Buch Noch immer haben die Männer und Frauen der verlorenen Legion, die im Cumbre‐System am Rand der menschlichen E...
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Buch Noch immer haben die Männer und Frauen der verlorenen Legion, die im Cumbre‐System am Rand der menschlichen Einfluss‐Sphäre festsitzen, keine Verbindung zu den Zentralwelten der Konföderation. Und nachdem die Invasion der Musth abgewehrt und auch der Kampf gegen den Tyrannen Alena Redruth siegreich beendet wurde, ist es für die Männer und Frauen der Legion an der Zeit, sich der Frage zuzuwenden, die sie seit langem beschäftigt: Warum schweigen Centrum und die anderen wichtigen Welten der Konföderation? Und um das herauszufinden, haben Garvin Jaansma und Njangu Yoshitaro, die beiden Troubleshooter der Legion, sich etwas ganz Besonderes ausgedacht ... Autor Chris Bunch verfasste gemeinsam mit Allan Cole die erfolgreichen Sten‐ Chroniken sowie die Fantasy‐Saga um die Fernen Königreiche, die zu internationalen Bestsellern wurden. Chris Bunch starb am 4. Juli 2005 in Ilwaco, Washington. Bereits erschienen: DIE DRACHENKRIEGER: Herrscher der Lüfte / Dunkle Schwingen / Dämonenfänge. Drei Romane in einem Band! (24199) DIE VERLORENE LEGION: 1. Die Rekruten. Roman (24331), 2. Feuersturm. Roman (24332), 3. Feindesland. Roman (24333), 4. Die Heimkehr (24334)
Chris Bunch
Feindesland Die verlorene Legion 4 Roman Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Last Legion 4. Homefall«
Für Warren Lapine und Angela Kessler
1 Sie waren zu zehnt und trugen gescheckte Tarnuniformen. Sie waren schwer bewaffnet und verdreckt, und sie stanken wie der Dschungel, in dem sie während der vergangenen vier Tage gelebt hatten. Nun kauerten sie im Matsch am Rand eines Sumpfes und beobachteten, wie die Wachpatrouille vorbeizog. Die Wärmescanner der Patrouille wurden durch den isolierten Stoff getäuscht, den die zehn Kämpfer trugen, und niemand konnte
sich vorstellen, dass sich irgendjemand in dem stinkenden Sumpf verstecken würde. Der Mann an der Spitze blickte sich zur Anführerin des Trupps um, zeigte auf ein halbes Dutzend Behelfsunterkünfte in etwa hundert Metern Entfernung und zeichnete ein Fragezeichen in die Luft. Die Frau nickte. Der Mann hielt einen Finger hoch ‐ ein Wachposten? Die Frau schüttelte den Kopf ‐ nein, zwei. Sie zeigte nach vorn, und dann sah der Mann an der Spitze ihn ebenfalls, den zweiten Wachposten, der verstohlen dem ersten hinterherschlich. Sie winkte zwei weitere Leute nach vorn und tippte auf ihr Kampfmesser. Einer lächelte gepresst, zog sein Messer und machte sich auf den Weg, der andere folgte ihm... Aut Njangu Yoshitaro nahm seinen Becher Tee, nippte daran, verzog das Gesicht, als er das lauwarme Gebräu schmeckte, und wandte sich wieder dem Holo zu. 3
»Das Problem ist Folgendes, Boss«, sagte er. »Sie haben hier... und hier Luftabwehrstellungen, und ich wette, dass es noch mehr Raketen unter dieser fingerförmigen Halbinsel gibt, die wie eine Aufforderung aussieht, dort einen Landeplatz anzulegen. Ich sehe keine Möglichkeit, wie es unsere Griersons bis zu diesem Landeplatz hier drüben schaffen, um einen anständigen Angriff starten zu können.« Caud Garvin Jaansma, der Oberkommandierende des Zweiten Regiments der Streitmacht Angara, studierte die Projektion, drehte sie und drehte sie dann noch einmal. »Wie warʹs, wenn wir zum Beispiel eine Salve Raubwürger auf den Finger abfeuern und dann mit unseren Luftkampfgefährten nachstoßen?« »Da ist nichts zu machen«, antwortete Njangu, sein Erster Offizier. »Wir haben hier die Nan‐Kompanie... und hier die Rast‐Kompanie, die ihr Rückendeckung gibt. Beide sind nahe genug dran, um hei einem Angriff etwas abzubekommen. « Garvin Jaansma war durch und durch Soldat ‐ groß, kräftig gebaut, mit blondem Haar, blauen Augen und kantigem Kinn. Jeder fand, er sei der perfekte Kandidat für ein Rekrutierungsposter. Jeder außer Jaansma, was möglicherweise einen Teil seines Charmes ausmachte. Nur wenige Menschen kannten die Verschlagenheit des Geistes, der sich hinter seinem geradlinigen Äußeren verbarg. Andererseits waren sich alle einig, dass Njangu Yoshitaro genau so war, wie er aussah ‐ raffiniert und gefährlich. Schlank, dunkelhäutig, schwarzhaarig. Er stammte aus den Slums und war von einem Richter genötigt worden, zum Militär zu gehen. »Scheiße«, murmelte Garvin. »Wer hatte die bescheuer 3
te Idee, unsere Stoppelhopser genau vor der Nase der bösen Jungs in Stellung zu bringen?« »Äh... du.« »Noch mal Scheiße. Ich schätze, wir können es uns nicht leisten, von unserer eigenen Artillerie beschossen zu werden, was?«
»Nicht nach dem, was gestern passiert ist«, sagte Njangu. »Und alle Aksai sind für die Brigade im Einsatz. Schau mal hier. Wie wärʹs damit? Wir kommen mit einer Staffel Zhukovs herein, in großer Höhe und außerhalb der Reichweite der Shadow‐Raketen, und lassen sie direkt...« Er unterbrach sich, als er ein leises Stöhnen hörte. Es klang, als würde jemand abgestochen. »Verdammt!«, sagte er und eilte durch die Behelfsunterkunft zu seinem Kampfanzug. Er hatte kaum den Kolben seiner Pistole berührt, als das Fliegengitter zur Seite gerissen wurde und drei verdreckte Männer und eine Frau in die Unterkunft sprangen. Er versuchte trotzdem, an die Waffe zu gelangen, dann feuerten zwei Blaster. Njangu stöhnte und betrachtete den großen Blutfleck auf seiner Brust, kippte um und blieb reglos liegen. Garvin hatte seinen Blaster aufgehoben, und die Frau, die den Trupp leitete, schoss ihm ins Gesicht. Er wurde zurückgeschleudert, fiel durch das Holo und riss den Projektor zu Boden. »Okay«, sagte Cent Monique Lir knapp. »Ausschwärmen und den Rest der Kommandogruppe erledigen, bis ihr getötet werdet. Lasst euch nicht gefangen nehmen... Verhöre sind eine verdammt unangenehme Sache.« Ihre Leute aus der Aufklärungskompanie zogen wieder los, und das Rattern von Blastem war zu hören. 4 Lir setzte sich auf einen Klappstuhl und legte die Beine auf einen zweiten. »Du bist nett gestorben, Boss. Die Neuen mögen es realistisch.« Garvin setzte sich auf und wischte sich die klebrige rote Farbe aus dem Gesicht. »Danke. Wie zum Henker seid ihr durchgekommen?« »Wir haben uns einfach die dreckigsten Stellen ausgesucht und sind losgekrochen«, erklärte Lir. Njangu kam wieder auf die Beine und warf einen angewiderten Blick auf seine Uniform. »Ich hoffe, dass sich dieses Zeug auswaschen lässt.« »Kein Problem«, meinte Lir. »Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet. Ich muss die übrige Besatzung des Hauptquartiers eliminieren.« Sie verließ die Unterkunft. »Fitzgerald wird mir die Lungen rausreißen, weil ich mich habe erschießen lassen«, sagte Garvin. »Ich glaube, sie ist jetzt vollauf mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt«, erwiderte Njangu. »Bei der letzten Lagebesprechung steckte sie bis zum Hals in Aufmarschplänen.« Er ging zu einem unscheinbaren Kühlschrank, öffnete ihn und nahm zwei Dosen Bier heraus. »Ich denke, da wir jetzt offiziell tot sind, können wir uns einen Drink genehmigen, oder?«
»Gute Idee«, sagte Garvin und nahm einen tiefen Schluck. »Dieses Kriegsspiel war ein ganz schöner Reinfall, nicht wahr?« »Damit zeigt sich mal wieder, dass eine Brigade, die eine verschanzte Brigade angreift, ein fröhliches Schlachtfest veranstalten kann«, stellte Njangu fest. »Genau wie es im Lehrbuch steht. Ganz zu schweigen von der Tatsache, 5
dass gut trainierte Killer wie die Aufklärer es jederzeit mit einem Haufen Infantristen aufnehmen können.« »Als hätte ich jemals daran gezweifelt«, sagte Garvin. Er nahm einen weiteren Schluck Bier. »Ich finde, es hat viel mehr Spaß gemacht, als wir die Rolle der Aggressoren spielen durften, als wir schmutzig und gemein sein durften und anderen Leuten einen Strich durch die Rechnung machen konnten.« »Mag sein«, sagte Njangu. »Aber vergiss nicht, dass wir auch ziemlich oft getötet wurden, als die Blasterpatronen real waren. Und der Tod war auch ziemlich real. Das war einer der Gründe, warum wir beschlossen haben, ehrgeizig zu werden und in der Befehlshierarchie aufzusteigen, wie es sich für gute kleine Helden gehört. Außerdem gibt es hierfür mehr Geld.« »Aber in Friedenszeiten ist es auf jeden Fall langweiliger«, sagte Garvin. »Halt endlich die Klappe«, schlug Njangu vor. »Der Tod klopft sowieso immer viel zu früh am Morgen an die Tür. Lass uns mal sehen, ob wir diesen Mist zu einem unordentlichen Haufen zusammenfegen können, um dann die Soldaten herauszuholen und uns auf die Suche nach einer Dusche und einem Drink zu machen.« »Nachdem man uns den Arsch aufgerissen hat, weil wir verloren haben«, fügte Garvin düster hinzu. »Autsch!«, sagte Garvin und rieb sich imaginäre Verletzungen. »Ich vergesse immer wieder, dass du unter anderem deswegen befördert wurdest, weil du so gut mit Worten umgehen kannst. Es wäre schöner gewesen, wenn Caud Fitzgerald statt Dant Angara uns die Leviten gelesen hätte.« 5
Es war der folgende Nachmittag, als der Befehlshaber der Legion die Nachbesprechung des Manövers beendet hatte und die Soldaten geduscht, gefüttert und in den wohlverdienten zweitägigen Urlaub geschickt worden wa‐ ren. »Ich blute, ich stöhne, ich klage«, sagte Njangu. »Was hat er noch gleich über mich gesagt? >Unfähige Planung, nachlässige Ausführung, idiotischer Abschlüsse« »Mich hat es viel schlimmer erwischt«, meinte Garvin. »>Fehlerhafte Erkundung, schlechte Führung des Stabs, Vortäuschung nicht vorhandener Intelligenz, verdiente Erschießung, allgemeine Nachlässigkeit des Personals und Leistungen, die sich nur mit der gleichgültigen Einstellung erklären lässt, dass Manöver in Friedenszeiten keine Rolle spielen.<«
»Der Kerl kann ganz schöne Scheiße reden«, maulte Njangu und erwiderte geistesabwesend den Gruß eines Aspiranten, der an der Spitze seines Trupps marschierte und die Stufen des Offiziersclubs von Camp Mahan hinaufstieg. »Wann kommt Tasith rüber?« »Um achtzehn Uhr dreißig oder so. Sie sagte, ich soll nicht zulassen, dass du mir erlaubst, mich zu sehr zu betrinken. « »Äußerst seltsam«, erwiderte Njangu. »Dasselbe hat Maev über dich gesagt.« »Kluge Köpfe bewegen sich in ähnlichen Bahnen«, dozierte Garvin. »Wie Fließbandarbeiter.« Er wand sich. »Auf jeden Fall fühlt es sich gut an, wieder sauber zu sein.« »Du wirst weich, Boss«, sagte Njangu. »Du bist kein richtiger Soldat mehr, wenn du es nicht länger als drei Tage ohne Dusche aushältst. Und du wolltest unbedingt mit Lir durch diese Giptelscheiße robben? Du wirst alt, Großvater. 6
Wie viele Jahre hast du schon auf dem Buckel? Sechsundzwanzig? Das ist immerhin eins mehr als ich.« »Vielleicht verwandle ich mich in ein Weichei«, sagte Garvin. »Im Gegensatz zu euch jüngeren Raufbolden. He, schau mal!« Er zeigte quer durch den geräumigen Club auf einen Tisch im Hintergrund, an dem ein sehr großer Mann mit vorzeitigem Haarverlust in einem Pilotenanzug saß, während er trübsinnig auf einen fast geleerten Bierkrug starrte. »Worüber grübelt Ben nach?«, fragte Njangu. »Er dürfte kaum zu blank sein, um sich zu besaufen. Wir haben doch erst vor einer Woche unseren Sold bekommen.« »Keine Ahnung«, sagte Garvin. Er ging zur Bar, holte zwei Krüge und zwei Gläser, dann machte er sich zusammen mit Njangu auf den Weg zu Cent Ben Dill. »Er sieht unglücklich aus«, sagte Njangu in bedauerndem Tonfall. »Ist er vielleicht aus seinem Aksai gefallen und hat sich das Stupsnäschen angeschlagen?« »Schlimmer«, sagte Dill. »Viel, viel schlimmer. Mrs. Dills Lieblingssohn wurde heute getötet.« »Schöne Scheiße«, sagte Njangu. »Wir auch.« »Nein, ich rede nicht von einem blöden Manöver«, sagte Dill mürrisch. »Ich meine tot getötet.« Garvin stupste mit einem Finger gegen den Piloten. »Für einen Geist wirkst du ziemlich materiell.« »Ich meine nicht totentot getötet«, sagte Ben. »Nur tot getötet.« »Ich glaube, jetzt bin ich ein wenig verwirrt«, meinte Garvin. »Hier«, sagte Njangu. »Trink dein Bier und erzähl Tante Yoshitaro von all deinen Sorgen.« 6
»Geht nicht«, sagte Dill. »Wie hoch ist eure Sicherheitsstufe?«
»Krypto Quex«, erklärten beide Offiziere gleichzeitig mit einem selbstgefälligen Grinsen. »Eine höhere gibt es nicht«, fügte Njangu hinzu. »Aha?« Dill runzelte die Stirn. »Und was ist mit Operation HEIMKEHR?« Jaansma und Yoshitaro sahen sich verständnislos an. »Aha!«, rief Dill. »Wenn ihr noch nie davon gehört habt, ist eure Sicherheitsstufe nicht hoch genug. Dann darf ich mit euch nicht darüber sprechen.« »Ich kann deine Vorsicht sehr gut verstehen«, sagte Njangu, »wenn man bedenkt, dass wir hier mitten in einem Nest voller Spione sitzen.« »Na hör mal!«, sagte Garvin. »Die Sicherheit ist wichtig!« »Nur für andere Leute«, erwiderte Njangu. »Jetzt wollen wir mal eine kleine geheimdienstliche Analyse machen, während wir hier rumsitzen und an den Bieren arbeiten, die uns Mr. Dill soeben ausgegeben hat. Erstens sollten wir uns der Tatsache bewusst sein, dass seit meiner Degradierung von meiner früheren Position als einer von Dant Angaras Sicherheitsfuzzis die Qualität der Sektion Zwei in erstaunlichem Ausmaß nachgelassen hat. Das bedeutet, dass meine Nachfolger es sich insofern leicht machen, als jemand einer Operation einen Kodenamen verpasst, der genau besagt, worum es dabei geht. Wir könnten demnach den Verdacht hegen...«, und Njangu senkte automatisch die Stimme, während er sich mit einem Rundblick überzeugte, dass die Tische in der Nähe unbesetzt waren, »...dass HEIMKEHR etwas damit zu tun hat, dass die Legion endlich in Erfahrung bringen will, warum un 7
sere allseits geliebte Konföderation verschwunden ist und uns hier am Arsch des Universums im Stich gelassen hat, mit einer Träne im Augenwinkel, mit dem Schwanz in der Hand und einem Loch in der Hose.« Dill zuckte leicht zusammen. »Meine Güte!«, sagte er. »Du redest schon genauso gequirlt wie Jaansma!« »Wahrscheinlich ist es zu einem gewissen interkulturellen Ausgleich gekommen«, räumte Njangu ein. »Ich glaube eher, dass es mir gelungen ist, ihn auf mein Niveau hochzuziehen«, sagte Garvin. »Njangu ist ziemlich gut darin, eins und eins zusammenzuzählen. Schließlich sind alle Top‐Piloten für einen Sonderauftrag abkommandiert worden... Leute wie du, Alikhan und Boursier zum Beispiel. Und wenn du tot getötet, aber nicht totentot getötet wurdest, dann hast du vielleicht ferngesteuerte Schiffe hinaus in die wilde schwarze Finsternis navigiert. Aber ich glaube nicht, dass wir uns in weiteren Einzelheiten ergehen sollten, wenn du nichts darüber erzählen willst.« Dill nickte. »Sagen wir einfach, ich habe meinen Schwanz irgendwo reingesteckt, wo ich ihn nicht hätte reinstecken sollen, worauf er um etwa vierzig Zentimeter gekürzt wurde und ich nun mit einem nur noch neunzig Zentimeter langen Stummel leben muss.« Die Konföderation war ein jahrhundertealtes Staatsgebilde, das sich über einen großen Teil der Galaxis ausgebreitet hatte: Manchmal war die Regierungsform
autoritär genug, um es als Imperium bezeichnen zu können. Eine der Armeen der Konföderation, die Legion, war in das rohstoffreiche Cumbre‐System verlegt worden, das sich am Rand der »Zivilisation« befand. Auf der einen Seite lebten die Musth, feindliche Aliens, und auf der anderen die angriffslustigen Bewohner der Systeme Larix und Kura. 8
Garvin und Njangu waren als Rekruten mit dem letzten Raumschiff aus der Konföderation vom Hauptplaneten Centrum gekommen, um auf D‐Cumbre zu dienen. Dabei waren sie um Haaresbreite einer Entführungsaktion durch Einheiten von Larix und Kura entkommen. Und danach hatte es keine Flüge und keine Kommunikation mehr gegeben. Die Armee, die plötzlich von allem abgeschnitten war, hatte in einem Bürgerkrieg gegen die einheimischen Rauhm gekämpft, dann gegen die Musth und vor einem guten E‐Jahr einen brutalen Krieg gegen Larix und Kura geführt. Jetzt herrschte Frieden. Doch jeder wusste, dass die Legion, wie sie inoffiziell genannt wurde, früher oder später nach der Konföderation beziehungsweise ihren Überresten würde suchen müssen. Also hatten die Wissenschaftler der Streitmacht still und heimlich Drohnen gebaut, die von Piloten auf D‐Cumbre in Echtzeit »geflogen« wurden. Der Kontakt zu den Flugkörpern wurde über eine Relaiskette aus Satelliten gehalten, während die Drohnen von einem Hyperraum‐Navigationspunkt zum nächsten sprangen. Eine ideale Methode, um sich in der Umgebung umzusehen. »Ich glaube, wir können uns denken, was passiert ist«, sagte Njangu. »Du warst irgendwo da draußen mit deiner Drohne spielen, und dann hat dir jemand das Spielzeug kaputtgeschossen. Mein herzliches Beileid.« »Wenigstens schicken wir keine bemannten Schiffe los«, sagte Garvin. »Trotzdem bringt es einen ziemlich aus dem Konzept, wenn man getötet wird«, sagte Dill, der direkt aus dem Krug trank und ihn leerte, ohne auf Garvins Proteste ein 8
zugehen. »Halt die Klappe. Wenn ich einen ausgebe, ist es mein Bier, also darf ich es auch trinken. Stimmtʹs?« Er warf Garvin einen finsteren Blick zu, und dieser nickte schnell. Ben Dill war eine treibende Kraft der Legion, aber zum Glück ein eher gut gelaunter Vertreter. Meistens. Das Problem war, dass niemand in der Truppe genau wusste, was seine Launen auslöste, da sie sich von Tag zu Tag unvorhersehbar zu ändern schienen. Jaansma winkte dem Barkeeper und bestellte eine zweite Runde. »Weißt du«, sagte Njangu nachdenklich, »vielleicht ist es an der Zeit, dass ich meinen hochgebildeten Geist damit beschäftige, über ein paar Dinge nachzudenken.« »Wasʹn für Dinge?«, nuschelte Dill und nahm sich einen der drei neuen Krüge. »Ach«, sagte Njangu, »zum Beispiel die Frage, warum du so hässlich bist.«
Dill wollte gerade etwas darauf erwidern, als er sah, dass ein Albtraum den Club betrat. Er war über zwei Meter groß und trug ein gestreiftes Fell, dessen Farben zwischen Gelblich und Bräunlich variierten. Auf einem recht langen Hals saß ein kleiner Kopf, der ständig in Bewegung war. Das Geschöpf lief aufrecht auf den Hinterbeinen, und die vorderen Gliedmaßen waren mit Krallen bewehrt. Es hatte einen kleinen Schweif und trug eine Rüstung in den blau‐weißen Farben der Konföderation. »He, Alikhan!«, brüllte Dill dem Musth‐Söldner zu. »Bring deinen pelzigen Arsch hier rüber und hilf mir, mit diesen Schleimbeuteln fertig zu werden!« Der Alien kam an ihren Tisch. »Wasʹn los?«, fragte Dill besorgt. »Du siehst unglücklich aus.« 9
Er war einer der wenigen Menschen, die von sich behaupteten, die Mimik eines Musth entschlüsseln zu können. »Schwer zu sagen«, antwortete Alikhan. Im Gegensatz zu den meisten Musth, die Schwierigkeiten mit Zischlauten hatten, sprach er exzellentes Standardterranisch. »Aber wenn ich wäre, wo ich nicht bin, würde ich nicht hier bei euch sein.« »Ach so«, sagte Ben Dill. »Dann bestell dir etwas von deinem stinkenden Fleisch und leiste uns beim Abhängen Gesellschaft. Wir alle wurden getötet.« »Ja«, sagte Njangu Yoshitaro nachdenklich. »Es wird höchste Zeit, dass sich mein Verstand diesem Konföderationsproblem widmet.«
2 Jasith Mellusin musterte Garvin Jaansmas lädierte Nase und kicherte. »Ich habe dir doch gesagt, dass man schon auf D‐Cumbre oder wenigstens einer anderen Welt mit viel Wasser geboren sein muss, wenn man es zum Wellenreiter bringen will.« »Blödsinn.« Garvin betrachtete seinen ähnlich mitgenommenen Brustkorb. »Ich brauche nur etwas Unterweisung. Du hast mir nie gesagt, dass man aus einer Welle fallen kann.« »Weil ich noch nie jemanden kennen gelernt habe, dem so etwas passiert ist«, erwiderte Jasith. Jasith Mellusin war mit dreiundzwanzig Jahren eine der reichsten Frauen im Cumbre‐System. Ihr gehörten Mellu 9
sin Mining und die vielen anderen Nebenfirmen, die ihr Großvater und Vater aufgebaut hatten. Sie und Garvin waren ein Liebespaar gewesen, hatten sich getrennt und waren wieder zusammengekommen, während die Musth D‐ Cumbre besetzt hatten. »Ich werde hier einfach eine Weile herumliegen und mir einen Sonnenbrand holen«, stöhnte Garvin, »bis ich mich erhebe und den Kampf von neuem aufnehme. Reich mir doch bitte mal das Glas.«
Jasith griff in den Schatten unter ihrem Sonnenschirm und gab das Glas, das auf der kleinen tragbaren Bar stand, an ihn weiter. Er kippte den Alkohol in einem Zug hinunter. Hinter ihnen stand Jasiths Luxusgleiter auf dem menschenleeren Strand. Vor ihnen krachten riesige Wellen gegen die Küste und verliefen sich im schwarzen Sand. »Aahh! Vielleicht überlebe ich es.« Er streckte sich aus. »Weißt du, dass du hervorragend die Kunst beherrschst, mich vergessen zu lassen, dass ich morgen wieder Dienst habe?« »Das hatte ich beabsichtigt«, schnurrte Jasith. »Apropos...« Sie stockte. »Vielleicht solltest du dir wieder die Hose anziehen und mir das Handtuch geben. Ich höre Musik. « »Nein, das ist nur dein Sonnenstich.« Aber Garvin tat, wozu sie ihm geraten hatte, weil zwei Gestalten über den Strand in ihre Richtung gelaufen kamen. Eine war Njangu Yoshitaro, die andere Maev Stiofan, die vor kurzem von Larix gerettet worden war und nun als Leiterin der Leibwache von Dant Angara fungierte. Sie drehte eine Kurbel an einem grellbunten Kasten, und Yoshitaro trug eine Kühlbox in der einen Hand und etwas in Papier Eingewickeltes in der anderen. 10 »Ah‐jut‐dut‐dut‐dut‐dut‐dah‐duh«, sang Njangu, während sie näher kamen. »Wir bringen Euch Geschenke in Hülle und Fülle, o großer, furchtloser Führer!« »Wie zum Henker habt ihr uns gefunden?«, wollte Garvin wissen. »Dieser Strand ist Privatbesitz, und wir haben niemandem verraten, wohin wir gehen.« »Ach«, meinte Yoshitaro und setzte eine geheimnistuerische Miene auf. »Habt ihr noch nicht vernommen, dass ich alles weiß?« »Hallo, Jasith«, sagte Maev. »Das war seine Idee, und ich habe keine Ahnung, was er in seinem Köpfchen ausgeheckt hat.« »So ist es doch immer mit den beiden.« Jasith winkte ab. »Hol dir ein Handtuch und einen Drink.« »Habe ich gesagt, dass die Musik aufhören soll?«, beklagte sich Njangu, als er die Kühlbox öffnete und zwei Biere herausnahm. Maev drehte gehorsam weiter an der Kurbel, und die blecherne Musik setzte wieder ein. »Was bei Gottes tätowiertem Hintern ist das?«, fragte Garvin. »Ha!«, sagte Njangu. »Und du behauptest, Zirkusleiter gewesen zu sein!« »Zirkusdirektor«, stellte Garvin richtig und sah sich den Kasten genauer an. »Donnerwetter! Eine Spieldose! Und sie spielt, äh, das >Elefantenlied<.« »Den >Marsch der Elefanten<, um genau zu sein«, erklärte Njangu. »Maev hat sie in einem Antiquitätenladen gefunden, und das hat mich auf diese Idee gebracht. Hier.« Er reichte das eingewickelte Paket weiter. »Ich habe doch gar nicht Geburtstag«, warf Garvin misstrauisch ein. 10
»Stimmt«, sagte Njangu. »Das ist nur eine subtile Methode, um dich auf einen weiteren meiner brillanten Pläne vorzubereiten.« Garvin riss das Papier auf. Zum Vorschein kam eine Scheibe, auf der sich mehrere Figuren befanden ‐ ein kleiner Mann, dessen Kleidung ihm mehrere Nummern zu groß war, eine Tänzerin, die auf dem Rücken eines vier‐füßigen Tieres stand, eine andere Frau in Strumpfhosen und in der Mitte ein Mann in sehr altmodischer Garderobe. Das Ganze bestand aus Plastik, und die Farbe war bereits stellenweise abgewetzt. »Ich musste den Motor auswechseln, damit es wieder funktioniert«, sagte Njangu. »Drück mal den Knopf da.« Garvin tat es. Nun hüpfte der Clown in den zu weiten Sachen herum, das Pferd lief im Kreis, während die Reiterin einen Handstand machte; die Frau machte eine Rolle vor‐ und rückwärts, und der förmlich gekleidete Mann streckte den Arm nach hierhin und dorthin. »Ich bin platt!«, sagte Garvin leise, und seine Augen wurden feucht. »Was ist das?«, fragte Jasith. »Das ist die Manege eines Zirkus«, hauchte Jaansma hingebungsvoll. »Eines Zirkus aus sehr, sehr alten Zeiten. Danke, Njangu!« »Seht ihr, wie gut mein Plan funktioniert?«, sagte Yoshitaro. »Ich habe ihn fast dazu gebracht, dass er wie ein Baby flennt. Ich hab den Trottel weichgeklopft!« Garvin stellte das Spielzeug ab. »Eine beeindruckende Werbekampagne.« »Es ist auch ein beeindruckender Plan«, sagte Njangu. »Als Erstes denk mal darüber nach, was wir falsch gemacht haben. Als wir erwarteten, Ärger mit Protektor Redruth zu 11
bekommen. Wir sind mit einem Schnüffelkommando losgezogen, um nachzusehen, was sich zusammenbraut, richtig? Und wir hatten es einem inzwischen unbeweint dahingeschiedenen Spion zu verdanken, dass sie uns auflauerten, und dann hat man uns die Ärsche kreuzweise aufgerissen, richtig? Und nun ‐ während ich die Damen bitte, sich die zarten Öhrchen zuzuhalten und nicht zu vernehmen, was ich sage ‐ und nun betreiben wir erneut eine heimliche Schnüffelaktion, und was geschieht?« »Du meinst die Drohnen, die wir ständig verlieren?«, fragte Maev. »Über die Operation HEIMKEHR dürftest du doch gar nichts wissen.« Njangu zog beide Augenlider hoch. »Genauso wenig wie du, du gemeine Leibwächterin.« »Ganz im Gegenteil«, sagte Maev selbstgefällig. »Was glaubst du wohl, wen Dant Angara als Kurier einsetzt? Ich habe schon vor etwa einem Monat eine Sicherheitsunbedenklichkeitsbescheinigung für HEIMKEHR erhalten.« »Und hast mir nie davon erzählt!« »Du musstest auch nichts davon wissen, mein Guter.«
»Zeus auf dem Donnerbalken!«, sagte Njangu. »Siehst du jetzt, meine liebe Jasith, warum du dich lieber vom Militär fernhalten solltest? Es verdirbt selbst die liebevollste Beziehung mit dem Bedürfnis, in dunklen, schmutzigen Geheimnissen herumzuwühlen.« »Ich kenne das«, erwiderte Jasith. »Deswegen hatte ich die ganze Zeit so ein schlechtes Gewissen, weil ich meinem lieben Garvin nicht sagen durfte, dass die Mellusin‐Werft von der Legion beauftragt wurde, diese Drohnen zu bauen.« Beide Männer starrten sich sprachlos an. »Wir dürfen jeder göttlichen Wesenheit, an die wir nicht 12
glauben, dankbar sein, dass hier keine Spione mehr herumschleichen«, meinte Garvin schließlich. »In unseren verdammten Kreisen lässt sich nichts geheim halten. Es leckt wie... wie die Blase eines inkontinenten Unteroffiziers.« »Wie könnte es Spione geben, wenn wir noch gar nicht wissen, wer diesmal die verdammten Schurken sind?«, gab Njangu zu bedenken, leerte sein Bier und nahm sich ein neues aus der Kühlbox. »Da ich ohnehin gründlich vom Thema abgelenkt wurde, kann ich genauso gut das neue Stichwort aufgreifen. Jasith, du Liebste, du Augenstern meines besten Freundes, könnte ich mir ein Raumschiff von dir borgen?« »Was stellst du dir vor?« »Etwas Großes und Klobiges. Mit viel Schub. Interstellar, versteht sich. Muss aber nicht zu schnell oder wendig sein.« »In welchem Zustand werde ich es zurückbekommen?« »Wenn ich das wüsste«, sagte Njangu. »Vielleicht wie neu. Vielleicht in vielen kleinen Müllsäcken. Vielleicht auch gar nicht, obwohl du in diesem Fall keine Schadensersatzforderungen an mich stellen kannst, weil ich beabsichtige, mich an Bord aufzuhalten.« Jasith grinste. »Ich glaube, ich habe etwas für dich. Zufällig steht in meiner Werft gerade ein großer Kasten herum. Wurde unmittelbar nach dem Krieg in Dienst gestellt. Ein Transportschiff, das überall landen kann, für Bergbaumaschinen ‐ und ich meine große Bergbaumaschinen, zum Beispiel selbstständige Montaneinheiten oder auch komplette Fabriken ‐ zur Ausbeutung der äußeren Planeten. Es ist riesig, fast drei Kilometer lang, und dass es hässlich ist, wäre noch nett gesagt. Ich kann es höchstens so beschreiben, dass es wie die größte Nasenspitze des Uni 12
versums aussieht, der jemand Landestützen angepappt hat, die überhaupt nicht zum Rest des Schiffes passen. Viele Beulen und Wölbungen. Da es sowieso ein klobiger Klotz werden sollte und obendrein ein gutes Steuerabschrei‐ bungsprojekt war, haben wir auch gleich einen Sternenantrieb eingebaut. Darin kann man locker eine Hand voll Patrouillenschiffe unterbringen und vielleicht noch ein paar Aksai dazu‐packen. Braucht nur eine kleine Besatzung, um es zu fliegen ‐ auch wenn ich mich jetzt nicht erinnere, wie viele es genau
waren. Und es hat genügend Platz für Schlafsäle, Quartiere oder sogar Einzelschlafzimmer. Es kann fünfzehnhundert oder sogar noch mehr Leute aufnehmen, die zufrieden und komfortabel nächtigen können, da sich ansonsten niemand freiwillig an Bord eines schwerfälligen, stinkenden Bergbauschiffs begeben würde. Die Frachträume lassen sich unterteilen, und da wir manchmal empfindliche Sachen durch die Gegend schippern, gibt es dreifach redundante Antigravs«, fügte sie hinzu. »Als sentimentale Patriotin, die ich nun einmal bin, würde ich den Schwerer Schlepper VI für, sagen wir, zehn Credits pro Jahr an die Legion vermieten.« »Damit wäre Schritt eins erledigt«, gab Njangu bekannt. »Übrigens habe ich schon immer die romantischen Namen bewundert, die sich die Mellusins für ihre Raumschiffe einfallen lassen.« »Verrätst du mir jetzt, was dieser Klotz von Raumschiff mit dem Zirkus zu tun hat?«, wollte Garvin wissen. »Ganz einfach. Wir brauchen einen Klotz von Raumschiff, um unseren Zirkus durch die Gegend zu schippern.« »Unseren Zirkus?«, fragte Garvin. 13
»Unser junger Caud ist wirklich ein Schnellmerker«, erklärte Njangu. »Was glaubst du wohl, worauf meine ganzen Andeutungen hinauslaufen? Und warst du nicht derjenige, der jedes Mal, wenn wir uns betrunken haben, herumge‐ jammert hat, dass er all das hier aufgeben und sich einem Zirkus anschließen will, ganz im Sinne deiner glorreichen Familientradition? « »Hmmm«, machte Garvin nachdenklich. »Wir werden Folgendes tun«, fuhr Njangu fort. »Wir stellen eine Truppe zusammen ‐ ich habe extra nachgesehen und mich überzeugt, dass es wirklich so heißt! —, die aus Angehörigen der Streitmacht besteht. Dann ziehen wir los und verstecken uns ganz offen, wir machen hier und dort eine Vorführung, und die ganze Zeit arbeiten wir uns immer näher heran, bis ins Capella‐System und nach Centrum. Wir müssen gar nicht besonders gut sein. Es reicht, wenn wir den Eindruck erwecken, uns ein paar schnelle Credits verdienen zu wollen. Und wir sollten ein paar nicht ganz saubere Nummern einbauen«, sagte er nachdenklich. »Erstens würde niemand von einem Soldaten der Konföderation erwarten, etwas nicht ganz Sauberes zu tun, und zweitens könnte uns das nützlich werden, wenn wir aus dem Dienst ausscheiden wollen. Sobald wir genug gehört und gesehen haben von dem, was da draußen in der großen Sphäre des Schweigens vor sich geht, schleichen wir uns wieder nach Hause, erstatten Bericht und lassen Dant Angara entscheiden, was wir als Nächstes tun könnten. Aber so bekommen wir immerhin eine gewisse Vorstellung, was da draußen los ist... außer lautloser Schwärze.« Maev nickte. Sie verstand ihn gut, da sie selbst aus einem anderen System kam. Jasith, die während ihres bishe
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rigen Lebens kaum mehr als Cumbre kennen gelernt hatte, zuckte mit den Schultern. »Interessant«, meinte Garvin, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte. »Sehr interessant.« »Du findest den Plan gut?«, fragte Njangu. »Zumindest teilweise«, sagte Garvin, der absolute Gelassenheit vortäuschte. »Ich hätte da nämlich noch ein paar eigene Ideen.« »Vergiss nicht, dass du beinahe exekutiert worden wärst, als du das letzte Mal eigene Ideen in die Tat umgesetzt hast«, beeilte sich Njangu klarzustellen. »Ich bin der Kopf dieser Aktion, verstanden?« Maev lachte. »Wenn das stimmt, steckt ihr beiden Clowns ganz schön in Schwierigkeiten.« »Clowns...«, griff Garvin leicht entrückt das Stichwort auf. »Ich habe schon immer von einer ganzen Manege voller Clowns geträumt — so viele, dass mich niemand mehr sieht, wenn sie herumtollen. Du würdest übrigens einen guten Clown abgeben, Njangu.« »Ich? Nein. Ich werde der Typ sein, der die Leute in die Manege schickt.« »Der Sprechstallmeister? Ich weiß nicht, ob du das nötige Talent dazu hast«, sagte Garvin mit gespielter Ernsthaftigkeit. »Wartet mal einen Moment«, sagte Jasith. »Ihr beiden redet davon, in der Weltgeschichte herumzuziehen und eine Menge Spaß zu haben.« »Aber nein!«, widersprach Njangu mit Unschuldsmiene. »Die Risiken sind beträchtlich. Wir lachen der Gefahr ins Gesicht.« »Gut«, sagte Jasith. »Nächste Planänderung: Wenn ihr mein Schiff haben wollt, werdet ihr mich mitnehmen.« 14
»Hä?« »Immer seid ihr es, die Abenteuer erleben!«, beschwerte sich Jasith. »Das wird jetzt anders.« »An welche Sparte hast du für dich gedacht?« »Habt ihr auch Tänzerinnen im Zirkus?«, fragte sie. »Klar«, flötete Garvin. »Was ist eine gute Show ohne ein bisschen Sex? Natürlich alles völlig seriös!«, fügte er hastig hinzu. »Und wenn ich dabei bin, erst recht!«, sagte Jasith mit Entschiedenheit. Garvin wandte sich an Njangu. »Ich habe gelernt, einer Mellusin niemals zu widersprechen, wenn sie in diesem Tonfall redet.« »Gut«, sagte Njangu. »Also kommt sie mit. Und du kommst nicht auf dumme Gedanken. Außerdem kann sie die Buchhaltung machen, wozu sie ausreichend qualifiziert sein dürfte.« »Und ich passe auf, dass du keine Dummheiten anstellst«, sagte Maev. »Schließlich willst du die Leute aus der Streitmacht rekrutieren.«
Njangu grinste und küsste sie. »Wenn Dant Angara dich gehen lässt, warum nicht?« »Löwen und Pferde und vielleicht sogar Bären...« Garvin träumte vor sich hin. »Klar doch«, sagte Njangu. »Fragt sich nur, wo du diese Tierchen auf Cumbre auftreiben willst.« Garvin lächelte geheimnisvoll und rappelte sich auf. »Dann wollen wir Angara mal von unserer neuesten Verrücktheit erzählen.« Dant Grig Angara, der oberste Befehlshaber der Legion, starrte auf das kleine Holo des Schwerer Schlepper VI, das 15
die Funktionen des Schiffes vorführte ‐ wie die Rampen ausgefahren wurden, wie sich riesige Hangartore öffneten, die Decks umstrukturiert wurden. Doch in Wirklichkeit nahm er es gar nicht wahr. »Als Kind haben mich meine Eltern einmal in einem Zirkus mitgenommen«, sagte er langsam. »Und die hübscheste Frau der Welt in weißen Strumpfhosen gab mir irgendeine Süßigkeit, die wie eine rosa Wolke war, wenn man hineinbiss.« »Siehst du«, sagte Garvin zu Njangu. »Jeder liebt den Zirkus. Zuckerwatte für alle.« Angara kehrte in die Realität zurück. »Eine interessante Idee«, sagte er nachdenklich. »Natürlich dürften Sie keine Spuren hinterlassen, die nach Cumbre führen, wenn Sie in See stechen.« »Selbstverständlich nicht, Sir.« »Wir könnten Wettkampfspiele für die Streitmacht abhalten, bei denen Sie sich die geeigneten Athleten aussuchen könnten.« »Wir könnten sogar systemweite Spiele veranstalten«, sagte Njangu. »Schließlich müssen wir uns keine Sorgen wegen der Geheimhaltung machen.« Angara verzog das Gesicht. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen in diesem Punkt zustimme. Es gefällt mir nicht, wenn jeder Cumbrianer über die Aktion Bescheid weiß. Aber vielleicht haben Sie recht.« »Wenn Sie eine Massenrekrutierung wünschen, ist das in Ordnung«, sagte Garvin. »Aber unseren ersten Zwischenhalt ‐ sofern Sie uns keine anderen Anweisungen erteilen — sollten wir auf einer Zirkuswelt einlegen.« »Zirkuswelt?«, sagte Angara mit ungläubigem Unterton. 15
»Ja, Sir. Ich kenne drei. Die Zirkusleute brauchen einen Ort, wo sie vor den Gadschi sicher sind, den normalen Menschen. Selbst in alten Zeiten gab es Zirkusstädte, in die sich die Bankisten und ihre Tiere außerhalb der Saison zurückziehen konnten. Dort rekrutieren sie neue Artisten, üben neue Tricks, wechseln zu einem anderen Zirkus und halten sich über den neuesten Tratsch auf dem Laufenden.« »Was soll uns das bringen?« »Tiernummern«, sagte Garvin. »Trapezartisten. Attraktionen.«
»Wie wollen Sie dafür bezahlen?«, fragte Angara. »Wir leben in Friedenszeiten, und die Planetare Regierung hat im Moment ein ziemlich knappes Budget. Ich möchte mich nicht hinstellen und sagen: >So, meine Damen und Herren, wir werden Ihnen jetzt eine Show zusammenstellen, wie Sie sie noch nie gesehen haben.<« »Mellusin Mining hat sich bereit erklärt, uns zu finanzieren«, sagte Garvin. »Und die Aufklärer haben noch tonnenweise Geld in einem diskreten Fonds, den Mellusin uns während des Musth‐Krieges gespendet hat.« »Diese Idee gefällt mir immer besser«, sagte Cent Erik Penwyth, einer von Angaras Adjutanten. Er entstammte der Oberschicht von Cumbre, den Rentiers, und hatte früher der Aufklärungskompanie angehört. Gelegentlich wurde er als bestaussehender Mann der gesamten Legion bezeichnet. »Und uns würde es gefallen, dich dabeizuhaben«, sagte Garvin. »Vielleicht als Ansager.« »He!«, maulte Njangu. »Ich dachte, das wäre mein Job!« »Keine Chance«, sagte Garvin. »Es war kein Scherz, als ich davon sprach, dass ich Clowns haben will. Außerdem«, 16
fügte er hinzu, »möchte ich jemanden haben, der jederzeit als Sicherheitsmann verfügbar ist.« »Oh.« Njangu war besänftigt. »Das ist etwas anderes.« »Womit sich ein weiteres Problem stellt«, sagte Angara. »Durch diese kleine Mission werden einige der besten Soldaten aus der Streitmacht abgezogen. Ich muss den schlimmsten Fall in Betracht ziehen, und Sie werden zwangsläufig in Schwierigkeiten geraten. Ich stimme Ihnen zu, dass diese Mission von großer Bedeutung ist, aber ich möchte nicht, dass ich dadurch einige meiner besten Leute in den Tiefen des Weltalls verliere.« Garvin neigte den Kopf zum Zeichen der Zustimmung. »Erstens verfolge ich die Absicht, jeden wieder nach Hause zu bringen. Zweitens haben viele der Leute, die für mich die Besten sind, für Sie gar keine so große Bedeutung.« »Ein guter Einwand«, pflichtete Angara ihm nach kurzer Überlegung bei. »Die Aufklärer gehören nicht unbedingt zu den besten Truppenkämpfern. Ich gehe davon aus, dass Sie viele aus dieser Sparte mitnehmen werden.« »Mit Ihrer Erlaubnis, Sir«, sagte Garvin. »Da Frieden herrscht, halten wir sie auf diese Weise davon ab, Ihnen Schwierigkeiten zu machen.« »Da ist es besser, wenn sie sich selbst in Schwierigkeiten bringen«, sagte Angara. »Also stellen Sie Ihre Leute zusammen ‐ eine Zirkustruppe ‐ und sammeln Sie Informationen. Aus Sicherheitsgründen wollen wir die Aktion HEIMKEHR nennen, ähnlich wie eine andere, die wir gegenwärtig vorbereiten. Das dürfte ausreichend Verwirrung stiften. Aber zurück zum eigentlichen Thema. Was geschieht, wenn Sie in Schwierigkeiten geraten?« »Wir werden das Schiff bis zum Stehkragen bewaffnen«, sagte Garvin. »Ohne dass die guten Sachen auf den ers
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ten Blick zu sehen sind. Ich werde ein paar Aksai und Patrouillenschiffe der Nana‐Klasse mitnehmen, die wir Redruths Horden abgenommen haben.« »Könnte das nicht Verdacht erregen?« »Wenn die Konföderation auseinandergebrochen ist«, sagte Garvin, »was mir mehr als wahrscheinlich erscheint, wenn ich bedenke, wie viele von den Drohnen, von denen ich eigentlich nichts weiß, wir verloren haben, muss ich davon ausgehen, dass es da draußen noch andere Leute gibt, die sich bewaffnet haben.« »Okay«, sagte Angara. »In diesem Punkt dürften Sie recht haben.« »Übrigens werden wir den Schlepper umbenennen«, sagte Garvin. »Ein Name, der uns Glück bringen soll. Das Schiff heißt von nun an Big Bertha.« »Das klingt aber verdammt romantisch«, warf Penwyth sarkastisch ein. »So hieß der größte Zirkus aller Zeiten«, erklärte Garvin. »Damals auf der Erde. Von den Ringling Brothers und Barnum & Bailey.« »Wie Sie meinen«, sagte Angara. »Da wäre noch etwas, Sir«, wandte Garvin etwas zaghaft ein. »Die ganze Angelegenheit könnte gelegentlich etwas ... kritisch werden. Und ich bin nur ein junger Soldat. Sollten wir nicht zusehen, dass wir von einem Diplomaten begleitet werden? Nur um sicherzustellen, dass wir keine Fehler begehen? Soldaten neigen eher dazu, nun ja...« »Den Abzug zu drücken, wenn eine Situation fragwürdig oder zweifelhaft ist«, vollendete Angara den Satz. »Nun... ja, Sir.« Angara dachte einen Moment lang nach. »Keine schlechte Idee, Caud. Es gibt da nur ein Problem. Ich kenne kei 17
nen einzigen Politiker in diesem System, der sich als subtiler Friedensstifter oder ‐bewahrer eignen würde. In der jüngsten Geschichte von Cumbre sind mir in dieser Hinsicht keine Namen im Gedächtnis geblieben. Hätten Sie einen Vorschlag?« Garvin schüttelte den Kopf und sah Njangu an. »Außer mir selbst fällt mir auch niemand ein«, sagte Yoshitaro. »Meine Personalkartei ist leer.« »Dann wird Ihnen wohl nichts anderes übrig bleiben«, sagte Angara, »als nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Wie weit wollen Sie vorstoßen?« »So weit wie möglich, Sir«, sagte Garvin entschieden. »Mit etwas Glück bis ins Herz der Konföderation, bis nach Centrum.«
3 »Im Augenblick«, sagte Caud Fitzgerald zu Garvin, »gehören Sie nicht zu meinen favorisierten Regimentskommandanten.«
»Ja, Madam.« »Und Sie, Aut Yoshitaro, stehen auf der gleichen schwarzen Liste.« »Ja, Madam«, sagte Njangu. Beide standen in Habachtstellung vor dem Kommandeur ihrer Brigade. »Wieder einmal muss ich Ihnen etwas ins Gedächtnis rufen. Diese Armee besitzt so etwas wie eine Befehlskette. Das bedeutet, wenn Sie zwei Raufbolde eine Idee haben, 18
sollten Sie damit zu mir kommen, und anschließend — das heißt, nur dann, wenn ich einverstanden bin ‐ können Sie damit zu Dant Angara gehen. Stattdessen erfahre ich so nebenbei, dass Sie beide ins Unbekannte aufbrechen werden, als würden Sie noch den Aufklärern angehören... und der ganze Plan war von Anfang an Ihre Idee.« »Entschuldigung, Caud«, sagte Garvin. »Daran habe ich nicht gedacht.« »Alte Gewohnheiten können verdammt hartnäckig sein«, setzte Njangu schnell hinzu. »Es ist wirklich schade, dass Dant Angara nichts von geeigneten Bestrafungen hält, wie sie in anderen Armeen praktiziert wurden, zum Beispiel die Kreuzigung.« Garvin blickte der Frau in die gnadenlosen Augen und war sich nicht sicher, ob sie diese Bemerkung scherzhaft gemeint hatte. Aber er sagte nichts. »Nun gut«, fuhr Fitzgerald fort. »Da Angara bereits zugestimmt hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als meinen Frust an Ihnen auszulassen. Bringen Sie die Sache erfolgreich zu Ende... oder wenn nicht, kehren Sie wenigstens als Tote heim. Andernfalls könnte ich gezwungen sein, mich an dieses Gespräch zu erinnern, wenn es Zeit für Ihren nächsten Fitnessbericht ist. Nun bewegen Sie endlich Ihre Ärsche hier raus... und im Übrigen wünsche ich Ihnen viel Glück.« Ben Dill kam in Garvins Büro getrottet, das kaum größer als ein Wandschrank war und einen beeindruckenden Ausblick auf den Fahrzeugpark des Zweiten Regiments bot. Er salutierte nachlässig und setzte sich, ohne darauf zu warten, dass Jaansma den Gruß erwiderte. »Gut«, knurrte er. »Zuerst werde ich mir anhören, wa 18
mm ich bei deinem wilden Ausritt nicht mitmachen kann, und dann werde ich dir erklären, warum ich trotzdem mitkomme.« »Spar dir die Mühe, Ben«, riet Garvin ihm. »Du stehst sowieso schon auf der Liste.« Dill blinzelte verdutzt. »Wie kommt es, dass man dir nicht wie üblich drohen muss?« »Weil ich einen guten Piloten brauche«, sagte Garvin. »Aber ich werde dich trotzdem nehmen. Wir fliegen mit drei Aksai los, außerdem einer Hangarkönigin für Ersatzteile, und wie ich hörte, weißt du, welches Ende bei diesen bösen fliegenden Dingern vorn ist.«
»Ich bin lediglich der beste Aksai‐Pilot des ganzen Kosmos, einschließlich jedes Musth, der vielleicht denkt, dass er besser ist als ich, weil er vielleicht zufällig diese Kisten erfunden hat.« »Deshalb habe ich deinen Namen notiert, gleich nach Alikhan und Boursier.« »Alikhan, okay«, sagte Dill. »Aber Boursier? Ich kann ohne Treibstoff im Kreis um ihren Arsch herumfliegen.« »Ich wollte nur sehen, wie lange es dauert, bis du aufkreuzt«, sagte Garvin und musste ein Grinsen unterdrücken. »Willst du wissen, welchen Zweitjob du bekommst? Wir brauchen einen Kraftprotz.« »Du meinst, wie in den Holos? Mit freiem Oberkörper, eingeölt, mit großen Eisenringen an den Armen, um meinen perfekten Körper zu präsentieren?« »Und mit einem Korsett, um deine Wampe zusammenzuhalten.« »Verdammt«, sagte Dill, ohne auf diesen Punkt einzugehen. »Ich werde herumprotzen!« »In Maßen.« 19
»He«, sagte der große Mann, »ich habe eine großartige Idee. Da du Alikhan sowieso mitnimmst und niemand erfahren muss, dass er Terranisch spricht, könntest du ihn...« »Als Monstrosität ausstellen«, fiel Garvin ihm ins Wort. »Sehen Sie den tödlichsten Feind des Menschen... erleben Sie ihn bei einer Orgie mit verwestem Fleisch... ein kannibalischer Dämon aus einem interstellaren Albtraum! Und jeder, der in die Nähe seines Käfigs kommt, wird offen sprechen, ohne zu ahnen, dass er von großen Ohren belauscht wird.« »Scheiße«, sagte Dill. »Du hast mir mal wieder die Show gestohlen.« »Wie immer«, sagte Garvin. Dill gluckste. »Es wäre schon den Eintrittspreis wert, ihn einmal in einem Käfig zu sehen.« »Nur wenn die Gadschi in der Nähe sind.« »Das würde schon genügen. Ich werde... wie heißen die Dinger? ...Bodennüsse mitbringen, um sie ihm in den Käfig zu werfen.« »Ich vermute«, sagte Njangu, »dass dies hier in der ehrwürdigen Tradition der Aufklärer steht, sich für alles freiwillig zu melden.« Er deutete mit der Hand auf die Kompanie, die sich in korrekter Formation vor ihm aufgestellt hatte. »Fehlt irgendjemand?« »Nein, Sir«, erwiderte Cent Monique Lir schroff. »Außer einem Mann, der erst nach dem Starttermin aus dem Lazarett entlassen wird.« »Gut«, sagte Njangu, dann hob er die Stimme. »Ich bin stolz auf euch Schlammfresser, weil ihr so mutig und so blöd seid, euch für diesen Einsatz zu melden. In meinem 19
Rundschreiben war von speziellen Talenten die Rede. Jeder, der eins hat, bleibt in der Reihe. Die anderen, die nur irgendein billiges Abenteuer erleben wollen, so wie ich, treten ab und verpissen sich wieder in ihre Baracken.«
Er wartete, während sich einer nach dem anderen widerstrebend davonschlich, bis nur noch sechzig von den ursprünglich über einhundertdreißig übrig waren. »Gut«, sagte Njangu. »Jetzt fangen wir mit dem Casting an.« Er musterte die Reihe der Männer und Frauen. »Gefreiter Fleam... welchen Beitrag beabsichtigen Sie zu leisten? Abgesehen von Ihrer üblichen mürrischen Laune, meine ich.« Der Mann mit dem ernsten Gesicht, der sich bislang standhaft jeder Beförderung widersetzt hatte, aber zu den besten Feldsoldaten der Aufklärer gehörte ‐ und damit der gesamten Streitmacht ‐, grinste matt. »Knoten, Sir.« »Wie bitte?« »Ich kann jeden bekannten Knoten machen. Einhändig, blind, im Kopfstand, im Schlaf oder betrunken.« »Ein Knotenmacher«, sagte Njangu, dem die Sache allmählich Spaß machte, »stand nicht auf der Liste.« »Ja, Sir«, stimmte Fleam ihm zu. »Aber ich habe mich über Zirkusdinge sachkundig gemacht, und überall ist von Seilen und Stricken und Flaschenzügen und solchen Sachen die Rede.« »Gut«, sagte Njangu. »Sie sind dabei. Was ist mit Ihnen, Cent Lir?« »Ich war Tänzerin in einem Opernensemble.« »Gut. Wir brauchen jemanden, der die Tanztruppe drillt. Was ist mit Ihnen, Tak Montagna?« »Ich kann schwimmen, Sir. Und tauchen. Und ich dach 20
te, ich könnte vielleicht lernen, am Trapez zu turnen, da ich ganz gut im Klettern bin.« »Hat irgendwer von Ihnen mal darüber nachgedacht, was aus den Aufklärern werden soll, wenn sowohl die Kommandantin der Kompanie als auch ihr Erster Offizier abwesend sind?« »Das wurde längst geregelt, Sir«, sagte Lir schroff. »Lav Huran wird angefordert, damit er den Laden als Oberbefehlshaber übernehmen kann. Wir stellen ihn vorübergehend in Dienst, und wenn wir nicht zurückkehren, bekommt er eine permanente Anstellung. Abana Calafo wird Erster Offizier, ebenfalls in vorübergehender Anstellung. Alles wurde bereits von Caud Jaansma genehmigt. « »Hmmm.« Njangu wurde ernst. Natürlich wäre die unglaublich kompetente Lir bei dieser Aktion sehr willkommen, aber er hatte noch nie von ihrer Erfahrung an der Oper gehört. Darod Montagna war eine andere Geschichte. Garvin hatte trotz seiner anhaltenden Affäre mit Jasith Mellusin mehr als nur oberflächliches Interesse an der jungen schwarzhaarigen Scharfschützin gezeigt. Njangu hatte sie einmal miteinander erwischt, als sie sich in betrunkenem Zustand geküsst hatten. Aber er glaubte nicht, dass mehr zwischen den beiden passiert war.
In diesem Fall hätte es Ärger gegeben, wenn Montagna während des Krieges nicht die Offizierslaufbahn eingeschlagen hätte. Also kam das traditionelle Verbot von Beziehungen zwischen Offizieren und dem Fußvolk nicht mehr zum Tragen. Trotzdem rief sich Njangu zwei Dinge ins Gedächtnis. Erstens wurde Garvin bei der Aktion von Jasith begleitet, 21
und zweitens war er nicht Garvins Aufpasser, was von wesentlich größerer Bedeutung war. »Also gut«, brummte er. »Jetzt wollen wir den Rest von euch Idioten aussortieren.« »Schicken Sie ihn rein«, sagte Garvin und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Es war eine sehr lange Woche gewesen. Er hatte Freiwillige gemustert, sich die Lügen von Offizieren angehört, die versuchen wollten, ihm die lahmsten und faulsten Mitglieder ihrer Einheit unterzujubeln, und die Proteste von anderen Vorgesetzten, die ihre besten Leute verloren. Und nun das. Dr. Danfin Froude war einer der größten Mathematiker des Cumbre‐Systems, auch wenn sich seine Begabungen auf nahezu alle Gebiete der angewandten Wissenschaft erstreckten. Obendrein war der Mann trotz seiner über sechzig Jahre ein Draufgänger, der die Legion schon auf mehreren gefährlichen Missionen begleitet hatte, wobei er sich den Ruf der absoluten Furchtlosigkeit erworben hatte. Während des Krieges gegen Larix und Kura hatte er sich bis über beide Ohren in eine Armeeangehörige verliebt, was nicht ungewöhnlich war, wenn es einen im betagteren Alter erwischte. Als die Frau ums Leben gekommen war, hatte es für Froude das Ende der Welt bedeutet. Er stand der Legion immer noch für jede benötigte Analyse zur Verfügung, aber er wirkte etwas distanzierter als früher, als wäre ein Teil von ihm mit Ho Kang gestorben. Als sich die Tür öffnete, zuckte Garvin zusammen: Der Mann, der vor ihm stand, trug die dickste Schicht Bühnenschminke, die er jemals gesehen hatte. Er machte einen unglaublich traurigen Eindruck, und er hatte eine widerwärtig lange Nase. Seine Hose war ausgebeult, seine 21
Schuhe hatten Löcher und waren überdimensioniert, und seine Jacke war genauso zerlumpt wie sein altertümlicher Hut. »Hallo Garvin«, sagte Froude. »Sie sehen gut aus.« Er schniefte. »Im Gegensatz zu mir.« Aus einem Ärmel zog er ein riesiges Taschentuch, das länger und länger wurde, bis es ungefähr die Größe eines Bettlakens erreicht hatte. Dann bewegte sich etwas unter seiner Jacke, und ein Stobor, eine auf D‐Cumbre einheimische zweibeinige Schlange, wand sich heraus. Das Tier landete auf Garvins Schreibtisch, zischte und flüchtete ins Vorzimmer. »Oh, tut mir leid, Garvin«, sagte Froude in der gleichen monotonen Stimmlage. Eine Träne lief aus einem Augenwinkel, er wischte sie ab und schnäuzte sich. Als er das Taschentuch wegnahm, hatte sich seine lange Nase in einen roten
Gummiball verwandelt. Er kratzte sich daran, zog den Ball ab, warf ihn gegen eine Wand, von der er zurückprallte, und zuckte mit den Schultern. »Ich denke, Sie halten es wohl für keine gute Idee, wenn ich den Zirkus begleite, oder?« »Sie haben all das in nur zwei Tagen gelernt?« Froude nickte, und gleichzeitig rutschte ihm die Hose herunter. »Sie wissen genau, dass ich beim Anblick eines traurigen Clowns nicht Nein sagen kann.« Froude schniefte und zog sich die Hose hoch. »Das sagen Sie doch nicht nur, um mich zum Lächeln zu bringen, oder?« Er nahm den Hut ab, und ein fliegendes Etwas flatterte kreischend davon. »Sie sind dabei, Sie sind dabei!«, sagte Garvin und lachte schallend. »Jetzt machen Sie, dass Sie hier rauskom 22
men, bevor Ihnen noch irgendein Raubtier aus der Hose springt.« »Danke, Sir, vielen, vielen Dank«, sagte Froude, genauso monoton wie die ganze Zeit, während er sich verbeugte und einen Kratzfuß machte. »Ich möchte nur noch um eine kleine Gunst bitten, einen winzigen Gefallen, da Ann Heiser demnächst John Hedley heiraten wird und eine Weile zu Hause bleiben will, was bedeutet, dass ich niemanden habe, der meine Ideen einer kritischen Prüfung unterzieht.« Garvin bemerkte, wie sich Froudes Gesicht verzog, als er das Wort »heiraten« aussprach, sagte aber nichts dazu. Froude ging zur Tür und öffnete sie. Misstrauisch musterte Garvin den völlig unscheinbaren Mann, der sich gebeugt ins Büro schlich. Er war recht klein, kaum mehr als anderthalb Meter hoch, und trug abgenutzte Kleidung, die selbst der ärmste Buchhalter nur mit spitzen Fingern anfassen würde. »Das ist mein Kollege Jabish Ristori«, sagte Froude. Ristori streckte eine Hand aus. Garvin wollte sie greifen, um sie zu schütteln, doch Ristori machte plötzlich einen Salto rückwärts und landete wieder auf den Füßen. Erneut streckte er die Hand aus, und als Garvin auf ihn zukam, schlug der Mann ein Rad, stoppte an der Wand, sprang dann auf Garvins Schreibtisch, von dort gegen die andere Wand und landete mit einem weiteren Überschlag wieder auf dem Boden. Nun erst schüttelte er Garvin mit völlig ernster Miene die Hand. »Freut mich, Sie zu sehen, sehen, sehen«, sagte Ristori und vollführte einen weiteren Salto, um zu demonstrieren, wie sehr er sich freute. »Professor Jabish Ristori«, sagte Froude. »Ein netter Kerl 22
und seit vielen Jahren mein Kollege, auch wenn er auf einem Gebiet arbeitet, das sich kaum als wissenschaftliche Disziplin bezeichnen lässt.«
»Spziosoziosoziosoziologie«, sagte Ristori und machte einen einhändigen Handstand. »Jabish begann sich vor zehn Jahren für das fahrende Volk zu interessieren und beschloss, seine Kunststücke zu erlernen«, fuhr Froude fort. »Und ich bin niemals nie nicht an die Uni zurückgekehrt«, sagte Ristori mit einem ansteckenden Kichern. »Traurig, trocken, trist.« Er stieß sich vom Boden ab und landete auf den Füßen. »Willkommen im Zirkus«, sagte Garvin. »Einen Bodenakrobaten können wir immer gebrauchen.« »Akrobat, Advokat, Aristokrat«, sagte Ristori. »Hier. Ich glaube, das gehört Ihnen.« Er gab Garvin den Ausweis zurück, den er noch bis vor wenigen Sekunden an seinem Hemd getragen hatte. »Wie haben Sie...? Ach so! Entschuldigung«, sagte Garvin. »Ich sollte es besser wissen. Niemals einen Trick verraten.« »Und das gehört auch Ihnen«, sagte Ristori und gab ihm seine Fingeruhr zurück. »Und das.« Nun kam Garvins Brieftasche zum Vorschein, die sich in seiner zugeknöpften hinteren Hosentasche befunden hatte. »Aber Sie waren die ganze Zeit mehr als einen Meter von mir entfernt!«, entfuhr es Garvin. »Aber ja doch, aber ja!«, sagte Ristori mit tiefer, bedeutungsschwangerer Stimme. »Sonst hätte ich Ihnen all Ihr Geld in Ihrer vorderen linken Hosentasche abnehmen können.« »Sie zwei«, sagte Garvin, der sich darauf verließ, dass 23
er sein Geld schon irgendwo wiederfinden würde, »raus hier! Melden Sie sich bei Njangu und packen Sie Ihre Sachen zusammen. Und ziehen Sie ihm bloß nicht die Hose aus!« Der große Mann im verschmierten Overall kam unter einem Zhukov hervor. Er hielt einen handbetriebenen Drehmoment‐Schraubenschlüssel fest, der so lang wie sein Arm war. Njangu salutierte ihm flott, während der Mann auf die Beine kam. Mil Taf Liskeard erwiderte den Gruß, nachdem er die Flügel auf Yoshitaros Brust bemerkt hatte. »Hätte nicht gedacht, dass sich die Flieger noch daran erinnern, dass ich jemals existiert habe«, sagte er verbittert. Njangu ging nicht darauf ein. »Sir, ich würde mich gerne unter vier Augen mit Ihnen unterhalten.« Liskeard blickte zu zwei Mechanikern hinüber, die sich bewusst bemühten, nicht auf die beiden Männer zu achten. »Dann gehen wir in das verschmierte Loch, das als mein Büro herhalten muss.« Njangu folgte ihm und schloss hinter sich die Tür.
»Also gut. Was wollen Sie, Yoshitaro? Müssten Sie nicht eigentlich viel zu sehr mit Ihrer neuesten Planung beschäftigt sein, um Ihre Zeit mit einem alten Knacker zu vergeuden, der im Gefecht die Nerven verloren hat?« »In meiner Planung habe ich Sie als einen meiner Piloten vorgesehen, Sir.« »Schlechter Witz«, sagte Liskeard. »Ich bin definitiv raus. Ich bin zusammengebrochen, falls Sie sich erinnern. Ich 24
habe Angara gebeten, mich zum Bodenpersonal zu versetzen. Oder haben Sie noch nicht davon gehört? Ich habe es nicht mehr ertragen, Menschen töten zu müssen.« »Ja, weiß ich«, sagte Yoshitaro. »Aber ich will Sie trotzdem. Um unseren großen hässlichen Teekessel durch die Gegend zu fliegen. Ich habe mir Ihre Akten angesehen, Sir. Sie haben über zweitausend Stunden Erfahrung mit konvertierten Ziviltransportern, bevor Sie auf Griersons umgestiegen sind. Und wir haben verdammt wenig Leute, die in der Lage sind, so große Stahlklumpen von der Stelle zu bewegen.« »Das habe ich wirklich eine Zeit lang gemacht«, sagte Liskeard. »Ich hätte mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen sollen. Ich hätte bei den großen hässlichen Teekesseln bleiben sollen. Aber darum geht es nicht. Ich würde es nicht fertig bringen, andere Transporter kaputtzuschießen, als würde ich einen Fisch ausweiden, um anschließend einen Orden angeheftet zu bekommen. Angara hat gesagt, er würde dafür sorgen, dass ich nie wieder als Militärpilot eingesetzt werde. Ich würde mich eher aus der Armee werfen lassen. Ich schätze, er hat mich hier unten im Fahrzeugpark vergessen. Und ich weiß verdammt genau, warum ich ihn nicht an meine Existenz erinnere.« Liskeard rieb sich die Stirn und hinterließ einen schwarzen Schmierfleck. »Nein, Yoshitaro. Sie sind nicht zu mir gekommen, weil Sie einen Feigling rehabilitieren wollen. Soll ich die Rolle des Sündenbocks bei dieser neuen Operation übernehmen? Ich habe gehört, dass Sie Leute brauchen, die solche miesen kleinen Tricks beherrschen.« »Ich will Sie.« Njangu machte eine kurze Pause, in der er sich zusammenriss und sich an den Grund seines Hierseins erinnerte. Aber es fiel ihm immer noch schwer weiterzu 24
sprechen. »Und zwar aus persönlichen Gründen. Etwa einen Monat, nachdem Sie... zum Bodenpersonal gewechselt sind, bin ich jemandem ins Zielkreuz gelaufen und wurde mit Sperrfeuer eingedeckt. Dabei bin ich auch zusammen‐ geklappt.« »Aber Sie sind wieder voll da. Zumindest scheint es so, weil Sie ansonsten mit mir unter dem Zhukov herumkriechen und nach Schmierölflecken suchen würden.«
»Ja«, sagte Njangu. »Vielleicht weil ich zu feige war, um jemandem, der gesehen hat, wie ich zusammengeklappt bin, zu sagen, was mit mir los ist. Also habe ich weitergemacht.« Liskeards Gesichtsausdruck änderte sich. Er sah Njangu in die Augen. »Also soll das doch eine Art Rehabilitierung sein. Sie sind bereit, noch einmal auf mich zu setzen?« »Wenn wir mit der Big Bertha losfliegen, wollen wir nicht auf andere Leute schießen«, sagte Njangu. »Wir wollen uns nur etwas umsehen und sicher zurückkehren, um unseren Bericht abzuliefern.« »Das bedeutet nicht, dass ich einen klaren Kopf behalten werde, falls die Lage brenzlig wird.« »Dann werde ich Sie mit einem Arschtritt von der Brücke befördern und mich selbst an die Kontrollen setzen... Sir«, knurrte Njangu, während sich seine Finger unwillkürlich zur Faust schlossen. Liskeard sah es, dann lachte er lauthals. »Weiß Angara, dass Sie versuchen wollen, mich zu rekrutieren?« »Ja«, sagte Njangu. »Und er brummte etwas, dass ich mir klarmachen sollte, worauf ich mich einlasse.« Der gute Liskeard wirkte überrascht. »Das hätte ich nicht von diesem alten Knochenarsch erwartet.« Er atmete tief durch. »Yoshitaro, weil Sie es sind, werde ich mir die 25
Flügel wieder anstecken. Und wenn ich noch einmal zusammenbreche ... müssen Sie mich nicht bemuttern. Das schaffe ich schon selbst. Und... vielen Dank. Ich bin Ihnen etwas schuldig. Einen verdammt großen Gefallen.« Njangu, der sich in sentimentalen Situationen noch nie wohl gefühlt hatte, nahm Haltung an, salutierte und machte kehrt. Bevor er ging, sagte er noch: »Dann bewegen Sie Ihren Arsch zur Big Bertha rüber ‐ sie verlässt die Werft in zwei Stunden ‐ und machen Sie sich mit den Kontrollen des Teekessels vertraut. Sir.« »Und Sie meinen wirklich, dass dieser Tanz authentisch ist?«, fragte Garvin zweifelnd. Dec Rennender Bär trug einen prächtigen Lendenschurz, eine lederne Halskette mit langen Zähnen, Gesichtsbemalung und eine Feder, die seitlich in seinem geflochtenen Haar steckte, und er grinste. »Genauso hat die Mutter der Mutter meiner Mutter es mir beigebracht. Oder wenn die Leute, für die ich tanze, zu glauben scheinen, dass ich sie verarschen will, dann eben der Vater des Vaters meines Vaters. Scheiße, ich werde ihnen sagen, dass ich mir beim nächsten Auftritt Knochennadeln durch die Titten stechen werde, um mich daran aufhängen zu lassen und den uralten Sonnentanz zu jodeln.« »Ich weiß nicht recht«, sagte Garvin, der immer noch skeptisch war. »Hören Sie, Sir. Ich könnte etwas Auslauf vertragen. Ich langweile mir die Eier ab, weil ich nichts mache, außer Dant Angara hierhin und dorthin zu fliegen.
Beim Großen Geist auf dem Kinderfahrrad, letzte Woche habe ich mir sogar schon eine anständige Schießerei gewünscht!« 26
Rennender Bär rieb sich geistesabwesend eine Narbe am Arm. Er war einer der wenigen lebenden Menschen, die mit dem Kreuz der Konföderation ausgezeichnet waren. Er hatte es sich durch eine Sache verdient, die er als »Wahnsinnshöllenaugenblick« bezeichnete. »Also tanze ich ein bisschen herum, erzähle ein paar Geschichten ‐ die sind sogar echt, aus uralten Zeiten, vielleicht sogar noch von der Erde, jedenfalls kenne ich sie von meinem Opa ‐, dann rauche ich eine Friedenspfeife, singe ein paar Lieder und sehe wie ein gefährlicher Krieger aus. Wäre das nicht eine gute Masche, um Frauen zu beeindrucken? Sir.« »Klingt gar nicht so schlecht«, sagte Garvin. »Außerdem können wir neben Ben Dill gut einen zweiten zertifizierten Irren gebrauchen. Und Sie können fliegen.« »Alles, was kleiner als ein Zhukov ist, und zwar exakt durch ein verdammtes Nadelöhr, Sir.« »Dant Angara wird sowieso stinksauer auf uns sein, weil wir ihm die besten Leute unter dem Hintern wegziehen. Also kommt es auf seinen Chauffeur auch nicht mehr an«, entschied Garvin. »Könnte lustig werden«, sagte Erik Penwyth versonnen. »Da draußen herumstreifen, euch anderen immer eine Tagesreise voraus, und schauen, welche Situation sich ausnutzen ließe...« »Aber nutz sie nicht zu sehr aus!«, drohte Njangu. »Vergiss nicht, dass du den Job hast, den ich eigentlich wollte!« »Hörst du endlich auf zu heulen?«, sagte Garvin. »Du bist der Chef der Clowns, und der bleibst du auch. Und reich endlich die verdammte Flasche weiter!« 26
Njangu schob sie quer über den Tisch, als im gleichen Moment jemand an die Tür klopfte. »Herein«, sagte er. Die Tür ging auf, und eine Frau in weißem Krankenhauskittel trat ein. »Jetzt bin ich platt«, sagte Garvin. »Tak Mahim! Setzen Sie sich, Doc. Ich dachte, Sie wären an eine medizinische Hochschule versetzt worden.« Sie setzte sich auf die Kante eines Stuhls. »Dort war ich auch, Sir. Bis vor drei Tagen, als die Semesterferien anfingen. Ich habe mich für längere Zeit beurlauben lassen.« »Aha«, sagte Njangu bedeutungsschwer. »Das Abenteuer hat gerufen?« »Kommen Sie, Jil«, sagte Garvin. »Und als Erstes lassen Sie das mit dem >Sir< bleiben. Oder haben Sie schon die guten alten Traditionen der Aufklärer vergessen?« »Nein, Ss... nein, Boss. Ich bin vorbeigekommen, weil ich sehen wollte, ob Sie einen Arzt an Bord gebrauchen können.« »Verdammt!«, sagte Penwyth. »Was ist nur mit der alten Aufklärungstruppe los? Da bemüht man sich und versetzt sie auf Posten, wo sie nicht mehr in der
Schusslinie stehen, und sie lernen, wichtige Aufgaben zu übernehmen, wie Gehirnchirurgie oder Babys auf die Welt bringen, damit sie es in der Welt da draußen zu was bringen. Und was machen sie? Ständig kommen sie heulend zurückgerannt und wollen sich wieder vor den Mündungen der Kanonen herumtreiben!« »Ich würde gar nicht auf die Idee kommen, es Ihnen ausreden zu wollen«, sagte Garvin. »Ja, verdammt, wir könnten wirklich eine gute Ärztin gebrauchen. Hier, nehmen Sie auch einen Schluck.« 27
»Jetzt nicht, Boss«, sagte Mahim und erhob sich wieder. »Ich muss noch zusehen, ob ich etwas medizinische Ausrüstung klauen kann, die ich für diesen Einsatz benötige. Aber vielen Dank.« Sie salutierte und verschwand. Penwyth schüttelte den Kopf. »Wir lernen wohl nie dazu, was?« Garvin stieg aus dem Gleiter und lief die lange Treppe vor Hillcrest, dem Mellusin‐Anwesen, hinauf. Er hatte gerade die Tür erreicht, als er ein lautes Krachen hörte. Er riss die Tür auf, hörte einen wüsten Fluch und dann ein zweites Krachen. »Arschlöcher!«, brüllte Jasith. Und wieder krachte es. Garvin näherte sich vorsichtig der Quelle des Lärms. Sie befand sich mitten in dem, was noch von der Küche übrig war. Jasith Mellusin funkelte wütend einen zertrümmerten Kommunikator an. Dann ging sie zum Küchenschrank, nahm einen Teller heraus und warf ihn quer durch das Esszimmer. »Scheißkerle!« Sie nahm einen Teller in jede Hand. »Äh... ich bin wieder da, Schatz«, sagte Garvin. Sie warf ihm einen wütenden Blick zu und schleuderte dann beide Teller gegen die Wand. »Hurensöhne!« »Da du im Plural fluchst«, sagte Garvin, »kann ich wohl darauf hoffen, dass ich nicht die Zielscheibe deines Zorns bin.« »Nein, du nicht!« 27
»Also darf ich dir einen Kuss geben?« Jasith schürzte die Lippen. Garvin schritt durch die Trümmer ihres Essgeschirrs und küsste sie. Nach einer Weile lösten sie sich voneinander. »Jetzt geht es mir schon etwas besser«, gab Jasith zu. »Was aber nicht bedeutet, dass ich nicht weiterfluchen möchte.« Garvin zog eine Augenbraue hoch. »Mein gottverdammter Aufsichtsrat! Meine zweimal gottverdammten Aktionäre! Meine dreimal beschissenen Geschäftsführer! « »Eine recht umfangreiche Liste.«
»Wie kannst du nur so ruhig bleiben, Garvin? Sie haben mir gerade gesagt, dass ich nicht mitfliegen kann!« »Aber... du bist doch Mellusin Mining, ich meine, dir gehört der Laden«, sagte er verwirrt. »Du kannst doch tun und lassen, was du willst.« »Nein«, sagte sie und regte sich erneut auf. »Denn es würde die Aktienkurse oder das Vertrauen der Aktionäre beeinflussen, wenn die Hauptgeschäftsführerin nicht im System ist, sich vielleicht sogar in Gefahr begibt oder sich, was Gott verhüten möge, töten lässt. Der gesamte verdammte Aufsichtsrat hat einstimmig entschieden, dass er geschlossen zurücktreten wird, wenn ich mit dir fliege. Sie sagten, mir würde nichts mehr an meiner Firma liegen, wenn ich mich ohne zwingenden Grund in Gefahr begebe. Das sei die Aufgabe von Soldaten und nichts für ein unreifes kleines Mädchen, für das sie mich immer noch zu halten scheinen! Mistkacke!« Eine recht große Dessertschale, die Garvin immer sehr gefallen hatte, flog durch den Raum und löste sich in schillernde Scherben auf. 28
»Oh«, sagte Garvin. »Willst du auch etwas werfen?« »Äh... nein.« Sie bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick. »Tut es dir nicht leid, dass ich nicht mitkommen kann?« »Aber natürlich tut es mir furchtbar leid«, sagte Garvin eilig. »Es besteht kein Grund, irgendwelche Dinge in meine Richtung zu werfen. Ehrlich, Jasith!« »Verdammt, verdammt, verdammt!«, sagte sie, dann fing sie an zu weinen. Garvin legte vorsichtig wieder die Arme um sie. »Warum erlauben sie mir nie, etwas Spaß zu haben?«, beklagte sich Jasith an seiner Schulter. »Ich hatte immer gedacht, die Reichen wären völlig frei.« »Niemand ist frei, verdammt!«, sagte Jasith. »Höchstens die Toten.« »Was meinst du?«, sagte Maev und sprach in singendem Tonfall weiter. »Bonbons, Muntermacher, Kaugummi, Zuckerwatte, Bonbons, Muntermacher, Kaugummi, Zuckerwatte und in jeder Schachtel ein Extra.« »Ich meine«, sagte Njangu, während er ihr sehr knappes Kostüm musterte, »dass niemand deine Süßigkeiten auch nur eines Blickes würdigen wird. Zumindest nicht die auf dem Bauchladen.« »Aber klar doch«, sagte Maev. »Kleine Kinder mögen mich.« »Und was hat es dann mit den Muntermachern auf sich?« »Nichts, was süchtig macht«, sagte Maev. »Nur ein milder Stimmungsaufheller. Den ich mit achthundert Prozent 28
Gewinn verkaufe. Und wenn die Leute mir auf die Titten glotzen, ist das völlig in Ordnung. Dann achten sie wenigstens nicht auf...«
Sie griff unter den Bauchladen, den sie an einem Riemen um den Hals trug, und zog eine kleine Projektilwaffe mit weitem Lauf hervor. »... das hier. Damit treffe ich garantiert auf fünfzehn Meter Entfernung mit zwei Kugeln zwischen die Augen. Für die nicht so brutale Verteidigung habe ich...« Wieder griff sie unter den Bauchladen und hielt nun einen gedrungenen Zylinder in der Hand. »... Blendspray dabei. Davon kriegt man eine halbe Stunde lang Krämpfe, kotzt eine Stunde lang und kann zwei Stunden lang nichts mehr sehen.« »Das setzt du ein, wenn jemand nett zu dir sein möchte?« »Mit Ausnahme deiner Person«, sagte Maev. »Oder einer, die verdammt reich ist.« Sie nahm den Bauchladen ab. »Jetzt brauche ich einen Drink. Diese Sicherheitsvorkehrungen sind schweißtreibende Arbeit.« »Steht schon für dich bereit, meine Süße«, sagte Njangu. »Drüben auf der Anrichte.« Finanziell gesehen war es nicht die beste Lösung, aber Njangu wollte weiter die Miete für das Apartment zahlen, das gegenüber von Camp Mahan an der Bucht lag, am Rand von Leggett, der Hauptstadt von D‐Cumbre. Er schätzte es, gelegentlich die Uniform ablegen zu können, wenn das Leben in der Armee in ihm das Bedürfnis weckte, den Mond anzuheulen. »Wirklich schade wegen Jasith«, sagte Maev. »Wieso? Was ist passiert?« 29
Maev erzählte ihm davon, wie der Vorstand von Mellusin Mining den Aufstand geprobt hatte. »Damit ist sie raus aus dem Spiel und tobt vor Wut.« »Ach du Scheiße«, entfuhr es Njangu unwillkürlich, als er an Darod Montagna dachte. »Was ist?« »Ach, nichts«, sagte Njangu schnell. »Du verheimlichst mir doch etwas.« »Worauf du Gift nehmen kannst.« »Das ist ja furchtbar interessant«, sagte Darod Montagna. »Die arme Miss Mellusin muss also zu Hause bleiben und ihr Geld zählen und darf nicht mit uns spielen!« »Verdammt«, sagte Monique Lir zu ihrem Ersten Offizier. »Ich hoffe, dass du dich wie ein gutes Mädchen benimmst.« »Ich werde mich wie ein sehr gutes Mädchen benehmen«, sagte Darod voller genüsslicher Leidenschaft. »Ich werde das beste Mädchen sein, das dieser Mann jemals erlebt hat.« »Ach du Scheiße!«, sagte Lir. Schließlich waren Phase eins (Planung), Phase zwei (Logistik und Personal) und Phase drei (Einsatzvorbereitung) abgeschlossen. Man hatte knapp 150 Männer und Frauen ausgesucht, allesamt Freiwillige, einschließlich einiger Zivilisten,
denen es gelungen war, den ziemlich dichten Sicherheitsschirm zu durchdringen, den Dant Angara schließlich doch verhängt hatte. Sie marschierten zur Big Bertha und suchten ihre zugewiesenen Quartiere auf. Die alten Soldaten rissen alte Witze, die auch schon beim ersten Mal nicht besonders 30
witzig gewesen waren, und die Neuen wunderten sich, warum sie keinen Stolz, sondern nur einen dicken Kloß im Hals spürten. Garvin Jaansma küsste Jasith Mellusin. »Komm auf jeden Fall zurück!«, sagte sie energisch, dann wandte sie den Blick ab. »Ich schließe mich dieser Empfehlung an«, sagte Angara. »Aber mit einer Ergänzung. Kommen Sie zurück und bringen Sie mir etwas mit, Garvin.« In seinen Augen blitzte für einen Moment ein verzweifelter Ausdruck auf. »Verdammt, wir können so nicht weitermachen, wenn wir nicht den leisesten Schimmer haben!« »Ich werde zurückkommen«, versprach Garvin. »Und zwar mit jeder Menge Neuigkeiten, Boss.« Er salutierte vor Angara, küsste Jasith noch einmal und stieg dann die Rampe der Big Bertha hinauf. Sie wurde geschlossen, und ein Lautsprecher plärrte: »An alle. An alle auf den Rampen. Machen Sie die Rampen frei. Machen Sie die Rampen frei. Start in drei Minuten. Machen Sie die Rampen frei.« »Kommen Sie«, sagte Angara und nahm Jasiths Arm. Sie folgte ihm ins Raumhafengebäude und ging zu einem Fenster. Der Boden zitterte, und die Antigravs ließen die Big Bertha abheben. Der sekundäre Antrieb wurde aktiviert, dann kämpfte sich das Monstrum in die Höhe, bis es beinahe anmutig in der Stratosphäre und schließlich im Weltraum verschwand. Jasith stand noch längere Zeit da und blickte in die Leere hinauf. 30
4 N‐Raum Njangu und Garvin hatten wesentlich mehr taktische Möglichkeiten in Erwägung gezogen, als sich offen zu verstecken, wenn sich Probleme entwickelten ‐ was gar nicht so unwahrscheinlich war. »Ich habe keine Lust, jedes Mal in einen Hinterhalt zu geraten, wenn wir aus dem Hyperraum kommen«, hatte Yoshitaro gesagt und dabei die drei Aksai‐Piloten angesehen. »Deshalb werde ich eure jungen Ärsche als Köder benutzen... oder zumindest als eine Art Warnsystem. Ich hoffe nur, dass ihr nicht lahmt und euch abschießen lasst, während ihr Ausschau haltet.« Die Aksai waren die besten Kampfschiffe der Musth, die die Aliens auch während des Krieges gegen Cumbre eingesetzt hatten. Nachdem nun auf allen
Seiten der Frieden lauerte und der Handel mit den Menschen florierte, wurden Aksai für die Legion gebaut und den Anforderungen menschlicher Piloten angepasst. Die Schiffe hatten Sichelform und maßen etwa fünfundzwanzig Meter von einer Flügelspitze zur anderen. Ein bis drei Kapseln mit Kampfständen waren an der konkaven Vorderkante des Flügels angebracht, die Waffen befanden sich ebenfalls in Kapseln oder hingen einfach am Flügel. Die Maschinen waren unglaublich schnell und nach Dills Worten »schwerer zu bän‐ digen als eine Hure auf Rollerskates«. Jaqueline Boursier, das selbsternannte »heißeste Pilotenass der Legion«, versuchte Geld zu sammeln, um eine sportliche Prostituierte zu mieten, altertümliche Roller 31
skates zu kaufen und Ben Dill mit ihr in einer Sporthalle einzuschließen, um zu sehen, was geschehen würde. Doch niemand war bereit, für diesen Zweck zu spenden. In der Atmosphäre konnte man die Aksai sehr leicht überziehen und senkrecht in den Boden rammen, wenn man nicht die nötige Fluggeschwindigkeit hielt, und der Wechsel zwischen dem Antigrav‐Startsystem zum sekundären und schließlich zum Sternenantrieb erforderte stets großes Einfühlungsvermögen. Außerhalb der Atmosphäre entwickelten die Maschinen eine phänomenale Beschleunigung, die sie schnell an den Rand des Systems katapultieren und den Piloten in eine sehr flache und feste Masse verwandeln konnte, bevor die Reaktionszeit abgelaufen war. Aber wer es schaffte, diese Schiffe zu beherrschen, liebte sie heiß und innig. Es waren vermutlich die agilsten Fluggefährte, die jemals gebaut worden waren, vielleicht nur noch übertroffen von urzeitlichen Propellerflugzeugen. Das Verfahren, das sich Garvin und Njangu ausgedacht hatten, um einem Hinterhalt zu entgehen, war auf komplizierte Weise simpel. Wenn die Big Bertha einen Hyperraumsprung zu einem gewünschten Navigationspunkt unternahm, kam eine Pausenfunktion zum Tragen, die das Schiff nicht wie üblich automatisch aus dem N‐Raum fallen ließ. Während das Mutterschiff irgendwo im Nirgendwo hing, wurde ein Aksai ausgeschleust. Dieser Aksai fiel in den Normalraum und erkundete die Umgebung nach lauernden bösen Jungs oder sonstigen Überraschungen wie blumenstreuenden Mädchen. Die Daten wurden an Big Bertha weitergegeben, die dann entsprechend reagieren konnte. Wenn sich das anvisierte System als feindselig erwies, 31
würde das Schiff so lange wie möglich warten, bis der Aksai zurückgekehrt war. Wenn das Mutterschiff fliehen musste, sollte der Aksai durch den Hyperraum zu einem vorher verabredeten Navigationspunkt springen und einen Notruf senden, in der Hoffnung, gerettet zu werden, bevor ihm die Luft ausging. Aber von diesem Fall hofften alle drei Aksai‐Piloten, dass er niemals eintrat.
Schließlich war jeder von ihnen ein Ass, nicht nur die heiße Boursier... Das schiffsinterne Ansagesystem rülpste lässig. Garvin war noch nicht dazu gekommen, die synthetische Stimme zu ändern, die bedauerlicherweise in sämtliche Räume des Schiffes übertragen wurde. Sie verkündete: »Aksai‐Abtei‐ lung... Aksai‐Abteilung... Bereitschaftspiloten auf die Brücke.« Der Mann, die Frau und der Alien ließen das Los entscheiden, und Alikhan folgte dem Aufruf, die runden Ohren aufgeregt gespitzt. Die Brücke der Big Bertha war genauso ungewöhnlich wie der Rest des knollenförmigen Raumschiffs. Es handelte sich um eine autarke Kapsel, die über den Frachträumen und Passagierunterkünften angebracht war. Die Monitore sahen wie Bullaugen aus und ragten ein Stück über die Hülle hinaus. Neben der Brücke befanden sich die Stationen für Kommunikation und Navigation, und im hinteren Bereich der Kapsel gab es ein sekundäres Kommandozentrum mit Fenstern, durch die man nach »unten« in die riesigen Frachträume des Schiffes blicken konnte. Garvin fand, dass es ein toller Platz wäre, an dem ein Zirkusdirektor seine Peitsche knallen lassen konnte. Oder 32 wenn sie ein paar Fenster herausnahmen, ließe sich dort ein Hochseil oder ein Fliegendes Trapez anbringen. Alikhan erhielt seine Anweisungen und begab sich durch eine abgeschirmte Röhre und eine Luftschleuse zur »Spitze« des Schiffes, wo drei der vor zehn Jahren hochmodernen Nana‐Schiffe und die vier Aksai wie Fledermäuse in einer hohen Scheune hingen. Er zwängte sich mit den Hinterbeinen voran in die Pilotenkapsel am Bauch des Aksai und schloss das durchsichtige Kanzeldach. Er aktivierte das Schiff, überprüfte die Instrumente, berührte Sensoren, las die Anzeigen, die in das Kanzeldach projiziert wurden, während der primäre und der sekundäre Antrieb zum Leben erwachten. Dann meldete er, dass er startbereit war. »Hier Zentrale«, sagte Garvin. »Die Kurskoordinaten wurden an deinen Computer übermittelt. Starte, wenn du bereit bist.« Über ihm schob sich ein Schott auf, und ein Metallgreifer hob den Aksai aus der Big Bertha. Alikhan beobachtete die blinkenden Anzeigen und versuchte sich einzureden, dass ihm die verwaschenen Schlieren des N‐Raums keine Übelkeit verursachten. Schließlich war er ein kampferfahrener Musth. Die Schwerkraft kippte, verschwand ganz, und dann befand er sich außerhalb des Gravfeldes des Schiffes. Alikhan rief sich ins Gedächtnis, was Garvin ihm über das System erzählt hatte, das vor ihnen lag. Drei seit über zweihundert E‐ Jahren bewohnte Planeten, keine Daten über Regierungsform, Militär oder Grad der Friedfertigkeit. Es war als erstes System ausgewählt worden, weil es fern von den Navigationspunkten in der »Nähe« von Larix und Kura lag. Deshalb ging Garvin davon aus, dass es nicht von Redruth 32
heimgesucht worden war und deshalb nicht allzu feindselig auf Eindringlinge reagierte. Alikhan drückte einen Sensor, und der Aksai fiel aus dem Hyperraum. Die Schlieren verwandelten sich in Sterne und nicht allzu weit entfernte Planeten. Er näherte sich mit Vollschub dem zweiten Planeten, der zuerst besiedelt worden war, und suchte sämtliche Frequenzen nach Sendungen ab. Nach einer E‐Stunde schickte er einen Funkspruch in den Hyperraum an die Big Bertha: »Keine feindliche Reaktion. Gefahrlose Annäherung möglich. Benötige Unterstützung. Kein Notfall.« Das große Schiff gehorchte, und die zwei Patrouillenschiffe unter dem Kommando von Chaka wurden ausgeschleust. Sie rasten auf das Peilsignal von Alikhans Aksai zu. Die Big Bertha folgte ihnen. Dill übernahm mit einem der Patrouillenschiffe die Rolle des Wachhunds. »Was ist das Problem, mein kleiner Freund?«, fragte er auf einer Standardfrequenz, während sich die beiden Schiffe näherten. »Eure Daten, um eine eurer... koprophilen Redewendungen zu benutzen, sind für den Arsch.« Von der Big Bertha kam ein lauteres Signal. »Scout Eins, hier ist die Zentrale. Einzelheiten, bitte. Ende.« Garvin schien nicht sehr von der lockeren Kommunikationsetikette angetan zu sein. »Hier Scout Eins«, meldete Alikhan. »Die Einzelheiten wären wie folgt: Hier ist nichts. Und wie es aussieht, war hier auch nie etwas. Keine Städte, keine Bauten, keine Menschen. Ende.« Und genauso war es. Alle drei Planeten, die angeblich 33
bewohnt waren und sich tatsächlich innerhalb der Lebenszone befanden, wiesen keinerlei Anzeichen auf, dass sie je besiedelt worden waren. »Das ergibt keinen verdammten Sinn«, brummte Njangu. »Wie zum Henker kann die Konföderation irgendwelche Leute mit Schaufeln und Hacken und Zelten losschicken und in zweihundert Jahren kein einziges Mal nach dem Rechten sehen? Man müsste doch irgendwann ein Schiff vorbeigeschickt haben? Falls die ganze Sache nicht von Anfang an die Schiebung eines Bürokraten war, der damit irgendwie eine große Schweinerei vertuschen wollte.« Garvin schüttelte nur den Kopf. »Allmählich frage ich mich«, schimpfte Njangu weiter, »wie viel von unserem gottverdammten Imperium nur eine gottverdammte Schwindelei war. Vielleicht war die ganze Geschichte nur ein gottverdammtes Schattentheater.« »Das ergäbe nur wenig Sinn«, sagte Danfin Froude zurückhaltend. »Dann liefern Sie mir eine Erklärung, die Sinn ergibt!« Froude hob hilflos die Hände. »Also gut«, entschied Garvin. »Vergessen wir es. Wir schleusen die Erkundungseinheiten wieder ein und versuchen es noch einmal.« Erneut
schüttelte er den Kopf. »Das gefällt mir nicht«, sagte er. »Es gefällt mir ganz und gar nicht, wenn ich mit Dingen zu tun habe, für die es keine Erklärung gibt.« Froude sah ihn an. »In einem anderen Leben hätte aus Ihnen ein Wissenschaftler werden können.« »Scheiße«, sagte Garvin. »In einem anderen Leben werde ich ein Felsblock sein, der an irgendeinem Strand herumliegt und nichts anderes tut, als hübsche nackte Frauen zu 34 beobachten und langsam zu Sand zu zerbröseln. Bereitmachen für den nächsten Sprung!« Garvin hatte mit einer bedeutenden Flottentradition gebrochen. In der Big Bertha gab es einen Club, aber er stand allen Rängen offen, nicht nur den Offizieren. Njangu war damit einverstanden gewesen, da es in Clubs für die unteren Ränge immer wesentlich lebhafter zuging. Was die militärische Philosophie betraf, dass die Offiziere durch diese Regelung die Möglichkeit hatten, sich zu entspannen und über ihre Probleme zu diskutieren, ohne dass sich das Fußvolk in Hörweite befand, hatte Garvin die knappe und herzliche Direktive ausgegeben: »Alle, die kuscheln oder sich ausweinen wollen, sollen es in ihren eigenen Quartieren tun.« Er hatte sich mit seinem Bier in eine Ecke zurückgezogen und grübelte immer noch über die Frage nach, warum diese Kolonie anscheinend niemals existiert hatte, als er Darod Montagna mit einem Glas Bier in der Hand sah. »Hallo, Boss«, sagte sie. »Sind Sie mit Ihren eigenen Gedanken beschäftigt, oder darf ich mich zu Ihnen setzen?« »Schnappen Sie sich einen Stuhl«, sagte Garvin. »Njangu müsste in wenigen Augenblicken hier sein, also werde ich sowieso nicht lange grübeln können.« Sie setzte sich und nahm einen Schluck aus ihrem Bierglas. »Danke, dass ich auf diesem kleinen Ausflug dabei sein darf.« »Bislang gibt es keinen Grund, sich dafür zu bedanken... oder mir deswegen Vorwürfe zu machen«, sagte er. Sie saßen ein paar Minuten lang in entspanntem Schweigen da. Garvin bemerkte, dass er kein ausgesprochenes Bedürfnis empfand, Montagna unterhalten oder nett zu ihr 34
sein zu müssen. Es ähnelte der Entspanntheit, die er in Njangus Gegenwart empfand. Er sah, wie sein Erster Offizier den gut besetzten Raum betrat und sich ihnen näherte. »Dann sollte ich wohl lieber verschwinden«, sagte Darod. »Wegen Ihrer großen, finsteren Geheimnisse und so.« Sie stand auf, und im gleichen Moment ging ein Ruck durch die Big Bertha, als das Schiff den nächsten Sprung machte. Darod verlor das Gleichgewicht und landete auf Garvins Schoß.
