Zyklus der Nebelreiche
Band 9
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Renate Steinbach Otto-Stabel-Str.2 67059 Ludwigshafen Alle Rechte vorbe...
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Zyklus der Nebelreiche
Band 9
Roman-Reihe von
Renate Steinbach Otto-Stabel-Str.2 67059 Ludwigshafen Alle Rechte vorbehalten © 1986 - 1998
F
ür Nymardos begann ein neues Leben und es war wahrlich ein Leben, auf das er lange warten mußte. Er war nun achtundvierzig Jahre alt, doch ihm schien es, als begänne sein Leben er jetzt. Er verbrachte glückliche Kindheits- und Jugendjahre auf dem Inselreich Amarra, wo er als Priester ausgebildet wurde und seine Weihen fand. Doch im Alter von neunzehn Jahren kamen fremde Menschen zu ihm, warfen sich nieder und huldigten ihm als dem mächtigsten Mann der Reiche. Es galt das Gesetz, daß stets der stärkste inkarnierte Geist als Than herrschen sollte; nicht nur über Amarra, sondern als Souverän der Könige über alle Reiche. Nymardos ergab sich damals dieser Pflicht, obwohl sie ihn aufgrund der unbegrenzten Macht in eine Einsamkeit zwang, die er nie erstrebte. Jahre später verklagte man vor ihm den Adlatus des nordischen Königs als Mörder und eben dieser Mann war es, der fast mühelos die Mauer der Macht durchbrach. Seither waren sie Freunde. Aus dem Soldaten wurde der erste Falla des dunklen Gottes Raaki, dessen Tempel in Nodher in mancherlei Hinsicht nicht den anderen Haupttempeln der Reiche entsprach. Doch niemals wurde der Falla Gerrys deshalb getadelt. Seit einigen Wochen nun gab es einen neuen Than. Nymardos lächelte beim Gedanken an seinen Nachfolger. Seymas war jung, gerade einundzwanzig Jahre alt, und alles andere als von ernstem Gemüt. Nymardos erkannte früh dessen Berufung, hielt ihn in seiner Nähe und erleichterte seinen Weg. Er liebte ihn wie einen Sohn.
Seymas nannte ihn bei seiner Amtseinführung seinen Pala und bedeutete damit in aller Öffentlichkeit, daß er in Nymardos einen Freund sah, zu dem er uneingeschränkt stand. Als Pala des Than war Nymardos weiterhin ein Mann der Macht, denn der Than würde jede seiner Entscheidungen befürworten. So hatte er nicht seine Macht wirklich verloren, sondern nur seine Pflicht und er genoß es wirklich, seine Tage selbst bestimmen zu können und zu keinem Werk angehalten zu sein. Er lebte nun in Raakis Tempel in Nodher. Natürlich war Gerrys als sein Falla im Grunde auch sein Herr und konnte ihn durchaus in die Pflicht nehmen, doch die sie verbindende Freundschaft verlor nicht einmal einen Gedanken daran. Nymardos hätte es durchaus vorgezogen, in einem der kleinen Häuser zu leben, welche den hohen Tempelbau umgaben, aber er ließ es zu, daß ihm Gerrys im Tempel selbst seine Räume bereitete. Und noch war er fremd hier. Die Menschen wußten wohl, daß er bis vor kurzer Zeit als Than regierte, daß er nun als Pala des Than noch immer weitreichende Macht besaß und sie konnten damit noch nicht umgehen. Sie wichen ihm aus und zeigten eine Scheu, die er zwar kannte, aber nicht begrüßte. In Gedanken versunken wandelte er durch den prächtigen parkähnlichen Garten. Es war ein klarer, warmer Tag. Die Nebel hingen sehr hoch und lockten die Menschen ins Freie. Das Lied der vielfältigen Vögel und das Summen der unzähligen Insekten verhinderte jede Stille, erfüllte aber alles mit freudigem Leben. Er trug eine einfache, schwarze Tunika; die vorherrschende Gewandung dieses Tempels, die nichts über seinen Rang oder seine Weihen verriet. Das lange, braune Haar umkräuselte seine Schultern. Als Mann der Macht besaß er das Recht, es offen zu tragen. Sein Blick glitt zu einer Gruppe junger Mädchen und blieb
dort an der vierzehnjährigen Cyprina hängen. Gerrys hatte dieses Kind als seine Tochter anerkannt und niemand wußte, daß in Wahrheit er der Vater war. Man hätte die Tochter des Than in ungerechtfertigten Ansprüchen haltlos überfordert und dieses Schicksal wollte er ihr ersparen, zumal ihre Mutter am Tag ihrer Geburt ums Leben kam. Bei seiner Ankunft hier hatte sie ihn artig begrüßt, aber ansonsten empfand sie dieselbe Scheu vor ihm wie fast alle anderen Menschen und er drängte ihr seine Nähe nicht auf. Cyprina sah ihn, schaute einige Zeit fast krampfhaft in eine andere Richtung, kam aber langsam dann näher, als er seinen Weg fortsetzte. Unsicher schaute sie ihn an. "Verzeiht, Herr," sagte sie dann leise, "ich möchte euch nicht stören." "Das tust du nicht," versprach Nymardos mit ruhiger Stimme. Sie senkte den Kopf und wich damit seinem Blick aus. "Erynia wünscht sich so sehr, daß ihr sie besuchen kommt," gestand sie schüchtern. "Mögt ihr sie nicht?" Nymardos lächelte. Das Mädchen sprach von Gerrys' Schwester, die wenige Wegstunden entfernt in einem kleinen Haus lebte. Sie war Magierin und widmete ihrer Kraft der Heilkunst, die sie vornehmlich den Frauen der umliegenden Dörfer angedeihen ließ. Als kleines Kind von ihren Brüdern getrennt wuchs sie in Wyla auf, dem Reich, in welchem die Frauen alle Macht besaßen. Dort war er ihr vor mehr als zehn Jahren begegnet, sah sie dann vor fünf Jahren nochmals in Khyon. Sie hatten nicht viel Zeit zusammen verbracht. "Ich weiß wohl, daß du viel mit Erynia zusammen bist," erwiderte er nun. "Sie ist eine kluge und starke Frau. Doch, ich schätze sie sehr, Cyprina. Ich habe eigentlich erwartet,
daß sie zum Tempel kommen würde." Jetzt sah das Mädchen doch auf und schaute ihn an. "Seit Tibra da ist, kommt sie nicht mehr oft," gab sie zu. "Du scheinst Tibra weniger zu mögen als Erynia," stellte Nymardos heiter fest. Auch Tibra war ein Magier. Er war Mitte der Dreissig, also zehn Jahre jünger als Erynia. Seit den Tagen in Khyon waren sie beisammen. Sie lebten nicht in demselben Haus, doch nicht weit voneinander getrennt und Tibra hütete seine Liebe zu ihr mit Bedacht. Davor war Erynia wohl oft bei Gerrys gewesen und deren Liebe war weder ein Geheimnis noch widersprach sie den Regeln der Reiche. Tibra zeigte wohl keine Eifersucht, aber es fiel ihm doch schwer, seine Liebe zu teilen und so zog sich Gerrys etwas von der Schwester zurück. Im Allgemeinen begegnete die Priesterschaft der Gilde der Magier mit Vorsicht, wenn nicht gar mit Mißtrauen. Doch auf Tibra und Erynia traf dies nicht zu, nicht zuletzt wohl deshalb, weil Gerrys beide schätzte. "Er ist mir unheimlich," gestand Cyprina. "Wenn er einen anschaut, dann hat man das Gefühl, daß er einen dabei ganz erforschen will. Das gefällt mir nicht. Ich kann nicht verstehen, weshalb Vater ihn so mag." "Ich mag ihn auch," stand Nymardos dem Freund bei. "Nicht viele Menschen sind so aufrichtig und treu wie er." Es war ihr wohl unangenehm, von Tibra zu reden, deshalb lenkte sie das Thema fast hastig auf ihr ursprüngliches Anliegen zurück.
"Werdet ihr Erynia besuchen?" "Es ist ein schöner Tag für einen weiten Spaziergang," erwiderte er, "und Gerrys kehrt erst morgen in den Tempel zurück. Ich will den Wunsch gern erfüllen und gleich zu ihr gehen. Begleitest du mich ein Stück des Weges?" Cyprina schüttelte den Kopf. "Lieber nicht, Herr," wehrte sie ab. "Ich würde dann Fragen stellen, die ich nicht stellen darf." "Was meinst du?" Sie preßte die Lippen zusammen. Da er nun seinen Weg aufnahm, blieb sie aber an seiner Seite. "Ich weiß, daß meine Mutter auf Amarra gelebt hat," sagte sie nach einiger Zeit. "Vater spricht nie von ihr. Er wird böse sein, wenn ich euch nach ihr frage." Erstaunt vernahm Nymardos diese Worte. Mit freundlicher Stimme antwortete er: "Hast du deinen Vater nach ihr gefragt?" "Schon lange nicht mehr," gab Cyprina zu. "Ich will ihm nicht weh tun und sicher weckt das schmerzhafte Erinnerungen in ihm." Fast hätte er ihr bei diesen Worten den Arm um die Schultern gelegt, doch er wollte das Mädchen nicht erschrecken. Nymardos bemühte sich, seinen Schritt dem ihren anzupassen. Auf Amarra, wo es keine Pferde gab, ging er oft weite Strecken mit großen Schritten. Nun mußte er etwas langsamer gehen, doch er kostete die Nähe des Mädchens aus und fühlte sich nicht gebremst.
"Deine Mutter Masira kannte ich gut," erklärte er offen, "sie lebte in der Nähe meines Tempels und ich habe sie oft gesehen." "Wie war sie, Herr? Was war ihr Tagwerk und wie sah sie aus?" "Du bist ihr sehr ähnlich," gestand Nymardos. "Dein Haar ist etwas heller, aber du hast ihre Augen und ihren Mund. Das Aussehen ist aber nicht so wichtig. Masira war voll Güte und Freundlichkeit, sie hatte für alle Menschen ein offenes Ohr und sie war immer bemüht, hilfreich zu sein." "Was war ihr Tagwerk?" Er lächelte. "Das war ihr Werk, Cyprina. Ich habe ihre Freundlichkeit nie durch einen Dienst begrenzt, falls du das meinst." "War sie eine starke Priesterin?" Nun blieb er stehen und sah Cyprina mit ernstem Blick an. "Du bist ein Kind der Liebe." sagte er ernst, "Deine Eltern sind Priester, aber das muß nicht unbedingt deinen Weg bestimmen." Nymardos erspürte ihre Gedanken. In den Nebelreichen zeugten Priesterin und Priester manches Mal in Trance ein Kind, um so neuem Leben die Gelegenheit zu geben, ohne karmische Bindung an die Eltern zu inkarnieren. Diese Menschen, Tempelkinder genannt, waren geboren, selbst Priester zu werden. Cyprina war kein Tempelkind und obwohl sie dies wußte, fürchtete sie doch, ihr Weg sei fest vorgegeben. Cyprina wich seinem Blick aus, als sie gestand:
"Erynia zeigt mir, wie man Kraft beherrschen kann. Ich denke, das ist besser, als wenn man von Kraft beherrscht wird." "Das sind nicht dieselben Kräfte," erwiderte er lächelnd. "Aber suche du nur deinen Weg und wenn du irgendwann sicher bist, deine Bestimmung gefunden zu haben, dann bleibe auch dabei und laß dich von niemandem in Frage stellen." "Nicht dieselben Kräfte?" Cyprina wunderte sich ein wenig über diese Behauptung. "Ich werde darüber nachdenken, Herr." Sie verneigte sich ein wenig und lief dann eilig davon, gerade so, als fürchte sie ein weiteres Reden über das, was sie bewegte. Nymardos nahm seinen Weg wieder auf. Zu Pferd hätte er Erynias Haus rasch erreichen können, doch er war kein guter Reiter und er besaß auch keinen Grund zur Eile. Die Nebel sanken, als er das kleine Haus erreichte.
I
n der Stunde, in der Nymardos sich vom Tempel entfernte, näherte sich aus der Richtung des Berges Tylt ein leichter Wagen, der nahe des Tempeltores hielt. Ihm entstiegen eine Priesterin und ein Priester, beide in die rote Gewandung des Gottes Minosante gekleidet. Ein Tempelhelfer eilte herbei, um sich um die Pferde zu kümmern. Ein Priester näherte sich den Ankömmlingen. "Mein Name ist Parcylen," stellte er sich mit freundlicher Stimme vor. "Willkommen in Raakis Haus. Unser Falla ist dem Tempel fern. Man kann ihm erst morgen von euch berichten. Solange aber seid Gäste des Tempels. Erlaubt, daß ich euch ein Gasthaus zeige."
"Wir danken für die Begrüßung," erwiderte die Frau. "Mein Name ist Talia, mein Begleiter heißt Jostur. Wir kommen aus Amarra und hoffen, daß der Falla uns empfangen wird." Parcylen schaute die Beiden mit unverhohlener Neugier an. Sie mochten in etwa dasselbe Alter haben. Jostur war ein Mann von drahtiger Gestalt. Sein dunkles Haar und sein tiefer Blick gaben ihm ein etwas verwegenes Aussehen. Talia an seiner Seite war durchaus eine Schönheit, deren füllige Locken ihr ebenmäßiges Gesicht sanft umrahmten. Beide waren sie Ende der Vierzig und beide trugen sie das Haar offen, was sie als Menschen der Macht auswies. "Wenn ihr wünscht," meinte Parcylen etwas unsicher, "so will ich euch gern der Falla Seryna melden." "Es genügt, wenn wir morgen empfangen werden," versprach Talia freundlich. "Die Reise war anstrengend und weit und ein wenig Ruhe ist nur willkommen." Parcylen führte die Gäste mit sich, während Tempelhelfer sich sofort des Gepäcks der Gäste annahmen. Talia erhielt ein kleines Gasthaus, das malerisch an einem Weiher lag. Josturs Haus befand sich etwas näher beim Tempel. Die Gäste zeigten sich sehr zufrieden und Parcylen ließ sie allein. Sobald sich die Nebel hoben, wollte er Gerrys entgegen reiten und ihm von dem Besuch berichten.
J
ostur fand keine Ruhe und so verließ er das Haus wieder und streifte durch den weiten Garten. Mit offenem Sinn nahm er seine Umwelt wahr. Seine Gedanken weilten in Khyon. Dort war er vor Jahren dem Tempelhelfer Rhagan begegnet, der ihm vieles über diesen Tempel erzählte. So manches erschien ihm damals unwahrscheinlich, aber nun erkannte er, daß Rhagan nicht übertrieb. Es war unmöglich,
den Stand eines Menschen hier an seiner Kleidung oder seinem Benehmen zu erkennen. Priester und Helfer lebten in Raakis Tempel in einer engen Gemeinschaft, die keine Unterschiede duldete. Daß es hier, im Gegensatz zu allen anderen Haupttempeln der Reiche, keine äußere Tempelmauer gab, die hoch und unüberwindbar den heiligen Bau abschirmte, war eine geschichtliche Tatsache, die man überall kannte. Diese Mauer wurde vor langer Zeit eingerissen, als Nodhers König mit dem Tempel verfeindet war. Danach sah niemand einen Anlaß, sie wieder zu errichten und so blieb Raakis erster Tempel der einzige, der sich nach außen hin nicht abschirmte. Es wurde langsam dunkel. Die Nebel hingen tief und hüllten das Land in einen weichen Schleier. Jostur wußte wohl, daß er als Gast des Tempels warten sollte, bis der Falla ihn begrüßte. Aber er bezwang seine Unruhe nicht und als sein Weg unbeabsichtigt in die Nähe Rhagans führte, beschloß er, mit diesem zu reden. Er sah den Hünen auf einer Bank vor einem flachen Haus sitzen. Er spielte mit einem Kind, das auf einen Ruf hin ins Haus eilte. Rhagan erhob sich. Auch er wollte das Haus betreten, aber da sah er den nahenden Mann und wartete. Er erkannte ihn nicht. Jostur neigte grüßend das Haupt und wunderte sich schweigend darüber, daß der Tempelhelfer nicht niederkniete vor einem Mann der Macht, der er durch sein offenes Haar ja sein mußte. Aber Rhagan bemerkte sein Versäumnis nun selbst, denn er kreuzte die Arme vor der Brust und schickte sich an, den schuldigen Gruß zu geben. "Du kennst mich nicht mehr?" stellte Jostur, ihn auf diese Weise zurückhaltend, fest. Rhagan musterte dunkler Blick auf.
ihn eingehend. Dann hellte sich sein
"Verzeiht mir, Jostur," bat er ohne jede Scheu. "Ich habe wirklich nicht erwartet, euch in Raakis Tempel zu sehen. Wenn ihr noch nicht gegessen habt, so seid mein Gast." Jostur staunte, mit welcher Selbstverständlichkeit der Tempelhelfer einen Priester in sein Haus bat, doch er schwieg darüber und nahm die Einladung an. Rhagans Gemahlin Shuny bewirtete ihn reichlich und die drei Kinder des Hünen nahmen die ganze Zeit des Gastes in Anspruch. Es war ein recht vergnüglicher Abend und Jostur wünschte, er wäre wirklich nur als Gast gekommen. Sehr spät erst begleitete Rhagan den Priester auf dem Weg zu seinem Gasthaus. "Ich muß mich bei dir entschuldigen," gestand Jostur im Schutz der Dunkelheit. "Auch wenn es nie meine Absicht war, dich zu täuschen, so habe ich es wohl doch getan. Amarra gefiel es, mich zu Minosantes Falla zu erheben." Rhagan zeigte sich wenig beeindruckt. "Der Than weiß sicher, was er tut," meinte er leichthin, "und ich denke, ihr freut euch über diese Ehrung und dieses Amt." "In gewisser Weise schon," gab Jostur zu. "Im Grunde freue ich mich sogar darauf, meine Heimat Thara wieder zu sehen. Dort steht mein Tempel." Rhagan ahnte Unheil. Er verhielt den Schritt. "Ihr habt mich einmal gefragt, ob ich wieder nach Thara gehen will," erinnerte er sich. "Ich habe nein gesagt." Jostur nickte. Er wußte, daß Rhagan in diesem wilden Bergland als Sklave geboren wurde und dort wie alle Sklaven
Tharas ein Leben in Stumpfheit verbrachte. Die mehr flüchtige Begegnung mit Gerrys hatte ihn verändert und nun war nicht mehr zu sehen, daß er je ein Leben in Unfreiheit führte. Rhagan konnte keine guten Erinnerungen an Thara haben. "Ich habe nicht um deine Begleitung gebeten," gab Jostur mit unruhiger Stimme zu. "Es ist der Wille des Than, daß du mit mir kommst." Trotz der Dunkelheit sah Jostur, wie sich der Hüne verkrampfte. "Meine Heimat ist hier," wehrte er sich, doch in seiner Stimme lag keine Kraft. Rhagan kannte Seymas, der nun als Than regierte. Er kannte ihn als verspielten Jungen und schelmischen Jüngling. Aber er kannte ihn nicht als einen Mann unbegrenzter Macht. So hatte er Nymardos gekannt und zu diesem von der ersten Begegnung an großes Zutrauen gefaßt. Nie fühlte er sich von Amarra bedroht zu einer Zeit, als Amarra und Nymardos ein gleichbedeutendes Wort darstellten. Jetzt herrschte dort Seymas und wie immer gab es keine Möglichkeit, sich gegen eine Entscheidung des Than zu wehren. "Es tut mir leid," sagte Jostur mit ehrlichem Bedauern. "Ich bat darum, ohne dich reisen zu dürfen, doch der Than hat seine Entscheidung nicht revidiert. Du mußt mit mir kommen, Rhagan." "Um was zu tun?" "Es gibt keine weiteren Anweisungen," gab Jostur zu. "Du bist Tempelhelfer und wirst Arbeit und Auskommen haben. Ich werde dafür sorgen, daß dir dort durch deine Vergangenheit keine Nachteile entstehen."
"Dazu ist es wohl zu spät," stieß Rhagan bitter aus. "Aber verzeiht, Falla, wenn ich euch jetzt allein lasse. Bleibe ich länger, werde ich wohl ungerecht gegen euch." Er flüchtete ins Dunkel, um zu verhindern, daß er Jostur nun jene Vorwürfe machte, die bestenfalls gegenüber dem Than gerechtfertigt wären.
E
rynia freute sich ehrlich über den unerwarteten Besuch und sie zeigte diese Freude unverhohlen. Nymardos hatte sie damals in Wyla fasziniert und sie suchte diese Faszination erneut. Sie plauderte lange mit ihm, sprach dabei über Gerrys, Tibra und vor allem Cyprina, über ihre Arbeit und ihr Leben hier und bei alledem versuchte sie ohne Scheu, ihn zu verführen. Auch wenn sie schon Jahre in Nodher lebte, so war sie doch eine Frau Wylas und dort entschieden allein die Frauen, wer ihr Lager teilen sollte. Dort kam ein Mann einer solchen Aufforderung stets nach und es war ihm Ehre und Auszeichnung zugleich. Nymardos genoß die Stunden solange, wie sie ein reizvolles Spiel darstellten. Erynia gefiel ihm durchaus, aber er war kein Mann großer Leidenschaft, der sich einem Verlangen vorschnell ergab. "Antares' Stunde," stellte er schließlich die Mitternacht fest, "es ist wohl Zeit, zu gehen. Ich hoffe, dich auch einmal im Tempel begrüßen zu dürfen." "Wartet," hielt sie ihn zurück, "ihr könnt nicht mitten in der Nacht weggehen. Ich möchte, daß ihr bei mir bleibt. Habe ich das nicht deutlich genug gezeigt?" Sie setzte sich dicht neben ihn, was ihm ein sher leises Lachen entlockte.
"Es war schon deutlich genug," gab er zu, "aber es wird dadurch nicht richtiger." "Wegen Tibra? Er kann mir nichts vorschreiben und er hat auch nie verlangt, daß ich Gerrys aufgebe. Er weiß genau, daß er mich nur halten kann, wenn er mir die Freiheit läßt." "Und ich weiß genau, daß ich seine Freundschaft nur dann verdiene, wenn ich seine Gefühle nicht mißachte." Erynia sprang auf. Sie wurde fast zornig und ertrug die Ablehnung nur schwer. "Es hat euch aber nicht gestört, bei mir zu liegen, obwohl ihr wußtet, daß Gerrys mich liebt," fuhr sie ihn an. "Es hat auch Gerrys nicht gestört," erinnerte er sie fröhlich. "Und nun sei nicht gekränkt, Erynia. Im Grunde ist es dir so wenig wichtig wie mir." Sie wollte ihn nicht gehen lassen, aber Nymardos ließ sich nicht halten und verabschiedete sich zwar freundlich, doch sehr nachdrücklich von der Schwester des Freundes. Die Dunkelheit der nächtlichen Nebel hüllte ihn ein. Nymardos entlockte seinem Lebenden Kristall, den er stets bei sich trug, die Fülle des Lichtes, doch auch diese Lichtquelle konnte die Nebel nicht weit durchdringen. Sie genügte lediglich, ihn den Weg nicht verfehlen zu lassen.
T
ibra war gelernter Tuchmacher und obwohl er in der Gilde der Magier ein hohes Ansehen besaß, so war es doch niemals möglich, seinen Dienst zu erkaufen und seine Fähigkeiten für eigenes Sinnen zu nutzen. Seit er in Khyon Gerrys begegnete und zwischen diesen beiden ungleichen Männern eine aufrichtige Freundschaft entstand, lebte er in der Nähe des Schwarzen Tempels. Anfangs verdiente er sich
seinen Lebensunterhalt in der Tuchmacherei, doch seit langem widmete er sich vermehrt seinen magischen Studien. Als Tempelherr verfügte Gerrys über große Mittel und er ließ Tibra davon mehr als genug zukommen, unabhängig davon, ob er sich in der Tuchmacherei einfand oder nicht. Sie sprachen nie darüber und es war die Selbstverständlichkeit der Sache, die Tibra bewog, mehr seiner Neigung zu leben. Als Nymardos noch als Than herrschte, setzte der Magier seine Kraft, wenn auch gegen die eigene Überzeugung, zwei Mal für Amarra ein. Er rettete Seymas dadurch das Leben, aber auch jenes des Priesters Thyrian, der nun der vertrauteste Freund des neuen Than war. Natürlich wußte er, daß Erynias Gedanken zu viel bei Nymardos weilten und es gefiel ihm nicht. Andererseits schätzte er diesen Mann selbst sehr hoch und achtete sorgsam darauf, daß nichts ihre beginnende Freundschaft gefährden konnte. Als es nun an seiner Tür pochte und er Nymardos eintreten sah, leuchteten seine Augen erfreut auf, obwohl er genau erspürte, woher er kam. "Ich fürchte, ich störe," stellte Nymardos mit einem Seitenblick auf den Tisch fest. Tibra zuckte nur mit den Schultern zum Zeichen dafür, daß das nicht so wichtig sei. Er löschte mit der Hand die Kerzen, die auf dem Tisch standen und hüllte fast ein wenig hastig die geschliffenen Edelsteine, die zwischen den Kerzen lagen, in weiche Tücher. Nymardos sah ihm mit verschränkten Armen zu. Sie mußten nicht darüber reden. Es war offensichtlich, daß Tibra eben ein magisches Zeremoniell vorbereitete. "Ich habe um diese Zeit nicht mit Besuch gerechnet," gab Tibra unumwunden zu, während er Wein in Pokale füllte und einen davon Nymardos reichte. "Aber es ist weit bis
zum Tempel und wenn ihr wollt, findet ihr hier ein bequemes Lager." "Ich fürchte die Nacht nicht und ich bin auch nicht müde," antwortete Nymardos, während er Platz nahm. "Ich wollte nur einen Freund besuchen. Das nächste Mal lasse ich es dich vorher wissen." Tibra lachte heiter. "Wegen der Kerzen? Ich bitte euch, Herr. Ich öffne meine Tür nur, wenn ich Besuch auch empfangen will. Ihr stört wirklich nicht, im Gegenteil." "Trotzdem nennst du mich noch immer deinen Herrn." "Ihr seid Pala des Than," meinte der Magier gelassen, "damit ist dies die Anrede, die euch überall in den Reichen begegnen muß." "Nicht von Freunden," wehrte Nymardos lächelnd ab. "Deine Vorsicht ist unbegründet." "Dessen bin ich mir noch nicht so sicher," gab Tibra grinsend zu. "Wenn wir Rivalen werden, dann werden wir zwangsweise auch Gegner sein. Ich hoffe nur, wir werden keine Feinde." "Wir sind nicht einmal Rivalen," versprach Nymardos gelassen. Aufmerksam musterte ihn Tibra. Dann bewies er wieder einmal sein erstaunliches Einfühlungsvermögen, als er seine Gedanken in Worte faßte: "Daß ich Erynia liebe und mit ihr zusammen bin, das mißfällt euch weit weniger als die Tatsache, daß Gerrys' Tochter sie bewundert."
"Deine Liebe zu Erynia mißfällt mir überhaupt nicht," versprach Nymardos fröhlich. Er leerte den Becher und erhob sich. "Wenn ihr jetzt geht," warnte Tibra leise, "dann werde ich euch stets meinen Herrn nennen." "Begleite mich doch einfach auf meinem Weg," schlug Nymardos vor. Und als sie dann durch die Dunkelheit gingen, fiel es ihnen mit einem Mal leicht, offen und fast vertraut miteinander zu reden.
R
hagan ging nicht nach Hause. Er wußte nicht, wie er die Entscheidung Amarras seiner Gemahlin Shuny mitteilen sollte und er wußte auch nicht, wie er damit leben konnte. Unwillkürlich lenkte er trotz der Dunkelheit seinen Schritt in Richtung des Tylt. Dort lebte als Verwalter der Sajik-Plantage Attor, Gerrys' Bruder. Attor erwarb ihn, als er noch Sklave Tharas war und er war ihm wirklich ein guter Herr gewesen. Rhagan ging langsamer. Ein guter Herr war Attor sicherlich, aber danach niemals ein guter Freund. So oft er ihn aufsuchte, begrüßte ihn Attor zwar freudig. Doch er interessierte sich nie wirklich für das, was den Hünen bewegte. Und Rhagan brauchte jetzt jemanden, der ihm zuhörte, der ihn verstand und der ihm zumindest das Gefühl vermittelte, daß sein Schicksal nicht gleichgültig war. Es war noch gar nicht so lange her, daß ihm Tibra anbot, wo nötig stets für ihn bereit zu sein und daran erinnerte sich der Hüne nun.
Er suchte den Magier auf, fand sein Haus verwaist und fühlte Enttäuschung dabei. Aber er blieb und wartete auf Tibras Rückkehr.
G
errys genoß den schnellen Ritt. Als Raakis Falla herrschte er über viele hundert Menschen und zu seinem Bereich gehörte so manches Dorf. Er hatte die SajikPlantage aufgesucht und dort manche Entscheidung getroffen, war danach zu einem der Dörfer geritten, um auch dort seinen Willen durchzusetzen und befand sich nun auf dem Rückweg zum Tempel. Er liebte sein Amt und seine Heimat. Seit Nymardos in Nodher lebte, hatte sich auch sein letzter großer Wunsch erfüllt. Die Nähe des Freundes bedeutete ihm alles. Er sah einen Reiter und rief ihn an. Wenig später zügelte Parylen sein Pferd bei ihm. "Ihr solltet wirklich nicht ohne Begleitung reisen, Herr," meinte der Priester nach kurzem Gruß. "Du bist kaum gekommen, um mich zu beschützen," lachte Gerrys fröhlich. "Ich sehe auch keine Feinde weit und breit. Willst du mit mir kommen?" "Ihr reitet nicht zum Tempel? Verzeiht, Herr, es liegt mir fern, euch raten zu wollen. Doch es sind Reisende aus Amarra angekommen, die von euch empfangen werden möchten." "Wer sind sie?" "Sie heißen Jostur und Talia. Sie tragen das Haar offen und zeigen sich in Minosantes Gewandung."
Gerrys lächelte. Seymas hatte ihm bei seiner Amtseinführung schon entdeckt, daß Jostur wohl der neue Falla Minosantes in Thara sein werde. Die vorigen Fallas hatte er fast zornig entmachtet, da es ihm nicht gefiel, daß in einem Tempel Sklaven wie Tiere gehalten wurden. "Hat Nymardos sie begrüßt?" wollte Gerrys wissen. "Der Pala des Than war zu der Zeit nicht im Tempel," gab Parcylen zu. "Ich habe ihn gestern nicht gesehen. Hätte ich nach ihm suchen sollen?" "Nicht unbedingt. Aber er kennt Jostur und hätte ihn sicher an meiner Stelle empfangen. Nun komm, wir wollen die Gäste willkommen heißen."
I
m Tempel angekommen suchte er zunächst seine Gemächer auf, um sich in das metallisch schimmernde schwarze Gewand seines Amtes zu kleiden, das einen krassen Widerspruch zu seinem hellen, fast weißen und sehr dünnen Haar bildete. Nun wirkte er blaß, wie von schwerer Krankheit genesen. Nur sein kraftvoller Blick strafte dieses Bild Lügen. Ein wenig wunderte er sich schon darüber, daß Seymas die neuen Fallas in seinem Tempel rasten hieß. Das stellte zwar keinen großen Umweg dar, doch es hielt Talia und Jostur ein paar Tage auf. Gerrys wartete, bis Seryna zu ihm kam, ehe er nach den Gästen schicken ließ und er freute sich, als auch Nymardos seine Räume aufsuchte. Seryna leitete von Anfang an gleichberechtigt mit ihm diesen Tempel und in allem, was die Frauen betraf, galt sie als die Herrin. Talia konnte nur durch sie begrüßt werden. Josturs Augen leuchteten erfreut auf, als er Nymardos so unerwartet sah. Es war noch gar nicht so lange her, daß er zu dessen vertrautem Umkreis gehörte. Jetzt aber zeigte sich
Jostur verunsichert. Seryna und Gerrys war er ebenbürtig, vor dem Pala des Than jedoch hatte er zu knien. Er wußte nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. Nymardos erhob sich, trat zum geöffneten Fenster und sah hinaus. Er wandte den Gästen so den Rücken zu und enthob sie damit der Notwendigkeit jeder Begrüßung. Seryna begrüßte die beiden neuen Fallas und schaffte es mit wenigen Worten mühelos, jede Spannung zu zerstreuen. "Wir danken für die freundlichen Worte," sagte Talia nun. "Aber wir werden nicht verweilen, sondern schon morgen nach Thara aufbrechen. Minosantes Tempel soll nicht länger ohne Leitung sein." Sie warf Jostur einen auffordernden Blick zu und so gestand dieser mit leiser Stimme: "Es ist der Wille des Than, daß der Tempelhelfer Rhagan künftig in Thara leben soll." Seryna ballte die Hände zu Fäusten. "Es hat den Than nie interessiert, ob eine seiner Entscheidungen einen Menschen unglücklich macht oder nicht," murmelte sie erschüttert. Sie dachte dabei an Sathor, den sie liebte. Er lebte viele Jahre hier als Gerrys' Vertreter bis zu dem Tag, an dem ihn Nymardos zu Raakis Falla auf Khyon berief und sie somit trennte. Es hätte nichts geholfen, ihn zu begleiten, denn die Fallas eines Tempels durften sich nach geltendem Recht nicht vereinen; ein Grund, weshalb auch ihre Liebe zu Gerrys keine Erfüllung finden konnte. Nymardos ignorierte ihren Zorn. Sathor liebte sein Amt und bedauerte nicht, Nodher verlassen zu haben. Auch Seryna
wußte, wie sehr dem Geliebten sein neues Leben gefiel. Gerrys ließ nach Rhagan schicken, um ihm über diese Entscheidung zu unterrichten und vernahm erstaunt von Jostur, daß er in der Nacht schon mit dem Helfer des Tempels sprach. "Dazu hattet ihr kein Recht," wies er Jostur kühl zurecht. "Noch ist Rhagan mein Mann und es stand euch nicht zu, ihn zu bedrängen." "Das war auch nie meine Absicht, Falla," wehrte sich Jostur sofort. "Ich bedauere selbst, daß er Nodher verlassen muß und werde alles tun, um ihm sein Leben zu erleichtern." "Ihr hattet trotzdem beharrte Gerrys.
kein
Recht,
mir vorzugreifen,"
Jostur erhob sich. "Ich nehme den Tadel hin," erklärte er in verbindlichem Ton, "und ich bitte um Vergebung für mein voreiliges Handeln. Ich werde Rhagan ausweichen, bis wir diesen Tempel verlassen." Er ging zur Tür und wollte den Raum verlassen. Nun erst wandte sich Nymardos um. "Jostur," hielt er ihn mit leiser, ruhiger Stimme zurück, "es widerspricht sich, um Verzeihung zu bitten und doch gleichzeitig beleidigt wegzugehen. Niemand unterstellt dir, Rhagan schaden zu wollen. Doch schlechte Nachrichten vernimmt ein Mensch am sanftesten aus vertrautem Mund." Minosantes Falla kämpfte mit sich. Es war ihm anzusehen, wie er mit seinem eigenen Zorn rang. Endlich aber kreuzte er die Arme vor der Brust und kniete vor Nymardos nieder. Unsicher sah Talia zu ihm. Als sie sich erheben wollte, um es
ihm gleich zu tun, legte Seryna die Hand auf ihren Unterarm und hielt sie wortlos zurück. Dabei sah sie Nymardos fest an, der ihr Eingreifen mit einem sanften Lächeln billigte. Gerrys hob Jostur auf und drückte ihn in einen der hohen Sessel. "Rhagan ist mehr als ein Helfer des Tempels," erklärte er dabei. "Er ist für uns alle ein treuer Freund und es kann uns natürlich nicht gefallen, wenn sein Leben eine für ihn unerfreuliche Wende nehmen muß." "Es gefällt auch mir nicht," gab Jostur zu. Parcylen kam herein und berichtete, daß Rhagan die vergangene Nacht nicht in seinem Haus verbrachte. Niemand wußte, wohin er gegangen war. Jostur wurde mehr als nur unruhig. "Laßt den Helfer überall suchen," befahl er. Nymardos lachte leise. "Dies ist nicht dein Tempel, Jostur. Raakis Falla entscheidet, was geschehen soll." Pacylen sah fragend auf Gerrys und als der sacht den Kopf schüttelte, ging er wieder hinaus. Niemand würde nach Rhagan suchen. "Er wird es nicht überleben, wenn er Amarras Willen entfliehen will," murmelte Talia. "Und ich fürchte, Amarra wird dies auch seinen Freunden nicht vergeben." Nymardos sah wieder schweigend zum Fenster hinaus. Erst, als Gerrys neben ihn trat, sagte er leise, nur dem Freund verständlich:
"Seymas wird es dir wirklich übelnehmen, wenn du Rhagan vor ihm schützen willst." "Ich glaube nicht, daß Rhagan so dumm ist, fortzulaufen," erwiderte Gerrys in gedämpftem Tonfall. "Er ist nicht verpflichtet, ständig im Temeplbereich zu verweilen und ich denke, er bespricht die Sache mit Attor. Er wird schon kommen." Nymardos lächelte sacht. "Attor ist in dem Fall der schlechteste Ratgeber, den er aufsuchen kann. Er würde ihm zur Flucht raten." Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten. Seryna ließ die Gäste bewirten und zog sie ins Gespräch. Zäh zogen sich die Stunden. Sie hörten, wie der Tempel zu den heiligen Ritualen rief, aber sie nahmen nicht daran teil. Im Grunde sorgten sie sich alle um Rhagan, von dem sie nicht wußten, wo er sich aufhielt.
G
egen Abend öffnete sich die Tür. Tibra kam und wie immer, so verzichtete er auch nun auf eine formelle Anmeldung. Der Magier beachtete keinen der Anwesenden. Nur auf Jostur richtete sich sein dunkler Blick. Minosantes Falla erkannte ihn sofort. In Khyon hatten sie einige Tage zusammen verbracht. Während sich Jostur langsam erhob, sagte Tibra mit dunkler, fast drohender Stimme: "Wenn Rhagan in Thara ein Leid geschieht, dann werde ich kommen und euch zur Rechenschaft ziehen. Und dann werdet ihr wünschen, Falla, daß Amarras Zorn schneller ist als der meine, weil er weniger furchtbar für euch sein wird." Gerrys trat rasch herbei und legte dem Freund mahnend die Hand auf die Schulter, aber Tibra schüttelte sie ab und blieb bei seiner drohenden Haltung. Rhagan, der in seiner
Begleitung gekommen war, sah recht unglücklich aus. Aber er kreuzte die Arme vor der Brust, kniete vor Jostur nieder und versprach: "Ich werde euch dienen, so gut ich es vermag, Herr. Ist es mir erlaubt, meine Familie mitzunehmen?" Jostur hob ihn auf. "Ich sagte dir schon, daß es keine weiteren Weisungen gibt," erwiderte er unruhig. "Wenn du es möchtest..." "Möchtest du es wirklich?" mischte sich Nymardos mit sanfter Stimme ein. "Auch deine Frau war einst eine Sklavin. Glaubst du, Thara vergißt eine solche Vergangenheit eines Menschen?" Rhagan preßte die Lippen zusammen bei diesen Worten. "Hat sich nicht dein Ältester Tyllmon eben einen Lehrer gesucht, der ihm die Schrift beibringt? In anderen Tempeln werden die Kinder der Helfer nicht gleichberechtigt mit denen der Priester unterrichtet, das weißt du." "Ich weiß es," gab Rhagan schuldbewußt zu. "Ich habe es nur nicht bedacht. Ich fürchte Thara und die Einsamkeit dort, aber ich weiß auch, daß ich dort nicht für die Meinen werde sorgen können." Bittend sah er Gerrys an. "Für deine Familie ist in allem gesorgt," versprach ihm Raakis Falla mit fester Stimme. Rhagan trat zu Nymardos. Er hob den Kopf, hielt aber dem Blick des andern nicht stand und senkte das Haupt. "Herr," sagte er leise, "wäre es eure Weisung, so würde ich mich nicht fürchten. Warum tut er das?"
"Wäre es meine Weisung, so gäbe es keine Antwort auf diese Frage," erwiderte Nymardos lächelnd. "Er tut es, weil er es für richtig hält und niemand hat das Recht, eine Entscheidung des Than zu hinterfragen." Er legte die Hand unter das Kinn des Hünen und hob dessen Kopf, zwang ihn so sacht, ihn anzusehen. "Meine guten Wünsche begleiten dich, Rhagan. Mögen die Götter deinen Weg beschirmen." "Geh nun zu deiner Familie," riet ihm Gerrys. "Wenn sich die Nebel heben, mußt du reisen." Kaum, daß der Tempelhelfer den Raum verlassen hatte, mußte sich Tibra von Gerrys hart tadeln lassen. "Du kannst keinen Falla bedrohen, Freund. Was immer auf Thara geschehen wird, es geht dich nichts an." Er wandte sich an Jostur. "Nun bin ich es, der euch um Verzeihung bittet für das ungebührliche Betragen Tibras." "Er macht nicht den Eindruck, als wenn er seine Drohung nicht ernst meinen würde," wehrte der gelassen ab. "Er meint es durchaus ernst," stellte Nymardos ruhig fest. "Aber er kann nicht wissen, wie wenig du Rhagan bedrohst, Jostur. Achte auf den Tempelhelfer und dulde nicht, daß ihm Verachtung widerfährt." "Das wird schwer," vermutete Talia. "Sobald die Menschen dort erfahren, daß er ein Sklave war, werden sie ihn auch so behandeln." "Die Menschen im Tempel sind euch beiden untertan," wehrte Nymardos ab. "Die letzten Fallas wurden entmachtet, weil sie den menschlichen Geist in Sklaven nicht achten wollten. Und Rhagan ist nicht nur ein freier Mann, er ist auch Amarra oft hilfreich gewesen und Seymas kennt ihn durchaus. Er hat ihn euch nicht anvertraut, um ihm zu schaden. Also achtet auf ihn."
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inosantes Tempel auf Thara lag in einer Senke, umgeben von mächtigen Bergen, die hoch hinauf ragten. Die Senke zeigte sich groß genug, um etwas Landwirtschaft zu dulden. Ein kleiner See, gespeist von einer unterirdischen Quelle, lieferte das Wasser, das die Menschen brauchten. In den steilen, teilweise fast senkrechten Berghängen arbeiteten die Sklaven, wo sie die Steine brachen und nach wertvollen Achaten suchten. Zum Tempel gehörte eine Priesterschaft von fast dreihundert Menschen und ebenso viele Sklaven lebten hier. Tharas Sklaven, so sagte man überall in den Reichen, sind die besten. Zumindest die Haussklaven brauchten keine Peitsche und keinen Zwang, sondern lebten in stumpfer Ergebenheit. Die Arbeitssklaven wurden weniger gut behandelt und auch nicht selten geprügelt. Man sprach fast nie mit ihnen und erlaubte ihnen die Rede nicht. Sie reagierten ohne Zögern auf Handzeichen und zeigten niemals irgendwelche Bedürfnisse. Im Grunde waren sie Miska. Starke Magier vermochten es, Miska zu erschaffen und das konnte auch die Folge großer seelischer Erschütterung sein. Miska bezeichnete einen geistlosen Leib, fähig zu motorischen Diensten, aber ohne Gefühl oder Verstand. Echtes Miska war schwach und langsam. Das konnte man von Tharas Sklaven nicht sagen. Karyson war gerade dreissig Jahre alt. Er lehnte am inneren Tempeltor und ließ den Blick über die Berghänge schweifen. Das glatte schwarze Haar hielt er gebunden, doch in seinem dunklen Blick lag ein gewisses Machtbewußtsein. Seit Jahren war er San des Tempels und damit der Verwalter und Vertreter des Falla. Als er erfuhr, daß der bisherige Tempelherr nicht wiederkehren würde, sondern vom Than entmachtet war, blieb er äußerlich völlig ruhig. Er ließ es sich nicht anmerken, wie sehr er die Entscheidung Amarras hier bedauerte.
Der San wartete auf seinen neuen Herrn, von dem er nicht einmal wußte, ob er schon unterwegs war. Aber Amarra ließ einen Haupttempel nie lange ohne Herrschaft und es konnte nicht mehr viel Zeit vergehen, bis die neuen Fallas kamen. Es war alles für sie vorbereitet und wenn sie Wünsche haben sollten, so würde er sie zu erfüllen wissen. Aber ein unbehagliches Gefühl blieb doch in ihm. Es war nicht einfach, einen neuen Herrn auch innerlich zu bejahen.
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hagan lenkte den Wagen, in dem Talia und Jostur die Reise durch Thara mit staunendem Blick auf die wild zerklüftete Landschaft geradezu genossen. Er akzeptierte inzwischen, daß die beiden Fallas ihm nicht schaden wollten und legte sein Mißtrauen nach und nach ab. Er hatte ihnen angeboten, sie das Reiten zu lehren, da dies in allen Reichen außer Amarra die gewohnte Art der Fortbewegung darstellte. Aber beide lehnten ab. Sie wollten es später im Tempel lernen, sich aber jetzt nicht aufhalten lassen. Sie kamen an einem Steinbruch vorbei und sahen Tharas Sklaven. Rhagan zügelte die Pferde und wartete. Sie sollten diesen Anblick ganz in sich aufnehmen können. "Weiter," entschied Talia, "der Anblick ist unerträglich. So darf man Menschen nicht behandeln." "Die ersten Sklaven, die ich seit vielen Jahren sehe," murmelte Jostur. Rhagan wandte sich auf dem Kutschbock um und sah die beiden an. "Ihr irrt euch," sagte er ruhig, "denn in Raakis Tempel seid ihr beide von Sklaven bedient worden." "Das waren Tempelkinder," widersprach Talia.
"Das ältere der beiden Mädchen, die euch diente, war es," gab Rhagan zu. Er nahm die Zügel wieder auf. Talia und Jostur wurden still. Daß sie in Raakis Tempel Sklaven von Freien nicht zu unterscheiden vermochten, beschäftigte sie. Der dunkle Gott des Todes kannte keine Unterschiede, doch daß auch sein Falla dies durchzutragen vermochte, das war höchst ungewöhnlich. Man sprach darüber in den Tempeln, aber man hieß es letztlich nicht gut. Doch solange Amarra dies duldete, gab es kein Wort dagegen.
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achdem Rhagan mit Minosantes' Fallas Raakis Tempel verlassen hatte, gab es heftigen Streit zwischen Tibra und Gerrys. Daß der Magier einen Falla so offen bedrohte, das galt in den Reichen durchaus als Verbrechen und wurde von Amarra wie von den Herrschern geahndet. Sie wurden laut dabei, so laut, daß Nymardos ihre Stimmen im Garten hören mußte. Als er zu ihnen kam, ballte Gerrys eben die Faust, um sie Tibra ins Gesicht zu schlagen. Ein rascher Griff Nymardos' hinderte ihn daran. Gerrys entwand sich seinem Griff. "Misch' dich nicht ein," fuhr er Nymardos an. Der reagierte mit einem leisen, aber durchaus fröhlichen Lachen. "Wenn du dich innerhalb des Tempels mit Tibra schlagen willst, bist du als Tempelherr immer im Vorteil," meinte er leichthin. "Wodurch hat er dich denn so geärgert, Freund?" "Er nimmt mir übel, daß ich Jostur bedrohte," bekannte Tibra freimütig. "Das tue ich auch," gab Nymardos zu, "aber ich werde mich deshalb nicht mit dir schlagen. Und nun versöhnt euch wieder.
Es gibt keinen Grund zur Feindschaft." "Er hat einen Falla bedroht," murrte Gerrys. "Er ist Rhagan wie ein echter Freund beigestanden," berichtigte Nymardos. "Wenn sich Jostur beklagen will, soll er sich an Seymas wenden. Aber ich denke nicht, daß ihm danach der Sinn steht." Tibra starrte zum Fenster hinaus. "Ich verstehe die Entscheidung des Than nicht." "Da gibt es nichts zu verstehen," stand Nymardos dem fernen Freund bei. "Seymas hat nicht logisch entschieden, sondern folgte seiner Intuition. Er sieht den Tempel, sieht, wer dort herrschen soll und er sah dabei eben auch Rhagan. Was sich daraus ergeben wird, wird sich finden." "War das auch eure Art der Herrschaft?" wollte der Magier wissen. "Natürlich," gab sagen können, wie einverstanden war. es Seymas' Sache, zuzweifeln."
Nymardos ruhig zu. "Gerrys wird dir wenig er mit meinen Entscheidungen oft Sie waren trotzdem richtig. Jetzt ist zu herrschen. Und unsere, ihn nicht an-
"Das fällt mir schwer," gab Tibra zu. "Ich höre noch sein unbeschwertes Lachen. Es macht mir Angst, daß er nun unbegrenzte Macht besitzt." "Eine Macht, die dir in dem Augenblick zum Verhängnis wird, in dem du wirklich einen Falla angreifst," warnte Gerrys. "Ich könnte dich in dem Fall nicht schützen." "Das sah eben aber eher so aus, als wenn Tibra vor dir beschützt werden müßte," meinte Nymardos heiter. "Wie
wäre es mit einem Ausritt? Das kühlt vielleicht eure hitzigen Gedanken etwas ab." Sie ließen sich überreden und es dauerte wirklich nicht lange, bis sich Gerrys und Tibra wieder versöhnten. Auch in der folgenden Zeit weilten die Gedanken der Freunde oft bei Rhagan, doch der Alltag ging weiter und erlaubte kein beständiges Sorgen. Tibra weilte nun häufiger nahe beim Tempel, denn er kümmerte sich um Rhagans Kinder und wurde ihnen ein steter Ratgeber. Shuny brauchte keinen Trost. Ihr Gemahl war so oft mit oder für Gerrys auf Reisen gewesen, daß sie auch diese Zeit der Trennung akzeptierte und fest darauf vertraute, daß sie enden würde. Auch Erynia kam manches Mal. Sie verbrachte dann viel Zeit mit Cyprina, doch sie trachtete auch stets danach, Nymardos zu begegnen. Sie zeigte in aller Offenheit und ohne jede Scheu, daß sie sein Nein nicht hinnehmen wollte und ihn begehrte. Tibra sah es. Es gefiel ihm nicht, doch er schwieg dazu. Nymardos lachte darüber und achtete nur darauf, nie zu lange mit Erynia allein zu sein. Es war fast wie ein neckisches Spiel, das im Grunde weder er noch Gerrys' Schwester wirklich ernst nahmen.
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alia und Jostur hießen Rhagan, den Wagen anzuhalten. Vor ihnen tat sich die Senke auf und sie schauten zum ersten Mal auf ihre neue Heimat. Der prächtige, hohe Bau wirkte fast klein, umgeben von den hohen Bergen. Es grünte im Tal und auch an den Hängen. Aber sie achteten nicht so sehr auf die Natur. Ihre Blicke fraßen sich an den Menschen fest, die winzig in den Felshängen wirkten und dort die Steine brachen, um sie dann in Körben auf ihrem Rücken ins Tal zu schleppen. Ab und an hörte man den Klang einer Peitsche. Rhagan hielt den Blick gesenkt. Er wollte das nicht sehen,
aber er konnte nicht verhindern, daß Erinnerungen, die er längst überwunden glaubte, nun machtvoll in ihm erstanden. Die Jahre der Freiheit zerflossen zu nichts. Ihm war, als sei kaum ein Tag vergangen, seit er selbst genau diese Arbeit tat, genau so lebte und weder Wünschen noch Hoffen kannte. Er gehörte damals keinem Tempel, aber das machte keinen Unterschied. Die Steinbrüche seines einstigen Herrn sahen so ähnlich aus, auch wenn die Felswände nicht so hoch waren. Die Aufseher trugen keine Tunika, aber die Peitschen unterschieden sich nicht. "Ich dachte, es berührt mich nicht mehr," murmelte er, mehr zu sich selbst. "Diese Sklaven Talia erschüttert.
müssen
unendlich leiden," vermutete
Rhagan wandte sich zu ihr um. "Nein, Herrin," erwiderte er mit ernster Stimme, "sie leiden nicht. Die Peitschen knallen in der Luft, sie schinden nicht, solange die Arbeit getan wird." "Kein Leiden?" vergewisserte sich Jostur. "Wie sollte es, Herr? Tharas Sklaven kennen nichts anderes als Wasser, Molnüsse und Arbeit. Sie kennen keine Wünsche, keine Sehnsüchte, keine Hoffnungen. Sie reden nicht einmal und wenn ihr ihnen freundlich gesonnen seid, dann sprecht ihr sie auch nicht an und erwartet von ihnen kein Wort. Sie schauen euch nicht an, achten aber auf eure Hände, mit denen ihr eure Befehle erteilen werdet. Belaßt es dabei und dann ist es in Ordnung für sie." "Aber es sind Menschen," warf Talia ein. Rhagan lachte bitter auf.
"Das ist Miska," stellte er richtig. "Keiner von ihnen denkt wirklich. Glaubt mir, als ich das alles hinter mir ließ, da war es mit der größte Augenblick meines Lebens, als ich das erste Mal das Wort Ich in Bezug auf meine Person zu denken vermochte, als ich das erste Mal feststellte, daß ich überhaupt ein Ich habe." Die beiden Fallas sahen sich an. Ehe Seymas sie nach Thara sandte, ließ er sie sehr genau über die Sklaven Tharas informieren. Daß Rhagan nun diese Lehre untermauerte, verwirrte sie. "Dieser Tempel erhielt neue Herrschaft, weil er Tharas Sklaven falsch behandelte," erinnerte Jostur. "Es ist falsch, wenn ihr zur Stumpfheit Erschöpfung und zur Erschöpfung Hunger gesellt," erwiderte Rhagan leise. "Aber es ist ebenso falsch, wenn ihr einen offenen Blick oder ein Wort verlangt. Falsch sind sicher auch die Zuchtkriterien, mit denen in Thara neue Sklaven gezeugt werden. Und es ist nicht in Amarras Sinn, wenn ihr, was sehr selten geschieht, das aufkeimende Erwachen des Geistes durch Macht und Gewalt unterdrückt." "Was in Amarras Sinn ist, kannst du wohl kaum beurteilen," wies ihn Jostur da in sachlichem, recht unpersönlichem Ton zurecht. Rhagan sagte nichts dazu. Er nahm wieder die vorige Haltung ein und wartete auf Befehle. "Sei nicht beleidigt," lenkte Jostur da ein. "Aber um Amarra zu verstehen, muß man wenigstens zum Priester befähigt sein." Rhagan starrte vor sich hin. Bei diesen Worten tauchte eine andere Erinnerung in ihm auf. Er lächelte unwillkürlich.
"Fragt den Than danach," schlug er ruhig vor. "Er zumindest ist davon überzeugt, daß ich diese Befähigung habe." Jostur neigte sich überrascht nach vorne. "Wie meinst du das?" "Ich fühle mich nicht zur Priesterschaft berufen, Herr," antwortete Rhagan mit fester Stimme, "und deshalb strebe ich sie auch nicht an. Aber die Befähigung dazu habe ich durchaus. Seymas selbst hat es mir gesagt und mir bewiesen." "Wann?" Rhagan zuckte nur mit den Schultern. Das lag viele Jahre zurück. Damals war Seymas noch ein Kind gewesen. Aber das änderte nichts an dem Geschehen. "Fahr weiter," verlangte Jostur unruhig, da der Hüne nun schwieg. Die Felshänge bildeten eine natürliche äußere Mauer um den Tempel. Nur ein schmaler Weg führte in die Senke und dort, wo dieser sich zum Tal hin weitete, fand sich auch das schwere, zweiflügelige Tor, mit dem bei Nacht der Zugang fest versperrt wurde. Rhagan lenkte den Wagen bis zum inneren Tempeltor, das in den Bau selbst führte. Dort zügelte er die Tiere. Die Priesterschaft strömte herbei. Als Talia und Jostur aus dem Wagen stiegen, knieten die Menschen nieder. "Seid gegrüßt in Minosantes Namen," wandte sich Jostur mit volltönender Stimme an die Priesterschaft. "Ich bin Jostur, mit eurer Falla Talia gekommen, euch künftig zu leiten. Die Götter seien mit euch allen." Karyson griff, noch kniend, nach Josturs Händen und küßte
sie. Diese unterwürfige Geste war keineswegs vorgeschrieben. Leicht erstaunt sah Jostur auf den Mann nieder. "Mein Name ist Karyson," stellte sich der Priester vor. "Ich diene dem Tempel als San. Es ist gut, wieder einen Falla zu haben." Talia ließ ihren Blick über die Berghänge gleiten. "Da es gut ist," meinte sie selbstsicher, "ist es auch Anlaß für ein Fest. Die Nebel sinken bald. Laß Feuer entzünden und Speisen auftragen. Die Musikanten mögen aufspielen und wir werden uns später zu euch gesellen." "Darf ich euch eure Gemächer zeigen," bot Karyson an, dem die Weisung zu einem Fest sehr gefiel. "Du darfst," erwiderte Talia. "Doch zuvor befiel, daß für heute jede Arbeit ruhen soll." Sie sah wieder die Felsen hinauf. "Jede Arbeit, San," betonte sie nachdrücklich. Erstaunt und leicht mißbilligend hob Karyson die Augenbrauen, doch er erhob sich, gab einem der Priester einen Wink und deutete dann in den Tempel. Jostur schaute zu Rhagan. "Komm mit mir," verlangte er mit freundlicher Stimme. Karyson führte zunächst Talia in vorbereitete Zimmer im Tempel. Eine junge Priesterin, die hier wartete, warf sich bei ihrem Eintreten nieder. "Sie wird euch dienen, Herrin," erklärte Karyson, "bis ihr euch dann selbst eure Dienerschaft erwählt." Talia atmete unmerklich auf. Sie hatte schon gefürchtet, daß Haussklaven hier warten würden. Karyson lächelte. Er spürte ihre Gedanken. Leibsklaven wären durchaus angebrachter, doch er erwartete von Menschen, die aus Amarra
kamen, nicht, daß sie wissen konnten, wie solche Sklaven zu behandeln waren. Die Falla würde es lernen, daran zweifelte er nicht. Danach geleitete der San seinen neuen Herrn in dessen Räume und auch hier wartete ein Priester, bereit, jeden Leibdienst zu verrichten. "Ich habe nicht erwartet, daß ihr euren Diener mitbringt," entschuldigte sich Karyson mit einem Seitenblick auf Rhagan. "Ich habe einen Gefährten mitgebracht," stellte Jostur richtig. Der San schenkte dem Falla und sich Wein ein. Jostur nahm den schweren Achatpokal, aber er trank nicht. Er gab den Wein an Rhagan weiter und zwang so Karyson, einen weiteren Pokal zu füllen. "Ihr habt sicher viele Fragen über den Tempel," bot der San sein Verweilen an. "Die habe ich," gab Jostur zu. "Doch zunächst will ich mich von der Reise erfrischen. Ich komme später in den Tempelgarten. Wir beide werden genug Zeit haben, uns in den kommenden Tagen zu unterhalten." Damit war Karyson entlassen. Er verneigte sich tief, ehe er ging und als er durch die Tür trat, warf er Rhagan einen mißbilligenden Blick zu, der dem Hünen gar nicht gefiel. Jostur entließ den dienstbereiten Priester schon nach kurzer Zeit. Er kam durchaus ohne Dienerschaft zurecht und er wollte keinen Lauscher, wenn er mit Rhagan sprach. "Ich halte es für klug, wenn du deine Vergangenheit hier verschweigst," meinte er dann. "Es ist nur ein Gefühl,
aber ich fürchte wirklich, du bekommst Schwierigkeiten, wenn die Leute hier erfahren, daß du ein Sklave Tharas warst." "Ihr habt mich euren Gefährten genannt, Herr." "Zumindest in Khyon bist du das gewesen," erinnerte ihn Jostur. "Was du heute gesagt hast, war wichtig für mich." "Was ich über Seymas sagte?" forschte Rhagan mißtrauisch. "Nein, das war mir nur neu," wehrte Jostur fast vergnügt ab. "Aber ich kann von dir wohl viel lernen über Tharas Sitten." Während er redete, wusch sich der Falla, kleidete sich danach um und bürstete sein Haar. "Kommst du mit nach draußen?" fragte er schließlich. Rhagan lehnte ab. Er fühlte sich im Tempel sicherer und legte keinen Wert darauf, bei einem Fest der Priesterschaft dabei zu sein. In der Nacht stand er am Fenster, hörte draußen das Lärmen und Lachen und fühlte sich fremd in dem Land, in dem er geboren wurde.
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alia bewegte sich zwischen den Menschen, als habe sie nie etwas anderes getan als zu herrschen. Sie war eine starke Priesterin, doch gewiß nicht zur Macht erzogen. Auf Amarra lebte sie entfernt des Tempels in einer kleinen Siedlung. Ihr Tagwerk bestand darin, feine Wandteppiche zu besticken. Vor Jahren war ein blonder Jüngling, fast ein Knabe noch, in die Siedlung gekommen. Er verweilte ein paar Tage und ließ sich dieses Handwerk zeigen. Sein
fröhliches Lachen bestimmte die Stunden. Talia zeigte ihm die feinen Stiche und hörte ihm fasziniert zu, wenn er in das Gewirr der Fäden auf der Rückseite die herrlichsten Bilder hineindichtete. "Ich glaube kaum, daß sich jemand den Teppich so an die Wand hängen wird, daß er diese Seite sieht, Seymas," meinte sie lachend. Er drehte den Teppich um. Sie wußte, daß ihm das Muster nicht gefiel und er sagte es auch: "So ist es aber langweilig, Talia. Es ist wie ein ganzes Menschenleben - manchmal muß man sich einfach auch die andere Seite betrachten." Ihr eigenes Leben war ihr selbst langweilig erschienen, als ein Bote kam und sie in den Tempel rief. Seymas, nun Than der Reiche, hatte die Tage in der Siedlung nicht vergessen, denn er begrüßte sie mit den heiteren Worten: "Zeit, den Teppich deines Lebens zu wenden, Talia." Sie lächelte in der Erinnerung daran und wußte nicht, wie schön sie dabei im Schein der Feuer aussah. Die Priesterinnen umgaben sie in Scharen, folgten ihr auf jedem Schritt und gaben sich alle Mühe, ihre Wünsche schneller zu erfüllen, als sie sie äußern konnte. Talia merkte sich dabei ihre Gesichter und ihre Namen, aber in ihrem Geist suchte sie andere Frauen. Noch ehe das Fest endete, hatte sie drei Priesterinnen an ihre Seite gezogen, die sie nicht andauernd umlagerten. Diese wollte sie zu ihren Gefährtinnen machen und sie hoffte, bald Freundinnen in diesen Frauen zu finden. Als sie das Fest verließ und ihre Gemächer aufsuchte, begleiteten die drei Frauen ihre Falla, um ihr die letzten Handreichungen des Tages zu tun.
