstliche Blicke zu tauschen und in Gedanken noch immer auf der Suche nach einer anderweitigen Vorgehensweise.
Vor der Tür der Harkers machten wir Halt. Art und Quincey zögerten und der Letztere sagte: »Sollen wir Mina wirklich stören?« »Wir müssen dies«, erwiderte Van Helsing grimmig. »Falls die Tür sollte verschlossen sein, werde ich sie kaputt brechen.« »Könnte es Mina nicht furchtbar ängstigen? Es ist unüblich, in das Gemach einer Dame einzubrechen.« Ohne Rücksicht darauf, wen sie vielleicht furchtbar ängstigten, schritten sie schließlich zu der unüblichen Tat. Als sie ihre Körper gegen die Türe warfen, brach sie
zufriedenstellenderweise ein, und da war ich tatsächlich, Mina auf dem Bett umklammernd. Völlig überrascht und auf dem Höhepunkt der Leidenschaft, stand ich kurz davor, in einer ganz unzivilisierten Weise auf dieses Eindringen zu reagieren. Mina aufs Bett zurückwerfend, um sie außer Gefahr zu bringen, wandte ich mich mit einem lauten Knurren gegen die Angreifer. Der Professor, der eben erst wieder auf die Füße gekommen war, stürzte erneut, und die anderen wichen zurück. Ein Pesthauch gammeligen Knoblauchs entströmte der Horde, die girlandenbehängt dastand, wie Vorläufer übel riechender Blumenkinder einer weit späteren Epoche. Ihre zitternden Finger wedelten mit jenen kleinen weißen Kuverts in meine Richtung, als wären sie Bittsteller vor St. Petrus dem Himmelspförtner, die glauben, gültige Eintrittskarten in den Händen zu halten, sich dessen aber letztlich nicht ganz sicher sind. Zugegeben, diesmal waren es jene Kuverts, die den Ausschlag gaben und mich zurückhielten. Wäre ich meinem ersten Impuls gefolgt und hätte die Knochen in ihren wohlgenährten Bälgern zu Brei zermalmt, oder hätte sie wie so viele Renfields während der vergangenen vierhundert Jahre in einem leuchtenden See ihres eigenen Blutes zurückgelassen, so wäre eine zusätzliche, bedauernswerte Entweihung der heiligen Hostie die nicht zu vermeidende Folge gewesen. Was sonst konnte es sein, womit sie gegen mich herumfuchtelten? Wenig gefestigt, wie mein eigener Glaube oft genug sein mag, und tadelnswert, wie mein Benehmen gelegentlich ist, ziehe ich die Grenze dort, wo es um die Entweihung des Sakraments geht. Und als dieses innere Widerstreben mir einen Augenblick zum Nachdenken gab, fand ich meine althergebrachte Abneigung gegen maßlose Gewaltanwendung so gültig wie immer. Es musste unweigerlich die grenzenlose
Übermacht der atmenden Massen gegen mich aufbringen und überdies großen Schmerz und seelische Pein auf Minas Haupt herabrufen. Dieses geistesgegenwärtige Mädchen lag jetzt rücklinks auf dem Bett, die Augen geschlossen, als seien ihr die Sinne geschwunden… Seward berichtet, dass er und seine Freunde in diesem Moment vorrückten und ihre Kruzifixe erhoben; und dass es der böse Graf gewesen sei, der zurückwich. Für jemanden, der mit Spiegeln unvertraut ist, bedeutet es stets eine große Hilfe, auf die objektive Beurteilung anderer zurückgreifen zu können, was die Feinheiten der eigenen Erscheinung betrifft, zum Beispiel: Der höllische Ausdruck, den ich schon aus Beschreibungen kannte, schien in sein Gesicht zu springen. Seine Augen loderten rot in teuflischer Leidenschaft; die großen Nüstern seiner weißen Adlernase weiteten sich, und ihre Ränder bebten; und die weißen scharfen Zähne hinter den vollen Lippen des bluttriefenden Mundes mahlten aufeinander wie die eines wilden Tiers. Eine Wolke schob sich vor den Mond und tauchte das Zimmer einen Augenblick lang in völlige Dunkelheit. Ich beugte mich hinab und flüsterte in Minas Ohr: »Sag, ich hätte dich mit Gewalt genommen; lebe wohl für diesmal.« Und ehe der Mond wieder sein Licht verströmte war ich fort, ungesehen hinaus in die Halle entwichen. Kaum hatte ich das Zimmer verlassen, da stieß Mina einen markerschütternden Schrei aus, sodass ich sogar in meiner Nebelgestalt alarmiert aufhorchte und fast kehrt gemacht hätte, um sie zu retten, sollte Van Helsing ihr bereits die Spitze seines Pflocks auf die Brust gesetzt haben. Jedoch erkannte ich noch rechtzeitig, dass der Aufschrei wohl
bedachter Absicht entsprang, und setzte meinen Weg hastig fort. Dabei kam ich im Erdgeschoss an Sewards Arbeitszimmer vorbei. Mina hatte in einer früheren Unterhaltung mir gegenüber erwähnt, dass die Berichte ihrer Jagd – Tagebücher, Aufzeichnungen und so weiter – inzwischen fast alle in diesem Raum verwahrt wurden, und es schien mir klug, hier Halt zu machen und das Kaminfeuer mit sämtlichen Papieren zu füttern, die ich in meiner Eile finden konnte. Gedacht, getan, außerdem stapelte ich noch alle Wachszylinder von Sewards Phonograph, die mir in die Hände fielen, in die Flammen. Sie zehrten alles auf, und doch war es fast zur Gänze vergebene Mühe meinerseits, denn der größte Teil ihrer Aufzeichnungen existierte bereits in Duplikaten an anderen Orten, ironischerweise dank Minas stenografischer Dienste. Bei meinem Tun im Arbeitszimmer wurde ich nicht unterbrochen noch begegnete mir einer meiner Feinde, als ich anschließend das Haus verließ. Arthur und Quincey waren die Ersten, die mich die Treppe hinab verfolgten, und selbst sie hatten es dabei nicht allzu eilig. Während ich in Fledermausgestalt von dannen flog, beobachtete ich Jung Quincey im Schatten einer Eibe, der wiederum mich beobachtete; diesmal verschwendete er keine Kugel. Indem ich Carfax den Rücken zuwandte, flatterte ich stadtwärts weiter nach Westen, wobei die ersten Anzeichen des Morgengrauens, die sich am Himmel hinter mir abzeichneten, zur Eile mahnten. Ich konnte keinen Krieg gegen ganz England gewinnen, doch ebenso wenig dachte ich daran, aufzugeben, nun da ich sie gefunden hatte, die Frau, nach der mein Herz sich seit Jahrhunderten verzehrt hatte. List, nicht rohe Gewalt, mussten die Entscheidung bringen, wollten Mina und ich überleben und auch in Zukunft unsere gegenseitige Liebe genießen.
6. TONBAND
Mina wurde natürlich stundenlang mit Fragen bestürmt, und obwohl – oder weil – es quälend teilnahmsvolle Fragen waren, machten sie ihr unerträglich zu schaffen. Selbstverständlich behielt sie ihre Rolle des hilflosen Vampiropfers bei, meiner Meinung nach ebenso um ihren Gemahl zu schonen wie um sich selbst zu schützen. Wie sie mir später erzählte, erschien den Herren schon ihre Lage als Opfer derart schrecklich, dass sie nicht wagte, sich ihre Reaktion auszumalen, wäre ihnen ihre wahre Stellung als meine Geliebte zur Kenntnis gelangt. Die Männer kamen zu ihr und gingen wieder fort, um Vorbereitungen zur Wiederaufnahme der Jagd zu treffen, doch anfangs blieb Jonathan ständig bei ihr, wobei er förmlich vor ihren Augen alt und grau zu werden schien. Auch Van Helsing hielt sich beständig an ihrer Seite, bestimmend wie immer, wenn auch weniger geschwätzig und mehr um sie besorgt als es sonst seine Art war. Sie saß oder legte sich hin – wenn sie aufzustehen und ein wenig umherzugehen versuchte, drückte sie einer der Männer sanft in den Sessel zurück – und erzählte wieder und wieder ihre Geschichte. Sie berichtete ihnen, aus tiefem Schlaf erwacht zu sein und an der Seite des ehelichen Bettes »einen hoch gewachsenen hageren Mann in gänzlich schwarzer Gewandung« angetroffen zu haben. Auf Anhieb erkannte sie das wächserne Antlitz… die geöffneten roten Lippen, zwischen denen die weißen Zähne hervorschimmerten… Ich erkannte auch die rote Narbe auf seiner Stirn, wo Jonathan ihn verletzt hatte… Ich hätte laut geschrien, wäre ich nicht wie gelähmt gewesen. In der Zwischenzeit zischte er in einer Art von scharfem,
schneidendem Flüstern, wobei er auf Jonathan deutete: »Still! Wenn du auch nur einen Laut von dir gibst, packe ich ihn dort und quetsche ihm vor deinen Augen das Hirn aus dem Schädel.« Ich war zu entsetzt und verwirrt, um irgendetwas zu tun oder zu sagen. Mit einem höhnischen Lächeln legte er eine Hand auf meine Schulter und indem er mich so festhielt, entblößte er mit der anderen meine Kehle, wobei er sagte: »Zunächst eine kleine Erfrischung als Lohn für meine Mühen. Bleib du ganz ruhig; es ist nicht das erste oder zweite Mal, dass deine Adern meinen Durst stillen!« Ich war kaum ganz bei mir und hatte seltsamerweise kein Verlangen, mich ihm zu entziehen. Vermutlich ist dies ein Teil des scheußlichen Fluches, der wirksam wird, sobald er sich an seinem Opfer vergreift… Eine endlos lange Zeit schien verronnen zu sein, bis er seinen widerlichen, grässlichen, grinsenden Mund von mir löste. Ich sah das frische Blut von seinen Lippen tropfen!
Frisches Blut aus zwei kleinen Einstichen in einer lebendigen menschlichen Kehle zu schlürfen ist schon diffizil genug, selbst ohne den Versuch, dabei auch noch zu grinsen; doch Mina bot ihrem Publikum genau das, was es hören wollte, und niemand stellte eine unangenehme Frage. In ihrer Märchengeschichte verkündete der böse Graf, sobald er genug intus hatte, dass sein schönes Opfer nun für all das bestraft werden würde, was es zur Unterstützung seiner Feinde geleistet hatte. Zu diesem Zweck zwang er sie, von seinem eigenen Blut zu trinken; dies war das Bild, das sich den Männern beim Durchbrechen der Schlafzimmertür dargeboten hatte, und natürlich verlangte es nach einer Erklärung. Nachdem sie einen Großteil des Morgens damit verbracht hatten, sie auszufragen und über ihren Kopf hinweg stumme Blicke des Grauens auszutauschen, die sie schwerer erträglich
fand als sogar die Fragerei, ließen sie sie eine Weile lang in ihrem Schlafgemach allein, damit sie ausruhe, wie sie sagten, und um zu beratschlagen, welche Folgen ihr aus dem Vorfall erwachsen könnten. Im Geiste sah sie bereits Van Helsing mit seiner schwarzen Tasche nahen, die lang genug war, um einen harten hölzernen Pflock zu beherbergen. Der grau gewordene, zitternde Jonathan sah schon bald wieder nach ihr, doch fand er kaum ein Wort des Trostes für sie. Manchmal bedachte er seine Frau an jenem schrecklichen Morgen mit einem Blick, als sehe er eine Fremde vor sich. Und bald schon verließ er sie, um an den Beratungen der übrigen Männer teilzunehmen. Dann aber war mein Liebling Mina, welcher ich jetzt in manchen Augenblicken lediglich als die phantastische Ausgeburt eines fiebernden Gehirns vorkam, wirklich auf sich allein gestellt. Während der langen, zähen Stunden, abgezählt vom schweren Ticken einer Uhr, das ein nahendes Verhängnis anzukündigen schien, schaute Van Helsing von Zeit zu Zeit nach ihr und murmelte irgendetwas, das fraglos beruhigend wirken sollte, und erforschte ihre Augen mit seinem Blick, der so hell und klug erschien. Armes Kind! Später erzählte sie mir schluchzend, wie sie im Laufe jenes nicht enden wollenden Tages mehr als halb daran zu glauben begann, auf eine zugleich süße wie schreckliche Weise, dass sie verdammt sei, so wie jene es sind, die an der Schwarzen Messe und dem Hexensabbat teilhaben. Sie glaubte den Tag bereits weit fortgeschritten, obwohl es nicht später als zur gewohnten Frühstückszeit war, als sie sie aufsuchten, um sie zu ihren Beratungen einzuladen – aus irgendeinem Grunde hatten die Männer beschlossen, dass nunmehr nichts, »wie schmerzlich es auch immer sei«, vor ihr geheim gehalten werden durfte.
Harker drängte im Laufe dieser formellen Beratung darauf, unverzüglich mein Haus in Piccadilly zu erstürmen, wohin, wie er herausgefunden hatte, kürzlich neun meiner Kisten verbracht worden waren. Andere stimmten Jonathan zu; allen kam es wegen der zentralen Londoner Lage dieses Hauses sehr wahrscheinlich vor, dass ich es zu meinem neuen Hauptquartier erkoren hatte.
»Wir verlieren Zeit«, drängte Jonathan. »Der Graf könnte eher nach Piccadilly zurückkehren, als wir glauben.« »Wohl kaum das«, sagte Van Helsing, die Hände abwehrend erhoben. »Aber warum denn nicht?« »Haben Sie schon vergessen«, antwortete der Professor und lächelte dazu, »dass er in der vergangenen Nacht üppig hat getafelt und bis spät wird schlafen?«
Mina sah sich, wie sie mir später erzählte, gänzlich außer Stande, auf diese taktlose Bemerkung so zu reagieren, wie es einem unschuldigen Mädchen eigentlich ziemte. Sie war kurz davor, Klartext zu reden und mich als ehrenwerten Gentleman in Schutz zu nehmen; doch klugerweise begnügte sie sich damit, ihr Gesicht mit den Händen zu bedecken, zu erschaudern und auf eine Art zu stöhnen, die ihr unbedingtes Mitgefühl eintragen musste. Seward berichtet über Van Helsing, dieser »versuchte, als er merkte, was er gesagt hatte und erschrocken über seine eigene Gedankenlosigkeit, Mina zu trösten.« Ich jedoch bin überzeugt, dass diese Bemerkung ein Test war, vom Professor absichtlich und kaltschnäuzig durchgeführt, um aus Minas
Reaktion zu ersehen, ob ihre Verbindung mit mir in irgendeiner Weise freiwillig gewesen war. Er mochte eine ähnliche Absicht verfolgt haben, als er wenig später in einem angeblichen Versuch, Mina vor ferneren bösen Einflüssen zu »schützen«, feierlich an sie herantrat und ihre Stirn mit »einem Stück von der heiligen Hostie« berührte, »im Namen den Vaters, des Sohnes und…« Sie schrie auf, diesmal in echtem Schmerz. Harker berichtet, »die Hostie hatte sich in ihr Fleisch gebrannt wie ein Stück weiß glühenden Metalls«. Ich habe zu meiner Zeit die Auswirkungen unterschiedlichster Metallgegenstände in ganz verschiedenen Temperaturzuständen auf das menschliche Fleisch beobachten können, und ich betrachte diese Behauptung als nichts Geringeres denn eine Übertreibung. Dennoch bin ich überzeugt, dass Mina echten Schmerz empfand und ganz sicher auch eine schwer heilende Brandwunde empfing. Ich schätze, man würde es heutzutage als psychosomatisches Phänomen bezeichnen. Jeder fähige Hypnotiseur vermag an einer geeigneten Versuchsperson ein ähnliches Ergebnis zu erzielen. Van Helsing besaß fraglos die machtvolle Persönlichkeit, die erforderlich ist, um Hypnose auszuüben; und seine Verhöre wie auch die der übrigen Männer mussten sämtliche unterbewussten Schuldgefühle und Ängste heraufbeschworen haben, die Mina infolge ihrer leidenschaftlichen Umarmungen mit einem Mann verspürte, der nicht ihr Ehegatte war. In Wahrheit hatte ich nicht »üppig getafelt« – die Wonnen der Liebe haben wenig mit rauen Mengen an Flüssigkeit zu tun – noch schlief ich lange. Dunkel und aus der Ferne verspürte ich Minas Schmerz, als sie das Brandmal erlitt, und ich hob meinen Kopf und knurrte, während Erde von meinen Fingernägeln abfiel, doch es gab nichts, womit ich ihr zu
diesem Zeitpunkt hätte helfen können. Ich befand mich gerade in meinem Haus in Piccadilly, just wie Harker es vermutet hatte. Während der Tagesstunden in meiner menschlichen Gestalt gefangen, war ich im Hinterhof zugange, wo ich mit meinen Fingern einen Teil der Pflasterung aufbrach und guten Londoner Erdboden gegen transsylvanischen austauschte, um mir auf diese Weise einen weiteren geheimen Ruheplatz zu schaffen. Ich konnte bei Tageslicht arbeiten, weil der Hinterhof recht gut gegen fremde Blicke geschützt war, umgeben nur von fensterlosen Mauern, abgesehen von der Rückseite meines eigenen Hauses. Ah, es schmerzte mich, diese Wohnstätte aufzugeben! Ich liebte es, aus ihren oberen Fenstern auf die Bäume des Green Park hinauszublicken und auf den Buckingham Palace, der nur wenige hundert Meter entfernt lag – und darum hatte ich nicht vor, sie völlig im Stich zu lassen. Die Männer, die sich um Mina scharten, als sie gebrandmarkt worden war, hatten eine Mischung aus Mitleid, Grauen und Unglauben im Blick. Doch kann ich nicht umhin, Harker Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. An eben jenem Tag schrieb er: In einer Sache bin ich zu einem festen Entschluss gelangt. Müssen wir schließlich erkennen, dass Mina als Vampir enden wird, dann soll sie nicht allein in jenes unbekannte und furchtbare Land hinübergehen. Ich nehme an, genau deshalb wurden in früheren Zeiten aus einem einzigen Vampir unweigerlich deren viele; so wie ihre abscheulichen Leiber nur in geweihter Erde ruhen konnten, so war die heiligste Liebe der Werber für ihre grausigen Reihen.
Wenn man diesen Absatz um die sprachlichen Knüppel abscheulich und grausig kürzt, dann mag er den
nachdenklichen Zuhörer zu einer, durchaus abweichenden Einschätzung der Angelegenheit verleiten.
Bis dahin hatte mir Carfax noch immer zur Verfügung gestanden, obwohl meine Widersacher schon seit drei Tagen wussten, dass es mein Hauptquartier war und glaubten, die Mittel zu besitzen, es mir zu versperren – Gott sende meinem Feind in jedem Krieg solch ausgefuchste Chefstrategen. Doch am Morgen des dritten Oktober, nur etwa eine Stunde, nachdem Minas Stirn das Brandmal empfangen hatte, schritt Van Helsing doch noch zur Tat und führte seine Mannen zu einem weiteren Einmarsch in mein Grundstück und mein Haus. Zu ihrer Enttäuschung entdeckten sie auch diesmal »keine Papiere noch irgendwelche Anzeichen dafür, dass das Haus genutzt wurde; die großen Kisten sahen noch genauso aus wie wir sie zuletzt gesehen hatten«. Ihr Anführer machte sich daran, Stücke der heiligen Hostie in sämtlichen Kisten zu verteilen; damit dem Vampir seine Operationsbasis verwehrt werde, hielt er es für nötig diese Erde zu entkeimen, die so gesegnet ist von heiligem Angedenken, dass er sie aus einem weit so fernen Land für solch grausamen Gebrauch brachte her. Er hat diese Erde erwählt weil sie heilig war. Daher besiegen wir ihn mit seinen eigenen Waffen, denn wir machen sie noch mehr heilig.
Glaube und gesunder Menschenverstand, gemeinsam aus dem Tempel vertrieben. Meine eigene Tätigkeit in Piccadilly war beendet, bevor es Mittag geworden war, und ich fuhr per Bahn und Mietdroschke nach Purfleet zurück, von wo aus ich den letzten knappen Kilometer nach Carfax zu Fuß bewältigte. In einer Ruhestätte,
die mit meiner heimatlichen Erde angefüllt und tief im Unterholz verborgen war, legte ich mich nieder, der Erholung bedürftig und zugleich von dem Wunsch beseelt, Mina nahe zu sein, falls sie plötzlich und dringend meine Hilfe benötigte. Ich ruhte im Düster undurchdringlichen Dickichts, ohne jedoch wirklich zu schlafen; und ich hörte die Jäger, als sie abermals anrückten, um in meinem Haus herumzupoltern. Wenn ich eingehend horchte, vermochte ich zu sagen, wann sie eine Kiste öffneten und wann die ihren Deckel wieder zumachten, und konnte das Husten und Fluchen jedes einzelnen von ihnen heraushören, wenn sie Staub schluckten. Es war eine gute Gelegenheit, die nächste Auseinandersetzung mit ihnen zu suchen, gemäß dem Plan, den ich entworfen hatte; doch Mina war in diesen Plan noch nicht eingeweiht, und ich ging davon aus, dass ihre uneingeschränkte Mitwirkung unbedingt erforderlich war. Nach einer Weile hörte ich die Vandalen abrücken, wobei sie auf der Straße, die vor Carfax verlief, davonfuhren statt zur Anstalt zurückzukehren. Ich ruhte noch ein wenig länger, dann ging ich auf den verwilderten Rasen vor meinem Haus hinaus, von wo aus die Vorderseite des Obergeschosses der Anstalt, wo Minas Fenster lagen, gut sichtbar war. Im diesigen herbstlichen Tageslicht Englands, milde und Wolken verhangen in den Augen atmender Menschen, von mir jedoch als ermüdend eintönige Grelle empfunden, suchte ich, so wie ein erschöpfter Wanderer nach einer Oase Ausschau hält, nach einem noch so flüchtigen Anblick meiner Geliebten – und siehe da! Zu meiner größten Freude sah ich sie an eines der Fenster herantreten und dort stehenbleiben, winkend und mich zu sich rufend. Im nächsten Augenblick rannte ich auf die Mauer zu, die unsere Grundstücke trennte, und im übernächsten war ich geschmeidig hinaufgesprungen und darüber hinweggesetzt.