»Mistkiste!«, fluchte sie, während sie sich wieder aufrappelte. »Ich werde mich nie an die Stürze aus dem N‐Raum gewöhnen.« Garvin lächelte nur und dachte daran, wie angenehm sie sich anfühlte. »Das geht uns allen so«, sagte Njangu, der sich auf ihren Stuhl setzte. »Und ich werde unseren verdammten Wachoffizier in Stücke reißen, weil er keine Durchsage macht, bevor wir den nächsten Hüpfer durch die wilde schwarze Leere machen.« »Oh... vielleicht hätte ich es früher erwähnen sollen«, sagte Montagna. »Das Lautsprechersystem ist abgeschaltet... weil gerade ein Techniker versucht, diese alte Schreckschraube aus dem System zu schmeißen.« Noch während sie redete, erwachte der Lautsprecher an der Decke knisternd zum Leben: »Der nächste Sprung findet in... drei Bordstunden statt.« Es war immer noch die synthetische Stimme, die inzwischen von der gesamten Besatzung gehasst wurde. »Ich liebe die moderne Technik«, sagte Njangu. »Am besten nehmen wir uns eine Axt und ersetzen das System durch Flüsterröhren, wie sie in den allerersten Raum 35
schiffen benutzt wurden. Oder wir arbeiten mit Signalflaggen. »Gute Nacht, die Herren«, sagte Darod und ging. Njangu blickte ihr nach. »Kein unangenehmer Anblick«, sagte er. »In der Tat«, bestätigte Garvin mit betonter Beiläufigkeit. »Wollte sie über etwas Bestimmtes reden, oder war sie einfach nur neugierig?« »Wir hatten kein besonderes Gesprächsthema«, sagte Garvin. »Und sie war auch nicht neugieriger als du.« »Vorsicht, Garvin!«, sagte Njangu. »Vorsicht wovor?« Njangu wartete einen Moment. »Vorsicht, dass du dir kein Bier über den Schoß verschüttest... Sir.« »Mutter Maria auf Zechtour«, sagte Garvin leise, während er auf den Bildschirm starrte. »Das kannst du laut sagen«, stimmte Njangu ihm zu. »Anscheinend gab es hier jemanden, der keine Bedenken hatte, die nukleare Bedrohung tatsächlich wahrzumachen.« Der Planet unter ihnen war genauso wie die zwei Monde, die nach den Daten waffenstarrende Festungen sein sollten, ein einziges Bild der Verwüstung. Ein Zähler wies mit lautem Knattern die Radioaktivität nach. »Irgendwelche Funksendungen?«, fragte Garvin den Kom‐Offizier. »Aus den Kratern kommen sehr starke Signale, Sir«, meldete der Mann. »Wir haben alles ausgeblendet, was offensichtlich radioaktive Reststrahlung ist... aber dann bleibt nichts übrig. Einen Moment lang dachten wir, dass 35
wir so etwas wie eine kodierte Sendung von einem der Monde empfangen, aber es hat sich als Zufallsrauschen erwiesen.« Njangu kratzte sich am Kinn. »Das ganze verdammte System ist ausgelöscht«, sinnierte er. »In der Datenbank heißt es, dass hier fünf Milliarden Menschen lebten.« Unwillkürlich erschauerte er. »Offenbar gibt es Dinge, die schlimmer als die Herrschaft eines Imperiums sind.« »Mag sein«, sagte Garvin. »Es sei denn, es war die Konföderation, die entschied, gegen die Regeln zu verstoßen. Wachoffizier!« »Sir!« »Bringen Sie uns so schnell wie möglich weg von hier. Nächstes Ziel.« »Ich hätte da mal eine Frage«, sagte Maev. »Und ich hätte eine Antwort«, sagte Njangu gähnend. »Dein Kopf liegt übrigens sehr bequem auf meiner Brust.« »Ich hatte den Eindruck«, sagte sie, »dass du und Garvin irgendwann auf die Idee gekommen seid, zu desertieren, sobald ihr einen Planeten gefunden habt, der euch gute Chancen bietet.« »Ach, das war in unserer sündigen Jugendzeit«, sagte er. »Bevor wir uns der stellaren Verantwortung bewusst wurden, für immer und ewig der Konföderation zu dienen, bis uns jemand die Ärsche wegpustet.« »Könnte es sein, dass diese ganze Sache« ‐ sie zeichnete mit der Hand einen Kreis ins Halbdunkel ‐ »nur ein ausgefeilter Plan ist, euch beide an ein lohnenswertes Ziel zu befördern, wo ihr dann einen schnellen Abgang von der Bühne machen werdet?« »Hol mich der böse Clown!«, sagte Njangu und setzte 36
sich abrupt auf. »Ist dir klar, dass ich nicht einmal an diese Möglichkeit gedacht habe? Ich Trottel!« Maev setzte sich ebenfalls auf. »Ich fürchte«, sagte sie, »dass du den Eindruck erweckst, als würdest du tatsächlich die Wahrheit sagen. Sofern ich das beurteilen kann...« »Ich habe die Wahrheit gesagt«, entgegnete Yoshitaro in leicht gekränktem Tonfall. »Ich lüge fast nie, und erst recht nicht, wenn ich die Frau in den Armen halte, die ich vergöttere.« »Gut«, sagte Maev. »Gehen wir also davon aus, dass du nicht lügst ‐ was eine gewagte Annahme ist — und wir stoßen im Verlauf unserer Reise irgendwo auf eine Paradieswelt, wo sich mühelos Beute machen lässt und wo noch niemand von einem Wahrheitsscan gehört hat. Was wäre dann?« »Eine äußerst interessante Möglichkeit«, sagte Njangu. »Aber nein. Damals, als die ersten merkwürdigen Dinge mit der Konföderation passierten, hätte mich so etwas umgehauen. Aber all die hübschen kleinen Schafe dürften inzwischen kahl geschoren sein.« Plötzlich wurde er sehr ernst. »Selbst wenn wir ein solches Schweineparadies finden würden, besteht die Gefahr, dass da draußen in der Finsternis Wölfe
lauern, um meine Metapher endgültig zu vermurksen. Also würden wir dort haufenweise Credits scheffeln, und früher oder später ‐ bei meinem Glück wahrscheinlich früher — würden die Bösen mit dicken, fetten Kanonen aufkreuzen. Nein, meine liebe Maev. Ich fürchte, du hast dir einen ehrlichen Langweiler als Liebhaber ausgesucht. Daran dürfte sich so schnell nichts ändern.« »Woran?«, fragte sie. »Am Langweiler oder am Liebhaber?« 37
»Wahrscheinlich an beidem. Wenn du jetzt so lieb wärst, mir noch einmal den Strick zu reichen? Vielleicht bringe ich die nötige Energie für eine weitere Runde auf, bevor meine Reserven verbraucht sind. Denn es ist offenkundig die blanke, nackte Wahrheit, Ehrlichkeit und Treue eines Konföderationsoffiziers, die mich zu immer neuen Höhen antreibt.« Das nächste System war noch bewohnt. Dill kam mit seinem Aksai aus dem Hyperraum, und schon im nächsten Moment blinkten alle Anzeigen in seiner Kanzel. Bei der Einsatzbesprechung hatte es geheißen, dass sich in diesem System vier besiedelte Welten befinden sollten. In den Sternenkatalogen wurde es R897Q33 genannt, eine archaischere Bezeichnung lautete 2345554, und als Name war Carroll angegeben. Drei... nein, fünf Schiffe näherten sich seiner Position. Zwei suchten die Frequenzen nach einem Kanal ab, auf dem ein unbekanntes Schiff möglicherweise zu erreichen war. Er reagierte, indem er auf der Standardnotfrequenz der Konföderation antwortete: »An unbekannte Schiffe, hier ist das Scoutschiff, äh, Dill.« Ihm wurde bewusst, dass sich bisher niemand die Mühe gemacht hatte, den Aksai Namen zu geben, und er hatte keine Lust, Nummer eins, zwei oder drei zu sein. Ein neues Signal kündigte die Ankunft eines Patrouillenschiffs von der Big Bertha an, kurz darauf gefolgt von Boursier in einem zweiten Aksai. »An Scoutschiff Dill, hier ist der Zerstörer Lopat«, wurde ihm geantwortet. »Wir weisen Sie darauf hin, dass Sie in das Territorium der Konföderation eingedrungen sind.« 37 Dill riss erstaunt die Augen auf und schickte eine zweite Botschaft an die Big Bertha ab. Auf einem sekundären Bildschirm, der in die Pilotenkanzel eingebaut worden war, bevor sie von Cumbre aufgebrochen waren, erschienen Daten: Durch JANE identifiziert... drei Schiffe eindeutig als Diaz‐Klasse der Konföderation identifiziert... nach der letzten Aktualisierung dieses Datensatzes bereits leicht veraltet... Dill ersparte sich die Angaben über Besatzung und Bewaffnung. Scheiße, ich fasse es nicht, wir sind wieder zu Hause!, dachte er entzückt, ohne auf den sarkastischen Kommentar aus seinem Hinterkopf zu hören, der wissen wollte, wo zum Henker er eigentlich zu Hause war.
Er wollte sich bereits mit korrekten Angaben identifizieren, als er innehielt und sich mit leichter Verspätung daran erinnerte, dass schließlich jeder behaupten könnte, er würde der Konföderation angehören. »Hier ist die Dill«, sagte er. »Habe verstanden, dass ich mich im Territorium der Konföderation befinde. Zustimmung meinerseits.« Ein zweites, größeres Schiff materialisierte. Die allzeit wachsame Jane verriet ihm, dass es sich um einen völlig veralteten leichten Kreuzer der Daant‐Klasse handelte, wahrscheinlich die Quiroga. »Hier spricht Flottenkommandant von Hayn«, hörte er über den KomKanal. »Wir kennen den Typ Ihrer ersten beiden Schiffe nicht. Keine Verbindung zur Konföderation nachweisbar. Drittes Schiff als planetare Patrouil 38
leneinheit der Standardbaureihe identifiziert. Erklärung. Ende.« »Hier ist die Dill«, sagte Ben. »Mein Schiff ist eine Eigenentwicklung, und das Patrouillenschiff haben Sie korrekt identifiziert. Ende.« »Keine Ihrer Einheiten scheint fernflugtauglich zu sein«, sagte die kratzende Stimme. »Wir vermuten, dass Sie Vorboten größerer Schiffe sind. Nennen Sie unverzüglich Ihr Herkunftssystem.« »Ah... Owdnegrin«, sagte Dill und wünschte sich, dass Garvin oder vielleicht auch Froude bei ihm wären. »Und wir haben tatsächlich noch weitere Schiffe im Hyperraum, die auf unsere Einschätzung der Lage warten.« »Das System, das Sie genannt haben, ist uns nicht bekannt.« »Die Kolonisierung hatte gerade erst begonnen, als wir den Kontakt zur Konföderation verloren. Wie es scheint, hat niemand die neuen Daten herumgeschickt. Was ist überhaupt mit unserem Imperium passiert?« Dill konnte sich die Frage einfach nicht verkneifen. Für längere Zeit kam Schweigen über die Verbindung. »Hier ist Flottenkommandant von Hayn«, meldete sich die Stimme zögernd zurück. »Wir haben keinen Kontakt zu den Heimatwelten, aber wir konnten in den vergangenen Jahren mit eigenen Mitteln die Ordnung aufrechterhalten und für Frieden und die Einhaltung der Gesetze sorgen.« »Genauso wie wir«, sagte Dill. »Und jetzt wollen wir versuchen, den Kontakt wiederherzustellen.« Erneut folgte ein längeres Schweigen, das Dill fast von sich aus gebrochen hätte. »Wir haben mit unseren Vorgesetzten Absprache gehal 38
ten«, erklärte von Hayn. »Die Erlaubnis zum Einflug in das Carroll‐System wurde verweigert. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass unsere gesamte Flotte in Marsch gesetzt wurde. Jedes weitere Schiff, das in den Normalraum eintritt, wird als feindlich eingestuft, und wir werden unverzüglich das Feuer eröffnen. Ich wiederhole: Ihnen wurde die Einflugerlaubnis verweigert. Verlassen Sie sofort dieses System, oder machen Sie sich auf einen sofortigen Angriff gefasst.«
»Du paranoider alter Furzer«, murmelte Dill vor sich hin, ohne eine Vorstellung zu haben, wie alt oder welchen Geschlechts der Flottenkommandant war. Dann schaltete er wieder sein Mikro ein. »Von Hayn, hier ist die Dill. Wir kommen in Frieden. Ich wiederhole: Wir kommen in Frieden und hegen keine feindlichen Absichten. Wir möchten nur unsere Vorräte... ihr stinkenden Mistschurken!« Die Quiroga hatte soeben zwei Raketen auf die Aksai abgefeuert. Ben hätte am liebsten zurückgeschossen, aber er erinnerte sich rechtzeitig an seine Befehle und flüchtete in den Hyperraum, während sich das Patrouillenschiff gleichzeitig aus dem Staub machte. Er wurde in die Big Bertha eingeschleust und begab sich wutschnaubend zur Brücke. Garvin, Froude und Njangu warteten bereits auf ihn. »Thor mit ʹnem Amboss im Arsch!«, schimpfte er. »Diese Scheißkerle waren vielleicht unfreundlich!« »Wir wissen Bescheid«, sagte Froude. »Schließlich haben wir die gesamte Kommunikation mitgehört.« »Und was zum Henker sollen wir jetzt machen?«, fragte Dill. »Wir werden noch einmal springen, an einen Ort, der 39
weit, weit von hier entfernt liegt«, sagte Garvin. »Jetzt hört euch mal an, was das Patrouillenschiff aufgefangen hat. Beide Sendungen stammen von der Hauptwelt des Systems.« Er drückte eine Taste, und eine raue Stimme ertönte: »Essenszeiten für alle Bürger der Zed‐, Extang‐ und Hald‐Klasse wurden um null Komma fünf Ticks verschoben. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Gnadenfrist für Wechsel vier Schichten beträgt, danach werden die Strafen verhängt. Des Weiteren...« Rauschen, dann sagte eine Frauenstimme: »Aufgrund überplanmäßiger freiwilliger Arbeitsleistung wurde die Ausgabe von Glückstabletten für folgende Bezirke genehmigt: Alf, Mass...« »Ach du grünes Wunder!«, rief Ben Dill. »Sie sagen einem, wann man essen oder sich das Gehirn verätzen soll! Wie viel wollt ihr wetten, dass sie einem auch sagen, wann man vögeln darf?« »Ich glaube nicht, dass wir uns weiter mit diesen Leuten abgeben müssen«, sagte Froude. »Höchstens wenn wir mit ausreichender Verstärkung zurückkommen, um mit ihnen über ihr System der Ordnung und des Friedens zu diskutieren.« Die drei Aksai‐Piloten saßen in ihrem Bereitschaftsraum und warteten auf die Essenszeit oder den nächsten Alarm. »Allmählich kommt mir der Gedanke«, sagte Ben Dill langsam, »dass dieses Universum vielleicht gar kein so nettes Plätzchen ist.« »Wann war es je nett?«, fragte Boursier. »Oder hast du in Astronomie Eins nicht aufgepasst?« 39
»Ich rede nicht von Schwarzen Löchern und Wurmlöchern und Geistern und Gespenstern«, sagte Dill. »Ich rede von Menschen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass wir bisher nur auf Verderbnis gestoßen sind.« »Verzweifle nicht«, meinte Alikhan. »Denn ich erinnere mich an die Geschichte eines großen Musth‐Kriegers, der sich einst in einem unwegsamen Wald verirrte. Trotzdem suchte er weiter, erkundete verschiedene Pfade und probierte verschiedene Signale aus. Er glaubte fest daran, dass man tausend Wege erkunden muss, um den einen zu finden, der nach Hause führt.« Dill sah den Alien nachdenklich an. »Donnerwetter! Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Musth je zuvor etwas Ermutigendes gesagt hat.« »Ich auch nicht«, sagte Boursier. »Wie lange hat dieser Krieger gebraucht, um den Heimweg zu finden?« »Er hat es nie geschafft«, sagte Alikhan. »Man fand diese Worte in die Rinde des Baumes geritzt, neben dem er verhungert war.«
5 Salamonsky »Bring uns näher ran, Ben«, sagte Garvin, dessen Stimme keine Gefühlsregung erkennen ließ. »Verstanden«, sagte Dill und tauchte in die Atmosphäre von Salamonsky ein. »Captain Liskeard«, sagte Garvin, »landen Sie uns sicher auf der Oberfläche des Planeten. Wir werden uns um 40 schauen und vielleicht einen Hinweis bekommen, wer für das hier verantwortlich ist. Schleusen Sie zwei Patrouillenschiffe aus, die uns von oben decken sollen.« »Verstanden.« »Sobald wir unterhalb der Stratosphäre sind, starten Sie die anderen Aksai und das zweite Patrouillenschiff. Sie sollen in der Nähe bleiben und nach Schwierigkeiten Ausschau halten.« Njangu kam zu ihm. »Hast du ein ungutes Gefühl?« »Nicht unbedingt«, sagte Garvin. »Wahrscheinlich hoffe ich nur, dass es hier etwas gibt, worauf wir schießen können, mehr nicht.« Dill bremste seinen Aksai zweihundert Meter über dem Landefeld, das er anvisiert hatte. Kleine Flächenbomben hatten den Tower zur Seite kippen lassen und die Hangars und Verwaltungsgebäude in Brand gesetzt. Dann schien die Zerstörung mit schwerem Geschützfeuer vollendet worden zu sein. Überall auf dem Feld lagen die Trümmer von Schiffen herum, von denen einige recht modern wirkten und andere wie kaum noch flugtaugliche Rostlauben, die kleine Zirkusunternehmen oder vielleicht nur Schaubuden durch die Gegend transportiert hatten. Alle waren in grellbunten Farben anodisiert, die allmählich zu verblassen begannen.
»Ich schätze«, sagte Njangu, »dass der Angriff vor weniger als einem E‐Jahr stattgefunden hat. Es hängen noch Kabel herum, das da drüben sieht wie ein Strick aus, der noch nicht verrottet ist, und das Luftkissen des alten Hovercrafts ist noch aufgebläht.« Die Ansicht auf dem Bildschirm wechselte, als Dills Aksai abdrehte und die kleine Stadt neben dem Raumhafen überflog. Sie erstreckte sich über mehrere Kilometer und 41
bestand hauptsächlich aus einzeln stehenden Häusern in den unterschiedlichsten Formen und Baustilen. »Ob in einigen dieser Häuser wohl Liliputaner gewohnt haben?«, meinte Garvin geistesabwesend. »Ich weiß noch, wie ich als Kind eine Familie besucht habe, und alles im Haus war an ihre Größenverhältnisse angepasst. Sie waren kleiner als ich, sodass ich mir zum ersten Mal im Leben wie ein Riese vorkam. Alle ‐ bis auf die Tochter. Diese war vielleicht dreizehn und das hübscheste Mädchen, das ich bis dahin gesehen hatte. Ich habe mich Hals über Kopf in sie verliebt... aber leider kamen neunjährige Jungen in ihrer Wahrnehmung überhaupt nicht vor.« Das Geschäftszentrum der Stadt war eine mit Trümmern übersäte Kraterlandschaft. »Ich hoffe, sie haben sich gewehrt«, sagte Garvin. »Es wäre...« Der wachhabende Kommunikationsoffizier kam auf die Brücke. »Sir. Wir empfangen eine Sendung auf Standardterranisch, über einen Wachkanal der Konföderation. Soll ich sie durchstellen?« »Sofort«, ordnete Garvin an. »Und die Ortung soll rausfinden, woher sie kommt.« Die Übertragungsqualität schwankte, und die Frauenstimme klang matt und erschöpft, als hätte sie den Spruch schon tausendmal wiederholt: »An unbekanntes Schiff... unsere Detektoren haben etwas geortet, das in die Atmosphäre eingedrungen ist... an unbekanntes Schiff... wir sind Flüchtlinge, die sich versteckt haben, nachdem unsere Welt geplündert wurde... wir sind nur eine Hand voll Überlebender... ach, Allah, lass es ein Schiff sein und nicht einen weiteren Meteoriten! Bitte!« 41 Der Gefühlsausbruch endete, und die Frau wiederholte ihren Appell. Garvin griff nach einem Mikro, doch Njangu hielt seinen Arm zurück. »Lass die Sendung noch eine Minute laufen. Das wird ihnen nicht wehtun.« »Warum?« »Vielleicht wäre es keine schlechte Idee... eine Drohne abzusetzen, wenn wir festgestellt haben, von wo sie sendet, bevor sich die Big Bertha dorthin wälzt. Meinst du nicht auch? Da ich das einzige Ich bin, das ich habe, würde ich gerne ein paar Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.« Garvin kniff die Lippen zusammen, aber dann riss er sich zusammen. »Du hast recht, ʹtschuldigung.«
Njangu gab einem der Patrouillenschiffe den Befehl, eine Atmosphärendrohne auszuschleusen. Kurz darauf hatte die Peilung den Standort des Notrufs ausgemacht. »Sie soll dicht über dem Boden heranfliegen«, instruierte Njangu den Piloten der Drohne an Bord des Patrouillenschiffs. »Ich will eine Bildübertragung in Normalsicht und Echtzeit mit Metallortung.« »Verstanden.« Ein Techniker ließ einen neuen Bildschirm von der Decke klappen, der aus der Perspektive der Drohne zeigte, wie sich das unbemannte Gefährt dem Boden näherte. Njangu erklärte Dill, was los war, und wies ihn an, sich in geringer Höhe bereitzuhalten. Die Drohne raste über bewaldete Hügel hinweg, dann kamen ein See, ein kleines Tal und weitere Wälder. »Von hier hat sie gesendet«, sagte Liskeard. »Aber an dieser Stelle ist nichts zu sehen. Die armen Schweine scheinen sich sehr gut versteckt zu haben.« 42 »Schauen Sie sich diese Anzeigen an, Sir«, sagte ein Techniker. Garvin tat es und sah spitze Zickzacklinien. »Da ist nur Gebüsch und Gestrüpp«, sagte Njangu. »Und darunter eine Menge Metall. Vielleicht Schiffe unter Tarnnetzen?« »Scheiße!«, fluchte jemand im Kontrollraum, als sich schwarze Rauchwölkchen auf dem Sichtschirm bildeten. »Die meisten armen Schweine in Not haben in der Regel keine Luftabwehrgeschütze... und setzen sie auch nicht gegen Retter ein«, sagte Liskeard trocken. »Stimmt«, sagte Garvin. »So etwas wäre ziemlich unüblich. Kommunikation, geben Sie mir einen Breitbandkanal.« »Verstanden. Sie sind auf Sendung, Sir.« »An alle Berfna-Elemente. Zielerfassung auf unserem Hauptschirm. Ortung weist auf versteckte Schiffe hin... und wir werden beschossen. Vermuten Geschütz, keine Raketen. An Nana-Elemente, auf zehntausend Meter gehen, horizontal zwei Kilometer. Goddards auf meinen Befehl starten. An die Aksai, zurückhalten, bis sich die Lage etwas geklärt hat. Dann schicken wir euch... Moment, Kommando zurück!« Garvin hatte auch ohne die Warnung des Technikers gesehen, dass zwischen den Bäumen ein Schiff startete. »Nana-Staffel... schalten Sie ihn aus.« »Verstanden«, sagte Tak Rad Draf. »An Zwei, haben Sie das Schiff im Visier?« »Bestätigt.« »Ich eröffne das Feuer. Zwei Raketen... auf mein Kommando... jetzt!« 42 Die meterlangen Shadow‐Schiffsabwehrraketen rasten aus ihren Startröhren.
»Wir registrieren Gegenfeuer«, meldete Drafs EA‐Of‐fizier. »Kursanpassung eins... und zwei... Treffer! Treffer!« Der glühende Feuerball, der noch kurz zuvor ein Raumschiff gewesen war, stieg nicht mehr höher, sondern neigte sich wieder dem Boden entgegen. »An die Nanas... mit den Goddards nachstoßen!«, befahl Garvin. »Auf mein Kommando«, sagte Draf, dessen Stimme immer noch völlig ruhig war. »An alle Elemente... nach Zielerfassung durch das Flaggschiff feuern... eine Goddard pro Nana... jetzt!« Die Goddards waren schwere Raketen, die gegen Raumschiffe eingesetzt wurden, sechs Meter lang, sechzig Zentimeter Durchmesser, Reichweite fünfhundert Kilometer. Sie rasten mit Maximalgeschwindigkeit ins Tal. Am Boden feuerten Luftabwehrstellungen, konnten jedoch nichts ausrichten. Alle vier Raketen schlugen in einem Umkreis von fünfzehn Metern ein, und der Boden bebte, wölbte sich empor, und das Netz, das die Geschütze und zwei weitere Schiffe verbarg, ging in Flammen auf. Sekundäre Explosionen schleuderten Feuerbälle in die Luft. »An die Aksai«, sagte Garvin, »wenn da unten noch irgendetwas lebt, tötet es.« Die Kampfschiffe stürzten sich hinunter und suchten das kleine Tal ab. Boursiers Bordgeschütz ratterte einmal und dann noch einmal. »Ein halbes Dutzend bewaffnete Männer«, meldete sie. »Mehr gibt es hier nicht.« 43 »Das war es dann wohl«, sagte Garvin. »An alle Bertha‐Elemente... sammeln!« Wieder blickte er auf den Bildschirm, der das verwüstete Tal zeigte, und dann zu Njangu. »Ich hoffe, dass sie da unten keine Gefangenen hatten«, sagte Yoshitaro. Garvins Gesicht rötete sich. »Verdammt! Wenn es welche gegeben hat... dann haben sie uns in die Falle gelockt! « »Stimmt«, sagte Njangu. »Tut mir leid. Boss.« Garvins Gesicht nahm wieder eine normale Färbung an. »Nein. Ich muss mich entschuldigen. Diese Sache ist mir etwas nahe gegangen.« »Vergiss es«, sagte Njangu. »Dann wirst du dir wohl ein anderes Plätzchen suchen müssen, um nach deinen Elefanten zu suchen.« »Das werde ich tun. Zwei hätten wir noch zur Auswahl«, sagte Garvin. »Aber Nummer drei ist leider in der Hölle versunken.« »Falls du nicht landen und in der Asche wühlen willst, um herauszufinden, woher die bösen Jungs gekommen sind, um es ihnen heimzuzahlen... sollten wir uns lieber von diesem netten Ort verabschieden.« »Ja«, sagte Garvin mit einem Seufzer. »Hier gibt es nichts mehr, das für uns - oder irgendwen - interessant wäre.« Zwei der nächsten sieben Navigationspunkte lagen in besiedelten Systemen. Die Erkundung durch die Aksai ergab, dass die Planeten tatsächlich bewohnt waren und in erster Linie von der Landwirtschaft lebten. Nach den Emissionen zu urteilen, hatte man schon vor langem den Kontakt
44 zur Konföderation verloren und arbeitete sich langsam auf der Leiter des technischen Fortschritts nach unten. Boursier meldete mit hörbarem Entsetzen aus dem zweiten System, dass dort sogar Atomenergie zum Einsatz kam. »Offensichtlich«, sagte Njangu, »hat es keinen Sinn, hier anzuhalten und um Hilfe zu bitten, wenn es diesen Leuten noch viel schlimmer geht als uns.« »Stimmt«, sagte Garvin. »Außerdem führt uns der nächste Sprung nach Grimaldi, einer Welt voller Spaß, Lachen und Leben. Zumindest hoffe ich es...«
6 Langnes 4567 / Grimaldi »Hier spricht die Flugkontrolle von Grimaldi«, sagte eine Frau. »Schalten Sie auf Kanal fünf fünf vier Komma acht sieben... Sie haben die Landegenehmigung erhalten. Gehen Sie von Ihrer derzeitigen Position in den Vertikalflug, dann auf Kurs Nan Elf, wie auf Ihrem Standardanzeiger angegeben, und zwar für zweiundzwanzig, das heißt, zweizwei Kilometer. Der Himmel ist wolkenlos, also müssten Sie zu diesem Zeitpunkt bereits Sichtkontakt mit dem Joey-Raumhafen haben. Benutzen Sie Leitstrahl Elf Teng, um sich zu Ihrem Landeplatz führen zu lassen.« Die Stimme machte eine kurze Pause, dann sagte sie: »Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir eine friedliche Welt sind und Sie willkommen heißen. Falls Sie andersartige Absichten verfolgen, möchte ich Sie darauf hinwei 44
sen, dass Sie von mehreren Geschützstellungen ins Visier genommen wurden, die wir jedoch nicht benutzen möchten. Ende.« »Hier ist die Big Bertha«, sprach Liskeard in ein Mikro. »Unsere Angaben entsprechen den Tatsachen... wir folgen Kurs Nan Elf über zwei zwei Kilometer, halten uns an Leitstrahl Elf Teng und werden nach Sichtflugregeln auf dem Landeplatz aufsetzen. Überwachungskanal fünf fünf vier Komma acht sieben. Ende.« »Sofern Ihnen bewusst ist, was der Name Ihres Schiffes bedeutet«, sagte die Stimme, »möchte ich Sie zu Hause willkommen heißen. Flugkontrolle Grimaldi, Ende.« Njangu blickte zu Garvin hinüber und hätte schwören können, dass sein Freund Tränen in den Augen hatte. Er fragte sich, wie es für ihn wäre, nach Hause zurückzukehren ... dann fragte er sich nicht zum ersten Mal, ob er überhaupt ein Zuhause hatte. Auf keinen Fall war es Ross 248, das verdorbene Rattenloch, in dem er geboren war. »Sir«, sagte Liskeard, »wir befinden uns im Landeanflug. Möchten Sie jetzt Ihren Segen sprechen?« Garvin kehrte auf die Brücke des Schiffes zurück. »Ja. Klar, 'tschuldigung.« Er griff nach einem Mikrofon.
»Hier spricht Prinzipal Jaansma.« Er hatte beschlossen, den Titel bereits vor der Ankunft auf Grimaldi zu benutzen, weil es Zeit wurde, dass die Truppe sich daran gewöhnte. »Von nun an sind Sie alle Zivilisten, auch die, die es nicht sind. Und ich rate Ihnen bei Harriets Kreuzigung, dass Sie nicht im Gleichschritt herumstapfen und dabei schneidige Lieder schmettern! Sie alle wurden informiert, wer wir sind... mehr oder weniger laienhafte Zirkusfans, die plötzlich zu Geld gekommen sind und versuchen wol 45 len, dem Frieden eine Chance zu geben, indem wir Menschen glücklich machen und zum Lachen bringen. Und vielleicht sind wir auch ein wenig neugierig, was aus der Konföderation geworden ist. Aber Sie müssen sich nicht wie Idioten anstellen, wenn Sie das sagen. Die Leute, denen Sie begegnen werden, denken sowieso, dass Sie einen an der Waffel haben, weil Sie anscheinend darum betteln, in große Schwierigkeiten zu geraten. Von nun an dürfte die Sache hochinteressant werden.« Er schaltete das Mikro ab und sah Njangu mit einem breiten Grinsen an. »Verdammt, aber das wird ein Riesenspaß!« Auch wenn Garvin von sentimentalen Gefühlen überwältigt wurde, machte ihn das nicht zum kompletten Narren. Die zwei Aksai folgten der Big Bertha im Radarschatten, bis der Koloss gelandet war, und kreisten über dem Mutterschiff. Die Nana-Schiffe waren bereit, sofort zu starten, und gewisse unauffällige, normalerweise verschlossene Luken waren geöffnet, und dahinter warteten 35-mmMaschinengewehre mit Uran-Patronen und 6000 Schuss pro Minute sowie die kleinen, einen Meter langen Raubwürger, die auf alles abgefeuert und von jedem gelenkt werden konnten. Aber es tat sich nichts Feindseliges, sodass Garvin und eine Auswahl seiner beeindruckendsten Leute von Ben Dill über Njangu zu Monique Lir die breite Gangway hinunterliefen, nachdem sich die Schleuse geöffnet hatte. Sie wurden von mindestens einem Dutzend Gleitern erwartet, von denen einige in Zirkusfarben bemalt und andere unscheinbar waren. Zwei machten laut Werbung für die Holosender, die sie vorbeigeschickt hatten. 45 Etwa vierzig Männer und Frauen standen auf dem Landefeld, die meisten genauso aufgeregt wie Garvin. Auch ihr äußeres Erscheinungsbild war etwas ungewöhnlich, wie Lir bemerkte. Drei zeigten kunstvolle Tattoos auf den bloßen Armen, einer war fast so groß wie Ben Dill, eine Frau besaß einen recht eindrucksvollen Bart, und zwei, einschließlich eines Journalisten mit einem Holorekorder, waren Liliputaner. Eine Frau von vornehmer Erscheinung, mit langen Haaren und brauner Franseniederkluft, trat vor. »Wir heißen die Big Bertha willkommen«, sagte sie förmlich. »Ich hoffe, dass Sie auf Grimaldi finden, was Sie suchen. Ich bin Agar-Robertes, und mir wurde der
Titel eines Prinzipals verliehen, von denen es auf dieser Welt mehrere gibt. Das ist ein sehr alter Begriff, der so viel bedeutet wie...« »Ich weiß, was er bedeutet«, sagte Garvin. »Ich bin Prinzipal Jaansma.« Die Frau hob die Augenbrauen. »Einer der Jaansmas?« »Ich bin Garvin«, sagte Garvin. »Meine Mutter hieß Clyte, mein Vater Frahnk, mein Onkel Hahrl. In der Generation davor...« »Halt«, sagte die Frau. »Sie stehen schon länger in der Manege als jeder andere von uns.« Garvin deutete eine Verneigung an. »Mistkerl!«, sagte Njangu leise zu Dill. »Seine Zirkusgeschichten scheinen also wirklich wahr zu sein!« »Das ist ein recht beeindruckendes Schiff, mit dem Sie gekommen sind«, sagte Agar-Robertes und blickte zu dem Koloss hinauf. »Darf ich fragen, welche Fracht Sie mit sich führen?« »Vorläufig noch nicht viel«, erwiderte Garvin. »Das ist 46 der Grund, warum wir Grimaldi angeflogen haben. Wir wollen einen Zirkus aufbauen und brauchen Frauen, Männer, Nichtmenschen, Tiere.« »Dann sind die guten Zeiten wiedergekehrt«, sagte Agar-Robertes ehrfürchtig, während ein Raunen durch die übrigen Mitglieder des Empfangskomitees ging. »Wenn der Weltraum wieder für einen Zirkus sicher ist, ist er für jeden sicher.« Garvin verzog das Gesicht. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen recht geben. Seit wir unser Heimatsystem verließen, hatten wir einige Begegnungen, die eher darauf hindeuten, dass die guten Zeiten noch lange nicht wiedergekehrt sind.« »Trotzdem«, sagte Agar-Robertes. »Es könnte ein Anfang sein. Und Sie werden hier genügend Leute für Ihre Truppe finden. Wir sind so verzweifelt, dass wir schon angefangen haben, uns gegenseitig zu unterhalten.« Sie senkte die Stimme. »Einige von uns waren sogar gezwungen, Gadscho-Jobs anzunehmen!« Die Bewohner von Grimaldi nahmen die Cumbrianer in ihre Häuser und ihre Herzen auf. Die Big Bertha erhielt einen Stellplatz am Rand des Landefeldes, die Aksai und die anderen Schiffe kamen zur Wartung in Hangars, und der Zirkus breitete sich rund um das Mutterschiff aus. Das Hauptzelt wurde aufgebaut, davor der Rummel, der sich wie ein langer, dicker Finger ausstreckte, und rund herum standen die übrigen Fertigbauten für die Kantine, die Clowns und so weiter. Einige Mitglieder der Besatzung und der Truppe entschieden, dass sie nicht an Bord wohnen mussten, wenn es nicht unbedingt nötig war, und arrangierten sich mit 46 den Planetenbewohnern. Garvin hatte keine Einwände, solange jeder während seiner Arbeitsschicht auf dem Posten war. Außerdem wäre es gut, wenn die Cumbrianer einmal eine andere Kultur kennen lernten - und die Grimaldianer waren durchaus etwas ungewöhnlich.
Ein Teil der Bevölkerung, einschließlich der ursprünglichen Siedler, waren Zirkusleute. Neben einfachen Arbeitern, Geistlichen oder Computerexperten gab es auch Freaks und Artisten. Andere waren Ruheständler oder Urlauber, die nach dem Zusammenbruch der Konföderation hier gestrandet waren, und neben Zirkusfans fanden sich hier auch Siedler, die sich offenbar für Grimaldi entschieden hatten, nachdem sie einen Dartpfeil auf eine Sternenkarte geworfen hatten. Doch allen war der Glaube an die individuelle Freiheit gemeinsam. Oder wie es jemand ausdrückte: »Deine Rechte enden an meiner Nasenspitze.« Ein scheinbarer Widerspruch war die Tatsache, dass nahezu alle verzweifelt die Konföderation vermissten. Aber ein Grimaldianer erklärte es Njangu mit den Worten: »Es ist besser, wenn es ein gewisses Maß an Recht und Ordnung gibt. Das macht das Reisen einfacher, und es bewahrt einen davor, gelyncht zu werden, nachdem man seinen Schmu durchgezogen hat und mit der Beute aus der Stadt verschwinden will.« Njangu verstand allmählich, was Garvin all die Jahre vermisst hatte... aber er hatte immer noch nicht den leisesten Schimmer, warum Jaansma beim Militär geblieben war. Nicht dass es ihm selbst anders ging. 47
»Was im Namen von Gottes heiligstem Dildo ist das?«, fragte Njangu misstrauisch, als er den riesigen Haufen aus altweißem Stoff, Lederstreifen, Metallösen und schweren Seilen betrachtete. »Ein Zelt«, sagte Garvin. »Ein echtes Zelt.« »Und wozu soll das gut sein?« »Wir wollen der beste verdammte Zirkus aller Zeiten sein... oder zumindest der beste, der noch in dieser Galaxis herumschwirrt«, sagte Garvin. »Also werden wir unsere Show nach Möglichkeit unter einem Leinendach abziehen.« »Warum? Wir haben ein perfekt geeignetes Schiff, das sich wie diese Papierskulpturen entfalten lässt... Ori... Eri... du weißt schon. Sushimi. Da drinnen ist es sicher und warm, und es gibt bequeme Wege zu den Käfigen und Quartieren.« »Ich will es, weil nichts mehr nach Zirkus riecht als ein Leinenzelt«, schwärmte Garvin. »Abgesehen von gerösteten Erdnüssen und Popcorn... und Elefantenscheiße.« »Ich werde Jasith von deinen Lieblingsdüften erzählen«, sagte Njangu. »Sie dürfte hellauf begeistert sein, und vielleicht bringt der Mellusin-Konzern demnächst eine völlig neuartige Parfümkollektion auf den Markt.« Ansonsten war Njangu nicht besonders erfolgreich darin, seine übliche Arroganz zu wahren. Maev kam um eine Ecke und sah ihn mitten in einer Horde aus kleinwüchsigen Menschen, von denen einige Zwerge und andere einfach nur maßstabgetreu verkleinerte Ausgaben »normaler« Menschen waren. Beim Streit ging es um den vertraglich zugesicherten Mindestlohn, und er bemühte sich, seinen Standpunkt zu
48 vertreten, wobei sein Gesicht einen geradezu glückseligen Ausdruck zeigte. Maev zog sich wieder hinter die Ecke zurück und sprach Njangu nie auf diese Szene an. »Wir haben ein ernstes Problem«, sagte Garvin. »Setz dich, trink was und hilf mir.« »Selten wurde eine nettere Einladung ausgesprochen«, sagte Njangu und nahm vor Jaansmas Schreibtisch Platz. Er zog die Flasche heran, goss sich ein Glas ein und trank. »Uff! Was ist das? Triebwerksdüsenreiniger?« »Nahe dran«, sagte Garvin. »Dreifach destillierter Alkohol, den unsere einzigartige, furchtlose Maschinenabteilung entwickelt hat. Versuch ihn noch mal! Man gewöhnt sich dran.« »Man kann sich auch an den Tod gewöhnen«, sagte Njangu, aber er trank gehorsam. »Also? Was ist das Problem?« »Jeder Zirkus braucht ein Thema, um das sich irgendwie alles dreht, von den hübschen Frauen im Charivari - das ist der festliche Umzug, mit dem alles beginnt - bis zum Finale. Die Kostüme sollten irgendwie zum Thema passend entworfen sein.« »Hmmm«, machte Njangu nachdenklich. »Es wäre auch irgendwie besser, wenn es etwas kitschig und sentimental wäre.« »Ach, dann ist es ja einfach. Füll noch mal nach!« Garvin tat es. »Dieses Zeug scheint sich durch häufige Benutzung zu verbessern«, räumte Njangu ein. »Allerdings wäre es besser, es direkt zu injizieren, damit die Speiseröhre nicht zu sehr geschädigt wird. Aber du wolltest ein Thema... und 48 hier habe ich ein Thema. Es passt sogar zu unserer supergeheimen Top-SecretMission. Nenn es einfach... äh... >Die Begegnung vieler Weitem. Du könntest die gute alte Konföderation beschwören und wie sehr wir alle sie vermissen. Steck die Leute in alle möglichen Kostüme - man könnte sogar nachschauen, ob es mal irgendwo Nudistenplaneten gegeben hat. Das wäre doch was!« »Njangu Yoshitaro«, sagte Garvin. »Wieso hege ich manchmal den leisen Verdacht, dass du ein Genie sein könntest? Gelegentlich erweckst du gar den Anschein, Intelligenz zu besitzen.« »Dazu hast du aber ziemlich lange gebraucht.« »Äh, Boss, was ist hier los?«, wollte Darod Montagna von Njangu wissen. Sie standen vor der Big Bertha und einer hohen, kreisförmigen Einzäunung, die an einer Landestütze des Schiffes aufgebaut worden war. Innerhalb der Einzäunung standen Garvin und Ben Dill. »Unser furchtloser Führer will einen Bären erwerben.« »Einen was?« »Irgendein urzeitliches Tier... angeblich soll es sogar von der Erde stammen«, sagte Njangu. »Ich habe in der Datenbank nachgesehen, und dort wurde es als gutmütiges Tier beschrieben, das niemandem etwas zuleide tut, aber wenn man es
ärgert, bekommt man den Ärger in zehnfacher Ausfertigung zurück. Garvin meint, wir müssten unbedingt so etwas haben.« »Warum? Wozu soll ein solches Tier gut sein? Oder hält er es für eine tolle Showeinlage, wenn es Zuschauer frisst?« »Garvin sagte, wenn sie gut dressiert sind, kann ein Bär auf einem zweirädrigen Gefährt fahren, tanzen, Purzelbäu 49
me schlagen... also ungefähr alles, was man auch einem nicht besonders begnadeten Menschen beibringen kann.« »Warum brauchen wir also einen Bären?« »Weil«, sagte Njangu, »ein Zirkus ohne...« Montagna vollendete den Satz, den mittlerweile jeder mehrmals gehört hatte. »... ohne einen Bären einfach kein richtiger Zirkus ist. Oder ohne Bodenakrobaten. Oder was immer unserem Prinzipal als Nächstes einfällt.« »Auf jeden Fall«, fuhr Njangu fort, »ist dieser Volltrottel aufgetaucht, der drüben in den Hügeln echte Bären züchtet. Agar-Robertes schlug vor, dass wir ein paar Roboterbären kaufen, aber da hätten Sie unseren Garvin sehen sollen! Er gibt sich nicht mit Imitationen ab. Ach... das dürfte der Bärenzüchter sein.« Der Gleiter, der sich dem Raumhafen näherte, erweckte den Eindruck, als wäre er seit längerer Zeit regelmäßig einmal pro Woche abgestürzt. Auf der offenen Ladefläche stand ein großer Käfig, in dem sich ein sehr großes, sehr dunkelbraunes pelziges Tier mit sehr großen Krallen und Zähnen befand. »Holla!«, sagte Darod. »Allein der Anblick macht mir Angst. Steht jemand mit einem Blaster bereit?« »Garvin sagte, der Dresseur hätte ihm gesagt, der Bär sei friedlich wie ein Baby.« Das Tier brüllte so laut, dass die Gitterstäbe des Käfigs rasselten. »Was für ein Baby hat er gemeint?«, fragte sie. »Davon war nicht die Rede.« Der Gleiter landete, und ein ziemlich haariger Mann stieg aus. Er begrüßte Garvin, stellte sich als Eneas vor und sprang auf die Ladefläche mit dem Käfig. 49 »Das hier ist Klein-Doni«, sagte er. »Das netteste Geschöpf, das ich jemals gesehen habe. Hab auf meiner Ranch noch zwei, die genauso sind wie sie, falls Sie eine echte Startruppe wollen.« Njangu musste ein Glucksen unterdrücken. »Startruppe?«, murmelte er. »Sie haben gesagt, sie sei friedlich«, sagte Garvin und betrachtete eine lange Narbe am Arm des Dresseurs. »Das war ihre Mutter«, sagte Eneas. »Doni hat mir nur einmal das Bein gebrochen, und das war meine eigene Schuld. Hauptsächlich. Ich werde sie jetzt rauslassen, dann können Sie selbst sehen.« Garvin konnte bereits selbst sehen, dass sich Klein-Doni nicht nur in einem Käfig befand, sondern außerdem mit Ketten an den Vorderbeinen gefesselt war. Eneas öffnete den Käfig, und Doni rollte heraus, grollte, kam auf die Beine und zerriss die Ketten.
Sie brüllte, dann schlug sie nach Eneas, der sich jedoch rechtzeitig unter dem Gleiter in Deckung brachte. Doni sah Ben Dill und stürmte auf ihn los. Dill machte es Eneas nach. Damit war nur noch Garvin übrig, also stürmte Doni nun zu ihm. Unter dem Gleiter war nicht genug Platz für drei Personen, also kletterte Garvin auf den Käfig - auch wenn er später behauptete, er wäre aus dem Stand hinaufgesprungen. Doni, die nun die Bühne beherrschte, brüllte dreimal den Gleiter von verschiedenen Seiten an, bis sie sich für ein Seitenfenster interessierte und es beiläufig einschlug. Njangu lachte so laut, dass er sich an der Landestütze des Schiffes festhalten musste. Klein-Doni sah Yoshitaro und stürmte brüllend auf den 50 Zaun zu. Sie krachte dagegen, prallte ab, kam zurück und kletterte mühelos daran hoch, als wäre er eine Leiter. Njangu Yoshitaro kletterte die Landestütze der Big Bertha hinauf, ebenso mühelos wie eine Leiter. Darod Montagna hatte plötzlich etwas Dringendes innerhalb des Schiffes zu erledigen und verschloss sorgfältig die Einstiegsluke. Irgendwann kam Eneas wieder unter dem Gleiter hervor, holte neue Ketten hervor und sorgte dafür, dass Klein-Doni aus dem Leben des Zirkus verschwand. Drei Tage später bezahlte Njangu die erste Leasingrate für zwei Roboterbären. Er bestand darauf, dass einer auf den Namen Klein-Doni getauft wurde. Der Kapellmeister hieß Raf Aterton, und Njangu schwor, dass er die Reinkarnation von mindestens sechs Generälen und zwei Diktatoren sein musste. Er hatte silbernes Haar, war schlank, von strenger Erscheinung und duldete keinen Widerspruch von den vierzig Musikanten, die der Zirkus eingestellt hatte. Seine Stimme klang sanft, aber erstaunlicherweise trug sie bis zum anderen Ende des Raumhafens. »Jetzt werden Sie alle mir sehr genau zuhören. Vor Ihnen liegt eine Partitur. Das Stück heißt >Friedensmarsch der Konföderation^ Sie werden es lernen, bis Sie es im Schlaf spielen können, worin sich einige von Ihnen bereits geübt haben, wie mir nicht entgangen ist. Dieses Stück ist der allerwichtigste Teil der Show. Der >Friedensmarsch< ist das Anzeichen für Schwierigkeiten. Feuer. Die Raubkatzen sind los. Großes Chaos, große Katastrophe. Wenn dieses Stück gespielt wird, bemühen sich alle Arbeiter, das Problem zu lösen, wie auch immer. Wenn wir unter dem Zelt 50
dach auftreten, werden zuerst alle Tiere und die Artisten rausgebracht. Sie sind unersetzbar, aber Sie, meine wurstfingrigen Damen und Herren, sind es nicht. Wenn also alle anderen in Sicherheit sind, werden Sie sich den Arbeitern anschließen und ihnen bei der Lösung des Problems helfen.« »Eine Frage, Sir«, sagte ein Synthie-Spieler. »Was ist, wenn wir im Schiff sind, während etwas passiert?«
»Spielen Sie, und dann verlassen Sie das Schiff. Oder folgen Sie den Anweisungen, falls Prinzipal Jaansma in der Nähe ist.« »Und wenn wir uns im Weltraum befinden?« »Das«, meinte Aterton nachdenklich, »ist in der Tat eine schwierige Frage.« Ohne Mühe überschlug sich die Frau zweimal hoch über dem Netz, während ein Mann das Trapez losließ und durch die Luft segelte. Der Fänger streckte lange Tentakel aus, fing beide auf und warf sie noch höher hinauf. Erneut fing er sie, und dann standen sie wieder auf der Stange. »Gut«, sagte Ben Dill. »Die Hälfte der Truppe ist menschlich oder sieht zumindest so aus. Was sind diese Oktopus-typen für eine Spezies?« »Sie nennen sich raʹfelan«, sagte Garvin. »Der Leiter ihrer Truppe sagt, sie wären ungefähr genauso intelligent wie ein etwas unterdurchschnittlich begabter Mensch.« »Interessant«, sagte Erik Penwyth. »Wenn sie ein halbes Dutzend Arme haben, mit denen sie Knöpfe drücken können, und nicht ausgesprochen intelligent sind, sollten wir sie als Piloten rekrutieren.« »Pass auf!«, warnte Dill ihn. Die raʹfelan hatten röhrenförmige Körper, die in ver 51 schiedenen Abständen paarweise mit Tentakeln ausgestattet waren. In der Körpermitte wölbten sich bedrohlich die Augen. »Können sie reden?«, fragte Dill. »Wenn man sie höflich anspricht«, sagte Garvin. »Heute seid ihr beiden ausgesprochen nett!«, beklagte sich Dill. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du sie engagiert hast?«, fragte Penwyth, ohne auf Dills Bemerkung einzugehen. Der raʹfelan schaukelte dreimal am Trapez vor und zurück, dann sprang er senkrecht hinauf zu einem Seil, das zwischen zwei Zeltpfosten gespannt war. Er ‐ oder sie oder es ‐ Garvin hatte nie herausgefunden, wie die Spezies geschlechtlich organisiert war ‐ hangelte sich mit den Tentakeln am Seil entlang, bis er sich an ein anderes Trapez hängte, einmal hin‐ und herschwang und sich dann mit einem Salto ins Netz fallen ließ. »Und wie du recht gehst!«, rief Garvin inbrünstig. »Du hättest vor ein paar Minuten hier sein sollen, als sie zehn Leute wie Papierflugzeuge durch die Luft geworfen haben.« »Wenn sie etwas minderbemittelt sind«, sagte Dill, »könnten sie eigentlich auch für den Mindestlohn arbeiten, oder? Seht ihr, dass ich mich allmählich auf euer Niveau begebe?« »Ich weise noch einmal auf das hin, was ich über Piloten gesagt habe«, entgegnete Penwyth. »Allerdings könnte ich meine vielleicht allzu freundliche Einschätzung zurücknehmen, dass sie nicht ausgesprochen intelligent sind.« 51
»Spielt auf, Maestro! Das Zelt ist voll, und die Vorstellung kann beginnen!«, rief Garvin. Er trug einen prächtigen weißen Anzug aus alten Zeiten, einschließlich eines weißen Zylinders, schwarzer Stiefel und einer schwarzen Peitsche. Aterton gehorchte, und die Musik hallte durch den Frachtraum. Garvin berührte sein Kehlmikro. »Männer, Frauen, Kinder jeden Alters... Willkommen, willkommen, willkommen im Zirkus der Galaktischen Wunder. Ich bin Ihr Gastgeber für diese Show. Und als Erstes sehen Sie...« Plötzlich stürmte ein halbes Dutzend Clowns die Manege und bedrängte Garvin auf unterschiedlichste Art und Weise. Manche versuchten ihn mit Wasser zu bespritzen, andere wollten ihn über einen am Boden knienden Clown schubsen, wieder andere warfen verfaultes Obst nach ihm. Aber alle Versuche scheiterten, und schließlich trieb er sie mit der Peitsche fort. »Ich bitte vielmals um Verzeihung, aber wir schaffen es einfach nicht, diesen wilden Haufen zu bändigen...« Garvin senkte die Stimme und fiel aus der Rolle. »Wenn wir unsere volle Stärke erreicht haben, kommen jetzt die Teppichclowns mit dem Entracte. Als Nächstes folgt der Spec mit allen möglichen Frauen auf Gefährten, Pferden und Elefanten, falls wir Elefanten haben, die Süßigkeitenverkäufer im Publikum, dann kommen die Katzen durch... Maestro, es tut mir leid, Sie mit all diesen Dingen behelligen zu müssen, aber wir brauchen für jeden Auftritt ein musikalisches Thema.« »Natürlich«, sagte Aterton hochnäsig. »Ich kenne mich sehr wohl mit diesen Dingen aus und bin keineswegs ein Grünschnabel.« 52
Garvin verzog das Gesicht und beschloss, nicht auf diesen Punkt einzugehen. »Und nachdem der Umzug dann durch die Hintertür des Zeltes oder Frachtraums oder Amphitheaters - oder wo auch immer wir auftreten werden - nach draußen verschwunden ist, kommt die erste Nummer. Aber ich habe noch nicht entschieden, was das sein wird, vielleicht Trapezartisten, vielleicht ein paar Liliputaner, die am Boden herumtollen, vielleicht ein paar Akrobaten, obwohl ich längst noch nicht genug gesehen habe.« Er schien sich inmitten des ganzen Durcheinanders rundum wohlzufühlen. »Katzen von der Erde?«, fragte Garvin. »Ursprünglich«, sagte der pummelige, etwas affektiert wirkende Mann mit dem Schnurrbart in traurigem Tonfall. »Seitdem sind sie offenbar mutiert... und der Höhepunkt dieser Spezies wurde mit Doktor Emtons Fantastischen Fehden erreicht, bei denen Sie sich fragen, ob Sie als Mensch ihnen wirklich an Intelligenz überlegen sind. Eine wunderbare Show für die ganze Familie.« Garvin betrachtete skeptisch die sechs mageren, aber ordentlich gekämmten Tiere, die auf seinem Schreibtisch hockten. Sie erwiderten seinen Blick mit gleichgültiger Leidenschaftslosigkeit. »Ticonderoga«, sagte Emton. »Insekt. Auf Bild. Fang es für ihn.« Er zeigte auf Garvin, vollführte aber keine andere Geste.
Plötzlich sprang eine Katze vom Schreibtisch auf das Holo von Jasith, fing einen Käfer, biss einmal zu und ließ ihn dann anmutig auf Garvins Schoß fallen. 53
»Interessant«, sagte Garvin. »Aber eher für eine Schaubude geeignet. Die wir nicht sind.« »Pyramide«, sagte Emton. Darauf rückten drei Katzen zusammen, zwei sprangen ihnen auf den Rücken, und die letzte vervollständigte die Figur. »Ballspielen«, sagte er, holte einen kleinen roten Ball aus der Tasche und warf ihn den Tieren zu. Die Pyramide löste sich auf, die Katzen ordneten sich im Kreis an und spielten sich den Ball gegenseitig zu. »Hmmm«, machte Garvin. »Wir werden Projektionsschirme anbringen, damit das Publikum alles verfolgen kann... vielleicht könnten sie zusammen mit den Clowns auftreten.« »Clowns«, sagte Emton, und die sechs Katzen machten Männchen, bewegten sich auf den Hinterbeinen vorwärts und schlugen Purzelbäume. »Ich fürchte, nein«, sagte Garvin. »Oh! Oh. Nun gut«, sagte Emton und stand auf. Seine Katzen sprangen zurück in die zwei Tragekörbe. »Ach... noch etwas anderes... wie ich gehört habe, gibt es bei Ihnen Essensmarken für Probevorführungen.« »Richtig«, sagte Garvin und bemerkte einen leichten Ausdruck der Verzweiflung im Gesicht des Mannes. Offenbar bildete er es sich nur ein, aber ihm war, als hätten die Katzen den gleichen Blick. »Wir geben Ihnen gerne etwas zu essen. Und Ihren Katzen.« »Also... auf jeden Fall vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben«, sagte Emton, als er die Deckel der Körbe verschloss. Garvin kam sich wie ein Volltrottel vor, als er sagte: »Warten Sie noch einen Moment. Dürfte ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?« 53
Emtons Ausdruck schien um etliche Grad abzukühlen, aber er sagte: »Bitte.« »Ich würde gerne wissen, wann Sie Ihren letzten Auftritt hatten?« Emton sah ihn mit schwermütiger Miene an. »Das letzte Mal, dass wir in einer Show aufgetreten sind... eine, die nur hin und her getingelt ist, aber wenigstens etwas, um nicht einzurosten... also, das ist, um genau zu sein, schon fast ein E-Jahr her.« Garvin nickte. »Ich hatte die Clowns erwähnt. Haben Sie etwas dagegen, mit ihnen zusammenzuarbeiten?« »Natürlich nicht«, sagte Emton eifrig. »Vielleicht erkenne ich noch nicht das ganze Potenzial Ihrer Nummer, oder vielleicht sollten Sie es mal mit neuem Material probieren«, sagte Garvin. »Ich werde Professor Ristori Bescheid sagen, damit er Sie an der Hauptschleuse trifft, in, äh, dreißig Minuten oder so.« Doch dann sah er Emtons Gesichtsausdruck. »Oder
lieber in einer Stunde. Genug Zeit für Sie und Ihre Truppe, um sich im Kantinenzelt verköstigen zu lassen.« »Vielen Dank«, sagte Emton. »Ich verspreche Ihnen, dass es Ihnen nicht leidtun wird.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte Garvin und dachte, dass Jasith sicherlich nichts dagegen hatte, wenn ein kleiner Teil ihres Geldes für einen solchen Zweck ausgegeben wurde. Außerdem mochten sich die Tierchen durchaus als nützlich erweisen. Immer mehr Clowns überfluteten die Big Bertha, bis Garvin mehr als dreißig unter Vertrag hatte. Er machte Ris 54 tori zum Chefclown und teilte Njangu andere Pflichten zu. »Gut, alles klar, Abbruch!«, rief Garvin. Der Roboterbärendompteur blickte sich verlegen um, und die Luftakrobaten kehrten auf ihr Piedestal zurück. »Leute, wir müssen hier irgendeinen Rhythmus reinkriegen. Gehen wir noch mal an die Stelle zurück, wo die Bären reinkommen.« »So ist viel besser«, sagte der raʹfelan zu Monique Lir. »Davor waren echte Netze aus Seil. Wenn ein Mensch nicht richtig landet... auf Hinterkopf... konnte schwer verletzt werden. Bein brechen. Vielleicht nach draußen prallen und kein Fänger. Schlecht, sehr schlecht.« Das Zirkus»netz« bestand aus einer Staffel von Antigravprojektoren, die alle nach innen und oben gerichtet waren und an der Piste, der Umrandung der Manege, standen. Wenn jemand vom Trapez fiel, wurde sein Sturz verlangsamt und zwei Meter über dem Boden ganz gestoppt. Außerdem hatte das Netz den Vorteil, fast völlig unsichtbar zu sein. Nur ein leichtes Flirren war an den Projektionsmündungen zu erkennen. Also konnte sich das Publikum der Illusion hingeben, dass die Akrobaten während des Auftritts mit ihrem Leben spielten. Das Alien drehte ein Auge in Lirs Richtung. »Warum Sie wollen lernen die Zahnhangnummer?« »Warum nicht?« Der raʹfelan griff mit einem Tentakel nach oben und zog das Seil mit dem Metallstück am Ende herunter. »Gut. Sie nehmen in Mund, und nur Zähne zusammenbeißen. Gut festhalten. Jetzt ziehen wir hoch. Nur ein we 54 rüg. Sehen Sie, wie leicht? Menschliche Kiefer stark. Jetzt lernen, wie drehen und rotieren... vielleicht... Sie sehen wie starke Frau aus... vielleicht sogar schaukeln und anderes.« Njangu beäugte die Tiere skeptisch. Sie sahen ihn mit großem Interesse an. Und möglicherweise mit großem Hunger. Es waren ein gutes Dutzend, die von ihrem Dresseur als Löwen, Tiger, Leoparden und Panther identifiziert wurden.
»Wissen Sie«, sagte er, »ich würde mich viel glücklicher, ganz erheblich glücklicher fühlen, wenn die Käfigwände zwischen mir und Ihren Freunden wären.« »Ach, Sie müssen sich überhaupt keine Sorgen machen«, sagte der große, gut aussehende Mann mit dem vernarbten Gesicht. Njangu erinnerte sich an eine Geschichte, die Garvin ihm erzählt hatte, als sie beide gedacht hatten, dass sie sterben würden. Es ging darum, aus welchem Grund er zur Armee gegangen war. Der Zirkus, für den er als Direktor tätig gewesen war, hatte sich als Gaunertruppe erwiesen, und die Zuschauer hatten den Schwindel bemerkt und rebelliert. Jaansma hatte gesehen, wie jemand Feuer an die Pferdeställe legen wollte, und war, wie er gesagt hatte, »leicht durchgedreht«. Er hatte die großen Katzen auf die Menge losgelassen. »Aha«, sagte Njangu nachdenklich. »Die Gadschi werden sowieso nie merken, wie zahm meine Kätzchen in Wirklichkeit sind«, sagte der Abrichter. Er ließ eine lange Peitsche knallen, und im nächsten Moment verwandelte sich das Innere des riesigen, etwa zwan 55 zig Meter durchmessenden Käfigs in ein pelziges Durcheinander. Katzen brüllten, kreischten, schlugen mit den Tatzen aus, sprangen von einem Podest zum anderen, und der Dresseur feuerte aus einer altertümlichen Pistole Platzpat‐ ronen in die Luft, während er Ringe hochwarf, durch die die Tiere sprangen. Dann war schlagartig alles wieder ruhig. Der Dompteur, der behauptete, den Namen Sir Douglas zu tragen, grinste, wobei sich seine Narbe deutlich von seiner fast schwarzen Haut abhob. »Verstehen Sie jetzt, was ich meine?« »Vielleicht«, sagte Njangu. »Äh... woher haben Sie die Narbe, wenn ich mir diese Frage erlauben darf?« »Muldoon ‐ das ist der schwarze Leopard da drüben — ist morgens meist etwas schlecht gelaunt. Und ich war offenbar etwas zu aufdringlich.« Er machte eine unbestimmte Geste. »Unfälle passieren nun mal, nicht wahr?« »Offenbar«, sagte Njangu und machte sich auf den Weg zur Käfigtür. »Ach ja, was ich auch noch fragen wollte... Was nehmen Ihre netten Freunde eigentlich als Nahrung zu sich?« »Fleisch«, sagte Sir Douglas mit einem grimmigen Grinsen. »So viel, wie ich ihnen zu fressen erlaube.« »Sind die Tierchen schon auf die Idee gekommen, dass auch wir Fleisch sind?« »Nein«, sagte der Dompteur. »Aber sie arbeiten daran.« Njangu fiel auf, dass sich Garvins Gewohnheiten änderten. Nun schlief er während des Tages, wachte bei Anbruch der Dunkelheit auf, gönnte sich eine leichte Mahlzeit, arbeitete die ganze Nacht durch und besuchte immer wieder verschiedenste Proben überall im Schiff. Bei Sonnenauf 55
gang nahm er eine große Mahlzeit ein und trank eine halbe Flasche Wein, um sich anschließend zur Ruhe zu begeben. Njangu erwischte ihn gelegentlich, wie er Darod Montagna nachschaute, aber bislang war noch nichts geschehen. Bislang. Außerdem musste sich Njangu um andere Dinge kümmern, gemeinsam mit zwei Assistenten aus der Geheimdienstabteilung. Er interviewte jeden, der sich dem Zirkus anschloss, so behutsam und ausführlich wie möglich, woher er gekommen war, was er über den Zusammenbruch wusste und welche Reisen er unternommen hatte. Als Problem erwies sich, dass die Zirkusleute nicht gerne über persönliche Angelegenheiten redeten. Sie sträubten sich, zu sagen, woher sie kamen, aber sie erzählten bereitwillig, »Ich war bei den Zymecas« oder »Mein letztes Enga‐ gement hatte ich bei Butler und Tochter«. Njangu hatte bisher nur verwirrende Daten gesammelt. Einige Welten oder Sektoren schienen beschlossen zu haben, ihre Unabhängigkeit von der Konföderation zu erklären. Niemand schien zu wissen, was mit den Konfödera‐ tionsvertretern geschehen war, die für diese Bereiche zuständig gewesen waren. Andere Planeten, so stellte Njangu fest, hatten offenbar jeglichen Kontakt verloren. Ihre Frachtschiffe starteten und kehrten nie mehr zurück. Bestellte Lieferungen trafen nie ein, Armeen wurden nicht mehr versorgt und so weiter. Ein paar Leute erzählten genauere Geschichten ‐ dass sie die Ankunft einer Truppe oder eines Verwandten erwartet hatten und kein Schiff am Himmel aufgetaucht war 56 oder dass Verträge unterzeichnet worden waren, aber das Transportschiff niemals eingetroffen war. Es schien keinen großen Knall gegeben zu haben, sondern eher eine Reihe von kleineren Zusammenbrüchen. Njangu hatte nicht den leisesten Ansatz einer Erklärung. »Beim großen Fußballturnier der Götter!«, sagte Dill. »Sie sind verdammt gewaltig!« »Niemandem ist klar, wie groß ein Elefant ist, bis man einen zum ersten Mal aus der Nähe sieht«, sagte Garvin. »Habe ich recht?« »Dazu können wir nichts sagen«, entgegnete einer der schlanken braunhäutigen Männer. Sein Kollege nickte. »Wir haben mit unseren Freunden zusammengelebt... seit wir geboren wurden.« Der eine der beiden Männer hieß Sunya Thanon, der andere Phraphas Phanon. Ihre Truppe bestand aus sechzehn Elefanten, die alle Namen hatten, und zwei Babys, die nicht älter als ein E‐Jahr waren, Imp und Loti. »Möchten Sie, dass wir Ihnen vorführen, was unsere Freunde können?«
»Nicht nötig«sagte Garvin. »Ich habe das Holo gesehen, das Sie geschickt haben. Sie sind bei uns mehr als willkommen.« »Gut«, sagte Sunya. »Es wird allmählich schwierig, sie mit unserem kleinen Budget durchzufüttern.« Genauso wie Phraphas sprach er Terranisch ohne Akzent und mit deutlicher Betonung, als wäre er mit einer anderen Sprache ver‐ trauter. »Aber wir müssen Sie warnen«, sagte Phraphas. »Wir suchen nach einem bestimmten Ort, und wenn wir im Ver 57 lauf unserer Reise eine Möglichkeit erkennen, ihn zu erreichen, müssen Sie uns erlauben, unverzüglich Ihren Zirkus zu verlassen.« »Ich denke, das lässt sich arrangieren«, sagte Garvin misstrauisch. »Und um welchen Ort handelt es sich?« »Haben Sie jemals von einem Planeten namens Coando gehört?«, fragte Sunya. »Nein«, sagte Garvin. »Was allerdings nicht viel zu sagen hat, da ich kein Astrogator bin.« Die zwei sahen sich enttäuscht an. »Auch wir kennen seine Position nicht«, sagte Phraphas. »Aber wir haben einmal davon gehört und beschlossen, es zu unserer Lebensaufgabe zu machen, mit unseren Freunden dorthin zu gelangen.« »Was ist das Besondere an diesem Planeten?«, fragte Dill. »In der Legende heißt es«, sagte Phraphas, »dass Menschen unserer Kultur die alte Erde verließen ‐ gemeinsam mit den Elefanten, mit denen sie schon immer zusammengearbeitet hatten ‐, um sich eine neue Heimat auf einer warmen Dschungelwelt zu suchen, wo es genauso war wie in dem Land, aus dem sie stammten. Aber dort würde niemand ihre Freunde wegen ihrer Häute oder wegen des Elfenbeins ihrer Stoßzähne oder einfach nur aus dem perversen Ver‐ gnügen jagen, etwas zu töten, das größer ist als man selber. Nach der Geschichte fanden sie eine solche Welt und nannten sie Coando. Und bei der Besiedelung dieser Welt achteten sie sorgfältig darauf, sie so zu belassen, wie sie war ‐ so, wie ihr Heimatland gewesen war, bevor es ausgebeutet wurde. Dann schickten sie Expeditionen zur Erde, um wilde Elefanten zu holen, die ihren Freunden Gesellschaft leisten sollten. 57 Das soll der Grund sein, warum Elefanten so selten sind. Es gibt nur noch ein paar Freunde, die sich entschlossen, für den Zirkus zu arbeiten, und ein paar andere, die auf Welten der ehemaligen Konföderation leben. Deshalb suchen wir diesen Planeten, genauso wie es unsere Eltern getan haben und vor ihnen ihre Eltern.« Dill überlegte, ob er das Offenkundige aussprechen sollte, doch wurde ihm klar, dass er sich nicht wie ein Arschloch benehmen wollte. Er und Garvin tauschten einen Blick aus.
»Ich vermute«, sagte Garvin, »dass Sie sich nach dieser Welt erkundigen, seit Sie auf Grimaldi eingetroffen sind.« »Wir haben uns erkundigt und die Sternenkarten konsultiert«, sagte Sunya. »Aber ohne Erfolg.« »Kein Problem«, sagte Dill und überraschte damit sowohl Garvin als a»eh sich selbst. »Coando ist irgendwo da draußen... und wir werden den Planeten finden... oder herausfinden, wo er sich befindet. Und wenn wir Centrum erreichen, können wir nachschauen, ob die alten Originalunterlagen der Konföderation noch existieren.« Sunya blickte seinen Partner an. »Siehst du? Ich wusste, dass uns das Glück hold ist, als ich sah, wie dieses Schiff vom Himmel herabstieg.« Garvin und Dill vertrauten die Tiere und ihre Dresseure Lirs Obhut an und machten sich auf den Rückweg zum Schiff. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein sentimentaler alter Sülzkopf bist?«, fragte Garvin. »Bist du etwa keiner?«, blaffte Dill zurück. Garvin und Montagna beobachteten, wie die Pferde durch die Reifen sprangen und im Kreis um die Manege trabten. 58 Ihre Bewegungen waren wie fließende Milch, die Verkörperung der Anmut schlechthin. Auf ihren Rücken saßen zwei langhaarige Frauen und ein Mann mit einem beeindruckenden Schnurrbart und ebenso langem Haar. Sie wirkten, als wären sie eins mit den Reittieren. »Das werde ich auch irgendwann lernen«, sagte Montagna mit Entschiedenheit. »Ganz gleich, wie schwer es ist.« »Sie werden es schaffen«, murmelte Garvin geistesabwesend. Sie lächelte ihm zu und kam automatisch ein Stück näher. Dann wurden sie sich der Situation bewusst und gingen wieder einen Schritt auseinander. Der Mann, Rudy Kwiek, sprang vom Rücken seines Pferdes, vollführte einen doppelten Salto in der Luft und landete vor den beiden. »Sind meine vrai nicht wunderbar?« »Das sind sie«, pflichtete Garvin ihm bei. »Was ist der Trick?« »Es gibt keinen Trick. Meine Pferde, meine vrai, entstammen einer ganz besonderen, sehr schlanken Zucht, die nur von wenigen Rom auf isolierten Welten gehalten werden. Sie werden fast nie in der Öffentlichkeit gezeigt. Und ich besitze die besten Exemplare dieser Zucht, eine so außergewöhnliche Attraktion und so hervorragend trainiert, dass Ihr Zirkus sich nicht nur glücklich schätzen sollte, uns unter Vertrag nehmen zu können, sondern es wird obendrein Ihre Einkünfte verdoppeln ‐ was rede ich! ‐ verdreifachen.« »Ja«, erwiderte Garvin lakonisch. »Hätten Sie vielleicht etwas dagegen«, fragte Montagna, »wenn eins Ihrer Pferde einen Huf hebt?« »Ah!«, rief Kwiek. »Die Dame ist nicht nur ausgesprochen hübsch, sondern außerdem ein kluges Köpfchen.«
59 »Nein«, sagte Montagna. »Ich dachte nur, ich hätte etwas Metallisches aufblitzen gesehen, als Ihr Pferd über dieses Hindernis gesprungen ist.« »Ein erneutes Ah!«, psalmodierte Kwiek. »Daran muss ich noch arbeiten. Und ich muss gestehen, dass ich meinen armen Pferden die Arbeit ein wenig erleichtern wollte.« »Wie denn?«, fragte Garvin grinsend. »Mit einer kleinen Antigraveinheit unter jedem Huf?« Kwiek verbeugte sich. »Ich sehe, dass ich vor Ihnen nichts geheim halten kann, Prinzipal Jaansma. Vielleicht sollten wir in Ihr Büro gehen und etwas von dem Raki probieren, den ich mitgebracht habe, damit wir in Ruhe darüber diskutieren können, wie meine Frauen und ich am besten mit Ihnen zusammenarbeiten könnten.« Garvin nickte. »Tut mir leid wegen der Einladung zum Abendessen in der Stadt, Darod. Ich habe einen schweren Abend voller Verhandlungen vor mir.« »Ich werde mich auf gar keinen Fall auf diese Bestie setzen«, regte sich die junge Frau auf. »Und warum nicht, meine temperamentvolle kleine Dame?«, fragte der Choreograf des Zirkus, ein winziger und etwas kraftlos wirkender Mann namens Knox. »Uns wurde versichert, dass sie keine Menschen fressen.« »Ich werde es nicht tun, weil... weil sie überall haarige kleine Stacheln haben, und ich möchte nicht, dass mein Hintern wie ein Nadelkissen aussieht.« Monique Lir, die neben der Gangway stand, sagte leise zu Garvin: »Alle sind so. Alle gottverdammten dreißig Showgirls. Sie wollen dies nicht und das nicht tun, es ist ihnen egal, was in ihrem Vertrag steht, ihr Zimmer ist zu warm oder zu kalt, es liegt zu nahe an den Pferde 59 stallen, es ist zu... aarghl Bitte, Boss, gib mir alle dreißig, damit ich mich eine Woche lang mit ihnen beschäftigen kann, und ich verspreche dir, dass diejenigen, die dann noch übrig sind, nicht mehr herumjammern werden.« »Immer mit der Ruhe«, beschwichtigte Garvin sie und musste ein Grinsen unterdrücken. »Wir müssen auf künstlerische Launen Rücksicht nehmen.« »Meine Titten sind auch manchmal launisch«, brummte Lir. »Sie sollen doch nur mit ihren hübschen kleinen Ärschen herumwackeln, lächeln, als wüssten sie, was heute für ein Tag ist, und sich von den Clowns veralbern lassen. « »Apropos«, sagte Garvin. »Liebe Adele«, sagte Knox, der immer noch die Ruhe selbst war. »Ich möchte Sie keineswegs unter Druck setzen ... aber wenn Sie diesen Job nicht übernehmen wollen, muss ich eine andere Aufgabe für Sie suchen.« »Alles, nur nicht das hier!«, rief die Blondine wütend. »Alles!« »Na, na, na... alles?« Und plötzlich tauchte Professor Ristori auf. Er trug einen langen schwarzen Regenmantel und einen Hut. »Wir haben hier, ho‐no, wir haben, wir haben hier einen kleinen Sketch...« Er streckte ein Bein aus, das mit
einer weiten Hose bekleidet war. Dann zog er am anderen Bein, und nun stellte sich heraus, dass es sich nur um die Hose handelte, die an Hosenträgern hing, die nach oben führten. »Ein Sketch, ein Sketch«, sagte er, »höchst witzig und vielleicht nicht ganz jugendfrei für unsere jugendliche Jugend. Darin feiern wir Hochzeit, ja wir beide, für immer und mit höchstem Segen. Ich rolle dich im Hochzeitsbett auf die Bühne, und dann, nachdem ich meine nötige Notdurft ver 60 richtet habe, steige ich zu dir ins Bett. Ich steige, wir singen und wir umarmen uns. Dann stellst du — huch — auf einmal fest, dass wir nicht allein im Bett sind, dass da noch zwei oder drei von meinen Freunden sind... Liliputaner, die ich dazu eingeladen habe...« »Aufhören!«, kreischte Adele. »Ich will nichts mehr hören! Also gut, Knox. Ich werde auf Ihrem stoppeligen Elefanten reiten!« »Siehst du«, sagte Garvin zu Lir. »Es gibt auch andere Möglichkeiten, ein Showgirl weich zu klopfen.« Die Frau, Qi Fen Tan, wurde von den drei Männern mit verschiedenen Sachen beworfen ‐ mit Stühlen und einem kleinen Tisch. Sie fing sie auf und stapelte sie mit blitzschnellen Bewegungen übereinander. Dann warf einer der Männer, Jian Yuan Fong, einen zweiten mit einer Räuberleiter in die Luft, der auf dem Stapel landete und mühelos das Gleichgewicht fand. Ein weiterer Mann folgte. Schließlich krabbelte ein sehr kleines Mädchen namens Jia Yin Fong auf den ersten Mann zu, und dann flog auch das Kind nach oben, wo es aus dem Nichts ein Dutzend Stäbe hervorzauberte und damit jonglierte. Der Werfer nickte, dann löste sich die Figur der Akrobaten auf. »Sie sind bei uns natürlich herzlich willkommen«, sagte Garvin durch den sich verziehenden Nebel eines Raki‐Katers. »Gut«, sagte Fong. »Denn wir haben gehört, dass Sie versuchen wollen, Centrum zu erreichen, und von dort aus müsste es leicht für meine Familie und meine Cousins sein, unsere Reise fortzusetzen.« 60 »Wohin?«, fragte Garvin. »Wir haben bereits ein paar Leute an Bord, die eine Mitfluggelegenheit nutzen wollen.« Fongs Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an. »Ja, ich weiß, wen Sie meinen, und ich befürchte, dass ihr Planet nicht mehr als ein Traum ist, obwohl ich für sie hoffe, dass es nicht so ist. Unser Reiseziel ist ein sehr realer Ort. Wir wollen zur Erde zurückkehren, in unser Heimatland, nach China, wohin schließlich alle Chinesen zurückkehren werden. Wir sind über mehrere Generationen durch die Galaxis gezogen, und nun ist es an der Zeit, in unser Heimatdorf Tai Sheng zurückzukehren und unsere Seelen zu regenerieren.« Garvin schüttelte dem Mann die Hand und fragte sich, ob Ken Fong auf Cumbre mit ihm verwandt war. Dann begab er sich wieder in sein Büro, um sich ein erfrischendes Bier zu gönnen und über die zahlreichen Gründe nachzudenken,
aus denen die Mitglieder seiner Truppe beschlossen hatten, sich ihm anzuschließen ‐ oder es vielleicht nur behaupteten. Die Truppe war beinahe komplett, und jeder probte zweimal täglich. Garvin hatte den Starttermin festgelegt, und die Stimmung wurde gereizter. Die Raubkatzen knurrten jeden an, der in die Nähe ihrer Käfige kam, einschließlich ihres Dompteurs Sir Douglas. Die Elefanten waren schlecht gelaunt, und gelegentlich hallten ihre Trompetenstöße durch den großen Frachtraum. Akrobaten schnauzten ihre Partner an, Hochseilartisten kniffen die Lippen zusammen, und die Arbeiter trafen sich hinter dem Schiff, um ihre Meinungsverschiedenheiten auszutragen. 61 Nur ein paar der erfahreneren Kräfte waren zufrieden. So war es schon immer gewesen, wenn ein Zirkus auf Tournee ging. Wenn alle friedlich und glücklich gewesen wären, hätten sie gewusst, dass es große Schwierigkeiten geben würde. Garvin nahm das Gewehr, zielte sorgfältig und drückte den Abzug. Die uralte Projektilwaffe knallte, doch das Ziel bewegte sich nicht. »Versuchen Sie es noch einmal, versuchen Sie es noch einmal«, intonierte der Sprecher. »Sie können die Puppe nicht für Ihre Herzensdame gewinnen, wenn Sie sofort aufgeben.« »Das Problem mit Ihnen, Sopi«, sagte Njangu, »ist, dass Sie glauben, alle anderen Menschen seien zu dumm zum Zählen.« Der übergewichtige, fröhliche Mann versuchte, wütend dreinzuschauen, was ihm jedoch nicht gelang. Also begnügte er sich mit einer beleidigten Miene. »Wie zum Henker kommen Sie auf die Idee, ich wäre kein Ehrenmann?«, verlangte er mit hoher, quiekender Stimme zu wissen. »Erstens ist der Lauf dieses Gewehrs so krumm, dass man damit niemals geradeaus schießen kann«, sagte er. »Das Gleiche gilt für Ihr Glücksrad«, schlug Garvin in die Kerbe. »Ich kann die Magneten sehen und genau erkennen, wie Sie mit dem Fuß einen Schalter bedienen. Und über Ihr Rouletterad wollen wir erst gar nicht reden, weil es sich sowieso kaum dreht.« »Das ist wirklich sehr schlecht«, stimmte Sopi Midt ihm zu. »Ich muss die Vorhänge an der Seite etwas länger machen.« 61 »Und der Wurfball hat eine Unwucht«, fuhr Garvin fort. »Und beim Ringewerfen stehen die Flaschen viel zu nahe zusammen, sodass man nie einen Treffer landen kann.« »Aber was halten Sie von den Mädels?« »Das läuft schon mal gar nicht«, sagte Garvin. »Erstens haben wir bereits unsere Showgirls. Und ich weiß zwar, dass Sex gut fürs Geschäft ist... aber wir wollen nicht in Schwierigkeiten geraten.« »Ich gerate nie in Schwierigkeiten«, sagte Midt. »Wir halten uns immer streng an die Regeln und sorgen dafür, dass die Bullen geschmiert sind, damit sie nicht
eingreifen. Man muss sich nur an die allgemeinen Standards der Gesellschaft halten und vielleicht einen Meter oder so darüber hinausgehen, und dann wird man niemals oder zumindest fast nie in Schwierigkeiten geraten«, sagte er in frömmlerischem Tonfall. »Aber Sie haben ein Problem«, schloss sich Garvin der Ansicht seines Freundes an. »Sie schielen zu sehr auf den schnellen Credit. Allerdings habe ich ebenfalls ein Problem. Ich brauche einen Rummel, ich wollte schon gestern abgeflogen sein, und Sie haben zwölf Buden, die Show mit den Mädels nicht eingeschlossen, und Sie versuchen nicht, mir irgendwelche Freaks unterzujubeln, obwohl ich nichts gegen ein oder zwei anständige Riesen einzuwenden hätte.« »Ich weiß, wo ich welche besorgen kann«, sagte Midt. »Ich könnte sie Ihnen bis morgen früh beschaffen.« »Halten Sie mal für einen Moment die Klappe«, raunte Garvin. »Ich möchte Ihnen folgenden Vorschlag machen. Statt den Gewinn wie von Ihnen angeboten sechzig‐vierzig aufzuteilen, sollten wir es lieber mit siebzig‐dreißig versuchen.« 62 »Warum wollen Sie sich selbst bescheißen?«, fragte Midt misstrauisch. »Weil ich eine saubere Show auf die Beine stellen will... oder zumindest eine einigermaßen saubere. Ich möchte, dass Sie Ihre Schwindeleien in Ordnung bringen, damit es nicht zu sehr nach Beschiss aussieht, und dann sind wir im Geschäft. Die zweite Bedingung lautet, dass Sie ehrlich zu mir sind, in jeder Beziehung. Ansonsten werfe ich Ihren fetten Arsch mitsamt Ihrer Truppe raus, egal, auf welche Weise Sie mich betrogen haben, und egal, auf welchem miserablen Gadscho‐Planeten wir uns gerade aufhalten.« Midt dachte nach. »Scheiße«, sagte er. »Zu dumm, dass gerade keine andere Truppe auf Tournee geht... denn ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich gut darin bin, ehrlich zu sein.« »Dann fangen Sie am besten gleich damit an, es zu lernen«, sagte Njangu, der die Sache immer amüsanter fand. Midt streckte eine Hand aus. »Gut. Das waren schwierige Verhandlungen, aber ich nehme die Bedingungen an.« »Machen Sie sich lieber sofort an die Arbeit. Biegen Sie ein paar Gewehrläufe gerade und bauen Sie die Mauscheleien aus«, sagte Garvin, machte kehrt und lief zum Schiff zurück. »Da haben wir ja eine tolle Besetzung zusammengestellt«, maulte Njangu. »Schwindler, Zigeuner, Aliens, Elefanten und Raubkatzen.« »Ich weiß«, sagte Garvin zufrieden. »Allmählich fühlt es sich wie ein richtiger Zirkus an. Und wie du bereits auf Cumbre erwähnt hast, wird niemand denken, dass ein verwegenes Spionagekommando aus lauter Helden gleichzeitig eine Show abziehen kann, die nicht ganz koscher ist.« 62 Generalprobe.
Garvin hatte trotz seines romantischen Begehrens, die erste Show unter dem Zelt aufzuführen, auf die Stimme der Vernunft gehört und sich doch für den Hauptfrachtraum der Big Bertha entschieden. Er wollte jedes Mal exakt die gleichen Maße benutzen, ob sie sich nun innerhalb oder außerhalb des Schiffes befanden. An den Seiten des rechteckigen Bereichs wurden Tribünen aufgestellt, die fast einen halben Kilometer lang waren. Sie ließen sich an die Zuschauermenge anpassen, sodass der Zirkus Jaansma niemals den Eindruck erweckte, schlecht besucht zu sein. Die Pferdebahn verlief vom Eingang für die Artisten rund um den Showbereich und hinaus zum Eingang auf der anderen Seite. Garvin, der sich streng an die Traditionen hielt, wollte mit drei Manegen arbeiten, von denen jede etwa fünfundzwanzig Meter Durchmesser hatte. Sie ließen sich enger zusammen‐ oder weiter auseinanderrücken, je nachdem, wie groß die Menge war. Die Zuschauer kamen durch die Hauptfrachtschleuse herein, dessen zweites Portal auf einer Welt mit atembarer Luft ausgebaut werden konnte. Darüber spannte sich das Labyrinth der Seile und Drähte für die Luftakrobaten, und noch weiter darüber hing die Rückseite der Kommandokapsel. Außerhalb des Schiffes befand sich der Rummel, und vor dem Eingang tummelten sich die Anheizer, die mit ihren Tricks die Menge nach drinnen lockten. Garvin hatte alle Grimaldianer eingeladen, die sich die Show ansehen wollten. Die Tribünen waren voll besetzt, und man hatte Extrasitze vor den normalen Zuschauerplätzen aufgestellt. 63 Dann ging es los, und die Clowns behelligten den wichtigtuerischen Zirkusdirektor. Garvin vertrieb sie mit der Peitsche, und im gleichen Moment schwebten die Luftakrobaten wie eine Wolke aus Seide, die von fremdartigen Ungeheuern gesponnen wurde, herein. Es gab Elefanten zu sehen, noch mehr Clowns und Akrobaten, große Raubkatzen und sogar einen pedantischen Mann mit echten Katzen von der Erde, der ständig von Clowns belästigt wurde. Die Pferde traten auf und gingen ab, weitere Clowns kamen, und als die ersten Kinder gähnten, ging man zum Finale über, und die Süßigkeitenverkäufer schwärmten über die Zuschauertribünen aus. »Nicht schlecht«, gab Garvin widerwillig zu. »Ganz und gar nicht schlecht«, pflichtete Njangu ihm bei. Dann lachte er. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir in den Krieg ziehen.« »Sir«, sagte Liskeard. »Alle Abteilungen melden Startbereitschaft. Das Schiff ist voll funktionsfähig, keine Fehlermeldungen sind eingegangen.« »Dann, Mr. Liskeard«, sagte Garvin, »gehen wir jetzt auf große Tournee!« Liskeard grinste und hantierte mit seinen Kontrollen. Die Big Bertha hob von der Oberfläche Grimaldis ab und schob sich schwerfällig zu den Sternen hinauf.