"Ihr seid keine Dienerinnen," versprach Talia freimütig. "Aber ich danke für euren Dienst und hoffe, ihr lehrt mich, wie ich mit einer Leibsklavin umgehen muß." Über dem Kamin in ihrem Zimmer hing ein kleiner, kunstvoll gearbeiteter Wandteppich. Talia lachte, als sie einen Stuhl hinschob, auf diesen stieg und den Teppich wendete. "Was tut ihr, Herrin?" staunte eine der Frauen. "Die andere Seite war langweilig," erklärte sie fröhlich. Wenige Tage später schon behandelte sie ihre Leibsklavin genau so, wie diese junge Sklavin es verstehen konnte. Und auch den Arbeitssklaven des Tempels begegnete sie ohne jede Scheu. Sie dirigierte diese Menschen mit fast unmerklichen Handzeichen und benahm sich in allem so, als sei sie für dieses Amt erzogen worden.
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ostur tat sich deutlich schwerer. Er verbrachte viel Zeit mit Karyson, der ihm die Belange des Tempels erklärte und ihn in alles einwies. Das Amt selbst schreckte ihn nicht; er wußte, daß er es ausfüllen konnte. Aber er sorgte um Rhagan. Der Hüne blieb nicht beständig im Tempel, wich draußen aber weitgehend den Priestern aus und sprach mit keinem Menschen. Dieselbe Konsequenz, mit der er sich den Priestern nicht anschloß, zeigte er auch den Sklaven gegenüber, um die er einen großen Bogen machte. Und was immer er tat und wohin immer er ging, es folgten ihm die neugierigen Blicke der Priesterschaft, die den Gefährten ihres Falla nicht einordnen konnte.
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hagan lehrte den Falla den richtigen Umgang mit den Sklaven, aber jedes Wort dabei bedeutete für ihn zugleich eine schmerzhafte Erinnerung. In Nodher konnte der Hüne über seine Zeit hier reden, ohne daß es ihn
schmerzte. Aber dies war Thara und hier war die Vergangenheit lebendiger in ihm. Vor allem aber fühlte er sich durch seine Vergangenheit wirklich bedroht. Was würde wohl geschehen, wenn die Priesterschaft die Wahrheit erfuhr?
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ein Vater war Lanas und damit ein mächtiger Landesherr in Thara. Es gab eigentlich keine Berührungspunkte zwischen seiner Familie und den Tempeln und so war es recht ungewöhnlich gewesen, als der siebzehnjährige Afrinar erklärte, daß er Priester werden wolle. Es sprach aber niemand dagegen. Da selbst die Herrscher der Reiche zumindest eine Weihe erlangt haben mußten, ehe sie ihr Amt ausüben konnten, war das Erstreben der Priesterschaft trotz allem in Einklang mit den geltenden Sitten. Afrinar fühlte sich in Minosantes Tempel durchaus wohl und gewann mühelos die Sympathien der Menschen. Anders verhielt es sich mit Zargyn. Der junge Mann war zwei Jahre älter als sein Vetter Afrinar und, wie es in Thara üblich war, als Verwandter auch Diener des Lanas-Erben. Er hatte den Jüngeren begleitet und versuchte, sich bei ihm einzuschmeicheln. Indem er selbst einen Leiter zu den Weihen suchte, wollte er weniger den Göttern als vielmehr seinem Vetter gefallen. Inzwischen hatte er so manchen Priester um Leitung gebeten, war aber jedes Mal abgewiesen worden. Noch wurde er als Gast im Tempel geduldet, aber er wußte, daß dies nicht dauern würde. Sollte ihn weiterhin niemand leiten wollen, so mußte er den Tempel verlassen und dann würde er als Versager nach Hause zurück kehren und den feinen Spott seines Oheims ertragen müssen. Afrinar unterstützte seine Suche in keinster Weise. Er mochte Zargyn nicht sonderlich und verbarg dieses Gefühl nie. Zargyns Mutter war Sklavin gewesen, wurde allerdings vor seiner Geburt freigelassen und war mit dem Bruder des Lanas vermählt. Aber das wertete Zargyn nicht auf, sondern
lediglich ihn wie seinen Vater ab. In Thara rührte kein Mann der Ehre eine Sklavin an und sie gar zur Gemahlin zu nehmen, das war undenkbar. Die neuen Fallas waren gekommen, doch es änderte sich nichts im Ablauf der Tage. Der große Mann, der mit dem Falla kam, erweckte die Neugier der Menschen und gab Inhalt für so manche Rederei. Doch er wich allen aus und so blieb er ein Geheimnis. Zargyn folgte Rhagan bei einem seiner Streifzüge durch das Tal und als kein Glied der Priesterschaft in der Nähe war, vertrat er dem Hünen den Weg. Er deutete eine Verneigung an und blieb dann verkrampft und angespannt stehen. "Was willst du denn?" abweisender Stimme.
wunderte
sich
Rhagan
mit
"Herr," erwiderte der junge Mann zögernd, "ihr seid der Gefährte unseres Falles. Mein Name ist Zargyn und ich suche einen Leiter. Ich bitte euch, mir diesen Dienst zu erweisen." Rhagan trat überrascht einen halben Schritt zurück und fast hätte er laut losgelacht. "Wenn dich nach den Göttern verlangt," sagte er aber nur, "dann wirst du einen anderen Leiter auf diesem Weg finden." Zargyn ballte die Hände zu Fäusten. Er hatte mit keiner anderen Antwort gerechnet, aber doch irgendwie gehofft, daß der Fremde keinen Grund zu einer Ablehnung kennen würde. "Ihr seid ebenso arrogant wie alle andern hier," rief er böse. "Aber ..." "Zargyn!"
Afrinar hielt den Vetter mit diesem lauten Zuruf von weiteren Beleidungen zurück. Er kam rasch näher und ehe Rhagan überhaupt reagieren konnte, da hatte der Jüngling Zargyn schon die flache Hand ins Gesicht geschlagen. "Du Sohn einer Sklavin," fuhr er den Vetter an, "wie kannst du es wagen, dich so zu benehmen. Es wird Zeit, daß du den Tempel verläßt." "Herr, ich wollte doch nur..." "Ach, sei still," fuhr ihn Afrinar wütend an, "geh mir aus den Augen." Und während Zargyn mit hängenden Schultern wirklich wegging, lachte der Jüngling Rhagan fröhlich an. "Verzeiht ihm, Herr," meinte er gelassen, "er ist es nicht wert, daß ihr euch seinetwegen erregt." "Er wurde wohl nicht das erste Mal abgelehnt," vermutete Rhagan mit leichtem Erstaunen. "Ihr seid fremd hier, darum könnt ihr es nicht wissen," stimmte Afrinar zu. "Zargyn will sich bei mir einschmeicheln, indem er versucht, so wie ich zu sein. Er bleibt nicht mehr lange, das versichere ich euch. Sagt, kommt auch ihr aus Amarra?" Er redete so freimütig und ohne jeden Hintergedanken, daß Rhagan seine Nähe duldete und seine Vorsicht einschränkte. "Ich komme aus Nodher, aus Raakis Tempel," erwiderte er darum. "Dort ist es wohl sehr anders als hier," mutmaßte Afrinar. "Man spürt, daß ihr euch fremd fühlt." "Diese Tempel sind nicht zu vergleichen," gab Rhagan düster zu. "Raakis Tempel hat andere Sitten."
"Erzählt ihr mir davon?" bat Afrinar mit ehrlichem Interesse. Rhagan kam dieser Aufforderung fast gern nach und während sie nebeneinander auf dem Weg gingen, plauderte er über den Ort, der ihm Heimat geworden war. Mit einem Mal unterbrach er sich und verhielt den Schritt. Unbemerkt waren sie nahe zu einem der steilen Felshänge gekommen, wo die Sklaven den Achat brachen. "Ach so," begriff Afrinar da, "es sind die Sklaven, die euch befremden. Gibt es so etwas in Nodher nicht?" "Doch," erwiderte Rhagan düster, "aber sie sind anders." "Nicht so gut, ich weiß," nickte der Jüngling. "Tharas Sklaven sind etwas besonderes. Aber der Tempel hat zu viele davon." Überrascht sah Rhagan den Jüngling an. "Wie meinst du das?" "Schaut hier," lud ihn Afrinar ein. Er bog die Zweige eines Busches beiseite und deutete auf den Körper eines Sklaven, der schmerzverkrümmt am Boden lag. "Er ist wohl von da oben gestürzt. Die Priester kümmern sich nicht darum." "Ist das nicht üblich?" wunderte sich Rhagan über das Interesse des Jünglings. "Nur ein gesunder Sklave ist ein guter Sklave," behauptete Afrinar. "Zu Hause lassen wir sie nicht leiden. Gute Sklaven sind teuer - aber ich denke, der Tempel ist so reich, daß er das vergessen hat." Rhagan kniete bei dem verletzten Mann. Er verstand sich
nicht auf die Heilkunst, aber er erkannte doch, daß der Sklave sich keine Knochen brach. An der Schulter wies er eine tiefe Fleischwunde auf, aus der das Blut rann. "Hol einen Arzt," verlangte Rhagan von Afrinar. Der Jüngling lachte. "Kein Priesterarzt rührt einen Sklaven an, nicht in Thara. Und hier sind alle Ärzte Priester." Rhagan sah böse auf. Er wollte den Jüngling wegen des Lachens tadeln, aber er hielt sich zurück. Afrinar sprach nur aus, was in Thara üblich war. Unweit entfernt ging Talia mit einigen Frauen. Rhagan sah die Falla und nun hoffte er auf sie. "Dann hole die Herrin des Tempels her," bat er Afrinar in viel freundlicherem Tonfall. Afrinar sah ihn skeptisch an. Dann zuckte er mit den Schultern und lief über die Wiese. Als Priesterschüler mußte er jedem Priester Gehorsam leisten. Also tat er es, auch wenn er annahm, daß die Falla ihn verlachen würde. Aber Talia lachte nicht. Sie ließ sich von Afrinar führen und als sie Rhagan neben dem blutenden Sklaven sah, wirkte sie nur besorgt. "Einen Arzt!" befahl sie mit lauter Stimme. Gegen das Wort einer Falla gab es keine Einwände. Einer der inzwischen aufmerksam gewordenen Priester entfernte sich eilig, um den Befehl auszuführen. Rhagan sah mit wehem Blick zu Talia auf, die sich nun selbst über den Sklaven neigte. Der Mann hatte sehr viel Blut verloren. Das Bewußtsein verließ ihn schon vor geraumer Zeit. Endlich kam einer der Priesterärzte mit eher gemessenem Schritt
herbei. Er schaute auf den Sklaven, als betrachte er ein totes Stück Fleisch. "Hilf ihm," verlangte Talia herrisch. Der Mann zuckte förmlich zusammen. "Vergebung, Herrin, das ist ein Sklave. Ich würde mich an ihm beschmutzen." Talia atmete tief durch. Dann legte sie Rhagan kurz die Hand auf die Schulter zum Zeichen dafür, daß er sich erheben und zurücktreten solle. Ihre Stimme klang ganz ruhig, als sie sagte: "Deine Worte beschmutzen dich, Sohn. Wenn der Sklave stirbt, wirst du Minosantes Kraft ertragen und dein Gott selbst wird dich richten." Damit wandte sie sich um und ging davon. Afrinar riß die Augen auf und er wie Rhagan waren beide erstaunt, als sie sahen, wie der Arzt nun mit schon hektischen Bewegungen bemüht war, den Blutfluß des Sklaven zu stoppen. Der Jüngling zuckte zusammen, als sich unerwartet eine Hand auf seine Schulter legte. "Hier steckst du also," tadelte ihn lächelnd sein Leiter Tossar und zog dabei die Hand zurück. "Solltest du nicht lernen?" "Ich habe eben viel gelernt," antwortete der Jüngling offen. "Was bedeutet es, Herr, wenn man Minosantes Kraft ertragen muß?" Tossar sah ihn erstaunt an. "Bis zu dieser Weihe hast du noch einen weiten Weg vor dir," meinte er liebevoll.
"Die Falla hat bestimmt keine Weihe gemeint," wehrte Afrinar ab. "Es klang eher wie eine Drohung." Auf Tossars fragenden Blick erklärte er, was eben geschah. Der Priester verstand und beantwortete nun auch die Frage: "Der große Gong, der in Minosantes heiliger Halle zum Ritual ruft, ist manchmal auch ein Richtplatz. Unser Gott ist der Gott der Kraft und wer Kraft mißbraucht, der kann von seinem Falla während des Rituals vor den Gong gestellt werden. Der Gong vibriert zur heiligen Stunde und wer direkt davor steht, dessen Körper wird von diesen Schwingungen ergriffen und stimmt sich darauf an. Zielgerichtete Kraft wird von Kraft gestärkt; mißbrauchte Kraft durch wahre Kraft zerstört." "Kann man dabei sterben, Herr?" "Das kann man. Zumindest bedeutet es große Schmerzen, von denen man sich nur sehr langsam erholt. Aber nun komm mit mir." Der Arzt arbeitete noch, aber Rhagan sah, daß er das Sterben des Sklaven nicht mehr verhindern konnte. Leise entfernte sich der Hüne, noch ehe die Aufmerksamkeit sich ihm zuwenden konnte.
T
alia suchte Jostur auf und berichtete ihm von dem Geschehen. Es war nicht ihre Sache, einen Mann im Tempel zu bedrohen, denn sie stand den Frauen vor. Doch sie bestand darauf, daß Jostur ihr Urteil mittragen würde. "Du kannst keinen Priester wegen eines Sklaven bestrafen," wehrte sich der.
"Ich bestrafe ihn wegen seines Hochmuts," beharrte die Falla. Da gab ihr Jostur nach. Er tat es nicht gern, da er Spannungen befürchtete und das Aufbegehren der Priesterschaft. Talia lachte darüber. "Seymas hätte die Wunde des Sklaven mit eigener Hand verschlossen," behauptete sie, die viel über die Fähigkeit zu Heilen des Than gehört hatte. "Und auch der Than Nymardos kannte keinen Hochmut gegenüber dem Stand eines Menschen." "Ich diente Nymardos und kenne ihn wohl besser als du," erinnerte sie Jostur. "Aber du hast wohl vieles vergessen," hielt sie ihm mit freundlicher Stimme vor. "War nicht Rhagan ein Sklave, als er Nymardos begegnete? War er nicht immer noch ein Sklave, als er an der Weihe von Raakis Tempel in Sion als Gast teilnahm? Was die Priester und die Sklaven betrifft, so bist du der Herr. Aber ich werde anfangen, mich jetzt auch vermehrt um die Sklavinnen zu kümmern." "Was hast du vor?" "Mein Amt ausüben," erwiderte sie lächelnd und ließ ihn allein. Jostur empfing Karyson, der ihm von dem Geschehen am Felshang berichtete und er stand trotz der Warnung seines San zu Talia, als er beim kommenden Ritual des Gottes der Kraft den Arzt vor den Gong befahl. Der Mann krümmte sich vor Schmerzen, als sein Körper mit dem großen Symbol mitvibrierte und es würden viele Tage vergehen, bis er sich von dieser Folter erholte. Talia sandte Priesterinnen in die ferne Stadt und hieß sie,
dort zwei Sklavinnen zu kaufen, die in der Heilkunst unterwiesen waren. Auf Thara war es für einen freien Menschen ja wirklich eine Zumutung, wenn er sich um Sklaven kümmern sollte. Doch bis diese Frauen zurück kehrten, so lange mußten die Priesterinnen sich auch um kranke Sklavinnen kümmern. Jostur sah mit Erstaunen, daß Talia durch solche Anweisungen, die sie selbstbewußt und nachdrücklich erteilte, keine Sympathien verlor. Die Frauen liebten ihre Falla und gehorchten ihr ohne Zögern. Obwohl sich Jostur in dieser Hinsicht nicht engagierte, hatten Talias Anweisungen doch Auswirkungen auf die Männer und was bei den Frauen als üblich eingeführt wurde, das befolgten auch diese.
A
frinar war, wie jeder Priesterschüler, zu Leibdienst an seinem Leiter verpflichtet, doch Tossar beanspruchte ihn nicht unentwegt und ließ ihm viel Freiraum. Das ermöglichte es dem Jüngling, so manche Stunde mit Rhagan zu verbringen. Der Hüne wunderte sich ein wenig über die Zuwendung des Jünglings, aber er genoß sie und freute sich über jedes Zusammensein. Da Tossar und Karyson enge Freunde waren, begegnete Rhagan notgedrungen auch diesen beiden Priestern immer wieder. Sie mochten ihn nicht, das spürte er. Aber sie nahmen keinen Einfluß auf sein Leben und da sie ihn für einen Gefährten des Fallas hielten, behandelten sie ihn durchaus mit Respekt. Dort, wo sich die Bergwand senkrecht erhob, stießen die Sklaven auf eine neue Achatader und die Steine zeigten sich von ungewöhnlicher Schönheit und feinster Maserung. "Ich will die Ader sehen," beschloß Afrinar. Rhagan wollte ihn zurück halten, doch der Jüngling freute sich auf ein Abenteuer und stieg den schmalen Pfad hinauf. Rhagan folgte ihm mit einem unguten Gefühl. Der in den
nackten Fels gehauene Pfad war so schmal, daß man ihn nicht einfach begehen konnte. Oft war es notwendig, sind mit den Händen im Stein festzukrallen. Und es ging steil in die Tiefe. In Körben schleppten Sklaven von oben die Steine auf dem Rücken herab. Man konnte nicht aneinander vorbei gehen. Afrinar wartete. Er war ein freier Mann und so blieb es Sache des Sklaven, einen Ausweg zu finden. Der Sklave begann, sich vorsichtig rückwärts tastend, wieder den Aufstieg. "Wenn er stürzt, hast du ihn getötet," warnte Rhagan. Afrinar fühlte sich angegriffen und beleidigt. Er fuhr herum. Sein Fuß trat ins Leere und er wäre in die Tiefe gestürzt, wenn nicht Rhagan mit raschem Griff sein Handgelenk umklammert hätte. Er zog den Jüngling hoch, der sich danach fast angstvoll an den Fels klammerte und mühsam seinen heftigen Atem niederrang. "Das war knapp," meinte er dann, "ich danke euch. Laßt uns wieder nach unten gehen." Man hatte sie in der Felswand gesehen und als sie unten ankamen, wartete eine ganze Gruppe von Menschen. Tossar machte Afrinar heftige Vorwürfe ob seines Leichtsinns, doch dieselben bösen Worte gab er auch Rhagan, der den Jüngeren nicht hinderte. "Künftig weichst du diesem Mann aus," verlangte er von Afrinar. "Ein Priester, der seinen Geist beständig abschirmt, ist kein Umgang für dich." Bei diesen Worten packte er den Jüngling am Oberarm und zog ihn mit sich. Karyson grinste. "Ihr macht euch nicht unbedingt beliebt hier, Rhagan," meinte er geringschätzig. "Seid ihr sicher, daß dieser Tempel der richtige Platz für euch ist?"
Aber er wartete keine Antwort ab, sondern folgte Tossar nach. Jemand hatte Jostur verständigt, der nun langsam nahte. Rhagan wartete auf den Falla, verzichtete aber auf ein Handzeichen hin auf einen Kniefall. Jostur sah den Felshang hinauf. Die Menschen zerstreuten sich. Als sie allein waren, fragte Rhagan mit leiser Stimme: "Tossar sagt, mein Geist sei abgeschirmt, Herr. Wollt ihr mich so beschützen?" "Ich?" Jostur lächelte. "Wer immer deinen Geist abschirmt, der ist stärker als ich. Aber ein Schutz ist es allemal, denn dies verhindert, daß ein Priester deinen Geist berühren und so deine Empfindungen und auch deine Vergangenheit lesen kann." "Gerrys? Tut er das?" "Ich weiß es nicht," gab Jostur zu. "Ich würde es ihm zutrauen, obwohl er damit in meine Machtbefugnisse eingreift, wozu er kein Recht hat." "Die Leute halten mich für einen Priester." "Das schützt dich, Rhagan." "Mag sein," gab der Hüne zu. "Aber es entspricht nicht der Wahrheit und Seymas wollte bestimmt nicht, daß ich hier ein Leben der Täuschung verbringe." "Wir wissen nicht, was er wollte," erinnerte ihn der Falla. "Ihr steht doch in Rapport mit Amarra. Ihr könntet es erfahren, Herr," bat Rhagan leise. "Ich werde meinen Rapportbruder bestimmt nicht bitten, den Than für mich zu befragen," erwiderte Jostur, erheitert ob dieses Ansinnens. "Was wolltest du eigentlich da
oben in der Wand?" Rhagan schilderte ihm, wie Afrinar sich nicht abhalten ließ und dann endlich doch auf den Aufstieg verzichtete. "Der Pfad ist gefährlich schmal, Herr," schilderte Rhagan. "Es kommt immer wieder vor, daß ein Sklave abstürzt. Ihr solltet diese Pfade verbreitern lassen, ehe die Ausbeutung der Achatader richtig beginnt." "Ich sollte?" Jostur lachte leise. "Waren die Wege in dem Steinbruch breiter, in dem du die Steine geschleppt hast? Vergiß, daß du ein Sklave warst, Rhagan. Du bist nicht als mein Ratgeber hier." Jostur wandte sich um und überließ den Hünen sich selbst. Rhagan sah ihm lange nach. Der Falla tadelte ihn zu Recht. Es stand ihm nicht zu, einem Mann der Macht Ratschläge zu geben.
D
as Wissen, daß jemand seinen Geist abschirmte, vermittelte Rhagan ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Solange Jostur nicht darüber sprach, konnten die Priester hier seine Vergangenheit nicht erkennen und solange war er sicher vor Verachtung und Schlimmerem. Es gefiel dem Hünen zwar nicht, daß ihm der Grund seines Aufenthaltes in diesem Tempel verborgen blieb und daß der Falla sich weigerte, Amarra danach zu befragen, aber er nahm doch an, daß der junge Than einen Grund für diese Entscheidung haben mußte. Rhagan begann, den Tempel und sein Land und seine Menschen nun aufmerksamer zu betrachten. Eine besondere Freude war es ihm, daß der Priesterschüler Afrinar trotz des Verbotes immer wieder einen Grund fand, sich zu ihm zu gesellen und mit ihm zu plaudern. Afrinar wußte sich als Erbe der Macht und so fürchtete er seinen Leiter nicht. Sollte er ihn ob seines kameradschaftlichen Verhaltens zu dem Mann aus Nodher tadeln, dann konnte
er das durchaus ertragen. Tossar würde deshalb die Leitung nicht aufgeben und selbst wenn, so würde Afrinar mühelos einen anderen Priester finden, der ihm diesen Dienst erwies. In der Talsenke wuchsen einige prachtvolle Bäume, sorgsam gepflegt und von den Gärtnern behütet. Holz, das zum Bau der flachen Häuser benötigt wurde, fällte man nicht hier, sondern entfernt. Sklaven zogen dann die vom Astwerk befreiten Baumstämme an Seilen über den schmalen Pfad zum Tempeltal. Afrinar und Rhagan sahen einer Gruppe von Sklaven zu, die diese Arbeit leisteten. Der Priesterschüler beachtete dabei weniger die Menschen als vielmehr das Bauholz. "Sie sind völlig erschöpft," murmelte Rhagan, mehr zu sich selbst. Afrinar lachte leise. "Sind sie das nicht immer?" meinte er leichthin. Wassermädchen kamen herbei und reichten den Sklaven je eine flache Holzschale zur Erfrischung. Einer der Sklaven, der nahe des Zusammenbruchs war, umklammerte die Schale mit beiden Händen, konnte aber doch nicht verhindern, daß sie ihm entglitt. Er schluckte trocken. Der Durst war groß, doch eine zweite Gabe würde er nun nicht erhalten. Der Sklave neben ihm hielt seine Wasserschale mit ruhigem Griff. Er mochte Mitte der Zwanzig sein. Sein Atem ging ruhig. Der Bursche war ein wahres Muskelpaket von ungeheurer Körperkraft. Er trank langsam. Und dann geschah etwas, das in Thara eigentlich gar nicht geschehen konnte. Der Sklave setzte die Schale wieder ab, drehte sich leicht seinem Nebenmann zu und führte das
Wasser an dessen Mund. Der Erschöpfte krallte sich förmlich an der Schale fest. Da knallte eine Peitsche. Ihr Riemen traf das Gesicht des erschöpften Manners und zerriß die Haut der Hände des Jüngeren. Die Schale fiel zu Boden. "Habt ihr das aufgerissenem Blick.
gesehen?" staunte Afrinar mit weit
"Sein Geist erwacht," erwiderte Rhagan langsam. "Was würde man in eurem Tempel mit ihm machen?" wollte Afrinar mit ehrlichem Interesse wissen. "Auf ihn achten, ihn führen, ihm helfen." "Vater würde ihn töten - oder verkaufen," erzählte Afrinar. "Als Sklave taugt er schon nichts mehr. Aber hier werden sie versuchen, ihn zu brechen. Schaut hin." Der Sklave lag längs ausgestreckt vor dem Priester, der die Aufsicht führte, am Boden. Die Arme hielt er ausgebreitet, das Gesicht auf den Boden gepreßt. Der Peitschenriemen zerfetzte die Haut seines nackten Oberkörpers. Rhagan preßte die Lippen zusammen. "Ihr leidet ja mit ihm," wunderte sich Afrinar. "Ihr seid ein seltsamer Mensch." Mehr sagte er nicht dazu. Er zuckte mit den Schultern, lachte leise auf und ging seiner Wege. Rhagan stand noch still. Er hörte die Peitsche und er sah das Blut, das aus den Wunden des Sklaven floß. Dann hielt er es nicht mehr aus. "Genug!" rief er mit lauter Stimme und trat herzu. "Laßt die Peitsche sinken."
Der Priester schaute ihn verwundert an, aber der Sklave war nicht wichtig genug, um weiter über ihn zu reden. Der Mann gab Anweisung, die Arbeit wieder aufzunehmen. Dann erst wandte er sich Rhagan zu: "Og hat seine Lektion wohl noch nicht gelernt," vermutete er. "Wenn er ein paar Tage lang kein Wasser erhält, versteht er wohl, daß er es nicht leichtfertig teilen soll." "Leichtfertig?" Rhagan sah dem Priester voll ins Gesicht. "Ist Mitleid in Minosantes Reich Leichtfertigkeit? Ist hier Thara? Oder ist nicht jeder Tempel Amarra?" "Sklaven brauchen eine harte Hand," murrte der Priester unwillig. Rhagan bedeutete Og mit einer knappen Handbewegung, sich nicht den anderen anzuschließen, sondern zu verharren. Der Sklave gehorchte teilnahmslos. Der Priester grinste. "Behaltet ihn, wenn er euch gefällt," schlug er anzüglich vor. "Ich weiß wohl, daß die Sitten in Nodher etwas seltsam sind." Dann wandte er sich den anderen Sklaven zu und nahm die Aufsicht wieder wahr. Um Rhagan kümmerte er sich nicht weiter. Der Hüne ging nicht mehr in den Tempel zurück. Er wählte ein sehr kleines Gasthaus aus, in dem er nun wohnen wollte und er hielt Og als Leibsklave bei sich. Zwar fürchtete er, für diese Eigenmächtigkeit von Jostur getadelt zu werden, doch der Falla fragte nicht einmal nach ihm und auch der Sklave wurde bei keiner Arbeit vermißt. Afrinar begrüßte es, Rhagan nun in einem eigenen Haus zu wissen. So war es ihm leichter, den Hünen zu besuchen.
Wenn er kam, gab er durch Handzeichen Og Befehle, als sei der Sklave sein Eigentum. Rhagan ließ es geschehen. Er sah, wie der Priesterschüler ihn und vor allem den Sklaven genau beobachtete und wunderte sich über dessen Interesse. "Sein Geist ist nicht erwacht," stellte Afrinar nach einigen Tagen fest. "Og ist so stumpf wie alle anderen." "Er fühlt sich sicher, wenn er nicht denken und nicht aus eigenem Antrieb handeln muß," erwiderte Rhagan wissend. "Aber ihr glaubt, er könnte es?" forschte Afrinar neugierig, der keinen Blick von dem knienden Sklaven ließ. "Gewiß," bestätigte Rhagan, "sofern er notwendig ist. Aber es wäre für ihn eine größere Qual, als es je ein Peitschenhieb sein könnte." "Woher wißt ihr das?" Afrinar schaute Rhagan nun forschend an. Der Hüne lächelte wehmütig, gab aber keine Antwort auf diese Frage. Er fühlte sich für Og verantwortlich und es war ihm fast, als sei er nach Thara gekommen, um diesem erwachenden Geist beizustehen.
Z
argyn begriff endlich, daß er in diesem Tempel keinen Leiter fand. Vor allem aber sah er auch ein, daß er Afrinars Achtung so nicht gewinnen konnte. Der Vetter spottete über ihn und gab ihn manchem abwertenden Scherz preis. Er wollte es als Geheimnis hüten, doch Afrinar sorgte dafür, daß jeder im Tempel erfahren konnte, daß seine Mutter einst eine Sklavin war. Zargyn schämte sich dafür und es war diese Scham, welche die jungen Leute im Tempel dazu herausforderte, ihn deshalb zu verlachen. So packte er sein Bündel, um nach Hause zu reiten. Der Spott
des Oheims konnte auch nicht schlimmer sein als der Spott der Tempelkinder hier. Als er zu den Stallungen ging, um sein Pferd zu holen, begegnete er Tossar und Afrinar, die ins Gespräch vertieft ihn zunächst nicht einmal bemerkten. Die Vertrautheit, mit der der Priester mit seinem Schüler sprach, erweckte des Neid des jungen Mannes. Immer gewann Afrinar alle Zuwendung und immer war er es, der übersehen wurde. Das lag nicht nur an der Macht, die auf den jüngeren Vetter wartete. Er besaß einfach ein freundlicheres Wesen und auch das bessere Aussehen. Afrinar trug geradezu hübsche Züge, seine blauen Augen leuchteten klar und die fülligen dunkelblonden Locken umrahmten ein ebenmäßig geformtes Gesicht. Dagegen wirkte Zargyn stets leicht überlaunig. Seine schmalen Nasenflügel und Lippen ließen ihn mißtrauisch erscheinen. Die Mädchen jedenfalls beachteten ihn nie. Zargyn kniete nieder, als die beiden an ihm vorbei gingen. Afrinar blieb stehen. "Na, Sklavensöhnchen," spottete der Jüngling, "verläßt du endlich den Tempel? Grüße meinen Vater von mir." Zargyn preßte die Lippen zusammen. Er hätte Afrinar für diese Worte am liebsten angegriffen, aber er hütete sich, einen Erben der Macht zu bedrohen. "Ich sehe ein, daß mich kein Priester leiten wird," sagte er darum. "Ich hoffe, ich kann euch zu Hause dienlicher sein." Afrinar lachte geringschätzig. "Dort bist du genauso überflüssig wie hier," behauptete er. "Aber du hast schon recht: kein Priester wird sich freiwillig mit dir einlassen. Egal, ob aus Thara oder aus Nodher." Zargyn
ballte
die Hände zu Fäusten. Afrinar sprach von
Rhagan, der ihn ja ebenfalls ablehnte. Aber der Jüngling konnte nicht ahnen, daß Rhagan niemanden zu leiten vermochte. "Du meinst Rhagan, dem du dein Leben verdankst, als er deinen Sturz aus der Felswand verhinderte?" vergewisserte sich Tossar. "Ich denke, er ist ein kluger Mann," gab Afrinar zu. "Er wird Gründe haben, sich so seltsam zu benehmen." Zargyn sah überrascht auf. Afrinar mochte Rhagan, das war bei diesen Worten deutlich zu spüren. Und nun wollte er den Vetter endlich einmal so verletzen können, wie er immer von ihm verletzt wurde. "Gründe hat er," murmelte Zargyn bitter. "Aber er ist weder Priester noch ein kluger Mann. Ihr verdankt euer Leben selbst einen Sklaven." Afrinar zuckte förmlich zusammen und Tossars Faust schoß nach vorn, packte Zargyns Wams und zog den jungen Mann auf die Beine. "Was sagst du da?" fuhr er ihn an. "Es ist die Wahrheit," wehrte sich Zargyn, der sich aus dem Griff nicht lösen konnte. "Ich habe es gehört, als er mit dem Falla sprach." "Was hast du gehört?" drängte Tossar erregt. Da erzählte ihnen Zargyn alles, was er am Fuß der Felswand erlauschte. Daß Rhagan ein Sklave Tharas war, der selbst in den Steinbrüchen arbeitete; daß er kein Priester war und daß sein Geist von einem Falla in Nodher abgeschirmt wurde. Mit Genugtuung spürte der junge Mann, daß es ihm wirklich gelang, Afrinar zu verletzen.
Der Jüngling fühlte sich von Rhagan getäuscht und dies schmerzte ihn um so mehr, da er den Hünen wirklich mochte. "Geh und sende mit Karyson," verlangte Tossar von Afrinar, "dann warte in meinem Haus auf mich." Der Jüngling gehorchte, obwohl er viel lieber bei seinem Leiter geblieben wäre.
J
ostur verstand durchaus, weshalb Rhagan ihm auswich. Ihre letzte Unterhaltung am Fuß der Felswand war nicht dazu angetan, ein freundschaftliches Verhältnis zu fördern. Er war Falla und einem Tempelhelfer stand es wirklich nicht zu, ihm Ratschläge zu geben. Trotzdem begann er nun, den Arbeitsbereich der Sklaven genauer zu betrachten und er scheute sich nicht, selbst zur neuen Achatader aufzusteigen. Die Ader versprach reichen Gewinn und im Tausch gegen diese Steine konnten die Menschen des Tempeln mühelos lange Zeit versorgt werden. Nachdem er den Berg wieder verließ, gab er Anweisung, mit der Ausbeutung der Ader solange zu warten, bis die Pfade nach oben verbreitert und damit begehbar waren. Niemand begehrte gegen diese Entscheidung auf. Sogar Karyson sah die Notwendigkeit und sorgte selbst dafür, daß die Arbeit den Wünschen des Falla gemäß ausgeführt wurde. "Es wird noch einige Zeit dauern, bis der Pfad überall verbreitert ist," berichtete er Jostur. "Aber die Sklaven arbeiten zügig daran, Herr. Es sieht sogar so aus, als wenn sie besser arbeiten würden, seit ihr ihnen das Leben erleichtert habt." Jostur lächelte. Die Sklaven erhielten mehr Ruhepausen und mehr Nahrung, saubere Schlafstätten und wo nötig auch medizinische Betreuung. Karyson hatte alles nach seinem Willen geordnet.
"Gerade daran hattest du deine Zweifel," erinnerte er seinen San. "Ich war im Unrecht," gab der freimütig zu. "Amarra hat uns weise Fallas gesandt." "Amarra sandte noch jemanden," erinnerte sich Jostur nun, nach so vielen Tagen, an den Hünen. "Wo steckt Rhagan? Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen." Karyson sah überrascht auf. "Vergebung, Herr," sagte er bestürzt, "ich dachte, ihr seid darüber informiert." "Worüber?" drängte Jostur, der sich nun sorgte. "Rhagan hat den Tempel verlassen, schon vor einigen Tagen." Jostur sprang auf. "Wohin ging er?" "Er sagte, daß es hier nichts mehr für ihn zu tun gäbe," erwiderte Karyson gelassen. "Er wollte nach Hause, wie er sagte. Ich nehme an, er ist auf dem Weg nach Nodher. Wenn dies nicht in eurem Sinn war, dann lasse ich ihn suchen. Wir werden ihn sicher noch einholen können." Jostur trat zum Fenster und sah hinaus. Vom Tempel aus waren die Menschen in der Bergwand nicht auszumachen, doch manches Mal konnte man leise den Klang einer Peitsche vernehmen. Das war wirklich keine Umgebung für Rhagan. Er würde sich hier niemals wohl fühlen. "Es ist gut," entschied er. "Mögen die Götter ihn geleiten."
Er hoffte nur, daß Amarra Rhagans eigenmächtiges Weggehen nicht übelnehmen würde. Denn er fühlte sich durchaus verpflichtet, dieses Handeln über seinen Rapportbruder dem Than zu melden.
C
yprina hatte Erynia auf der Suche nach Zauberkräutern begleitet und freute sich sehr, als die Magierin sie einlud, die Nacht bei ihr zu verbringen. Für das Mädchen war Erynia ein großes Vorbild. Der Weg führte an einer knospenden Mesa vorbei. Cyprina betrachtete den hüfthohen Strauch. "Die Pflanze ist Raaki geweiht," wußte sie. "Sie entsprang den Tränen des Gottes, als er um die Göttin Antares weinte." "Geh nicht zu nah hin," warnte Erynia rasch. "Vergiß die Onik nicht." Cyprina blieb stehen, ging dann in die Hocke und beobachtete die hellgrüne Viper mit goldfarbenem Zackenband auf dem Rücken, die mißtrauisch zwischen den Wurzeln des Strauches hervorlugte. Die Onik war ein äußerst friedliebendes Tier, das niemals angriff. Zugleich stellte sie das giftigste Tier der Reiche dar und ihr Biß tötete immer. Mesa und Onik stellten eine erstaunliche Einheit dar. Wer den Strauch verletzte, der mußte mit der Rache der Onik rechnen, die nur in diesem einen Fall einen Menschen biß. Man erzählte sich, daß sie einen solchen Frevler sogar über Tage hinweg verfolge, bis sie ihn finden konnte. Und die Mesa blühte nur dann, wenn eine Onik in ihren Wurzeln nestete. "Sie entstammt Raakis Blut, nicht wahr?" meinte Cyprina nachdenklich. "Sie entstand, als der dunkle Gott sich selbst den Tod gab, um ohne Form dann Antares befreien zu können. Ist die Mesa keine Zauberpflanze?"
"Nein," erwiderte Erynia, doch dann schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit. Damals in Wyla wurden harmlose Nattern durch ein mißglücktes magisches Experiment zu giftigen Schlangen. Dort begegnete sie Nymardos, der kam, um diesen Zauber zu enden und der dazu Pulver getrockneter Mesa-Blüte benutzte. "Magier verwenden die Mesa nicht," schränkte sie ein. "Es ist eine Pflanze der Priester." Sie gingen weiter. Erynias Korb war halb gefüllt mit frischen Kräutern und Knospen der verschiedensten Pflanzen. Im lichten Unterholz eines kleinen Waldes verhielt Erynia den Schritt. "Schau her," lud sie Cyprina ein. Sie faßte nach den fleischigen Blättern einer kleinen Pflanze, drehte sie mit sicherem Griff und riß so die Wurzel aus der Erde. Sorgsam hüllte sie die Blätter um die Wurzel, ehe sie die Beute fast vorsichtig in den Korb legte. "Was ist das?" "Ich zeige es dir später," versprach Erynia. "Wir haben eine Seltenheit gefunden, mit der sich manches machen läßt." Cyprina war neugierig, doch Erynia gab noch keine Erklärung. Erst in ihrem Haus, als sie mit fast liebevollen Bewegungen die Wurzel wusch, redete sie wieder. "Sieh dir die Wurzel an," schlug sie vor und hielt das gewaschene Stück Cyprina vor die Augen. "Das sieht ja aus wie ein Mensch," staunte das Mädchen, "so richtig mit Armen und Füßen."
Erynia trennte mit einem Messer die Blätter ab, ließ nur die Stummel der Stiele stehen. Cyprina lachte. "Jetzt hat die Figur sogar einen Kopf mit Haaren drauf," meinte sie vergnügt. "Hilft das gegen Krankheiten?" "Nur gegen eine." Erynia lächelte. "Gegen Liebeskummer." "Wie macht man das? Trocknen und zerreiben und dann in den Wein geben wie bei den andern Kräutern, die du dafür hast?" Erynia trocknete die Wurzel während sie antwortete:
mit
einem weichen Tuch,
"Ich habe dir doch erzählt, daß man menschliche Abbilder für manche Zauberei benutzen kann. So ein Zauber wirkt unterschiedlich stark, je nach dem eben, wie stark der Magier ist, der ihn webt. Mit dieser Wurzel ist es etwas anderes - sie wirkt immer." "Du meinst, sie kann dafür sorgen, das einen jemand liebt, der einen eigentlich gar nicht leiden kann?" "Sie macht sogar versprach Erynia.
Feinde
zu
ergebenen
Liebhabern,"
Cyprina betrachtete die Wurzel eingehend, berührte sie aber nicht. Erynia wollte nie, daß sie magische Gegenstände in die Hand nahm. Sie sagte, sie würden dadurch an Kraft verlieren. "Zeig es mir," bat sie aufgeregt. "Wenn die Wurzel so stark ist, dann muß sie doch machen können, daß Vaters Freund zu dir kommt." Erynia warf dem Mädchen einen bösen Blick zu, dann aber lachte sie. Der Kleinen war natürlich nicht entgangen, wie
sehr sie um Nymardos warb und wie wenig Erfolg sie damit hatte. "Das wäre Verschwendung von Kraft," lehnte sie aber ab. "Wenn du einen Mann willst, solltest du ihn leichter bekommen können." "Du kriegst ihn aber nicht," neckte Cyprina. "Er ist eben ein viel zu starker Priester und ich glaub nicht, daß du seinen Willen beeinflussen kannst." Erynia wehrte sich noch dagegen, doch im weiteren Reden machte Cyprina immer mehr aus dieser Sache eine Frage danach, ob in Priesterschaft oder Magiertum die größere Kraft verherrschte. So gab sie schließlich nach. Erynia besaß ein paar Haare Nymardos', die bei seinem letzten Besuch an einem Sessel hingen. Diese wand sie nun um die Wurzel. Sie sprach Beschwörungen, während sie das Wurzelpüppchen in Stoff kleidete und als sie es schließlich ins offene Fenster setzte, schaute Cyprina sie mit gläubigem Blick an. "Wie lange dauert es," wollte das Mädchen ehrfurchtsvoll wissen. "Nymardos ist stark," gab Erynia zu, "drei, vier Tage sind schon nötig, um ihn umzustimmen. Mehr passiert jetzt nicht. Komm, ich zeige dir, wozu die andern Pflanzen gut sind, die wir gesammelt haben."
G
errys hatte mit seinem San Leokan verschiedene Dinge des Tempels besprochen und kehrte nun in seine Gemächer zurück. Erfreut fand er Nymardos hier wartend. "Ich hoffe, du hattest einen angenehmen Tag," grüßte er den Freund lächelnd, während er die Arme um ihn legte
und ihn dann sacht küßte. In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen. Seryna drang ein. Sie errötete, als sie die Zärtlichkeit der beiden Männer sah und senkte beschämt den Kopf. Nymardos löste sich von Gerrys. Er lächelte amüsiert. "Entschuldigt," murmelte Seryna, "ich dachte, Gerrys sei allein. Ich komme später wieder." "Da du schon da bist und allem Anschein nach auch sehr erregt, bleib lieber hier," schlug Gerrys vor. "Was gibt es denn?" "Ich bin wütend," gab sie zu. Sie nahm den mit Wein gefüllten Becher, den Nymardos ihr reichte. Fast hastig trank sie. Sie war immer noch verlegen und sie ärgerte sich darüber, daß sie hier störte. Die Liebe zwischen Gerrys und Nymardos war ihr seit vielen Jahren bekannt. Ihr Eindringen jetzt erschien ihr einfach unpassend. "Soll ich gehen?" bot Nymardos ihr ruhig an. "Natürlich nicht, Herr," wehrte Seryna rasch ab. Sie wandte sich Gerrys zu: "Eine der Priesterschülerinnen vermißte ein Schmuckstück und beschuldigte einen Tempelsohn des Diebstahls. Er hat die Tat geleugnet. Aber als ich seine Truhe durchsuchen ließ, fand sich dort der Anhänger. Er ist nicht besonders wertvoll, Gerrys. Aber das Mädchen hing eben sehr an ihm." "Woher wußte sie, wer den Schmuck nahm?" "Sie hat es eigentlich nur vermutet, weil Lorynir ihr lästig ist. Er sucht dauernd ihre Nähe und läßt sie nicht aus den Augen."
"Das klingt, als wäre er verliebt," stellte Gerrys lächelnd fest. "Mag sein, aber das entschuldigt keinen Diebstahl. Du wirst den Jungen bestrafen müssen, Gerrys." "Man sollte nicht überbewerten, was Kinder tun," wich Gerrys aus. "Kinder?" Seryna war noch immer erregt. "Die Priesterschülerin Maisa ist siebzehn, Lorynir zwanzig Jahre alt. Das sind keine Kinder mehr. Und Diebstahl ist keine Spielerei. Wenn wir anfangen, in unserer Gemeinschaft Mißgunst zu dulden..." "Beruhige dich," unterbrach sie Gerrys. "Hast du mit ihm geredet?" "Das ist deine Aufgabe," lehnte sie ab. "Du bist der Falla und der Richter des jungen Mannes. Ich will, daß du ihn aus dem Tempel verbannst." "Du sagtest, er ist ein Sohn des Tempels?" "Na und? Als Tempelkind kann er auch woanders leben." "Eine harte Strafe für ein kleines Vergehen," überlegte Gerrys. "Ich werde sehen, ob sich nicht gnädiger verfahren läßt." "Das wirst du nicht," fuhr sie ihn an. "Ich kann durchaus von dir verlangen, daß du den Dieb aus unserer Gemeinschaft ausschließt und genau das tue ich." Seryna zeigte deutlich, daß sie sich nicht umstimmen lassen wollte. Als Falla konnte sie dieses Urteil wirklich verlangen, doch entsprach es eigentlich nicht ihrem eher freundlichen Wesen. Sie zürnte wohl auch weniger wegen der Tat
an sich, sondern mehr wegen dem Leugnen der Tat. Gerrys ließ nach Lorynir schicken. Während sie warteten, versuchte er weiter, Seryna zu beruhigen, doch je mehr er es versuchte, desto erregter wurde sie. Nymardos lehnte an der Wand, sah und hörte zu und schwieg zu alledem. Die Tür öffnete sich und ein trotziger junger Mann trat ein. Er kreuzte die Arme vor der Brust, um vor den Fallas zu knien. Sein ganzes Wesen drückte Abwehr aus. Dann fiel sein Blick auf Nymardos und mit einem Mal veränderte er sich. Lorynir erschrak sichtlich, verkrampfte sich ein wenig und warf sich ganz zu Boden. Er hielt die Arme ausgebreitet, das Gesicht auf den Teppich gepreßt. Diese völlige Unterwerfung durfte ein Falla fordern, aber sie war eigentlich nicht üblich. Und Lorynir lag auch nicht wirklich vor Seryna oder Gerrys, sondern richtete sich auf Nymardos aus. Der bewegte sich nicht, doch sachte berührte er den Geist des jungen Mannes. Dann trat er doch einen knappen Schritt auf ihn zu. Lorynir zuckte zusammen, als sei er geschlagen worden. Er krümmte sich auf die Knie und barg das Gesicht nun in den Händen. Erstaunt sah Gerrys ihn an. Serynas Wut erlosch, als sie das seltsame Gebaren des jungen Mannes und seine augenscheinliche Furcht vor Nymardos sah. Auch sie tastete nun nach dem Geist Lorynirs und sie wunderte sich darüber, weshalb der junge Mann Nymardos' Gegenwart als Demütigung empfand und dessen Meinung über ihn weit mehr fürchtete als jedes mögliche Urteil. "Erzähle, was geschah," forderte Gerrys den Knienden auf. Lorynir schwieg. Da war kein Trotz mehr in ihm, doch er war viel zu verkrampft, um reden zu können. Er kämpfte mit den Tränen. "Du hast geleugnet, das Schmuckstück an dich genommen
zu haben," stellte Gerrys fest, "und damit bist du nicht nur ein Dieb, sondern auch ein Lügner. Ist es so?" Lorynir nickte, aber er schwieg noch immer. Auch Gerrys berührte seinen Geist, doch die Furcht des jungen Mannes wirkte wie eine Abschirmung und erlaubte kein tiefes Eindringen auf unbemerkte Art. "Was wolltest du mit dem Schmuck?" wollte Gerrys nun wissen. Lorynir schluckte trocken und schwieg weiter. Er brachte einfach kein Wort heraus, obgleich er mehrmals dazu ansetzte. Seryna empfand Mitleid und wollte die Qual des jungen Mannes enden, als sie Gerrys aufforderte: "Verbanne ihn aus dem Tempel und damit sei es genug. Sathor wird ihn sicher aufnehmen." Die Starre wich von Lorynir. Er warf sich nach vorn, umfaßte Gerrys' Füße und stammelte: "Bitte nicht, Herr. Bitte, laßt mich bleiben." "Auf die Knie," mahnte Gerrys leise und zu seiner Verwunderung gehorchte Lorynir nun. "Weshalb hast du gestohlen?" Lorynirs Augen wurden feucht, doch nun gab er Antwort: "Ich habe den Anhänger im Gras gefunden, Herr." "Du wußtest, wem er gehört?" Der junge Mann nickte schuldbewußt. "Du hast geleugnet, ihn zu besitzen. Also wolltest du ihn behalten?"
Wieder nickte Lorynir. "Ich mag Maisa," flüsterte er, mühsam gegen die Tränen ankämpfend. "Ich wollte ein Andenken an sie. Ich weiß, daß sie mich nicht leiden kann, aber... Es war doch nichts Wertvolles." "Dennoch nicht dein Eigentum," beharrte Gerrys. "Die Schwere eines Diebstahls wird nicht durch den Wert des Diebesgutes bestimmt. Und für Diebe ist in einem Tempel wirklich kein Raum. Du wirst Raakis Tempel verlassen." Jetzt wehrte sich Lorynir nicht mehr. Er regte sich nicht, als er das Urteil vernahm. Nur das Beben seines Körpers zeigte, wie schwer ihn dies traf. "Du wirst morgen den Tempel verlassen," entschied Gerrys weiter. "Zuvor komme zu mir. Ich gebe dir ein Schreiben an Raakis Falla Sathor in Khyon mit, zu dem du dich begeben wirst. Du kannst gehen." Seryna lehnte sich im Sessel zurück. Gerrys traf die richtige Entscheidung und sie war damit zufrieden. Sie wußte aber, daß Gerrys nur ihrem Drängen nachgab und viel lieber nachsichtiger entschieden hätte. Lorynir erhob sich langsam. Sein Urteil war gesprochen und er mußte nun gehen. Aber da trat Nymardos einen Schritt auf Gerrys zu. Der junge Mann warf sich sofort wieder zu Boden. "Falla," sagte Nymardos mit ruhiger Stimme, "wenn sich ein Priester für den Tempelsohn verbürgt, darfst du gnädiger urteilen. Ich bürge für Lorynir." Gerrys und Seryna starrten ihn an. Die Falla faßte dieses Eingreifen kaum.
"Weshalb tut ihr das?" wollte sie wissen. Nymardos lächelte sacht. "Es ist mein Recht als Priester, vor meinem Falla diese Bürgschaft zu übernehmen," erwiderte er gelassen. "Der Falla wird entscheiden, ob ihm mein Wort genügt." "Dein Wort genügt mir allemal," versprach Gerrys, "wie ich auch deinen Rat befolgen würde." Er wandte sich an Lorynir: "Wenn ein so starker Priester die Verantwortung für dich übernimmt, gibt es keinen Anlaß, dich weiter zu bestrafen. Geh nun und danke den Göttern für diese unverdiente Freundlichkeit." Lorynir erhob sich. Er ging rückwärts zur Tür und erst kurz, bevor er den Raum verließ, hob er den Blick und sah Nymardos kurz an. Sofort senkte er den Kopf und dann ging er hinaus. Seryna sprang auf. Sie trat nahe zu Nymardos, ehe sie sagte: "War das nicht leichtfertig, Herr? Wenn ihr euch für einen Dieb verbürgt, seid ihr für sein weiteres Handeln verantwortlich." "Das war wirklich nicht nötig," stimmte ihr Gerrys zu. "Warum hast du nicht einfach gesagt, daß ich Gnade vor Recht ergehen lassen soll?" Nymardos schien heiter. Er lachte leise. "Ich bin nur Priester hier," meinte er leichthin. "Ich mische mich nicht in die Dinge deines Amtes, Gerrys. Abgesehen davon habt ihr beide nicht nach meinem Rat gefragt. Und die Falla hätte ihn auch nicht angenommen." Seryna wandte sich ab.
"Ich vergaß fast, daß ihr Pala des Than seid," gestand sie. "Euer Wort steht über dem unseren. Ich bedauere, wenn mein Verhalten euch zwang, so zu handeln." "Dazu besteht kein Grund," wehrte Nymardos ab. "Lorynir wird meine Entscheidung durch sein Verhalten bestätigen. Eine ganz normale Sache, Seryna. Es ist mir durchaus lieb, wenn du manches Mal vergessen kannst, wie Seymas zu mir steht. Wie sonst könnte ich hier leben wollen?" Gerrys hielt sich zurück. Erst, nachdem Seryna sie verlassen hatte, wollte auch er den Grund für Nymardos' Eingreifen wissen. "Du hättest mir durch eine Geste zeigen können, daß du nicht willst, daß der Junge verbannt wird," hielt er dem Freund vor. "Es war wirklich nicht nötig, daß du dich selbst in die Verantwortung stellst." "Das klingt, als sei es dir nicht recht so," stellte Nymardos fest. "Willst du denn, daß ich deine Arbeit mit dir teile?" "Willst du es?" "Nein," gab Nymardos unumwunden zu. "Ich will endlich so leben dürfen, wie es mir gefällt und zumindest für einige Zeit keine Pflichten kennen." "Ist nun aber nicht Lorynir eine Verpflichtung für dich?" "Keineswegs," versprach Nymardos. "Der junge Mann sehnt sich nach den Weihen und überlegt seit Wochen, wie er um Leitung bitten kann. Er hat unzählige Male versucht, zu mir zu kommen und dann doch nicht den Mut dazu gefunden." "Du willst ihn leiten?" staunte Gerrys.
"Gewiß, wenn er darum bittet. Nach diesem Abend wird er wohl den Mut dazu finden." "Also doch Verpflichtung." Jetzt lachte Nymardos leise auf. "Sollte mein Falla mich von dem Recht der Leitung ausnehmen wollen," spöttelte er liebevoll. "Oder fürchtest du, daß ich dann weniger Zeit für dich habe?" "Ich will nur, daß du hier glücklich bist," erwiderte Gerrys mit ernster Stimme. Nymardos legte den Arm um seine Seite und zog ihn näher an sich. "Das bin ich," versprach er. Gerrys lehnte sich gegen ihn. "Dann ist es gut," meinte er. "Bleib bitte heute Nacht bei mir, mein Freund."
A
ls der mitternächtliche Ruf zu Raakis Ritual ertönte, vermochte er nicht, den tiefen Schlaf Nymardos' zu durchdringen. Gerrys leitete das Ritual und kehrte später leise zurück. Im Schein seines Lebenden Kristalles betrachtete er eine Weile versonnen das Gesicht des geliebten Freundes. Dann legte er sich nieder und schlief rasch ein. Noch ehe sich die Nebel hoben, erwachte er durch eine Bewegung. Nymardos war aufgestanden und streifte sich die Tunika über. "Was ist?" wollte der Falla schlaftrunken wissen.
"Nichts weiter," beruhigte ihn Nymardos mit leiser Stimme. "Ruhe noch ein wenig. Ich will etwas in den Garten gehen." Er verließ den Tempel. Draußen hüllten ihn Dunkelheit und Nebel ein, während er langsam und ziellos ging. Ein tiefes Lächeln lag um seine Lippen und in seinen Augen schimmerte eine große Heiterkeit.
Z
u dieser Stunde erwachte Erynia. Schemenhafte Schatten wehten um ihr Lager und schienen nach ihr zu greifen. Erschrocken stieß sie einen leisen Schrei aus. Dann sprang sie auf. Cyprina, die an ihrer Seite schlief, erwachte. Auch das Mädchen sah die Schemen. Es schrie angstvoll auf und rannte zur Tür. Trotz ihrer Furcht blieb Cyprina im Zimmer. Sie starrte die Schemen an, die wie überaus schlanke und viel zu große Menschen aussahen. Erynia war an die Wand zurück gewichen. Sie sprach beschwörende Formeln und hielt abwehrend die Hände von sich gestreckt. Da erst begriff Cyprina, daß die verehrte Magierin sich in wirklicher Gefahr befand. "Lauf weg," rief Erynia dem Mädchen zu. Cyprina riß die Tür auf und rannte aus dem Haus. Gehetzt sah sie sich um. Es war noch dunkel, aber die Nebel hoben sich langsam und man konnte einige Schritte weit sehen. Sie wollte Hilfe holen. Doch der Weg zum Vater war viel zu weit. Aber sie wußte, wo Tibra wohnte und jetzt rannte sie so schnell als sie es vermochte, zu ihm. Der Magier hielt sein Haus nie verschlossen. Cyprina stürmte hinein, stieß die Tür zur Schlafkammer auf. Tibra schreckte hoch. "Schnell," drängte das Mädchen, "da sind Geister. Sie tun Erynia etwas an. Bitte, schnell."
Tibra war schon auf den Beinen. Er griff im Hinauslaufen nach einer Tunika und streifte sich diese unterwegs über. Er wartete nicht auf Cyprina. Erynia wehrte die Schemen vergeblich ab. Sie wurde von ihnen in eine Zimmerecke gedrängt. Ihr Atem ging heftig. Bleich versuchte sie weiter, die Bedrohung abzuwenden. Da drang Tibra ein. Er griff durch die Schattengestalten hindurch, packte ihr Handgelenk und zog sie zu sich. Nun, mit etwas Abstand von den Schemen, fiel Erynia das Atmen leichter. Tibra stieß sie in den angrenzenden Wohnraum. Nun kam auch Cyprina. Sie warf sich Erynia in die Arme und klammerte sich angstvoll an ihr fest. Die Schemen wehten durch die Tür herein. Tibra musterte Erynia aufmerksam, richtete sich auf die Schatten aus. Dann lachte er leise. "Wie hast du sie gerufen, Liebes?" wollte er von Erynia wissen. "Die sind nicht mein Werk," wehrte Erynia ab, die Schritt um Schritt vor den Schemen zurückwich. "Tut doch etwas," rief Cyprina angstvoll. Tibra sah sich um. Sein Blick fiel auf die Wurzelpuppe im Fenster. Da lachte er schallend auf. Mit raschem Griff nahm er die Wurzel an sich und löste die Haare von der Figur. Dann riß er die Wurzel in zwei Teile. Die Schemen wurden durchsichtiger, lösten sich auf. Erynia atmete auf. Cyprina löste sich von ihr, trat zwei Schritte zurück und starrte erst Tibra, dann die Magierin an. "Du mußt keine Angst mehr haben," versprach Erynia. "Es ist vorbei."
"Warum habt ihr die Wurzel kaputt gemacht?" forschte das Mädchen, noch immer furchtsam. "Das mußte er," mahnte Erynia. "Die Magie war wohl etwas zu stark." Tibra lachte leise. "Eher etwas zu schwach," berichtigte er. "Ich wußte gar nicht, daß du so dumm sein kannst, Erynia. Ist er dir so wichtig?" Sie wich seinem Blick aus. "Ich wollte Cyprina nur zeigen, wie stark Magie wirken kann," gestand sie leise. "Keine sehr überzeugende Demonstration," Tibra, der forschend auf das Mädchen sah.
vermutete
Cyprina hatte den Schreck noch nicht verwunden. Die Tür zum Haus stand noch offen. Draußen huschte ein kleines Tier über den Pfad und das unerwartete Geräusch ließ Cyprina an eine Wiederkehr der Schatten glauben. Sie schrie leise auf. Dann wandte sie sich um und rannte aus dem Haus. Jetzt wollte sie nur noch in die sicheren Arme des Vaters flüchten. "Bleib hier," forderte Tibra die Freundin auf, ehe er mit großen Sprüngen dem Mädchen folgte. Er holte Cyprina bald ein und hielt sie trotz ihrer Gegenwehr an den Armen fest. Aber schließlich ging er in die Hocke und zog das verstörte Mädchen an seine Brust. Er hielt sie fest, ließ sie weinen und versuchte nicht einmal, sie nun durch bloße Worte zu beruhigen. Langsam verebbte ihr Weinen. "Ich will nach Hause," flehte sie.