Jetzt versperrte der Baumbewuchs des Anstaltsgeländes mir die Sicht auf Minas Fenster. Ich hielt auf das Gebäude zu, ungeachtet, ob fremde Blicke mir folgten, als ich mit einem Freudensprung meines Herzens Minas kompakte Gestalt anmutig zwischen den Bäumen hindurch auf mich zueilen sah. Da ich bei Tageslicht keine Körperverwandlung herbeiführen konnte, wäre es mir diesmal vielleicht unmöglich gewesen, die Anstalt zu betreten, ohne dass mich irgendein Bediensteter dabei beobachtete. Mina hingegen konnte auf das Grundstück hinausspazieren, ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen, und genau das hatte sie getan. Nach unserer ersten hastigen, innigen Umarmung hielt ich sie auf Armeslänge von mir weg. »Mina, meine Liebe, unaussprechlich ist die Freude, dich zu sehen… doch was ist mit dir passiert?« Besorgt starrte ich auf das grausame Mal, das ihre weiße Stirn zeichnete. »Du siehst ja, was mit mir passiert ist«, erwiderte sie, als sie bemerkte, wohin mein Blick ging. Ein Zittern lag in ihrer Stimme, doch ihre Worte klangen klar und tapfer. »Ich habe diese Narbe, die dich beunruhigt, im Spiegel betrachtet und bemerkt, dass sie geradezu ein Gegenstück zu deiner ist. Sei es zum Guten oder Schlechten, es scheint, dass ich dir wahrlich zu Eigen geworden bin. Oh Vlad, wie soll mein Leben weitergehen?« »So«, sagte ich, und fand sie so willig wie je, von meinen Armen umfangen zu werden. Abermals schenkte sie mir Blut, dort in den tiefen Schatten unter den Bäumen. Diesmal nahm ich nur sehr wenig, um sie nicht zu schwächen. »Aber« fügte ich fest entschlossen hinzu, wobei ich sie wiederum auf Armeslänge von mir hielt, »eben weil ich dich wahrhaft liebe, möchte ich dich noch nicht in mein Land mitnehmen.« »In dein Land? Du wirst England verlassen?«
Ich glaubte einen minimalen Anflug von Erleichterung aus ihrem Gebaren herauszuspüren. »Mina, meine Prinzessin, mein Land ist das Reich des Vampirs. Es besteht hier in England wie auch anderswo, doch unterscheidet es sich von jedem Land, das du jemals kennen gelernt hast. Und würde ich dich dorthin bringen, so würden jene Männer uns gnadenlos verfolgen und niemals ruhen, bis sie uns vernichtet hätten. Glaubst du denn, du würdest verschont, nur weil sie dich gegenwärtig lieben oder dies zumindest behaupten? Erinnere dich an Lucys Schicksal.« Mina schauderte und hob eine Hand, sodass ihre Finger beinah ihre Narbe berührten. »Ich weiß, ich würde nicht verschont.« Und plötzlich sprudelte die Geschichte ihrer furchtbaren morgendlichen Erlebnisse aus ihr heraus; die Fragen und ihr Ausgeschlossensein, Van Helsing, wie er ihr unvermittelt die Hostie auf die Stirn gedrückt hatte, ihrer aller unmittelbar daraus folgende Überzeugung, dass sie unrein geworden sei. »Vlad, bedeutet dieses Mal wirklich, dass du eine Ausgeburt der Hölle bist, und ich eine Verdammte? Wenn du mich in den Armen hältst, fühle ich keine böse Macht, sondern Glück.« Ich schüttelte den Kopf. »Du bist nicht böse, Liebes.« Ich hatte bereits einige Beispiele für Mesmerismus gesehen, hatte Leute in Lähmung verfallen oder erblinden gesehen und Brandblasen auf unversehrter Haut, alles nur durch Geisteskraft bewirkt. »Trägst du ein Kruzifix um den Hals oder sonst irgendwo am Körper?« Sie prallte fast unmerklich zurück. »Oh, nein. Nach dieser Brandmarkung würde ich nicht wagen, mit einem in Berührung zu kommen.« Ich sah mich um, erblickte einen toten Zweig auf dem Boden, klaubte ihn auf und brach ihn in zwei Teile, eines ein wenig länger als das andere. Diese hielt ich in der Form des crux
immissa empor, wobei die Finger meiner rechten Hand sie am Schnittpunkt zusammenhielten. »Fass es an«, forderte ich Mina auf. Mina streckte ihre Hand aus, zögerte dann jedoch. »Ich… ich wage es nicht«, keuchte sie. »Der Schmerz war grauenvoll.« »Fass es an! Wenn ich ein Kreuz halten kann, was solltest dann du zu fürchten haben?« »Ich… ich besitze nicht deine Kraft.« Sie schlug die Augen nieder und wandte sich ab. »Schurkische Männer«, murmelte ich und ließ das Kreuz in seine Bestandteile aufgelöst ins Gras fallen. »Vielleicht ist es aber vorerst besser, wenn dein Brandmal bleibt. Van Helsing könnte sein plötzliches Verschwinden, während ich noch lebe, als ein schlechtes Zeichen auffassen.« Dabei dachte ich an seine Reaktion auf die Verflüchtigung von Lucys Halsmalen kurz bevor das arme Mädchen seinen letzten Atemzug tat; Mina hatte berichtet, dass die Tagebuchaufzeichnungen den Professor als überaus schockiert darüber schilderten und er von da an überzeugt war, dass Lucy unausweichlich als Vampirin umgehen werde. Ich legte meine Hände auf Minas bebende Schultern und drehte sie um, damit sie mir ins Gesicht sah. »Doch noch ist längst nicht alles verloren«, fuhr ich fort. »Sag, liege ich richtig mit der Annahme, dass das Leben mit deinem Gatten, auch wenn es seine Nachteile für eine intelligente Frau wie dich besitzt, doch auch seine guten Seiten hat? Kurz gesagt, dass du um Jonathans wie auch um deinetwillen – ich kann sehen, wie sehr er dich offenbar braucht – nicht bereit bist, ihn gänzlich aufzugeben?« Sie blickte auf; es war, als habe mein Verständnis zumindest einen Teil der erdrückenden Sorgenlast von ihrem Busen genommen. »Du hast recht, Vlad! Oh, wie gut und klug und lieb von dir! Ich liebe dich, du weißt es. Und doch merke ich,
dass ich nicht aufgehört habe, Jonathan zu lieben. Der arme liebe Kerl braucht mich jetzt… Du würdest ihn kaum wiedererkennen, so sehr hat er sich inzwischen verändert.« »Was meinst du damit?« »Er ist grau und ausgezehrt und blickt mich manchmal sonderbar an, wenn er auch so liebevoll mit mir spricht wie früher. Und ich habe ihn alleine dasitzen sehen, in murmelndem Selbstgespräch, wie er ein großes Messer wetzte, das Lord Godalming oder Quincey Morris ihm gegeben haben müssen. Ich fühle, dass es gar zu schrecklich wäre, ihn jetzt zu verlassen; und doch, wie kann ich bei ihm bleiben wenn er dieses Messer gegen dich schärft und eine Gelegenheit herbeibetet, es dir ins Herz zu stoßen?« »Liebwerte Dame, ich habe eine Strategie ersonnen, die, falls alles gut geht, diesen schmerzhaften Konflikt für dich lösen wird. Wenn die Zukunft sich nach meinen Vorstellungen gestalten lässt, wird es dir möglich sein, mit einem zufriedenen Gemahl in Geborgenheit zusammenzuleben, und doch brauchen wir beide nie länger als ein paar Stunden voneinander getrennt sein, und wir können uns weiterhin regelmäßig sehen.« Mina ergriff meine Hand und bedeckte sie mit Küssen. »Lieber Vlad! Wie kann ich dir danken? Wie sieht dieser Plan aus und wie kann ich ihn unterstützen?« Ich begann ihr mein Vorhaben auseinanderzusetzen. Es hing von meinem Erfolg darin ab, die Männer glauben zu machen, dass ich aus England geflohen sei und keinerlei Absicht hegte, wiederzukehren. Einen oder zwei Monate nach meinem vermeintlichen Fortgang – in Wahrheit würde ich tief versteckt in London liegen, in einem meiner noch immer unbekannten Schlupfwinkel – wäre Van Helsing vermutlich auf den Kontinent zurückgekehrt, vielleicht in der Hoffnung, dort meine Fährte aufzunehmen, und die übrigen Vampirjäger
hätten ihre Jagd abgeblasen. Somit würden Mina und ich erneut das Glück gelegentlicher Zweisamkeit genießen können, häufigere Rendez-vous wären ihr ohnehin nicht bekömmlich gewesen, mit oder ohne Ehemann im Hintergrund. Um mein Vorhaben in die Wege zu leiten, war eine weitere Konfrontation zwischen mir und meinen Jägern nötig. Ich versprach Mina, alles in meiner Macht stehende zu tun, damit diese Begegnung gewaltlos verlief, und sie willigte ihrerseits ein, alles daranzusetzen, damit sie zustande kam. Aus diesem Grunde sandte sie sofort nach meinem Abschied von ihr, gegen neun Uhr abends, ein Telegramm an Van Helsing zu meinem Haus in Piccadilly, wo er, wie wir wussten, um diese Zeit am Ehesten anzutreffen war. Ich wollte, dass die Bande dort auf mich wartete, während ich in Bermondsey und Mile End vorbei sah und überprüfte, ob einige dort angelegte Geheimverstecke meiner Heimaterde noch benutzbar waren. Die Nachricht, nach meinen Vorgaben formuliert, wies den Professor an: »Haben Sie Acht auf D. Er ist gerade erst, 12 Uhr 24 Min. in aller Hast von Carfax Richtung Süden geeilt. Er scheint seine Runde zu machen und ist vielleicht darauf aus, euch zu begegnen.« Unterzeichnerin war natürlich Mina. Ich verließ sie, um die Absendung des Telegramms zu gewährleisten, und wandte mich südwärts, ganz wie ich es telegrafiert hatte. Als ich meine übrigen Häuser, die dem Feind bekannt waren, in Bermondsey und Miles End nacheinander aufsuchte, entdeckte ich zu meiner Genugtuung, dass Hostien in sämtlichen Kisten lagen, die ich zurückgelassen hatte, für Besucher gewissermaßen nicht zu übersehen. Die Jäger würden sich im sicheren Gefühl wiegen, dass mir diese Orte als Zuflucht verwehrt seien, während ich sie nötigenfalls ganz gefahrlos benutzen konnte.
Es war kurz nach zwei Uhr, als ich Haus Nummer 347 in Piccadilly erreichte, und obwohl das alte Gebäude von außen unbewohnt erschien, war ich doch sicher, dass meine ungebetenen Gäste sich noch immer darin aufhielten. Als ich vor der Eingangstür stand, bemerkte ich einige leichte Kratzer am Schloss, die von der Arbeit des bezahlten Schlossers zeugten, der ihnen Zugang zum Haus verschafft und einen Nachschlüssel für sie angefertigt hatte. Wer würde Seiner Lordschaft Arthur in einer solchen Angelegenheit misstrauische Fragen stellen? Der Handwerker wohl kaum und offenbar auch nicht der Polizist auf seiner Streife. Ich sperrte das Schloss mit meinem eigenen Schlüssel auf und trat ein, wobei ich mich nicht schneller oder langsamer als sonst, aber mit großer Vorsicht bewegte. Den Feind zu unterschätzen ist in jedem Krieg das beste Rezept, um in eine Katastrophe zu schlittern. Falls sie mit hölzernen Speeren oder Lanzen im Hinterhalt lauerten, in einem von betäubendem Sonnenlicht erfüllten Zimmer, dann lief ich Gefahr, getötet oder ernsthaft verletzt zu werden. Dennoch rechnete ich auch im schlimmsten Fall mit nichts Bedrohlicherem als Silberkugeln. Van Helsing hatte mir bewiesen, dass er sein Wild nicht wirklich kannte. Sobald ich mich im Haus befand, konnte ich recht deutlich ihre fünf Lungen hören, die wie fünf Dampfkessel unter Hochdruck arbeiteten, während ihre angespannten Besitzer sich bemühten, ruhig und still zu sein, nachdem das Knirschen meines Schlüssels im Haustürschloss an ihre Ohren gedrungen war. Mein Gehör sagte mir, dass die Männer sich hinter der geschlossenen Speisezimmertür zusammengerottet hatten; ich machte in der stillen, staubigen Halle davor Halt, vergewisserte mich über die Anzahl meiner Feinde und schätzte ihre verschiedenen Standorte im Speisesaal ab. Ich vernahm Harkers Atemgeräusche, die mir während zweier Monate in
meinem Schloss vertraut geworden waren, überlagert von Van Helsings altersbedingtem leichtem Schnaufen. Ich tat meinerseits einen tiefen Atemzug – natürlich nicht aus Notwendigkeit, aber alte Gewohnheiten lassen sich nicht so leicht ablegen – und warf die Speisesaaltür so plötzlich auf wie ich konnte. Mit derselben Bewegung vorwärts schnellend, sprang ich ins Zimmer und stellte mich ihnen. Mein Satz beförderte mich etwas über die Mitte des Zimmers hinaus, sodass ich an einem möglichen Hinterhalt neben der Tür vorbei war, ehe er zuschnappen konnte; allerdings erkannte ich sofort, dass nichts dergleichen gedroht hatte. Die Männer verteilten sich im Raum, zwei nahe bei der Tür, durch die ich gerade hereingekommen war, andere an den Fenstern und Harker allein vor einer weiteren Tür, die zum Empfangszimmer des Hauses führte. Ihr Plan, falls sie einen verfolgten, sah augenscheinlich vor, meine Flucht abzuschneiden, sobald ich eingetroffen wäre. Bis jetzt war kein Wort gefallen. Ich musterte sie schweigend und erkannte wenig erfreut, dass diesmal keiner von ihnen vor mir zurückwich. Über mein Hereinplatzen schrieb Seward später:
Er hatte etwas so Raubtierhaftes, so Unmenschliches an sich, dass wir uns sofort fassten… Leider hatten wir uns keinen Angriffsplan zurechtgelegt, denn selbst in diesem Augenblick überlegte ich noch, was wir eigentlich tun sollten. Ich selbst hatte keine Ahnung, ob unsere tödlichen Waffen irgendeinen Nutzen brachten. Harker wollte es anscheinend darauf ankommen lassen, denn er hielt sein großes Ghurka-Messer in der Faust und machte einen unerwarteten, heftigen Ausfall…
Ich wich der Klinge aus, sowohl um seine Absicht zu vereiteln als auch um sie glauben zu machen, dass ich gegen die tödliche Wirkung solcher Waffen nicht gefeit sei. Man hätte meinen können, dass Harker, der ja erlebt hatte, welch geringe Wirkung ein mit ganzer Kraft geschwungener Eisenspaten auf mich übte, sich nicht allzusehr auf ein Messer verlassen hätte; doch gesunde Urteilsfähigkeit gehörte außerhalb des Gerichtssaals nicht zu seinen hervorstechenden Wesenszügen. Die Klinge kam mir nah genug, um eine meiner Manteltaschen aufzuschlitzen, die nun eine wahllose Flut von Münzen und gebündelten Geldscheinen erbrach; ich verwünschte dies Missgeschick, während der Geldsegen sich auf den Boden ergoss. Ein guter Teil meines Vermögens ging dahin. Wenngleich Geiz nicht zu meinen Hauptfehlern zählen mag, so war doch Geld in diesem Krieg wie in jedem anderen eine entscheidende Hilfsquelle, und ihr Verlust konnte nur bedauert werden. Verdammt misslich, in der Tat; doch mir stand kaum der Sinn danach, innezuhalten und meine Barschaft aufzuklauben, während sie von allen Seiten mit Eisen und Blei schmerzverheißend auf mich eindrangen. Auch meine Feinde beachteten das verlorengegangene Geld zunächst nicht; offenbar besaßen sie selbst genug davon. Während Harker noch sein Messer schwang, schritten Seward und die Übrigen mit Kruzifixen und hoch erhobenen Kuverts zum Angriff. »Es überraschte uns nicht«, schrieb Seward, zu sehen, wie das Ungeheuer zurückwich… Unbeschreiblich war der Ausdruck von Hass und irritierter Bosheit – von Wut und teuflischem Zorn – von äußerster Verärgerung, um Übertreibungen entgegenzutreten, der die Züge des Grafen verzerrte. Seine
wächserne Gesichtsfarbe erschien im Glühen seiner Augen gelblichgrün, und die rote Stirnnarbe trat wie eine pochende Wunde hervor. Im nächsten Augenblick tauchte er geschmeidig unter Harkers Arm hinweg, schoss quer durchs Zimmer, wobei er eine Handvoll des Geldes vom Boden aufkrallte, und warf sich durch die Fensterscheibe. Umgeben vom Klirren und Blitzen des splitternden Glases stürzte er hinab aufs Pflaster. Ich sah keinen Grund, meinen ganzen Geldbesitz diesen Dieben zu überlassen, und es verschaffte mir einige Genugtuung, dass es mir auf meinem Weg zum Fenster gelang, Van Helsing abermals von den Füßen zu stoßen. Das Durchbrechen der Scheibe und das Auftreffen auf steinharten Untergrund verursachte mir keinen spürbaren Schaden, sodass ich sofort aufsprang und über den gepflasterten Hinterhof schoss, um durch die Stallungen zu »entfliehen«. An deren Tür hielt ich inne, denn von hier aus konnte ich die Botschaft absetzen, die meinen Rückzug andeuten sollte, ohne dass Harkers Messer-Mätzchen meine übrigen Zuhörer ablenkten. »Ihr glaubtet, ihr hättet mich in der Falle, ihr Hundesöhne!«, rief ich ihnen zu. »Ihr mit euren bleichen Gesichtern dort eins neben dem andern, wie Schafe auf der Schlachtbank! Das soll euch noch gereuen, jeden einzelnen von euch! Ihr glaubt, ihr habt mir alle Ruheplätze genommen, doch ich besitze ihrer noch mehr.« Bis dahin, müssen Sie wissen, hatten sie neunundvierzig meiner fünfzig Kisten gefunden und Hostien darin entweiht; meine Absicht war, ihre Aufmerksamkeit auf jene letzte Kiste gerichtet zu halten, die sie nicht entdeckt hatten, und ihre Gedanken von etwelchen Mutmaßungen abzulenken, ob einige der neunundvierzig Kisten nur der Irreführung gedient haben könnten oder mir immer noch zur Verfügung stehen mochten, ungeachtet der frevlerischen Behandlung, welcher sie sie unterzogen hatten.