64
7 N‐Raum Garvin hätte Centrum direkt ansteuern können, aber das kam für ihn noch nicht in Frage. Nach Njangus Erkenntnissen war das, was mit der Konföderation geschehen war, eher stückchenweise geschehen und nicht durch eine Ex‐oder Implosion im Herzen des Imperiums. Er hatte das Gefühl, wenn er sich mitten ins Problem hineinstürzte, könnte es ihn den Kopf kosten, deshalb hielt er es für klüger, sich der Sache vom Rand her zu nähern, immer tiefer vorzustoßen und Informationen zu sammeln, bevor er zu viel riskierte. Sein nächstes Ziel war das Mehrfachsystem Tiborg. In seiner ursprünglichen Planung auf Cumbre waren diese Welten gar nicht vorgesehen gewesen, aber damals hatte er auch nicht damit gerechnet, den weiten Weg bis nach Grimaldi zurücklegen zu müssen, um eine Truppe zusammenstellen zu können. Tiborg gehörte zu den sekundären Zielen, da es in einer vertraulichen Konföderationsakte hieß, dass der Sektor »aufgrund seiner diplomatischen Me‐ thoden interessant« wäre. »Was bedeutet«, hatte Garvin gesagt, »dass sie der Konföderation ziemlichen Ärger machen... oder zumindest gemacht haben. Also würde es sich lohnen, mit ihnen zu reden.« »Richtig«, sagte Njangu. »Nach dem alten Motto, dass der Feind meines Freundes ein interessanter Gesprächspartner sein könnte. Doch nach meiner Erfahrung ist ein guter Feind jemand, der ungefähr jedem, der in seine Nähe 64 kommt, mächtigen Arger macht. Aber du bist ja unser tapferer Anführer und so.« Die Big Bertha sprang durch fünf Systeme, von denen vier bewohnt waren, ohne zu landen oder Kontakt mit den Einheimischen aufzunehmen. Penwyth, Lir, Dill und Froude gingen zu Yoshitaro, um dafür zu plädieren, diese Welten zu besuchen. Garvin hatte sich geweigert, sie zu empfangen, und somit nach dem uralten militärischen Gesetz gehandelt, dass das Ausbleiben einer Antwort immer ein Nein und ein Lasst‐mich‐in‐Ruhe bedeutete. »Damit könnten wir den Bewohnern dieser Planeten wenigstens etwas Gutes tun«, sagte Penwyth. »Einfach nur zu wissen, dass es da draußen Leute gibt, die sich Sorgen um die Konföderation machen.« »Wie rührend«, erwiderte Njangu und hätte beinahe geschnieft. »Es zerreißt mir das Herz. Vor allem, dass du, Ben, zu den Bittstellern gehörst, obwohl du als jemand bekannt bist, der Tod und Verderben im Äther sät. Es gibt... es gab... wie viele Planeten gehörten der Konföderation bei der letzten Zählung an? Hunderttausend? Eine Million? Meint ihr nicht, dass wir alt und grau werden,
wenn wir so viel Herzensgüte verbreiten, statt das zu tun, weswegen wir eigentlich unterwegs sind?« Penwyth und Dill hätten vielleicht noch mehr gesagt, doch Froude erkannte, dass Yoshitaro recht hatte. Und nachdem Lir ihn bei den Aufklärern kennen gelernt hatte, wusste sie, dass man dem Boss nicht widersprechen sollte, wenn er diese Kühle an den Tag legte. Njangu bat Monique, noch einen Moment zu bleiben, als die anderen gingen. »Wirst du weich?«, fragte er, aber es war keine Spur von Sarkasmus in seiner Stimme. 65 Sie nahm die Frage auf, wie sie gemeint war, und dachte einen Moment lang nach. »Nein, Boss. Das glaube ich nicht.« »Gut«, sagte er. »Wir sind schon weich genug gewesen, und ich gehe davon aus, dass es bei dieser Mission noch sehr hart wird, bevor wir wieder an der Bar des Shelbourne einen heben können.«
Tiborg »An Boursier eins, hier ist Tiborg‐Alpha‐Delta‐Flugkontrolle«, knisterte es in Boursiers Kopfhörern. »Sie haben Landegenehmigung erhalten, auf Kanal drei‐ vier‐drei für Instrumentenflug oder im Sichtflug innerhalb der Atmosphäre nach Ermessen des Piloten. Ende.« »Hier ist Boursier eins«, sagte Jacqueline Boursier in ihr Mikro. Dill hatte eine neue Gewohnheit etabliert, als er seinen Namen als Rufzeichen benutzt hatte. »Verstanden. Kanal drei‐vier‐drei. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich die Vorhut des Mutterschiffs Big Bertha bin, das in Kürze Ihr System erreichen wird.« Es folgte eine kurze Pause. »Boursier eins, hier Flugkontrolle. Und Sie nehmen bitte zur Kenntnis, dass unser System von Patrouillenschiffen bewacht wird... aber der Name Ihres Mutterschiffs hat durchaus etwas Entwaffnendes.« Boursier, die nicht viel Sinn für Humor hatte, aktivierte wieder ihr Mikro. »Bestätigt. Wir kommen in Frieden. Wir sind ein Zirkusschiff.« »Wiederholen Sie bitte Letzteres.« »Zirkus«, sagte Boursier. »Ein Showunternehmen.« 65 Wieder eine längere Pause. »Hier Flugkontrolle. Ich habe das Wort recherchiert. Mein Vorgesetzter hält die Landegenehmigung aufrecht.« »Verstanden... Danke, Flugkontrolle. Schalte auf anderen Kanal.« Boursier berührte einen Sensor und rief die Big Bertha. Ein paar Minuten später fiel eins der Patrouillenschiffe in den Normalraum. Garvin Jaansma befand sich an Bord. »Boursier eins, hier ist Jaansma«, sagte er. »Keine Probleme?«
»Die Luft scheint rein zu sein.« »Dann lassen wirʹs drauf ankommen... gehen Sie runter und schauen Sie, was passiert, Boursier eins.« »Verstanden. Frequenzwechsel.« Wieder berührte Boursier einen Sensor. »An Tiborg‐Alpha‐Delta‐Flugkontrolle, hier ist Boursier eins. Gehe in den Landeanflug über. Zwei weitere Schiffe werden mir folgen.« Das Nana‐Schiff verschwand wieder in den Hyperraum, dann kehrte es zurück, gefolgt von der Big Bertha. Sie näherten sich dem Planeten. »Interessant«, sagte Garvin, ohne jemand Bestimmten anzusprechen. »Angeblich sind alle diese Systeme demokratisch, aber die Namen klingen, als wären sie von Soldaten ausgedacht worden. Alpha Delta ‐ meine Fresse!« »Oder diese Leute glauben nur, dass sie in einer Demokratie leben«, murmelte ein Techniker. »Oder das.« »Zweck Ihres Besuches?«, fragte die Zollbeamtin kurz angebunden. »Wir wollen die Bevölkerung Ihres Planeten unterhal 66 ten... und vielleicht ein paar Credits verdienen«, erklärte Garvin. Die Frau blickte zur wuchtigen Big Bertha hinauf, dann lächelte sie. »Wissen Sie, dass Sie der erste Mensch sind, den ich abgefertigt habe und der nicht aus den Tiborg‐Systemen stammt? Sie und Ihre Leute... sind bei uns herzlich willkommen.« »Meine Damen und Herren, liebe Kinder, werte Bürger unserer Konföderation, willkommen im Zirkus Jaansma«, rief Garvin und ließ seine Peitsche knallen. Der Hauptfrachtraum der Big Bertha war etwa zur Hälfte mit Zuschauern besetzt. Garvin hatte beschlossen, dass es angesichts ihrer ersten richtigen Vorführung und des ersten Abends auf einer unbekannten Welt sicherer wäre, alles in greifbarer Nähe zu halten und das Zelt später aufzubauen. »Wir bringen Ihnen Wunder von jenseits der Sterne, von der alten Erde, von Welten, die nie ein Mensch gesehen hat, wo fremdartige Aliens, Monstren und tödliche Bestien wohnen, todesmutige Akrobaten hoch über Ihren Köpfen, die Sie in atemloses Erstaunen...« In diesem Moment wurde Garvin wie geplant von den Clowns bestürmt. Er wehrte sie mit der Peitsche ab, worauf sie sich gegenseitig zu Boden rissen. Ihre Dummheit ließ jeden ihrer Angriffsversuche scheitern. Dann kreischte einer eine Warnung und zeigte nach hinten. Alikhan trat durch einen Eingang, bedrohlich knurrend und zischend, von Ben Dill »bewacht«, der eine eng anliegende Hose und Eisenringe um die Oberarme trug. Schreie kamen aus dem Publikum, vor allem von den 66 Kindern. Vielleicht gab es ein paar Erwachsene, die wussten, was ein Musth war, aber keiner von ihnen konnte beurteilen, ob er friedlich war oder nicht.
Hinter Alikhan strömte der komplette Zirkus herein ‐Bodenakrobaten, Luftakrobaten, die auf Schwebern Pirouetten drehten, die Katzen in den Käfigen, die Elefanten, die Pferde. Auf einem stand Darod Montagna, stolz, wenn auch etwas zittrig. Die Show konnte beginnen. In den nächsten vier Tagen hatten sie abwechselnd eine Vorstellung und einen Tag frei, um Routine zu bekommen. Von Njangu war nicht viel zu sehen ‐ er war wieder dabei, in Bibliotheken nach Daten über die Konföderation zu stöbern, auf der Suche nach potenziellen Informationsquellen, aber ohne allzu viel Erfolg. Tiborg hatte praktisch seit über zehn Jahren keinen Kontakt mit der Konföderation gehabt, viel länger als Cumbre. Als er sich die Holos aus jener Zeit ansah, gewann er den Eindruck, dass sich deswegen niemand große Sorgen ge‐ macht hatte. Er fragte sich, was genau mit dem Wort »praktisch« gemeint war, und forschte gründlicher nach, auch wenn er das Gefühl hatte, dass die Bewohner von Tiborg völlig damit zufrieden waren, vom Rest des Universums in Ruhe gelassen zu werden. Als er versuchte, die Stärke des Militärs einzuschätzen, stellte er fest, dass die Informationen knapp gesät waren, wie es auf den meisten Welten der Fall war. Er fand jedoch heraus, dass es in der Hauptstadt einen Armeeclub gab, und er überlegte ernsthaft, ob es sich lohnte, ihm einen Besuch abzustatten. 67 Rennender Bär lief konzentriert vor und zurück. Er sang, während er sich durch das Sägemehl auf den drei Manegen bewegte. Allmählich fand er sich in den Tanz hinein. Trotzdem wünschte er sich, er hätte einen Vater oder Großvater in der Nähe, um sich zu vergewissern, dass er sich korrekt an das Ritual erinnerte. Er glaubte nicht recht an so etwas wie ein Rassengedächtnis, aber er bemühte sich verzweifelt darum, während er unter der Gesichts‐ und Körperbemalung schwitzte. Etwas wehmütig versuchte er sich an die Zeit vor der Ankunft der Weißen zu erinnern, als sein Volk die Ebenen einer fernen Welt beherrscht hatte, als Krieger der Prärie. Doch gleich darauf kehrte er wieder zurück und bemerkte, dass ein kleines Mädchen ihn mit ernstem Blick anstarrte. Das Kind war von den Zuschauerplätzen aufgestanden und zu ihm gekommen. »Bist du echt?«, fragte das Mädchen. »Nein«, sagte Rennender Bär. »Ich bin ein Geist. Ein Geistertänzer.« »Oh. Was machst du da?«, fragte die Kleine. »Das ist ein Regentanz meines Volkes«, verkündete Rennender Bär, während er sich zusammenreißen musste, um nicht laut loszulachen. »Oh.« Sie nickte, lief zu ihrem Platz zurück, hielt aber kurz inne und drehte sich noch einmal zu ihm um. »Es ist ein guter Tanz«, sagte sie. »Es hat gerade angefangen zu regnen.«
Rennender Bär brummte, wie es sich für einen anständigen Indianer gehörte. Doch innerlich verspürte er einen Schauder der Angst, weil er sich im Verantwortungsbereich der Götter zu schaffen gemacht hatte. 68 »Es macht auf jeden Fall den Eindruck«, sagte Ristori zu Froude, »dass wir in interessanten Zeiten angekommen sind. Ich vermute, Ihnen ist nicht entgangen, dass gerade der Wahlkampf um den nächsten Planetaren Premierminister geführt wird.« »Ich habe etwas in der Art in den Holos gesehen«, erwiderte Froude. »Dummerweise hatte ich dabei versucht, diese verdammte Rolle vorwärts zu üben, von der Sie glauben, dass meine alten Knochen sie bewerkstelligen kön‐ nen.« »Schämen Sie sich, Doktor«, sagte Ristori. »Die Wölfe sollten sich immer dafür interessieren, was die Schafe tun. Andernfalls könnte ihnen entgehen, dass ein neuer und gefährlicherer Schafhirte eingestellt wurde. Oder ein Rudel Hütehunde.« »Um mich steht es viel schlimmer«, räumte Froude ein. »Ich weiß nicht einmal, wie dieses verdammte System überhaupt funktioniert.« »Höchst simpel, simpel, simpel«, schnatterte Ristori und fiel unwillkürlich in seine Bühnensprache zurück. »Verzeihung. Hier gibt es einen angeblich frei gewählten Premierminister und seinen Vize, die dann ihre verschiedenen Minister ernennen. Diese Regierung ist für alle paarundzwanzig Welten in den vier Systemen verantwortlich.« »Interessante Sache«, sagte Froude. »Klingt, als wäre es eine recht repräsentative Regierungsform.« »Vielleicht«, sagte Ristori mit leisem Zweifel. »Ich habe jedoch bemerkt, dass es außerdem etwa dreißig Mitglieder eines Gremiums gibt, das als Direktorat bekannt ist. In den Holos wird nur wenig darüber berichtet, aber es scheint sich um ehemalige planetare Politiker zu handeln, die, ich 68 zitiere, den Premierminister beraten und ihre langjährige Erfahrung einbringen.« »Hmmm«, machte Froude. »Wie viel Macht besitzen diese Leute wirklich?« »Darüber gibt es keine Informationen, was eine Menge besagt.« »In der Tat. Also ist der Premier nur eine Marionette?« »In gewisser Weise... aber mir scheint, dass der Name eines Amtsinhabers, der sich kooperativ und verständnisvoll verhält, auf die Liste der potenziellen künftigen Direktoren gesetzt wird.« »Ach, wir Menschen!«, deklamierte Froude. »Uns fallen immer wieder die seltsamsten Methoden ein, um bestimmte Dinge zu erledigen.« »Vor allem bei den Wahlen hier auf Delta. Mir scheint, dass die Regierung durchaus der Korruption zugeneigt ist und schon seit guten acht Jahren an der Macht ist. Glücksspiel, Prostitution und so weiter. Delta wirkt sehr freizügig, was uns noch nicht aufgefallen ist, da wir noch nicht weit genug in die Stadt
vorgedrungen sind. Doch die übrigen Bürger von Tiborg halten diese Gegend für ein äußerst aufregendes Urlaubsziel. Aber nun gibt es da einen jungen Reformer namens Dorn Fili, der für den Posten des Premierministers kandidiert. Er verspricht, dass er die Schurken hinauswerfen wird, um wieder Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit in die Politik einkehren zu lassen. Er will wieder selbst das Ruder übernehmen und so. Er wirkt sehr attraktiv, wenn man nach den Holos geht, die ich gesehen habe.« »Aha?« »Und da wäre noch ein interessanter Aspekt«, fuhr Ristori fort. »Mr. Filis Vater war vor einigen Jahren Premi 69 erminister und wurde von empörten Reformern aus dem Amt gejagt.« »Aha!« »So ist es«, sagte Ristori. »Zerrt die alten Gauner von den Futtertrögen fort, damit neue Gauner die Gelegenheit erhalten, sich daran satt und dick zu fressen.« »Weißt du«, sagte Garvin zufrieden, »ich könnte mich glatt daran gewöhnen, Geld zu verdienen.« »Du meinst, wir haben tatsächlich Gewinn erwirtschaftet?«, fragte Njangu. »Also, wenn man Tasiths ursprüngliche Investitionen und die Kosten für das Schiff außer Acht lässt... dann scheffeln wir tatsächlich jede Menge Kohle.« »Es ist immer leicht, Gewinne nachzuweisen, wenn man die Unkosten aus der Rechnung streicht«, sagte Njangu. »Deshalb fand ich es so reizvoll, als Dieb zu arbeiten. Apropos, ich habe etwas mehr über diesen Armeeclub herausgefunden. Es handelt sich um ein ziemlich großes Gebäude in der Nähe des Stadtzentrums. Darin gibt es Zimmer für die Mitglieder, eine Bar, Besprechungsräume, so etwas wie ein Museum, ein Restaurant... aber ich vermute, dass dort der übliche Fraß aus grauem Gemüse und zerkochtem Fleisch serviert wird. Ansonsten sind sie dort recht stolz auf ihre Wohltätigkeitsveranstaltungen.« »Aha!« »Genau«, sagte Njangu. »Ich werde Penwyth hineinschubsen, und er soll sagen, dass der Zirkus entzückt wäre, ein paar Almosen setzen zu können ‐ das ist doch der richtige Begriff für eine milde Gabe, nicht wahr? Auf jeden Fall lassen wir ein paar Freikarten springen, die sie behinderten Kindern oder so geben können.« 69 »Und was würde uns das bringen?« »Das würde uns vielleicht eine Mitgliedschaft für Erik bringen.« »Und was würde uns das bringen? Mal davon abgesehen, dass wir Penwyth zuhören dürfen, wie er sich über das schlechte Essen beklagt.« »Soldaten lieben andere Soldaten«, erklärte Njangu sorgfältig. »Und auf Armeen, die größer als ihre eigenen sind, fahren sie besonders ab.« »Keine Ahnung«, sagte Garvin. »Ich hatte nie mit einer größeren Armee als meiner zu tun... aber vielleicht du, wenn ich bedenke, wie sehr du ehemaligen Angehörigen des larixanischen Militärs zugetan bist.«
»Leck mich«, zischte Njangu. »Wenn es also seit der zehnjährigen Funkstille doch irgendwelche heimlichen Kontakte gegeben hat, könnten wir vielleicht ein paar interessante Fakten über die Konföderation in Erfahrung bringen. Vielleicht.« »Eine sehr dürftige Chance, mein kleiner brauner Bruder«, meinte Garvin. »Aber ich stimme dir zu. Wir sollten...« Es klopfte an der Kabinentür. »Es ist offen«, rief Garvin. Als die Tür aufglitt, sah er, dass ein Mann von der Gangway‐Wache davorstand. In seiner Begleitung befanden sich ein attraktiver Mann Anfang dreißig und ein korpulenter, zufrieden aussehender Mann, der sein bestes Alter bereits ein wenig überschritten hatte. Beide trugen Geschäftsanzüge, die Njangu, obwohl er sich nicht mit der planetaren Mode auskannte, als sehr teuer einschätzte. Der Jüngere sah auf markante Weise gut aus, und sein freundliches Gesicht vermittelte Selbstbewusstsein und Vertrauenswürdigkeit. 70 Njangu entschied, dass er ihn nicht ausstehen konnte. »Guten Abend, meine Herren«, sagte der ältere Mann. »Ich möchte Ihnen Dorn Fili vorstellen, den künftigen Premierminister von Delta. Und wir sollten über ein paar Angelegenheiten diskutieren, die für uns von beiderseitigem Nutzen sein könnten.« »Immer mit der Ruhe«, sagte Fili lächelnd. »Zuerst müssen wir die Wahl gewinnen, Samʹl.« »Wir haben das Volk hinter uns, Dorn«, sagte der Ältere. »Es hat von Korruption und Schmutz in Regierungskreisen die Nase gestrichen voll.« »Das hoffe ich sehr«, sagte Fili. »Aber vor diesen Leuten müssen wir keinen Wahlkampf führen, auch wenn wir hoffen, dass sie uns etwas Gutes tun können. Das ist übrigens mein Freund Samʹl Brek. Er berät mich, was er schon seit meiner Geburt tut, und davor war er einer der engsten Vertrauten meines Vaters.« »Danke«, sagte Brek. »Sie erwähnten, dass wir Ihnen vielleicht etwas Gutes tun könnten«, sagte Garvin vorsichtig. »Was genau stellen Sie sich vor?« »Ich werde es Ihnen erklären«, versprach Brek. »Darf ich mich setzen?« Garvin zeigte auf einen Stuhl. Wenn sich mehr als zwei Personen in der Kabine aufhielten, wirkte sie überfüllt. Brek lehnte sich gegen die Wand und wirkte sehr neugierig, welchen Vorschlag Fili vorbringen würde ‐ als hätte er bislang keine Ahnung, worum es sich handeln mochte. Njangu behielt beide Männer sehr genau im Auge. »Wie Samʹl sagte, kandidiere ich für das Amt des Premierministers«, fuhr Fili fort. »Ich habe das Glück, dass 70 meine Familie mir ein kleines Vermögen hinterlassen hat, das ich für den Kampf gegen die Maschinerie verwenden möchte, die Delta nun seit acht Jahren im
Würgegriff hält. Ich fahre meine Kampagne mit Vollgas, wie man das früher einmal genannt hat, und bekämpfe die Konstitutionalisten ohne Rücksicht. Eins der Mittel, das ich zu diesem Zweck einsetzen möchte, ist Ihr Zirkus. Ich hatte das Glück, der Veranstaltung des heutigen Abends beiwohnen zu dürfen. Wunderbar! Eine ganz erstaunliche Show!« »Danke«, sagte Garvin. »Ich möchte Ihre Talente gerne für mein Wahlkampfteam nutzen, wofür ich Sie natürlich gut bezahlen werde. Und wenn ich gewählt werde, würden wir Sie und Ihre Leute als gute Freunde betrachten.« »Vielen Dank für Ihr Angebot«, sagte Garvin. »Bedauerlicherweise sind wir nicht sehr wohlhabend und können es uns nicht leisten, ehrenamtliche Tätigkeiten zu übernehmen. « »Außerdem sind wir Fremde«, warf Njangu ein. »Nach meiner Erfahrung sind die Leute nicht sehr begeistert, wenn Außenstehende ins Boot geholt werden, um jemandem bei der Arbeit zu helfen.« »Ich glaube, Sie haben mich missverstanden«, sagte Fili mit gerunzelter Stirn. Brek zeigte die gleiche Reaktion. »Ich möchte weder, dass Sie in meinen Diensten Hunger leiden müssen... noch, dass Ihre Unterstützung für mich allgemein bekannt wird. Ich zahle für das, was ich haben will. Ich schätze, dass Ihre heutige Vorstellung Ihnen Einkünfte in Höhe von etwa dreißigtausend Credits einge‐ bracht hat.« Garvin versuchte seine Überraschung zu verbergen. Die 71 Summe lag nur siebentausend Credits unter den tatsächlichen Einnahmen. »Ich möchte Ihr gesamtes Ensemble für zwei, vielleicht drei Veranstaltungen mieten, und ich würde Ihnen fünfzigtausend pro Aufführung zahlen.« Garvin und Njangu wirkten plötzlich sehr interessiert. »Dann gäbe es da noch verschiedene wohltätige Einrichtungen, die ich unterstütze, zum Beispiel zur Bekämpfung bestimmter Krankheiten, zur Behebung von Geburtsfehlern und so weiter. Ich möchte einige Ihrer Spezialisten anheuern, vielleicht die Elefanten‐ und die Pferdetruppe, damit sie in den nächsten Wochen drei‐ oder viermal vor Krankenhäusern auftreten.« »Wie wollen Sie diese Vorstellungen für Ihren Wahlkampf nutzen?«, fragte Njangu skeptisch. »Sollen die Elefanten mit dem Rüssel Transparente herumtragen?« »Das wäre viel zu aufdringlich«, meldete sich Brek zu Wort. »Auf den Plakaten würde lediglich vermerkt sein, dass Ihr Zirkus unter der Schirmherrschaft eines von Dorns Komitees auftritt. Wir überlassen es den Wählern, die offenkundigen Schlüsse zu ziehen.« Garvin dachte nach. Er sah keine Probleme voraus, und für einige Artisten wäre es bestimmt gut, wenn sie die Gelegenheit zu Soloauftritten erhielten. »Aber an Vorstellungstagen können wir niemanden von unseren Leuten freistellen«, gab er dann zu bedenken.
»Natürlich nicht«, sagte Fili verständnisvoll. »Außerdem würden wir Ihnen freiwillige Arbeiter zur Verfügung stellen, falls Ihnen durch dieses Arrangement außergewöhnliche Belastungen entstehen.« »Zum Beispiel Sicherheitskräfte«, sagte Brek. 72 Garvin sah Njangu an, der den Kopf um ein paar Mikrometer auf und ab bewegte. »Ich glaube, da ließe sich was machen«, sagte Jaansma. Fili stand auf. »Gut. Sehr gut. Das ist eine wunderbare Neuigkeit. Ich versichere Ihnen, dass Sie Ihre Entscheidung niemals bereuen werden, und es wird Ihnen Spaß machen, ein Teil meiner Wahlkampagne zu sein.« Sie tauschten noch ein paar Nettigkeiten und Komnummern aus, um die Einzelheiten aushandeln zu können, dann gingen Fili und Brek. »Wir scheffeln jede Menge Kohle!«, frohlockte Garvin, lachte meckernd und rieb die Hände aneinander. »Sieht ganz danach aus«, stimmte Njangu ihm zu. »Mir wäre nur wohler, wenn ich Fili mögen würde.« »Was stimmt nicht mit ihm?« »Gut aussehende Typen bereiten mir jedes Mal eine Gänsehaut.« »Und warum bist du dann mein Freund?«, fragte Garvin unschuldig. Njangu schnaufte. »Vielleicht, weil du immer noch auf meine guten Ratschläge hörst.« Njangu und Maev fielen aus dem Bett und hatten im nächsten Augenblick ihre Pistolen in der Hand, als Sirenen ertönten und eine synthetische Stimme verkündete: »Notfall! Notfall! In der... Katzensektion. In der... Katzensektion!« Njangu nahm sich die Zeit, eine Hose überzuziehen, und Maev griff sich einen Morgenmantel. Dann verließen sie ihre Kabine, rannten durch die Korridore und erreichten über zwei Niedergänge den Frachtraum, gefolgt von anderen Besatzungsmitgliedern. 72 Sie drängten sich durch die Menge in die Katzensektion ‐ und in eine Szene des Grauens. Der Leopard Muldoon kauerte knurrend über einem blutigen, zerfetzten Körper. An einer Wand des Käfigs lag Sir Douglas. Er stöhnte und war kaum bei Bewusstsein. »Was zum Henker...?«, entfuhr es Njangu. Eine kleinwüchsige Akrobatin antwortete: »Ich... ich habe Lärm gehört und die Tür geöffnet, als im gleichen Moment Sir Douglas eintraf. Das schwarze Monstrum hat diesen Mann angegriffen, und die Käfigtür stand offen. Die anderen Katzen kamen aus ihrem Schlafkäfig. Sir Douglas ging in den Hauptkäfig ‐ obwohl er nicht einmal seine Peitsche dabeihatte ‐ und schlug die Tür hinter sich zu. Dann war eine der gestreiften Katzen hinter ihm, und er schrie
sie an, wieder zurückzugehen. Das Tier erschreckte sich und verletzte ihn... aber ich glaube, eher aus Versehen ...« Dann fing die Frau an zu weinen. »Wer ist der Mann?«, wollte Njangu wissen. Niemand wusste es. Njangu überlegte, ob er Muldoon erschießen sollte, aber er wusste nicht, ob er den Leoparden mit seiner kleinen Pistole vielleicht nur noch wütender machte. Garvin stürmte splitternackt in die Abteilung und ließ sich über den Zwischenfall informieren. »Holt Blaster«, befahl er. »Wir müssen die Katze töten.« »Noch nicht«, sagte jemand. Es war Alikhan, und hinter ihm stand Ben Dill, der eine meterlange Stahlstange, die so dick wie sein Unterarm war, in den Händen hielt. »Zuerst will ich versuchen, das Tier wegzulocken.« Garvin schüttelte den Kopf, als er begriff, was Alikhan vorhatte. Er wollte ihn zurückhalten, aber Alikhan war 73 schneller. Er öffnete den Käfig und ging hinein. Dill stieß Jaansma aus dem Weg und folgte ihm, während er murmelte: »Gottverdammter Narr von einem dummärschigen Alien‐Mistvieh!« Muldoon knurrte eine Warnung, aber Alikhan ließ sich nicht einschüchtern, sondern näherte sich mit ruhigen und gleichmäßigen Schritten dem Tier und schwenkte die Arme. Muldoon kauerte sich sprungbereit zusammen, und Dill machte sich auf das Schlimmste gefasst. Doch dann schien der schwarze Leopard plötzlich den Geruch des Aliens wahrzunehmen. Er knurrte noch einmal, zog sich von seinem Opfer zurück, das sich kaum noch rührte, und flüchtete dann in den Schlafkäfig. Die anderen Katzen, die vor sich hin gedöst hatten, witterten ebenfalls den Alien und kehrten eingeschnappt zu ihren Schlafplätzen zurück. Alikhan schlug die Türen zwischen den Käfigen zu. »So...«, sagte er und drehte sich um, aber der Hauptkäfig war bereits geöffnet, und Jil Mahim kniete mit einem Erste‐Hilfe‐Koffer neben dem Verletzten. »Keine Ahnung, wer das ist«, sagte sie. »Puh, der hat ganz schön was intus! Wahrscheinlich ein betrunkener Idiot, der sich hier versteckt hat, als die Show zu Ende war, und noch ein bisschen mit den Kätzchen spielen wollte.« Jemand rief: »Ich habe eine Ambulanz gerufen. Der Gleiter ist schon unterwegs.« »Gut«, sagte Mahim, die mit sicheren Griffen ihre Ausrüstung bereitlegte und dem Mann einen Schlauch in die zerfleischte Luftröhre schob. Sie fühlte nach seinem Puls, verpasste ihm drei schmerzlindernde Injektionen und ein 73 Antikoagulans, dann pumpte sie ihm künstliches Blut in eine Vene. »Holt eine Bahre aus dem Korridor!«, rief sie. Ein paar Besatzungsmitglieder gehorchten. Der stöhnende Unbekannte wurde aus dem Käfig geschafft, als Sir Douglas gerade wankend auf die Beine kam und den Kopf schüttelte.
»Ich habe nicht gesehen, wer mich erwischt hat«, sagte er. »War es der böse Muldoon?« »Einer der Tiger«, sagte jemand. »Ich war zu sorglos«, jammerte Sir Douglas. »Ich habe in ihnen nur meine friedfertigen Freunde gesehen. Ich hätte berücksichtigen müssen, dass sie aufgeregt waren.« »Es ist nicht Ihre Schuld«, gab jemand zurück, »sondern die des Trottels auf der Bahre.« »Der«, sagte Mahim, »wahrscheinlich überleben und noch viele weitere Trottel zeugen wird. Die Welt ist ungerecht.« »Okay, Leute«, sagte Garvin. »Die Show ist vorbei.« »Äh, Boss«, sagte Njangu, der sich zusammenreißen musste, um nicht zu lachen. »Vielleicht möchtest du dich als Erster zurückziehen.« Garvin blickte an sich herab, wurde sich seiner Nacktheit bewusst und errötete ‐ insbesondere, als er sah, dass Darod Montagna ihn mit kritischen Blicken musterte. »Gar nicht so übel«, murmelte sie. Jaansma flüchtete sich in sein Quartier. »Das ist das Schöne am Zirkusleben«, sagte Njangu. »Es wird nie langweilig.« »Sie wünschen?«, wollte Phraphas Phanon von Sir Douglas wissen. 74 »Ich habe mich gefragt, ob Sie daran interessiert wären, Ihre Show zu erweitern«, sagte der Tiertrainer. »Wir sind immer an neuen Möglichkeiten interessiert«, sagte Sunya Thanon. »Was haben Sie sich vorgestellt?« »Ein Zusammentreffen meiner todbringenden Raubtiere mit Ihren Monstren der Manege.« »Aha«, sagte Phanon. »Ihre Katzen und unsere Freunde. Eine interessante Vorstellung.« »Ich weiß nicht, ob Sie jemals mit Raubkatzen gearbeitet haben«, sagte Sir Douglas. »Ich hatte jedenfalls noch nie mit Elefanten zu tun. Wenn ihre Haut nicht so dick ist, wie sie aussieht, könnten wir mit Decken arbeiten.« »Wie stellen Sie sich den Ablauf vor?« »Ach, vielleicht Sprünge von einem Elefanten zum anderen«, sagte Sir Douglas unbestimmt. »Und ein paar eindrucksvolle Posen.« »Hmm«, sagte Phanon. »Vielleicht könnten wir sogar etwas machen, das noch spektakulärer wäre.« Njangu stand neben der Schlange vor der Essensausgabe in der Sektion, die allgemein als Küchenzelt bezeichnet wurde. Rennender Bär kam mit einem gehäuften Teller vorbei. »Besserer Fraß als anderswo«, sagte er. »Vorsicht!«, warnte Njangu ihn.
»Ich meine, verglichen mit einigen anderen Zirkussen, mit denen wir unterwegs waren«, erwiderte der Indianer mit Unschuldsmiene, ging weiter und fand einen Sitzplatz. Die Gespräche waren ein Gemisch aus verschiedensten Sprachen. Manche wurden in Standardterranisch übersetzt, andere nicht, wenn sich Männer und Frauen unter 75 hielten, die vom selben Planeten stammten. Garvin saß am Kopfende eines Tisches und schnatterte wie ein irdischer Affe, obwohl er diese Tiere zutiefst verabscheute. Die Menschen schienen glücklich zu sein, dachte Njangu. Es fühlte sich an wie eine große Familie. Aber woher willst du wissen, wie es in einer Familie zugeht, dachte er zynisch. Nein. Vielleicht kenne ich es sogar. Es ist wie in der Legion. Und ist das nicht einfach Wahnsinn? »Sie wollten mich sprechen?«, sagte Garvin. Er schwitzte leicht, weil er gerade aus der Manege gekommen war. In der Pause tollten die Clowns herum, um das Publikum bei Laune zu halten. Der Mann, der auf ihn wartete, war bereits etwas älter und sah wie der ideale Großvater aus. Er trug teure, konservative Kleidung. »So ist es.« »Vielleicht in meinem Büro«, schlug Garvin vor, »obwohl wir uns beeilen müssen, da ich in einer halben Stunde wieder dran bin.« »Wie Sie meinen, Prinzipal Jaansma«, sagte der Mann. Er hatte eine sanfte, aber eindringliche Stimme und folgte Garvin durch das organisierte Chaos hinter den Kulissen. Garvin entdeckte Njangu und gab ihm ein unauffälliges Zeichen. Im Büro lehnte der Mann ein Getränk ab und setzte sich. »Wenn Sie erlauben... ich glaube zwar, dass mein Geist so rüstig wie eh und je ist, aber meine Knochen wären für ein wenig Entspannung dankbar. Ich werde Ihre Aufmerksamkeit nicht lange in Anspruch nehmen. Ich bin übrigens Direktor Fen Berti und halte mich zufällig auf Delta auf, weil ich mit Dorn Filis Wahlkampf zu tun habe. Doch zu 75 vor möchte ich Ihnen noch sagen, wie sehr mir Ihre Show gefällt. Einfach fantastisch! Ich kann Ihnen nur zustimmen, wenn Sie sagen, dass sie für Kinder aller Altersstufen geeignet ist, denn ich habe mich tatsächlich in meine jungen Jahre zurückversetzt gefühlt, als wir alle noch unschuldig waren.« Er lächelte verzückt. »Ich dachte mir, dass ich mich zumindest dahingehend erkenntlich zeigen kann, indem ich Ihnen einen guten Rat gebe ‐ auch wenn mir bewusst ist, was die meisten Menschen über ungebetene Vorschläge denken.« »Sir, ich bin jederzeit bereit, mir einen Vorschlag anzuhören«, sagte Garvin wahrheitsgemäß. »Meine Tür steht immer offen.«
»Das sagen leider viele Menschen, ohne es wirklich ernst zu meinen. Wenn es bei Ihnen tatsächlich so ist, bin ich beeindruckt. Kann es sein, dass Sie einst beim Militär waren?« »Nein«, sagte Garvin. »Ich habe mein ganzes Leben im Zirkus verbracht.« Berti nickte. »Mein Ratschlag hat mit Ihrer Beteiligung an Filis Wahlkampf zu tun. Nein, Sie müssen nicht verärgert reagieren, weil ich davon erfahren habe. Für einen Direktor gibt es nur wenige Geheimnisse, insbesondere wenn er sich entschlossen hat, Dorn zu unterstützen, genauso wie ich vor Jahren schon seinen Vater unterstützt habe. Mein Vorschlag lautet wie folgt: Es gefällt den Menschen, sich eine Zeit lang ihren Lastern hinzugeben, doch irgendwann verlangen sie lauthals nach Erlösung. Von dieser Welle lässt sich Dorn Fili tragen, und sie wird ihn hoffentlich bis ins höchste Amt spülen, genauso wie bei seinem Vater, der ebenfalls die Weisheit besaß, seinen Kreuzzug zum richtigen Zeitpunkt zu beenden. Nun 76 sollten Sie sich bewusst machen, dass die Wahlen in den Tiborg‐Systemen eine gewisse Eigendynamik entwickeln können, vor allem, wenn es um radikale Veränderungen in der beworbenen Politik geht. Es beschämt mich, Ihnen eingestehen zu müssen, dass es bei unseren Wahlen blutig zugehen kann.« »Ich habe mich lediglich bereit erklärt, ein paar zusätzliche Vorstellungen für Fili anzusetzen«, sagte Garvin. »Gegen Bezahlung, nicht aus politischen Gründen.« »Bedauerlicherweise stürzen sich die politischen Gegner häufig auf solche Kleinigkeiten und messen ihnen eine maßlos übertriebene Bedeutung bei. Das ist ein Grund, warum ich glaube, dass sie die Wahl verlieren werden, denn sie haben keinen Sinn für die richtige Perspektive, die jeder von uns in der Politik wahren muss. Deshalb ist es nun an der Zeit, dass die loyale Opposition die Regierungsaufgaben übernimmt.« »Sie müssen mir verzeihen, da ich mich kaum für Politik interessiere«, gab Garvin zu bedenken, »aber Sie scheinen hier ein ungewöhnliches System zu haben. Zuerst sagen Sie A, dann B und dann wieder A. Machen Sie sich keine Sorgen, dass das Volk früher oder später auf eine wirkliche Veränderung drängt?« »Nein«, erwiderte Berti ruhig. »Nein, mein romantischer Freund, diese Sorge habe ich nicht. Unser System hat seit nahezu fünfhundert Jahren bestens funktioniert, trotz zahlreicher Einmischungen seitens der Konföderation... Aber nicht, dass man ehrliche Wahlen gefordert hätte! Nein, sondern weil sie Lösung C durchsetzen wollte, die darin besteht, dass ihre eigenen handverlesenen Vertreter die höchsten Ämter übernehmen. Außerdem verfügen wir über gewisse... Schutzmaßnahmen, mit denen 76 sich verhindern lässt, dass die Dinge im Ernstfall außer Kontrolle geraten. Meine persönliche Überzeugung lautet, dass wir irgendwann unbedingt wirklich freie Wahlen veranstalten sollten, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist und die
Bevölkerung hinreichend gebildet und mündig ist. Doch bis dahin... sollte nichts an den Verhältnissen geändert werden.« Er stand auf. »Um auf den eigentlichen Grund meines Besuches zurückzukommen... ich dachte, ich sollte mich erkenntlich zeigen und Ihnen dafür danken, dass Sie mich so gut unterhalten haben ‐ und das Volk von Delta. Deshalb möchte ich Ihnen sagen, dass Sie einen Fehler begangen haben, ganz gleich, wie gut Sie für Ihre Dienst entlohnt werden.« »Ich sehe keine Möglichkeit, meine Zustimmung rückgängig zu machen«, sagte Garvin. »Ich sehe auch keine«, räumte Berti ein, »da Sie ganz offensichtlich ein ehrlicher Mensch sind. Ich an Ihrer Stelle würde jedoch nach einem Weg suchen, wie ich den Vertrag außer Kraft setzen könnte. Aber Sie sind nun einmal der, der Sie sind. Trotzdem wollte ich Ihnen zumindest den Rat geben, auf der Hut zu sein. Und ich möchte Ihnen den Gefallen erweisen, diese behutsame Warnung auszu‐ sprechen.« Er lächelte auf väterliche Art, verbeugte sich und war im nächsten Moment verschwunden. Garvin wartete etwa eine Minute, dann kam Njangu in sein Büro. »Keine freien Wahlen dieses Jahr oder nächstes Jahr, aber deine Enkel werden sich irgendwann riesig freuen«, knurrte Njangu. »Warum sind es immer Gauner wie er, die nie der Meinung sind, die Zeit sei reif dafür, dass das Volk selber die Macht übernimmt?« 77 »Keine Ahnung«, sagte Garvin. »Und wie kommt es, dass es Kriege gibt?« »Was mir Sorgen macht«, sagte Njangu, »sind diese Schutzmaßnahmen. Dazu könnte zum Beispiel gehören, das Kriegsrecht zu verhängen, eine Situation, in die wir lieber nicht hineingeraten sollten.« Garvin schenkte aus einer Karaffe zwei Gläser ein, reichte eins an Njangu weiter und kippte seins hinunter. »Allmählich frage ich mich, ob wir vielleicht eine geringfügige Dummheit begangen haben«, sagte er kleinlaut. Direktor Fen Berti stieg in seinen Gleiter. »Zurück zu unserem Schiff«, befahl er, und der Gleiter hob lautlos vom Boden ab. »Und, Sir?«, fragte sein angeblicher Chauffeur. »Ein interessanter junger Mann«, sagte Berti. »Äußerst raffiniert für sein zartes Alter. Er hat nur zweimal zur Stelle an der Wand hinübergeblickt, von der ich vermute, dass sich dort eine versteckte Abhörvorrichtung befindet. Ein sehr netter junger Mann, der ein höchst politisches Spiel betreibt und seine Leute hat, die nach Informationen über die Konföderation suchen. Ich denke, es wäre klug, wenn wir etwas mehr über ihn und seinen Zirkus in Erfahrung bringen könnten.«
»Ich weiß, dass unsere Köche die besten Recyclingspezialisten des Universums sind«, sagte Darod Montagna. »Aber es ist zur Abwechslung wirklich mal ganz nett, auszugehen und etwas zu essen, das nicht mit etwas gewürzt ist, was einmal mein eigener Schweiß war.« »Wie kultiviert, wie damenhaft, wie geeignet, mir den 78 Appetit zu verderben!«, sagte Garvin. Er teilte den Rest in der Weinflasche zwischen ihren Gläsern auf und signalisierte unauffällig einem Hilfskellner, sie abzuräumen, und dem Sommelier, eine neue zu bringen. »Oh, das tut mir furchtbar leid«, sagte Darod und starrte demonstrativ auf das Grätenskelett eines Fisches, das auf Garvins leer gegessenem Teller lag. »Ich habe nur aus Höflichkeit weitergegessen«, erklärte er. »Ich dachte schon, du würdest es nie schaffen, das Versprechen eines gemeinsamen Abendessens einzulösen«, sagte Montagna. »Ich bin ein Mann, der stets zu seinem Wort steht«, sagte Garvin. »Nur manchmal dauert es halt seine Zeit, bis es so weit ist.« Er sah sich im Restaurant um. Es war beeindruckend eingerichtet, ein herausgeputztes Ozeanschiff aus Holz, das auf irgendeine Weise zum See transportiert worden war, der in der Nähe des Raumhafens lag, auf dem die Big Bertha stand. Die Kellner trugen weiße Handschuhe, Getränke wurden in echtem Kristallglas serviert, und es gab sogar richtige Tischtücher. »Es ist tatsächlich nett, mal wieder auszugehen«, sagte er. »Ich hatte mir schon eingebildet, dass alles nach Elefant stinkt.« »Apropos Taktlosigkeit«, sagte Darod. Sie legte eine Hand auf Garvins Unterarm und ließ sie dort liegen. »Ich war sehr beeindruckt von deinem überzeugenden Auftritt als Kommandant neulich.« Garvin musste ein Lachen unterdrücken. »Das hast du nur gesagt, um mich zum Erröten zu bringen.« »Aber nein«, erwiderte Darod. »Ich habe doch schon ge 78 sehen, wie du errötet bist, und ich muss sagen, dass du damit ganze Arbeit geleistet hast.« Sie lachte leise. Garvin gähnte, als er mit dem Gleiter vom Parkplatz neben dem festgemachten Restaurantschiff startete. »Also zurück in die böse Realität.« »Hmm«, machte Darod, dann zeigte sie auf etwas. »Oder noch nicht... wenn es nicht unbedingt sein muss. Siehst du die Anhöhe da hinten? Und am Himmel stehen zwei... nein, sogar drei Monde. Kannst du da oben landen?« »Mit einer Flasche Wein intus könnte ich auf einer Nadelspitze landen und ein Tänzchen aufführen.« »Setz uns einfach nur auf dem großen Felsen ab«, sagte Darod. »Zum Tänzchen kommen wir vielleicht später.«
Garvin legte eine perfekte Landung hin, was ihn selbst am meisten überraschte. Dann saßen sie schweigend mehrere Minuten lang da und betrachteten zufrieden mit sich und der Welt die Monde, den silbrig glänzenden See und die Lichter ihres Raumschiffs. »Aus irgendeinem Grund«, sagte Garvin mit leichtem Erstaunen, dass seine Stimme so heiser klang, »hätte ich Lust, dich zu küssen.« »Das lässt sich machen«, sagte Darod, wandte sich ihm zu und öffnete den Mund. Einige Zeit später fiel ihr Abendkleid von ihr ab, und sie fand sich auf den großzügig angelegten Rücksitzen des Gleiters wieder, von wo sie zu Garvin aufblickte. »Vielleicht könntest du die Hüfte etwas anheben«, murmelte Garvin. Sie tat es. 79 »Du dürftest bemerkt haben«, schnurrte sie, »dass ich keine Unterwäsche trage, was bedeutet, dass ich gehofft habe, etwas wie das hier oder vielleicht genau das hier würde geschehen.« Dann keuchte sie auf. »Ich hoffe, du weißt, was du zu tun glaubst«, lautete Monique Lirs einziger Kommentar, als Darod Montagna kurz nach Anbruch der Morgendämmerung mit müden Augen in ihr Abteil geschlichen kam. »Das hoffst du«, lautete Darods einzige Erwiderung. »So, so, so«, sagte Njangu und schob den Holoschirm zu Garvin rüber. »Rate mal, wer zu seinem Wort steht und ein würdiger Kandidat für das höchste Regierungsamt ist?« Garvin überging die Bilder und las den Text quer. Premierministerkandidat Dorn Fili freute sich, bekanntgeben zu dürfen, dass sich der Zirkus Jaansma seiner Wahlkampagne angeschlossen hatte, zumindest gewissermaßen, da das Unternehmen bei verschiedenen Gelegenheiten zu wohltätigen Zwecken Vorstellungen veranstalten würde. »So viel zur Frage, ob die Wähler in der Lage sind, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen«, sagte Njangu. »Ist das ein Problem?« »Schau mal auf die nächste Seite«, schlug Njangu vor, »und lies die beiden ersten Meldungen.« Garvin tat es. In der einen ging es um einen Bombenanschlag auf Filis Wahlkampfzentrale durch »unbekannte Terroristen«, in der zweiten um drei seiner Mitarbeiter, die auf der Straße verprügelt worden waren. »Das ist nicht gut«, sagte Garvin. »Wenn ich dies und den Schwachkopf bedenke, der ungehindert in der Big Bertha herumspaziert ist und mit unseren Schmusekätz 79 chen spielen wollte ‐ er wird die Sache übrigens tatsächlich und bedauerlicherweise überleben, wie Jil vorhergesagt hat —, dann sollten wir
allmählich überlegen, ob wir etwas mehr Wert auf unsere Sicherheit legen. Irgendwelche Ideen?« »Ja«, sagte Njangu. »Teile jeden Aufklärer, der nicht als Artist arbeitet, der Sicherheit zu. Verdopple die Wachen an der Gangway... nein, verdreifache sie. Und lass ständig ein paar Leute um das Schiff patrouillieren. Verabschiede dich von der Vorstellung, das stinkende Zelt für die Show aufzubauen. Lass nur den Rummel draußen, der von Patrouillen gesichert werden soll. Wenn Sopi ein paar seiner Schwindelbuden verliert, ist das alles andere als ein Verlust. Halte entweder einen Aksai oder ein Nana‐Schiff einsatzbereit, damit es sofort starten kann, falls man schwerere Geschütze gegen uns auffährt. Von nun an geht niemand mehr in die Stadt oder allein irgendwohin, und wenn die Gruppe groß genug ist, um ein interessantes Angriffsziel abzugeben, soll sie von einem Scharfschützen Rückendeckung erhalten. Ansonsten«, schloss er, »kann das süße Leben wie gewohnt weitergehen.« In dieser Nacht gab es eine leichte Rauferei im Rummelzelt direkt vor der Big Bertha, und bis auf zwei Männer wurden alle Wachen an der Gangway in den Streit hineingezogen, wie Njangu später zu seiner Verärgerung feststellen musste. Dann wurden diese zwei Wachen von vier fröhlichen Zechern abgelenkt, die ihnen unbedingt ein nächtliches Ständchen bringen wollten. Niemand bemerkte die unauffällige Gestalt, die sich einer Landestütze des Schiffs näherte, einen zentimeterdi 80 cken, kopfgroßen Lappen, der genau in der Farbe des Anstrichs der Schiffshülle anodisiert war, unter seiner Jacke hervorzog und ihn an die Big Bertha drückte. Der Klebstoff verband sich sofort mit dem Metall der Landestütze. Dann verschwand der Mann wieder genauso anonym, wie er erschienen war. Monique Lir brummte obszöne Flüche, während sie der Horde kreischender Frauen durch das Einkaufsviertel folgte. Sie war fest davon überzeugt, dass entweder Garvin oder Njangu ihr auf diese Weise eins auswischen wollte. Sie sollte die Showgirls bewachen! Als ob sich irgendjemand ‐ außer einem Gehirnchirurgen, der Vakuumphänomene studierte, oder einem Lüstling, der sich auch nicht durch dümmste Konversation abschrecken ließ ‐ für diese Schnepfen auf Einkaufstour interessieren würde. Wenn jemand Monique verraten hätte, dass der einzige Grund, warum sie nicht auffiel, der war, dass die Showgirls sich so schamlos aufführten, hätte sie ihm wahrscheinlich ins Auge gespuckt oder ein bis zwei Arme gebrochen. Aber so konzentrierte sie sich auf ihre Pflicht, ließ ihre Blicke ständig hin und her wandern und behielt alles im Auge, während eine Hand auf dem Griff des schweren Blasters lag, der an einem Riemen unter ihrem sehr modischen und sehr nützlichen langen Mantel hing. Das alberne Dutzend war gerade stehen geblieben, um die Holos zu bewundern, die vor einer Boutique durch die Luft flimmerten, als Monique den Mann sah. Er
war klein, schlecht gekleidet und stürmte aus einer Nische hervor. Sie sah, wie er eine Waffe hob und einmal schoss. Lir hörte eine Frau in Todesqual schreien, achtete aber 81 nicht darauf, wer getroffen worden war. Sie warf den Mantel ab und hatte im nächsten Moment den Blaster hochgerissen und entsichert. Der Mann drehte sich um, wollte davonrennen und sah Lir mit der Waffe in den Händen. »Halt!«, rief sie. »Keine Bewegung!« Sie machte sich klar, dass Attentäter lebend gefasst werden mussten. Aber der Mann hob seine Waffe und zielte. In diesem Moment drückte sie den Abzug. Die Patrone erwischte den Mann mitten in die Brust und warf ihn rückwärts über eine Betonbank. Die Passanten auf der Straße schrien und flüchteten, Männer und Frauen gingen zu Boden, und irgendwo heulte eine Alarmsirene. Lir achtete nicht darauf, sondern durchsuchte schnell die Taschen der Leiche und steckte alles ein, was sie fand. Dann war sie wieder auf den Beinen und rannte. Den Blaster ließ sie neben der Leiche liegen. »Danke«, sagte Njangu, schaltete den Kom ab und drehte sich zu Garvin um. »Das Showgirl ‐ sie hieß übrigens Chapu ‐ ist soeben gestorben.« »Mistkerle«, sagte Garvin, der in der Tasche des Attentäters kramte. Wieder summte der Kom. Njangu nahm den Anruf entgegen und führte ein kurzes Gespräch. »Das war Fili«, sagte er. »Er wollte sein Mitgefühl zum Ausdruck bringen und hat betont, dass der Anschlag nichts mit seinem Wahlkampf oder sonstigen politischen Gründen zu tun hat. Es war nur irgendein Geistesgestörter.« »Aha«, sagte Garvin tonlos. 81 Njangu nahm Verbindung zur Kommunikationszentrale des Schiffes auf und gab die Anweisung, dass keine Anrufe von außen mehr durchgestellt, aber sorgfältig protokolliert werden sollten. Dann half er Garvin bei der Musterung des Inhalts der Tasche. »Zu viel Geld«, murmelte er. »Hübsche frische Banknoten, keine fortlaufenden Nummern. Ein Auftragskiller. Holla! Was ist das? Eine KomNummer? Vielleicht haben seine Bosse vergessen, ihn zu filzen, bevor er sich auf den Weg machte.« Er ging zum Kom zurück und sagte der Zentrale, dass man ihn mit der Nummer auf dem Zettel verbinden sollte. »Nichts«, teilte er über Mikro mit. »Versuchen Sie es mit dem alten Trick, zu jeder Zahl eins zu addieren oder zu subtrahieren.« Er wartete. »Kein Kontakt bei minus eins. Also plus eins...« Wieder wartete er, dann trennte er schnell die Verbindung. »Alles klar. Wenn man um eins erhöht, hört man eine Stimme, die
>Zentrale der Konstitutionalisten im Bezirk vier, Maya am Apparat< sagt. ‐ Sehr schludrige Arbeit.« »Ja«, sagte Garvin. »Weißt du«, sagte Njangu, »in einer anständigen Demokratie wäre das kaum mehr als ein geringfügiger Beweis.« »Genau das ist der Grund, warum ich so froh bin, dass ich keine Demokratie führe«, sagte Garvin verbittert. 82
8 »Mein Bedauern wegen Ihres Verlustes«, sagte der schlanke Mann mit dem gepflegten Schnurrbart zu Erik Penwyth. Er trug seinen teuren, aber etwas lädierten Zivilanzug wie eine Uniform. »Wir Zirkusleute denken nicht wie Soldaten«, gab Erik lässig zurück. »Wir gehen keine kalkulierten Risiken ein, wie Sie das wohl nennen. Aber vielleicht sollten wir es tun...« Er gab sich Mühe, seine Erwiderung nicht so scharf klingen zu lassen, und unterdrückte ein kurzes Aufflackern von Wut. »Wenn ich die vorhandenen Risiken bedenke.« »Aber wie ich hörte, erfüllte die Frau, die von diesem Verrückten erschossen wurde, eher dekorative Zwecke«, sagte der Mann. »Sie gehörte offenbar nicht zu den Leuten, die zu wilden Bestien in den Käfig steigen.« »Wie es scheint, werden wir alle früher oder später sterben«, sagte Erik. »Möchten Sie noch einen Drink?« »Danke«, sagte der Mann und winkte dem menschlichen Barkeeper. »Whiskey. Und ein Glas Mineralwasser.« Penwyth nickte dem Barkeeper zu, dass er sein Glas mit Brandy und Ginger Ale nachfüllen sollte, obwohl er sich immer noch nicht ganz an den einheimischen Brandy gewöhnt hatte, der allerdings besser war als alles, was es auf Cumbre gab ‐ auch wenn die Mischung mehr Ginger Ale als erwartet enthielt. Der Mann nahm sein Glas entgegen und prostete Erik zu. »Wie wir hier zu sagen pflegen ‐ auf einen netten, sauberen Krieg mit schnellen Beförderungen.« Erik lächelte und trank. 82 »Obwohl«, fügte der Mann hinzu, »keiner von uns in diesem Club jemals einen echten Krieg erlebt hat.« Die Wände des Armeeclubs waren mit antiken Waffen, Regimentsfahnen und Holos von stolzen, strammstehenden Männern verziert. »Nur Aufstände, ein paar Plünderer und gelegentlich ein Bezirk oder ein ganzer Planet, der meint, er könnte sich unabhängig machen und an die wahren Machtverhältnisse erinnert werden muss«, sagte der Mann. »Ach, ich heiße übrigens Kuprin Freron. Tʹousan im Ruhestand, letzte Dienstverpflichtung im Generalstab.« »Erik Penwyth. Ich bin einer von den Publicityleuten.«
»Ich weiß«, sagte der Mann, schien noch etwas dazu sagen zu wollen, wechselte dann aber das Thema. »Was werden Sie wegen der Tragödie unternehmen?« »Was könnten wir unternehmen?«, fragte Penwyth vorsichtig. »Der Mörder war irgendein Verrückter, der unser Showgirl abgeknallt hat und dann von einem unbekannten Zivilisten erschossen wurde. Zumindest wird es so in Ihren Holos dargestellt.« Freron zog eine Augenbraue hoch. »Ich frage mich, was es mit diesem, Zitat, unbekannten Zivilisten, Zitat Ende, auf sich hat. Wir haben hier auf Delta sehr strenge Waffengesetze ... obwohl sich weder Verbrecher noch politische Schläger dadurch abhalten lassen, sich mit allem zu bewaffnen, was sie sich für ihre Untaten wünschen.« »Es ist überall so, dass Schurken keine Schwierigkeiten mit geringfügigen Verstößen gegen die Gesetze haben«, sagte Penwyth. »Aber trotzdem verstehe ich noch nicht so recht, was Sie damit sagen wollen.« »Ich dachte nur daran, dass Fremde wie Sie vielleicht Ihre eigenen... Möglichkeiten haben, um Probleme zu lö 83 sen. Was eine gute Sache wäre, da ich bezweifle, dass unsere Behörden große Fortschritte bei der Suche nach den Leuten machen werden, von denen jeder weiß, dass sie für diese Bluttat verantwortlich sind.« »Vielleicht haben wir solche Möglichkeiten«, sagte Penwyth. »Aber wenn dem so ist, hat man mir nichts davon gesagt. Übrigens erwähnten Sie, dass Sie mich kennen, auch wenn ich mich nicht erinnere, dass wir uns schon einmal begegnet sind.« »So ist es«, erwiderte Freron. »Ich habe von Ihrer Show gehört. Und von den großzügigen Spenden, die Ihr Zirkus den wohltätigen Zwecken hat zukommen lassen, die von diesem Club unterstützt werden.« Er blickte sich nach allen Seiten um, sah, dass sich niemand in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt, und senkte die Stimme, als er weitersprach. »Außerdem habe ich gehört, das Sie Erkundigungen über die Konföderation einziehen.« »Gewiss«, sagte Penwyth, bei dem plötzlich sämtliche Alarmglocken läuteten. »Wir sind loyale Bürger... auch wenn es schon recht lange her ist, dass wir unsere Loyalität unter Beweis stellen konnten. Wer viel reist, liebt geordnete Verhältnisse. Und ich persönlich bin sehr an der Frage interessiert, wie sich etwas so Großes anscheinend über Nacht spurlos in Luft auflösen kann.« »Auch Soldaten lieben geordnete Verhältnisse«, sagte Freron. »Ich hatte das Glück, vor längerer Zeit an einer geheimdienstlichen Schulung auf Centrum teilnehmen zu dürfen. Und eine meiner Aufgaben im Generalstab ‐ bevor die verdammten Politiker beschlossen, dass es lukrativer ist, wenn wir unseren eigenen Weg gehen ‐ war die des Verbindungsmannes zu den Attaches der Konföderation.« 83 »Interessant«, sagte Erik.
»Das dachte ich damals auch«, sagte Freron. »Und ich denke es immer noch, wahrend ich mir überlege, ob ich meine Memoiren schreiben werde. Denn ich habe mir sehr genaue Notizen gemacht. Äußerst detaillierte Notizen über alles, womit ich im Zusammenhang mit der Konföderation zu tun hatte. Aber im Moment scheint sich niemand sehr für diese Anekdoten aus der Vergangenheit zu interessieren.« »Ich fand so etwas schon immer spannend, schon als Kind«, log Erik. »Ich fand, dass die Erwachsenen über viel interessantere Sachen sprachen als meine Spezis.« Er fragte sich, wie er auf das Wort »Spezis« gekommen war, und gelangte zu der Überzeugung, dass er damit bei Freron vermutlich Eindruck schinden konnte. »Aber Sie wollten über Ihre Notizen erzählen.« »Ja. Ich schätze, dass es illegal war, was ich getan habe, da ein großer Teil des Materials über die Konföderation, das ich besitze, mit einer recht hohen Geheimhaltungsstufe versehen war. Jetzt sind es nur noch verstaubte Do‐ kumente, obwohl sie für manche durchaus von Interesse sein könnten.« »Zum Beispiel?« Penwyth wünschte sich, er hätte einen Wanzendetektor in der Tasche, um sich davon überzeugen zu können, ob Freron von der Spionageabwehr war. »Ach... vielleicht für Historiker. Menschen, die sich die Konföderation als Forschungsthema ausgesucht haben, aus welchem Grund auch immer. Menschen, die über ein gutes Forschungsbudget verfügen, da meine Pension längst nicht so hoch ist, wie ich es mir gewünscht hätte.« »Tʹousan Freron«, sagte Erik und winkte dem Barkeeper. 84 »Sie sind eine hochinteressante Persönlichkeit. Vielleicht sollten wir uns einen Tisch suchen, um in Ruhe über diese Angelegenheit zu sprechen.« »Nennen Sie mich doch bitte Kuprin.« Garvin war recht zufrieden, dass ungefähr die Hälfte seines Zirkus zu ihm kam und sich bei ihm erkundigte, was er wegen des Mordes an Chapu unternehmen wollte und ob er dazu Hilfe benötigte. Er konnte tatsächlich Hilfe gebrauchen, aber dazu genügten ihm neunzehn Leute, die er aus den Reihen der Aufklärungstruppe auswählte. Am späten Nachmittag bestiegen sie einen Gleiter des Zirkus und flogen in die Hauptstadt, wo sie leise und unauffällig auf dem Dach eines Gebäudes landeten. Von dort aus hatten sie einen guten Blick auf die Zentrale der Konstitutionalisten im Bezirk vier. Hoch oben gaben ihnen Dill und Alikhan in zwei Aksai Rücken‐ deckung. Vier Soldaten, die besten Raubwürger‐Schützen der Legion, die ihre modifizierten Raketen in unscheinbaren Koffern bei sich trugen, stiegen in Begleitung einer Wache vom Dach herunter und suchten sich geeignete Stellungen in Nischen und Gassen.
Sechs andere, die schwere Maschinengewehre auf dreibeinigen Stativen schleppten, und ihre Assistenten gingen unter Lirs Führung in der Nähe der drei Eingänge zum betreffenden Gebäude in Feuerposition. Dann warteten sie und zogen sich jedes Mal in ihre Deckung zurück, sobald ein Gleiter der planetaren Polizei vorbeiflog. Garvin und Njangu hatten beschlossen, kurz nach dem üblichen Dienstschluss einzutreffen. 85 »Damit erhalten die Unschuldigen, das heißt die kleinen Fische, die Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen, bevor der Spaß losgeht«, hatte Garvin gesagt. »Und was ist mit der Sekretärin, die von ihrem Chef die Anweisung erhalten hat, Überstunden zu machen?«, fragte Njangu. Garvin warf ihm einen eiskalten Blick zu. »ʹtschuldigung«, meinte Yoshitaro zerknirscht. »Ich hatte nicht die Absicht, deine Vorfreude zu trüben.« Es wurde gerade dunkel, und etwa ein Drittel der Fenster war noch beleuchtet, als Garvin über Kom Kontakt mit seinen Soldaten aufnahm. »Raubwürger‐Trupp... nach Anweisung das Feuer eröffnen!« Zwei der Raketen zielten auf den vierten Stock des fünfstöckigen Gebäudes, die restlichen beiden auf den mittleren Teil. Fauchend verließen die Raketen ihre Startröhren und schlugen ein. Als der Schall eintraf, waren die Explosionen zu hören, deren Schockwellen sich über die ganze Hauptstadt ausbreiteten und über mehrere Blocks hinweg Fensterscheiben zerstörten. Das Gebäude wankte, die Fassade wurde rissig und stürzte auf die Straße. Das MG‐Team musste rennen, um nicht erwischt zu werden. Flammen tobten sich auf drei Stockwerken des Gebäudes aus. Schreie und Rufe wurden hörbar, als Männer und Frauen über die Treppen auf die Straße flüchteten. »MG, nach Anweisung feuern.« Vielleicht war die Politik auf Delta etwas für jüngere Leute, aber Garvin bezweifelte es. Er hatte den MG‐Teams die Anweisung gegeben, sich jeden herauszupicken, der 85 mittleren Alters war und dessen Erscheinung teuer wirkte ‐ vor allem aber jeden, der wie ein Schläger der Konstitutionalisten aussah. Ein Polizeigleiter kam um eine Ecke, und ein Schütze feuerte in das Triebwerk des Fahrzeugs. Es stieß mit einem geparkten Gleiter zusammen und vollführte eine Bruchlandung. Die Polizisten strömten heraus; sie wussten genau, dass sie Automatik‐B lästern nichts entgegenzusetzen hatten, und rannten schleunigst davon. Dills Stimme kam über Garvins Ohrhörer herein. »Boss, Zeit zum Türmen. Ich sehe hier was, das nach Feuerwehreinheiten aussieht. Und das dahinter könnte etwas Militärisches sein.« Garvin aktivierte den Aksai‐Kanal.
»Wir ziehen uns zurück. Bleibt so lange in der Luft, bis wir weg sind, dann fliegt auch ihr nach Hause.« Ohne auf eine Bestätigung zu warten, ging er auf die Frequenz der Bodentruppen. »Okay, Leute. Wir verschwinden.« Die Frauen und Männer eilten über die Treppen aufs Dach und sammelten sich im Gleiter, mit dem Njangu bereits ein paar Zentimeter abgehoben hatte. Das Gefährt tanzte eine Weile über dem Dach, dann raste es mit voller Kraft in eine Straßenschlucht hinunter. Nach wenigen Minuten hatten sie das Landefeld und die Big Bertha erreicht. »Irgendeine Vorstellung über die Zahl der Opfer?«, fragte Montagna, die ein wenig verärgert war, dass man sie nicht für diesen Einsatz ausgewählt hatte. »Auf jeden Fall nicht annähernd genug«, sagte Lir schroff. 86 Garvin schluckte einen halben Liter Energiedrink. »Also gut, Freunde«, sagte er zu Liskeard, Lir und Yoshitaro. »Damit haben wir für einen gewissen Ausgleich gesorgt. Jetzt ruft jeden zurück, der sich noch in der Stadt aufhält. Die Soldaten sollen alles einpacken und den Rummel an Bord nehmen. Um Mitternacht will ich gestartet sein. Dann kann sich Tiborg Alpha Delta allein seinen Weg in die Hölle suchen.« »Einen Moment, Boss«, sagte Njangu. »Könntest du mir für eine Weile deine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken?« Garvin zögerte kurz, dann nickte er. Die anderen gingen hinaus. »Ich glaube, wir haben da draußen noch ein ganz anderes Eisen im Feuer«, erklärte Njangu. »Erik ist gerade zurückgewankt, etwas angesäuselt, aber er sagt, er hätte etwas Interessantes für uns.« Yoshitaro erzählte ihm von Penwyths Abend mit Freron, dem ehemaligen Offizier des Generalstabs. Garvin wollte eine neue Dose Energiedrink öffnen, doch dann verzog er das Gesicht. »Ich glaube, etwas Alkoholisches wäre jetzt angemessener.« »In der Tat«, pflichtete Njangu ihm bei und holte zwei Biere aus Garvins Kühlschrank. Garvin nahm einen kräftigen Schluck. »Wie komme ich nur auf die Idee, manchmal etwas Gesundes in mich hineinschütten zu wollen?«, fragte er sich, »wo die bösen Sachen doch so viel besser schmecken? Egal. Also haben wir da jemanden, der ‐ vielleicht ‐ gute geheime Informationen über die Konföderation hat. Mit hoher Geheimhaltungsstufe, allerdings zehn Jahre alt.« 86 »Älter als unsere, aber zweifelsohne geheimer als alles, was die Legion zur Verfügung hat«, sagte Njangu. Garvin nickte. »Aber das würde auch bedeuten, dass wir weiterhin eine Zielscheibe für diese Arschlöcher abgeben würden«, sagte er. »Welche Gruppe Arschlöcher meinst du?«
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Garvin zurück. »Mit der Kugel eines Konstitutionalisten im Kopf ist man genauso tot wie mit einer von... wie hieß noch gleich die Partei unseres Kumpels? ...von den Demokratisten.« Der Kom summte, Njangu ging ran, hörte zu und schaltete ihn wieder aus. »Wenn man vom Politiker spricht...«, verkündete er. »Unser Lieblingskandidat, unser Dorn im Auge, sowie sein Assistent klopfen an die Gangway. Sollen wir sie reinlassen?« »Warum nicht?«, sagte Garvin, leerte sein Bier und warf es in den Recycler. »Ich schätze, dass wir jetzt nicht einfach die Schotten dichtmachen und abdüsen können, oder?« »Nicht bevor wir herausgefunden haben, ob dieser Typ, den wir anzapfen wollen, aufrichtig und lohnenswert ist oder als Konteragent arbeitet«, sagte Njangu. »Auch wenn mir die Idee, noch länger hier herumzuhängen, genauso wenig gefällt wie dir.« Es klopfte an der Tür, Garvin drückte einen Sensor, und ein völlig aufgelöster Dorn Fili, flankiert von Brek, stürmte herein. »Bei den großen Göttern!«, sagte Fili. »Sie sind verdammt gefährlich!« »Wie bitte?« 87 »Gefährlich und vorsichtig«, sagte Brek. »Ich vermute, Sie haben nicht zufällig davon gehört, dass jemand vor einer Stunde oder so einen Anschlag auf eine Zentrale der Konstitutionalisten verübt hat?« »Ich fürchte, nein«, sagte Garvin. »Wir sind im Augenblick ganz mit uns selbst beschäftigt und bereiten uns auf die Bestattung der armen Chapu vor.« »Es heißt, dass mindestens einhundertfünfundzwanzig Mitarbeiter der Konstitutionalisten getötet wurden. Die Attentäter haben Raketen und vollautomatische Blaster eingesetzt, wie sie bei der Armee benutzt werden«, sagte Fili. »Ich habe schon von zehnfacher Vergeltung gehört, aber...« Er sprach nicht weiter. »Klingt so«, sagte Njangu zu Garvin, »als hätte es eine industrielle Explosion gegeben, was?« »Klingt tatsächlich so«, murmelte Garvin. »Heute Abend haben wir darüber diskutiert, ob wir Sie vielleicht verlieren«, fuhr Brek fort, »wofür wir natürlich Verständnis hätten. Und wir haben uns gefragt, ob wir Sie vielleicht zum Bleiben überreden könnten, wenn wir Ihnen ein paar Sicherheitskräfte unserer Partei zur Verfügung stellen.« »Ihr Zirkus hat Farbe in unseren Wahlkampf gebracht«, sagte Fili. »Durch Holoausschnitte Ihrer wohltätigen Auftritte konnten wir die Zuschauerzahlen unserer Sendungen erheblich steigern, die andernfalls vielleicht nur als poli‐ tisches Geschwätz wahrgenommen werden. Wir würden es ausgesprochen bedauerlich finden, wenn Sie abreisen, bevor wir unseren Sieg feiern können.« »Wir reisen noch nicht ab«, sagte Garvin. »Wir haben eine Abmachung, an die wir uns halten werden.«
»Gut, sehr gut«, sagte Fili zufrieden. »Wir brauchen Sie 88 vor allem für die letzte Versammlung unserer Wahlkampfhelfer. Das wird den Leuten noch einmal einen großen Motivationsschub für die letzten Tage der Kampagne geben.« »Und wie ich bereits erwähnte«, fügte Brek hinzu, »können Sie von uns die volle Unterstützung in Sachen Sicherheit erwarten.« »Die können wir gut gebrauchen«, sagte Njangu. »Außerhalb des Schiffes. Fremde mit Waffen kommen nicht herein, Punkt.« »Sie scheinen sehr davon überzeugt zu sein, sich selbst verteidigen zu können ‐ und meine Mitarbeiter«, sagte Fili in zweifelndem Tonfall. »Das sind wir«, sagte Njangu. »Zumal sich die Wogen geglättet haben dürften, da jeder davon ausgeht, dass dieser bedauerliche Zwischenfall etwas mit uns zu tun haben könnte.« »Seien Sie sich dessen nicht zu sicher«, sagte Brek. »Die Konstitutionalisten sind schon seit längerer Zeit an der Macht gewesen, und es wird einige Überzeugungsarbeit nötig sein, um sie zu Veränderungen zu bewegen.« Garvin erinnerte sich daran, wie Direktor Berti davon gesprochen hatte, dass sie den Sinn für die richtige Perspektive verloren hatten... und an die neue Möglichkeit, die bislang ihre beste Spur zum Rätsel der Konföderation war. »Nein«, entgegnete er. »Wir bleiben. Obwohl wir noch einmal über unser Honorar diskutieren müssen.« »Du meine Güte!«, rief Darod Montagna erschöpft, »du kannst ja ziemlich leidenschaftlich werden!« Sie entließ Garvin aus der Umklammerung ihrer Schenkel, und er rollte sich auf die Seite. 88 »Wirklich?«, fragte er und strich mit einem Daumennagel über Brüste und Bauch. Sie sog zischend den Atem ein. »Darf ich etwas sagen? Und dir dann eine Frage stellen?« »Nur zu.« »Das werde ich erst schaffen, wenn du aufhörst, meine Brüste zu küssen«, sagte sie. »Als Erstes möchte ich klarstellen, dass ich nicht denke, das, was wir hier tun, hätte etwas mit irgendetwas anderem zu tun außer dem, was wir hier tun, okay?« »Bei Odins Vogelkäfig! Es freut mich, dass du zur Armee gegangen bist und gelernt hast, dich klar und deutlich auszudrücken«, sagte Garvin. »Du weißt genau, was ich meine«, maulte Darod. »Jetzt lass mich das Thema wechseln, bevor du das Licht einschaltest und siehst, dass ich noch viel besser erröten kann als du. Was willst du wegen der Idioten hier unternehmen?« »Nichts«, sagte Garvin. »Unseren Vertrag erfüllen und dann weiterdüsen.«
»Ich weiß ja nicht, was du und Njangu im Schilde führen... und es geht mich auch nichts an. Aber ich glaube, es hängt den Menschen von Delta zum Hals heraus, dass sie nichts Besseres als diese zwei Parteien haben, die sich in der Ausbeutung des Volkes nur abzuwechseln scheinen.« »Ich finde, es ist Sache des Volkes, etwas zu verändern, wenn es das will«, resümierte Garvin. »Soldaten, die Gott zu spielen versuchen, vermasseln so etwas regelmäßig.« »Auch wenn, sagen wir mal, Lir und ich zufällig was gebastelt haben, das Bumm machen wird? Und wir das böse kleine Ding zufällig im Gebäude deponieren, wo die nächs 89 te Amtseinführung stattfinden wird? Der genaue Zeitpunkt ist zufällig genau festgelegt, und es wäre kein Problem, es exakt dann Bumm machen zu lassen. Und wenn die alte Filzpartei die Geschäfte an Fili und seine neue Filzpartei übergibt, würde es einen ganz lauten Knall geben. Wäre das nicht sehr hilfreich?« »Du vergisst die Direktoren, die in Wirklichkeit die Fäden ziehen«, gab Garvin zu bedenken. »Und ich klinge wirklich wie jemand, der null von Politik versteht, oder?« »Wir könnten uns etwas ausdenken, damit wir auch diese Bande erwischen«, meinte Montagna hartnäckig. »Es macht einmal Bumm, dann macht es noch einmal Bumm, und dann suchen wir ein Ziel für unsere dritte Bombe... wie es sich für anständige Friedensstifter gehört«, sagte Garvin. »Garvin, ich versuche nachzudenken, und auch wenn sich das gut anfühlt, vor allem an dieser Stelle... will ich...« »Was willst du?«, war Garvins gedämpfte Stimme zu hören. »Versuch, nicht so laut zu werden, wenn du dieses Mal kommst«, hauchte Darod und stöhnte. »Wir könnten uns getäuscht haben«, sagte Direktor Berti zu seinem Assistenten. »Dieser kleine Sender tut nicht mehr, als uns die Position des Schiffs zu verraten. Ich hätte gerne mehr Informationen über Leute, die... so direkt reagieren, wie es diese Zirkusleute tun. Sie scheinen viel mehr zu sein als fröhliche Reisende von einem fernen Planeten.« »Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte der Assistent. »Und ich habe hier etwas vorbereitet... beziehungsweise jemanden.« 89 »Wie immer können Sie meine Gedanken bereits im Voraus erraten«, schnurrte Berti. »So... unser heißer Plan sieht folgendermaßen aus«, sagte Njangu zu den versammelten Frauen und Männern. »Die Demokratisten ‐ mit denen wir gar nicht erst ins Bett hätten gehen dürfen, aber nun ist es zu spät, deswegen Tränen zu vergießen ‐ stellen uns ihre Sicherheitskräfte zur Verfügung. Ich habe ihre Legionen gemustert, und sie sind genau das, was man von der Schlägertruppe
eines Politikervereins erwarten würde ‐ hauptsächlich Riesenaffen mit finsteren Mienen und Haaren in den Ohren. Falls sie auch ein paar nettere Typen angeheuert haben, scheinen sie sie zur Bewachung ihres Throns abkommandiert zu haben.« Er zwinkerte Maev zu, die in der ersten Reihe saß. »Aber damit haben wir keine Probleme. Sollen sie ruhig herumschwirren und die Aufmerksamkeit der bösen Jungs auf sich lenken. Ihr, die Profis, die Schützen, werdet unsichtbar bleiben. Aber nur so lange, bis der richtige Ärger losgeht.« Seine gute Laune war schlagartig verflogen. »Dann löschen wir diese Mistkerle gnadenlos aus.« »Hier«, sagte Garvin und reichte Njangu einen winzigen Knopf. »Das wäre doch nicht nötig gewesen! Was ist das?« »Etwas, das mir jederzeit verrät, was du gerade treibst, alles, selbst deine verruchtesten Taten.« »Hmmmpf.« »Jeder, der hier an Bord was zu sagen hat, einschließlich mir, kriegt einen.« 90 »Du rechnest mit weiteren Schwierigkeiten?« »Vielleicht... es könnte aber auch sein, dass ich meinen Arsch nur in alle Richtungen absichern will«, sagte Garvin. »Aber das ist doch mein Job!« »Deshalb gibt es so was wie redundante Ausbildung.« »Ich bin mir nicht sicher, ob mir gefällt, dass jeder weiß, wo ich gerade bin«, beklagte sich Njangu. »Zugegeben, es ist hart.« »Wo soll ich das Ding tragen?«, wollte Njangu wissen. »Steck es in eine Tasche. Oder kleb es dir in den Bauchnabel. Oder schieb es dir meinetwegen in den Arsch.« »Diese Akten sind höchst interessant«, sagte Freron zu Penwyth, der in seiner Wohnung stand, die das totale Chaos gewesen wäre, wenn sich darin kein ehemaliger Angehöriger des Militärs gelegentlich zu schaffen gemacht hätte. Demzufolge handelte es sich eher um ein gut organisiertes Chaos. »Aha?« »Es war eins meiner Lieblingsprojekte. Ich erhielt den Befehl, damit anzufangen, als ich diese geheimdienstliche Schulung besuchte, von der ich Ihnen erzählt habe, und danach habe ich die Dokumente weitergeführt. Ich denke, die Daten sind ziemlich vollständig ‐ allerdings auf dem Stand von vor zehn Jahren.« Penwyth wartete. »Es ist eine Auflistung aller mechanischen Warn‐ und Sicherheitseimichtungen, die die Konföderation rund um Centrum und allen anderen bewohnten Welten im Capel‐la‐System sowie an allen Navigationspunkten installiert hat. Außerdem gibt es eine Liste der damaligen Standorte 90 aller Wachstationen rund um Capella. Ich denke, dass es für einen Historiker von großem Interesse sein dürfte.« Penwyth bemerkte, dass Freron das Wort »Historiker« hörbar in Anführungszeichen setzte.
»Was würden Sie von einem solchen interessierten Historiker für das Material verlangen?« »Mein Angebot ‐ das keine Verhandlungsbasis darstellt ‐liegt bei einhundertfünfzigtausend Credits.« Penwyth unterdrückte einen leichten Hustenanfall. »Ich finde, das ist ein gerechter Preis«, sagte Freron in etwas beleidigtem Tonfall. »Nicht nur für den Historiker, sondern auch für einen theoretischen Interessenten, der sich Sorgen um die gegenwärtige allgemeine Lage macht. All diese mechanischen Systeme wurden auf einem bestimmten Planeten erbaut und arbeiten mit Automodifikation. Für jemanden, der diese Produktionswelt besucht, dürfte es kein Problem sein, in Kontakt zu den Erbauern dieser Einrichtungen zu treten und sich ein Programm für automatische Updates aushändigen zu lassen. Meinen Sie nicht auch?« Penwyth kratzte sich an der Nase und schenkte sich ein neues Glas von dem Brandy ein, den er mitgebracht hatte. »Sie besitzen einen bemerkenswerten Verstand, Kuprin. Es erstaunt mich, dass Sie es in der Hierarchie nur bis zum Tʹousan gebracht haben.« Freron lächelte mit eine^ Spur von Verbitterung. »In jenen Tagen war ich mehr am Glücksspiel interessiert, als für mich gesund war. Dienstgrade mit Sternen erhalten nur Personen ohne Charakterfehler. Beziehungsweise ohne sichtbare Charakterfehler. ‐ Eine weitere Sache, die für einen Historiker, der die letzten Tage der Konföderation erforscht, von großem Wert sein dürfte, ist eine vollständi 91 ge Karte von Centrum, mit Schwerpunkt auf den verschiedenen militärischen Einrichtungen. Diesen Teil der Sammlung würde ich für... ach, ich weiß gar nicht... für noch einmal hunderttausend Credits hergeben.« Er zuckte mit den Schultern. »Oder falls ich einem wohlhabenden Sammler begegne, könnte ich die Karte und die Daten über die Sicherheitssysteme zusammen für zweihunderttausend verkaufen. Und wenn wir schon in großen Dimensionen denken«, fuhr er fort, »wäre ich gerne bereit, meine komplette Materialsammlung der Konföderation zu stiften... für einen Preis von, sagen wir, einer halben Million.« »Wofür hält dieser Scheißkerl uns? Für Kazillionäre?«, jammerte Garvin. »Ich vermute mal, dass er nichts von Jasith weiß, oder?«, fragte Njangu. »Halt dein verdammtes Schandmaul!«, schimpfte Garvin. »Erik, können wir handeln?« »Ich glaube nicht, Boss«, sagte Erik, der sich prächtig über Jaansmas Reaktion amüsierte. »Seine Angebote hatten etwas sehr Entschiedenes. Ach ja. Außerdem ist er ein ziemlich vorsichtiger Scheißkerl. Die Akten, mit denen er herumgewedelt hat, waren nur Fragmente. Der Rest ist schön sicher in einem Schließfach in einer größeren Bank verwahrt, deren Namen er nicht nennen wollte.«
»Welch ein durchtriebener Scheißkerl!«, regte sich Garvin auf. »Wofür hält er uns? Für miese Einbrecher?« »Misstrauisches Pack!«, pflichtete Njangu ihm bei. »Ich wollte gerade Erik nach einem Grundriss seiner Wohnung fragen. Aber dann eben nicht...« »Immerhin«, sagte Garvin, »war ich so vernünftig, das 92 Honorar, das wir von Fili und Konsorten bekommen, kräftig in die Höhe zu treiben.« Er schlug sich die Hände vors Gesicht. »Zuerst geraten wir mit unserem Zirkus mitten in die Politik, wofür mich meine Familie enterben würde, und dann bekommen wir es mit einem Verräter von altem Schrot und Korn zu tun, der viel zu hohe Preisvorstellungen hat. Niemand ahnt, welches Leid ich über mich ergehen lassen muss!« »Mach dir keine Sorgen«, sagte Njangu ohne Mitleid. »Du weißt doch, dass es noch viel schlimmer kommen wird.« Kekri Katun hatte eine Stimme, die kaum mehr als ein Schnurren war, dachte Garvin. Außerdem war sie das liebreizendste Geschöpf, das er jemals gesehen hatte, von ihrem platinblonden Haar, das natürlich zu sein schien, über ihr vollkommenes Gesicht, ihre glatte Haut, ihren großzügigen Busen bis zur Taille, die extrem dünn war. Er fragte sich, wie viele Credits und kosmetische Operationen nötig gewesen waren, um sie zu dem zu machen, was sie war. »Aber ja«, sagte sie. »Ich wurde mein halbes Leben lang als Bodenakrobatin ausgebildet... und ich glaube wirklich, dass man sich alle Mühe geben sollte, in Form zu bleiben.« Ohne sichtbare Anstrengung fiel sie seitlich vom Stuhl, landete auf einem Arm und reckte sich zu einem einarmigen Handstand auf. Ihr hellbraunes Kleid rutschte an ihren Beinen hinunter, und Garvin dachte erschrocken daran, dass sie darunter vielleicht nichts weiter trug. »Jetzt könnte ich eine witzige Geschichte erzählen, ein Gedicht rezitieren oder ein Lied singen«, sagte sie. »Ich 92 kenne sehr viele Lieder, weil ich fünf Jahre lang mit einer kleinen Truppe auf Tournee war.« Sehr langsam setzte sie die andere Hand auf den Boden, öffnete die Beine zu einem Y und stieß sich mit den Armen ab. Als sie auf den Füßen landete, saß ihre Frisur perfekt, und sie atmete keine Spur lauter als sonst. »Da ich weiß, dass Zirkusleute neben ihrem Hauptberuf immer auch andere Aufgaben übernehmen, besitze ich noch weitere Fähigkeiten. Ich bin eine ausgezeichnete Buchhalterin und Sekretärin, und wenn gewünscht, kann ich sogar posieren.« »Posieren?«
»Das ist etwas, das in den Clubs von Delta sehr beliebt ist«, erklärte sie. »Vor allem bei den älteren Herren, die nicht zugeben wollen, wie gerne sie eine Frau beim Ablegen der Kleidung beobachten.« Sie berührte ein paar Verschlüsse, und das Kleid lag auf dem Boden. Sie trug tatsächlich keine Unterwäsche! Garvins Mund fühlte sich plötzlich sehr trocken an. Katun nahm eine Pose ein. »Das ist Direktorin Randulf, eine unserer großen Heldinnen, wie sie während ihrer Hochzeitsnacht aussah.« »Äh...« »Und das ist Tʹousan Merrist, wie sie vor den Rebellen flüchtete. Ich kann noch ein paar Dutzend andere.« »Äh... ja... interessant«, sagte Garvin. »Sie können sich wieder anziehen. Solche Shows machen wir nicht.« »Oh. Ich dachte, als ich an den Attraktionen draußen vor dem Zelt...« »Das ist der Rummel.« »Als ich durch den Rummel ging, sah ich all die Plakate mit Frauen, die nur sehr wenig Kleidung tragen...« 93 »Das ist Sopi Midts Gewerbe«, sagte Garvin. »Er ist überzeugt, an den kleinsten gemeinsamen Nenner appellieren zu müssen, und, nebenbei bemerkt, schämt er sich nicht, kleinere Betrügereien zu begehen. Alle Mädchen in seinen Aufführungen entkleiden sich nur bis auf die Unterwäsche. Zumindest hoffe ich, dass sie es tun, weil ich ihn andernfalls massakrieren werde.« »Was ist das Problem mit ein wenig nackter Haut? Vor allem unter Freunden?«, schnurrte Katun, während sie wieder ihr Kleid überstreifte und Garvin anlächelte. Er beschloss, das Thema zu wechseln. »Wir stellen jederzeit neue Kräfte ein«, sagte er. »Im Augenblick brauchen wir ein neues Showgirl. Und ich bin mir sicher, dass auch die Akrobaten sehr an Ihren... Begabungen interessiert sind.« »Ich habe in den Holos die Berichte über den Mord gesehen. Das arme Mädchen.« »Aber das Problem ist, dass wir auf absehbare Zeit nicht in diese Gegend zurückkehren werden.« Katun zuckte mit den Schultern. »Mein Vater war Vertreter und für ein ziemlich großes Gebiet zuständig. An meine Mutter erinnere ich mich kaum. Ich bin es gewohnt, unterwegs zu sein.« Wieder zeigte sie ihr heißblütiges Lächeln. »Und ich war noch nie auf anderen Planeten. Außerdem gibt es für ein Mädchen wie mich immer eine Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren. Vielleicht finde ich aber auch ein neues Zuhause.« »Äh... richtig... Ihre KomNummer steht hier auf Ihrem Bewerbungsschreiben«, sagte Garvin. »Ich... wir werden uns morgen oder so bei Ihnen melden.«
Kekri Katun stand auf, schlenderte zur Tür und drehte sich noch einmal zu ihm herum. 94 »Ich glaube, für Sie aufzutreten... für Ihren Zirkus... ist das Aufregendste, was ich mir jemals vorgestellt habe«, hauchte sie. Dann schloss sich die Tür hinter ihr. »Puhl«, machte Garvin, holte sich ein Bier, entschied dann jedoch, dass er etwas Stärkeres brauchte, und griff nach der Karaffe mit Brandy. Als die Tür wieder aufglitt, zuckte er zusammen. »>Puh< trifft die Sache ziemlich gut«, sagte Njangu. »Sie ist wirklich tadellos rasiert, nicht wahr?« Er holte sich das Bier, das Garvin verschmäht hatte. »Was machen wir also mit ihr?« »Ich bin nur für die Sicherheit zuständig«, sagte Njangu grinsend. »Natürlich wirst du sie einstellen.« »Wieso natürlich?« »Weil es immer gut ist, wenn man einen Spion direkt vor der Nase hat.« Njangu lachte leise. »Oder vor dem Schwanz, um genau zu sein.« »Tun wir ihr damit nicht vielleicht Unrecht? Wie kommst du darauf, dass sie ein Spion ist?« »Das ist wirklich nicht allzu schwer zu erkennen«, schnaubte Njangu. »Komm schon, Garvin! Lass das Blut wieder in dein Gehirn fließen und fang an zu denken. Frauen wie sie scharwenzeln nicht vor Männern wie uns herum, weil sie glauben, dass wir die bestbestückten Männchen sind, seit es Elefanten gibt.« »Ja. Du hast recht. Ich bin ein Idiot. Hast du eine Vorstellung, für wen sie arbeitet?« »Ich könnte eine Vermutung äußern«, sagte Njangu. »Da sie keine Probleme damit hat, den Planeten zu verlassen, denke ich, dass ihr Auftraggeber jemand ist, dessen Einfluss weiter reicht als der von Fili oder von dem Kerl, der für die Konstitutionalisten kandidiert.« 94 »Und die Leute mit diesem weiterreichenden Einfluss sind möglicherweise...« »... die Direktoren.« »Au weia!«, entfuhr es Garvin. »Warum sagen wir ihr nicht einfach, dass der Posten schon besetzt ist?« »Weil sie ‐ wer immer sie sind ‐ es dann wieder versuchen werden«, erklärte Njangu. »Vielleicht kaufen sie einen unserer Arbeiter, vielleicht schleusen sie einen anderen Agenten ein. Wir hatten dreiundzwanzig Kündigungen ‐ natürlich allesamt Leute, denen Tiborg ausgesprochen gut gefällt ‐ und etwa dreißig Neueinstellungen von hier. Das nette Mäuschen von eben nicht mitgezählt. Ich würde dir empfehlen, sie zu engagieren. Es sei denn... Neigst du dazu, im Schlaf zu reden?« »Nicht dass ich wüsste.« »Dann mach sie zu unserer Agentin. Vögel sie grün und blau, bis sie unser Lied singt. Oder ich verpasse ihr einen Schuss in den hübschen kleinen Hintern und
bringe sie zum Singen, bis sie uns alles erzählt, einschließlich dessen, was diesen Direktor Berti umtreibt. Und wenn sie wieder aufwacht, wird sie keinen blassen Schimmer haben. Weißt du noch, wie sie uns in die Mangel genommen haben, als wir zur Armee gegangen sind?« »Ja.« »Beim ersten Mal macht es übrigens viel mehr Spaß.« »Äh...« »Ich werde Jasith nie etwas sagen«, versprach Njangu. »Und einen anderen Grund gibt es für dich doch nicht, deine Tugend zum Wohl der Legion zu opfern, oder?« Garvin zog eine finstere Miene und erkannte, dass er offenbar über Darod Bescheid wusste. Wahrscheinlich wusste es schon der ganze verdammte Zirkus. 95 »Wir stellen sie ein«, sagte Njangu. »Ich lasse sie gründlich durchleuchten und sorge dafür, dass ihr Kom, falls sie einen bei sich trägt, nicht sehr zuverlässig funktioniert. Was sie sendet, wird sofort von meiner Sicherheitsfalle aufgefangen. Komm schon, Garvin! Wo ist dein Kampfgeist geblieben? Warst du nicht derjenige, der auf Grimaldi herumgeprahlt hat, dass sich die Sache mit all den Zwergen und Freaks und chinesischen Akrobaten allmählich wie ein richtiger Zirkus anfühlt?« »In einem Zirkus gibt es normalerweise keine Spione«, erwiderte Garvin matt. »Dann sei innovativ! Begründe eine neue Tradition! Das bist du dir selbst schuldig! Ansonsten denk einfach an Randulf an ihrem Hochzeitstag.« »Das wird alles mit Licht gemacht«, wiederholte der kleine Junge hartnäckig. »Natürlich«, stimmte Jiang Fong ihm zu. »Und... und mit Spiegeln«, sagte der Junge. »Wie klug von dir«, erwiderte Fong. »Du musst es dir unbedingt genauer ansehen.« Er nahm den Jungen aus seinem Schwebstuhl und warf ihn als wirbelndes Bündel zu seiner Frau Qi Tan hinauf, die in drei Metern Höhe mit den Händen auf einer rotierenden gegabelten Stange balancierte. Sie fing das schreiende Kind mit den Füßen auf, drehte es ein paar Mal und kitzelte es mit einem Finger, bis es nicht mehr schrie, sondern lachte. Dann warf sie es von einer Hand in die andere und ließ es hinunter in Gangs Arme fallen. Gang setzte den atemlosen Jungen wieder in den Stuhl, und Jia Jin, die nur einen Meter groß war, näherte sich, während sie auf dem Kinn ein Tablett mit vier Schüsseln 95 balancierte, darauf ein zweites Tablett mit Gläsern, darauf vier weitere durchsichtige Tabletts mit kleinen Blumenvasen ‐ und ganz oben eine große Vase, die etwa genauso hoch wie das Mädchen selbst war. »Lichter und Spiegel, sagtest du«, flötete sie. »Möchtest du, dass ich springe und all dieses Glas in deinem Schoß landet? Du und dein Schwebstuhl würden sehr nass werden.«
»Nein, nein!«, protestierte der Junge. »Aber ich werde es trotzdem tun!« Sie sprang tatsächlich, und Glas fiel herab, aber irgendwie wurde alles aufgefangen, jongliert, zurück in die Luft geworfen und in umgekehrter Reihenfolge erneut balanciert. Der Junge schaute fasziniert zu. »Ich wünschte, ich könnte jonglieren«, sagte er leise. Jia Jin hörte ihn und beugte sich zu ihm hinunter, ohne irgendetwas zu verschütten. »Nach der Vorstellung«, versprach sie, »werde ich dir zeigen, wie einfach es ist.« »Selbst für jemanden wie mich, der nicht laufen kann?« »Besonders für jemanden wie dich, weil du nämlich viel besser aufpassen wirst.« Tausend Meter über dem Krankenhaus flog ein Schiff der Nana‐Klasse Patrouille. »An alle Einheiten«, meldete sich Aut Chaka, der sich um drei Dienstgrade hatte zurückstufen lassen, um sich dem Zirkus anschließen zu können. »Ich habe hier ein gutes mögliches Ziel. Ich werde es markieren... jetzt!« Die Piloten der anderen Nana‐Schiffe und der zwei Aksai beobachteten den leuchtenden Zeiger auf ihren Bildschirmen. 96 »Er treibt sich schon seit unserer Ankunft in der Nähe des Krankenhauses herum«, sagte Chaka. »Keine Identifikation, keine journalistische Markierung, also habe ich ihn ins Visier genommen. In der Nahaufnahme ist zu sehen, dass es sich um einen Gleiter mit einer umfangreichen Waffensammlung handelt. Einer der Idioten hat sogar mit seinem Blaster oder was das war herumgewedelt, sodass ich ihn deutlich erkennen konnte. Ende.« »An alle Sicherheitselemente«, gab Njangu über den Kom durch. »Hier Sicherheitsleiter. Vermute, dass er losballert, wenn wir rauskommen. Er soll es versuchen, und wenn er ein paar der Wadenbeißer abbekommt, zu denen wir nett sind, spielt das keine Rolle. Wir schalten ihn jetzt aus. Lir... nimm ihn unter Beschuss. Aber vorsichtig. Die Aksai verfolgen ihn. Ich will mehr als nur ein paar tote Idioten. An Big Bertha, bringt den dritten Aksai in die Luft, damit er den anderen Vögeln Gesellschaft leistet.« Mikros klickten zur Bestätigung. Unter ihnen kontrollierte Lir in ihrem Versteck die Zielerfassung des Raketenwerfers, stellte den Zünder des Raubwürgers so ein, dass er in der Nähe des Ziels detonierte, schaltete die Automatik ab, zog den Gleiter aus dem Faden‐ kreuz und feuerte. Der Raubwürger explodierte zwanzig Meter vom Gleiter mit den Schlägern entfernt. Das Gefährt geriet ins Trudeln und hätte sich fast überschlagen, dann ergriff der Pilot mit Vollschub die Flucht. »Dranbleiben«, rief Chaka, und die Aksai verfolgten den Gleiter in großer Höhe über den Wolken.