"Das kann ich verstehen," versprach Tibra, "aber es wäre dumm, jetzt durch die Nacht zu laufen." "Ich geh nicht zurück," beharrte sie. "Wir holen mein Pferd und reiten zum Tempel," bot ihr der Magier an. "Versprochen?" Tibra nickte und da ging sie mit ihm und vergaß dabei sogar, daß sie ihm eigentlich mißtraute. Das innere Tempeltor war zwar geschlossen, doch durch keinen Riegel gesichtert. Tibra öffnete es einen Spalt und ließ Cyprina hinein. Das Mädchen eilte in die Gemächer des Vater, fand ihn schlafend und legte sich zu ihm. Erst jetzt, da sie seine Wärme spürte, fühlte sie sich wirklich in Sicherheit. Gerrys legte im Schlaf den Arm um sie. Da kuschelte sie sich an ihn und schlief bald danach selbst ein. Tibra führte sein Pferd am Zügel mit sich. Er bewegte sich leise, denn er wollte keinen der Schläfer hier stören. Dann sah er Nymardos im Nebel, ließ den Zügel los und ging zu ihm. "Hey, du bist wütend," stellte Nymardos statt eines Grußes fest. "Dazu habe ich wohl allen Grund," murrte Tibra. "Ihr habt Erynia fast umgebracht." "Ich habe ihr ihre Gedanken zurück geschickt, aber das werden wohl keine Mordgedanken gewesen sein." "Cyprina war bei ihr," erzählte Tibra und bei dieser Eröffnung wurde Nymardos sehr aufmerksam. "Sie kam zu mir und flehte um Hilfe, weil Geister Erynia bedrohen. Als ich hinkam, fand ich fast greifbare Schemen, die sie
wirklich bedroht haben. Das hättet ihr nicht tun sollen, Herr." "Wäre es dir lieber gewesen, ich folgte diesem Locken?" "Ihr könntet dagegen ankämpfen." Nymardos lachte leise. "Nein, Tibra," wehrte er ab, "ich kämpfe nicht gegen Magie. So vergeude ich meine Kräfte nicht. Wenn du gegen etwas kämpfst, bist du genauso sein Gefangener wie wenn du dich ergibst." "Dann ist es mir lieber, wenn ihr nachgebt," murmelte Tibra, der diesen Argumenten durchaus folgen konnte. "Mir war nicht klar, wie wichtig Erynia die Sache ist." "Sie ist eine schlechte Verliererin," behauptete Nymardos. "Sie meint schon lange nicht mehr mich, sondern will nur noch ihrer Weiblichkeit schmeicheln. Aber ich denke, nach dieser Nacht versucht sie nicht wieder, mich mit Magie zu bedrängen." "Das sicher nicht," stimmte Tibra zu, "aber das ändert ihr Denken nicht und dies fängt an, mich mehr zu beschäftigen, als mir lieb ist. Ich mag euch, Herr, aber heute Nacht habe ich euch fast gehaßt. Das muß ein Ende finden." "Und was willst du, das ich tun soll?" "Entscheide ich das?" murrte Tibra. "Nur du," bestätigte Nymardos. Tibra atmete tief durch. "Dann nehmt mein Pferd und reitet zu ihr," verlangte er. "Danach werde ich schon sehen, wie ich mit der Sache leben
kann und wie sie unsere Beziehung beeinflussen wird." Nymardos wollte entzog sich ihm.
nach
seiner
Hand greifen, doch Tibra
"Bringt es zu Ende," forderte er mit dunkler Stimme.
E
rynia saß am Tisch, vor sich einen Becher mit heißem Kräutertee. Das Erlebnis der Nacht hatte sie schon verwunden. Ihre Magie hatte Nymardos nie beeindruckt und so wunderte es sie nicht, daß sie auch dieses Mal nichts erreichte. Aber mit seinem Kommen rechnete sie wirklich nicht. Erynia sprang auf, als er ihr Haus betrat. Dann lachte sie ihn fröhlich an und reichte ihm einen Becher Tee. "Es freut mich, daß du so vergnügt bist," gab er zu. "Allem Anschein nach verübelst du mir meine Notwehr weitaus weniger als Tibra." Erynia lachte. "Wenn er euch beleidigt haben sollte, dann verzeiht ihm bitte, Herr," sagte sie aber eine Spur zu schnell und entdeckte damit, daß ihr seine Macht noch immer bedrohlich erschien. "Er wollte mir sicher nur helfen." "Tibra braucht deine Fürsprache nicht," versicherte Nymardos gelassen. "Er braucht eher deine Zuwendung." "Es belastet ihn kaum, daß ich euch ansehe," vermutete sie. Nymardos wurde ernst. "Es belastet ihn genug, um die Freundschaft zwischen ihm und mir zu gefährden," gab er zu. "Und er liebt dich genug, um mich zu dir zu schicken. Du siehst, man kann auch ohne Magie gewinnen."
Sprachlos starrte sie ihn an. Dann begriff sie diese Worte. Erynia sprang auf und schleuderte wütend ihren Becher gegen die Wand. "Er hat euch geschickt?" rief sie aus. "Was denkt sich der Mistkerl dabei? Na, der soll kommen. Dem werde ich etwas erzählen." Nymardos trat zu ihr und faßte nach ihren Handgelenken. "Du siehst nicht sehr erfreut aus," stellte er vergnügt fest. Sie riß sich von ihm los. Zorn funkelte in ihren Augen, aber dann lachte sie befreit. Sie legte den Arm um seinen Hals und küßte ihn. Nymardos hielt sie fest. Das war kein Kuß des Verlangens, sondern eine verhaltene Hingabe wie einst in Wyla. "Es ist besser, wenn ihr jetzt geht," schlug sie dann aber vor. "Ihr habt es erreicht, daß ich an Tibra denke, wenn ich euch küsse. Da ist es einfacher, ihn zu selbst zu küssen." Nymardos nickte. Er leerte den Becher und ging zur Tür. "Nicht böse sein," sagte sie voll Zuneigung, "aber meine Liebe gilt Tibra." Er lächelte ihr zufrieden zu, ehe er ihr Haus verließ. Erynia griff nach einem Umhang, der sie gegen die Feuchtigkeit des Nebels schützen sollte und eilte zu Tibras Haus. Dort wartete sie auf den Freund, der nach geraumer Zeit kam. Der Magier erwartete nicht, die Geliebte hier vorzufinden. Aber Erynia duldete keine Fragen. Sie zog ihn an sich und zeigte ihm ohne Worte, daß er keinen Rivalen besaß.
T
ibra suchte mehr als früher den Tempel auf und verbrachte viel Zeit mit Gerrys, aber auch mit Nymardos, dem er mit einem Male freier und fröhlicher begegnete. Er begann sogar, ihn ab und zu mit Namen anzureden, wenngleich er sich das vertraute Du nach wie vor versagte. Cyprina vergaß das nächtliche Geschehen nicht. Sie weigerte sich mit einem Male, Erynia auch nur aufzusuchen und wenn die Magierin zum Tempel kam, so verbarg sie sich. Bei einer solchen Gelegenheit folgte Nymardos dem Mädchen in den breiten Schilfgürtel, der einen Teil des Weihers umgab. Hier, ungesehen von allen Blicken, ließ Cyprina es zu, daß er ihre Hand ergriff und sie neben sich auf den Boden zog. "Du zürnst Erynia?" forschte er freundlich. "Nein, das nicht. Aber ich habe Angst davor, daß sie wieder Geister rufen wird." "Das hat sie nie getan," erwiderte er ruhig. "Du weißt doch, was sie in dieser Nacht tun wollte, nicht wahr?" "Ja, Herr," gab Cyprina leise zu, "es war wohl auch meine Schuld. Wir hatten eine Zauberwurzel gefunden und ich wollte, daß sie mir die Kraft des Zaubers zeigt. Es war meine Idee, daß sie euch so rufen soll." Er lächelte dem Mädchen beruhigend zu.
"Wenn ein Mensch Kraft aussendet, dann muß er immer damit rechnen, daß diese Kraft zu ihm zurückkehrt," erklärte Nymardos. "Und manches Mal gestaltet sich diese Kraft dann etwas anders als erwartet." "Ohne Tibra wäre Erynia jetzt tot," vermutete Cyprina. "Ich dachte, sie sei stärker. Ich hielt sie für eine große Magierin." "Das ist sie," versprach Nymardos. "Sie ist es immer dann, wenn sie ihre Kraft dazu benutzt, anderen Menschen zu helfen. Warst du nie dabei, wenn sie den Frauen half, ihre Kinder ohne Schmerzen zu gebären; wenn sie Krankheiten besiegte oder Furcht, Verzweiflung und Angst verlöschen ließ?" "Das hab ich gesehen. Aber wenn man keine Macht mehr besitzt, wo man bedroht wird, dann ist die Magie nichts wert. Tibra ist da anders." "Aber ihn magst du nicht," erinnerte er sie fast vergnügt. "Er hat ihr geholfen. Und er hat mich nach Hause gebracht." "Er ist ein guter Freund," versprach Nymardos. "Du solltest ihm nicht mißtrauen, Cyprina." "Ich weiß, daß ihr ihn lieb habt." Cyprina suchte nach Worten. "Aber ihr habt auch gesagt, daß er mit anderen Kräften umgeht als ihr. Wie könnt ihr ihn da verstehen?" "Ich denke, in vielen Bereichen unseres geistigen Lebens verstehen wir einander nicht," gab Nymardos offen zu. "Das ist auch nicht wichtig. Ich weiß, daß Tibra seine Kraft niemals einsetzen wird, um einem Menschen zu schaden oder um einen persönlichen Vorteil zu gewinnen. Und das, Mädchen, das macht ihn schon fast zum Priester."
Cyprina dachte viel über diese Worte nach. Der Vater sprach ähnlich gut von dem Magier und zeigte deutlich, wie sehr ihm an dessen Freundschaft gelegen war.
E
inige Tage später spielte sie mit Freundinnen im Garten und unversehens kam es zum Streit. Ein böses Wort gab das andere und zornig rief Cyprina aus: "Ich wünschte, du wärst tot." Ihre Freundin starrte sie entsetzt an, drehte sich dann um und rannte davon. Die andern Mädchen folgten ihr. Cyprina blieb allein zurück. "Wünsche sind Gedanken und Gedanken besitzen formende Kraft," vernahm sie da hinter sich die dunkle Stimme Tibras. Cyprina fuhr herum und starrte ihn an. Dann schüttelte sie den Kopf. "Ich war doch bloß wütend," murmelte sie. "Das ändert nichts," versprach er. "Wenn ihr ein Unglück geschieht und sie wirklich stirbt, wirst du nie wissen, ob es nicht die Kraft deines bösen Gedankens war, der sich manifestierte." "Gedanken können nicht töten," widersprach sie, aber es war mehr eine Hoffnung als ein Wissen. "Du irrst dich," erwiderte er ernst. "Gedanken sind Kraft und Kraft vermag alles. Du solltest deiner Freundin jetzt einige sehr bewußte, zielgerichtete Gedanken des Friedens und des Schutzes senden, um deinen Fluch aufzulösen." Cyprina ertrug den dunklen, durchdringenden Blick seiner
Augen nicht. Sie wandte den Kopf ab. Aber sie tat, was er ihr riet und bemühte sich mit geschlossenen Augen um Konzentration und bewußtes Denken. Als sie ihre Augen wieder öffnete, war er schon weit über die Wiese gegangen. "Wartet, Tibra!" Cyprina lief ihm nach. Es kostete sie etwas Überwindung, aber sie bedankte sich für sein Eingreifen und seinen Rat. Tibra lachte leise und vergnügt. "Herr." Cyprina suchte nach Worten. "In den Tempeln ist es so, daß nur Frauen die Mädchen unterweisen und nur Männer die Knaben. Ist das bei Magiern auch so?" Tibra horchte auf. "Die Sitte der Tempel ist gut," erwiderte er langsam. "Aber die Magie kennt keine solche Begrenzung." "Und was muß man tun, um ein guter Magier zu werden?" "Lernen," antwortete er lakonisch. "Wie?" Er musterte sie. Tibra spürte, wie unangenehm ihr dies war, aber sie ließ es wortlos geschehen. "Willst du die Magie erlernen?" vergewisserte er sich dann. "Bist du dir deines Wünschens da ganz sicher? Wenn du dich auf diesen Weg begibst, darf es keinen Zweifel in dir geben, denn die Gefahren sind durchaus gegeben. Und wenn du dir sicher bist und den Pfad beginnst, dann mußt du wissen, daß er weit und steil ist. Es dauert Jahre, bis du deinen Willen und deine Gedanken und deine Kraft wirklich beherrschen kannst."
"Jahre?" Sie staunte. "Das klingt ja, als sei es schwerer, Magier als Priester zu werden." "Es sind andere Kräfte, um die es dabei geht," erinnerte er sie und gebrauchte ohne Wissen fast dieselben Worte wie Nymardos. "Der Priester muß die Kraftebenen, die er sucht, nur ertragen. Der Magier muß sie beherrschen, wenn er nicht ihr Opfer werden will." "Das klingt gefährlich," stellte sie mit leisem Schaudern fest. "Vater spricht von der Kraft seines Gottes immer nur voll Liebe, nie voll Furcht." "Eine Kraft, von der er beherrscht wird, die er selbst aber nie beherrschen kann," nickte Tibra. "Eine gute Kraft. Die Kräfte, die ich meine, sind anderer Natur, Cyprina. Und manch eine davon verdient die höchste Verehrung." "Vater wollte Raaki auch nie beherrschen," murmelte sie. "Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll." "Warten," riet er ihr da nachdrücklich. "Du wirst deinen Weg erkennen, da du ihn so intensiv suchst. Übereile nichts, denn es ist besser, zu zögern, als Umwege zu gehen." "Ich verspreche es," sagte sie da ernst und duldete von nun an kein Gespräch mehr über Magie oder Priesterschaft, egal, mit wem sie auch zusammen war.
G
errys übte, mit stumpfem Degen, den Waffengang mit Tibra. Es mochte ungewöhnlich sein, wenn ein Falla die Waffe beherrschte, doch Gerrys war nicht immer Priester gewesen. Als Soldat des König gehörte die Waffe zu seinem Handwerk und er genoß es, in Tibra einen Freund zu besitzen, der ihn im Training hielt. Sie kamen außer Atem und legten eine Pause ein.
"Müde?" forschte Tibra. "Willst du aufhören?" "Keineswegs," wehrte der Falla ab. "Aber du wirst immer besser und ich fange an, froh darüber zu sein, daß wir keine Feinde sind." Tibra lachte. "Wären wir es, würde ich bestimmt nicht mit dem Degen in der Hand gegen dich antreten," versprach er. "Wo steckt eigentlich Nymardos?" "Irgendwo im Garten," meinte Gerrys leichthin. "Er übt den Langbogen." "Es wundert mich, daß er überhaupt eine Waffe in die Hand nimmt." "Er betrachtet den Bogen nicht als Waffe, sondern als Hilfsmittel zur Konzentration. Den Pfeil mit dem Blick und dem Gedanken zu lenken, das ist eher eine priesterliche Übung." Tibra lachte heiter. "Konzentration und ein starker Wille sind auch die Werkzeuge des Magiers," meinte er fröhlich. Rhagans ältester Sohn ging in der Nähe vorbei. Tibra sah ihm nach. Sein Blick verdunkelte sich und seine Heiterkeit wich. "Gerrys," fragte er nachdenklich, "steht Nymardos mit Seymas in Rapport?" "Sie können sich auf alle Fälle erreichen," versprach der Falla. "Ob es durch einen Rapport geschieht oder auf anderem Weg, das weiß ich nicht. Ist es wichtig?"
"Würde er mit dem Than für mich in Verbindung treten?" "Warum fragst du ihn nicht selbst?" Tibra legte den Degen beiseite. Offen sah er Gerrys an, als er gestand: "Ich bin mir nicht sicher, ob er das nicht als Ansinnen versteht, das er mir verübeln könnte." "Gehen wir zu ihm," beschloß Gerrys da, dem der Ernst des Freundes nicht gefiel. Nymardos zielte nun schon seit langem auf die entfernte Scheibe. Er stand völlig reglos, hatte die Augen nur halb geöffnet und befand sich fast in Versenkung. Trotzdem spürte er das Nahen der Freunde und ließ den Bogen sinken. Seit langem hielt er eine abschirmende Sperre um Tibras Geist gelegt, die auch ihn daran hinderte, zu schauen, was in dem Magier geschah. Zwar lehrte er ihn seit kurzem, wie er selbst seinen Geist abschirmen konnte, doch Tibra beherrschte diese Übung noch nicht und so ließ er die Sperre weiterhin mit dessen Einverständnis bestehen. Aber es bedurfte keiner priesterlicher Macht, um zu erspüren, daß der Freund bedrückt war. "Was ist mit dir, Freund?" forschte er aufmerksam. Tibra schüttelte den Kopf. Nein, er konnte Nymardos wirklich nicht bitten, Seymas für ihn zu erreichen. Das war eine Region, in der ein Magier nichts verloren hatte und wo er keine Ansprüche stellen durfte. "Ich habe das dumpfe Gefühl, als wenn Rhagan sehr unglücklich ist," sagte er nach langem Schweigen. "Du willst, daß ich mich erkundige," begriff Nymardos sofort.
Tibras Hand umschloß den Anhänger, den er an einer Kette vor der Brust trug. Dieser geschnittene Amethyst mit dem eingelassenen Opal gehörte Amarra, aber er war ihm gegeben als ein Zeichen, das ihm alle Tore öffnen sollte. "Bringt mich das zum Than?" wollte er wissen. "Es öffnet dir jede Tür," versprach Nymardos. "Aber du brauchst es nicht, Tibra. Seymas würde dich auch so immer empfangen. Du willst nicht wirklich nach Amarra gehen?" "Wenn es der einzige Weg ist, etwas für Rhagan zu erreichen, werde ich es tun," versprach der Magier. "Ich kann euch nicht bitten, mir diesen Weg auf geistige Art abzunehmen." Nymardos lächelte. "Wenn ich deine Hilfe brauche, bin ich weniger bescheiden," stellte er leicht amüsiert fest. "Warte ein wenig." Er lehnte den Langbogen gegen den Stamm eines nahe stehenden Baumes und ging langsam über die blühende Wiese. Gerrys blieb bei Tibra und wartete mit ihm. Nymardos fiel es sehr leicht, den Geist des fernen, jungen Freundes zu finden und Seymas öffnete sich seinem Suchen ohne Zögern. Die geöffnete Verbindung erlaubte ein Austauschen von Gedanken gleich Bildern. Es gab keine Worte darin, aber doch ein Wissen, das so klar wie deutliche Worte sich zeigte. "Jostur berichtete Amarra, daß Rhagan auf dem Weg nach Nodher ist," empfing Nymardos die Botschaft. "So ließ er ihn gehen?"
"Rhagan ging heimlich, ohne Gruß." "Und was wirst du tun?" "Was soll ich tun, Nymardos? Ich habe Rhagan dazu bestimmt, mit Jostur nach Thara zu gehen und das hat er gemacht. Wenn ihn dort nichts weiter erwartet, so ist es richtig, wenn er wieder geht. Ich wollte nur, daß er die Reise antritt und habe nie etwas anderes verlangt. Warum fragst du nach ihm?" "Tibra sorgt sich. Er hat das Gefühl, als sei Rhagan ein Unglück widerfahren." Kurze Zeit empfing er keine Schwingung, aber dann war ihm, als empfände Seymas große Heiterkeit. "Ich würde Tibras Intuition immer mehr trauen als dem Blick meiner eigenen Augen," ließ ihn der Than wissen. "Das bedeutet, daß Rhagan Hilfe braucht." "Möglich - aber Hilfe muß immer der bringen, der ihre Notwendigkeit erkennt. Laß Tibra wissen, daß ich auf seiner Seite bin. Er macht es dann schon richtig." "Er wird nach Thara gehen, wie er es Rhagan versprach." "Und mein Pala wird bei ihm sein," wußte Seymas. "Die Götter werden euch geleiten." Die Verbindung erlosch in einem sachten Ausklingen. Tibra wartete ungeduldig darauf, daß Nymardos zu ihnen kam und als er dann bei ihnen stand, ergriff er die Hand des Mächtigeren und wollte mit drängender Stimme wissen: "Werdet ihr den Than befragen?"
Gerrys lachte leise. Nymardos lächelte. Sein kurzer Spaziergang durch den Garten konnte nicht den Eindruck erwecken, als habe er dabei eine tiefe priesterliche Übnung ausgeführt. Er hielt Tibras Hand fest und teilte ihm mit ruhigen Worten mit, was Seymas ihn wissen ließ. Tibra nickte dankbar. Dann sah er Gerrys an. "Für eine Reise durch Thara brauche ich wohl etwas mehr Solare, als ich besitze," gab er zu. "Hilfst du mir?" "Du kannst nicht allein in Minosantes Tempel," antwortete Gerrys, was Nymardos ein fast heiteres Lachen entlockte. "Er ist nicht allein," versprach er. "Und was immer an Mitteln nötig ist, wird er bestimmt auch erhalten, nicht wahr?" "Du willst mit ihm gehen?" "Was verwundert dich daran?" "Nichts," versicherte Gerrys rasch. "Es ist nur - ich brauche Amarras Erlaubnis, um den Tempel auf so lange Zeit zu verlassen." "Die hast du," versprach ihm der Pala des Than lächelnd. Tibra verstand. Seine Unruhe fiel von ihm ab. "Hey," hielt er die Freunde zurück, "macht euch keine Umstände. Ich begebe mich nicht in Gefahr. Ich will nur nach Thara und Rhagan nach Hause holen. Ich denke, das schaffe ich allein. Ich fürchte aber, daß Rhagan erneut versklavt ist und daß es sehr teuer wird, ihn zu kaufen." "Kaum," wehrte Nymardos ab, "für Tharas Verhältnisse taugt Rhagan nichts als Sklave."
"Er ist groß und stark," hielt Tibra dagegen. "Aber er kann denken und reden. Tharas Sklaven sind wie Miska, Tibra. Kennst du die Sitten dieses Landes nicht?" "Ich werde sie kennenlernen." "Gewiß," gab Nymardos zu. "Bis wir Thara erreichen, habe ich dir die wichtigsten Dinge schon beigebracht. Und nun wehre dich nicht dagegen, denn so lästig kann ich dir gar nicht sein." Tibra lachte leise. "Ihr seid alles andere als dies," versprach er. "Aber habt ihr nicht eben erst den jungen Lorynir als Chela angenommen? Ist es gut, wenn eine Leitung so schnell unterbrochen wird?" "Ein Chela geht, wohin sein Lehrer geht." "Ich habe den Eindruck, als wenn das eine größere Reisegruppe wird," vermutete Tibra. "Wie gesagt, es muß nicht sein. Aber es ist wohl auch kein Nachteil." Er grinste. "Nur werde ich so Erynia schwerlich davon abhalten können, sich uns ebenso anzuschließen. Ich reite nach Hause und komme morgen früh wieder. Ist das in Ordnung?" "Wir sind morgen bereit," versprach Gerrys. Tibra warf den Freunden einen dankbaren Blick zu, ehe er sie verließ. Wie er erwartet hatte, bestand Erynia sofort darauf, ihn auf dieser Reise zu begleiten. Aber als sie erfuhr, daß Gerrys wie auch Nymardos mitkommen wollten, zögerte sie. Tibra grinste. Er erriet mühelos ihre Gedanken. Erynia ärgerte es, daß Cyprina ihr auswich und sie nahm an, das habe etwas
mit den Freunden zu tun, die den Umgang nicht gern sahen. Natürlich wußte sie auch, daß das Mädchen das Erlebnis mit den Schemen noch als bedrückend empfand. Aber Erynia war überzeugt, diese Furcht bezwingen zu können. "Wir werden lange Zeit unterwegs sein," meinte er mit arglos klingender Stimme. "Seryna wird sich um Cyprina kümmern und den Tempel solange verwalten. Und Leokan ist ein guter San. Ich denke, Gerrys wird sich nicht sorgen müssen." "Er läßt den Tempel oft allein," erwiderte sie abwesend. Ihre Gedanken weilten woanders. "Thara ist weit." Am andern Morgen, als Tibra zu ihrem Haus kam, fand er sie schlafend und als sie erwachte, erklärte Erynia mit fester Stimme, daß sie die Reise nicht antreten wolle. Tibra verlangte keine Erklärung. Er küßte sie, nahm ihre Entscheidung hin und ihr gefiel es sehr, daß er sie nicht hinterfragte.
L
orynir wartete vor dem inneren Tempeltor, begrüßte Tibra und führte ihn zu Gerrys, wo die Freunde das Frühmahl mit ihm teilen wollten. "Wo ist Erynia?" wunderte sich Gerrys. Tibra lachte fröhlich. "Deine Schwester zieht es vor, in Nodher zu bleiben, um deine Tochter wieder neu zu gewinnen," erklärte er vergnügt. Gerrys verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Das gefiel ihm gar nicht und dies sagte er auch. Nymardos lächelte. "Ein guter Gedanke," meinte er. Fragend sah Gerrys die Freunde an, dann verstand er.
"Erynia wird dir böse sein," warnte er Tibra mit leichter Heiterkeit. "Aber Cyprina wird das Abenteuer der Reise genießen. Sie wird viel Neues sehen und viel Fremdes." Er erhob sich. "Ich sage es ihr. Wartet hier." Das Mädchen umarmte den Vater in freudiger Begeisterung, als sie erfuhr, daß sie mit nach Thara kommen durfte. "Ich werde dir auch in allem gehorchen," versprach sie, "und dir bestimmt keine Last sein." "Du wirst auch Nymardos bestimmte er freundlich.
und
Tibra
gehorchen,"
"Das werde ich," versicherte sie ernsthaft. "Wenn ihr drei dabei seid, habe ich vor nichts Angst." Er wunderte sich ein wenig darüber, daß sie auch seinen Freunden ein solches Vertrauen entgegen brachte. Gerrys freute sich aber vor allem, daß seine Tochter seinen Freunden solche Gefühle zu schenken vermochte. Als sie den Tempel verließen, wartete Lorynir, der als Chela Nymardos' seinen Leiter überall hin begleiten würde, um von ihm zu lernen und um ihm zu dienen. Auch der Priester Parylen war bereit. Er lebte seit Jahren im Tempel, arbeitete als Gärtner, verbrachte aber weitaus mehr Zeit damit, Gerrys' ein Gefährte zu sein. Er war froh darüber, daß ihm die Begleitung gestattet wurde und er wollte alles tun, um die Reise seinem Falla so angenehm als möglich zu machen. Der Weg zum Hafen führte an der Sajik-Plantage des Tempels vorbei. Gerrys zügelte sein Tier, als der große, flache Bau in Sicht kam. Er starrte hinüber. "Du überlegst, ob du deinen Bruder Attor mitnehmen willst," begriff Tibra.
"Er hat Rhagan aus Thara geholt. Er kennt das Land und die Sitten. Er könnte hilfreich sein." "Ohne mich," wehrte Tibra nachdrücklich ab. "Es tut mir leid, Gerrys, aber ich werde nicht mit deinem Bruder reisen. Er hat nie vergessen, daß Rhagan sein Sklave war und Sklavenhalter gibt es in Thara schon zu viele. Rhagan braucht jetzt keinen Herrn, er braucht Freunde." Fragend sah der Falla auf Nymardos und als auch dieser bestätigend nickte, trieb er sein Pferd wieder an. Im Grunde war es ihm nicht unrecht, ohne Attor zu reisen.
Sie erreichten die Hafenstadt und übernachteten in einer Herberge. Cyprina konnte sich nicht erinnern, jemals so weit vom Tempel entfernt gewesen zu sein. Fasziniert nahm sie all die neuen Eindrücke in sich auf. Sie fühlte sich ungemein wohl in der doch so fremden Reitkleidung. Der Sattel war ihr durchaus vertraut, doch innerhalb des Tempelbereiches gab es nie einen Grund, enge Beinkleider und feste Westen zu tragen. In dieser Kleidung sahen auch die Priester mehr wie gewöhnliche Reisende aus. Sie erweckten nicht einmal Aufmerksamkeit. Sie fanden am andern Morgen ein Handelsschiff, das bereit war, sie mit nach Thara zu nehmen. Während der Überfahrt mußten sie sich eine Kabine teilen. Der Raum zeigte sich nicht sehr groß, doch fanden sich auf dem Boden saubere Decken als Lagerstatt und die Mannschaft schien einen freundlichen Eindruck zu machen. Gerrys bezahlte die geforderte Summe, während Parylen und Lorynir das Gepäck an Bord brachten. Die Pferde mußten sie zurücklassen, aber sie waren ohnehin nicht geeignet, um sie durch das rauhe Bergland zu bringen. Der erste Tag auf dem Meer wurde für Lorynir zu Qual. Er krallte sich beständig an der Reeling fest und erbrach sich
mehrmals. Die Mannschaft lachte darüber und beschämte ihn so. "Erynia hätte bestimmt ein Kraut, das ihm hilft," vermutete Cyprina, nicht ohne Vorwurf an Tibra gerichtet. Der Magier grinste. "Wenn er einen Kristallsplitter unter die Zunge legt, geht es auch vorbei," versprach er. "Dann gebt ihm doch so einen Splitter," bat das Mädchen. Tibra schüttelte den Kopf. "Er ist nicht mein Chela," lehnte er ab. Da sah sie bittend zu Nymardos auf, aber der meinte nur: "Bis zum Abend hat er es überwunden. Es ist besser, wenn er die Übelkeit ohne Hilfe bezwingt, weil sie ihn dann nie wieder befallen wird." Sie verstand es nicht und so bleib sie bei Lorynir, als die Männer unter Deck gingen. Cyprina empfand Mitleid. "Ist es sehr schlimm?" fragte sie leise. Lorynir wirkte schwach und bleich. "Zürnt mein Herr?" Cyprina tastete vorsichtig nach seiner Hand. Ihm war übel, aber sein einziger Gedanke schien zu sein, was Nymardos über ihn dachte. "Er ist nicht böse," versprach sie nachdenklich.
Lorynir bekämpfte ein Würgen, ehe er bekannte: "Ich sollte ihm dienen." "Hilft es dir, wenn ich das tue?" bot Cyprina mitfühlend an. Lorynir nickte krampfhaft, aber er wagte es nicht, sie dabei anzusehen. Sein Blick fraß sich am fernen Ufer fest, als könne das entfernte Land ihm Halt geben. "Dann sorge dich nicht. Ich werde deinem Herrn dienen und dich vertreten, bis es dir besser geht," versprach Cyprina und ließ ihn allein. Das Mädchen gab sich alle Mühe, Lorynir würdig zu vertreten und alle Wünsche Nymardos' schnell und gut zu erfüllen. Die Nebel sanken, als der Priesterschüler dann endlich seine Übelkeit bezwang und mit schuldbewußtem Gesichtsausdruck die Kabine der Freunde betrat. Dankbar sah er Cyprina an, ehe er vor Nymardos kniete und für sein Säumen um Verzeihung bat. "Du hast nicht versagt," versprach ihm Nymardos. "Schlafe nun. Und dann genieße den Rest der Überfahrt."
I
n den kommenden Tagen erzählte Nymardos den Freunden viel von Thara. Er beschrieb das Land, als habe er es selbst schon bereist. Er sprach von den Sitten und Gebräuchen, den Menschen und Tieren, der Landschaft, den hohen Bergen und den klaren Seen. "Ihr seid wirklich nie dort gewesen?" vergewisserte sich Tibra, der im Lauschen das Land fast in sich sehen konnte. "Ich war Herr der Reiche," erwiderte Nymardos heiter. "Es gehörte zu meinem Amt, die Länder zu kennen. Aber dazu muß man nicht unbedingt auf Reisen gehen."
"Wenn sie die Sklaven besser behandeln würden, wäre es vielleicht ein schönes Land," murmelte Parcylen, der bei allem ein schweigsamer Zuhörer war. "Es ist ein schönes Land," widersprach Nymardos. "Gewiß, die Sklaven sind stumpf. Sie werden euch allen wie Miska erscheinen. Aber sie leiden weniger als in Sion oder Khyon. Die Frauen werden nicht vergewaltigt, die Männer nicht geschunden. Sie sind mehr oder weniger übersehen und gut dressiert." "Das klingt schrecklich," stellte Cyprina fest. "Ich glaube, ich mag Thara nicht." Gerrys legte den Arm um sie und zog sie an sich. "Urteile nicht vorschnell," riet er liebevoll. "Ein so großes Land hat sicherlich sehr viele schöne Seiten." "Hoffentlich finden wir die auch," meinte sie skeptisch. Sie durchquerten die Meerenge zwischen Sarai und Wyla und hatten damit die Hälfte des Seeweges geschafft. Cyprina gelang es, die Fremdheit, die Lorynir zwischen sich und alle Menschen legte, zu durchbrechen. Der junge Mann verhielt sich in allem untadelig. Er leistete vorbildlichen Dienst, diente Nymardos voll Aufmerksamkeit und vertiefte sich in jede aufgetragene Übung ohne Hinterfragung. Aber er sprach fast nie und er lachte zu keiner Zeit. Still, gefaßt und in sich gekehrt duldete er keine offenen Gespräche und keine Zuwendung. Nur gegen Cyprina wehrte er sich nicht weiter und manches Mal saßen sie nun beisammen und unterhielten sich. "Du freust dich gar nicht über die Reise," wunderte sich das Mädchen, das neben ihm an der Reeling stand und auf die sich entfernende Küste Sarais sah.
"Ich wurde in Raakis Tempel gezeugt und geboren," antwortete er nachdenklich. "Ich habe nie etwas anderes gesehen und jetzt fürchte ich mich ein wenig." "Wovor denn? Ich habe keine Angst, solange Vater und seine Freunde bei mir sind." Lorynir lächelte wehmütig. "Sie werden dich beschützen. Du bist die Tochter des Falla. Ich sollte vermutlich nicht einmal so mit dir reden." "Und du bist Chela des stärksten Priesters, den ich kenne." "So kennst du den Than nicht?" fragte er verwundert. Cyprina lachte leise. "Doch, ich kenne ihn schon. Aber es ist Jahre her, seit er in Nodher war und ich kann man mich fast nicht daran erinnern." "Ich erinnere mich," bekannte Lorynir. "Ich habe ihn beobachtet. Er machte nicht den Eindruck, als wenn er mit Macht umgehen könnte. Aber damals war er selbst Chela." "Wäre es dir lieber, er würde dich leiten?" "Bestimmt nicht." Lorynir lachte sehr leise; eine Äußerung, die fremd an ihm wirkte. "Der Than kann nicht ernst sein und sein Scherzen würde mich verletzen. Ich verehre Nymardos, der sein Pala ist. Ich bin glücklich und geehrt, da er mich angenommen hat. Ich hoffe nur, ich bin dieser Ehre auch würdig." "Komisch," erwiderte das Mädchen nachdenklich, "als er in den Tempel kam, da habe ich ihn gar nicht gemocht. Ich weiß, daß Vater sich das immer gewünscht hat, aber ich
dachte, er tut nun so, als wenn das sein Tempel wäre. Und jetzt sieht es so aus, als sei er ein ganz normaler Priester." "Ist er aber nicht," wehrte Lorynir ab. "Das weiß ich nicht," gab Cyprina zu. "Ich weiß nur, daß er eigentlich sehr nett ist. Wie Tibra auch." "Du magst auch Parylen," wußte Lorynir. "Den kenne ich doch schon lange. Aber bei dir hat man immer den Eindruck, als wenn du keinen Menschen richtig magst." "Ich glaube, ich mag dich," antwortete Lorynir nach langem Zögern und er errötete dabei. Der Priesterschüler war froh, als Parcylen nun zu ihnen trat und Cyprina damit jeder Reaktion auf dieses Geständnis enthob.
R
hagan wunderte sich darüber, daß der San des Tempels sein Haus betrat und ihn mit freundlichen Worten um Begleitung bat. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie Og sich ein wenig verkrampfte. Rhagan gab dem Sklaven ein Handzeichen, das ihn anwies, zu warten, dann begleitete er den San. Unterwegs plauderte Karyson leichthin und gab seiner Hoffnung Ausdruck, Rhagan möge in Minosantes Tempel ein erfülltes Leben führen. Sie betraten ein weit abseits stehendes, kleines Haus und mit einem Mal fiel die Freundlichkeit von Karyson ab. "Es ist an der Zeit, daß du uns die Wahrheit über dich sagst," verlangte er von Rhagan. Der Hüne sah sich kurz um. Tossar war hier und bei ihm drei weitere Priester. Und sie hielten Säbel in Händen. Ihre Haltung verriet ohne Worte, daß sie bereit waren, ihn zu töten. Karyson legte den Riegel vor die Tür und lehnte sich gegen diese. An Flucht war so nicht zu denken. "Welche Wahrheit?" forschte Rhagan angespannt. "Ihr wißt, daß der Than mich nach Thara befahl und daß ich aus Raakis Tempel in Nodher komme." "Der Than?" Karyson horchte auf. Das hatte er so nicht gewußt. "Du bist nicht der Gefährte des Fallas." "Jetzt bin ich es."
"Und davor?" "Davor war ich der Gefährte von Raakis Falla," erwiderte Rhagan düster. "Der deinen Geist abschirmt," vermutete Karyson lauernd. "Warum? Was sollen wir nicht in dir erkennen können?" Rhagan sah ihn an. Er spürte die Gefahr, aber er wußte auch, daß es kein Entrinnen gab. "Was wollt ihr erkennen?" "Vielleicht die Ursache dafür, weshalb du an keinem Ritual teilnimmst," erwiderte der San mit drohendem Unterton. "Du bist kein Priester. Nicht der Than hat dich gesandt, er kennt dich nicht einmal. Unser Falla spielt ein Spiel mit uns." "Dann befragt ihn," brummte Rhagan. Er hechtete nach vorn, stieß Karyson beiseite und riß den Riegel zurück. Doch noch ehe er die Tür öffnen konnte, fraß sich ein Säbel in seine Seite. Er spürte den Schmerz, der ihm fast die Besinnung rauben wollte. Ihm schwindelte. Doch er ergab sich nicht. Seine Hände krallten sich an der Tür fest. Er wollte sie immer noch öffnen. Da traf ihn ein Fausthieb in den Rücken und nun stürzte er zu Boden. Einer der Männer trat ihm kraftvoll den Fuß ins Gesicht. "Laß ihn, Astur," klang Karysons Stimme kalt. "Seit wann beschmutzt sich ein Mann der Ehre an einem Sklaven Tharas?" Rhagan schloß die Augen. Der Schmerz in der Seite war unerträglich, doch das Wissen um Entdeckung erschütterte ihn nicht minder.
"Sklaven tragen einsilbige Namen. Du heißt also Rha," stellte Tossar fest. "Wann bist du geflohen?" Der Hüne schwieg. Die Priester waren nahe an der Wahrheit, was sie nicht wissen konnten. Er war wirklich geflohen, damals, als er noch Sklave war. Attor fing ihn und erhielt ihn zum Lohn als Geschenk. "Tharas Sklaven reden nicht," höhnte Karyson. "Hier ist ein Sklavenpapier, das ihn als Besitz des Tempels ausweist. Laß ihm das Kupfer anlegen, Tossar. Und dann schaffe ihn weg von hier. Es wird ihn niemand vermissen." Rhagan unterdrückte ein Stöhnen. Diese Menschen raubten ihm die Freiheit. Es war gegen das Gesetz, doch der San des Tempels konnte durchaus ein gültiges Sklavenpapier anfertigen. Die Wunde hinderte ihn an jeder Gegenwehr. Für einen Moment dämmerte so etwas wie Hoffnungslosigkeit in ihm und das verzweifelte Ahnen, daß die Vergangenheit seine Zukunft sein würde. Es würde ihn niemand vermissen, behauptete Karyson. Afrinar würde es tun, aber keine Fragen stellen. Und Og würde es tun, ohne diesem Denken auch nur Raum zu geben. Nein, hier im Tempel würde er sehr schnell vergessen sein. Und dann dachte er an Tibra. Der Magier versprach, zu kommen, sollte ihm ein Leid geschehen. Rhagan klammerte sich an dieses Versprechen. Er gab sich nicht auf. Die Männer schleppten ihn in der Dunkelheit der Nacht aus dem Haus, nachdem der Schmid ihm zuvor den Kupferkragen anlegte, der ihn in Thara als Sklaven auswies. Sie packten ihn grob auf ein Pferd, banden ihn fest und warfen die Zügel einem wartenden Reiter zu. "Du solltest ihn besser nicht losbinden," riet Tossar dem Reiter. "Der Mann ist zwar verwundet, aber trotzdem gefährlich und dir allemal überlegen, Zargyn. Hier, sein Sklavenpapier. Der Tempel schenkt dir die Gabe zum
Abschied. Und nun verschwinde. Die Nebel heben sich und ehe es richtig hell ist, mußt du fort sein." "Ich danke," erwiderte der junge Mann. "Mit diesem Geschenk wird mein Oheim mich gern begrüßen."
Z
argyn nahm keine Rücksicht auf die Wunde seines neuen Sklaven. Er ritt rasch und kümmerte sich nicht um Rhagan, dessen noch immer unverbundene Wunde immer wieder zu bluten begann. Sie waren Tage unterwegs. Nur selten reichte der Jüngling dem Gebundenen etwas Wasser. Nahrung versagte er ihm ganz. Rhagan fieberte inzwischen. Es war nun nicht mehr weit, doch Zargyn wählte einen Umweg. Der Oheim würde ihm einen so zerschundenen Sklaven übelnehmen. Nicht, daß er Sklaven sonderlich beachtete. Sie waren Besitz für ihn und Reichtum. Aber er achtete auf seinen ganzen Besitz und ein gefolterter Sklave war wertlos in seinen Augen. Zargyn wußte, wo eine Kräuterfrau lebte und diese suchte er nun auf. Sie Alte verlachte ihn, da er nichts besaß, mit dem er ihren Dienst bezahlen konnte. Aber dann hatte sie Mitleid mit dem Sklaven. Zargyn erlaubte nicht, daß Rhagan vom Pferd genommen wurde und so mußte die Frau ihn im Sattel behandeln. Sie verstand ihr Handwerk. Zargyn blieb drei Tage bei ihr und in dieser Zeit ging das Fieber zurück. Danach nahm er die Reise wieder auf.
D
er Besitz des Lanas befand sich in einem weiten Tal, umgeben von grünen Wiesen und hohen Bäumen. Zargyn war zu Hause. Rhagan, noch immer im Sattel festgebunden, nahm seine Umgebung kaum wahr. Erst, als sie schon nahe der Häuser waren, lichtete sich sein überschleierter Blick. Ein heiseres Stöhnen entrang sich der Brust des Hünen. Zargyn sah sich besorgt nach ihm um. Wenn das Fieber wiederkam, machte das einen schlechten Eindruck. Aber Rhagan fieberte nicht. Er starrte auf das Herrenhaus. Er erkannte es! Hier war er Sklave gewesen. Im
Grunde war dieser Ort seine Heimat. Nicht so sehr dieses Haus dort, sondern mehr die Steinbrüche etwas entfernt. Doch dies änderte nichts. Namen fielen ihm ein, die er vergessen glaubte. Da war der damals Leibeigene Xanor, mit dem er durch Sion und Nodher reiste, wo er Gerrys das erste Mal begegnete. Da war der blinde Bruder des Lanas, Valvaran. Er hatte diesen Mann beschützt, sein Leben für ihn gewagt und war doch von ihm verraten worden. Und da war der Lanas Estoryn, der ihn zusammen mit Attor nach seiner Flucht jagte. Attor hatte diesen Mann gemocht. Rhagan wußte nur, daß er grausam und hart sein konnte. Aber das alles war mehr als zwanzig Jahre her. Diese Menschen würden ihn nicht mehr erkennen können, zumal sie einen Sklaven ohnehin nicht beachteten. Trotz seiner Schmerzen spannte sich Rhagan an. Er würde dafür sorgen, daß sie sich erinnerten, beschloß er. Er war nicht bereit, sich einem Schicksal als Sklave zu ergeben und sein voriges Leben erneut zu leben. Vielleicht würde Tibra ihn wirklich suchen. Aber es war zweifelhaft, ob er ihn hier finden könnte. Und Rhagan wollte eher sterben, als daß er sich ergeben wollte. Zargyn lenkte die Pferde zum Herrenhaus. Niemand beachtete Rhagan, dessen Kupferhalsreif seinen Stand bewies. Zargyn hatte ihm auf der Reise das Haar zum Knoten gebunden. Er wirkte nun wie jeder Sklave Tharas. Der junge Mann hingegen fand viel Beachtung. Er wurde laut und freudig begrüßt. Seine Mutter Keyna umarmte ihn bewegt. Sie war erst vierzig Jahre alt, wirkte jedoch viel älter. Rhagan erinnerte sich an sie und ihr sanftes Wesen. Früher war sie schön gewesen; damals, als sie noch Attor gehörte. Zargyns Vater kam ebenfalls zu seinem heimkehrenden Sohn. Trotz seiner Blindheit ging Valvaran sicher mit Hilfe eines Stockes. Obwohl er fast zehn Jahre älter als seine Gemahlin war, wirkte er tatsächlich fast jünger. Zargyn sah ihm ähnlich. Sie trugen dieselben schmalen Züge und dieselben schmalen Lippen.
"Haben dich die Tempel nicht haben wollen?" ertönte eine Stimme von den Ställen her. Zargyn fuhr herum. Rhagan wandte nur langsam den Kopf. Dieser Mann war Alboran, der ältere Bruder des Lanas. Er war groß, fast so groß wie Rhagan selbst, und überragte Valvaran um mehr als Haupteslänge. Sein einst fülliges Haar war dünn geworden, doch er wirkte stark und selbstbewußt. In den fast sechzig Jahren seines Lebens mußte er nie die Liebe seines Bruders missen, der ihm das Leben in allem erleichterte. "Ich habe erkannt, daß mein Platz hier ist," erwiderte Zargyn dem Oheim mit zögernder Stimme. "Das hat dir Afrinar schon vor der Abreise gesagt," meinte Alboran heiter. "Ich wollte ihm dienen," murrte der Jüngling. Heiteres Lachen ließ ihn zusammenfahren. Ein etwa gleichaltriger junger Mann trat aus dem Haus. Rhagan senkte unwillkürlich den Kopf. Der Bursche sah Afrinar so ähnlich, daß sie Brüder sein mußten. Auf Thara war es üblich, daß ein Lanas seinen Erben nicht als ersten Sohn zeugte, sondern diesem gleichsam einen Diener ins Leben voraus sandte. Zargyn spannte sich an. Es war offensichtlich, daß Afrinar seinem Bruder mehr Achtung erwies als seinem Vetter, denn der Sohn des Lanas zeigte sich sehr selbstbewußt. "Ich bitte dich, Quenryn," sagte Valvaran leise, "dulde doch die Freude über die Heimkehr meines Sohnes." Quenryn beachtete ihn nicht, übersah auch Zargyn. Sein Blick glitt zu Rhagan. Er sah die Wunde, die Schwäche des Sklaven und nahm dessen Hunger und Durst wahr. Mit einer knappen Handbewegung rief er Männer herbei, die den Sklaven vom Pferd nahmen. Rhagan konnte nicht stehen, er
war zu schwach dazu. Er war nicht einmal in der Lage, sich auf die vorgeschriebene Art zu Boden zu legen. In seinen tauben Gliedern schien das Blut nicht mehr zu fließen. Mit gesenktem Haupt kauerte er am Boden. Quenryn betrachtete ihn eingehend. "Er gehört mir," warnte Zargyn. "Der Tempel hat ihn mir geschenkt." "Du gehst schlecht mit dem Geschenk um," spottete Quenryn. "Bist du zum Schinder geworden, Vetter?" Er gab den Männern einen Wink und sie hoben Rhagan auf, um ihn mit sich zu führen. "Dir gehören nicht einmal die Kleider, die du auf dem Leib trägst," wandte sich Quenryn wieder Zargyn zu. "Gib dich bescheidener." Er ging ins Haus zurück. Alboran folgte ihm. Er selbst besaß keine Kinder, aber er hing an Quenryn, als habe er ihn gezeugt. "Wo ist der Oheim?" erkundigte sich Zargyn nun bei den Eltern. "Auf Jagd," erwiderte seine Mutter. "Er wird frühestens morgen wieder hier sein. Komm ins Haus, Junge. Du hast sicher viel zu erzählen."
D
ie Männer brachten Rhagan in einen fensterlosen Verschlag. Sie sprachen nicht mit ihm, dirigierten ihn mit Handzeichen und es war selbstverständlich für sie, daß der Hüne diese Zeichen erkannte und richtig darauf reagierte. Ein jüngerer Haussklave wusch die Wunde aus, verband sie. Ein anderer brachte Wasser und Molnüsse. Dann wurde die Tür verschlossen. Rhagan blieb im Dunkeln zurück. Er trank, aß und dann schlief er. Irgendwann erwachte er aus unruhigem Schlummer. Er fühlte sich zerschlagen, geschwächt. Die Wunde schmerzte jetzt gleich
einem Feuerbrand. Er versuchte, erneut zu schlafen, doch es gelang ihm nicht. Er lag am Boden, fühlte Verzweiflung und Ohnmacht. Die Zeit verrann ungemein langsam. Nach vielen Stunden erst wurde die Tür wieder geöffnet. Mit glasigem Blick erkannte Rhagan den jungen Quenryn, der ihn kurz musterte. Er deutete knapp zu Boden, erwartete die völlige Unterwerfung. Rhagan stöhnte leise auf. Er konnte sich nicht bewegen. Der Sohn des Lanas würde ihn für diesen Ungehorsam hart bestrafen. "Afrinar." Er hauchte diesen Namen mehr als er ihn aussprach. Der Priesterschüler erwies ihm mehr Freundlichkeit, als alle Priester in Minosantes Tempel zusammen. Rhagan dachte an ihn und wünschte, er wäre hier. Quenryns Augen weiteten sich, als er den Namen des Bruders vernahm. Dieser Sklave kam aus dem Tempel, aber dort hatten die Priester keinen Umgang mit Abhängigen. Woher kannte der Hüne diesen Namen? Der junge Mann wandte sich um und rief einen der Männer herbei. "Er gehört Zargyn," sagte er nachdenklich. "Behandle ihn trotzdem gut und sorge dafür, daß er rasch gesundet. Und laß keinen zu ihm, vor allem Zargyn nicht."
I
n einem hatte Quenryn recht: Zargyn besaß nicht einmal wirklich die Kleidung, die er trug. Er lebte mit den Eltern auf dem Besitz des Lanas, aber er war mehr geduldet denn geliebt. Und da er bisher keinen festen Dienst leistete, sondern sich lediglich konkreten Befehlen fügte, empfing er nicht einmal Lohn. Früher war vieles anders gewesen. Der Lanas wie auch sein Bruder Alboran waren vermählt und diese Frauen mochten Keyna. Sie waren wie eine große Familie. Dann starb Alborans Gemahlin Peryna bei der Geburt eines Mädchens, das ihr wenige Stunden später in
den Tod folgte. Und seit Estoryns Frau Celia vor vier Jahren bei einem Ausritt unglücklich stürzte und ebenfalls starb, da änderte sich manches. Die Söhne des Lanas bestimmten immer mehr den Alltag. Quenryn hielt sich in allem an den jüngeren Bruder, der die Macht des Vaters erben würde. Und Afrinar mochte Zargyn nicht, dessen anbiederndes Wesen ihn abstieß. Manches Mal gab es handfesten Streit zwischen den Brüdern, doch Afrinar zog Quenryns Widerworte der Zustimmung Zargyns vor. Aber nun besaß Zargyn eine Kostbarkeit. Ein Sklave stellte durchaus einen Wert dar, den sich ein normaler Arbeiter in seinem ganzen Leben nicht ersparen konnte. Rhagan mochte nicht sonderlich viel taugen, jedenfalls nicht nach den Maßstäben Tharas, aber er war stark und man konnte ihn schon brechen. Zum Steine schleppen war er allemal tauglich und wenn er diese Körperkraft dem Oheim in Dienst stellte, dann mußte er einfach Anerkennung finden. Der junge Mann wurde sehr zornig, als man ihm verbot, seinen eigenen Sklaven zu sehen. Quenryn hatte kein Recht, ihm den eigenen Besitz vorzuenthalten. Dafür wollte er ihn vor dem Oheim verklagen, sobald er wieder nach Hause kam. Estoryn war ein Mann Mitte der Fünfzig. Seine schwarzen Augen strahlten, als sein Blick von einer Anhöhe aus über seinen Besitz glitt. Die schulterlangen, schwarzen Locken, nur hie und da von einer grauen Strähne durchzogen, umrahmten ein ebenmäßiges, fast mädchenhaft schönes Gesicht, das weich und sanft erschien. Seine Jäger warteten, bis er wieder anritt. Sie liebten ihren Herrn, der sie gerecht behandelte und großzügig entlohnte. Sie hatten einen prächtigen Galenhirsch erlegt. Es würde ein Festmahl geben im Tal. Estoryn trieb sein Pferd an. Er war einige Tage länger weggeblieben, als geplant. Ein Ruf ertönte und kündete sein Kommen. Die
Familie
kam
aus
dem Haus, um ihn zu begrüßen.
Estoryn sprang leichtfüßig aus dem Sattel, warf Zargyn achtlos den Zügel zu und hieß ihn so, das Pferd zu versorgen. Zargyn kniff die Lippen zusammen. Der Oheim behandelte ihn wie einen der Diener. Doch er führte das Tier beiseite. Quenryn kniete vor dem Vater nieder. Er sah ihn liebevoll an, als er seine Hände ergriff und diese an die Lippen führte. Estoryn hob ihn auf. "Wenn du mich so vermißt hast, solltest du mich das nächste Mal begleiten," schlug er heiter vor. Er nickte Keyna flüchtig zu, begrüßte aber die Brüder mit freundlichen Worten. "Seit wann ist dein Junge wieder hier, Valvaran?" erkundigte er sich. "Seit vier Tagen," erwiderte der und es klang irgendwie schuldbewußt. "Der Tempel wollte ihn nicht leiten." "Verständlich," stellte Estoryn trocken fest. "Ich verstehe nichts von diesen Dingen, aber man wird den Göttern kaum nahen können, wenn man dabei nur den eigenen Vorteil sucht und einem Menschen gefallen will. Kommt ins Haus, dann erzähle ich euch von der Jagd." Während zwei junge Leibsklaven ihm aus der Reitkleidung halfen und den Lanas in eine bequeme Tunika kleideten, plauderte er fröhlich von den vergangenen Tagen. Die Sklaven entfernten sich still. Andere brachten Wein und gingen rückwärts wieder hinaus. Es herrschte eine fröhliche Stimmung, bis Zargyn ins Zimmer kam. Estoryn bedeutete ihm stumm, sich Wein zu nehmen und sich zu ihnen zu setzen. Aber der junge Mann blieb stehen. "Was gibt es?" wollte der Lanas da wissen. "Ich kehrte nicht mit leeren Händen aus dem Tempel
zurück, Herr," erwiderte Zargyn langsam. "Ich wurde reich beschenkt, ehe ich ging." "Seit wann beschenkt ein Tempel einen abgewiesenen Chela?" wunderte sich Estoryn, nicht ohne Spott in der Stimme. "Minosantes Tempel tat es," beharrte sein Neffe. "Ich erhielt einen starken Sklaven zum Geschenk. Euer Sohn hat ihn mir gestohlen." Quenryn sprang auf und schleuderte Zargyn bei diesen Worten zu Boden. Der Vetter wollte aufspringen, doch Estoryn hob knapp die Hand und befahl ihm so, auf den Knien zu verharren. "Eine schwere Anschuldigung," warnte er leise. Sklavendiebstahl war in Thara eines der schwersten Verbrechen, das auf die härteste Art gesühnt werden mußte. "Es ist die Wahrheit," murmelte Zargyn, der mit einem Mal Furcht empfand. "Quenryn ließ meinen Sklaven einsperren und auf seinen Befehl hin läßt man mich nicht zu ihm." Fragend sah der Lanas seinen Erstgeborenen an. Quenryn lachte leise. Dann erklärte er: "Der Sklave war verletzt und dem Tode nahe, Vater. Daß er noch lebt, ist nicht Zargyns Verdienst." "Er gehört mir," murrte Valvarans Sohn. "Wenn es mir gefällt, daß er sterben soll, geht das niemanden etwas an." "Gefällt es dir denn?" forschte Keyna erstaunt. "Natürlich nicht, Mutter," wehrte sich Zargyn, noch immer vor seinem Oheim kniend. "Aber die Reise war weit
und ich hatte keine Gelegenheit, mich um ihn zu kümmern. Ich rühre keinen Sklaven an. Was sollte ich also tun?" "Deinem Vetter dankbar sein, daß er dir diese Sorge abnahm," riet sie sanft. Quenryn lachte. "Dankbarkeit ist nicht seine Stärke," spöttelte er. "Der Sklave ist inzwischen jedenfalls wieder bei Kräften und ich habe schon heute morgen Anweisung gegeben, ihn Zargyn zu überlassen." Estoryn gab Zargyn einen Wink zum Zeichen, daß er sich erheben dürfe. "Hüte dich künftig vor falschen Anschuldigungen," warnte er. "Es wäre dein Tod. Und nun berichte uns von Afrinar. Wie ergeht es ihm im Tempel?" Nur widerwillig kam Zargyn dieser Aufforderung nach. Aber als er sah, wie sehr es dem Oheim gefiel, von der allgemeinen Beliebtheit seines Erben zu hören, schmückte er seine Erzählungen weiter aus und sprach dabei nur das Beste über Afrinar. Die Nebel sanken langsam, als er seinen Bericht endete und wieder von Rhagan sprach. "Er ist sehr stark, Oheim," versicherte Zargyn. "Er kann euch in den Steinbrüchen dienen und wird gute Arbeit tun. Ich bin glücklich, daß ich euch eine solche Gabe bringen kann." Estoryn nickte langsam. Doch Quenryn lachte spöttisch. "Ich würde ihn nicht in die Steinbrüche lassen," meinte er vergnügt. "Wenn der Tempel einen Sklaven verschenkt, dann kann er nicht viel taugen. Er ist verdorben." "Du lügst," fuhr ihn Zargyn an.
Gleichzeitig hob er die Hände, als fürchte er einen Hieb des Vetters. Doch Quenryn lachte nur noch lauter. "Der Sklave spricht. Und er denkt," behauptete er. "Er würde nur Unruhe ins Sklavenlager bringen." "Was hat er gesagt?" forschte Zargyn fast angstvoll. Quenryn lachte schallend. Da gab es wohl Dinge, deren Entdeckung der Vetter sehr fürchtete. "Er nannte den Namen meines Bruders," sagte er dann aber nur leichthin. Estoryn hob aufmerksam den Kopf. Das war mehr als ungewöhnlich. Zargyn ballte die Hände zu Fäusten. "Ich lasse ihm die Zunge veröden," schwor er. "Dann wird er nie wieder sprechen können." Er trat zum geöffneten Fenster, rief einen Mann draußen an und gab ihm entsprechende Befehle. "Und wie hinderst du ihn am denken?" wollte Quenryn spöttisch wissen. "Sklaven denken nicht," fauchte Zargyn. "Er wird arbeiten und gehorchen." "Zeig mir sein Papier," verlangte Estoryn nachdenklich. Zargyn zögerte sichtlich. Der Oheim durfte ihm diesen Besitz nicht wegnehmen, dazu besaß er kein Recht. Der Lanas streckte die Hand aus und da griff Zargyn in eine Falte seiner Tunika und entnahm ihr das Schreiben, das Rhagan als seinen Besitz auswies. Das Papier war vom Tempel gesiegelt, alles besaß seine Richtigkeit. Estoryn betrachtete es nur kurz. Er sah den Namen des Sklaven. Rha! Der Lanas
lehnte sich zurück und schloß die Augen. Das Papier hielt er noch immer fest. "Quenryn, wie sieht der Sklave aus?" wollte er wissen. Der junge Mann beschrieb Rhagan mit wenigen Worten. Estoryn zweifelte noch. Eine gewisse Ähnlichkeit schien es zu geben und die Namensgleichheit mochte zufällig sein. Es war mehr als zwanzig Jahre her, daß er einen Sklaven dieses Namens besaß. Er erinnerte sich kaum an Rha, wohl aber an Attor, den Mann aus Sion, der ihn als Jagdbeute erwarb. "Ich will Rha sehen," entschied er. Seine Familie starrte ihn verblüfft an. Der Lanas interessierte sich nicht für Sklaven. Er war reich an ihnen und durch ihre Arbeit. Aber sie waren nie ein Thema für ihn und er beachtete sie weit weniger als seine Pferde. Zargyn rührte sich nicht und da verließ Quenryn den Raum, um des Vaters Wunsch zu erfüllen.
Z
wei Männer traten bei Rhagan ein und gaben ihm ein Zeichen, ihnen zu folgen, noch ehe er sich niederwerfen konnte. Während sie über den Platz gingen, hörte er ihre Worte: "Zargyn hat wohl vergessen, daß er selbst der Sohn einer Sklavin ist. Quenryn wäre weniger grausam." "Es ist brutal, wenn einem die Zunge verödet wird," gab sein Kamerad zu. "Aber ich werde mich hüten, einem Verwandten des Lanas zu widersprechen." Rhagan begriff, was mit ihm geschehen sollte. Unmerklich spannte er sich an. Langsam glitt sein Blick über den freien Platz. Überall sah er Menschen, die ihr Tagwerk beendeten. Beim Brunnen knieten Jäger, die einen Hirsch zerlegten. Es
war nicht weit zu den Stallungen, doch er würde niemals ein Pferd nehmen können. Seine Führer achteten nicht auf ihn. Wenn man einem Sklaven gebot, zu folgen, so war es in Thara nicht nötig, sich nach ihm umzusehen. Rhagan ging langsamer, der Abstand wurde größer. Seine Chance war mehr als gering, er wußte es. Doch er wollte es zumindest versucht haben und sich nicht kampflos einem grausamen Schicksal ergeben. Der Hüne spurtete los. Wenn es ihm gelang, den Hohlweg zu erreichen, der zu den Dörfern führte, dann wußte er sich dort durchaus zu verbergen. Es gab kleine Höhlen im Steilhang, deren Eingang, zumindest vor zwanzig Jahren, verborgen lag. Rufe wurden laut. Die Jäger griffen nach ihren Bogen. Ein Pfeil sirrte dicht an Rhagans Kopf vorbei. "Halt!" Quenryn war aus dem Haus getreten. Er erfaßte die Situation, hielt aber die Jäger zurück. "Rha, bleib stehen," rief er laut. "Sie töten dich sonst." Es war nicht der Tod, den Rhagan fürchtete. Er lief weiter. Ein Reiter kam den Hohlweg herauf. Er gehörte zu Estoryns Leuten. Als er den Sklaven sah, zügelte er sein Tier und versperrte Rhagan so den Fluchtweg. Die Hand des Mannes hielt fest seinen Säbel. Der Hüne sah sich gehetzt um. An dem Reiter kam er nicht vorbei. Er spannte sich an. Wenn ihn der Säbel durchbohrte, so war das in seinen Augen allemal besser als das, was auf ihn wartete. Quenryn hatte den Platz schon halb überquert. Die Jäger standen noch mit eingelegten Pfeilen, aber sie warteten jetzt ab, was geschehen würde. "Komm zu mir," rief er Rhagan zu.