»Mein Rachezug beginnt erst!«, drohte ich weiter, schüttelte meine Faust und legte einen Unterton in meine Stimme, der hoffentlich nach jener Art von großspuriger Herausforderung klang, die oft dazu dient, einen erzwungenen Rückzug zu bemänteln. »Ich führe ihn über Jahrhunderte, und die Zeit ist auf meiner Seite. Oh, ich kann warten! Eure Mädchen und alle, die ihr liebt, sind jetzt schon mein, und durch sie sollt ihr und andere auch mein werden – meine Kreaturen, meinem Befehl unterworfen, die Schakale an meiner Tafel. Pah!« Mit einer letzten Drohgebärde wandte ich mich um und floh. Natürlich wollte ich den Eindruck erwecken, dass ich England verlassen würde, doch wäre es wenig glaubhaft gewesen, hätte ich es offen hinausposaunt. Kurz hinter dem Piccadilly Circus wich ich nach Soho aus und legte einen Zwischenaufenthalt an einem geheimen Ort ein, um sicherzustellen, dass die Nummer fünfzig meines ursprünglichen Kistenvorrats noch immer unberührt war. Dann machte ich mich auf, um einen Mietkarren zu besorgen, der die Kiste zum Frachthafen bringen sollte. Inzwischen kehrten Van Helsing und seine Mannen zur Anstalt zurück. Mina lauschte dem Bericht ihrer Großtaten des Tages natürlich mit atemlosem Interesse. Seward hielt in seinem Tagebuch fest, »ihr Gesicht wurde mal schneeweiß, wenn sie hörte, wie ihr Gatte in Gefahr schwebte, und dann wieder überzog Röte ihr Antlitz, wenn seine Ergebenheit ihr gegenüber hervortrat«. Auch versuchte sie, getreu meinem Plan, ein Ende der Feindseligkeiten zu bewirken. Sie traute sich schwerlich, offen zu meinen Gunsten zu sprechen, wie man verstehen wird, doch versuchte sie, zumindest einen Anflug von Sympathie für mich zu erwecken: »Jonathan… und ihr alle, meine treuen, treuen Freunde… ich weiß, dass ihr kämpfen müsst, dass ihr sogar vernichten müsst, so wie ihr die falsche Lucy vernichtet habt,
damit die wahre Lucy im Himmel weiterlebe; doch soll es kein Werk des Hasses sein. Die arme Seele, die all dies Leid über uns brachte, hat doch letztlich das traurigste Los… Auch er verdient euer Mitleid, wenn es eure Hände auch nicht davon abhalten mag, ihn auszulöschen.« Harker sprang auf die Füße und erwiderte darauf: »Möge Gott ihn mir nur lang genug in die Hände geben, um sein irdisches Dasein auszulöschen, was wir alle uns ersehnen. Wenn ich aber auch noch seine Seele auf ewig und alle Zeit ins tiefste Höllenfeuer schleudern könnte, ich würde es tun!« Darauf Mina: »Oh, bitte schweig!… Du erstickst mich unter Angst und Grauen… Den ganzen langen, langen Tag musste ich daran denken – dass eines Tages vielleicht… auch ich eines solchen Mitleids bedarf. Und dass andere wie ihr – und mit einem ähnlichen Zornesgrund – es mir verwehren!« Seward zufolge trieb dieser Appell »allen Männern die Tränen auf die Wangen«, und »Mina weinte ebenfalls, als sie sah, dass ihre milderen Worte den Sieg davon getragen hatten.« Leider trogen ihre Hoffnungen, denn diese Schurkenbande war so entschlossen wie eh und je, mir so bald wie möglich einen Pflock in den Leib zu rammen: dass sie nun vielleicht bereit waren, ein Gebet zu murmeln oder eine Träne zu verdrücken, während sie mich meuchelten, war aus meiner Sicht der Dinge kein bedeutender Gewinn. Inzwischen hatte ich meine Kiste Nummer fünfzig zum Doolittle-Kai verfrachtet, wo ich zu meiner Freude die Zarin Katharina ausfindig machte, ein russisches Schiff, das ins Schwarze Meer abgehen und von dort aus die Donau hinaufsegeln sollte. Als ich die Schiffsliegeplätze aufsuchte, trug ich einen Strohhut, so dass ich schwerlich unerkannt bleiben konnte, und zog den Kapitän der Katharina in ein auffällig verstohlenes Gespräch, wozu ich sogar eine Nebelwolke heraufbeschwor, die sein Schiff einhüllte, bis ich
meine Kiste sicher an Bord hatte; eine subtile Vorgehensweise der Art, die Sherlock Holmes herausgefordert hätte, wäre bei meinem gegenwärtigen Feind kaum zweckdienlich gewesen. Die Kiste hatte ich konspirativ an Graf Dracula, Galatz, über Varna adressiert; und ehe ich London verließ, schrieb ich an meinen Agenten Hildesheim in Galatz und erteilte ihm Anweisungen für ihren Empfang. Für mich selbst buchte ich selbstverständlich keine Überfahrt, lautete doch mein Plan, dass meine Jäger glauben sollten, ich läge in der Kiste, wenn das Schiff seine Reise antrat. Ich ging allerdings beim Flutwechsel an Bord des Schiffes, angeblich um die Unterbringung der Kiste zu überprüfen. Dies geschah nach Sonnenuntergang, und niemand von der Besatzung bekam mich danach noch mal zu Gesicht. Sie legten ab, im Glauben, ich sei wieder an Land gegangen. Aber bald schon sollten sie darin Recht erhalten, denn beim nächsten Flutwechsel – die Überquerung fließenden Gewässers fällt mir bei Ebbe weitaus leichter – flog ich in Fledermausgestalt nach Southend-on-Sea zurück und begab mich von dort aus noch vor Morgenanbruch wieder nach Purfleet, um in meinem geheimen Schlupfwinkel auf dem überwucherten Gelände von Carfax die dringend benötigte Ruhe zu genießen. Vorsorglich hatte ich vom Schiff einige kleine Splitter aus dem Hauptmast und den Decksplanken mitgenommen sowie ein wenig Erde und Schmutz aus den Zwischenräumen der Beplankung. Mit ihrer Hilfe konnte ich auch aus weiter Entfernung den Kurs der Zarin Katharina verfolgen und ihr sogar von mir gelenkte Winde schicken. Bevor mich im Morgengrauen meine Schlaftrance überkam, gelang es mir, Mina durch Gedankenübertragung in ihr nur wenige Dutzend Meter entferntes Schlafzimmer meine Versicherung zu übermitteln, dass bisher alles wie vorgesehen
ablief, und ihr auch meinen Einfall für den nächsten Schritt in unserem kleinen Spiel zu verraten. Sie hielt das für einen viel versprechenden Plan und ließ sofort Van Helsing aus dem Schlaf holen. Sodann verkaufte sie ihm als ihren eigenen Einfall, dass er versuchen sollte, sie in Hypnose zu versetzen, um dank der mentalen Verbindung, die unser Blutaustausch naturgemäß zwischen ihr und mir geknüpft habe, meinen Aufenthaltsort zu erfahren. Aus der Tiefe einer vorgetäuschten hypnotischen Trance heraus verkündete sie wenig später Dunkelheit und »das Klatschen von Wasser. Es gurgelt vorüber und schlägt kleine Wellen…«. Minas Nachahmung des Hypnosezustandes war hervorragend in Szene gesetzt, oder zumindest so gut, dass Van Helsing den Köder schluckte. Bald tat er kund, nunmehr zu wissen, was im Kopf des Grafen ging vonstatten, als er das Geld aufraffte, obwohl Jonathans gar so wütendes Messer ihm Gefahr bedeutete… Er hatte die Flucht vor. Höret, DIE FLUCHT! Er sah, dass mit nur einer übrigen Kiste und einer Meute von Männern an den Fersen wie Hunde dem Fuchs, dieses London kein Platz mehr für ihn war. Er hat seine letzte übrige Erdkiste auf ein Schiff gebracht… Heissa, auf denn zur Jagd!… Mehr als je bisher wir müssen ihn finden, und folgen wir ihm auch bis in den Schlund der Hölle! Dies war nicht die erhoffte Reaktion, und Blässe überkam Mina, als sie schwach fragte: »Warum?« »Weil«, erwiderte Van Helsing feierlich, »er über Jahrhunderte leben kann, und Sie sind nur ein sterbliches Weib. Nun müssen wir die Zeit fürchten – seit er Ihrem Halse dieses Mal hat beigefügt.« Und Mina, der keine Antwort mehr einfiel, sank vor dem prüfenden Blick aus des Professors hellen Augen ohnmächtig
hin. Doch sie besaß Schneid genug und versuchte später am Tag ihr Spiel mit ihm erneut, nachdem die Männer vom Auslaufen der Zarin mit einer verdächtigen Kiste an Bord erfahren hatten, die von einem vampirischen Mann als Fracht aufgegeben worden war. Ich fragte ihn, ob er sicher sei, dass der Graf an Bord des Schiffes geblieben war. Er gab zur Antwort: »Wir haben den besten Beweis dazu – Ihre eigene Aussage aus der hypnotischen Trance heute Morgen.« Ich fragte ihn erneut, ob es wirklich nötig sei, dass sie den Grafen verfolgten, denn – oh! – ich fürchte zu sehr, dass Jonathan mich verlässt, und ich weiß nur zu gut, dass er sich anschließen wird, wenn die anderen aufbrechen. Abermals lautete Van Helsings Antwort ›Ja‹. Ich gebe sie nur sinngemäß wieder, wobei ich mindestens fünfhundert Wörter unterschlage. Mina gab nicht auf: »Aber wird denn der Graf nicht seine Lehre aus diesem Rückschlag ziehen? Nachdem er aus England vertrieben wurde, wird er es nicht künftig meiden, so wie ein Tiger einen großen Bogen um das Dorf schlägt, aus dem er verjagt wurde?« Van Helsing, der seine früheren Vorstellungen von meiner »Schlauheit von über Menschenmaß« mittlerweile etwas zurechtgerückt hatte, gab diesem Gedanken nicht statt. »Schauen Sie seine Hartnäckigkeit und Ausdauer. Mit dem Kindergehirn von ihm hat er vor langem schon den Gedanken ergriffen, in eine große Stadt zu kommen… Der kleine Vorgeschmack, den er hat genommen, stärkt nur seinen Appetit und mehrfach seine Gier…« Die übrigen Männer, mit Ausnahme von Minas hassentbranntem Gatten, der keine Gefahr scheute um Rache an mir zu nehmen, hatten wie von mir erwartet an Jagdeifer merklich eingebüßt. Mit Sicherheit dachte bereits am fünften
Oktober, nur zwei Tage nach meiner vermeintlichen Flucht aus England, zumindest Seward noch einmal nach: Selbst jetzt, da ich die Sache erneut bedenke, vermag ich nicht einzusehen, dass die Ursache unseres ganzen Ungemachs nicht aus der Welt geschafft sein sollte. Sogar Mrs. Harker scheint ihren Kummer zeitweilig zu vergessen; nur gelegentlich, wenn irgendetwas die Erinnerung weckt, denkt sie an ihre grässliche Narbe… Diese verfluchte Narbe prangte mitten auf ihrer Stirn, eine unheilvolle rote Warnung an uns alle. Die Vorgänge in Minas Unterbewusstsein – man erinnere sich, dass wir diesen Begriff zu jener Zeit noch gar nicht kannten – waren von Van Helsings mesmerischen Kräften so gebündelt worden, dass sie dieses Mal hervorriefen. Und dass Minas Narbe fast genauso aussah wie jene, welche ich von den Händen ihres Mannes empfangen hatte, musste mehr als bloßer Zufall gewesen sein – wieder sind wir bei jenem tiefgründigen oder vielleicht auch sinnlosen Begriff. Und niemand, der beide Narben vor Augen hatte, ließ jemals eine Bemerkung über ihre Ähnlichkeit fallen – außer Mina und einer weiteren Person, wie ich bald schon berichten werde. Van Helsing hielt jetzt, da der Tiger – wie er glaubte – weit aus dem Dorf vertrieben worden war, womöglich sogar für immer über den Zugriff der Jäger hinaus, und vielleicht angestachelt von seinem eigenen Unterbewusstsein, nach einem anderen passenden Wild Ausschau. »Unsere arme liebe Frau Mina läuft eine Veränderung durch«, vertraute er Seward in einem Augenblick an, da die beiden unter sich waren. »Ich kann sehen wie die Kennzeichen des Vampirs in ihr Antlitz kommen. Noch ist es nur ganz, ganz leicht; aber es ist sehbar wenn wir nur Augen besitzen, die ohne Vorurteil hinblicken. Ihre Zähne sind schon leicht schärfer, und bisweilen blicken
ihre Augen mehr hart als sonst… Sie zieht jetzt auch mehr das Schweigen vor, wie es auch mit Miss Lucy war.« Als Seward mit weiten Augen nickte, fuhr der Professor fort: »Meine Furcht ist nun solche: Wenn stimmt, dass sie im hypnotischen Zustand uns berichten kann was der Graf sieht und hört, mag dann nicht ebenso er, der sie zuerst hypnotisierte und von seinem Blut trinken ließ, ihren Geist dazu zwingen, ihm zu decken auf, was sie weiß von uns?« Dem musste Seward beipflichten, und man vereinbarte eine abermalige Taktikkehrtwende und schloss Mina wieder von sämtlichen Kriegsräten aus. Am selben Abend, bevor sie gezwungen gewesen wären, ihr diese bedauerliche Neuigkeit mitzuteilen, wurde »beiden Ärzten eine große persönliche Erleichterung zuteil«, wie Seward schrieb, als »Mrs. Harker… durch ihren Mann ausrichten ließ, dass sie vorerst nicht an unseren Beratungen teilnehmen werde, weil sie es für besser hielt, wenn wir unser Vorgehen besprächen, ohne dass ihre Gegenwart uns in Verlegenheit bringe«. Freilich hatte Mina von Jonathan einige Hinweise aufgeschnappt, woher der Wind wehte, und dazu ein mentales Signal von mir empfangen, dass ich danach dürstete, sie in dieser Nacht zu besuchen. Meine kleine, pelzige Gestalt landete dann auch auf ihrem Fensterbrett, als sie gerade ihren Gatten fortscheuchte, damit er sich den Beratungen der übrigen Männer im Stockwerk darunter anschloss. Mit einem Seufzer der Erleichterung drückte sie hinter ihm die Wohnzimmertür zu und huschte leichtfüßig und froher Laune in ihr Schlafgemach. Ihre Miene hellte sich noch mehr auf, als sie den verwandelten Grafen seine Fledermausschnauze gegen die Fensterscheibe pressen sah, in ungeduldiger Erwartung ihrer Aufmerksamkeit. Sofort kam sie herbei, um das Fenster für mich zu öffnen – und mir damit die Mühe einer Gestaltwandlung zum Zwecke des Eindringens zu ersparen – doch ihr erster Blick auf den
Fledermauskörper, der zu ihr hereinhüpfte, beinhaltete einigen Widerwillen. Ich beeilte mich, wieder zu meiner menschlichen Gestalt emporzuwachsen, sobald ich mich weit genug im Zimmer befand. »Betrachte es lediglich als eine Verkleidung«, murmelte ich, als wir einen Kuss getauscht hatten. »Als sei es nichts anderes als ein Kleidungsstück, das ich manchmal anlege. Doch sag, schöne Dame, warum dieser ausgelassene Tanzschritt, mit dem du eben durch das Wohnzimmer kamst?« »Abgesehen von der Freude, dich zu sehen«, antwortete Mina, »war es die reine Erleichterung darüber, nicht mehr an ihren Versammlungen teilnehmen zu müssen.« Sie erzählte mir, wie sie den Oberbefehl, sie abermals auszuschließen, herbeigesehnt hatte und seufzte, als habe sie einen drückenden Schuh abgestreift. »Sie sitzen immer nur da, mit finsteren Blicken oder offenen Mündern, und lauschen Van Helsings Tiraden darüber, wie verabscheuenswert Vampire sind, so als hätte das alles überhaupt nichts mit mir zu tun. Das heißt, so lange, bis einer von ihnen sich an das Mal auf meiner Stirn erinnert und einen heimlichen Blick darauf wirft; und dann wendet er seine Augen fast schuldbewusst ab, sobald sie Gefahr laufen, den meinen zu begegnen. Sogar – sogar Jonathan ist nicht mehr ohne weiteres geneigt, mir fest und offen ins Gesicht zu sehen. Er liebt mich noch immer, daran glaube ich wohl, doch ist es, als ob… als ob er sich meiner inzwischen etwas schäme.« Sie hob ihre Finger, um die rote Narbe zu berühren, die ihrer Schönheit spottete. »Vlad, sag mir offen und ehrlich, so wie deine Liebe zu mir tief und rein ist: Was kann man dagegen tun? Gibt es keine Möglichkeit, es verschwinden zu lassen?« Ich saß auf ihrem Bett, die Beine übereinandergeschlagen, und wippte mit einem meiner modischen neuen englischen Stiefel. Ich nahm an, dass ich vielleicht von meinen eigenen
hypnotischen Fähigkeiten Gebrauch machen konnte, um sie von der Narbe zu befreien, allerdings hatte mich die Erfahrung mit vergleichbaren hysterischen Symptomen gelehrt, dass diese, wenn man sie in der einen Form hinwegkurierte, ohne die eigentliche Ursache ebenfalls zu beseitigen, höchstwahrscheinlich doch nur in einer weit schlimmeren Form erneut auftraten. »Nicht ohne beträchtliche Gefahr für dich«, gab ich zurück. »Und zum jetzigen Zeitpunkt schon gar nicht. Vergiss nicht, Van Helsing würde womöglich ernsthaft den Verdacht hegen, dass du tatsächlich zum Vampir geworden bist, wenn die Narbe oder die kleinen Male an deinem Hals so plötzlich verschwänden. Doch fasse Mut, früher oder später werden wir einen Weg finden.« »Aber, Vlad, wie kann das sein, dass Dr. Van Helsing mich mit der Hostie berührt und dadurch dieses abscheuliche, für alle sichtbare Mal hinterlässt? Ich kann es noch immer nicht verstehen; hab Geduld mit mir. Warum muss ich dieses Stigma tragen, wenn – wenn ich doch in Wahrheit gar nicht…« »Obwohl du nicht unrein bist und dem Bösen verfallen? Das bist du nicht, dessen sei gewiss. Dieses Mal kann nur durch Van Helsings mesmerische Kräfte entstanden sein, ob von ihm beabsichtigt oder nicht, die über einen nichtbewussten Teil deines Verstandes auf deinen Körper einwirken.« »Aber wie kann ein nichtbewusster Verstand etwas bewirken?« »Ich weiß es nicht.« In jenem Jahr 1891 nahm ein junger Arzt namens Sigmund Freud seine Forschungen zur Hysterie gerade erst auf. »Aber ich habe ähnliche Dinge schon früher gesehen. Mina, ich selbst bin vielleicht der Beweis für eine überragende Form hypnotischer Macht.« »Was meinst du damit, Vlad?«
»Ich meine eine Macht, die im Prinzip der Hypnose ähnelt, jedoch ins Übermaß gesteigert, weit jenseits dessen, was Van Helsing oder Charcot oder sonst irgendein gewöhnlicher Ausübender dieser Kunst heutzutage zu erreichen hoffen darf. Sie übersteigt deren besten Ergebnisse – oder die besten Ergebnisse, die ich selbst bewusst zu erzielen vermochte – so weit wie die Stärke der Dampflokomotive die Kraft eines siedenden Teekessels übersteigt. Eigentlich, Mina, hätte ich an Schwertwunden sterben müssen, im Jahre unseres Herrn 1476. Meine Lungen hörten auf zu atmen, und mein Herz schlug nicht mehr, aber ich fürchtete weder Tod noch Leben… Kennst du die Schriften dieses Amerikaners, Poe? Oder von Joseph Glanville, deinem Landsmann? ›Der Mensch aber steht nicht unterhalb der Engel noch auch völlig unter der Gewalt des Todes, außer durch die Ohnmacht seines schwachen Willens allein‹. Es war nicht die Umarmung einer Vampirfrau, die mich zu dem machte, was ich bin.« Sie sah mich eine kurze Zeit lang so sonderbar an, dass ich ihr ein Lächeln schenkte, um sie zu beruhigen. »Und doch ist es beängstigend, Vlad«, war alles, was sie sagte. »Jedes Menschenleben kann denjenigen ängstigen, der es lebt«, erklärte ich ihr sanft, »falls er oder sie es zulässt.« Noch immer lächelnd, liebkoste ich ihre Wange. »Vertraue mir einfach. Dich erneut in Furcht zu versetzen ist das Letzte, was ich will. Mit der Zeit werden unser beider Narben verschwinden. Was ist, willst du nicht wieder für mich lächeln? Ah! Das ist der einzige helle Sonnenstrahl, den ich von Herzen willkommen heiße.« Nachdem wir eine kleine Weile über heitere Dinge geredet hatten, sagte ich: »Ich bin sehr glücklich, dich jetzt bei mir zu haben. Doch gleichzeitig würde ich fast wünschen, du seist unten beim Kriegsrat der Männer dabei, sodass wir genau über
ihre Absichten im Bilde wären. Was glaubst du, ist dein jüngster Ausschluss von ihren Beratungen endgültig?« »Oje! Ich kann wohl einen Weg zurück in ihre Runde finden, falls du der Meinung bist, ich könnte dadurch etwas Entscheidendes in Erfahrung bringen.« »Es gibt verschiedene Fragen, deren Beantwortung vielleicht entscheidend für mich ist. Zum Beispiel, wann und womit gedenken sie der Zarin Katharina zu folgen? Ich bin sicher, dass sie dies auf irgendeine Weise beabsichtigen. Ferner, haben sie dem Schiff voraustelegrafiert, etwa an Behörden am Bosporus, oder vielleicht an Stellen, die meinem Heimatland noch näher liegen, um meine Kiste aufbringen und zerstören zu lassen? Godalming ist ein Mann mit Einfluss, und sie werden auch Bestechung nicht scheuen, wenn es nur dazu dient, mich zur Strecke zu bringen.« Mina saß mittlerweile auf meinen Knien, rieb ihr Gesicht an meinem und bog ihr Kinn zurück, sodass ihr langer Hals sich an meine Lippen schmiegte. »Ich will gewiss versuchen, das herauszufinden – ah! Aber dass sie voraustelegrafiert haben, daran glaube ich nicht. Ich glaube, sie wollen die Genugtuung, dich mit ihren eigenen Händen zu vernichten.« Ich hielt sie auf Armeslänge von mir und sprach mit äußerster Ernsthaftigkeit. »Und du musst dich sehr vorsehen, Liebes, dass sie sich niemals mit solchen Gedanken gegen dich wenden. Ich habe Dinge in Van Helsings Augen gesehen und Dinge von seinen Lippen vernommen… Seine Frau ist meiner Ansicht nach nicht umsonst in einer Irrenanstalt gelandet. Liefere ihm nur einen Vorwand, der sein Tun rechtfertigt, und er wird mit Freuden einen Pflock durch dein liebes Herz treiben und sich bei jedem Hammerschlag an deinen Zuckungen weiden. Oder, wahrscheinlicher noch, wird er den guten Jonathan überreden, dies zu deinem eigenen Besten zu tun, während er und die anderen gaffen. So wie er Arthur dazu
brachte, seine geliebte Lucy ihrem gerechten Lohn zuzuführen.« »Ich habe darüber nachgedacht.« Gerade jetzt wirkte Mina nicht allzusehr verängstigt. Sie nickte mir zu, die Augen schmal, und lächelte. »Es gibt eine beinahe unfehlbare Methode, wie ein armes, einfaches Mädchen gleich mir große, starke Männer von fast jeder Handlungsweise abbringen kann.« Wie ich sie liebte! »Und das wäre?« Ihr Lächeln wurde breiter. Waren ihre Zähne wirklich schon ein kleines bisschen spitzer? »Es ihnen als meine eigene Idee vorzuschlagen und sie beständig daran zu erinnern, dass die Idee von mir selbst stammt.« Und getreu ihren Worten nötigte sie ein paar Tage später jedem der Männer den Schwur ab, sie zu töten, sollten sie jemals zu dem Schluss kommen, sie habe sich bereits so weit in einen Vampir verwandelt, dass ein derartiger Schritt zu ihrer aller Besten sei. Im Nachhinein berichtete sie mir, dass Van Helsing, während sie ihre herzergreifende Bitte vortrug, im Hintergrund auf einmal recht verdrießlich war. Muss denn noch gesagt werden, dass die befürchtete Tat niemals auch nur drohte, zur Ausführung zu kommen? Mina war auch in der Lage, mir einige Dinge zur Kenntnis zu bringen, die eigentlich vor ihr geheim gehalten werden sollten und die sie dennoch problemlos von einem Dienstboten hatte in Erfahrung bringen können, der ausgeschickt worden war, um eine Zugreise zu buchen. »Sie werden auf dem Landweg reisen, Vlad, vom Bahnhof Charing Cross nach Paris am Morgen des zwölften Oktober; in Paris wollen sie den Orient-Express besteigen. Bis wohin sie genau mit dem Zug reisen oder wie sie dich an ihrem Zielort abfangen wollen, habe ich noch nicht herauskriegen können. Oh, was werden sie tun, was soll ich tun, um meine falschen