Der Gleiter raste über die Stadt hinweg nach Norden, auf eine kleine Inselgruppe zu. 97 »Er geht auf Landeanflug«, sagte Chaka und tastete die Umgebung zunächst mit Radar, dann mit Infrarot ab. »Sieht so aus, als wäre da unten was«, meldete er. »Vielleicht ein hübscher kleiner Landeplatz.« Alle drei Aksai kreisten unterhalb des Nana‐Schiffs am Himmel. »Hier Boursier eins. Ich konnte einen kurzen Blick durch eine Wolkenlücke werfen. Es ist ein Landefeld mit zehn oder zwölf Gleitern. Ein paar sehen aus, als wären sie bewaffnet oder zumindest für polizeiliche oder militärische Zwecke modifiziert worden.« »Hier Sicherheit sechs«, sendete Njangu. »Macht euch bereit, Leute. Ich möchte da unten einen schönen sauberen Billardtisch haben. Macht die Gebäude platt und schießt auf jeden, den ihr ins Visier kriegt. Los!« Die Aksai stießen im Steilflug hinunter, und die Finger beziehungsweise Krallen der Piloten huschten über Sensoren, während die Angriffsschiffe nach unten rasten. Boursier, die die Spitze übernommen hatte, feuerte ein halbes Dutzend Raubwürger ab. Die Raketen explodierten auf dem Landefeld, während Dill und Alikhan im Tiefflug mit ratternden MGs darüber hinwegstrichen. Gleiter und einer der drei Hangars gingen in Flammen auf. Menschen flüchteten nach draußen und liefen über das Feld, um sich in die Sicherheit des Dschungels oder des Wassers zu flüchten. Nur wenige schafften es. Boursier kehrte zurück und ließ aus zweihundert Metern Höhe Granaten und Brandbomben über das Landefeld regnen. Chaka ging mit seinem Patrouillenschiff tiefer und sah, dass zwei Gleiter nur ungenügend beschädigt waren. Er 97 erledigte das Problem mit zwei Raubwürgern, dann stieg er wieder auf. »Damit hätten wir unsere Arbeit getan. An alle Elemente, wir fliegen heim.« Garvin und Njangu fanden es äußerst interessant, dass es in den Holos keine Meldung über die Vernichtung des Flughafens gab. »Ich vermute, jemand ist nicht daran interessiert, dass es bekannt wird«, sagte Njangu. »Was eine Menge über dieses ganze verdammte Machtsystem sagt, nicht wahr?«, erwiderte Garvin mit leichtem Abscheu. »Ich hätte Darod und Lir mein Okay geben sollen.« »Wofür?« »Ach, nichts.«
»Männer sind nicht mehr als dicke Schwänze und leere Hirne!«, regte sich Darod Montagna auf. »Erzähl mir was Neues«, entgegnete Monique Lir grinsend. »Und womit hat dich der Boss schon wieder auf die Palme gebracht?« »Ich habe ihn gerade draußen vor dem Schiff gesehen, wie er mit dieser... dieser Tussi herumspaziert ist, die er eingestellt hat!« »Hat er nicht das Recht, spazieren zu gehen, mit wem er will?« »Aber nicht mit ihr!« »Au weia«, sagte Lir. »Darod, mein lieber junger ehemaliger Erster Offizier, du bist gerade dabei, dir die Titten zu verbrennen. Wenn du schon eifersüchtig wirst, solange er nur mit dieser Katun herumspaziert, was willst du dann 98 erst machen, wenn wir nach Cumbre zurückkehren und du feststellen musst, dass er wieder mit Jasith Mellusin in die Kiste steigt?« »Das ist etwas anderes! Sie steht vor mir in der Schlange! Sie hat eine höhere Stellung als ich!« »Au weia, au weia«, murmelte Lir. »Dieser Zirkus Jaansma hat sich zweifellos bezahlt gemacht«, schwärmte Dorn Fili. »Ich weiß, dass die große Versammlung nach dem hier unsere Mitarbeiter dazu bringen wird, ihre letzten Energiereserven anzuzapfen. Ganz zu schweigen vom Eindruck, den wir damit in den Holos machen.« »Die Fremdweltler haben uns tatsächlich gutgetan«, stimmte Samʹl Brek zu. »Aber der Tag der Wahl rückt immer näher, und ich denke ständig an die vielen Credits, die wir ihnen geben, und wie ich sie gerne für einen Blitzkrieg in letzter Minute einsetzen möchte.« »Benutzen Sie dazu die finanziellen Reserven, die wir für die Zeit nach der Kampagne für unsere Unterstützer zurückgelegt haben«, sagte Fili. »Das könnte ich tun«, sagte Brek. »Aber damit würden wir unsere Freunde verstimmen. Wenn wir nur eine Möglichkeit hätten, wie wir zumindest einen Teil der Ausgaben für den Zirkus wieder hereinbekommen könnten... hmm... aber ich glaube, ich habe da den Ansatz einer Idee.« »Könnten wir damit in Schwierigkeiten geraten?«, fragte Fili. »Äußerst zweifelhaft. Eher nicht, wenn ich die Sache gut vorbereite und die richtigen Leute damit beauftrage.« 98 »Erzählen Sie mir nicht mehr darüber«, entgegnete Fili. »Tun Sie es einfach.« »Ich habe hier was Interessantes«, sagte Njangu zu Garvin. »Wir haben die Sachen unserer kleinen Schnepfe gründlich durchleuchtet, und rate mal, was wir gefunden haben?« »Einen kleinen gemeinen Sender?« »Nein.« »Einen leistungsstarken interstellaren Kom?« »Nein.« »Also! Was habt ihr gefunden?«
»Nichts. Außer dass unsere Kekri Katun ungewöhnlich viel Kosmetik benutzt und einen interessanten Dessousgeschmack hat.« »Nichts?«, fragte Garvin ungläubig. »Was bedeutet das? Ist sie doch kein Spion?« »Mach dir keine allzu großen Hoffnungen«, riet Njangu ihm. »Das bedeutet nur, dass sie etwas besser ausgebildet ist, als ich gedacht hatte.« Penwyth reichte den Kom an Freron weiter, der sich anhörte, wie die automatische Stimme des Bankschalters ihm verkündete, dass er nun über eine halbe Million Credits auf dem Konto hatte. Freron lächelte zufrieden, zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und gab ihn Erik. »Es handelt sich um Schließfach neun‐acht‐fünf‐vier in der Militärischen Genossenschaftsbank. Das Paket ist recht groß, also sollten Sie vielleicht einen Vertrauten mitnehmen.« Er gab ihm die Adresse und fügte hinzu, dass sich niemand darüber wundern würde, wenn ein Unbekannter die Schlüssel hatte. 99 Penwyth ging zur Wohnungstür, öffnete sie und gab die Schlüssel mitsamt allen nötigen Angaben an Ben Dill weiter. Er wurde von zwei kräftig gebauten Zikusarbeitern begleitet. »So«, sagte Penwyth, als er zurückgekommen war und sich wieder gesetzt hatte. »Jetzt werden wir hier warten, bis mein Freund Ben mir sagt, dass er sicher in unser Schiff zurückgekehrt ist.« Freron seufzte. »In diesem schmutzigen Geschäft scheint niemand niemandem zu vertrauen.« »Ich vertraue Ihnen unbedingt, Kuprin«, versicherte Erik. »Ich würde nur gerne ein paar weitere Geschichten hören, wie es war, in einer planetaren Streitmacht der Konföderation zu dienen, bevor ich gehe.« »Heute Abend hat fast jeder eine Freikarte«, sagte Garvin zu Sopi Midt. »Fast nur Politiker, also nehmen Sie sie nicht zu sehr aus.« »Hätte ich sowieso nicht gemacht«, sagte Midt. »Nein, das ist gelogen. Ich habe diese Mistkerle schon immer gehasst, die glauben, dass sie etwas Besonderes wären, nur weil sie wissen, auf welcher Seite einer Wahlurne der Schlitz ist. Trotzdem verstehe ich nicht, warum Sie sich von diesen Typen in die Tasche stecken lassen.« Garvin verzog das Gesicht. »Vielleicht habe ich mir vor unseren ersten echten Vorstellungen zu viele Sorgen wegen der Abendkasse gemacht. Auf jeden Fall werde ich so etwas nicht noch einmal tun.« »Das beruhigt mich«, sagte Midt. »Und bis auf das bedauernswerte Showgirl ist ja bisher auch nichts schiefgegangen. Eins kann ich Ihnen sagen: Ich bin froh, dass Ihre Leute die Sicherheit übernommen haben. Meine Aufpasser 99 haben dem Pöbel im Rummel schon mindestens ein Dutzend Waffen abgenommen.« »Haben Sie eine Ahnung, für wen diese Leute arbeiten?«, wollte Garvin wissen.
»Hab sie nicht danach gefragt. Wer in meinem Rummel mit einer Waffe herumläuft und nicht für mich arbeitet, bedeutet Schwierigkeiten. Also entwaffnen wir diese Typen, geben ihnen eins auf die Mütze und schicken sie dann nach Hause.« Midt beugte sich näher an Garvin heran. »Ich hätte da übrigens einen Vorschlag, Prinzipal, wenn Sie einen hören möchten. Haben Sie vor, bis zum Wahltag hier herumzuhängen?« »Ich weiß es nicht«, sagte Garvin. »Ich neige eher dazu, es nicht zu tun.« »Gut. Sehr gut. Denn in dem Augenblick, wo das Ergebnis feststeht, wird eine Seite an Rache denken, weil sie glaubt, wir hätten das Blatt gewendet, und die andere wird versuchen, sich um die Bezahlung unserer letzten Rechnungen zu drücken.« »Ich habe mit den Demokratisten ausgemacht, dass wir im Voraus bezahlt werden.« »Das ist gut«, lobte Midt. »Schätze, Sie sind wohl doch der Sohn Ihres Vaters.« Bei Anbruch der Dämmerung strömten die Demokratisten vom ganzen Planeten in Scharen herbei, und es waren sogar mehrere Schiffe von anderen Welten des Systems eingetroffen. Garvin, der sich das Ganze aus der Spitze der Big Bertha anschaute und von fern die Kapelle im Frachtraum tief unter ihm hörte, war dankbar, dass Filis Wachleute das Schiff von außen abschirmten. Diese Menge, die 100 voll besetzte Zuschauerränge versprach, überforderte sowohl die Geldschneider als auch die Sicherheitskräfte des Zirkus. Er betrachtete sein Spiegelbild, rückte seinen weißen Zylinder zurecht, rollte die Peitsche unter dem Arm zusammen und war die jugendliche Würde in Person, als er zum Lift ging, der ihn hinunter in die Manege beförderte. Im Frachtraum flogen mehrere Akrobaten hin und her, geworfen und aufgefangen vom raʹfelan. Garvin sah Lir unter ihnen, die sich in einer Schraube drehte und fast ihren Fänger verfehlt hätte. Dann flog sie zurück zum Trapez. Der Mann war groß und knochendürr, hatte kurzes Haar und einen gepflegten Bart. Er trug ein Hemd mit der Aufschrift WÄHLT FILI, wie es auch die meisten anderen Teilnehmer taten. Das Hemd war ihm viel zu weit, was jedoch dazu beitrug, das Schulterholster mit der Waffe zu verbergen. Für die Aufgabe, mit der man ihn betraut hatte, war sie im Grunde gar nicht nötig, aber er wollte dafür sorgen, dass ihm im erhofften Chaos die Flucht gelang. An der Gangway gab es einen Metalldetektor, aber davor drängte sich die Menge, sodass es für den Mann kein Problem war, sich daran vorbeizuschleichen und zusammen mit dem erwartungsvollen Publikum den Frachtraum des Schiffes zu betreten. Phraphas Phanon hatte nicht übertrieben, als er sagte, dass er vielleicht etwas auf die Beine stellen würde, das viel spektakulärer war als alles, was Sir Douglas sich vorstellen konnte.
Nach langen Proben stand die Nummer. Ein Löwe bedrohte Imp, eins der Elefantenkälber. Be 101 vor Imp sich versah, wurde er auch schon von einem Rüssel emporgehoben und auf dem Rücken eines anderen Elefanten abgesetzt. Der Löwe richtete sich brüllend auf den Hinterbeinen auf. Sir Douglas, der in einer Sänfte auf einem dritten Bullen saß, ließ eine Peitsche knallen, worauf zwei Tiger zu ihm in die Sänfte sprangen. Als er seine Pistole abfeuerte, zogen sich die Raubkatzen zurück. Er sprang auf den Rücken eines anderen Elefanten, als sich im gleichen Augenblick drei Bullen auf den Hinterbeinen aufrichteten und die Vorderfüße zusammenlegten, während Imp von einem vierten in Sicherheit gebracht wurde, bis er außer Reichweite der anderen Katzen war, die in der Manege herumsprangen. Das Publikum verfolgte die Darbietung mit offenem Mund. Dabei war das nur die Eröffnung! Njangu Yoshitaro streifte durch das Rummelzelt und hielt nach Anzeichen für Ärger Ausschau, als er unverhofft fand, wonach er suchte. Er ging geduckt hinter einem Glücksrad in Deckung und wollte sich hinten herum zur Big Bertha durchschlagen, um der Menge aus dem Weg zu gehen. Njangu blieb nur ein kurzer Moment, um zu erkennen, dass er von einer Frau verfolgt wurde. Er drehte sich um, weil er sehen wollte, was sie von ihm wollte. Der Betäubungspfeil bohrte sich in seinen Nacken, bevor er seine Waffe ziehen konnte. Zwei Männer folgten der Frau. Sie trugen eine längliche bunte Kiste, die den Eindruck erweckte, als würde sie zum Zirkus gehören. 101 Njangu wurde hineingelegt, dann hoben die Männer sie wieder auf und marschierten damit ohne Eile weiter. Sie verließen das Rummelzelt durch einen Hinterausgang, kamen auf den Parkplatz und schoben die Kiste in einen Gleiter. Wenige Sekunden später waren sie in den Gleiter gestiegen, der abhob und in Richtung Stadt flog.
9 »Willkommen, willkommen, Demokratisten aller Altersstufen! «, intonierte Garvin. »Willkommen zur größten Show der Galaxis. Wir haben Clowns und Bären und Löwen und Tiger und wunderschöne Frauen und Männer, die stärker als Ochsen sind... und das alles wird Ihnen unter der Schirmherrschaft des großzügigen Dorn Fili präsentiert.« Die Menge jubelte, und Garvin ließ seine Peitsche zweimal knallen. Als die Clowns ihm zusetzten, versuchte er sich auf das Programm zu konzentrieren, doch er dachte ständig an Penwyth. Wenn er mit dem kostbaren Schatz von Freron zurückkehrte und sich nach der Analyse herausstellte, dass es wirklich
ein kostbarer Schatz war, dann konnten sie ihre Sachen zusammenpacken und endlich von diesem verdammten Planeten verschwinden. »Packt ihn aus«, befahl die Frau, und einer der zwei Männer im Gleiter gehorchte. Er schaltete einen kleinen Sensor ein, strich damit über Njangus Hals und hielt ihn dann vor den offenen Mund des Bewusstlosen. 102 »Schläft wie ein Baby«, stellte er fest. »Biowerte im grünen Bereich.« »Das will ich hoffen«, sagte die Frau. »Unser Auftraggeber hat ausdrücklich betont, dass er ihn lebend will. Und dass wir mächtigen Ärger kriegen, wenn wir es verpatzen und ihn töten.« »Wer ist er?« Die Frau zuckte mit den Schultern. »Irgendeiner von diesen Fremdweltlern, aber ein recht hohes Tier.« »Was haben unsere Auftraggeber mit ihm vor?« »Wenn ich das wüsste«, sagte die Frau. »Ich vermute, es geht um Erpressung.« »Hast du eine Ahnung, für wen wir eigentlich arbeiten?« »Ja«, sagte die Frau. »Deswegen habe ich unseren üblichen Preis verdoppelt. Politiker. Welche von denen, die gerade im Wahlkampf sind.« »Aber das ergibt doch keinen Sinn«, beschwerte sich der Mann an den Kontrollen des Gleiters. »Ich dachte, dieser Ausländerzirkus wäre von ihnen angeheuert worden.« »Nichts, was niemand jemals in der Politik anstellt, ergibt niemals Sinn«, sagte der Mann, der sich mit Njangus bewusstlosem Körper beschäftigte. »Wie lange müssen wir ihn noch bemuttern?« »Er wird von jemandem abgeholt, sobald wir den Treffpunkt erreicht haben.« »Der hoffentlich auch die zweite Hälfte der Credits dabeihat.« »Wofür hältst du mich? Für eine unerfahrene Jungfrau?«, gab die Frau knurrend zurück. »Erdnüsse, Popcorn, Zuckerwatte so weich wie Ihre Träume, Muntermacher, alles für Jung und Alt«, rief Maev, 102 während sie zwischen den Buden umherging und ihre Augen ständig in Bewegung waren. Ein älterer Mann winkte ihr mit einer Banknote, und sie warf ihm eine Tüte Nüsse zu. Banknote und Wechselgeld tauschten die Besitzer. Maev war nicht die Einzige, die mit einem Bauchladen durch die Menge zog. Einige waren echte Süßwarenverkäufer, andere gehörten ebenfalls zur Sicherheitstruppe. Der Bärendresseur drehte sich um, als der dürre Mann seine winzige Kabine betrat, die in der Nähe eines Eingangs lag. Ihm blieb noch die Zeit, erschrocken zu keuchen, bevor das Messer des Mannes in sein Herz drang. Seinem Kollegen hatte man bereits im Rummel aufgelauert und seine Leiche von der Bildfläche verschwinden lassen.
Der Mann schob die Leiche des Dresseurs unter die Konsole und musterte die Sensoren. Er hatte sich die acht letzten Vorstellungen des Zirkus angesehen und sich nur auf die Roboterbären konzentriert. Die übrige Zeit hatte er damit verbracht, die Funktionen der Fernbedienung zu erlernen. Als er den Helm aufsetzte, der ihm die Perspektive der künstlichen Bären vermittelte, erkannte er, dass sich diese Anlage nicht allzu sehr von der unterschied, an der er geübt hatte. Es würde ihm keine Schwierigkeiten bereiten, seinen Auftrag auszuführen. Er drückte ein paar Tasten, und ein kleiner Bildschirm zeigte ihm die zwei Bären im völlig überflüssigen Käfig, der hinter den Kulissen stand. Als er die Kontrollen bediente, rührte sich erst der eine und dann auch der andere Bär. 103 Einer stand auf, hob die Vordertatzen und lief vor und zurück. Der Mann war bereit. Danfin Froude, der als trauriger Clown geschminkt war, schaute sehnsüchtig zu Kekri Katun hinüber, die ihm zulächelte. Er kam näher, und mit einer Miene, in der alles Leid dieser Welt lag, wollte er nach ihrer Hand greifen, doch kurz davor fiel er auf den Hintern. Katun bemerkte nichts von Ristori, der von irgendwo herangeschlichen kam, mit lüsternem Blick und irre zuckenden Augenbrauen. Seine Hände näherten sich ihrem Hintern, doch dann wirbelte sie herum, packte ihn am Kragen ‐ genauer gesagt, am Geschirr, das er unter der zerlumpten Kleidung trug ‐ und warf ihn hinauf zu den Sicherheitsgravs. Froude, der jetzt noch unglücklicher aussah, war auf der Bank in sich zusammengesunken. Katun ging zu ihm, setzte sich neben ihn und streichelte seine Hand. Ristori schwebte durch die Antigravfelder herab und näherte sich dem Paar erneut von hinten. Diesmal reagierte Froude zuerst, packte Ristori und lieferte sich eine Rauferei mit ihm. Sie schlugen mit Fäusten, Gummiknüppeln, einem großen Ball und anderen möglichen und unmöglichen Dingen aufeinander ein. Rundherum tauchten Clowns auf, die die Showgirls behelligten oder von ihnen behelligt wurden. Kekri sah, wie Ben Dill in seiner Rolle als starker Mann vorbeistolzierte. Sie musterte ihn interessiert und bemerkte dann, wie Garvin sie aus der Manege beobachtete. Langsam und betont leckte sie sich einen Finger. Garvin wandte hastig den Blick ab, und Katun lachte leise. 103 Es waren nette Leute, dachte sie. Aber sie hatten keine Ahnung. Ihr Auftraggeber hatte sie vorgewarnt, dass man sie filzen würde, also hatte sie nichts mit an Bord der Big Bertha genommen. Sie hatte hier und dort etwas Puder verstreut und anschließend die Spuren entdeckt, die ihr bestätigten, dass ihr Gepäck durchsucht worden war.
In jener Nacht war sie in den Rummel gegangen, wie man sie angewiesen hatte. Dort war ein Mann auf sie zugekommen, der das verabredete Schlüsselwort geflüstert und ihr einen kleinen kompakten Koffer überreicht hatte. Im Koffer befand sich ein kleiner, aber leistungsstarker Kom, dessen Reichweite sich auf das ganze System erstreckte. Sie konnte nicht einschätzen, wie nützlich das Gerät für sie sein würde, aber sie vermutete, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Signal vom Abholkommando empfangen würde, das das Schiff verfolgen sollte. Dann würde man ihr neue Anweisungen geben oder sie nach Informationen über die wahren Absichten des Zirkus fragen, nach allem, was sie Garvin bis dahin hatte entlocken können. Es musste etwas Geheimes hinter der Sache stecken, weil man ansonsten nie auf die Idee gekommen wäre, ihr Gepäck zu durchsuchen. Kekri Katun schaltete diesen Sektor ihres Geistes aus und konzentrierte sich darauf, Rad zu schlagen und ihren Favoriten Froude anzufeuern. Dieser hatte endlich Ristori zu Boden gerungen und sprang auf seinem Brustkorb auf und ab. Dann nahm er die große Frau in die Arme, und mit Hilfe eines Gravs unter seiner weiten Kleidung trug er sie davon, während das Publikum begeistert jubelte. 104 Auf der Brücke der Big Bertha blickte ein Techniker auf einen Bildschirm und reagierte. Einer der kleinen Peilsender entfernte sich und hatte fast den Rand des Schirms erreicht. Er beugte sich über seine Kontrollen, stellte den Bildausschnitt neu ein und rief nach dem Wachoffizier. »Identifikation?«, fragte die Frau. »Es ist Yoshitaro.« »Allat im Rollstuhl! Ich sage lieber dem Boss Bescheid... vorausgesetzt, dieser durchtriebene Mistkerl stellt nicht gerade etwas an, von dem niemand wissen soll.« Der Offizier ging zu einem anderen Techniker und wies ihn an, Kontakt mit dem winzigen Kom in Garvins Ohr aufzunehmen ... »Kann er das Gewicht heben? Noch nie hat es jemand geschafft, eintausend Kilo zu stemmen, aber der Mächtige Ben wird es hier und jetzt vor Ihren Augen versuchen«, prahlte der Ansager. »Wir wollen ihn gemeinsam anfeuern und Dill, dem menschlichen Kraftwerk, all unsere Energie zufließen lassen.« Dill, der ein rosafarbenes Sporttrikot und Chromringe um die Oberarme trug, bückte sich, atmete tief durch und überzeugte sich, dass die Graveinheiten in den enormen Gewichten eingeschaltet waren. Dann griff er nach der Hantel. Er hob sie ein paar Zentimeter vom Boden hoch, bevor er die Gewichte wieder herunterkrachen ließ. Er versuchte es erneut, und auch diesmal seufzte die Menge mitfühlend. Sämtliche Muskeln angespannt, konnte er schließlich die Hantel stemmen. Wankend tappte er ein paar Schritte vor und zurück, dann schaltete er die Gravs ab und ließ den Griff los. 104
Die Gewichte krachten auf den Boden, und der Lärm übertönte die Rufe der Ikarier in der zentralen Manege. Dill wollte sich gerade verbeugen und zum Finale seiner Vorstellung übergehen, als es in seinem Ohrhörer piepte. »Notfall. Auf Posten!« Der Ansager starrte verdutzt, als Dill aus dem Ring sprang und zu einem der Korridore rannte, die ins Schiff führten. Im nächsten Moment hatte er sich gefasst und improvisierte eine Geschichte über die Akrobaten, die in der mittleren Manege auf den Füßen eines auf dem Rücken liegenden Untermannes balancierten. Andere ausgewählte Leute aus der Aufklärertruppe verließen plötzlich ihre Arbeitsplätze oder stiegen aus der Vorführung aus und folgten Dill. Die Sicherheitskräfte überall im Schiff hielten sich bereit und warteten ab, was als Nächstes geschehen würde. Darod Montagna konzentrierte sich darauf, nicht vom Pferd zu fallen, als die Tiere unter tosendem Applaus aus der Manege trabten. Sie hatte keine Ahnung, was passiert war. Automatisch winkte sie dem Bärendresseur vor seiner Kabine zu, einem netten Kerl, der ihr dabei geholfen hatte, die Pferde zu striegeln. Es überraschte sie ein wenig, dass er mit seinem Helm nach draußen gegangen war, statt in der Kabine vor seiner Konsole zu kauern. Für einen kurzen Moment irritierte es sie, dass er ihren Gruß nicht erwiderte, aber dann machte sie sich klar, dass er wahrschein‐ lich ganz mit seinen Bären beschäftigt war, die als Nächste an der Reihe waren. »Und nun, meine Damen und Herren«, rief Garvin, »kommt der Mann, dem Sie diese Show zu verdanken haben, der 105 Mann der Stunde, der Mann des Jahres, Dorn Fili, Ihr künftiger Premierminister!« Die Mitarbeiter auf den Tribünen waren aufgesprungen und jubelten. Im nächsten Moment erstarrte Garvin. Er neigte den Kopf zur Seite und riss die Augen auf, als er die Nachricht über Njangu hörte. Fili winkte seinen Anhängern zu und genoss strahlend den immer lauter werdenden Applaus. Der dürre Mann berührte verschiedene Sensoren, und der Roboter, den Njangu Klein‐Doni genannt hatte, stand auf, öffnete die Tür seines Käfigs und stapfte hinaus. Dann ließ er sich auf alle viere fallen und bewegte sich auf die mittlere Manege zu, in der Garvin und Fili standen. »Meine Freunde!« Filis Stimme hallte durch den Frachtraum. »Ihr alle seid meine Freunde! Heute Abend feiern wir! Manche könnten meinen, der Zeitpunkt zum Feiern wäre etwas zu früh. Aber ich bin...« Hoch über ihnen gähnte Lir, während sie am Trapez hin‐und herschaukelte und auf den nächsten Auftritt der Akrobaten wartete. Doch dann sah sie den Roboterbären, der auf Garvin und den Politiker zurannte.
Etwas stimmte nicht, und Lir verfluchte den Umstand, dass sie unter ihrer engen Strumpfhose keine Waffe verstecken konnte. Sie ließ sich fallen und stürzte auf die Sicherheitsgravs zu, obwohl sie wusste, dass sie viel zu spät kommen würde. Ein kleines Mädchen sah sich in Maevs Bauchladen um und versuchte sich zu entscheiden, was es wollte, als Maev den Bären sah. 106 »Hier, meine Kleine«, sagte sie und nahm den Bauchladen ab. »Nimm alles und hab viel Spaß damit!« Mit der Waffe in der Hand rannte sie zum Gang zwischen den Zuschauerreihen und hinunter zur Manege. »... zuversichtlich, dass wir den Sieg erleben werden. Bis dahin ist es nur noch eine Woche, und...« Der Bär war zehn Meter entfernt, als Garvin, der sich gerade wegschleichen und auf seinen Notfallposten begeben wollte, ihn sah. Das Tier erhob sich auf die Hinterbeine und lief auf Fili zu, die Arme ausgebreitet, um ihn zu packen. Garvins Hand glitt unter seinen Mantel und tauchte mit einer kleinen Pistole wieder auf. Er schoss Klein‐Doni zweimal in den Kopf, ohne etwas damit zu bewirken, dann stürzte er sich von der Seite auf den Bären, um ihn zu Boden zu werfen. Als Kapellmeister Raf Aterton die ersten Schreie und Schüsse hörte, fluchte er und nahm einem Musiker die Trompete ab, um den »Friedensmarsch« anzustimmen. Die anderen Musiker schauten für einen Moment verdutzt drein, dann begriffen sie und spielten mit. Und überall im Schiff gingen die Mitarbeiter des Zirkus auf volle Alarmbereitschaft. Doni rollte sich ab, kam wieder auf die Beine und folgte Fili, der zu einem Trapezmast lief. Er griff nach den Kletterringen und zog sich daran hoch. Dann hatte Doni ihn gepackt und zerrte ihn herunter. Fili schrie, und überall waren Arbeiter, die mit Stangen, Stühlen und anderen Dingen auf den Roboter einschlugen. 106 Mit der Pistole im Anschlag hatte Maev die Kabine des Bärendresseurs erreicht. Sie feuerte einen Schuss ab, der den größten Teil des Helmes und Kopfes des Dresseurs zerfetzte. Der knochendürre Mann zuckte und stürzte schließlich tot zu Boden. Klein‐Doni erstarrte plötzlich und fiel um. Beinahe hätte er einen Arbeiter unter sich begraben. Fili fiel auf den Bären. Garvin untersuchte den Roboter, der nun offenbar deaktiviert war. Er zog Fili wieder auf die Beine und vergewisserte sich, dass das Kehlmikro des Politikers noch funktionierte. »Reden Sie weiter!«, schrie er ihm zu. »Sorgen Sie für Ruhe. Eine Panik können wir jetzt nicht gebrauchen.«
Fili stand mit weit aufgerissenen Augen da und öffnete den Mund. Dann schloss er ihn wieder. Er öffnete ihn erneut, und auch diesmal brachte er keinen Ton heraus. Erik Penwyth zog sich eine weiße Jacke über die dunkle Hose, die er in Frerons Apartment getragen hatte, lief in den Frachtraum und steckte sich ein Kehlmikro an. »Clowns, Clowns, Clowns, wir haben sie, aber wir wollen sie nicht haben«, rief er. Alle Clowns des Zirkus liefen hinter ihm in die Manege, gefolgt von den Bodenakrobaten. Die Clowns verteilten sich auf den Zuschauertribünen, und die Akrobaten turnten auf den Einfassungen der Manegen herum. Das Publikum versuchte zu erkennen, was geschehen war, ob Fili verletzt war. Endlich hatte er seine Stimme wiedergefunden. 107 »Alles ist... in Ordnung«, sagte er mit leicht quieksender Stimme, die dann jedoch immer sicherer wurde. »Das war eine kleine Showeinlage, die leider nicht richtig funktioniert hat... Ich denke, ich hätte wissen müssen, dass ich nicht für das Zirkusleben geschaffen bin. Aber sehen Sie sich meine Freunde hier an, die wahre Zirkusleute sind!« Sein Lachen klang fast echt, und die Menge beruhigte sich ein wenig. Ein Clowngleiter sauste auf Fili zu, und er verschwand in der Horde der Spaßmacher, während zwei kräftige Männer Klein‐Donis »Leiche« in das Fahrzeug verluden, das unmittelbar darauf abhob. Ein zweiter Gleiter schaffte unbemerkt die Leiche des dürren Mannes fort. »Clowns«, sagte Penwyth, während Aterton mit dem Dirigentenstab auf den Notenständer schlug und der »Friedensmarsch« verstummte. »Ich habe sie versprochen, und Sie werden sie kriegen. Bitte nehmen Sie einen oder zwei von ihnen mit nach Hause. Als Nächstes kommen die Hochseilartisten, die wirklich und wahrhaftig Artisten sind. Auf jeden Fall sind diese Männer und Frauen viel mutiger als ich!« Eine Frau sprang ab, kurz darauf eine zweite, und die raʹfelan an den gegenüberliegenden Masten fingen sie auf und warfen sie zurück. Lir kletterte wieder hinauf, griff sich ein Trapez, schwang sich hin und her, landete jedes Mal ein Stück höher, bis sie eine Plattform erreichte und die Show wieder ihren geplanten Verlauf nahm. »Ich habe sie«, meldete Boursier, deren Aksai hoch über dem Zentrum der Hauptstadt kreiste. »Sie landen auf dem Dach eines Hochhauses. Sieht nach einem Wohngebäude aus. Sie tragen eine Kiste, und niemand wartet auf sie. Jetzt 107 gehen sie nach drinnen. Ein Wächter ist auf dem Dach zurückgeblieben.« »Beobachtung fortsetzen«, lautete ihr neuer Befehl. »Ein offener blau‐weißer Zivilgleiter ist mit dem Voraustrupp unterwegs. Sie werden näher rangehen und die Lage erkunden.«
Im Raum drängten sich Soldaten der Aufklärungskompanie. »Also«, sagte Garvin. »Wir werden es kurz machen. Irgendjemand hat vor kurzem Njangu entführt. Ich weiß aber nicht, ob es der gleiche Irgendjemand ist, der versucht hat, Fili zu erledigen. Wir haben seine Position, in wenigen Au‐ genblicken gibt es nähere Einzelheiten, und dann werden wir ihn unverzüglich herausholen.« Er blickte sich im Raum um. »Als Erstes will ich Ben und Monique... dich nicht, Alikhan... dich auch nicht, Jil... nein, doch! Vielleicht brauchen wir einen Sanitäter.« Er zögerte, als er Darods Blick sah. Er wollte es nicht tun, aber er konnte nicht anders. »Außerdem Montagna. Und ich. Was die...« Ein Lautsprecher verkündete: »Boss, ich kann jetzt den Gleiter mit dem Voraustrupp durchstellen.« »Ich bitte darum.« Der Gleiter ging unter großem Lärm tiefer, während Gesichter an den Fenstern des Apartmenthochhauses erschienen und auf die Betrunkenen starrten, die laut grölten und jedem in Sichtweite zuprosteten. »Ich habe Njangu«, sagte einer der Betrunkenen, der zum üblichen Bereitschaftsteam der Aufklärer gehörte. 108 »Oder zumindest seinen Peilsender. Das Gebäude ist sechzig Stockwerke hoch, und er ist im fünften unter dem Dach. Position konstant, also schätze ich, dass man ihn vorerst nicht woanders hinbringen will.« »Verstanden«, antwortete die Kommunikationszentrale der Big Bertha. »Beziehen Sie Stellung in fünf‐null und warten Sie auf weitere Befehle. Chaka, wenn sich irgendjemand von außen einzumischen versucht, schalten Sie ihn aus. Egal wer. Ich wiederhole, egal wer.« Das Mikro klickte zweimal, der Gleiter entfernte sich und nahm Kurs auf das Nana‐Schiff. »Also gut«, sagte Garvin. »Er ist in einem der oberen Stockwerke, und es gibt eine Wache. Wir müssen auf dem Dach landen, den Wachmann ausschalten sowie eventuell weitere Personen, die bei ihm sind, und dann...« »Entschuldigen Sie bitte«, war eine höfliche Stimme zu hören, und Garvin fragte sich, wer Jiang Yuan Fong, einem Zivilisten, den Zugang gestattet hatte. »Ich habe gehört, worum es geht, und wenn Mr. Yoshitaro in einem Hochhaus gefangen gehalten wird und Sie beabsichtigen, ihn zu retten, wäre es vielleicht ratsamer, den Wachmann auf dem Dach unbehelligt zu lassen und durch eines der Fenster auf der Seite in das Gebäude einzudringen, und zwar durch jemanden, der über akrobatisches Geschick verfügt. Zum Beispiel durch mich und vielleicht einen der raʹfelan.« Garvin dachte kurz nach, dann nickte er. »Gut. Haben Sie schon einmal eine Waffe benutzt, Mr. Fong?« »Ein paar Mal war es notwendig, meine Familie zu verteidigen. Das heißt also, ja.« 108
»Gut. Jemand soll ihm einen Blaster geben, und jemand anderer schnappt sich den nächsten Oktopus. Wir nehmen einen unserer Frachttransporter. Abmarsch!« Der letzte Elefant schritt trompetend durch den Ausgang, dann ging das Licht an. »Das warʹs, meine Damen und Herren«, rief Penwyth. »Es war ein wundervoller Abend. Wir hatten noch nie ein besseres Publikum.« Die Kapelle spielte den Zapfenstreich, und die noch übrigen Verkäufer stürzten sich noch einmal in die Menge. Die Mutter eines kleinen Mädchens wandte sich an einen Mann mit einem Bauchladen. »Entschuldigen Sie bitte...« »Ja?«, sagte der Mann, dann erinnerte er sich an die Regeln des guten Benehmens. »Verzeihung, ich meinte, ja, Madam.« »Eine Ihrer Verkäuferinnen hat Mara ihr gesamtes Sortiment an Süßigkeiten dagelassen und ihr gesagt, dass sie sich nehmen kann, was sie will. Aber das können wir nicht tun, und sie ist nicht mehr zurückgekommen. Was soll ich jetzt machen?« »Ganz einfach«, sagte der Verkäufer. »Wenn man Ihnen etwas geschenkt hat, gehört es Ihnen.« Er zwang sich, das kleine Mädchen lächelnd anzusehen. »Und behalten Sie unseren Zirkus in guter Erinnerung.« »Oh, vielen Dank«, sagte die Frau. »Sie sind wirklich sehr nett, Sie alle. Ich hoffe, bei dem Zwischenfall wurde niemand verletzt.« »Nein, Madam«, sagte der Verkäufer. »Alles ist bestens.« Das Mädchen, dessen Augen größer als die eines raʹfelan 109 waren, wurde nach draußen gebracht, und der Sicherheitsmann, der mit einer Hand die Waffe unter seiner Jacke festhielt, setzte seine Hauptaufgabe fort, die Menge im Auge zu behalten. Die Luke des Frachtgleiters stand offen, und das Team stieg ein. Der große raʹfelan schwang sich mühelos hinein und nahm neben Alikhan Platz. Der Musth trug seine Kampfrüstung. Garvin schnallte seinen Einsatzgürtel um und stieg vorne ein. »Es geht los«, befahl er, und Rennender Bär nickte. Die Luken schlossen sich, das obere Hangartor der Big Bertha öffnete sich, und der Gleiter raste hinaus, der Hauptstadt entgegen. »Das Spiel könnte recht interessant werden«, meldete Chaka. »Ein weiterer Gleiter, diesmal ein etwas schickeres Modell, ist gerade auf dem Dach gelandet. Zwei Leute sind ausgestiegen, wurden vom Wachmann begrüßt und sind hineingegangen.« Garvin schaltete den Lautsprecher in der Gleiterkabine ab. »Sie haben gehört, was der Mann gesagt hat. Diese Leute wollen Njangu entweder verhören oder ihn abholen. Also müssen wir jetzt schnell zugreifen.« »In drei Minuten sind wir da«, sagte Rennender Bär.
Der Frachtgleiter kreiste hoch über dem Gebäude. »Alles klar«, meldete Chaka. »Ich sende Ihnen jetzt alles, was ich über das Hochhaus habe.« »Daten empfangen«, sagte Garvin. »Wir haben zwei Glei 110 ter auf dem Dach. Zwei Piloten pro Fahrzeug und der Wachposten. Unser Mann befindet sich im vierten Apartment... da ist eine Lücke zwischen den Wohneinheiten, die man von hier aus erkennen kann.« »Okay.« »Wie gehen wir vor, Sir?« Garvin erkannte auf einer Seite des Gebäudes durch das dicke Glas, mit dem die Fassade verkleidet war, eine Nottreppe. »Sie halten sich bereit und schalten die Gleiter und ihre Besatzung aus, wenn ich das Kommando gebe. Wir gehen von der Seite rein, ein Stockwerk höher, damit man nicht durch unseren Lärm auf uns aufmerksam wird.« »Verstanden, Sir.« Garvin beugte sich zu Rennender Bär hinüber. »Kannst du uns mit offener Luke neben diese Wand mit dem Notausgang bringen, im sechsundfünfzigsten Stock?« »Einhändig und während ich mir in der Nase bohre«, sagte Rennender Bär. »Aber nur, wenn es nicht zu viel Aufwind gibt.« »Mach es mit beiden Händen, und zwar jetzt.« Der Indianer nickte, und der Gleiter wurde zu einem Schweber, während die Türen aufklappten. Garvin zog ein kleines Röhrchen aus seinem Gürtel, riss es auf und entrollte die flache Sprengladung von etwa fünfzehn Zentimetern Durchmesser. »Mr. Fong, können Sie zu diesem Fenster hinüberspringen und sich dort lange genug halten, um das hier mitten auf die Scheibe zu drücken? Es klebt von selbst.« »Das kann ich.« Garvin gab hastig weitere Befehle, während sich der Glei 110 ter dem Gebäude näherte. Das Gefährt wurde von nächtlichen Aufwinden durchgeschüttelt. »Näher«, sagte Garvin, und Rennender Bär kaute auf der Unterlippe, während er sich auf seine Aufgabe konzentrierte. Fong hielt sich am Rahmen der Luke des Gleiters fest. »Jetzt!« Fong flog hinüber und landete auf dem winzigen Fenstersims. Er glitt aus, ging in die Knie, fand mit der freien Hand einen Halt und hatte sich gesichert. Er drückte die Sprengladung auf die Fensterscheibe, dann blickte er sich zum Gleiter um, machte sich bereit und stieß sich ab. Er verfehlte das Fahrzeug, aber ein Tentakel wartete bereits, fing ihn auf und schwang ihn zurück an Bord.
»Erzählen Sie bitte meiner Frau nichts von dem, was gerade passiert ist«, sagte er, als er einen tiefen Atemzug nahm. »Offensichtlich sollte ich mehr Zeit in mein Training investieren.« Garvin, der schwerer als der Akrobat atmete, drückte den Zünder des Sprengsatzes, der mit einem dumpfen Knall detonierte. Glas regnete in silbrig schillernden Scherben auf die Straße hinunter. »Los!«, befahl Garvin dem raʹfelan. Der Alien hielt sich am Gleiter fest und schwang sich hinaus. Dann griff er mit zwei Tentakeln nach dem Fensterrahmen und hielt die Verbindung. Schließlich griff er mit den übrigen zwei Gliedmaßen nach den Menschen, die das Einsatzkommando bildeten, und setzte sie im Treppenhaus ab. Dill und Alikhan warteten nicht, bis alle Teammitglieder eingetroffen waren, sondern machten sich sofort auf den Weg ins nächsttiefere Stockwerk. Die Tür war verriegelt, aber nicht lange. Dill packte den Knauf und riss ihn 111 ab. Murmelnd schob er die Finger in das Loch, dann ging die Tür auf. Inzwischen hatten sich die anderen hinter ihnen eingefunden, sodass sie nun gemeinsam in den Korridor vorstießen. »Immer noch weggetreten«, sagte der vornehm wirkende Mann im grauen Mantel. Njangu Yoshitaro lag auf der luxuriösen Couch in der Wohnung, die Augen geschlossen, flach atmend und mit einem sanften Lächeln auf dem Ge‐ sicht. »Er müsste jeden Augenblick aufwachen«, sagte die Frau, die das Kidnapperteam anführte. »Ich kenne mich mit der Dosierung aus. Damit verdienen wir unseren Lebensunterhalt, wissen Sie. Schließlich wird für Leichen in der Regel kein Lösegeld bezahlt.« »Wir warten, bis er zu sich kommt, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Er zog ein dickes Lederetui unter dem Arm hervor. Darin befanden sich Waffen für ihn und seinen Begleiter. Die zwei Partner der Frau traten zur Seite. Sie hielten die Hände völlig ruhig, aber in der Nähe ihrer Hosentaschen. »Sie können das Geld zählen, während wir warten«, sagte der vornehme Mann. »Das werden wir tun«, sagte die Frau. »Und Sie können Ihre Artillerie wegstecken. Wir gehören nicht zu den Leuten, die anschließend...« Die Wohnungstür flog krachend auf, und ein Albtraum drang in den Raum ein, ein pelziges Monstrum, das größer als ein Mensch war. Der Kopf schlängelte vor und zurück, die Augen leuchteten rot, und es hielt eine seltsam 111 geformte Pistole in einer Tatze. Es knallte, und eine ungewöhnlich große Patrone traf den vornehmen Mann mitten in die Brust. Sie hinterließ ein kopfgroßes Loch, an dessen Rändern sich seltsame graue Insekten bewegten und sich tiefer in die Wunde hineinfraßen.
Hinter dem Monstrum kam eine Frau in enger Strumpfhose, die einen Blaster hielt. Sie feuerte, und der Begleiter des Mannes wurde herumgewirbelt und zu Boden geworfen. Als sie ein zweites Mal feuerte, hatte die Frau keinen Kopf mehr. Einer ihrer Partner wollte abhauen, aber es gab keinen Fluchtweg mehr. Ein großer, fast kahlköpfiger Mann packte ihn wütend am Kragen und schleuderte ihn mit dem Kopf voran gegen die Wand. Es knackte, dann brach er zusammen und rührte sich nicht mehr. Der letzte der Entführer hatte die Hände erhoben und flehte stammelnd um Gnade. Garvin schoss ihm zweimal in die Brust. Von oben waren Explosionen zu hören, als Chaka die Gleiter auf dem Dach angriff. Mahim kniete über Njangu und fühlte nach seinem Puls, während andere Mitglieder des Einsatzkommandos schnell die Leichen und den Raum durchsuchten. »Er lebt. Ich glaube...« Njangu öffnete die Augen. »Natürlich lebe ich«, sagte er mit belegter Stimme und blickte sich gähnend um. »Auf was für einer Party bin ich hier eigentlich gelandet?« 112
10 Garvin nahm Darod beiseite, als sie aus dem Gleiter stiegen. Dill und Alikhan trugen die Bahre, auf der Njangu lag, zur Krankenabteilung der Big Bertha. Mahim folgte ihnen. Er hatte den größten Teil des Fluges damit verbracht, die Dokumente durchzusehen, die man dem vornehmen Mann und den Toten abgenommen hatte. »Du hast mal etwas gesagt, dass Lir und du eine Idee hättet, wie man ein böses kleines Ding einsetzen könnte, mit dem sich Probleme auf recht drastische Weise lösen ließen. Oder wolltest du mich damit nur auf den Arm nehmen?« »Über solche Sachen reiße ich keine Witze«, rief Montagna entrüstet. »Lir ist diejenige, die sich sachkundig gemacht hat, mit meiner Hilfe. Ich finde, dieser verdammte Planet könnte ein bisschen Krach vertragen.« »Dieser Kerl, der aussah, als wäre er der Chef dieser Verbrechertruppe, besitzt zufällig einen Mitgliedsausweis der Demokratisten.« »Nette Welt, wie ich bereits erwähnte.« Darod versuchte so zu tun, als wäre sie nicht schockiert. »Die Typen, für die wir arbeiten sollen, legen uns gleichzeitig aufs Kreuz. Äußerst durchtrieben.« »Ja«, sagte Garvin. »Und du hattest auch eine Idee, wo man diese bösen kleinen Dinger deponieren könnte und zu welchem genauen Zeitpunkt sie zum Leben erweckt werden sollten.« »Aber klar doch. Eine ganz einfache Sache.«
»Dann zieh die Sache durch. Ich hab die Schnauze voll von diesen Idioten. Gestrichen.« 113 Bei Sonnenaufgang war der Rummel abgebaut und die komplette Ausrüstung des Zirkus an Bord gebracht worden. Die Big Bertha stand den ganzen Tag lang auf dem Landefeld. Sämtliche Schotten waren geschlossen, und sie reagierte auf keinen Kontaktversuch. Alle drei Aksai kreisten bedrohlich am Himmel und stießen zu den zwei Mediengleitern hinunter, die sich dem Raumschiff nähern wollten. Um Mitternacht verließ ein kleiner Gleiter das Schiff und raste mit hoher Geschwindigkeit unterhalb des Radarhorizonts im Tiefflug auf die Hauptstadt zu. Er hielt einen Moment lang über einem großen weißen Gebäude auf einem Hügel inne, und zwei schwarz gekleidete Frauen seilten sich mit schwerem Gepäck zum Dach ab. Sie brachen ein Fenster auf und verschwanden im Innern des Gebäudes. Eine Stunde später kamen sie wieder heraus, der Gleiter holte sie ab und brachte sie zur Big Bertha zurück. Die Wachposten auf dem Gelände des Abgeordnetenpalasts bemerkten nichts von diesen Vorgängen. Eine Stunde vor Sonnenaufgang startete die Big Bertha vom Landefeld, ohne sich eine Startgenehmigung zu holen oder die Raumhafenverwaltung zu informieren, und verließ das Tiborg‐System. 113
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Cayle / Cayle IV Das Cayle‐System, das einst die bedeutendste Raumschiffswerft der Konföderation beheimatet hatte, kam Garvin nun wie eine aufgegebene Fabrik vor. Drei der äußeren Planeten dienten angeblich als Bergwerke für Cayle IV, die lebensfreundlichste Welt und das Zentrum des Raumschiffbaus, aber die Big Bertha registrierte nur dort Aktivitäten, die zudem nicht besonders auffällig waren. Cayle IV war ein grauer Planet, dachte Garvin, doch dann korrigierte er sich: ein grau‐grüner Planet. Ausgedehnte Wälder überzogen die verschneiten Berge, und in den Tälern war es freundlich grün, auch wenn alles einen winterlichen Eindruck machte. Die meisten Städte, die aus grauen Natursteinen erbaut waren, lagen an den breiten Flüssen des Planeten.
In den Raumhäfen standen fertige oder halb fertige Raumschiffe verschiedener Typen der Konföderation. Einige wurden trotz Korrosionsanstrich von großen Rostflecken geziert. Njangu fiel ein uraltes Gedicht ein, als die Big Bertha sich dem Planeten näherte, aber er erinnerte sich nicht mehr, wo er die Zeilen gehört oder gelesen hatte oder wie der Name des Dichters lautete. Meine Mutter trug mich in die Städte hinein, Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder Wird in mir bis zu meinem Absterben sein. »Was murmelst du da?«, fragte Garvin. »Antike Lyrik.« »Klingt aber nicht so, als würde es sich richtig reimen«, sagte Garvin misstrauisch. »Das kann kein besonders guter Dichter gewesen sein.« »Wahrscheinlich.« Die Big Bertha umkreiste Cayle IV dreimal, während sie auf allen freien und genehmigten Frequenzen sendete ‐Zirkusmusik, brüllende Raubkatzen, trompetende Elefanten, vollmundige Ankündigungen ‐, bis nur noch die Tauben und Einsiedler nicht wissen konnten, dass ein Zirkus im Anmarsch war. Die Nana‐Schiffe flogen über die größten Straßen der größten Städte hinweg und ließen überall Flugblätter herabregnen. Garvin nahm freundlich die Beschwerdeanrufe der Stadtverwaltungen entgegen und versprach, jede gefor‐ derte Strafgebühr für die Verschmutzung zu zahlen, vorzugsweise in freien Eintrittskarten. Aksai beteiligten sich an den Regelwidrigkeiten, zur noch größeren Verärgerung der Politiker und zur noch größeren Freude der Kinder. Im Tiefflug strichen sie mit langen Transparenten über die Städte hinweg, und als der Tag in die Nacht überging, leuchteten sie von selbst auf: LÖWEN! BÄREN! TIGER! ELEFANTEN! PFERDE! WUNDERSCHÖNE FRAUEN! FREMDARTIGE ALIENS! AKROBATEN! KRAFTPROTZE! CLOWNS! TODESMUTIGE KUNSTSTÜCKE!
Bei der letzten Umkreisung des Planeten gab die Big Bertha ihre genauen Absichten bekannt und näherte sich dann 114 der Hauptstadt Pendu, über der sie eine Weile kreuzte, bis sie langsam zum nahe gelegenen Raumhafen flog und zur Landung ansetzte. Menschenmassen strömten herbei, und Scheinwerfer verfolgten das monströse Schiff, während es sich zu Boden senkte. Zivile Gleiter rasten über die Big Bertha hinweg, was Captain Liskeard zu mürrischem Gemurmel veranlasste. Die Rampe der Hauptschleuse glitt nach unten, und Clowns und Liliputaner tollten nach draußen. Dann kamen Garvin in seiner weißen Uniform und Kekri Katun heraus, die ein weißes Etwas trug, das von farbigen Lichtern umtanzt wurde und nicht mehr als unbedingt nötig verdeckte. Sie begrüßten die eingetroffenen Würdenträger, einschließlich des Planetenoberhaupts Graav
Ganeel, ein traurig dreinblickender Mann mittleren Alters mit Bauchansatz. Garvin fand es interessant, wie dieser Obermotz auftrat, in Anbetracht der Tatsache, dass es in diesen Zeiten nicht mehr allzu viel interstellare Raumfahrt gab. Njangu dagegen bemerkte, dass Ganeel mit nur einem Assistenten und einem Leibwächter, der gleichzeitig die Rolle seines Chauffeurs spielte, aufge‐ kreuzt war. Entweder war er kein Autokrat, oder er hatte die Lage viel mehr unter Kontrolle, als es im Tiborg‐System der Fall war. Alle begrüßten sich gegenseitig, und Garvin betonte, wie aufgeregt sie alle wären und wie sehr sie sich darum bemühen würden, dass ihr Besuch in die Geschichte einginge. Vor Sonnenaufgang hatte Erik Penwyth eine riesige Freifläche am Rand von Pendu gemietet, und nun flogen die 115 schweren Gleiter hin und her, um Zeltbahnen, die Buden des Rummels und Arbeiter zu transportieren. Die ersten Frühaufsteher und Schaulustigen versammelten sich. Falls heute Schultag war ‐ Garvin hatte vergessen, danach zu fragen ‐, würden die Erziehungsberechtigten der Stadt Wutanfälle bekommen. Aber wohl kaum, wenn sie selbst die Straßen säumten, anscheinend zusammen mit sämtlichen Kindern, die auf Cayle lebten, während Gleiter die Botschaft verkündeten, dass der Umzug in Kürze beginnen würde. Und schon bald ging es los. Tiere zogen in schwebenden Käfigen vorbei, Elefanten marschierten zu Fuß, Pferde tänzelten, geritten von Montagna, Kwiek und seinen Frauen, gefolgt von Liliputanern und Clowns, zu Fuß oder in merkwürdigen altertümlichen Fahrzeugen mit Rädern. Dann kamen Atertons Kapelle in zwei Gleitern, Dill als Kraftprotz, die posierenden Showgirls und dazwischen turnende Akrobaten. Ganz vorne stand Garvin in einem offenen schwarzen Gleiter. Auf dem Rücksitz hielten sich, von außen unsichtbar, Njangu und zwei Scharfschützen bereit ‐ nur für alle Fälle. Sie erreichten ohne Zwischenfall den Platz, wo gerade die Zelte hochgezogen wurden. Als sein Gleiter gelandet war, stieg Garvin aus, verbeugte sich vor den neugierigen, ehrfürchtigen Zaungästen und schnupperte. »Ich liebe den Geruch von Zeltbahnen am frühen Morgen«, sagte er glücklich. Bereits am frühen Nachmittag waren die Vorstellungen für eine ganze Woche ausverkauft, und immer mehr Anfragen kamen herein. 115 »Wie es scheint, gibt es in dieser Gegend ansonsten nicht viel zu erleben«, sagte Njangu, als er sich die Zahlen ansah, die über die Bildschirme im »Kassenwagen« wanderten. In Wirklichkeit war es eine Kabine an Bord der Big Bertha, aber die Kasse eines Zirkus befand sich traditionell in einem eigenen Wagen.
Sopi Midt grinste. »So scheint es in der Tat. Schauen Sie sich an, wie viel Lobi hereinströmt! Verdammt, aber ich wünschte, Jaansma würde mir erlauben, meine Geschäfte ohne Einschränkungen zu führen. Ich könnte diesen Dorf‐ trotteln beste Unterhaltung bieten. Haben Sie eine Vorstellung, wie reich wir damit werden könnten?« Er sah Yoshitaro mit hoffnungsvollem Blick an. »Keine Chance, Sopi«, sagte Njangu. »Jeder muss irgendwann mal ehrlich werden.« »Und nun kommen unsere in der ganzen Galaxis berühmten Luftakrobaten und ihre geheimnisvollen Aliens, die im Geheimen auf dunklen Welten trainieren, die noch nie ein Mensch gesehen hat«, tönte Garvin. Die Kapelle spielte, und Menschen flogen unter dem Zeltdach hin und her, raʹfelan fingen sie auf, und Holobilder blinkten hier und dort über der Menge auf. Garvin verbeugte sich und ging ab, um seine Kehle zu befeuchten. Er wünschte sich, er wäre nicht so aufgeregt wie all die Kinder in den hastig aufgestellten Extrasitzen vor den Reihen der allgemeinen Tribünen. Etwas mehr Ruhe und Gelassenheit würde seinen Stimmbändern gut tun. Darod wartete außerhalb der Manege auf ihn. »Bleib lieber in der Nähe, Garvin«, sagte sie, während sie ihm ein Glas Energiedrink reichte. »Monique will et 116 was Neues ausprobieren, das ziemlich radikal sein soll. Wenn es klappt, will sie beim nächsten Mal eine eigene Intro.« »Wie gefährlich?« »Viel gefährlicher, als es aussieht«, sagte Darod. »Wunderbar.« Er wusste, dass es keinen Zweck hätte, Lir zurückhalten zu wollen. Also nahm er einen belebenden Schluck und legte einen Arm um Montagna, die sich an ihn kuschelte. Die Kapelle ging zu einem galoppierenden Rhythmus über, als Monique Lir in die zentrale Manege lief. Fleam griff sich ein fünfzig Meter langes Seil, das vom Zentralmast herabhing, ein Arbeiter schlug einen Metallpflock in den Boden, dann zogen zwei andere das Seil straff und knoteten es am Pflock fest. Aterton ließ die Kapelle bis auf einen Trommelwirbel verstummen, die Beleuchtung im Zelt wurde gedämpft und ein Scheinwerferstrahl auf Lir gerichtet. »Es wäre nett gewesen, wenn sie mir gesagt hätte, dass sie etwas vorhat«, flüsterte Garvin. »Über solche Dinge weiß ich gerne Bescheid.« »Sie wollte niemanden damit behelligen, bevor die Nummer steht«, erklärte Darod ihm. »Ich bin begeistert«, erwiderte Garvin mürrisch. »Sie ist außerhalb des Sicherheitsnetzes. Was will sie überhaupt machen?« Monique beantwortete seine Frage, indem sie eine lange Balancierstange aufhob und auf das schräge Seil stieg. Sie hielt sich mit den Zehen fest, die durch die dünne Sohle ihrer Schuhe griffen.
Garvin stellte fest, dass sein Mund schon wieder trocken geworden war, und trank noch einen Schluck. 117 Der Mast schaukelte leicht, und Lir schwankte auf dem Seil, fand jedoch das Gleichgewicht wieder. Sie lief weiter und kam dem zentralen Zeltmast immer näher. Dann war sie nur noch einen Meter entfernt, hüpfte zweimal auf und ab, ließ die Stange fallen und sprang mit einem Salto vom Seil. Die Menge schrie erschrocken auf, doch dann schwang ein langer Tentakel heran, und einer der raʹfelan fing sie auf, warf sie nach oben, wo ein zweiter Alien nach ihr griff und sie an einen Fänger weiterreichte, dessen Trapez gerade den Punkt des weitesten Ausschlags erreicht hatte. Lir wirbelte mit angezogenen Knien durch die Luft. Der Fänger hielt sie an den Händen, dann ließ Lir wieder los, drehte sich erneut, wurde wieder aufgefangen und hing schließlich sicher an der Stange. Garvin stellte fest, dass er eine ganze Weile nicht geatmet hatte, und schnappte nach Luft. »Ein phänomenaler Trick«, sagte er. »Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, sie hätte mir davon erzählt, damit ich die Nummer hätte ankündigen können.« Oder, dachte er, um ihr die verdammten Daumen zu brechen, weil sie auch nur darüber nachgedacht hat. »Wie ich schon sagte, sie wollte keinen großen Wirbel darum machen, falls die Sache schiefgeht«, sagte Darod. »Und wenn sie schiefgegangen wäre?«, fragte Garvin, der es eigentlich gar nicht wissen wollte. »Was hätte sie dann gemacht? Still und leise Sägemehl gefressen?« »Schau mal da drüben, hinter den Musikern, wo der Bärendresseur sitzen würde, wenn wir noch einen hätten.« Darod zeigte hinüber. »Dort steht ein Mann mit einem Antigravprojektor. Sie meinte, er würde schnell genug reagieren, falls sie abstürzt.« 117 »Sie meinte?«, brummte Garvin. »Okay. Wir haben eine neue Attraktion. Aber wir werden die Sicherheitsgravs aktivieren, bevor sie das noch einmal versucht. Man könnte sie unter den Podesten für die Elefanten verstecken. In meiner Manege will ich keine platten Luftakrobaten haben, Punkt. Und kein >Ich glaube, es könnte funktionieren. Sag ihr, dass es ein Befehl ist. Sie ist immer noch eine Soldatin der gottverdammten Legion. Und mein Dienstgrad ist höher als ihr verdammter Arsch. Daran solltest du sie unbedingt erinnern.« Am nächsten Morgen spazierte Garvin in recht fröhlicher Laune durch den Rummel. Sollte sich halt Njangu Sorgen um die Sicherheit machen, hatte er beschlossen. Es tat allen gut, einmal aus dem verdammten Schiff mit der recy‐ celten Luft herauszukommen. Der Zeltstoff roch schon etwas muffig, aber das würde im Lauf einer Woche verfliegen.
Er kam an den Katzenkäfigen vorbei. Muldoon, der Killerleopard, lag auf dem Rücken und schlug verspielt mit der Tatze nach einem Insekt, das zwei Meter über seinem Kopf herumschwirrte. Montagna, die die Nacht in Garvins Armen verbracht hatte, arbeitete konzentriert an einer neuen Nummer mit zwei Pferden, während Ristori ein Dutzend Clowns zum Schwitzen brachte. Er wollte sie in eine Tonne zwängen, in die eigentlich nur einer hineinpassen konnte. Garvin kam um eine Ecke und sah einen mittelgroßen spitzbäuchigen Mann, der Loti, das Elefantenkalb, mit einem Stock kraulte und in ein Gespräch mit Phraphas Phanon vertieft war, einem der Elefantentrainer. Sunya Thanon war mit sechs anderen Tieren in einem Pferch und 118 schrubbte sie mit einem Eimer Seifenlauge und einem Besen ab. Als Garvin näher kam, erkannte er den korpulenten Mann als Graav Ganeel, das Oberhaupt von Cayle. Er war sich nicht sicher, wie er ihn begrüßen sollte, und entschied sich für eine knappe Verbeugung des Kopfes. »Nicht doch«, sagte Ganeel. »Ich bin derjenige, der sich verneigen sollte. Ich bin völlig fasziniert von dem, was mein Freund Phraphas über die Welt erzählt, nach der er sucht, dem Planeten Coando. Bedauerlicherweise habe ich noch nie davon gehört. Aber ich werde mit unseren Weisen darüber reden und sehen, ob sie helfen können.« »Apropos Hilfe«, sagte Garvin. »Ich würde Sie gerne um einen Gefallen bitten, Hoheit. So lautet doch Ihr korrekter Titel, nicht wahr?« »So können Sie mich anreden, wenn Sie möchten«, sagte Ganeel mit leichter Beunruhigung. »Vergessen Sie bitte nicht, dass ich ein konstitutioneller Monarch bin und nur an dritter Stelle der Rangfolge stehe. Eigentlich habe ich gar keine große Macht. Wenn Sie also jemanden exekutieren oder in eine Eiserne Jungfrau stecken möchten, was immer das genau sein mag, müssen Sie sich schon ans Parlament wenden.« Garvin ging davon aus, dass er einen Witz gemacht hatte, und lachte. Dann verstummte er, als er Ganeels ernste Miene bemerkte. »Nein«, sagte er. »Nichts dergleichen.« »Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden«, sagte Phraphas. »Ich werde meinem Partner helfen, unsere Freunde zu waschen.« Er eilte davon. Offensichtlich wollte er nichts mit den Angelegenheiten des Prinzipals zu tun ha‐ ben. Jaansma und Ganeel entfernten sich. 118 »Ich möchte Sie darum bitten«, sagte Garvin, »uns mit den Navigationsdateien zu helfen. Wir haben uns vorgenommen, unsere Tournee auf Centrum zu beenden.« »Äußerst ehrgeizig«, meinte Ganeel beeindruckt.
»Vielleicht«, sagte Garvin. »Aber ich ‐ und der Rest meiner Truppe — würden gerne herausfinden, was geschehen ist, warum unsere Welten den Kontakt zur Konföderation verloren haben.« »Sie auch?«, fragte Ganeel. »Haben Sie gesehen, wie unsere Raumschiffsindustrie floriert ‐ so sehr, dass sie bereits von der Flora überwuchert wird? All diese Schiffe wurden von der Konföderation in Auftrag gegeben, aber nie abgeholt oder bezahlt.« »Ich habe sie gesehen«, sagte Garvin. »Warum haben Sie keine Handelsvertreter losgeschickt, um neue Kunden zu akquirieren?« »Wir haben fast ausschließlich Verträge mit der Konföderation geschlossen«, sagte Ganeel. »Wir haben ein paar Schiffe entsandt, von denen nur ein einziges aus einem abgelegenen System zurückkehrte, in dem das absolute Chaos herrschte und wo niemand genügend Credits hatte, um Geschäfte mit uns zu machen.« »Das entspricht ziemlich genau unseren Erfahrungen«, sagte Garvin. »Und wir würden gerne tun, was wir können, um die Kommunikation wiederherzustellen.« »Mit einem Zirkus?«, sagte Ganeel leicht ungläubig. »Bewundernswert. Aber ist das nicht auch etwas romantisch?« »Als ich >wir< sagte«, erklärte Garvin, »meinte ich einige der Welten, von denen wir kommen oder die wir besucht haben. Wenn die Menschen wissen, was geschehen ist, warum es zu diesem plötzlichen Kollaps kam, dann lässt sich 119 vielleicht etwas unternehmen, um die totale Anarchie zu verhindern.« »Ich kann einen Teil des Zusammenbruchs erklären«, sagte Ganeel. »Ich habe ein wenig Geschichtswissenschaft studiert, bevor mein Vater zu früh verstarb und mir den Thron vererbte. Der Kollaps kam gar nicht so unverhofft, wie die meisten Menschen glauben. In der letzten Zeit wurde die Konföderation nur noch durch Waffengewalt zusammengehalten, durch das bemerkenswert gut organisierte Militär des Imperiums. Ein weiterer Faktor war die Tatsache, dass viele planetare Regierungen ihre Probleme auf die ferne Konföderation schieben konnten. Doch der letztliche, der wahre Grund war der, dass zu viele Bürger der Konföderation etwas von der Konföderation forderten, ohne bereit zu sein, sich an der Verwaltung zu beteiligen. Sie wollten keine Steuern zahlen oder staatliche Dienste leisten. Weil sich alle vorstellten, dass die Konföderation unsterblich sei, konnte sie sich noch viele Jahre oder Jahrzehnte lang mehr schlecht als recht am Leben erhalten, obwohl sie im Grunde nur ein wandelnder Leichnam war. Bis eines Tages etwas geschah, das im Grunde völlig belanglos war. Der Leichnam stolperte über einen winzigen Zweig und brach zusammen.« »Was war das für ein Zweig?«, fragte Garvin.
»Wenn ich das wüsste.« Ganeel seufzte. »Dann könnte es, wie Sie andeuteten, möglich sein, die Leiche wieder zum Leben zu erwecken.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.« Sie bewunderten eine Weile die chinesischen Akrobaten, dann gingen sie weiter. »Ich weiß es auch nicht«, sagte Garvin. »Doch ich möchte diesen Zustand beenden. Ich will herausfinden, was ge 120 schehen ist. Und deshalb bitte ich Sie um den erwähnten Gefallen.« »Nur zu.« »Ich habe gehört, dass auf Cayle viele Sicherheitseinrichtungen der Konföderation gebaut wurden.« »So ist es«, bestätigte Ganeel zögernd. »Wenn die Konföderation zusammengebrochen ist, könnten einige dieser Maschinen und Wachposten noch bemannt und gefährlich sein. Oder es sind automatische Roboterstationen, wodurch sie noch tödlicher wären. Ich möchte mir Ihre Dateien ausborgen ‐ oder nötigenfalls kaufen —, um Zugang zu diesen Systemen zu erhalten und sie zu überzeugen, dass ich in friedlicher Absicht komme, wenn es uns gelingt, das Capella‐System zu erreichen.« »Diese Informationen waren streng geheim«, sagte Ganeel. »Das waren sie. Vor mindestens zehn Jahren.« Ganeel sah ihn mit leicht verängstigtem Blick an. »Ich weiß nicht...«, begann er, doch dann hellte sich seine Miene auf. »Aber ich könnte sie Ihnen sowieso nicht beschaffen, da diese Daten keine Staatsgeheimnisse waren, sondern von den Herstellern unter Verschluss gehalten wurden. In diesem Fall müssten Sie sich an Berta Industries wenden. Manche behaupten«, und er lachte humorlos, »dass diese Firma zu ihrer besten Zeit der wahre Herrscher über Cayle war. Vielleicht war es so, vielleicht auch nicht.« »Wären Sie bereit«, fragte Garvin, »meine Bitte, vielleicht mit Ihrer Billigung, an den Vorstand von Berta Industries weiterzuleiten? Als Gegenleistung würde ich, wenn wir tatsächlich Centrum erreichen, nach unserer 120 Rückkehr über alles berichten, was wir herausgefunden haben.« »Berta Industries«, sagte Ganeel, und ein leicht verängstigter Ausdruck zog über sein Gesicht. Doch dann presste er die Lippen zusammen. »Ja«, sagte er. »Ich werde es tun. Diese Frau kann mich schließlich nicht umbringen.« Bevor sich Garvin nach der Bedeutung seines letzten Satzes erkundigen konnte, wechselte Ganeel das Thema und fragte, warum es außer dem Menschen keine anderen Primaten mehr gab. Garvin erklärte, dass er die stinkenden, flohverseuchten und gefährlichen Affen schon immer gehasst hatte, weil sich in ihnen die schlechtesten Angewohnheiten der Menschen zu bündeln schienen. »Es scheint so«, sagte Ganeel. »Ich habe mich schon immer sehr für sie interessiert, obwohl ich zugeben muss, dass ich sie nur aus Holos kenne. Der
letzte Affe von der Erde starb vor fast vierhundert Jahren in unserem Zoo und wurde aus irgendeinem Grund nie ersetzt.« »Schau dir das an!«, tobte Monique Lir und zeigte auf ein eingerahmtes Gedicht auf der Innenseite eines Holos. Man erzählt die Legende, Dass ihre Beine, Arme und Hände Aus Stahl geschmiedet sind, Hart wie der Rumpf eines Schiffs. Sie ist eine Frau voller Wunder, Voller Kraft und Geschick, Unsre Monique, unsre Monique. 121 »Donnerwetter!« Ben Dill lachte. »Es gefällt mir, jemanden zu kennen, der so berühmt ist.« »Meine linke Titte ist berühmt!«, knurrte Lir. »Komm heute Abend vorbei, dann zeige ich dir, wofür ich berühmt bin.« Ben tat es. Eine komplette Tribüne direkt vor der mittleren Manege, wo Monique ihren Seiltanz vorführte, war voll mit Frauen besetzt, die ihr zujubelten. Monique versuchte sie zu ignorieren, was ihr jedoch nicht gelang, vor allem, als Garvin sie zwang, sich direkt vor all diesen Frauen zu verbeugen. Dill sah, dass viele von ihnen Kleidung trugen, die eher für die männliche Bevölkerung von Cayle typisch war. Er fand die Sache ausgesprochen witzig und schlug vor, dass Lir viel engeren Kontakt zu ihrem Fanclub suchen sollte. Monique erklärte ihm auf ziemlich direkte, unanständige Weise, dass er die Klappe halten sollte. »Ich verstehe deine Einstellung nicht«, sagte Njangu völlig sachlich. »Betrachte es einfach mal so: Du hattest schon immer zahlreiche männliche Bewunderer, nicht wahr? Jetzt hat sich schlagartig die Menge der Personen verdoppelt, die dich gerne unter dem Kinn kraulen würden.« Monique knurrte etwas Unverständliches, kletterte ganz nach oben und reagierte ihre Wut ab, indem sie mit einer Hand in der Schlaufe endlose Armschwünge vollführte. »Ich könnte jetzt ein Bier vertragen«, sagte Maev. Sie und Njangu waren zusammen mit ein paar Quartiermeistern nach Pendu gegangen, um die Speisekammern des Schiffs wieder aufzufüllen. 121 »Gute Idee«, stimmte Njangu ihr zu. »Es dürfte noch mindestens zwei Stunden dauern, bis sie sich da drinnen auf den Mehlpreis geeinigt haben. Außerdem ist die Nachforschung in öffentlichen Gaststätten ein wichtiger Teil unseres Lebens als Geheimdienstagenten, nicht wahr?« Zwei Blocks weiter fanden sie ein Geschäft, in dem der Werbung zufolge etwas in Flaschen verkauft wurde. Sie traten aus der Mittagssonne hinein in den Laden und blinzelten in der Dunkelheit. Maevs Augen hatten sich zuerst daran gewöhnt. »Oh.«
Dann sah es auch Njangu. »>Oh< kannst du laut sagen.« Es gab nur zwei oder drei Männer unter den etwa dreißig Menschen, die sich in dieser Bar befanden. Alle Frauen trugen Kostüme, hauptsächlich Variationen antiker Schulmädchenuniformen. Und alle lächelten auf höchst einladende Weise. »Ich glaube«, sagte Njangu, während er sich zur Tür zurückzog, »ich weiß jetzt, was ein Stück Fleisch empfindet, wenn es von Sir Douglas in den Katzenkäfig geworfen wird.« »Ein seltsamer Planet«, stieß Darod mühsam hervor. »Ja«, pflichtete Njangu ihr bei und atmete erleichtert auf, als sie wieder draußen waren. »Sieht von draußen ganz normal aus, aber drinnen...« »... ist es eher nicht normal?«, wollte Maev wissen. »Oder haben alle Männer den heimlichen Wunsch, mit Kindern zu spielen?« »Das zählt nicht zu meinen heimlichen Fantasien«, sagte Njangu. »Vielleicht ist es auf Cayle ganz normal. Schau mal! Da drüben ist eine Bar, vor der Tische auf der 122 Straße stehen. Dort hätten wir einen besseren Fluchtweg, falls wir noch einmal ins Fettnäpfchen treten.« Njangu erkundigte sich und erfuhr von einem Einheimischen, dass sie im Rotlichtviertel gelandet waren, einem der größeren in Pendu. »Hier finden Sie alles, und ich meine wirklich alles«, erklärte der Cayleaner enthusiastisch. »Oder wenn es Sie interessiert, können Sie sie auch per Kom kommen lassen. Wir haben uns übrigens schon gefragt, warum Ihr Zirkus kein solches Unterhaltungsan‐ gebot hat.« »Äh... weil unsere Truppe in dieser Hinsicht etwas prüde ist«, sagte Njangu. Die zwei Liliputaner fingen Darod auf, als sie das verborgene Antigravfeld verließ, und warfen sie hoch, als im gleichen Moment ihr Pferd vorbeitrabte. Die Kapelle wechselte das Tempo, und das Pferd tänzelte mit schnellen Schritten im Takt der Musik. Die Gesichter in den Sitzreihen verschwammen, während sie sich darauf konzentrierte, das Gleichgewicht zu wahren und sich mit dem Tier zu bewegen. Sie spürte, wie die Welt und alles, was mit Garvin zu tun hatte, davonwirbelte, und ging völlig in diesem Moment auf. SIE UND EINE BEGLEITUNG SIND DURCH LADY LIBNAH BERTA EINGELADEN, IN SECHS TAGEN AM ABENDESSEN UND AM FOLGENDEN TAG AN EINER BESICHTIGUNGSTOUR IHRER FIRMA TEILZUNEHMEN. EIN FAHRZEUG WIRD ZUR VERFÜGUNG GESTELLT. ZUR BESTÄTIGUNG RUFEN SIE BITTE 34532 AN.
122 »Graav Ganeel hat es geschafft. Also sollte ich mich wohl erniedrigen und sie um Zugang zu ihren Archiven anflehen«, sagte Garvin.
»Genau«, pflichtete Njangu ihm bei. »Es wurde auch Zeit, dass du ein paar nützliche Informationen beschaffst, statt nur in deiner Uniform herumzustolzieren und deine blöde Peitsche knallen zu lassen.« »Ich schätze, Darod wird sich riesig freuen«, meinte Garvin. »Äh... nein«, sagte Njangu. »Ich möchte, dass du Kekri Katun mitnimmst.« »Warum?« »Wir haben sie schon einmal gefilzt«, erklärte Njangu, »und nur Giptelscheiße gefunden. Ich will es noch einmal tun und sie lange genug an der langen Leine laufen lassen, damit wir gründliche Arbeit leisten können.« »Du machst mir das Leben nicht gerade einfacher«, beschwerte sich Garvin. »Wenn das stimmt«, meinte Yoshitaro, »warum lächelst du dann? Ist es Masochismus?« »Das wird es wohl sein«, sagte Garvin. »Ich werde auf diesem blöden Planeten nirgendwo mehr ohne Leibwächter hingehen!«, regte Monique Lir sich auf. »Mindestens zwei Leibwächter! Beide männlich und behaart!« »Warum?«, fragte Darod. »Was ist passiert?« »Ich habe eine Einladung zum Interview von dieser Reporterin angenommen. Zumindest dachte ich, sie wäre eine Reporterin. Dann stellte sich heraus, dass sie es war, die dieses bescheuerte Gedicht über mich geschrieben hat.« 123 »Oh«, machte Darod. »Ja«, keifte Monique. »Sie heißt Lan Dell. Trug eine Lederjacke und rauchte ein dickes Rohr mit irgendeinem Kraut, das die gesamte Umgebung verpestet hat. Sie sagte, sie würde es in einem Club bequemer als in einem Büro finden. Also landeten wir in dieser Bar. Bis obenhin voll, aber nur mit Frauen, und dann sagt diese Schnalle, dass es mein Fanclub ist! Ein Fanclub, bei Lokis Ochsenziemer! Jedenfalls wurde ich nicht interviewt, sondern bekam ein Mikro in die Hand gedrückt, und dann wurde ich von allen mit Fragen gelöchert. Und diese Fragen wurden immer persönlicher. Und diese Dell fing an, unter dem Tisch mein Knie zu streicheln.« »Weswegen regst du dich so auf?«, fragte Montagna. »Es kann doch nicht das erste Mal gewesen sein, dass eine so hübsche Frau wie du von Frauen angebaggert wird.« Monique starrte sie verdutzt an. »Klar. Natürlich. Scheiße, mir fallen sogar ein paar weibliche Offiziere der Legion ein, die sich Sorgen um mich gemacht haben, weil ich allein schlafen musste. Dabei weiß ich genau, wie ich mit Männern umgehen muss. Keine Ahnung... es kann eigentlich nicht daran liegen, dass wir uns auf einem seltsamen Planeten befinden... ich bin praktisch schon überall gewesen.« Sie dachte eine Weile darüber nach. »Vielleicht...«, sagte sie langsam, »vielleicht liegt es daran, dass ich mich in der Nähe dieser Dell wie im Zoo gefühlt habe. Oder wie im Zirkus.«
»Du bist im Zirkus«, sagte Darod. »Ich weiß, du Blödfrau! Nicht in so einem Zirkus. Es war, als würden alle auf etwas warten, dass ich eine große 124 Vorstellung gebe, und wenn ich mit dieser Schnalle losgezogen wäre, wäre das für sie so etwas wie ein Triumph gewesen. Keine Ahnung.« Danach verfiel Lir in nachdenkliches Schweigen. Der Zirkus war an diesem Abend nur zur Hälfte besetzt. Njangu setzte sich an den Kom und fand heraus, dass es Unruhen in der Stadt gegeben hatte und der öffentliche Verkehr zusammengebrochen war. »Weißt du noch«, sagte er zu Garvin, »dass es auch auf Centrum Unruhen gab, als wir Rekruten waren und man uns dort durchgeschleust hat?« »Ja, aber ich wünschte, du hättest mich nicht daran erinnert.« Am nächsten Tag kam Froude mit einem Stapel Ausdrucken zu Garvin. »Wie lange«, fragte er, »werden wir hier voraussichtlich noch verweilen?« »Nicht mehr lange«, sagte Garvin. »Ich habe heute Abend eine Verabredung, und danach können wir Ihnen hoffentlich die Daten über Centrum beschaffen, deretwegen wir hierhergekommen sind.« »Gut«, sagte Froude. »Denn dieser Planet ist nicht gesund für uns. Deshalb sollten wir baldmöglichst verschwinden. Ich habe zufällig einen Blick in die Kassenbücher geworfen und festgestellt, dass es gar nicht gut aussieht. Wir nehmen einheimische Währung an, wie wir es auch auf Tiborg getan haben, und dann tauschen wir sie in Credits der Konföderation um. Wenn das nicht geht, nehmen wir auch interstellare Wechsel an, richtig?« »Natürlich«, sagte Garvin. 124 »Die Buchhalter hatten ein dickes Bündel einheimisches Geld und wollten es umtauschen«, sagte Froude. »Geht nicht, erhielten sie zur Antwort. Die Bank scheint keine Credits mehr zu haben... oder falls irgendwo noch welche vorhanden sind, hat man sie aus dem Umlauf gezogen.« »Wer soll das getan haben?« »Manche sagen, die Regierung. Andere sagen, diese große Industriefirma, die von dieser Berta geführt wird.« »Mit der ich heute Abend eine Verabredung habe«, sagte Garvin. »Dann sollten Sie vielleicht versuchen, an den Schlüssel zu ihrer Schatzkammer zu gelangen.« »Es ist nicht unser Missionsziel, Geld zu verdienen«, sagte Garvin. »Dessen bin ich mir bewusst«, sagte Froude gereizt. »Aber genauso bin ich mir bewusst, dass wir auch auf anständigen Planeten mit stabiler Wirtschaft auftreten könnten. Wollen Sie ein paar Zahlen hören? Ich habe Nachforschungen angestellt. Die Beschäftigungsquote auf dieser Welt liegt bei etwa fünfunddreißig Prozent. Viele Menschen haben es einfach aufgegeben, nach Arbeit zu suchen, und kassieren Stütze. Die Regierung scheint deswegen überhaupt nichts zu
unternehmen, außer die Daumen zu drücken und zu hoffen, dass die Konföderation eines schönen Tages plötzlich wieder da ist und all die fertigen Raumschiffe kauft. Und mit einem Mal werden wieder glückliche Schäfchenwolken am Himmel stehen. Deshalb sage ich, dass wir hier schnellstmöglich unsere Geschäfte erledigen und wieder verschwinden sollten.« Garvin schaute aus dem Fenster des Gleiters, als er über einen Berg hinwegflog. Unter ihm lag ein weites Tal mit 125 einer großen Stadt in der Mitte und Fabriken am Fluss entlang. Er erinnerte sich an das Gedicht, das Njangu zitiert hatte, und sagte: »Hier sieht es recht kalt aus.« »Aber hier drinnen ist es nett und warm«, sagte Kekri Katun. Sie sah absolut hinreißend in ihrem grauen Reiseanzug mit den Kniestiefeln aus, auch wenn Garvin fand, sie hätte anstandshalber ein paar Knöpfe der Bluse öffnen können. »Wir landen in fünf Minuten, Sir«, gab der Chauffeur des Luxusgleiters über InterKom bekannt. »Eine Frage«, sagte Garvin ins Mikro. »Gehören alle diese Fabriken zu Bertas Firma?« »Dieses ganze Tal«, antwortete der Chauffeur, »einschließlich der Städte und vier weiterer Ansiedlungen, die durch die Lufttrübung nicht sichtbar sind, stellen in der Tat einen Teil des Familienbesitzes dar.« »Es muss nett sein, so reich zu sein«, sagte Kekri. »Ich habe mir schon immer gewünscht, reich zu sein. Dann muss man sich wegen nichts mehr Sorgen machen.« »Da wäre ich mir nicht so sicher«, meinte Garvin. »Ich weiß nur, dass es nett ist, Geld zu haben, egal, ob man arm oder reich ist.« Er überprüfte noch einmal sorgfältig sein Äußeres. Er hatte sich gedacht, wenn Lady Berta so vornehm war, wie er gehört hatte, würde sie über seinen weißen Zirkusdirektorenanzug vermutlich nur die Nase rümpfen. Also hatte er sich für eine konservative dunkelblaue Jacke, ein weißes Hemd und eine dunkelbraune Hose entschieden. Der Gleiter bremste und drehte nach links ab. Auf einem niedrigen Plateau, knapp außerhalb der Stadt, erhob sich ein großes Anwesen. Es war ein hässlicher, sie 125 benstöckiger, rechteckiger Klotz mit Flachdach ohne jede architektonische Zierde. Auf dem Dach waren zahlreiche Antennen angebracht, und Garvin war überzeugt, dass sich dort auch eine Anlage befand, die Luftabwehrraketen ab‐ feuern konnte. Um das Gebäude breiteten sich Gärten aus, die sorgfältig angelegt und gut gepflegt waren. Der Gleiter landete vor den Stufen, die zum Haus hinaufführten, das Kanzeldach klappte auf, und der Chauffeur stand bereit, Kekri beim Aussteigen behilflich zu sein.
Die großen Türflügel des Anwesens schwangen auf, und eine Frau, die nur Lady Libnah Berta sein konnte, trat heraus, ohne Begleitung von Bediensteten, wie Garvin überrascht feststellte. Berta war eine in jeder Hinsicht große Frau; sie mochte gut und gerne zwei Meter messen. Garvin schätzte, dass sie in den Achtzigern war. Ihr Gesicht zeigte die herrischen Züge uneingeschränkter Macht, und ihre Lippen schienen es gewohnt zu sein, sich wütend zusammenzukneifen. Ihr schlohweißes Haar war zu einem Dutt zusammengebunden, und sie trug ein langes grünes Kleid mit roten Saum‐ streifen, eine passende langärmelige Jacke und darunter eine altweiße Bluse. »Guten Abend, Prinzipal Jaansma... und Miss Katun.« Sie musterte Kekri von oben bis unten, dann wandte sie ihre ganze Aufmerksamkeit Garvin zu. »Seien Sie in meinem Haus willkommen.« »Ich danke Ihnen für die Einladung.« Ein frostiges Lächeln erschien auf Bertas Gesicht und verschwand wieder. »Graav Ganeel und ich kennen uns schon etliche Jahre«, sagte sie. »Ich erinnere mich sogar daran ‐ oder behaupte, mich zu erinnern ‐, wie ich ihn 126 als Baby in den Armen gehalten habe, während ich mit seinem Vater, dem König, sprach.« Ihr Lächeln schien eine Spur breiter zu werden. »Wertn ich ihn daran erinnere, scheint ihn das immer ein wenig aus dem Konzept zu bringen.« Sie musste nicht ausdrücklich erwähnen, dass es aus diesem Grund leichter für sie war, mit ihm umzugehen. »Kommen Sie herein«, sagte sie. »Die Luft hier draußen ist recht kühl. Ich lasse von jemandem Ihr Gepäck hereinbringen und Sie in Ihre Zimmer führen. Nachdem Sie sich erfrischt haben, möchten Sie mir vielleicht bei einem kleinen Drink in der Bibliothek Gesellschaft leisten, bevor das Abendessen beginnt.« Als sie das riesige Haus betraten, bemerkte Garvin, dass sich scheinbar wie von selbst einige Knöpfe an Kekris Bluse geöffnet hatten. Ihre Zimmer im sechsten Stock waren riesig und überbordend im Rokokostil ausgestattet. »Ich komme mir vor, als wäre ich in der Zeit zurückgereist«, sagte Kekri. »Mindestens hundert Jahre.« »Eher tausend, würde ich sagen«, erwiderte Garvin. Die realistischen Gemälde an den Wänden zeigten heldenhafte Gestalten, Soldaten, die tapfer in antiken Uniformen posierten. Gehörnte Tiere wurden in Schach gehalten, traurige Mädchen blickten ihren Helden nach, wie sie in den Krieg zogen. Die Farben waren kaum mehr als Brauntöne, was zur vergilbten archaischen Tapete passte. Die Stühle waren gepolstert und extrem weich und wurden von Quasten geziert. Die Tische waren aus dunklem, poliertem Holz gezimmert und die Wandspiegel in Gold gerahmt. 126 Das Bett... Kekri kicherte.
»Was haben Sie diesen Leuten gesagt, als Sie auf die Einladung geantwortet haben?« »Ich habe gar nichts gesagt«, antwortete Garvin wahrheitsgemäß. »Die Einladung schloss eine Begleitung ein, und ich dachte...« »Nur ein Bett? Schämen Sie sich, Prinzipal Jaansma!«, sagte Kekri. »Mich in die tiefste Wildnis zu verschleppen, zweifellos in der Absicht, die Situation schändlich auszunutzen!« »Nein. Ehrlich. Wirklich nicht.« Garvin kam sich plötzlich wieder wie ein Fünfzehnjähriger vor. »Ich werde sehen, ob ich den alten Knacker zu fassen kriege, der uns hierher geführt hat, damit er Ihnen ein anderes Zimmer besorgen kann, das...« Kekri kam auf Garvin zu und stemmte die Hände in die Hüften. »Es macht mir wirklich nichts aus«, schnurrte sie. »Ich bin mir sicher, dass Sie ein Mann mit den besten moralischen Prinzipien sind. Es ist überhaupt kein Problem, zu zweit in einem Bett zu schlafen, ohne dass etwas passiert. Und wenn nicht...« Sie kicherte wieder. »Ich glaube, wir sollten froh sein, dass Sie nicht zusammen mit Mr. Yoshitaro hierhergekommen sind. Ich weiß nicht, ob Lady Berta so liberal eingestellt ist.« Garvin wich einen Schritt zurück. »Und wenn wir schon einmal hier sind...«, murmelte Kekri, hob den Kopf, schloss die Augen und öffnete die Lippen. Jaansma hätte schon ein Übermensch sein müssen, um sie nicht zu küssen. Ihre Zunge drang in seinen Mund ein und bewegte sich eine Weile darin herum. 127 Als sie sich langsam von ihm löste, war ihm etwas schwindlig geworden. »Wo wir gerade über Ihren Freund gesprochen haben«, sagte Kekri. »Ich gebe zu, dass er mir Angst macht. Seine Augen blicken geradezu durch einen hindurch.« »Wollen Sie etwas noch Angsteinflößenderes hören?«, sagte Garvin. »Wenn Sie ihm genau das erzählen, wird er es als Kompliment auffassen.« Kekri verzog das Gesicht, setzte sich aufs Bett und wippte auf und ab. »Echte Federn... um das Thema zu wechseln«, sagte sie. »Das könnte interessant werden.« Garvin kam einen Schritt auf sie zu. »Nein, nein!«, rief Kekri. »Sie nehmen Ihren Koffer und gehen in das Badezimmer und ziehen sich dort um. Ich glaube nicht, dass es Lady Berta gefällt, wenn man sie warten lässt... zumindest nicht allzu lange.« Wieder kicherte sie. »Außerdem haben Sie dann etwas, worauf Sie sich freuen können... vielleicht.« Garvin zog sich knöchelhohe Stiefel an, eine leicht ausgestellte schwarze Hose, ein weißes Hemd mit schwarzen Beschlägen und eine schwarze Frackjacke. Als Kekri aus dem Badezimmer kam, hatte sie ein Futteralkleid mit einer Jacke an, alles in Weiß und mit Pailletten besetzt. »Sind wir beide nicht hübsch?«, flötete sie und hielt ihm den Arm hin.