Der Hüne überlegte. Quenryn schien Afrinar recht ähnlich zu sein und der Erbe des Lanas empfand kein Vergnügen, wenn Sklaven gequält wurden. Auch wirkte Quenryns Stimme ehrlich besorgt. Er wollte seinen Tod nicht. Er war es, der dafür sorgte, daß seine Wunde gepflegt wurde und es sah so aus, als wenn Zargyn ihm unterlegen sei. Rhagan wandte sich langsam um. Dann ging er Quenryn entgegen. Der junge Mann sah kurz zurück. Sein Vater stand am Fenster und Zargyn und Alboran beobachteten ihn von der offenen Tür aus. Er grinste Rhagan an. "Knie wenigstens nieder," verlangte er, doch seine Stimme klang mehr bittend als befehlend. "Sie sehen uns zu." "Ihr verliert wohl an Respekt, wenn ich mich widersetze," antwortete Rhagan gelassen, doch er tat, was Quenryn wollte. Der junge Mann starrte ihn an. Das war kein gestammeltes Wort, sondern ein flüssig gesprochener Satz gewesen. Kein Sklave Tharas vermochte so zu reden. "Mein Vater will dich sehen," seine Überraschung meisterte.
sagte er, als er endlich
"Und euer Vetter will mir die Zunge veröden," erwiderte Rhagan. "Was kommt zuerst?" Quenryn lachte leise auf. "Zuerst kommt immer das Wort des Lanas," versprach er. "Folgst du mir? Oder brauche ich die Männer dazu?" Gleichzeitig aber gab er den noch immer lauernden Jägern einen Wink, der sie veranlaßte, sich wieder ihrer Arbeit zu widmen und Rhagan nicht weiter zu beachten. Auch wartete er Rhagans Antwort nicht ab, sondern ging langsam dem
Haus zu. Der Hüne folgte ihm. Im Moment konnte er nichts anderes tun, als nachzugeben. Ehe Quenryn das Haus betrat, wandte er sich erneut Rhagan zu. "Du bist kein Sklave Tharas," stellte der Jüngling fest. "Aber es wäre gut, wenn du wenigstens weißt, wie sich ein solcher Sklave benimmt. Vor meinem Vater mußt du dich niederwerfen und wenn du es wagen solltest, ihn auch nur anzusehen, dann bist du verloren. Achte auf seine Hände und tu alles, was er dir mit ihnen befiehlt." "Ich kenne Tharas Sitten," sagte Rhagan aber nur dazu. Er lächelte ein wenig dabei. Im Grunde war nun alles ganz einfach geworden. Hier, wo sein Leben begann, würde es enden und nichts war leichter, als den Lanas zu kränken und so das eigene Todesurteil herauszufordern. Flüchtig dachte er an Tibra. Er zweifelte nicht am Wort des Magiers, zu kommen und ihn zu holen. Aber Rhagan wußte, daß es ein weiter Weg war von Nodher nach Thara und daß er ein Leben als Sklave nicht lange ertragen würde. "Ich helfe dir, so gut ich kann," versprach Quenryn aufrichtig. Rhagan sah den jungen Mann aufmerksam an. Die blauen Augen des Jünglings wichen seinem Blick nicht aus. "Du darfst keinen freien Menschen ansehen," sagte er leise. "Es scheint euch nicht zu beschmutzen," stellte Rhagan nicht ohne Spott fest. "Ihr benehmt euch auch nicht wie der Sohn eines mächtigen Lanas." "Afrinar ist sein Erbe, nicht ich." "Ich weiß. Und euer Bruder ist so wenig hochmütig wie ihr es seid, Herr. Jetzt verstehe ich, weshalb er euch so liebt."
Quenryn wandte sich fast verlegen ab. "Komm jetzt," verlangte er. "Es ist besser, wenn du drinnen nicht von Afrinar sprichst. Zargyn würde es dir verübeln und er ist dein Herr, nicht ich." "Was ich durchaus bedauere," gab Rhagan zu, der sich fast vorstellen konnte, auf Tibra wartend Quenryn zu dienen.
R
hagan folgte Quenryn mit gesenktem Haupt in das Zimmer. Aus den Augenwinkeln heraus sah er Valvaran und Keyna, bei ihnen Zargyn. Er sah Alboran am Tisch und Estoryn im Sessel. Für einen Moment war er versucht, den Lanas voll anzusehen. Aber da stellte sich Quenryn neben den Vater. Rhagan begriff. Der Junge wollte ihm wirklich helfen. Gleichmütig legte er sich längs vor dem Lanas nieder, hielt das Gesicht dem Boden zugewendet und die Arme weit ausgebreitet. So grüßten die Menschen in den Reichen den Than; so wurde ein Herrscher geehrt und auch ein Falla. Es bedeutete für Rhagan keine Demütigung, diese Haltung einzunehmen und es erstaunte ihn selbst, als er spürte, wie wenig diese Menschen ihn wirklich demütigen konnten. Reglos verharrte er, während der Lanas ihn schweigend betrachtete. Estoryn zweifelte nicht mehr. Dieser Hüne war der Sklave, den er vor vielen Jahren gemeinsam mit Attor jagte, nachdem er entflohen war. Er faltete das Sklavenpapier des Hünen langsam zusammen. Dann sah er Zargyn an. "Dein Besitz, wie?" Der Jüngling nickte eifrig. "Ja, Herr," bestätigte er voll stolz. "Mit seiner Kraft ist er sicher viel wert." Estoryn gab Quenryn ein Zeichen und da trat sein Sohn einen
knappen, nur angedeuteten Schritt nach vorn. Er atmete auf, als Rhagan diese Geste richtig zu deuten vermochte und sich auf die Knie erhob. Der Hüne verharrte weiter mit gebeugtem Oberkörper und gesenktem Haupt, doch er ließ weder Estoryns noch Quenryns Hände aus den Augen. "Nimm deinen Sklaven und verlaß meinen Besitz," entschied Estoryn knapp. "Du gehst, sobald sich die Nebel heben." Bittend legte Quenryn dem Vater die Hand auf die Schulter. Er dachte dabei mehr an Rhagan als an seinen Vetter. Alboran starrte den Bruder sprachlos an; Keyna schlug die Hände vors Gesicht. Valvaran erhob sich langsam. "Er ist mein Sohn," sagte er leise. "Was ist an dem Sklaven so wichtig, daß du seinetwegen meinen Sohn verbannen willst? Er stellt ihn doch in deinen Dienst." "Ich verzichte," wehrte Estoryn ab. "Weshalb?" drängte der blinde Bruder. Estoryn neigte sich zu Rhagan. "Zeig's ihm," forderte er ihn auf. Quenryn zuckte zusammen, als er sah, daß der Vater mit einem Sklaven sprach und auch die andern im Raum faßten es nicht. Rhagan hob langsam den Kopf. Quenryn wollte ihn hindern, doch Estoryn faßte nach seiner Hand und hielt ihn zurück. Langsam erhob sich der Hüne. Er war noch nicht ganz sicher, ob der Lanas das dulden würde, doch der lehnte sich gemütlich in seinem Sessel zurück und ließ keinen Blick von Valvaran. Rhagan trat zu dem Blinden. Mit einer Stimme, der das Sprechen ungewohnt war und wie unter großer Anstrengung krächzte er: "Rha."
Valvaran zuckte zusammen. Abwehrend streckte er die Hände aus. "Nein," stammelte er, "du bist nicht dieser Rha. Du bist ein anderer." Rhagan grinste böse. Leicht schlug er zwei Mal mit der Hand gegen seinen Oberschenkel. Früher war dies das Zeichen der Verneinung gewesen, wie das einmalige Klopfen Bejahung ausdrücken sollte. Valvaran tastete nach seinem Stuhl und sank langsam nieder. Er wirkte nun sehr alt. Die Erinnerung belastete ihn ungeheuer. Zargyn begriff nicht, was geschah. Er sah nur, wie sein Vater litt und daß dieser Sklave die Ursache dafür war. Er ballte die Hand zur Faust, doch noch ehe er zuschlagen konnte, hielt Alboran sein Gelenk umklammert. Estoryn rief seine Leute. Er befahl ihnen, Rhagan fest zu binden und ihn bis zum Morgen zu bewachen. Für ihn war die Sache damit erledigt. Zargyn riß sich aus Alborans Griff. "Ich habe das Recht, ihn zu schlagen," fuhr er seinen Oheim an. "Wenn du von hier weg bist, kannst du tun, was du willst," schlug Alboran spöttisch vor. "Du wirst bis morgen warten, ehe du ihn sinnlos quälen kannst." "Ich will nicht fort," wehrte sich Zargyn und sah bittend den Lanas an. "Ich weiß nicht, wohin ich gehen könnte." "Laß ihn bleiben," bat auch Valvaran. "Du versteht nichts," erkannte Estoryn. "Soll ich deinen Jungen vors Tribunal zerren?" "Wofür?" wollte der Bruder wissen.
"Weißt du noch, was dieser Sklave einst für dich getan hat? Er hat dir das Leben gerettet, weil er dich meinem Haß solange entzog, bis ich ihn besiegen konnte. Und er hat für dich getötet. Hast du vergessen, daß er deinetwegen einen Sklavenjäger ermordete?" "Ich habe eigentlich ihn vergessen," gab Valvaran zu. "Das ist so lange her, daß es irgendwie schon nicht mehr wahr ist." "Niemand konnte erwarten, Rha wieder zu sehen," gab Estoryn gelassen zu. "Ich dachte, er sei mit Attor nach Sion gegangen. Daß mein eigener Neffe ihn bringt und frech als seinen Besitz ausweist, das ist mehr als überraschend. Vor allem, weil das Sklavenpapier eine Fälschung ist." Zargyn erschrak bei dieser Eröffnung. Er wollte das Papier nehmen, doch Quenryn war schneller und ergriff es. Nachdenklich betrachtete er das abgesiegelte Schreiben. "Es sieht echt aus," meinte er dann. "Es ist eine Fälschung," beharrte der Lanas. "Rha ist ein Mördersklave und ich habe damals das Zeichen seiner Tat auf seinem Papier vermerkt. Es verhindert, daß er jemals die Freiheit erlangen kann. Dieses Papier behauptet, er sei immer Sklave des Tempels gewesen und nun Zargyn übereignet." "Ich konnte nicht wissen, daß er ein Mördersklave ist," murmelte Zargyn. "Wärst du weniger selbstüberheblich, hätte dich das kostbare Geschenk mißtrauisch gemacht," urteilte Estoryn hart. "Wem immer Rha gehört, es wird nicht lange dauern, und halb Thara sucht nach ihm und dem Mann, der ihn stahl. Ich will nicht, daß in meinem Haus ein Sklavendieb gefunden wird."
"Niemand weiß, daß Rha hier ist. Töte ihn," schlug Valvaran vor. "Töte den Sklaven und niemand wird ihn finden." "Du verdankst ihm dein Leben," fuhr Quenryn ihn an. Estoryn lachte leise. "Sorgst du dich etwa um einen Sklaven, Sohn?" wunderte er sich. "Sei unbesorgt, ich taste fremden Besitz nicht an. Abgesehen davon wäre es mehr als töricht, Zargyn als Zeugen einer solchen Tat zu wissen. Er reist morgen mit dem Sklaven ab. Mehr gibt es nicht zu sagen." Der Lanas duldete kein weiteres Wort mehr darüber. Daß Keyna, Valvaran und Zargyn unter seinem Urteil litten, war nicht zu übersehen. Aber Estoryn ignorierte ihr Leid und erwartete stillen Gehorsam. Nicht einmal Quenryn erlaubte er, weiter von Rhagan zu sprechen, obwohl er durchaus spürte, daß seinem Erstgeborenen der Sklave nicht gleichgültig war. Es war wohl ganz gut, daß Rhagan nicht bleiben konnte, zumindest für seinen Sohn, der einem Sklaven eigentlich keine Aufmerksamkeit schenken sollte.
S
ie hatten guten Wind und kamen rasch voran. Als die hohen Berge Tharas am Horizont auftauchten, standen die Freunde an der Reeling und genossen den überwältigenden Anblick. Die Wellen gingen hoch, aber selbst Lorynir empfand jetzt nichts anderes als Begeisterung. Rasch näherte sich das Schiff dem Land. Die Männer holten die Segel ein. Ein großer Handelshafen bildete ihr Ziel. "Eigentlich hatte ich eine größere Stadt erwartet," gab Gerrys zu, der neben den Freunden von Bord ging. Am Hafen gab es viele Lagerhäuser, aber nur wenige Wohnbauten. Eine große Herberge zeigte sich bei entfernt stehenden Molbäumen. "Du bekommst deine Stadt morgen zu sehen," versprach Nymardos. "Molt ist eine knappe Tagesreise entfernt. Wo steckt Tibra?" Ins Gespräch vertieft hatten sie nicht sofort bemerkt, daß der Magier zurück blieb. Tibra achtete nicht mehr auf die Berge, sondern schaute aufmerksam Tharas Sklaven zu, die als Lastenträger das Schiff entluden. Er ging so nahe heran, wie es nur möglich war, ohne ihren Weg zu behindern. "Hey," rief ihn einer der Aufseher an, "habt ihr noch nie einen Skalven gesehen." Tibra grinste.
"Jedenfalls keine solchen," gab er vergnügt zu. Der Mann kam näher. War er zuerst verärgert gewesen, so gefiel ihm nun Tibras offene Art. "Ihr seid fremd hier," stellte er fest. "Ich komme aus Nodher. Was kostet so ein Bursche?" "Zuviel für euch," vermutete der Mann lachend. "Unter zweihundert Solaren ist hier keiner wert." Tibra stieß einen leisen Pfiff aus. Das war eine gewaltige Summe, für die ein Mann ein Jahr arbeiten mußte. Er deutete auf einen kräftigen Burschen. "Und der dort?" "Etwa dreihundert. Wollt ihr kaufen? es Sklavenhändler, nicht hier im Hafen."
In Molt gibt
Tibra lachte. Er unterhielt sich noch eine Weile mit dem Mann, beobachtete dabei weiter die Sklaven und entsann sich schließlich der wartenden Freunde. Mit freundlichem Gruß verließ er den Aufseher. "Ich hoffe, du hältst dich nicht bei jedem Sklaven auf," meinte Gerrys heiter. "Kann ich nicht versprechen," gab Tibra fröhlich zu. "Hast du gesehen, wie diese Leute durch Handbewegungen dirigiert werden, die so winzig sind, daß man sie kaum beachten würde?" "Ich sah es. Und es gefällt mir nicht," versprach Gerrys. "Mich fasziniert es," gab Tibra leichthin zu. "Kaum zu glauben, daß Rhagan einmal so gelebt hat."
"Vielleicht lebt er wieder so," fuhr ihn Gerrys mit einem Mal an. "Wirst du dann genauso begeistert sein?" "Hups, weshalb so böse, Gerrys?" Tibra blieb vergnügt. "Rhagan kann so nicht mehr werden. Es ist der Geist, der den Menschen bestimmt und ich habe es bisher noch nie gesehen, wie Menschen so miskagleich sein können." "Du kannst jeden Menschen brechen," murrte Gerrys weiter. "Dazu mußt du ihm aber alle Hoffnung nehmen." wehrte Tibra ab. "Und Rhagan weiß, daß ich komme." "Weiß er es wirklich?" Gerrys zweifelte. "Du hast Jostur damit gedroht, aber..." "Ich habe es ihm versprochen," unterbrach ihn der Magier. "Ohne dieses Versprechen wäre er nicht nach Thara gegangen, glaub mir." "Immerhin hat er den Tempel eigenmächtig verlassen." "Das hat er nicht," widersprach Tibra mit fester Stimme. "Ich weiß zwar nicht, was dieser Jostur für ein Mensch ist, aber als Falla kann er nicht viel taugen, wenn er das glaubt." Nymardos lachte leise. "Ein Falla wird zu seinem Amt nicht ausgebildet, sondern berufen," nahm er Jostur in Schutz. "Er lernt seine Aufgabe erst in der Ausübung." "Hättet ihr ihn berufen?" wollte Tibra zweifelnd wissen. "Er ist ein gedient hat."
guter
Mann, der mir viele Jahre lang treu
"Das ist keine Antwort," stellte der Magier fest. "Es gibt keine Antwort," wehrte Nymardos lächelnd ab. "Solche Entscheidungen haben nichts mit Überlegung zu tun. Jostur ist Falla und er wird sein Amt ausüben. Amarra beurteilt, ob er es gut tut oder nicht. Das ist nicht unsere Sache." "Möglich," gab Tibra nach, "aber ich werde mir trotzdem meine eigene Meinung bilden. Wenn es euch lieber ist, Herr, dann behalte ich sie aber für mich." Sie erreichten die Herberge und unterbrachen das Gespräch. Eine kräftige Mahlzeit und ein bequemes Nachtlager warteten auf sie. Es kamen oft Reisende nach Thara, meist Handelsleute. Die Gruppe aus Nodher erweckte keine besondere Aufmerksamkeit. Gerrys erkundigte sich nach Pferden und erfuhr, wo welche zu kaufen waren. "Ich schau sie mir nach dem Essen an," versprach Tibra. "Nicht nötig," wehrte Nymardos ab und schob Lorynir seinen Beutel zu. Der junge Mann schüttelte abwehrend den Kopf. "Das kann er nicht," stellte Tibra kauend fest. "Sechs Pferde," beharrte Nymardos, "nimm die Billigsten und einfaches Sattelzeug." Lorynir steckte den Beutel ein. Er aß schweigend weiter. "Warum sollte er das nicht können?" wunderte sich Parcylen. "Zu einem solchen Handel braucht man Selbstbewußtsein," grinste Tibra. "Man muß wissen, was man will und das
dann auch zu einem vertretbaren Preis durchsetzen." Lorynir senkte den Kopf. "Er kann es nicht." "Ihr seid gemein," schimpfte Cyprina, die sah, wie sehr Lorynir sich gedemütigt fühlte. "Komm, wir setzen uns woanders hin." Sie nahm ihren Teller und suchte einen freien Tisch. Nymardos nickte Lorynir zu und da folgte ihr der Priesterschüler. "Deine Offenheit grenzt hin und wieder an Brutalität," tadelte Nymardos den Freund. "Was hast du gegen ihn?" "Ich mag Leute nicht, die von sich selbst keine gute Meinung haben," gab Tibra zu. "Er verehrt euch und fühlt sich gleichzeitig in eurer Nähe immer schuldig, weil er eure Aufmerksamkeit beansprucht." "Das wird sich kaum ändern, wenn du ihm diese Haltung auch noch vorwirfst." Tibra lachte. "Was denn, soll ich ihm etwa helfen?" "Warum nicht?" Tibra sah zu dem Priesterschüler hinüber, der leise, aber sehr offen mit Cyprina sprach, vor der er seine Scheu ablegen konnte. "In Ordnung," versprach er schließlich. "Ich werde kein Wort über die Pferde sagen, die er anbringt." "Gute Tiere gibt es ohnehin erst in Molt zu kaufen," erklärte Nymardos gelassen. "Was der Hafen bietet, taugt nicht viel und ist zu teuer. Aber wir haben keine Auswahl
und werden nehmen, was es gibt. Wenn wir Molt erreichen, wirst du unsere Tiere aussuchen."
M
olt war die größte Stadt in Thara. Die Berge begannen eine knappe Stunde entfernt; Molt selbst lag eben an ihrem Fuß. Hier trafen sich viele Reisende, hier war der Ausgangspunkt für jeden, der ins Landesinnere wollte. Gerrys zügelte sein Tier, als die Stadt in Sicht kam. "Wir werden große Aufmerksamkeit erregen," vermutete er. "Dann ist es wohl besser, wir binden das Haar," beschloß Tibra. "Wenn die Leute uns als Menschen der Macht erkennen, verteuert sich alles unnötig." Nymardos lachte leise. "Wenn unser Vorrat nicht reicht, können wir die Beutel in jedem Tempel füllen lassen," versprach er heiter. Doch bei diesen Worten wand er bereits ein Band in sein fülliges Haar. Tibra tat es ihm gleich. "Das hält nie," beurteilte er dann Gerrys' Haarband. "Ich weiß," gab der Falla zu. "Mein Haar ist zu dünn, ich muß das Band andauernd neu binden. Es offen tragen zu dürfen, das ist der größte Vorteil meines Amtes." Aber er lachte dabei und jeder wußte, daß er diese Worte als Scherz verstanden wissen wollte. Es gab einige Herbergen in Molt und sie wählten für die Nacht ihr Quartier mitten in der Stadt. Gerrys wollte die Stadt betrachten und die Kameraden schlossen sich an.
"Du nicht," hielt Tibra Lorynir zurück. "Wir kümmern uns erst einmal um gute Pferde." Der Priesterschüler verkrampfte sich sichtlich bei diesen Worten. Cyprina sah böse den Magier an. Gerrys ergriff ihre Hand und da schwieg sie. "Beim Dorfbrunnen sind Schausteller, wie ich hörte. Wir treffen uns dann dort," beschloß Nymardos und warf Tibra seinen Beutel zu. Nur widerwillig folgte Lorynir dem Magier. Sie führten die Pferde mit sich. Das Gepäck lagerte schon in der Herberge. Pferdehändler gab es genug in Molt. Tibra sah die Ställe nur flüchtig an. Er traf seine Entscheidung schnell und impulsiv, als er immer wieder beschloß, einen anderen Händler zu suchen. Nach einiger Zeit rasteten sie bei einer öffentlichen Tränke, wo die Tiere ihren Durst stillen konnten. "Verzeiht, Herr," überwand Lorynir sich endlich selbst und redete Tibra an, "wir haben jetzt so viele Pferde gesehen, aber ihr habt sie nicht wirklich beachtet. Was sucht ihr?" "Eigentlich nur einen sauberen Stall," antwortete Tibra freimütig. "Nur dort kannst du halbwegs sicher sein, daß man dir keine kranken Tiere verkaufen wird." "Dann arbeiten aber mehr Menschen dort und es wird teurer." "Schau dir die Berge an," forderte Tibra den Chela auf. "Das Land dort ist nicht dicht besiedelt und wir werden einige Tage unterwegs sein. Wenn ein Pferd ausfällt, dann haben wir ein Problem und dann war es auf jeden Fall zu teuer, sogar dann, wenn du es geschenkt bekommst." "Im Hafen wollte mein Herr nur billige Tiere."
"Sicher. Er wußte, daß wir erst hier gute Reitpferde finden werden. Komm weiter, dort vorne ist ein großer Stall." Tibra warf einen kurzen Blick in das weiträumige Gebäude, nickte befriedigt und trat ein. Lorynir wartete noch draußen. Er rechnete nicht mehr damit, daß der Magier die Stallung akzeptieren würde. Doch es dauerte nicht lange, da kam Tibra in Begleitung des Pferdehändlers zurück. Der Mann betrachtete ihre Tiere und machte sein Angebot. Tibra lachte darüber. Lorynir wollte etwas sagen, denn der Händler bot mehr, als er für die Tiere bezahlen mußte. "Sei still," fuhr ihn der Magier an. Er handelte mit dem Mann aus Thara und feilschte lange um den Preis. Erst, als er zufrieden war, ging er wieder in den Stall. Er winkte Lorynir, ihm zu folgen. Der Chela beobachtete ihn. Er schämte sich, weil er das erste Angebot akzeptiert hätte und Tibra einen deutlich besseren Preis erzielte. Nun sah er zu, wie der Magier die zum Verkauf stehenden Pferde musterte. Das waren nicht die edlen Reittiere, wie sie in Sarai gezüchtet wurden. Tharas Pferde waren deutlich kleiner und gedrungener, doch für das steile Bergland besser geeignet. Tibra wählte ein Tier, handelte den Preis aus und das Vergngügen, mit dem er die Feilscherei vorantrieb, war deutlich zu spüren. Dem Händler gefiel das immerhin. Sie einigten sich schließlich und erst jetzt suchte der Magier das zweite Reittier aus. Die Nebel sanken, als sie die Stallung verließen. Die sechs Pferde würden sie erst am andern Morgen holen. Der Händler versprach, ihnen gutes Sattel- und Saumzeug zu besorgen und Tibra war froh, daß er sich nicht auch noch darum kümmern mußte. "Zu spät für die Schausteller," stellte Tibra fest. "Komm,
wir gehen zurück zur Herberge. Es tut mir leid, daß ich dich um ein Vergnügen gebracht habe." Lorynir gab keine Antwort. Er war nicht sicher, daß es wirklich einen Grund zum Bedauern gab. Sie mußten ein ganzes Stück weit gehen und auf halber Strecke erweckte eine Menschengruppe Tibras Neugier, die sich in einer Seitenstraße drängte. "Herr, laßt uns zur Herberge gehen," bat Lorynir. "Die andern warten sicher schon." "Geh nur, wenn du den Weg findest," schlug ihm Tibra freundlich vor. "Ich komme dann nach." Aber das wagte Lorynir nicht. Den Weg kannte er sicherlich. Da aber Nymardos ihn an die Seite des Magiers befahl, mußte er auch bei ihm bleiben. Also folgte er Tibra, der sich durch die Menschen drängte. Auf einem kleinen, freien Platz bot hier ein Sklavenhändler seine Ware an. Die meisten der Zuschauer konnten keine Kunden sein. Sie besaßen einfach nicht die Mittel, um sich einen Sklaven zu kaufen und dann auch zu halten. Die Neugier trieb sie einfach zusammen. Nur in der vorderen Reihe fanden sich einige Männer und Frauen, die echtes Interesse zeigten. "Verhalte dich still," raunte er Lorynir zu, der sich dicht bei ihm hielt. Er selbst verschränkte die Arme vor der Brust und verfolgte aufmerksam das Geschehen. Der Händler führte einen kräftigen Sklaven vor. Hier, beim Verkauf, durfte sich der Mann nicht niederwerfen. Man sollte ihn sehen können. Er hielt nur das Haupt halb gesenkt und die Augen fast geschlossen. Trotzdem reagierte er auf jeden Wink seines Herrn. Auf einen solchen Wink hin streifte er die ärmellose,
kurze Tunika ab, die alle Sklaven Tharas trugen. Nackt ließ er sich betrachten. Er drehte sich langsam um die eigene Achse, damit jeder seiner Muskeln gesehen werden konnte. Bei alledem war der Mann gänzlich unberührt, als ginge ihn das Geschehen nichts an. Der kräftige Sklave ging für einen guten Preis weg. Der Händler winkte nun eine Sklavin herbei. Auch sie ließ sich nackt betrachten und auch sie empfand nichts dabei. Lorynir starrte mit hochrotem Gesicht zu Boden, was Tibra ein feines Grinsen entlockte. Die Männer betrachteten die Frau in Hinsicht auf mögliche Gebärfähigkeit oder Arbeitskraft. Kein freier Mann in Thara würde je eine Sklavin anrühren, die in ihrem Wert ja noch unter den Tieren stand. Tibra sah lange zu und die Sache faszinierte ihn. Diese Sklaven waren wirklich wie Miska. Er konnte keinerlei Ausströmung ihres Geistes oder auch nur ihres Willens feststellen. Sie schienen gar nichts zu empfinden und alles, was mit ihnen geschah, einfach hinzunehmen, ohne es im geringsten zu bewerten. Er kannte Miska. Starke Magier besaßen die Kraft, den Geist eines Menschen aus dessen eigenem Leib zu drängen. Zurück blieb ein funktionierender Körper, der zu einfachen Arbeiten taugte. Er selbst besaß die Kraft, Miska zu erschaffen, aber er haßte solches Tun und verabscheute jeden, der es auch nur versuchte. Diese Sklaven waren nicht wirklich Miska, auch wenn sie auf den ersten Blick so wirkten. Sie besaßen durchaus einen Geist, doch der wirkte nicht in ihnen. Er schien zu schlafen und keine Erschütterung vermochte es, ihn zu erwecken. Er sah, wie die Käufer ihren neuen Besitz wegführten. Ein kurzer Wink nur, und ihre Ware folgte ihnen. Es gab weder Ketten noch Seile noch Peitschen.
Der Magier verstand erst in dieser Stunde in vollem Ausmaß, weshalb Rhagan Thara und die Erinnerung an sein Leben hier fürchtete. Durch die sinkenden Nebel wurde die Luft feuchter und obwohl es noch nicht dunkelte, wollte der Händler zu Ende kommen. Er zeigte die Sklaven nun schneller und akzeptierte leichter ein Gebot. Viel hatte er ohnehin nicht mehr anzubieten. Der Händler winkte sein letztes Angebot für diesen Tag herbei und die Käufer lachten, noch ehe der Sklave die Tunika fallen ließ. Tibra rührte sich noch immer nicht. Der Sklave stand reglos, wie die anderen vor ihm. Auf seiner Wange zeigte sich eine breite Narbe. Als er sich langsam drehte, waren auch die vielen Narben auf seinem Rücken zu sehen. "Ein Sklave, für den man die Peitsche braucht, taugt nichts," höhnte ein Mann in der Menge. "Versucht es beim Hafen, vielleicht kann er ja rudern. Aber dazu ist er nicht stark genug." Tibras Augen verengten sich. Dem Sklaven fehlten zwei Finger der linken Hand. Für einen Menschen wie ihn, der sich nur von Wasser und Molnüssen ernähren konnte, war das eine harte Verkrüppelung, denn es fiel ihm sicher schwer, die großen Nüsse zu brechen. Einer seiner vorigen Herrn hatte ihn also hart gestraft, als er ihm die Finger abtrennen ließ. Man konnte jede Rippe des Mannes sehen. Anscheinend mußte er viel hungern. Sein Gesicht wirkte eingefallen und hohl, die großen Augen traten weit hervor. Das dunkelbraune Haar war zum Knoten gebunden, fest verfilzt und wohl nicht mehr zu lösen. Sein Alter war schwer zu schätzen. Der Sklave konnte ebenso Anfang der zwanzig wie der dreissig sein.
"Kein Gebot?" forschte der Händler. "Mit ein bißchen Pflege wird er wieder brauchbar." Ein junger Mann bot zwanzig Solare, was allgemeines Gelächter hervorrief. "Fünfzig," schlug der Händler vor. "Wenn jemand fünfzig Solare bietet, kann er ihn haben." "Nun gut," willigte eine Frau ein. "Dafür nehme ich ihn." Der Preis war trotz des Zustandes des Sklaven lächerlich gering. Tibra lachte leise und mit einem Male wurde er beachtet. "Achtzig Solare," meinte er leichthin. "Ihr seid fremd hier," meinte ein Mann neben ihm. "Ihr kennt die Preise hier wohl nicht. Das ist zuviel." "Zuviel für ein Pferd," gab Tibra zu. "Angemessen für ihn." Der Händler stimmte sofort zu. Er war froh, einen so guten Preis zu erzielen und gab Tibra rasch den Zuschlag, um zu verhindern, daß der Fremde es sich noch einmal anders überlegte. Tibra reichte ihm die versprochene Summe und nahm dafür das Sklavenpapier an sich. "Ihr müßt euren Namen eintragen," erklärte der Händler. "Hier, seht ihr. Wenn ihr der Schrift nicht mächtig seid, Herr, dann..." Er sprach nicht weiter, als Tibra ihn mit einem amüsierten Blick bedachte. Der Magier trug seinen Namen auf dem Papier ein und las dabei, daß sein neues Eigentum den Namen Gur trug. Der Sklave streifte sich inzwischen die Tunika wieder über. Tibra gab ihm einen Wink in der Weise, wie er es zuvor bei den anderen Käufern gesehen hatte.
Dann verließ er den Platz, ohne sich nach Gur auch nur umzusehen. Lorynir blieb bei ihm. Der Chela sah sich immer wieder um, um sich zu vergewissern, daß der Sklave nicht floh. Tibra lachte nur darüber. Vor der Herberge erst blieb Tibra stehen. Jetzt wußte er nicht so recht, was er mit Gur anfangen sollte. Vor allem hatte er keine Ahnung, wie er dem Sklaven seinen Willen mitteilen sollte. Mit Tharas Sklaven sprach man nicht und Gur würde auch kaum auf Worte reagieren. Ohne sich umzusehen deutete er auf den Boden bei der Hauswand. Dann trat er ein. "Er hat sich wirklich hingesetzt und wartet jetzt," berichtete Lorynir, ihm folgend. Die Freunde saßen schon bei einem üppigen Mahl und hatten wirklich gewartet. Tibra und Lorynir setzten sich zu ihnen und ließen sich bewirten. "Was hat denn so lange gedauert?" wunderte sich Gerrys. "Gute Pferde muß man suchen," erwiderte Tibra grinsend, während er Nymardos den Beutel zuschob. "Ich fürchte, er muß wirklich noch einmal gefüllt werden." Nymardos wog den Beutel kurz in der Hand und das verriet ihm, daß Tibra eine große Summe ausgegeben hatte. Aber er sagte nichts dazu, sondern steckte den Beutel weg und aß weiter. Lorynir berichtete, wie Tibra die Ställe besah, wie er schließlich die alten Tiere zu einem hervorragenden Preis verkaufte und wie er jedes einzelne der neuen Tiere feilschend erwarb. Er wurde richtig gesprächig dabei. Der Tag hatte ihm wohl überaus gut gefallen.
"Ich glaube, wir haben jetzt gute Reittiere," schloß er. "Aber es war schon zu spät für die Schausteller." Cyprina erzählte jetzt voll Begeisterung von den Kunststücken, die sie sah, von den dressierten Tieren und den hübschen Tricks der Taschenspieler. Sie verbrachten den Abend in heiterer Gelöstheit. Es war spät, als sich Parylen, Lorynir und auch Cyprina zur Ruhe begaben. "Jetzt sind wir unter uns," stellte Gerrys fest. "Darauf hast du doch nur gewartet, nicht wahr?" "Eigentlich warte ich darauf, daß auch du dich zur Ruhe legst," erwiderte Tibra freimütig. "Du willst mit Nymardos allein sein? Sag es doch einfach." Gerrys wollte sich erheben, aber Tibra lachte leise und hielt ihn zurück. "Ich bin nur zu müde, um mich heute noch mit dir zu streiten," erklärte der Magier. "Und du wirst gleich sehr wütend sein." Nymardos griff nach dem Krug und schenkte ihnen die Becher wieder voll Wein. "Warum wartest du dann mit deinem Geständnis nicht einfach bis morgen?" wollte er amüsiert wissen. "Oder schweigst einfach über die Sache? Du schuldest uns keine Erklärung." "Ich habe euren Beutel fast geleert und schulde euch keine Erklärung?" Tibra trank einen großen Schluck. "Es ist mehr, als ich euch erstatten kann. Jedenfalls nicht in kurzer Zeit."
"Wieviel brauchst du?" bot ihm Gerrys sofort seine Unterstützung an. "Hundert Solare? Genügt das?" "Achtzig," erwiderte Tibra. Nymardos lachte leise. "Nicht sehr viel," bemerkte er amüsiert. "Für mich schon," wehrte Tibra ab. "Ein Tuchmacher wie ich verdient das mit mehr als vier Monaten Arbeit. Und ich habe lange nicht mehr in der Tuchmacherei gearbeitet." "Nicht sehr viel für einen Sklaven," berichtigte Nymardos. "Du weißt doch, daß du die Summe nicht erstatten mußt." "Woher wißt ihr...?" "Lorynir ist mein Chela. Ich stehe in Rapport mit ihm und empfange starke Empfindungen, die er hegt. Der Anblick einer nackten Frau ist für ihn eine neue und sehr aufwühlende Erfahrung." Tibra grinste. Aber zugleich sah er skeptisch zu Gerrys, der seinen Becher fest umklammert hielt und düster vor sich hinstarrte. "Fang endlich an, auf mich loszugehen," lud ihn der Magier ein. "Schrei mich an oder schütte mir wenigstens den Wein ins Gesicht." "Ich denke, du bist zu müde zum streiten," erwiderte Gerrys langsam. "Weshalb kaufst du einen Sklaven Tharas? Sind diese Leute für dich ein so faszinierendes Studienobjekt, daß du eines davon besitzen mußt?" "Irgendwie schon," gab Tibra gelassen zu. "Ich hatte bisher nie Gelegenheit, den schlafenden Geist eines Men-
schen zu beobachten und ich denke, ich kann manches dabei lernen." "Woran denkst du?" wollte Nymardos wissen, der zugleich Gerrys begütigend die Hand auf den Unterarm legte. "Ob ein Geist schläft oder aus seinem Körper ausgesperrt ist, das ist seltsamerweise kein sehr großer Unterschied," erwiderte Tibra offen. "Nur kann man Miska nicht studieren." "Die Vergleiche mit Miska sind alle nicht richtig," murmelte Gerrys. "Tharas Sklaven werden zu dem gemacht, was sie sind." "Miska auch, es ist ein magisches Meisterwerk," wehrte Tibra ab. "Wenn ich jemals herausfinde, wie man diesen Zustand ändern kann, dann habe ich nicht umsonst gelebt. Nun sei nicht böse, Gerrys. Ich werde Gur nicht quälen. Für ihn könnte es eine Menge Schlimmeres geben, als ausgerechnet mein Eigentum zu sein." "Das weiß ich," gab Gerrys langsam seinen Widerstand auf. "Aber die Nähe eines solchen Sklaven ist bedrückend." "In Minosantes Tempel gibt es hunderte davon," meinte Nymardos. "Du wirst dich an sie gewöhnen, mein Freund. Wo ist der Sklave, Tibra?" "Vor der Herberge," antwortete der Magier sofort. "Ich habe keine Ahnung, wie ich ihn behandeln soll und hoffte, ihr werdet es mir zeigen, Herr." "Nun, dann führe mich zu ihm," schlug der Pala des Than vor. Sie traten vor die Herberge. Es war dunkel geworden und tiefe Nebelschleier hüllten alles ein. Sowohl Gerrys als auch Nymardos besaßen jeder einen Lebenden Kristall. Dieses
kostbare Mineral verströmte Licht durch die Beeinflussung des Geistes seines Eigners. Doch sie wollten keine Aufmerksamkeit erregen und nutzten dieses Licht nun nicht. Gur schlief, an die Hauswand gekauert. Doch die nahenden Schritte weckten den Sklaven sofort. Er erkannte seinen neuen Herrn und warf sich gleichmütig vor ihm nieder. "Ein knapper Schritt auf ihn zu befiehlt auf die Knie," raunte Nymardos dem Magier zu. Tibra nickte und probierte es aus. Als Gur vor ihm kniete, sah er fragend Nymardos an. "Er achtet jetzt nur auf deine Hände. Deute auf mich, damit er weiß, daß er mir gehorchen muß. Ich zeige dir dann unterwegs, welche Gestensprache er versteht." Tibra deutete mit einer knappen Geste auf seinen Begleiter. Gur regte sich nicht. Doch seine Augen achteten nun auf den Magier und auch auf Nymardos. Tibra grinste, als er mit derselben Geste nun auch Gerrys Befehlsgewalt über den Sklaven gab. Nymardos gab dem Sklaven ein Zeichen. Dann wandte er sich um und betrat, gefolgt von den Freunden, wieder die Herberge. "Habt ihr noch Wünsche," wollte der Wirt wissen. "Ja, einen Krug Wein und einen Krug Wasser," erwiderte Nymardos. "Aber wir werden jetzt in unserer Kammer weiter trinken." Gerrys nahm zwei Molnüsse aus einer Schale. Tibra sah es mit Vergnügen, riet dem Freund dann, mehr Nüsse einzustecken, da Gur sehr ausgehungert war, was er in der Dunkelheit wohl nicht sehen konnte. Die Herberge bot nur kleine Schlafkammern. Lorynir und
Parcylen teilten sich eine solche. Cyprina schlief schon in Gerrys' Zimmer. Nymardos wollte den Raum mit Tibra teilen. Für den Moment suchten sie alle drei die noch leere Kammer auf. Gur folgte ihnen lautlos. Er kniete nieder und wartete auf Befehle. Nachdem sie die Tür verschlossen hatten, entlockte Nymardos seinem Lebenden Kristall die Fülle des Lichtes. "Versteht er, wenn wir über ihn reden?" wollte Tibra wissen. "Natürlich," fauchte Gerrys. "Er bezieht es nicht auf seine Person," erwiderte Nymardos mit ruhiger Stimme. "Bei einem Haustier denkst du auch nicht darüber nach, Tibra." "Es ist schwer, ihm das Menschsein abzusprechen," gab der Magier zu. "Ihr solltet ihn euch ansehen, Herr. Ich habe mir leider nicht gemerkt, mit welcher Geste der Händler ihn dazu brachte, sich auszukleiden und seinen Körper zu zeigen." Gerrys setzte sich aufs Lager und schenkte sich Wein ein. Die Situation gefiel ihm nicht, aber eigentlich war er Tibra nicht böse. Hier in Thara gehörten Sklaven zum Alltag und es konnte kein Fehler sein, den Umgang mit ihnen zu lernen. Nymardos wies Gur inzwischen an, sich zu erheben und die Tunika abzulegen. Der Sklave ließ die forschenden Blicke reglos über sich ergehen. Auf Nymardos' Wink hin drehte er sich langsam um die eigene Achse. Gerrys sah entsetzt die Narben, sagte aber nichts dazu. "Ich dachte, sie haben keine Emotionen," wunderte sich Tibra. "Aber es ist ihm unangenehm." "Ich zwinge ihn, sich zu drehen und dir damit den Rücken zu zeigen," erwiderte Nymardos ruhig. "Ein Sklave
Tharas wendet seinem Herrn niemals den Rücken zu, so wenig, wie er ihm je ins Gesicht sehen wird." "Das bedeutet, daß er empfinden kann," überlegte Tibra. "Wie ein Murro, dem du den Eingang zu seinem Bau versperrst. Der kleine Nager ist dann auch recht verwirrt," meinte Nymardos heiter. "Gib ihm zu essen." "Gern," versprach der Magier, "wenn ihr mir sagt, wie ich das machen soll." Nymardos setzte sich zu Gerrys, winkte Tibra herbei und reichte dem Magier einen Becher Wein. Der Wasserkrug stand noch unberührt. Dann erst bedeutete er Gur, der sich inzwischen die Tunika wieder überstreifte, daß er den Krug nehmen dürfe. Der Sklave erhob sich, griff nach dem Wasser und zog sich rückwärts in die Zimmerecke zurück. Es bedurfte eines weiteren Zeichens, ehe er den Krug an seine Lippen führte und dann aber gierig trank. "Ihm fehlen zwei verlor," sagte Tibra.
Finger.
Ich
frage mich, wie er die
"Eine übliche Strafe für einen Sklaven, der ohne Erlaubnis aß," erklärte Nymardos. "Du hast ja gesehen, daß es zweier Befehle bedarf, ehe er trinkt. Mit dem Essen ist es ebenso. Schau her." Er warf Gur eine Molnuß zu, die der Sklave geschickt auffing. Danach hielt er die faustgroße Nuß in der Hand und regte sich nicht. "Sein Körper schreit förmlich nach Nahrung," stellte Tibra fest. "Trotzdem wartet er auf eine Genehmigung." "Dann laß ihn endlich essen," fuhr ihn Gerrys an, der dem Sklaven nun selbst mit einem Zeichen die Erlaubnis gab, die
Nuß zu brechen. Gur öffnete die Nuß. Mit dem Verlust der beiden Finger konnte er sich seine Nahrung durchaus beschaffen, auch wenn das Erbrechen der Schale dadurch etwas schwieriger war. Er aß, aber gleichzeitig achtete er auf die Hände der Männer und war für jeden weiteren Befehl bereit. Spät erst ließ Gerrys die Freunde allein. Er war nun müde und sie wollten früh am Morgen aufbrechen. Nymardos und Tibra bleiben noch lange wach, beobachteten den Sklaven und unterhielten sich. Als Nymardos Gur mit einer Geste zur Ruhe befahl, war der Sklave gesättigt wie lange nicht. Er rollte sich auf dem Boden zusammen und schlief sofort ein. Nymardos lag schon auf seinem Lager. Er rief das Licht des Kristalles zurück und tauchte den Raum in Dunkelheit. Auch Tibra legte sich nieder. "Ist Gerrys sehr wütend?" wollte er leise wissen. "Nicht wütend auf dich," beruhigte ihn Nymardos. "Nur wütend auf die Zustände hier." "Das ist gut." Der Magier schwieg lange. "Ich hätte euch fragen sollen, bevor ich euren Beutel für mich benutzte." "Willst du mich kränken?" "Natürlich nicht, Herr." Tibra hielt die Augen geschlossen und wählte seine Worte mit Bedacht. "Ich habe mein ganzes Leben hindurch für mich selbst gesorgt und stets darauf geachtet, daß ich in keines Menschen Schuld stehe. Seit ich Gerrys kenne, hat sich da manches geändert. Ich arbeite nicht mehr für meinen Unterhalt, sondern nehme seine Freundlichkeit hin und nutze meine Zeit für Studien, von
denen ich annehme, daß deren Ergebnisse, soweit sie ihm verständlich sind, ihn auch interessieren." "Ein bißchen mehr tust du schon," wußte Nymardos. "Jedenfalls nichts, das sich aufrechnen läßt und einen Lohn verdient - und wenn doch, ist ohnehin alles falsch. Mein Tun war niemals käuflich. Ich bin Tuchmacher geworden, weil das eine Arbeit ist, die keinerlei Bezug zu meinem Sein als Magier hat. Der Lohn eines Tuchmachers ist dem Lohn eines Magiers nicht vergleichbar." "Worauf willst du hinaus, Tibra?" "Ich denke, ich stehe nicht in Gerrys' Schuld, wenn man davon absieht, daß ich auf seinem Land lebe und er die nicht sehr üppigen Bedürfnisse meines Körpers stillt." "Es ist besser, wenn du nun schläfst," erwiderte ihm Nymardos mit sehr ruhiger Stimme. "Es ist nicht gut, wenn Freunde aufrechnen wollen und wenn du nun weitersprichst, werden wir beide genau das tun. Das ist die Sache nicht wert." Tibra schwieg nun wirklich. Es beschäftigte ihn noch sehr, Nymardos' Beutel ungefragt genutzt zu haben. Doch es war spät in der Nacht und er mußte etwas Ruhe finden. Er war durchaus Meister seiner Gedanken und so befahl er deren Richtung und duldete kein Grübeln und Nachsinnen. Wenig später war er eingeschlafen.
K
aum, daß sich die Nebel zu heben begannen, setzte in der ganzen Stadt Molt lauter und geschäftiger Handel ein. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Selbst Cyprina, die sich ansonsten nie freiwillig früh erhob, verließ ihr Lager. Sie freute sich darauf, nun endlich die Berge aus der Nähe zu sehen. Im auf zur Die
Gastraum der Herberge wartete schon das Frühmahl die Reisegruppe. Parcylen hatte bereits das Gepäck bis Tür gebracht. Freudig begrüßte er Gerrys und Cyprina. anderen fehlten noch, würden aber sicher gleich kommen.
Als Tibra erwachte, war Nymardos bereits auf den Tag vorbereitet. Gur wartete auf den Knien auf Befehle. Er hatte bereits Wasser und Molnüsse erhalten. "Gut geschlafen?" "Ich schlafe immer gut, Herr," erwiderte Tibra grinsend. "Und immer tief. Ich habe nicht gehört, daß ihr aufgestanden seid. Was ist mit Gur?" "Er wartet, was sollte er sonst tun? Aber er ist Leibdienst nicht gewöhnt, also wirst du dich selbst versorgen müssen und dir mit eigener Hand den Bart schaben." Tibra lachte leise und sagte nichts dazu. Nymardos und Gerrys gingen sich in einer solchen Situation stets gegenseitig zur Hand, aber er würde es niemals dulden, daß der Pala des Than ihm so einen Dienst erwies.
Mit deutlichem Befremden sah Cyprina dann wenig später den Sklaven, der sich auf einen Wink Nymardos' hin neben dem Gepäck niederkniete und nicht mehr bewegte. "Wo kommt der denn her?" wollte sie neugierig wissen. "Er wird uns begleiten," erwiderte Gerrys. "Rede nicht mit ihm und beachte ihn einfach nicht." Cyprina fiel es schwer, den Blick von Gur zu lösen. Aber sie gehorchte. "Wo ist denn Lorynir?" wunderte sie sich. "Ich habe ihn wie entschuldigend.
geweckt,"
sagte
Parcylen rasch und
Nymardos schob seinen Teller zurück. "Da werde ich meinen Chela wohl nochmals wecken müssen, da er ansonsten ohne Frühmahl reiten muß," meinte er lächelnd. Rasch erhob sich Tibra. "Laßt es, Nymardos," bat er rasch. "Schlimm genug, wenn er euch nicht den schuldigen Leibdienst leistete. Jetzt noch von euch im Schlaf gestört und so beschämt zu werden, das belastet ihn nur unnötig. Ich hole ihn." Er hörte schon nicht mehr, wie bei seinem Weggehen Cyprina feststellte: "Manchmal kann er richtig nett sein." Wirklich lag Lorynir noch in tiefem Schlaf. Tibra mußte ihn mehrmals sacht an den Schultern rütteln, ehe er zu sich kam. Dann aber erschrak er und erhob sich rasch. Sehr
schnell kleidete er sich an. Er empfand wirklich Schuldgefühle. "Du hast keinen Grund, so bedrückt zu sein," versprach Tibra. "Dein Leiter hat nichts vermißt. War ein anstrengender Tag gestern, hhm? Und wohl etwas zuviel Wein für dich. Jetzt komm, die andern warten auf uns." Im Gastraum wagte es der Priesterschüler zunächst nicht einmal, Nymardos auch nur anzusehen. Aber nachdem niemand auch nur ein Wort über sein Versäumnis verlor, wurde er ruhiger. Sie ließen sich Zeit mit ihrem ausgiebigen Mahl, plauderten dabei und besprachen ihren Reiseweg. Es war weit bis zum Tempel. Gerrys gab Parcylen seinen Beutel, damit der damit ihre Vorräte ergänzen solle. Tibra wollte ihn bei seinen Einkäufen begleiten. "Wir werden wohl noch ein Pferd brauchen," entschied Gerrys mit einem Seitenblick auf Gur. Lorynir erschrak, als Nymardos ihm daraufhin seinen Beutel gab. Aber Tibra beruhigte ihn: "Der Stall ist gut und der Stallmeister ein aufrechter Mann. Außerdem hast du gestern wohl genug gelernt, um das siebte Pferd auszuwählen." "Ich kann gewiß nicht so gut handeln wie ihr," bekannte Lorynir, aber er steckte bei diesen Worten schon den Beutel ein. Der Wirt war schon entlohnt. Es gab nichts mehr zu tun und so machten sich Tibra und Parcylen auf den Weg. Die andern nahmen das Gepäck, wobei sich Gur soviel als möglich auflud. Sie verließen die Herberge, um sich von Lorynir zum Stall führen zu lassen. Nach kurzem Weg schon verhielt Nymardos den Schritt. Gerrys sah ihn an.
"Was ist dir, Freund? Ein Ruf?" "Eher die Antwort," erwiderte Nymardos lächelnd. "Ich wollte Seymas erreichen, aber es gelang mir nicht. Er ist jetzt wohl bereit für die Verbindung. Ich komme nach, sobald ich kann."
T
ibra und Parcylen hatten sich längst beim Stall eingefunden und die Pferde beladen. Der Magier lobte sogar Lorynirs Wahl, die ein starkes Tier als siebtes Pferd fand. Es dauerte jedoch noch geraume Zeit, bis endlich auch Nymardos zu ihnen kam und sie die Stadt verlassen konnten. Ein breiter, recht gut befestigter und sogar geschotterer Weg führte aus der Stadt und am Fuß der Berge entlang zu anderen dichter bewohnten Bereichen des Landes. Die Freunde würden diesen Weg später verlassen, um ins Landesinnere zu gelangen. Nymardos besaß recht genaue Karten von Thara, so daß kaum Gefahr bestand, sie könnten den Weg verfehlen. Überdies waren die Haupttempel der Reiche auch wesentliche Punkte der Wirtschaft und immer über gute Straßen zu erreichen. Cyprina hielt sich, wie seit Tagen, an Lorynirs Seite. Tibra plauderte mit Parcylen und Gerrys ritt neben Nymardos voraus. Gur hielt sich, wie es seine Pflicht war, am Ende der Gruppe auf. Ein Sklave Tharas konnte stets nur hinten sein, denn nur dort war es unmöglich, daß er seinem Herrn den Rücken zuwandte. Sie rasteten auf einer kleinen Wiese und als sie danach ihren Weg wieder aufnahmen, hielt sich Gerrys zu Parcylen und bedeutete Tibra mit heiterem Grinsen, daß er mit Nymardos reiten solle. Der Magier folgte gern der Einladung. Schon nach kurzer Zeit fragte er nach dem Grund der morgentlichen Verspätung. Nymardos sah ihn freimütig an.
"Du hast mich letzte Nacht verwirrt," gab er fast heiter zu. "Ich habe den Rat meines Than gebraucht und mich mit Seymas in Verbindung gesetzt." "Ihr brauchtet Rat?" zweifelte Tibra. "Ich kann es mir eher umgekehrt vorstellen. Ich hätte überdies wohl wirklich besser geschwiegen und werde das künftig etwas mehr tun. Damit ist das Thema dann wohl erledigt." "Ich sagte, daß du mich verwirrt, nicht, daß du mich beleidigt hast," wehrte Nymardos ab. "Es macht dir nicht das Geringste aus, jede auch nur erdenkliche Summe zu erbitten, wenn sie nötig ist, um damit Rhagan zu helfen. Aber es belastet dich wohl jeder einzelne Solar, den Gerrys für dich in den letzten Jahren ausgegeben hat." "Das ist zwar etwas übertrieben, aber in etwa trifft es die Sache," gab Tibra grinsend zu. "Wobei ich darüber nie nachdachte, solange ihr als Than herrschtet und damit Gerrys nur euch Rechenschaft schuldete." "Amarra hat sich nicht verändert," mahnte Nymardos. "Natürlich muß ein Falla über seinen Tempel Rechenschaft ablegen und die Höhe seiner Abgabe an Amarra auch begründen können. Ein Tempel ist ein großes Unternehmen, das viele Menschen ernährt. Aber er ist auch immer in der Lage, Überfluß zu erzielen." "Der voll nach Amarra geht?" Jetzt war Tibra interessiert, denn bisher sprach er mit Gerrys nicht über diesen Bereich seines Amtes. "Natürlich nicht," wehrte Nymardos ab. "Zuerst sind die Abgaben an den jeweiligen Herrscher wichtig. Und danach nun, die Fallas entscheiden das, aber, wie gesagt, sie müssen es begründen."
"Als Rhagan noch Attor gehörte, wurden ihm mehr als fünfhundert Solare für diesen Sklaven geboten. Könnte Gerrys eine solche Summe vor Seymas verantworten?" "Eigentlich willst du wissen, ob er eine solche Summe für dich verantworten könnte," verstand Nymardos lächelnd. "Nun, mein Freund, da habe ich wohl versagt. Als du mir vor fünf Jahren in Khyon geholfen hast, habe ich danach nicht auf deinen Weg geachtet. Ich dachte, die Freundschaft zwischen Gerrys und dir genügt." "Das tut sie. Ich sagte euch, daß ich nicht das Gefühl habe, in seiner Schuld zu stehen." "Weil du beständig darauf achtest, ihm möglichst nur geringe Kosten zu verursachen. Das ist lächerlich, Tibra. Amarra bewertet einen Tempel in erster Linie nach seinem geistigen Wirken. Ich muß dir wohl kaum erklären, welche Wirkung auf geistiger Ebene die Rituale und ganz allgemein die Arbeit eines Tempels hat. Wenn ein Tempel hier wirksam ist, sich aber ansonsten nicht selbst erhalten kann, dann wird er von Amarra alles bekommen, was er braucht - und es wird die Fallas kein Tadel treffen." "Ist Amarras Reichtum so unermeßlich?" "Ja." Nymardos sagte nur dieses eine Wort und gerade die Knappheit der Antwort überzeugte den Magier. "Also haben für Seymas auch fünfhundert Solare für Rhagan keine Bedeutung," begriff er. "Sie hätten Bedeutung, wenn sie zu seinem Schaden erspart würden," versprach Nymardos. "Nun, was dich betrifft, so soll ich dir etwas geben." Er reichte Tibra einen prall gefüllten Beutel. "Meine achtzig Solare habe ich
übrigens schon entnommen," fügte er lächelnd hinzu. Tibra riß am Zügel. Er war zu überrascht, um gelassen zu bleiben. Da aber Nymardos sein Pferd nicht zügelte, ritt er rasch wieder an dessen Seite. "Ihr solltet das nicht tun," brummte Tibra. "Ihr wißt, daß ich das nicht will." "Ich habe keine Wahl," erwiderte Nymardos freimütig. "Das ist der Wille des Than. Es ist nicht unüblich, daß ein Mensch, der Amarra einen großen Dienst erweist, von da an regelmäßig seinen Lohn erhält. Das meinte ich, als ich sagte, daß ich vor fünf Jahren wohl säumte. Du hast Seymas das Leben gerettet und du hast dasselbe für seinen vertrautesten Freund Thyrian getan. Seymas besteht darauf, daß du von nun an regelmäßig eine Zuwendung erhältst." "Ich lasse mich nicht bezahlen für das Einsetzen von magischer Kraft," fuhr ihn Tibra da überraschend an. "Wie gesagt, der Than hat das entschieden," blieb Nymardos weiterhin ruhig. "Er ist der Meinung, daß es höchst wünschenswert wäre, wenn es dir gelänge, das Wesen von Miska zu erfassen und daß es beschämend sei, wenn du bei einem solchen Forschen, das ja ganz im Sinne Amarras ist, über erforderliche Ausgaben auch nur nachdenken müßtest. Es beruhigt ihn, daß du nicht käuflich bist, aber er ist davon überzeugt, daß du unabhängig sein mußt. Der Beutel hier und alles, was folgt, das ist kein Lohn für das, was du getan hast. Es ist Amarras Dank. Und der bleibt bestehen, egal, was geschehen wird." Skeptisch schaute Tibra auf den Beutel, dann auf Nymardos. Er wandte sich im Sattel um und warf auch Gerrys einen Blick zu. "Egal, was geschieht? Egal, was ich tun werde?"
"Das ist die Nachricht an dich. Eigentlich wollte ich wirklich nur einen Rat von Seymas, aber ich muß zugeben, daß mir diese Weisung weitaus besser gefällt." Tibra lächelte still vor sich hin. Schließlich steckte er den Beutel ein und sagte dabei: "Von euch hätte ich das nicht angenommen, Herr. Aber Seymas ist mir zu fremd, als daß ich Vorbehalte haben könnte. Was sagt Gerrys dazu?" "Frag ihn selbst," schlug Nymardos vor. "Es gefällt ihm."
S
ie erreichten die Weggabelung und verließen die breite Straße. Der Pfad ins Landesinnere war schmaler hier. An seiner Seite rann ein Bach ins Tal. Die Berge rückten näher. Doch weit konnten sie jetzt nicht mehr reiten, denn sie mußten sich nach einem guten Platz zur Übernachtung umsehen. Der war auch bald gefunden. Die angenehm warme Jahreszeit erlaubte es, auf Zelte und weiteren festen Nachtschutz zu verzichten. Es genügte durchaus, wenn man sich zum Schutz vor der Feuchtigkeit der Nebel in eine Decke hüllte. Ein kleines Feuer diente, Wasser für heißen Kräutertee zu kochen und der nahe Bach erlaubte es, sich ausgiebig zu waschen. Sie verbrachten einen fast gemütlichen Abend miteinander. Lorynir plauderte fast fröhlich mit Parcylen und Cyprina. Tibra konzentrierte sich unmerklich auf Gur, den er zu dirigieren begann. Der Sklave tat alles, was man ihn hieß. Er entfachte das Feuer, sattelte die Pferde ab, bereitete das Lager vor und achtete bei allem Tun darauf, seinem Herrn nie den Rücken zu zeigen. Gerrys streifte mit Nymardos zusammen durch die nähere Umgebung. Sein Interesse galt seit vielen Jahren den
Pflanzen und hier, in Thara, fand er so manches Kraut, das er nicht kennen konnte, da es in Nodher nicht zu finden war. "Warum sind wir eigentlich hier?" meinte er dabei. "Tibra macht nicht den Eindruck, als wenn er das Gefühl habe, Rhagan sei in großer Gefahr oder als ob wir uns beeilen sollten." "Vermutlich hat er dieses Gefühl nicht, " erwiderte Nymardos leichthin. "Es war wohl ein mehr nur flüchtiger Gedanke, der ihm riet, nach Thara zu gehen." "Es ist ja auch nicht so, daß ich seiner Intuition mißtraue," schwächte Gerrys ab. "Ich wundere mich bestenfalls darüber, daß Seymas diese Reise anscheinend so uneingeschränkt unterstützt." "Ist das so wichtig für dich? Vielleicht sollte Tibra nur auf Gur treffen; vielleicht genügt es schon, daß Cyprina nicht mehr unentwegt an ihre Bestimmung denkt. Möglicherweise ist das Ergebnis unserer Reise Lorynirs Veränderung, der nicht zuletzt dank Tibra seine Scheu verliert. Genügt nicht jeder einzelne Grund?" Gerrys lächelte den Freund an. "Wenn ich das verneine, findest du hundert weitere Gründe," wußte er sehr sicher. "Und wenn wir Rhagan wohlbehalten in Minosantes Tempel antreffen, dann wird es dir auch recht sein." "Sehr recht," bestätigte Nymardos. "Nun, mir auch," gab Gerrys heiter zu. "Und da diese Möglichkeit durchaus besteht, sollten wir jeden Tag der Reise genießen." Nymardos legte den Arm um seine Seite und zog ihn an sich.