Visionen zu erklären, wenn herauskommt, dass die Kiste leer ist?« »Mina, ich habe die Angelegenheit lange bedacht, wie du dir sicher vorstellen kannst. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Nach deinen Berichten zu urteilen, scheint Jonathan geistig eher krank als gesund in seinem Verlangen, mir Schaden zuzufügen, und wenn das schon nicht reichen würde, um die anderen bei der Stange zu halten, ist da noch der Professor, der nicht erlauben wird, dass sie die Jagd abblasen. Nichts anderes als mein unwiderlegbarer Tod kann diese Meute zufriedenstellen. Diese Kiste wird, wenn sie sie öffnen, am Ende vielleicht doch nicht leer sein.«
7. TONBAND
Die Lynch-Gang verließ London plangemäß eines nebligen Morgens in einem Zug mit Schiffsanschluss und erreichte Paris noch in der Nacht des Abreisetages, am zwölften Oktober. Mina hatte die Männer dazu überredet, sie in ihrer Eigenschaft als hypnotisches Medium mit sich zu nehmen, wodurch sie sich über meinen Verbleib auf dem Laufenden zu halten hofften. Mit leicht verändertem Aussehen, und natürlich unter einem falschen Namen, saß ich im selben Zug, als ihre Jagdgesellschaft aus dem Charing-Cross-Bahnhof fuhr. Während meine Feinde und ich mehr oder weniger gemeinsam den Ärmelkanal überquerten, segelte die Zarin Katharina, die das Festland umschiffen musste, über das Mittelmeer demselben fernen Ziel entgegen wie wir. Ich schickte ihr an günstigen Wind- und Wetterverhältnissen, was immer sich mir anbot, und wendete einen oder zwei Stürme von ihr ab, die zu einer Reiseverzögerung hätten führen können. Selbstverständlich hatte ich in meinem Zugabteil keinen halb mit Erde gefüllten Sarg dabei. Doch im Gepäckwagen reiste ein großer Schrankkoffer mit, dessen Wände einen Zentimeter dick aus Rindsleder gefertigt waren und den drei kräftige Träger nur unter Stöhnen und Ächzen an Bord des Zuges geschafft hatten. Laut Gepäckschein war er das Eigentum von Dr. Emile Corday und sollte nach Bukarest weiterverladen werden. Während des ersten Abschnitts unserer Reise, ehe wir Paris erreichten, unternahm ich keinen Versuch, Mina zu sehen, sondern gab mich damit zufrieden, ein- oder zweimal wortlose geistige Rückversicherungen mit ihr auszutauschen. Ich hatte
einige Bedenken, dass die Männer mich erkennen könnten, trotz allem, was ich zur äußerlichen Veränderung meiner menschlichen Gestalt unternommen hatte. Das Haar hatte ich mir über meine Narbe in die Stirn gekämmt, ich hatte sowohl Bart wie Schnurrbart abgenommen und ließ mir einen dichten braunen Backenbart stehen, der meinem Gesicht ein etwas fülligeres Aussehen verlieh. Die Form meiner Nase und der übliche Teint meiner Haut, den meine Feinde je nach Belieben als »bleich«, »grünlich« oder »wächsern« bezeichneten, ließen sich etwas schwerer verändern. Die erstere umzumodellieren, erwies sich als nicht machbar, und den letzteren in ein kerniges, vertrauenerweckendes rötliches Glühen zu verwandeln, erforderte reichliche Tagesdosen an Säugetierblut; vom Rind und vom Schwein ließ es sich am Leichtesten beschaffen. Am Abend des zwölften Oktober befanden meine Feinde und ich uns, wie ich bereits erwähnte, alle gleichzeitig in Paris. Wir standen nicht weit voneinander entfernt im Gare de l’Est, ich selbst mit einer dunklen Brille auf der Nase, durch deren Gläser ich in das Gleißen der neuen elektrischen Lampen des Bahnhofs blinzelte. Um uns herum gingen mit gemessener Würde die Vorbereitungen für die Abfahrt des meistgerühmten Gefährts der Compagnie Internationale des Wagon-Lits et des Grands Express Europeens vonstatten, oder überhaupt irgendeiner sonstigen Eisenbahngesellschaft von damals bis heute. Der Orient-Express war in jenen Tagen seit gut acht Jahren in Betrieb und befand sich auf dem Höhepunkt seiner außerordentlichen Eleganz, wenn auch noch nicht seines Ruhmes. Das pro Passagier erlaubte Gepäck war für Dr. Cordays großen Koffer großzügig genug bemessen. Ich hatte ein Luxusabteil in einem Waggon nächst jenem gemietet, worin meine fünf Jäger zwei Abteile füllten. Damen wurden in jener Epoche gesondert in ihren eigenen voitures-lits
untergebracht, zumindest während der üblichen Schlafenszeit; und ich entdeckte zu meiner Freude, dass Mina ein Abteil für sich allein haben würde, wenn sich mir Gelegenheit böte, zu ihr zu kommen. Die Abfahrt war zeitlich so gelegt, dass der Abendmahlzeit an Bord die ganze hingebungsvolle französische Aufmerksamkeit zuteil werden konnte. Nachdem ich durch die Ritzen meines Abteilfensters geströmt war, während der Orient-Express über das dunkel gewordene Land ostwärts nach Straßburg ratterte, kehrte ich zur menschlichen Gestalt zurück – eine Fledermaus wäre bei einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern augenblicklich vom Fahrtwind mitgerissen worden –, ertrug Kohlendampf und Funkenflug, kletterte auf das Dach des schlingernden, dahinschießenden Waggons und arbeitete mich von Wagendach zu Wagendach voran, hin zum Ende des Zuges. Dabei kopfüber durch die Waggonfenster spähend, machte ich bald den Speisewagen aus und ließ meinen Blick durch sein Inneres schweifen, um herauszufinden, ob meine Feinde vielleicht zu Tisch saßen und ob ich einen Blick auf meine Geliebte erhaschen konnte. Ich hätte ebenso gut in den Speisesaal eines erstklassigen Hotels schauen können. Kellner in Kniehosen aus blauer Seide, weißen Strümpfen und Schnallenschuhen schenkten eisgekühlten Champagner aus. Das Licht kostbarer Lampen, die nur leise mit der Zugbewegung schwangen, fiel auf Tafelwerk aus Mahagoni und schwere Möbel aus massiver Eiche. Und tatsächlich erblickte ich Mina, lieblicher denn je in ihrem neuen schulterfreien Kleid. Neben ihr am Tisch saß ihr Gatte, grau und so verändert, wie sie es geschildert hatte, und blickte starr ins Nichts. Gemeinsam mit dem nun sonderbar anmutenden Paar speisten die Doktoren Van Helsing und Seward; auf der anderen Seite des Mittelgangs gestikulierten
Lord Godalming und Quincey Morris, beide in Tweedbekleidung, die sich als Jagdaufzug gut gemacht hätte, mit den Händen, was aussah, als erörterten sie die Flugbewegungen von Federwild, oder vielleicht auch von Fledermäusen, über ihren Tellern mit Kalbs-Cordon-bleu. Alles schien nach Plan zu verlaufen. Doch nach den frisch und üppig gefüllten Tellern zu urteilen, würde Mina ihrem Schlafabteil wahrscheinlich noch einige Zeit fernbleiben. Bis dahin konnte ich versuchen, herauszufinden, welches Abteil sie belegte, und in dieser Absicht setzte ich meinen Weg fort, bis ich zum Schlafwagen der Damen gelangte, wo ich wie zuvor kopfüber so gut wie möglich durch eine Scheibe nach der anderen spähte. Bedauerlicherweise waren diese so dicht mit Vorhängen verhüllt, dass ich nicht schlauer wurde; wegen des Lärms, den der fahrende Zug verursachte, konnte ich auch keine Geräusche aus dem Inneren des Waggons vernehmen. Schließlich gelangte ich zu einem Fenster, dessen Vorhänge weit genug offen standen, um erkennen zu können, dass das Abteil dahinter gegenwärtig leer war. Ich machte Anstalten, hineinzuschlüpfen, fand jedoch plötzlich meinen Weg versperrt – es war das alte wohlvertraute Hemmnis, das es mir verwehrte, ungebeten in einen eigenständigen Wohnbereich einzudringen. Verwünschungen vor mich hin murmelnd und die Frage erwägend, ob Mina merken würde, dass ich einer weiteren Einladung bedurfte, um zu ihr gelangen zu können, kroch ich weiter dem Ende des Zuges entgegen. Der letzte Waggon, erkannte ich bald, enthielt einen Rauchsalon nebst Bibliothek, und seinen Abschluss bildete eine kleine Aussichtsplattform. Begierig, dem stürmischen Fahrtwind und stickigen Qualm zu entrinnen, gönnte ich dieser Plattform nur den allerflüchtigsten Blick, ehe ich mich darauf hinabschwang, und übersah so die dunkle Gestalt eines Mannes, der reglos in einer
Ecke stand und zu den verstreuten Lichtern der Bauernhöfe und kleinen Dörfer hinausblickte, die in der Nacht an uns vorüberflogen. Inmitten des Brüllens von Luft und Eisen war ich nicht in der Lage, seine Lunge oder sein Herz zu hören, und das verräterische Glimmen seiner Zigarre wurde erst sichtbar, als er mir das Gesicht zuwandte. Mir wurde klar, dass ich einen Augenblick zu spät dran war, um meinerseits die Pose eines interessierten Betrachters der Landschaft am Plattformgeländer einzunehmen; gleichwohl erwiderte ich seinen Blick so unbekümmert wie möglich, was beim Stand der Dinge darauf hinauslief, ihm abzuverlangen, in Bezug auf mein Auftauchen seinem eigenen Augenschein zu misstrauen. Er war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, von mittlerer Größe, mit einem kleinen, gepflegten Bart und braunen, beweglichen, intelligenten und irgendwie machtvollen Augen. Er nahm die große, schwarze Zigarre aus dem Mund und starrte mich mit dem unverhohlenen Erstaunen eines Menschen an, der tatsächlich zu glauben vermochte, was seine Augen ihm mitteilten, nämlich dass ich gerade vom Waggondach herabgeklettert war. Nonchalant schnippte ich meinen zusammengefalteten chapeau claque in Zylinderform zurück und setzte ihn mir wieder auf den Kopf. Dann nickte ich meinem Gegenüber leutselig zu und überlegte, wie ich eine Konversation mit ihm beginnen konnte; es war wichtig, herauszubekommen, ob mein eigenes Überleben bedingte, diese unglückliche Person vom Zug zu werfen, oder ob ich ihn glauben machen konnte, dass er gar nicht wirklich gesehen hatte, was er doch gesehen hatte. »Bon soir, monsieur«, grüßte ich ihn und wechselte ins Deutsche, als seine recht zögerliche Antwort in einem Akzent erfolgte, die seine größere Vertrautheit mit jener Sprache verriet.
»Guten Abend«, antwortete er und starrte mich noch einen Moment lang an, bevor er blinzelte und um Entschuldigung bat. »Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie so anstarre. Aber… aber ich stand hier in Gedanken verloren und es kam mir so vor, dass… dass Sie hier auf der Plattform auftauchten… wie aus dem Nichts.« So zögerlich seine Worte anfangs auch erfolgten, nahmen sie schnell einen Tonfall sicherer Überlegenheit an, die seinem Naturell offensichtlich mehr entsprach. »Durchaus verständlich«, murmelte ich. »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Ich bin Dr. Emile Corday von der Akademie der Wissenschaften in Wien.« Das verblüffte ihn schon wieder; abermals hatte ich mir einen Patzer geleistet. Durch meine Brillengläser musterte ich die vorübereilende Landschaft auf der Suche nach einem Heuhaufen, in den ich ihn werfen konnte, um auf diese Weise einen unwillkommenen Zeugen für einen oder zwei entscheidende Tage aus dem Wege zu räumen, wenn schon nicht für immer. Es begann danach auszusehen, als sei sein Verschwinden aus dem Zug unumgänglich, aber es widerstrebte mir, sein Leben zu opfern. »Die Akademie…?«, murmelte er. »Aber ich selbst… Das heißt, ich glaubte recht gut bekannt zu sein mit allen…« »Ach, ich bin freilich einige Jahre lang dort nicht sehr aktiv gewesen. Gegenwärtig stehe ich im Dienst einer Londoner Firma… nein, danke, keine Zigarre, Herr…?« Er streckte seine Hand nach meiner aus, um sich vorzustellen, und öffnete seinen Mund, um seinen Namen zu sagen, aber in diesem Augenblick fuhren wir in einen kurzen Tunnel ein, und seine Worte gingen unter. Nach einem derart intensiven Bad in Lokomotivqualm, wie der Tunnel uns beschert hatte, zog es uns übereinstimmend ins Innere des Zuges zurück. Natürlich gingen wir in den Rauchersalon; es überlief mich einen Moment lang kalt in
Erwartung einer sofortigen und wütenden Rauferei, als ich in zweien der – natürlich ausschließlich männlichen – Nutzer des Abteils Arthur und Quincey erkannte, die sich scheinbar gerade erst hingesetzt und ihre Zigarren angezündet hatten. Es gelang mir, mit dem Rücken zu ihnen Platz zu nehmen, als mein neuer Gefährte und ich uns nicht weit entfernt niederließen; er hatte seine Zigarre neu angebrannt und gedachte vermutlich einige Minuten hier zu verweilen. Ich meinerseits wollte nicht von seiner Seite weichen, bis ich sicher war, wie viel er von meinen nichtmenschlichen Turnübungen gesehen hatte, oder gesehen zu haben glaubte. Die Stimmen von Quincey und Arthur klangen dort, wo ich saß, zu leise, um von gewöhnlichen Ohren aufgeschnappt zu werden, ich jedoch hatte damit keine Schwierigkeiten. »In Texas heißt ‘ne Nutte ‘ne Nutte«, flüsterte Quincey hitzig. »Glaub mir, dieses kleine rothaarige Stück ist so eine, warum schmeißen wir uns nich ran und reißen sie auf? Frag sie, ob sie noch ‘ne Freundin im Zug hat. Das würde die Dinge einfacher machen.« »Es läuft nicht immer so direkt und unverblümt, alter Freund, wie du einfach nicht zu lernen scheinst. Wir sind hier schließlich nicht in Afrika und auch nicht in der Südsee.« »Das hast du schon in London behauptet. Und da hat’s recht gut geklappt, so wie ich’s anpackte. Stimmt’s?« »Die Frau dort war vollkommen verängstigt, mein Bester, nachdem du eine Fledermaus gesehen haben wolltest und mit deinem Colt aus dem Fenster feuertest, um eine Schießübung zu praktizieren…« »… praktiziere zur Zeit nur noch eingeschränkt«, sagte mein neuer Freund gerade in größerer Nähe meiner Ohren. Er schien auf irgendeine Weise von mir eingenommen, so wie ein ungewöhnlicher Mensch sich manchmal von einem anderen ungewöhnlichen Menschen angezogen fühlt, selbst wenn
keiner von ihnen weiß, worin die Besonderheit seines Gegenübers genau besteht. »Ich habe in letzter Zeit sehr viel Energie in meine Forschungen zu den Auswirkungen von Kokain investiert und zu dem Vermögen geistiger Vorgänge, die leibliche Gesundheit zu beeinträchtigen.« Diese letztere Auskunft rief mit einem Schlag meine Aufmerksamkeit wach. »Überaus interessant, Doktor«, sagte ich mit Nachdruck. Ich hatte inzwischen seinen Titel gemutmaßt, wenn ich auch noch immer seinen Namen nicht kannte. Mein Gefährte war in Schweigen verfallen: über irgendetwas grübelnd, während seine Zigarre erkaltete. »Hätt’ nich soviel Brandy tanken sollen, wenn ich heut Nacht noch meinen Kerl stehen will, aber hol’s der Teufel… Ich werd’ jetzt diese rothaarige Wildkatze besteigen, so oder so… Art, bist du sicher, dass sie ‘ne Nutte ist?« »Durchaus, durchaus. Man kann lernen, indem man den Dienstboten zuhört, weißt du, so wie sie von uns lernen. Ich wette, man muss über einen Bediensteten in Verhandlungen um die Gunst dieser kupferhaarigen Circe und einer möglichen Gefährtin treten, die sie vielleicht an Bord des Zuges hat…« »Sagten Sie nicht, Sie praktizieren jetzt in London, Dr. Corday?« »Äh, nicht ganz, Doktor, nein. Ich bin dort eher ein Berater in verschiedenen medizinischen und physiologischen Angelegenheiten… für unterschiedliche Firmen…« Meine Erfindungsgabe, die nie sehr ausgeprägt war, verließ mich zusehends. Immerhin gelang es mir durch langsames Sprechen und gedankenvolle Pausen, meinen Gesprächspartner hinzuhalten, bis Quincey and Arthur aufstanden und den Waggon verließen, offenbar um ›in Verhandlungen einzutreten‹. Ich hatte den Eindruck, dass Arthur seinem Freund eher widerwillig folgte; Lucy war erst seit drei Wochen
begraben, und erst seit zwei Wochen tot. Vielleicht war es naiv von mir, aber es überraschte mich, zu erfahren, dass Damen des Gunstgewerbes regelmäßig in den wagons-lits luxuriös den Kontinent bereisten. Aber warum auch nicht? Geld und Langeweile gab es reichlich im Orient-Express und ich glaube, es liegt etwas fundamental Erregendes in der schnellen Fortbewegung eines Zuges. Als mein neuer Freund und ich den Raucherwagen verließen, richtete ich es so ein, dass er mir durch den Zug voranging und die Türen, an die wir kamen, für mich öffnete; auf diese Weise erhielt ich eine Einladung in jeden Schlafwagen, den ich bisher noch nicht betreten hatte. Zu dieser frühen Abendstunde durfte der Schlafwagen der Damen natürlich auch von den Herren noch durchquert werden. In seinem Inneren trennten nur Glasscheiben und eine Holzeinfassung die Abteile von dem mehr oder weniger öffentlichen Mittelgang; doch Damastvorhänge deckten das Glas ab, und ich wusste noch immer nicht, in welchem Abteil Mina untergebracht war. »Ah, er ist schon reichlich extravagant, dieser Zug«, murmelte mein unwissentlicher Wohltäter, nachdem wir in einen Herrenwaggon gekommen waren und vor der Türe eines Abteils Halt machten, das offenbar ihm gehörte. »Ich meine, zumindest für meine Ansprüche. Aber ich wollte allein sein und meine Ruhe haben, um meinen Gedanken nachzugehen… Es bleibt einem so wenig Zeit zum Denken.« »Ich habe dies in meinen eigenen Angelegenheiten feststellen können«, pflichtete ich verständnisvoll bei. »Nun, ich hoffe, Sie nicht unziemlich von ihren Gedanken abgelenkt zu haben, Doktor. Ihre Forschungen klingen äußerst interessant, und ich freue mich darauf, in Kürze mehr darüber zu erfahren.« »Sie reisen nach Wien?«, fragte er. »Viel weiter. Meine Geschäfte werden mich letztlich sogar bis zum Schwarzen Meer führen.«
»Schön, wir werden morgen sicherlich Zeit für eine Unterhaltung finden… sagen wir, beim Frühstück?« »Warum nicht?« Es würde mir immer möglich sein, am Esstisch eine kleinere Unpässlichkeit vorzutäuschen; und falls nötig, konnte ich sogar geringe Mengen einer milden Speise schlucken und später wieder von mir geben. »Was die Unterbrechung meiner Forschungen, meine Ablenkung angeht, so machen Sie sich darum keine weiteren Gedanken. Nein, Sie haben mir…« Er unterbrach sich mit einem kurzen Lachen. ›Stoff zum Nachdenken gegeben‹, schien das unausgesprochene Ende seines Satzes zu lauten. »Wissen Sie, als ich Sie heute Abend dort auf der Plattform erblickte, bildete ich mir ein, Sie hätten…« An diesem Punkt jedoch musste er sich abermals unterbrechen, mit einem feinen Lächeln, dem plötzlich ein sehr ernster Ausdruck der Selbstbesinnung folgte. Was er dort draußen glaubte gesehen zu haben war zu lächerlich für eine beiläufige, höfliche Unterhaltung. Ich erwiderte sein Lächeln. »Ich werde sicherlich morgen Früh mehr davon hören.« Und ich wünschte ihm eine gute Nacht und suchte meine eigenen Räume auf. Kaum war ich eingetreten, sperrte ich meine Tür zu und begab mich durch die verschlossenen Fenster wieder hinaus. Den Chapeau Claque trug ich wegen des Fahrtwinds zusammengefaltet in der Tasche. So kroch ich abermals über die Wagendächer nach hinten in Richtung der Damenabteile. Intelligent und praktisch veranlagt, wie sie war, hatte Mina dafür gesorgt, dass die Vorhänge ihres Fensters weit genug geöffnet waren, um einem von Funken versengten, kopfüber vom Waggondach hängenden Ausflügler Einsicht ins Abteil zu gewähren, wo sie und Jonathan einander steif gegenüber saßen. Steif ist vielleicht nicht das richtige Wort, denn während sie dasaß, wetzte er sein großes, mörderisches neues Messer, jene
Waffe, mit deren Hilfe er mich der ewigen Verdammnis zuzuführen hoffte. Es war eine Messerart, die Kukri genannt wird, wie ich mich entsinne, und die damals und in früherer Zeit von den Ghurkhas in Nepal bevorzugt wurde. Quincey und Arthur hatten solche Dolche von ihren Reisen mitgebracht. Während ich auf diesen Beweis dafür starrte, wie unbelehrbar meine Feinde immer noch auf Metall als Mittel zu meiner Vernichtung bauten, begann mein Plan für ihre Überlistung seine endgültige Form anzunehmen. Bald schon stand Jonathan mit einigen wenigen an seine Frau gerichteten Worten, die ich nicht hören konnte, auf, stieß die scharfe Klinge in eine Messerscheide unter seiner Jacke, sagte Mina züchtig gute Nacht und verließ sie. Kaum war er fort und die Abteiltür verschlossen, kam Mina zum Fenster herüber. Ihr Antlitz war bleich, doch der Anblick, meines eigenen Gesichts, das verkehrt herum durchs Fenster sah, brachte etwas Leben in ihre Züge, und sie besann sich, einladend zu winken, um mir den Zutritt zu ermöglichen. Im nächsten Augenblick lagen wir einander in den Armen. Mina berichtete, dass die Männer, soweit sie wusste, nach wie vor sämtlich fest davon überzeugt waren, dass ich als Frachtgut im Bauch der Zarin Katharina lag. Sie hatte getan, was sie konnte, um diese Ansicht zu festigen, indem sie bei Van Helsings allmorgendlichen Hypnosesitzungen, wenn sie unter ein paar mesmerischen Strichen seiner Hand vorgeblich in Trance fiel, unverändert von Wassergeräuschen und Dunkelheit erzählte. »Wir werden mindestens drei ganze Tage benötigen, um Varna zu erreichen, wo sie die Kiste abfangen wollen«, berichtete sie mir. »Vlad, bist du sicher, dass deine Anwesenheit im Zug bis dahin vor ihnen geheim gehalten werden kann? Wann und wo wirst du dich zur Ruhe legen?«
»Ich steige in Bukarest aus«, erklärte ich. »Und ich habe auch Vorkehrungen getroffen, um während der Zugfahrt ruhen zu können.« Und ohne wirkliche Bedenken erzählte ich ihr von dem großen Lederkoffer, der im Gepäckwagen mitfuhr, halb voll mit guter transsylvanischer Erde. Ich hegte, wie gesagt, keine ernstlichen Bedenken, es sie wissen zu lassen; seit Jahr hunderten nicht mehr hatte ich einer atmenden Seele vertraut, die für mich derart überlebenswichtige Kenntnisse besaß. Meines Schrankkoffers verlustig zu gehen oder ihn nicht mehr benutzen zu können, hätte mich in eine verzweifelte Lage versetzt – wenn auch zugegebenermaßen nicht ganz so verzweifelt, wie es ein Schiffbruch in der Nordsee auf dem Weg nach England für mich gewesen wäre. Der Express raste ostwärts, Stunde um Stunde; und nahe der französischdeutschen Grenze wäre es möglich gewesen, in den wechselnden Gestalten von Fledermaus, Wolf und Mensch bis in die Heimat zu gelangen, ehe Erschöpfung oder Sonneneinwirkung das Ende gebracht hätten. Nachdem Mina und ich uns in jener ersten Nacht im schlingernden Zug gegenseitig genossen hatten so gut es ging, lagen wir einträchtig Seite an Seite in dem schmalen Bett beieinander; ich selbst zog dank meines scharfen Gehörs einiges Amüsement aus Teilen einer Unterhaltung, die über die Fahrtgeräusche hinweg und durch die dünnen Trennwände aus einem Nachbarabteil an meine Ohren drangen. Die Sprecher waren eine junge Dame, die ich im Verdacht hatte, kupferrotes Haar zu besitzen, und ein junger Mann, der tagsüber möglicherweise in blauer Seide und weißen Socken im Speisewagen tätig war und nachts offenkundig in einer gewagteren und einträglicheren Eigenschaft als der geschäftliche Agent der Dame diente.