Er nahm ihn, und sie verließen das Zimmer. Durch weite Korridore gingen sie zum Lift, der sie in ein riesiges Foyer brachte, von dem aus sie in die Bibliothek gelangten. 128 Drinnen gab es Holos, Spulen und echte antike Bücher, Karten von anderen Welten, Porträts von steifen, ernst dreinschauenden Männern und ihren schönen Frauen ‐ zweifellos die Ahnenreihe der Bertas. Libnah Berta begrüßte sie, und ein Diener nahm ihre Getränkewünsche entgegen. Kekri bat um Weißwein, Garvin um einen Brandy mit einem Glas Eiswasser, an dem er sich sehr lange festhalten wollte. Berta erhielt, ohne zu fragen, ein hohes Glas, in dem mehrfarbige Spirituosen gemischt waren. Sie erkundigte sich, was sie über Cayle dachten ‐ als hätte es sie tatsächlich interessiert ‐, und hörte sich zufrieden an, dass der Planet den Besuchern sehr gefiel. Berta nahm zwei weitere bunte Drinks, Kekri einen weiteren Weißwein und Garvin nichts mehr, als sie schließlich zum Abendessen gingen. »Ich weiß, es gilt als unfein, während einer Mahlzeit über Geschäfte zu reden«, sagte Berta. »Aber ich habe praktisch kein anderes Leben, also verzeihen Sie mir bitte. Außerdem bin ich sehr an verschiedenen Aspekten Ihres höchst ungewöhnlichen Gewerbes interessiert.« Ihre Fragen waren sehr eindringlich, und sie schien sich tatsächlich für das Zirkusleben zu interessieren ‐ zumindest für die finanzielle Seite. Das Essen war wunderbar und auf recht altertümliche Weise zubereitet ‐ zu Anfang eine Kraftbrühe, eine Auswahl panierter Fische, ein Braten in Sahnesoße mit angebratenem Gemüse, ein gemischter Salat und schließlich ein Dessert, außen flambiert und innen gefroren. »Ich hoffe doch sehr, dass Sie so etwas nicht jeden Abend essen«, sagte Kekri. »Wenn doch, dann möchte ich gerne Ihren Fitnessplan sehen.« 128 »Natürlich tue ich das nicht«, sagte Berta mit einem Lachen, das wie einstudiert klang. »Im Gegenteil, meine Berater sind jedes Mal ganz unglücklich, wenn ich an einem bestimmten Projekt arbeite und irgendwann gar nichts mehr esse.« Mit jedem Gang kam ein neuer Wein, von dem Garvin kaum kostete. Auch Kekri nippte nur kurz daran, wie Jaansma zufrieden bemerkte. Berta trank mit Genuss von jeder Flasche und schien dadurch nicht im Geringsten beeinträchtigt zu werden. Nach der Mahlzeit führte sie ihre Gäste wieder in die Bibliothek, wo sich Garvin einen neuen Brandy einschenken ließ, während Kekri einen Likör und Berta wieder einen bunten Drink nahm. »Also«, sagte sie, als sie sich zurückgelehnt hatten, »warum genau wollten Sie, dass Graav Ganeel ein Treffen zwischen uns arrangiert?« Garvin dachte an verschiedene Täuschungsmanöver, entschied sich dann jedoch für die halbe Wahrheit. Er erklärte, dass sein Zirkus auf dem Weg nach Centrum
war und jede Hilfe schätzen würde, die Berta Industries über die verschiedenen Sicherheitssysteme zur Verfügung stellen konnte, die die Firma im Auftrag der Konföderation rund um Centrum installiert hatte. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, erwähnte er, dass sie bereits Lagepläne, Seriennummern und Beschreibungen dieser Wachstationen besaßen. Berta hob gebieterisch eine Augenbraue. »Nun, ich kann nicht behaupten, dass Sie um den heißen Brei herumreden, junger Mann. Aber eines sollten Sie wissen, nämlich dass die Firma Berta Industries stolz auf ihre Vertrauenswürdigkeit ist. Wenn unsere Dienste vertrag 129 lieh zugesichert wurden, hat bislang niemand anderer nähere Informationen darüber erhalten.« »Das ist äußerst lobenswert«, sagte Garvin. »Aber es ist zehn Jahre her, seit Sie diese Systeme ausgeliefert haben, und der letzte Kontakt mit der Konföderation scheint mindestens fünf Jahre zurückzuliegen.« »Richtig.« »Ich bin nicht so überheblich zu behaupten, ein Zirkus könnte etwas bewirken, um die einstige Ordnung wiederherzustellen, aber ich würde es auf jeden Fall versuchen.« »Offen gesagt, Ihr Unternehmen hat für mich kein besonderes Interesse, Prinzipal Jaansma. Aber es gibt einen guten Grund, warum ich doch Interesse zeigen sollte. Cayle mag durchaus in der Lage sein, sich selbst zu helfen; andererseits hat unsere Welt ohne den Handel mit der Konföderation durchaus zu leiden. Wir waren bislang noch nicht in der Lage, neue Geschäftsbeziehungen aufzubauen, die uns für den Ausfall hätten entschädigen können. Vielleicht ist Ihnen die hohe Arbeitslosigkeit aufgefallen. Ich habe versucht, so viele Angestellte wie möglich zu halten, aber ich bin natürlich kein Wohlfahrtsverein. Ich fürchte, dass die Menschen da draußen irgendwann das Vertrauen in ihre Regierung verlieren und sich durch radikalere Reaktionen eine Besserung der Lage erhoffen. Einfache Menschen neigen zu einfachen Lösungen. Ein Mann ‐ oder auch eine Frau ‐ mit einfachen Antworten könnte großen Zulauf erhalten. Und um gnadenlos offen zu Ihnen zu sein: Mehrere Wirtschaftsmagnaten in diesem System würden eine solche Person unterstützen, und sei es auch nur aus Angst, das zu verlieren, was sie haben. 129 Und ich würde vielleicht zu diesem Kreis gehören, wenn die sozialen Unruhen stark genug sind. Nein, ich glaube ebenfalls nicht, dass Ihr Zirkus etwas bewirken könnte. Sie können auch nicht unsere Probleme lösen, abgesehen von einer vorübergehenden Entspannung, wenn Sie die Menschen eine Zeit lang von ihren Sorgen ablenken. Aber etwas ist immer noch besser als gar nichts. Ich werde die Angelegenheit überschlafen und Ihnen morgen eine Antwort geben.«
»Halt mich fest und küss mich, wohin die Sonne nicht scheint«, murmelte Njangu, als er den kleinen Koffer betrachtete, den er in Kekris Quartier gefunden hatte. »Entweder sind wir alle Volltrottel, oder das hier war noch nicht hier, als wir das erste Mal ihre Sachen durchsucht haben.« »Es war noch nicht hier, Boss«, sagte einer der Sicherheitstechniker. »Ich habe mir beim letzten Mal ausführliche Notizen gemacht. Als Drittes haben wir ihren Kosmetikkoffer gefilzt, und ich bin nicht so blind, einen weiteren Koffer zu übersehen.« »Scheint eine Art Kom zu sein«, überlegte Njangu laut. »Bringen Sie das in unsere Werkstatt und entreißen Sie ihm die Geheimnisse.« »Wird gemacht, Sir«, sagte ein anderer Techniker. »Aber seien Sie vorsichtig«, fügte Yoshitaro hinzu. »Nur für den Fall, dass da drin so was Blödes wie ein Selbstvernichtungssprengsatz ist.« »Wir könnten uns immer noch damit rechtfertigen, dass manche Dinge einfach passieren«, sagte Kekri, während sie sich die Schuhe auszog. 130 »Das könnten wir«, erwiderte Garvin, der plötzlich den Entschluss fasste, die Situation auszunutzen, einfach so, nur zur Abwechslung. Er wollte auf die Konsequenzen pfeifen, wofür er zweifellos irgendwann die Rechnung serviert bekommen würde. »Oder ich könnte diese Kerze anzünden ... hat einen ziemlich antiquierten Geschmack, unsere gute Berta. Genauso die zweite Kerze auf der anderen Seite des Bettes.« »Das könntest du tun«, sagte Kekri. »Und was dann?« »Und dann schalte ich die Deckenbeleuchtung aus, komme zu dir rüber und küsse dich.« »Und was dann?« »Dann«, sagte Garvin, »ziehe ich dir die Jacke aus und schiebe dir dein Kleid bis zu den Hüften runter, etwa so. Dann küsse ich deinen Hals... und noch ein paar andere Stellen... Ja, du darfst mir gerne die Jacke ausziehen und mir den Hosenbund aufmachen, wenn du möchtest.« »Oh«, hauchte Kekri. »Ja.« »Danke. Jetzt könnte ich irgendwie versuchen, meine verdammten Stiefel loszuwerden und dein Kleid ganz runterziehen, bis zu den Füßen, ja, etwa so.« Er schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Unter dem Kleid hast du ja gar nichts an!« »Ich mag es nicht, wenn im letzten Moment noch irgendwelche störenden Kleinigkeiten im Weg sind«, hauchte Kekri. »Eine ausgezeichnete Idee«, sagte Garvin und trug sie zum Bett. Sie lag mit halb geschlossenen Augen da und blinzelte zu ihm hinauf, als er sich das Hemd auszog. »Und wenn du jetzt die Beine ein wenig anheben würdest, damit ich dich an den Füßen festhalten kann...« 130
Wenige Augenblicke später war er zu beschäftigt, um noch irgendetwas zu sagen. Garvin trank eine Tasse Tee, die ihm der Koch zum Wach werden empfohlen hatte, und lächelte höflich zu Berta hinüber. Er dachte an Njangus Ratschlag: Vögel sie grün und blau, bis sie unser Lied singt. Der Mistkerl war nicht nur ein Sexist, er schien außerdem die Fähigkeiten eines durchschnittlichen Mannes maßlos zu überschätzen. Aber nicht die von Katun. Garvin war es, der sich grün und blau fühlte, und er fragte sich, ob er es schaffen würde, die Besichtigungstour nicht allzu steifbeinig hinter sich zu bringen. Er setzte seine freundlichste Miene auf und war entschlossen, die Herausforderung tapfer anzunehmen. Es bereitete ihm leichten Abscheu, als er sah, wie Kekri leichtfüßig daherkam und sich fröhlich mit Libnah Berta unterhielt. Garvin sammelte seine Restenergie, um sich noch eine Tasse Tee einzuschenken. Der Sicherheitselektroniker gähnte und rieb sich die müden Augen. »Was wir hier haben, Boss«, sagte er zu Njangu, »ist ein hübscher kleiner Sender‐ Empfänger. Keine interstellare Reichweite, es sei denn, jemand ist uns ständig auf den Fersen. Aber bislang haben wir niemanden entdeckt, der unserer Spur folgt. Die gesamte Rückseite ist eine lichtempfindliche Ladezelle. Sie braucht nicht mal UV‐Licht, was ziemlich geil ist. Das Gerät ist die ganze Zeit aktiviert, also könnte jemand ‐ zum Beispiel ein Spionageschiff ‐ in das System einfliegen, in dem wir uns gerade befinden, und den Kom 131 mit einem Signal aktivieren. Dann weiß unsere Spionin, dass jemand darauf wartet, mit ihr plaudern zu können. Natürlich hat das Ding eine Aufzeichnungs‐ und Rafferfunktion, sodass die Kommunikation nicht allzu viel Zeit beanspruchen muss.« Njangu dachte nach und goss sich noch einen Tee ein. »Ich glaube«, sagte er, »es wäre nett, den Kom wieder dorthin zu tun, wo wir ihn gefunden haben. Nur dass Sie vielleicht, wenn noch Platz im Kasten ist, eine kleine Schaltung einbauen könnten, die uns Bescheid sagt, wenn Kekri einen Anruf erhält.« »Hab den Schaltkreis schon zusammengebaut, Boss. Ich dachte mir, dass Ihnen etwas in dieser Art gefallen würde. Und ich habe noch eine zweite Zusatzschaltung vorbereitet, mit der wir ihre Sendung verrauschen können, sodass der Unbekannte am anderen Ende der Leitung ziemlich schwer daran zu knacken hat. Jetzt müssen wir nur noch wissen, hinter welchen Informationen sie her ist.« Njangu grinste, trank seinen Tee aus und legte eine Hand an die Innentasche seiner Jacke, in der eine Kopie von Kekri Katuns Notizen steckte, die in einem einfachen Kode verfasst waren. Eine weitere Kopie, die bereits größtenteils entschlüsselt war, wurde gerade von einem Krypto‐logen bearbeitet.
»Das, mein guter gefiederter Freund, fällt leider nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich.« Er stand auf. »Wir gehen jetzt in die Kombüse, und ich gebe Ihnen ein Frühstück aus. Garvin kann sich ein paar interessante Dinge anhören, wenn er wieder da ist.« 132 Die Fabrikhallen waren ewig und einen halben Kilometer lang. Garvin hatte sehr schnell genug davon, riesige Maschinen zu bewundern, von Walzwerken und Gussanlagen für Triebwerke über Drehbänke, auf denen sich etwas in der Größe eines Nana‐Schiffs bearbeiten ließ, bis zur Programmierzentrale. Er bewegte sich nur ein wenig unbeholfen, da er es nicht gewöhnt war, mit dem ganzen Körper die winzige Kamera an seinem Revers auszurichten. Es gab auch Arbeiter, aber nicht sehr viele. Garvin bemerkte, dass die meisten mit Wartungs‐ und Reinigungsarbeiten beschäftigt waren und nichts mit der eigentlichen Montage zu tun hatten. Schließlich erreichten sie ein großes Steingebäude, dessen Architektur recht archaisch wirkte. Es hatte verstrebte Dachfenster und einen offenen Innenraum, und an den Wänden reihten sich zahlreiche Terminals und Techniker. Draußen standen bewaffnete Wachen, die Garvin als recht aufmerksam einschätzte. »Das ist unser Archiv«, sagte Lady Berta stolz. »Es reicht bis zum allerersten Tender zurück, den der erste Berta baute ‐ und als privaten Frachtgleiter nutzte.« Sie kam etwas näher und senkte die Stimme. »In diesem Archiv befinden sich die Informationen, um die Sie mich gebeten haben, und ich kann Ihnen genauso gut hier sagen, dass ich Ihnen leider keinen Zugang dazu gewähren kann. Es tut mir sehr leid, aber wie ich bereits erwähnte, gibt es ein starkes Vertrauensverhältnis zwischen unserer Firma und unseren Kunden, und es wurde seit über dreihundert Erdjahren niemals enttäuscht.« Garvin blickte ihr in die Augen und sah darin nur feste Entschlossenheit. Also verzichtete er darauf, mit ihr weiter über dieses Thema zu diskutieren. 132 »Dann«, sagte er, »werden wir wohl das Risiko eingehen müssen und schauen, ob wir mit den Sicherheitssystemen rund um Centrum zurechtkommen.« »Es tut mir leid«, sagte Berta, und für einen kurzen Moment erschien die Andeutung eines Lächelns auf ihrem Gesicht. Aber warum, dachte Garvin und hatte das Gefühl, dass Njangu stolz auf ihn sein würde, hat sie sich die Mühe gemacht, mir zu zeigen, wo ihre geheimen Informationen archiviert sind, um mir anschließend zu erzählen, dass ich gar nicht ran darf? Und warum grinst sie mich so komisch an? Interessant. Ich glaube, ich sollte noch einmal genauer über diese Sache nachdenken. Ristori kroch vorsichtig zu der Schüssel, aus der sechs Erdenkatzen Milch schleckten. Er drängte sich zwischen zwei Tiere und wollte selber von der Milch trinken, als ihm eine Katze mit der Pfote auf die Nase schlug und er zurücksprang.
Die Kinder auf den Tribünen johlten vor Vergnügen. Ristori versuchte es wieder, und auch diesmal erhielt er eine Abfuhr. Er stand auf, grübelte eine Weile, und dann schien ihm plötzlich ein Einfall zu kommen. Er kehrte auf allen vieren zurück und bewegte sich nun geschmeidig wie eine Katze, während er sich der Schüssel näherte. Die Katzen ließen sich offenbar von ihm täuschen und machten ihm bereitwillig Platz. Nun schleckte Ristori die Milch genauso, wie es die Tiere taten. Ich bin verdammt froh, dachte Garvin, der von außerhalb der Manege zusah, während der Applaus einsetzte, dass ich Emton und seine Attraktion doch engagiert habe. 133 Die Katzen hatten sich überraschenderweise als Publikumsrenner erwiesen. Garvin vermutete den Grund darin, dass jeder Katzen kannte, sich aber nicht vorstellen konnte, dass sie zu solchen Tricks dressiert werden konnten. Ristori stand auf und schlurfte davon. Nun leckten sich fünf der Katzen kurz die Pfoten, dann drehten sie sich auf den Rücken, streckten die Pfoten in die Luft, und scheinbar ohne spezielle Anweisung von Emton, der sich in der Nähe aufhielt, sprang die sechste Katze auf die erhobenen Pfoten und hüpfte von einer Katze zur nächsten. Es war eine wunderbare kleine Parodie auf die Akrobatennummer, die gleichzeitig in der zweiten Manege stattfand. »Hatten wir viel Spaß mit unserer süßen Kekri?«, zischte Darod Montagna mit einem Lächeln auf dem Gesicht, das nur für die Zuschauer bestimmt war. »Es war Arbeit«, versuchte Garvin zu erklären. »Natürlich!«, erwiderte Montagna, die ihm offensichtlich kein Wort glaubte. »Ich hoffe, ihr beiden habt euch sehr glücklich gemacht. Du kannst gerne in ihr Quartier ziehen, wenn du möchtest. Ich habe jedenfalls nichts dagegen.« Garvin überlegte angestrengt, was er sagen sollte, brachte aber nicht mehr als ein mattes »Aber...« heraus, während Montagna davonschlenderte. Dass Kekri bei ihm einzog, wäre das Letzte, was er jetzt wollte. Dazu hatte er nicht die nötige Energie, und Katun hatte auch kein ausgesprochenes Interesse gezeigt, die Angelegenheit zu vertiefen, auch wenn sie sich während des Rückflugs recht liebevoll verhalten hatte. Anscheinend, dachte Garvin voller Bedauern, war es ihm nicht nur nicht gelungen, Katun zu beeindrucken, sondern er hatte es gleichzeitig geschafft, sein Verhältnis zu Montagna zu zerstören. 133 Er hatte kaum genug Zeit gefunden, Njangu von diesem Fehlschlag zu berichten und von ihm zu erfahren, dass Kekri in der Tat ein Spion war, als er sich auch schon auf die abendliche Vorstellung vorbereiten musste. In Selbstmitleid versunken, hätte er beinahe verpasst, wie die Katzen die Manege verließen. Zum Glück brüllten die Raubkatzen, die vor dem Zelt auf ihren Auftritt warteten, sodass er sich im letzten Moment zusammenreißen konnte.
Arbeiter bauten in der zentralen Manege einen riesigen Käfig auf. Sie schalteten die Antigraveinheiten an den schweren Einzelteilen ab und koppelten sie aneinander. Garvin ließ seine Peitsche dreimal knallen. »Sie können sie hören, Sie können sie riechen, und nun kommen sie herein, die Reißzähne gebleckt, die Krallen zum Zupacken bereit. Passen Sie gut auf Ihre Kinder auf, meine Damen und Herren, denn diese gefräßigen, heimtückischen Bestien der Wildnis sind nur schwer im Zaum zu halten. Ich selber würde mich niemals in diesen Käfig wagen. Nur ihr Meister, der unvorstellbar mutige Sir Douglas, ist dazu bereit. Lassen Sie uns ihn und seine tödlichen Raubtiere willkommen heißen!« Monique Lir schenkte den Tänzern auf der Bühne des Clubs in Pendu nur wenig Beachtung, weder den bekleideten noch den nackten, während sie zuhörte, wie Darod Montagna ihrer Wut Ausdruck verlieh. »Bist du dir sicher, dass du so einen radikalen Schnitt machen willst?« »Ich würde den Schnitt lieber an seinem dreckigen Schwanz machen«, regte sich Darod auf, »und zwar möglichst weit oben, am besten an den Ellbogen!« 134 »Hast du jemals darüber nachgedacht, warum der Boss dieses Titten‐und‐Arsch‐ Wunder mitgenommen hat?« »Warum? Weil er sie poppen wollte! Und... weil sie viel hübscher aussieht als ich!« »Vielleicht zur ersten Aussage, na und zur zweiten. Die Mellusin‐Tussi, mit der er was auf Cumbre hat, könnte vielleicht auch etwas hübscher aussehen als du. Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass es möglicherweise einen ganz anderen Grund hat?« »Zum Beispiel?«, wollte Montagna wissen. »Was für ein Grund sollte das sein?« »Zum Beispiel könnte es sein, jemand wollte es so, dass Katun während jener Nacht nicht zu Hause ist. Weil vielleicht jemand ihre Sachen durchsuchen wollte.« »Verschissener Giptelknödel!«, entfuhr es Montagna. »Woher willst du so was wissen?« »Weil mein ‐ beziehungsweise jetzt wieder unser ‐ Quartier auf dem gleichen Deck wie ihres liegt. Und weil ich keinen besonders tiefen Schlaf habe. Und weil ich Njangu gesehen habe, der mit Unschuldsmiene und ein paar seiner Helfer herumspazierte, nachdem sich alle anderen zur Nachtruhe begeben hatten.« »Oh«, sagte Montagna kleinlaut. »Und falls er sie wirklich regelmäßig poppen will«, fuhr Monique fort, »dann kannst du eigentlich nur mit den Schultern zucken, dich vom Acker machen und die Sache vergessen. Es ist ja nicht so, dass ich dich nicht gewarnt hätte.« »Stimmt«, piepste Darod sehr leise und nippte von ihrem Drink. »Vielleicht bin ich wirklich bescheuert. Aber es ist trotzdem nicht richtig!« »Erzähl keinen Scheiß«, sagte Lir. »Männer sind nun mal grundsätzlich Gipfels.«
135 »Was soll ich also machen? Einfach dableiben?« Monique antwortete nicht, sondern schaute zu den verschiedenen eindeutig männlichen und weiblichen Körperteilen hinüber, die begeistert von den Tänzern vorgeführt wurden. »Ich bin froh, wenn wir diesen verdammten Planeten verlassen haben«, murmelte sie. »Diese ganze Welt riecht nach Sperma. Nach Sperma und verrostetem Eisen.« »Es wird immer merkwürdiger«, meinte Njangu nachdenklich. »Also gut. Versuchen wirʹs damit: Berta hat Verständnis für unser Anliegen ‐ vielleicht auch nur unbewusst. Sie will, dass Gesetz und Ordnung und der ganze Mist, den die Leute für so wichtig halten, in ihr Leben zurückkehren, und das Einzige, woran sie denken kann, ist die Konföderation. Sie kann uns die Daten nicht geben... aber das bedeutet nicht, dass sie für uns unerreichbar sind. Okay. Ich glaube, ich und ein paar Freunde können ihr vielleicht helfen, weiterhin ein gutes Gewissen zu haben.« »Schön«, knurrte Garvin. »Ich wünschte mir nur, jemand würde mir helfen, damit auch ich ein gutes Gewissen haben kann.« »Tja«, sagte Njangu, »es sieht tatsächlich so aus, als wärst du vielleicht nicht ganz das, wovon Katun träumt... oder vielleicht war sie auch nur neugierig, und alles gehörte zu ihren Ermittlungen, da die Notizen, die sie gemacht hat, von der Karte da drüben stammen. Oder sie könnte auch nur irgendeine Ologin sein, die ein Holo über Zirkusleute zusammenstellen will. Geh und kauf Blumen für Darod. Dann ist sie irgendwann vielleicht nicht mehr stinksauer auf dich, du elender Betrüger. In ein bis zwei Äonen oder so.« 135 »Vielen Dank«, brummte Garvin. »Also wirst du jetzt versuchen, an ihr süßes Honigtöpfchen ranzukommen?« »Kommt nicht in Frage, Bruder.« Njangu hob abwehrend die Hände. »Erstens wäre da Maev, die mich schon ziemlich in Atem hält. Zweitens bin ich kein Supermann, was unserer guten Kekri zu wenig zu sein scheint. Drittens bin ich jemand, der im Gegensatz zu manchen großen blonden Kerlen, die mit schnieker Uniform auf dem Exerzierplatz oder im Zirkus herumstolzieren, genau weiß, wo seine Grenzen liegen.« »A... aber... aber du warst doch derjenige, der mir gesagt hat, dass ich es tun soll!«, stotterte Garvin. »Ach...«, sagte Njangu mit einer wegwerfenden Geste. »Ich habe gelernt, mich nicht auf meinen Triumphen auszuruhen. Was ich im Augenblick brauche, nachdem ich deine verschwommenen und verwackelten Holos von den Berta‐ Fabriken gesehen habe, ist ein netter, zuverlässiger Liliputaner.«
12 »Vielen Dank, dass du mich eingeladen hast«, sagte Kekri Katun.
»Danke, dass du mich begleiten willst!«, erwiderte Ben Dill. »Es ist nett, wenn mir die hübscheste Frau des ganzen Schiffes dabei hilft, vielleicht ein Gemälde oder etwas anderes mit meinem schwer verdienten Gehalt zu kaufen.« Kekri lächelte ironisch. »Ich scheine nicht sehr oft eingeladen zu werden. Manchmal komme ich mir schon wie 136 ein Paria vor. Das liegt vielleicht daran, dass ich von einer anderen Welt als die meisten von euch stamme.« »Blödsinn«, sagte Dill schroff. »Niemand betrachtet dich als Paria«, log er. »Wir kommen von den unterschiedlichsten Welten, also kann das nicht der Grund sein. Ich glaube eher, es liegt daran, dass du so hübsch bist. Ist dir aufgefallen, dass viele der Showgirls nie oder fast nie eingeladen werden? Komm nicht auf die Idee, dass du eine Märtyrerin oder etwas Besonderes bist!« Kekri grinste und drückte Dills Arm. »Vorsicht, Lady«, sagte er. »Bring den Piloten nicht durcheinander, auch wenn er der beste in sechs Systemen und das hier nur ein stinkender Gleiter ist.« »Was sind das für seltsame Schiffe, mit denen du sonst herumfliegst?« »Du meinst die Aksai«, sagte Dill. »Von den Musth gebaut ... Leuten wie Alikhan. Sie wurden im Kampf eingesetzt...« Plötzlich erinnerte sich Ben an Njangus Warnung und ihre Tarngeschichte, »...gegen Schiffe der Konföderation, kurz vor dem Zusammenbruch. Wir kennen jemanden, der jemanden kennt, und haben ein paar davon gekauft.« »Du kommst gut mit den Musth zurecht?« »Zirkusleute kommen mit jedem gut zurecht«, sagte Ben. Kekri schien zu spüren, dass die Sache heikel wurde, und wechselte das Thema. »Was genau soll ich eigentlich tun?« »Ich habe wahrscheinlich den Geschmack eines Wasserbüffels, was Kunst betrifft«, sagte Dill. »Aber mein Quartier sieht so verdammt kahl aus. Ich habe von diesem Kunstmarkt gehört, der hier jedes Wochenende stattfindet, 136 direkt am Fluss, der durch Pendu fließt, und ich dachte mir, du könntest mir vielleicht helfen, etwas auszusuchen, das nicht zu grässlich aussieht.« »Du bist Pilot«, sagte Kekri nachdenklich. »Willst du etwas mit Raumschiffen oder Weltraumszenen?« »Keine Chance«, sagte Ben. »Das ist mein Job, also will ich es mir nicht zu Hause ansehen. Etwas Abstraktes wäre eher mein Ding.« Kekri warf ihm einen respektvollen Blick zu. »Also hast du einen gehobenen Kunstgeschmack, du kannst tonnenschwere Gewichte heben, du kannst Aksai fliegen...« »Und auch sonst so ziemlich alles Mögliche«, sagte Ben. »Alles außer Prahlen.« »Und alles Mögliche«, ergänzte Kekri. »Welche Begabungen hast du sonst noch?« »Ich bin insgeheim ein Sexprotz und obendrein bescheiden wie sonst wer.«
Kekri lachte und klopfte mit einer Hand auf seinen Oberschenkel. »Okay, Mr. Bescheidenheit. Ist das da drüben ein Landefeld?« »Aber klar, Lady. Jetzt pass gut auf und halt deinen Magen fest.« Dill ließ den Gleiter seitlich abkippen und stürzte sich senkrecht auf den kleinen Landeplatz hinunter. Im letzten Moment zog er hoch und setzte das Gefährt ab, ohne dass eine Kufe über den Boden schrammte. »Da wären wir«, sagte er. »Der Fluss ist da drüben, also wollen wir mal schauen, ob es dort etwas Kaufenswertes gibt.« Sie stiegen aus, und ein Angestellter näherte sich, der merklich die Augen aufriss, als er die Frau und den Riesen von einem Mann sah. 137 »Hier«, sagte Dill und warf einen Credit durch die Luft. »Passen Sie auf, dass niemand seine Initialen in die Kiste ritzt, und parken Sie ihn so, dass ich notfalls schnell von hier verschwinden kann!« »Sir«, sagte der Angestellte und verbeugte sich ein paar Mal. »Ja, Sir! Möchten Sie, dass ich ihn wasche und poliere?« »Nein«, sagte Dill. »Anschließend wird er sowieso gleich wieder schmutzig.« Als sie fortgingen, sagte er: »Was habe ich falsch gemacht? Ihm die falsche Münze zugeworfen? Ich dachte schon, als Nächstes würde er mir einen Heiratsantrag machen.« »Ich habe gehört«, sagte Kekri, »dass ein Credit der Konföderation in einheimischer Währung ‐ sofern man jemanden findet, der bereit ist, das Geld zu wechseln ‐ so viel wert ist wie ein Wochengehalt.« »Donnerwetter! Zur Hölle mit der Kunst!«, rief Dill. »Lass uns einen Tempel suchen und eine Wechselstube eröffnen!« Der Liliputaner hieß Felip Mandʹl und nannte sich häufig »Lucky Felip«. »Natürlich ist Lucky Felip entzückt, dem Zirkus helfen zu können, zumal es in meinem Vertrag heißt, dass ich mich verpflichte, neben meiner Kunst auch von allgemeinem Nutzen< zu sein! Und ich bin durchaus in der Lage, Stillschweigen zu wahren. Außerdem gebe ich zu, dass mir ohnehin schon der Gedanke gekommen ist, dass es ein paar dunkle Geheimnisse in unserer Truppe gibt, auch in Anbetracht der Tatsache, wie wir jetzt gekleidet sind, was für Artisten zumindest nicht die Norm ist«, sagte 137 er leicht adrenalinisiert. »Aber wieso haben Sie ausgerechnet Lucky Felip erwählt? Es gibt doch insgesamt über ein Dutzend kleinwüchsiger Menschen im Zirkus Jaansma.« »Ich habe ein paar Erkundigungen eingezogen«, sagte Njangu. »Vor allem über die Vergangenheit verschiedener Angehöriger unserer Truppe.« »Ach, das war alles nur ein böser Fehler«, sagte Mandl. »Ich war sehr jung, und sie war sehr hübsch, und sie schwor Stein und Bein, dass ein eifersüchtiger Liebhaber ihr den Schmuck weggenommen hätte. Und ich war der Einzige, der
zur Dachwohnung dieses vermeintlich bösen Menschen hinaufklettern konnte, und ich wäre beinahe ungeschoren davongekommen!« »Entspannen Sie sich«, sagte Njangu. »Vor längerer Zeit gab es auch ein paar Dinge, mit denen ich beinahe ungeschoren davongekommen wäre.« Mandʹl sah die anderen drei Personen im Gleiter an. Genauso wie er waren Njangu, Penwyth, Lir und eine Elektronikerin namens Limodo vom Scheitel bis zur Sohle in Schwarz gekleidet. Sie trugen Rollmasken auf den Köpfen, Nachtsichtbrillen auf der Stirn und Kehlmikros. Alle hatten kleine Taschen mit Ausrüstung dabei. »Ah... mir ist aufgefallen, dass Sie alle Waffen tragen. Warum wurde mir keine angeboten?« Felip bemühte sich, indigniert zu klingen. »Können Sie mit einem Blaster umgehen?«, fragte Lir zurück. »Bedauerlicherweise nicht. Das gehört nicht zu den Fähigkeiten, die ich im Lauf meines Lebens kultivieren konnte. Aber ich bin äußerst treffsicher mit einer altertümlichen Projektilwaffe, und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Unterschied allzu groß ist.« 138 »Ist er aber«, sagte Monique. »Wir möchten nicht, dass Sie sich in den Fuß schießen. Oder mir.« »Aha«, sagte der Liliputaner und ließ sich in seinen Sitz zurücksinken, während sich der Gleiter im Tiefflug den Bergen näherte. »Hölliges Kantinenrohr!«, brummte Dill, als er das semiaktive Hologemälde betrachtete, das fast genauso groß war wie er. »Ich wusste gar nicht, dass es so viele Rottöne gibt ‐oder so viele Möglichkeiten, blöd auszusehen, während man mit einem Blaster herumfuchtelt.« »Psst!«, machte Kekri und versetzte ihm einen Rippenstoß. »Ich glaube, das da drüben ist der Künstler.« »Stell mich ihm vor«, sagte Ben. »Dann wird Mrs. Dills Lieblingssohn ihn über die Böschung in den Fluss schubsen. Er ist zu schlecht, um weiterleben zu dürfen.« Vielleicht zweihundert Künstler hatten ihre Werke an einem breiten Gehweg aufgehängt oder in manchen Fällen auch nur an die Steinmauer gelehnt. Auf der anderen Seite ging es drei Meter tief zum grauen, winterlichen Fluss hinunter. Nur hier und dort war ein Boot am Kai vertäut. »Komm«, sagte Kekri und zerrte an seinem Arm. »Wir haben doch noch gar nicht richtig angefangen.« »Gibt es hier nirgendwo eine Bar? Mein Kunstgeschmack scheint in Verbindung zu meinen Geschmacksnerven zu stehen, und vielleicht sollte ich mir ein oder sechs Bier genehmigen, damit dieser Mist einen besseren Eindruck macht.« »Kauf niemals Kunstwerke, wenn du besoffen bist«, riet ihm Kekri. »Das hat schon meine Großmutter ständig gesagt.« 138
»Aha? Womit hat sie ihren Lebensunterhalt verdient, um zu dieser Weisheit zu gelangen?« »Ich glaube, sie hat ein Bordell geleitet.« »Beim Zäpfchen des Sonnengottes, ich sollte nicht mehr von deiner Seite weichen«, sagte Ben. »Ein Puff wäre genau das Richtige, wo ich mich zur Ruhe setzen möchte.« Er lachte schnaufend. »Also gut«, sagte Kekri. »Offenkundig bist du nicht in der geeigneten Verfassung, um dir weitere Kunstwerke zu Gemüte zu führen.« »Jedenfalls nicht diesen Mist. Ich verstehe nicht, was an einem blöden Gemälde eines blöden Raumschiffswracks im Sonnenuntergang romantisch sein soll«, knurrte Dill. »Vielleicht sollte ich lieber auf Fingermalerei umschwenken ‐ und mir meine eigenen Kunstwerke schaffen.« »Ich glaube, das da drüben ist eine Gaststätte«, rief Katun und zeigte auf das Gebäude. »Also gut. Jetzt warten wir nur noch, bis dieser Konvoi vorbeigezogen ist, dann...« Der Konvoi bestand aus einem halben Dutzend schwerer Gleiter mit offenen Ladeflächen, die jedoch mit Planen verdeckt waren. Dann wurden die Planen zurückgeschlagen, und Männer mit Waffen sprangen heraus. »Ach du Scheiße!«, sagte Dill, griff nach Kekris Arm und zog sie auf den Kunstmarkt zurück. »Wo zum Henker sind wir da nur hineingeraten?« »Schau mal da drüben!« Kekri zeigte auf mindestens zehn weitere Gleiter, die in der Nähe einer Brücke den Fluss überquerten. Die Männer hinter Dill eröffneten das Feuer auf den zweiten Konvoi, und auch aus diesen Fahrzeugen sprangen Männer, die zurückschössen. Schwere Blaster auf den 139 Gleitern ratterten, und Menschen schrien vor Angst oder Schmerz. Dill hatte sich flach zu Boden geworfen und Kekri halb unter sich begraben. Neben ihnen lag der Künstler, dessen Werk er so abgrundtief hasste. »Was ist hier los, verdammt?« Der Künstler schüttelte hastig den Kopf. »Wahrscheinlich wieder eine Meinungsverschiedenheit unter den Anarchisten. Sie können sich einfach nicht darauf einigen, wie sie sich organisieren sollen.« Er schrie und zuckte, als Patronen in das Pflaster und seinen Rücken einschlugen. »Hier ist es nicht sicher«, stellte Dill fest, blickte sich um und schnappte sich Kekri, die überrascht aufschrie. Er lief rückwärts, warf Staffeleien um und verfluchte den Umstand, dass er unbewaffnet war. Jemand sah ihn und schoss auf ihn, verfehlte ihn jedoch. Dann sprang Dill über die Böschung in den Fluss. Er tauchte unter, während er mit einer Hand weiterhin Kekris Bein festhielt. Sie tauchten gleichzeitig wieder auf. Kekri prustete.
»Ich hoffe, du kannst schwimmen«, sagte Dill. »Ja«, sagte sie. »Dein Hechtsprung kam nur ein wenig überraschend für mich.« »Gut«, sagte Ben. »Wir schwimmen zu dem kleinen Boot da drüben, machen es los, bleiben auf der anderen Seite im Wasser und lassen uns ein Stück flussabwärts treiben.« »Einverstanden«, sagte Kekri, schwamm los und drehte sich dann auf den Rücken. »Du reagierst sehr schnell.« »Das empfiehlt sich für jemanden, der so groß ist wie ich. Jetzt halt die Klappe und schwimm weiter.« 140 Sie legten mehrere Meter zurück, dann prustete Dill wie ein auftauchender Wal. »Scheiße«, sagte er. »Anarchisten, die aufeinander schießen, weil sie sich nicht organisieren können! Was ist das nur für ein durchgeknallter Planet!« »Lucky Felip könnte auf diesem Stahlträger ein Tänzchen aufführen«, sagte Mandʹl in sein Mikro, während er schnell an den durchbrochenen Fenstern des Archivs von Berta Industries hinaufkletterte. »Notfalls sogar im Handstand.« »Klappe halten und weitermachen«, antwortete Njangu. Mandʹl kniete sich hin, und ganz kurz flammte Licht auf, als er seinen Schweißbrenner aktivierte. Er nahm das halb geschmolzene Glas mit den Asbesthandschuhen heraus, griff nach innen, fand den Fenstergriff und öffnete das Oberlicht. »Bitte eintreten!«, sagte er. »Werfen Sie zuerst das Seil runter«, erwiderte Limodo. »Ich bin leider kein verdammter Akrobat.« Mandʹl knotete das Seil um etwas Festes innerhalb des Archivgebäudes und warf es ihr zu. Sie kletterte nach oben, und kurz darauf folgten ihr die anderen drei. Drinnen standen sie auf einer Metallplattform hoch über den Firmendokumenten von Berta Industries. Sie warteten eine Weile schweigend ab und sahen sich im Halbdunkel innerhalb des Gebäudes um. Alle Angehörigen der Legion hoben eine Hand und bildeten mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. Keine Wachen. Zumindest waren keine zu sehen. Njangu zeigte nach unten, und sie krochen über die Treppen zum Boden hinunter. 140 Limodo sah sich die Terminals an und schaltete einen ein. In den nächsten Minuten starrte sie auf das blaue Licht und berührte gelegentlich einen Sensor. Schließlich nickte sie. »Ich glaube, ich habe es.« Dann begann sie mit der Suche und nahm einen kleinen Monitor aus ihrer Ausrüstungstasche zu Hilfe, um die Daten mit den Seriennummern zu vergleichen, die sie auf Tiborg erhalten hatten. Eine Stunde verging, während sie sich immer tiefer in die Eingeweide des Archivs wühlte.
»Zumindest gibt es hier keine Fallen oder Sicherheitsbarrieren«, meldete sie. »Die Datenbanken scheinen sehr klar aufgebaut zu sein.« »Still!«, befahl Njangu in diesem Moment, und alle gehorchten. Zwei Männer standen vor dem Haupteingang und leuchteten mit Taschenlampen ins Innere des Gebäudes. Niemand rührte sich; dann gingen die Männer weiter, und die Suche konnte fortgesetzt werden. »Da wären wir.« Dill steuerte das kleine Boot zu einer Anlegestelle. Er sprang mit einer Fangleine aus dem Wasser und machte das Boot fest. »Ich bin beeindruckt«, sagte Kekri. Dill sprang zurück ins Boot. Es schaukelte heftig, und er musste sich am Dach der Kabine festhalten. »Dann könntet Ihr Euch mit einem Kuss erkenntlich zeigen, Mylady. Anschließend werden wir ein Abholkommando anfordern und den verdammten Gleiter von jemandem zurückbringen lassen. Und von nun an werde ich auf meinen Kunstgeschmack pfeifen.« Kekri öffnete den Mund und näherte sich seinen Lippen. Der Kuss war lang und wurde immer intensiver. Ihre Arme 141 glitten von seinen Schultern auf seinen Rücken, dann nach vorn und über seinen Bauch weiter nach unten. Plötzlich riss sie sich von ihm los. »O mein Gott!«, keuchte sie. »Ah... dir hätte klar sein müssen, dass ich ein recht großer Kerl bin«, sagte Dill leicht verlegen. »Einschließlich ...« »Halt die Klappe«, sagte Kekri. »Ist diese Kabine da abgeschlossen?« »Ah... nein.« »Dann nichts wie rein. Beeil dich!« »Äh... okay.« »Ich habʹs«, meldete Limodo und schloss ein kleines Kopiergerät an das Terminal an. »Noch fünf bis zehn Minuten, dann habe ich alle Daten. Und noch einmal fünf, um meine Spuren zu verwischen.« Lucky Felip rührte sich unter dem Lesepult, wo er sich versteckt hatte. »Das ist ja viel zu einfach. Ich hatte mehr Aufregung erwartet.« »Ruhe«, flüsterte Penwyth über den Kom. Er und Lir hatten sich mit ihren Waffen links und rechts neben dem Eingang postiert, um sich gegen Störer verteidigen zu können. »Es bringt Unglück, wenn man zu selbstsicher ist.« »Denken Sie an die Juwelen, die Sie holen wollten«, sagte Lir. »Fast geschafft ist nicht geschafft.« »Schwänze hoch, Schwänze hoch«, riefen Thanon und Phanon im Chor, und die Elefanten gehorchten, sogar die Kälber Imp und Loti. Mit Rüsseln und Schwänzen bildeten sie eine Kette, die langsam aus dem Zelt wankte, während die Lichter angingen. 141
»Und das war es für heute, meine Damen und Herren und lieben Kinder«, rief Garvin. »Ende, aus und vorbei.« Dann schwärmten die Verkäufer im Publikum aus. »Vergessen Sie nicht, ein Programm zu kaufen, ein würdiges Souvenir des Zirkus Jaansma, mit dem Sie die Erinnerung wachhalten können, bis wir wieder einmal in der Gegend sind.« »Irgendwann Anfang des nächsten verdammten Jahrhunderts«, murmelte Montagna vor sich hin. »Oder auch erst im übernächsten.« Sie sah, wie Graav Ganeel auf einem Sitz in der vordersten Reihe mit wehmütigem Blick den Elefanten hinterherschaute. Die Big Bertha startete zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Monique Lir war auf der Brücke und blickte hinunter, als die Lichter von Pendu von der Wolkendecke verschluckt wurden. »Dieser Scheißplanet«, sagte sie, ohne jemand Bestimmten anzusprechen und ohne zu wissen, dass Lady Libnah Berta fast genau dieselben Worte geäußert hatte, »wird ohne die Konföderation nicht lange zurechtkommen. Wenn sich nicht bald etwas ändert, werden sie hier demnächst im Stechschritt hinter irgendeinem Idioten in den Tod oder Schlimmeres marschieren.« 142
13 N‐Raum »Wahrscheinlich haben die meisten von Ihnen schon eine gewisse Vorstellung, was los ist«, sagte Njangu zu den Offizieren der Legion, die sich auf der Brücke der Big Bertha versammelt hatten. »Aber jetzt kommen wir zu den nackten Tatsachen. Dazu gebe ich das Wort an Dr. Froude weiter.« »Wir haben inzwischen einige interessante Erkenntnisse gewonnen«, begann Froude. »Wir besitzen nun so etwas ‐ oder glauben es zu besitzen ‐ wie den Ansatz eines Generalschlüssels zur Konföderation, der uns hoffentlich davor bewahren wird, von Robotern oder unseren eigenen Leuten getötet zu werden. Von den Navigationspunkten in unserer Nähe wird uns eine Sequenz aus sechs Sprüngen in das Capella‐System führen. Ich plädiere jedoch für acht Sprünge, und zwar aus folgendem Grund: Diese zweite Reihe von Navigationspunkten, die ich hier in einer stark vereinfachten Sternenkarte markiert habe, sind den Sys‐ temen rund um Capeila >näher<. Ich würde mich gerne ein bisschen in der Umgebung von Centrum umsehen, bevor wir einen direkten Vorstoß wagen. Anmerkungen? Fragen? Ergänzungen?« Es gab keine, und die Big Bertha sprang erneut in den N‐Raum. »Das hier ist sehr interessant«, stellte Njangu fest, nachdem er mehrere Monitore konsultiert hatte. »In diesem System, W‐R‐wie‐auch‐immer, soll es angeblich nichts geben. Kei 142
ne Kolonien, keine Stationen, als UNBEWOHNT klassifiziert. Trotzdem haben die Detektoren auf diesem Planeten hier einen riesigen Metallklotz entdeckt.« Er schaltete ein Mikro ein. »Ben, was hast du?«, sagte er, ohne sich um die offizielle Kommunikationsetikette zu scheren. Eine Weile herrschte Stille, dann kam: »Bin bei der zweiten Umkreisung. Wir haben hier etwas sehr Ungewöhnliches, Njangu. Was die Detektoren registriert haben, sieht für mich wie eine große verdammte Festung aus, sehr modern, hauptsächlich unterirdisch angelegt. Ich sende Bilder und Echtzeitdaten, damit ihr einen Eindruck bekommt. Aber das Interessanteste scheint mir, dass das Ding verlassen ist.« »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, dass meine Detektoren nichts empfangen, auf keiner Wellenlänge. Nichts auf Infrarot, nichts auf dem Radar, nicht einmal Streustrahlung. Optisch sind Hangars zu erkennen, geschickt getarnt, aber die Tore stehen offen wie mein Hosenstall nach einer wilden Party. Ich glaube, ich sehe Abschussrampen, aber keine einzige Rakete. Es gibt Ortungsanlagen und ein paar Antennen. Ich bin einmal im Tiefflug darüber hinweggebraust, aber nichts hat Piep gemacht. Der Laden sieht aus, als wäre es den Leuten zu langweilig geworden, woraufhin sie einfach abgehauen sind.« »Könnten Sie die Big Bertha näher heranbringen?«, fragte Froude den Captain des Schiffes. »Bestätigt«, meldete Liskeard. Das Bild des Planeten flimmerte, dann waren die Wirbel des N‐Raums zu sehen, und kurz darauf füllte der Planet den gesamten Hauptbildschirm aus. 143 »ʹtschuldigung, Ben«, sagte Njangu. »Hab vergessen, dir zu sagen, dass wir näher rangesprungen sind.« »Ach, schon gut«, sagte Dill. »Ich dachte nur, ihr Jungs hättet mich hier ganz allein zurückgelassen. Dummerweise wird jetzt irgendjemand die Kabine meines Aksai putzen müssen. Auf dieser Welt möchte ich nicht in Gnaden und Einsamkeit alt werden.« Froude hörte nicht auf die Gespräche, sondern betrachtete aufmerksam die Bildschirme. »Ich glaube, unser Big Ben könnte recht haben«, sagte er. »Ich vermute, dass das hier ein geheimer Stützpunkt für irgendetwas war, da er schon längere Zeit zu existieren scheint. Und es kann nur die Konföderation gewesen sein, die genügend Mittel zur Verfügung hatte, um so etwas zu bauen. Aber dann hat man sich einfach so über Nacht aus dem Staub gemacht und die Scheunentore weit offen stehen lassen. In der Tat äußerst merkwürdig...« »Warum«, fragte Kekri, »haben wir heute so viel Zeit in diesem toten System verbracht?« »Keine Ahnung«, log Ben. »Ich war die ganze Zeit im Bereitschaftsraum und habe meine Eier geschaukelt. Alikhan war im Einsatz.«
»War es nicht unheimlich, gar nichts tun zu können? Hat Garvin überhaupt keine Andeutungen gemacht?« »Nein«, sagte Dill. »Was ich unheimlich finde, ist, dass ich meinen Pilotenanzug ausgezogen habe, splitternackt herumspaziere und so bereit bin wie nie und ich dich immer noch nicht besprungen habe.« »Einen Moment noch«, protestierte Kekri. »Wir können doch nicht die ganze Zeit vögeln! Wir haben gerade darüber geredet...« Dann stöhnte sie auf, und für einen länge 144 ren Zeitraum wurden in ihrer Kabine nur noch wenige zusammenhängende Sätze gesprochen. Der nächste Sprung führte sie in ein totes System, in dem keine Überraschungen auf sie warteten.
Sabyn / Sabyn I Nach dem nächsten Sprung wurde es wieder interessanter. Angeblich waren von den sechs Planeten des Sabyn‐Systems drei besiedelt. Hier sollte es hauptsächlich Landwirtschaft und ein wenig Leichtindustrie geben, aber zur Kultur waren keine näheren Angaben verfügbar. Die Aksai meldeten Leben auf allen drei Welten. Keine sichtbaren militärischen Einrichtungen, keine Bedrohung. Garvin ließ die Big Bertha aus dem N‐Raum fallen und sendete eine Bitte um Landeanweisungen. Auf die ersten drei Funksprüche kam keine Antwort. Weitere Sendungen wurden zu den anderen Welten geschickt, wieder ohne Reaktion. Garvin spürte, dass er eine Gänsehaut bekam, und ließ all seine Kampfschiffe auf Position gehen, da er mit Schwierigkeiten rechnete. Aber nichts rührte sich. »Also gut«, sagte er. »Dann machen wir es auf die primitive Tour.« Wie auf Cayle bombardierten sie die drei Welten mit Werbesendungen und Feuerwerk. Auch diesmal keine Reaktion. »Ich habe hier etwas recht Außergewöhnliches«, mel 144 dete Alikhan von seinem Aksai, der die Oberfläche des ersten Planeten erkundete. »Ich übermittle Bilder. Was ihr dort seht, ist ein Landefeld, aber es wurde ziemlich gründlich zerstört. Die Tower sind eingestürzt, und die Gebäude wurden bombardiert, genauso wie auf Salamonsky. Ich habe den Eindruck, dass der Angriff schon vor längerer Zeit stattfand... er dürfte mindestens ein Planetenjahr zurückliegen. Aber die Welt ist nicht verlassen! Ich habe einen kleinen Gleiter gesichtet, und als er mich bemerkte, flüchtete er sich in einen Wald. Dann habe ich seine Spur verloren, obwohl meine Infrarotortung die ganze Zeit über aktiviert war.«
Der Wachoffizier brachte die Big Bertha näher an den Planeten heran, und sie warteten noch eine Weile. »Wir wurden zweimal durch Radar von der Planetenoberfläche erfasst«, meldete ein Elektroniker. »Aber die Signatur weist laut Computer nicht auf die Zielerfassung eines Waffensystems hin. Danach kam nichts mehr.« Alle sahen Garvin an und warteten auf seine Entscheidung. »Dann wollen wir mal mit dem Hintern wackeln und schauen, was passiert«, sagte er. »Wir landen auf der Freifläche neben dem Bombenkrater und schlagen unsere Zelte auf.« »Ziemlich wagemutig«, murmelte Njangu. »Alle Einheiten sollen uns Rückendeckung geben, während wir runtergehen.« »Warum bauen wir das Zelt auf, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich Penwyth. »Mir fällt nichts Besseres ein, um zu signalisieren, dass wir in Frieden kommen.« 145 Ihr erster Kunde war ein recht zäh wirkender kleiner Bauernjunge, der herbeispazierte und sich mit versteinerter Miene die Anpreisungen einer Ansagerin aus dem Rummel anhörte. Als sie ihren Singsang für einen Moment unterbrach, fragte er: »Was kostet der Eintritt?« »Nur einen halben Credit der Konföderation für den Zirkus«, sagte die Frau. »Keine Ahnung, wie viel das in eurer Währung ist, aber da sind wir flexibel, mein Junge, sehr flexibel. Der Zutritt zum Rummel ist umsonst, aber für die Attraktionen und die Spiele müsste ein kleiner Obolus entrichtet werden.« Der Junge nickte, lief durch das Rummelzelt und sah sich neugierig um. Garvin beobachtete das Geschehen von der Brücke der Big Bertha. »Dürfte ihm verdammt unheimlich vorkommen, der einzige Gadscho weit und breit zu sein«, sagte er. »Und alle stürzen sich auf ihn, wenn auch sicherlich nur zu Übungszwecken.« »Vielleicht solltest du dich nach draußen wagen und herausfinden, was hier los ist«, schlug Njangu vor. »Was? Ich? Der Zirkusdirektor höchstpersönlich?« »Ja, du, der Zirkusdirektor. Na los!« Garvin gehorchte. Obwohl sich der Junge alle Mühe gab, gelassen zu bleiben, riss er doch ein wenig die Augen auf, als der große, ganz in Weiß gekleidete Mann vor ihm stand. »Willkommen in unserem Zirkus«, sagte Garvin. »Ich heiße Garvin. Und du?« »Jorma«, sagte der Junge. »Gefällt es dir hier?« 145 »Weiß noch nicht.« »Hier«, sagte Garvin und zog eine Eintrittskarte aus einer Tasche. »Eine Freikarte für meinen Zirkus. Aber es wäre besser«, und er holte noch ein paar mehr Karten hervor, »wenn du deine ganze Familie mitbringst.« »So viele brauche ich gar nicht«, sagte Jorma. »Außer mir ist nur noch Mutter und meine Schwester übrig. Aber die ist noch ein Baby.«
»Übrig?« »Seit die verdammte Konföderation gekommen und wieder verschwunden ist.« Garvin fasste sich wieder. »Was hat die Konföderation gewollt? Entschuldige, dass ich so blöd frage, aber wir kommen von ziemlich weit her und haben lange keine Nachrichten mehr gehört.« »Die Schweine kommen alle paar Jahre«, sagte Jorma. »Schnappen sich alles, was irgendwie wertvoll ist. Schlachten alles Vieh, das sie finden, und frieren unser Gemüse ein.« Jorma hielt inne, während es in seinem Gesicht zuckte, bis er sich wieder zusammengerissen hatte. »Und sie nehmen jeden mit, der sie begleiten will. Aber manchmal auch Leute, die das nicht wollen. Wie meine große Schwes‐ ter. « Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Das ist nicht richtig«, sagte Garvin. Jorma bedachte ihn mit einem Blick, in dem tiefste Verachtung lag. »Und wie sollen wir uns dagegen wehren? Wir haben keine Waffen, und sie haben Raketen und Raumschiffe.« Er zeigte zum nächstgelegenen Landefeld. »Das haben sie beim letzten Mal gemacht. Sie sagten, sie wollen nicht, dass wir im Weltraum rumgurken. Ein Land‐ 146 Streicher kam vorbei und meinte, sie hätten viele Städte zusammengeschossen. Ich weiß es nicht. Die meisten von uns leben in kleinen Dörfern. Wer in die Städte geht, wird zur Zielscheibe. Mein Vater zog los, um sich Arbeit zu suchen, und er kam nie zurück.« »Und diese Leute behaupten, sie seien von der Konföderation?« »Ja«, antwortete der Junge. »Und wir haben diese Holos bekommen, in denen sie davon quatschen, wie gut die Konföderation für uns alle war. Beschissene Lügner!« Er riss sich wieder zusammen. »ʹtschuldigung. Meine Mutter meint, ich soll solche Ausdrücke nicht benutzen.« »Damit habe ich kein Problem«, sagte Garvin. »Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich wahrscheinlich noch ganz anders fluchen.« Der Junge lächelte matt. »Vielleicht ist das hier doch keine Falle.« »Falle?« »Mutter sagte, die einzigen Raumschiffe, die in den letzten vier Jahren hierherkamen, waren Plünderer. Davor ist sechs oder sieben Jahre überhaupt niemand gekommen. Und davor, behauptet sie, gab es andere Konföderations‐ schiffe, die uns Sachen gebracht haben, statt uns alles zu klauen, was wir haben. Alle möglichen Schiffe, nicht nur Kriegsschiffe, sondern Frachter und sogar Passagierschiffe. Sie sagte, wenn man genug Credits hat, kann man einfach mit einem mitfliegen, und sie würden einen zu jedem Planeten der Galaxis bringen. Jedenfalls dachte Mutter, als wir die Ansagen aus Ihren seltsam aussehenden
Schiffen hörten, dass das nur ein neuer Trick von ihnen wäre, um uns auszurauben oder zu verschleppen.« 147 »Hör mal«, sagte Garvin, »wenn ich dich verschleppen wollte ‐ oder deine Mutter oder deine kleine Schwester ‐, glaubst du dann, dass ich mir die Mühe gemacht hätte, all diese Elefanten hierher zu bringen?« »Das sind richtige Elefanten? Von der Erde?« »Von dort stammen sie ursprünglich, aber das ist schon sehr lange her. Diese Herde frisst jeden Tag mindestens eine Tonne Heu. Dann brauchen sie noch Vitamine und Leckerbissen aus unserer hydroponischen Abteilung oder aus unseren Kühllagern.« »Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie davon hätten, mich und meine Familie zu entführen«, sagte Jorma. »Schau mal«, sagte Garvin. »Ich gebe dir ein ganzes Bündel Eintrittskarten. Du verkaufst sie zu dem Preis, den du rausschlagen kannst, und behältst die Hälfte der Credits.« »Warum ich?« »Weil du hier als Erster aufgekreuzt bist, was bedeutet, dass du ein mutiger Junge bist. Außerdem wird sich sonst niemand in unsere Nähe wagen, bis wir bewiesen haben, dass wir nicht zu diesen Konföderationsschiffen gehören. Ich glaube eher, dass sie auch auf uns schießen würden, wenn sie uns begegnen.« »Das könnte sein«, stimmte Jorma ihm zu. Garvin führte ihn zu einem Kassenhäuschen und gab ihm ein Paket mit Eintrittskarten, das fast so groß wie der Brustkorb des Jungen war. »Du machst Geld, wir machen Geld.« Jorma nickte, dachte nach und schien plötzlich Angst zu bekommen, dass Garvin es sich vielleicht anders überlegte. Er rannte durch den Rummel davon und verschwand im Gebüsch. 147 »Ich habe seinen Sender in der Peilung«, sagte Garvins Ohrhörer. »Soll ich seine Spur verfolgen?« »Klar«, sagte Garvin. »Aber niemand unternimmt etwas ohne meine Genehmigung. Punkt.« An diesem Abend hatte die Vorstellung zehn Zuschauer, einschließlich Jorma und seiner sehr skeptischen Familie. Am nächsten Abend waren es bereits fünfzig. Garvin ließ die Aksai und Patrouillenschiffe weiter in der Luft kreisen und ständig senden. Auf einige Städte waren Luftangriffe verübt worden, aber nirgendwo waren die Schäden so schwer, wie Jormas Landstreicher behauptet hatte. Am vierten Abend kamen dreihundert Menschen, von denen mehrere mit ramponierten Gleitern oder Bodenfahrzeugen eintrafen. Die Clowns und Verkäufer wurden durch mehrere von Njangus Geheimdienstspezialisten verstärkt.
»Der Junge hat die Wahrheit gesagt«, meldete Njangu. »Irgendwelche Leute, die sich als Angehörige der Konföderation ausgeben, plündern diesen Planeten etwa einmal pro Jahr. Aber sie sind nicht dumm. Sie klauen nur so viel, dass die Menschen hier nicht verhungern und ihre Wirtschaft nicht völlig zusammenbricht. Viele schließen sich ihnen freiwillig an. Aber andere — zum Beispiel Jormas Schwester ‐ werden nicht gefragt, sondern einfach mitge‐ nommen.« »Wunderbar«, sagte Garvin. »Damit verschaffen sie sich einen hervorragenden Ruf. Ich frage mich, wie viele andere Welten von diesen falschen Konföderationstypen heimgesucht werden.« »Keine Ahnung«, sagte Njangu. »Aber willst du eine 148 wirklich böse Idee hören? Hast du schon einmal darüber nachgedacht, ob es vielleicht wirklich die Konföderation ist?« Garvin kaute auf seiner Unterlippe, sagte aber nichts. »Noch eine interessante Tatsache«, fuhr Njangu fort. »Bisher ist kein Vertreter einer Regierung oder sonstigen Staatsgewalt aufgekreuzt, um sich unseren Zirkus anzusehen.« »Das ist verdammt ungewöhnlich.« »Stimmt«, sagte Yoshitaro. »Die einzigen halbwegs offiziellen Würdenträger, die sich hier haben blicken lassen, waren Bürokraten oder Dorfälteste oder wie auch immer sie sich schimpfen. Das bedeutet, dass sich die wahren Machthaber entweder im Gebüsch verstecken und sich vor Angst in die Hose machen, weil wir irgendwie in Verbindung mit den Plünderern stehen könnten ‐ oder dass es gar keine richtige Regierung gibt, außer den lokalen Häuptlingen und den Jungs, die für Strom und fließend Wasser sorgen. Aber das halte ich für extrem unwahrscheinlich. Menschen können einfach nicht auf Dauer in Anarchie leben. Doch es gibt da noch einen anderen Punkt. Wir haben behutsam nachgehakt, doch niemand ‐ und ich meine wirklich niemand, einschließlich der Kinder ‐ ist bereit, auf jemanden zu zeigen und zu sagen: >Ja, das ist der Stiefellecker des Premierminister oder etwas in der Art.« »Ziemlich gute Disziplin«, lautete Garvins Meinung. »Oder ziemlich große Angst, was ich für wahrscheinlicher halte.« Garvin schüttelte den Kopf. »Niemand sollte mit einer solchen Angst leben müssen.« »Was du nicht sagst!«, erwiderte Njangu. »Aber es gibt 148 viele von uns, die unter ähnlichen Bedingungen aufwachsen mussten.« »Uns?« »Ja, verdammt!«, sagte Njangu verbittert. »Vergiss nicht, dass es auch für mich nichts anderes als weglaufen oder Prügel einstecken gab, großer Hund frisst kleinen Hund, bis man mich mit einem Arschtritt in die Armee befördert hat. Ist das nicht irgendwie idiotisch? Da muss man erst eine Uniform anziehen, um festzustellen, dass es so etwas wie Grundrechte gibt! Dieser gottverdammte Kos‐
mos ist durchgeknallt, finde ich. Vielleicht sollten wir einfach nach Hause fliegen und vor uns hin vegetieren, nachdem wir allen Bösewichtern in der Umgebung den Arsch versohlt haben. Der Rest des verdammten Universums kann unseretwegen den stinkenden Bach runtergehen.« Garvin sah ihn nur an, und Njangu zwang sich zu einem Grinsen und einem Schulterzucken. »Tut mir leid«, sagte Njangu dann. »Ich fühlte mich in letzter Zeit etwas angepisst. Ach ja, noch etwas. Die Leute fragen schon, wie lange wir noch auf dieser Welt gastieren wollen. Schließlich haben wir so ziemlich alles herausge‐ funden, was es hier herauszufinden gibt, und niemand hat genug Geld, als dass wir hier Reibach machen könnten, und das bisschen Kohle, was Sopi eingenommen hat, trägt höchstens dazu bei, dass ihm auch noch die letzten Haare ausfallen.« »Noch vier oder fünf Tage«, erwiderte Garvin. »Ich habe ein weiches Herz, und ich finde es schön, wenn die Menschen voller Trübsinn hereinkommen und mit einem Lächeln wieder hinausgehen.« »Ja«, maulte Njangu. »Sehr schön. Du hast kein weiches Herz, sondern eine weiche Rübe.« 149
Mays Der nächste Sprung führte zu einem Navigationspunkt zwischen zwei Systemen und der übernächste ins Mays‐System. Hier gab es zwei bewohnte Planeten, jeder mit einem halben Dutzend Monde, und weitere Welten, die die Sonne vom G‐Typ in großem Abstand umkreisten und als »für den Mineralienabbau geeignet« klassifiziert waren. Erste Erkundungen durch Scoutschiffe brachten keine neuen Erkenntnisse, weder in positiver noch negativer Hinsicht, außer dass beide Planeten nach wie vor besiedelt waren. Die Big Bertha verließ den Hyperraum am Naviga‐ tionspunkt, der in der Lücke zwischen den bewohnbaren und den unbewohnbaren Planeten lag. Sie näherte sich einer der beiden Hauptwelten und wurde mit einem vorbildlichen Manöver von zwei Schiffen in die Zange genommen. Jane identifizierte sie als »Leichte Kreuzer der Langnes‐Klasse, gegenwärtig in der zweiten Reihe der Konföderationsflotte eingesetzt, mittelmäßig bewaffnet, leicht gepanzert, gute elektronische Ausstattung, äußerst zuverlässig und manövrierfähig«. Captain Liskeard blickte auf einen leeren Bildschirm und lauschte erneut der unsichtbaren Stimme, die verlangte, dass sie den gegenwärtigen Kurs beibehielten und auf die Ankunft eines Inspektionskommandos warteten. Er sah zu Garvin hinüber, erhielt jedoch keine Antwort auf seine unausgesprochene Frage.
»Hier ist das Zirkusschiff Big Bertha«, sendete er. »Beabsichtigen Landung auf Mays II.« »Unternehmen Sie keinen Landeversuch auf irgendeinem Planeten, bevor sie inspiziert wurden«, erwiderte 150 die Stimme. »Und schleusen Sie Ihre zwei Erkundungsschiffe wieder ein, sonst werden wir sie unter Beschuss nehmen.« »Hmm hmmhmm«, sagte Njangu. »Sir?« Ein Techniker rückte eine Projektion in Liskeards Blickfeld. Sie zeigte den nächsten Planeten und seine Monde, und neben jedem Himmelskörper waren Datenkolonnen eingeblendet. »>Hmm hmmhmm< bringt die Sache sehr gut auf den Punkt«, sagte Liskeard. »Sehen Sie hier.« Sein Finger berührte einen Mond, glitt hindurch und zeigte auf einen zweiten. »Beide Trabanten sind stark befestigt. Wenn die Kreuzer uns nicht im Schlepptau hätten, könnten sie auf uns feuern, und ich wette, dass die Raketen schlau genug sind, um uns in den N‐Raum zu folgen und Bumm zu ma‐ chen.« »Hmm«, machte Njangu. »Völlig richtig«, stimmte Liskeard ihm erneut zu. »Vor allem, da sie es gar nicht für nötig halten, uns auf diese Festungen hinzuweisen. Die Mistkerle sind ganz schön großspurig.« Er zog eine besorgte Miene. »Wie sollen wir auf diese Inspektion reagieren?« Garvin lächelte ironisch. »Das ist ein Punkt, über den wir uns keine besonderen Sorgen machen müssen. Ein Zirkus muss Tag und Nacht auf eine Razzia vorbereitet sein.« »Ich frage mich nur, was nach dieser Inspektion passiert«, sagte Njangu. »Aber was sollʹs?« Garvin winkte die wachhabende Ansagerin herüber, die ihr Mikro bereithielt. »Geben Sie an alle Stationen durch, dass ein Inspektionskommando an Bord kommt. Niemand soll ohne ausdrücklichen Befehl Widerstand leisten.« 150 »Versteckt die Frauen und die guten Tischtücher«, sagte Njangu. »Es gibt Schwierigkeiten.« Die Schleuse eines Kreuzers öffnete sich, und ein kleines Beiboot schoss heraus. Es steuerte direkt auf die offene Ladebucht der Big Bertha zu. Aber es flog nicht hinein, sondern klammerte sich magnetisch an der Außenhülle des Raumschiffs fest. Dann stiegen Menschen in Anzügen und mit Waffen aus und schwebten in die Frachtschleuse. Die Helme waren undurchsichtig und mit Kameras statt Visieren ausgestattet. Das Beiboot löste sich und entfernte sich ein paar Meter von der Schleuse, zweifellos mit schussbereiten Waffen. »Sollen wir das Schott schließen?«, fragte der wachhabende Offizier.
»Nur zu«, sagte Garvin. »Wenn es den Leuten nicht passt, werden sie es Ihnen mit einem Warnschuss klarmachen.« Aber keine Waffe wurde abgefeuert, als das große Schott zuglitt, Luft in den Schleusenraum gepumpt wurde und sich das innere Schott öffnete. Die Männer in den Raumanzügen traten in den Hauptfrachtraum. Garvin ging ihnen entgegen, begleitet von Njangu und Penwyth. »Willkommen an Bord der Big Bertha«, sagte er. »Auf dem Weg nach Mays II.« Eine Stimme drang aus einem Anzuglautsprecher: »Ihr Herkunftsplanet? « »Grimaldi.« Schweigen. Dann: »Eine solche Welt ist in unseren Datenbanken nicht verzeichnet. Ort Ihrer letzten Landung?« »Sabyn.« 151 »Zweck Ihres dortigen Besuches?« »Ein paar Vorstellungen geben, etwas Geld verdienen, etwas Spaß haben«, sagte Garvin. »Derselbe Grund, aus dem wir auf Mays II landen möchten.« »Dauer Ihres beabsichtigten Aufenthalts?« »Vielleicht zwei Wochen«, sagte Garvin. »Oder weniger, wenn das Publikum ausbleibt.« »Nach dem Konföderationsgesetz drei eins sechs eins sind wir als offizielle Vertreter der Konföderation befugt, Ihr Schiff nach illegalen Gütern und Schmuggelware zu durchsuchen.« »Sie sind von der Konföderation?«, sagte Garvin, der sich zusammenreißen musste, weil er dachte, dass diese Mistkerle möglicherweise die Plünderer waren und dass Njangu vielleicht recht hatte, wenn er sich Sorgen machte, was nach der Durchsuchung geschehen mochte. »Das sind wir«, sagte die Stimme. »Haben Sie irgendwelche juristischen Einwände gegen die Durchsuchung?« »Ich denke, das würde ohnehin keine Rolle spielen«, sagte Garvin, »da Sie diejenigen sind, die die guten Karten und die Waffen in den Händen halten.« Die Gestalt drehte sich um und instruierte die Männer hinter ihr, die daraufhin ausschwärmten. »Es wäre vielleicht besser, wenn ich Ihnen ein paar meiner Leute mitgebe, damit sie Sie herumführen können«, sagte Garvin und bemühte sich um einen freundlichen Tonfall. »Die Big Bertha ist etwas kompliziert aufgebaut.« Die Gestalt im Raumanzug blickte sich um. »Da könnten Sie recht haben«, sagte die Stimme, die beinahe menschlich klang. »Aber Sie sollten auf keinen Fall versuchen, uns zu täuschen.« »Sie können sich alles ansehen, was da ist«, sagte Garvin 151 und öffnete einen anderen Kanal. »Dill, Montagna, Froude, Lir, sofort an der Schleuse zum Frachtraum melden.« Dann wechselte er wieder auf den allgemeinen Kanal.
»Wenn Sie und Ihre Leute die Raumanzüge ablegen, wäre es sicherlich viel bequemer für Sie.« Es gab eine kurze Pause, dann hob die Gestalt die Hände, drückte auf die Verschlüsse am Hals und nahm den Helm ab. Darunter kam eine Frau zum Vorschein. Sie hatte kurz geschorenes braunes Haar und ein nicht unattraktives Gesicht, das einen sehr nüchternen Eindruck machte. Die anderen Männer und Frauen taten es ihr nach, »Wir werden die Anzüge nicht ganz ablegen«, sagte sie. »So ist es sicherer.« »Wie Sie wünschen«, sagte Garvin. »Ich bin übrigens Garvin Jaansma. Mein Titel lautet Prinzipal, wenn Sie mich damit ansprechen möchten.« »Commander Betna Israfel, Vierunddreißigste Division, Achtes Wachregiment der Konföderation.« Garvin stellte Erik und Njangu vor, während die herbeigerufenen Männer und Frauen eintrafen und mit den Maysianern loszogen. »Möchten Sie sich vielleicht unsere Brücke ansehen?«, fragte Garvin. Israfel dachte nach, dann nickte sie. »Klar. Sie machen nicht den Eindruck, als hätten Sie etwas zu verbergen, muss ich sagen.« »Die einzigen Geheimnisse, die wir haben, sind die des Rummels, die Mysterien fremder Welten und noch fremderer Spiele und Zaubereien«, tönte Garvin. Israfel musterte ihn aufmerksam, gelangte offenbar zur Auffassung, dass die Bemerkung scherzhaft gemeint war, 152 und gönnte Garvin ein Lächeln. Garvin dachte, dass sie nicht allzu viel Sinn für Humor zu haben schien. Auf der Brücke wurden Israfel Erfrischungen angeboten, die sie ablehnte. Dann blickte sie sich im großen Raum um und bewunderte die blitzblanken Instrumente und die korrekt gekleidete Wache. »In Ihrem Schiff herrscht ein strenges Regiment«, sagte sie zu Garvin. »Vielen Dank. Ich habe von meinen Eltern gelernt, dass jeder Idiot ein Schwein sein kann.« Garvin hoffte, dass er damit den Eindruck einer nicht allzu hohen Intelligenz erweckte. »Ich musste recherchieren, was ein Zirkus ist, bevor ich an Bord kam«, sagte Israfel. »Gibt es viele solcher Unternehmen?« »Es gab einmal viele Zirkusschiffe, sogar ganze Konvois«, erklärte Garvin. »Aber das war, bevor die Konföderation ‐ und das ist jetzt nicht böse gemeint ‐ von der Bild‐fläche verschwand.« »Offen gesagt, gilt das für Sie genauso wie für uns«, sagte Israfel. »Aber Sie sind doch von der Konföderation!« »Wir sind eine abkommandierte Einheit«, sagte sie, »mit dem Auftrag, im Mays‐ System für Sicherheit zu sorgen, mehr nicht. Was das Universum außerhalb dieses Systems betrifft... darüber wissen Sie wesentlich mehr als wir, auch wenn unser Regiment das nicht gerne hinausposaunt. Es würde nicht gerade das
Vertrauen fördern, das die einheimische Bevölkerung in uns setzt. Aber Sie hätten es früher oder später von selbst herausgefunden.« Garvin wagte einen etwas riskanten Vorstoß, da er plötzlich Sympathie für diese Soldaten empfand, denen es nicht 153 anders ging als der Legion, auch wenn sie dem Herzen des verschwundenen Imperiums viel näher waren. »Im Sabyn‐System hat man uns gesagt, dass dort regelmäßig Rohstoffe und Waren beschlagnahmt werden, und zwar durch Schiffe, die behaupten, der Konföderation anzugehören.« »Ja«, sagte Israfel. »Diese Piraten haben schon dreimal versucht, uns zu überfallen. Wir konnten sie jedes Mal zurückschlagen. Aber...« Sie sprach nicht weiter. Aber Garvin konnte sich auch so denken, was es bedeutete, in einem System ohne Schwerindustrie eine Armee mit hochwertiger technischer Ausrüstung aufrechtzuerhalten. Die Legion hatte Glück gehabt, dass Cumbre ein hoch entwickeltes System war, auch wenn es am äußersten Rand der Konföderation lag. »Haben Sie eine Vorstellung, woher diese selbsternannten Konföderationstruppen kommen?« Israfel schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. Garvin wusste, dass er nicht mehr von ihr erfahren würde. Aber es genügte ihm. Er bereute es bereits, dass er sich verpflichtet hatte, eine Woche lang auf Mays aufzutreten, weil sie zweifellos nicht mehr erfahren würden, als sie bereits erfahren hatten.
Mays / Mays II Sechs Tage später hatte sich seine Vermutung bestätigt. Niemand wusste, woher die Piraten unter falscher Flagge stammten, nur dass sie das System dreimal heimgesucht 153 hatten und jedes Mal vertrieben worden waren, und zwar unter recht hohen Verlusten. Die Verwundeten und Toten waren durch einheimische Rekruten von Mays I und II ersetzt worden, und eine Fabrik war aufgerüstet worden, um neue Raketen zu bauen. Aber die verlorenen Schiffe waren nicht mehr zu ersetzen. Das war auch der Grund, warum sie bisher nur einen Versuch unternommen hatten, Centrum zu erreichen. Der Kreuzer und die Eskorte aus zwei Zerstörern waren einfach verschwunden, und das Wachregiment zögerte, weitere Schiffe ins Unbekannte zu schicken. »Wären wir nicht verpflichtet, uns unter allen Umständen an die Gesetze zu halten«, sagte Commander Israfel zu Penwyth, »würde ich sehr gerne Ihre Patrouillenschiffe und leichten Erkundungseinheiten beschlagnahmen.«
»Es würde eine Weile dauern, Ihre Piloten für die Aksai auszubilden«, sagte Penwyth wahrheitsgemäß. »Aber ich weiß Ihre Ehrlichkeit zu schätzen.« Erik und Israfel wurden sehr häufig zusammen gesehen, obwohl Penwyth schwor, dass außer vorsichtigem Händchenhalten nichts zwischen ihnen lief. Der Zirkus war ein Bombenerfolg, und das Konföderationsregiment lud Garvin, Njangu und ein paar andere Offiziere zweimal zum Essen ein. Garvin sorgte dafür, dass Dill sie begleitete, nicht so sehr, um seine Stärke von ihren Gastgebern bewundern zu lassen, sondern weil er Kekri mitbringen würde. Zu Garvins Belustigung verliebten sich ein jüngerer männlicher und mehrere weibliche Offiziere sofort in die Frau. Aber sie klammerte sich an Dill, wie sie es seit ihrem Aufbruch von Cayle IV getan hatte. Außerdem hatte Garvin ein paar Showgirls und Artisten mitgebracht. 154 Garvin war sehr von der Kommandantin des Regiments beeindruckt. Sie wahrte strengste Disziplin in ihrer Einheit, obwohl sie nie durchblicken ließ, dass sie die höchste Befehlsgewalt hatte. Sie unterzeichnete ihre Befehle stets mit »im Auftrag der Konföderation«, und wenn sie mit Zivilisten zu tun hatte, verhielt sie sich so, als würde sie täglich Centrum Bericht erstatten, wo jede ihrer Entscheidungen vom Parlament abgesegnet werden musste. Beinahe hätte Garvin sich Notizen gemacht, da er daran dachte, dass er möglicherweise schon in wenigen Jahren dieselbe Rolle wie sie spielen und sich um die gleichen Probleme kümmern musste. Aber nach reiflicher Überlegung gelangte er zur Einsicht, dass er nicht die moralische Integrität dieser Frau besaß. Falls er jemals in eine ähnliche Situation geriet, würde er vermutlich als Erstes schnellstmöglich das Weite suchen. Doch es gab eine nette Wendung in Garvins Zirkusdirektordasein. Darod Montagna hatte aufmerksam die Beziehung ‐ falls es denn eine war ‐ zwischen Kekri Katun und Ben Dill beobachtet. Eines Nachts klopfte sie an die Tür zu Garvins Quartier und fragte, ob er Lust auf etwas Gesellschaft hätte. Er war hin und weg und forderte sie zum Eintreten auf, worauf sie die ganze Nacht blieb. Garvin dachte sich ‐ oder hoffte es zumindest ‐, dass sie ihm endlich seinen Fehltritt verziehen hatte. Die allgemeine Laune hatte sich nach einer Woche auf Mays ein wenig gebessert, da sie nun wussten, dass sie nicht die einzigen Trottel im Universum waren, die die Konföderation am Leben erhalten wollten. Der nächste Sprung führte sie mitten ins Paradies. Zumindest sah es die erste Zeit danach aus. 154
14 Nelumbo / Nelumbo II
Nelumbo II war ein wunderschöner Planet mit kleinen gebirgigen Kontinenten, die hauptsächlich in den gemäßigten Zonen lagen. Es gab keine Informationen, ob Nelumbo jemals kolonisiert worden war, doch der erste Aksai, der in das System einflog, empfing elektromagnetische Emissionen, wie sie für einen bevölkerten Planeten typisch waren. Die Erkundung erbrachte keine Hinweise auf Gefahr, sodass die Big Bertha kurz darauf zum Landeanflug überging‐ Garvin machte der übliche Dialog allmählich Spaß: Meldung der Anwesenheit der Big Bertha, dann einen Moment lang verdutztes Schweigen, bis man kapiert hatte, was zum Henker ein Zirkusschiff war, und schließlich helle Aufregung. Die Landegenehmigung wurde erteilt, und wie üblich ging das Schiff am Rand der Hauptstadt des Planeten nieder. In diesem Fall war es eine eher kleine Stadt, die auf den Hügeln einer schmalen Landzunge erbaut worden war, die sich aus einem bewaldeten Kontinent ins Meer erstreckte. Die als Werbeflüge getarnten Beobachtungen ergaben, dass in der Stadt keine Slums zu existieren schienen. Außer ein paar kleinen Industriegebieten gab es nur Wohnviertel, und die meisten Häuser sahen wie Paläste aus, große Anwesen, die ihren Bewohnern ein Maximum an Privatsphäre gewährten. 155 Eine Menschenmenge hatte sich vor dem Schiff versammelt, als Garvin den Befehl gab, die Rampe der Big Bertha auszufahren. »Die Leute sehen gut aus«, stellte Sopi Midt fest und rieb freudig die Handflächen aneinander. »Gesund und gut gekleidet. Menschen, die viele Credits in der Tasche haben. Ha\«, setzte er hinzu, aber möglicherweise unabsichtlich. Midt hatte recht. Die Bewohner von Nelumbo sahen gut aus, zahlreiche Hautfarben waren vertreten, und sie waren gut gekleidet. Die Gleiter, mit denen sie eintrafen, waren ausschließlich zehn bis zwanzig Jahre alte Konföderations‐ modelle, aber sie waren allesamt gut in Schuss. Hier und dort entdeckte Njangu Männer und Frauen in hellbauen Uniformen, aber es waren nur wenige. Wieder ordnete Garvin an, das Zelt aufzubauen, und Fleams Arbeiter machten sich unverzüglich ans Werk. Inzwischen hatte die Truppe Routine entwickelt. Die Nummern liefen reibungslos in den drei Manegen ab, und die Artisten halfen sich gegenseitig, wenn sie Zeit hatten und keine Tiere füttern mussten. Dann geschah etwas, das ihnen den ersten Schrecken versetzte. Ein etwa dreijähriges Kind entfernte sich von seiner Mutter. Ein großes Geschrei ging los, bis man den Jungen endlich gefunden hatte. Es war ihm gelungen, den Käfig von Muldoon, dem schwarzen Killerleoparden, zu öffnen, und er hatte sich vor das Tier gehockt, um zu beobachten, wie Muldoon ihn beobachtete.
Sir Douglas ging hinein, bevor irgendwer entscheiden konnte, ob Muldoon ein liebes Kätzchen war oder ob er nur überlegte, mit wie vielen Bissen er den Jungen hinunterschlingen würde. 156 Jeder, der irgendwie mit der Sache zu tun gehabt hatte, erhielt eine deftige Standpauke von Jaansma, und Njangu wurde befohlen, zwei seiner Sicherheitsleute auf Patrouille zu schicken, um dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder und unter gar keinen Umständen noch einmal passieren konnte. Aber das war das einzige Problem. Sozusagen. Njangu fand heraus, warum Nelumbo in keiner Datenbank verzeichnet war. Vor dem Zusammenbruch war der Planet die bevorzugte Urlaubswelt für die hohen Tiere der Konföderation gewesen ‐ deshalb die Villen, deshalb die ökologische Stadtplanung, deshalb der hohe Lebensstandard. Natürlich waren die Regierungsbeamten der Konföderation nicht daran interessiert, dass alle Welt wusste, wo sie und ihre Nächsten die Füße hochlegten. Nach dem Zusammenbruch saßen plötzlich über zwei Millionen Urlauber auf Nelumbo fest, außerdem die unerlässlichen Techniker und Arbeiter und natürlich die blau uniformierten Sicherheitswächter der Familien. Einige von ihnen trauerten dem verlorenen Leben nach, doch andere orientierten sich neu. Die Frauen waren gegenüber den Männern im Verhältnis sechs zu vier in der Überzahl. »Ein einfaches, verdammtes Leben«, sagte Garvin. »Nicht genug Menschen, um die Welt kaputtzumachen, und jede Menge Kohle, sodass man fast nichts selber erledigen muss.« »Ja«, meinte Njangu. »Wie im Himmel.« »Wo ist das Problem?«, fragte Garvin. »Muss es nicht rein statistisch eine Welt geben, auf der alles perfekt ist?« »Mag sein«, räumte Yoshitaro ein. »Aber die statistische 156 Wahrscheinlichkeit ist extrem gering, dass ausgerechnet wir sie jemals finden.« Die Vorstellungen liefen eine Woche lang. Garvin ließ nicht erkennen, dass er beabsichtigte, in Kürze zum nächsten Sprung nach Centrum zu starten. Stattdessen verbrachte er viel Zeit in seinem Büro, arbeitete an der Verbesserung des Programms oder erkundete die Stadt. Njangu dachte, dass Garvin möglicherweise Erkundigungen einzog, über die er noch nicht sprechen wollte. Und er dachte, dass Jaansma zweifellos ein ziemlich großer Spinner war. Garvin stand vor der Big Bertha und hörte dem Rufer zu, der den Arbeitern Anweisungen erteilte, die die erschlafften Zeltbahnen wieder straff zogen. »Und jetzt noch mal alle zusammen auf Latein!« Die zehn Männer und Frauen am Seil riefen im Chor: »Hau ruckus, hau rucki, hau rucko, hau ruckum, hau rucko, hau rucke!« Dann wiederholten sie die Litanei noch einmal und zogen zum nächsten Halteseil weiter.
Garvin sog die Abendluft ein und identifizierte die wunderbaren Gerüche, die aus den provisorischen Bauten rund um das Hauptzelt drangen: Löwenpisse, Mist, Bratenduft aus der Kantine. Aus dem Rummelzelt roch es nach Pop‐corn, vehatna vom Grill und echtem Sägemehl. Er träumte davon, sein ganzes Leben auf diese Weise zu verbringen und sich nicht mehr der Kunst des Tötens widmen zu müssen. Er wollte immer neue Konstellationen am Himmel sehen, die er nicht zuordnen konnte. Er dachte daran, ihnen Namen zu geben, während der Zirkus durch die Galaxis streifte ‐ »Das Große Zelt«, »Die Seiltänzerin«, »Der Kraftprotz«. Diese Überlegung ließ ihn abrupt in so 157 etwas wie die Wirklichkeit zurückkehren, als ihm einfiel, dass tatsächlich Sterne nach Ben Dill benannt waren. Fleam, der Zeltmeister, Knotenmacher und unbeförderbare Kämpfer, bemerkte den ersten Makel im Paradies. Er steuerte einen kleinen Schweber, einen Zirkuswagen, der voll mit frisch bemalten Abdeckplatten beladen war, durch den Rummel und wich einer jungen, aber sehr vornehm gekleideten Mutter aus, die zusammen mit ihren Zwillingstöchtern von etwa zwölf Jahren und zwei blau uniformierten Leibwächtern unterwegs war. Zufällig blickte er sich noch einmal zu ihnen um und sah, wie einer der Leibwächter zärtlich eine Hand unter den Rock eines der Mädchen schob. Die Schultern des Kindes zuckten, aber es zog sich nicht zurück und sagte auch nichts dazu. Fleam beobachtete die Szene fassungslos und riss den Mund noch weiter auf, als sich die Mutter umdrehte, allem Anschein nach sah, was der Leibwächter tat, und schnell den Blick abwandte. Fleam, der möglicherweise nur dann ein weiches Herz bekam, wenn es um kleine Mädchen ging, spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Er überlegte, ob er jemandem davon erzählen sollte, entschied jedoch, dass es vermutlich weder ihn oder sonst jemanden im Zirkus etwas anging. Dennoch gelangte er zur Ansicht, dass diese Sache vielleicht für Njangu sehr interessant war. »Manchmal«, sagte Garvin und blickte über die Lichter auf das Meer hinaus, »wenn wir einen Ort wie diesen finden, mein lieber Freund Njangu, möchte ich allen sagen, dass mich alle mal können. Kreuzweise.« 157 »Und was würdest du damit erreichen?«, fragte Njangu. Sie saßen auf dem Balkon einer Villa, in die sie nach einer Aufführung eingeladen worden waren, und waren beide leicht betrunken; zwischen ihnen stand eine halb leere Flasche mit exzellentem Brandy. »Dass es weitergeht«, sagte Garvin verträumt. »Unser Zirkus läuft jetzt richtig gut, und wir könnten damit weitermachen, bis wir an Altersschwäche sterben.
Wir könnten einen großen Bogen um alle Bösewichter machen und nur noch auf Welten wie diesen auftreten.« »Und du meinst, Froude oder Dill oder, Gott mit ʹnem Holzbein bewahre, Monique Lir hätten nichts dagegen einzuwenden?«, fragte Njangu. »Sie hat ein verdammt ausgeprägtes Pflichtbewusstsein und könnte dafür sorgen, dass unsere Arsche wieder im Einklang mit unserer Mission furzen.« Garvin brummte etwas und trank einen Schluck Brandy. »Trotzdem«, sagte er schließlich. »Ich erinnere mich, als wir damals rekrutiert wurden, hatten wir eigentlich die Idee, nur so lange in Uniform herumzuspazieren, bis wir eine günstige Gelegenheit finden, in die Freiheit zu türmen, damit sich andere für die Konföderation und die Streitmacht den Arsch aufreißen lassen und Taue hochkraxeln. Jetzt haben wir diese Gelegenheit. Also, was machen wir jetzt daraus?« »Weiter Richtung Centrum vorstoßen und uns dort die Arsche wegschießen lassen, weil wir gottesfürchtige patriotische Volltrottel sind«, zeterte Njangu. »Ja, vermutlich hast du recht«, sagte Garvin mit einem schweren Seufzer. »Aber trotzdem... stell dir nur vor, wie es wäre, auf einer Welt wie dieser zu leben. Wir müssten 158 uns nur überlegen, wie wir Lir zum Desertieren überreden könnten.« Darod bemerkte das zweite Anzeichen. Sie stand vor dem Zelt, um sich nach einem Auftritt abzukühlen, und sah einen sehr teuer wirkenden Luxusgleiter landen, dem zwei Frauen entstiegen, denen ein Chauffeur in blauer Uniform behilflich war. Eine sagte etwas zu ihm, und Darod bemerkte, dass er die Stirn runzelte. Dann sagte auch die zweite Frau etwas. Darod verstand kein Wort, aber ihr Tonfall war ziemlich wütend. Der Chauffeur versetzte der zweiten Frau eine Ohrfeige, stieß beide wieder in den Gleiter und schlug die Türen zu. Er ging zur Fahrerkabine herum, sah, dass Montagna ihn beobachtete, und warf ihr einen eiskalten Blick zu. Montagnas Adrenalinspiegel stieg, als sie losging und automatisch Kampfhaltung annahm. Der Chauffeur zögerte kurz, stieg dann in den Gleiter und hob ab. Darod dachte über das nach, was sie gesehen hatte, und entschied, dass sie es Garvin erzählen würde. Garvin empfand das Verhalten des Mannes ebenfalls als äußerst merkwürdig und gab den Bericht an Njangu weiter. »Ihr Besuch hat uns in jedem Fall große Freude gemacht«, sagte der Mann, der sich Njangu als Chauda vorgestellt hatte. Er war mittleren Alters, hatte ein kantiges Gesicht und war in Hellblau gekleidet, trug allerdings goldene Ab‐ zeichen an den Schulterstücken. Njangu hatte ihn bereits als hochrangigen Bullen durchschaut, bevor Chauda erzäh 158 len konnte, dass er der Leiter der Sicherheitstruppen von Nelumbo war.
»Vielen Dank«, sagte Njangu und fragte sich, warum er in der Nähe eines Polizisten ‐ irgendeines Polizisten ‐ immer noch nervös wurde. »Es ist schade, dass wir Sie nicht dazu überreden können, für ein E‐Jahr oder so zu bleiben«, sagte Chauda. »Ich glaube, wir würden Sie schon viel früher langweilen, und dann würden wir Credits verlieren.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte Chauda. »Wir haben das Problem, dass auf unserer Welt die Luft etwas stickig ist. Sie haben für frischen Wind gesorgt.« »Andere Menschen haben mehrere Jahrhunderte lang auf nur einer Welt gelebt«, gab Yoshitaro zu bedenken, »und sie scheinen es ganz gut vertragen zu haben.« »Wirklich? Ich erinnere mich, über Dinge wie Kriege, Aufstände, Bürgerkriege und Ähnliches gelesen zu haben«, sagte Chauda. »Aber das war in den Zeiten, als di& Menschen nicht wussten, dass es noch etwas anderes gibt. Zeigen Sie der Schafherde ein hübsches neues Tal, lassen Sie sie vom Gras fressen und vom Wasser trinken, und dann sagen Sie ihnen, dass sie nie mehr dorthin zurückkehren können...« Chauda schüttelte den Kopf. »Das könnte zu Problemen führen.« »Trotzdem sehe ich nicht ein, was es uns bringen sollte, ein Jahr lang zu bleiben. Außerdem ist mir nicht aufgefallen, dass der Zusammenbruch der Raumfahrt dazu geführt hat, dass sich die Leute seltener die Köpfe einschlagen.« »Nun«, meinte Chauda. »Erstens haben Sie sehr viele Talente in Ihrem Zirkus, die interessierte Menschen ausbilden könnten, damit sie selber auftreten, nachdem Sie 159 weitergezogen sind. Gegen Bezahlung, meine ich. Zweitens, da Sie schon viel herumgekommen sind, könnten wir Sie vielleicht beauftragen, andere Welten zu besuchen, um von dort andere Talente zu uns zu bringen, die uns die Langeweile vertreiben.« »Interessante Idee.« Njangu tat so, als würde er überlegen. »Ich werde mit dem Prinzipal darüber reden. Falls wir interessiert sind ‐ wer sind die offiziellen Vertreter, mit denen wir uns unterhalten sollten? Ein paar Ihrer Politiker waren in unserem Zirkus, aber wir haben uns mit keinem so richtig angefreundet.« »Diese Leute können Sie ignorieren«, sagte Chauda lässig. »Ich kann mich um alles kümmern. Ich werde dafür sorgen, dass es keine Probleme gibt.« Auch über dieses Gespräch wurde Garvin informiert. Emtons Hauskatzen waren der große Renner auf Nelumbo. Sie hatten inzwischen viele neue Tricks gelernt. Sie konnten sich zu Bällen zusammenrollen und übereinanderstapeln, auf dem Seil balancieren ‐ in einem Meter Höhe und mit eigens angefertigten Schuhen an den Pfoten ‐ oder Vögel auf ihrem Rücken landen lassen, während sie sich putzten. Garvin hatte Emton um diese spezielle Nummer gebeten, und er sagte, er hätte nur zwei oder drei Vogelpärchen gebraucht, bis die Katzen gelernt hatten, was Futter war und was nicht.