"Das tue ich," versprach er und küßte den Freund zärtlich auf die Wange. Sie blieben lange fort. Tibra hinderte die Gefährten daran, nach den Freunden zu suchen und gönnte ihnen jede Stunde vertrauter Zweisamkeit.
S
ie hatten den halben Weg zu Minosantes Tempel noch nicht ganz zurück gelegt, als Tibra keine Hilfe mehr brauchte, wenn es darum ging, Gur anzuweisen. Der Sklave wußte ihn als seinen Herrn und ließ seine Hände nicht aus den Augen, solange er wach blieb. Und auch sein Schlaf fand nie große Tiefe. Tibra mußte seinen Namen nur flüsternd aussprechen, um ihn zu wecken. Und der Magier, der die Eigenheiten des Sklaven sehr bewußt, intensiv und genau studierte, nutze jede Gelegenheit, um seine Reaktionen zu testen. Gerrys gefiel dies nicht und er gab sich auch nicht den Anschein, als ob es ihm gleichgültig sei, wie der Sklave behandelt wurde. Es war Nymardos' stetem Eingreifen zu verdanken, daß sie sich in diesen Tagen nicht entzweiten. Parcylen bereitete all dies keine Schwierigkeiten. Sein Dienst galt in erster Linie Gerrys und die Gegenwart des Sklaven igonierte er weitgehend. Cyprina empfand eine tiefe Scheu vor Gur, der ihr auf seltsame Art unlebendig und damit auch unheimlich erschien. Sie wich ihm aus, so gut es eben ging. Lorynir, der als Chela Nymardos' der Sitte gemäß diesem durch Leibdienst für die Leitung dankte, sah mit Argwohn und Mißtrauen, wie sein Lehrer auch den Dienst des Sklaven in Anspruch nahm. Tibra hatte nichts dagegen, zumal er Gur so von anderer Warte aus beobachten konnte und Nymardos bereitete der Umgang mit dem Sklaven keine Schwierigkeiten. Er benahm sich geradezu so, als sei er nichts anderes gewohnt.
Sie rasteten gegen Mittag an einer Wegbiegung bei einem schmalen, aber hohen und beeindruckenden Wasserfall, an dessen Fuß sich ein kleiner See bildete. Hier fanden die Pferde frisches Gras und die Männer ein erfrischendes Bad. Tibra befand sich als Letzter noch im See. Das ungemein klare Wasser erlaubte ihm tauchend weite Sicht auf dem Grund und ihn faszinierten der Fischreichtum und die dichten Algenwälder. Als er dem Ufer zuschwamm, sah er Gur kniend auf Befehle warten. Er zögerte, aber dann gab er dem Sklaven ein Zeichen, das ihn ins Wasser rief. Gur erhob sich sofort und kam ohne jedes Zaudern ins Wasser. Das Ufer fiel nach zwei Schritten steil ab, der tiefe See und dessen sehr kaltes Wasser griffen nach dem Sklaven. Gur konnte nicht schwimmen und war bisher einer solchen Menge an Wasser noch nie begegnet. Bisher zeigte er keine rasche Reaktion und keine schnelle Bewegung, doch da er nun zu Ertrinken drohte, reagierte sein Körper impulsiv in heftigem Schlagen mit den Armen und krampfhaftem Strampeln der Beine. Tibra schwamm mit ein paar kräftigen Zügen zum Ufer. Aus schmalen Augen beobachtete er Gur, keinerlei Regung oder gar Mitleid zeigend. "Hol ihn raus!" rief Gerrys herrisch. Er war erst jetzt auf die Szene aufmerksam geworden und rannte herbei, sprang in den See. Tibra gab Gur, der bei jedem Auftauchen nach seinen Händen sah, einen Wink. Der Sklave strampelte weiter, aber nun immerhin in Richtung seines Herrn. Noch ehe Gerrys ihn erreichte, fanden seine Füße wieder festen Grund. Tibra befahl ihn an Land, warf ihm eine Molnuß zu, bedeutete ihm, zu essen und beachtete ihn nicht weiter.
Gerrys ließ die Sache nicht auf sich beruhen. Er stellte den Magier zur Rede. "Was wolltest du erreichen? Sollte er ertrinken oder wolltest du sehen, wieviel Wasser er schlucken kann?" Tibra setzte sich ins Gras, griff nach etwas Nahrung, legte sie dann aber beiseite und antwortete nachdenklich: "In einer solchen Situation müßte jeder Mensch Todesangst verspüren. Er hat überhaupt nichts empfunden. Gur kennt keinerlei Gefühle, weder Freude noch Furcht, weder Hoffnung noch Todesangst." "Das wußtest du vorher schon," fuhr ihn Gerrys an. "Spiele nie wieder in meiner Gegenwart mit dem Leben eines Menschen, Tibra. Jedenfalls dann nicht, wenn dir an meiner Freundschaft liegt." Fast erstaunt sah ihn da der Magier an, als er erwiderte: "Ich spiele nicht. Gerrys. Ich arbeite." "Nicht auf diese Art. Ich werde es nicht erlauben." "Was liegt dir an Gur? Willst du ihn haben? Ich kann mit jedem andern Sklaven weitermachen." Gerrys wurde wütend. Er packte Tibra am Arm und riß ihn nahe zu sich heran. "Es geht nicht um Gur! Es geht einfach darum, daß du aufgehört hast, ein Menschenleben zu achten. Ich kenne dich nicht mehr wieder, Tibra. Aber ich werde nicht länger zusehen, hast du verstanden?" Nymardos lagerte wenige Schritte abseits und beobachtete die Freunde. Er hatte Gur einen Wink gegeben, damit
dieser ihm etwas Wasser aus dem See bringe und der Sklave beeilte sich, seinen Becher zu füllen. Kniend überreichte er dem freien Mann den Trank. Lorynir sah es. Es war seine Sache, Nymardos zu bedienen und ihm war der Wunsch seines Leiters entgangen. Als sich Gur rückwärts entfernte und dabei keinen Blick von Nymardos' Händen ließ, konnte sich der Priesterschüler nicht mehr weiter beherrschen. Gur mußte an ihm vorbei, aber da er für den Sklaven nicht als Herr galt, wurde er auch nicht beachtet. Lorynir stieß Gur grob in die Seite. Der Sklave fiel zu Boden und im selben Moment trat Lorynir ihm schon den Fuß ins Gesicht. Nymardos rief mit ungewohnt harter Stimme seinen Schüler an. Tibra sprang auf und kam herbei, blieb Gerrys so die letzte Antwort schuldig. Dann grinste er fast vergnügt. Die beiden Männer knieten vor Nymardos und beide senkten schuldbewußt das Haupt. Lorynir fühlte sich wirklich schuldig. Er hatte im Zorn einen Menschen angegriffen, der nur seiner Pflicht gehorchte und sich nichts zu Schulden kommen ließ. Seine Handlungsweise war durch nichts zu rechtfertigen und sein Leiter besaß das Recht, ihm jede beliebige Buße aufzuerlegen. Auch Gur erwartete Strafe, doch tat er dies in der emotionslosen Art, in der er alles tat. Er hatte einen freien Mann zum Zorn gereizt und mußte folglich einen Fehler gemacht haben. Aber er dachte nicht darüber nach, wie er diesen Zorn erwecken konnte. Nymardos und Tibra tauschten einen raschen Blick. Dann hob der Magier den Priesterschüler auf. "Du bist wütend auf ihn, hhm?" meinte er gelassen. "In Ordnung, Lorynir, dann laß deine Wut raus. Nimm deinen Gürtel und schlag ihn." Der junge Mann trat entsetzt einen Schritt zurück.
"Nein, Herr," wehrte er sich, "das will ich nicht. Ich war unbeherrscht und das tut mir leid." "Nimm deinen Gürtel," beharrte Tibra. Lorynir warf sich vor Nymardos nieder. "Das ist nicht richtig. Bitte, Herr, sagt ihm, daß er das nicht von mir verlangen darf." Der Magier lachte laut und herzlich. Nun ergriff Gerrys, der inzwischen ebenfalls gekommen war, das Wort. "Laß Lorynir in Ruhe," verlangte er. "Geh die Pferde satteln," riet Nymardos da seinem Schüler und enthob ihn damit jeder Buße und verhinderte zugleich, daß sein Chela nun ein Streitthema der Freunde bilden konnte. "Du hast die Wahl," stellte Gerrys dem Magier ein Ultimatum. "Entweder wir verkaufen Gur in der nächsten Siedlung und du verzichtest künftig auf das Studium der Sklaven, oder unsere Wege trennen sich hier. Wenn du ablehnst, reite ich zurück, Tibra. Dann magst du in Thara tun, was du willst. Aber wenn du in meinen Tempel kommst, kommst du allein." Tibra nickte langsam. "In Ordnung, Gerrys," sagte er dann, "ich sehe schon ein, daß Raakis Falla nicht anders entscheiden kann. Wenn dein Gott keine Unterschiede duldet, kannst du es wohl auch nicht tun." "Wir trennen uns?" "Es ist besser so, Gerrys. Ich will deine Freundschaft
nicht verlieren. Wenn ich hier fertig bin, komme ich nach Nodher - allein, so, wie du es bestimmt hast. Das kann allerdings etwas dauern." "Du bist nicht böse?" wunderte sich Gerrys über das sanfte Nachgeben des Freundes. "Nur ein wenig enttäuscht, da du nicht einmal versuchst, mich zu verstehen," gab Tibra zu. "Wenn ich zurück bin, reden wir über alles, Gerrys. Vielleicht begreifst du dann, daß ich meinen Weg ebenso konsequent gehen muß, wie du den deinen." "Ich habe deinen Weg nie hinterfragt," wehrte sich Gerrys, der sehr wohl spürte, daß Tibra durch ihn verletzt wurde. "Ich habe bisher dein Forschen und Studieren immer unterstützt. Aber jetzt bist du geradezu besessen von deiner Idee, Miska zu begreifen." "Das war immer das Ziel meiner Forschungen," bekannte Tibra. "Miska zu erschaffen, ist eine Sache. Es zu heilen, eine ganz andere, die bisher keinem gelang. Magie heißt Macht, auch und gerade über den menschlichen Geist. Aber diese Macht kann erst vollkommen sein, wenn sie ihr eigenes Wirken auch umkehren kann." "Es heißt Macht über den eigenen Geist," wehrte Gerrys ab. "Du hast selbst gesagt, es bedeute nichts anderes, als durch den eigenen Willen alles zu vollbringen. Miska geschieht viel zu selten, als daß man ein ganzes Leben aufwenden sollte, um es zu erforschen." "Es geschah jedenfalls ein Mal zuviel," bekannte Tibra mit leiser Stimme. "Ich habe Miska geschaffen - und ich muß lernen, wie sich dieser Zustand umkehren läßt." "Du hast Thyrians Leben gerettet, als du ihn in diesen Zustand versetzt hast," erinnerte Gerrys mit eindringlicher
Stimme. "Seymas hat Thyrian zurückgeholt, noch ehe er sich als Miska verfestigen konnte. Es ist lächerlich, daß du immer noch darüber nachdenkst." Tibra setzte zu einer scharfen Erwiderung an, besann sich dann aber eines anderen und schüttelte nur den Kopf. Lorynir hatte die Pferde aufgesattelt. Ihre Begleiter warteten, wie es weitergehen solle. "Wir unterhalten uns in Nodher weiter," schlug Tibra vor. "Ich wünsche dir eine gute Heimreise, Gerrys. Es tut mir leid, daß es wohl nicht anders geht. Nur, es läßt sich nicht ändern. Ich hoffe, wir bleiben Freunde." Gerrys ergriff seine Hand. "Das hoffe ich auch," sagte er ernst. "Mögen die Götter mit dir sein." Tibra wartete nicht weiter. Er gab Gur einen Wink, der den Sklaven aufsitzen hieß, schwang sich selbst in den Sattel und ritt an. Betreten sah die kleine Gruppe dem Magier nach, der nicht zurück sah. Sie saßen auf. "Gerrys," wandte sich Nymardos an den Freund, "du weißt, daß ich mit Tibra reiten muß. Er kann nicht allein in Minosantes Tempel gehen und Seymas würde das auch nicht wollen." "Ich weiß es," bestätigte der Falla. "Kehre bald zurück. Ich werde auf dich in Nodher warten." Lorynir folgte Nymardos, der dem Weg folgte. Zurück blieben Cyprina, Parcylen und Gerrys. Der Heimweg nach Nodher war weit und einige Stunden konnte man an diesem Tag noch reiten.
R
hagan lag fest gebunden in einem fensterlosen Verschlag bei den Ställen. Die Stricke schnitten in sein Fleisch und schmerzten. Er war hilflos. Es gab nichts, das er tun konnte. Sobald die Nebel sich hoben, würde er mit Zargyn zusammen diesen Besitz verlassen und er zweifelte nicht daran, daß sein junger Herr alles tun würde, um ihn so schnell als möglich loszuwerden. Jetzt konnte ihm wohl auch Quenryn nicht mehr helfen. Die Nacht dehnte sich fast endlos. Quenryn fand keinen Schlaf und er wunderte sich selbst darüber. Auch ihm war klar, daß Zargyn Rhagan ermorden würde und eigentlich war das auch das Beste, das ihm einfallen konnte. Daß Rhagan Afrinars Namen kannte und so gut von dem geliebten Bruder sprach, verwunderte Quenryn. Aber das war kein Grund, weiter an diesen Sklaven zu denken. Er tat es trotzdem. Rhagan beherrschte die flüssige Rede und die Art, wie er ihn ansah, bewies, wie wenig dieser Mann ein Sklave Tharas sein konnte. Quenryn hatte davon gehört, daß die Sklaven in anderen Ländern fast wie freie Menschen lebten. Dieser Attor, von dem der Vater manchmal erzählte, er war mit zwei Sklaven Sions einst auf diesen Besitz gekommen. Keyna war damals Attors Sklavin gewesen. Dhor hieß der andere Sklave, den Attor besaß. Estoryn hatte ihn bei den Gräbern seiner Familie beerdigen lassen und bis zu diesem Tag wurde das Grab des Sklaven ebenso gepflegt wie jene der Verwandten. Quenryn erhob sich und trat zum Fenster. Die Dunkelheit
draußen half ihm, sehr klar zu denken. Dieser Dhor mußte ein seltsamer Mensch gewesen sein, denn er erreichte es, daß der Lanas Estoryn ihm die freie Rede erlaubte und seine Gesellschaft in Anspruch nahm, nicht aber seinen Dienst. Als sich aus einer Steilwand Felsen lösten und den Lanas zu erschlagen drohten, warf sich Dhor dazwischen und rettete ihm so das Leben. Er selbst fand dabei den Tod. Estoryn sprach nicht oft davon, aber Quenryn erinnerte sich nun aller Einzelheiten der wenigen Erzählungen. Rhagan war damals Attor übereignet worden und womöglich lehrte der Mann aus Sion diesen Sklaven die freie Rede und gab ihm das Selbstbewußtsein, das er jetzt besaß. Aber wie kam Rhagan von Sion zurück nach Thara in Minosantes Tempel? Und was geschah, das ihn dann endlich Zargyn übereignete? Da war noch etwas anderes, das Quenryn beschäftigte. Dieser Rha war einst ein Mördersklave und diese Bezeichnung verhinderte jede Vergünstigung, die ein Sklave erhalten konnte; vor allem aber konnte er niemals die Freiheit erlangen. Rhas Sklavenpapier wies dieses Zeichen nicht auf. Es mußte etwas geschehen sein, das Unrecht war. Doch in all seinem Grübeln fand Quenryn keinen Anhaltspunkt, der ihm diese Fragen auch nur annähernd beantworten konnte. Irgendwann in dieser Nacht verließ der junge Mann seine Kammer und suchte den Vetter auf. Auch Zargyn schlief nicht. Er hatte sein Bündel gepackt und lag nun grübelnd auf seinem Lager. Seine Lage war aussichtlos und verzweifelt dachte er an eine unbekannte, aber durchaus bedrohliche Zukunft. Der Oheim verstieß ihn und damit war ihm auch jeder Rückweg verboten. Er würde irgendwo in Thara einen Dienst annehmen und ein mehr oder weniger ärmliches Leben führen. Und dabei immer hoffen müssen, daß nie jemand erfuhr, daß er einen gestohlenen Sklaven besaß; daß er ihn je besessen hatte.
"Was willst du "Laß mich allein."
hier?"
begrüßte er Quenryn unwirsch.
Quenryn setzte sich trotzdem an den Rand seines Lagers. Es war dunkel im Raum, aber das störte jetzt nicht. "Ich kann dir vielleicht helfen," bot er dem Vetter an. "Ich besitze sechs Solare. Verkaufe mir Rha zu diesem Preis und mein Vater hat keinen Grund mehr, dich zu verbannen." Zargyn setzte sich auf. Zweifelnd starrte er den Vetter an. "Warum verspottest du mich?" "Mein Angebot gilt," blieb Quenryn beharrlich. "Entscheide dich rasch, Vetter. Ich könnte es mir durchaus anders überlegen." Zargyn mußte nicht lange grübeln. Das Angebot des Vetters war zu verlockend. Er hätte ihm Rha durchaus geschenkt, aber sechs Solare stellten für ihn ein Vermögen dar. Zargyn nahm die Summe und übertrug dem Vetter den Sklaven. Sie unterschrieben das Papier, das Quenryn einsteckte.
R
hagan hörte das Öffnen der Tür. Er hatte ohnehin nicht tief geschlafen. Erstaunt sah er Quenryn eintreten. Der junge Mann trug eine Kerze mit sich, die den Verschlag erhellte. Auch brachte er Wasser und Molnüsse. Er stellte alles auf den Boden und setzte sich neben Rhagan. "Gib mir dein Wort, mich weder anzugreifen noch zu fliehen," bat er leise. "Dann schneide ich deine Fesseln durch." "Ich bedrohe euch nicht," versprach der Hüne. "Aber mehr kann ich nicht versprechen."
Quenryn seufzte. Trotzdem nahm er sein Messer und befreite Rhagan. "Hier, iß und trink," lud er den vermeintlichen Sklaven ein. Rhagan griff zu. "Weiß euer Vetter, was ihr mir tut?" wollte er wissen. Quenryn lachte leise. "Tharas Sklaven stellen keine Fragen," stellte er fest. "Aber es geht Zargyn nichts mehr an. Ich habe dich ihm abgekauft." Rhagan ließ den Becher, aus dem er eben trinken wollte, sinken. Ungläubig sah er den jungen Mann an. "Warum?" wollte er wissen. "Schwer zu sagen," gab Quenryn zu. "Ich fürchtete einfach, daß Zargyn dich umbringen wird, sobald er den Besitz verlassen hat." "Wird euer Vater weniger hart urteilen, da es nun euch betrifft?" "Das nehme ich nicht an," gab Quenryn zu. "Zargyn kann jetzt bleiben und ich werde gehen müssen. Ich bringe dich deinem rechtmäßigen Herrn zurück, Rha. Danach kann ich wieder heimkommen. Ist es schlimm für dich? Ist dein Herr grausam? Was wird er mit dir tun? Er läßt dich sicher schon suchen." Rhagan lächelte. Er aß und trank und bewunderte insgeheim den Mut des jungen Mannes, der alles für ihn riskierte. "Ich
denke
schon,
daß ich gesucht werde," sagte er
schließlich und dachte dabei an Tibra. "Und ich freue mich auf das Wiedersehen mit den meinen. Nein, Herr, ich werde nicht fliehen, wenn ihr das mit mir tun wollt. Im Gegenteil, ich werde alles tun, damit eure Reise, die ihr für mich unternehmen wollt, so angenehm als möglich verläuft. Ich bin nach euren Maßstäben ein völlig untauglicher Sklave. Aber glaubt mir, ich bin ein zuverlässiger Gefährte." "Du redest wie ein freier Mann," wunderte sich Quenryn. Rhagan zögerte. Er durfte Quenryn nicht einmal ansehen und doch tat er schon die ganze Zeit und der junge Mann wehrte sich nicht dagegen. Jetzt ergriff er Quenryns Hand und drückte sie. In der unerwarteten Berührung verkrampfte sich Quenryn etwas, doch er ließ es geschehen, als Rhagan nachdrücklich versicherte: "Ich bin ein freier Mann." "Mördersklaven können zweifelte Quenryn.
die
Freiheit
nicht erhalten,"
"Das Siegel Amarras tilgte meine Schuld," erklärte Rhagan. "In Raakis Tempel in Nodher erhielt ich meine Freiheit. Dort leben auch meine Frau und meine Kinder. Wenn ihr mich nach Nodher bringt, Herr, dann..." "Nodher? Nicht Sion?" "Zu weit für euch?" Rhagan verstand. "Nun, dann Raakis Tempel in Sion. Der dortige Falla Drakan wird sich meiner entsinnen. Zumindest wird er Raakis Tempel in Nodher befragen." "Das ist mir sicher bist, daß genügt auch ein sich, ich muß ins
auch zu weit," gab Quenryn zu. "Wenn du so jeder Tempel dich erkennen kann, dann Tempel in Thara. Aber die Nebel heben Haus. Wir beschließen das später, Rha. Muß
ich dich wieder binden lassen?" "Mein Name ist Rhagan, Herr. Ihr solltest das zumindest wissen." Der Hüne grinste. "Ich werde nicht fliehen. Jetzt habe ich keinen Anlaß mehr dazu, nicht wahr?" "Ich habe dir ja versprochen, daß ich dir helfen werde," antwortete der junge Mann. "Aber eigentlich ist es Wahnsinn, das zu tun. Wir bringen die Sache so schnell als möglich hinter uns. Also warte hier, bis ich dich rufen lasse." Er erhob sich und ging hinaus, aber er verschloß die Tür nicht hinter sich.
B
eim gemeinsamen Frühmahl, an dem die ganze Familie teilnahm, gestand Quenryn dann, was in der vergangenen Nacht geschah. Alboran faßte es kaum. "Warum tust du das?" wollte er wissen. "Zargyn hätte ihn nach der ersten Wegkreuzung getötet," erwiderte Quenryn mit fester Stimme. "Er ist doch nur ein Sklave," nahm Keyna den Sohn in Schutz. "Das warst du auch," fuhr sie Quenryn da böse an. "Du hast wohl vergessen, woher du kommst." "Schweig," verlangte Valvaran mit harter Stimme. Estoryn lachte leise auf. "Vorsicht, Bruder," mahnte er mit freundlicher Stimme, deren drohender Unterton dem Blinden aber nicht entging, "kränke Quenryn nicht." Er wandte sich dem Sohn zu. "Du weißt, daß ich mein Urteil nicht abändern werde?"
"Ja, Vater, das habe ich auch nicht erwartet," gab Quenryn zu. "Trotzdem mußte ich so handeln. Rhagan hat den Tod nicht verdient." "Rhagan?" "Das ist heute sein Name, wie er sagt." Alboran spöttelte: "Er hat dir wohl seine ganze Lebensgeschichte erzählt und das in flüssiger, wohl gesetzter Rede." "Das noch nicht, Oheim," wehrte Quenryn fast heiter ab. "Wir hatten noch nicht viel Zeit, um miteinander zu reden. Und reden kann er, glaube mir. Seine Wortwahl ist jedenfalls treffender als jene, die Zargyn benutzt." Zargyn ballte die Hände zu Fäusten bei diesem Vergleich mit einem Sklaven, aber er sagte klugerweise nichts dazu. "Wohin willst du gehen?" fragte Alboran. "Sag es uns besser nicht," mischte sich Estoryn rasch ein. "Die Sklavenjäger werden dich bald suchen und je weniger Menschen deinen Weg kennen, desto sicherer wirst du sein." Quenryn lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. "Es gibt keine Sklavenjäger," beharrte er. "Rhagan ist ein freier Mann und wenn er gesucht wird, dann von seinen Freunden. Raakis Tempel in Nodher ist seine Heimat." Alboran horchte auf. Estoryn wußte nichts davon, doch vor zwanzig Jahren war Rha als Sklave seines Freundes Xanor dem dortigen Falla begegnet und Xanor befürchtete, daß dieser Falla Rhas Geist erweckt habe. Irgendwie klang es natürlich, daß der Sklave dort leben solle.
"Wenn du einen freien Mann als Sklaven hältst, bist du des Todes," murmelte er. "Das ist noch schlimmer als Sklavendiebstahl." "Es war der einzige Weg, ihn zu retten," entschuldigte sich Quenryn. "Sein Papier hat Vater als Fälschung entlarvt. Aber es ist kein Nachweis von Sklavendiebstahl, sondern von Freiheitraub." "Wenn ich davon überzeugt wäre, würde es genügen, Rha das Kupfer abzunehmen," überlegte Estoryn. "Andererseits könnte er dich, uns alle dann verklagen und dem Tribunal unterwerfen." Er klatschte in die Hände und befahl dem eintretenden Mann: "Bring den Sklaven Rha zu mir." Rhagan folgte dem Mann und trat in das kleine Zimmer ein. Fragend sah er kurz zu Quenryn, der sich sofort erhob. Der junge Mann bedeutete ihm, sich auf die Knie zu begeben und ersparte ihm die völlige Unterwerfung. Unwillig sah Estoryn auf, aber da der Sohn seinem Blick standhielt, schwieg er dazu. Quenryn griff nach seiner Schüssel, in der heißer Körnerbrei dampfte. Nach kurzem Zögern hielt er Rhagan die Schüssel hin. "Iß," verlangte er. Der Hüne begriff durchaus den Sinn dieser Demonstration. Tharas Sklaven ernährten sich von Geburt an ausschließlich von Wasser und Molnüssen. Ihr Körper vertrug andere Nahrung nicht einmal. Auch er hatte damals sehr lange gebraucht, ehe er imstande war, etwas anderes als diese Nüsse zu essen. Obgleich nicht hungrig, leerte er doch die Schüssel und er tat dies so gleichmütig, daß sie alle begreifen mußten, wie vertraut ihm diese Nahrung war. Estoryn
nickte
Quenryn
zu
und
überließ
dem
Sohn
damit die Initiative, gab ihm zugleich die Erlaubnis, den Sklaven nach seinem Gutdünken zu behandeln. "Meine Familie hat Schwierigkeiten damit, mir zu glauben, daß du die freie Rede beherrschst," erklärte der junge Mann dem Hünen. "Tharas Sklaven reden nicht." "Sie sind es nicht gewohnt," gab Rhagan zu. "Als ich euren Oheim Valvaran durch Thara führte, war ich allerdings gezwungen, so manches Wort zu benutzen. Einen blinden Mann kann man nicht durch Gesten leiten." "Das war doch nur Gestammel," fuhr ihn Valvaran an. "Natürlich war es das," gab Rhagan gelassen zu. "Es war ohnehin schlimm für mich, daß ich reden mußte. Aber das liegt lange zurück und Attor hätte mich verkauft, wäre ich schweigsam geblieben." "Er gab dir die Freiheit?" Es war Estoryn, der mit zweifelnder Stimme diese Frage stellte. Daß er überhaupt so einen Sklaven ansprach, war ungeheuerlich. "Ich begleitete ihn ein paar Jahre hindurch auf seinen abenteuerlichen Reisen," antwortete Rhagan wahrheitsgemäß. "In Sion begegneten wir dann dem Than, vor dem Attor in seiner Tollheit die Waffe zog. Er wurde dafür versklavt und ich als sein Eigentum ging an seinen Besitzer über." "Was weiter?" forschte der Lanas aufmerksam. "Das Siegel Amarras tilgte meine Schuld als Mördersklave und so konnte ich die Freiheit erhalten. Denn Attor wurde Raakis Falla Gerrys unterstellt."
"Dem Mann, der deinen Geist erweckte," begriff Alboran. "Gerrys gab mir die Freiheit," fuhr Rhagan ruhig fort. "Einige Zeit später nahm er meinen Dienst als Tempelhelfer an. Inzwischen bin ich vermählt, habe drei Kinder und führe ein erfülltes Leben." "Weshalb bist du nach Thara gekommen?" forschte Alboran. "Minosantes Tempel erhielt neue Falles, die in Nodher rasteten. Der Than befahl, daß ich sie in ihre neue Heimat begleiten solle. Die Fallas wissen wohl nichts davon, daß ein paar Priester mich überwältigten und, da sie davon hörten, daß ich einst Sklave war, mir das Kupfer anlegten." "Ohne irgendwelches Recht?" zweifelte Estoryn. "So ist es," bestätigte Rhagan. "Der Falla Jostur hat mich als seinen Gefährten bezeichnet. Zargyn dürfte das durchaus bekannt sein." Quenryn wirbelte herum und packte den Vetter an der Tunika, zog ihn vom Stuhl hoch und starrte ihn wütend an. "Ist es so?" wollte er herrisch wissen. Zargyn wand sich unter dem starken Griff, dem er sich nicht entreißen konnte. "Der Falla ließ einen Sklaven wie einen Priester behandeln," jammerte er schließlich. "Niemand hat etwas gemerkt. Ich habe Rha sogar um Leitung gebeten." Quenryn stieß ihn auf den Stuhl zurück. "Auch Afrinar behandelte ihn wie einen Freund. Das war eine Beleidigung für uns alle." Quenryn starrte Rhagan an.
"Afrinar hat dich gut gekannt?" "Das ist übertrieben," schwächte Rhagan ab. "Wir verbrachten manche Stunde zusammen, das ist alles. Ich sagte es euch, Herr, daß er sehr freundlich ist." "Wenn ein freier Mann zu Unrecht versklavt wird, sind die Täter des Todes," nannte Estoryn Tharas Recht. "Du hast mich aber noch nicht von der Wahrheit deiner Worte überzeugt." "Seht mich an," schlug Rhagan vor. "Die Haut unter dem Kupfer färbt sich grün im Laufe der Zeit. Meine Haut ist sowohl am Hals, wo Tharas Sklaven das Kupfer tragen als auch an den Handgelenken, wo die Sklaven anderer Länder gezeichnet sind, unverfärbt. Und wenn ihr weiter zweifelt, so sendet Boten zu meinen Gefährten, die alle für mich eintreten werden." "Eine zu weite Reise für eine Nichtigkeit," meinte Valvaran. "Was läßt dich glauben, diesen Aufwand wert zu sein." Rhagan sah ihn an. Der Blinde spürte es durchaus und senkte den Kopf. Er wunderte sich, daß sein Bruder den frechen und eigentlich unverschämten Blick den Sklaven nicht verbot. Ihm selbst fehlte der Mut dazu. "Es gab eine Zeit," antwortete Rhagan mit fester Stimme, "da glaubte ich, daß ihr jeden Aufwand wert seid. Ich habe euch durch Thara geführt und für euch alles erlitten, das ein Mensch erleiden kann. Ich habe für euch getötet, für euch gehungert, für euch gefroren. Am Ende habt ihr mich verraten, Valvaran. Ihr habt mich beschuldigt, euch zu diesem Weg gezwungen zu haben und mir jede Greueltat unterstellt, mit der ich euch angeblich zwang. Ich bezweifle, daß ihr in der Lage seid, zu beurteilen, was einen Aufwand rechtfertigt."
Zargyn sprang wütend auf. Aber Quenryn stand zwischen ihm und Rhagan, so daß er den Hünen nicht angreifen konnte. Estoryn lachte leise. "Steh auf, Rhagan," erlaubte er. "So dreiste Rede führt wohl nur ein wirklich freier Mann." "Du glaubst ihm?" vergewisserte sich Quenryn aufatmend. "Das tue ich, mein Sohn," bestätigte der Lanas. "Dann nehmt mir das Kupfer ab," verlangte Rhagan mit fester Stimme. "Und danach?" "Danach gehe ich nach Hause," versprach der Hüne. Estoryn schüttelte den Kopf. "Das genügt nicht," entschied er. "Es gibt ein paar Priester, die sich nicht scheuen, einen freien Mann zu versklaven. Sollen sie ungeschoren bleiben?" "Das entscheidet Amarra," erwiderte Rhagan selbstbewußt. "Der Than wird erfahren, was geschah, und dann entscheiden." "Damit entscheidet er auch über Zargyn," murmelte Keyna betroffen. "Wenn er es gewußt hat, ist er doch mitschuldig." "Er wußte es," bestätigte Rhagan. "Und Quenryn wußte, daß das Sklavenpapier falsch ist, als er dich kaufte," fauchte Zargyn. "Er ist ebenso schuldig."
Quenryn und Rhagan sahen sich an. Der Hüne lächelte. Er empfand Zuneigung für den jungen Mann. "Auch das wird Amarra erfahren," versprach er. "Es ist gut, wenn man auch die Namen der Menschen weiß, die selbstlos zu helfen bereit sind." "Vor dem Gesetz ist er trotzdem schuldig," murrte Zargyn. Rhagan lachte leise auf. "Amarra ist das Gesetz. Niemand hat ein Recht, mich weiter festzuhalten." Estoryns Auge ruhte auf Quenryn. "Wenn ich dich gehen lasse, bringe ich ihn in Gefahr," murmelte er nachdenklich. "Wenn ihr mich haltet, seid ihr alle in Gefahr," warnte Rhagan. "Man wird mich suchen." "Wer? Wer wird dich suchen?" forschte Alboran. "Ein mächtiger Magier, der ein vertrauter Freund meines Falla ist," erwiderte Rhagan mit fester Stimme. "Und er wird sicher nicht allein sein. Der Pala des Than wird ihm helfen, vielleicht auch Gerrys selbst. Wenn Attor erfährt, wo ich bin, wird er kommen. Und wenn der Falla Jostur erfährt, was geschah, wird er ebenfalls handeln." "So mächtige Männer haben Besseres zu tun, als sich um einen wertlosen Sklaven oder meinetwegen auch Tempelhelfer zu kümmern," behauptete Valvaran höhnisch. "Ich denke, der Mann lügt." "Hättest du dich nicht eingemischt," hielt Estoryn dem Sohn vor, "so beträfe das alles nur Zargyn und diesen Mann und
die Sache wäre für uns erledigt." "Mag sein," gab Quenryn zu. "Zargyn wäre verbannt und Rhagan ermordet. Aber irgendwann kehrt Afrinar wieder heim. Was willst du ihm sagen, wo sein Vetter ist? Und was willst du sagen, wenn er von Rhagan erfährt? Nein, Vater, es ist nicht so einfach." "Ich habe nicht die Absicht, Zargyn zu verklagen," versprach Rhagan, "wohl aber jene Priester, die mich überwältigten." "Mich interessiert Zargyns Schicksal nicht sonderlich," gab Estoryn gelassen zu. "Aber Quenryn wurde schuldig vor dem Gesetz." "Indem er mir das Leben rettete?" "Indem er einen Sklaven erwarb, der zu Unrecht versklavt ist." "Das konnte er nicht wissen," schwächte Rhagan ab. "Eure Söhne sind treffliche Männer, Lanas, denen ich nur Gutes wünsche. Laßt mich nun gehen und alles, was mir geschah, wird keine Auswirkungen auf eure Familie haben." Estoryn sah lange auf seinen Sohn, ehe er sich erhob und Rhagan zuwandte. "Das Kupfer bleibt dir erhalten," entschied er dann. "Meine Männer bringen dich zum Tempel des Lichts. Man sagt, daß die Tempel Möglichkeiten haben, miteinander in Kontakt zu treten. Dann wird es möglich sein, Raakis Tempel in Nodher nach dir zu befragen. Der Tempel jedenfalls wird entscheiden, was mit dir geschieht." "Das willst du tun?" wunderte sich Alboran.
"So wird es geschehen," versprach Estoryn. "Und was immer das Gesetz dann entscheidet, es wird sich ihm jeder beugen." Valvaran sprach dagegen, da er um Zargyn fürchtete. Quenryn sagte nichts dazu. Er warf Rhagan einen fast traurigen Blick zu, übergab dann dem Vater das Sklavenpapier und verließ den Raum. Rhagan wurde noch zur selben Stunde auf ein Pferd gebunden und von einigen Männern des Lanas fortgeführt. Einige Tage mußten vergehen, ehe ein Tempel zu erreichen war.
D
ie vier Männer, die den Auftrag hatten, Rhagan zum Tempel zu bringen, waren Jäger und keinen Umgang mit Sklaven gewohnt. Doch in Thara kümmerte man sich ohnehin nicht um Unfreie. Rhagan wurde weitgehend ignoriert. Niemand sprach mit ihm. Die Männer plauderten miteinander und lachten und scherzten. Einer von ihnen führte Rhagans Pferd am Zügel mit sich. Abends rasteten sie in einem lichten Wald aus kleinen, knorrigen Bäumen, deren starke Wurzeln sich auf den felsigen Untergrund krallten. Sie versorgten die Tiere und in derselben Art versorgten sie auch Rhagan, den sie vom Pferd hoben. Ein Mann gab ihm Wasser, schob ihm Molnußstücke in den Mund und unterhielt sich dabei weiter mit seinen Kameraden. Danach ließen sie ihn einfach liegen und überlegten nicht, ob der so Gebundene einen erholsamen Schlaf haben konnte. Der folgende Tag verlief auf dieselbe Weise und am Abend erhielt Rhagan wieder eine Nuß und etwas Wasser. Die Männer saßen um ein kleines Feuer, brieten ein erlegtes Nagetier und lachten miteinander. Rhagan lag abseits. Durch die Fessel war seine Lage alles andere als angenehm,
doch die Aussicht, einem Tempel überstellt zu werden, ließ ihn alles ertragen. Er würde es ein paar Tage aushalten und danach, so hoffte er, würde Gerrys ihn nach Hause rufen. Die Nebel hüllten das Land ein. Ihre Feuchtigkeit zeigte sich angenehm warm. Längst erlosch das Feuer. Die Tiere der Nacht lärmten. Rhagan schlief tief und fest. Leise erhob sich einer der Jäger und dabei zerbrach mit leisem Knistern ein dürrer Zweig. Ein Sklave Tharas wäre sofort hellwach gewesen. Doch Rhagans Schlummer blieb fest. Der Mann zögerte und atmete tief durch. Seine Aufgabe gefiel ihm nicht. Das war zwar nur ein Sklave, aber er hätte auch ein wehrloses Tier nicht ermorden wollen. Sein Blick glitt zu seinen Kameraden. Sie schliefen und das war gut so. Der Lanas wollte keine Zeugen. Rhagan lag am Fuße einer steilen Geröllhalde. Es würde wie ein Unglück aussehen. Der Mann hatte die Wand genau besehen, ehe es dunkel wurde. Es genügte, etwas oberhalb einen Stein zu lösen, dann würden die Felsbrocken ins Rutschen kommen und den Schlafenden erschlagen. Geräuschlos bewegte sich der Jäger und geschickt stieg er in die Wand. Rasch erreichte er den stützenden Stein. Der saß doch etwas fester als erwartet. Der Jäger stemmte sich mit ganzer Kraft dagegen. Ein paar kleinere Steine kullerten den Abhang hinab.
N
ymardos lenkte sein Pferd an die Seite Tibras. Er war immer noch kein guter Reiter, aber Tharas Tiere waren leicht zu lenken und nahmen gleichmütig den steinigen Weg. "Ich freue mich, daß ihr nicht mit Gerrys reitet," bekannte Tibra freimütig. "Ich war mir dessen nicht ganz sicher." Nymardos lächelte verhalten. "Du bist dir meiner Freundschaft nicht sicher, hhm?" meinte er. "Es ist immer schwer, wenn man sich zwischen zwei Freunden entscheiden muß," erwiderte Tibra mit ungewohnt ernster Stimme. "Und im Zweifelsfall werdet ihr wohl immer zu Gerrys stehen." "Das werde ich," bestätigte Nymardos gelassen. "Er hat übrigens nicht damit gerechnet, daß du mit der Trennung einverstanden sein wirst. Eigentlich nahm er an, du würdest auf sein Drängen hin nachgeben und Gur verkaufen." "Er kann Gur haben, wenn er will. Aber ihn stört, was ich tue und da ist es jetzt besser, wenn er nach Nodher geht. Alles andere könnte unsere Freundschaft wirklich zerstören." "Könnte es das?" fragte Nymardos heiter. "Eine geteilte Meinung muß nicht unbedingt eine Liebe beenden. Vielleicht sagst du ihm nur zu selten, daß du ihn liebst."
Tibra lachte heiter auf. "Das habe ich ihm überhaupt noch nie gesagt," gab er vergnügt zu. Nymardos wurde ernst. "Du solltest es tun," riet er mit leiser Stimme. Und dann erzählte er Tibra von seinem Freund Caryll, der als Verwalter des Than auf Amarra lebte. Caryll und ihn verband eine tiefe Freundschaft seit ihrer Jugendzeit, die sich in ihren frühen Jahren recht unbeschwert gestaltete. Als man ihn dann zum Than erkannte, wurde Caryll scheu. Er blieb als sein Pala und Verwalter bei ihm, doch er duldete keine Berührung, sprach so gut wie nie von seinen Gefühlen und mauerte sein Innerstes ein. Caryll duldete die körperliche Nähe keines Menschen, erlaubte keine Umarmung, gestattete kein vertrautes Wort. Seine Liebe war tief und stark und echt, doch er drückte sie nie aus und darin verarmten alle, die ihn ebenso liebten. Tibra schwieg danach lange Zeit. Endlich sagte er: "Es wäre manches einfacher für mich, wenn Gerrys kein Falla wäre. Wie soll ich mit einem Priester über das reden, was ein Magier tut? In unseren Leben gibt es zu viele Bereiche, die keine Berührung miteinander haben. Es wird immer eine Spur von Fremdheit geben zwischen uns." Der Weg verengte sich und führte nun steil nach oben. Aber noch immer konnten zwei Pferde bequem nebeneinander ihren Pfad suchen. Sie übernachteten in einer Ausbuchtung des Felsens, die sich so groß und geräumig zeigte, daß darin durchaus auch zehn Männer Schutz finden konnten. Früh am andern Tag kamen sie durch eine kleine Siedlung, in der Achatschleifer ihrem Handwerk nachgingen. Die
Menschen waren arm, aber sehr gastfreundlich. Nur fanden sie eben keine Möglichkeit, die Tiere zu wechseln oder ihre Vorräte gänzlich zu erneuern. Nun führte der Weg bergab. Unten sahen sie ein fruchtbares Tal, durch das sich ein Fluß schlängelte. Jetzt waren sie gezwungen, hintereinander zu reiten, denn der Pfad war schmal und es ging zur Linken steil in die Tiefe. Tibra ritt ein ganzes Stück voraus und das änderte sich auch nicht, als der Weg sich verbreitete. Lorynir hielt sich zu Nymardos und ließ sich über manches belehren. In ein paar Stunden würden sie das Tal erreichen und dort rasten. Nymardos sprach ruhig mit Lorynir. Eine Wegbiegung entzog Tibra seinem Blick. Plötzlich riß er hart am Zügel. "Tibra!" Laut rief er den Namen des Magiers, doch als Antwort erhielt er lediglich das entsetzte Aufwiehern eines Pferdes. Nymardos trieb sein Tier an. Tibra war nicht zu sehen. Lorynir folgte seinem Leiter, der inzwischen schon aus dem Sattel sprang. Nymardos sah sich wie witternd um. Dann trat er an den Rand des Abgrunds. Weit unten sahen sie den zerschmetterten Leib des Pferdes, das Tibra ritt. "Herr, seht dort." Lorynir deutete in die Tiefe. In den steilen Fels hatte sich ein verkrüppelter Nadelbaum gekrallt, der hier zwar kaum Nahrung, aber erstaunlicherweise Halt fand. Tibras Körper hing reglos zwischen dessen Stamm und Wurzeln, auf halbem Weg in die Tiefe. "Lebt er noch?" wollte der Chela leise wissen.
Nymardos starrte nach unten. "Ich klettere hinab," beschloß er. "Wir haben kein Seil," warnte Lorynir. "Es ist zu gefährlich, Herr. Bitte, tut das nicht." Aber Nymardos suchte schon eine geeignete Stelle für den Abstieg. Der Priesterschüler bekam Angst. "Ich werde es tun," beschloß er da. Nymardos lächelte ihn beruhigend an. "Du bleibst hier," bestimmte er. "Ich danke für dein Angebot, aber du wirst hier warten." Als er den Abstieg begann, löste sich das Gestein unter seinen Füßen. Nymardos griff instinktiv um sich, stürzte aber mehrere Meter, ehe er an einer hervorstehenden Felskante Halt fand. Vorsichtig schob er sich Stück für Stück zur Seite, bis er endlich eine Stelle fand, die halbwegs sicher sein Gewicht trug. Nach oben konnte er von hier aus nicht und jeder Versuch, weiter hinab zu gelangen, mußte lebensgefährlich sein.
C
yprina gefiel es überhaupt nicht, jetzt schon die Heimreise antreten zu müssen. Obwohl die vergangenen Tage sie durchaus anstrengten, überwog doch die Faszination, ein fremdes Land zu sehen. Daß Lorynir mit Nymardos ritt, war ihr verständlich. Trotzdem wäre sie lieber an der Seite des neuen Freundes, als jetzt mit dem Vater zu reiten. Sie hatte gesehen, wie Tibra Gur ins Wasser rief und wie der Sklave dabei fast ertrank. Sie sah auch den Zorn des Vaters, den sie zwar verstand, der in ihren Augen aber zu groß
war. Auf dem Rückweg sprach sie mit Gerrys darüber. "Ich glaube, daß Tibra der stärkste Magier ist, den es gibt," behauptete sie. "Er hat sofort gewußt, wie er die Geister besiegen kann, die Erynia bedroht haben. Daß man das lernen muß und nicht einfach kann, ist mir schon klar. Warum bist du böse, wenn er weiterlernt?" "Ich bin böse, wenn er aufhört, Menschen zu achten, Kleines," erwiderte der Falla mißmutig. "Die Art, wie er Gur behandelt, kann ich nicht gutheißen." "Gur ist das doch egal," erkannte sie genau. "Für den ist es kein Unterschied, ob man nett zu ihm ist oder ihn beschimpft. Irgendwie lebt der ja gar nicht richtig. Er ist nur ein Körper, kein richtiger Mensch." "Schweig," fuhr er sie da zornig an. Cyprina preßte die Lippen zusammen. Sie konnte nicht verhindern, daß ihre Augen feucht wurden. Parcylen sah sie mitleidig an. "Verzeiht, Herr," stand er dem Mädchen bei, "aber ich habe denselben Eindruck wie eure Tochter. Euer Freund Tibra hat niemals einen Menschen mißachtet und begegnet jedem mit derselben Freundlichkeit, egal, welchen Stand er auch hat. Die Leute im Tempel mögen ihn alle." "Ich wußte nicht, daß du Freundschaft mit ihm geschlossen hast," wunderte sich Gerrys. "Ich habe mich kaum mit ihm unterhalten," wehrte Parcylen ab. "Ich gebe gern zu, daß ich anfangs das Auftauchen eines Magiers bei uns eher mit Mißtrauen beobachtet habe. Aber heute gehört er zu uns wie jeder andere auch."
"Er kommt ja wieder nach Nodher," meinte der Falla fast erheitert. "Wir haben uns nicht gänzlich getrennt." "Aber wenn er kommt," antwortete Parcylen offen, "dann kommt er erst, wenn er sich euren Befehlen fügen kann. Ich dachte, ihr seid sein Freund." Gerrys erwiderte nichts dazu. Daß er Tibra verbot, mit einem Sklaven Tharas nach Nodher zu kommen, beschäftigte ihn selbst. Es war nicht seine Art, seine Macht gegenüber einem Freund zu zeigen. Der Tempel unterstand ihm und Seryna allein. Sein Wort war Befehl für alle, die dort lebten. Tibra mußte er nie befehlen und er wollte das auch niemals tun. Da war noch etwas, das ihn beschäftigte. Er kannte Nymardos seit so vielen Jahren und hatte nie erlebt, daß dieser einem Menschen anders als in vollster Zuwendung begegnete. Trotzdem dirigierte er diesen Sklaven, als sei er nichts anderes gewohnt. Er leitete Tibra sogar darin an. Vielleicht war er stark genug, den Geist dieses Sklaven zu erreichen und zu erwecken, aber er versuchte es nicht einmal. Lieber sah er Tibra bei dessen Studium zu und quittierte jedes leise Verstehen des Magiers mit einem fast amüsierten Lächeln. Gerrys war es fast, als wisse Nymardos, was Tibra suchte. Daß der geliebte Freund mit dem Magier weiter durch Thara ritt, war nicht verwunderlich. Tibra würde in einem Tempel durchaus den Beistand eines Priesters brauchen, wenn er Antwort auf Fragen erhalten wollte. "Vater," riß ihn Cyprina aus seinen Gedanken, "ich will umkehren. Tibra soll nicht denken, daß ich ihn im Stich gelassen habe." Parcylen, der im allgemeinen keinen eigenen Wunsch äußerte und sich in allem an Gerrys hielt, lächelte verhalten. "Ich habe denselben Wunsch, Herr," gab er ruhig zu.
Gerrys sah die Beiden aufmerksam an und sie hielten seinem forschenden Blick stand. "Ich liebe Tibra," gab er schließlich zu. "Aber ich fürchte, diese Liebe kann sterben, wenn ich weiter zusehen muß, wie er Gur mißachtet." "Wenn er so leben muß, wie du es bestimmst, ist er dein Gefangener und nicht dein Freund," murrte Cyprina. "So leben wir alle, ohne gefangen zu sein," grinste Parcylen. "Hört schon auf," beendete der Falla das Thema. "Da ihr beide ein so ungutes Gefühl habt, gebe ich euch nach. Wir reiten zurück."
T
ibra hatte einen gewaltigen Schmerz in der Schulter verspürt, instinktiv hart am Zügel gerissen und im selben Moment das Bewußtsein verloren. Daß sich sein Pferd aufbäumte, entsetzt aufwieherte und den Halt verlor, wußte er schon nicht mehr. Nun kam er langsam wieder zu sich. "Nicht bewegen," hörte er Nymardos' warnenden Ruf. Der Schmerz wollte ihn überwältigen. Es gelang Tibra nur mühsam, die Augen zu öffnen. Langsam wurde ihm klar, wo er sich befand. Es ging steil in die Tiefe. Der Magier wußte, daß seine Kraft nicht ausreichen würde, um sich jetzt festzuhalten. Er hing über dem relativ dünnen Baumstamm und jede Bewegung konnte ihn ins Rutschen bringen. Nymardos befand sich gut fünf Meter über ihm. Tibra sah es, als er langsam den Kopf wandte. Aber er sah auch, daß es keinen Abstieg zu ihm gab. "Herr, was kann ich tun?" rief Lorynir angstvoll, der am Rand des Abgrunds kniete und Nymardos im Felshang beob-
achtete. "Gib Ruhe," verlangte der, "lenke mich nun nicht ab." Lorynir gehorchte. Er fürchtete um das Leben seines Lehrers, doch er wußte, daß er jetzt nichts tun konnte, um ihm zu helfen. Mit den Augen suchte Nymardos den Fels ab, taxierte jede Unebenheit, nahm jeden Spalt und jede Kante wahr. Tibra blutete aus der rechten Schulter. Nymardos wußte, daß er nicht lange zögern durfte. Der Magier verlor so viel Blut, daß er nicht mehr lange überleben konnte. Es war verwunderlich, daß er noch bei Bewußtsein war und erstaunlich, daß er keine Panik empfand. "Der Fels - er trägt nicht," rang sich Tibra ein paar Worte ab. Nymardos nickte nur. Er wußte selbst, daß der schmale Grat, auf dem er stand, bald brechen würde. Seine Hand tastete den Stein ab, suchte nach Halt. "Spring," flüsterte Tibra. "Der Baum trägt uns beide." Er wollte noch etwas sagen, doch seiner Kehle entrang sich nur noch ein Keuchen. Der Magier fühlte sich unendlich schwach. Es wurde ihm unmöglich, weiter nach oben zu sehen. Er ließ den Kopf sinken und nutze den Rest seiner Kraft, um gegen die erneute Ohnmacht anzukämpfen.
G
errys sprang noch im Ritt aus dem Sattel, als er Lorynir am Rand des Abgrunds kauern sah. Rasch erfaßte er die Situation. Er erblickte Tibra und er sah Nymardos, der sich nun ganz auf den in den Fels gekrallten Baum ausrichten sah. Der Falla verkrampfte sich innerlich, denn er wußte, was der Freund nun tun wollte, tun mußte.
Nymardos fixierte den Baum, legte seine ganze Kraft in den einen Fuß, der sicheren Stand hatte. Dann schnellte er nach vorne. Es geschah keinen Moment zu früh, denn im selben Augenblick löste sich der Stein, der ihn bisher hielt und stürzte hinab. Er stürzte mit dem ganzen Gewicht seines Körpers gegen den Stamm des Bäumchens, krallte sich mit einer Hand an einem dickeren Zweig fest und griff mit der anderen nach Tibras Wams, um den Magier zu halten, der durch die Erschütterung des Baumes ins Rutschen kam. Der Baum trug die nun doppelte Last ohne Knirschen und Knarren. Fest hielt er sich im Stein fest und nur leicht vibrierte der Stamm. Für den Moment waren die beiden Männer in der Felswand sicher. Nymardos setzte sich rittlings auf den Stamm, lehnte sich gegen den Fels und zog Tibra an sich. Der Blick des Magiers war glasig geworden und er konnte nicht mehr reden. In seiner rechten Schulter steckte ein Pfeil, der sich tief ins Fleisch bohrte und an dessen Eintrittsstelle unaufhörlich Blut nach außen drang. "Es wird weh tun," warnte er. Tibras Blick flackerte nur. Da griff Nymardos zu und zog mit einer einzigen, kräftigen Bewegung den Pfeil aus der Wunde. Das Blut floß schneller. "Ich muß die Sperre deines Geistes lösen," erklärte Nymardos. Er wartete aber auf kein Zeichen des Magiers, sondern tat, was er tun mußte. Seine Heilkraft war in den Reichen bekannt. Kleinere Wunden verschloß er durch die Kraft seines Geistes. Aber diese Wunde war tief. Nymardos legte mit sachter Berührung den Handballen auf die blutende Stelle.
Da war kein Druck dabei, nur ein Überfließen von Energie. Tibra schloß die Augen. Er verspürte ein angenehmes Gefühl um seine Wunde, wußte, daß der Blutfluß nachließ und versiegte. Und er fühlte sich sicher in den Armen Nymardos', der ihn kraftvoll hielt. Erst jetzt ließ seine Anspannung nach. Nymardos atmete unmerklich auf. Was die Wunde betraf, so war Tibra außer Gefahr. Er sah die Oberkante des Abgrundes nicht, versuchte auch nicht, den Blick dorthin zu wenden. Aber er spürte die Anwesenheit des Mannes, mit dem ihn eine tiefe, innere Einheit verband. "Schön, daß du da bist, Gerrys," rief er kraftvoll. Der Falla stieß hörbar den Atem aus. Er sah den gewagten Sprung des Freundes und einen Moment glaubte er nicht daran, daß Nymardos den Baum erreichen konnte. "Was ist mit Tibra?" wollte er wissen. "Er ist verwundet, aber bei Bewußtsein." "Der Baum trägt?" "Gewiß," erwiderte Nymardos, "aber er ist zu unbequem, um hier zu übernachten." Gerrys erhob sich aus der kauernden Stellung. Er ging den Steilhang entlang und suchte nach einer Möglichkeit, gefahrlos absteigen zu können. Vergebliches Bemühen, wie er bald feststellen mußte. Fragend richteten die Begleiter den Blick auf ihn. Sie alle erwarteten, daß er nun den rettenden Einfall habe. Auch Nymardos rechnete fest damit. Er wagte den Abstieg zu Tibra, obgleich er wußte, daß er aus eigener Kraft den
Weg danach nicht mehr erreichen konnte. Es gab einen relativ breiten Vorsprung, allerdings gut drei Meter versetzt zu dem kleinen Nadelbaum und auf halber Höhe zu ihm. Der Platz sah geradezu sicher aus. Nymardos und Tibra konnten ihn nicht erreichen und auch von oben gab es keine Möglichkeit, kletternd dorthin zu gelangen. Gerrys sah sich um. Ein starkes Seil könnte helfen, doch sie führten keines mit sich. "Parcylen, Lorynir, befahl er dann.
bringt mir die Zügel der Pferde,"
Die Lederriemen waren das einzige, mit dem er sich nun behelfen konnte. Sie waren fest genug, um das Gewicht eines Mannes zu tragen, aber auch aneinander geknüpft zu kurz, um bis zu den Freunden zu reichen. Fragend sah Gerrys seinen Gefährten an. "Was denkst du?" wollte er wissen. Parcylen griff nach dem gearbeiteten Seilersatzes.
Ende
des
aus Pferdezügeln
"Es trägt einen Mann," vermutete er, "aber niemals beide. Immerhin können wir damit den Pala des Than retten." Gerrys lächelte sacht. "Damit ist er kaum einverstanden," wußte er. "Ehe nicht Tibra in Sicherheit ist, kommt er nicht herauf. Laß mich bis zu diesem Vorsprung dort hinunter." "Nein, Herr," wehte Parcylen gelassen ab. "Das ist meine Sache, denke ich. Ihr dürft euch nicht unbedacht in Gefahr bringen."
"Du bist stärker als ich und kannst mich halten," meinte Gerrys aber. "Umgekehrt kann ich das nicht versprechen." Parcylen gab nach. Tatsächlich war sein Falla zwar kein Schwächling, doch gewiß auch nicht mit übergroßer Körperkraft ausgestattet. Zusammen mit Lorynir konnte er Gerrys sicher halten. Tatsächlich kam der Falla ohne Schwierigkeiten auf dem Vorsprung an. Die Gefährten ließen die Zügel zu ihm fallen. Gerrys befestigte das Leder an einem hervorstehenden Stein. Das kostete ein Stück der Länge, aber es bot sicheren Halt und das war jetzt wichtiger als alles andere. Er warf das andere Ende Nymardos zu, verzielte sich und mußte es noch einmal versuchen, ehe der Freund das Leder halten konnte. Wie es Gerrys vermutete, dachte Nymardos zunächst nur an die Sicherheit des Magiers. Als er das Leder um Tibras Leib schlingen wollte, wehrte der aber mit kraftloser Geste ab. "Gerrys kann mich nicht halten," flüsterte er mühsam. "Du mußt zu ihm, ihm helfen." "Das könnte ich," stellte Nymardos fest. "Aber schaffst du es danach, dich festzubinden und fallen zu lassen? Schaffst du das?" Bestätigend schloß Tibra kurz die Augen. Dann richtete sich sein Blick auf Nymardos. Für einen Moment wurde er sehr klar und bewußt. "Ich schaffe es," versprach er. Nymardos nickte nur dazu. Vorsichtig bettete er den Verletzten an die Felswand. Mit ruhiger Bewegung knüpfte er danach das Leder am Stamm des Baumes fest. Dann
sicherte er sich mit dem eigenen Gürtel, den er um das Leder wand. Ehe er sich aber der umsicheren Halt anvertraute, neigte er sich über den Magier. "Durchhalten, Freund," bat er eindringlich. Tibra reagierte kaum. Er fühlte sich unendlich schwach. Nymardos wußte, daß er nicht mehr lange durchhalten konnte. Also griff er nach dem Leder und beeilte sich. Stück für Stück zog er sich vorwärts. Das Lederband trug sein Gewicht, obwohl es sich bedrohlich dehnte. Nicht sehr lange danach erreichte er den Vorsprung. Gerrys zog ihn zu sich. Nymardos löste seinen Gürtel, richtete sich sofort auf Tibra aus. "Binde dich fest," rief er ihm zu. Tibra tastete kraftlos nach dem Knoten, zog etwas daran und ließ dann die Hand sinken. Durch das Gewicht Nymardos' hatte sich das Leder so festgezerrt, daß er es nicht zu lösen vermochte. "Nimm das Messer," riet Gerrys. "Mach schon, Tibra, oder ich komm rüber und hole dich." Der Magier bewegte sich unendlich langsam. Er nahm seinen Dolch in die Linke, aber da hielt er wieder inne. Er mußte das Band ja mit der Rechten festhalten, ehe er den Knoten löste. Und die Schulter schmerzte wieder. Jede Bewegung kostete ihn Kraft. Er schloß die Augen. Eigentlich wollte er nun viel lieber schlafen. Nymardos löste inzwischen die Zügel vom Stein, damit etwas Länge gewonnen wurde. Dann richtete er sich ganz auf Tibra aus. Gerrys spürte förmlich, wie Kraftströme von ihm ausgingen und den Freund umfingen. Tibra
griff nach dem Leder und zerschnitt den Knoten.
Danach lehnte er sich erschöpft gegen den Fels. Sein Atem ging stockend. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Und doch spürte er, wie Nymardos' Geist den Seinen umwehte. Der ohnmächtige Schmerz blieb, doch er verlor an Bedeutung. Wie unter fremden Einfluß legte er das Leder um seine Hüfte, schlang das Ende zum Knoten und prüfte sogar dessen Stabilität. Gerrys und Nymardos hielten das andere Ende fest. Tibras Gewicht würde ihre ganze Kraft erfordern. Aber der Magier löste sich nicht von dem Baum. Die Ohnmacht näherte sich ihm wieder. Nymardos konzentrierte sich. Gerrys sah es fast staunend. Der Freund berührte einen anderen Geist meist mühelos, fast leichthin. Aber nun ging es nicht darum, zu erkennen, was in dem andern vor sich ging. Nymardos senkte seinen eigenen Willen in Tibra, brachte ihn in der stummen Konzentration dazu, trotz aller Schmerzen und auch Todesangst den sicheren Halt aufzugeben. Tibra schob sich langsam vorwärts. Seine Rechte hing kraftlos nach unten. Mit der linken Hand umklammerte er das Leder. Wenn er sich nun fallen ließ, würden die Freunde ihn halten. Er wußte es. Aber er wußte auch, daß er zuerst fallen mußte und dann gegen den Fels geschleudert wurde. Er wußte, daß dies neuen Schmerz bedeutete, daß es gefährlich war. Sollte er mit dem Kopf gegen die Wand schlagen, mochte es sein Ende sein. Langsam hob er den Kopf. Er sah Nymardos an, nur ihn. Und dann ließ er sich fallen. Das Leder dehnte sich, doch es trug. Tibra fiel nach unten, schwang zur Seite, schlug mit der rechten Seite gegen den Fels. Die Schulterwunde riß auf, blutete mächtig. Tibra verlor das Bewußtsein, noch ehe er ein zweites Mal den Fels berührte. Gerrys und Nymardos zogen ihn zu sich auf den Vorsprung.