»Warum grinst du so, Vlad, mein Lieber? Ich muss gestehen, dass mein Herz schwer ist, solange dein Leben und das von Jonathan immer noch in großer Gefahr sind.« »Ich bin erfreut darüber, dass Arthur und Quincey heute Nacht einer weniger destruktiven Tätigkeit frönen wollen.« »Wirklich? Was meinst du damit?« Mina war ziemlich interessiert, als ich es ihr erklärte. Vielleicht lag es an der Natur unserer besonderen Beziehung, dass sie mit mir offen über Dinge sprach, die sie ihrem Gatten gegenüber nicht gerne zur Sprache gebracht hätte. »Gewiss lenkt es sie zumindest von ihren grausamen Mordgedanken gegen dich ab«, murmelte sie. Darauf erklärte ich knapp, es sei höchste Zeit für mich zu gehen, sofern ich vor Tagesanbruch noch ein Mahl aus Rinderblut und ein wenig Ruhe abbekommen wollte. »Sei bitte vorsichtig«, ermahnte sie mich, »vor allem wenn du oben auf dem fahrenden Zug rumkletterst.« Ich küsste ihre Hand. »Ich werde Acht geben. Aber im Ernst, es ist nicht wahrscheinlicher, dass ich von einem Waggondach runterfalle, als dass du stolperst, wenn du einen ebenen und unbewegten Fußboden überquerst. Und auch um deinetwillen ist es Zeit, dass ich mich verabschiede; du musst nämlich schlafen. Der gute Professor wird sicher noch vor Tagesbeginn bei dir aufkreuzen oder aber dich zu ihm bringen lassen, um seinen gewohnten Bericht zu erhalten.« »Und was soll ich ihm in der Frühe berichten?« »Dasselbe wie bisher – von Wind und Wellen und der Dunkelheit des Schiffsladeraums.« Der Küchenbereich des voiture-restaurant war selbst zu dieser Stunde nicht verwaist. Bäcker und Tellerwäscher arbeiteten geschäftig, damit die Passagiere am Morgen angenehm und reichhaltig frühstücken konnten. Nachdem ich hinter einem Fenster den rechten Augenblick abgepasst hatte,
drang ich in Nebelgestalt ein und bezog ein wenig Rinder- und Lammblut – gestockt, aber immer noch besser als nichts – aus Tierhälften, die in einer großen Kühltruhe im rückwärtigen Teil aufbewahrt wurden. Anschließend, als ich meinen Hunger gestillt und die Farbe in meinen Wangen für einige weitere Stunden erhalten hatte, suchte ich die Zurückgezogenheit meines großen rindsledernen Schrankkoffers auf. In den passagierfreien Gepäckwagen zu gelangen, bereitete mir überhaupt kein Problem. Leider führten meine ungewohnte Schläfrigkeit und das, was man heute als ›Jetlag‹ oder durch Zeitzonenwechsel hervorgerufene Übermüdung bezeichnen würde, dazu, dass das Hinausgelangen zum Problem geriet. Tatsache ist, dass ich verschlief und erst nach Morgenanbruch erwachte, um mit einiger Besorgnis festzustellen, das ich meine Gestalt nicht verwandeln und die Kiste nicht verlassen konnte. Es gelang mir, das Kofferschloss von innen her zu öffnen, und sobald ich hinausgestiegen war, wandte ich die ganze erhebliche Kraft meiner Finger auf, um es wieder zu verschließen, sodass meine Manipulation nicht auffiel. Während ich damit beschäftigt war, platzte Zugpersonal in den Waggon. Ich versuchte, mich hinter einigen Gepäckhaufen zu verbergen; doch meine in Jahrhunderten erworbene Gewitztheit, sofern ich auf dergleichen Anspruch erheben darf, wurde von den eingeschränkten Möglichkeiten der beengten räumlichen Verhältnisse zunichte gemacht; und so führte ein Zufall rasch zu meiner Entdeckung. Sogleich begann ein erregter Disput. Kontrolleure, Gepäckträger, Zugbegleiter jeder Art schienen wie aus dem Nichts aufzutauchen, um mich in einem Dutzend Sprachen mit Fragen zu bedrängen, wer ich sei und was ich an diesem Ort zu schaffen hätte, den zu betreten für einen Passagier undenkbar sei. Ruhig beharrte ich darauf, dass ich nur versehentlich hier
hereingeraten sei, dass ja auch die Waggontür unverschlossen gewesen sei und dass sie lieber darauf achten mochten, ihre Türen abzusperren, wenn diese Gefilde unbedingt tabu bleiben sollten. Chuzpe hätte mich wohl im Nu aus meiner Lage befreit, wäre nicht das scharfe Auge eines meiner Befrager am hellen Metall des aufgebrochenen Schlosses meines eigenen Koffers hängen geblieben. Eine Flut vielsprachiger Flüche, und alles ging von vorne los. Dieser teuer aussehende Koffer, beharrte der Mann, sei noch nicht beschädigt gewesen, als er den Waggon am Vorabend verlassen habe – Ich sei der Täter, sei ein Dieb, wenn nicht Schlimmeres gar. Gegen diese empörte Anschuldigung konnte ich mich wehren, indem ich mich als Besitzer des Koffers zu erkennen gab; selbstverständlich konnte ich ein oder zwei Dokumente vorzeigen, die mich als jenen Corday auswiesen, als dessen Eigentum der Koffer gekennzeichnet war. Bevor jedoch diese meine Einwände irgendeine entscheidende Wirkung zeigen konnten, hatte der Schaffner sich unterfangen, den ledernen Deckel aufzuklappen, mit einer dramatischen Geste, hinter der sich die Hoffnung zu verbergen schien, mindestens einen zerstückelten Leichnam zum Vorschein zu bringen. Alle starrten entgeistert auf meine schlichte Ladung Erde. »Und wie erklären Sie uns dies, Monsieur?« »Falls Sie damit Ihre Unverfrorenheit meinen, guter Mann, sollten Sie die Antwort besser kennen als ich.« »Ich meine, Sir, den Zustand dieses Koffers und seinen Inhalt.« Er spähte abermals hinein, mit leuchtenden Augen. Beherbergte die Erde vielleicht doch noch ein oder zwei Leichenteile? »Es ist mein Koffer, Monsieur Schaffner, und sein Zustand meine Sache.«
Kurz darauf verlegten wir die Auseinandersetzung in den angrenzenden Wagen, wo der Schaffner seinen Kommandoposten innehatte und den Mittelgang des Waggons sowie die Türen der Passagierabteile überblicken konnte. Über seinem Tisch hing ein kleiner Spiegel, der, wäre ich nicht gegen Furcht gefeit gewesen, mir leicht ein oder zwei ängstliche Momente hätte bescheren können. Ein kleiner Ofen neben den Füßen des Schaffners, der jetzt auf seinem Stuhl thronte, verbreitete eine willkommene Wärme gegen die klamme Frühdämmerung des Herbsttages. Falls er gedacht hatte, mich als armen Sünder vor sich stehen zu lassen, sah er sich getäuscht. Mochte er auch König in seinem kleinen Reich auf Rädern sein, so war doch mein eigenes Herrschertum umfassender und souveräner und ich selbst noch erfahrener als er in der Kunst, einschüchternd aufzutreten und zu reden. Scheinbar ohne größeren Kraftaufwand drängte ich mich weiter ungehindert durch sein Gefolge niederrangigen Zugpersonals und begab mich gemächlich zu meinem Abteil. Einer oder zwei von ihnen folgten mir in geringem Abstand – die Kofferangelegenheit war noch nicht restlos ausgestanden, und wie sollte ich jetzt zu einem Schlafplatz kommen? – doch zunächst erfolgte kein weiterer Versuch, mich festzuhalten oder verschärft zu befragen. Kaum hatte ich meine Räume erreicht und es mir bequem gemacht, da erklang ein leises Klopfen von der Türe her. »Wer ist da?« »Dr. Floyd«, glaubte ich als Antwort zu vernehmen, was wie ein englischer Name klang und scheinbar auch auf Englisch ausgesprochen worden war; doch handelte es sich unzweifelbar um die Stimme meines deutschsprachigen Bekannten vom Abend zuvor.
Als ich die Tür öffnete, erblickte ich zu meiner beträchtlichen Überraschung Mina an der Seite des Wiener Arztes. Nachdem wir beiden Männer einander begrüßt hatten, stellte der Doktor, der um Minas Willen Englisch sprach, mich ihr vor. »Infolge einer bestimmten Berufsangelegenheit wurde ich recht früh heute Morgen mit Mrs. Harker bekannt, und sie war so freundlich, darin einzuwilligen, den Frühstückstisch mit uns zu teilen; als ich erwähnte, Dr. Corday, dass auch Sie aus London kommen, wollte sie Sie sehr gerne kennen lernen.« »Ich fühle mich geschmeichelt, Madam Harker.« Und es gelang mir, ihr flüchtig zuzublinzeln, als ich mich verbeugte, um ihre Hand zu küssen. Die »Berufsangelegenheit«, so teilte mir Mina später mit, war die Folge einer Meinungsverschiedenheit in einem der Herrenabteile im Verlauf der Nacht. Coltrevolver und Bowiemesser waren blankgezogen worden, aber zum Glück nicht ernsthaft zum Einsatz gekommen. Beweisstücke in Form gewisser Bekleidungsstücke hatten vermuten lassen, dass zumindest eine junge Frau innerhalb der vier Abteilwände zugegen gewesen war. Dr. Floyd – wie ich seinen Namen damals verstand – hatte Quincey Morris wegen Kopfhautverletzungen behandelt und einen gewissen jungen Kellner aufgrund mäßig schwerwiegender Kopfwunden und Prellungen im Gesicht, die jedoch keine Dienstuntauglichkeit bedingten. Aber gut, warum sollte ich jetzt noch drum herum reden? Nachdem Arthur zur elften Abendstunde bezüglich seines Verlangens nach weiblicher Gesellschaft anderen Sinnes geworden war – er hatte tränenreich und trunken Lucy zu betrauern begonnen – und Quincey die Geldforderung für die beanspruchten Dienste unter Körpereinsatz beanstandet hatte, war es zu beiderseitigen Übergriffen gekommen, und sowohl
Verbandsmull wie auch Banknoten waren erforderlich gewesen, um die Sache zu bereinigen. Harker hatte den Aufruhr gehört und war aus seinem angrenzenden Abteil gestürmt, irre stierend und ein großes Messer schwingend; glücklicherweise beruhigte er sich schnell, als er den wahren Sachverhalt erkannte. Seward und Van Helsing waren auf der Suche nach Mina, um sie für ihre morgendlichen Verlautbarungen zu hypnotisieren, und Jonathan beschied den Schaffner, er solle sich besser nach einem anderen Arzt umsehen, damit die Verwundeten versorgt wurden. Wie der Zufall es wollte, war mein Freund aus dem Raucherabteil in der Nähe einquartiert und kam, um seine Dienste anzubieten. Sein Akzent und vielleicht etwas in seinem Aussehen entlockte dem lieben Jonathan eine halblaute Bemerkung über einen »schafsköpfigen Juden«, indes Quincey unter dem Missbehagen stöhnte, die ihm ein oder zwei Stiche in deinen dicken Skalp verursachten. Mina, die ihre Seance früh beendet hatte, hatte sich bereits auf dem Schauplatz eingefunden; gutherzig wie immer, ließ sie die Männer diskutieren und ihre Wunden lecken und ging mit dem hilfreichen Samariter als eine Art Aufwandsentschädigung frühstücken. Sie war erfreut, mich als unerwartete Dreingabe zu bekommen; ihr Gatte schien aus irgendeinem Grunde froh zu sein, dass sie sich von dem Schauplatz gemeiner Rauferei zurückzog. Wir drei setzten uns im Speisewagen zu Tisch. Ich bestellte Milchkaffee, den ich zu mir nehmen konnte, wenn die Umstände es verlangten. »Und reisen auch Sie, Mrs. Harker«, fragte ich, »nur bis Wien?« »Äh, nein. Mein Gatte hat Größeres im Sinn. Er hat einen Ferienaufenthalt für unsere Gruppe arrangiert, in irgendeinem
Seebad am Schwarzen Meer oder in der Nähe davon. Seine Pläne sind immer noch ein wenig geheimnisumwittert.« »Ich liebe Geheimnisse, Madam. Ich wünschte, es wäre möglich, dass ich mich Ihnen anschließe.« »Das wäre in der Tat erfreulich… meine Herren Doktoren. Das gilt für Sie beide.« Der Mann, den ich als Floyd betrachtete, hatte an seinem Bart gezupft und eindringlich von Minas Gesicht zu meinem und wieder zurück geblickt. Zu spät bemerkte ich, dass mein Haar zur Seite gefallen war und die Mitte meiner Stirn preisgegeben hatte. »Dr. Corday«, begann er zögernd, »ich hoffe, Sie halten mich nicht für zudringlich – mein Interesse ist wirklich rein beruflicher Natur – aber würden Sie mich für unverschämt halten, wenn ich Sie fragte, wie die kleine Narbe auf ihrer Stirn zustande kam?« »Nicht im Mindesten, Doktor. Ich zog mir dieses sonderbare Mal vor gut fünf Monaten zu, durch die Hand eines Bekannten von mir.« Während ich sprach, wurde mir bewusst, wie sehr viel besser mein Konversations-Englisch geworden war, seit ich Harker zum ersten Mal auf Schloss Dracula begrüßt hatte. »War damals zu Gast in meinem Haus; leider ein Opfer von Albträumen. Wurde einmal recht gewalttätig, der Bursche, und wir beide konnten von Glück reden, dass es nicht zu ernsthafteren Verletzungen kam.« »Ich danke Ihnen. I – Ich unterfing mich zu fragen, weil…« Seine Augen wanderten abermals zu dem Spiegelbild meiner Narbe, das leuchtend rot auf der reinsten Stirn der Welt prangte. »Die Narbe auf meiner Stirn ist ein heikles Thema für mich«, erklärte Mina tapfer. »Falls es Sie interessiert, es handelt sich um das Ergebnis einer ärztlichen Fehlbehandlung. Ich möchte nicht weiter darüber sprechen.«
»Bitte um Verzeihung, Madam.« »Keine Ursache, Doktor.« Minas Stimme klang wieder halbwegs heiter. »Dr. Corday.« Der Wiener wandte sich mir zu, offenkundig in der Absicht, das Thema zu wechseln. »Sie haben mir von Ihrem Beratungsservice in London erzählt.« Kaum wurde seine Neugier in einer Richtung gebremst, bohrte er woanders weiter. Und seine Stimme hatte jetzt einen fordernden Unterton: Wie könnte ich mich weiterhin dagegen sträuben, seine Fragen geradeheraus zu beantworten, wenn ein solcher Wechsel des Gesprächsgegenstands dazu beitrug, einer Dame aus ihrer Verlegenheit zu helfen? Unserem Tisch näherten sich zwei Kellner, die Speisen und Getränke durch den Wagen trugen; einer von ihnen hatte ein blaues Auge. Und hinter ihnen folgte – einem Linienschiff gleich, das hinter einem Geleitschutz scharmützelnder Zerstörer in die Schlacht einzugreifen pflegt – mein alter Kontrahent, der Zugschaffner. Fraglos ging er ohne konkreten Vorsatz durch den Waggon – noch nicht einmal ein gesuchter Mörder wäre an Bord dieses Zuges mitten in der Mahlzeit unterbrochen worden – und beabsichtigte, sein Stündlein abzuwarten, ehe er sich mich erneut vorknöpfte. Doch die Gegenwart Minas wirkte inspirierend auf mich, und ich gab eine plötzliche Verlautbarung zum Besten, die ebenso für die Ohren des Schaffners bestimmt war wie für meinen möglicherweise gefährlichen Frühstücksgenossen. »Wissen Sie, meine Freunde«, verkündete ich ziemlich laut, »in London bin ich vor allem als Berater für Moule’s PatentErd-Toiletten-Firma tätig.« »Moule’s…?« Floyd betupften seine gepflegten braunen Oberlippenbart unsicher mit einer Serviette.