Die großen Katzen hatten ebenfalls ihre Bewunderer. Ständig hielt sich eine Gruppe von Sicherheitswächtern vor den Käfigen auf, um sie im Stillen zu bestaunen. Sir Douglas beschwerte sich leise bei Garvin, weil es ihm überhaupt nicht gefiel, dass sich überall Polizisten he 160 mmtrieben. »Ihre Gesichter erinnern mich viel zu sehr an die meiner Katzen, nachdem sie gefüttert wurden. Aber nein, ich beleidige meine Tiere! Muldoons Gesicht hat einen viel intelligenteren Ausdruck, wenn er frisst.« Alikhan entdeckte den nächsten Hinweis. Er war mit einem Aksai unterwegs und flog an der Küste entlang, als er etwa zwei Kilometer voraus kleine Punkte sah, die sich über die Klippen bewegten. Aus irgendeinem Grund ging er höher und zoomte ihr Bild heran. Die Punkte waren etwa ein Dutzend Männer, die leichte Ketten um die Hüften trugen. Vor und hinter ihnen gingen vier blau uniformierte Wachen mit Blastem. Er drehte ab und flog mit gedrosselten Triebwerken aufs Meer hinaus, weil er nicht wollte, dass man ihn hörte oder sah. Auch diese Beobachtung wurde an Garvin weitergeleitet. »Vielleicht«, sagte Sunya Thanon in sehr traurigem Tonfall, »haben wir uns all die vielen Jahre nur etwas vorgemacht, und es gibt überhaupt kein Coando. Vielleicht haben wir und unsere Familien diese Lüge erfunden, damit wir in dieser Welt voller Blut und Tod die Hoffnung nicht aufgeben.« »Nein«, erwiderte Phraphas Phanon und legte die Arme um Thanon. »Coando ist irgendwo da draußen. Wir müssen nur weitersuchen.« »Bist du dir sicher?« »Ich bin mir völlig sicher«, sagte Phanon, ohne sich etwas von seinen eigenen Zweifeln anmerken zu lassen. 160 Njangu näherte sich dem Mann im Overall, der voll und ganz damit beschäftigt war, das Straßenkehrgerät zu lenken und so zu tun, als würde ihm Yoshitaros offensichtlich fremdweltlerische Kleidung nicht auffallen. »Guten Abend, Sir«, sagte der Mann tonlos. »Kann ich Ihnen meine Hilfe anbieten, falls Sie sich verlaufen haben?« »Sie könnten mir tatsächlich behilflich sein. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten, aber an einem Ort, wo wir nicht von Leuten in blauen Uniformen gesehen werden.« Njangu zeigte ihm eine Banknote. Der Mann tat, als würde er sie nicht bemerken. Yoshitaro legte einen zweiten Geldschein dazu, dann einen dritten und einen vierten. »Mit dem fünften Schein hatte ich ihn«, sagte Njangu. »Ich dachte mir, mach es ganz simpel, mach es mit Geld, und dann findest du jemanden, der zum Reden bereit ist. Die Menschen ganz oben und ganz unten haben viel miteinander
gemeinsam ‐ sie leben entweder so gut oder so schlecht, dass sie sich etwas Ehrlichkeit erlauben können. Dieser Typ hat mir alles erzählt. Er war früher Universitätsdozent. Dann kam der Zusammenbruch, und eine Zeit lang herrschte ziemliche Unruhe. Ich werde später einen vollständigen Bericht schreiben, aber ich dachte mir, dass dich ein paar nähere Einzelheiten über dein verdammtes Paradies interessieren würden. 1 Es gab einige Aufstände, manche Leute drehten durch, und dann übernahm der Sicherheitsapparat den Laden. Dieser Chauda, der mir neulich das Ohr abgekaut hat, scheint der Obermotz zu sein. Die Vereinbarung war ziemlich ein 161 fach und wurde nie laut ausgesprochen. Alles sollte wieder so laufen wie vor dem Zusammenbruch der Konföderation, die Frauen und Kinder und so weiter konnten so tun, als wäre alles wie gehabt, und damit war alles wieder in Ordnung. Nur dass alle das tun mussten, was die Jungs in Blau verlangten. Und zwar wirklich alles. Ich schätze, Chauda ist klug genug, um zu wissen, dass er die Sache nicht zu weit treiben darf. Wenn du einer seiner Schläger bist und etwas willst, dann nimmst du es dir. Aber nur für eine Weile. Die Menschen lassen das alles mit sich machen, weil sie wissen, dass die Ausbeutung ‐beziehungsweise das Joch, das sie im Moment tragen müssen ‐ nicht ewig anhalten wird. Und den Schlägern gefällt es, weil sie sich nach Herzenslust austoben können. Wenn du anderer Meinung bist, wenn du vielleicht findest, dass ein anderer sich nicht an deinem Haus, deiner Frau, deinem Sohn oder deiner Tochter vergreifen sollte, wie bei der Sache, die Fleam beobachtet hat, stauchen sie dich zusammen, bis du nur noch als Straßenkehrer zu gebrauchen bist, oder schicken dich in die Wälder, um, Zitat, für den Naturschutz zu arbeiten, Zitat Ende. Vielleicht gibt es auch noch andere Schlägertrupps, deren Aufgaben nicht so nett sind. Oder man fährt dich ein paar Kilometer aufs Meer hinaus und schlägt vor, dass du über Bord gehst und ein paar Schwimmstunden nimmst.« Garvin sackte hinter seinem Schreibtisch zusammen. »O Mann! Dabei sah hier alles so schön aus!« »Ist das nicht überall so?«, fragte Njangu verbittert. »Niemand stellt sich gerne an einen offenen Abwasserkanal und gibt zu, dass er dort lebt. Also verlegt man die Rohre unterirdisch, damit die Scheiße nicht überall herum 161 schwappt, malt alles rosa an und versprüht ein wenig Parfüm...« Yoshitaro sprach nicht weiter. »Also«, sagte Garvin, »dürfte es das Klügste sein, wenn wir heute Abend nach der Vorstellung die Zelte abbrechen. Ich komme mir vor wie ein verdammter Idiot, und wenn die Sonne aufgeht, haben wir nicht mehr hinterlassen als einen platt getrampelten Fleck im Grünen.« »Hast du eine bessere Idee?«, fragte Njangu. »Eins steht fest: Wir können nichts tun, um diese beschissene Welt zu verändern. Selbst wenn ich gehört hätte, wie
jemand davon flüstert, dass irgendwo in den Wäldern jemand mit einer Waffe herumläuft, weil er etwas an den Verhältnissen ändern will, haben wir nicht die nötige Zeit, um eine revolutionäre Bewegung aufzubauen. Nein. Wir machen uns einfach aus dem Staub und hoffen, dass Gerechtigkeit einkehrt, falls es irgendwann wieder eine Konföderation geben sollte.«
15 N‐Raum »Ich habe hier etwas Interessantes, Boss«, sagte der Elektroniker zu seinem Vorgesetzten. »Lassen Sie hören.« »Ich habe die Monitore überprüft, um mich zu vergewissern, dass es keine elektronischen Lecks gibt. Und kurz vor unserem letzten Sprung habe ich ein Signal entdeckt. Ich habe alles gecheckt, aber ich kann es auf keine Ursache in unserer Technik zurückführen.« 162 »Das ist seltsam.« »Es wird noch seltsamer«, fuhr der Techniker fort. »Ich bin noch einmal alle Aufzeichnungen durchgegangen und habe das verdammte Signal mehrfach wiedergefunden, bei jedem Hyperraumsprung, den wir seit Cayle IV gemacht haben. Es kommt, wenn wir springen, und noch einmal, wenn wir aus dem N‐ Raum fallen. Ich habe fast zwei Schichten damit verbracht, es zurückzuverfolgen, aber bisher mit null Ergebnis.« »Das gefällt mir nicht«, sagte der Offizier. »Ich glaube, ich sollte diese Sache lieber melden. Und Sie setzen eine Wanze auf diese Frequenz an und versuchen beim nächsten Mal eine genaue Aufzeichnung des Signals zu bekommen.« »Ich habe nachgedacht«, sagte Maev Stiofan. »Aha?«, machte Njangu vorsichtig. »Uber die Zeit, wenn wir zurückkehren.« »Aha?« Diesmal klang es noch vorsichtiger. »Über all diese beschissenen Welten, die wir besucht haben... ganz zu schweigen von Cumbre und den Welten, von denen wir stammen. Wie kann das sein?« »Äh... weil die Menschen von Natur aus beschissen sind?« »Klar... aber das erklärt nicht, warum... wie soll ich sagen? ... Früher gab es Regierungen, die anscheinend funktionierten. Oder jedenfalls macht es in den historischen Aufzeichnungen diesen Eindruck.« »Und natürlich würde niemand auf die Idee kommen, jemanden anzulügen, der so nett ist wie du«, sagte Njangu. »Hör mal!«, schimpfte Maev. »Es kann nicht gelo 162 gen sein, wenn sie damals fröhliche Lieder gesungen haben!« »Das stimmt.« »Und plötzlich kommt diese Kiste, die sich Konföderation nennt, und jeder steigt ein oder wird eingestiegen, und dann bleibt die Kiste etwa tausend Jahre lang dicht.«
»Eher mehr als tausend Jahre.« »Dann verschwindet diese Kiste plötzlich, und nun haben wir überall durchgeknallte Menschen, die in alle Richtungen Amok laufen, und niemand scheint noch eine Regierung auf die Beine stellen zu können, die wirklich funk‐ tioniert, außer vielleicht auf Grimaldi, und dort haben sie eigentlich gar keine Regierung, also zählt das nicht.« »Ich kann dir einigermaßen folgen«, unterbrach Njangu Maevs Redefluss, »aber ich weiß noch nicht, worauf du hinauswillst. « 1 »Wenn wir zurückkehren, vorausgesetzt, wir überleben Centrum und was sonst noch kommt«, erklärte Maev geduldig, »dann schnappen wir all unsere Waffen und versuchen, wieder Ordnung in den Laden zu bringen, stimmtʹs?« »Das ist unsere heldenhafte Absicht.« »Vielleicht sollte jemand darauf achten, was für eine Regierungsform sich danach bildet.« »Aber nicht wir«, sagte Njangu schnell. »Soldaten sind ziemlich schlechte Politiker. Das weiß jeder.« »Aber jemand muss sich doch überlegen, was danach kommt«, sagte Maev hartnäckig. »Wenn wir uns genau ansehen, auf welche Weise wir es im Lauf der Geschichte schon vermasselt haben, könnte jemandem vielleicht eine bessere Idee kommen.« »Zum Beispiel dir?« 163 »Warum nicht mir?« Njangu wollte ihr die Gründe erklären, aber dann ließ er es bleiben. Keiner von ihnen war irgendeine Verpflichtung eingegangen, die über den Moment hinausging, sodass sie auch keine Ansprüche aneinander stellen konnten.
16 Mohi/Mohi II Garvin starrte auf das Kriegsschiff, das keine fünf Kilometer entfernt im Weltraum hing. Er versuchte die Daten zu ignorieren, die Jane in den Bildschirm einblendete, weil er gar nicht wissen wollte, wie schwer bewaffnet und hoch‐ modern das Konföderationsschiff vor acht Jahren gewesen war, nach den Standards der aktuellsten Jane‐Version, die der Legion zur Verfügung stand. Doch das Kriegsschiff wurde nicht kleiner, genauso wenig wie die zwei Einheiten, die die Big Bertha flankierten. Garvin hätte sich einreden können, dass das Zirkusschiff riesig war, aber gegen diese drei Kriegsschiffe wirkte es wie ein Zwerg. Sie waren doppelt so lang und anderthalb mal so breit, aber mit tödlichen Rundungen, statt einfach nur dickleibig zu wirken. Sie saßen eindeutig in der Falle, vier Sprünge von Centrum entfernt. Die drei Schiffe und der Schwärm aus Einheiten der Eskorte hatte sie in die Zange
genommen. Alikhan war in das System eingeflogen und hatte keine Schiffe in Reichweite seiner Detektoren gemeldet. Er hatte 164 bestätigt, dass vier der zehn Planeten des Systems gemäß ihren Informationen immer noch besiedelt waren. Die Big Bertha hatte den N‐Raum verlassen, und Sekunden später waren die Kriegsschiffe aus dem Nichts aufgetaucht. Entweder war der Zirkus nachlässig geworden, oder diese Einheiten hatten viel bessere Sensoren als alles, was es in der Big Bertha und den kleineren Schiffen gab. »Ich habe hier einen Anruf auf der Standardfrequenz der Konföderation, Sir«, meldete der wachhabende Funkoffizier. »Stellen Sie ihn durch«, befahl Liskeard. »An unbekanntes Schiff, hier ist die Schlachtenflotte Kin des Konföderationsprotektorats. Antworten Sie unverzüglich, sonst werden Sie vernichtet.« »Hier ist das Zirkusschiff Big Bertha. Flugziel: Desman II. Zweck des Anflugs: Unterhaltung.« »Hier ist Kin«, kam es kurz darauf zurück. »Korrigieren Sie Ihre Daten. Das Desman‐System ist nun das Mohi‐System. Sie werden zu einem Landeplatz eskortiert, dann wird man Ihr Schiff durchsuchen und über Ihr weiteres Schicksal entscheiden. Leisten Sie keinen Widerstand, sonst...« »Sonst werden Sie vernichtet«, vervollständigte Njangu den Satz. »Boss, ich glaube, wir haben die Plünderer gefunden.« »Konföderationsprotektorat?«, sagte Garvin. »Jetzt wünsche ich mir wirklich, wir hätten einen Diplomaten an Bord.« Liskeard forderte einen orbitalen Annäherungskurs an, angeblich aus ökonomischen Gründen, in Wirklichkeit, um 164 ihnen die Gelegenheit zu verschaffen, so viel wie möglich von Mohi II zu sehen. Die Antwort kam unverzüglich: »Abgelehnt. Fliegen Sie den Raumhafen direkt an. Sonst werden Sie vernichtet.« »Ziemlich fantasievoll, wie diese Burschen Probleme angehen, nicht wahr?«, fragte Njangu in die Runde. »Immerhin scheinen sie uns nicht besonders ernst zu nehmen«, sagte Garvin. »Sie haben nur ein Schlachtschiff und eine kleine Eskorte abgestellt, um uns sicher auf den Boden zu bringen.« Njangu rief den Wachoffizier herbei. »Ich will an jedem optischen System, über das wir verfügen, ein Auge haben, während wir runtergehen, damit wir eine Vorstellung bekommen, wie tief die Scheiße ist, in die wir soeben hineingeraten. Sobald wir einmal unten sind, werden wir nicht mehr allzu viel Gelegenheit haben, uns umzusehen.« Die Erkenntnisse waren nicht gerade ermutigend. Des‐man II, nun Mohi II, war ein Militärplanet. Riesige Landefelder, die meisten erst vor kurzem erbaut, waren
überall in der Landschaft verteilt. In der Nähe standen Kasernen, Fabriken und andere Bauten. »Sie scheinen sich gründlich auf Schwierigkeiten gefasst gemacht zu haben«, stellte Dill fest. »Fragt sich nur, ob sie welche bekommen oder aus dem Weg schaffen wollen«, sagte Boursier. Dill deutete auf die Bildschirme, die gewaltige Schlachtschiffe zeigten, die über ihnen schwebten, während sie zum Landeanflug übergingen. Gleiter mit sichtbar montierten MGs umringten die Big Bertha, als das Triebwerk heruntergefahren wurde und Truppen rund um das Schiff in Stellung gingen. 165 »Mann, müssen wir gefährlich sein!«, sagte Ben Dill. »Jetzt müssen wir sie nur noch davon überzeugen, dass wir harmlose rosa Schmusekätzchen sind«, sagte Monique Lir mit einem gepressten Lächeln. »Und wenn sie sich entspannt zurücklehnen, machen wir sie fertig.« Die Big Bertha wurde durchsucht, und zwar gründlich. Die Fünfergruppen brauchten dazu anderthalb Bordtage. Wie schon zuvor leisteten Garvin und seine Offiziere »Unterstützung«, damit niemand etwas fand, zumindest nichts von Bedeutung, was die Bewaffnung betraf. Andererseits waren die Männer und Frauen des Protektorats Realisten und sahen ein, dass in diesen Zeiten niemand auf ein paar Waffen verzichten konnte, was die möglichen Probleme bei der Inspektion verringerte. Ein weiblicher Offizier blieb erschrocken beim Anblick Alikhans stehen, der sich an einer Wand ausgestreckt hatte, direkt unter einem Regal mit schweren Waffen der Legion. Die Frau tastete nervös nach ihrem Blaster. »Ist dieses Wesen gefährlich? Sollte es nicht in einem Käfig gehalten werden?« »Es stellt keine reale Gefahr dar«, sagte Garvin. »Solange es mit Vorsicht behandelt wird.« »Wenn es mir gehören würde«, sagte der Offizier, »würde ich es einsperren.« Garvin lächelte, und die Suche ging weiter. Alikhan blickte ihnen nach und hatte die Ohren in leichtem Zorn gespitzt. »Was wissen diese Menschen schon von Gefahr?«, brummte er vor sich hin. »Und sie haben keine Ahnung, wer hier wen wie behandelt.« 165 Der Soldat schaute sich auf der Brücke um. »Alles funktioniert«, sagte er. »Natürlich funktioniert alles«, erwiderte Froude geduldig. »Wenn es nicht funktionieren würde, hätte es hier nichts zu suchen.« Dann wurde ihm klar, was der Mann eigentlich gesagt hatte. »Was machen Sie, wenn es an Bord Ihrer Schiffe einen Defekt gibt?« »Wir ersetzen das schadhafte System. Durch eine neue Einheit aus unseren Konföderationsbeständen.« »Und wenn es keinen Ersatz mehr gibt?«
»Dann verlassen wir uns auf die Redundanzsysteme und hoffen, dass es in den Lagerhäusern unseres Stützpunktes noch ein fabrikneues Ersatzsystem gibt, das wir nach unserer Rückkehr einbauen können.« »Aber wenn etwas kaputt ist, können Sie es nicht reparieren?« Der Soldat riss sich zusammen, als hätte er schon zu viel gesagt, und hielt die Lippen von nun an fest geschlossen. Muldoon lag völlig entspannt in seinem Käfig und schnurrte laut. Das Inspektionsteam bewunderte nervös seinen geschmeidigen Körper und zog weiter. Muldoon blickte ihnen nach, ohne mit dem Schnurren innezuhalten. Seine Krallen massierten mit rhythmischen Bewegungen den Bodenbelag seines Käfigs. »Wir haben festgestellt, dass Ihr Schiff frei von verbotenem Material und Schmuggelware ist«, gab der junge weibliche Offizier bekannt. »Bleiben Sie in Ihrem Schiff, bis Sie An‐ 166 Weisungen erhalten, wie weiter mit Ihnen verfahren werden soll.« Einen halben Tag später kam die Anweisung: Der Befehlshaber des Zirkusschiffs sollte am folgenden E‐Tag zusammen mit seinen hochrangigen Offizieren und Vertretern des sogenannten Zirkus im Palast des Kurils erscheinen. Man würde eine Transportmöglichkeit zur Verfügung stellen. Garvin wählte die Mitglieder der Gruppe sorgfältig aus: natürlich er und Njangu, außerdem Alikhan, der seine Musth‐Kampfrüstung sowie eine Verzehrer‐Waffe und Insektengranaten mitnehmen konnte, ohne dass man ihren wahren Zweck erraten würde, Dr. Froude in seinem Clownanzug, Sir Douglas und ein völlig zahmer und nicht angeleinter Gepard, Monique Lir und Ben Dill wegen seiner auffälligen Muskeln, die er hoffentlich nicht einsetzen musste. Kekri Katun beklagte sich schmollend bei Ben, dass sie nicht dabei sein sollte. »Ich hätte gedacht, Garvin würde wenigstens eins der Showgirls mitnehmen wollen, um, nun ja, ein wenig anzugeben. Immerhin bin ich darin richtig gut, und ich kann auch ein paar akrobatische Nummern und ähnliche Sachen.« »Wahrscheinlich hat er dich aus genau diesem Grund nicht ausgesucht«, sagte Ben Dill. »Stell dir vor, dieser Kuril würde ein Auge auf dich werfen!« »Oh. Ich denke...« Kekri schien den Faden zu verlieren. »Aber was ist mit Monique Lir? Sie ist auch sehr hübsch.« Ben überlegte, ob er ihr erklären sollte, dass Monique 166 im Gegensatz zu Kekri ein tödlicher Sprengsatz war, aber dann ließ er es bleiben. »Keine Ahnung«, sagte er. »Das dürfte der Grund sein, warum ich nicht der Prinzipal bin.« Es fiel ihm immer noch schwer, Garvin nicht als »Boss« oder alternativ als »Arschloch mit Giptelgehirn« oder »mein mieser kleiner ehemaliger Schütze« zu titulieren.
Froude sah sich um, während die Zirkusleute zwischen den Reihen strammstehender Soldaten mit präsentierten Blastem die Treppe hinauftrotteten. Hinter ihnen parkten die Militärgleiter, die sie von der Big Bertha in die Stadt gebracht hatten. »Ich schätze, das hier sagt alles über das Protektorat«, flüsterte er Njangu zu. »Vielleicht. Aber Sie sollten immer positiv denken.« Das gewaltige Gebäude aus Stein, mit vielen Säulen und im Stil eines antiken Tempels war nach einer nur halb getilgten Inschrift einst das EISBERG‐ZENTRUM FÜR MODERNE KUNST gewesen. »Was wohl mit den Kunstwerken geschehen ist?«, fragte Ben Dill. »Wahrscheinlich zu Klopapier verarbeitet«, mutmaßte Monique. Der Offizier, der sie in den Palast des Kurils führte, drehte sich um und warf ihnen einen bösen Blick zu. Offenbar zeigte die Zirkustruppe nicht genug Respekt. Immerhin, dachte Njangu, sah Kuril Jagasti wie ein echter Diktator aus, genauso wie Garvin das Paradebeispiel eines militärischen Befehlshabers war. Nach Alena Redruth, dem unbetrauert verstorbenen Protektor von Larix und Kura, 167 der eher wie ein mittelmäßiger Bürokrat gewirkt hatte, war er bereit für einen Schurken, der diese Rolle auch äußerlich ausfüllte. Jagasti war groß und schlank, hatte einen vernarbten Hals, eine Hakennase und langes ergrautes Haar. Er hatte den harten Raubvogelblick eines irdischen Adlers, den Njangu einmal in einem Holo gesehen hatte. Es mochte aber auch sein, dass er dringend eine Sehhilfe benötigte. Sein Thron stand im größten Raum des ehemaligen Museums, ein protziges Stück aus glänzendem Stahl, an dem die Schweißnähte absichtlich nicht glatt geschliffen worden waren, und dunklem Lederbezug. Sein Gefolge stellte Waffen aus vielen unterschiedlichen Epochen zur Schau, von zeitgenössischen Blastem über hässlich aussehende Kampfmesser bis zu Nahkampfwerkzeugen. Jagasti nahm sich Zeit, die Truppe gründlich zu mustern, dann fragte er sie ohne Begrüßung nach dem Zweck ihres Besuchs. Auf die Antwort reagierte er mit großem Erstaunen. »Unterhalten? Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was das ist, außer die Vernichtung eines Feindes zu erleben, die Schmerzensschreie eines Gegners zu hören, das Lodern seiner brennenden Städte, seiner explodierenden Raumschiffe, die Klagen seiner Frauen und das Stöhnen seiner Krieger.« Garvin nickte Sir Douglas zu, der seinem Geparden einen Ball zuwarf. Im nächsten Moment versuchte Froude, der Katze den Ball abzunehmen, wobei er die Bewegungen des Tieres geschickt imitierte. Jagasti sah mit steinerner Miene zu. Garvin gab Ben Dill ein Zeichen, der sich in Pose warf, 167
worauf Monique Lir auf ihn zulief, sich mit den Füßen von ihm abstieß und nach einem dreifachen Salto wieder auf den Beinen landete. »Aha«, brummte Jagasti. »Sie meinen Kunststücke.« »Ich meine Kunststücke, wie sie die Galaxis noch nie gesehen hat«, sagte Garvin. »Mit echten Pferden von der Erde, Elefanten, furchterregenden Bestien, fremdartigen Aliens, Männern und Frauen, die durch die Luft fliegen, Geschicklichkeits‐ und Glücksspielen, Clowns, die Sie dazu bringen, sich den Bauch...« »Genug!«, unterbrach Jagasti ihn. »Ich bin kein potenzieller Käufer Ihres Zirkus.« Njangu dachte, dass Jagasti das Paradebeispiel für einen Weltenzerstörer war, aber seine Navigationsbrücke hatte keinen engen Kommunikationskontakt mit seinem Sternenantrieb. Ein Mann mit Vollbart trat aus der Menge. »Ich neige nicht zum Aberglauben, wie Sie wissen, Kuril«, sagte er. »Aber könnte die Ankunft dieser Fremden ein Zeichen sein? Wir könnten sie zu unseren Trup‐ penstützpunkten schicken, um die Moral der Soldaten zu heben.« »Ihre Moral wird sich hinreichend heben, wenn sie sehen, wie mein Bruder tot im Dreck liegt«, sagte Jagasti, aber er klang nicht so, als wäre er von seinen eigenen Worten überzeugt. »Eine bessere Idee«, sagte ein anderer Krieger, ein Mann in den Vierzigern mit trainiertem Körper, der allerdings erste Ansätze von Verfettung zeigte. »Wir sollten von diesen Leute nehmen, was wir brauchen, denn sie sind zweifellos kräftig. Ihre Männer könnten für uns arbeiten, ihre ʹere könnten wir entweder schlachten, wenn sie sich als 168 gefährlich erweisen, oder zu Erziehungszwecken ausstellen, und ihre Frauen...« Er sprach nicht weiter, sondern starrte Lir an. »Das wäre eine Möglichkeit«, pflichtete Jagasti ihm bei. Garvin unterdrückte seine Wut. »Ich hätte gedacht, jeder, der im Namen der Konföderation auftritt, würde unschuldige Reisende willkommen heißen, vor allem solche, die sich — wie wir — geschworen haben, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um für die Rückkehr von Recht und Ordnung zu sorgen.« »Die Konföderation wird zurückkehren«, stimmte Jagasti ihm zu, »wie es mein verstorbener Vater geschworen hat.« Interessanterweise neigten alle Anwesenden den Kopf, als Jagastis Vater erwähnt wurde. Garvin tat es ihnen sofort nach, genauso wie die anderen Mitglieder seiner Truppe, außer Alikhan, der Jagasti mit geröteten Augen musterte. »Sie wird zurückkehren«, wiederholte Jagasti. »Zu meinen Bedingungen. Mein Bruder und ich haben den gleichen Schwur wie unser Vater geleistet, und wären nicht gewisse... unvorhersehbare Umstände eingetreten, würden wir längst die Eroberung von Centrum planen.« Garvin blickte sich um, ob jemand auf das Wort »Bruder« reagierte, und sah einen dünnen, nervösen Mann, der etwa zehn Jahre jünger als Jagasti sein
mochte. Er schürzte die Lippen und nickte eifrig. Garvin bemerkte, dass der Mann seinen Bruder nicht aus den Augen ließ, doch seine Miene war undurchschaubar. Njangu bemerkte den Blick ebenfalls und speicherte ihn als möglicherweise interessant ab. »Natürlich wird es so geschehen«, sagte der kräftig gebaute Mann. »Daran zweifelt niemand, genauso wenig wie 169 wir daran zweifeln, dass Ihr verräterischer Bruder schon bald seine gerechte Strafe erhalten wird. Aber das beantwortet nicht die Frage, was mit diesen Fremden geschehen soll. Wir ‐ jeder von uns hier ‐ glaubt daran, dass die Macht der entscheidende Faktor ist. Ich zum Beispiel wäre sehr an dieser akrobatischen Frau interessiert. Sie könnte mir mit ihren Muskeln sicherlich eine spannende Abendunterhaltung verschaffen, und in diesem sogenannten Zirkus gibt es bestimmt noch mehr, die wie sie sind.« Er lächelte auf unangenehme Weise und ging auf Monique Lir zu. Garvin trat ihm in den Weg, und plötzlich hielt der Mann einen Blaster in der Hand. »Gehen Sie beiseite«, befahl er. Garvin blickte zum Thron. »Lassen Sie zu, dass Ihre Gäste auf diese Weise behandelt werden, Jagasti?« »Ich habe noch nicht entschieden, ob Sie meine Gäste sind«, antwortete Jagasti, »oder meine Gefangenen. Aber ich würde vorschlagen, dass Sie Toba gehorchen. Er kann recht jähzornig werden und hat schon viele Tote auf dem Gewissen.« Garvin zögerte, dann trat er zur Seite. »Ich bitte um Verzeihung, Sir«, murmelte er. Toba ging grinsend weiter, griff mit der freien Hand nach Lirs Brust und zwickte sie. Aus dem Stand riss Lir einen Fuß hoch und schlug Toba die Pistole aus der Hand. Bevor er reagieren konnte, stand der Fuß wieder auf dem Boden, Lir drehte sich und schlug mit dem anderen Fuß nach hinten aus. Sie traf Toba ins Gesicht, der vor Schmerz aufschrie, zurücktaumelte und stürzte. Lir hatte längst wieder ihre Grundhaltung eingenom 169 men, als Toba sich aufsetzte. Er legte eine Hand auf den Mund, sah das Blut, spuckte einen gelockerten Zahn aus, seufzte, kippte wieder um und blieb bewusstlos liegen. Alikhans Tatze lag auf einer Insektengranate, bereit, sie zu aktivieren und in Jagastis Schoß zu werfen, wo die Killerinsekten zum Leben erwachen und dem Menschen einen grausamen Tod bereiten würden. Dill trat zurück, um mehr Platz zum Kämpfen zu haben. Njangu entschied, dass die größte Überlebenschance in der Flucht lag. Da er jedoch keine Lust zum Türmen hatte, machte er sich auf den Tod gefasst.
Zum großen Erstaunen aller Angehörigen der Truppe lachte Jagasti laut auf, als er sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Gut! Das war sehr gut! Toba hat schon immer gedacht, er könnte sich alles erlauben. Ich werde ihn von nun an einen Versager nennen, und Sie heiße ich als meine Gäste willkommen, denn in Ihnen steckt offenkundig viel mehr, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Und ich hege den Verdacht, dass einige von Ihnen Krieger sind und nicht die verächtlichen Sklaven, von denen wir schmarotzen. Vielleicht wird Ihre Show tatsächlich die Moral meiner Soldaten heben.«
17 »Äh, Boss?« »Was gibt es, Ben?«, fragte Garvin. »Kekri und ich... das heißt, eigentlich nur Kekri... würde sich gerne mit dir unterhalten.« 170 »Kein Problem«, sagte Garvin. »Auch privat? Und wenn es etwas länger dauert?« »Kommt rein«, sagte Garvin und führte die beiden in sein Büro. Er sah, dass Kekri einen kleinen Koffer trug. »Dann mal raus mit der Sprache!«, sagte er, nachdem er die Tür geschlossen hatte. »Ich... ich bin eine Spionin!«, flüsterte Kekri und brach in Tränen aus. »Donnerwetter!«, sagte Njangu. »Ein komplettes Geständnis, dass sie eine Agentin ist, und zwar für...« »Direktor Fen Berti aus dem Tiborg‐System«, sagte Garvin. »Genau, wie du vermutet hast.« »Hmm«, machte Njangu. »Ich habe über sie nachgedacht, mir überlegt, dass wir etwas aufräumen müssten... Wie lange dauert es noch, bis das kleine Ding hochgeht, das Lir und Montagna hinterlassen haben?« »Du bist eigentlich derjenige, der über solche Sachen Bescheid wissen sollte. Aber ich habe mich informiert. Noch zwei E‐Monate, was hier etwa zweieinhalb Wochen sind.« »Und sie hat uns alles verraten, was sie weiß?« »Sie wird immer noch verhört. Aber es sieht ganz danach aus.« »Was genau sollte sie ausspionieren?« »Das hat Berti ihr nicht gesagt... er hat sie nur angewiesen, über alles Interessante Bericht zu erstatten. Vor allem sollte sie rauskriegen, woher diese Leute wirklich stammen und was sie tatsächlich im Schilde führen. Ich schätze, er hat ihr nicht völlig vertraut ‐ was die einzige Methode ist, mit Geheimagenten umzugehen. Und es gibt noch eine interessante Randnotiz. Sie sollte 170 ihr Tagebuch senden, als ihr kleines Funkgerät ein Signal empfing, in dem es hieß, dass jemand horcht. Außerdem hat Berti ihr versprochen, dass es für sie
keine Reise ohne Wiederkehr sein sollte. Zu einem geeigneten Zeitpunkt sollte sie gerettet werden. Ich weiß nicht, ob Berti sie nur verarscht hat, aber sie ist der festen Überzeugung, dass er sie mit einer Strickleiter herausholen wollte.« Garvin schüttelte den Kopf. »Das alles gefällt mir überhaupt nicht. Vor allem, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie Berti uns auf der Spur bleiben will.« »Verdammte Intrige!«, murmelte Njangu. »Es wäre besser gewesen, wenn sie nicht gebeichtet hätte. Dann hätten wir zugreifen können, wenn der Sender aktiviert worden wäre ‐ falls es jemals dazu gekommen wäre. Ben Dill hat viel zu gute Arbeit geleistet. Was nützt er uns als Agent, wenn er sie jetzt aus dem Spiel gekickt hat?« »Hier geht es um etwas anderes«, sagte Garvin. »Er hat gemerkt, dass er sich verliebt hat, und hofft inständig, dass keiner von uns diese Sache ausnutzt, um ihn durch den Kakao zu ziehen.« »Oh.« »Er sagte, er wäre wirklich sehr, sehr, sehr sauer, wenn wir es tun würden.« »Ich glaube nicht, dass ich Ben schon einmal saurer als sehr, sehr sauer erlebt habe«, sagte Njangu nachdenklich. »Ich auch nicht«, sagte Garvin. »Vielleicht sollten wir Kekris gesamte Akte einfach in den Schredder werfen. Vor allem die Passagen, in denen du dir Gedanken über Kekri und mich gemacht hast.« »Ich werde sie zweimal schreddern«, versprach Njangu. »Dill macht mir Angst. Aber lass den bösen kleinen Sen 171 der noch eine Weile unversehrt. Er könnte sich irgendwann als nützlich erweisen.« Er schüttelte den Kopf. »Verdammt! Es ist ärgerlich, wenn ein Plan genauso läuft, wie man es sich gedacht hat, und man anschließend trotzdem nichts in der Hand hat.« »Noch einmal zu unserem Ding auf Tiborg«, sagte Garvin. »Haben wir vielleicht Mist gebaut?« Njangu wollte etwas sagen, überlegte es sich aber noch einmal anders. »Wenn du eine intuitive Antwort willst... nein. Gottverdammte Politiker, die mit der Macht Pingpong spielen und uns als Schläger benutzen... es wäre schöner, wenn diese ganze verdammte Bande als dünner Schleimfilm an der Wand verteilt wäre.« Garvin wollte etwas erwidern, aber Njangu hob eine Hand. »Das war die intuitive Antwort. Aber nachdem wir uns jetzt ein Stück entfernt haben und mein Kopf nicht mehr in der Schlinge ist... vielleicht. Ein sehr großes Vielleicht. Zunächst der Standpunkt, dass Leute, die Leute töten und Sachen kaputtmachen, auf jeden Fall die Finger von der Politik lassen sollten. Und wenn die Idioten auf Tiborg sich selbst in die Scheiße geritten haben, sollten sie auch selbst zusehen, wie sie wieder rauskommen. Wir können nicht überall als heiliger Johannes der Erretter auftreten.«
»Aber ist es nicht genau das, was wir tun, wenn wir uns umschauen, was mit der Konföderation passiert ist?« »Verdammt noch mal, Garvin, verwirre mich nicht noch mehr, als ich mich schon selbst verwirrt habe! Aber um deine Frage zu beantworten... wenn ich noch einmal von vorn anfangen könnte, zum Beispiel auf Delta, glaube ich 172 nicht, dass ich es getan hätte. Beziehungsweise hätte ich dich nicht ermutigt, es zu tun.« »Glaubst du das so sehr, dass wir darüber nachdenken sollten, ob wir zurückkehren, wenn wir uns diese Idioten vom Hals geschafft und die Maschine abgeschaltet haben?« »Wenn uns das gelingt, wäre das unser bisher größter Trick«, sagte Njangu. »Nein, das glaube ich nicht. Sie waren alle ein Haufen Drecksäcke und haben es verdient, dass man ihnen etwas Ärger macht. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie uns die Ärsche bis zu den Schultern aufreißen werden, wenn wir jemals wieder in ihre Reichweite kommen sollten.« Er schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Wir haben schon genug Probleme, und dieses wird uns bestimmt keinen Ärger mehr machen, vor allem jetzt, nachdem wir Kekri und ihren kleinen Richtungsanzeiger neutralisiert haben.«
18 »Vielen Dank, meine Damen, dass Sie sich die Zeit genommen haben, unserem Geplauder zuzuhören«, sagte Njangu. »Möchte jemand etwas trinken oder inhalieren?« Zehn der Showgirls des Zirkus, die sorgfältig von Yoshitaro nach dem Kriterium moralischer Verderbtheit ausgewählt worden waren, hatten sich in einem der Freizeiträume der Big Bertha versammelt. »Vielleicht ist Ihnen schon aufgefallen, dass einige der Leute, unter denen wir uns seit kurzem aufhalten, sagen 172 wir mal, etwas direkter als andere sind, mit denen wir bisher zu tun hatten.« »Ziemlich direkt«, sagte eine der Frauen. »Ich hatte bei der letzten Show zwei Mistkerlen den Rücken zugekehrt, und sie versuchten mir einfach nur zum Spaß das Kleid herunterzureißen! Ich war verdammt froh, dass wir im Schiff und nicht unter dem Zelt gespielt haben. Es sind Schläger und Vergewaltiger, wenn sie glauben, dass sie damit durchkommen.« »Ich glaube, der korrekte Begriff lautet >Barbaren<«, warf eine andere Frau ein. Njangu kratzte sich am Kinn und wartete, bis das Gelächter nachgelassen hatte. »Was wir wollen... was Prinzipal Jaansma will«, sagte er, »ist Folgendes: Wir geben hier und dort ein paar Vorstellungen in diesem System, und dann setzen wir den Flug Richtung Centrum fort. Aber das Protektorat ist nicht sehr von dieser Idee angetan.« »Warum nicht?«, fragte eine Frau.
»Weil ich vermute, dass sie eigene Pläne verfolgen, was die noch vorhandenen Reste der Konföderation betrifft.« »Also stellen wir eine Bedrohung dar?« Njangu breitete die Arme aus. »Es scheint so.« »Idioten!«, rief eine andere Frau. »Möglicherweise«, sagte Njangu. »Womit wir zu meinem Vorschlag kommen. Ich suche nach Freiwilligen, die bereit wären, sich mit diesen Protektoratstypen anzufreunden.« »Sie meinen, Offiziere und andere hohe Tiere?« »Ich glaube jedenfalls nicht, dass ein gewöhnlicher Deckschrubber über Dinge reden könnte, die für uns interessant wären.« 173 Eine der Frauen, Delot Eibar, die Njangu als etwas schneller als andere eingeschätzt hatte, sah ihn skeptisch an. »Sie meinen Bettgeflüster.« »Nicht zwangsläufig«, sagte Yoshitaro vorsichtig, während er spürte, wie sich in ihm der winzige Rest dessen regte, was andere Leute als »moralisches Gewissen« bezeichneten. »Einfach... normale Gespräche.« »Aber es muss sich nicht zwangsläufig darauf beschränken«, fuhr Eibar fort. Njangu antwortete nicht. »Welche anderen Spionagemethoden setzen Sie sonst noch ein?« Njangu lächelte unverbindlich. »Ach, ich verstehe. Wenn sich eine von uns verliebt, statt andersherum, kann sie sich nicht beim Bettgeflüster verplaudern.« »Sie sind eine sehr kluge Frau«, lobte Yoshitaro. »Das mag sein«, knurrte Eibar. »Wenn ich mich also auf diesen Vorschlag einlasse, wäre es meine eigene Entscheidung. Ich möchte nicht mit irgendeinem Schlägertypen in der Kiste landen, der seit einem Jahr oder so nicht mehr gebadet hat.« »Einverstanden«, sagte Njangu. »Da diese Geschichte weit außerhalb dessen liegt, was man noch als >von allgemeinem Nutzem bezeichnen kann, würde ich gerne fragen, welche Gegenleistung wir dafür erwarten können?« »Wenn Sie sich einverstanden erklären, können wir Ihr vertragliches Gehalt verdoppeln«, schlug Njangu vor. Ein Raunen ging durch die Showgirls. Njangu stand auf. »Diskutieren Sie über die Sache. Ich verspreche Ihnen, 173 dass wir keine Risiken eingehen wollen. Wir werden Sie verwanzen, und wenn es Ihnen zu brenzlig wird, unternimmt unsere Sicherheit alles, um Sie aus den Schwierigkeiten herauszuholen.« »Sicherheit«, murmelte ein Mädchen. »Zum Beispiel dieser Ben Dill?« »Tut mir leid«, sagte Njangu. »Ben ist ein großer, starker Mann, aber mehr als das ist er nicht.«
»Ja...« Eibar zeigte sich skeptisch. »Ja, klar. Nicht dass es eine Rolle spielen würde, da Kekri Katun die Schlüssel zu seinem Keuschheitsgürtel in der Tasche hat. Auf jeden Fall glaube ich, dass ich ziemlich gut verstanden habe, was Sie von uns erwarten.« »Und ich glaube«, sagte Njangu, »dass mir das ein wenig Angst macht.« Monique Lir näherte sich mit wiegenden Schritten, setzte einen verführerischen Blick auf und winkte Froude zu, der mit trauriger Miene dasaß. Er schaute von seiner Stange auf sie herab, schwankte, wedelte mit den Armen und fand sein Gleichgewicht wieder. Wieder winkte Monique ihm, und diesmal sah Froude eine Balancierstange, an deren Enden zufällig zwei Liliputaner hingen. Er hob sie auf, anscheinend ohne die kleinen Menschen zu bemerken, und lief über das Seil auf Lir zu. Er schaukelte, wäre beinahe abgestürzt, und die Liliputaner reagierten genauso hektisch wie er. Das Publikum johlte vor Vergnügen. Monique stand so sicher auf dem Seil, als wäre sie festgenietet, und blickte auf die Tribünen hinunter. Der Frachtraum war bis auf den letzten Platz besetzt, und die Leute 174 hockten sogar auf dem Boden. So war es schon während der letzten sieben Vorstellungen gewesen, und es gefiel ihr immer noch genauso wenig wie zu Anfang. Die Menge bestand ausschließlich aus Männern und Frauen in Uniform. Keine Kinder, keine Alten, keine Zivilisten, nicht einmal Regierungsbeamte. Jagasti war der Überzeugung, dass jeder, der für das Protektorat arbeitete, Militärangehöriger sein sollte. Froude verlor das Gleichgewicht und stürzte, ohne die Balancierstange loszulassen. Aber er löste sich gar nicht vom Seil, sondern vollführte eine komplette Drehung, zusammen mit dem Stab und den Liliputanern. Dann war er wieder oben und empfing tosenden Applaus. Froude wirkte leicht mitgenommen, denn trotz der Antigraveinheiten und eines raʹfelan, der über ihm hing und ihn hätte auffangen können, war diese Nummer noch recht neu für ihn. Er hatte sie erst zum dritten Mal vorgeführt, seit ihm die Idee dazu gekommen war und er sie endlos geübt hatte, einen Meter über dem Boden mit einem Trampolin. Lir überlegte, wie sie diese Idioten loswerden konnten, um endlich den Erkundungsflug nach Centrum fortzusetzen. Dieser Zirkuskram war zwar interessant, aber der Reiz verblasste allmählich. Sie sehnte sich danach, wieder ihre Uniform anziehen zu dürfen, die Soldaten zusammenzutrommeln und loszuziehen, um den Knallköpfen, die sie während der vergangenen Monate hatte ertragen müssen, anständig den Hintern zu versohlen. Lir war mehr als bereit, mit den Geistesgestörten anzufangen, die großspurig dieses blöde Protektorat ausgerufen hatten.
175 Njangu, Dalet Eibar und Bayanti, Jagastis jüngerer Bruder, saßen in einer geschlossenen Loge und beobachteten die Kapriolen des Zirkus unter ihnen. Yoshitaro stellte zufrieden fest, dass Bayanti immer wieder zu Eibar hinüber‐ schaute, wenn er glaubte, dass Njangu nicht auf ihn achtete. »Und das ist wirklich Ihr Leben?«, fragte Bayanti. »Sie reisen die ganze Zeit herum und machen diese Vorführungen?« »Für dieses Leben haben wir uns entschieden«, sagte Njangu. »Wir lieben die Aufregung«, warf Dalet mehrdeutig ein. »Es sind gefährliche Zeiten für Menschen, die ohne Schutz unterwegs sind«, sagte Bayanti. »Deshalb«, erwiderte Dalet, »versuchen wir, mit allen Menschen gut zurechtzukommen.« Sie lächelte. Njangu entschied, dass er genug hatte, also drückte er auf einen Sensor an seinem Kom. Das Gerät summte, er nahm es vom Gürtel und beantwortete den angeblichen Anruf von der Brücke. Er entschuldigte sich und fragte Dalet, ob es ihr etwas ausmachen würde, Bayanti nach der Vorstellung herumzuführen und ihm alles zu zeigen, was er sehen wollte. Dann ging er. Er überließ es Eibar, ihrem Begleiter zu erklären, dass sie und Njangu keine engere Beziehung hatten, dass sie überhaupt keine Beziehung hatte und sogar hoffte, jemanden zu treffen, der ihr den faszinierenden Planeten zeigen würde, auf dem der Zirkus gelandet war. Und er musste daran denken, das vereinbarte Gehalt in Dalets Vertrag zu ändern. 175 »Ich glaube, Sie waren einmal Soldat«, sagte Phraphas Phanon zu Alikhan. Der Musth dachte kurz nach und entschied, dass es nicht schaden würde, wenn er die Wahrheit sagte. »Das war ich.« »Wir würden Sie gerne engagieren, um uns etwas beizubringen«, sagte Phanon. Thanon nickte eifrig. »Wenn ich etwas Erfahrenswertes weiß, müssen Sie mich nur danach fragen«, sagte Alikhan. »Es würde mir helfen, die Zeit zu vertreiben. Es langweilt mich, von diesen kurzhaarigen Idioten angestarrt und für ein schreckliches Ungeheuer gehalten zu werden.« »Wir möchten, dass Sie uns beibringen, wie man Waffen benutzt.« Alikhans Kopf zuckte vor und zurück, und er hob überrascht die Tatzen. »Warum möchten Sie etwas Derartiges lernen?«, fragte er. »Wir leben in unruhigen Zeiten«, sagte Phanon. »Wir fühlen uns verletzlich und sollten in der Lage sein, unsere grauen Freunde zu beschützen.« »Das ist nicht schwer zu verstehen«, stimmte Alikhan zu. »Aber warum kommen Sie damit zu mir?«
»Erstens«, sagte Thanon, »sind Sie derjenige, der nach unserer Einschätzung am offensichtlichsten ein Soldat war oder sogar noch ist. Es gibt natürlich noch ein paar andere, die diesen Eindruck erwecken, zum Beispiel Mr. Yoshitaro und Mr. Dill, von denen wir annehmen, dass sie einst in diesem Gewerbe tätig waren.« »Das ist mir neu«, sagte Alikhan. »Ich hätte gedacht, Ben Dill wäre viel zu fett, um Soldat sein zu können.« Er war mächtig stolz auf sich, weil er einen typisch mensch 176 liehen Witz gemacht hatte, und brannte darauf, Dill davon zu erzählen. »Sehen Sie? Wir sind uns auch nicht sicher.« »Das Problem wird sein«, sagte Alikhan, »das tatsächliche Abfeuern der Waffen zu üben. Ich vermute, Sie wollen nicht lernen, die Werkzeuge einzusetzen, die ich gelegentlich bei mir trage, da ich nur noch jeweils zwei davon besitze. Außerdem wäre es recht schwierig für Menschen, ihre Benutzung zu erlernen. Andererseits bezweifle ich, dass diese Protektoratstruppen beeindruckt wären, wenn wir mit Blastem hinausgehen und auf irgendwelche Ziele schießen.« »Das haben wir uns auch gedacht. Könnten Sie uns nicht die Funktionsweise dieser Waffen erklären, wie man sie lädt, wie man zielt und sie abfeuert, um vielleicht zu einem günstigeren Zeitpunkt ein paar Übungsschüsse abgeben zu können?« Alikhan dachte nach. »Ja«, sagte er schließlich. »Ja, das ließe sich machen. Und als Gegenleistung würde ich Sie gerne um einen Gefallen bitten.« »Wir sind zu allem bereit, was in unserer Macht steht.« »Ich möchte, dass Sie mich einem Ihrer Elefanten vorstellen, und wenn er sich vergewissert hat, dass ich keine Gefahr darstelle, würde ich gerne auf ihm reiten.« Njangu schickte seine Agenten los. Manche traten offen auf und besuchten die Bibliotheken des Planeten beziehungsweise das, was noch von den einstigen Sammlungen übrig war. Andere arbeiteten verdeckt. Behutsam und skeptisch, Stück für Stück, konnte er die Geschichte des Protektorats rekonstruieren. Alle Daten waren natürlich nach der uralten Klassifikation kategorisiert: 176 A: an den betreffenden Ereignissen beteiligte Personen B: Augenzeugen C: zuverlässige Quellen D: unzuverlässige Quellen Hinzu kam eine Bewertung der Informationen: 1. Information durch zwei weitere B‐ oder C‐Quellen bestätigt 2. Information wahrscheinlich zutreffend, aber keine Bestätigung durch verlässliche Quellen 3. Information nicht bestätigt, aber als wahrscheinlich zutreffend eingeschätzt 4. Gerüchte
Muldoon sprang von seinem Platz auf einem Elefantenpodest auf den wartenden Löwen zu, der mit lautem Gebrüll reagierte. Der Leopard rollte sich zusammen, und der Löwe fing ihn mit den Tatzen auf, warf ihn zu einem Tiger hinüber, der ihn zur nächsten Raubkatze weiterspielte. Beinahe hätte er ihn auf Sir Douglas geworfen, der drohend die Peitsche knallen ließ. Dann flog der Leopard zurück zum Löwen und landete wieder auf den Beinen. Das Publikum war für einen Moment in ehrfürchtiger Stille erstarrt, dann kam der tosende Applaus. Muldoon nahm den Beifall mit einem zufriedenen Gähnen entgegen und leckte sich eine Pfote. »Verdammt gut!«, sagte Garvin. »Es gefällt mir, wie sich die Artisten gegenseitig anregen und...« »Und voneinander klauen, meinen Sie?«, sagte Sir Douglas grinsend. »Ein solches Wort würde ich niemals in den Mund neh 177 men! Meinen Glückwunsch. Die Nummer sieht sehr gefährlich aus.« »In meiner Nähe ist es niemals gefährlich«, sagte Sir Douglas hochmütig. Garvin grinste und ging zurück in die Manege 1, während der Katzenkäfig abgebaut wurde. »Ich werde dem Prinzipal nicht verraten, dass Ihre Finger gekreuzt waren, als Sie gesagt haben, es sei nicht gefährlich«, flüsterte Darod Montagna ihm zu. »Vielen Dank«, raunte Sir Douglas. »Maev, wenn du bitte die Tür benutzen würdest«, sagte Njangu. Sie nickte und verließ mit halb verborgener Pistole den kleinen Konferenzraum irgendwo tief im Kommandomodul der Big Bertha. Anwesend waren die hochrangigen Mitglieder der Legion sowie die Doktoren Froude und Ristori. »Was jetzt kommt«, sagte Garvin, »ist eine kurze Geschichtsstunde über den Hintergrund dieser Protektoratisten. Das könnte für uns sehr hilfreich sein, wenn wir überlegen, was wir als Nächstes tun wollen. Da Dr. Froude von uns allen vermutlich der beste Synkretiker ist, habe ich ihn gebeten, den Vortrag zu halten, der auf Daten basiert, die Froude, Njangu und sein Stab zusammengetragen ha‐ ben. Doktor?« Froude lehnte sich zurück und begann zu erzählen. Vor etwa zwanzig E‐Jahren hatte die Konföderation erstmals ganze Bevölkerungsgruppen, die als besonders kämpferisch veranlagt galten, für Sicherheitsaufgaben rekrutiert und sie geschlossen zum Dienst verpflichtet, statt sich nur auf konventionelle Militärstrukturen wie in der Flotte oder den Streitmächten zu verlassen. 177 Im Publikum hatte noch niemand davon gehört, dass diese Praxis schon einmal angewendet worden war. Und ebenso konnte niemand sagen, warum man sich zu einem so primitiven und gefährlichen Vorgehen entschlossen hatte.
»Ich wünschte«, sagte Garvin, »wir hätten noch ein paar der alten Soldaten unter uns. Vielleicht hätten Caud Williams oder Rao etwas mehr über solche Einheiten sagen können und warum die Konföderation diese Maßnahme ergriffen hat.« »Ich hätte da eine Vermutung«, warf Yoshitaro ein. »Sie werden nach Erfolg bezahlt ‐ das heißt, sie kriegen einen Anteil von der Beute ‐ und arbeiten deshalb billiger.« Verhaltenes Gelächter in der Runde. »Das sollte kein Witz sein«, sagte Njangu, und schlagartig hörte das Gelächter auf. »Monique«, fuhr Garvin fort. »Du bist unter uns die dienstälteste Soldatin. Hast du schon einmal von einer solchen Sache gehört?« »Nein«, antwortete Monique, doch dann hielt sie nachdenklich inne. »Moment mal... bevor ich mich rekrutieren ließ, als ich noch Tänzerin an der Oper war, hat irgendeine Kollegin mal erwähnt, sie wäre verdammt froh, dass die einheimischen Soldaten einer Berufsarmee angehören, weil sie die Schnauze voll hatte, ständig die Schürzenjäger abwimmeln zu müssen. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass sie noch mehr dazu gesagt hätte.« »Interessant«, sagte Froude und fuhr fort. »Diese Leute, die im Namen der Konföderation auftreten, wurden im Lauf der Zeit mehrmals versetzt, immer näher an Centrum heran, je größer die Probleme auf der Heimatwelt wurden. Dann verlor jeder den Kontakt zur Konföderation, auch diese Typen. 178 Der Vater der drei Brüder, die nun den Laden schmeißen, kam auf die interessante Idee, er wäre stark genug, um Capella und Centrum zu erobern, worauf er bestimmen wollte, was als Nächstes zu geschehen hätte. Die Konfö‐ deration sollte das Parlament auflösen, nachdem ein starker Führer >gewählt< würde, der wieder für Ordnung sorgt. Kein System sollte sich mehr unabhängig erklären, und jede Welt, die Mitglieder der Konföderation angreift, würde vernichtet. Scheint ein sehr vorsichtiger Mann gewesen zu sein, denn seine ersten Schritte führten ihn von Centrum fort. Er übernahm die Herrschaft über andere Systeme wie Sa‐byn, machte Welten wie Mays zu seinen Marionetten und so weiter. Wir gehen davon aus, dass sich ihr Einfluss auf mindestens zwanzig Systeme erstreckt, vielleicht sogar mehr. Das Protektorat arbeitet so, dass von diesen Welten nur die Sahne abgeschöpft wird, damit genug übrig bleibt, um die Wirtschaft am Leben zu erhalten. Sie tun diesen Menschen nicht so sehr weh, dass sie auf die Idee kommen, aufmüpfig zu werden. Und wer doch Widerstand leistet, wird offenbar mit gnadenloser Härte gemaßregelt. Ich habe von mindestens zwei Planeten erfahren, die nicht auf ver‐ nünftige Argumente hören wollten und eine nukleare Therapie erhielten. Ich konnte leider nicht herausfinden, wann Jagasti beabsichtigte, mit dem Protektorat gegen Centrum vorzurücken. Aber ich habe ein paar Hinweise erhalten, dass Erkundungsschiffe ausgeschickt wurden und niemals zu‐
rückkehrten. Sie wurden wahrscheinlich durch die noch vorhandenen Kampfflotten der Konföderation vernichtet, unterstützt durch die automatischen Wachstationen rund um Centrum. 179 Zunächst lief alles gut. Doch dann beging der alte Mann den peinlichen Fehler, einfach zu sterben. Hat sich offenbar an Aal überfressen oder so. Das wurde nicht ganz klar, als er in den Holoaufzeichnungen von der Beerdigung in den Himmel gelobt wurde. Ich glaube nicht, dass einer seiner Söhne den üblichen jugendlichen Aufstand probte und dem alten Saftsack radioaktives Abwasser in den Kaff schmuggelte oder ihm Gift ins Ohr träufelte. Wie dem auch sei, anschließend übernahm Jagasti das Amt des Kurils. Er hat den Ruf eines höchst ehrenwerten Kriegers, auch wenn nirgendwo erwähnt wird, in welchem echten Krieg er gekämpft haben soll. Er besitzt nicht einmal ansatzweise die Fähigkeit seines Vaters, all diese Schläger unter Kontrolle zu halten. Also ist Sohn Nummer zwei, der sich selbst in der Rolle des großen Führers zu sehen scheint, mit seinen Anhängern losmarschiert und hat zwei Systeme besetzt, Degasten und Khon. Und er wird nicht müde zu betonen, dass er der rechtmäßige Kuril ist.« »Was ist mit dem dritten Sohn?«, fragte Garvin. »Er war neulich im Zirkus.« »Bei unseren Gesprächen haben sich ein paar gemeinsame Interessensgebiete aufgetan«, sagte Njangu und gab sich wichtigtuerisch. »Bayanti ist ehrgeizig, aber bislang sieht es nicht so aus, als würde er versuchen wollen, selbst aktiv zu werden. Allerdings überlege ich bereits, wie ich seinen Ehrgeiz fördern könnte.« »Das ist eine sehr kurze Zusammenfassung der Fakten, die wir über das Protektorat gesammelt haben«, sagte Froude. »Wer interessiert ist, kann gerne wesentlich genauere Daten erhalten. Die Frage ist nun, was wir machen sollen. 179 Es sieht nicht danach aus, dass diese Leute uns ermutigen oder auch nur erlauben werden, weiter nach Centrum vorzudringen.« »Ich gewinne allmählich den Eindruck«, warf Njangu ein, »dass Jagasti und seine Truppe uns immer sympathischer finden. Einerseits ist das gut, andererseits wird es dadurch sehr schwierig, uns durch die Hintertür davonzuschleichen, ohne dass Jagasti sauer wird, was für uns sehr üble Folgen hätte.« »Was wir jetzt brauchen«, sagte Garvin, »ist eine Möglichkeit, etwas Scheiße in den Laden zu kippen, ohne dass wir selber dabei braun werden.« Die Leute im Raum sahen sich ratlos an. Kein Gesicht erweckte den Anschein, als hätte der oder die Betreffende auch nur den Ansatz einer Idee. Njangus Lippen strichen an der Innenseite von Maevs Schenkel entlang, als er plötzlich hochfuhr. »Ich bin ein verdammtes Arschloch!« »Das bist du, wenn du nicht sofort mit dem weitermachst, was du gerade getan hast«, stieß Maev hervor, während sie scharf den Atem einsog.
Aber Yoshitaro achtete gar nicht mehr auf sie, sondern setzte sich auf und schaltete den Kom ein. »Ich hoffe«, war Garvins Stimme zu hören, »dass es verdammt wichtig ist, Njangu. Denn es gibt für alles eine richtige Zeit und einen richtigen Ort. Das gilt insbesondere für diese KomNummer.« Sein Atem ging recht schwer. »Boss«, rief Njangu stolz, »ich habe einen Plan!« 180
19 »Ich schlage vor«, sagte Njangu, »die Lage zu verschlimmern.« »Für wen?«, fragte Froude amüsiert. Garvin gähnte schläfrig und sagte nichts. Die drei hatten sich in Garvins Büro versammelt und warteten auf ein belebendes Getränk. »Natürlich nicht für uns«, sagte Yoshitaro. »Zumindest hoffe ich das. Schaut euch mal an, was wir haben. Drei Brüder, die Barbaren sind und von denen zwei nicht gut miteinander klarkommen. Sie versuchen sich gegenseitig das Gold abzujagen, aber genauso wie ihr Vater scheinen sie sich nicht recht zu trauen, den großen Sprung nach Centrum zu machen. Ich vermute, dass dieser Teki, der sich nach Degasten abgesetzt hat, zusammen mit allen, die er anstacheln konnte, nichts dagegen hätte, wenn sein großer Bruder Jagasti zufällig stolpert und sich in seinen Säbel stürzt.« »Gegen Ihre Argumente lässt sich nichts einwenden«, sagte Froude. »Deshalb bin ich für den Vorschlag, etwas Scheiße in den Laden zu kippen, wie es so schön formuliert wurde«, sagte Njangu. »Wie soll diese Scheiße genau aussehen?«, sagte Garvin und verstummte, als ein Kantinenangestellter mit einem Tablett hereinkam und die Getränke servierte. Nachdem der Mann gegangen war, wartete er auf eine Antwort. »Hier lauert in jeder Ecke Misstrauen«, sagte Njangu. »Ich werde diesen drei Affen einreden, dass Attentate auf sie verübt werden sollen.« 180 »Gut«, sagte Garvin. »Und wer soll der Rädelsführer dieser Intrige sein?« »Ich natürlich.« »Für alle drei?« »Kann ich etwa jonglieren?« Njangu schlürfte mit unschuldiger Miene seinen Kaff. Jagastis Vorstellung eines interessanten sportlichen Wettkampfs bestand darin, eine Fahne in einer bestimmten Farbe an einen Schweber zu hängen. Die anderen Fahrzeuge ‐insgesamt zehn pro Mannschaft, jeweils zwei Mann pro Gleiter ‐ versuchten den Gegnern die Fahne abzunehmen oder ihren Fahnenträger zu schützen, bis er eine Ziellinie erreicht hatte. Soweit Njangu feststellen konnte, gab es keine weiteren speziellen Regeln, außer dass sich alle Schweber an das Ende ihres Feldes zurückziehen sollten, sobald sich die Sanitäter um die Überlebenden eines abgestürzten Gefährts kümmerten. Zumindest schienen im Wettkampf keine Blaster erlaubt zu sein.
»Eine interessante Sportart, Kuril«, sagte Yoshitaro. »Ja! Es ist ein wahrer Sport für Männer! Für echte Männer! Angeblich wurde er früher auf unseren Heimatwelten mit Reittieren ausgetragen. Aber so ist es viel schneller.« »Und es kommen noch mehr deiner besten Kämpfer ums Leben«, warf Bayanti ein. »Das Leben ist nicht mehr als die Wartezeit bis zum Tod«, sagte Jagasti ungeduldig. »Männer werden schwach, bis sie wie Frauen sind, wenn sie nicht regelmäßig ihre Kräfte messen.« Bayanti wollte etwas dazu sagen, als zwei Schweber steil 181 in die Höhe schössen und sich dann auf den Fahnenträger stürzten. Der erste Schweber rammte den Fahnenträger, der ins Trudeln geriet, und die Fahne wurde vom leichten Wind davongetragen. Der zweite fing sie auf, drehte scharf nach rechts und dann nach links ab und raste anschließend mit Vollschub über die Ziellinie. Jagasti war aufgesprungen, jubelte brüllend und versprach den Siegern reiche Belohnung. Bayanti warf Njangu einen seltsamen Blick zu und drehte gleich darauf den Kopf weg. Jagasti kehrte zu seinem Sitz zurück, einem V‐förmigen Stück Metall, das mit Stoff bespannt war. »Du, Bayanti«, sagte er, »gehst hinüber und belobigst die Piloten dieser beiden Maschinen. Gib ihnen... die Erlaubnis, sich meinen Ersten Imperialen anzuschließen. Dieser Fremdweltler hat gesagt, er möchte über etwas Privates mit mir reden.« »Und Ihr Bruder ist nicht berechtigt, bei diesem Gespräch zugegen zu sein?« »Das werde ich entscheiden«, sagte Jagasti. »Später.« Bayanti stand auf und verließ die provisorisch errichtete Zuschauertribüne. »Brüder!«, sagte Jagasti kopfschüttelnd. »Haben Sie auch welche, Yoshitaro?« »Mir blieb dieses Glück versagt«, antwortete Njangu. »Nein, Ihnen blieb ein großes Unglück erspart«, schnarrte Jagasti. »Es muss wunderbar sein, aufzuwachsen und nicht ständig Acht geben zu müssen, ob einem jemand ein Bein stellen will. Und wenn man endlich sein Ziel ins Auge gefasst hat, kommt jemand vom eigenen Fleisch und Blut daher, beschimpft einen als Narren, sagt, man hätte kein Recht auf das, was man errungen hat, und erklärt ei 181 nen zu seinem Todfeind. Sie sind noch jung, und Sie wissen nicht, wie es ist, einen Verräter in der eigenen Familie zu haben, jemanden, der alles verleugnet, obwohl er genau weiß, dass es rechtens ist.« Njangu wartete. »Wie dem auch sei«, sagte Jagasti. »Meine Probleme sind meine Probleme. Sagen Sie mir jetzt, warum Sie unter vier Augen mit mir reden wollen.«
»Ich möchte«, sagte Njangu vorsichtig, »Ihre Probleme zu meinen machen.« »Was soll das heißen?« »Wie Sie sich zweifelsohne bereits gedacht haben, ist der Zirkus Jaansma mehr, als er auf den ersten Blick zu sein scheint.« »Ich wusste es!«, frohlockte Jagasti. »Ich wusste es! Nur Narren würden in diesen blutigen Zeiten herumziehen und durch die Luft schwingen und hoffen, dafür reichlich entlohnt zu werden. Na los! Sagen Sie mir, was Sie außerdem tun!« »Das hängt davon ab«, sagte Njangu. »Manchmal tun wir gar nicht mehr als das, was wir offen anbieten. Aber manchmal, wenn wir an die richtigen Leute geraten und die Verdienstaussichten gut sind, bieten wir bestimmte Dienste an.« »Sie drücken sich immer noch sehr vage aus.« »Ich werde gleich konkreter«, sagte Njangu. »Gegen ein Honorar, das wir vorab aushandeln müssten, könnten wir zum Beispiel Ihren Bruder Teki aus der Welt schaffen, sodass für Sie der Weg zur Eroberung Centrums frei wäre.« Njangu hatte den Eindruck, dass Jagastis Augen gelb leuchteten, genauso wie die des Leoparden Muldoon, bevor er zum Sprung ansetzte und jemanden zerfleischte. 182 »Das ist eine verdammt große Distanz«, beklagte sich Darod Montagna. »Und das hier ist eine verdammt beschissene Unterlage zum Schießen.« Montagna lag hinter einem Scharfschützengewehr, das sich noch im Experimentierstadium befand und eher wie ein Knochengerippe aussah. Es bestand aus Stangen und Schrauben und wirkte, als wäre es aus dem zusammen‐ gebaut worden, was zufällig in einer Werkstatt herumgelegen hatte. Die Waffe verschoss keine konventionellen Blasterpatronen, sondern altertümliche, solide Projektile. Das Kaliber war schockierend groß ‐ fast 18 Millimeter. Das Projektil war durch eine winzige Antigraveinheit in der Nase vor den Einflüssen der Schwerkraft und des Windes abgeschirmt, sodass die Flugbahn bis zu sechs Kilometer weit völlig geradlinig verlief. Im Magazin befanden sich drei Patronen; jede wog etwa 170 Gramm und erreichte eine Geschwindigkeit von knapp 2000 Meter pro Sekunde. Über dem Kolben war ein hässliches Visier angebracht, dessen Vergrößerung zwischen zweifach und über zweihundertfach reguliert werden konnte. Die Waffe war mit zusätzlichem Gewicht versehen worden, um Stabilität zu gewinnen und den Rückstoß zu reduzieren, und wog über achtzehn Kilo, sodass es unmöglich war, sie an der Schulter abzufeuern. Sie war mit einem nach hinten gerichteten zweibeinigen Stativ am Vorderende und einer gleichermaßen angewinkelten Einzelstütze am hinteren Ende ausgestattet. Ohne den Ausgleich durch die zwei schweren Federn im Schaft wäre die Schulter des Schützen trotzdem bis nach vorgestern zurückgestoßen worden. Der Rückschlag betrug fast zehn Zentimeter, 182
beinahe wie bei einer antiken Kanone. Man konnte also nicht behaupten, dass es Spaß machte, mit diesem Ding zu schießen. Montagna hatte recht, was die Stabilität der Unterlage betraf, auf der die Waffe montiert war. Sie lag auf dem Boden eines Gleiters, der in etwa zweitausend Metern Höhe schwebte, und der Lauf der Waffe ragte aus der halb geöffneten hinteren Rampe. »Hör auf zu jammern, Nimrod«, sagte Lir, während sie das Kastenmagazin des Gewehrs mit Patronen füllte, die halb so lang wie ihr Unterarm waren. »Und vergiss bitte nicht, dass du den Mistkerl verfehlen sollst.« »Ja«, sagte Montagna unbehaglich. »Aber es soll doch so knapp werden, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass er das Ziel ist, richtig?« Montagna trug eine sehr enge Schützenjacke, und der Gewehrriemen mit automatischem Spanner verlief von der Waffe über ihren Rücken, zwischen ihren Beinen hindurch und zurück zum Kolben, sodass sie sich kaum bewegen konnte. Der Gleiter schwankte im Wind, und Lir brummte dem Autopiloten ein »Lass das!« zu. Das System versuchte das Gefährt in stabiler Lage zu halten, wobei es drei Fixpunkte benutzte ‐ die Nase der mehrere Kilometer entfernten und kaum noch erkennbaren Big Bertha, den zweiten Mond von Mohi II und einen fernen Berg. Montagna seufzte und starrte durch das Visier auf das Haus, das fünf Kilometer entfernt war und dessen Steinfassade in der aufgehenden Sonne glitzerte. Sie fand die Treppe, schwenkte zum wartenden Gleiter hinüber und bewegte das Zielkreuz dann auf den Haupteingang. Sie benutzte die höchste Vergrößerungsstufe, stellte fest, dass 183 sich die Bedingungen nicht weiter verbessern ließen, und drehte das Rad einen Tick zurück. Lir hatte ebenfalls einen stabilisierten Feldstecher auf den Eingang des Anwesens gerichtet. Sie warteten. Montagna spürte die morgendliche Brise, die kalt in ihre Nase drang. »Der Chauffeur ist gekommen«, warnte Lir. »Er müsste gleich auftauchen.« Montagna sah, wie sich die Tür des Hauses öffnete, atmete ein... und wieder aus... und hielt die Luft an. Dann berührte sie den ersten Hebel des recht altertümlichen Abzugs. Ein festerer Druck auf den zweiten würde das Gewehr auslösen. Ein Mann ‐ eindeutig Bayanti ‐ kam in Sicht und unterhielt sich angeregt mit jemandem. Montagna berührte den Abzug, und das Gewehr spielte den letzten Trumpf aus, trotz des Schall‐ und Mündungsfeuerdämpfers mit einem heftigen Knall. Sie ignorierte den Kommentar ihres Hinterkopfes ‐ Du bist zusammengezuckt, du blödes Arschloch! — und zwang das Monstrum, sich wieder auf das Ziel auszurichten. Sie wollte sehen, was geschah, während das Projektil unterwegs
war. Als sie das Visier wieder ausgerichtet hatte, erkannte sie, dass das große Geschoss ein beträchtliches Loch in die Mauer etwa einen Meter über Bayantis Kopf gerissen hatte. Er selbst lag bäuchlings auf der Treppe. Sein Begleiter hatte sich tapfer auf ihn geworfen, um ihn vor einem möglichen zweiten Schuss des Attentäters zu schützen. »Ich glaube, das hat gesessen«, sagte Lir. »Scheint so«, sagte Darod, schnallte sich los und rieb sich die Schulter. »Verdammt, aber dieses Mistding hat einen ziemlichen Stoß.« 184 »Ein sauberer Schuss«, sagte Lir. »Jetzt lass uns nach Hause fliegen und sehen, wie viel Scheiße wir für Njangu aufgewirbelt haben.« Es war eine ganze Menge. Jagasti rief Njangu noch am selben Tag zu sich. »Jemand«, sagte er mit eisiger Stimme, »hat heute früh versucht, meinen kleinen Bruder zu töten.« Njangu täuschte Überraschung vor. »Ach, deswegen also der Aufstand am Vormittag. Wir wurden zweimal zurückgewiesen, als wir die Stadt aufsuchen wollten.« »Sie hatten Glück, dass man nicht auf Sie geschossen hat«, sagte Jagasti. »Meine Männer waren ziemlich schockiert, und die Waffen saßen sehr locker. Ich erteile Ihnen nun den offiziellen Auftrag, sich um meinen Bruder Teki zu kümmern. Tun Sie, was Sie vorgeschlagen haben.« »Ich sagte, ich könnte versuchen, es zu tun.« »Sie werden es tun«, sagte Jagasti. »Ich akzeptiere keine Fehlschläge, erst recht nicht, wenn sich jemand, den ich nicht kenne, freiwillig für einen Auftrag meldet und es dann nicht schafft. Sie bekommen alles, was Sie dazu benötigen, und jede erforderliche Geldsumme. Nun gehen Sie und erfüllen Sie Ihren Auftrag!«
Degasten / Ogdai Njangu wünschte sich, sie hätten genügend Platz in der Big Bertha gehabt, um einen kleinen Zerstörer zu verstecken ‐oder noch besser, einen Velv der Musth. Doch bei einer verdeckten Aktion war es wie beim Verreisen ‐ es gab nie genügend Platz, um alles zu verstauen, was man vielleicht 184 brauchte. Also nahmen sie ein Nana‐Schiff und ließen es von einem Kriegsschiff des Protektorats über zwei der drei Sprünge bis zum Degasten‐System bringen, wo sich das Hauptquartier von Teki und seinen Dissidenten befand. Njangu nahm vier Leute mit: Ben Dill als Pilot, Monique Lir, Alikhan, weil sich ein Alien mit großen Ohren als nützlich erweisen mochte, und Danfin Froude als seinen »Dompteur«. Ogdai war die Hauptwelt des Degasten‐Systems, und Dill schlug einen exzentrischen Orbit um den Planeten ein, als sie aus dem N‐Raum kamen und nachdem sie ein kleines Objekt am Navigationspunkt ausgesetzt hatten.
Es überraschte sie nicht, dass sie kaum eine Bordstunde im Normalraum waren, als sich ihnen zwei schwere Kreuzer näherten und ihnen befahlen, sich für eine Inspektion bereitzuhalten, worauf die übliche Durchsuchung folgte. Wie gewöhnlich entgingen ihnen verschiedene Gegenstände, die Njangu gut innerhalb des Schiffes versteckt hatte. Allmählich wurde ihm klar, dass Garvin recht hatte, wenn er sagte, dass ein professioneller Schmuggler problemlos den Zoll hinters Licht führen konnte. Njangu erklärte den Grund für ihr Hiersein als »Voraustrupp für einen Zirkus«. Ihr Schiff wurde zu einem abgelegenen, öden Landefeld beordert, wo sie auf weitere Anweisungen warten sollten. Vier Beamte immer höheren Dienstgrades erfuhren vom Zirkus Jaansma und seiner Absicht, auf Ogdai und anderen Welten von Degasten aufzutreten. Sie schauten sehr verdutzt drein, als Njangu sagte, der Zirkus würde gegenwärtig auf Mohi II gastieren. Der letzte und höchstrangige Beamte erfuhr außerdem, dass Yoshitaro eine Audienz ‐ sofern das die richtige Bezeichnung war ‐ mit dem Kuril Teki wünschte. 185 Der Beamte sah Njangu mit überheblichem Blick von oben an. »Es wäre überflüssig, den Kuril mit der Entscheidung zu behelligen, ob eine Gruppe von Künstlern in unserem System auftreten darf.« »Selbstverständlich«, sagte Njangu. »Aber er könnte an einer Sache interessiert sein, die mit seinem Bruder zu tun hat.« »Jagasti? Worum geht es? Sie können es mir sagen. Ich werde es dem Kuril berichten.« Njangu lächelte, antwortete aber nicht. Der Beamte starrte ihn noch eine Weile an, dann ging er. Zwei Tage später kam die Aufforderung, dass sich Njangu am nächsten Tag allein einfinden sollte. »Ich denke«, sagte er zu Maev, »es gibt wohl keine Möglichkeit, wie ich mir heimlich eine Waffe in den Allerwertesten oder so schieben kann.« »Du kannst dir dort eine verdammte Haubitze reinschieben, weil du auf diese Idee gekommen bist. Damit würdest du nur erreichen, dass du im tiefsten Kerker landest, den es in diesem System gibt«, orakelte Dill. »Aber es existiert wirklich keine Waffe, die nicht zumindest von einem Massendetektor registriert würde. Wenn du Mordlust verspürst, beiß ihn doch einfach zu Tode.« »Hmm«, sagte Njangu, und beim nächsten Sonnenaufgang lief er vor der Schleuse des Nana‐Schiffes auf und ab. Ein recht klobiger Gleiter setzte auf, eskortiert von zwei schwebenden Zerstörern, und Njangu wurde aufgefordert, an Bord zu gehen und sich auszuziehen. Er täuschte Empörung vor, obwohl er in Wirklichkeit gar keine verspürte, und wurde von zwei Männern in Medizinerkitteln in einen Raum geführt, wo er warten sollte. 185
Ich hoffe nur, dachte er, dass sie nicht mit Brech‐ und Abführmitteln arbeiten. Man weiß nie, ob diesen verdammten Barbaren die Durchleuchtungstechnik ausgegangen ist und sie auf die gute alte feuchte Methode zurückgreifen. Aber die Geräte schienen zu funktionieren, denn irgendwann sagte man Yoshitaro, dass er sich wieder anziehen konnte. Von nun an wurde er etwas freundlicher behandelt. Trotzdem erhielt er keine Privatkabine mit Bildschirm oder Bullauge. Nach ungefähr zweistündigem Flug landeten sie, und Yoshitaro wurde hinausgeführt und von vier Männern in grauer uniformähnlicher Kleidung und einem lächelnden jungen Mann begrüßt, der sich als Maj Kars vorstellte. Njangu bemerkte, dass das Lächeln nicht bis zu seinen Augen reichte, aber dann rief er sich ins Gedächtnis, dass man ihm denselben eiskalten Blick nachsagte. »Verzeihen Sie die Vorsichtsmaßnahmen«, sagte Kars, »aber wir hielten sie für angebracht, da Sie äußerten, Sie hätten etwas über den Bruder des Kurils zu sagen, und wir betrachten Jagasti als jemanden, den man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte.« »Stimmt«, sagte Njangu. »Das sollte man auf gar keinen Fall tun.« Die Landeplattform befand sich auf dem Dach einer riesigen Steinfestung, die bestimmt tausend Jahre alt war und sich über einer großen Stadt erhob. Das Gemäuer war möglicherweise bis vor kurzem ein Denkmal gewesen, aber nun hatte man es durch ein paar Modernisierungen auf den neuesten Stand gebracht, ohne auf architektonische Besonderheiten oder historische Bedeutung Rücksicht zu nehmen. Steinerne Geschütztürme waren einfach abgetragen und durch Metalldächer mit verschiedenen Antennen 186 ersetzt worden. Kuppeln waren umgebaut worden, um darin Raketenwerfer unterbringen zu können. An verschiedenen Stellen in den Wänden und auf den Dächern klebten MG‐Stellungen wie Furunkel, und dort, wo früher Gärten gewesen waren, hatte man Schützengräben und Bunker angelegt. Kars winkte Njangu zu einer offenen Tür, und sie betraten einen Aufzug, der ziemlich schnell und recht lange mit den sechs Personen nach unten raste. Yoshitaro schätzte, dass sie sich gute fünfzig Meter unter der Erde befanden, als sein Magen wieder die gewohnte Position einnahm, der Aufzug anhielt und er in einen langen Korridor geführt wurde. Hier gab es keine Wachen, was Njangu zu der Vermutung veranlasste, dass Teki seine Sicherheitsleute dort postierte, wo sie am wichtigsten waren ‐ in seiner unmittelbaren Nähe. Kars öffnete eine Doppeltür, verbeugte sich, und Njangu trat vor den Kuril Teki von Degasten und Kohn, wie er sich zweifellos titulieren ließ. Dieser Teki war ebenfalls ein Paradebeispiel für einen modernen Barbaren: Er war nicht allzu groß, aber sehr stämmig gebaut, ein Mann, der sich über längere Zeit mit Gewichtheben in Form gehalten hatte, aber nun in den Dreißigern etwas
nachlässig geworden war. Er trug einen ordentlich gekämmten kurzen Bart und kurz geschnittenes Haar, das bereits den ersten Grauansatz zeigte. Im Gegensatz zu Jagasti hatte er die Tugend der Einfachheit verinnerlicht und war in schlichtes Grau gekleidet. An seinem Gürtel hingen ein Pistolenholster, ein Messer und eine kleine Tasche. Das einzige Eingeständnis an die Barbarei war ein Maschinengewehr, das gegen seinen Stuhl 187 lehnte, das Konföderationsmodell mit langem Lauf, Laservisier und zweifüßigem Stativ. Njangu fiel etwas Interessantes auf, das er sofort abspeicherte. Zwischen der Tür und dem Kuril war eine durchsichtige Plastikwand eingezogen worden, die zweifellos kugel‐, blaster‐ und granatensicher war. Teki war ein sehr vorsichtiger Mann. Kars salutierte überkorrekt, und Njangu tippte sich nach respektvoller Zivilistenart gegen die Stirn. »Wie ich hörte, sind Sie mit zwei Anliegen zu uns gekommen«, sagte Teki ohne weitere Vorrede. Er hatte eine nette, knurrende Barbarenstimme. »Völlig richtig, Kuril.« »Glauben Sie wirklich, mein Bruder würde Sie ziehen lassen, damit Sie mit Ihrem... Zirkus, nicht wahr? ...bei uns auftreten können?« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« »Und was genau möchten Sie mir persönlich über Jagasti mitteilen?« »Ich möchte Sie auf die Möglichkeit hinweisen, dass er irgendwann nicht mehr Ihr Feind sein könnte.« Teki schnaufte. »Bitten Sie den Sonnenwind, nicht mehr zu wehen. Bitten Sie die Menschen, nicht mehr den Besitz ihrer Nächsten zu begehren. Bitten Sie die Entropie, sich umzukehren.« »Ich habe nicht gesagt, dass Jagasti um irgendetwas gebeten werden soll«, erwiderte Njangu. »Vielleicht habe ich die Bedeutung eines Zirkus missverstanden«, sagte Teki. »Ich habe das Wort in einem alten Lexikon nachgeschlagen, und dort gab es keinen Hinweis, dass eine solche Einrichtung genügend Macht ausüben könnte, um Jagasti ins Schwanken zu bringen.« 187 »Um jemanden ins Schwanken geraten zu lassen, ist nicht mehr nötig als ein winziges Stückchen Stahl, das auf geeignete Weise platziert wird«, sagte Njangu. »Was Ihrem Bruder durchaus bewusst ist, da er mich damit beauftragt hat, Sie aus dem Weg zu räumen.« Kars zischte und griff nach seiner Waffe. Njangu achtete nicht auf ihn. Teki hob eine Hand, und Kars erstarrte mitten in der Bewegung. »Also sind Sie zu mir gekommen, weil Sie auf die Idee gekommen sind, Sie könnten einen höheren Preis für die Ermordung Jagastis aushandeln?«, sagte Teki in amüsiertem Tonfall.
»Genau«, antwortete Njangu und gab sich Mühe, Teki mit dem stählernen Blick eines gnadenlosen Killers zu beeindrucken. »Er hat Sie engagiert, ohne einen Beweis Ihrer Fähigkeiten zu verlangen?« »Warum sollte er das tun?«, fragte Njangu. »Er hat nichts zu verlieren. Wenn ich versage, versage ich eben, und mein Honorar bleibt in seiner Schatzkammer. Wenn ich Erfolg habe...« Njangu breitete die Arme aus. »Sie meinen, Sie haben keinen Vorschuss verlangt?« »Nein.« »Hmm. Sie sind sehr von sich selbst überzeugt.« »Nein. Ich weiß, dass ich gut bin.« Teki lächelte kurz. »Wie würden Sie einen solchen Auftrag durchführen?« Njangu schüttelte den Kopf. »In unserem Zirkus haben wir einen Zauberer. Er hat mir einmal gesagt, wenn er nach einer Vorstellung demonstrieren würde, wie seine Tricks funktionieren, wären die Menschen furchtbar enttäuscht und desillusioniert.« 188 »Was würden Sie von mir verlangen?«, sagte Teki. »Ich glaube einfach nicht, dass Sie meinen Bruder verraten würden, ohne dass ein Haufen Credits den Besitzer wechselt.« »Ich vertraue auf die Qualität meiner Arbeit«, verkündete Njangu. »Darüber muss ich nachdenken«, sagte Teki stirnrunzelnd. »Während Sie das tun«, sagte Njangu, »könnten Sie die Erlaubnis erteilen, dass die Artisten, die ich mitgebracht habe, ihre Fähigkeiten vor Vertretern Ihrer höheren Ränge vorführen.« »Nein«, sagte Teki. »Ich traue Ihnen nicht, Yoshitaro. Ich bin nicht so leichtsinnig, Ihren Kollegen die Gelegenheit zu geben, meinen Stab zu dezimieren. Aber Sie dürfen sie auftreten lassen, wenn Sie möchten. Ich denke, meinen jüngeren Offizieren werden Sie damit eine große Freude machen.« Njangu nahm schnell ein paar Veränderungen an seinem Plan vor, erkannte, dass er immer noch funktionieren würde, stand auf und verbeugte sich. »Sie sind in der Tat sehr vorsichtig, Kuril.« »Deshalb«, sagte Teki, »habe ich es überlebt, an der Seite eines Monstrums, das sich mein Bruder nennt, aufzuwachsen.« Es war alles andere als eine spektakuläre Show, aber die kleine Zuschauermenge, höchstens fünfzig Personen, schienen ihren Spaß daran zu haben. Njangu dachte sich, dass die meisten an diesem ersten Abend vermutlich aus Tekis Leibwache und Kommandostab kamen, da sich jene, die dem Thron am nächsten standen, normalerweise zuerst die Leckerbissen schnappten. 188 Also dürfte sein Plan trotzdem funktionieren. Zumindest würde er damit etwas Scheiße ins Getriebe drücken.
Dill trat als Kraftprotz auf, dann benutzte Monique ihn als Bock und als Werfer für verschiedene akrobatische Übungen. Froude holte den gefürchteten Alikhan aus seinem Käfig und ließ ihn ein paar einfache Tricks vorführen. Die Soldaten beäugten das Monstrum misstrauisch, und der Musth gab sich alle Mühe, möglichst gefährlich zu wirken. Froude trieb ihn mit Prügeln zurück in seinen Käfig, dann benutzte er Njangu als Partner für ein paar simple Karten‐ und Zaubertricks. Anscheinend waren Taschenspieler auf dieser Welt unbekannt, denn die Offiziere waren völlig aus dem Häuschen. Die vier Fremden waren ‐ natürlich im Gegensatz zum wahren Alien ‐ den ganzen Abend lang für alle sichtbar. Alikhan verließ den Käfig durch eine geheime Hintertür, nahm ein kleines Paket an sich, das in der Nähe der Notschleuse des Nana‐Schiffs versteckt war, und quetschte sich mit Mühe durch diese Schleuse nach draußen. Die Schaltuhr im Paket war bereits eingestellt, und schließlich klebte es, von Magneten gehalten, an einem der Patrouillenschiffe, mit denen Tekis Offiziere eingetroffen waren. Dann war die Show zu Ende, es gab überwältigenden Applaus, und die Soldaten zerstreuten sich. Die Schaltuhr lief... Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten später klickte der erste Zeitgeber, und die Magnethalterung wurde ausgeschaltet. Das Paket fiel vom Schiff ab und landete in 189 einem dichten Wald, nicht weit von Tekis großer Festung entfernt. »Es funktioniert«, meldete Alikhan von einer Kontrollkonsole im Nana‐Schiff. Und so war es. Die Umhüllung des Pakets flog davon, und dünne Metallbeine streckten sich aus. An der Spitze des Stativs war eine lange Röhre montiert, die nun aufglühte und Strahlung in verschiedensten Wellenlängen abgab. »Unser Paket ist unterwegs«, sagte Dill, der eine blinkende Anzeige in seinem Headset bemerkte. In der Nähe des Navigationspunktes, an dem das Schiff in das Degasten‐System eingeflogen war, erwachte das erste Paket, das Njangu dort hinterlassen hatte, zum Leben. Es war eine Rakete vom Typ Raubwürger, die mit einem zusätzlichen Treibstofftank ausgestattet worden war und deren Zielerfassung ursprünglich auf das Triebwerk des Nana‐Schiffs ausgerichtet worden war. »Und jetzt wollen wir das Ziel ein klein wenig korrigieren«, sagte Njangu. »Es macht mich nervös, wenn dieses Mistding genau auf mich zielt.« Froude tippte sich mit den Fingernägeln gegen die Schneidezähne. »Schauen wir mal... vorausgesetzt, unser Einweiser hat sich wie geplant vom Schiff des Protektorats gelöst... damit wäre er jetzt ungefähr hier.« Er zeigte auf einen Bildschirm. »Tekis Hauptquartier befindet sich dort drüben... also gebe ich dem Raubwürger dieses Ziel. Nahe genug dran, um die Köche aus dem Schlaf zu reißen.«
»Weniger Gerede, mehr Handlung«, drängte Monique. »Ich mag es genauso wenig wie Njangu, mitten im Fadenkreuz zu sitzen.« »Einen Sensor drücken... einen Regler verschieben... noch einen Tastendruck... und da wären wir schon, My 190 lady.« Froude verbeugte sich. »Er dürfte in wenigen Augenblicken in die Atmosphäre eintauchen.« Der Raubwürger tat es, raste mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit an einem Patrouillenschiff vorbei, wie ein Komet mit langem Feuerschweif in der höheren Atmosphäre von Ogdai, dann erfolgte eine gewaltige Explosion, keine drei Kilometer von Tekis Festung entfernt. Bei diesem Tempo hinterließ die Rakete trotz ihrer geringen Sprengwirkung einen recht großen radioaktiven Krater. Nicht nur die Köche, sondern auch alle anderen Personen in Tekis Umfeld wurden aus dem Schlaf gerissen. Am Gerät auf dem dreibeinigen Stativ in ein paar Kilometern Entfernung blitzte es auf, und dann kippte es um. Die Selbstvernichtungsladung am Laservisier schaffte es »bedauerlicherweise« nicht, das Gerät vollständig zu zerstören, und die Energiequelle strahlte stark genug, um von den Suchtrupps kurz nach Sonnenaufgang aufgespürt zu werden ‐ und um die Erklärung zu liefern, dass irgendein Monstrum das Gerät benutzt hatte, um den Raubwürger ins Ziel zu lenken. Doch leider gab es keine Hinweise, wer das Gerät abgesetzt hatte. Njangu Yoshitaro rührte sich im Schlaf, weil er möglicherweise die Explosion über die weite Entfernung spürte, dann lächelte er und kehrte in seinen Traum vom großen Geld zurück. »Dürfte ich fragen, Kuril, was Ihren Entschluss, mich anzuheuern, so schnell und so sehr bekräftigt hat?«, erkundigte sich Njangu. »Nein«, sagte Teki. »Und wenn ich Ihr Schiff nicht ständig unter Beobachtung hätte, wäre ich vielleicht auf einen 190 Gedanken gekommen, der allerdings unmöglich ist. Sagen wir einfach, dass Ihre Argumente bestätigt wurden. Ich weiß jetzt, dass mein Bruder seine Pläne zu meiner Vernichtung vorantreibt. Ich fordere Sie auf, in diesem Krieg auf meiner Seite aktiv zu werden. Und wenn Sie einen Erfolg vorweisen können, nennen Sie mir Ihr Honorar. Das sich natürlich im angemessenen Rahmen bewegen sollte.« Njangu und die anderen, die sich immer noch still und heimlich über den Erfolg ihrer ferngelenkten Rakete freuten, wurden wie vereinbart von Jagastis wartendem Kriegsschiff aufgenommen, das sie nach Mohi II zurückbringen würde. Jagastis Gleiter senkte sich, von zwei Schlachtschiffen am Himmel eskortiert, auf das entweihte Museum herab. Als es unter tausend Meter ging, klickte ein Kontakt, und die linke Hälfte des Gleiters wurde abgesprengt.
Die Explosion schleuderte die Wachen in die Luft. Jagasti hielt sich an seinem Sitzkissen fest, sprang aus dem abstürzenden Wrack und fand noch die Zeit, die Gurte anzulegen und den Fallbremser einzuschalten. Die Antigraveinheit sprang an und verlangsamte seinen Sturz, sodass seine einzige Verletzung in einem gebrochenen Knöchel bestand, da er unglücklich auf einer der Statuen landete, die er aus dem Museum hatte entfernen lassen. »Was soll passiert sein?«, fragte Njangu entgeistert. »Jemand hat Jagastis Gleiter mit einer Bombe präpariert«, sagte Garvin. »Keine Ahnung, wie er das überleben konnte.« 191 »Verdammter Mistkerl«, sagte Njangu langsam. »Offenbar war es keins deiner fiesen kleinen Dinger, wenn ich die Aufrichtigkeit deiner Reaktion zugrunde lege«, sagte Jaansma. »Ich bin offensichtlich nicht der Einzige, der Scheiße in den Laden wirft«, sagte Yoshitaro, dann fügte er im gleichen ehrfürchtigen Tonfall wie zuvor hinzu: »Verdammter Mistkerl!«
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Tiborg / Tiborg Alpha Delta Der Abgeordnetenpalast war voll besetzt. Nach der Tradition würden in wenigen Minuten zum Jahreswechsel die Konstitutionalisten die Macht an Dorn Fili und seine Demokratisten abgeben. Fen Berti saß zusammen mit den anderen Direktoren über dem zentralen Podium und schaute sich zufrieden um. Durch die neue Regierung würden sich ein paar Dinge ändern, aber im Großen und Ganzen würde alles beim Alten bleiben, und Tiborg würde genauso weiterfunktionieren, wie es immer gewesen war. Das System würde vorsichtig, wirtschaftlich und vernünftig regiert werden, und zwar von denen, die es verdient hatten, diese Aufgabe zu übernehmen. Dank der Götter, an die Berti nicht glaubte, hatte sich die Aufregung um Filis hochfliegende Ambitionen, den verdammten Zirkus und die Unnachgiebigkeit der Kons 191 titutionalisten gelegt, bevor die Bürger an die Wahlurnen gebeten wurden und ihre Kreuze so machten, wie sie es gelernt hatten. Er blickte nach unten auf das Podium, das mit der Elite beider Parteien und dem scheidenden Premierminister besetzt war, dann in den Saal, wo sich die Parteimitarbeiter langsam in Stimmung brachten. Sobald Fili seinem politischen Gegner die Hand schüttelte und die traditionellen Worte »Ich folge Ihnen nach, Sir« sprach, würden sie in hemmungslosen Jubel ausbrechen und bis zum Morgengrauen im Saal tanzen, während sie die Slogans sangen, die am folgenden Tag nur noch Staub wären, genauso wie die ganze Wahlkampagne.