Es brauchte danach einige Versuche, bis es ihnen gelang, das Lederende nach oben zu werfen, wo es Parcylen greifen konnte. Der Priester befestige es am Sattel eines der Pferde und zog mit dessen Kraft Gerrys nach oben. Wenig später befand sich dann auch Tibra auf dem Weg und zuletzt kam Nymardos zu ihnen, der keinen beachtete und sich sofort um den Magier kümmerte.
A
ls Tibra zu sich kam, hatten die Freunde die Ebene schon erreicht. Sie lagerten am Ufer des Flusses, wo sie ihn ins fruchtbare Gras betteten und einem heilsamen Schlaf überließen. Gur befand sich nicht bei ihnen. Nymardos hatte ihn mit vielen Gesten und wenigen Worten losgeschickt, um das Gepäck des toten Pferdes am Fuße des Steilhanges zu holen. Er würde einige Zeit unterwegs sein, aber sicherlich wieder zu ihnen kommen. Lorynir hatte ein paar Fische geangelt, die sie nun am Feuer brieten. Er freute sich sichtlich darüber, Cyprina wieder in der Nähe zu wissen und plauderte ausgelassen mit ihr. Die Pferde grasten abseits und genossen die Rast. Tibra tastete nach seiner Schulter. Die Wunde schloß sich bereits und der Schmerz war kaum mehr zu spüren. Als er sich aufrichten wollte, kam Gerrys an seine Seite und drückte ihn sacht nieder. "Du brauchst noch etwas Ruhe," mahnte er. "Warte, ich hole dir etwas zu Essen und zu Trinken." Er stützte den Kopf des Freundes, als er den Wasserschlauch an seine Lippen setzte und er fütterte ihn gleich einem Kind. Tibra ließ es sich gefallen. Gesättigt legte er sich zurück. "Gerrys," sagte er dann leise, "ich bin sehr froh, daß du nicht nach Nodher gingst. Ich hatte Angst, daß unsere Freundschaft endet."
"Das kann sie nicht," versprach Gerrys, "nicht, solange wir es nicht beide wollen. Aber daß ich hier bin, verdankst du mehr der Fürsprache von Cyprina und Parcylen." Nymardos kam herbei und lagerte sich zu ihnen. Er zeigte Tibra den Pfeil, der seine Schulter durchbohrte. "Ein gewöhnlicher Jagdpfeil," stellte er dabei fest. "Jemand hat wohl etwas gegen unsere Reise." "Es weiß doch niemand in Thara davon," wunderte sich Gerrys. "Vermutlich doch," widersprach der Freund. "Als ich beim Statthalter in Molt unsere Beutel füllen ließ, sind wir wohl aufgefallen. Von nun an werden wir des Nachts eine Wache aufstellen und etwas vorsichtiger sein. In zwei Tagen haben wir den Tempel erreicht, dann dürfte die Gefahr vorüber sein." "Die Wunde heilt schon," murmelte Tibra. "Ich werde wohl reiten können." "Das kannst du gewiß," versprach Nymardos. "Dein Wille ist sehr stark, da ist es ein Leichtes, die Heilungsenergien deines Körpers auf eine Wunde zu lenken." "Mußte dazu die Sperre um meinen Geist gelöst werden?" Nymardos nickte nachdrücklich. "Ich kann sie erneut legen," versprach er. "Aber wenn du erlaubst, dann warte ich damit, bis der Tempel in Sicht kommt. Unter uns ist keiner, der deinen Geist anrühren wird." "Was findet ihr Priester überhaupt, wenn ihr das tut?"
"Bilder," erwiderte Erinnerung."
Gerrys
lächelnd,
"Bilder
frischer
"Nicht mehr?" zweifelte Tibra. "Nur bei tiefem Forschen ist mehr zu finden," erklärte Nymardos, "und das kann nicht jeder tun. Vor allem würdest du es bemerken. Und, was dich betrifft, müßte dies schon ein sehr starker Priester versuchen." Tibra grinste schief. "Gedanken sind Bilder," meinte er. "Meine Gedanken beherrsche ich durchaus. Bedeutet das, daß man nur findet, was ich will? Nur das, was ich denke?" "Genau das," gab Gerrys zu. "Aber seine Gedanken willentlich zu beherrschen, das ist nicht üblich." Der Magier sah ihn offenen Gemütes an. "Nicht üblich für Priester," wehrte er ab, "üblich aber durchaus für Magier. Versuch es." Gerrys hob überrascht den Kopf. "Das ist kein Spiel," lehnte er ab. "Ohne wichtigen Grund wird kein Priester versuchen, den Geist eines anderen zu berühren." "Versuch es trotzdem," lud ihn Tibra ein und er lächelte dabei. Der Falla zögerte noch, doch da der Freund seinem Blick nicht auswich, obwohl er wußte, daß eine solche Berührung nur über die Augen möglich war, gab er nach.
Er richtete sich auf Tibras Geist aus. Nymardos lächelte. Gerrys löste sich schon wieder von Tibra. Er griff nach dessen Hand und drückte sie fest. Im Geist des Freundes fand er bildhaft dessen Zuneigung und Liebe, die er für ihn empfand und deutlich ausgedrückt das echte Gefühl der Zuwendung.
D
as Leben in Minosantes Tempel nahm seinen gewohnten Verlauf. Talia und Jostur versahen ihr Amt und in all ihrem Tun wurden sie von der Priesterschaft respektiert. Sie waren nicht immer einer Meinung, zeigten jedoch nach außen keine Meinungsverschiedenheit. Es war Karyson, über den sie immer wieder heftig debattierten. Talia mochte den San des Tempels nicht. Er gab zwar keine Veranlassung, ihn zu tadeln. Er versah seine Aufgaben umfassend und genau, aber zugleich wich er ihr aus und verbarg nur mangelhaft, wie sehr ihm seine Falla mißfiel. Mit dieser Meinung stand er allerdings ziemlich allein. Die Menschen hier, Frauen wie Männer, schätzten die Falla. Seit Talia im Tempel weilte, hatte sich zwar vieles geändert, doch die Änderungen erleichterten das Zusammenleben und gaben den Tagen einen tieferen Sinn. Auch Jostur wurde geachtet. Man begegnete ihm mit Respekt und schätze seine Meinung. Aber es war nicht zu übersehen, daß Talia die eigentliche Herrin des Tempels war. Jostur wußte es und ließ es neidlos geschehen. Solange es nicht um Karyson ging, nahm er selbst gern ihren Rat an. Karyson mochte Jostur durchaus. Wie sein früherer Falla, so ließ ihm auch Jostur in allem freie Hand. Es war eigentlich sein Tempel, den er regierte. Karyson besaß hier wirkliche Macht und er wußte sie durchaus auch zu nutzen. Als ihm einer seiner Vertrauten von den Fremden in Molt berichtete, über die er durch einen Rapportbruder erfuhr,
gab er gelassen seine Befehle und als dieser Vertraute ihm dann erzählte, daß einer der Fremden seine Reise nicht mehr beenden würde, war er sehr zufrieden und nahm an, der Rest der Gruppe würde nun umkehren. Umsichtig sorgte er allerdings dafür, daß jene Menschen, die ihn näher kannten, den Fallas nicht begegneten. Auf diese Weise konnte er sicher sein, daß er nicht hinterfragt wurde.
E
inen Teil der Reise hatte Gur nun zu Fuß zurück gelegt, bis sie in einer Siedlung endlich ein Pferd erwerben konnten, das das tote Tier Tibras ersetzte. Sie kamen gut voran. Der Ritt durch die Ebene war geradezu angenehm und durch die Schönheit der Natur erfreulich. Das Tal mündete in einen schmalen Weg, der zwischen hohen Felsen hindurch führte. Am Ende dieses Pfades lag der Kessel, in den einst Minosantes Tempel gebaut wurde. Die Freunde übernachteten hier. Tibra erbat den Pfeil, der ihn verletzte. Er berührte ihn nicht, als Nymardos ihn in Händen hielt. Der Magier verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und betrachtete den Pfeil so eingehend, als führe er eine stumme Zwiesprache mit ihm. Nach geraumer Zeit erst streckte er die Hand aus und umfaßte das dünne Holz. Dann nickte er, als habe er gefunden, was er suchte. Früh am Morgen kleideten sich Nymardos und Gerrys dann priesterlich ein; auch Parcylen legte die Reisekleidung ab und sogar Lorynir streifte sich jetzt eine braune Tunika über. Der Tempel war in wenigen Stunden erreicht und dort wollten sie als Priester erscheinen. Während Gur die Pferde sattelte, erstickte Tibra das Feuer. "Ihr mögt die Götter nicht, Tibra?" wollte Cyprina von dem Magier wissen. "Wie kommst du auf diesen Gedanken?" wunderte er sich. "Minosante ist im Grunde der Gott der Magier. Er ist der
Gott der Kraft, der durch seine Kraft das Licht erstrebt." "Minosante hat Antares, die Göttin des Lichts, geraubt und eingesperrt," griff Lorynir die alte Legende auf. "Er hat das Licht gefangen, aber nicht beherrscht." Tibra lächelte. Diese Legende bildete die Grundlage der Götterwelt in den Reichen, Jedes Kind kannte sie. Als die Götter noch menschengleich die Nebelreiche belebten, da vermählte sich Tabalke, der Gott des Schweigens, mit Liara, der Göttin des Friedens und sie zeugten Kinder, deren Nachfahren heute die Reiche bevölkern. Minosante, der Gott der Kraft, aber liebte Antares, die Göttin des Lichts. Sie aber floh ihn, da er sie in seiner Gewalt zu ersticken drohte. Ihre Liebe galt Raaki, dem dunklen Gott, der sie zu sehr verehrte, um ihr zu nahen. In rasender Eifersucht griff Minosante Raaki an, überwältigte ihn und kerkerte ihn ein, verschloß die Grube seines Gefängnisses mit dem Tylt, einem einsam hohen Berg in Nodher. Saake, die zweigeschlechtliche (oder ungeschlechtliche) Gottheit der Weisheit versuchte, für Raaki zu sprechen. Denn Saake begehrte Minosante, um selbst kraftvoll zu sein. Der Gott der Kraft aber jagte nur Antares nach. Er stellte ihr eine Falle und nahm sie gefangen. Um Raaki noch mehr zu quälen, bezog er mit Antares ein Haus auf der Spitze des Tylt und das Weinen der Göttin drang durchs Erdreich hinab zu dem dunklen Gott. Raaki ertrug das Leiden Antares nicht länger und gab sich schließlich selbst den Tod, um so, befreit von äußerer Form, dem Tylt zu entweichen. Er umhüllte Antares und seither war das Licht nur noch über die Dunkelheit des Todesgottes zu gewinnen. "Niemand kann das wahre Licht beherrschen," gab Tibra zu. "Man kann es nur erstreben und das Streben allein ist schon sehr viel wert. Im Grunde ist es alles, was zählt." "Die Art, wie man es tut, ist ebenso wichtig," wehrte Lorynir ab. "Minosantes Art war falsch."
"Er ist ein Gott, kein Dämon," meinte Tibra grinsend. "So falsch kann sein Wirken also nicht sein und, ich denke, dem Licht es völlig gleichgültig, wie man es erreicht." "Aber Antares hat unter Minosante gelitten," wandte Cyprina ein. "Licht, Wahrheit, Erkenntnis - alles leidet, wenn der beschränkte menschliche Geist sich seiner bemächtigt," gab Tibra ruhig zu. "Es gibt kein Wachstum ohne Leiden. Wenn du den Schmerz und das Leid fürchtest, mußt du bleiben, was du bist. Sobald du ein Mehr erstrebst, gibst du auch deine Ruhe auf." "Vater ist nicht unruhig," wehrte sich das Mädchen. "Es gibt verschiedene Arten der Ruhe," erwiderte der Magier geduldig. "Wie dem auch sei, Minosante ist der Gott der Kraft und wahre Kraft bedeutet immer auch wahre Ruhe. Man muß lernen, das zu erreichen - aber das Lernen selbst bedeutet Unruhe." Nymardos trat lächelnd hinzu und schaute Lorynir vergnügt an. "Mein Chela könnte keinen besseren Lehrer haben," unterstrich er die Worte des Magiers. "Aber laßt uns reiten. Bis Minosantes Stunde beginnt, können wir den Tempel erreicht haben."
V
om Tempel her ertönte der tiefe Ton des großen Gonges, der zu Minosantes Ritual rief. Die zugelassene Priesterschaft unterbrach ihr Tagwerk und strebte dem Tempel zu. Durch den recht schmalen Felsdurchbruch ritten die Reisenden aus Nodher in die weite Senke. Im allgemeinen wurden Fremde im Tempel sofort von Priestern begrüßt, gastfreundlich, doch auch überwachend. Aber hier ritt ein
Falla und ein Priester des Lichts voran, zu große Vorsicht war nicht angebracht. Unbelästigt gelangten die Freunde bis zum inneren Tempeltor. "Du wirst hier warten müssen," wandte sich Nymardos im Absteigen an Tibra. "Während des Rituals..." "Ich weiß," unterbrach der Magier grinsend, "während der Rituale herrscht strenges Zutrittsverbot für meinesgleichen." "Du willst zum Ritual?" wunderte sich Gerrys ein wenig. "Wer wollte den Pala des Than hindern?" erwiderte Nymardos amüsiert. "Du kommst nicht mit?" Gerrys sah sich flüchtig um. "Nein," entschied er dann, "ich will versuchen, etwas über Rhagan zu erfahren." Tibra lehnte sich gegen das geöffnete Tempeltor. "Ich warte," entschied er. "Die Kraft des Rituals ist auch hier zu spüren." Zwei Priester kamen nun herbei, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Nymardos nickte Gerrys kurz zu und überließ es ihm, um Gastquartier zu ersuchen. Er selbst betrat den Tempel. Der Säulengang wand sich vier mal um den gewaltigen Tempelbau, ehe das Tor zu Minosantes Halle erreicht war. Es wurde eben von innen geschlossen; die Priesterschaft war versammelt. Die Menschen standen in der weiten Halle in Form eines geknickten Pfeiles. Nur die Knickstelle blieb noch unbesetzt, diese würde der Leiter des Rituals während des Höhe-
punkts der spürbaren Kraft betreten. Ihr gegenüber befand sich der Gong, der mehr als einen Meter im Durchmesser maß. Mit ihm wurde zum Ritual gerufen. Doch er diente auch als Vibrator der gerufenen Kraft und schwang mit dieser Energie während des Rituals. Wer ihm zu nahe stand, wurde von dieser Vibration durchaus erfaßt. Es konnte tödlich sein, so tödlich wie jede Energie, der man sich unvorbereitet näherte. Nymardos trat ein. Talia stand inmitten des Hallenrunds und wollte eben das Ritual beginnen, als ihr Blick auf ihn fiel. Ihre Augen leuchteten erfreut auf, als sie sich Nymardos zuwandte. "Der Pala des Than ist ein sehr gern gesehener Gast," grüßte sie ihn. "Wenn es euch gefällt, so erweist uns die Ehre und leitet ihr uns zu der Kraft unseres Gottes." Unzählige Augen richteten sich jetzt auf sie. Es war ungewöhnlich genug, einen nicht geladenen Priester so zu begrüßen. Ihm aber so offen und ohne jede Absprache die Leitung des Rituals anzubieten, das gehörte nicht zu den Sitten der Tempel. Nymardos lächelte sacht. Zugleich nahm er mit weit geöffnetem Geist die verschiedensten Eindrücke wahr, die sich ihm boten. Dann trat er zu Talia. Sie wußte nicht so recht, ob sie sich nun verneigen mußte und er ignorierte diese Unsicherheit, indem er sagte: "Die Ehre widerfährt mir, Falla. Ich danke." Da trat sie beiseite und überließ ihm die heilige Halle für diese Stunde. Nymardos sah Karyson an. Er kannte diesen Mann nicht, doch dies war der einzige Mensch im Raum, der seinen Geist bewußt abgeschirmt hielt und nicht bereit war, sich innerlich dem Geschehen zu öffnen. Er lächelte ihn an.
"Bruder," lud er ihn ein, "zeige du uns, wie Minosante zu stärken vermag." Diese Aufforderung zu Beginn eines Rituals war nicht ungewöhnlich. Im Grunde war sie sogar eine Auszeichnung für den, den sie traf. Karyson jedoch wußte, daß dieser fremde Priester des Lichts, als den Nymardos sich ja durch seine reinweiße Tunika ausweis, ihm ein hartes Los befahl. Er konnte sich nicht weigern, ohne Ansehen und Achtung zu verlieren. Langsam trat er vor den Gong. Es bedurfte keiner Aufforderung mehr. Die Menschen begannen, eine Folge von Tönen zu summen; keine Worte, nur Laute, nicht laut, eher getragen. Dann begann der Gong, langsam und sacht mit den Tönen mitzuschwingen, sein eigenes Summen steigernd. Er dröhnte nicht, doch seine Vibration griff auf die Menschen über, deren Lied sich ihm anpaßte und nun tiefer hallte. Karysons Körper schwang in dieser tiefen Vibration mit, die sich vom Gong auf ihn übertrug. Zu nahe stand er, als daß dies nicht bis in die letzte Faser seiner Muskeln wirken mußte. Es wurde zur Pein, zum unerträglichen Schmerz. Er hielt sich die Ohren mit beiden Händen zu, stürzte endlich auf die Knie und preßte die Stirn auf den Boden. Dort wand er sich, nun unfähig, dem Wirken des Gonges durch Bewegung zu entfliehen. Am Ende des Rituals trat Nymardos in den Knickpunkt des Pfeiles. Das Lied war längst verstummt, still wirkte es noch nach in den Menschen, die sich nicht erinnern konnten, dieses Ritual je so kraftvoll erlebt zu haben. Mit ruhiger Stimme entließ Nymardos dann die versammelte Priesterschaft: "Die Kraft sei mit euch. Seid stark genug, sie zielgerichtet zu lenken, denn törichtes Sinnen und verkehrtes Trachten öffnen ihr alle Kanäle, bis daß ihr zerrissen seid. Die Kraft sei
mit euch."
P
arcylen ließ es zu, daß sich Tempelhelfer der Pferde annahmen. Zusammen mit Lorynir und Cyprina bezog er ein Gasthaus. Sie waren alle froh, sich etwas ausruhen zu dürfen und von den Anstrengungen der Reise zu erholen. Gur blieb bei Tibra. Er kniete wenige Schritte entfernt des Magiers nieder und wartete, wie so oft, auf Befehle. Tibra achtete nun aber nicht auf ihn. Er achtete nicht einmal auf die Menschen des Tempels. Für ihn waren die Kraftströme, die während des Rituals gewoben wurden, durchaus spürbar und er stimmte sich mühelos auf sie ein und badete geradezu darin. Gerrys streifte inzwischen durch den näheren Tempelbereich. Wie überall, so war auch hier rings um den Tempel ein weiter, parkähnlicher Garten angelegt. Es war ein guter Ort, um Nachzudenken. Eine prachtvolle Mesa blühte an diesem Tag. Schon morgen würde die kindskopfgroße, in allen Farben schillernde Blüte ihre Blätter abwerfen. Gerrys verhielt den Schritt. Die Mesa gehörte seinem Gott. Er trat näher. In den Wurzeln des Strauches schob sich argwöhnisch die Onik-Viper etwas hervor. Gerrys ignorierte das giftigste Tier der Reiche. Solange er dem Strauch nicht schadete, würde die Viper ihn nicht angreifen. Das Farbenspiel der Blüte faszinierte ihn, wann immer er es sehen konnte. Ein hübscher Jüngling war bis auf wenige Schritte heran gekommen. Er beobachtete Gerrys mit unverhohlener Neugier, wagte sich aber wegen der Viper nicht näher heran. Der Falla hatte ihn längst bemerkt. Nach geraumer Zeit erst löste sich Gerrys von der Blüte. Er wandte sich dem Jüngling zu und lächelte ihn freundlich an. Afrinar erwiderte seinen Blick zunächst, dann schien er sich aber zu entsinnen. Hastig kreuzte er die Arme vor der
Brust und kniete nieder. "Verzeiht, Falla," bat er mit fester Stimme, "es war nicht meine Absicht, respektlos zu sein. Die Farbe eures Gewandes weist euch als Raakis Priester aus. Aber ich habe das Schimmern, mit dem es durchdrungen ist, nicht sofort beachtet und euren Rang dadurch nicht gesehen. Es tut mir leid." Gerrys trat zu ihm und hob ihn auf. "Mir scheint, als wenn Macht dich nicht sonderlich erschreckt," stellte er fest. "Wie heißt du, Junge, und wer leitet dich?" "Tossar erweist Name ist Afrinar."
mir
den
Dienst
des
Leiters.
Mein
"Woher kommst du?" "Ihr wißt, daß ich kein Tempelkind bin?" staunte der Jüngling. "Deine Art zu Reden verrät es," erwiderte Gerrys lächelnd. "Doch du mußt mir keine Auskunft geben." Er wollte weiter, aber Afrinar hielt ihn zurück: "Bitte, Herr, ich wollte nicht verschlossen erscheinen. Nur klingt es im Tempel schnell hochmütig, wenn ich sage, daß ich ein Erbe der Macht bin. Mein Vater ist der Lanas Estoryn, der über weites Land und viele Menschen herrscht." Estoryn! Gerrys kannte diesen Namen. Er wußte, daß Rhagan einst diesem Mann gehörte. Doch dies war in einer Zeit, in der Afrinar noch nicht geboren wurde.
"Zürnt ihr mir?" wollte der Jüngling wissen, da Gerrys schwieg. "Dazu habe ich keinen Grund," erwiderte der Falla freundlich. "Ich wollte dich mit meinen Fragen nicht bedrängen. Weißt du, wo meine Gefährten ihr Gasthaus haben?" "Ja, Herr. Ich führe euch." Und während Afrinar Gerrys durch den Garten leitete, sagte er nachdenklich: "Es war noch nie zuvor ein Falla aus Nodher hier." Gerrys verhielt den Schritt und sah ihn fragend an. "Seid ihr nicht Gerrys, Raakis Falla in Nodher?" "Das bin ich. Aber wer außer deinen Fallas sollte von mir erzählt haben." Afrinar senkte den Kopf, da er annahm, Gerrys verleugne Rhagan. "Ich suche einen treuen Gefährten, der nicht nach Hause kehrte. Weißt du, was Rhagan geschah?" "Er ist euer Gefährte?" "Er ist ein Freund," antwortete Gerrys mit ernster Stimme. "Ich bin in Sorge um ihn." "Rhagan hat mir viel von euch und eurem Tempel erzählt. Er war nicht glücklich hier, obwohl unser Falla ihn auch als Gefährten bezeichnet hat. In Raakis Tempel war er es wohl. Sie sagen, er sei nach Nodher gegangen." "Aber du glaubst es nicht," stellte Gerrys fest. "Er wäre nicht gegangen, ohne sich von mir zu verabschieden. Das glaube ich jedenfalls, Herr. Und er hätte Og mitgenommen. Er sagte, daß sein Geist erwacht, obwohl er sich nicht anders benimmt als andere Sklaven."
Gerrys lenkte seinen Schritt zum Tempel, da er das sichere Wissen vermittelt erhielt, daß Nymardos ihn dort erwartete. "Herr?" Der Falla wandte sich seinem Begleiter zu. "Ich werde im Tempel erwartet," erklärte er freundlich. "Ich wäre dir dankbar, wenn du später zu mir kommst, Afrinar." "Ihr seid Falla, ihr könnt mir befehlen," wunderte sich der Jüngling. Gerrys lächelte wehmütig. "Es sieht so aus, als wenn du der einzige Freund bist, den Rhagan hier fand." "Ich komme zu euch, sobald es geht," versprach Afrinar, leicht verwundert darüber, daß dies wohl so wichtig war.
D
ie Priesterschaft verließ mit langsamen Schritten die Halle Minosantes. Nymardos wartete nicht, bis sich die Halle leerte, wie es eigentlich üblich war, sondern wandte sich sofort Jostur zu. "Gib Befehl, das äußere Tempeltor zu schließen. Niemand darf den Tempelbereich jetzt verlassen," verlangte er mit befehlsgewohnter Stimme. "Eile damit und achte darauf, daß der Mann am Gong greifbar bleibt. Danach will ich dich in deinen Räumen sehen." Bis vor wenigen Wochen war Nymardos der mächtigste Mann der Reiche gewesen. Sein Wille war überall Gesetz und Jostur diente ihm viele Jahre hindurch ohne jeden Vorbehalt. Das wirkte noch nach, denn der Falla gehorchte ohne jedes
Zögern. Nymardos wartete mit Talia, bis sich die Halle leerte. Dann ließ er sich von ihr in Josturs Räume führen. Im Geist rief er den Freund. "Ich nehme an, euer Besuch ist nicht als Ehrung für diesen Tempel gedacht, Pala," sagte die Falla vorsichtig. Er stand am geöffneten Fenster und sah hinaus, wandte sich jetzt aber Talia zu. Sie kreuzte die Arme vor der Brust und kniete nun nieder. Nymardos lächelte. Da trat Jostur ein, sah Talia knien und begab sich neben sie. "Steh auf, Talia," lud Nymardos die Falla ein. "Ich sehe deinen Bereich der Arbeit wohl getan. Der Tempel und seine Frauen lieben dich." Sie erhob sich wirklich. "Amarra weiß sehr wohl, wie gut du dein Werk versiehst." Gerrys hatte inzwischen den Tempel betreten und Tibra schloß sich ihm ungefragt an. Beide traten sie nun in Josturs Räumen ein. Tibra grinste, als er Talia stehen, Jostur aber auf den Knien sah. Nymardos warf ihm einen warnenden Blick zu. Tibra nickte und schwieg. "Ich wundere mich sehr darüber," wandte sich Nymardos an Jostur, "daß der San des Tempels mit abgeschirmten Geist einem Ritual beiwohnt." "Er schirmte sich wohl erst bei eurem Eintreten ab, Herr," vermutete Jostur. "Ein Fremder macht oft argwöhnisch." "Du hast niemals seinen Geist berührt," begriff Nymardos da. "Du übergibst deine Macht einem Mann, den du nicht einmal zu erkennen versuchst?"
"Er war schon San, ehe ich kam," wehrte sich der Falla. "Weshalb sollte ich ihm mißtrauen?" "Vielleicht," schlug Nymardos ruhig vor, "weil der Than dir eine weise Falla zur Seite gab, deren Rat du mehr bedenken solltest." Tibra verstand sich nicht darauf, den Geist eines Menschen zu berühren. Aber er besaß eine hervorragende Beobachtungsund Kombinationsgabe. Diese wenigen Worte des Freundes entdeckten ihm fast umfassend, was Nymardos in der vergangenen Stunde erfuhr. Der Pala des Than hatte in Karyson einen Mann erkannt, der etwas verbergen wollte und ihn Minosantes Kraft ausgesetzt. Der Magier wußte durchaus, daß in einer solchen Stunde niemand seinen Geist weiter abgeschirmt halten konnte. Nymardos hatte Karyson gewiß berührt und durchschaut. Und er wußte auch, daß Talia diesen San nicht mochte und deshalb so manches Wortgefecht mit Jostur ausfocht. Nymardos bedeutete Jostur nun, sich zu erheben. Der Falla gehorchte. Erst jetzt sah er Tibra und er erschrak tatsächlich beim Anblick des Magiers. "Rhagan kehrte nach Nodher zurück," versprach er fast hastig. Tibra grinste böse. Gerrys schüttelte den Kopf. "Nein, Falla," sagte er leise. "Auch wenn ihr ihn übersehen habt, so daß man euch erzählen konnte, was man mochte andere Menschen in diesem Tempel sind Rhagan freundlicher begegnet und diese wissen, daß er niemals ohne Abschied gegangen wäre." "Wir hatten einen Zwist," gab Jostur verwirrt zu. "Er glaubte, mich belehren zu dürfen über die Art, wie ich meine Sklaven behandeln soll. Danach kam er nicht mehr zu
mir und lebte in einem Gasthaus. Als San Karyson mir sagte, daß er ging, war er schon Tage unterwegs." "Fragt sich nur, wie und wohin," brummte Tibra. "Ihr wart für ihn verantwortlich, Falla." "Aber nicht vor euch," fuhr Jostur den Magier an. "Ihr seid nicht Amarra." "Ich bin es; als Pala des Than bin ich auch Amarra," sagte Nymardos knapp. "Rufe diesen Karyson, Jostur." Wenig später lag der San des Tempels längs vor Nymardos auf dem Boden. Der Pala des Than forderte die völlige Unterwerfung und da sie ihm durchaus zustand, konnte sich Karyson nicht dagegen wehren. Das Erlebnis während des Rituals hatte er schon verwunden. Sein Geist war abgeschirmt und sein ganzes Wesen zeigte deutlich, daß er sich den Fremden nicht öffnen wollte. "Man kränkt den Pala des Than nicht durch abgeschirmten Geist," mahnte Jostur seinen San. Nymardos trat einen knappen Schritt auf Jostur zu und erlaubte ihm so, sich auf die Knie zu erheben. Karyson tat es mit gesenktem Haupt. Tibra sah Gerrys fragend an. Er wußte durchaus, daß Nymardos Karyson zwingen konnte, ihn anzusehen und daß er auch in der Lage war, notfalls gewaltsam in dessen abgeschirmten Geist einzudringen. Doch Nymardos wartete nur schweigend. "Es gibt Dinge, die du tun kannst," erklärte Gerrys dem Freund mit leiser Stimme, "und die du doch niemals tun willst. Der Schaden könnte zu groß sein."
Tibra nickte und verstand. Nymardos zögerte, weil er sich scheute, dem San des Tempels auf geistiger Ebene zu schaden. Das leuchtete Tibra durchaus ein. "Dann ist es wohl einfacher, seine Freunde zu rufen," vermutete er. "Die werden weniger verstockt sein." Keinem entging, wie sich Karyson nun anspannte. Tibras Idee schien sehr vielversprechend. "Tossar, Nurek, Tawilga, Sundras," nannte Jostur unaufgefordert die Namen, die ihm spontan einfielen. "Wen kennst du?" fragte Nymardos den Freund erstaunt, als dieser jetzt sehr überrascht aufsah. "Keinen," wehrte Gerrys ab. "Ich habe nur Tossars Chela gesprochen. Er..." Gerrys sprach nicht weiter. Noch war nicht klar, wie die Sache ausging und er wollte vor Karyson nicht über Afrinar sprechen. Es sah nicht so aus, als wenn dessen Nähe zu Rhagan allgemein bekannt wäre. Nymardos nickte Jostur aufmunternd zu. Der Falla sandte nach den Männern. Sie kamen nacheinander, knieten neben Karyson nieder und schirmten sich ab, da sie Gefahr spürten. Tibra tat, als ginge ihn das alles nichts an. Er beachtete die Männer nicht einmal, da er Nymardos nicht vorgreifen wollte. Als letzter trat Nurek ein und noch ehe dieser Priester an der Seite seiner Kameraden knien konnte, schnellte Tibras Hand plötzlich nach vorn und krallte sich in den Halsausschnitt von dessen Tunika. "Laßt ihn los," verlangte Jostur sofort mit befehlender Stimme.
Nurek umklammerte Tibras Handgelenk, konnte dessen Griff aber nicht lösen. Er war deutlich kleiner, schmaler und schwächer als Tibra. Er konnte dem Magier nichts entgegensetzen, hing angstvoll in seinem Griff und starrte ihn furchtsam an. "Was ist mit ihm?" fragte Nymardos sehr ruhig. "Ein kleiner Pfeil hat mir die Ausstrahlung des Mannes verraten, der ihn schnitzte," erwiderte Tibra mit bösem Grinsen. "Ich habe wahrlich keinen Grund, den Mann zu schonen." "Er ist Priester meines Tempels und mir unterstellt," fuhr Jostur den Magier an. "Laßt ihn los, ich befehle es." Tibra hielt Nurek weiter fest. Aber er wandte den Blick zu Minosantes Falla, als er spöttisch bemerkte: "Auch Rhagan war euch unterstellt. Das bedeutet wohl nicht viel, Falla. Ich sagte euch doch, daß ich kommen werde. Soll ich etwa annehmen, ihr habt den feigen Schützen auf mich gehetzt?" "Schützen? Was geschah auf eurer Reise?" Nymardos kannte die Zusammenhänge schon. Der angstvoll weit geöffnete Geist Nureks war leicht zu belauschen und auch der junge Tawilga gab die Abschirmung angesichts der spürbaren Bedrohung auf. Er legte dem Freund die Hand auf die Schulter und mahnte mit leichtem Druck: "Laß ihn los, Tibra. Der Tempel ist kein Ort der Rache." "Dann nehme ich ihn mit nach draußen," murrte der Magier. Nymardos lächelte sacht.
"Seymas sagte, daß er auf deiner Seite ist," meinte er nur. "Ich werde dich also nicht hindern." Jostur spannte sich an. Nymardos sprach vom Than und das, was er da sagte, wertete den Magier gewaltig auf. Wenn der Than wirklich so zu Tibra stand, mußte er freundlicher behandelt werden. Tibra stieß Nurek zu Boden. "Der Mann ist Priester, also soll Amarra richten," beschloß er. Der Pala des Than trat zum Fenster und sah hinaus. Er konnte den Garten sehen und darin spielende Kinder, deren Lachen zum Tempel wehte. Talia und Gerrys spannten sich an. Tibra trat zu den Männern auf den Knien. "Wenn einer von euch auch nur laut atmet, schneide ich ihm die Kehle durch," drohte er und seine Haltung bewies, daß er seine Worte durchaus ernst meinte. Nymardos suchte im Geist den fernen Freund und er tat dies ohne Vorkehrung zu seinem Schutz. Dabei konnte es durchaus gefährlich sein, wenn tiefe Versenkung abrupt unterbrochen und gestört wurde. "Rhagan ist nicht hier," ließ er den mächtigen Freund wissen und übermittelte ihm alles, was er hier in Thara erfuhr. "Tibra ist zornig," begriff Seymas. "Es ist ein gutes Zeichen, wenn er Nurek trotzdem mir überlassen will. Du bist noch immer stark genug, um den verräterischen Priestern die Weihen zu sperren, Nymardos. Handle so und laß ihnen danach das Kupfer anlegen, das sie so sehr verachten." "Einer von ihnen versieht den Dienst des Leiters." "Der
Chela
trägt
keine Verantwortung für den Lehrer;
dies gilt nur umgekehrt. Wenn sich niemand des Schülers annehmen will, soll er zu mir kommen. Willst du im Tempel verweilen?" "Ich bin hier, Tibra zu begleiten. Er wird nach Rhagan suchen wollen. Wenn du es erlaubst, gehe ich mit ihm." "Wenn ich's erlaube?" Seymas schien erheitert zu sein. "Mein Pala tut, was er will - das ist mein Dank für all die Jahre treuer Fürsorge, die du mir gegeben hast. Doch ehe du gehst, sage Talia, daß mir inzwischen beide Seiten gefallen. Sie wird es verstehen." "Der Tempel erhielt eine starke und kluge Herrin." "Nur sein Herr muß noch etwas lernen." Es war Nymardos, als würde sein junger Freund auf Amarra lachen. "Er wird ein Drittel seiner Sklaven verkaufen und ohne Erlaubnis keine Neuen erwerben. Wenn sie selten sind in seinem Tempel, werden sie ihm auch wertvoll sein und er wird lernen, auf sie zu achten." "Das wird schwer für ihn." "Macht nichts - am Ende gewinnt er dabei. Ich paß schon auf, daß der Tempel bestehen kann." "Daran zweifle ich nicht." "Die Götter sind mit dir, Nymardos. Und mit deinen Freunden." Die Verbindung erlosch sacht. Nymardos regte sich noch nicht. Er spürte, daß Tibra zwischen ihm und den Angeklagten stand und ihn zu schützen versuchte. Seit er den Magier aus der Felswand holte, war er ihm vertrauter, näher. Tibra duzte ihn nun meist und begegnete ihm mit viel größerer Offenheit als früher. Sein Schutz war ein wirklicher Freun-
desdienst, auch wenn Nymardos ihn nicht benötigte. Um Amarra zu erreichen, mußte er sich nicht tief versenken; zu vertraut, zu nahe stand ihm Seymas, als daß diese Verbindung völlige Konzentration erfordern würde. Er wandte sich Tibra zu. "Seymas freut sich, daß du Nurek ihm überläßt," sagte er. Der Magier lachte fröhlich. "Schön, wenn ich ihm auch mal etwas schenken kann. Allerdings ist das Geschenk nicht sehr viel wert, wie mir scheint. Was will der Than mit dem Burschen tun?" Nymardos sah Jostur an. Tibra begriff, daß das Urteil aus Amarra nicht sehr angenehm ausfiel. Er schob sich zur Tür und lehnte sich gegen das Holz. Gerrys trat neben ihn und gemeinsam bewachten sie den Ausgang. Nymardos trat zu Karyson. "Steh auf," verlangte er knapp. Der San gehorchte. Er wich Nymardos' Blick aus, doch als dieser mit festen Griff sein Haar packte, sah er ihn doch kurz an. Dieser kurze Blick genügte Nymardos, um den andern mit den Augen festzuhalten. Es ging ganz schnell. Wenige Augenblicke später ließ er den Mann schon wieder los. Gerrys stieß den Atem aus. "Hey, was macht er?" wollte Tibra wissen. "Er hat ihm die Weihen gesperrt," erwiderte der Freund mit leiser Stimme. "Karyson kann keine geistige Ebene mehr erreichen." "Wie meinst du das?"
"Gibt es das im Bereich der Magie nicht?" wunderte sich der Falla. "Es ist wie eine Sperre auf dem Weg. Wenn Karyson versuchen sollte, seinen Geist auf andere Ebenen einzustimmen, bedeutet das Schmerz. Er wird nicht dagegen ankommen." Tibra stieß einen leisen Pfiff aus. "Dasselbe, das er mal mit deinem Freund Orales gemacht hat, als der Amarra den Gehorsam entzog?" Gerrys nickte. "Ich hätte nie gedacht, daß der junge Seymas so hart reagieren kann." Nymardos wandte sich inzwischen Tossar zu, danach Sundras, Nurek und schließlich Tawilga. Fünf Priester, die Jahre ihres Leben darauf verwandten, sich die geistigen Ebenen zu erschließen, wurden in dieser Stunde von eben diesen Ebenen ausgesperrt. Das bedeutete zunächst weder Bedrohung noch Schmerz, es war kaum eine wirkliche Empfindung. "Bist du es zufrieden?" wollte Nymardos von Tibra wissen. "Ich sagte doch, daß Amarra richten soll," erwiderte der leichthin. "Da maße ich mir hinterher kein Urteil über den Richtspruch an. Mir hätte auch weniger genügt." "Was geschah hier?" wollte nun Talia wissen, die die Wahrheit ahnte, aber ihrer eigenen Ahnung mißtraute. "Amarra kennt euch nicht mehr," erklärte Nymardos den Männern, was geschah. "Die Weihen sind euch gesperrt; als Priester seid ihr nicht mehr anerkannt." "Wegen eines Sklaven?" rief Tawilga aus. "Bursche," drohte Tibra, noch immer gegen die Tür gelehnt, "da du kein Priester mehr bist, wird es mir noch leichter fallen, dir üble Worte über einen Freund zu vergelten. Rhagan
ist kein Sklave." "Er war es - und er gab sich als Priester aus," wehrte sich der junge Mann. "Oh, du hast dich mit ihm unterhalten," spottete Tibra. Dies tat Tawilga nie, was er nun mit mit gesenktem Haupt zu erkennen gab. "Der Falla nannte Rhagan seinen Gefährten," sagte Gerrys, der dies ja von Afrinar erfuhr. "Hättet ihr seinen Geist nicht abgeschirmt, würde er weniger aufgefallen sein," hielt Jostur Raakis Falla vor. Gerrys sah überrascht auf, schwieg aber, als er Nymardos' amüsiertes Lächeln sah. "Diese Abschirmung sollte nur dazu dienen, Rhagans Geheimnis solange zu bewahren, bis du selbst offen zu seiner Vergangenheit stehst," mahnte Nymardos gelassen. "Darin hast du wirklich gesäumt." "Die Wertlosigkeit, die ein Sklave in diesem Land niemals ablegen kann, hätte ihm nur Verachtung eingebracht," gab Jostur zu. "Nun, diese Wertlosigkeit ist in Amarras Augen ein großer Irrtum, Jostur, den du begreifen wirst. Dein Than befiehlt dir, ein Drittel deiner Sklaven zu verkaufen. Du wirst lernen, die anderen, die übrig bleiben, zu achten und für sie zu sorgen. Wird dein Tempel noch mehr beschnitten, kann er sich kaum erhalten." Nun stand Talia dem Falla bei, denn sie berichtete mit wenigen Worten, wie viel Jostur bereits an guten Änderungen für die Sklaven einführte.
"Ich rechte nicht mit Seymas," erwiderte ihr Nymardos, "und hinterfrage sein Urteil nicht. Jostur wird sich fügen. Dies betrifft aber nur die Männer. Alles, was deinen Bereich betrifft, also auch alle Sklavinnen, sind davon nicht betroffen." Talia nahm es staunend zur Kenntnis, schwieg aber dazu. Sie redeten nicht weiter über die Anweisung aus Amarra. Jostur hatte sie vernommen und würde sich daran halten, damit war es genug. "Diese fünf Männer hier," wandte sich Nymardos wieder an Jostur, "sie werden das Kupfer tragen und hier in Thara verkauft sein. Es gibt noch einen, den dasselbe Schicksal treffen wird. Sein Name ist Astur. Lasse ihn suchen, damit ich ihn sehen kann." "Nein!" Karyson schrie es entsetzt, während er aufsprang und sich zur Tür warf. Aber er kam nicht an Tibra vorbei, der ihm die Faust in die Magengegend rammte und ihn so zu Boden fällte, wo er röchelnd liegen blieb. Jostur ließ es auf keinen Kampf ankommen. Er rief nach einigen Priestern und gab seine Befehle. Karyson und seine Kameraden wurden rasch überwältigt und zur Vorsicht auch gebunden. Talia achtete kaum darauf. "Wir haben uns als nicht sehr gastfreundlich bisher erwiesen," wandte sie sich an Nymardos. "Erweist mir mit euren Freunden die Ehre, mit mir zu speisen, auch wenn es jetzt schon etwas spät dafür ist." Jostur blieb zurück. Es gab da einiges, über das er nachdenken mußte und es war ihm lieb, nun allein zu sein. Talia führte die Freunde in ihre eigenen Gemächer, wo sie reichlich auftischen ließ. Sklavinnen brachten Speisen und Getränke,
entfernten sich dann auf einen Wink hin. Nymardos sah den Wandteppich über dem Kamin, der noch immer seine verworrende Rückseite zeigte. Er lachte leise, ehe er hinzutrat und den Teppich wendete. "Was tut ihr, Pala?" wunderte sich Talia. "Es war kein Versehen, daß er diese Seite zeigte." "Unser Gebieter läßt dir sagen, daß ihm nun beide Seiten gefallen," erklärte Nymardos lächelnd. "Er sagte, du würdest das verstehen." Die Art, wie ihre Augen aufleuchteten und ihre Züge noch sanfter wurden, zeigte genau, wie sehr sie dieses Lob erfreute und wie genau sie diese Worte verstand.
Q
uenryn war im Grunde sehr zufrieden mit dem Verlauf der Dinge. Daß des Vaters Männer Rhagan zu einem Tempel bringen sollten und nicht er, das war eine Erleichterung für ihn. Er hatte ja nie mehr gewollt, als daß diesem Mann Gerechtigkeit widerfuhr. Es könnte alles in bester Ordnung sein, wenn es da nicht eine Kleinigkeit gäbe, die dem jungen Mann nicht aus dem Kopf gehen wollte. Estoryn hatte seine Befehle laut erteilt und Rhagan den Männern übergeben. Quenryn überlegte, weshalb der Vater dann am Morgen, bevor sie losritten, noch einige Zeit mit einem der Jäger allein sprach. Es war nur ein Gefühl, das Quenryn die Ruhe raubte, eine vage Ahnung der Gefahr. Mehr denn je vermißte er Afrinar. Mit dem Bruder könnte er darüber reden und der würde ihn wegen seiner Unruhe entweder verlachen oder dieses Gefühl sehr ernst nehmen. Rhagan mochte Afrinar. Nein, der Bruder würde nicht lachen. Quenryn faßte einen Entschluß. Er ließ sein Pferd satteln. "Ich reite aus," rief er Zargyn zu. "Es kann spät werden, bis ich wiederkomme." Dann schwang er Besitz des Vaters.
sich
in
den
Sattel
und verließ den
Er kannte die Berge und das weitere Umland. Mühelos fand er die Spur, die er suchte. Der Vorsprung der Jäger war groß. Es würde sicherlich lange dauern, bis er sie einzuho-
len vermochte. Quenryn war eben dabei, ein sicheres kleines Lager für die Nacht aufzuschlagen, als er das ferne Wiehern eines Pferdes hörte. Jetzt wußte er, daß er den Jägern näher war, als er annahm und er beschloß, noch in der Nacht zu ihnen zu gehen. Er würde sie dann einfach zum Tempel begleiten. Sie konnten es dem Sohn des Lanas nicht verwehren. Es war schon dunkel und nun wollte er doch bis zum Morgen warten. Da hörte er das leise Zerbrechen eines Zweiges. Quenryn ließ sein Pferd zurück, bewegte sich in den dichten Nebeln mit der Sicherheit einer Bergziege. Dann sah er den Jäger. Er nahm den Mann mehr als Schatten wahr, doch er erfaßte die Situation sofort und begriff, was geschehen sollte. "Hey, Leute, wo seid ihr," rief er in die Nebel hinein. Die Jäger erwachten fast Geröllhalde fluchte leise, Vorhaben auf und kam zu als habe er nichts gesehen.
augenblicklich. Der Mann in der gab aber für diese Nacht sein seinen Kameraden. Quenryn tat, Fröhlich rufend kam er ins Lager.
"Gut, daß ich euch endlich gefunden habe," grüßte er die Männer in arglosem Plauderton. "Wölfe sind in eine unserer Siedlungen eingefallen und haben ein Kind getötet. Vater braucht alle Jäger, um die Biester zu erlegen. Ihr sollt nach Hause kommen." "Und der Sklave?" "Der ist kein Problem. Ich bringe ihn zum Tempel. Ihr wißt ja, daß ich bei der Jagd keine große Hilfe bin. Habt ihr noch etwas Fleisch übrig?" Er setzte sich an das nur noch schwach glimmende Feuer,
aß ein wenig, plauderte und legte sich dann zum Schlafen nieder. Seine List hatte Erfolg. Die Jäger glaubten ihm jedes Wort. Wenn der Lanas sie zurück befahl, mußten sie gehorchen und weshalb sollte nicht der Erstgeborene des Lanas den Sklaven zum Tempel bringen. Rhagan war fest gebunden, es bestand keine Gefahr. Die Männer überließen Quenryn außer Rhagans Sklavenpapier auch einen Teil ihrer Vorräte, ehe sie am frühen Morgen den Rückweg begannen. Der junge Mann blieb zurück, schürte das Feuer und wartete, bis der Hufschlag der Pferde nicht mehr zu hören war. Dann erst ging er zu Rhagan. Er löste die Fessel und massierte die steifen Gelenke des Hünen. "Na, geht es wieder?" wollte er wissen. "Wie kommt ihr hierher, Herr? Ich hatte nicht erwartet, euch noch einmal zu sehen." "Ist es dir unangenehm?" "Natürlich nicht," wehrte Rhagan rasch ab. "Ich habe den Eindruck, als wenn ihr mir in der Nacht das Leben gerettet habt." "Nicht zum ersten Mal," grinste Quenryn. "Du mußt schon ein komischer Mann sein, daß jeder dir schaden will die Priester im Tempel, Zargyn, jetzt Vater." "Nicht jeder," berichtigte Rhagan lächelnd. "Ihr seid eine Ausnahme in Thara." "Aber ich bringe dich trotzdem zum Tempel, um zu erfahren, ob du die Wahrheit gesagt hast," warnte Quenryn.
"Wenn ihr zweifelt, warum löst ihr dann meine Fessel?" Quenryn zuckte nur mit den Schultern. "Komm essen," lud er den Hünen ein. "Eine gute Gelegenheit, denke ich, um mir nebenbei einmal deine ganze Geschichte zu erzählen." Quenryn hörte Rhagan danach schweigend zu. Es fiel ihm schwer, all das zu glauben, was der Hüne ihm erzählte. Den Anfang seiner Geschichte konnte der junge Mann mühelos nachvollziehen. Als Rhagan davon sprach, wie er mit Xanor auf Reisen ging und dort Raakis Falla begegnete, begriff Quenryn langsam die Bedeutung des erwachenden Geistes. Rhagan erzählte dem jungen Mann von seinen Jahren mit Attor, von seiner Begegnung mit dem Than Nymardos in Sion, wo er auch Nodhers Erben das erste Mal sah und Freundschaft mit dem Knaben schloß. Er erzählte von der Tempelweihe, der er in Sion beiwohnte, von seinen Jahren in Nodher. Er sprach von Shuny, seiner Gemahlin, die ihn dem Erben Sions vorzog. Er erzählte von seinen Kindern und dazwischen immer wieder von den Abenteuern, die er erlebte. Sie saßen lange beisammen. Es gab keinen Grund zur Eile. Die Jäger würden zwei Tage unterwegs sein, ehe sie Estoryn berichten konnten. Ihr Vorsprung war bis dahin so groß, daß sie niemand mehr einholen und aufhalten konnte. Rhagan sprach nun von Tibra und dann von seiner Reise nach Thara und allem, was ihm in Minosantes Tempel widerfuhr. Er erzählte auch von Afrinar und tat dies recht ausführlich. "Ich vermisse Afrinar sehr," gab Quenryn dabei zu."Ich kann mir kaum vorstellen, jahrelang ohne ihn leben zu müssen. Ich hoffe nur, die Priesterschaft, die er anstrebt, ist das alles auch wert."
"Das ist sie wohl," erwiderte Rhagan. "Die meisten Priester, die ich kennen gelernt habe, haben durch ihre Weihen sehr viel gewonnen. Euer Bruder wird diese Zeit nicht bedauern. Besucht ihn doch einfach einmal." Quenryn lachte vergnügt. "Das würde er nicht wollen. Außerdem weiß ich auch nicht, ob das erlaubt ist. Ich stelle mir die Zeit der Ausbildung sehr anstrengend vor. Afrinar hat sicher kaum Freizeit und noch weniger Vergnügen." "In Raakis Tempel bilde ich die jüngeren Leute in Kampfund auch Sportspielen aus," erklärte Rhagan. "Da sind manche Priesterschüler dabei. Sie lachen und scherzen. Manche sind gute Kämpfer, manche gute Sportler. Aber sie alle sind durch ihre Ausbildung nicht überanstrengt." "Mag sein," meinte Quenryn leichthin. "Ich habe für die Tempel interessiert und weiß nicht, was schieht. Niemand hat damit gerechnet, daß Afrinar ster werden will. Laß uns aufbrechen, Rhagan. nächsten Tagen werde ich vielleicht herausfinden, Teil deiner Geschichte der Wahrheit entspricht."
mich nie dort geje PrieIn den welcher
"An welchem Bereich zweifelt ihr?" "Ich weiß noch nicht. Aber was du alles erlebt haben willst, das paßt kaum in ein einzelnes Menschenleben. Und all die mächtigen Leute, die dich angeblich kennen und schätzen das ist schon etwas sehr übertrieben. Egal, es vertreibt die Zeit." Er lachte und sprang auf. Wenig später ritten sie nebeneinander. Bis zum Tempel war es noch weit. Es blieb Zeit genug für viele Erzählungen.
E
in vertrauter Ton rief in den Tempeln zum Ritual der Friedensgöttin Liara. Tibra erhob sich und da ihm nun auf eine Stunde der Tempel verboten war, gingen Gerrys und Nymardos mit ihm nach draußen. Vor dem Gasthaus, das ihren Gefährten zugewiesen war, lagerten sie beieinander im Gras. "Du hast wirklich Rhagans Geist abgeschirmt?" wollte Tibra von Gerrys wissen. "Warum hast du mir nichts davon gesagt?" "Er konnte dir nichts sagen," nahm Nymardos den Freund in Schutz. "Ich habe mir erlaubt, Rhagan so zu schützen." "Ich hoffe, er ist noch am Leben," murmelte der Magier düster. "Das ist er," versprach Nymardos mit sehr sicherer Stimme. "Diese Abschirmung nimmt ein ganz klein wenig Kraft in Anspruch. Es kostet mich keine Konzentration, aber ich würde es merken, wenn sie erlischt. Verstehst du? Solange Rhagan lebt, werde ich es wissen." "Das beruhigt mich ein wenig," gab Tibra zu. "Ich wüßte nur zu gern, was hier geschehen ist." "Das ist schnell erzählt. Rhagan bezog ein Gasthaus und wich den Menschen hier weitgehend aus. Jostur wies ihm keinen Dienst zu und zunächst hat ihn auch keiner beachtet. Als Karyson aber erfuhr, daß er einst Sklave Tharas gewesen ist, fühlte er sich beleidigt durch diese Täuschung. Er lockte mit seinen Gefährten Rhagan in eine Falle, ließ ihm das Kupfer anlegen und ihn aus dem Tempel bringen. Er hat sogar ein scheinbar gültiges Sklavenpapier ausgefüllt." "Und wohin hat er ihn verkauft?"
"Er gab ihn einem abgewiesenen Chela, der an diesem Tag den Tempel verließ, zum Geschenk." "Gut." Tibra nickte. "Dann müssen wir also erfahren, wer dieser Chela ist und wo er wohnt. Ist das schwierig?" "Sicher nicht," versprach Gerrys, der sich aber jetzt nicht mehr auf das Gespräch konzentrierte. Afrinar befand sich in der Nähe. Da er den Falla nicht allein vorfand, hielt er sich wartend abseits. Ungerufen konnte er nicht zu einem so mächtigen Mann gehen. Erst, als Gerrys ihn herbeiwinkte, kam er gelaufen. Er beachtete weder Nymardos noch Tibra. Seine Augen schimmerten feucht, als er sich vor Gerrys auf die Knie warf, nach dessen Händen griff und sie an seine Lippen zog. Gerrys hielt ihn fest. "Was ist mit dir, Afrinar? Weshalb so verzweifelt?" "Herr," stammelte der junge Mann, "sie haben Tossar weggebracht. Sie haben ihm das Kupfer angelegt. Weshalb denn?" "Der Than befahl es so," erwiderte der Falla sanft. "Dein Leiter gehörte zu denen, die Rhagan zu Unrecht versklavten. Er war im Auftrag Amarras hier." "Ja, früher verbot daß er
ich weiß," murmelte der Chela. "Ich weiß auch, daß er ein Sklave gewesen ist. Tossar mochte ihn nicht. Er mir, mit ihm zu reden. Aber ich kann nicht glauben, das getan haben soll. Ich, ich habe ihm vertraut."
Gerrys preßte die Lippen zusammen. Der Schmerz und die Enttäuschung des Jünglings bewegten ihn. Das unbedingte Vertrauen zwischen Chela und Leiter war eine Grundvoraussetzung für die Weihen. Afrinar war sehr verletzt und er würde sich so leicht keinem Menschen mehr ganz und rück-
haltlos anvertrauen können. "Ein Chela geht, wohin sein Leiter geht," stammelte Afrinar. "Wohin wird Tossar gegeben werden?" Nymardos neigte sich leicht nach vorne und legte dem Jüngling in beruhigender Geste die Hand auf den Unterarm. Afrinar zuckte förmlich zusammen und warf sich zurück. Er wollte aufspringen und davon laufen, aber da war Tibra schon bei ihm und hielt ihn an beiden Schultern fest. "Sei ruhig, Junge," mahnte er. "Der Pala des Than wird dich nicht bedrängen. Du hast keinen Anteil am Schicksal deines Leiters, der nie wieder diesen Dienst versehen wird." Afrinar wand sich unter dem Griff, wurde aber dann doch ruhiger und als sein Zittern verebbte, ließ Tibra ihn los. "So habe ich keinen Lehrer mehr," begriff er, dabei nur Gerrys ansehend. "Tossar leitet dich nicht weiter," bestätigte Gerrys. "Aber jeder andere Priester wird dies wohl gerne tun." "Es ist für dich gesorgt," versprach Nymardos. "Findest du hier keinen Leiter, so wird Amarra selbst sich deiner annehmen." Überrascht sah Gerrys den Freund an. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber es gefiel ihm sehr, daß Seymas für den Jungen sorgen wollte. "Nein," wehrte Afrinar mit leiser Stimme ab, "ich suche nicht mehr nach den Weihen. Ich werde nach Hause gehen." "Was man anfängt, sollte man beenden," warf Tibra ein. "Du bist kaum in der Verfassung, jetzt eine Entscheidung zu
fällen." Afrinar sah dem Magier jetzt das erste Mal in die Augen und in diesem Moment begriff Tibra, daß der Jüngling seinen Entschluß nicht aus der Enttäuschung heraus fällte. Tibra wandte sich an Nymardos: "Kann er dann später den Tempel wieder aufsuchen?" "Schwerlich," gab Nymardos zu. "Wer eine Leitung abbricht, findet kaum einen weiteren Lehrer." "Auch dann nicht, wenn du dich für ihn verbürgst?" wollte der Magier unverblümt wissen. Afrinar hatte sich erhoben. Er ging nun beiseite, aber es war keine Flucht mehr. Gerrys sah ihm betrübt nach. "Du magst den Jungen," stellte Tibra fest. "Er war wohl der einzige, der sich etwas um Rhagan gekümmert hat," gab Gerrys zu. "Aber das ist nicht der einzige Grund. Afrinar ist im Moment sehr verletzt und braucht Hilfe." Er sah den Freund etwas verlegen an. "Ich werde wohl nicht gehen, ehe sein Weg nicht wieder klar vor ihm liegt." Tibra grinste. "So kenne und liebe ich dich," meinte er leichthin. "Aber Afrinars Schicksal wird sich nicht hier entscheiden." Er erhob sich und folgte dem Priesterschüler. Nymardos hielt Gerrys zurück, der sich dem Freund anschließen wollte. "Tibra versetzt mich immer wieder durch seine Beobachtungsgabe in Erstaunen," gab er zu. "Laß ihn nur, es wird gut sein für Afrinar."
Der Magier holte den Priesterschüler auf dem Weg zu einem der größeren Häuser ein und hielt sich neben ihn. "Der Pala des Than wird nicht für mich sprechen," vermutete Afrinar, der nun sehr gefaßt wirkte. "Aber weshalb habt ihr ihn darum gebeten, Herr?" "Rhagan ist mein Freund," erwiderte Tibra ruhig. "Und du bist ihm freundlich gesonnen. Genügt das nicht?" "Ich habe Rhagan nicht helfen können," gab Afrinar zu. "Ich wußte auch nicht, was mit ihm geschah. Sagt mir bitte, wer ihr seid. Rhagan erzählte mir von einem Magier." "Der bin ich. Hast du geglaubt, daß Rhagan nach Nodher geht?" "Nein, Herr, denn dann hätte er sich bestimmt verabschiedet und vermutlich auch Og mitgenommen. Aber ich durfte keine Fragen stellen. Ein Chela muß gehorchen." "Zeige mir, wo Rhagan gewohnt hat," bat Tibra. Afrinar führte ihn zu dem Gasthaus, wo sich Tibra eingehend umsah. Sie unterhielten sich dabei. Tibra brachte den Jüngling mühelos dazu, alles zu erzählen, das er über Rhagan wußte. "Und was wurde aus dem Sklaven?" wollte er wissen, als Afrinar eingehender von Og sprach. "Ich weiß es nicht genau," gab Afrinar zu. "Ich glaube, er ist wieder zum Hausbau eingeteilt. Wollt ihr ihn sehen, Herr?" Tibra nickte nur. Sie suchten einige Arbeitsgruppen auf und wurden schließlich an eine Stelle nahe der Felswände verwiesen, wo Sklaven einen Lagerschuppen errichteten. Im Näherkommen deutete Afrinar auf einen der Arbeiter. Tibra blieb
stehen und betrachtete den Mann. "Rhagan sagte, sein Geist erwacht," erinnerte Afrinar, "aber es sieht nicht so aus, nicht wahr?" "Wird man ihn uns überlassen?" überlegte Tibra laut. Afrinar, dem die Stunden mit dem Magier seine Ruhe wiedergaben, lachte leise und fröhlich. "Aber Herr, ihr seid der Gefährte des Pala des Than. Niemand wird euch etwas verweigern. Und das Opalsiegel, das ihr tragt, ist doch Amarras Zeichen, daß man euch alles überlassen muß." Tibra grinste. Dieser Anhänger besaß wohl eine weit größere Bedeutung, als er bisher wußte. Sie gingen näher. Die Sklaven achteten nicht auf sie. Og zog einen der langen Baumstämme herbei und hielt erst inne, als ihm Tibra den Weg vertrat. Durch ein Handzeichen gab Tibra dem Sklaven zu verstehen, daß er ihm folgen solle. Danach wandte er sich um und ging mit Afrinar über die blühenden Wiesen. Og folgte ihnen mit wenig Abstand. "Wo wohnst du eigentlich?" wollte Tibra unvermittelt wissen. "Ein Chela leistet dem Lehrer Leibdienst," erwiderte der Jüngling und versuchte, seiner Stimme keinen belehrenden Klang zu verleihen. "Ich habe im Haus meines Leiters gelebt." "Zeig es mir." Da Afrinar zögerte, fügte er hinzu: "Tossar hat keine Rechte mehr und also steht sein Haus leer. Hast du ihn gemocht?" Der Jüngling führte den Magier nun. "Er ist ein guter Lehrer gewesen," gab er dabei zu.