»Erd-Toiletten-Firma, mit Sitz im Covent Garden. Moule’s fertigt jetzt auch Erdtoiletten für den Garten, Erdtoiletten für Jagdhütten, Erdtoiletten…« Ein Ausdruck kultivierten gesellschaftlichen Grauens stieg zu meinem innerlichen Jubel in des Doktors Gesicht auf. In Minas Antlitz spiegelte sich dieselbe Empfindung und ebenso in der hochherrschaftlichen Miene des Schaffners, die, wie ich zu meiner Erleichterung sah, auch ein gewisses aufdämmerndes Verstehen zu erkennen gab. »Toiletten für Ferienhäuser, Toiletten für jeden Ort. Und jetzt auch Toiletten in Komplettaustattung; versehen mit ›Auszieh‹Vorrichtung, versehen mit ›Hochzieh‹-Vorrichtung…« Ich konnte nicht erkennen und kann es heute ebenso wenig, warum ein Gegenstand, der sich für die Titelseite einer angesehenen Tageszeitung eignete, bei Tisch so abscheuerregend sein sollte; diese Haltung verdankt sich zweifellos meinem nicht zu unterdrückenden mittelalterlichen Barbarengeist. Beschwipst von meinem Erfolg und meiner Erleichterung, machte ich munter weiter, den Feind gewissermaßen vor mir hertreibend: »Toiletten, gefertigt aus verzinktem Wellblech, zerlegbar, zwecks einfachem Transport. In nur zwei Stunden aufstellbar. Funktionen und zuverlässig, einfach zu versorgen mit feinem und trockenem Humus. Toiletten dieser Bauart erfüllen stets ihren Dienst, wenn man sie sachgerecht mit trockener Erde versorgt. Davon führe ich zu Demonstrationszwecken gegenwärtig einen Vorrat allererster Qualität in meinem Koffer im Gepäckwagen mit mir…«
Bei Ulm überquerte der Zug die Donau, und ich erwog kurz, abzuspringen und zu versuchen, den Rest der Reise auf dem Wasserweg zurückzulegen. Das Frühstück hatte in
missgestimmtem Beinahe-Schweigen geendet, und ich war mir nicht sicher, ob Mina in der nächsten Zeit noch mit mir zu sprechen bereit war. Doch meine vorsätzliche Unmanierlichkeit hatte die gewünschte Wirkung erzielt, wo noch so viele wohlerzogene und wortreiche Erklärungen ihren Zweck sehr wohl verfehlt haben könnten; der Wiener hatte seine Fragerei eingestellt, und wann immer der Schaffner an mir vorbeikam, wandte er unweigerlich den Blick ab. Ich war eine gesellschaftliche Zeitbombe, die jeden Augenblick erneut an Bord seines Zuges hochgehen konnte. Aber meine Fahrkarte war bis Bukarest gelöst, und vorzeitig den Zug zu verlassen hätte sogar noch mehr Aufmerksamkeit auf mich gelenkt. Genug war genug. Niemand würde jetzt noch meinen Koffer anrühren, weder bei Tag noch bei Nacht. In Wien verließ mein junger ärztlicher Freund mit den gedankenvollen Augen den Zug. Er war so höflich, innezuhalten und mir die Hand zum Abschied zu bieten, wobei er mich abermals mit einem freundlichen aber durchdringenden Blick musterte, der anzeigte, dass ich so schnell nicht vergessen sein würde. »Auf Wiedersehen, Dr. Corday. Es war eine fruchtbare Reise für mich – eine überaus fruchtbare Reise in mancher Hinsicht…« Ich erwiderte seinen Händedruck warm und mit gemischten Gefühlen. Unter anderen Umständen hätte ich seine Gesellschaft genossen und mich an seinen tiefschürfenden Gedanken erfreut, doch im Augenblick war ich erleichtert, ihn von hinten zu sehen. Budapest lag nur noch eine kurze Reisestrecke entfernt, und am Abend des vierzehnten Oktober hatten wir die Stationen in Szegedin und Temeswar hinter uns gelassen, wobei die letztere Stadt einstmals der Hauptsitz der Hunyadi gewesen war. Ja, ich näherte mich der Heimat. Wieder und wieder sog ich die
Luft ein, einfach nur um durch den erstickenden Kohlenqualm hindurch die lebendigen Düfte des geliebten Landes meiner Jugend aufzuschnappen. In der Nacht besuchte ich Mina und brachte sie auf den aktuellen Stand all meiner Pläne, ehe es Zeit für mich wurde, den Zug zu verlassen. Zu meiner Erleichterung akzeptierte sie, intelligent wie sie war, meine Entschuldigung für meine Posse am Frühstückstisch. »Fürs Erste fahre damit fort, ihnen ihre Berichte zu liefern«, wies ich sie an, »Dunkelheit und Wasser und so weiter, wie bisher.« »Und wenn das Schiff in Varna ankommt, Vlad? Werden sie nicht so schnell wie möglich an Bord gehen und mittels Bestechung oder Gewalt einen Weg finden, die Kiste zu öffnen? Und wenn sie diese dann leer vorfinden, wird das nicht unsere Pläne zunichte machen und wird nicht ein überaus ernster Verdacht auf mich fallen?« »Ich beabsichtige dafür zu sorgen, dass sie die Zarin nicht in jenem Hafen betreten. Ich muss sie dazu bringen, die Kiste zu verfolgen; mit deiner Hilfe muss ich erreichen, dass diese einen Vorsprung vor ihnen bewahrt, zu Land oder mit dem Flussboot, der aber nicht so groß werden darf, dass sie den Anschluss verlieren. Je tiefer sie in mein Herrschaftsgebiet eindringen, desto größer ist mein Vorteil; denn nur ich kenne die dortige Geografie, die Sprache, die Sitten; sie hingegen werden wahrlich Fremde in einem fremden Land sein. Auch werde ich in der Lage sein, bei Bedarf Hilfstruppen anzuheuern.« »Vlad.« Sie war sehr ernst. »So wie ich bei Jonathan um dein Leben gebeten habe, so wie ich dazu den Mut fand, so bitte ich jetzt dich um das seine. Ich bitte dich um meinetwillen, ihn zu verschonen, sollte je der Moment kommen, da er dir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist.«
»Weit größere Liebesgaben als sein Leben würde ich dir freudig gewähren, wenn du sie erbätest.« Und abermals küsste ich ihre Hand.
8. TONBAND
Gegen fünf Uhr am Nachmittag des fünfzehnten Oktober hatten meine Feinde und Mina das Hotel Odessus in Varna bezogen. Hätte ich die Zugreise bis dorthin mitgemacht, wäre ich etwa fünfhundert Kilometer, oder dreihundert Meilen, Fledermaus-Luftweg von zu Hause entfernt gewesen. Stattdessen ruhte ich behaglich in meinem Koffer – das Schloss von innen heraus fest zugeklemmt – als er bei Tageslicht plangemäß in Bukarest entladen wurde. Indem ich den Zug dort verließ, hatte ich die Entfernung nach Hause um etwa ein Drittel der Strecke ab Varna verringert, was es mir erlaubte, mich ein wenig sicherer zu fühlen. Abgesehen davon hätte es in Varna nur wenig für mich zu tun gegeben, außer Däumchen zu drehen und mit Mina zu flirten. Ich hatte beschlossen, dass das Schiff überhaupt nicht bis Varna laufen sollte. Wie auch immer, die Zarin war bis zum vierundzwanzigsten nicht einmal bis zu den Dardanellen gelangt. Ich hatte also viel Zeit und entschloss daher, sofort nach Hause aufzubrechen, um dort den gebührenden Empfang meiner Gäste vorzubereiten. Ich wusste, wo in Bukarest ein Karren samt Pferden zu bekommen war, den ich in einheimischer Gewandung selbst lenken konnte, ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Wieder einmal in die Tracht meines Vaterlandes gekleidet und mit dem Lederkoffer als fast einzigem Gepäck, schlug ich die Straße zu den Hohen Karpaten ein. Tagsüber am Rande irgendeines kleinen, kaum benutzen Weges schlummernd – mein Zuhause war bereits so nah, dass die gewöhnliche Erde seitlich der Straßen mir einen brauchbaren Schlafplatz bot –
und nachts ohne Rast reisend, hatte ich binnen dreier Tage die langsam bergan führende Wegstrecke so weit bewältigt, dass ich beim dritten Sonnenuntergang überzeugt war, meines Erdkoffers, und damit meines Karrens, nicht länger zu bedürfen. Ich beruhigte die Pferde und entsandte sie in den Stall eines armen Bauern, der mit Beginn des Frühjahrs, wenn die Äcker gepflügt werden mussten, jene Hand segnen würde, die ihm die Tiere zugeführt hatte. Den Karren selbst, ein armseliges Gefährt, ließ ich mitsamt seiner Last am Straßenrand zurück, nachdem ich die Erde aus dem Koffer gekippt und verstreut hatte, da eine derartige Fracht in dieser Gegend zu allerlei Mutmaßungen geführt hätte. Es kommt nicht oft vor, dass ich die müßige Welt mit meinen Gaben segne, doch verdiente es meine Heimkehr, auf ungewöhnliche Weise gefeiert zu werden. Ehe ich zum Schloss aufbrach, machte ich an einem Ort Halt, wo die Szgany zuweilen ihr Lager aufschlugen. Ein paar von ihnen traf ich an, mit ihren Zigeunerwagen und kläffenden Hunden und zerlumpten Kindern. Die der Tarnung dienende Rotwangigkeit meines Gesichtes aus den Tagen meiner Zugreise war verblasst; wenn Strähnen meines Haars vor meinen Augen wehten, wirkten sie dünn und grau, und die Szgany erkannten mich auf Anhieb wieder. Ich runzelte die Stirn, als der erste Galgenvogel, der meiner ansichtig wurde, eine mürrische, fast schon vorwurfsvolle Miene aufsetzte. Als sie Tatra aus seinem Wagen riefen, war die Sache anders. Sein lederhäutiges Gesicht zuckte vor Freunde, als er mich erblickte, und er kam sogleich auf mich zu, fiel auf die Knie und küsste meine Hand. »Herr! Lange haben wir auf Eure glückliche Heimkehr gewartet. Mein Weib und meine siebente Tochter wirkten den Zauber dreimal, in dunkler Nacht wie auch bei Vollmond…«
»Schön, schön. Nun, hier bin ich also. Wie stehen die Dinge im Schloss?« Seine Miene nahm etwas von dem verdrießlichen Ausdruck an, den ich schon auf den anderen Gesichtern bemerkt hatte. »Wir sind dort nicht willkommen.« »Nicht willkommen? In meinem Haus? Wer hat euch das gesagt?« Ein Anflug nahender Genugtuung legte ein Lächeln auf seine Lippen. »Die drei Damen, die dort wohnen, Herr. Sie behaupteten, mit Eurem Wissen und in Eurem Namen zu sprechen. Ich glaubte ihnen nicht… doch bin ich nur ein sterblicher Mann.« »Von nun an wirst du wieder willkommen sein, mein Freund. Doch zunächst gibt es eine andere Angelegenheit, die ich mit dir besprechen muss.« Ich setzte Tatra über das Nahen meiner Feinde in Kenntnis und über den Dienst, den ich bald von ihm und seinen Männern fordern würde. Ich verschwieg ihm, dass ich mich gar nicht in der Kiste befinden würde, wenn er sie flussabwärts in Empfang nahm. Es war nicht zu erwarten, dass er oder seine Männer die Kiste in Kenntnis dessen so rückhaltlos verteidigen würden, wie es Not tat. Tatra hinwieder berichtete mir von gewissen Dingen, die er im Schloss beobachtet hatte, ehe er dort nicht mehr erwünscht war, und ich blickte finster drein, als ich das Zigeunerlager verließ. Anna, Wanda und Melisse wussten zu diesem Zeitpunkt natürlich, dass ich heimkehrte, so wie sie es über die ganze weite Entfernung hinweg gewusst haben würden, wenn ein spitzer Pflock aus englischem Eibenholz zwischen meine Rippen hindurch getrieben worden wäre, um mein Leben auszulöschen. Sie warteten auf den Zinnen des Schlosses, als ihr Herr und Gebieter auf Fledermausschwingen aus einem regnerischen mitternächtlichen Himmel herabsegelte. Anna, die schönste und mutigste des Trios, hielt mir allen Ernstes ihr
Handgelenk hin, mit einem spöttischen Lächeln, so als erwartete sie, ich würde mich darauf niederlassen wie ein zahmer Vogel. Melisse, hochgewachsen und dunkel, sowie Wanda, ihre kleinere, vollbusige Schwester, blieben im Hintergrund, nicht ganz so furchtlos, um sich eine derartige Unverschämtheit zu leisten, doch immerhin mutig genug, in nervöse kleine Lacher auszubrechen, als Anna nicht augenblicklich ihre Strafe empfing. Ich aber wollte genau wissen, was los war, bevor ich etwas unternahm. In aufragender menschlicher Gestalt stand ich mit dem Rücken zu der regennassen Brustwehr und blickte auf die drei weißen, emporgewandten Gesichter hinab, und sehr schnell erstarb das Gelächter. »Man hat mir gesagt«, erklärte ich nun, »dass ihr die ortsansässigen Leute hier schikaniert. Dass ihr junge Männer aus den Dörfern entführtet und sie als Gefangene hieltet. Mein Befehl lautete, dass ihr keine Liebhaber innerhalb des nächsten Dutzend Meilen wählt und dass ihr keinen einzigen mit Gewalt nehmt…« Möglicherweise habe ich einen besonderen Sinn für drohende Gefahr. Oder vielleicht wirkten mein Gehör, ein unterschwelliger geistiger Warnruf und der Ausdruck schlecht verhohlener Erwartung, den ich auf den Gesichtern der Frauen wahrnahm, zusammen, sodass ich wachsam herumfuhr. Ein Bauernjunge mit strähnigem blondem Haar und einem wild wuchernden Bart schoss innerhalb der Bastion auf mich zu, in den Fäusten einen dicken Holzpfahl, dessen feuergehärtete Spitze auf die Mitte meines Leibes zielte. Ich fing den Stoß mit einer Hand ab, entwand ihm die Waffe und packte ihn mit tödlichem Griff. Doch ehe meine Hände ihren Druck so weit verstärkten, dass sie sein Rückgrat entzweigebrochen hätten, blickte ich in sein
Gesicht. Dies war sicher kein Auftragskiller Van Helsings. Nur ein Bauernjunge, stark wie ein junges Pferd und schön wie ein Gott, oder zumindest war er das gewesen, bis seine ganze Kraft durch jene sechs kleinen roten Punkte ausgesaugt worden war, die auf seinem Hals prangten. Sein Mordangriff gegen mich hatte ihn beinahe die letzten Reserven gekostet, und nun erwiderten seine Augen meinen Blick fast gleichgültig. Ich ließ ihn auf den steinernen Wehrgang fallen, hob seine Waffe auf, zerbrach sie mit meinen Händen in kleine Splitter, und schleuderte diese über die Zinnen in den Abgrund. Währenddessen blickte ich unverwandt auf die Frauen. Anna seufzte, hob dann ihr Kinn so stolz wie immer, erwiderte meinen Blick und wartete ab. Melisse warf plötzlich ihre Hände empor, um ihr Gesicht zu verbergen. »Oh, Vlad«, schrie Wanda, »er stammt von weiter entfernt als einem Dutzend Meilen!« Dann sagte sie mit brechender Stimme: »Ich hatte sie vor dem Versuch gewarnt, dich zu töten.« »Dein Warnruf gegenüber mir, meine Liebe«, antwortete ich, »war so leise, dass ich ihn überhörte.« Dann fuhr ich fort, so als sei nichts geschehen: »Die Szgany kehren zurück. Auch kommen einige Engländer hierher, die ihr nicht anrühren werdet. Was eure Bestrafung angeht, dafür, meine Befehle missachtet und dann versucht zu haben, mir das Leben zu nehmen, so besteht ihr erster Teil für euch darin… zu warten.« Erinnerungen an vergangenes Glück mit diesen Frauen kehrten zurück als ich sie ansah und ließen mich lächeln; und erst Wanda, dann auch Melisse begannen leise im Regen zu wimmern. Kaum ein weiteres Wort hörte ich noch von irgendeiner der drei. Ich trug den Bauernjungen nach unten, in Harkers ehemaliges Zimmer, und untersuchte ihn. Trotz des ganzen Blutes, das ihm geraubt worden war, war er noch kein
Nosferatu, oder zumindest war sein Fall noch nicht entschieden. Ich bedachte die Lage und erkannte mit einem Seufzer, dass es meine Pflicht als Herr von Schloss Dracula war, ihn, soweit es in meiner Macht stand, wieder nach Hause zu befördern. Da keine andere lebende Seele verfügbar war, die ich mit einer solchen Aufgabe betrauen konnte, beschaffte ich mir von Tatra einen Karren und ein Pferd und machte mich im Dunkeln selbst auf den Weg, wenn es auch sicherlich einige Tage in Anspruch nehmen würde. Daneben war es meine tägliche Hausaufgabe, mit Hilfe der Splitter und des Staubes, die ich mit mir führte, den Kurs der Zarin Katharina auf See zu verfolgen. Nach wie vor trug ich dafür Sorge, dass sie günstige Winde erhielt, so als wäre ich bei meiner eiligen Heimreise tatsächlich auf sie angewiesen. Da der Feind sie in Varna erwartete, hatte ich beschlossen, sie auf keinen Fall dort vor Anker gehen zu lassen und sandte dem Schiff daher noch ein paar ausgewählte Winde verbunden mit Nebel, sodass die Besatzung außer Stande war, den rechten Kurs zu finden, und ich sie lenken konnte, wohin es mir beliebte. Bis die Besatzung vollständig begriff, was mit ihr geschah, befand sie sich in der Donaumündung im Hafen von Galatz, meinem Stammsitz etwas näher als ich es in Bukarest gewesen war. Die Kaianlagen von Galatz waren neu und effizient, man hatte erst 1887 mit ihrem Bau begonnen, und der Ort war eine blühende Hafenstadt. Das Entladen der Kiste voller Erde wurde von meinem unwissentlichen Agenten, einem gewissen Immanuel Hildesheim, beaufsichtigt, der von Harker in dessen Tagebuch als »ein Jude jener Sorte, die man im AdelphieTheater auf der Bühne sieht, mit einer Nase wie ein Schaf« geschmäht wurde. Hildesheim, der nach brieflicher Anweisung eines Mr. de Ville aus London handelte – eines nahen
Verwandten und engen Freundes von Dr. Corday, wie sich versteht – gab die Kiste an Petrof Skinsky weiter, den ich an früherer Stelle im Zusammenhang mit meiner Abreise aus meinem Heimatland erwähnt habe. Als sie vom Einlaufen des Schiffes in Galatz hörten, verloren meine Verfolger keine Zeit, einen Zug von Varna dorthin zu nehmen, was eine verhältnismäßig kurze Bahnreise von etwa fünfhundert Kilometern bedeutete. Natürlich nahmen sie Mina mit. Als der Zug durch Bukarest fuhr, spähte sie aus dem Fenster in der unsinnigen Hoffnung, meinen Anblick zu erhaschen. In Galatz befragten die Abenteurer den Kapitän der Zarin Katharina, einen abergläubischen, aber opportunistischen Schotten, dem wohl der Verdacht gekommen war, etwas über einfaches Seefahrerglück Hinausgehendes habe die erstaunliche Schnelligkeit seiner Reise bewirkt, der aber die unruhig gewordene Mannschaft dennoch gewaltsam unter seinen Willen gebeugt hatte und den Geschäftsvorteil begrüßte, den die zügige Fahrt ihm einbrachte. Die Hinweise, die sie von dem Kapitän erhielten, führten Van Helsing und seine Männer zu Hildesheim, und von diesem zu Skinksy, der, als sie nach ihm fragten, gerade ganz in der Nähe mit durchschnittener Kehle auf einem Friedhof entdeckt wurde. Ich vermute, er hatte auf irgendeine Art versucht, die Slowaken zu übervorteilen und war von ihnen ermordet worden, aber es versteht sich, dass die Aufzeichnungen meiner Feinde andeuten, ich sei für seinen Tod verantwortlich gewesen. Erschöpfung machte sich unter den Jägern breit, und sie lagen eine Zeit lang matt in ihren jeweiligen Galatzer Hotelzimmern. Quincey kurierte seine Kopfwunde, die aus irgendeiner Hemmung heraus in keinem ihrer Tagebücher jemals erwähnt wurde. Mina begann zu befürchten, dass die Männer es letztendlich gar nicht mehr bis zu jenem Schlussakt
schaffen würden, auf den sie und ich mit soviel Mühe hinarbeiteten. Daher beschloss sie, ihre Begleiter anzuspornen, indem sie eine logische – wenn auch natürlich falsche – Beweisführungskette erdachte, die verriet, wo sie die Kiste, die ihr Gral geworden war, jetzt höchstwahrscheinlich finden würden. Obwohl Mina ihren Bericht ohne meine Hilfe ersonnen hatte, lokalisierte dieser den Sarg ziemlich zutreffend. Natürlich beruhte dessen Wert für meine Feinde, wie Mina nur zu genau wusste, auf zwei Fehlannahmen: Zunächst dem Trugschluss, dass ich die Reise zu meinem Schloss nicht selbstständig unternehmen konnte oder es nicht wollte, sondern es vorzog, mich von Helfern befördern zu lassen; und zweitens dem Glauben, dass ich mich in der Kiste befand, die herverschifft worden war. Als Mina ihren Bericht und ihre Beweiskette zu Ende geführt hatte, waren die Männer hocherfreut und frisch zur Jagd beseelt, und sogleich musste Mina ihnen wieder aus dem Weg treten. Van Helsing höchstselbst zollte ihrer Intelligenz eine beredete Anerkennung, die vielleicht etwas von den Worten getrübt wurde, mit denen er seine Ansprache beendete: »Und nun, Männer, lasst uns Kriegsrat halten…« Minas Schlussfolgerung lautete, dass meine Kiste auf dem Wasserweg näher an Schloss Dracula herangebracht worden war, und so wurden Arthur und Jonathan abkommandiert, um die Verfolgung mit einem gemieteten Dampfboot aufzunehmen und den Sereth-Fluss bis zu seiner Vereinigung mit der Bistriza hinaufzufahren. Letzterer Strom, hatte Mina festgestellt, »umfloss den Borgo-Pass. Die Schleife, die er beschreibt, führt ganz offenkundig so dicht an Schloss Dracula heran, wie es auf dem Wasserweg nur geht.« Quincey und Dr. Seward sollten, zunächst in Begleitung zweier weiterer Männer zur Betreuung ihre Ersatzpferde, unbeirrt dem rechten Ufer des Sereth folgen, stets bereit, auf festem Boden einzugreifen, falls
die Kiste mit dem Vampir darinnen an Land gebracht werden würde. Was Van Helsing anging, so hatte er seine eigenen Ziele im Blick, und nach einer kurzen Verschnaufpause in Galatz war er bereit, sie zu verfolgen: Ich werde Madam Mina mitten ins Herz von des Feindes Land mit mir nehmen. Während der alte Fuchs in seiner Kiste gebunden ist und auf dem fließenden Wasser schwimmt, von dem er nicht entkommen kann… werden wir in Jonathans Spuren treten, von Bistritz über den Borgo-Pass, und unseren Weg nach Schloss Dracula finden. Hierbei wird Madam Minas hypnotische Kraft gewiss helfen… Es gibt viel zu tun dort, und weitere Stätten müssen geheiligt werden, sodass dies Nest von Schlangen ist weggetilgt.