Dann würde im Tiborg‐System für die nächsten sechs Jahre alles wie gehabt weitergehen. Berti dachte kurz an verschiedene andere Angelegenheiten, insbesondere an diesen Zirkus. Und an seinen Spion, diese Frau, deren Namen er längst wieder vergessen hatte. Er überlegte mit einem gewissen Bedauern, dass er wahrscheinlich überreagiert hatte, zuerst mit dem Lokator, der ihnen ins Capella‐System folgen sollte, falls das tatsächlich ihr Ziel war, und dann mit... Kekri. Genau, so hieß sie. Vermutlich wäre es besser, diese Sache nun einfach auf sich beruhen zu lassen. Sie konnten die Sonden vergessen, die sie jedes Mal deponiert hatten, wenn der Zirkus zu einem neuen Sprung durch den Hyperraum angesetzt hatte. Es war unnötig, dafür noch mehr Credits und Energie zu verwenden. Es schien keinen Sinn zu haben, dem Zirkusschiff eine Expedition hinterherzuschicken. Capeila und Centrum konnten noch ein paar Jahre län 192 ger warten, und die Expedition ließ sich immer noch auf den Weg bringen, wenn es notwendig erschien. Was den Spion betraf... Berti lächelte. Es war unwahrscheinlich, dass der Frau etwas zustoßen würde. Entweder blieb sie beim Zirkus oder wurde auf irgendeiner Welt ausgesetzt, falls man sie enttarnte. Sie war auf jeden Fall eine Überlebenskünstlerin. Und wenn man beschloss, zu extremen Maßnahmen zu greifen... Nein. Das spielte keine Rolle. Das Orchester steigerte sich in einem Crescendo. Der Premierminister der Konstitutionalisten stand mit einem Lächeln auf, das beinahe echt wirkte, und wartete auf Dorn Fili. Fili kam in Begleitung seines Assistenten Samʹl Brek die Stufen zum Podium herauf. Berti runzelte die Stirn. Ganz gleich, wie bedeutend Brek sein mochte, er sollte nicht zusammen mit Fili im Rampenlicht stehen. Er konnte seine Belohnung genauso wie alle anderen Demokratisten kassieren, wenn morgen ein neuer Tag angebrochen war. Der Premierminister drehte sich um und streckte die Hand aus. Fili nahm sie. Sie warteten einen Moment, die Augen auf die Cäsiumuhr gerichtet, die hoch über ihnen hing. »Ich folge...« In diesem Moment ging Lirs und Montagnas Bombe hoch, exakt zum vorherbestimmten Zeitpunkt. Hundert Kilo Telex waren sorgfältig unter dem Podium versteckt worden. Die Masse sah genauso wie eine der Stützstreben aus, nachdem die zwei Frauen sie in Form und Farbe daran angepasst hatten. 192 Die Sprengkraft entlud sich wie geplant senkrecht nach oben, und Fili, Brek und der scheidende Premierminister verwandelten sich in einen rötlichen Nebel, genauso wie nahezu alle hochrangigen Funktionäre beider Parteien.
Mauerwerk löste sich in umherfliegende Trümmer auf und lichtete wie eine Schrotladung die Reihen der Direktoren und der Parteimitglieder. Berti wurde nach hinten geworfen, und sein Aufprall wurde durch die Körper zweier anderer Direktoren gemildert. Dann krachte er durch mehrere Stühle, landete aber fast unversehrt auf dem Rücken. Von der Explosion taub und unter Schock, setzte er sich am Boden auf und bemerkte nicht, dass sein rechter Arm an zwei Stellen gebrochen war. Entsetzt blickte er auf seinen Schoß, in das lächelnde Gesicht eines anderen Direktors, auf den abgetrennten Kopf, aus dem Blut sickerte. Er wusste ganz genau, wer dafür verantwortlich war, wer es getan haben musste. Er verfluchte seine Leichtgläubigkeit und die Fremden im Zirkusschiff. Nun wollte Fen Berti nur noch das, was sich jeder Mensch in seiner Situation wünschte: Rache. Für sich selbst, für seine Partei, für seine Direktorenkollegen, für Tiborg! 193
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Mohi/Mohi II Njangu Yoshitaro wurde ganz langsam wahnsinnig, vor allem, weil er genau wusste, dass er selbst die Ursache für seinen Wahnsinn war. Kuril Jagasti hatte ihn genervt, seit sie vor fast einem E‐Monat von Degasten zurückgekehrt waren. Wann würde er seinen Schlag gegen Teki ausführen? Wie würde er es tun? Er hatte viel versprochen und bislang nichts erreicht. Jagasti hatte recht. Njangu hatte zuerst gedacht, er hätte etwas mit dem Raketenangriff auf Teki bewirkt. Aber damit schien er nur erreicht zu haben, wie Jagastis paar Agenten im Degasten‐System meldeten, dass sich Teki noch tiefer ins Innere seiner Festung verkroch, wo er nichts tat, wenn man die äußere Situation zugrunde legte. Njangu fragte sich, ob Teki mehr als nur ein Eisen im Feuer hatte und für das Attentat auf Jagastis Gleiter verantwortlich war. Aber ohne dass er Njangu den geringsten Hinweis darauf gegeben hatte? In diesem Fäll wäre er ein ungewöhnlich raffinierter Barbar, der gleichzeitig zwei Attentäter beauftragte. Der zweite Verdächtige konnte nur Jagastis kleiner Bruder Bayanti sein. Aber was konnte ihn dazu motiviert haben? Hatte der Scharfschützenanschlag ihn auf die Idee gebracht, dass der Abzug im Auftrag von Jagasti betätigt worden war? 193 Doch mit Bayantis Verhältnis zu Jagasti schien alles bestens zu sein. Zumindest behauptete er es und ließ auch vor Delot Eibar nichts durchblicken, die sich ihre Gehaltserhöhung redlich verdiente. Außerdem stellte sich die Frage, was er durch Jagastis Tod erreichen würde. Bayanti schien kein besonderes Interesse an Jagastis ständigen militärischen
Manövern und Neuentwicklungen zu haben ‐ zumindest erweckte er in der Öffentlichkeit diesen Eindruck. Njangu schloss den kleinen Bruder nicht vollständig aus dem Kreis der Verdächtigen aus, hielt es aber für unwahrscheinlich, dass er die Rolle des listenreichen großen Unbekannten spielte. Ein einheimischer Widerständler? Jemand, der genug von der Tyrannei hatte und Jagasti den Krieg erklärt hatte? Aber die wenigen Bewohner des Planeten, die Njangu kennen lernte, waren völlig eingeschüchtert und ohne eigenen Willen, sodass er diese Möglichkeit ausschloss. Was die Angelegenheit noch etwas schlimmer machte, war Jagastis Gewohnheit, wöchentlich Banketts im Stil eines modernen Barbaren zu veranstalten. Dort lobte er die wenigen, die gute Arbeit für ihn geleistet hatten, und tadelte die Versager. Zu diesen gehörte natürlich auch Njangu, und es nützte gar nichts, dass Jagasti keine genaueren Angaben über Njangus Misserfolg machen konnte. Er beschimpfte ihn lediglich als dummen, angeberischen Fremdweltler, dessen einzige Begabung hohle Worte und Täuschungsmanöver zu sein schienen. Zwei von Jagastis Schlägern dachten, dies würde bedeuten, dass Njangu vom Kuril weiblicher Schwächen bezichtigt wurde, und beschlossen, ihm nach einem Bankett aufzulauern. 194 Beim Kampf hielt sich Yoshitaro nicht zurück und machte die beiden kurzerhand kalt. Als er danach gefragt wurde, gestand er Jagasti beiläufig ein, dass er die Männer getötet hatte, und warf dem Kuril vor, seine eigenen Leute nicht unter Kontrolle zu haben. Doch damit bewirkte er nur wenig, außer dass sich die allgemeine Feindseligkeit, die ihm entgegengebracht wurde, noch verstärkte. In der Zwischenzeit gab der Zirkus Vorstellungen für die Armee und gewann immer mehr an Beliebtheit. Das galt insbesondere für die kleine Jia Yin Fong, deren Mutter ihr eine Protektoratsuniform geschneidert hatte. Sie flog kreuz und quer unter dem Zeltdach herum, von der Wippe ihrer Eltern zu den raʹfelan und noch höher hi‐ nauf zu Lir, die an einem Trapez hing. Die Soldaten hielten das glücklich kichernde Mädchen für ein Maskottchen. Njangu brütete über Grundrissen von Tekis Festung. Verdammt, Angara hätte ihnen erlauben sollen, einen nuklearen Sprengkopf mitzunehmen ‐ vorausgesetzt, er hatte noch welche in einem geheimen Lager gebunkert. Viel‐ leicht konnte er einen Trupp auf der Festung absetzen, die Atombombe in eine Aufzugkabine legen, den Lift nach unten schicken und... Tekis Aufenthaltsräume waren wahrscheinlich gut gesichert. Außerdem gab es in der Big Bertha nun mal keine Atombombe. Njangu dachte, dass die Konföderation vielleicht doch nicht so blöd gewesen war, wie er immer geglaubt hatte.
Er sah die Zeitpläne der Armee durch und kam auf die Idee, Montagna und ihre Höllenkanone in der Nähe zu postieren, wenn Teki eine Parade seiner Soldaten abnahm. 195 Aber Jagastis Bruder schien sich damit zufriedenzugeben, in seinem unterirdischen Versteck zu hocken und abzuwarten. Worauf er wartete, war Njangu völlig klar: auf die Ermordung von Jagasti. Njangu dachte auch kurz über diese Option nach. Es wäre verhältnismäßig einfach, irgendeine Waffe einzuschmuggeln und Jagasti ein drittes Auge in der Stirn zu verpassen. Aber was dann? Er hatte nicht das Bedürfnis, sich auf eine Selbstmordmission zu begeben. Eine Bombe wäre sicherlich die bessere Lösung, aber nach dem Zwischenfall mit dem Gleiter ließ Jagasti jeden Raum, den er betreten wollte, zweimal von seinen Experten überprüfen. Das Schlimmste daran war, dass für alle diese Komplikationen Njangu Yoshitaro höchstpersönlich verantwortlich war, der so unglaublich clevere Geheimagent. Garvin konnte sich nicht recht entscheiden, ob er sich wegen dieser Sache Sorgen machen oder laut lachen sollte. Er schloss einen Kompromiss, indem er die Mitglieder der Legion in Bereitschaft hielt, um auf jede Eventualität reagieren zu können. Trotzdem verbrachte er viele Stunden mit Yoshitaro und schmiedete einen Plan nach dem anderen, wie ein Durchbruch zu bewirken sei. Dann kam der Durchbruch von ganz allein. Maev hatte Njangu in letzter Zeit zu den Banketts begleitet, allerdings eher aus Mitleid denn in der Überzeugung, er würde eine Leibwächterin benötigen oder weil sie einen Geschmack für das zerkochte Wild entwickelt hätte, das Jagasti auftischen ließ. Sie schätzte automatisch die allgemeine Situation ein, während sie sich durch den Mittelgang zu ihrem zugewiesenen Tisch begaben. Jagastis Tisch 195 nahm die gesamte Breite des großen Saals ein, der einst die Cafeteria des Museums beherbergt hatte; die übrigen Tische waren im rechten Winkel zu seinem angeordnet. »Die Hintertür ist nicht abgeschlossen«, flüsterte sie Njangu zu, wie sie es gelernt hatte. »Die Treppe scheint frei zu sein, nur eine Wache. Auch hinter Jagasti gibt es wie immer einen Ausgang, aber er ist gut bewacht.« Njangu nickte und musste gar nichts dazu sagen. Er fragte sich, wie er, falls etwas geschah, jemals aus der Bredouille herauskommen sollte. Er nahm Platz, und der Raum füllte sich. Er zwinkerte Delot Eibar zu, als sie mit Bayanti eintrat, der sich an den Haupttisch setzte. Jagasti, der von vier Wachen flankiert wurde, trat ziemlich als Letzter ein, wie es seine Gewohnheit war.
Er begab sich zu seinem Platz am Kopfende des Tisches, schnallte seine Kampfrüstung ab und hing sie an seinen Stuhl. Dann goss er sich ein Glas Eiswasser ein und leerte es in einem Zug. Er stellte das Glas mit einem lauten Knall auf den Tisch zurück und nahm sich dann eine Karaffe mit dem sehr leichten, fast nichtalkoholischen Wein, den er bevorzugte. Er schenkte sich ein. Bis jetzt verlief im Großen und Ganzen alles wie gewohnt. »Ich begrüße Sie, meine Gäste, Freunde und Krieger«, rief er. Alle am Tisch schenkten sich ebenfalls ein und hoben die Gläser. Auch das entsprach dem üblichen Ablauf. »Auf das Protektorat, auf die Konföderation, der wir alle dienen, und auf den Schwur, dass wir sie bald wiederauferstehen lassen werden!« Er trank, und alle taten es ihm nach. Als Nächstes würde er das Glas absetzen, alle Personen 196 vorstellen, die zum ersten Mal beim Bankett anwesend waren, sich setzen und auf den ersten Gang warten. Stattdessen ließ Jagasti das Glas sinken und hustete ‐ zunächst nur zaghaft, dann immer lauter und heftiger. Das Glas fiel ihm aus den Fingern und zerbrach am Boden. Njangu bemerkte interessiert, dass Jagastis Gesicht die unterschiedlichsten Rottöne annahm. Sein Mund klappte auf und zu, während seine Augen hervorquollen. Er griff sich mit beiden Händen an die Kehle, er wirbelte herum und stürzte auf den Tisch, der unter ihm zusammenbrach. Im nächsten Moment kniete Bayanti über seinem Bruder. Mit besorgtem Stöhnen nahm er ihn in die Arme. »Bruder! Was ist mit dir? Sprich zu mir! Bitte stirb nicht! Du darfst nicht sterben!« Jagasti stieß einen widerlichen Laut aus, als wollte er sich erbrechen, dann verkrampfte er sich ‐ und rührte sich nicht mehr. Im Saal war es totenstill geworden. Bayanti ließ die Leiche seines Bruders zu Boden sinken und richtete sich auf. Aus dem Nichts war plötzlich eine Waffe in seiner Hand erschienen. »Wachen!«, rief er. »Zu mir!« Türen wurden aufgerissen, und Soldaten in grauen Uniformen liefen zu ihm, die Blaster schussbereit. Die Türen wurden gesichert, und eine Reihe aus Männern mit grimmigen Gesichtern stand zwischen Bayanti und den Bankettgästen. »Ein Mord!«, keuchte Bayanti. »Ein heimtückischer Mord! Durch Gift! Jemand in der Küche ist der Attentäter. 196 Maj! Gehen Sie mit ein paar Männern in die Küche und verhaften Sie jeden! Halten Sie die Leute für den Abtransport und die Verhöre bereit.«
Der Offizier salutierte und machte sich mit ein paar Männern auf den Weg. Wenige Sekunden später hörte Njangu Schreie und ängstliche Rufe aus der Küche. »Mein Bruder... mein Bruder ist tot«, sagte Bayanti mit gebrochener Stimme. »Jetzt werde... jetzt muss ich die Pflicht übernehmen, seine Arbeit, seine Mission fortzusetzen. Obwohl ich im Grunde gar nicht würdig bin, in seine Fußstapfen zu treten. Jagasti, ich verspreche dir, jeder hier Anwesende verspricht dir, dass wir die Konföderation wiederherstellen werden. Und wir werden nicht mehr damit warten, wir werden keine Verzögerung mehr dulden. Es wird keine Kriegsspiele oder Sportwettkämpfe mehr geben, bei denen die besten unserer Krieger sterben. Wir werden unverzüglich zur Tat schreiten. Wir starten die Operation Jagasti. Als Erstes wird mein Bruder eingeäschert, wie er es sich gewünscht hat, und seine Asche wird so lange verwahrt, bis wir sie über Centrum verstreuen können, nachdem wir diese Welt besetzt haben. Doch zuerst müssen wir den Verräter Teki vernichten, denjenigen, der diesen feigen Mord angeordnet hat. Ich gebe den Befehl, dass noch in dieser Woche all meine Streitkräfte zum Kampf gegen Teki aufbrechen. Er soll für diesen feigen Brudermord sterben, genauso wie all seine Männer, die es wagen, ihn zu unterstützen. Nun fordere ich Sie alle auf, zur Tat zu schreiten, vom Soldaten bis zum Politiker, ja...« Sein Blick richtete sich auf Njangu. »...auch jene, die glauben, sie könnten für uns 197 nicht mehr tun, als unsere Krieger zum Lachen zu bringen. Die Zeit ist gekommen. Der Kampf ist eröffnet. Dies ist der Beginn der letzten Schlacht um die Konföderation, und ich hätte mir so sehr gewünscht, mein Bruder Jagasti könnte dabei sein, um sie mitzuerleben und zu bejubeln!« Auf dem Weg nach draußen hielt sich Maev an Njangus Seite und hob vielsagend eine Augenbraue. »Nicht schlecht«, sagte er vorsichtig. »Er hätte sich noch etwas Glycerin auf die Wangen tun können, damit es richtig perfekt aussieht. Und wenn die Leiche verbrannt ist und alle Köche erschossen wurden, nachdem irgendjemand ein Geständnis abgelegt hat, gibt es nichts mehr, was Bayanti den Großartigen aufhalten könnte.« Ein Soldat hörte seine letzten Worte, ohne den Sarkasmus zu bemerken. Er nickte anerkennend und rieb sich die geröteten Augen und das tränenüberströmte Gesicht. »Ich vermute«, sagte Yoshitaro, »dass dies eine der Möglichkeiten war, die Sache in Bewegung zu bringen. Ich glaube nur nicht, dass es eine gute ist, und es könnte sein, dass sie vor allem für uns nicht gut ausgeht.«
22 In den folgenden Tagen widerlegte Bayanti die Vorstellung, dass jüngere Geschwister immer im Schatten ihrer älteren Brüder stehen. Sobald Dalet Eibar Zeit fand, berichtete sie von seinem Tun, denn Bayanti war ständig in Bewegung. Er flog von einer Protektoratswelt zur nächsten und besuchte Flottenhauptquartiere und Werftanlagen. 198 Er hatte keine leeren Versprechungen abgegeben, als er gesagt hatte, dass jeder für diesen Krieg mobilisiert werden würde. Ausbildungsbataillone wurden als kampfbereit in die Streitkräfte integriert. Handelsschiffe wurden in aller Eile mit Waffen ausgestattet, häufig nicht mehr als zwei Raketen, die per Magnethalterung an den Rumpf angeflanscht wurden und durch einen einfachen Startmechanismus und einen Computer irgendwo auf der Brücke aktiviert werden konnten. All jenen, die durch die Invasion von Degasten Verluste befürchteten, die den geplanten Vorstoß nach Centrum erschweren würden, gab er eine knappe Antwort: »Die Soldaten, die unsere Verluste ersetzen werden, ahnen noch nichts davon, da sie derzeit in Tekis Armee dienen. Nachdem wir meinen Bruder vernichtet haben, erhalten seine Männer und Frauen die Chance, sich für ihren Verrat zu rehabilitieren.« Garvin war überrascht, als Bayanti ihn zu sich rief, um ihm Befehle für die Invasion zu erteilen. »Ich habe mich zu diesem persönlichen Gespräch entschieden«, erklärte er, »weil Sie nicht von unserer Welt stammen und nur wenig über unsere Kampfmethoden wissen. Und es gibt noch einen weiteren persönlichen Punkt«, fuhr er fort, wobei er leicht errötete und Dalet Eibar ansah, die sittsam an seiner Seite saß. »Da diese Frau, die mir offensichtlich guttut, durch Ihren Zirkus zu mir gekommen ist, finde ich, dass ich Ihnen einen Gefallen schuldig bin.« »Nein, Kuril«, sagte Garvin. »Sie sind mir nichts schuldig.« Außer dass er die Big Bertha hätte freigeben können, aber Garvin wusste nicht recht, wie er diese Bitte vorbringen sollte, und dann war es sowieso zu spät. 198 »Aber ich sehe es so. Und ich werde Ihnen eine Gelegenheit geben, mir zu dienen. Sie dürfen meinen Sieg miterleben, und anschließend werde ich Sie und Ihre Leute reichlich entlohnen. Ich schlage vor, dass Sie und Ihr Schiff sich in der Nachhut aufhalten, während wir auf Degasten landen. Sobald ein geeigneter Landeplatz gesichert wurde, werden wir Sie kommen lassen. Ich stelle mir vor, dass Sie und Ihre Männer, Frauen und Tiere von großem Nutzen sein werden, wenn Sie für die Besserung der Moral unserer Verwundeten sorgen, bevor sie in den Kampf zurückkehren.«
Im Augenblick gab es nichts anderes zu tun, als sich überschwänglich zu bedanken und nicht zu Eibar hinüberzuschauen, die sich alle Mühe gab, nicht zu lachen. Der Big Bertha wurden fünfzig Soldaten unter dem Kommando eines Tain namens Kaidu zugeteilt. Kaidu, der zwar nicht den Eindruck eines erfahrenen Kriegers, aber immerhin eines recht fähigen Soldaten machte, erklärte, dass seine Leute dafür sorgen sollten, dass es zu keiner Meuterei kam, während der Zirkus dem Militär angegliedert war. »Ich weiß, dass Zivilisten es aus unverständlichen Gründen verabscheuen, unter uns zu dienen. Stellen Sie es sich so vor, als wäre ich Ihr starker rechter Arm, Prinzipal Jaansma.« Garvin musterte ihn aufmerksam, fand aber keine Spur von Ironie in seiner Miene. »Und was jetzt?«, fragte er Njangu. »Jetzt weisen wir unsere Leute an, sich mit dieser Wache anzufreunden und auf den richtigen Zeitpunkt zu warten, um diese Irren wieder loszuwerden. Apropos anfreunden und sich vom Militär vereinnahmen lassen«, fügte er seufzend hinzu, »zumindest müssen wir uns keine Sorgen 199 um Dalets Rettung machen. Ich habe eine Nachricht von ihr erhalten, über die Kanäle, die ich eingerichtet habe, bevor wir sie in Bayantis Schlafzimmer geschickt haben. Ich habe sie gespeichert und ausgedruckt. Er reichte Garvin ein Blatt Papier. Darauf stand: Er mag ein Arschloch sein, aber im Moment ist er mein liebstes Arschloch. »Na, großartig!«, sagte Garvin sarkastisch. »Wir müssen uns jetzt keine Sorgen um ihre Rettung mehr machen, und natürlich würde es mir niemals in den Sinn kommen, dass Eibar sich vielleicht richtig verliebt und Bayanti irgendwann alles beichtet, auch das, was wir wirklich im Schilde führen.« »Natürlich nicht«, sagte Njangu. »Das wäre ein ziemlich böses Beispiel für Nestbeschmutzung, und so etwas Beschissenes trauen wir der guten Eibar nicht zu, nicht wahr?« Trotzdem hoffte er inständig, dass dieser Fall nicht eintrat. »Siebenundzwanzig Sekunden bis zum Start«, sagte der Wachoffizier zu Liskeard. »Verstanden... Könnte jemand mitzählen, wie viele Schiffe da draußen rumdüsen?«, fragte Liskeard. In der frühen Morgendämmerung wurde der Horizont von startenden Raumschiffen erhellt. Garvin gab es bei zweiundachtzig auf. Tain Kaidu stand mit leuchtenden Augen neben ihm und bewunderte die Macht der Flotte, die das Protektorat gegen Degasten in Marsch setzte. 199 »Zehn Sekunden bis zum Start«, sagte der Wachoffizier. Liskeard hielt eine Hand über den Sensor.
»Countdown... vier... drei... zwei... eins... Start!« Die Big Bertha erzitterte, löste sich vom Boden, hing einen Moment unschlüssig in der Luft und entschied sich dann, weiter emporzusteigen. »Und so erhoben sich die schlagkräftigen Schlachtschiffe des prächtigen Protektorats in den weiten Weltraum, in der achtbaren Absicht der vollständigen Vernichtung des tadelnswerten Teki«, sagte Garvin. Liskeard schnaufte. »Poesie«, keuchte Kaidu. »Wahre Poesie. Verdammt, aber ich bin so froh, dass ich diesen Tag noch miterleben darf.«
N‐Raum »Wann«, wollte Kekri Katun von Ben Dill wissen, »werden wir sie uns schnappen?« »Wie bitte?« »Spiel nicht den unschuldigen Benjamin! Vergiss nicht, dass ich der Spion bin, der alles herausgefunden hat!« »Nicht ganz«, sagte Ben. »Es gibt immer noch ein paar Geheimnisse hinter den Geheimnissen.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel die Frage, wann wir sie uns schnappen«, sagte Ben. »Außerdem weiß ich es selber nicht. Wahrscheinlich dann, wenn sie es am wenigsten erwarten.« »Wie unübertroffen logisch«, sagte Kekri sarkastisch. »Ich werde in die Sporthalle gehen. Das Mindeste, was ich tun 200 kann, ist, einigermaßen in Form zu sein, wenn wir damit anfangen, anderen Leuten wehzutun.« »Wir?« »Auf wessen Seite sollte ich sonst kämpfen, nachdem ich meinem ursprünglichen Arbeitgeber gekündigt habe?« »Gutes Argument«, sagte Dill. »Aber können wir nicht hier dafür sorgen, uns in Form zu halten?« »Womit?« Ben flüsterte ihr etwas ins Ohr, und Kekri schrie auf. »Später!« »Später habe ich vielleicht nicht mehr genug Energie für etwas so Exotisches«, murmelte Dill. »Dein Pech, Kraftprotzerchen.« »Ich habe entschieden«, sagte Tain Kaidu, »dass der Zirkus sämtliche Feuerwaffen abgeben soll. Wir werden sie in sicherer Verwahrung halten, bis sie gebraucht werden.« »Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist«, sagte Njangu. »Obwohl wir diesem Befehl natürlich freudig gehorchen werden. Aber Sie sollten nicht vergessen, dass die meisten unserer Waffen ‐ die wenigen, die wir besitzen ‐ für den Fall bereitgehalten werden, dass eins von unseren Tieren ausbricht.« »Wenn das geschieht«, sagte Kaidu, »werden meine Soldaten innerhalb weniger Sekunden darauf reagieren.«
»Morgen, die Herren«, sagte Dr. Froude gut gelaunt, als er, Fleam und zwei weitere Männer in Overalls mit Werkzeugkisten und Rohren in den Händen in den großen Hangar traten, der den Sicherheitsleuten des Protektorats zugeteilt worden war. 201 »Was haben Sie vor?«, murmelte ein Unteroffizier. »Sie halten sich hier drinnen mit mehr Leuten auf, als unsere Luftaufbereitung verkraften kann«, sagte Froude. »Deshalb wollen wir eine weitere Leitung verlegen.« »Hmm... das ist ziemlich aufmerksam von Ihnen«, sagte der wachhabende Offizier. »Und ich dachte schon, hier würde es wegen deiner Füße so riechen«, rief ein Soldat seinem Kameraden zu. Der Klempnertrupp machte sich an die Arbeit. Am Ende des Bordtages führte die neue Leitung an beiden Seiten der Schiffssektion entlang und dann durch den Korridor in einen anderen kleineren Raum. Dort war sie mit einer kleinen Pumpe verbunden, die völlig unabhängig vom allgemeinen Luftversorgungssystem des Schiffes arbeitete. Zwei Dutzend Waffen wurden den Protektoratisten übergeben. Vier waren alterümliche Modelle, handbetriebene Projektilwaffen, zwei waren nicht funktionierende Attrappen, und den Rest bildeten Blaster, von denen Njangu be‐ hauptete, dass sie routinemäßig ausgeteilt wurden, wenn die Big Bertha auf einer unbekannten Welt landete. Natürlich waren die vielen anderen, einschließlich der schweren MGs, immer noch in den gut gesicherten Verstecken gelagert. Kaidu, der behauptete, ein vernünftiger Mensch zu sein, sagte zu Njangu, dass er natürlich nicht an den Raketen in den Aksai oder Nana‐Schiffen interessiert wäre. »Ich versuche nur, die Sicherheit meiner Leute zu gewährleisten«, erklärte er. »Dafür haben Sie mein volles Verständnis«, erwiderte Yoshitaro freundlich. 201 »Ich verstehe das mit den Waffen einfach nicht«, sagte Sunya Thanon zu Ben Dill. »Ich habe Alikhan gefragt, und er meinte, die Erklärung wäre vielleicht logischer, wenn sie von einem Menschen kommt, da die Musth jederzeit bewaffnet sind.« »Fragen Sie«, sagte Ben. Er wusste, dass sich die zwei Elefantendompteure alle Mühe gaben, Soldaten zu werden, während sie sich einen Ast abgelacht hatten, als sie Alikhan dabei beobachtet hatten, wie er auf einem Elefanten zu reiten versucht hatte. »Diese Protektoratsleute, die uns die Waffen abgenommen haben«, sagte Thanon, »haben doch jetzt die Macht über uns, nicht wahr?« »Richtig.« »Müsste es demnach nicht so sein, dass in einer gleichberechtigten Gesellschaft alle Menschen Waffen tragen sollten, um sich vor Unterdrückung zu schützen?«
»Ah...« Ben zögerte, als er sich daran erinnerte, dass er sehr viele Menschen kannte, die schlicht zu unfähig waren, um außer einem Stein eine Waffe in die Hand nehmen zu können. »Gewissermaßen. Vielleicht.« »Also«, sagte Phraphas Phanon, »ist jeder, der einem verbieten will, eine Waffe zu tragen, ein Tyrann oder zumindest auf dem besten Weg dahin und sollte demnach aus der Welt geschafft werden, oder?« »Ich denke, damit würde man die Sache wohl etwas zu weit treiben«, sagte Ben. »Mindestens um mehrere Lichtjahre. Ich sage Ihnen etwas. Ich bin nur ein einfacher, gewöhnlicher Gewichtheber. Warum fragen Sie nicht jemanden, der intelligenter ist, zum Beispiel Dr. Froude?« »Gute Idee«, sagte Thanon begeistert. »Genau das werden wir tun.« 202 Aber auch Froude konnte ihnen keine befriedigende Antwort auf diese Frage geben. Felip Mandʹl klammerte sich an das Lüftungsrohr an der Decke und blickte auf die Uhr in seiner Hand, während vier Protektoratssoldaten vorbeigingen. Sie schauten nicht nach oben, und selbst wenn sie es getan hätten, wären sie nie auf die Idee gekommen, dass sich über ihren Köpfen ein Liliputaner versteckte. Nachdem sie außer Sichtweite waren, merkte er sich die Uhrzeit, kletterte an einem Seil hinunter und entfernte sich, um Maev Stiofan Bericht zu erstatten. Der Soldat hielt Loti, dem kleineren der zwei Elefantenbabys, ein Stück Obst hin. Als höfliches Mädchen hob Loti den Rüssel, wie sie es gelernt hatte, trat einen Schritt vor, nahm behutsam den Leckerbissen entgegen und steckte ihn ins Maul. Eine Sekunde später schrie sie vor Schmerz und dann vor Wut auf, als das mit scharfem Pfeffer präparierte Stück Obst ihre Kehle hinunterglitt. Der Soldat lachte brüllend auf, während sich die kleine Elefantendame laut klagend zu ihrer Mutter flüchtete. Immer noch lachend drehte er sich um und sah Sunya Thanon, der ihn mit eiskaltem Blick fixierte. Sein Gelächter erstarb, und er nahm den Blaster von der Schulter. Aber Thanon beschränkte sich darauf, ihn anzusehen. Der Soldat wich zu einem Schott zurück und verschwand schnell im Korridor. 202 »Die Frage ist«, sagte Danfin Froude zu Njangu, »was Sie beabsichtigen, in die Rohrleitung einzuspeisen, die zu unseren Gästen führt.« »Keine Ahnung«, sagte Njangu und wich Froudes Blick aus. »Etwas, das sie schnell ausschaltet.« »Am vernünftigsten wäre ein tödliches Gas«, sagte Froude. »Damit wären auch künftige Probleme gelöst.« »Ja«, sagte Njangu. »Und jeder im Zirkus, einschließlich der Hälfte der Legionssoldaten an Bord, würde mich für einen mordlustigen Schweinehund halten.«
»In der Tat«, stimmte Froude ihm zu. »Erstens kann ich Sie damit beruhigen, dass die meisten ohnehin längst dieser Ansicht sind, und zweitens wäre da die Tatsache, dass ein Betäubungsgas schwerer zu synthetisieren ist als etwas, das auf saubere und sichere Weise tötet.« »Keine Ahnung«, wiederholte Njangu. »Denken Sie bitte darüber nach«, sagte Froude mit einem freundlichen Lächeln. »Weißt du was?«, flüsterte Sunya Thanon seinem Kollegen Phraphas Phanon zu. »Mir ist ein schrecklicher Gedanke gekommen.« »Küss mich, dann verschwindet er von selbst.« Thanon tat es. »Aber er ist immer noch da.« »Dann erzähl mir davon.« »Es geht um Coando... das Land, in dem Elefanten und Menschen als gleichberechtigte Freunde nebeneinander leben... vielleicht existiert diese Welt doch nicht.« »Ich weiß, dass es sie gibt«, sagte Phraphas mit Entschiedenheit. »Genauso wie ich weiß, dass wir sie finden werden.« 203 »Vielleicht leben wir längst in dieser Welt«, sagte Thanon. »Sie ist hier und jetzt, im Zirkus an Bord der Big Bertha, ohne dass wir von unserem Glück wissen.« »So etwas solltest du nicht denken, Geliebter.« »Na gut«, sagte Sunya zweifelnd. »Zumindest werde ich versuchen, es nicht zu tun.« »Ich bin zur Erkenntnis gelangt«, gab Garvin bekannt, »dass diese ganze Aktion viel zu sehr den Charakter eines Abenteuers angenommen hat.« »Willst du nach Hause laufen und dich unter dem Bett verstecken?«, neckte Darod ihn. »Äh, nein«, sagte Garvin, während ihm Jasith in den Sinn kam. »Noch nicht.« »Du scheinst ein Problem mit deiner Moral zu haben, Soldat.« »Meinst du?«, fragte Garvin. »Ja«, sagte Darod, während sie ihr Nachthemd auszog. »Was du jetzt brauchst, ist ein guter Fick, um dir deine Bedenken auszutreiben. Danach wird es dir wieder gutgehen.« »Kann jedenfalls nicht schaden«, pflichtete Garvin ihr bei. Emton, der nach einer seiner Katzen suchte und hoffte, dass der kleine Dummkopf nicht in den Bereich mit den großen Katzenkäfigen davonspaziert war, kam um eine Ecke und erstarrte vor Schreck. Tia, die vermisste Katze, hockte nur wenige Meter vom Leopardenkäfig entfernt. Das Tier, das sich darin aufhielt und von dem Emton annahm, dass es sich um den bösen schwarzen Muldoon handelte, lag nahe an den Gitterstäben. 203 Tia stand auf und tänzelte vor den Stäben auf und ab. Muldoon schlug mit einer Tatze nach ihr. »Tia! Komm sofort her!« Emton hätte beinahe gebrüllt.
Das schwarze Kätzchen blickte sich zu ihrem angeblichen Besitzer um, gab ein Geräusch von sich, das wie »Prrt« klang, lief erneut auf Muldoon zu und wich einem weiteren Tatzenhieb aus. Emton rannte los und schnappte sich Tia. »Du bist ein blödes, dummes Ding!«, tadelte er sie. »Große, wilde Raubkatzen hassen kleine niedliche Hauskatzen! Was hast du dir dabei gedacht? Wolltest du dich diesem Monstrum zum Abendessen servieren? Als leckeres Katzenfilet?« Tia blickte zu Emton auf und schnurrte behaglich. »Ich glaube, das hier könnte für Sie nützlich sein«, sagte Ristori zu Garvin und reichte ihm einen Schlüssel. »Was ist das?« »Der Schlüssel zum Schrank mit den Waffen, die wir an Kaidu abgegeben haben.« »Wie haben Sie das geschafft?« »Einmal mit der flachen Hand niederstoßen, dann mit vier gestreckten Fingern zugreifen, und er gehörte mir. Das ist allerdings nur eine Kopie. Ich habe dem Tain das Original zurückgegeben, ohne dass er etwas davon bemerkt hat. Ich dachte mir allerdings, dass uns diese Waffen in den nächsten Tagen von großem Nutzen sein könnten.« »So«, sagte Njangu zu Maev. »Ich glaube, wir sind jetzt bereit, bereiter gehtʹs nicht. Nun brauchen wir nur noch eine kleine Ablenkung für unsere Bewacher. Und dazu würde sich eine anständige Raumschlacht doch bestens eignen.« 204
23
Degasten / Ogdai Bevor der Mensch in den Weltraum aufgebrochen war, gab es die Theorie, dass jemand in einem Raumschiff oder einem Satelliten einen entscheidenden Vorteil gegenüber einem Feind hatte, der sich auf der Planetenoberfläche befand. Es war die Theorie der »Gravitationssenke« ‐ der Kämpfer am Boden musste die Schwerkraft überwinden, um seine Raketen oder Schiffe auf das gleiche Kampfniveau zu bringen. Ihren Ursprung hatte die Theorie in antiken Kriegen, wo jemand auf einer Klippe oder der Mauer einer Burg den Angreifern eine lange Nase machen und schwere Gegenstände auf sie werfen konnte. In der Realität funktionierte dieses Prinzip beim Weltraumkrieg nicht, weil die Befürworter der Theorie der »Gravitationssenke« nicht bedacht hatten, dass sich ein Raumfahrzeug, das ein Objekt am Boden bombardierte, in einem leicht berechenbaren Orbit bewegte. Die Verteidiger mussten nur ein paar Raketen starten, die die Bahn des Raumschiffs oder Satelliten kreuzten, und das Problem hatte sich kurz darauf erledigt. Doch manchmal lag Wahrheit in der alten Weisheit, genauso wie sich die Überzeugung, »dass die Bomber immer durchkommen«, häufig bestätigte.
Aber nicht immer. Und vor allem schien es nicht für Ba‐yantis Angriff gegen Tekis Festung auf Ogdai zu gelten. Die Flotte ging etwa drei Astronomische Einheiten vor dem Planeten in Position, und die erste Welle setzte zum Angriff an. 205 Es war geplant, dass die Schiffe in den geostationären Orbit gingen und Tekis Stellungen aus dem Weltraum bombardierten, vor allem seine Festung. Andere Schiffe sollten Ogdai umkreisen und sich bietende Ziele oder solche angreifen, die ihnen von Bayantis Kommandoschiff zugewiesen wurden. Wenn alles hinreichend zertrümmert war, würden die Truppentransporter landen. Natürlich machte sich keiner der Protektoratisten Gedanken über die einheimische Bevölkerung von Ogdai, obwohl keine nuklearen Waffen eingesetzt wurden, da Bayanti kein Land erobern wollte, das im Dunkeln strahlte. Teki, der keineswegs dumm war, hatte einen umsichtigen Verteidigungsplan in die Wege geleitet. Unterschiedliche Arten von unbemannten Satelliten, bis hinunter zur simpelsten, rein kinetischen Variante, waren auf verschiedenste Umlaufbahnen um Ogdai gebracht worden, und man hatte Stützpunkte auf allen drei Monden des Planeten eingerichtet. Ein Schwärm Patrouillenschiffe startete, sobald Bayantis Flotte ins Degasten‐ System eindrang. Darüber hinaus hatte Teki bereits die Hälfte seiner Flotte im Weltraum stationiert. Teki wartete, bis Bayantis erste Angriffswelle in Marsch gesetzt wurde und seine Computer ihre Flugbahnen berechnet hatten. Dann schlug er zu. Raketen schössen von der Planetenoberfläche empor, und die Satelliten wurden aktiviert und nahmen Kurs auf ihre Ziele. Der Weltraum verwandelte sich in ein Schreckensszenario, als Raumschiffe explodierten, zerrissen wurden, außer Kontrolle gerieten und in den Sog der Schwerkraft gerieten. Knapp außerhalb der Atmosphäre tobte die Schlacht 205 der Kampfjäger, die sich ohne erkennbares System angriffen oder dem Kontakt auszuweichen versuchten. Einen halben Planetentag später humpelten die Reste von Bayantis erster Angriffswelle zur Hauptflotte zurück. Tekis Schiffe flogen zu ihren Stützpunkten, um sich mit neuer Munition zu versorgen und abzuwarten. Bayanti wütete auf der Brücke seines Flaggschiffs, bedrohte die Schiffskommandanten mit Entlassung oder Hinrichtung und warf ihnen Feigheit und Verrat vor. »Jetzt?«, murmelte Garvin in Froudes Ohr. Sie befanden sich auf der Brücke der Big Bertha. Tain Kaidu beobachtete voller Besorgnis den Hauptbildschirm, hinter ihm standen zwei seiner Soldaten. Im Hintergrund hielten sich Lir, Njangu, Maev und Ben Dill auf.
»Wir wollen abwarten, bis die Lage noch etwas chaotischer geworden ist«, sagte Froude. Bayanti führte mit der zweiten Welle einen Scheinangriff durch, durch den er Tekis Streitkräfte vom Planeten abziehen wollte. Dann schickte er mit einer Eskorte aus drei Schlachtschiffschwadronen die Transporter hinunter. Die Schiffe landeten, Rampen wurden ausgefahren, und Soldaten zu Fuß und in Luftkampfgefährten entfernten sich schnell von den Landestellen, während die ersten Raketen heranrasten. Als Nächstes hätten sich die Einheiten zum Angriff formieren sollen. Stattdessen zogen sie sich zu engen Verteidigungsringen zusammen. Möglicherweise war ihr Befehlshaber getötet worden, und es gab niemanden, der das Kommando über 206 nehmen wollte, da der Offizier mit dem höchsten Rang vor Schock gelähmt war. Die Soldaten wurden angegriffen und in ihren Stellungen abgeschlachtet, während Bayanti erneut auf der Brücke seines Schiffs tobte. Er versuchte sich zu beherrschen, schaffte es und musterte den taktischen Schirm, um einen Plan zu entwickeln, was er als Nächstes tun sollte. Es dauerte eine Weile, denn eine sinnvolle Einschätzung der Schlacht aus großer Entfernung setzte voraus, dass es Zusammenhänge und analysierbare Entwicklungen gab und nicht nur ein chaotisches Durcheinander. Bayanti traf eine Entscheidung, ordnete an, dass alle Kommunikationskanäle zu all seinen Schiffen geöffnet wurden, und befahl allen Kampfschiffen anzugreifen, einfach nur anzugreifen. Sie sollten Ogdai überrennen und jedes Ziel ausschalten, das ihren Weg kreuzte. Die meisten von Bayantis Kriegern gehorchten, und bewaffnete Transporter sowie leichte Eskorten stießen in die Atmosphäre vor. Tekis Luftabwehr fegte sie aus dem Himmel, aber dahinter folgten immer mehr Einheiten. Tekis Festung lag unter einem Feuervorhang, und das and rundum brannte und war von den Trümmern abgestürzter Schiffe übersät. Trotzdem schien die Festung keinen Schaden erlitten zu haben. Die Verteidiger setzten ihren Kampf unbeirrt fort. »Jetzt?«, murmelte Garvin erneut. »Ja, ich denke schon«, sagte Froude. Garvin schnippte mit den Fingern. 206 Tain Kaidu blieb nur ein Sekundenbruchteil, in dem er sich umdrehte und sah, wie Njangu aufsprang, zwei Schritte machte, dann die Füße in der Luft hatte und zuschlug. Das Genick des Tains knackte, und er brach schlaff zusammen. Einer seiner Leibwächter hatte eine Pistole gezogen, wurde jedoch im nächsten Moment von Maev erschossen. Der andere nahm seinen Blaster von der Schulter, als sich Lirs Messer in seine Kehle bohrte.
»Verdammt noch mal! Warum habt ihr nichts für Ben Dill übrig gelassen?«, beklagte sich dieser. »Sei still«, befahl Garvin. »Liskeard, bringen Sie uns von hier weg!« Der Captain des Schiffes gehorchte. Kurz bevor der Hauptbildschirm erlosch, als die Big Bertha in den Hyperraum sprang, sah Garvin einen Punkt, der ein Schlachtschiff war, das sich senkrecht auf Tekis Festung und mitten ins Getümmel stürzte. »Scheiße!«, sagte Dill, der es ebenfalls gesehen hatte. »Was wohl geschehen ist? Ob sie Teki erwischt haben?« »Keine Ahnung.« Garvin winkte einem Wachoffizier, während sie vom verwirrenden Geflimmer des N‐Raums umgeben waren. »Ist mir auch egal. Ich habe jetzt andere Sorgen.« 207
24 N‐Raum Keiner der etwa ein Dutzend Soldaten hörte das leise Zischen. Nach dem Schichtplan hätten sich eigentlich mehr von ihnen im Hangarraum aufhalten müssen, aber die Invasion weckte in ihnen nicht das Bedürfnis, sich zurückzu‐ ziehen und zu entspannen. Das Gas wirkte nicht tödlich. Später wurde Njangu vorgeworfen, zu weichherzig vorgegangen zu sein, vor allem von Ben Dill und Alikhan, die Froudes Einwand wiederholten, dass ein tödliches Gas wie Zyanwasserstoff viel leichter herzustellen war. Yoshitaro protestierte vergeblich, dass er keineswegs sentimental geworden war, sondern sich Sorgen gemacht hatte, die provisorisch verlegten Rohrleitungen könnten ein Leck haben und Leute töten, an denen ihm etwas lag. »Obwohl ich für Leute wie euch beide gerne eine Ausnahme mache«, fügte er brummend hinzu. Nur eine Soldatin bemerkte das Geräusch, bevor sie dem Gas zum Opfer fiel. Nach ein paar Minuten überprüfte ein Angehöriger der Legion im Schutzanzug den Hangar, nickte zufrieden und überließ die Leichen dem Aufräumkom‐ mando. Zwei Soldaten trabten mit schussbereiten Blastem durch einen Korridor. Sie schauten nicht nach oben und sahen nicht, dass Lucky Felip dort hinter einer Druckeinheit kauerte. Er zielte sorgfältig mit der Projektilwaffe kleinen Kalibers, die schon sein Vater zur Verteidigung gegen böse Strei 207 che der Großen getragen hatte, und schoss beiden Männern in den Kopf. Dann erinnerte er sich voller Verachtung an Lirs Bedenken, ihm eine Waffe in die Hand zu geben.
Er sprang hinunter, landete auf einer Leiche und machte sich auf die Suche nach weiteren Zielen. Der Waffenschrank war geöffnet, und Rennender Bär verteilte zügig den Inhalt. Er stellte ohne allzu große Überraschung fest, dass die meisten der Wartenden dem Zirkus und nicht der Legion angehörten. Sieben Protektoratisten streiften durch einen Korridor im Bereich der Tierkäfige. Plötzlich wirbelten sie herum, hörten ein Knurren und sahen zwei Bären, die sie mit krallenbewehrten Tatzen angriffen. Die Soldaten feuerten... aber die Patronen schlugen in die Monstren ein, ohne etwas zu bewirken. Dann waren die Bären über ihnen, schlugen zu und zerrissen sie mit ihren Zähnen. Der einzige Überlebende ergriff die Flucht, stellte sich mit dem Rücken zur Wand und feuerte erneut. Das Wesen, das mit blutigem Maul auf ihn zustürmte, war völlig unverletzt. Der Soldat verlor die Nerven, drehte den Blaster um, steckte sich den Lauf in den Mund und drückte ab. Die Frau an der Fernbedienung beobachtete alles aus mehreren Metern Entfernung und erbrach sich auf die Steuerkonsole. Nun hallte der »Friedensmarsch« durch das Schiff, und überall machten sich die Zirkusleute auf die Suche nach Waffen. 208 Ein Soldat zog sich durch einen Korridor zurück, den Blas‐ter erhoben, den Blick auf seinen Kameraden vor ihm gerichtet. Er hörte nicht, wie an der Seite ein Schott aufglitt. Dann sagte eine leise Stimme: »Erinnern Sie sich an mich?« Er wirbelte herum und sah Sunya Thanon, der einen Elefantenhaken in der Hand hielt. Er holte damit aus, die Spitze fuhr dem Mann ins Auge, und er warf ihn zu Boden. Thanon zog den Haken heraus und schlug ihn tief in die Kehle des Mannes. »Und? Wie schmeckt das?«, fragte er. Der Partner des Soldaten hatte die Waffe erhoben, doch bevor er damit etwas ausrichten konnte, hatte Phraphas Phanon, der hinter dem offenen Schott stand, ihn erschossen. »Ich fühle mich kein bisschen unwohl«, sagte Thanon. »Das war eine angemessene Entschädigung für all die Grausamkeiten, die wir erleiden mussten.« Phraphas Phanon schüttelte den Kopf. »Das war nicht gut, das war nicht der richtige Weg. Aber ich verstehe dich.« Irgendwie hatten sich die Tore der Pferdekoppel geöffnet, und nun galoppierten die Tiere in panischer Angst in den Manegen umher. Rudy Kwiek und seine Frauen waren unter ihnen und versuchten, die Pferde zu beruhigen.
Ein Soldat erkannte eine Gelegenheit und schoss auf Kwiek. Er verfehlte ihn, aber die Kugel riss Metallsplitter aus dem Boden, die in Kwieks Beine fuhren. Er schrie und stürzte. Der Soldat zielte, um ihm den Rest zu geben. 209 Hoch oben in der Kontrollkuppel hockte Darod Montagna und feuerte einen Schuss ab. Der Mann riss die Arme hoch und fiel tot um. Sie grinste humorlos und suchte nach weiteren Zielen. Ein halbes Dutzend Protektoratisten kauerte hinter einer provisorischen Barrikade. Sie hörten ein Knurren und sahen Alikhan an der Seite von Ben Dill. Einer feuerte, und die zwei Legionäre gingen in Deckung. Über ihnen öffnete sich eine Luke, und Monique Lir sprang auf den Boden, während sie ihre MG rattern ließ. Die Soldaten versuchten, das Feuer zu erwidern, waren aber nicht schnell genug. Einer zeigte sich, und Alikhan erledigte ihn mit seiner Säurepistole. Er ging mit einem kopfgroßen Loch in der Brust zu Boden. Ben Dill suchte nach einem Ziel, sah aber nur noch Leichen. »Verdammte Scheiße!«, brüllte er. »Ihr habt mir schon wieder den Spaß verdorben!« Erik Penwyth schoss zwei Soldaten nieder, dachte, sie wären tot, und lief weiter. Einer rollte sich auf die Seite und feuerte. Die Kugel streifte Erik an der Hüfte. Er schrie vor Schmerz auf, ging zu Boden und zog instinktiv eine Granate aus seinem Waffengürtel. Eilig entschärfte er sie und rollte sie zum Soldaten hinüber. Der Mann wollte danach greifen, schaffte es aber nicht mehr. Sie ging hoch und zerriss ihn in zwei Hälften. 209 »Sanitäter!«, stöhnte Penwyth. »Verdammt, wo bleiben die Sanitäter?« Der Soldat rannte durch den Korridor, auf der Flucht vor dem Albtraum, der drei seiner Kameraden getötet hatte. Das Gesicht und der nackte Oberkörper des Mannes war mit schwarz‐weißen Streifen bemalt, und er trug nur eine Lederwindel und Leggins. Das Grauen hatte zwei der Kollegen des Soldaten mit einer Pistole niedergeschossen und eine kleine Axt ins Gesicht des dritten geschleudert. Der Soldat war geflohen, in der Hoffnung, einen Ausgang aus diesem Schiff zu finden, um diesen fremdartigen Menschen zu entkommen. Vor ihm bewegte sich etwas, das klein und schwarz war. Er feuerte und verfehlte das Tier, das hinter einer Ecke Schutz suchte. Er rannte ihm hinterher, fort von dem Monstrum hinter ihm. Dann sah der Soldat das Tier erneut. Es war kaum größer als sein Arm und lief an einem Käfig vorbei. Er hatte den Blaster gehoben, um die kleine Bestie damit niederzuknüppeln, als plötzlich eine schwarze, krallenbewehrte Tatze ausschlug, seine Uniform packte und ihn gegen die Gitterstäbe des Käfigs drückte.
Im nächsten Moment hatte Muldoon eine zweite Tatze in seinen Hals geschlagen und eine blutige Wunde gerissen. Tia, die hinter der nächsten Ecke verschwunden war, kehrte zurück, sah die Leiche und schnurrte zufrieden. Muldoon beantwortete es mit einem noch lauteren Schnurren, als er sich zusammenrollte und seine Tatze sauber leckte. 210 Ein Soldat kauerte in der zentralen Manege hinter einem Clownwagen und versuchte, Darod anzuvisieren, die hoch über ihm hing. Den Tentakel des raʹfelan sah er erst, als dieser sich um seine Hüfte geschlungen hatte. Er wollte sich umdrehen und auf den Oktopoden schießen, aber dann warf der raʹfelan ihn gegen eine Wand. Der Alien überlegte, ob es ihm Schwierigkeiten bereitete, einen Menschen getötet zu haben, gelangte zum Schluss, dass dem nicht so war, und zog sich wieder hinauf, um nach weiteren Soldaten Ausschau zu halten. Die Rufe hallten durch die Korridore, viel lauter als der dröhnende »Friedensmarsch«. »Rube!« »He, Rube!« Die Zirkusleute ‐ einige mit Blastem, andere mit irgendwelchen Dingen, die sich als Waffen einsetzen ließen ‐durchkämmten das Schiff auf der Suche nach den restlichen Soldaten. Zwei Zirkusleute wurden verletzt, fünf starben, und alle Mitglieder ihres überraschten Bewachungstrupps fanden den Tod. »Gut«, sagte Garvin. »Das wärʹs. Steckt die Leute, die wir vergast haben, in ein Rettungsboot und katapultiert es in den Normalraum. Es ist mir egal, wo es herauskommt.« »Ihre Befehle, Sir?«, sagte Liskeard. »Leiten Sie den ersten Sprung nach Centrum ein«, sagte Garvin und dachte, dass er vermutlich nie einen geschichts‐trächtigeren Satz geäußert hatte. »Verstanden«, sagte Liskeard, doch dann hielt er in der 210 Bewegung inne. »Sir, könnten wir damit noch eine Sekunde warten? Ich müsste kurz mit unseren Elektronikexperten reden.« Garvin runzelte die Stirn und spürte, wie der historische Augenblick verpuffte. »Bitte.« Liskeard berührte Sensoren, und ein Mikro senkte sich herab. Er sprach hinein, hörte sich die Antwort an und nickte dann. »Tut mir leid, dass ich es nicht vorher gemeldet habe, Sir. Aber die Elektronikleute haben eine seltsame Sendung registriert.« »Von wo?«, fragte Garvin. »Von uns. Sie haben versucht, ihren genauen Ursprung zu ermitteln, aber bislang ohne Erfolg.« »Und wohin geht sie?«
»Auch das wissen wir nicht. Aber es geschieht jedes Mal, wenn wir springen und wenn wir den Hyperraum wieder verlassen.« »Ich will diesen Bericht sehen«, sagte Garvin. »Sofort. Und warten Sie noch mit dem Sprung.« Er winkte den nächsten Wachoffizier heran. »Holen Sie Yoshitaro sowie die Doktoren Ristori und Froude auf die Brücke. Unverzüglich.« »Wenn es nicht extrem unwahrscheinlich wäre«, sagte Froude, »würde ich vermuten, dass jemand auf Cayle IV uns mit einer Wanze versehen hat.« »Irgendwer hat uns tatsächlich etwas untergejubelt«, sagte Njangu und erzählte den anderen vom Sender, den Kekri Katun an Bord geschmuggelt hatte. »Aber ich habe die Aufzeichnungseinheit überprüft und festgestellt, dass 211 sie weder gesendet noch etwas empfangen hat. Obwohl ich dich daran erinnern muss, Garvin, dass Direktor Berti, ihr Auftraggeber, zu ihr gesagt hat, dass man sie zu einem geeigneten Zeitpunkt abholen würde. Vielleicht hat er doch nicht gelogen.« »Höchst interessant, interessant«, sagte Ristori. »Dürfte ich einen Vorschlag vorschlagen?« »Natürlich.« »Gehen wir mal von der wahrscheinlichen Annahme aus, dass wir irgendwie verwanzt wurden. Wäre es möglich, den geplanten Sprung Richtung Centrum zu verschieben und stattdessen ein unbewohntes System anzusteuern, wo wir das Schiff durchsuchen könnten, bis wir das Leck gefunden haben?« Garvin dachte nach und sah, dass Njangu automatisch nickte. »Vielleicht wäre es besser«, entschied er, »wenn wir auf Nummer sicher gehen.«
25
Unbekannter Planet Erik Penwyth blickte missmutig auf den Bildschirm, während die Big Bertha zur Landung ansetzte. »Alles grün und nett, viel Wasser und keine Zivilisation?« »Falls es doch eine gibt«, sagte Garvin, »hält sie sich gut versteckt und benutzt keine bekannten Sendefrequenzen.« 211 »Aha«, sagte Penwyth. »Also ein garantiert verdammtes Paradies.« »Klar«, sagte Njangu. »Warum auch nicht, wenn dieses ganze System nicht mal einen Namen hat, wie es scheint. Nennen wir diese Welt Eden IV, okay?« »Wahrscheinlich versteckt sich ein Monstrum unter jedem Blatt«, sagte Erik. »Nur weil du zum ersten Mal einen Schuss vor den Bug bekommen hast, musst du nicht gleich durchdrehen«, sagte Njangu. »Um dich glücklich zu machen, könnten wir das System Eden und den Planeten Lonrod nennen, nach deinem Schätzchen. Wie klingt das?«
Penwyth dachte nach. »Nicht schlecht, vorausgesetzt, Karo und ich werden für den Rest der Ewigkeit zusammenbleiben.« Er dachte noch einmal nach und runzelte schließlich die Stirn. »Nach reiflicher Überlegung würde ich jedoch vorschlagen, zu Plan A zurückzugehen und es bei Eden IV zu belassen.« Unter den Blättern verbargen sich keine Monstren, also war Garvin einverstanden, die Tiere nach draußen zu lassen, damit sie sich austoben und frische Luft schnappen konnten, die fast den E‐Standardwerten entsprach. Auch alle Besatzungsmitglieder durften sich draußen umsehen, vorausgesetzt, sie waren bewaffnet und blieben in Sichtweite des Schiffes. Unterdessen kommandierte er jeden mit Elektronikerfahrung ab, nach der Quelle des Piepens zu suchen. Das Problem war nur, dass niemand wusste, wodurch es ausgelöst wurde, sodass es anscheinend keine Möglichkeit gab, das Signal auszulösen, solange sie keinen Hyperraumsprung unternahmen. 212 Die Techniker setzten Signalprojektoren ein, die das gesamte Frequenzband rauf und runter sendeten, aber ohne Ergebnis. Njangu löste zweimal Kekri Katuns Sender aus, aber auch dadurch erreichten sie nichts. Seine Stimmung verschlechterte sich von Stunde zu Stunde, und schließlich waren vier Planetentage vergangen. Immer noch nichts. Genauso wie seine Schützlinge war Emton ein Frühaufsteher und ‐ auch darin unterschied er sich nicht von ihnen ‐ legte sich, nachdem er den Sonnenaufgang angemessen begrüßt hatte, wieder schlafen. Er führte seine sechs gähnenden Katzen an den Tierkäfigen vorbei ‐ wo Tia einem spielerischen Tatzenhieb von Muldoon auswich ‐ zur Gangway. Er hatte einer Katze beigebracht, Männchen zu machen und eine Pfote zu heben. Der Wachmann grinste und salutierte zurück. Die Gruppe spazierte die Gangway hinunter und trat ins taufeuchte Gras, als sich die Sonne gerade über den Horizont schob. Emton ging mit seinen Katzen »Gassi«, wie er es ausdrückte. Tia erledigte ihr Geschäft, begann einen Streit mit einer anderen Katze und fing sich zwei schmerzhafte Pfotenhiebe ein. Sie sprang durchs Gras, suchte nach Ärger, fand aber keinen und stand schließlich vor einer der gigantischen Landestützen des Raumschiffs. Wie sie es auch schon in den vergangenen drei Tagen getan hatte, beschnupperte sie das Metall und fand die Stelle 212 wieder, wo es nicht nur anders roch, sondern genau die richtige Konsistenz hatte. Mit lautem Schnurren schärfte sie ihre Krallen, zuerst langsam und dann schneller, als sie sich immer tiefer hineingruben. In diesem Moment kam Emton vorbei. »Um Himmels willen! Tia, geh weg da! Du ruinierst unser schönes Schiff!«
Tia schlug noch einmal die Krallen hinein, nur um Emton daran zu erinnern, wer hier eigentlich das Sagen hatte. Dann ließ sie sich aufheben, schlug Emton zur Strafe aber einmal auf die Finger. »Was hast du angestellt?«, sagte Emton, als er auf die aufgerissene Plastikmasse starrte ‐ und auf die elektronischen Bauteile, die durch die Risse schimmerten. »Ich sollte es wohl lieber jemandem sagen. Was hast du nur wieder angestellt?« »Verpasst mir einen Arschtritt und nennt mich Sally«, sagte Garvin erstaunt. Rund um die Landestütze der Big Bertha hatte sich eine kleine Menge versammelt. »Es tut mir leid, Sir. Tia wollte bestimmt nicht...« Garvin wurde sich des Katzendompteurs und der Menge bewusst. »Mister Emton«, sagte er in offiziellem Tonfall, »Sie haben uns möglicherweise einen größeren Dienst erwiesen als jedes andere Mitglied unseres Zirkus, und wenn sich die Vermutung der Techniker bestätigt, können Sie mit einer beträchtlichen Prämienzahlung rechnen, wenn wir nach Hause springen.« Emton blinzelte verwirrt. Garvin winkte Njangu zu. »Mach hier bitte etwas mehr Platz, wenn es genehm ist.« 213 »Genehmer gehtʹs nicht, Prinzipal.« Njangu rief seine Sicherheitsleute und gab ihnen die Anweisung, dafür zu sorgen, dass sich die Zuschauermenge entfernte. »Genau das, was wir suchen, nicht wahr?«, fragte Garvin einen Elektronikoffizier. »Katzen sollten eigentlich nicht in der Lage sein, sich durch die Hülle eines Raumschiffs zu kratzen, Sir.« »Vorsicht, Mister. Früher oder später werden Sie Ihre Uniform wieder anlegen, und dann wird man sich an Klugscheißer erinnern.« »Entschuldigung, Sir.« Der Offizier ging in die Knie und strich mit einem Finger über die Masse. »Sehen Sie, wie es ganz leicht über die Schiffshülle hinausragt? Ich würde sagen, man hat eine Magnethalterung oder vielleicht einen Ultrakleber benutzt, um sie zu befestigen.« »Also hat sich jemand von hinten an uns herangeschlichen«, sinnierte Garvin, »und uns diese Dose an den Schwanz gebunden, die seitdem ständig an unserem Heck herumklappert.« Garvin nahm Froude und Ristori beiseite. »Glauben Sie, dass es das ist, wonach wir gesucht haben?« »Könnte gut sein«, sagte Ristori. »Und wie erstattet das Ding Meldung?« »Wahrscheinlich ähnlich wie meine Unz‐ und Zwunz‐Bojen«, sagte Froude. »Es könnte aber auch so funktionieren, dass so etwas wie eine Rakete in Kontakt zu diesem Sender steht. Falls das Ding von Cayle IV stammt, was eine logische Vermutung darstellt, wurde von dort die erste Rakete gestartet, als wir abgeflogen sind. Sie folgte uns durch den N‐Raum und hielt sich an das zweite
Signal, was bedeuten würde, dass es sich hier um eine recht komplizierte elektronische Schaltung handelt. Dann sprang sie zusam 214 men mit uns zurück in den Normalraum. Anschließend wurde möglicherweise eine zweite Rakete gestartet, die quasi mit einem Bocksprung die erste überholt hat und mit uns zum nächsten Punkt gesprungen ist. Oder die zweite Rakete nahm die Stelle der ersten ein, aber auf diese Weise besteht die Gefahr, dass der Treibstoff der ersten zu schnell zur Neige geht. Jede Rakete oder Sonde, oder wie immer man sie nennen will, strahlt ein Signal an den letzten Kollegen in der Reihe ab, der es über die Relaiskette bis zu diesem Berti weiterleitet. Auf jeden Fall muss das ganze System sehr ausgefeilt sein, viel besser als meine Unze und Zwunze, sodass ich daran zweifle, ob es ursprünglich von Cayle IV stammt. Wahrscheinlich wurde es von der Konföderation entwickelt. Oder auf einer Wissenschaftswelt. Wie dem auch sei, ich würde die Idee gerne klauen und kopieren, sobald wir wieder auf Cumbre eingetroffen sind.« Njangu war dazugekommen und hatte den größten Teil von Froudes Theorie mitgehört. »Also dürfte demnächst eine weitere Sonde in dieses System springen?« »Genau. Womit wir vor der aufregenden Aufgabe stehen, sie zu finden«, sagte Froude. »Das wird eine Suche nach einem metallischen Zahnstocher in einem Sonnensystem, und das könnte eine Weile dauern.« »Möglicherweise ewig«, bestätigte Ristori. »Vielleicht ist es auch gar keine Sonde«, sagte Njangu, »sondern eine kleine Flotte von Schlachtschiffen.« »Wieso das?«, fragte Froude. »Wenn wir davon ausgehen, dass sich auf Cayle IV ein gewisses Ereignis zugetragen hat, das zu einem gewissen Datum stattfinden sollte...« »Ach du Scheiße«, murmelte Garvin, der sich an die Bombe erinnerte. 214 »Ich würde mit dem Schlimmsten rechnen ‐ oder mit gar nichts, wenn unsere Leute gute Arbeit geleistet haben«, sagte Njangu. »Aber ich glaube, es kann nicht schaden, wenn wir die Nana‐Schiffe mit glühenden Sensoren außerhalb der Atmosphäre stationieren. Chaka und seine Flugstaffel haben sowieso dringend etwas Bewegung nötig.« »Gute Idee«, sagte Garvin. »Jetzt wollen wir diesen Eiterpickel sezieren und mal schauen, worum es sich wirklich handelt. Aber die Techniker sollen äußerst vorsichtig vorgehen. Es könnte nämlich sein, dass die Mistkerle das Ding mit einer Überraschung versehen haben, um allzu neugierige Personen abzuschrecken.« Es war gegen Ende der ersten Hundewache, als es allmählich dunkel wurde, und Erik Penwyth freute sich bereits auf seine Ablösung. Seine Hüfte schmerzte, da die Schussverletzung immer noch nicht ganz verheilt war, und er hatte Hunger.
Die anderen waren alle im Schiff, die meisten im Kantinenzelt, und die platt getrampelte Umgebung der Big Bertha war völlig leer. Dann sah Penwyth etwas im Augenwinkel aufblitzen. Instinktiv, für den Fall, dass diese Welt doch Reißzähne entwickelt hatte, trat er zurück in die Schleuse. Er hob einen stabilisierten Feldstecher und blickte hinaus. Am Rand der Freifläche, wo niedrige Bäume wuchsen, standen zwei Gestalten. Er hatte noch genug Zeit, um zu erkennen, dass sie stark behaart und dunkelhäutig waren und halb aufrecht gingen. Am Hals der einen Gestalt blitzte wieder etwas auf ‐ ein glänzender Stein an einem Riemen? Dann waren sie verschwunden. 215 Penwyth dachte an den Namen, den sie dem System und dieser Welt gegeben hatten, und grinste ironisch. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Fünf Tage später meldeten die Nana‐Schiffe eine Beobachtung. Beziehungsweise drei. Keine Sonden, sondern ehemalige Kampfkreuzer der Konföderation. Garvin befahl den Patrouillenschiffen, sich völlig still zu verhalten und im Orbit auf Befehle zu warten. Wenige Minuten später erwachte Kekris Empfänger quäkend zum Leben. Njangu war auf diesen Fall vorbereitet. Sie hatten bereits mehrere Botschaften verschlüsselt ‐aber nicht ganz in der Kodierung, die von diesem System verwendet wurde, sondern etwas daneben. Außerdem würde der eingebaute Rauschgenerator die Angelegenheit zusätzlich verwirren. Und die Daten, die von Kekris Sender an die Schlachtkreuzer übermittelt wurden, waren die genauen Spezifikationen des Primärantriebs der Big Bertha, bis ins letzte Detail. Damit wären die Kodierungsexperten an Bord der Kreuzer eine Weile beschäftigt. »Also gut«, sagte Garvin vor seinem Kriegsrat. »Da es das erste Mal ist, dass sie Daten von diesem Funkgerät abrufen und vor kurzem etwas Bestimmtes auf Cayle IV geschehen ist, besteht nun kein Zweifel mehr, wer hier die Karten auf den Tisch legen möchte.« Er lächelte grimmig. »Ich habe es verdammt satt, immer nur herumgeschubst zu werden und wegrennen zu müssen.« 215 Die drei Aksai mit Dill, Boursier und Alikhan in den Pilotenkanzeln schwebten aus dem Frachtraum der Big Bertha und stiegen langsam durch Nieselregen und dichte Wolken in den Weltraum auf. Sie verzichteten auf ihre übliche Herumkurverei, weil man die geheimen Waffenkammern der Big Bertha geöffnet hatte und nun zwei Goddard‐ Schiffsabwehrraketen von jeweils sechs Metern Länge und sechzig Zentimetern
Durchmesser in den Abschussrampen lagen, die auf D‐Cumbre unter jedem Flügel der Aksai angebracht worden waren. Liskeard hoffte, dass die Wache an Bord der drei Kreuzer etwas nachlässig war und die Leute nicht zu angestrengt auf den Radar starrten, solange der Lokator anzeigte, dass sich das Zirkusschiff nicht von der Stelle gerührt hatte. Das war ein weiterer Grund, warum die Aksai keineswegs mit Vollschub gestartet waren. Der Ortungsalarm der Kreuzer konnte losgehen, wenn sich ihnen etwas mit zu hoher Geschwindigkeit näherte. Die Kriegsschiffe hingen im geostationären Orbit über der Big Bertha, auf halber Strecke zwischen Eden IV und seinem einzigen Mond. Die Aksai verließen die Atmosphäre und gingen in einen tiefen Orbit, bis Eden zwischen ihnen und den Kreuzern stand. Dann rasten sie mit Höchstbeschleunigung in den Weltraum hinaus. In der Nähe von Edens Mond bremsten sie und änderten den Kurs, sodass sie nun in einem schnellen exzentrischen Orbit genau auf die Schiffe herabstießen. Ben Dill beobachtete auf einem Bildschirm, wie sie sich näherten. »Keine Provokation, rein gar nichts, ihr seid ganz leichte Beute, ach, ihr armen Kleinen...«, murmelte er. Dann 216 sprach er in sein Mikro: »Dill eins... beginne Angriffssequenz.« Zwei Mikros klickten und signalisierten ihm, dass die Piloten der anderen Aksai seine Sendung empfangen hatten. Er war keine tausend Kilometer mehr von den Kreuzern entfernt, als er die Zielsysteme der Goddards aktivierte. Einige Sekunden später piepten beide. Ziel erfasst. Er hatte den Kreuzer anvisiert, der ihm am nächsten war. »Dill eins... Annäherung«, sendete er. »Ich nehme das obere Schiff. Starte Eins... starte Zwei... und ab gehtʹs.« »Alikhan... habe mittleres Schiff anvisiert. Eins abgefeuert... und Zwei.« »Hier Boursier mit Ziel auf die letzte Schrottkiste. Eins... und Zwei.« Den Kreuzern war nicht anzumerken, ob an Bord Alarm gegeben wurde, während sich die sechs Raketen näherten. Alle schlugen ein, und dann standen nur noch drei vollkommen kugelrunde Feuerbälle im Weltraum. »An Big Bertha, hier ist Mrs. Dills Lieblingssohn. Wir kehren heim und haben uns den Besen an den Mast gebunden. Wir haben alles sauber weggeputzt.« »Okay«, sagte Garvin. »Wenn es jetzt keine weiteren Kinkerlitzchen mehr gibt, um die wir uns kümmern müssen, können wir jetzt endlich nach Centrum aufbrechen.« »Start in dreißig Sekunden«, kündigte Liskeard an. Den Lokator und Kekris Funkgerät hatten sie zurückgelassen, für den Fall, dass sie bislang unbemerkte Überraschungen enthielten. Das Zirkusschiff flog ab, sprang und verschwand. 216 Zwei Tage später fassten die beiden Primaten, die Erik Penwyth gesehen hatte, den Mut, sich diesen seltsamen Gegenständen zu nähern.
Die eine, die ein Stück Muskovit an einer Schnur aus geflochtenem Darm um den Hals trug, wagte es, den Sender‐Empfänger zu berühren. Das Gerät piepte sie an. Sie schrie auf, flüchtete sich zu den Bäumen, gefolgt von ihrem Partner, und wagte sich nie wieder an diesen verfluchten Ort.
26
Unbekanntes System Auf der Brücke herrschte dichtes Gedränge, als sich Njangu und Garvin hineinschlichen und eine Stelle suchten, die etwas weiter von der Kommandokonsole entfernt war. Sie befanden sich noch immer in den Wirbeln des N‐Raums. Njangu sah, wie ein Kommunikationsoffizier prüfend schnupperte. Er hätte dem Mann sagen können, was das für ein Geruch war ‐ der Gestank der Furcht, während alle darauf warteten, was geschehen würde, wenn die Big Bertha auf die versteckten Fallen dieses Systems stieß. In wenigen Augenblicken würde er es von selbst herausfinden. Garvins und Liskeards Blicke trafen sich, und er nickte ihm zu. Weiter so. »Haben Sie die Sicherheitsdaten von Cayle?«, fragte Liskeard einen Offizier, der vor einem Bildschirm saß. 217 »Bestätigt.« Liskeard gab einem Wachoffizier ein Zeichen. »An alle Stationen, Kampfbereitschaft«, befahl er. »Alle Abteilungen versiegeln, Integritätsberichte.« Liskeard hörte sich die hereinkommenden Antworten an, dann sagte ein Offizier: »Alle Abteilungen versiegelt, Sir.« »Bereithalten, den Hyperraum zu verlassen... auf mein Zeichen... jetzt!« Das Gewaber auf den Bildschirmen verflüchtigte sich, und die Big Bertha befand sich wieder im Normalraum, nicht weit von einem Ringplaneten entfernt. »Empfange Signal auf Wachfrequenz... N... N... N... Ursprung einer von zwei Monden in zwei A, Hauptbildschirm.« »Antworte mit R... R... R...« »Empfange Signal... C neun acht A R zwo.« »Warte... warte... schicke Erwiderung vier fünf I X zwo zwo.« »Signal abgeschickt... warte... warte... Antwort C... C... C...« »Das ist die Einflugerlaubnis.« Für einen Moment entspannten sich alle. »Bereithalten für den nächsten Sprung«, ordnete Liskeard an. »In zwanzig Sekunden...« »Ich registriere Aktivität auf der Planetenoberfläche.« »Identifikation!« »Schiffe... mehrere Schiffe... sie starten... Korrektur... es sind Raketen.« »Wir sind in der Zielerfassung.« »EA aktivieren.«
»Aktiviert, Sir. Versuche die Kontrolle zu übernehmen.« 218 »Zwölf Sekunden bis zum Sprung.« »Raketen werden in... dreißig Sekunden in Reichweite sein. Es sind zehn Stück. Korrektur. Vier Raketen sind in den N‐Raum gesprungen... keine Annäherung registriert... sechs Raketen weiterhin im Normalraum... Kontakt in vier‐ undzwanzig Sekunden.« »Sechs Sekunden bis zum Hyperraumsprung.« »Vier Raketen aus dem N‐Raum gekommen... nähern sich... nähern sich...« »Zwei Raketen übernommen... drei... drei abgelenkt...« »Drei Sekunden bis zum Sprung.« »Letzte Rakete nähert sich... Einschlag in vier Sekunden...« »Sprung!« Die Welt verwirbelte. »Jetzt fragt sich nur noch, ob diese verdammte Rakete uns verloren hat...« Ein paar Sekunden lang Stille. »Sie hat uns verloren.« »Uff!« »Wer zum Henker hat diese Raketen gestartet und warum?«, wollte Liskeard wissen. »Ich dachte, wir hätten alle Sicherheitskodes gesendet.« »Das dachte ich auch«, sagte Garvin. »Vielleicht ein System, das von einem anderen Hersteller gekauft wurde?« »Vielleicht... oder diese verdammten Raketen haben etwas Rost an den Ohren angesetzt und ihren eigenen Dickkopf entwickelt.« »Noch ein Sprung, dann nach Centrum.« »Zunächst wollen wir den nächsten hinter uns bringen.« 218 »Ruhe auf der Brücke — bis auf alle, die etwas zu sagen haben!« Njangu bemerkte, dass der Geruch stärker geworden war.
Unbekanntes System Der Bildschirm zeigte eine dichte Ballung von Planeten in der Nähe der Sonne und ein paar vereinzelte Eisriesen weiter draußen. Der Navigationspunkt hatte sie vor einen Asteroidengürtel gebracht. Augen musterten Bildschirme, dann folgte ein Stakkato von Meldungen: »Metallische Objekte haben Kurs auf uns genommen!« »Startvorgänge auf markiertem Asteroiden... zähle siebenundzwanzig Raketen...« »Habe Schiffe von den inneren Planeten in der Ortung... vermutlich automatische Abfangjäger...« »Unbekannte Objekte nähern sich dem Schiff... wahrscheinlich kinetische Satelliten... zähle fünfunddreißig...« »Metallische Objekte wahrscheinlich aktive Minen... Gegensignal drei vier Q Q Q drei senden...« »Bestätige drei vier Q Q Q drei... »Raketenablenkung sechs sechs sieben acht neun neun null senden.«
»Sende sechs sechs sieben acht neun neun null.« »Abfangjäger in N‐Raum gegangen.« »Abfangjägerkodewort WAVEN senden.« »Bestätige WAVEN, warte auf Wiedereintritt...« »Minen wurden deaktiviert, Gegensignal erfolgreich.« 219 »Selbstzerstörung der Raketenstaffel.« »Abfangjäger in den normalen Raum zurückgekehrt, sende WAVEN... WAVEN... keine Reaktion...« »EA versucht Abfangjäger zu erfassen... keine erkennbare Wirkung.« »Abwehrraketen startbereit halten, auf mein Kommando«, befahl Liskeard. »Abfangjäger wieder in N‐Raum gesprungen, senden Signal RAFET, wiederhole, RAFET.« »RAFET ist die Bestätigung des Sicherheitkodes. Sie kehren zurück.«
»Noch irgendwas da draußen, das es nicht gut mit uns meint?« Schweigen, dann mehrere Negativmeldungen auf einmal. »Sieben Minuten bis zum nächsten Sprung«, verkündete Liskeard. »Alles in Bereitschaft bleiben.«
Capeila »Für den Wiedereintritt bereithalten«, ordnete Liskeard an. »Wenn sie uns irgendetwas entgegenwerfen, wollen wir versuchen, mit einem Sprung auszuweichen. Das letzte Mal war mir die Sache etwas zu knapp. ‐ Vier... zwei... wir sind raus!« Sie flogen in ein System mit einer Sonne der mittleren Hauptreihe ein. Es gab fünf Planeten in der Lebenszone, einen, der der Sonne zu nahe war, und drei, die weiter entfernt waren. »Capeila«, hauchte jemand voller Ehrfurcht. Garvin überlegte, ob er es selbst gewesen war. 219 »Ortung?« Nur Negativmeldungen. »Hier muss doch irgendetwas sein, das Wache hält!«, sagte Liskeard. »Vielleicht heben sie sich die Überraschungen für später auf, wenn wir das Grundstück betreten haben«, mutmaßte Njangu. Seine Kehle fühlte sich sehr trocken an.
27
Capeila / Centrum Njangus Ungewissheit hielt nicht lange an. Als sie sich Centrum näherten, sendete der Kommunikationsoffizier auf einer Wachfrequenz die übliche Information über ihre Ankunft und die Anfrage nach Landeanweisungen. Es war, als hätte er einen Weckruf gesendet.
Allerdings waren insgesamt drei dieser Weckrufe nötig, bis im Kontrollzentrum von Capeila jemand aus dem Tiefschlaf gerissen wurde und die Big Bertha die Anweisung erhielt, in einen Parkorbit zu gehen und auf die Landeklärung zu warten. Froude erschauderte. »Landeklärung? Was immer hier geschehen ist, es scheint als Erstes die Sprachlehrer erwischt zu haben.« »Ich glaube«, sagte Njangu zu Garvin, »wir beide sollten uns jetzt etwas... aufbrezeln.« Sie warfen sich in Schale, hätten sich aber mit dem Um 220 ziehen viel mehr Zeit lassen können, weil es drei Stunden dauerte, bis sich wieder etwas auf der Wachfrequenz tat und das Schiff »Bag Berna« die Anweisung erhielt, ein Inspektionsteam an Bord zu nehmen. Das Schiff, das sich ihnen näherte, wurde von Janes Datenbanken als unbekannt identifiziert, was nach Njangus Vermutung bedeutete, dass es vor weniger als acht Jahren gebaut worden war, also nachdem die letzte Aktualisierung ihrer Jane eingetroffen war. »Eine Zerstörer‐Klasse, wie es scheint«, sagte Liskeard. »Holen Sie es näher ran, wenn es geht.« Ein Techniker aktivierte einen zusätzlichen Bildschirm mit Echtzeitdarstellung und erhöhte die Vergrößerungsstufe, bis es nicht mehr als einen halben Kilometer entfernt zu sein schien. »Interessant«, murmelte Liskeard. »Es hat sehr viel Zeit innerhalb der Atmosphäre verbracht, nicht im Hangar. Schauen Sie sich nur die Korrosion der Hülle an. Ist seit langem nicht gewartet worden. Nicht gerade in bester Ver‐ fassung, meine Freunde.« Er beobachtete die Annäherung des Schiffs. Der Zerstörer schaltete den sekundären Antrieb aus und ging auf einen parallelen Orbit zweitausend Meter von der Big Bertha entfernt. Magnetkupplungen wurden abgefeuert. Eine ging daneben, die andere schlug gegen den Rumpf der Big Bertha. Dann zogen Winden die zwei Raumschiffe näher zusammen. »Miserable Piloten«, lautete Liskeards Einschätzung. »Für ein solches Manöver hätte ich mich selbst gegeißelt.« Gestalten in Raumanzügen schwammen durch die Leere und in die Hauptschleuse der Big Bertha, durch die sie schließlich in den Frachtraum gelangten. 220 Es waren ein Dutzend, und sie wurden bereits von Garvin, Njangu, Monique Lir im Paillettenkostüm, Froude (nicht im Clownskostüm), Alikhan und Ben Dill in der Rolle des Kraftprotzes erwartet. Alles wirkte pittoresk und harmlos. Die Männer und Frauen von der Konföderation warteten nicht auf den Atmosphärentest, sondern schienen davon auszugehen, dass die Luft dem E‐
Standard entsprach, da die meisten Mitglieder des Begrüßungskommandos menschlich aussahen. Helme wurden abgenommen. Ein Mann, der noch fast wie ein Junge wirkte, blickte sich um. »Usch, ein gottverdammt großes Schiff«, sagte er leise, aber hörbar. Monique Lir wollte ob dieser Disziplinlosigkeit die Stirn runzeln, konnte sich aber im letzten Moment zusammenreißen. Eine langhaarige Frau trat vor. »Ich bin Aut Fenfer von der Thermidor. Willkommen in der Volkskonföderation.« Garvin registrierte die veränderte Bezeichnung. »Und ich bin Garvin Jaansma vom Zirkus Jaansma. Das ist ein Teil meiner Artisten.« »Ihre Heimatwelt?« Garvin entschied sich für eine vorsichtige Antwort und wollte auf keinen Fall Cumbre erwähnen. »Grimaldi.« »Ein solches System ist mir nicht bekannt«, sagte Fenfer, und im Hintergrund kicherte jemand leise. »Zu welchem Zweck wollen Sie in die Konföderation einreisen?« »Um die Menschen auf Centrum und den anderen Welten dieses Systems zu unterhalten«, sagte Garvin. 221 Fenfer zögerte. »Sie werden sich noch ein wenig gedulden müssen... Sie sind das erste Schiff, das ich jemals inspiziert habe.« Njangu bemühte sich, eine ausdruckslose Miene zu wahren. »Hatten Sie, äh, irgendwelche Probleme während des Anflugs auf Capella?«, fragte sie. »Nein«, sagte Garvin. Fenfer wirkte verdutzt. »Das ist gut. Äh, haben Sie irgendwelche Schmuggelware an Bord?« »Dies ist unser erster Besuch im Capella‐System«, erklärte Garvin. »Was gilt als Schmuggelware?« Fenfer zog eine Liste aus einer Tasche und las vor: »Waffenfähiges spaltbares Material... subversive Propaganda... Betäubungsmittel, die in der Konföderation nicht zugelassen sind...« Als die lange Aufzählung abgeschlossen war, schüttelte Garvin ernst den Kopf. »Nichts dergleichen. Außer gefährlichen Tieren, die zu unserer Show gehören. Aber sie werden in Käfigen gehalten und ständig bewacht.« »Ganz sicher?« »Ganz sicher.« »Ich denke, die Tiere dürften kein Problem sein«, sagte Fenfer. »Hätten Sie etwas gegen eine Inspektion einzuwenden?« »Natürlich nicht. Mein Personal wird Ihre Leute gerne herumführen.« Fenfer wandte sich an ihr Team. »Nun gut. Sie haben Ihre Anweisungen.«
Sie drehte sich wieder zu Garvin um. »Für den Fall, dass es mit Ihnen keine Probleme gibt«, fuhr sie fort, »habe ich den Befehl, Sie, Prinzipal Jaansma, in Ihrer Funktion als 222 Kommandant dieses Schiffes zu Dant Romolo zu führen, der sich an Bord des Flaggschiffs unserer Flotte aufhält.« »Es wird mir eine Ehre sein«, sagte Garvin. »Dann sollten wir die Inspektion schnell hinter uns bringen. Ich möchte Dant Romolo nicht zu lange warten lassen.« Fenfer ging an Monique Lir vorbei und bedachte sie mit einem bedeutungslosen Lächeln. Lir reagierte freundlich und rümpfte nicht die Nase. Entweder musste Fenfers Anzug dringend dekontaminiert werden, oder die Frau hatte schlichtweg mal wieder ein Bad nötig. Auch Fenfers Schiff, die Thermidor, wirkte nicht besonders sauber, dachte Garvin. Die Wände und Böden waren gewischt und gefegt, aber hier und dort hatte man es mit ein paar Flecken nicht allzu genau genommen. Einen ähnlichen Eindruck machte die Besatzung, die recht nachlässig gekleidet war. Viele hatten ihre Uniformen durch zivile Kleidungsstücke ergänzt. Ihnen fehlte das, was beim Militär als »Schneid« bezeichnet wurde ‐ ein Wort, das Njangu allerdings schon immer gehasst hatte. Es war ihm noch nie wichtig gewesen, ob ein Soldat seine oder ihre Nase auf Hochglanz polierte, aber er wusste, dass sich ein gut ausgebildeter Kämpfer mit einer gewissen Zackigkeit bewegte und seinen oder ihren Pflichten mit einer gelassenen Vertrautheit nachkam. Doch all das galt nicht für die Männer und Frauen an Bord der Thermidor. Njangu fand, dass sie sich benahmen, als stünden sie zwei Wochen vor der Entlassung und würden sich um nichts mehr scheren. 222 Garvin fand es ein wenig seltsam, dass der Befehlshaber der Thermidor es nicht für nötig hielt, sich von der Brücke zu entfernen und das Quartier in der Nähe der Luftschleuse aufzusuchen, das Njangu und er bezogen hatten ‐ zumindest aus Neugier. Er wagte es, ihren Wachmann danach zu fragen, einen freundlich wirkenden Dec, der ihnen sagte, dass er einer der Quartiermeister des Schiffes sei. Als Angehöriger des »Durchsuchungsteams« war er extrem neugierig auf den Zirkus und alles, was damit zusammenhing. Leicht wehmütig fügte er hinzu, dass er hoffte, Urlaub zu bekommen, um eine Vorstellung besuchen zu können, bevor sie wieder abflogen. Garvin schrieb ihm eine Freikarte und sagte, er würde ihn sehr gerne im Zirkus begrüßen und ihn persönlich durch den Rummel und alle Zelte führen. Dann fragte er ihn, warum sein höchster Vorgesetzter an Bord nicht gekommen war und sich vorgestellt hatte.
Der Quartiermeister blickte zum Wandlautsprecher hinauf, was für Garvin ein sehr interessantes Detail war, und sagte dann mit sehr leiser Stimme: »Er weiß noch nicht, was er von Ihnen halten soll.« »Warum kommt er dann nicht herunter und versorgt sich mit weiteren Daten, um schneller zu einer Entscheidung zu gelangen?«, fragte Njangu ebenso leise. »Nein, das ist es nicht«, erwiderte der Mann. »Man hat ihm noch nicht gesagt, was er denken soll.« Er weigerte sich, nähere Auskünfte zu erteilen, wer derjenige war, der ihm die Ansichten vorgab, und reagierte mit Erleichterung, als der Lautsprecher piepte und bekanntgab, dass sie in null sieben Minuten die Corsica erreicht haben würden. 223 Die Corsica war ein riesiges Schlachtschiff, über zwei Kilometer lang und wie ein Nadelkissen mit Raketenstellungen und automatischen Geschützen gespickt. Außerdem wirkte sie sehr gepflegt. Alles war sauber, die Böden glänzten, die Uniformen waren makellos, ihre Träger bewegten sich mit Schneid und Elan, die Offiziere grüßten flott und mit einem Spruch, der offenbar regelmäßig geändert wurde. Hier lief es nach dem Motto »lerne angestrengt, kämpfe lässig«, einer der ältesten und trügerischsten Weisheiten aus dem Lehrbuch. Realistischer wäre es, dachte Njangu, wenn es »lerne angestrengt, kämpfe lässig; lerne lässig, kämpfe noch angestrengter« heißen würde. Njangu fand, dass Schiff und Besatzung vielleicht ein wenig zu perfekt und ordentlich wirkten. Ein Adjutant, der sich nicht vorstellte, führte sie durch ein Vorzimmer mit fleißigen Unteroffizieren in das Büro von Dant Lae Romolo. Es war eher spartanisch eingerichtet, und hier und dort hingen scheinbar wahllos verteilt Computerprojektionen an den Wänden. Das einzige Holo zeigte eine recht ernst dreinblickende Frau. Seit dem Aufbruch von Cumbre hatte Garvin den romantischen Traum gehegt, all seine Listen und Täuschungsmanöver würden damit enden, dass er vor einem hochrangigen Konföderationsoffizier Haltung annahm, salutierte und wahrheitsgemäß sagte: »Caud Garvin Jaansma, Befehlshaber des Zweiten Infanterieregiments, Erste Brigade, Streitmacht Angara, Cumbre‐System, meldet sich in der Konföderation zurück, Sir.« Doch in dieser Situation verzichtete er lieber darauf. Dant Romolo war ein eher kleiner Mann mit rundem Gesicht, ausgedünntem Haar, das er aus Mangel an Eitel 223 keit nicht revitalisieren ließ, und einem ersten Bauchansatz. Das bedeutete jedoch nicht, dass Romolo auf irgendeine Weise liebenswert oder weich aussah. Sein Gesicht hatte bereits in frühen Jahren Falten bekommen, und
seine Augen hatten einen kalten Blick. Man sah ihm an, dass er es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Njangu fühlte sich an den Diktator Redruth erinnert, und dieser Vergleich gefiel ihm ganz und gar nicht. »Willkommen im Hauptsystem der Volkskonföderation«, sagte Romolo. Er setzte eine leichte, möglicherweise sarkastische Betonung auf »Volks«. »Ihre Heimatwelt ist Grimaldi?« »Ja, Sir«, antwortete Garvin. »Nach meinen Unterlagen scheint diese Welt noch gar nicht richtig kolonisiert worden zu sein«, sagte Romolo. Garvin war überrascht. »Sie ist schon seit mindestens vierhundert Jahren besiedelt, Sir. Grimaldi ist so etwas wie eine Heimatbasis für Wanderzirkusse wie meinen.« »Wundern Sie sich nicht«, sagte Romolo. »Im Laufe der... wie soll ich sagen? ...Veränderungen in der Konföderation wurden viele Aufzeichnungen vernichtet oder verlegt oder müssen noch rekonstruiert werden.« »Veränderungen, Sir?« Garvin zeigte sich überrascht. »Wir wissen nur ‐ und so ist es auf allen Welten, von denen wir gekommen oder auf denen wir gelandet sind ‐, dass die Konföderation den Kontakt zu allen Systemen verloren hat.« »Auch alle militärischen Einheiten, denen wir begegnet sind, hatten seit langem keinen Kontakt mit Centrum mehr«, warf Njangu ein. »Können Sie uns sagen, was geschehen ist, Sir?« Er legte Besorgnis in seine Stimme. 224 Romolo atmete langsam ein und aus. »Das Parlament der Konföderation wurde sehr schnell und in erheblichem Maße umgewandelt, nach einer längeren Krisensituation vor einigen Jahren. Die neuen Mitglieder des Parlaments wurden gezwungen, ihre gesamte Zeit darauf zu verwenden, die Heimatwelten wieder aufzubauen und für Ordnung zu sorgen. Leider waren sie nicht in der Lage, auch für die politische Führung und Sicher‐ heit der Konföderation zu sorgen. Das ist wirklich sehr bedauerlich, und wir alle hoffen, dass sich die Lage innerhalb der nächsten Jahre verbessert.« Garvin wusste, dass er den Mund hätte halten sollen, aber er konnte es nicht. Schließlich war dies der Moment, auf den er so lange hingearbeitet hatte. »Sir... was wir durchgemacht haben, um hierher zu gelangen, was schon immer mein Traum war... nun, die Lage da draußen ist ziemlich chaotisch. Wir brauchen die Konföderation!« Romolos Lippen wurden zu einem dünnen Strich, und er nickte knapp. »Das überrascht mich nicht. Ich möchte Sie fragen... ich glaube, Sie ziehen es vor, mit dem Titel Prinzipal angesprochen zu werden... ob Sie irgendwelche Schwierigkeiten hatten, Capeila zu erreichen?« »Ein paar Sprünge zurück mussten wir uns einer Gruppe entziehen, die sich als Konföderationsprotektorat bezeichnet«, sagte Garvin. »Und manche der Welten, auf denen wir auftreten wollten, erwiesen sich als nicht allzu freundlich.«
»Aber sonst nichts?« »Nichts, was der Rede wert wäre, Sir«, sagte Garvin. »Haben Sie etwas Bestimmtes im Sinn?« 225 Romolo schwieg nachdenklich. »Das ist interessant. Sehr interessant. Ich glaube, es könnte für uns von großem Nutzen sein, Ihre Logbücher auszuwerten.« »Wir stellen sie Ihnen gerne zur Verfügung, Sir.« »Darum können wir uns später kümmern«, sagte Romolo. »Ich bin mir sicher, dass Sie so schnell wie möglich landen möchten.« »Wir haben eine längere Serie von Sprüngen hinter uns, Sir«, sagte Garvin. »Ich werde Ihnen gerne die Landegenehmigung erteilen, wo immer das Volksparlament Ihnen zu landen gestattet, und meine Empfehlung geben, Ihnen die Erlaubnis zum Auftritt und zum freien Zugang zu Centrum zu geben. Man wird Ihnen innerhalb eines Bordtages einen Lotsen zuteilen, damit es keine Schwierigkeiten während der Landung gibt.« »Vielen Dank, Sir. Ich hoffe, Sie finden die Zeit, unseren Zirkus als Gast zu besuchen.« »Das ist unwahrscheinlich«, sagte Romolo. »Leider beanspruchen meine Pflichten hier draußen, fern von den Bequemlichkeiten von Centrum, meine gesamte Zeit.« Er erweckte nicht den Eindruck, dass er diesen Umstand bedauerte. »Ein Zirkus...«, sagte er in nicht ganz echtem Plauderton. »Ich erinnere mich, dass meine Mutter mich als Kind in einen Zirkus mitgenommen hat. Das war in der alten Zeit, als es noch Dinge wie Zirkusse gab, als Unterhaltungsangebote nicht immer mit Rücksicht auf das Wohl des Volkes gestaltet wurden. Es gab Monstren und Tiere und Menschen, die erstaunliche Dinge taten. Wirklich erstaunliche Dinge.« 225 Darin schüttelte er den Kopf und kehrte in die Gegenwart zurück. »Gut. Das wäre alles.« »Sir?«, fragte Njangu. »Bitte!« »Wäre es möglich, dass ich Erkundigungen einziehe, ob etwas über das Schicksal einer bestimmten Welt in den Randzonen bekannt ist? Ich hatte einen Bruder ‐ ich hoffe, dass ich ihn immer noch habe ‐, der dort in den Streitkräften der Konföderation dient...« Njangus Tonfall klang sehr besorgt. »Meine Sekretäre im Vorzimmer haben Zugang zu allen Datenbanken der Konföderation«, sagte Romolo mit leichter Ungeduld, als wäre er jemand, der zu bedeutend war, um sich Sorgen um Kleinigkeiten wie Brüder zu machen. »Sie dürfen sie gerne danach fragen, bevor Sie ausschiffen.« Garvin riss sich zusammen, um nicht zu salutieren und damit einen militärischen Eindruck zu erwecken, als sie das Büro verließen. »Wie war noch gleich der Name des Planeten?«, fragte die Sekretärin.