"Wir verstanden uns gut. Ich hatte nie den Eindruck, als wenn er mich mißchten würde. Ich, ich denke, ich vermisse ihn." "Das ist gut," lobte Tibra. "Aber du kannst nichts für ihn tun. Ein Priester sollte die Freiheit eines Menschen achten können. Das sollte jeder Mensch tun." "Sklaven sind nicht frei." "Aber Rhagan war es," betonte Tibra ruhig. "Er hatte seine Vergangenheit fast vergessen." "Er hätte nicht wieder nach Thara kommen sollen," murmelte Afrinar leise. "Das war nicht seine Entscheidung," erwiderte der Magier. "Es hatte aber sein Gutes," vermutete Afrinar. "Alle wissen, was mit Karyson, Tossar und den anderen geschehen ist. Sie sehen die Sklaven anders an. Ich glaube, die Priester begreifen, daß Amarra auch das Leben der Sklaven schützt." "Dann hätte es sich wenigstens gelohnt," brummte Tibra. "Jetzt muß ich Rhagan nur noch finden." "Und dann?" "Dann nehme ich ihn mit nach Hause, was sonst?" "Das habe ich nicht gemeint. Was wird aus denen, die ihn jetzt besitzen, Herr? Tibra lächelte den Jüngling an. "Der Bursche, der ihn mitnahm, muß schon einen sehr guten Fürsprecher haben, wenn er vor mir sicher sein will," versprach er. "Er hat ja gewußt, daß Rhagan als freier Mann
in den Tempel kam und sich somit an dem Komplott beteiligt." Betreten sah Afrinar beiseite, als er mit schuldbewußter Stimme gestand: "Es ist Zargyn, mein Vetter. Er ist der einzige Mann, der an diesem Tag den Tempel verlassen hat. Er hat ein Gespräch zwischen dem Falla und Rhagan belauscht und dadurch erfahren, daß Rhagan ein Sklave war." Er sah auf. "Bitte glaubt mir, Herr. Ich habe nicht gewußt, was danach geschah. Aber deshalb muß ich nach Hause, denn als Sklave in meines Vaters Haus wird Rhagan sehr leiden. Ich gebe euch mein Wort, daß ich Rhagan zu euch bringen werde." Sie hatten Tossars Haus fast erreicht. Tibra blieb stehen. Er sah den Jüngling eindringlich an. "Dein Wort genügt mir nicht," gab er mit freundlicher Stimme zu. "Ich werde gewiß nicht hier warten, sondern Rhagan selbst holen. Was dann aus Zargyn und deiner Familie wird, nun, das werde ich Rhagan überlassen." Afrinar schluckte trocken. Das Schicksal seines Lehrers und des Sans war grausam hart. Er konnte kaum erwarten, seine Familie würde geschont sein. Er fürchtete um sie, vornehmlich um den Vater und den Bruder. "Darf ich mitkommen?" bat er mit flehender Stimme. "Ich werde euch nicht behindern oder aufhalten. Ich führe euch, Herr, ich verspreche es. Ich will nur das Recht, mit Rhagan zu reden, damit ich ihn um Gnade für meine Familie bitten kann." "Das ist dir wichtiger als deine Priesterschaft?" Afrinar senkte den Kopf.
"Ich könnte den Göttern nicht begegnen, wenn ich weiß, daß ich meine Familie im Stich ließ," sagte er leise. "Das kann ich verstehen," gab Tibra zu. "Trotzdem ist der Weg des Geistes immer wichtiger als alles andere. Wenn du Priester werden willst, darf nichts anderes zählen." "Ihr wollt, daß ich hierbleibe? Ihr seid doch gar kein Priester," wunderte sich Afrinar. Tibra lachte leise auf. "Du wirst es dir selbst nie verzeihen, wenn du deinen Weg jetzt aufgibst," versicherte er. "Rhagan ist ein großmütiger Mensch. Ich lasse ihn wissen, was du tun wolltest. So, und nun suchst du dir einen anderen Leiter. In Ordnung?" "Ich könnte Smaryn fragen," überlegte Afrinar. "Aber ich bin nicht sicher, ob ich mich ihm anvertrauen will. Die Priester hier sind manchmal sehr hart. Herr, muß ich wirklich bleiben?" "Zeig mir diesen Smaryn," wich Tibra einer direkten Antwort aus. Afrinar deutete auf eine Gruppe von Männern, die entfernt miteinander sprachen. Smaryn gehörte zu Tossars Freunden und war ein durchaus starker Priester. Der Jüngling erzählte von so mancher Begegnung, die er mit ihm hatte. "Na, dann frag ihn," riet Tibra. Afrinar seufzte leise, aber er gab nach. Langsam näherte er sich den Männern. Tibra folgte ihm in kurzem Abstand. "Warte," hielt der Magier dann den Jüngling zurück. "Wer ist das dort drüben?"
Er deutete auf einen abseits knienden jungen Mann, der die Männer beobachtete. "Er ist Chela des Priesters in dem roten Gewand," erklärte Afrinar. "Ich sagte euch doch, daß ein Chela Leibdienst leistet." "Und so auf Befehle wartet?" "Ja, gewiß. Das ist nicht unüblich." Tibra schob grübelnd die Unterlippe nach vorne und zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Diese Art der Leitung kannte er nicht. Die Priesterschüler in Gerrys' Tempel dienten ihren Leitern zwar auch, aber so ein sinnloses Abwarten hatte er dort nie gesehen. Wenn die Lehrer die Schüler nicht brauchten, waren diese aus ihrer Nähe entlassen und konnten sich ihren Neigungen oder auch ihren priesterlichen Übungen widmen. Afrinar wartete. Aber da Tibra sich nicht rührte, ging er nun weiter, um Smaryn anzusprechen. Der Magier sprang zu ihm, legte ihm einfach den Arm um die Schultern und führte ihn weg. "Es eilt ja nicht," meinte er leichthin, "Smaryn ist morgen auch noch da. Die Nebel sinken, du solltest dich jetzt erst einmal ausruhen. Wirst du mir den Weg zu deines Vaters Haus auf unserer Karte markieren?" "Natürlich, Herr," versprach Afrinar leicht verwundert, "das will ich gern tun." "Gut, dann komme ich morgen zu dir," versprach der Magier. Er nickte Afrinar kurz zu und ließ den verunsicherten jungen Mann allein.
V
on Parylen erfuhr Tibra wenig später, daß Nymardos und Gerrys ein eigenes Gasthaus erhielten und dort suchte er die Freunde auf. Og folgte ihm fast geräuschlos. Gerrys warf einen finsteren Blick auf den Sklaven. "Genügt dir Gur nicht mehr?" brummte er mißmutig. Tibra lachte leise. "Das ist Og," erklärte er und bedeutete dem Sklaven, ihm von dem bereit stehenden Krug einzuschenken, "wenn du genau hinsiehst, wirst du bemerken, daß er mit Gur nicht vergleichbar ist. Er reagiert, wenn auch kaum merklich." "Und wo ist Afrinar?" wollte Nymardos lächelnd wissen. Tibra erzählte mit wenigen Worten, wie er die letzten Stunden verbrachte und wohin Rhagan verschleppt wurde. Offen sah er Nymardos an. "Er ist bereit, Smaryn um Leitung zu bitten, aber, verzeih, dieser Priester ist ein eingebildeter, herablassender Kerl. Afrinar hat bessere Leitung verdient." Er warf einen bezeichnenden Seitenblick auf Gerrys. "Viel bessere," fügte er hinzu. "Ich würde ihn gern mitnehmen auf der Suche nach Rhagan." "Und was hindert dich, meine Freund?" "Ich will seinen Weg nicht erschweren," gab Tibra zu. "Wirst du ihm hinterher helfen, einen guten Leiter zu finden?" Aus den Augenwinkeln Gerrys, als er erwiderte:
sah
nun
auch
Nymardos
zu
"Denkst du wirklich, daß er meine Fürsprache brauchen wird?"
Tibra lachte heiter auf. Er wußte, daß sie beide denselben Gedanken hegten und das gab ihm die Sicherheit, daß Afrinar seinen Weg gehen konnte. Sie verbrachten einen fröhlichen Abend miteinander. Og bediente sie, als sei er Leibdienst gewohnt. Sie erkannten darin, daß Rhagan den Sklaven viel lehrte. Tibra beobachtete Og in derselben Weise, wie er es auch bei Gur tat und Gerrys ließ es etwas widerwillig geschehen. Nebenbei stellte der Magier viele Fragen über die Gepflogenheiten dieses Tempels und ließ sich von den Freunden belehren. Tibra begriff rasch, daß er hier nie leben wollte. Minosante mochte der Gott der Magier sein, sein Tempel jedenfalls gefiel Tibra ganz und gar nicht.
A
ls sich die Nebel hoben und Tibra erwachte, fand er Nymardos' Lager leer. Auf sein Fragen hin erklärte ihm Gerrys, daß der Freund im Tempel sei, wo er noch so manches zu regeln gedachte. Auch war der Priester Astur gefunden, dem die Weihen gesperrt werden mußten, ehe er versklavt wurde. Sie nahmen gemeinsam das Frühmahl ein. Tibra fiel auf, daß es nun Gerrys war, der Og beobachtete. "Wehe, du rührst seinen Geist an," warnte der Magier leise. "Was willst du mit ihm tun?" "Nur zusehen, wie er erwacht," versprach Tibra fröhlich. "Ich denke, dabei kann ich viel lernen. Vielleicht manches, das danach Gur helfen könnte." "Du willst ihm helfen?" wunderte sich der Falla. Tibra lachte vergnügt. "Ich trage die Verantwortung für ihn," meinte er leichthin. "Karmisch gesehen muß ich es zumindest versuchen." "Wenn du an Karma denkst, dann mußt du sein Menschsein bejahen," begriff Gerrys verblüfft. "Wie kannst du ihn dann wie einen Gegenstand behandeln?"
"Hier behandeln die Leiter ihre Chelas fast so," grinste Tibra. "Dachtest du wirklich, ich habe mich so verändert?" "Ich habe es befürchtet," gab Gerrys zu. "Aber ich habe mich wohl geirrt. Das läßt mich leichter akzeptieren, daß Afrinar sich dir unterordnet." "Ich sagte zwar, daß ich den Jungen mitnehmen will," wehrte Tibra heiter ab, "aber das heißt nicht, daß ich seinen Dienst will. Ich kann mit einem Priesterschüler nichts anfangen, Gerrys. Er kennt lediglich den Weg, den wir gehen wollen und kann uns führen. Ansonsten aber ist es mir lieb, wenn du dich seiner annimmst. Du magst ihn und er schätzt dich. Da bietet sich das wohl an, nicht wahr?" "Da ist etwas, das du noch nicht wissen kannst," gab Gerrys nun zu und dann erzählte er Tibra, wer Afrinars Vater war und welche Rolle er in Rhagans Leben spielte. Tibra stieß einen leisen Pfiff aus. Das wußte nicht einmal der Priesterschüler selbst und es würde ihm wohl nicht gefallen. Der Magier beschloß, Afrinar nun zu holen. Als er Tossars Haus betrat, fand er Afrinar vor Smaryn kniend. Der Priester hatte die Hand auf die Schulter des Jungen gelegt und mahnte eben: "Wenn du dich nicht unter Leitung begibst, mußt du den Tempel verlassen." Tibra lachte leise und lehnte sich gegen die Tür. "Ich dachte immer, daß der Chela den Leiter wählt und nicht umgekehrt," meinte er vergnügt. "Es ist seine Wahl," erwiderte Smaryn unwillig. "Was mischt ihr euch ein? Afrinar ist ein Erbe der Macht. Da muß man ihm helfen."
"Er ist Priesterschüler, nichts weiter, jedenfalls nicht hier," wehrte der Magier ab. "Nur, wenn er sich unter keinen besseren als mich."
Leitung
begibt.
Er
findet
Tibra lachte schallend. Irritiert sah Afrinar ihn an, während er sich nun langsam erhob. "Einen besseren als euch findet er allemal und überall," behauptete Tibra grinsend. "Der Than selbst übernimmt die Verantwortung für ihn, wenn er es will." "Amarra ruft ihn?" "Amarra läd ihn ein," berichtigte der Magier. "Und auch der Pala des Than wird ihm, wo nötig, beistehen." "Ihr habt mit ihm gesprochen, Herr?" hoffte Afrinar. "Natürlich, er ist mein Freund. Wenn begleiten willst, dann packe dein Bündel."
du mich also
Afrinar, eben noch sehr angespannt, zeigte unverhohlen seine Freude. Rasch packte er zusammen, was er für die Reise benötigte. Smaryn verließ mißmutig das Haus. Es hätte ihm durchaus gefallen, einen Erben der Macht zu leiten und damit auch Einfluß auf ihn zu haben. "Ich bin fertig," versprach der Jüngling wenig später. "Kaum," wehrte Tibra ab. "Hast du keine andere Kleidung?" Afrinar trug noch immer die braune Tunika der Priesterschüler. "Ich dachte," entschuldigte Chela bleiben kann."
er
sich
verwirrt, "daß ich
Tibra lachte. "Raakis Falla und der Pala des Than reiten jedenfalls in Reisekleidung," versprach er. "Zieh dich um." Afrinar gehorchte. Er sagte es nicht, aber er fühlte sich in der engen Reitkleidung überaus wohl und war recht froh, so reiten zu dürfen. Tibra führte ihn mit sich, stellte ihn Cyprina, Lorynir und Parcylen vor und zeigte ihm auch Gur. Afrinar besaß sein eigenes Pferd im Tempel. Es war ein ungewöhnlich edles Tier, wie Tibra neidlos anerkannte. Für Og wurde ein Pferd aus dem Besitz des Tempels genommen. Nymardos befand sich noch im Tempel, aber das äußere Tempeltor war geöffnet und das Leben nahm seinen gewohnten Verlauf. Gur und Og befestigten das Gepäck hinter den Sätteln und Parylen kontrollierte ihre Arbeit. Gerrys und Tibra tauschten einen raschen Blick, als sie sahen, wie sich Gur ohne jede Anweisung nach Og ausrichtete und sich ihm in allem still anpaßte. Afrinar richtete sich, wenn auch auf ganz andere Art, nach Gerrys aus. Er versuchte, unaufdringlich zu sein, aber er reagierte sehr schnell, wenn der Falla einen Wunsch äußerte. Tibra trat zu Parcylen. "Ich hoffe, ihr seid weniger töricht als Lorynir und vor allem weniger eifersüchtig, wenn euer Falla jetzt einen anderen Diener findet," meinte er grinsend. "Ich diene meinem Falla, wie er es will," erwiderte Parcylen gleichmütig. "Zu Leibdienst bin ich ohnehin nicht verpflichtet." Sie sahen eine Gruppe von Reitern. Der Tempel verlor keine Zeit, sondern schaffte die verurteilten und versklavten Priester rasch aus seinem Bereich. Gebunden wurden
Karyson und seine Gefährtem den äußeren Tempeltor zugeführt. Afrinar starrte ihnen still nach. Gerrys griff nach seiner Hand und drückte sie kurz. "Ich weiß, daß dich Tossars Schicksal belastet," sagte er leise. "Aber das Urteil ist gerecht." "Es ist hart, Herr," murmelte Afrinar. "Trotz allem war Tossar einer der besten Männer dieses Tempels." "Das will ich nicht hoffen," erwiderte der Falla. "Dann müßte Amarra die gesamte Priesterschaft austauschen. Es spricht aber für Tossar, wenn er freundlich zu dir war." "Es hilft ihm jedoch nicht," begriff Afrinar traurig. "Soll ich ihn kaufen?" Es war Tibra, der sich mit diesem Angebot in das Gespräch einmischte. Afrinar fuhr herum und starrte ihn an, nicht sicher, ob der Magier nun scherzte. Tibra blieb gelassen und beantwortete diese ungestellte Frage nicht. "Amarra hat entschieden," murmelte der Jüngling da und damit war das Thema für ihn, zumindest nach außen, erledigt. Nymardos kam nun endlich zu ihnen, so daß sie aufbrechen konnten. Er schwang sich wortlos in den Sattel und ritt an. Die andern folgten ihm. Jostur stand im inneren Tempeltor und sah den Besuchern nach. Im Grunde war froh, daß sie seinen Tempel verließen. In den vergangenen Jahren gehörte die Nähe Nymardos' zu den Stunden, die er sehr schätzte und als man Seymas zum Than erkannte, da war er alles andere als glücklich darüber gewesen. Aber nun freute er sich über die Abreise seines einstigen Herrn, der ihm eben noch in deutlichen Worten zu verstehen gegeben hatte, wie wenig gut er
sein Werk versah. Der Tadel traf ihn tief, vor allem, da er berechtigt war. Er würde wohl einiges ändern müssen und wollte künftig etwas mehr auf Talia hören.
S
ie brauchten nun keine Karte, denn Afrinar kannte den Weg genau und führte sie sicher durch Thara. Er kannte auch die eßbaren Pflanzen des Landes und sorgte mit diesem Wissen für einen schmackhaften und sehr abwechslungsreichen Speiseplan. Gerrys, dessen Interesse ohnehin den Pflanzen galt, lernte viel von ihm und in diesem Lernen kamen sie einander rasch näher. Schon nach zwei Tagen gab es keine Scheu mehr zwischen dem mächtigen Falla und Afrinar. Es war nur natürlich, daß Gerrys dann auch nach der Ausbildung fragte, die der Jüngling im Tempel erhielt. Jetzt begriff er, daß Tossar den Jungen wohl wirklich mochte und ihn sanft und sicher anleitete auf dem für ihn fremden Weg. Er erzählte Afrinar von Variationen der gelernten Übungen und sah bald, wie der Jüngling diese versuchte. Gur hielt sich weiterhin in allem an Og. Die beiden Sklaven sprachen nicht miteinander, verständigten sich aber durch Handzeichen und schienen sich so besser als durch ungewohnte Worte zu verstehen. Gur wirkte nun nicht mehr so leblos wie früher und sogar Cyprina verlor ihre Scheu vor ihm und hörte auf, ihm in allem auszuweichen und ihn ja nicht anzusehen. Da sich Gerrys so intensiv um Afrinar kümmerte, hielt sich Nymardos nun weitgehend an Tibras Seite auf. Der Magier freute sich darüber. Wenn es ihm auch nicht möglich war, mit Gerrys über alle Belange seines Weges offen zu reden, so kannte er diese Scheu vor Nymardos doch nicht. Das war auf seltsame Weise auch nicht nötig, denn Nymardos schien alles zu wissen, was einen Magier bewegen konnte. Afrinar
hatte
die Reisegruppe zu einer kleinen Quelle
geführt, die abseits des Pfades zwischen dem Fels heraussprudelte. Der Tag war sehr heiß gewesen und sie genossen es alle, sich hier den Schweiß vom Körper waschen zu können und dieses ungemein kalte Wasser zu trinken. Lorynir, Parcylen und Cyprina suchten nach eßbaren Knollen, deren Blattwerk ihnen Afrinar zeigte. Nymardos und Tibra stiegen in der rauhen Felswand weiter hinauf, um den Ausblick über Thara zu genießen. Auf einem breiten Vorsprung standen sie beieinander, unterhielten sich fröhlich und dabei legte Nymardos den Arm um Tibras Seite und hielt ihn so nahe bei sich. Gerrys sah es mit Erstaunen. Tibra mochte die körperliche Nähe eines Freundes nicht sonderlich. Er war zwar keineswegs so abweisend, wie sich Caryll stets zeigte, doch bei aller aufrechten Zuneigung war er doch alles andere als ein zärtlicher Mensch. Nymardos wußte das natürlich, ignorierte es nur in dieser Stunde und Tibra schien es sichtlich zu genießen. Gerrys empfand tiefe Freude, da es nun keine trennende Ferne mehr zwischen seinen engsten Freunden gab. "Der Ausblick von hier aus ist berauschend," bekannte Tibra fast schwärmend. "Wir hätten Erynia doch mitnehmen sollen." "Wer weiß, ob dann Nymardos lächelnd.
wir
beide
hier stünden," meinte
"Vermutlich nicht," gab Tibra unumwunden zu, "ich würde Erynias Nähe durchaus vorziehen. Aber," so fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, "es wäre wohl ein Verlust für mich, wenn ich in dir immer noch nur den Herrn sehen würde." Nymardos löste sich von ihm.
"Sag es mir, wenn ich etwas tue, das dieses Zustand wieder rufen will," bat er. "Ich ziehe deine ungehemmte Nähe vor." Tibra lachte leise und ergriff Nymardos' Hände. "Hey," sagte er fast zärtlich, "es schreckt mich nicht, daß du dich mit Gerrys vereinst. Ich fühle mich auch nicht vergewaltigt, wenn du den Arm um mich legst." Er hob in einer flüchtigen Geste Nymardos' Hände an seine Lippen. "Ich liebe dich, Nymardos, und ich werde darauf achten, daß unsere Freundschaft nicht gefährdet werden kann." Sie stiegen wieder hinab, da der Duft der inzwischen gebratenen Knollen den Magen reizte. Es war ein schmackhaftes Mahl, das die Gefährten gemeinsam einnahmen. Die andern schliefen schon längst. Nur Gerrys saß noch mit Tibra am glimmenden Feuer. "Ich freue mich sehr," sagte er leise, "daß du endlich keine Scheu mehr vor Nymardos empfindest." "Ich mochte ihn schon bei unserer ersten Begegnung," erwiderte Tibra. "Ich wußte nur nicht, wie wichtig ihm Nähe ist." "Er war der mächtigste Mann der Reiche. Grenzenlose Macht schafft wohl immer Mauern. Es haben ihm nicht viele Menschen bisher Nähe erlaubt." "Ich weiß," gab Tibra zu. "Er hat mir von Caryll erzählt, der ihm wohl sehr viel bedeutet. Sie haben sich in all den Jahren wohl nie umarmt." "Bestimmt nicht," wußte Gerrys. "Außer mir war ihm wohl bisher nur Seymas nahe."
Tibra stocherte in der Glut. Er sah Gerrys nicht an, als er mit sehr leiser Stimme entdeckte, was er seit langem ahnte: "Und Masira." Tatsächlich erschrak Gerrys bei diesen beiden Worten. Tibra wandte den Kopf und sah den Freund lächelnd an. "Keine Sorge," versprach er, "ich rede nicht darüber. Und es fällt wohl auch keinem andern auf." Gerrys sagte nichts dazu. Manchmal war selbst ihm Tibra unheimlich, der mit sicherem Gespür die Geheimnisse der Menschen erahnen konnte. Irgendwann in den vergangenen Wochen hatte er es wohl erspürt. Tatsächlich war Cyprina Nymardos' Tochter, die er in Liebe mit Masira zeugte. Als Masira bei einem geistigen Kampf mit einer vernichtenden Kraft ums Leben kam, war dies zur Zeit ihrer Niederkunft gewesen. Gerrys hatte die noch ungeborene Tochter aus dem Leib der Toten geholt und als sein Kind anerkannt. Nymardos fürchtete, man würde die Tochter des Than in unsinnigen Ansprüchen haltlos überfordern. Es war ihnen nur natürlich erschienen, daß er als der vertrauteste Freund des Than dessen Tochter als seine eigene anerkannte. Sie sprachen nie darüber. Gerrys zweifelte nicht daran, daß Nymardos auch Tibra dieses Geheimnis nicht entdeckte. Er war nicht nach Nodher gekommen, um Cyprina nahe zu sein. Da Gerrys schwieg, erhob sich Tibra und legte sich auf dichtem Moospolster zum Schlafen nieder. Der Falla wachte noch lange. Aber irgendwann kam er zu dem Magier, küßte ihn auf die Wange und legte sich neben ihn. "Hätte ich es dir sagen sollen?" wollte er flüsternd wissen. "Nein," versprach Tibra. "Vermutlich hätte nicht einmal ich sagen sollen, daß ich es weiß." Er griff nach Gerrys Hand und hielt sie fest. "Schlafe jetzt," mahnte er, "es ist alles in
Ordnung."
N
ymardos, der sehr wenig Schlaf brauchte, erwachte sehr früh am Tag. Obwohl er sich geräuschlos bewegte, störte er doch den Schlummer der Sklaven. Er gab ihnen ein Zeichen, noch ein wenig zu ruhen. Er entfernte sich etwas vom Lager und genoß die kühle Morgenluft. Die tief wallenden Nebel erlaubten keine weite Sicht, sie hüllten das Land wie in Schleier. Ein Strauch mit leuchtend roten Beeren in Überfülle lockte zum Naschen. Als er nach ihnen griff und die Zweige auseinanderbog, fand er hinter dem Gebüsch den Eingang zu einer kleinen Höhle. Das Licht seines Lebenden Kristalles erleuchtete das Innere des Berges. Die Höhle war sehr klein, aber ein einzelner Reisende hätte darin sicheren Schutz gefunden. Der Boden war durch verwittertes Gestein und abgestorbene Holzreste angenehm weich. Nymardos trat nicht ein. Er sah die Reste einer Feuerstelle und an deren Rand in den Boden gezogene Furchen. Das waren einfache Linien, an manchen Stellen mit kleinen Steinchen markiert. Als er sich umwandte, um wieder auf den Weg zu gehen, sah er am Stamm des Busches, der Höhle zugekehrt, die Rinde eingeschnitzt. Das Zeichen stellte einen Kreis dar, in dessen Mitte sich eine v-förmige Linie mit nach oben gewandter Spitze befand und dieser gegenüber eine kleine Wellenform. Nymardos fuhr nachdenklich über die Rinde. Er kannte dieses Zeichen nicht, aber es wirkte seltsam bedrohlich auf ihn. Nymardos kehrte zum Lager zurück und als die Sklaven wieder sofort reagierten, gab er ihnen mit einer Handbewegung zu verstehen, daß sie das Frühmahl bereiten sollten. Er setzte sich zu Gerrys und Tibra, der im Schlaf noch die Hand des Freundes hielt. Still lockte er im Geist den Falla. Gerrys spürte sein Warten, erwachte und da er sich nun bewegte, schlug auch Tibra die Augen auf.
"Ihr beide seht aus wie ein Liebespaar," Nymardos lächelnd. "Wollt ihr aufstehen?"
grüßte
"Nein," brummte Tibra, sich ausstreckend, "aber ausschlafen kann man ohnehin nur in seinem eigenen Bett." Er rollte sich beiseite und stand auf. Das kalte Quellwasser, mit dem er sich reinigte, wusch jeden Gedanken an Schlaf ab. Während er sich den Bart schabte, sah er zu, wie Afrinar Gerrys jeden Leibdienst leistete. Er grinste. Das tat ein Priesterschüler seinem Lehrer oder auch ein Priester seinem Falla. Es sah ganz so aus, als wenn der Jüngling seinen künftigen Leiter nicht in Thara finden würde. Beim Frühmahl erzählte Nymardos dann von der Höhlung im Berg und dem Zeichen in der Rinde. Tibra wurde sehr neugierig und bat darum, ihm die Stelle zu zeigen. Wenig später besah er sich das Zeichen. "Kennst du es?" wollte Nymardos wissen, nachdem der Magier jetzt sehr ernst geworden war. "Maleeb-Schule," erwiderte Tibra. "Ein sehr alter, magischer Zirkel, der seine eigenen Rituale besitzt. Beim jährlichen Treffen auf Silsa sind immer zwei oder drei Leute dieser Richtung dabei. Mit diesem Zeichen geben sich die Anhänger der Maleeb-Schule untereinander zu erkennen. Das Unendliche ist der Kreis, die Kraft das V - die unendliche Kraft öffnet sich dem, der das rechte Opfer bringt. Die kleine Linie symbolisiert das Opfer." "Menschenopfer?" "Es ist kaum möglich, durch Tieropfer große Kräfte zu rufen," erwiderte Tibra. "Natürlich sind es Menschenopfer, Nymardos. Ein Ritual nach Maleeb kann aber nur zu bestimmten Zeiten, etwa sechs oder sieben Mal im Jahr, ausgeführt werden. Das Opfer muß frei, jung und möglichst
mit starkem Geist sein. Das Geschlecht spielt dabei keine Rolle." "Du kennst dich darin erstaunlich gut aus," wunderte sich Gerrys. "Kennst du nur deinen Tempel? Wenn man anfängt, seinen Weg zu suchen, betrachtet man alle Möglichkeiten und ich muß zugeben, daß ich vor vielen Jahren durchaus mit dem Gedanken gespielt habe, mich der Maleeb-Schule anzuschließen. Aber um aufgenommen zu werden, muß man drei Bürgen aus dem Zirkel vorweisen können. Die hatte ich nicht." Er grinste. "Heute wären sie froh, wenn ich zu ihnen käme." Gerrys schaute den Freund zweifelnd an, doch er begriff, daß der trotz seiner gelassenen Heiterkeit nicht scherzte. "Du kannst murmelte er.
Menschenopfer
unmöglich
gut
heißen,"
Tibra sah kurz zum Pfad. Den Begleitern war die Sache schon langweilig geworden und sie hatten sich zum Lagerplatz begeben. Er war mit Nymardos und Gerrys allein. "Jeder Pfad fordert Opfer," gab er dann leise zu. "Vor vielen Jahren, als ich anfing, habe ich ein junges Mädchen gekannt. Sie vertraute mir blind." Sein Blick fraß sich in den fernen Nebeln fest. "Das erste Miska, das ein Magier erschafft, ist eine sehr komplizierte Sache. Es gehören das Vertrauen des Opfers dazu, Drogen und gewisse Rituale. Das erste Mal ist sehr schwer. Aber darin erkennt man die Kräfte, um die es geht. Dachtest du, ich hätte Thyrian so halbtot, wie er war, ohne Erfahrung auf dem Gebiet in Miska wandeln und dadurch retten können?" "Bei allen Göttern," entfuhr es Gerrys bestürzt, "das hast du getan? Jetzt verstehe ich, weshalb es dir so wichtig
ist, das Wesen von Miska zu erforschen. Diese Schuld muß dich schwer belasten." "Magie kennt keine Schuld," wehrte Tibra lächelnd ab. "Aber es würde mir durchaus gefallen, wenn ich die Sache von damals noch in diesem Leben ausgleichen könnte. Vor allem, wenn Miska umkehrbar ist, dann werden jene Magier, die es aus Eigennutz schaffen, um billige Arbeitskräfte zu haben, damit aufhören müssen." "Keine Schuld?" Gerrys wunderte sich über diese Worte. "Dann sind auch Menschenopfer für dich keine Schuld?" "Das kommt darauf an, wer opfert und wie und wozu," schränkte Tibra ein. "Es ist müßig, darüber nachzudenken. Ich gehörte keiner Schule an und werde mich auch keiner anschließen, weil es heute für mich Begrenzung bedeuten würde." "Aber du würdest ein solches Opfer doch verhindern, wenn du es könntest?" drängte Gerrys bestürzt. "Das weiß ich nicht," gab Tibra unumwunden zu. "Große Kräfte faszinieren immer. Aber denke nicht darüber nach, Gerrys. Du wirst bestimmt keinen Maleeb-Anhängern begegnen. Sie treffen sich an geheimen Orten für ihr Ritual und dulden keine Zeugen." "Geheime Orte," überlegte Nymardos laut. "Dann ist das vielleicht eine Wegbeschreibung." Er leuchtete mit seinem Kristall die Höhlung aus. Tibra stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Dann trat er ein und betrachtete die Furchen auf dem Boden sehr eingehend. "Gib mir die Karte," bat er dann Nymardos. Er verglich die Karte mit den Furchen und es dauerte nicht
lange, bis er sich zurecht fand. Er lachte leise, als er seinen Dolch zog und die Furchen im Boden etwas veränderte. "Ich hatte ihnen schon immer gesagt, daß sie einander ihre Treffpunkte auf andere Art mitteilen sollten," grinste er. "Machen wir uns auf den Weg."
A
n diesem Tag wich Gerrys dem Magier bewußt aus. Das, was er am Morgen hörte, war für ihn zu unfaßbar und er mußte eingehend darüber nachdenken. Nymardos verhielt sich wie stets. "Du wußtest es, nicht wahr?" wollte Tibra bei einer kurzen Rast wissen. "Seit unserer ersten Begegnung," gab der zu. "Ich habe in Khyon deinen Geist zwar nicht belauscht, aber zu intensives Denken kann mir nicht verborgen sein. Gerrys wird es ertragen." "Hoffentlich," erwiderte Tibra trocken. Aber auch am Abend, als sie ihr Lager aufschlugen, blieb Gerrys noch verschlossen. Da lud Nymardos den Falla zu einem Spaziergang ein und als sie allein waren, sprach er mit ihm über Tibra. "Du mußt nicht für ihn eintreten," wehrte Gerrys jedoch ab. "Ich liebe ihn, aber im Moment habe ich Schwierigkeiten damit, seinen Weg zu bejahen. Ich brauche ein wenig Zeit. Daß er selbst Menschenopfer akzeptiert, das gefällt mir wirklich nicht." "Er bringt zumindest keine Opfer dar," wußte Nymardos genau. "Daß er andere magische Richtungen nicht verurteilt, mag dich befremden. Aber es sollte dich versöhnen können, daß er stets mit seiner Kraft dafür eintritt, den Menschen zu
helfen." "Es wäre mir lieber, wenn er kein Magier wäre," gab Gerrys zu. "Nun," meinte Nymardos lächelnd, "und für ihn wäre manches einfacher, wenn du kein Priester wärst." Gerrys lachte leise. Es leuchtete ihm ein, daß Tibra ähnliche Schwierigkeiten mit seinem Weg haben mußte. Als sie sehr spät zum Lager zurück kehrten, schlief Tibra bereits. Gerrys beschloß, am andern Tag mit dem Freund zu reden, doch da ergab es sich, daß sich Afrinar dem Magier anschloß und die beiden der Gruppe voraus ritten. Sie schienen sich sehr gut zu unterhalten, denn man hörte ihr fröhliches Lachen und sah sie im angeregten Gespräch. Lorynir, der sich als Priesterschüler Afrinar nahe fühlte, kam zu ihnen und sie ritten zu dritt auf dem hier breiten Pfad nebeneinander. Nymardos gefiel dies sehr, aber Gerrys beobachtete es mit Argwohn. Er fürchtete fast schon, Tibra könne den jungen Männern falsche Gedanken einimpfen. Nymardos tadelte ihn liebevoll für diese fast unbewußte Überlegung. Das brachte den Falla zur Besinnung. Es gab ja wirklich nichts, das er Tibra im Handeln vorwerfen konnte. Daß der Freund ihm Bereiche seines Denkens öffnete, die er bisher an ihm nicht kannte, befremdete ihn, aber dadurch war Tibra kein anderer Mann als die Tage zuvor. Gerrys trieb sein Pferd an, ritt nach vorne und als er sich neben Tibra zwängte, blieben die beiden Priesterschüler etwas zurück. "Ich will mich bei dir entschuldigen," bekannte Gerrys freimütig. "Mein Verhalten muß dich gekränkt haben. Das tut
mir leid." Tibra warf ihm einen offenen, freundlichen Blick zu. "Ich bin nicht verletzt," versprach er. "Es ist natürlich, wenn du nicht alles akzeptieren kannst, das mein Denken bestimmt. Es geht mir mit dir nicht anders." Er lachte leise. "Ich finde auch nicht alles gut, was ihr Priester so treibt. Wir suchen beide die Freiheit des Geistes, aber wir tun es eben auf sehr verschiedene Weise. Ich mag dich trotzdem." "Nun," erwiderte Gerrys, "seit wir in Thara sind, habe ich dir wohl oft nicht ein Eindruck vermittelt, als würde ich voll zu dir stehen." "Tust du ja auch nicht," stellte Tibra lakonisch fest. "Was Gur betrifft..." "Schon erledigt, Gerrys. Ich habe schon eingesehen, daß ich über die Sklaven nicht dahin komme, wohin ich kommen will. Sie werden mir nichts über Miska entdecken können. Ich bedauere das, kann es aber nicht ändern." "So wirst du Gur und Og verkaufen?" "Og gehört mir nicht," wehrte Tibra ab. "Laß mich noch ein wenig über die zwei nachdenken. Ich werde sie bestimmt nicht mit nach Nodher nehmen und damit müßtest du doch zufrieden sein." "Es geht nicht nur um Gur. Was du über die Maleeb-Schule sagtest, hat mich sehr befremdet." "Weil du es nicht kennt," vermutete Tibra. "Könntest du Raaki nur über ein gewaltiges Opfer begegnen, würdest du es eher nachvollziehen können."
"Ich würde diesen Preis nie akzeptieren." "Und Raaki nie begegnen?" Tibra zweifelte lächelnd. "Du wirst es nie erfahren, da das eine andere Art der Kraft ist. Aber falls es dich beruhigt: bis auf das Miska, das ich schuf, habe ich niemals ein Menschenleben geopfert. Ich denke jedoch, ich habe ein paar davon bewahren können." "Dessen bin ich mir sicher," versprach Gerrys. "Vielleicht müßten wir beide nur mehr reden über unsere Wege." "Das hilft nichts," wehrte der Magier ab. "Du kannst mir von deinem Gott erzählen, was du willst, er wird für mich unfaßbar bleiben. Und umgekehrt wirst du niemals die Kräfte verstehen, die mir wichtig sind. Kraft muß erlebt werden, man kann sie nicht erzählen." "Das trifft wohl zu," gab Gerrys nach. "Aber das macht es auch schwierig." "Nur solange, wie du diese Kräfte nicht als verwandt erkennen willst." Tibra lachte. "Der Berggeist, den ich für dich in Khyon beschwor, ich denke, er ist Raakis Kraft durchaus verwandt." Gerrys lächelte bei der Erinnerung. Er hatte jene Kraft nicht wie Tibra erfassen können, aber doch die Anwesenheit einer Hoheit erspürt, die ihn bewegte. Der Vergleich gefiel ihm. Vor allem half er dem Falla, das Denken des Freundes als weniger fremd einzustufen. Nun war es ihm leicht, alles Trennende zu überwinden und keinem Gedanken mehr zu erlauben, ihre Freundschaft in Frage zu stellen.
M
aleeb war ein Magier, der vor über zweihundert Jahren in Sion geboren wurde. Er lebte einige Jahre in Wyla und ließ sich später in Sarai nieder. Es gab manche Legende, die sich um diesen Mann rankte. So hieß es, daß wilde Tiere in seiner Gegenwart zahm wurden, Frauen nur durch seinen Blick empfingen, die stärksten Krieger ihn nicht bezwingen konnten und daß ihm die Elemente selbst gehorchten. Er wurde im Alter von vierzig Jahren heimtückisch ermordet, ohne daß der Täter je bekannt wurde. Doch bis dahin hatte er bereits eine große Schar von Anhängern um sich gesammelt, die seine Lehre weitergaben und eine magische Schule gründeten. Da die Anhänger dieser Schule Menschenopfer darbrachten, wurden sie bald mit dem Bann belegt und so ins Verborgene getrieben. Es war wirklich schwer, in diesen Kreis aufgenommen zu werden. Man wußte kaum etwas von den Riten, die hier galten. Wer zur Maleeb-Schule gehörte, konnte sich nicht mehr von ihr lösen, es sei denn durch den Tod. Die einzelnen Mitglieder der Schule kannten sich meistens nicht einmal mit wirklichem Namen und wer zu den großen Treffen kam, der zeigte sich nur maskiert. Es gab aber Gerüchte, daß sehr einflußreiche Menschen Maleeb anhingen und daß sie durch diese Magie ihren Einfluß und ihren Reichtum erhielten. Ein hochgewachsener Mann mit dunklem Haar und grauen Schläfen ging abseits der Pfade durch Thara. Er kannte
sein Ziel genau. Als er einen anderen Wanderer traf, zeichnete sein Fuß angedeutet das Erkennungszeichen in den Boden und verwischte es sofort. Der andere erwiderte den Gruß auf dieselbe Weise. "Nenne mich Brynnar," schlug der erste vor. "Und mich nenne Chohlos," erwiderte der andere, der gut zwanzig Jahre jünger sein mochte. Sie gingen miteinander weiter, ohne jeden Vorbehalt über die Lehren des Maleeb diskutierend. Sie ernährten sich ausschließlich von Samen und Früchten, die sie fanden. In den Tagen vor einem Ritual war ihnen fleischliche Kost ebenso verboten wie der Genuß lebender Pflanzen. Als sie an einen Weg kamen, zögerte Chohlos und sah sich suchend um. "Wo ist das Zeichen?" grübelte er und achtete verstärkt auf die Stämme der Bäume. "Ich kenne den Weg," versprach Brynnar. "Folge mir unbesorgt, wir haben noch viel Zeit." Sie blieben auf dem Weg. Als ihnen zwei Reiter entgegen kamen, traten sie beiseite, um sie nicht zu behindern. Der jüngere der Reiter dankte ihnen mit einem freundlichen Kopfnicken. Chohlos wollte weiter, doch Brynnar ging keinen Schritt. Er sah den Reitern nach und schien gänzlich konzentriert. "Was ist dir, Bruder?" wunderte sich Chohlos. Brynnar sah ihn nicht an, als er mit leuchtenden Augen antwortete:
"Er ist der Auserwählte." Sie befanden sich auf einem Weg, der tief in die Felsen eingegraben war. Rechts und links ging es steil bergauf. Brynnar regte sich immer noch nicht, doch mit seltsam vibrierender Stimme intonierte er unaussprechliche Laute einer nicht-menschlichen Sprache. Chohlos riß die Augen auf. Er kannte diese Laute, war aber nicht fähig, sie zu intonieren. Um dies in der hier gehörten Meisterschaft zu vollbringen, würde er noch viele Jahre arbeiten und üben müssen. Weit vorn löste sich ein gewaltiger Felsbrocken aus der Wand, donnerte in die Tiefe und riß unzählige kleinere Steine mit sich. Brynnar verstummte. Ein befriedigtes Lächeln umspielte seine Lippen und es vertiefte sich noch, als Chohlos vor ihm niederkniete und stammelte: "Meister, verfügt über mich." "Laß uns den Auserwählten holen," entschied er mit ruhiger Stimme. Aber ohne jede Hast ging er den Weg weiter, wohl wissend, daß die Reiter umkehren mußten und ihn einholen würden.
D
ie Freunde erreichten eine kleine Siedlung. Hier lebten Achatschleifer, einfache Menschen, die in ewig gleichen Bewegungen dem rauhen Stein eine schimmernde, glatte, wertvolle Oberfläche verliehen und so seiner Maserung ein kostbares Aussehen gaben. "Jetzt dauert es nur noch wenige Stunden," versprach Afrinar, "bis wir zu Hause sind. Wollt ihr sehen, wie die Achate geformt und poliert werden?"
"Das wollen wir gern," nahm Gerrys die Einladung an. "Aber nur, wenn der Erbe des Lanas das Band aus seinem Haar löst. Hier bist du mehr ein Sohn der Macht denn ein Priesterschüler." Afrinar nahm mit Freude die Erlaubnis zur Kenntnis. Die Menschen hier kannten ihn, grüßten demütig, doch ohne Furcht. Es gab viel zu sehen, Hier wurden Schmuckstücke nach genauen Zeichnungen ebenso angefertigt wie Schalen und Kelche. Nach geraumer Zeit bot Afrinar an, in der Siedlung zu übernachten. "Ansonsten müssen wir jetzt reiten, damit wir das Haus meines Vaters erreichen, noch ehe die Nebel sinken," erklärte er. "Dann reiten wir," entschied Rhagan das Kupfer abzunehmen."
Tibra. "Es wird Zeit,
E
s war noch hell, als sie das weiträumige Haus des Lanas erreichten. Auf dem freien Platz stiegen sie ab. Es kamen schon Männer gelaufen. Sie erkannten Afrinar, verneigten sich und nahmen sich sofort der Pferde an, die in den nahen Stallungen versorgt wurden. Estoryn hatte mit einem seiner Männer gesprochen und kam nun zum Haus zurück. Er sah die Reisegruppe schon von ferne. Er sah auch den schmächtigen Mann bei ihnen, dessen auffallend helles, fast weißes Haar ihm bekannt erschien. "Attor!" Er rief den Namen und kam rasch näher. Gerrys war herumgefahren, als er den Namen des Bruders hörte. Estoryn erkannte schon seinen Irrtum, sah nun aber Afrinar und
hatte jetzt nur Augen für seinen Sohn, den er herzlich und voll Freude umarmte. "Du kannst unmöglich schon Priester sein," wußte er. "Aber ich bin froh, dich zu sehen und wenn du beschlossen hast, auf die Weihen zu verzichten, ist es gut. Komm ins Haus, du hast sicher viel zu erzählen." Er wandte sich den Reitern zu. "Gefährten meines Erben sind gern gesehene Gäste. Es wird alles zu eurer Bequemlichkeit getan werden." Er sah jetzt nur Gerrys an. "Ihr habt einen Bruder?" "Attor ist mein Bruder," erwiderte der Falla, "mit dem ihr mich wohl eben verwechselt habt, Lanas. Wir sind hier, um den Sklaven zu holen, den Attor einst von euch erhielt." Estoryns überschäumende Freude und seine Freundlichkeit wich. Ehe er etwas sagen konnte, erklärte Afrinar schon: "Vater, diese Männer sind nicht meine Gefährten." Er stellte seine Begleiter einzeln vor, wobei er lediglich die Sklaven nicht beachtete. "Sie sind aus Nodher gekommen, um Rhagan zu suchen. Er ist doch hier, nicht wahr?" "Kommt ins Haus," entschied der Lanas. Er gab einem abseits wartenden Sklaven ein Zeichen, daß dieser sich um Gur und Og kümmern solle. Dann führte er die Besucher in einen großen Raum, gab Befehl, seine Familie zu rufen und die Gäste zu bewirten. Schweigend trat er dann zum Fenster und starrte hinaus. Keyna, Valvaran und Alboran kamen zu ihnen und Afrinar stellte die Menschen einander vor. "Wenn Zargyn nicht freiwillig kommt, lasse ich ihn herpeitschen," drohte Estoryn, ohne sich umzuwenden. Keyna verließ rasch den Raum, um den Sohn zu holen, der den Fremden wirklich nicht begegnen wollte. Die Reisen-
den aus Nodher wurden inzwischen reich bewirtet und sie scheuten sich nicht, von den angebotenen Speisen zu nehmen. Afrinar warf Gerrys einen fragenden Blick zu. Als Chela mußte er ihn bedienen, doch als Erbe der Macht in seinem eigenen Haus wollte er diesen Dienst doch lieber den dafür ausgebildeten Leibsklaven überlassen. Gerrys nickte ihm einladend zu und da setzte er sich zu ihnen und aß und trank. Keyna führte Zargyn herein, der sich an die Wand stellte und keinen Blick von Afrinar ließ. Doch der beachtete den Vetter nun nicht. Estoryn rührte sich nicht, bis die Gäste gesättigt waren und die Sklaven den Tisch abräumten. Dann erst wandte er sich um, schenkte sich einen Achat-Pokal voll Wein und trank ihn in einem Zug leer. "Wo ist Rhagan," wollte Tibra jetzt endlich wissen. "Er ist nicht hier," erwiderte Estoryn langsam. "Er ist auf dem Weg zum Tempel des Lichts, vermutlich ist er schon dort." "Das ist er nicht," wehrte Nymardos mit ruhiger Stimme ab. "Wäre es so, wüßten wir es, Lanas." Sein Blick glitt zu Zargyn, der sichtlich unruhig wurde dabei. "Du wußtest, daß er kein Skalve ist." Zargyn senkte den Kopf, denn das war eine Feststellung und keine Frage. Afrinar lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte den Vetter. "Du hast ihn an Tossar verraten," sagte er mit fester Stimme. "Und dann hast du ihn mit dir genommen, als sei er dein Eigentum. Warum, Zargyn?" "Der Tempel hat ihn mir geschenkt," wies Zargyn die Schuld von sich. "Er gab mir sein Sklavenpapier."
"Du wußtest, daß ich ihn mag," erwiderte Afrinar. "Und du weißt, daß er mir das Leben gerettet hat. Hast du dich stark gefühlt, als du den knechten konntest, den ich gern als Freund gewonnen hätte?" "Afrinar, nein," wehrte sich der junge Mann. "Ich habe doch immer versucht, alles zu tun, um euch zu gefallen. Ich dachte, daß ein starker Sklave gut für uns sei. Ich dachte..." "Wir haben sofort erkannt, daß das Sklavenpapier eine Fälschung ist," mischte sich Alboran an, "und wir haben Zargyn mit diesem Sklaven von hier verbannt." "Ja," rief Zargyn, hoffend, nun alle Schuld von sich weisen zu können, "aber Quenryn wollte ihn unbedingt haben. Er hat ihn mir abgekauft. Es ist nicht mehr mein Sklave. Er gehört Quenryn. Und Quenryn wußte beim Kauf schon, daß das Papier falsch ist." "Wer ist Quenryn?" fragte Cyprina erstaunt. Lorynir gab ihr leise Antwort. Afrinar hatte viel über seine Familie erzählt und so kannte er diesen Namen. Der Erbe des Lanas warf Tibra einen traurigen Blick zu. "Was werdet ihr mit ihm tun, Herr?" fragte er leise. Tibra warf einen kurzen Blick auf den Lanas, seinen blinden Bruder, auf Zargyn und sah dann wieder Afrinar an. "Ich werde deinen Bruder dankbar umarmen," versprach er dann grinsend. "Es sieht so aus, als wenn er der beste Teil deiner Familie wäre." "Er hat ihn gekauft," rief Zargyn anklagend. Tibra erhob sich und trat nahe zu ihm. Dem jungen Mann wurde fast unheimlich und beinahe wäre er auf die Knie
gesunken. "Man hat dich mit Rhagan zusammen verbannt, hhm?" brummte der Magier. "Was hattest du vor? Wie weit wolltest du mit deiner Beute reiten, ehe du ihn ermordest, um auf diese einfache Weise das Problem loszuwerden?" Er wandte sich Afrinar zu. "Aber weshalb stellt sich dein Bruder schützend vor einen Fremden?" Jetzt ergriff Estoryn das Wort: "Rhagan war verwundet und im Fieber nannte er Afrinars Namen. Meine Söhne lieben einander sehr. Abgesehen davon ist Quenryn ein wenig zu weich. Er hatte wohl Mitleid." "Das spricht für ihn," stellte Gerrys fest. "Wir haben Rhagan befragt," fuhr Estoryn unbeirrt fort. "Er behauptete, in Raakis Tempel in Nodher zu leben und war zufrieden, als Quenryn ihm anbot, ihn in einen Tempel zu bringen, wo man seine Behauptungen wohl überprüfen kann." "Ihr habt gezweifelt?" vergewisserte sich Tibra. "Natürlich habe ich das," gab der Lanas gelassen zu. "Rha ist ein Mördersklave und solche können niemals die Freiheit erhalten. Seine Behauptung, der Than selbst habe diese Schuld ausgelöscht, ist nicht sehr glaubwürdig." Nymardos lächelte still bei diesen Worten. "Andererseits," fuhr Estoryn fort, "sprach er wirklich wie ein freier Mann und benahm sich nicht wie ein Sklave. Nun, als Sklave ist er ohnehin untauglich." Er sah Gerrys an. "Euer Bruder hat einen seltsamen Einfluß auf Sklaven." "Es wird ihn freuen, zu hören, daß ihr ihn nicht vergessen habt," stellte Gerrys lächelnd fest. "Aber nun erzählt uns bitte, was hier geschah, seit Rhagan eintraf."
Der Lanas kam dieser Aufforderung mit leiser Stimme nach. Es gefiel ihm nicht, daß seine Familie in eine Geschichte verwickelt war, die nach Recht und Gesetz harte Strafe erforderte. Es gefiel ihm erst recht nicht, daß Männer der Macht gekommen waren, um nach einem einstigen Sklaven zu forschen. Natürlich verschwieg er, weshalb er seine Jäger mit Rhagan auf den Weg sandte, doch er berichtete, daß Quenryn ihnen folgte und sie zurückschickte, um den Sklaven selbst zu geleiten. "Ihr alle seid meine Gäste, bis meine Männer Quenryn gefunden haben," schloß er. "Ich lasse ihn und diesen Rhagan sofort suchen." "Für diese Nacht nehmen wir eure Gastfreundschaft gern in Anspruch," erwiderte Gerrys. "Doch die Suche beginnen wir morgen selbst." "Ich kann euch nicht hindern," gab Estoryn, halb beleidigt nach. "Wünscht ihr Verstärkung durch meine Leute?" "Das wird nicht nötig sein," lehnte Nymardos ab. "Und du gehst mit ihnen?" wollte der Lanas von seinem Erben wissen. "Selbstverständlich, Vater," erwiderte der sofort. "Ich bin noch nicht soweit, um wieder hier zu leben. Und ich will alles tun, Quenryn zu finden." Estoryn nickte dazu. Es war gut, wenn der Sohn seinen Weg kannte und unbeirrt schritt. Ein Mann durfte nicht wankelmütig sein. Er deutete auf Zargyn. "Mit dem da tut, was ihr wollt, Falla," entschied er.
"Bruder!" Valvaran konnte es nicht fassen. "Du kannst meinen Sohn nicht diesen Fremden ausliefern." Zargyn sah sich gehetzt um. Doch er konnte den Raum nicht verlassen, da sich Alboran vor die Tür schob und so jeden Fluchtweg verbaute. "Die Männer, die Rhagan überwältigten," erklärte Afrinar, "sie tragen jetzt das Kupfer. Und jeder einzelne von ihnen war mehr wert als du, Zargyn." "Diese Männer waren Priester," mahnte Nymardos, "und für ihr Handeln voll verantwortlich. Dein Vetter ist noch nicht einmal ein Mann." "Das wird er auch nie," murrte Afrinar. "Er ist feige und hinterhältig und er wollte Quenryn alle Schuld geben." "Dann soll auch Quenryn sein Urteil sprechen," schlug Nymardos vor. "Lanas, werdet ihr den Jungen bis dahin festhalten?" "Ihr habt mein Wort," versprach Estoryn. "Er wird nicht fliehen." Zargyn senkte den Kopf. Der Oheim sprach die Wahrheit, denn es gab keinen Ort in Thara, wohin er gehen konnte. Wollte er es versuchen, so würden ihn unzählige Männer verfolgen und er war nicht der Mensch, der auf der Flucht leben konnte. Tränen drangen aus seinen Augen, aber er ergab sich in sein Schicksal.
Q
uenryn gefiel es durchaus, mit dem Hünen durch Thara zu reisen. Rhagan war ein sehr guter Gefährte, der nicht nur vieles zu erzählen wußte, sondern auch alle Tricks kannte, die ein Überleben in der Wildnis geradezu angenehm machten. Ganz nebenbei lernte der junge Mann vieles, das
er bisher nicht kannte. Er erfuhr, welche Wildpflanzen den Hunger stillten, wie Wasser zu finden war, mit welch einfachen Kniffen ein Lager aufgebaut wurde, das vor der Feuchtigkeit der Nachtnebel schützte. Auch Rhagan genoß die Reise. Sein junger Herr behandelte ihn wie einen Kameraden und wäre nicht das Kupfer um seinen Hals gewesen, so gäbe es nichts, das ihn als Sklaven entlarven könnte. Er fing an, für Quenryn tiefe Zuneigung zu empfinden. Sie ritten einen schmalen Hohlweg entlang, begegneten zwei Wanderen und Rhagan wunderte sich flüchtig darüber, weshalb diese zu Fuß unterwegs waren. Wenig später hörten sie ein dumpfes Grollen und dann stürzten unweit vor ihnen mächtige Felsbrocken die Wände herab. Die Pferde wieherten laut auf, sie hatten Mühe, sich im Sattel zu halten. Der Weg vor ihnen war versperrt. "Da kommen wir nicht weiter," begriff Quenryn rasch. "Jetzt müssen wir einen Umweg nehmen. Es tut mir leid, Rhagan, aber nun dauert es ein paar Tage länger." "Es tut euch leid um mich?" Rhagan lächelte freundlich. "Es ist eure Zeit, die dabei verloren ist. Ich für mein Teil genieße die Tage mit euch, Herr." Quenryn lachte fröhlich. "Ich bin ja nicht wirklich dein Herr," gab er nun zum ersten Mal zu. "Du kannst mich ruhig beim Namen nennen. Oder wird der Tempel mir doch etwas anderes als deine Freiheit entdecken?" Sie ritten den Weg zurück. Nach kurzer Zeit schon begegneten sie wieder den Wanderern, die eben ein Lager aufschlugen und bereits ein kleines Feuer entzündet hatten.
"Wollt ihr nicht bei uns rasten," lud Brynnar mit freundlicher Stimme die Reiter ein. "Wir hörten das Grollen der Berge. Ist etwas geschehen?" "Der Weg ist verschüttet," erwiderte Quenryn offen. Brynnar öffnete ein Bündel. "Die Nebel sinken bald und dies ist ein guter Platz, um die Nacht zu verbringen," erklärte er nebenher. "Es wäre uns eine Ehre, wenn ihr unser Gast sein wolltet." Rhagan beachtete er dabei nicht. Niemand in Thara sprach mit einem Sklaven. Quenryn glitt aus dem Sattel. "Nispen," staunte er, als er sah, wie Brynnar dem Bündel eine der wenigen wirklich süßen Samen der Reiche entnahm. "Und frischer Pejuk-Saft," ergänzte Brynnar, während er seinen Schlauch öffnete. Er schenkte von dem Saft in eine flache Holzschale und reichte sie Quenryn. Seine dunklen Augen strahlten dabei in einem tiefen, fast samtenen Schimmer. Quenryn trank. Rhagan gefiel es nicht, jetzt schon zu rasten. Doch der Sohn des Lanas lagerte sich schon bei den Fremden. Er schien sehr müde zu sein. Achselzuckend stieg der Hüne vom Pferd. Chohlos bedeutete ihm, sich abseits zu lagern und warf ihm achtlos eine Molnuß zu. Brynnar schaute fast zärtlich auf Quenryn, nahm dann eine Decke und hüllte sie über den schlanken Leib. "Er schläft schon," sagte er dabei zu seinem Begleiter. Die Sache gefiel Rhagan nicht. Die beiden Männer waren sehr freundlich und schienen um Quenryn geradezu besorgt zu sein. Trotzdem mißtraute er ihnen. Sie saßen
beim Feuer und schwiegen. Keiner sagte ein Wort und Quenryn schlief tief und fest. Rhagan beschloß, über den jungen Freund zu wachen. Lange lag er wach. Doch irgendwann tief in der Nacht übermannte ihn der Schlaf. Als er erwachte, hoben sich die Nebel. Die Hände waren ihm fest auf den Rücken gebunden. Chohlos hob ihm den Wasserschlauch an den Mund und ließ ihn trinken. Rhagans Blick glitt zu Quenryn. Der junge Mann saß bei der kalten Feuerstelle, aß und trank. Doch er tat dies mehr mechanisch. In seinen Augen lag kein Feuer. Rhagan preßte die Lippen zusammen. Was war hier geschehen? Quenryn war wie betäubt. Der Saft, den ihm Brynnar gab, mußte eine lähmende Droge enthalten haben. Der Hüne überlegte kurz, was er tun könne. Gebunden, wie er war, konnte er nicht wirklich eingreifen. Er beschloß, wie ein Sklave Tharas stumm zu sein und abzuwarten. Sicherlich würde sich eine Gelegenheit finden, in der die Fremden überwältigt werden konnten. Chohlos legte Rhagan einen Strick um den Hals befestigte das andere Ende am Sattel des Pferdes, der Hüne bisher ritt. Er wollte nun selbst reiten und Sklave mußte natürlich zu Fuß gehen. Brynnar stieg Quenryns Pferd, nahm den Jüngling vor sich in den Sattel hielt ihn so zärtlich, als sei er sein Vater.
und das der auf und
"Zum dritten Mal nun kann ich an einem großen Ritual teilnehmen," freute sich Chohlos, "doch nie zuvor war es uns gelungen, einen Auserwählten dabei zu haben." "Dann hoffe ich für dich, daß du stark genug bist, die gerufene Kraft zu ertragen, die der Auserwählte zu uns führen wird," erwiderte Brynnar gelassen. Chohlos Augen funkelten. Das, was er bald erleben durfte, das hatte er sich immer gewünscht. Seit Jahren hoffte er, das
höchste Ende der Zeremonie zu sehen. Er fürchtete diese Kraft nicht, er sehnte sich nach ihr. Aber er kannte sie nicht einmal bis zu diesem Tag.