Harker war bereit, seine Frau zurückzulassen und ebenfalls an Bord des Flussbootes zu gehen, wovon er sich die besten Chancen auf einen Zusammenstoß mit mir versprach; aber er ließ sich nicht ohne weiteres davon überzeugen, dass Mina noch näher an mein Schloss herangebracht werden sollte. »Wollen Sie damit sagen, Professor Van Helsing, dass Sie Mina in ihrer bedauernswerten Lage und infiziert von diesem Teufel, wie sie ist, mitten in diesen lauernden Todesschlund führen wollen? Nicht um alles in der Welt! Nicht für Himmel oder Hölle!« Aber sein Widerstandswille konnte gegen den alten Meister der Vernebelung nicht ankommen: Die Stimme des Professors, der in einem klaren, einnehmendem Tonfall sprach, der in der Luft zu schwingen schien, beruhigte uns alle: »Oh, mein Freund, nur weil ich Madam Mina vor diesem schrecklichen Ort will erretten, muss ich mit ihr hingehen. Möge Gott behüten, dass ich sie in jenen
Ort hineinbringe. Dort ist Arbeit – gar grause Arbeit – zu verrichten, die ihre Augen nicht sollen sehen. Wir Männer hier alle, außer Jonathan, haben mit unseren eigenen Augen geblickt, was getan werden muss, bevor dieser Ort kann bereinigt werden… Wenn der Graf uns dieses Mal entkommt… legt er sich vielleicht für ein Jahrhundert zum Schlafe, und dann würde unsere allseits Verehrte hier« – und er nahm Minas Hand – »ihm zum Gefolge werden, wenn ihre Stunde sollte kommen, und würde so wie jene sein, die Sie, Jonathan, haben gesehen. Sie haben uns von ihren hämischen Lippen erzählt; Sie haben ihr obszönes Gelache gehört, als sie den zappelnden Sack umkrallten, den der Graf ihnen hatte vorgeworfen. Sie erschauern; und ganz recht so. Verzeihen Sie mir, dass ich so sehr Schmerz gebe, aber es ist nötig, mein Freund. Ist es nicht eine dringende Erfordernis, für die ich vielleicht gar mein Leben lasse? Wenn es so mag kommen, dass irgendjemand in jenem Ort für immer sollte bleiben müssen, werde ich es sein, der den Gespenstern dort Gespiele ist.«
Van Helsing als Vampir, gegen dieses Bild sträubt sich meine Vorstellungskraft; fraglos verdankt sich dies jedoch nur einer Unzulänglichkeit meinerseits; womöglich brachte er hervorragendes Rüstzeug für diese Rolle mit, denn immerhin war er, wie wir gesehen haben, mit Hilfe von Wortabsonderungen bereits in der Lage, seine Opfer in einen Zustand wehrloser Benommenheit zu versetzen. Wie auch immer, Harker in seiner angstgepeinigten Verwirrung wurde das Gefühl vermittelt, er selbst sei es, der seine Frau irgendwie in Gefahr brachte: »Tun Sie, was immer Sie wollen«, sagte Jonathan mit einem Schluchzen, das ihn am ganzen Leib erbeben ließ. »Wir sind in Gottes Hand!«
Die Empfindungen von Mina selbst in dieser Hinsicht waren vielschichtig. Es wühlte sie jedoch auf, mit anzusehen, wie die Männer sich mit Leib, Seele und Vermögen in die Vorbereitung ihres letzten Sturms auf Schloss Dracula und seinen fürchterlichen Grafen stürzten: »Oh, es tat mir gut, zu sehen, wie sehr diese tapferen Männer sich ins Zeug legten. Eine Frau muss doch Männer lieben, die so unbeirrt, so aufrecht und so tapfer sind! Und es ließ mich auch an die erstaunliche Macht des Geldes denken!« Diese wenigen Worte drücken alles über mein Mädchen aus. Am dreißigsten Oktober zogen die drei Heeresspitzen meines Feindes gegen mich zu Felde. Van Helsing brachte Mina mit dem Zug nach Veresti, wo der Professor eine Kutsche zu kaufen beabsichtigte, um anschließend schnellstmöglich den Borgo-Pass zu erreichen. Jonathan und Arthur, der ein begnadeter Amateur-Dampfkesselmechaniker sein musste, nach der Geschicklichkeit zu urteilen, mit der er unterwegs mehrere Reparaturen bewerkstelligte, machten sich daran, den Sereth hinaufzutuckern. Innerhalb von zwei Tagen erreichten sie die Bistriza, wobei sie von den Flussschiffern gelegentliche Berichte über das Boot der Slowaken erhalten hatten, das ihnen voraus meine Kiste transportierte. Währendessen verlief der berittene Part von Quincey Morris und Seward eher abwechslungsarm, sie trabten durch ein recht reizloses Land, bis sie sich mit der Flussbootbesatzung vereinigten, kurz vor dem Ende… oder dem, was sie alle für das Ende hielten. Van Helsings Reise mit Mina verlief etwas lebhafter, wenngleich niemals auch nur annähernd so ereignisreich wie sie hätte sein können, wäre ich nur halb so begierig auf seine Vernichtung gewesen wie er sich einbildete. In seinem Tagebuch hielt der Professor fest, ihre Kutsche sei am Morgen des dritten November »gerade nach Sonnenaufgang zum Borgo-Pass gekommen«. Die verschiedenen dicht aufeinander
folgenden Einträge sind recht wirr und vielleicht auch nicht ganz verlässlich, denn er berichtet, dass er nicht in die Nähe des Schlosses selbst gekommen sei, ehe die Sonne »tief unten« stand, am Nachmittag des folgenden Tages. Dies würde allem Anschein nach bedeuten, dass es nahezu drei ganzer Reisetage bedurfte, um eine Strecke zu bewältigen, die ich als Kutscher mit Harker neben mir in einer einzigen Nacht zurücklegte, wobei ich auch noch vorsätzlich einige irreführende Umwege einschlug und verschiedentlich Halt machte, um Schätze zu bergen. Möglicherweise dösten der Professor und Mina – beide inzwischen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, in eigentümlicher Geistesverfassung – während der vielen Tagesstunden auf ihren Sitzen vor sich hin, während die Pferde müßig auf der Stelle standen oder sich ihren eigenen Weg unter den zahlreichen gangbaren Möglichkeiten suchten. Diese Theorie, sie könnten die Tage verschlafen haben, wird vielleicht von Van Helsings Aussage gestützt, dass er den größten Teil der Nacht vom dritten auf den vierten November durchwachte, um ein Lagerfeuer zu unterhalten. Mina schien die Nahrungsaufnahme eingestellt zu haben, schrieb er, »und mir es nicht gefällt«. Im Laufe der Nacht nickte er mehrmals ein und erwachte jedesmal, um zu entdecken, dass sie »ruhig lag da, doch wach, und sah mich aus so leuchtenden Augen an«. Zugleich war sie alles in allem »so heiter und fürsorgvoll und freundlich« ihm gegenüber, dass seine Befürchtungen ein wenig beschwichtigt wurden. Und doch, in der Nacht vom vierten auf den fünften November begann er erneut »Furcht zu haben, dass der unheilvolle Bann dieses Ortes lastet über ihr, gezeichnet von der Vampirtaufe wie sie ist«. Und nun war Schloss Dracula unzweifelhaft in Sicht, sogar bereits zu Fuß erreichbar, und er schlug eine Art von Basislager auf.
Mina bekundete nach wie vor, keinen Hunger zu verspüren und konnte – wenngleich sie im Grunde auch kaum versuchte, es zu tun – offenbar einen Kreis aus zerkrümelter Hostie nicht überschreiten, den er vor ihren Augen um sie herum ausstreute. Dies, erklärte er Mina, geschehe zu ihrem eigenen Schutz. Van Helsing selbst war natürlich mit seiner üblichen Fracht aus Kräutern und religiösem Beiwerk gewappnet. Nach Einbruch der Dunkelheit wieherten die Pferde, und von Schneeflocken umflirrt erschienen die drei Frauen aus dem Schloss, indem sie am Rande des Lichtkreises, den das Lagerfeuer verbreitete, allmählich Gestalt annahmen. Aus Harkers Schilderungen kannte Van Helsing bereits »die sich wiegenden runden Formen, die hellen harten Augen, die weißen Zähne, die roten Wangen, die wollüstigen Lippen…« Aus irgendeinem Grunde war wollüstig ein Lieblingsausdruck des Professors. Pech für Anna, Wanda und Melisse. Ich hatte sie davor gewarnt, einen der zu erwartenden »Engländer« anzurühren, und jetzt, zu spät, befolgten sie meine Befehle aufs Wort. Aber natürlich mussten sie trotzdem losziehen und mitten in der Nacht auf Van Helsing einquatschen und das Blut seiner Pferde trinken und Mina auffordern, zu ihnen zu kommen und sich ihnen als Schwester beizugesellen. Vielleicht glaubten sie, Van Helsing panisch schreiend in die Flucht zu schlagen und die Bergflanke hinabzujagen, wo er in blindem Grauen einen Felsvorsprung hinabstürzen mochte. Leider kannten sie seinen Namen nicht. Den hatte ich ihnen nicht genannt… Sie waren ungehorsame Untertaninnen, nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder. In den alten Tagen hätte sie ein derartiges Verhalten bei lebendigem Leibe auf die Holzpfähle gebracht… Ist Ihnen aufgefallen, dass die Pfählung die einzige Bestrafung ist, der man einen Vampir ebenso unterwerfen kann wie einen atmenden Mann oder eine
atmende Frau? Einige behaupten jetzt, ich sei als Vlad der Pfähler bekannt gewesen, als ich noch atmete. Pah, nur wegen blutrünstigen Schlächterwerks in Erinnerung zu bleiben, wie notwendig und gerecht es auch sein mag, und sämtliche höheren Ziele und Ideale aus den Augen verloren haben… Egal. Viel zu lange hatte ich den Ungehorsam der drei Weiber geduldet, der schließlich seinen Höhepunkt in Verrat gegen mich und der Misshandlung von Unschuldigen erreichte. Wären die Dinge aus dem Ruder gelaufen, sodass Mina unverhofft bei mir im Schloss hätte bleiben müssen, hätte ich diese drei auf keinen Fall mehr in unserer Nähe geduldet, nur damit sie ihre geifernde Eifersucht an Mina ausließen. Im Morgengrauen des fünften Novembers erspähte Seward »den Trupp der Szgany… die mit ihrem Leiterwagen vom Flussufer her landeinwärts preschten. Sie scharten sich dicht um den Wagen und jagten wie gehetzt voran.« Hierbei handelte es sich um keinen anderen als Tatra und eine Handvoll seiner zuverlässigsten Männer, die, getreu meinen Befehlen, die Kiste ungeöffnet vom Boot geholt hatten und nun auf das Schloss zuhielten. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Dampfkahn von Jonathan und Arthur endgültig seinen Geist aufgegeben, aber sie waren irgendwie an Pferde gelangt und ritten den Zigeunern ebenfalls nach. Inzwischen war ich von meinem pflichtschuldigen Botenausflug mit dem unglücklichen Bauernjungen zum Schloss zurückgekehrt und gerade rechtzeitig vor Sonnenaufgang dort eingetroffen; und nun, vom Frühlicht in meinem menschlichen Körper gefangen, blinzelte ich in die Strahlen der aufgehenden Sonne, um eine Menschengestalt auszuspähen, die einsam auf meine dräuenden Mauern zukletterte. Als ich Van Helsing erkannte, verkrampfte sich mein Griff um die Kante der Schießscharte, durch die ich blickte, bis die alten Steine unter meinen Fingern abzubröckeln
begannen. Aber ich beschloss, zuzulassen, dass er seines Weges zog und die Überzeugung gewann, mir mein Haus mit seinen Maßnahmen verwehrt zu haben. Mina war mir um so vieles wichtiger als alles andere, ob tot oder lebendig, das er in diesem düsteren Steinhaufen vernichten mochte. Ich verharrte in meinem hoch gelegenen, vergleichsweise sonnigen Ausguck, wo er mich meiner Einschätzung nach kaum suchen würde. Kurz nachdem er weit unter mir meine Eingangstür durchschritten hatte, begann ein hohles Dröhnen durch die Innenhöfe und Gemächer heraufzudringen, die dazwischen lagen. Später entdeckte ich, dass der Professor so vorausschauend gewesen war, die Angeln dieser mächtigen Pforten aus dem Mauerwerk zu schlagen, damit er nicht durch ein Missgeschick oder vampirische Arglist eingesperrt werden würde. Dazu gebrauchte er einen handlichen Hammer aus seinem Koffer, dem er auch noch eine andere Verwendung zugedacht hatte. Wie er später schrieb, war er gerade an den Türen zugange, als er glaubte, er höre »von weit fern das Heulen von Wölfen. Da besann ich mich meiner lieben Madam Mina…« Er hatte sie einsam im Schnee schlafend zurückgelassen, gegen die Kälte in Reisedecken gehüllt, aber von nichts Handfesterem beschützt als seinem Kreis aus Hostienkrümeln. Hätte sie niemals aus meinen Adern getrunken, wäre sie höchstwahrscheinlich erfroren. Und wären jene Wölfe auf der Suche nach einem Frühstückshappen gewesen… Doch wie die Dinge standen, waren sie von mir ausgesandt worden, um Mina zu finden und sie zu bewachen. Dies freilich wusste Van Helsing nicht. Die Gefahren, denen Mina sich womöglich gegenüber sah, versetzten ihn, wie er schrieb, »in eine schreckliche Misslage. Ich stak in einer Zwickmühle.«
Wenn er auch davon ausging, dass sein heiliger Bannkreis Mina bei Tag und Nacht vor Vampiren schützen würde, »so war noch immer da der Wolf«. Jedoch war er nicht der Mann, den die realen Reißzähne des Wolfs auf Madam Minas Haut, oder sein eigenes Fell zwischen den Mahlsteinen der bildlichen Zwickmühle, von seinem Angriffsziel abzulenken vermochten, dem er im Schloss bereits so nahe war. Ich beschloss, das mein Werk hier liegen sollte, und betreffend die Wölfe wir müssten es hinnehmen, so Gott will. Letztlich wären es ja nur der Tod und die Freiheit, die warteten. Also traf ich die Entscheidung für sie. Was ihn selbst anging: Ich wusste, dass mindestens es gab drei Gräber aufzuspüren – Gräber die bewohnt sind; ich suche also und suche und finde eines davon. Sie liegt in ihrem Vampirschlaf, so voll von Leben und wollüstiger Schönheit, dass ich erschauere so als sei ich zu morden gekommen. Nun, Professor, was glauben Sie wohl, warum um alles in der Welt könnten Sie es so empfunden haben? Ah, nicht ich zweifle, dass in alter Zeit, als solche Dinge kamen vor, manch ein Mann, der eine Aufgabe, wie meine es ist, nahm in Angriff, am Ende fand, dass sein Mut fiel ab, und dann seine Nerven versagten den Dienst. So verzögerte er und verzögerte und verzögerte, bis die bare Schönheit und die Faszination der sinnlichen Untoten ihn haben hypnotisiert; und er bleibt und bleibt, bis der Sonnenuntergang kommt, und der Vampirschlaf hat zu Ende. Dann die schönen Augen der Frau gehen auf…
Zu meiner Zeit habe ich ein oder zwei hässliche Vampirfrauen gekannt; ihr Schicksal ist traurig. … und blicken in Liebe, und der wollüstige Mund bietet einen Kuss – und der Mensch ist schwach. Und ein Opfer mehr noch verbleibt in der Familie der Vampire… Van Helsing ist natürlich über eine derartige Schwäche erhaben; wenn er auch zugibt, dass er zu einem Verlangen zu verzögern war bewegt, das meine Kräfte zu erlahmen schien… Ich fiel in Schlaf, den offenäugigen Schlaf wie einer der einer süßen Faszination erliegt, als durch die schneesatte Luft ein lang gezogener, tiefer Wehruf erklang, so sehr voll von Leid und Klage, dass es mich wie Trompetengeschall erweckte. Denn es war die Stimme meiner lieben Madam Mina, die ich hatte gehört. Dieses Heulen scheint mir eher dem Rachen eines der wölfischen Wächter als der Dame selbst entwichen zu sein; doch wie dem auch sei, der Professor nahm es nicht auf sich, Minas Lage im Angesicht der Wolfsmeute zu erkunden, sondern wandte sich wieder der »grauenhaften Pflicht« zu, von der er abgelenkt worden war. Bald schon entdeckte er, einen Sargdeckel nach dem anderen wegschiebend, eine weitere der Schwestern, die zweite Dunkelhaarige. Ich wagte nicht zu halten ein, um sie zu betrachten wie ich hatte ihre Schwester betrachtet, damit nicht noch einmal ich sollte dem Zauber erliegen; aber ich mache weiter zu suchen bis, auf einemmal, ich in einem großen hohen Steinsarg, wie für jemand sehr Geliebten, jene andere schöne Schwester finde…
Sie war so schön anzusehen, so strahlend schön, so verlockend… Was wohl? … wollüstig, dass die schieren männlichen Sinnempfindungen in mir… meinen Kopf machten schwirren vor neuartigen Gefühlen. Selbstverständlich ließ er sich nicht von Gefühlen aufhalten. Sowie er eine weitere Hostie geschändet hatte, indem er sie in meinen eigenen enttäuschend leeren Sarkophag legte, riss er sich zusammen und begann seine »furchtbare Aufgabe… Wäre es nur eine allein gewesen, wäre es leicht gegangen, halbwegs. Doch drei! Zweimal von Neuem zu beginnen, nachdem ich hatte eine Tat des Grauens durchstanden…« Er berichtet nicht die Reihenfolge, in welcher er sich seine Opfer vornahm, doch kann ich bezeugen, dass die schöne Anna zuletzt drankam. Es berührte mich, dass sie am Ende meinen Namen schrie. Und als ich bei diesem Geräusch fühlte, wie tief in meinem Inneren etwas sich regen und auftauen wollte, da wusste ich, dass ich bereits eine Veränderung vollzogen hatte; dass mein Ausflug nach England und meine Liebe zu Mina nicht ohne tiefe Wirkung auf mich geblieben waren… doch ob diese Wandlung, dieses Erweichen, nützlich oder schädlich war, das vermochte ich nicht zu sagen. So ertrug der Professor dreimal pflichtergeben »das grauenvolle Kreischen, wenn der Pflock ins Ziel fuhr; das sich Krümmen der zuckenden Gestalt, und Lippen voll blutigen Schaums«. Bevor er danach das Schloss verließ, »sicherte« er »die Zugänge derart«, dass der rechtmäßige Eigentümer »niemals mehr als Untoter dort konnte gelangen hinein«. Es ist nur schwer vorstellbar, welche Mittel er zu diesem Zweck
bemühte. Sicherlich würden Stückchen des gewandelten Brotes irgendwann, spätestens nach ein paar Monaten, nicht mehr wie Brot aussehen und wären daher auch nicht mehr der Leib Christi. Wie auch immer, ich bemerkte kein Hemmnis, als ich ein und ausging. Wenig nur bleibt noch zu berichten. Erschöpft vom Tageslicht, von meinem langen, wenn auch abgeschirmten Aufenthalt im Sonnenschein, stieg ich vom Schloss hinab und wartete im schwindenden Licht des Abends neben einem Felsvorsprung an der Straße, auf der die Szgany bald vorbeikommen mussten. Von weit her erreichten die Geräusche ihrer Flucht mit dem Leiterwagen meine Ohren, und aus noch größerer Entfernung vernahm ich die Hufschläge der Furien, die sie den ganzen Tag über verfolgt hatten. Während ich wartete, kamen von Zeit zu Zeit meine Wölfe vorbei, um mir wortlos Bericht zu erstatten, durch Heulen und deutende Kopfbewegungen und stumme Gedankenblitze. Ich erkannte, wie die Verfolgungsjagd enden musste, und lächelte. Und ich wusste auch, dass Mina nicht weit entfernt war, inzwischen wieder mit dem Professor an ihrer Seite, und beide den herangaloppierenden Verfolgten samt Verfolgern entgegensahen. Ich beschwor starke Windstöße und Schneegestöber um mich herum, als ich dem nahenden Wagen der Zigeuner in den Weg trat und ihre Pferde durch die Empfindung meiner Gegenwart sicherer zum Halten brachte, als es jeder Anblick meines erhobenen Armes hätte bewirken können. »Herr!«, rief Tatra erfreut vom Kutschbock aus. »Ich glaubte…« Verwirrt drehte er sich um, um einen Blick auf die schwere Kiste zu werfen, die hinter ihm verladen war. Die Szgany, die ihn umringten, zügelten ihre unruhig tänzelnden Pferde.