»Cumbre«, sagte Njangu. »D‐Cumbre. Alle Welten des Cumbre‐Systems sind nach dem Alphabet durchnummeriert, sagte mein Bruder.« Dann buchstabierte er »Cumbre«. Die Frau drückte ein paar Sensoren, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe weder in den Hauptdatenbanken der Konföderation noch in den Sternenkatalogen etwas gefunden. Wie war noch mal der Name der Armee? Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass er hier irgendwo aufgelistet ist.« 226 »Äh, im letzten Brief, den ich von ihm erhalten habe, hieß sie, äh, Streitmacht Schnelle Lanze. Der Name des Kommandanten war Williams.« Wieder konsultierte sie die Datenbanken. »Tut mir leid. Vielleicht haben Sie sich den Namen der Einheit nicht richtig gemerkt. In diesem Fall sollten Sie sich im Militärarchiv der Konföderation erkundigen, sobald Sie auf Centrum eingetroffen sind.« »So ein Mistkerl«, sagte Garvin, als sich die Luke der Big Bertha öffnete und sie die Helme abnahmen. »Das kannst du laut sagen«, bestätigte Njangu. »Ich glaube, wir brauchen jetzt einen Drink.« »Mehrere. Und hol Froude und Ristori dazu, damit uns ein paar kluge Köpfe beim Saufen und beim Nachdenken zur Seite stehen.« »Ich habe einige sehr interessante und sehr vorsichtige Theorien entwickelt«, sagte Froude. »Und Sie, Jabish?« »Ich würde meine nicht so sehr als interessant, sondern eher als erstaunlich, grotesk oder absurd bezeichnen«, antwortete Ristori. »Vielleicht sollte ich diesen schönen Fruchtsaft aus unserer eigenen Maschinenraumabfüllung lieber zurückkippen.« »Nichts da«, meinte Njangu. »Ich möchte, dass Sie dabei sind. Was Sie sich ausgedacht haben, kann nicht verrückter sein als das, was Garvin und mir durch den Kopf geht.« »Dann sprechen Sie zu uns, Prinzipal Jaansma«, forderte Froude. »Sie sind der Oberbefehlshaber, also sollen Sie sich als Erster mit Ihren Theorien lächerlich machen.« »Gut«, sagte Garvin. »Es geht um diese Krisensituation, 226 von der Romolo gesprochen hat. Ich vermute, dass es die Unruhen waren, von denen wir hörten, als wir uns im Zuge unserer Rekrutierung auf Centrum aufgehalten haben.« »Könnte sein«, räumte Njangu ein. »Vielleicht war es aber auch eine schwerere Krise. Zum Beispiel eine richtige Revolte. Oder Aufstände, die nicht mehr aufhörten.« Froude sah Ristori an, und beide nickten in zaghafter Übereinstimmung. »Als dann alles zusammenbrach, ist es offenbar richtig zusammengebrochen«, fuhr Njangu fort. »Ich habe keine Ahnung, was diese idiotische
Volkskonföderation oder dieses Volksparlament sein soll. Aber der Umstand, dass viele Daten verloren gingen, lässt mich Böses ahnen, wenn ich mir vorzustellen versuche, was wirklich geschehen sein könnte.« Er wich sorgsam den Blicken der anderen aus, als er weitersprach. »Es könnte sein, dass jemand in dieser Krisensituation das Militärarchiv in die Luft gejagt hat.« »Eine äußerst spekulative These«, sagte Ristori. »Außerdem«, warf Garvin ein, »gibt es immer Sicherheitskopien.« »Ja«, sagte Njangu. »Aber lassen Sie mich die Sache noch etwas weiter treiben. Als die zentralen Daten vernichtet wurden ‐ was durchaus ein Mob getan haben könnte, der einige Male von Leuten in Uniform beschossen wurde —, ging vielleicht der Zugang zu den Kopien verloren, weil sie sich entweder auf anderen Planeten befanden oder es niemanden mehr gab, der wusste, wo sie auf dieser Welt zu finden sind. Es muss auf jeden Fall etwas Gravierendes passiert sein, wenn sie nicht mehr den geringsten Hinweis auf die Existenz von Cumbre haben...« 227 »Und wenn die Daten über Grimaldi seit ein paar hundert Jahren veraltet sind«, gab Garvin zu bedenken. »Wie zum Henker konnten sie einfach ein paar tausend Infantristen vergessen, die in der Streitmacht Schnelle Lanze Dienst getan haben?«, fügte Njangu hinzu. »Damit nicht genug«, sagte Froude, auch wenn Ristori sich das Kinn rieb und den Kopf schüttelte. »Warum haben sie nie jemanden losgeschickt, um wieder in Kontakt zu den Stützpunkten zu treten?« »Ich gebe Ihnen die einfache Antwort«, verkündete Njangu. »Und anschließend die schwierige. Die einfache lautet: Als alles auf Centrum knietief in der Scheiße versank, war jeder, der etwas zu sagen hatte, damit beschäftigt, seinen Arsch hinter die Reihen der Erschießungskommandos zu bringen, statt davor zu geraten. Denken Sie darüber nach, Danfin. Jeder, den wir kennen und der von einer der Konföderationswelten stammt und der sich für Politik interessiert hat, sagte, er oder sie wäre über einen langen Zeitraum irgendwie ignoriert worden, bevor alles zusammenbrach. Auf manchen Welten ist es fünf Jahre her, auf anderen zwanzig, auf einigen sogar noch länger.« »Stimmt.« Froude nickte. »Ich erinnere mich, dass ich versucht habe, mit Kollegen in anderen Systemen zu kommunizieren, die interessante Aufsätze verfasst hatten, aber ich bekam nie Kontakt.« »Mir ging es genauso«, fügte Ristori hinzu. »Sogar schon, bevor ich auf die Piste gegangen bin. Auf den Kongressen, an denen ich teilnahm, bevor meine Langeweile ausbrach, wurde ständig darüber geklagt, dass ganze Abschnitte der Konföderation unerreichbar geworden seien und es keinen Zugang zu wertvollen, langfristigen soziologischen Studien mehr gebe.« 227 Njangu nickte selbstgefällig. »Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Sobald ich ausgetrunken habe, was noch in meinem Glas ist, nehmen Sie Jaansma
bitte die Karaffe weg und besorgen Sie mir noch etwas von diesem kalten Tee.« Also tat Njangu, was er angekündigt hatte, nahm einen tiefen Schluck und kehrte dann zu seinem Stuhl zurück, auf dem er sich lässig zurücklehnte. »Als ich noch sehr, sehr klein war«, sagte er, »gab es da diese Gruppe von Ausreißern eine Straßenecke weiter. Ich war viel zu jung, um mich ihnen anschließen zu können, was gut so war, weil sie kurz darauf von den Bullen ge‐ schnappt und in die Konditionierung geschickt wurden, womit dieses Kapitel erledigt war. Auf jeden Fall waren sie ziemliche Idioten, weil sie die Leute in ihrer Umgebung bestohlen haben, was zwangsläufig dazu führen musste, dass irgendwer sie irgendwann verpfiff. Und genau das passierte dann auch. Ich lebte damals in einem Teil der Welt mit der höchsten Scheißarmut, wo sich niemand vernünftige Sicherheitsanlagen leisten konnte. Trotzdem wollte keiner von der Arbeit oder einem schweren Tag der selbstständigen kriminellen Existenz nach Hause kommen und feststellen, dass seine Wohnung restlos geplündert worden war. Also fingen die Leute an, Eisenstangen einzubauen. Über den Fenstern, über den Türen. Natürlich kann man sich ohne allzu große Schwierigkeiten durch Eisen schneiden, aber das braucht Zeit und Mühe, und davon wollen Diebe in der Regel nicht allzu viel investieren. Damit komme ich allmählich zur Pointe dieser Geschichte. Es gab da nämlich diesen Mann, der zwei Häuser weiter wohnte und dessen Frau ihn mit zwei Kindern sitzen gelassen hatte. Eines Nachts brannte es in seiner Wohnung, 228 und all seine Eisenstangen waren fest montiert und verriegelt. Ich vermute, dass er in der Hektik die Schlüssel nicht so schnell wiedergefunden hat.« »Der Mann ist verbrannt?« »Zu einem Häufchen Asche«, sagte Njangu. »Genau wie die Kinder.« Garvin begriff als Erster, was er damit sagen wollte. »All die verdammten Sicherheitssysteme, die wir anpiepen und mit Kodes füttern mussten, um durchzukommen, sind genauso wie diese Eisenstangen?« »Genauso«, bekräftigte Njangu. »Die beschissene Konföderation hat sich in einer Festung verschanzt und dann vergessen, wie sie wieder rauskommt. Deshalb war Romolo ‐ und der Offizier aus dem Inspektionsteam ‐ so neugierig, ob wir irgendwelche Schwierigkeiten hatten, ins Capella‐System vorzustoßen. Deshalb will er sich die Logbücher ansehen, die ich fälschen werde, sobald ich meinen morgigen Kater auskuriert habe.« »Das ist... nun ja, zumindest nicht unmöglich«, sagte Froude. »Und es könnte gut sein, dass die Kodes verloren gingen. Aber hätten sie dann nicht probiert, sehr vorsichtig einen Weg nach draußen zu suchen?« »Warum sollten sie das tun? Sie hatten hier zu Hause genügend Probleme. Und was die Leute auf der Außenseite betrifft: Was meinen Sie, wie viele Schiffe
verschwinden müssen ‐ von diesen verdammten Robotern in Stücke geschossen ‐ , bis die Leute es nicht mehr probieren?« Garvin vollzog Njangus Gedankengang nach und goss sich einen neuen Drink ein. »Ich schätze«, sagte er langsam, »wenn das die Erklärung ist ‐ oder auch nur ein Teil der Erklärung ‐, dann dürfte es auf Centrum verdammt interessant werden.« 229 »Und vor allem potenziell tödlich«, setzte Yoshitaro hinzu.
28 Der Lotse war eine verhutzelte Frau namens Chokio, die sehr weise Augen hatte. Liskeard sagte ihr, dass die Big Bertha keine allzu große Schwerkraftbelastung vertrage ‐was eine Lüge war ‐ und es ihm lieber wäre, wenn sie einen netten, ruhigen Landekurs einschlagen würden, der sie nicht zu schnell zur Planetenoberfläche brachte. »Klar, Käptʹn«, sagte sie. »So könnse auch viel besser den Blick auf Centrum genießen. Wamse schon mal hier?« »Nein«, sagte Liskeard wahrheitsgemäß. Garvin kam auf die Brücke, hörte ihre Frage und schüttelte nicht wahrheitsgemäß den Kopf. Außerdem fand er, dass ein Blitzbesuch als frischgebackener Rekrut in den hintersten Reihen sowieso nicht zählte. »Dann bekommse jetzt ʹn Eindruck vom verlornen Ruhm Roms. Wie so was total den Bach...« Sie riss sich zusammen, »ʹtschuldigung. Ich meinte, wie sich so was in kwasi null Komma nix ändern kann.« Während sie sich dem Planeten näherten, grinste sie und sagte zu Liskeard, dass er einen Bildschirm auf einen bestimmten Koordinatensatz ausrichten solle. Auf dem Monitor erschien eine lange Reihe von Sternenschiffen, die ziellos im Orbit dahintrieben und durch kilometerlange Kabel miteinander verbunden waren. »Die Konföderationsflotte... beziehungsweise das, was 229 nicht am Boden war und reingerissen wurde, als alles... sich veränderte. Oder die Schiffe, die draußen waren und nie mehr zurückkehrten. Oder die anschließend abgehauen und nie wiedergekommen sind.« »Wie war es, als sich, wie Sie es formuliert haben, alles veränderte?«, fragte Garvin. »Es war Scheiße für jeden, der ʹne Uniform anhatte, egal, ob Soldat oder Postbote«, knurrte Chokio. »Ich war verdammt froh, aufm Mond zu sein, als Mädchen in der Rangierkolonne. Meine Freunde aufm Planeten meinten, dass es da unten ziemlich übel abging. Nicht dass der Ärger unbegründet war«, fügte sie hastig hinzu. »Die verdammten Konföderationsbürokraten und ihre Schläger hatten die Leute viel zu lange herumgeschubst. Also hatten die Leute irgendwann genug und ließen ihre Wut an allem und jedem aus. Manchmal
erwischten sie die Richtigen, und manchmal...« Sie zuckte mit den Schultern und tat, als würde sie aufmerksam einen Bildschirm beobachten, während die Big Bertha in die Atmosphäre eintrat. »Hätte mir fast gewünscht, Ihr Schiff war eine von den älteren Kisten«, fuhr Chokio dann fort. »Mit so dünner Hülle, dass man die Luft pfeifen hört, und mit so miserablen Wärmetauschern, dass die Wände rot glühen. So war es in den Zeiten, als die Raumfahrt noch was Romantisches hatte. Hab so ʹne Kiste vor nicht allzu langer Zeit nach Centrum dirigiert. War so ʹne Art altes Erkundungsschiff, und ich glaube, sie dachten, es hätte Konföderationsdokumen‐ te oder so was an Bord. Hab dann aber nix mehr davon gehört.« Die Big Bertha schwenkte in den ersten Orbit und ging langsam tiefer. Vor jedem Bildschirm und jedem Bullauge drängten sich Leute, und während sich die Höhe verrin 230 gerte, wurde immer deutlicher sichtbar, was sich »verändert« hatte. Centrum war einst eine sorgfältig geplante Welt gewesen, mit riesigen Inseln aus Wohnkomplexen in der Nähe von Gebäuden, deren graue Hässlichkeit nur bedeuten konnte, dass sie Verwaltungszwecken dienten. Dazwischen erstreckten sich Seen und Grüngürtel. In einer isolierten Kabine verglichen Njangu und seine Geheimdienstleute die aktuellen Bilder mit der Karte von Centrum, die sie auf Tiborg Alpha Delta von Kuprin Freron gekauft hatten. »Sehnse die Parks da unten?«, fragte Chokio. »Sind jetzt ziemlich kaputt. Natürlich wurden die nicht nur zum Rumlaufen und Ballspielen angelegt. Die sollten C02 recyceln, damit die Leute atmen können. Als da unten alles auseinandergerissen wurde und die Leute irgendwann merkten, dass die Heizungen nicht mehr funktionierten, sind einige der Idioten mit Sägen in die Parks gegangen und haben sich selbst geholfen. Niemand wollte auf die paar hören, die ihnen was von Sauerstoffregeneration erzählten. Man hat sie für Wichtigtuer gehalten, die wahrscheinlich zur alten Ordnung gehörten, und sich gedacht, dass sie prima Zielscheiben abgeben. Schließlich musste der Befehl an die Volksmiliz ausgegeben werden, dass es ein Schwerverbrechen ist, einen Baum zu fällen. Natürlich hatte niemand die Absicht, den Bürgern erst dann zu erlauben, sich fortzupflanzen, wenn wir alle an abwechselnden Tagen atmen. Nee, alles Wissenschaftliche war Teil der alten Phisolo... Philosophie.« Sie schüttelte den Kopf und sagte beinahe flüsternd: »Die Leute scheinen immer wieder ganz wild drauf zu sein, sich wie die schlimmsten Idioten zu verhalten.« 230 Liskeard antwortete nicht, während sich die Big Bertha weiter der Oberfläche näherte und eine große ausgebrannte Ruine überflog. »Das war mal das Hauptquartier der Polizeitruppen, die gegen die Aufständischen eingesetzt wurden. Baracken, Arrestzellen, Landeplattform auf dem Dach. Es brannte wie ʹne Fackel, schon am ersten Tag der Revolte. Hab
gehört, dass in dieser Nacht keiner von ihnen durchgekommen ist, was zumindest eine gute Sache war, die die Veränderung gebracht hat, aber ich glaube, ich rede schon wieder viel zu viel. Hab nur den Befehl, Sie auf den Hauptraumhafen runterzubringen. Ich schätze, alle, die diese Woche Machthaber sind, würden sich gerne mal einen Zirkus ansehen. Scheiße, ich bin selber neugierig. Ich hoffe nur, dass die Mobilen einen Zirkus zulassen, damit alles glattläuft.« »Wer sind die Mobilen?«, fragte Garvin. »Die Mobilisierungspartei. Sind im Moment die Speerspitze der Veränderung, oder zumindest sagen sie jedem, dass sie es sind, und scheinen auch selbst daran zu glauben. Sie ‐ und ihr Führer ‐ sorgen dafür, dass sich alles in die richtige Richtung bewegt.« »Wer führt sie?«, fragte Garvin. »Könnte eine gute Idee sein, auf seiner Seite zu stehen.« »Das ändert sich, wie man so sagt«, antwortete Chokio. »Andererseits ändern sich die Dinge sowieso ständig. Vor einem Jahr oder so hätte ich von der Freiheitspartei und Abia Cornovil erzählt, die immer an neuen Dingen inte‐ ressiert waren. Jetzt sind es die Mobilen. Und nächstes Jahr...« Sie zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Egal. Der derzeitige Führer der Mobilen heißt jedenfalls Fove Gadu. Er ist einer von den Leuten, die besser als man 231 selbst wissen, was gut für einen ist. Und es macht ihm nichts aus, ein paar Kehlen durchzuschneiden oder jedem eine tödliche Injektion zu geben, der nicht seiner Meinung ist.« Abia Cornovil war ein großer Mann mittleren Alters mit natürlicher Muskulatur, auch wenn er bereits etwas in die Breite ging. Er kleidete sich einfach und hatte sein glattes Haar fast schulterlang wachsen lassen. Wenn dieser Planet nicht Centrum gewesen wäre, hätte Garvin ihn für einen ehemaligen Farmer gehalten. Später erfuhr er, dass Cornovil früher Statistiker gewesen war, aber die Vertrautheit mit Schaufel und Hacke konnte nicht allzu viele Generationen zurückliegen, da er derjenige gewesen war, der dafür gesorgt hatte, dass die Parks nicht weiter abgeholzt wurden. Seltsamerweise besaß er seit seiner Kindheit eine ungesunde Haut, etwas, das er nie hatte korrigieren lassen ‐und das auf einem Planeten, der schon immer die besten kosmetischen Chirurgen gehabt hatte. Seine Stimme war so kräftig wie seine körperliche Präsenz, und sein schallendes Lachen war im ganzen Schiff zu hören. Cornovil hatte darauf bestanden, jeden zu sehen und sich mit jedem persönlich zu treffen, und war von jedem Detail fasziniert, von der Frage, wie Pferde im N‐ Raum zurechtkamen, bis zum Thema, wie Sir Douglas die stinkende Katzenscheiße recycelte.
Er schien nicht mehr als ein fröhlicher Bauerntrampel zu sein, und sowohl Yoshitaro als auch Froude mussten sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass dieser Mann seit fast einer Generation die anarchistische Revolution 232 angeführt hatte und dass viel mehr in ihm stecken musste, als es den Anschein hatte. Cornovil wollte unbedingt mit Garvin und seinem Stab einen trinken. Jaansma ließ sich zu der Gemeinheit hinreißen, ihm die Brühe zu servieren, die in ihrem eigenen Maschinenraum durch dreifache Destillierung hergestellt wurde. Der Gast wurde etwas rot im Gesicht, schaffte es aber, nicht zu husten. »Bei den großen Göttern«, sagte er. »Kein Wunder, dass Sie so wild darauf sind, endlich den Weltraum zu verlassen. Wird dieses Zeug bei höherem Alter besser?« »Bei seinem oder Ihrem?«, fragte Froude zurück. »Ich habe mich fast daran gewöhnt, es zu mögen.« »Ich werde Ihnen etwas Brandy schicken, der von der Zweiten Welt importiert wurde«, versprach Cornovil. »Wenn Sie von sich behaupten, dass Sie die Mobilen zum Lachen bringen, ist es unmöglich, dass Sie sich auf diese Weise vergiften.« »Ich hätte eine Frage«, sagte Froude. »Jemand hat angedeutet, dass diese Mobilisierungspartei sehr viel Macht besitzt. Wie funktioniert diese Volkskonföderation eigentlich genau? Politisch, meine ich.« »Um ganz offen zu sein«, begann Cornovil, »daran arbeiten wir noch. Genauso, wie wir erst noch austüfteln müssen, auf welche Weise wir das Versprechen der Konföderation einlösen wollen, für Frieden und freien Handel in den anderen Systemen zu sorgen. Wir haben ein Parlament der Tausend, das angeblich vom Volk gewählt wird. Jeder kann im jährlich stattfindenden Wahlkampf antreten, bei dem es um ein Drittel der Sitze geht; eine einfache Mehrheit sichert einem das Man 232 dat. Aber in Wirklichkeit gibt es etwa ein Dutzend Parteien. Da die Mobilen im Moment die stärkste Fraktion bilden, ist man gut beraten, ihre Ansichten zu unterstützen, wenn man eine Chance bei den Wahlen haben möchte. Meine eigene Partei, die Freiheitsliga, kann sich zumindest im Parlament behaupten. Andere« ‐ er zuckte mit den Schultern ‐ »kommen und gehen. Manchmal müssen sie gehen, wenn man herausfindet, dass sie insgeheim die alte Konföderation unterstützen.« »Wie werden die Wahlen durchgeführt?«, fragte Njangu. Cornovil warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Das ist eine ziemlich komplizierte Frage für jemanden, der so jung ist wie Sie«, sagte er. »Wozu braucht ein Zirkus einen politischen Experten?«
»Es ist schwierig, wenn man ein Dutzend Welten pro Jahr besucht und sich mit allen gut stellen will«, erklärte Froude, um Njangu aus der Patsche zu helfen. »Da muss man sich zwangsläufig für Politik interessieren.« »Aha«, sagte Cornovil. »Die Wahlen werden nach Ihren Begriffen vermutlich etwas nachlässig durchgeführt. Bei den letzten drei Wahlen gab es sogar mehrere Anklagen wegen Betrugs.« Wieder zuckte er mit den Schultern. »Bedauerlicherweise richteten sich all diese Vorwürfe gegen die Mobilisierungspartei, die als derzeit aktivste und militanteste Fraktion recht heftig reagierte. Äußerst heftig.« Njangu hielt es für ratsam, das Thema nicht weiter zu vertiefen, vor allem, als Cornovil ihm einen eisigen Blick zuwarf und Yoshitaro wieder dieses leichte Schimmern bemerkte, das er immer wieder in den Augen mächtiger Männer gesehen hatte, die ihre Macht ohne Gefühl für Ehrlichkeit oder Gerechtigkeit errungen hatten. 233 Doch drei Tage später trafen wie versprochen zwei Fässer Brandy ein. Ein Mann mit einer schwarzen Schärpe, die ihn als Offizier der Volksmiliz auswies, informierte Garvin, dass der Zirkus die Genehmigung erhalten hatte, im Zentralstadion seine Zelte aufzuschlagen, sowohl zu Unterkunfts‐ als auch zu Aufführungszwecken, und dass er bereit war, sie dorthin zu eskortieren. »Das alles gefällt mir überhaupt nicht«, sagte Garvin zu Njangu. »Mir auch nicht«, pflichtete Yoshitaro ihm bei. »Der Boden hier fühlt sich zu unsicher an, und ich rate dringend an, in der Nähe des Schiffes zu bleiben. Siehst du eine Möglichkeit, wie wir ganz schnell aus dieser Sache rauskommen?« »Nein.« »Dann lassen wir die Truppe einmarschieren. Aber wir sollten jedem, der eingeweiht ist, eine Waffe in die Hand drücken. Und wir werden die Big Bertha startbereit halten. Außerdem könnten wir ein wenig beten, falls du dich zufällig an den Namen irgendeines guten Gottes erinnerst.« Der Zirkus mit den Elefanten, Katzen, Pferden, Clowns, Liliputanern und Akrobaten strömte zum Zentralstadion. Die Gehwege auf beiden Seiten der Straße waren voller Menschen. Aber Garvin kam einfach nicht zu ihnen durch. An einigen Streckenabschnitten schwiegen die Leute und starrten den Zug beinahe feindselig an, an anderen jubelten sie wie verrückt. Er entschied, die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen. Es tröstete ihn nicht sehr zu wissen, dass die »Beutelta 233 schen«, die Ladefächer im Bauch der Gleiter, mit Waffen vollgepackt waren. Die Route war in aller Eile mit Plakaten gepflastert worden, die für den Zirkus Jaansma warben. Garvin bemerkte amüsiert, dass alle Plakate an einem bestimmten Gebäude verkehrt herum angebracht waren.
Dafür musste jemand aus der Aufklärungstruppe verantwortlich sein, der sich intensiver mit Zirkustraditionen beschäftigt hatte. Auf diese Weise wurden die letzten Vorstellungen der Saison angekündigt, bevor sich der Zirkus ins Winterquartier zurückzog. Cumbre. Garvin fragte sich, ob sie es jemals nach Hause schaffen würden. Sie erreichten das Zentralstadion. Das Beste an diesem Gebäude war, dass es riesige Ausmaße hatte und genügend Platz für drei oder vier Zirkusse bot. Fleam, der Zeltmeister, lief in der Arena emsig hin und her, murmelte sich was in den Bart und versuchte zu entscheiden, wo was aufgebaut werden sollte, gefolgt von leicht genervten Arbeitern. Andere erkundeten die oberen Stockwerke und fanden Quartiere, in denen sich alle Angehörigen des Zirkus unterbringen ließen. Das Stadion roch nach Verfall und Vernachlässigung, und alle, sowohl die Menschen als auch die Tiere, fühlten sich hier unwohl. Aber sie hatten keine Alternative. »Ich werde auf jeden Fall versuchen, zu Ihrer Eröffnungsshow am heutigen Abend anwesend zu sein«, sagte Fove Gadu zu Garvin und seinem Stab. 234 Wenn Abia Cornovil ein leicht größenwahnsinniges Schimmern in den Augen hatte, dann war es bei Gadu ein helles Strahlen. Er war mager, sein Haar zerzaust, und er hatte hier und dort eine Stelle übersehen, als er sich das letzte Mal enthaart hatte. Seine Kleidung war mittelmäßig sauber, und es schien, als hätte er während der letzten ein oder zwei Tage nicht gebadet. »Wie ich hörte, hat Abia Cornovil Sie besucht«, sagte Gadu in betont beläufigem Tonfall. »Welchen Eindruck hatten Sie von ihm?« »Ich glaube, er trägt eine Menge Verantwortung«, sagte Garvin. »Aber er war nicht lange genug hier, damit ich mir eine genauere Meinung bilden konnte.« »Verstehe«, sagte Gadu. »Er hat also nicht erwähnt, welchen Platz er Ihnen auf Centrum zuweisen möchte?« »Nein. Außer dass er sich unsere Vorstellung ansehen will und sehr neugierig darauf ist, einen Rundgang durch den Zirkus zu machen.« »Aha? Und sonstige Bemerkungen?« »Er hat seine Anerkennung zum Ausdruck gebracht.« Gadu wechselte das Thema und stellte viele Fragen über den Flug der Big Bertha nach Centrum. Es wurde klar, dass er sehr gut über die selbst auferlegte Blockade Capellas Bescheid wusste. Als er schließlich genug gehört hatte, ver‐ kniff er die Lippen zu einem Ausdruck, den er vermutlich für ein Lächeln hielt, und ging. »Puh!«, sagte Garvin. »Cornovil hat mir eine Gänsehaut verursacht, aber bei diesem Typ habe ich das Gefühl, dass mir der Schwanz abfällt.« »Meiner ist nur geschrumpft und hat sich um meinen Hintern gewickelt«, erwiderte Njangu. »Wie hast du es empfunden, Monique?«
235 »Er hat mich an zwei Kerle erinnert, die mir in den letzten Jahren über den Weg gelaufen sind«, sagte Lir. »Zum Glück sind beide nicht mehr am Leben.« »Wie sind sie zu Tode gekommen?« Lir antwortete nicht, sondern lächelte nur. Darod Montagna sprang mit einem Salto rückwärts vom Pferd, als sie durch den Ausgang kam, und landete mühelos auf den Füßen. Rudy Kwiek, dessen Verletzungen noch nicht verheilt waren, humpelte zu ihr. »Nun?«, fragte er. »Nun was?«, fragte Darod zurück. »Welchen Eindruck haben Sie vom Publikum? Ich komme nicht nahe genug ran, um mir sicher sein zu können.« Darod erschauderte und schlang die Arme um den Oberkörper ‐ aber nicht, weil ihr kalt war. »Ich kann sie nicht einschätzen«, sagte sie langsam. »Ein Teil jubelt wie die Wahnsinnigen, und andere schauen mich an, als wollten sie mir eine Bombe in die Hose stecken.« »Das gefällt mir nicht«, urteilte Kwiek. »Sopi Midt hat gesagt, dass die Geschäfte im Rummel nur kleckernd laufen. Glücksspielbuden gehen ganz gut, aber niemand interessiert sich für die Spiele, bei denen es Stofftiere zu gewinnen gibt.« »Vielleicht haben die Privaten herausgefunden, wie sehr alles getürkt ist.« Darod wurde sich bewusst, wie mühelos sie sich an den Zirkusjargon gewöhnt hatte. Kwiek schnaufte. »Ein Gadscho, der einen Schmu durchschaut? Die wissen doch gar nix, sonst wären sie keine Gadschi, oder?« »So könnte man es auch formulieren.« 235 »Ich würde es nur so formulieren, dass wir uns verdammt glücklich schätzen können, wenn wir es nach Hause schaffen, ohne ernsthaft in die Klemme zu kommen«, sagte Kwiek. »Sie sollten lieber zusehen, dass Sie auf sich selbst aufpassen können.« »Das tue ich immer«, sagte Montagna. »Aber nicht mit dieser Wuchtbrumme, mit der Sie mir das Leben gerettet haben«, sagte Kwiek. Er kramte in einer Tasche seiner ausgebeulten Hose und zog eine kleine Pistole hervor. »Hier. Midt ist auf eine Quelle gestoßen. Zwanzig Credits. Sie verschießen Projektile, bei denen ich mich frage, aus welchem Museum sie stammen. Stecken Sie sie ein. Ein Geschenk für jemanden, der in dreißig oder vierzig Jahren vielleicht eine gute Reiterin sein wird.« »Und wo genau soll ich dieses kleine Spielzeug verstauen?«, fragte Montagna grinsend und vollführte eine Pirouette. Ihr Kostüm ließ nicht einmal genügend Platz, um ein Taschenmesser zu verstecken.
»Sie werden schon eine Stelle finden, Darod«, sagte Kwiek. »Ich weiß, ich spüre es in meinen Knochen, dass es bald Schwierigkeiten gibt. Und man wird sie nicht mit Stöcken und Steinen austragen.«
29 Der Kriegsrat in der nahezu verlassenen Big Bertha war diesmal besonders deprimierend und schloss zwei neue Mitglieder ein: Chaka und Liskeard. Da sie nicht genau wussten, warum sie eingeladen worden waren, hielten sie 236 sich im Hintergrund der kleinen Gruppe, die ansonsten aus Garvin, Njangu, Lir, Froude und Ristori bestand. Garvin machte einen sehr müden Eindruck. »Gut. Bringen wir es möglichst schnell hinter uns. Wir haben morgen eine weitere Vorstellung, und ich möchte, dass sich niemand wundert, wo wir stehen. Wir sind vor fast einem Jahr losgedüst, um nachzusehen, was aus der Konföderation geworden ist, in der Hoffnung, es würde sich um ein einfaches Problem handeln, das wir mit einer Bandage beheben können, worauf die Angelegenheit wieder ungefähr so wie zuvor läuft. Aber nun haben wir in ein ziemlich übles Wespennest gestochen.« Er nickte Njangu zu und übergab ihm damit das Wort. »Wahrscheinlich hätten wir von Anfang an davon ausgehen sollen, dass die Konföderation nicht nur ein verdammtes Problem hat. Das Erste, was wir erfahren haben, war, dass die Konföderation in den letzten zwanzig Jahren oder so zugelassen hat, immer wieder den Kontakt zu größeren Brocken aus dem Kuchen zu verlieren. Soldaten wurden hierhin und dorthin geschickt, wie man es mit unserer Legion gemacht hat, und Typen wie die Protektoratisten haben schließlich ihr eigenes Süppchen gekocht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Einheiten noch irgendwie von der Konföderation kontrolliert wurden, um das Offensichtliche auszusprechen. Also muss die Konföderation schon seit längerer Zeit auseinandergebrochen sein, viel länger, als irgendwer zuzugeben bereit ist.« Froude und Ristori nickten unglücklich. »Als Garvin und ich hier vor sieben Jahren oder so vorbeikamen, hatte es bereits schwere Unruhen gegeben. Ich vermute, dass sie immer schlimmer wurden, bis es zu einem allgemeinen Zusammenbruch des Systems kam. Und 236 aus den Trümmern erhob sich dann diese wunderbare Volkskonföderation.« Froude stand auf. »Diesen Punkt würde ich gerne etwas ausführen, wenn ich darf. Ich bin ein wenig umhergestreift und habe nach Gelehrten gesucht, die sich während des Zusammenbruchs nicht einen Kopf kürzer machen ließen oder die sich nicht in irgendeinem tiefen Loch versteckt haben.
Ich konnte hier und da etwas aufschnappen. Zu Anfang schienen die Kämpfe spontan ausgebrochen zu sein. Niemand weiß es genau, aber ich vermute, dass ein durchschnittlicher Aufstand aus dem Ruder lief... oder erfolgreich verlief, je nachdem, welchen Standpunkt man einnimmt. Die Polizei, die für Ruhe und Ordnung sorgen sollte, wurde massakriert; dann folgte eine Phase der allgemeinen Anarchie. In dieser Zeit wurden viele Aufzeichnungen der Konföderation mitsamt ihren Hütern vernichtet, darunter auch das Militärarchiv und der komplette Generalstab. Schließlich taten sich einige Leute mit gemeinsamen Interessen zusammen ‐ zum Beispiel Machtgier ‐, und genug andere schlossen sich ihnen an, um sich als Regierung proklamieren zu können. Dann passierte etwas Interessantes. Nachdem diese Partei an die Macht gekommen war, wurde sie konservativ und zog einen Schlussstrich, indem sie sagte, dass es nun genug der Revolution sei. Aber es war noch nicht genug für die Menschen, die die ersten Aufstände angezettelt hatten. Eine neue Partei bildete sich, links von der ersten, und ihre Mitglieder schrien, dass die erste Partei nur Erfüllungsgehilfin der Konföderation sei. Also wurde es Zeit, dass ihre Köpfe rollten. 237 Die Köpfe rollten, und dann war die zweite Partei an der Macht. Und auch sie verkündete, dass es nun genug der Revolution sei. Aber die Menschen auf der Straße ‐ die sich zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch gar nicht organisiert hatten ‐besaßen immer noch keine Macht. Also bildete sich eine dritte Gruppierung. Sie schaltete die vorherige Gruppe aus und hatte für eine Weile das Sagen. Diese Gruppe war übrigens die Freiheitspartei, die von Abia Cornovil, dem einige von Ihnen begegnet sind, geführt wird. Und wieder Unzufriedenheit für die Menschen ganz unten! Sie scharten sich um diesen Fove Gadu, der die Mobilisierungspartei ausgerufen hatte. Interessant daran ist, dass diese sich ursprünglich dafür eingesetzt hat, dass die Volkskonföderation wieder nach den Sternen greift, um ihr Territorium zurückzuerobern. Man schickte ein paar Expeditionen los und stellte fest, dass man von den eigenen Wachsystemen unter Beschuss genommen wurde. Und niemand hatte die Daten, um sie zu entsichern, oder man konnte sie nicht wiederfinden. Also suchte sich die Mobilisierungspartei ein neues Ziel. Wie es scheint, schielen sie jetzt nach der zentralen Manege, und wir sind offenbar kurz vor einem weiteren Staatsstreich eingetroffen.« Er ließ sich erschöpft auf seinen Sitz zurückfallen. »So viel dazu«, sagte Garvin. »Jetzt zu den Fragen: Haben wir eine ungefähre Vorstellung, was geschehen ist?« Nicken und zustimmende Äußerungen. »Genug, um darüber nachzudenken, ob wir diese Erkundungsmission beenden, die zweifellos die längste in der Geschichte war?«
Wieder Zustimmung. 238 »Also können wir jetzt — wenn wir es können — von hier verschwinden, Dant Angara Bericht erstatten und ihn entscheiden lassen, was die Streitmacht als Nächstes tun soll. Denn es ist ‐ zumindest aus meiner Sicht ‐ für diesen nächsten Schritt eine Menge Grübelarbeit nötig, die im Moment meinen geistigen Horizont übersteigt.« »Die erste Frage lautet«, sagte Lir, »wie wir den Kontakt lösen und uns von Centrum entfernen können.« »Ich weiß es nicht.« »Gehen wir einfach davon aus, dass wir es schaffen«, meldete sich Chaka zu Wort. »Dann haben wir es immer noch mit Romolo und seinem Schlachtschiff über Centrum zu tun. Es würde ihm vermutlich nicht gefallen, wenn wir mir nichts, dir nichts einen Abgang machen. Und ich würde sagen, dass wir nicht genug baraka haben, um ihm zu entkommen, geschweige denn ihn auszu‐ schalten.« »Vielleicht ist Allahs Segen dazu gar nicht nötig«, meinte Liskeard. »Ich habe eine Idee, die unsere Chancen erheblich verbessern dürfte. Aber ich habe keinen Schimmer, wie wir den Zirkus retten und abheben könnten, ohne dass überall die Alarmsirenen losgehen.« »Das sehe ich genauso«, sagte Garvin. »Immerhin wurde uns gewissermaßen die Entscheidung aus der Hand genommen, als wir hier gelandet sind, und man hat uns nicht allzu viele Möglichkeiten zum Handeln gelassen.« »Vielleicht bleibt uns keine andere Wahl«, gab Ristori zu bedenken, »als ein paar Verluste hinzunehmen, um etwas an der Situation zu ändern.« »Soldaten nehmen Verluste in Kauf«, sagte Froude, der sich bemühte, nicht die Geduld zu verlieren. »Die meisten Menschen da drüben im Stadion sind Zivilisten.« 238 Ristori antwortete nicht darauf, sondern breitete nur hilflos die Arme aus. »Wir haben schon so ziemlich jede Handwaffe hinüber ins Stadion geschafft«, sagte Lir. »Ich sehe einfach keine Möglichkeit, die Truppe wieder an Bord zu nehmen... nicht einmal, wenn wir die Leute häppchenweise abziehen.« »Und ich weiß verdammt gut«, fügte Njangu niedergeschlagen hinzu, »dass keiner der Tiertrainer auch nur im Traum daran denken wird, seine Schützlinge im Stich zu lassen, was eine heimliche Aktion noch schwieriger gestalten würde.« »Damit stecken wir genau zwischen Deckel und Abfluss des Klos«, sagte Garvin. »Die Bösen haben den ersten Zug. Alle zusammen. Also gut. Nachdem wir jetzt alle gründlich deprimiert sind, gehen wir auf unsere Posten zurück und warten, bis das Spiel irgendwie eröffnet wird.« »Es gäbe da noch eine Kleinigkeit, die Chaka und ich tun könnten und die uns vielleicht hilft, wenn der Ballon aufsteigt«, sagte Liskeard. »Und das wäre?«
»Es würde damit losgehen, dass wir diesem Möchtegerndiktator Dant Romolo genau das geben, was er möchte, wie er gesagt hat.«
30 Vier Männer hingen in der Leere. Zwischen ihnen hingen zwei Shadow‐ Raketenabwehrraketen, deren hintere Enden in einer gebogenen Kiste steckten, und eine Goddard‐Schiffsabwehrrakete, die eine leichte Wölbung über dem 239 Navigationssystem aufwies. Ein Schweißstift flammte auf, erlosch und flammte erneut auf. »Das warʹs«, sagte der Techniker und steckte den Stift zurück in seine Gürteltasche. »Und das«, sagte Chaka, »ist zweifelsohne das hässlichste Provisorium, das ich jemals gesehen habe oder bei dessen Herstellung ich die Finger im Spiel hatte.« »Seien Sie nicht so bescheiden«, sagte Liskeard. »Ich finde es einfach nur großartig. Vor allem, wenn es tatsächlich funktionieren sollte, was ich bezweifle. Jetzt bewegen wir unsere Ärsche zurück zum Lastkahn und setzen die Mission fort, wie es so schön heißt. Wir haben erst die Hälfte hinter uns.« Aus ihren Raumanzügen schössen weiße Strahlen, und sie drifteten zum Nana‐ Schiff zurück, das in dreißig Metern Entfernung schwebte. Etwa drei Kilometer weiter schwebten die eingemotteten Reste der Konföderationsflotte. Dant Romolo empfing sie persönlich auf der Brücke der Corsica und nahm freudig das Paket entgegen, das sie mitgebracht hatten. »Gibt es noch etwas anderes in Ihrem Datenbestand, das für mich von Nutzen sein könnte?«, fragte er. »Verstehen Sie mich nicht falsch«, antwortete Chaka. »Aber da wir nicht genau wissen, was Sie in unseren Logbüchern suchen, lässt sich das nur sehr schwer beurteilen. Aber Sie haben jetzt alle Daten, die unsere Instrumente normalerweise sammeln und aufzeichnen.« »Gut«, sagte Romolo. »Ich bin überzeugt, dass es von großem Nutzen für mich ist... und für die Volkskonföderation.« 239 Wieder diese eigenartige, halb spöttische Betonung auf »Volks«. Chaka nickte, versuchte nicht zu salutieren und verließ die Corsica... »Jetzt schauen wir mal, ob wir ihn mit unseren Fälschungen glücklich machen«, sagte er später. »Zumindest werden sie ihn für eine Weile beschäftigen«, erwiderte Liskeard. »Hoffe ich.« »In der Zwischenzeit müssen wir uns um größere Sorgen kümmern. Ich habe vor etwa einer Stunde eine Aufzeichnung von der Big Bertha überspielt bekommen. Dieser Gadu, von dem sie uns erzählt haben, hat sich in ihrem Kongress oder Parlament, oder wie auch immer sie es nennen, zu Wort gemeldet und Abia
Cornovil als Verräter an der Volkskonföderation angeklagt, weil er sich mit Fremdweltlern verbündet haben soll. Da wir die einzigen Fremden sind, die sich hier in letzter Zeit haben blicken lassen, dürfte das bedeuten, dass jetzt die Scheiße über uns ausgekippt wird. Und es gab noch eine weitere Ansprache, eine allgemeine Bekanntmachung, wie es in der Sendung hieß, die morgen ausgestrahlt werden soll. Ich glaube, es wäre besser, wenn wir ganz schnell zurückfliegen, damit wir genau im Fadenkreuz sitzen.«
31 Garvin dachte, dass er von nun an für immer das Gesülze von Politikern mit dem Gestank im Zentralstadion assoziieren würde. 240 Ein Holo wurde in der Garderobe des Stadions aufgestellt, in der sich jeweils zur Hälfte Zirkusleute und Armeeangehörige drängten. Fove Gadu war in einem Raum mit Holztäfelung, altertümlichen Tischen und Stühlen zu sehen. Aber damit hatte sich der Ansatz einer würdevollen Atmosphäre auch schon erschöpft. Gadu tobte, und Garvin schwor, er konnte die Speicheltröpfchen fliegen sehen. »...diese Bestie, dieser Wortbrecher, dieser Mann, der einst der Beste von uns allen war, dieser Verräter Abia Cornovil, der sich verderben ließ und mit den Feinden der Volkskonföderation gemeinsame Sache macht! Meine Kollegen und ich wollten zunächst unseren Augen nicht trauen, als uns die ersten Beweise für seinen Verrat vorgelegt wurden. Demnach sollte das Capella‐System in die Hände von Feinden fallen, verzweifelten Tieren und Aliens, die den jahrhundertealten Glauben der Bürger der Konföderation zerstören wollten! Aber die Beweise waren unwiderlegbar, und mit großer Sorge, aber gleichzeitig voller Entschlossenheit ordnete gestern Abend ein Notplenum des Parlaments an, dass Abia Cornovil unverzüglich verhaftet wird. Dann sollte er vor uns geführt und durch uns, durch ganz Centrum und alle anderen Welten, verurteilt werden! Bedauerlicherweise fasste Abia Cornovil den Plan, vor unserer Gerechtigkeit zu fliehen. Beim Versuch, ihn aufzuhalten, wurde sein Gleiter zur Landung gezwungen, und beim Absturz kam er ums Leben! So sollte es allen Feinden von Centrum ergehen! Aber unsere Arbeit ist noch nicht erledigt. Denn diese Fremden halten sich weiterhin im Herzen von Centrum auf, und niemand weiß, welchen Schaden sie in diesem 240 Moment anrichten, welchen Schaden sie bereits angerichtet haben, um ihre heimtückischen...« »Es reicht!«, sagte Lir und schlug auf den Ausschalter.
»Ja«, sagte Garvin und erhob sich. »Ihr habt gehört, was dieses Arschloch gesagt hat. Sie wollen uns an den Kragen. Aber wir werden sie enttäuschen.«
32 Es dauerte nur ein paar Stunden, bis die Mobilen auf der Bildfläche erschienen. Während die Zirkusleute warteten, blockierten sie alle Ausgänge, die es gab, obwohl Garvin sich nicht sicher war, ob sie alle gefunden hatten. Gleichzeitig gingen die Legionäre auf Kampfposition. Garvin und Njangu beobachteten, wie sich die Zugangsstraßen zum Stadion allmählich füllten, sich die Menge langsam auf das Stadion und die leeren Rummelbuden zuschob, während sie verschiedene Sprechgesänge intonierte. Garvin schaltete das Lautsprechersystem des Stadions ein, das seine Worte auch nach draußen übertrug. »Achtung! Dieses Gebäude wird gegen jeden verteidigt, der einzudringen versucht. Kommen Sie nicht näher, sonst drohen Ihnen Verletzungen oder Schlimmeres! Ich wiederhole: Kommen Sie nicht näher!« Die Menge zögerte. Garvin wollte gerade eine weitere Warnung ausgeben, als irgendwo in einem Gebäude an der Straße fast gleichzeitig vier Blaster feuerten und die Lautsprecher mit einem letzten Knacken verstummen ließen. 241 »Kein schlechter Schuss für wilde Revoluzzer«, stellte Njangu fest. »In der Tat«, stimmte Garvin ihm zu. »Wie viel willst du wetten, dass da draußen ein paar Leute aus der Volksmiliz stationiert sind?« »Ha! Ich habe etwas Besseres vor, als mich von Revolutionären massakrieren zu lassen«, rief Yoshitaro. An Bord der Big Bertha fluchten die Waffentechniker, als sie die Raketengeschütze von den drei Aksai abmontierten und sie durch MG‐Kuppeln ersetzten. »Lasst an jedem Vogel ein paar Raubwürger hängen«, riet ihr vorgesetzter Offizier. »Unsere Freunde von Centrum könnten da draußen als Überraschung ein Patrouillenschiff aufgefahren haben.« Auf der Brücke sah sich Liskeard erneut eine Projektion des Stadions an und fluchte. Die Leute würden selber sehen müssen, wie sie herauskamen. Der nächstmögliche Landepunkt lag mindestens fünf Blocks vom Stadion entfernt, in einem winzigen Park, der seiner Einschätzung nach gerade groß genug war, dass sein Schiff darin aufsetzen konnte. Oder gab es eine andere Möglichkeit? Er suchte die Umgebung Zentimeter um Zentimeter ab. Nur einen Block entfernt gab es ein niedergebranntes Gebäude, aber die Ruinen ragten wie gierige Krallen in den Himmel, und er wollte es nicht riskieren, auf diesem Trümmerhaufen zu landen. »Wir sitzen hier fest«, murmelte er. »Es ist hoffnungslos. Scheißhoffnungslos.« Aber er starrte weiter auf das Holo dieses Gebäudes. 241
Drei Salven schlugen in das Stadion, abgefeuert von Schützen in der vordersten Reihe der Mobilen, die hinter dem zerstörten Rummel in Deckung gegangen waren. Darod Montagna hatte ein Fenster eingeschlagen und ihr Scharf‐ schützengewehr auf einem Tisch aufgebaut, weit genug im Inneren des Raumes, um sich nicht durch Lichtspiegelungen auf Metallteilen zu verraten. Sie sah jemanden mit einem Blaster und erschoss den Mann... nein, dachte sie, es war eine Frau. Dann suchte i sie nach einem weiteren Ziel. »Weißt du«, sagte Ben Dill nachdenklich zu Kekri Katun, »es besteht immer die Chance, dass Ben nicht in der Lage sein wird, alle anderen herauszuhauen. Vor allem, wenn ich in diesem gottverdammten Zementmausoleum festsitze, statt in meinem Aksai rumzudüsen.« »Hör auf, mich zu frustrieren«, sagte Katun. Sie hielt einen Blaster in den Armen. »Tu ich doch gar nicht«, sagte Ben. »Ich bin nur realistisch. Und... und, nun ja, ich wollte, dass du weißt, falls irgendwas passiert, dass ich dich, nun ja, irgendwie liebe.« »Irgendwie?« »ʹtschuldigung. Ich liebe dich.« Katun sah ihn lächelnd an. »Und ich liebe dich!« Ben beugte sich herüber und küsste sie. Dann sah er sie verdutzt an. »Weißt du, ich kann mich nicht daran erinnern, dass das schon mal jemand zu mir gesagt hat. Zumindest nicht in letzter Zeit.« Kekri flüsterte ihm etwas ins Ohr, und Dill riss die Augen auf. 242 »Und ich kann mich auch nicht erinnern, dass jemand schon mal zu mir gesagt hat, dass jemand möchte, dass ich so etwas mit jemandem mache!« »Dann bleib in meiner Nähe, Großer«, sagte Katun. »Es gibt noch viele Sachen, die du noch nie gemacht hast.« »Vielleicht ist das der beste Anreiz, mich nicht töten zu lassen, den ich jemals hatte.« Njangu und Maev trabten hinunter zur Arena, als die Lautsprecher wieder zum Leben erwachten und der »Friedensmarsch« durch das Stadion hallte. »Ich glaube«, sagte Yoshitaro, »ich werde dieses verdammte Lied schon bald abgrundtief hassen.« Jabish Ristori lag auf dem Bauch und zielte mit einem Blas‐ter durch ein eingeschlagenes Bodenfenster. Danfin Froude hockte neben ihm mit dem Rücken zur Wand und wünschte sich, sie hätten schneller reagiert und für jeden einen Blaster gehabt. Zwei Stockwerke tiefer tobten und schrien die Mobilen und trampelten die Rummelbuden nieder. Steine flogen auf das Stadion zu, und ein gelegentlicher Blasterschuss oder eine altertümliche Kugel prallte pfeifend als Querschläger vom Zement ab. »Da«, sagte Froude und streckte den Arm aus. »Der Mann da drüben an der Ecke des Gebäudes. Er hat irgendeine Waffe. Töten Sie ihn.«
Ristori nickte nervös, fand den Mann mit dem Zielfernrohr wieder und legte den Finger auf den Abzug. »Was ist?«, sagte Froude. Ristori zitterte unkontrolliert. Froude überlegte, ob er etwas über Ristoris theore 243 tische Blutrünstigkeit sagen sollte, hielt aber den Mund. Stattdessen schob er seinen Freund vom Fenster weg und nahm ihm den Blaster ab. Dann zielte er sorgfältig und berührte den Abzug. Die Patrone schlug in die Hauswand knapp über dem Mann mit der Waffe ein, der sofort in Deckung ging. »Zumindest habe ich ihm etwas Angst eingejagt«, murmelte der Wissenschaftler. Blasterfeuer knatterte durch die Glastüren des Stadions, und die zwei Soldaten hinter dem MG mit dem dreibeinigen Stativ wurden zurückgeworfen und wanden sich stöhnend am Boden. Felip Mandʹl lief zur Waffe und hockte sich dahinter. Er hatte die Schützen beobachtet, wie sie sorgfältig einzelne Schüsse auf eindeutige Ziele abgegeben hatten. »Ich glaube, ich habe es verstanden«, murmelte er im Selbstgespräch, nahm eine Reihe von Menschen ins Visier und ließ einen halben Gürtel mantelloser Munition auf sie los. Tote gingen zu Boden, es waren Schreie zu hören, und die anderen ergriffen panisch die Flucht. »Das gefällt mir!«, sagte er. Dann standen zwei Soldaten neben ihm. Beide waren in Clownskostüm und ‐maske und trugen Kisten mit Munition. Lucky Felip entdeckte eine andere Gruppe von Leuten, die sich hinter dem Schießstand des Rummels zu verstecken versuchten, und feuerte den Rest des Gürtels auf sie ab. Ein Clown ließ einen neuen Gürtel in die Waffe einrasten, deren Lauf so heiß geworden war, dass er qualmte. »Halten Sie sich etwas zurück«, sagte er zu Mandʹl. »Sonst ist der Lauf bald hinüber.« 243 Lucky Felip sah ihn grinsend an und nickte. »Zur Hölle mit Pistolen!«, rief er, während Blasterschüsse auf die Menge vor dem Stadion niedergingen. »So macht es Spaß! Wir erledigen euch alle, ihr Mistkerle! Wir machen euch fix und fertig!« Die zwei Männer drückten erneut gegen die Tür, dann noch einmal. Aber sie wollte nicht nachgeben. Ein sehr großer Mann mit einem sehr großen Hammer drängte sich an ihnen vorbei und befahl ihnen, dass sie zurücktreten sollten. Sein Hammer schlug immer wieder zu, bis die Tür aus den Angeln flog. Vor Wut und Begeisterung jubelnd drangen die Mobilen in das Stadion ein.
Njangu hörte die Rufe, erkannte, was sie bedeuteten, und brüllte den Soldaten in seiner Nähe Befehle zu, dass sie sich verteilen und in Deckung gehen sollten, damit sie nicht von hinten überrascht wurden. Garvin, der sich im Beobachtungsraum ganz oben aufhielt, hörte den Lärm ebenfalls. »Komm«, sagte Alikhan leise. »Da unten gibt es Arbeit für uns.« Die beiden schnappten sich ihre Waffen und stürmten nach unten zur Arena des Stadions. Sopi Midt huschte mit einer großen roten Kiste unter dem Arm vom Kassenwagen des Zirkus durch die Arena. Dann sah er die Frau mit der Pistole. »Nein!«, schrie er. »Ich werde mit Ihnen teilen... nicht... Sie können nicht...« 244 Die Frau, die keine Ahnung hatte, was Midt mit dem Geschrei meinte, schoss ihm in die Brust, und als er sich blutend am Boden wand, schoss sie noch einmal auf ihn. Die Kiste fiel herunter, brach auf und verstreute Credits in weitem Bogen. Die Frau ließ die Pistole fallen, griff nach dem Geld ‐und Lir tötete sie von ihrem Hochsitz. Als sich drei andere auf den Schatz stürzen wollten, ließ sie eine Granate fallen. Danach wagte sich niemand mehr an die Kasse des Zirkus. Der Inhalt aus Scheinen und Münzen hatte sich zwischen den Leichen verteilt. »Komm endlich, Ticonderoga«, drängte Emton. »Komm zu uns, zu den anderen, damit wir eine Stelle finden können, wo wir sicher sind, wo wir nicht verletzt werden.« Ticonderoga hockte unter Raf Atertons Dirigentenpult, zuckte mit dem Schwanz und schaute in eine andere Richtung. Die Katze tat, als hätte sie Emton gar nicht gehört. Die anderen fünf Katzen hatten sich bereits in einer großen fahrbaren Kiste versammelt. »Nun komm endlich, du dummes Tier«, flehte Emton. Dann hörte er ein Geräusch, blickte auf und sah zwei grinsende Anhänger der Mobilen, die auf ihn zukamen, der eine mit einem Knüppel, der andere mit einer Stange, an der ein Haken befestigt war. »Ach, lasst mich doch in Ruhe, ihr dummen Viecher!«, sagte er und zog eine der Taschenpistolen, die Sopi Midt verteilt hatte. Er richtete die kleine Waffe auf die Männer, presste die Augenlider fest zusammen und betätigte zweimal den Abzug. Er hörte einen Schrei und einen dumpfen Aufprall. Als 244 Emton die Augen wieder öffnete, sah er einen Mann reglos am Boden liegen, während sich der andere den Bauch hielt.
Emton stand auf, ging zu dem Verwundeten, hielt ihm die Pistole an den Kopf und schloss wieder die Augen, als er den Abzug drückte. Als er zum Dirigentenpult zurückkehrte, saß Ticonderoga bei den anderen Katzen im Wagen. Rudi Kwieks Pferde stemmten sich gegen die Riemen, mit denen sie im großen Raum angebunden waren, der ihnen als Koppel diente. Ein Wallach schlug mit den Hufen in das Geschirr, das dadurch zerriss. Im nächsten Moment ergriffen die Tiere die Flucht. Kwiek und seine Frauen versuchten sie mit den Armen wedelnd und rufend aufzuhalten und wären fast niedergetrampelt worden. Ein Schütze sah Kwiek, wie er seinen vrai in die Arena hinterherhumpelte, und schoss ihn nieder. Jil Mahim sah, wie Kwiek zu Boden ging, erledigte den Schützen und rannte dann nach draußen, um Kwiek am Kragen seines weiten Hemdes zu packen. Sie zerrte ihn in einen Durchgang, wo Fleam mit feuerbereiter Waffe kauerte. »Wenn irgendeiner der Mistkerle vorbeikommt... machen Sie ihnen Knoten in die Schwänze«, sagte sie. Fleam grinste tatsächlich. »So nahe werden sie nicht herankommen.«. Sie öffnete ihren Erste‐Hilfe‐Koffer, riss Kwieks Hemd auf und zuckte zusammen, als sie das Loch in seiner Brust sah, nicht weit von seinem Herzen entfernt. Sie schüttelte den Kopf, betastete seinen Rücken und 245 fand die Austrittswunde. Also war es kein Lungenschuss, dachte sie und fasste neue Hoffnung. Kwiek öffnete die Augen, schenkte ihr ein friedliches Lächeln, dann verkrampfte sich sein Körper, und er starb. Mahim legte das Hemd wieder über seiner Brust zusammen, warf einen Blick zu Kwieks Frauen hinüber, die in Tränen ausbrachen, und verdrängte sie aus ihrem Bewusstsein, als sie an der Wand entlang zu einem anderen Verletzten eilte. Eine zwölf Mann starke Gruppe erstarrte, als Alikhan aus einem Durchgang trat, eine Verzehrer‐Waffe in einer Tatze, eine Insektengranate in der anderen. Er erschoss zwei Männer, entsicherte die Granate und warf sie zwischen die anderen Mobilen. Sie schrien, als die Granate hochging, dann kamen die Pseudoinsekten aus dem zertrümmerten Behälter und setzten ihre Stacheln ein. Alikhan erschoss zwei weitere Männer, und die anderen gerieten in Panik, als sie sahen, wie die riesigen Patronen einschlugen. Dann wanden sich die madenähnlichen Tiere heraus und begannen zu fressen. Keiner von ihnen schaffte es, über die Treppe, die sie heraufgekommen waren, wieder nach unten zu flüchten. Rennender Bär, der so vernünftig gewesen war, einen Overall anzulegen, rannte an der Spitze von fünfzehn Legionären in den Rücken der Mobilen.
Er erschoss eine Frau mit einem blutigen Schlachtmesser in der Hand, dann wurde ihm bewusst, dass er laut schrie. Zu seiner ewigen Schande war es keiner der Kriegsrufe 246 seines Volkes, an die er sich nur halbwegs erinnerte, sondern der Zirkusruf »He, Rube!«. Maev lief zur Kabine der Bärendresseure, sah die zwei Roboter, die sich nicht rührten, und dann die Dresseure, die tot am Boden lagen. »Scheiße«, sagte sie und zerrte eine Leiche aus dem Weg, setzte einen Helm auf und trat hinter die Kontrollen. »Ich glaube, ich kann mich fast noch daran erinnern«, murmelte sie und aktivierte Klein‐Doni. Sie dirigierte ihn nach draußen und auf eine Gruppe von Mobilen zu, die sich über mehrere Leichen beugten. Ein Mann drehte sich um, sah die Gestalt, die sich wankend näherte, und schrie. Eine Frau schoss auf den Roboter, sah, wie die Patrone einschlug, und dann rissen Donis Krallen ihr die Kehle auf. Die Mobilen flüchteten in alle Richtungen. Ein paar schafften es, sich in Sicherheit zu bringen. »Jetzt suchen wir nach jemand anderem, dem wir Ärger machen können«, murmelte Maev, und in der Arena trottete Klein‐Doni in eine neue Richtung. »Die Frage wird sein«, sagte Sir Douglas in ernstem Tonfall zu Njangu, »ob wir die Kätzchen anschließend wieder dorthin treiben können, wo sie hingehören.« »Stimmt«, sagte Njangu und hielt seinen Blaster bereit. Wieder erinnerte er sich an die Geschichte, die Garvin ihm vor langer Zeit auf einem brennenden Dach erzählt hatte, warum er zum Militär gegangen war, nachdem er während einer Schlägerei zwischen Zirkusleuten und Zuschauern die Raubkatzen auf die Menge losgelassen hatte. 246 »Wer nichts wagt...«, sagte Sir Douglas seufzend und öffnete die Türen der auf Antigravplattformen montierten Käfige. Zunächst zögerten die Katzen, dann trat Sir Douglas hinter die Käfige und feuerte mit seiner Pistole in die Luft. »Kommen Sie«, sagte er. »Helfen Sie mir!« Njangu tat es und schlug mit dem Kolben seines Blasters gegen die Gitterstäbe. Widerstrebend verließen die Katzen ihre Unterkünfte und liefen durch den Korridor in Richtung Arena. »Ich schlage vor«, sagte Sir Douglas, »dass wir uns eine Weile hier verkriechen, wo es sicher ist.« Njangu hielt das für eine ausgezeichnete Idee. Die Katzen kamen wütend und verängstigt in die Arena, wo sie sich hinkauerten und die Schwänze zucken ließen. Die Mobilen sahen sie und stöhnten vor Entsetzen.
Wenn sie die Katzen angegriffen hätten, wären sie vielleicht vor Angst geflüchtet. Doch die Menschen begingen entweder den einen oder den anderen von zwei möglichen fatalen Fehlern: Sie blieben vor Schreck erstarrt stehen, oder sie rannten fort. Beides war für die Raubtiere ein völlig stimmiges Beuteverhalten. Brüllend sprangen die Katzen auf, griffen an und töteten, während ihr Blutrausch immer stärker aufgepeitscht wurde. Ein paar Mobile hatten den Mut, auf die Katzen zu schießen, doch nur einer traf einen Löwen. Kurz darauf wurde dem Mann von einer Tatze der Kopf abgerissen. Die Mobilen ergriffen die Flucht und kehrten zum Seiteneingang zurück, durch den sie eingedrungen waren. »Ich schätze«, sagte Sir Douglas zögernd, »wir sollten 247 jetzt lieber losgehen und unsere Freunde dazu bewegen, sich wieder in ihre Käfige zu begeben.« »Ich habe drei... nein, fünf Schiffe in der Ortung«, meldete ein Elektronikoffizier. »Vielleicht sind es auch schon viel mehr. So etwas wie Patrouillenschiffe mittlerer Größe.« Liskeard stand auf seiner Brücke und überlegte, welche Möglichkeiten er noch hatte. Aber es gab keine Alternative. Er winkte einem Wachoffizier. »Ist Boursier startbereit?« Der Mann erkundigte sich. »Sir, Boursier eins ist startbereit. « »Dann soll sie starten!«, befahl Liskeard. »Sie soll unsere Leute im Stadion unterstützen, wo sie kann, und die Patrouillenschiffe ausschalten, die sich in den Kampf einzumischen versuchen.« Der Aksai im Hangar fiel aus der Magnethalterung, schwebte mit den Antigravs zur offenen Schleuse und war draußen. Liskeard atmete tief durch und traf eine Entscheidung. »Alle Schotten schließen und das Schiff startklar machen.« Auf der Treppe zum Ausgang drängelten sich die Mobilen, die versuchten, aus dieser Arena des Schreckens zu entkommen. Njangu erschien auf einem Treppenabsatz über ihnen. Er hielt einen kleinen Beutel in einer Hand. »He!«, rief er. Ein paar hörten ihn im Lärm und blickten hinauf. Njangu entsicherte eine der Granaten im Beutel und warf dann den ganzen Beutel mitten in die Menge. 247 Eilig ging er wieder hinter der Tür in Deckung, weil er beschlossen hatte, nicht mit anzusehen, was in vier... nein, drei Sekunden geschehen würde. Die Mobilen strömten auf die Straße, während Jacqueline Boursier über dem Stadion unter wilden Flüchen mit ihrem Aksai kämpfte, der nicht für die Luftunterstützung bei niedriger Geschwindigkeit konstruiert war.
Sie sah fliehende Menschen und feuerte auf sie. Dann schnappte sie entsetzt nach Luft und drückte einen Sensor. Ihre MG spuckte 35‐mm‐Patronen aus kollabiertem Uran auf die Straßen hinunter. Sie zeichneten rote Leuchtspuren in die Luft ‐ rot wie der Tod. Am Ende der Straße zog sie in einem Immelmann hoch, kehrte zurück und versuchte nicht auf die Gebäude zu achten, die sich nur wenige Meter unter ihr, sehr nahe an den Flügelspitzen, befanden. Garvin hielt sich im Innern des Stadions auf und versuchte Knox zu helfen, die Showgirls zu beruhigen, als der Kom an seinem Gürtel summte. »Prinzipal... hier ist die Big Bertha. Halten Sie sich für die Abholung bereit.« Garvin vergaß die Frauen und rannte in vollem Tempo zum Haupteingang. Die Big Bertha, die größer als das Stadion war, die größer als jedes sonstige Gebäude der Stadt war, schwebte heran. Sie wurde langsamer und richtete die Nase auf. »Das kann er doch nicht machen!«, rief Danfin Froude. »Aber er macht es!«, schrie Ristori. 248 Und so war es. Liskeard dirigierte die Big Bertha mit dem sekundären Antrieb zur einzigen freien Stelle in der Umgebung. Die Landestützen und dann der Schiffsrumpf drückten auf das zerstörte Gebäude. Rußgeschwärzte Mauerreste stürzten ein, dann knickte das Stahlgerüst des Gebäudes zusammen und zerbrach. Schließlich hatte das Raumschiff sicher aufgesetzt, auch wenn es ein wenig schief stand. Einige der Mobilen wagten es, auf das Schiff zu schießen, doch dann öffnete sich eine versteckte Luke, und zwei MGs feuerten. Sie rissen die Gebäudewände auf, als wären sie aus Papier. »Brave Kätzchen«, schnurrte Sir Douglas, als ein Tiger und zwei Löwen knurrend an ihm vorbeiliefen und in ihre Käfige stiegen. »Liebe Kätzchen«, sagte Njangu nervös. Eine Löwin kam durch den Korridor gesprungen und kehrte artig in ihren Käfig zurück. »Damit fehlt nur noch eins«, sagte Sir Douglas. »Da kommt es schon«, sagte Njangu. Muldoon, mit dunklen Flecken auf dem schwarzen Fell, schlich durch den Korridor. Er hielt inne, musterte Njangu aufmerksam, leckte sich eine blutbesudelte Tatze und sprang dann in seinen Käfig. »Gut«, sagte Sir Douglas. »Jetzt wollen wir die Käfige in die Luft bringen.« Er schlug die letzte Käfigtür zu, und Njangu wagte es, wieder zu atmen. Die internen Lautsprecher des Stadions erwachten zum Leben. 248 »Die Big Bertha ist da! Alle begeben sich zur Einschiffung zum Hauptausgang! Zügig, aber ohne Eile und ohne Panik«, war Garvins Stimme zu hören. »Wir haben genug Zeit, und niemand wird zurückbleiben.«
Jiang Fong, seine Frau und sein Kind, gefolgt von den anderen Akrobaten, erreichten die Big Bertha als Erste. Sie liefen die Rampe hinauf und trippelten durch die Schleuse. »Die Namen... schnell!«, rief Erik Penwyth. Fong antwortete, und Penwyth hakte sie auf seiner Liste ab. Als Nächstes kamen die Pferde, hinter ihnen Darod Montagna und Kwieks Witwen, die alle Tiere die Rampe hinauftrieben und dann zu ihrer Koppel dirigierten. Darod kehrte zurück und nahm ihren Blaster von der Schulter. »Alle haben die Anweisung, an Bord zu bleiben, wenn sie es geschafft haben«, sagte der Offizier zu ihr. »Ich habe noch nicht alle offenen Rechnungen beglichen«, sagte Montagna knurrend und lief zurück zum Stadion. »Die Schwänze hoch! Die Schwänze hoch!«, riefen Sunya Thanon und Phraphas Phanon im Chor, und gehorsam zogen die Elefanten in einer langen Reihe durch den Hauptausgang hinaus, im Gefolge von Sir Douglasʹ Katzenkäfigen. Einer streifte das Kassenhäuschen und ließ es in sich zusammenkrachen. Thanon und Phanon rannten nach vorn und hielten ihre Blaster bereit. 249 Thanon sah einen Mann mit einem Gewehr, schoss auf ihn und verfehlte ihn. Der Mann schoss zurück, Thanon schrie und fiel auf die Knie. Phanon war an seiner Seite. Thanon starrte ihn an, als würde er ihn im ersten Moment gar nicht wiedererkennen. »Ich wünschte...«, stieß er mühsam hervor. »Ich wünschte...« Er hustete Blut. »Vielleicht gehe ich jetzt nach Coando«, sagte er. »Ich werde dort auf dich warten.« Phanons Augen trübten sich, als er zusehen musste, wie sein Geliebter starb. Er blickte auf und sah, wie eine brennende Flasche auf ihn zuflog, auf dem Boden zersprang und explodierte. Die Flammen griffen auf ihn über, und er schrie. Seine Haut wurde schwarz, dann fiel er auf Thanons Leiche. Die Elefanten wurden unruhig, und Imp schrie, weil er dem Molotow‐Cocktail sehr nahe gewesen war und Verbrennungen erlitten hatte. Zwei Frauen mit provisorischen Speeren rannten auf die Bullen zu. Ein wütender Bulle riss der ersten den Speer aus den Händen, dann streckte sich der Rüssel und zertrümmerte ihren Schädel. Die zweite versuchte wegzulaufen, wurde jedoch im nächsten Moment ergriffen, aufgehoben und fast beiläufig gegen eine Wand geworfen. Alikhan kam aus dem Stadion gestürmt, die Augen vor Wut gerötet, eine Verzehrer‐Waffe in jeder Tatze. Er feuerte, und Sekunden später waren keine Angreifer mehr da, auf die er hätte schießen können. »Die Schwänze hoch! Die Schwänze hoch!«, rief er. Die 249
Elefanten wankten unschlüssig auf der Stelle, doch dann erinnerten sie sich an den Befehl, auch wenn er von einer unvertrauten Stimme gesprochen wurde. Gehorsam bildeten sie wieder eine Reihe und folgten Alikhan über die Straße und die Rampe hinauf ins Raumschiff. Alikhan führte die Elefanten in ihren Bereich und wünschte sich, er hätte die Zeit, sie zu trösten und zu füttern. Er lief zum nächsten Lift und begab sich zur Spitze des Schiffes, wo er Dill vorfand, der sich gerade in seinem Aksai anschnallte. Kekri Katun versuchte ihm zu helfen. »Komm endlich, Partner«, sagte Dill. »Ich will Blut sehen.« »Genaussso wie ich«, zischte Alikhan, dessen normalerweise perfektes Terranisch unter seiner Rage zu leiden schien. Er öffnete das Kanzeldach seines Schiffes. »Esss sssoll in Ssströmen fliesssen.« In einem Holo‐Studio am anderen Ende der Stadt war im gleichen Moment Fove Gadu auf Sendung. »O nein, wir von der Mobilisierungspartei haben herausgefunden, dass Abia Cornovil nicht der Einzige war, der von den Fremdweltlern verdorben wurde. Wir haben eine Liste mit über einhundert Namen, allesamt Personen in hohen Stellungen, die sich mit diesen Monstren verbündet haben. Während in diesem Moment unsere furchtlosen Männer und Frauen die Fremden überwältigen, sind gleichzeitig Einheiten der Volksmiliz unterwegs, um die Verräter ausfindig zu machen und sie der Gerechtigkeit des Volkes zu überführen...« 250 An Bord der Big Bertha gab ein Offizier dem Captain ein Zeichen. Auf einem Bildschirmausschnitt war Gadu zu sehen, wie er mit der Faust auf ein Sprecherpult einschlug. »Sir, ich habe ihn genau in der Ortung.« »Und Sie sind sich sicher, dass es kein Antennenecho ist?« »Sehr sicher. Ich habe alle drei Antennen des Senders lokalisiert, und diese gehört nicht dazu.« Liskeard lächelte und winkte einem Wachoffizier. »Kommen Sie, meine Damen«, sagte Knox, als er die Showgirls zur Big Bertha trieb und sich zwischen Transportplattformen hindurchwand, die darauf warteten, ins Schiff gelassen zu werden. »Keine Panik, sonst verschmiert Ihr Make‐up, und ich garantiere Ihnen, dass der Prinzipal Ihnen für den heutigen Wahnsinn eine Prämie zahlt.« Eine der Frauen kreischte auf, als unmittelbar über ihren Köpfen zwei Aksai aus dem Raumschiff trieben und dann schnell an Höhe gewannen. Darod Montagna mähte drei Mobile nieder, die sich in einem Eingang sicher gefühlt hatten, dann fuhr sie herum, als überall in ihrer Nähe Kugeln in die Steinplatten des Gehwegs einschlugen.
Sie kam auf die Beine und rannte zu einer halbwegs solide wirkenden, nur halb zerstörten Rummelbude. Die Kugeln des Scharfschützen flogen ihr praktisch um die Ohren. »Verdammt, ich habe mich einkesseln lassen«, brummte sie. »Ganz schön amateurhaft!« Sie hörte ein lautes Dröhnen und presste sich noch fester gegen den Boden, während ein seltsam aussehendes 251 Patrouillenschiff keine zwanzig Meter über ihnen vorbeiraste. Die Kanonen an den Flügelspitzen spuckten Feuer. Geschosse schlugen in der Nähe ein, und sie rollte sich auf die Seite und hob den Blaster, als Garvin zu ihr lief. »He!«, rief sie. »He!«, stieß er hervor. »Was machst du hier draußen?« »Das Gleiche wie du«, sagte Montagna. »Ich lasse mich einkesseln. Du bist ein ziemlich miserabler Retter.« »Tut mir leid«, sagte Garvin. »Ich habe gesehen, dass du mit deinem Arsch in Schwierigkeiten steckst, und dachte mir, dass ich dir vielleicht helfen kann. Leider habe ich gerade keinen Zhukov zur Hand... im Moment kann ich nur mit mir selbst dienen. Was normalerweise natürlich völlig ausreicht. Aber jetzt...« Das Patrouillenschiff kehrte zurück, doch diesmal wurde es von Boursiers Aksai verfolgt. Jemand am Boden feuerte eine Salve in den Rumpf des Aksai. Boursiers Schiff kämpfte darum, nicht an Höhe zu verlieren. Es torkelte, hätte beinahe überzogen, korrigierte die Fluglage, konnte rechtzeitig bremsen und schwebte dann in die Big Bertha zurück. »Ich hoffe, wer immer in diesem Ding sitzt, hat das Patrouillenschiff erwischt«, sagte Darod. »Kann nur Jacqueline gewesen sein... aber sie hat es nicht geschafft«, sagte Garvin. »Da kommt der Mistkerl zurück, und ich habe das dumme Gefühl, dass wir seine Zielscheibe sind!« »Hau ab und such dir jemanden, der genauso groß ist wie du!«, brüllte Darod wütend. Gehorsam zog das Patrouillenschiff hoch und startete einen Angriffsflug gegen die Big Bertha. 251 Ein Waffenoffizier an Bord der Big Bertha startete zwei Raubwürger, die das Patrouillenschiff trafen und in Stücke rissen. Feuer und Metalltrümmer regneten auf Garvin und Darod herab. »Komm schon, du Bohnenstroh‐Buddha«, rief Montagna. »Wir wollen hier keine Verluste durch eigenes Feuer!« Garvin sah eine Bewegung vor sich, schoss, und dann hörte die Bewegung auf. »Vergiss die Kugeln von unseren eigenen Leuten«, sagte er. »Hier unten gibt es genug andere Leute, die uns töten wollen.«
Fünf Patrouillenschiffe von Centrum stießen auf die Big Bertha hinunter. Keins sah die zwei Aksai und die Nana‐Schiffe, bis die ersten zwei Einheiten explodierten. Die drei Überlebenden drehten ab. Zwei blieben in kameradschaftlicher Disziplin zusammen, der andere ergriff mit Vollschub die Flucht. »Na, komm schon, komm schon«, sagte Ben Dill, als eins der Patrouillenschiffe in sein Visier rückte. Ein Raubwürger piepte ihn an, und er ließ ihn los. Dann wandte er sich dem zweiten Schiff zu. Plötzlich drehte es ab und raste davon, aber Dills Aksai blieb ihm auf den Fersen. Er registrierte beiläufig, dass sich das erste Patrouillenschiff in einen Feuerball verwandelte, der eine breite Straße entlangrollte und alles, was ihm in die Quere kam, in Brand steckte. Das zweite Schiff eierte hin und her. Dill hatte es im Visier und feuerte, ohne auf die Bereitschaftsmeldung des Raubwürgers zu warten. 252 Die Rakete detonierte etwa zehn Meter neben dem Patrouillenschiff. Es geriet ins Trudeln und raste dann, immer noch mit voller Geschwindigkeit, in ein sehr offiziell aussehendes Gebäude. Dill drehte ab, gewann etwas mehr an Höhe, wartete, bis sich seine Atmung ein wenig beruhigt hatte, und schaltete dann sein Mikro ein. »Äh... Alikhan eins, hier ist Dill eins. Brauchst du zufällig Hilfe?« »Hier Alikhan... der hier macht es mir recht schwer, ihn zu erwischen. Ich glaube, ich könnte tatsächlich... Nein. Jetzt ist er in eine Rakete geflogen. Siehst du noch irgendetwas, worauf wir schießen sollten?« Ben konsultierte seine Bildschirme. »Eher nicht. Wir könnten jetzt eine Weile unsere große Mutter umkreisen und den Boden im Auge behalten.« »Ich denke, ich werde nach Menschengruppen Ausschau halten«, erwiderte Alikhan, »und vielleicht meine Munitionslast etwas erleichern.« Gewehrfeuer schlug über Garvins und Darods Köpfen ein, und vier Soldaten der Legion, geführt von Njangu, rannten zu ihnen, gingen in Deckung und warteten. Es gab kein Gegenfeuer mehr. »Ich schätze, wir haben die letzten tapferen Mobilen erwischt«, sagte Njangu. »Wenn ihr beide damit fertig seid, hier herumzuturteln, könnt ihr euch den Hintern abklopfen und euch dorthin begeben, wo ihr eigentlich sein solltet!« Garvin rappelte sich vorsichtig auf und half Darod beim Aufstehen. »Einverstanden. Aber eins sage ich dir, junger Yoshitaro, von allen Rettern, die ich kenne, hast du die beschissensten Sprüche drauf.« 252 »Wenn sie dir nicht gefallen«, sagte Njangu, »kannst du meinetwegen gerne zur Konkurrenz gehen.« »...bis zum Augenblick des Sieges können es nur noch wenige Augenblicke sein«, fuhr Gadu fort. »Ich habe meine Freunde angewiesen, auf Nummer sicher zu gehen und Gefangene zu machen, unter denen hoffentlich auch die Anführer
dieser bösartigen Intrige sein werden, damit sie als Mitangeklagte beim Prozess gegen die verräterischen...« Er stockte, als er durch das schalldichte Fenster auf ein sehr schwarzes, sehr hässliches Patrouillenschiff der Nana‐Klasse starrte. Es schwebte keine fünfzig Meter entfernt in der Luft. Chaka löste sein MG‐Geschütz aus, und die Kugeln zerfetzten das Studio ‐ und Fove Gadu. »Ich weiß nicht, ob ich damit einen Beitrag zum allgemeinen Frieden geleistet habe«, sagte er in sein Mikro, »aber zumindest ich fühle mich jetzt erheblich besser.« Die Kapelle verließ stolz das Stadion, während sie immer noch den »Friedensmarsch« schmetterte. Auf halber Strecke zum Raumschiff rief Aterton einen Titel, worauf sie zur »Hymne der Konföderation« wechselte. Eine verirrte Patrone prallte vom Straßenpflaster ab und drang einem Paukisten ins Bein. Seine Trommel, die von einem Bremser gehalten wurde, rollte hüpfend mit lauten Schlägen über die Straße davon. Die Kapelle strömte die Rampe hinauf, durch die Schleuse und war an Bord. Unmittelbar hinter ihnen schwebten die zwei Aksai ins Innere des Schiffs. 253 »Ist die Besatzung jetzt vollzählig?«, fragte Garvin. »Alles wurde zweimal überprüft«, sagte Erik Penwyth. »Alle sind an Bord, einschließlich unserer Gefallenen.« »Wir sind uns ganz sicher«, sagte Njangu, der ziemlich geschafft klang. »Ich habe dieses verdammte Stadion zweimal durchsucht, bevor ich mir dachte, dass du etwas Rettung vertragen könntest.« Garvin hob seinen Kom. »Okay, also nichts wie weg von hier!« »Vier Schiffe im Anflug«, meldete ein Ortungsoffizier, als die Big Bertha durch die Stratosphäre emporstieg. »Entfernung etwa zwei Astronomische Einheiten.« »Können Sie sie bereits identifizieren?« »Es sieht nach drei Zerstörern aus, die ein größeres Schiff eskortieren. Wahrscheinlich die Corsica.« Liskeard wandte sich an einen Waffenoffizier. »Wie nahe sind sie dem Baby, das wir bei der Mottenflotte zurückgelassen haben?« »Etwa... eins fünf. Kommen schnell näher.« »Bei eins null starten Sie die Goddard.« »Verstanden. Bei eins null, Sir.« Auf der Brücke wurde es sehr still, bis auf das Gemurmel der Kommunikationsoffiziere. Der Waffenoffizier behielt den Radarschirm im Auge. »Eins eins... eins null... Goddard unterwegs.« Auf der anderen Seite des Systems erwachte die modifizierte Goddard‐Rakete zum Leben.
Die Corsica und die Eskorte aus drei Zerstörern, die dem Schlachtschiff vorausflogen, näherten sich Centrum mit Vollschub. 254 Dant Lae Romolo starrte ungläubig auf die Bildschirme, die das Chaos auf dem Planeten zeigten. »Verdammte Zivilisten!«, sagte er. »Sie hätten niemals zulassen dürfen, dass die Lage noch schlimmer wird!« Er blickte sich auf der großen Brücke um. Alles war, wie es sein sollte, ruhig und geordnet. Auf dem Hauptschirm sah er die Symbole der eingemotteten Flotte. Schon bald würde es einen guten Grund geben, sie zu reaktivieren und zu bemannen. »Sir«, meldete ein Elektronikoffizier, »wir orten ein unbekanntes Schiff, das Centrum verlässt.« »Das ist zweifellos dieses feindliche Zirkusschiff«, sagte Romolo. »Es dürfte kein Problem für uns sein, es abzufangen, bevor es in den Hyperraum springen kann.« Die sich nähernde Goddard war kaum groß genug, um auf dem Schirm angezeigt zu werden, ein Pünktchen, auf das niemand achtete, bis ein Ortungstechniker auf den Annäherungsschirm blickte. »Sir«, sagte er ruhig zu einem Deckoffizier. »Ich habe hier ein unbekanntes Objekt... es nähert sich sehr schnell... es hält genau auf uns zu.« Der Offizier blinzelte. »Was ist es?« »Keine Identifikation, Sir.« Der Mann zögerte, dann sagte er: »EA, können Sie das Ding erfassen?« Die Frau versuchte es und schüttelte schließlich den Kopf. »Negativ, Sir. Es ist sehr klein... möglicherweise eine Rakete... sie scheint ferngesteuert zu sein, aber ich finde die Frequenz nicht.« »An alle Abteilungen... Schiff versiegeln!« »Schiff versiegelt, Sir.« Alarmsirenen ertönten in der Corsica. 254 »Alle Stationen, Bereitschaftsmeldung!« Jemand gab die Meldungen weiter. »Waffenstation, das Objekt ausschalten!«, sagte Romolo. Seine Stimme klang ruhig und unbesorgt. »Ja, Sir... Zielerfassung... Zielerfassung... Abwehrrakete gestartet... zweite gestartet.« Zwei Raketen rasten aus den Abschussröhren der Corsica, während die Offiziere die Kommandanten der Eskorte anbrüllten, dass sie aufwachen und etwas tun sollten. Die umgebaute Goddard »sah« die Abwehrmaßnahme, und der Koordinator an Bord der Big Bertha startete die zwei Shadow‐Raketen. Die vier Flugkörper trafen sich und explodierten.
»Treffer! Treffer! ... Achtung, einmal negativ... Rakete nähert sich weiter... starte Abwehrrakete in fünf... vier...« »Starten Sie sofort, verdammt!« »Start... warte auf Zielerfassung...« Die Goddard schlug in die Maschinensektion der Corsica. Ein Feuerball breitete sich aus und wurde vom Vakuum verschluckt. Romolo wurde mit dem Kopf voran über eine Konsole geschleudert und landete schließlich auf einer zweiten, während die Sirenen heulten. Er rappelte sich auf, tastete sich nach gebrochenen Knochen ab und hoffte, dass das fremde Schiff, das sie alle so geschickt hinters Licht geführt hatte, genug Schaden auf Centrum angerichtet hatte. So viel Schaden, wie Centrum dringend nötig hatte. »Gut«, sagte Garvin. »Das warʹs. Captain Liskeard, würden Sie uns jetzt bitte nach Hause bringen?« 255
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Cumbre / D‐Cumbre »Und wie lange geht das schon so?«, fragte Garvin Jaansma und starrte auf das Holo des recht attraktiv aussehenden jungen Mannes. Gleichzeitig zuckte er zusammen, als ihm bewusst wurde, wie klischeehaft er sich ausdrückte. »Fünf... vielleicht sechs Monate«, antwortete Jasith Mellusin mit zitternder Stimme. Garvins völlige Ruhe machte ihr Angst. »Du warst ziemlich lange weg! Über ein Jahr!« »Ich weiß.« Garvin dachte an Darod Montagna und Kekri Katun. »Wer ist er?« »Einer meiner Vizepräsidenten«, sagte Jasith. »Wir haben schon früher zusammen gespielt... als Kinder, meine ich. Ich schätze, er ist so was wie meine Jugendliebe. Bitte reg dich nicht auf.« »Ich rege mich überhaupt nicht auf«, sagte Garvin. Er fühlte sich sehr erschöpft und verspürte nur den Wunsch, dieses Haus zu verlassen, um sich ganz allein, sogar ohne Darod, auf irgendeine Insel zurückzuziehen, auf der niemand wohnte, wo er nur schlafen und essen musste. »Ich schicke jemanden vorbei, der meine Sachen abholt«, sagte er und ging zur Tür. »Garvin«, sagte Jasith. »Wir können doch trotzdem...« Die Tür fiel zu, bevor sie zu Ende sprechen konnte. Garvin lief zügig die großen Stufen hinunter und erinnerte sich: Es war nicht das erste Mal, dass er sich von diesem Haus verabschiedete. Aber er wusste, dass sich sein 255 Herz diesmal nicht so gebrochen wie bei den anderen Malen anfühlte. Er stieg in seinen Gleiter, startete den Antrieb und dachte an ihre Rückkehr aus der Galaxis.
Die Operation HEIMKEHR war ein voller Erfolg gewesen. Die Big Bertha hatte einen Empfang erhalten, wie er Helden gebührte, und jedem, der sich an Bord befand, wurde die Staatsbürgerschaft von Cumbre angeboten. Einige ‐ erheblich mehr, als er gedacht hätte ‐ nutzten die Gelegenheit und stellten einen Zirkus zusammen, der auf Cumbre und in anderen Systemen auftreten sollte, wenn es wieder möglich war. Unter ihnen war auch Fleam, der endlich einen Beruf gefunden hatte, in dem er seiner Leidenschaft für Seile und Zeltbahnen frönen konnte, und er nutzte seine unverhoffte Prämie dazu, sich aus der Armee freizukaufen. Liskeard war von Dant Angara vollständig rehabilitiert worden, auch wenn er nicht recht wusste, ob es ihm überhaupt recht war. Während er noch über seine mögliche Zukunft nachdachte, übernahm er die Aufgabe, die Zirkusleute, die es wünschten, nach Grimaldi zurückzubringen. Alle lebten nun in angenehmem Wohlstand, nachdem sie ihre Gehälter und eine unerwartete Prämie von Mellusin Mining erhalten hatten. Was Njangu betraf... er und Maev hatten sich still und leise getrennt, nachdem Maev sich aus der Legion freigekauft und angekündigt hatte, dass sie wieder unterrichten wollte. Njangu hatte Garvin vorsichtig erzählt, dass er fischen gehen wollte, in einem winzigen Dorf irgendwo an der Küste. Er hatte Jaansma eingeladen, ihn zu begleiten, und auf ähnlich mysteriöse Weise angedeutet, dass »Deira viel‐ 256 leicht ein bis sechs gute Freundinnen hat, falls sie nicht verheiratet ist, und ich wette, dass auch das kein Problem wäre«. Garvin hatte mit den Schultern gezuckt. Vielleicht... vielleicht auch nicht. Die einsame Insel gefiel ihm immer besser. Ihm wurde bewusst, wie sehr er sich verändert hatte, wie sehr er gealtert war ‐ ein ziemlich melodramatischer Gedanke für jemanden, der noch nicht einmal die dreißig erreicht hatte. Er war in die Militärfalle getappt, und nun schien es, dass sie ihn fest im Griff hielt. Er hatte keine Ahnung, ob ihm diese Veränderungen gefielen oder nicht. Garvin blickte auf und sah durch die Kanzel des Gleiters den Nachthimmel und die Sterne. Dahinter lag etwas. Und das zog ihn stärker als alles andere an, was er jemals kennen gelernt hatte ‐ die verstreuten Puzzleteile der Konföderation. Ich danke Ringling Brothers und dem Zirkus Barnum & Bailey für ihre Hilfe... und entschuldige mich bei Bertolt Brecht.