»Jetzt ist keine Zeit für Erklärungen, meine Getreuen«, sagte ich und sprang auf den Wagen. Ich zwängte meine Finger unter den Kistendeckel und zog ihn auf, Schrauben und Nägel lösend. »Fahr weiter! Und unterwegs soll einer von euch dies hier wieder festnageln. Vor allem aber vergesst nicht, dass sie meine Kiste nicht vor Sonnenuntergang aufbrechen dürfen.« Ich streckte mich flach in der Kiste aus, auf der fremden Erde, die weder Ruhe noch Frieden gewährte, und wartete, Segenswünsche auf meine getreuen Männer herabrufend. Wie hätte ich meinen Feinden im fremden, kalten England jemals eine solche Falle stellen können? Bereitwillige Arme hämmerten den Kistendeckel über mir fest, indes der Wagen ruckelnd wieder in Gang kam und an Fahrt gewann. Während wir dahinjagten, rief ich weitere Wölfe zusammen und heftete sie meinen Verfolgern an die Fersen. Ich ließ die Tiere ständig hinter ihnen rennen, falls noch im letzten Augenblick ein Ablenkungsangriff nötig werden sollte. Ich weiß, wann der Sonnenuntergang bevorsteht, selbst wenn der Tag verhangen oder unter einer dichten Wolkendecke in nächtliche Schwärze getaucht ist. Jener Tag war teilweise bewölkt, und der Schnee kam und ging wie Vorhänge, die die felsige, kiefernbewaldete Landschaft verschleierten. Glauben Sie mir, ich wusste um den Augenblick, da die Sonne an jenem Tag versinken würde. Nach vier Jahrhunderten der Abhängigkeit von diesem Wissen war es mir nicht mehr möglich, mich hierin zu täuschen. Unsere Pferde mühten sich. Die unserer Feinde kamen dennoch näher und näher. Dann ertönten plötzlich und fast gleichzeitig zwei Stimmen, die von Harker und Morris, und riefen auf Englisch »Stehen bleiben!« Durch den hölzernen Deckel über mir konnte ich streitende Stimmen vernehmen, von Freund wie von Feind, und dann hielt der Wagen an. Ich brauchte nur noch einige wenige zusätzliche Augenblicke, ein
paar wenige nur… Ich entschied, es ohne die Hilfe der Wölfe darauf ankommen zu lassen. Der Astronom, der Metereologe, der Künstler, jeder definiert den genauen Zeitpunkt des Sonnenauf- oder Untergangs anders. Für mich tritt der Sonnenuntergang dann ein, wenn sich die Erdmasse weit genug vor die Sonne schiebt, um den Fluss der Neutrinos – oder wie man diesen Elementarteilchenstrom auch immer nennen will – merkbar abzuschwächen, der von der Sonne abgestrahlt wird und die innersten Nervenzentren des vampirischen Körpers und Gehirns teilweise lähmt. In dem Augenblick, als die Vordersten meiner Feinde auf den Wagen sprangen, schirmte ein vor der schwindenden Sonne aufragendes Bergmassiv mich bereits gegen ihre Strahlung ab. Mina, die gemeinsam mit Van Helsing den Kampf zu diesem Zeitpunkt von einer leicht darüber emporragenden Erhebung aus beobachtete, hielt fest, dass »Draculas Schloss nun vor dem roten Himmel emporwuchs, und jeder Stein seiner zerbröckelnden Zinnen sich im Abendlicht der untergehenden Sonne abzeichnete«. Es war Harker selbst, der den Wagen geentert hatte, und »die Kiste mit einer Kraft, die schier unglaublich schien, hochhob und über ein Rad hinweg auf den Erdboden warf«. Quincey Morris, auch wenn er sich dabei eine Messerwunde zuzog, die sich als tödlich erweisen sollte, kämpfte sich durch die Szgany hindurch und half Harker, meinen Kistendeckel aufzustemmen. Jetzt waren auch Seward und Lord Godalming zur Stelle und hielten von ihren erschöpften Pferden aus meine Zigeuner mit ihren Winchestergewehren in Schach, wogegen deren Messer nicht ankamen, sodass sie nur noch zusehen konnten. Als der Deckel von der Kiste fiel, blickte ich in den westwärtigen Himmel, an dem die Sonne gerade in diesem Moment verschwand, und fühlte meine Kräfte erwachen. Mein
Timing war gut gewesen; nein, ich darf zu Recht und voll Stolz behaupten, dass es perfekt war. Mina schrie auf, als sie den Dolch ihres Gatten durch meine Kehle fahren sah, während gleichzeitig Mr. Morris’ Bowiemesser in sein Herz drang. Es glich einem Wunder; doch vor unseren Augen, und fast so schnell wie man Atem holt, zerfiel der ganze Körper zu Staub und entschwand unseren Blicken. Ich werde voll Glück daran denken, so lange ich lebe, dass in jenem Augenblick der letztendlichen Auflösung ein solcher Ausdruck des Friedens auf seinem Gesicht lag, wie ich ihn dort niemals zu sehen erwartet hätte. Auch ich werde voll Glück daran denken, meine Geliebte; denn es bedeutete, dass mein Körper, von metallischen Schmerzen an Hals und Herz durchschauert, Linderung im Balsam des Sieges erfuhr, derweil ich mich in Nebel verwandelte, welcher, unbemerkt durch das Schneegestöber entweichend, bald der Sicht all jener entschwunden war, die ihn vielleicht gesehen hatten… Ich hatte erwartet, dass Van Helsing oder Seward oder sogar einer der anderen sich vielleicht wegen der rein metallischen Instrumente sorgen würden, mittels derer ich – ohne die Beihilfe von Holz oder Knoblauch – allem Anschein nach so leicht aus der Welt geschafft worden war. Ebenso fehlten das »Kreischen«, das »Zucken« und der »Blutschaum auf den Lippen«, allesamt Begleiterscheinungen, die jeden ihrer vorausgegangenen Lynchmorde an meinesgleichen gekennzeichnet hatten. Doch hätte ich deswegen keine Bedenken hegen müssen. Meine Jäger waren geistig und körperlich erschöpft, einer wie der andere, und mehr als bereit, sich mit dem jetzigen Spielstand vollkommen zufrieden zu geben. Sogar Minas Unterbewusstsein schien zufriedengestellt.
Denn obwohl sie aufschrie, als sie meinen Tod mit ansah – zu jenem Zeitpunkt im Zweifel, ob er echt war oder nicht – verschwand das Vampirmal von ihrer Stirn und kehrte nie mehr zurück. Sie war endlich in der Lage, Van Helsings Bannkreis aus Hostienkrümeln zu überschreiten, um Morris in seinen Sterbesekunden beizustehen und ihren Gatten in die Arme zu schließen. Die Zigeuner hatten sich zerstreut und die Flucht ergriffen, und ich, als Nebelschwade inmitten des treibenden Schnees, nahm meinerseits Abschied… Für ein paar Stunden… Kurz nach Sonnenuntergang hörte es zu schneien auf, und es folgte eine bitterkalte Nacht. Meine Feinde lagerten im Freien – ihre eigenen Ängste und vielleicht auch das schlechte Gewissen des einen oder anderen unter ihnen hätten ihnen schwerlich erlaubt, die Nacht innerhalb der Mauern von Schloss Dracula zu verbringen. Sie entfachten ein Feuer gegen die Wölfe – meine verstörten Kinder heulten noch immer in der Ferne – und einigten sich darauf, abwechselnd Wache zu halten. Doch einer nach dem anderen sanken sie um die niederbrennenden Flammen herum in unruhigen Schlaf, bis nur noch eine Person wach war – sie, die bereits zu lernen begonnen hatte, die Nacht zu ihrem Tag zu machen. Ich vertiefte den Schlummer der anderen, dann kam ich heran und stand am Rande des Flammenscheins, wo ihre unruhigen Augen mich nicht übersehen konnten. Unwillkürlich fuhr ihre Hand bei meinem ersten Anblick abermals an ihre Stirn, um sich der unversehrten Glätte an dieser Stelle zu vergewissern. Sie bedachte die Männer mit einem Rundblick, dann stand sie auf und kam auf mich zu, auf dem gefrorenen Boden behutsam einen ihrer groben Stiefel vor den anderen setzend. Selbst aus der Entfernung merkte ich, dass etwas anders geworden war. Was genau, vermochte ich nicht zu sagen. Doch plötzlich war ich auf der Hut.
»Vlad«, sagte Mina frank und unvermittelt, als sie herankam, »du hast mir versichert, dass ich nichts zu fürchten habe hinsichtlich – hinsichtlich dauerhafter körperlicher Folgen als Ergebnis unserer bisherigen Beziehung. Stimmt das?« »Es stimmt.« Ich verbeugte mich, ohne meinen forschenden Blick von ihren Augen zu wenden. »Es ist jetzt von einiger Bedeutung, dass dies zutrifft«, fuhr sie fort und unterbrach sich, um ein schwaches Aufstoßen von sich zu geben. »Entschuldige.« »Du hast nichts essen mögen? Das wird sich bald geben, so wie bereits dein Brandmal verschwunden ist. Ich sagte dir ja, dass diese Symptome an dir lediglich ein Resultat von Van Helsings hypnotischen…« »Dies hat nichts mit Van Helsing zu tun, oder mit Hypnose«, unterbrach sie mich brüsk. »Tatsache ist, dass ich schwanger bin.« Mein Mund öffnete sich, doch ich fand keine Worte. »Ich bin schwanger, und ich gedenke keine Risiken einzugehen, was das Wohl meines zukünftigen Kindes betrifft. Ich sage dir Lebewohl, Vlad. Verstehst du das?« Ich konnte lediglich nicken.
Es war im Sommer des Jahres 1897, glaube ich, als Mina und ihr werter Jonathan, zusammen mit Lord Godalming und Dr. Seward – die zu jenem Zeitpunkt selbst mit Ehefrauen und Kindern belastet waren – und natürlich mit Sie-wissen-schonwem in der Funktion eines weisen Onkels und Reiseleiters, noch einmal in mein schönes Land tourten. Ich vermute, dass auch diesmal die Bauern die Finger kreuzten und sich selbst mit Gebeten und Anrufungen schützten, als sie vom Ziel der durchreisenden Pilgerschar erfuhren; solche Dinge pflegen sich
innerhalb von sechs oder sieben Jahren nicht allzusehr zu ändern. Wenn auch Schloss Dracula heute beinahe verschwunden ist, aus alten Erinnerungen ebenso wie aus der Landschaft, fanden die Touristen des Jahres 1897 es fast unverändert vor. Ich bin davon überzeugt, dass Mina einige Überredungskunst hatte aufwenden müssen – vor allem ihrem Gatten gegenüber –, damit sie diese Reise antraten; wenn ich er gewesen wäre, hätte ich nicht Transsylvanien als Ferienziel gewählt. Ich wusste, dass sie unterwegs war, über all die Kilometer hinweg… Ich wusste es. Und natürlich wusste ich auch davon, als sie in den zerfallenen Schlosshof trat, an einem Tag voller Vogelsang und Sommerlicht und einer Kletterblume hier und da. Nachdem sie eine Zeit lang mit den anderen Mitgliedern ihrer Reisegesellschaft über dies oder jenes Merkmal der Architektur geplaudert hatte, stieg sie alleine zu meinem, wie ich es nennen darf, öffentlichen Grab hinab – jenem Grab, das Van Helsing bereits gefunden hatte. Es gab und gibt ein weiteres, weitaus privateres, in nicht allzu großer Entfernung. Unter einem strahlenden Sommerhimmel wie jenem war sogar die düstere unterirdische Gruftkammer beinahe so hell wie der Tag. Einen langen Augenblick lang stand Mina mit gesenktem Kopf vor dem eindrucksvollen Monument, das meinen Namen trägt. Dann wandte sie sich um – und ich wartete auf sie, in geringer Entfernung lässig auf einer der niedrigeren Grabplatten sitzend. »Du hast mich erschreckt«, sagte sie, wobei sie in einer mädchenhaften viktorianischen Geste die Hand an ihren Busen hob, darin jedoch unter meinem eindringlichen Blick auf halbem Wege innehielt. Dann fragte sie: »Wie geht es dir, Vlad?«
»Recht gut. Ich… folge weiterhin meinem Schicksal.« Ich vollführte eine unbestimmte Handbewegung, mir selbst nicht ganz schlüssig, was ich damit meinte. »Und dir?« Die Stimmen der restlichen Reisegruppe waren irgendwo über uns hörbar, darunter helles Kindergeplapper. Ein schwacher Schatten flog über Minas Gesicht, und ich erriet seine Bedeutung und fuhr fort: »Dein Kind ist von mir und meinen Eigentümlichkeiten unbelastet. Die Blutflüsse vermischen sich nicht im Mutterschoß.« Damals glaubte ich das; seit neuestem sind Männer der Wissenschaft sich dessen nicht mehr so sicher. »Zwei Kinder, Vlad. Ich habe Zwillinge zur Welt gebracht.« »Sie sind beide unbelastet. Und wenn sie es auch nicht wären? Es gibt Schlimmeres auf dieser Welt als ein Vampir zu sein.« Über Lucy, Minas Tochter, will ich jetzt nichts sagen, denn sie lebte noch, als ich zuletzt von ihr hörte. Doch ganz gewiss gehörte Quincey, ihr Sohn, sein ganzes kurzes Leben lang zu den Atmenden; er benötigte Bajonette und Handgranaten, um anderer Menschen Blut zu vergießen, und es war deutsches Eisen, das seines trank, 1916 an der Somme. Minas Gesicht hellte sich auf, und wir standen da, einander anblickend, und sie schien unschlüssig, was sie als Nächstes sagen sollte. Doch langsam begann sie zu lächeln und schüttelte ihren Kopf. »Vlad, Vlad. In England hat es Zeiten gegeben, im hellen Sonnenschein, da… verzeih mir, aber da habe ich bezweifelt, dass es dich überhaupt gibt.« »Ja? Aber das geht in Ordnung. Jedes Jahr werden die Menschen weniger, die an mich glauben. Aber wenn sie mich allesamt vergessen haben, werde ich dennoch hier sein, wie ein Überbleibsel aus einer untergegangenen Welt.« »Oh Vlad! Dein Dasein ist so einsam. Und sechs Jahre lang hast du hier gewartet.« Ich hatte während der Wartezeit nicht
jeglicher Gesellschaft entbehrt, doch sah ich keinen Grund, ihre Vermutung zurechtzurücken. Über uns hallten laute sorglose Schritte einer kleinen Menschengruppe von Gewölbemauern wider, jetzt kamen sie näher, und eine helle Stimme wurde laut: »Mami, Mami, bist du da unten?« Mit einem einzigen lautlosen Satz war ich bei Mina, pflanzte einen Kuss auf ihre Lippen und drückte ihr etwas in die Hand. Das Tageslicht band mich an die menschliche Gestalt, doch dies war immer noch mein eigener Grund und Boden, und ich war gut damit vertraut. In dem Augenblick, als zwei Kinder in die Gruft stürmten, war ich außer Sicht, aber auf Beobachtungsposten. »Mami, Mami, da bist du ja. Ohh, was ist das? Grabsteine!« Dann spazierte Harker höchstselbst herein, grau und respektabel und ein wenig zur Leibesfülle neigend, und hielt abrupt im Schritt inne, als er bemerkte, welchen Raum er betreten hatte. »Guter Gott«, murmelte er, »ich hätte nie geglaubt, einmal den Tag zu erleben, an dem wir hier in aller Ruhe gefahrlos stehen können.« »Ich kam, um ein Gebet zu sprechen, Jonathan«, sagte seine Frau. »Für ihn.« Ihr Gemahl sah nicht zu ihr hin, und ihr Blick huschte in die Richtung, wohin ich verschwunden war. »Dass wir uns eines Tages an einem… einem glücklicheren Ort als diesem Wiedersehen mögen.« »Wie lieb von dir, mein Schatz, für ihn zu beten«, murmelte Harker und tätschelte besitzergreifend ihr Haar, wodurch er es etwas aus der Fasson gebracht haben musste, denn sofort folgten kurze zurechtzupfende Fingerbewegungen ihrerseits. »Was hast du da in der Hand, Mina?« »Oh, nur einen Goldring. Er lag hier in einer Fuge zwischen den Bodensteinen, und ich habe ihn aufgehoben. Glaubst du, ich darf ihn behalten?«
»Ich wüsste nicht, was dagegen spricht, Liebes. Ich bezweifle, dass der rechtmäßige Eigentümer danach suchen wird. Hm, ja. Quincey, Lucy, zeigt ein wenig Ehrerbietung, setzt euch bitte nicht auf die Grabsteine!«
Habe ich Mina danach wiedergesehen? Ja, zugegeben, einoder zweimal. Jonathan starb am Schlagfluss, bei einem Wutausbruch gegen Neville Chamberlain anno 1938. Mina erreichte ein Lebensalter von fünfundneunzig Jahren. Sie tat ihren letzten Atemzug 1967 in einem Pflegeheim in Exeter und wurde in der Nähe davon auf ihrem Familienfriedhof begraben. Auf dem St.-Peter’s-Friedhof, genau genommen, nicht weit von dieser Schneewehe entfernt, wo wir gerade sitzen… Van Helsing, Gott sei seiner verwirrten Seele gnädig, behielt am Ende in einer Sache Recht… Hatte ich mein Blut mit dem meiner Gespielen vermischt, war es fast allen von ihnen bestimmt, wieder aufzustehen, nachdem sie scheinbar gestorben waren. Ausnahmen sind äußerst selten. Einige, wie Lucy Westenra, erheben sich nach nur drei Tagen oder noch schneller. Bei anderen braucht es drei Jahre oder länger. Moderne Einbalsamierungsmethoden spielen eine Rolle, denn wenn das vampirische Herz beinahe zerstört ist, benötigt es eine lange Zeit, um sich wiederherzustellen. Doch genau das tut es, sofern die Zerstörung nicht vollkommen ist. Nach dieser Wiederherstellung jedoch vergeht ein weiterer Heilungszeitraum, ein Zeitraum, während dessen der begrabene Körper, noch immer reglos, sich unweigerlich erneuert und verjüngt. Und nachdem dies geschehen ist…
Das Band zwischen Mina und mir ist lang geworden, doch nie gerissen. Und heute Nacht bin ich hierhergekommen, um sie in einem neuen Leben zu begrüßen. Einem Leben, welches zwar weiterhin irdische Sorgen enthält, das ihr aber auch, wie ich fest glaube, einige unvergleichliche Freuden bescheren wird, von denen jene keine Vorstellung besitzen, die bloß atmen… Mina!
Bald darauf endet das Tonband, die einzigen Geräusche auf dem verbleibenden Abschnitt sind das Pfeifen von Schnee und Wind um die Autofenster, und was einige Zuhörer als schwache, ferne Salven schallenden Gelächters beschreiben, eine davon weiblich und ausgelassen, die andere männlich und tief.