E
storyn hatte die Reisegruppe aus Nodher mit allem ausgestattet, was auf ihrem weiteren Ritt von Vorteil sein mochte. Er war froh, daß das Urteil der Fremden nur Zargyn betraf und man ihm nicht vorwarf, falsch gehandelt zu haben. Als Lanas und damit Landesherr hätte er umsichtiger reagieren müssen. Er wußte es. Ohne Quenryns selbstloses Eingreifen würde die Sache wohl auch anders aussehen. Er bedauerte nur, daß Afrinar mit den Fremden ritt und ihn schon wieder verließ. Sie waren einige Stunden geritten und Tibra wurde immer schweigsamer und auch langsamer. Schließlich zügelte er sein Pferd und sah Nymardos an. "Ein paar Tage bis zum Tempel," brummte er. "Ist Rhagan sicher nicht dort?" "Ganz sicher nicht," versprach der Freund. "Sie müßten aber schon dort sein." "Vielleicht wurden sie aufgehalten. Oder eines ihrer Pferde lahmt. Es gibt viele Gründe, die möglich sind. Was ist mit dir?" "Zeig mir die Karte," bat Tibra. Er glitt aus dem Sattel. Der Magier wirkte seltsam abwesend und bedrückt. Sein Blick fraß sich förmlich auf der Karte Tharas fest, deren Detailreichtum jeden Pfad beschrieb. Gerrys und Nymardos traten zu ihm und warteten. Parcylen und die Priesterschüler blieben wie Cyprina im Sattel. Sie wunderten sich über diese Rast, spürten aber, daß
Tibra um eine Entscheidung rang und verhielten sich still. Tibra hielt die Karte noch in Händen, doch sein Blick sah längst nicht mehr ihre Zeichen, die schon vor einiger Zeit vor seinen Augen verschwammen und Schatten und Schemen auf seiner Netzhaut wichen. Nymardos nahm ihm die Karte ab und legte sacht die Hand auf seinen Unterarm. "Seymas meint, er würde deiner Intuition immer mehr trauen als dem Blick seiner eigenen Augen," sagte er leise. "Es ist keine Erklärung nötig. Sag einfach, wohin wir gehen sollen." Tibra blinzelte. Nun sah er die Freunde an mit einem Blick voll Ernst und Sorge. "Erinnert ihr euch an die Bodenzeichnung der Höhle?" fragte er schließlich. "Das ist unser Weg. Wenn ich mich irre, finden sich Rhagan und Quenryn im Tempel ein und wir haben nur einen Umweg gemacht. Wenn nicht, kommen wir vielleicht noch gerade rechtzeitig." Gerrys und Nymardos tauschten einen raschen Blick. Anscheinend hatte sich Tibra den Weg genau gemerkt, der in der Höhlung angegeben war. Zumindest zweifelte er nicht daran, die eingezeichnete Stelle finden zu können und seine Unruhe war bedrängend und überzeugend genug, um ihm zu folgen. Sie änderten ihre Richtung und ritten nun auch schneller, da Tibra das Gefühl hatte, Eile sei geboten. Spät am Abend erst schlugen sie ihr Lager auf. "Du suchst den Platz der Maleeb-Schule," stellte Nymardos im Gespräch fest. "Aber du sagtest auch, daß sie keine Zeugen bei ihrem Ritual dulden. Ist es trotzdem möglich, daß Rhagan dort ist?"
"Rhagan wohl kaum," erwiderte Tibra düster. "Ich sagte euch beiden doch, daß das Opfer jung und frei sein muß." Sie tauschten einen raschen Blick, sprachen aber Quenryns Namen nicht aus, um Afrinar nicht aufmerksam zu machen. "Die Magier sind wohl nicht sehr wählerisch," murmelte Gerrys erschüttert. "Doch, das sind sie," widersprach Tibra mit ruhiger Stimme. "Es kommt oft genug vor, daß sie nur das kleine Ritual aufführen können, weil kein geeignetes Opfer zur Verfügung steht. Die Ansprüche sind sehr hoch und ein gewöhnlicher Anhänger des Zirkels hat gar nicht die Fähigkeit, ein auserwähltes Opfer zu erkennen." "Welche Ansprüche?" "Alles, was uns als edel und rein erscheint," erklärte Tibra. "Jugend allein genügt nicht. Freiheit ist kein Privileg, sondern einfach eine Tatsache. Selbstlosigkeit, Edelmut, Lauterkeit, Stolz, Mut - all diese Dinge in ihrer Summe und noch mehr zeichnen den Auserwählten aus. Eigentlich ist es eine Ehre, zum Opfer bestimmt zu sein und wo möglich, wählen sie das Opfer natürlich in ihren eigenen Reihen. Das erleichtert die Sache." "Du meinst, dafür hergibt?"
daß
sich
ein
Maleeb-Schüler
freiwillig
"Wenn er als würdig erkannt wird, warum nicht? Aber so viele edle Glieder hat der Zirkel wohl nicht." Tibra stieß einen verächtlichen Laut aus. "Finden sie ein fremdes Opfer, wird es durch Drogen gefügig gemacht und bleibt ohne Gegenwehr. Aber natürlich ist das nicht so ideal wie ein freiwilliges Opfer. Für das große Ritual reicht es trotzdem."
"Welche Kraft wird gerufen?" forschte Nymardos. "Sie hat keinen Namen. Außerdem war ich nie dabei," gab Tibra zu. "Man sagt, daß sich diese Kraft sehr deutlich zeigt - in etwa so, wie das Vibrieren während Minosantes Ritual spürbar wird. Aber auch das kenne ich nur aus Erzählungen." Er lächelte wehmütig. "Diese Kraft zu rufen und dann auch zu beherrschen, das ist schon sehr reizvoll." "Läßt sie sich beherrschen?" zweifelte Gerrys. "Du bist Priester," hielt ihm Tibra mit ruhiger Stimme vor. "Du willst von den Kräften beherrscht werden und versuchst es nicht anders herum. Einen Teil kann man immer beherrschen, wenn man stark genug dazu ist." "Du sagtest, es ist nur zu bestimmten Zeiten möglich, dieses Ritual auszuführen," erinnerte Nymardos ablenkend. "Bleibt uns genug Zeit, um rechtzeitig den Treffpunkt zu finden?" Tibra zuckte leicht mit den Schultern. "Ich bin in die Geheimnisse der Maleeb-Leute nicht voll eingeweiht," gab er zu. "Aber Orte der Kraft und Zeiten der Kraft sind wohl in allen Bereichen einander verwandt. Wir werden uns beeilen müssen."
B
rynnar wunderte sich wortlos etwas darüber, daß zu dem vereinbarten Treffpunkt nicht all jene Männer seines Zirkels erschienen, die er erwartete. Er konnte ja nicht ahnen, daß einige durch eine gefälschte Höhlenzeichnung in die Irre geführt wurden. Minosante, der Gott der Kraft, war überall auch der Gott der Magier, deren V-Zeichen eigentlich den geknickten Pfeil der Gottheit darstellte. Die Frauen und Männer der Maleeb-Schule, die sich hier trafen, kleideten sich demzufolge in dunkles Rot, der Farbe dieses Gottes. Sie waren zehn, vier Frauen und sechs Männer. Das Ritual sollte mit Beginn der Nacht beginnen und enden, wenn die Nebel sich hoben. Noch herrschte klarer Tag. Es war sehr warm und der freie Platz wurde durch keinen Lufthauch gekühlt. Sie befanden sich in einer kreisrunden Talsohle, die nicht mehr als fünfzehn Schritte im Durchmesser aufwies. In der Mitte befand sich ein glatter, natürlicher Fels von halber Manneshöhe. Steil ragten ringsum die Felsen weit empor. Nur ein schmaler Durchlaß führte in dieses Tal. Hinter diesem befand sich ein dichter Wald aus knorrigen Bäumen. Hier hatten die Reisenden ihre Pferde angebunden. Hier lag auch der gefesselte Rhagan, der sich vergeblich abmühte, um die Stricke zu lösen. Eine winzige Quelle spendete frisches Wasser.
Für die Magier war es ein heiliger Tag. Sie sammelten trockene Äste, denn es war verboten, frisches Holz zu verwenden. In der Nacht sollten Feuer glühen und die Holzstapel mußten bis zum Abend geschichtet sein. Quenryn sah alles wie durch dichten Nebel. Die Männer hatten ihn ausgekleidet, an der Quelle gewaschen und dann in den Talkessel geführt. Nun saß er auf dem Stein in der Mitte, einen dunkelroten Umhang um die Schultern. Die Menschen waren sehr freundlich zu ihm. Immer wieder kam einer zu ihm, küßte ihm die Hände oder die Füße, schob ihm eine kleine, sehr süße Frucht in den Mund oder gab ihm zu trinken. Er wußte nicht, was geschah, doch ihm schien, als habe alles seine Richtigkeit und als sei es gut, daß er der wichtigste Mensch in diesem Tal war.
D
ie Freunde befanden sich auf einer Hochebene, als Tibra sein Pferd zügelte und absaß. "Ein wenig können wir noch weiter," wunderte sich Gerrys. "Die Nebel sinken noch nicht." "Die Pferde müssen hierbleiben," entschied Tibra. "Ihr Lärm könnte uns verraten." "So sind wir am Ziel?" "Ich nehme es an, Gerrys." "Wir sind es," bestätigte nun auch Nymardos. "Nicht weit von hier sind Menschen." Gerrys bedeutete Og und Gur, daß sie bei den Pferden bleiben sollten. "Die andern bleiben auch," verlangte Tibra.
Da trat Afrinar zu ihm und sah ihn bittend an. "Herr, wollt ihr uns nicht sagen, was geschieht?" "Ich fürchte, wir treffen gleich auf eine Gruppe von Magiern," gab Tibra Auskunft, "und das, was wir sehen werden, wird nicht sehr angenehm sein." "Quenryn ist dort," begriff der Jüngling. "Bitte, sagt mir, was geschieht." "Es findet ein Ritual mit Menschenopfer statt," erwiderte Tibra unwillig. Zu seinem Erstaunen blieb Afrinar ganz ruhig. Er atmete zwar tief durch, doch ansonsten zeigte er keine Gemütsbewegung. "Quenryn ist das Opfer?" Tibra nickte. "Kann man ihm helfen?" "Das weiß ich noch nicht, Junge," brummte der Magier. "Dann laßt mich mit euch gehen," bat Afrinar. "Ich werde in allem tun, was ihr sagt." Zweifelnd musterte Tibra den Jüngling. Doch dann nickte er zum Einverständnis. Afrinar zeigte sich so gefaßt, daß er das Risiko wohl eingehen konnte. Nun baten auch Parcylen, Cyprina und Lorynir darum, mit ihnen gehen zu dürfen. Tibra gefiel es nicht, doch Gerrys sprach für die Begleiter und so gab er widerwillig nach. "Sie gehen zurück, sobald du es willst," versprach der Falla.
Dann lagen sie bäuchlings auf dem nackten Fels und sahen in die Talsenke hinab. Afrinar erkannte den Bruder und krallte sich förmlich am Fels fest, um einen entsetzten Laut zu unterdrücken. "Wartet hier," beiseite bewegte.
verlangte
Tibra,
ehe
er sich lautlos
Der Magier ließ sich Zeit. Er näherte sich dem Felsrand von verschiedenen Stellen aus und prägte sich das Bild der Senke fest ein. Als er wieder zu den Freunden kam, sanken langsam die Nebel. Sie entfernten sich etwas vom Felsrand, um ja keine Aufmerksamkeit unten zu erwecken. "Nun?" Gerrys sah fragend auf Tibra. Der Magier wirkte sehr, sehr ernst. "Wirklich Maleeb und wirklich das große Ritual," erwiderte er leise. "Du hast mich einmal gefragt, ob ich es verhindern würde." "Was können wir tun?" "Die Frage ist, was ich tun will, Gerrys," gab der Magier unumwunden zu. "In wenigen Stunden wird da eine Kraft gerufen, die ich gern erfahren würde. Ich habe keine Lust, mir die Maleeb zu Feinden zu machen. Ich würde es vermutlich auch nicht lange überleben." Afrinar starrte den Magier in sprachlosem Entsetzen an. Dieser Mann war ihm bisher sehr sympathisch gewesen und nun redete er, als bedeute das Leben seines Bruders nicht das Mindeste. Parcylen legte dem Jüngling den Arm um die Schultern. Er wollte ihm Trost vermitteln, ihn aber auch zugleich an unbedachten und vor allem lauten Worten hindern.
"Du willst es einfach geschehen lassen?" Gerrys zweifelte an dem Gehörten. "Du willst nicht einmal versuchen..." "Laß ihn," mahnte nun aber Nymardos ganz ruhig. Tibra wandte den Kopf und sah ihn an. Nymardos war der Freund, von dem er sich verstanden wußte. Er bedrängte ihn nicht, wartete gelassen auf seine Entscheidung und stellte keinerlei Ansprüche. "Amarras Dank bleibt bestehen, auch wenn ich mich jetzt auf mein Pferd sitze und davon reite?" vergewisserte sich Tibra. "Ebenso, wie meine versprach Nymardos.
Liebe
zu
dir
bestehen bleibt,"
Tibra sah zu Gerrys und als dieser den Kopf senkte, wußte er, daß Raakis Falla nicht so vorbehaltlos zu ihm stehen konnte. "Ihr versteht das alle nicht," erklärte der Magier mit leiser Stimme. "Die Menschen da unten sind keine dummen Sektierer, die nicht wissen, was sie tun. Bis auf zwei junge Männer sind sie alle sehr stark und beherrschen ihre Macht. Sie haben mir einiges voraus. Vor allem ihr Anführer ist ein gewaltiger Magier." "Dir überlegen?" "Ja, in allen Bereichen," gab Tibra unumwunden zu. "Ich bin ihm einmal auf Silsa begegnet. Er nennt sich Brynnar, aber das ist wohl kaum sein richtiger Name. Es ist jedenfalls ein Mann, den ich nicht zum Feind haben will." "Du meinst, du kannst nichts tun?" hoffte Gerrys. Tibra lächelte gequält.
"Ich meine, daß ich nichts ausrichten kann, wenn er versuchen wird, mich durch seine magische Kraft zu bezwingen - und wenn er es versucht, dann tötet er auch, glaub mir." "Gut," entschied Nymardos, "du willst dich nicht gegen die Malleb-Schule stellen und wir akzeptieren das. So, wie du akzeptieren wirst, daß ich das Ritual nicht dulden kann." "Und was willst du tun?" Nymardos lächelte verhalten. "Hinuntergehen und sie hindern, was sonst." "Sie würden dich töten," warnte Tibra. "Aber immerhin, das Kraftfeld wäre zerstört und das Ritual könnte nicht mehr durchgeführt werden." Afrinar straffte die Schultern. Er wollte sich erheben, aber Parcylen hielt ihn noch fest. "Du liebst ihn sehr," begriff Tibra. Nymardos und Gerrys sahen sich an. Es war immer wieder verwunderlich, wie genau Tibra erspürte, was in einem Menschen vorging. Man mußte wohl kein Priester zu sein, um Afrinars Entschluß zu sehen, mit dem der Jüngling sich eben anschicken wollte, eben dieses Opfer zu bringen, das Nymardos in theoretischem Überlegen aufgegriffen hatte. Tibra zupfte einen Grashalm vom Boden, schob ihn in den Mundwinkel und kaute nachdenklich darauf herum. Noch war es hell, noch gab es keinen Grund zur Eile. Cyprina tastete zögernd nach der Hand des Magiers. "Habt ihr Angst?" wollte sie, selbst ängstlich, wissen. Tibra nickte nur.
"Vor den Geistern bei Erynia habt ihr keine Angst gehabt," erinnerte sie sich. "Und das waren richtige Geister. Da unten sind nur Menschen. Ich verstehe es nicht." "Das, was du Geister nennst, waren nur sichtbar gewordene Gedanken," erwiderte Tibra, dessen Gedanken wo ganz anders weilten. "Man muß nicht die Gedanken fürchten, wohl aber die Menschen, die sie bewußt zu lenken verstehen. Zumindest dann, wenn diese Menschen wie Brynnar sind." "Er würde euch mit solchen Geistern bedrohen können?" wunderte sich das Mädchen. Nymardos lächelte und gab Gerrys einen Wink, damit der die Tochter jetzt nicht zur Stille ermahnte. Tibra lächelte unwillkürlich. "Er würde es versuchen," vermutete er. "Es kommt wohl darauf an, wer die dichteren Geisterschemen weben kann." Sein Blick glitt zu Nymardos. "Oder das dichtere Energiefeld," fügte er hinzu. Dann erhob sich der Magier, ging vor Afrinar in die Hocke und umfaßte die Schultern des Jüngeren. "Du wärst bereit, da runterzugehen und deinen Bruder zu retten, auch wenn es dein Leben kostet?" vergewisserte er sich. Afrinar nickte langsam und sehr überlegt. "Ihr kennt Quenryn nicht," sagte er, jedes Wort bedenkend. "Er ist der beste Mensch, den ich kenne und..." "Schon gut," lenkte Tibra grinsend ein. "Dein Bruder muß schon etwas Besonderes sein, denn immerhin hat er Rhagan selbstlos geholfen und, nun ja, er ist von den
Maleeb-Leuten da unten auserwählt worden. Komm mit mir. Du auch, Lorynir. Und du, Parcylen." "Wohin?" wunderte sich Afrinar, aber er folgte dem davon eilenden Magier schon durch das lichte Gehöz der Hochebene. Lorynir zögerte. Aber als Nymardos ihm zunickte, folgte auch er dem Magier und Parcylen schloß sich ihm an.
E
s dauerte nicht sehr lange, bis Tibra wieder zu den Freunden kam. Jetzt funkelten seine dunklen Augen wieder voll Lebenskraft. Gerrys spürte seine Entschlossenheit, ging auf ihn zu und umarmte ihn kurz, aber sehr bewegt. "Verzeih mir, wenn ich an dir zweifelte," bat er. "Schon wieder?" Tibra lachte sehr leise, aber ehrlich vergnügt. "Vielleicht ist deine Sturheit durchaus etwas, das ich brauche." Er sah zu Nymardos. "Wie auch seine unbedingte und uneingeschränkte Annahme meiner Person und meines Weges." Er lagerte sich auf das Erdreich, winkte Cyprina und bat sie, ihnen bei den Pferden etwas Nahrung zu holen. Die Freunde setzten sich zu ihm. Sie waren sehr angespannt und hofften, daß er endlich einen Plan entdeckte. Aber der Magier war mit seinem Denken noch nicht zu Ende gekommen und wußte selbst noch nicht, was er zu tun gedachte. "Ich hab euch ja erzählt, daß es eine Zeit gab, in der ich der Maleeb-Schule gern beigetreten wäre," plauderte er fast vergnügt. "Es fehlten mir eben diese drei Bürgen, die dazu nötig waren. Na ja, ich fand nicht mal einen davon. Ich war ein Jüngling, aber immerhin hatte ich einen MaleebMagier enttarnen können und der Mann nahm mir das sehr übel, als ich ihn unverblümt auf seine Schule ansprach." Cyprina hatte Molnüsse gebracht und Tibra erbrach sich eine davon und aß. "Der Kerl ließ mich von seinem Besitz
prügeln und ich schwor, das er das bedauern würde. Er hat es bedauert und vor ein paar Jahren auf Silsa bot er mir an, die Bürgschaft für mich zu übernehmen. Gleichzeitig nannte er mir weitere Bürgen." "Brynnar?" vergewisserte sich Gerrys verstehend. Tibra nickte. "Genau der ist es. Ich habe ihn auf Silsa ausgelacht, laut, vor allen Magiern der Zirkel, die anwesend waren. Aber ich bin nicht so dumm, ihn zu unterschätzen. Wenn ich mich da unten einmische, muß ich ihn zugleich entmachten. Und das ist nicht so einfach." "Ich werde dir helfen," versprach Nymardos mit fester Stimme. "Das will ich hoffen," versicherte Tibra sofort. "Ihr müßt mir beide helfen, wenn ich auch nur eine Chance haben soll. Vor allem du, Gerrys, wirst mir helfen müssen." "Was kann ich tun?" bot der Falla sofort jeden Beistand an. Aber als Tibra dann langsam seinen Plan entwickelte, war Gerrys nicht mehr so sicher, ob er das wirklich auf diese Weise wollte. Einzig Nymardos griff die Gedanken des Magiers sofort vorbehaltlos auf, vertiefte sie im gemeinsamen Gespräch. Sie verwarfen manche Absicht, schmiedeten den Plan immer wieder um und als sie endlich schwiegen, fanden sie sich eingehüllt von den dichten Nebeln der Nacht.
D
ie Frauen in der Talsenke entzündeten die drei großen Holzhaufen, deren lautes Feuerprasseln bald die Stille zerstörte. Chohlos fühlte sich über die Maßen geehrt, als Brynnar ihm nun erlaubte, den Körper des Auserwählten mit kostbaren Salben und Ölen zu benetzen
und leistete diesen Dienst, als vollzöge er ein heiliges Werk. Quenryn ließ es geschehen. Die Düfte, die ihn nun umgaben, wirkten sehr angenehm. Sie stellen sich in V-Form um den Opferstein. Brynnar nahm die Stelle des Knickes ein. Er leitete dieses Ritual. Als sei es die Sprache seiner Kindheit, so natürlich intonierte er fremde Laute. Die Feuer wuchsen an dabei, vor allem aber entstand in den Menschen eine große innere Spannung. Sie richteten sich nun völlig auf Brynnar aus und ihre unbedingte Hingabe an ihren Führer wirkte wie eine Abschirmung. Ihr Geist jedenfalls war schon nach kurzer Zeit von keiner priesterlichen Macht mehr zu erreichen.
R
hagan hörte die seltsamen Laute. Er hatte die Menschen gesehen, die in die Senke kamen und er wußte sie durchaus einzuordnen. Es gab keinen Zweifel für den Hünen. Die Menschen wollten Quenryn töten. Ihr magisches Werk verlangte ein Menschenopfer. Rhagan zerrte an seiner Fessel. Sie schnitt ihm ins Fleisch, riß seine Haut auf. Er ignorierte den Schmerz. Eine verzweifelte Angst befiel ihn. Damals, als er als Tharas Sklave durch Nodher reiste und Gerrys begegnete, damals bekämpfte der Falla einen magischen Geheimbund, der den Berg Tylt erbeben lassen wollte. Gerrys hatte ihn in den Berg geschickt, um dort ein paar unschuldige Menschen zu schützen. Und nun war Quenryn das unschuldige Opfer und Rhagan hatte mehr als nur Grund, ihm helfen zu wollen. Die Erinnerung an den Tylt ließ ihn nicht an magischem Wirken zweifeln. Damals erbebte der Berg. Unzählige Menschen starben dabei. Aber Quenryn sollte leben. Er zerrte fester und stöhnte leise auf vor Schmerz. Das Geräusch eines nahenden Schrittes ließ ihn innehalten. Die Magier sollten trotz allem nicht wissen, daß er kein Sklave Tharas war. Das war seine einzige Chance, vielleicht doch noch die Fessel loszuwerden. Im Dunkeln
bückte sich ein Mann zu ihm. Rhagan lag völlig reglos. Auch als ein Messer seine Fessel zerschnitt, bewegte er sich nicht. "Alles in Ordnung mit dir?" Der Hüne zuckte zusamamen, als er leise flüsternd angesprochen wurde. Hastig setzte er sich auf. "Tibra?" Er fürchtete ein Trugbild, doch der Magier lächelte ihn in den dichten Nebelschleiern an. "Ihr seid gekommen, Herr. Aber ihr wißt nicht..." Er wollte von Quenryn sprechen, doch Tibra legte ihm kurz die Hand auf den Mund und mahnte zur Ruhe. "Ich weiß, was geschieht," sagte er leise. "Mische dich nicht ein, Rhagan. Sie würden dich sofort töten. Warte hier, bis ich dich rufe. Und die Art, wie ich rufe, wird dir sagen, was du tun sollst." "Ich muß Quenryn helfen," wehrte Rhagan mit zögerlicher Stimme ab. "Leise," mahnte Tibra, "sie dürfen mich noch nicht entdecken. Das sind mächtige Magier, Rhagan. Und es sind ein paar mehr, als mir lieb ist. Warte hier und verhalte dich still." Ehe der Hüne zu reagieren vermochte, war Tibra schon in den Nebeln verschwunden. Rhagan rieb sich die schmerzenden Gelenke. Lautlos schob er sich zur Quelle und stillte seinen Durst. Er vertraute Tibra. Der Magier war nach Thara gekommen, genau so, wie er es ihm versprochen hatte. Er würde auch jetzt wissen, was zu tun war.
B
rynnar hatte die Leute jetzt da, wo er sie haben wollte. Sie alle stimmten sich ganz auf ihn ein. Chohlos hatte sein Werk beendet, sich zu den anderen
gestellt und längst ganz dem Mächtigeren ergeben. Fast spürbar entstand ein Kraftfeld, das den Opferstein und die Magier einhüllte. Die Feuer brannten noch, doch still nun. Kein Geräusch war zu hören. Diese absolute Stille war es, auf die Brynnar wartete. Er verschränkte die Arme vor der Brust, warf den Kopf zurück und ließ den Blick hinauf in die Nebel gleiten. Weit konnte man nicht mehr sehen, aber es war nicht das Auge, das Befriedigung suchte, sondern der Geist. "Wie Maleeb es uns lehrte," verkündete Brynnar mit seltsam vibrierender Stimme, "so rufen wir nun die Kraft, die alle Kräfte übersteigt." Im Chor wiederholten die Menschen seine Worte. Dann wurde es wieder still. Brynnar schob einen rollenden Laut über die Lippen. Irgendwo löste sich ein kleiner Stein aus dem Felshang und kollerte hinunter. In der Stille wirkte das kleine Geräusch unnatürlich laut. Brynnar unterbrach sich irritiert. Dann begann er von Neuem, um wieder durch ein solches Geräusch unterbrochen zu werden. Er atmete tief durch. Dieses Mal war der Stein an ganz anderer Stelle gefallen. Zumindest war da oben also kein Tier, das am Felsrand Unsinn trieb.
C
yprina hielt den Atem an und starrte hinunter, wo sie schwach den Feuerschein sehen konnte. Wenn der Magier noch einmal diesen seltsamen Laut ausstieß, war sie an der Reihe. Dann sollte sie den Stein fallen lassen, so, wie es vor ihr Lorynir und Parcylen taten. Sie konzentrierte sich. Das Mädchen war sehr froh, daß Tibra das Ritual stören wollte und sie fühlte sich wichtig bei der Aufgabe, die er ihr zu- teilte. Daß der Vater und sein Freund Nymardos inzwischen im Dunkel verschwunden waren und sie allein ließen, das ertrug sie fast trotzig.
A
frinar hatte Tränen der Angst in den Augen. Tibra hatte ihn zum Felshang geführt, gegenüber der Stelle, wo die Talsenke einen Einlaß besaß. Es ging fast senkrecht in die Tiefe. Afrinar schloß für einen Moment die Augen. Der Magier wollte, daß er da hinunter kletterte und obwohl sich der Fels recht zerklüftet zeigte, war der Abstieg in der Dunkelheit doch gefährlich und auch schwierig, zumal er ein Geräusch verursachen durfte. Der Jüngling sah wie er nach unten. Dort saß der Bruder auf dem Opferstein, den Magiern völlig ausgeliefert. Afrinar wußte nicht, daß Nymardos' Geist ihn umgab und stärkte. Er kletterte nun aber weiter und hoffte, nicht zu spät unten anzukommen.
B
rynnar begann von vorne und Cyprina ließ einen Stein am Falshang hinabkollern. Er löste mehrere andere Steine aus dem Fels. Der Magier atmete tief durch, aber er weiteres Mal wollte er sich nicht unterbrechen lassen. Der rollende Laut schwoll an. Fast rhythmisch fielen nun Steine, immer an verschiedenen Stellen.
T
ibra stand im Schutz der Dunkelheit ganz nahe am Eingang der Talsenke. Er hatte nicht damit gerechnet, daß sich Brynnar durch dieses kleinen Trick ganz ablenken ließ. Aber es gefiel ihm sehr, zu spüren, wie zumindest drei der Magier in der Senke ihre Konzentration verloren. Still zählte er mit und befriedigt nickte der Magier, als nach der besprochenen Anzahl kein weiterer Stein mehr ins Tal fiel. Immerhin hatte der Lärm lange genug gedauert, um Afrinar eine ganze Zeit lang zu schützen.
B
rynnar machte weiter. Nach einiger Zeit breitete sich das Kraftfeld aus und als es die Senke ganz einschloß und damit auch Tibra erreichte, hätte der beinahe einen anerkennenden Pfiff ausgestoßen. Brynnar wußte wirklich, was er tat. Das zumindest mußte Tibra anerkennen.
N
ymardos befand sich auf halber Höhe im Fels, nicht weit von Tibra entfernt. Es war ihm gelungen, hier einen relativ sicheren Stand zu finden. Von hier aus konnte er die drei Feuer, die zehn Magier und auch den Opferstein relativ gut erkennen. Die Nebel wehten dicht und umhüllten die Talsenke mit einem dichten Schleier. Nymardos griff nach seinem Stab. Es war ein behelfsmäßiger Langbogen, den er ich auf Tibras Bitte hin baute. Jetzt spannte er die Schnur und legte den Pfeil ein. Vermutlich würde es ihm sogar gelingen, Brynnar zu treffen. Und vermutlich wäre dies auch die einfachste Lösung. Aber Tibra besaß sein Wort, dies nicht einmal zu versuchen. Er konnte den Freund verstehen. Tibra mischte sich, wieder einmal gegen seine Überzeugung, in ein magisches Ritual ein und er fühlte sich denen, die es vollzogen, wohl verwandter als er es je der Priesterschaft gegenüber empfinden konnte. Die Maleeb-Schule war verboten und ihre Anhänger unterstanden der Gerichtsbarkeit der Reiche. Aber Tibra akzeptierte dieses Verbot ohnehin nicht und was er nun tat, das sollte Quenryn retten, nicht die Magier bedrohen. Nymardos hielt den Pfeil auf der gespannten Schnur. Gerrys' Lebender Kristall war gut nahe der Spitze befestigt. Nun mußte dieser Kristall nur noch sein Ziel erreichen. Nymardos begann, sich zu konzentrieren. In diesem Moment warfen die Frauen vorbereitete Substanzen in die Feuer und augenblicklich erfüllte die Senke ein undurchdringlicher, würziger Rauch, der die Sinne der Menschen erfaßte und ihre Spannung weiter antrieb. Brynnar intonierte seine seltsamen Laute nun schneller, aber doch ohne jede Hektik. Das war fast getragen, was er da von sich gab. Nymardos schloß die Augen. Durch den Rauch hindurch war das Ziel ohnehin nicht mehr zu sehen und jeder Versuch, es mit Blicken zu erfassen, mußte zwangsläufig den Geist ablenken. Er vertiefte die Konzentration. Schließ-
lich fand er in sich selbst das Ziel, das der Pfeil erreichen mußte. Ein fast flüchtiger Gedanke flog zu Gerrys. Gerrys befand sich oberhalb von ihm, am Rand der Hochebene. Der Falla wartete auf dieses Zeichen. Er ließ ein Steinchen fallen. Cyprina, Parcylen und Lorynir hörten es. Auch sie entließen nun ihren jeweils letzten Stein in die Tiefe. Nymardos ließ in der Konzentration nicht nach. Der Lärm der Steine erreichte ihn trotzdem und darauf hatte er gewartet. Als er nun endlich den Pfeil von der Sehne schnellen ließ, da folgte das Holz nicht der vorgegebenen Flugbahn, sondern ließ sich lenken durch die Kraft eines konzentrierten Gedankens. Mit leise sirrendem Geräusch bohrte sich der Pfeil am Fuß des Opfersteins ins Erdreich. Der Lärm der Steine hatte den Flug und die Ankunft übertönt. Niemand ahnte etwas von der unerwarteten Luftfracht. Durch den Aufprall lösten sich die Halme, die Gerrys' Kristall hielten. Das seltene Mineral rollte in eine winzige Vertiefung am Stein. Nymardos lehnte den Bogen gegen die Wand. Jetzt konnte er zunächst nichts mehr tun und er wollte möglichst rasch hinunter, um, wo nötig, Tibra in Gefahr beistehen zu können. Trotz der Dunkelheit kletterte er sehr gewandt, denn er hatte gelernt, seinen eigenen Sinnen, auch seinen Augen, nicht immer die Vorherrschaft einzuräumen und konnte ganz gut ohne sie erreichen, was er wollte.
T
ibra stand noch immer im Schutz der Dunkelheit. Afrinar würde noch etwas Zeit benötigen und die gewobene Kraft war auch noch nicht stark genug, um das Opfer jetzt schon zu fordern. Im Grunde wäre er nun sehr gern bei den Menschen dort in der Senke, um mit ihnen gemeinsam die Fülle dieser Kraft, die ihm seltsam vertraut erschien, zu
erfahren. Seit er den Priestern begegnet war, hatte sich sein Leben sehr verändert. In dieser Stunde war sich Tibra nicht sicher, ob ihm diese Veränderung gefiel. Denn die Kraft, die sich hier immer mehr materialisierte, diese Kraft griff auch nach ihm und lockte ihn und erschien ihm fast wichtiger als alles, was ihn mit seinem sonstigen Leben verband. Da war etwas Vertrautes in dieser Kraft, etwas lange Ersehntes, etwas, das er in sich selbst wußte und das er dort doch nie ganz erreichen konnte. Quenryn war nicht wichtig, nicht für ihn. Diese Kraft war es und mit einem Mal wußte er, daß er diese Kraft ganz erfahren wollte und restlos umfassen. Es war an der Zeit, sich zu den seinen zu bekennen und sich auf die Seite der Magie zu stellen.
N
ymardos befand sich noch einige Meter über Tibra und er konnte den Freund auch nicht sehen. Aber spürte, was mit Tibra geschah und begriff, daß diese durchaus reale Kraft dort unten den Magier anrührte und zu sich lockte. Vielleicht würde Brynnar ihn sogar bei dem Ritual dulden. Doch das wenige, das Tibra über diesen Mann berichtete, ließ diese Vermutung nicht zu. Brynnar würde den Eindringling sofort vernichten. Tibra dachte jedoch jetzt nur an diese Kraft und vergaß alle Gefahr. "Gerrys, jetzt!" Nymardos sandte dem Freund einen drängenden Gedanken, den dieser richtig deuten würde. "Es ist zu früh," empfing er dessen Zögern. "Jetzt!" Die Art, wie Nymardos sich nun auf Gerrys ausrichtete, war ganz so, wie er einst als mächstigster Mann der Reiche völligen Gehorsam forderte. Gerrys war irritiert. Tibra wollte sein Handeln erst in dem Moment, in dem Brynnar zum Opferdolch griff. Daß Nymardos diesen Plan verwarf, erstaunte ihn. Aber Nymardos war auch der Mann, den er liebte und dem er vertraute. Er verlor sicher nicht in der angespannten wartenden Situation die Nerven, sondern besaß einen Grund, das verfrühte Eingreifen zu wollen. Gerrys richtete sich auf seinen Lebenden Kristall aus.
In den Reichen gab es nur zehn dieser Minerale. Sie alle gehörten dem Than und waren seine Leihgabe an verdiente Menschen. Einst gab Nymardos diesen Kristall dem Freund, an jenem Tag, als Raaki selbst Gerrys berief. Und Seymas beließ den Stein bei ihm. Er war kleiner als die anderen Kristalle, doch die Fülle des Lichtes hatte nichts mit der Größe eines Steines zu tun, sondern nur mit der Kraft des menschlichen Geistes, die sich durch den Träger darin zentrierte. Da war noch etwas anderes. Gerrys hatte es nur selten erlebt, aber er wußte es. In diesem Stein wehte etwas von der Kraft seines Gottes. In der Stunde höchster Gefahr hatte sich dieses Licht schon rot verfärbt und als er einmal eine große Kraft benötigte, da diente ihm die Kraft dieses Steines machtvoll wie ein Geschoß. Das Licht konnte er bewußt rufen und in seiner Stärke beeinflussen. Nicht aber die Färbung. Er hatte es Tibra gesagt und der Freund war fast böse geworden dabei. "Es muß rotes Licht sein," hatte Tibra verlangt. "Verbinde dich deinem Gott, wenn dir das hilft, aber besorge mir eine Wolke roten Lichtes." Gerrys stimmte sich mühelos auf die Kraft ein, die sie Raaki nannten, den dunklen Gott des Todes. So ganz fehl am Platz konnte diese Kraft hier auch nicht sein, denn in der Senke wartete ein Tod auf Quenryn - ein Tod, der Raaki, dem gütigsten der Götter, nicht gefallen konnte. Unter dem Opferstein verborgen glühte der Lebende Kristall sacht auf. Sein Licht schwoll an. Es wuchs wie eine Nebelwolke. Doch es zeigte sich in dem vertrauten warmen Schein, den ein Lebender Kristall verströmen sollte. Gerrys empfing einen harten Tadel von Nymardos und er spürte zugleich dessen große Sorge. Da ließ er sich fallen und ergab sich seinem Gott. Das Licht des Kristalles nahm
zu. Es hüllte nun den Opferstein schon ein und verharrte hier reglos wie greifbare Masse. Ganz langsam änderte es sein Aussehen. Das klare Licht wurde milchig und dann, fast augenblicklich, wandelte es sich eine dunkelrote, den Granaten gleiche Masse. Für den Moment war das Ritual zerstört. Die Menschen sahen das Licht und wichen, teils irritiert, teils angstvoll, zurück. Brynnar starrte die Lichtwolke an. Er blieb stehen und unterbrach seinen Gesang nicht. Dieses Licht, es mußte zu der Kraft gehören, die sich hier manifestierte. Das Ritual schien vollkommener zu sein als alle anderen heiligen Stunden, die er zuvor erlebte. Sein Gesang wurde machtvoller und damit wuchs auch das von ihm gerufene Kraftfeld.
T
ibra's Schritt stockte. Auch er sah das Licht. Es war zu früh, das wußte er. Gerrys hielt sich nicht an seinen Zeitplan. Aber im Moment interessierte ihn das nicht. Sein Blick fraß sich am Opferstein fest. Dort sah er Quenryn in der Wolke roten Lichtes wie leblos sitzen und dieses Bild weckte eine Erinnerung in ihm und brachte ihn zugleich zur Besinnung. Es waren fünf Jahre seither vergangen. Tief in Khyons Tempelberg hatte er damals Seymas gefunden, ebenfalls in einer Wolke aus rotem Licht gefangen sitzend. Seymas war dem Tod geweiht, so, wie es Quenryn nun war. Sein Wirken hatte den Jüngling damals aus dem Licht geholt und heute war Seymas der mächtigste Mann der Reiche. Er mochte Seymas nicht unbedingt, aber daß er ihm damals beistand, das war eine Tat, die er nie bereute, obwohl sie, was sein magisches Wirken darin betraf, durchaus gegen seine Überzeugung blieb. Nun saß ein anderer Junge in rotem Licht und wieder handelte er gegen seine Überzeugung und sein eigenes Wünsches. Tibra grinste.
Nymardos hatte Gerrys wohl angewiesen, verfrüht zu handeln, um ihn zur Besinnung zu bringen. Er würde ihm bei Gelegenheit, falls es eine solche noch gab, dafür danken. Tibra verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Wußte Gerrys überhaupt, was er hier tat? Oder war er gar nicht der Handelnde darin? Diese rote Lichtwolke zumindest war nicht einfach verfärbtes Licht eines Lebenden Kristalles. Dies war ein Kraftgefüge wie damals in Khyon - nicht ganz von derselben Art, aber dem doch sehr verwandt und zumindest ebenso tödlich. Tibra spürte es mit jeder Faser seines Seins. Aber er war der Einzige, der das jetzt schon begriff. Der Blick des Magiers durchdrang den abschwächenden Rauch und richtete sich auf Brynnar. Sein Denken war wieder klar und sein Fühlen ganz in seiner Gewalt. Dieses Kraftfeld, das Brynnar rief, mochte faszinierend sein. Aber es war nie sein Wunsch gewesen, sich irgendeiner Kraft zu ergeben. Er wollte Kraft beherrschen, nicht von ihr beherrscht werden. Eine Absicht, die innerhalb der Senke wohl nur Brynnar hegte. Da waren ein paar durchaus starke Magier außer Brynnar, doch im Moment waren sie ihrem Führer weit unterlegen. Auch Afrinar sah die rote Lichtwolke, die den Bruder einhüllte. Davon hatte Tibra nicht gesprochen und für den Jüngling schien dieses Licht die größte Bedrohung zu sein, die es nun gab. Er ließ sich die letzten drei Meter fallen, riß sich dabei den Schenkel auf, ignorierte den Schmerz, der ihn weniger bewegte als die Sorge um den Bruder und rief laut: "Wartet, ich bin der Auserwählte." Tibra fluchte leise. Daß Gerrys verfrüht handelte, dafür gab einen für ihn greifbaren Grund. Aber daß nun auch Afrinar sich vor der Zeit zeigte, das gefiel ihm gar nicht.
"Pack ihn," rief Brynnar Chohlos zu und der Jüngere sprang sofort zu Afrinar. Er hatte mit Gegenwehr gerechnet, doch der fremde Jüngling kreuzte die Arme vor der Brust und ergab sich dem Magier freiwiliig. Chohlos führte ihn zu Brynnar. Afrinar kniete äußerlich völlig ruhig vor dem Anführer der MaleebLeute nieder. "Ich bin der Auserwählte," beharrte er. Brynnar musterte ihn eingehend. "Das freiwillige Opfer ruft die größere Kraft," meinte er dann mit ruhiger Stimme. "Das doppelte Opfer muß doppelte Kraft rufen." War eben noch das Ritual gestört und die Einstimmung der Menschen darauf unterbrochen, so wirkten die Worte der doppelten Kraft nun wie eine Verheißung. Mit einem Mal stimmte alles wieder. Brynnar lächelte zufrieden. Die Menschen hier vergaßen ihre Ablenkung, ihre Furcht, ihre Zweifel. Jetzt gehörten sie wieder ganz ihm und der Kraft, die er rief. Er gab den Männern einen Wink und diese begannen sofort, Afrinar die Kleider vom Leib zu reißen. Tibra mußte handeln, ehe die Maleeb-Leute Afrinar auf den Opferstein und damit in dieses tödliche Licht stoßen konnten. Er trat nach vorn und damit in den Schein der Feuer. Die Menschen konnten ihn nun sehen. Und er lachte. Tibra lachte laut und als alle Aufmerksamkeit ihm galt, meinte er scheinbar gelassen: "Welch seltsame Art, zu rechnen, Brynnar. Demnach braucht nur die Anzahl der Opfer groß genug zu sein, um Maleebs Kraft zu rufen? Seid ihr Schlächter oder Magier? Ist die Kraft eures eigenen Geistes dabei so unwichtig?" Er lachte wieder und ging weiter in die Senke hinein. "Vielleicht
braucht ihr ja noch ein paar Opfer mehr in dieser Nacht, um wirklich Kraft zu rufen." "Tibra!" Brynnar erkannte ihn erst jetzt. "Wie könnt ihr es wagen, eine fremde Schule zu stören?" "Nun," erwiderte Tibra scheinbar gelassen, während er näher kam, "Maleeb sagte einst, daß ein wahrer Magier stets nur sich selbst verantwortlich ist. Wie er auch sagte, daß nur ein Narr eine Kraft rufen wird, die er nicht beherrschen kann." "Der kann nicht wissen, was Maleeb sagte," murrte einer der Magier. "Diese Lehren sind geheim." Brynnar grinste, als Tibra die Antwort gab: "Zweiter Zirkel, wie?" vermutete er die Stufe des Sprechers. "Freilich, da sind euch noch viele Dinge unbekannt. Da dürftet ihr noch nicht einmal die einfachsten Regeln der Erkennung des Auserwählten und des höchsten Opfers kennen." "Aber ihr kennt sie, wie?" fauchte der Mann. "Ehe Maleeb Wyla verließ, um in Sarai zu leben, führte er eine Reihe von Streitgesprächen mit der Tochter der Göttin, der Magierin, die in Wyla damals höchste Anerkennung besaß. Diese Gespräche wurden aufgezeichnet." "Diese Schriften sind verschollen," murrte der Mann. Die Maleeb-Leute würden ein Vermögen bezahlen, wenn sie auch nur einen Teil dieser Schriften in die Hand bekämen. Nymardos, inzwischen fast am Fuß des Felsens angelangt, spannte sich etwas an. Er selbst hatte Tibra nach seinen Verdiensten in Khyon das Opalsiegel gegeben, das ihm auch Zugang zu den geheimen Tempelschriften gewährte.
Aber vor nicht allzu langer Zeit, als Tibra als Gast Amarras auf einer vorgelagerten Insel weilte, da war es Thyrian gewesen, der ihm Schriften zum Studium zukommen ließ, die selbst auf Amarra unter Verschluß gehalten wurden. Thyrian, Seymas' Pala, verdankte Tibra sein Leben und damals hielt man ihn für den neuen Than. Niemand hinterfragte seine Entscheidung. Tibra sprach jetzt von diesen Schriften, aber es war nicht wünschenswert, wenn die Maleeb-Jünger erfuhren, wo sie sich befanden. "Anscheinend auch das Wissen des Maleeb," erwiderte Tibra grinsend. "Was ihr hier treibt, würde ihm kaum gefallen." "Genug," mischte sich Brynnar nun zornig ein, "ihr wißt sehr wohl, daß ihr hier unerwünscht seid. Und daß ihr das, was ihr hier gesehen habt, niemandem mehr mitteilen könnt." Er hob die Hand ein wenig an. Tibra sah es aus den Augenwinkeln und reagierte unglaublich schnell. Noch ehe Brynnar seinen begonnenen Gedanken zu Ende bringen konnte, wirbelte er schon herum und bohrte seinen Blick in den des andern. Gleichzeitig ertönte ein hoher, sirrender Ton, dessen Vibration spürbar jeden menschlichen Leib in der Senke ergriff und schüttelte. Es war ebenso schnell vorbei, wie es begann. Aber Brynnar verzichtete für den Moment auf eine echte Bedrohung Tibras. "Was wollt ihr eigentlich hier?" forschte er irritiert. "Nichts weiter als den Jungen, den ihr den Auserwählten nennt," erwiderte Tibra, scheinbar völlig gelassen. "Er gehört mir." "Er ist ein freier Mann." Tibra grinste ihn frech an.
"Freiheit ist ein ziemlich großes Wort für eine reichlich kleine Sache," meinte er abwertend. "Ich habe ihn ausgewählt und das bedeutet, daß er mir gehört. Wenn ich mit ihm fertig bin, könnt ihr ihn haben. Vorher nicht." Brynnar überlegte kurz. Auf Silsa tat sich Tibra nie sonderlich hervor, aber das täuschte nicht über die Tatsache hinweg, daß er allgemein als einer der großen Magier anerkannt war, dessen Fähigkeiten niemand bezweifelte. Auch innerhalb der Maleeb-Schule kannte man seinen Namen und sprach ihn mit Achtung aus. Für die Maleeb-Leute war ein großer Magier nicht einfach ein Mann, der die Kräfte beherrschte. Die wirklichen Führer hier beherrschten auch die Menschen ihrer Umgebung. Sie befanden sich in ihrem normalen Alltagsleben in hervorragenden Positionen und besaßen großen Einfluß. Daß sie Maleeb-Leute waren, wußte oft nicht einmal ihre eigene Familie. Brynnar musterte Tibra. Dieser Magier schloß sich keiner einzelnen Richtung an. Er erwarb sein Wissen in eigenem Studium und er wußte es durchaus anzuwenden. Aber das allein beeindruckte Brynnar nicht sonderlich. Er hatte es schon vernommen: Silsa gehörte Tibra. Diese kleine Insel, auf der das jährliche Treffen der Magier stattfand, war bisher Eigentum Sions gewesen und der dortige Herrscher verweigerte den Magiern den Zutritt. Amarra selbst kaufte Sion diese Insel ab und schenkte sie Tibra. Dieser Magier besaß allem Anschein nach einen großen Einfluß und dies auf einen Bereich, der der Magie feindlich gesonnen sein mußte. Für die Maleeb-Schule wäre Tibra durchaus ein Gewinn. "Wenn ihr mit ihm fertig seid," sagte Brynnar nun langsam, "dann ist der Junge wohl kaum mehr als Opfer tauglich." Tibra erwiderte nichts. Brynnar nahm an, er wolle Quenryn in Miska wandeln. Sie alle hier verstanden die Anspielung und keiner von ihnen war fähig, Miska zu schaffen.
Ungewollt hatte Brynnar Tibra soeben eine Macht zugesprochen, die sie alle mit sehnender Ehrfurcht betrachteten. "Nun, wir haben ein anderes Opfer," gab Brynnar zu Tibras Erstaunen nach. "Chohlos, gib ihm den Auserwählten." Tibra wandte sich rasch um. "Warte," hielt er den so Angesprochenen auf. Dann sah er Brynnar an. "Es wäre klug, zuerst die Kraft zurück zu rufen," schlug er vor. "Es liegt kaum in eurem Interesse, euren eigenen Anhänger durch diese Kraft zu töten." "Kraft tötet nicht." "Nicht den, der sie beherrscht," gab Tibra zu, "und das sollte wohl jeder, der sie zu rufen vermag. Aber Chohlos ist nicht der Mann, der dieses rote Licht dort rufen kann." "Wollt ihr den Jungen selbst vom Opferstein nehmen?" bot Brynnar irritiert an. Tibra atmete unmerklich durch. Dieses Angebot war ein großes Zugeständnis an ihn, das wußte er. Aber er lehnte ab. "Ich habe dieses Licht nicht gerufen, Brynnar. Tut ihr es, wenn ihr wollt. Aber es wäre klüger, es zu bannen." Brynnars Blick huschte über die rote Lichtwolke, die starr den Opferstein und Quenryn einhüllte. Dieses Licht war ihm wie eine Verheißung erschienen. Tibra nannte es eine Bedrohung. Und da er bewußt diese Kraft nicht rief, konnte er sie auch nicht bannen. Aber diese Blöße durfte er sich vor seinen Leuten nicht geben. "Lächerlich," murrte er. "Es gibt keine Kraft, die ich fürchte. Jeder Schüler Maleebs wird durch Maleebs Kraft gestärkt."
"Man könnte meinen, ein Priester spricht," spottete Tibra. "Magier beherrschen Kraft. Sie sind stark, wenn sie sie rufen und wenn sie sie beherrschen. Ich brauche keine Stärkung durch mein eigenes Werk. Und wenn es mir im Weg ist, rufe ich es zurück." "Was ist das eigentlich für ein Schwätzer?" wollte nun einer der Männer wissen. Brynnar lachte leise. "Wenn du dich mit ihm messen willst, mußt du noch ein paar Jahre üben, Skalkar," erwiderte er fast vergnügt. Er sah Tibra an. "Ich hätte damals die Bürgschaft für euch übernehmen sollen, obwohl ihr nicht den Eindruck machtet, jemals ein guter Magier zu werden. Ich habe mich geirrt; das einzige Mal in meinem Leben." "Nun irrt ihr zum zweiten Mal," warnte Tibra, "denn die Kraft in diesem Licht ist zu groß für die Jünger des Maleeb." "Ich habe den Eindruck, als wenn Tibra nur Zeit schinden will," murrte Skalkar. "Wenn wir noch lange mit ihm disputieren, ist es zu spät, um das Ritual auszuführen." Tibra warf dem Mann einen fast flüchtigen Blick zu. Er hatte genau begriffen, worauf es ihm jetzt ankam, aber er würde es nicht mehr ändern können. "Peinliche Situation," stellte Tibra grinsend fest. "Ihr habt einen freiwilligen Auserwählten und seid doch nicht in der Lage, das Ritual zu vollziehen. Nicht, solange ihr das rote Licht nicht bannen könnt. Und ich gehe erst, wenn ich habe, was mir gehört." "Ich könnte euch töten," warnte Brynnar mit gefährlich leiser Stimme.
"Ihr könntet es versuchen," räumte Tibra ein. "Aber selbst wenn es euch gelingt, gewinnt ihr nichts dabei. Mein Tod würde diesen Ort der Kraft entweihen und für eurer Ritual untauglich machen." Die Argumentation leuchtete Brynnar durchaus ein und auch Skalkars Warnung verhallte nicht ungehört. Sie durften nicht mehr säumen. "Bindet ihn," befahl Brynnar nun seinen Leuten. Der Befehl rief die zahlenmäßige und körperliche Übermacht gegen Tibra und forderte keinen magischen Kampf. Der Magier sprang zurück. "Rha!" Er rief den Gefährtem beim Sklavennamen und hoffte, Rhagan würde dies richtig deuten. Zugleich schleuderte er den ersten Angreifer zur Seite, hieb dem Zweiten die Faust in die Magengrube und hechtete den Dritten an. Rhagan hatte nur auf den Ruf gewartet. Daß Tibra nun seinen Sklavennamen benutzte, sollte gewiß keine Demütigung sein. Außerdem war das jetzt nicht wichtig. Der Hüne eilte in die Senke und befreite mit einigen wenigen gezielten Hieben Tibra von den Männern, die ihn umklammerten. Nymardos befand sich am Eingang der Senke und war versucht, nun selbst einzugreifen. Doch Tibra besaß sein Wort, nicht eher zu handeln, als bis er ihn dazu aufforderte. So wartete er ab und beobachtete mit gewisser Sorge den Kampf. "Genug!" Brynnar rief die Männer zurück. Schwer atmend standen
sich die Magier und Tibra gegenüber. Rhagan tat, als ginge ihn das alles nichts an. Er kniete drei Schritte entfernt nieder und sah auf Tibras Hände. Afrinar starrte ihn an. Also war es Thara doch gelungen, aus dem sympathischen Hünen in der kurzen Zeit wieder einen richtigen Sklaven zu machen. Auch Brynnar starrte auf den Hünen. "Ich sagte doch, er gehört mir," erinnerte ihn Tibra. "Das bezieht sich auch auf sein Eigentum." "Gebt ihm das Opfer," entschied Brynnar da. "Es ist sein Recht, sein Eigentum zu fordern und der Auserwählte muß frei sein." Tibra ließ keinen Blick von Brynnar. Es sah so aus, als habe er gewonnen. Der Maleeb-Mann war ihm in allen magischen Dingen überlegen, und doch setzte er diese Kraft nicht ein, sondern gab nach. Schätzte er seine Kraft womöglich höher ein, als sie war? Skalkar wandte sich dem Opferstein zu. Er zögerte kurz und schaute auf das Licht, aber dann zuckte er mit den Schultern. Dieses Licht gehörte zu der Kraft, die sie alle verehrten. Sie hatten es in gemeinsamen Ringen gerufen. Es war ein Teil von ihnen allen, also auch ein Teil von ihm. Nur ein Narr konnte darin eine Bedrohung sehen. Tibra war wohl kein Narr, aber sicher auch kein großer Magier, da er dieses Licht so falsch einschätzte. Skalkar griff durch die rote Lichtwolke hindurch nach Quenryn. Eine Frau schrie auf. Brynnar wirbelte herum und sah eben noch, wie Skalkars lebloser Körper erst nach vorn und dann zur Seite kippte. Er ruschte am Opferstein hinab und blieb am Boden liegen, außerhalb der roten Lichtwolke. Tibra preßte die Lippen zusammen. Er hatte davon gehört, aber er hatte es bisher so nie gesehen. Raakis Kraft
vermochte zu töten. Als Raakis Tempel in Sion geweiht wurde, trat Sions Herrscher, ein Gegner des dunklen Gottes, in dieses Licht und starb dabei. Das Licht an sich war nicht ungewöhnlich. Bei Raakis Ritual rief es der Falla nicht selten herbei und hüllte sich dann ganz darin ein. Gerrys konnte dieses Licht vermutlich gefahrlos durchqueren, Nymardos wohl auch. Aber hier, in der Senke, war es nicht Raakis reine Kraft, die wirkte. Hier hatten die Magier noch eine andere Kraft gerufen und die Verbindung der Kräfte mußte unberechenbar sein. Brynnar kniete bei dem leblosen Leib und untersuchte ihn flüchtig. "Er ist tot," murmelte er betroffen. "Ich habe euch gewarnt," erinnerte ihn Tibra. "Ruft das Licht zurück." Brynnar starrte die Lichtwolke an, sah dann auf seine Leute. Die Männer und Frauen ließen keinen Blick von ihm. Sie erwarteten wirklich, daß er nun handeln würde. Er mußte es tun. Er war ihr Führer und er durfte sie jetzt nicht enttäuschen. Wieder sah er zum Licht. Dann endlich ging er sehr langsam auf Tibra zu und gestand: "Das kann ich nicht." Entsetzte Stille entstand. Die Frauen und Männer in der Senke hatten in dem Licht einen der ihren verloren und nun erfuhren sie, daß diese Kraft, die sie riefen, nicht von ihnen beherrscht werden konnte. Wohl zum ersten Mal empfanden sie Magie als bedrohend und gefährlich, auch und gerade für jene, die sie ausübten. Von nun an konnten sie ihren Weg nicht mehr so unbeirrt gehen. Eine Spur von Zweifel und wohl auch Furcht würde es immer geben und diese Spur allein schon verhinderte die Ausübung großer Rituale.
N
ymardos tastete nach Gerrys' Geist. Er fand den Freund nicht und begriff sofort. Sein Drängen und seine Sorge mußten Gerrys jede Vorsicht vergessen lassen. Der Falla hatte sich ohne Rückhalt und ohne weitere Verbindung zum Hier ganz seinem Gott ergeben. Das geschah nicht zum ersten Mal und bedrohte Gerrys auch nicht. Nur in dieser grenzenlose Hingabe war es möglich, daß Raakis Kraft so wirksam durch den Kristall des Fallas erscheinen konnte. Aber es bedeutete eben auch, daß Gerrys nicht mehr wahrnahm, was in der Senke geschah und er würde Tibras Zeichen nicht erkennen, das ihn bewegen sollte, das Licht verlöschen zu lassen. Und Tibra konnte dies nicht wissen. Sie hatten es so abgesprochen, daß Gerrys die Lichtwolke in dem Moment verlöschen ließ, in der Tibra nach ihr griff. Der Freund vertraute darauf und dieses Vertrauen konnte ihm nun den Tod bringen. Nymardos konnte nun aus dem Dunkel treten und Tibra warnen. Aber damit war die List des Magiers entdeckt und Brynnar würde ihn dann mit der Macht seiner Magie zu vernichten suchen. Da Tibra diesen Kampf fürchtete, war anzunehmen, daß er wirklich unterliegen mußte. Es gab noch die Möglichkeit, Brynnar zu töten. Die anderen Magier in der Senke waren keine wirklichen Gegner. Sie konnten durchaus besiegt werden. Und diese Möglichkeit, die den leichtesten Weg zum Sieg darstellte, würde Tibra niemals erlauben. Nymardos atmete tief durch. Er verlor den Freund, wenn er sich nun gegen Brynnar wandte. Aber das war besser, als wenn dieser Freund sein Leben verlor. Doch verlor dann nicht auch Amarra einen Freund? Was Tibra hier tat, geschah gegen seine Überzeugung. Wenn nun priesterliche Macht den Magier tötete, dessen Leben Tibra unangetastet wissen wollte, mußte der Freund danach allen Priestern
gegenüber ebenso Allgemeinen waren.
reserviert sein, wie es die Magier im
Es war nicht schwer, Tibras Gedanken zu empfangen und zu deuten. Der Freund nahm die Nachricht von Brynnars Versagen mit Befriedigung hin. In seinen Augen war alles bereits geschehen. Quenryn war sicher im Licht und solange die Wolke über dem Opferstein wehte, konnte das Ritual nicht vollzogen werden. Ein wenig wollte er noch warten, dann war die kraftgeladene Stunde gänzlich vorüber und das Ritual für diese Nacht unmöglich. Danach wollte er das Licht berühren, das Gerrys damit endete und Brynnar würde ihn mit Quenryn gehen lassen. Sogar Afrinar war als Opfer für den Moment überflüssig. Ihn würden sie später befreien. Der Jüngling kannte seine Rolle und hatte sich damit einverstanden erklärt. Ehe wieder ein Ritual versucht werden konnte, mußten Wochen vergehen und solange war Afrinar nicht gefährdet. Tibra hatte nun lange genug gewartet. "Ihr könnt es nicht?" wandte er sich an Brynnar. "Ihr ruft Kräfte, die ihr nicht beherrschen könnt? Habe ich euch so sehr überschätzt? Sieht ganz so aus, als müsse ich euch zeigen, wie man mit Magie umgeht." Er lachte leise und spöttisch auf. langsamen Schritten zum Opferstein.
Dann
trat er mit
G
errys befand sich wirklich losgelöst von seinem körperlichen Sein und in diesem Zustand war Kraft und Energie für ihn etwas sehr Greifbares. Fast staunte er, als er das Energiefeld in der Senke erfühlte, dessen reale Wirksamkeit durch Brynnars Singsang verstärkt wurde. Aber er richtete sich noch auf seinen Kristall aus bis zu dem Moment, da er den Tadel Nymardos' empfing. Da schaltete er sein eigenes Bewußtsein wissentlich und willentlich aus und ergab sich ganz der Kraft seines Gottes. Sein Denken in diesem Moment war Licht und sein Wünschen Schutz für Quenryn. So schützte das Licht den Jungen, doch der Falla wußte nichts davon. Nymardos spannte sich an. Tibra stand nun zwei Schritte von der Lichtwolke entfernt. Gerrys war unerreichbar und Tibra konnte keine geistige Warnung verstehen. Lorynir stand mit ihm in Rapport, wie es üblich war zwischen Leiter und Chela. Nymardos richtete sich kurz auf den Schüler aus. Oben an der Felswand kauerte Lorynir und wußte mit einem Mal sehr sicher, daß sein Handeln gefordert war. Tibra hatte ihn befohlen, nach dem Werfen der Steine völlige Ruhe zu wahren und sich unter keinen Umständen entdecken zu lassen. Aber nun wollte sein Leiter, daß er ein unauffälliges Geräusch verursachte. Steine besaß er keine mehr. Lorynir tastete den dunklen Boden ab. Er fand einen armdicken, knorrigen Ast. Ohne Zögern warf er das trockene Holz in die Tiefe.
Das Geräusch durchbrach die Stille. Tibra hob wie witternd den Kopf, richtete sich aber sofort wieder auf Brynnar aus. Trotzdem blieb er stehen. Die ganze Zeit über waren die jungen Leute auf der Hochebene still gewesen. Er bezweifelte, daß dieses Holz zufällig fiel. Die Freunde wollten ihm etwas mitteilen, daran zweifelte er nicht. Tibra gab Rhagan ein unmerkliches Zeichen. Womöglich kamen Fremde und da war es gut, wenn der Hüne den Eingang zur Senke bewachte. Nymardos durfte nicht zögern. Tibra würde nicht lange abwarten und er mußte rasch handeln. Wenn auch Gerrys unerreichbar war, so konnte er sich doch selbst dem dunklen Gott vereinen und darin dann sicher auch den Freund finden. Das war ihm schon einmal gelungen, vor vielen Jahren, als vor Amarras Küste Gerrys in ähnlicher Losgelöstheit von seinem Sein die kristalline Kraft einer verheerenden Wesenheit bekämpfte. Aber das bedeutete auch, daß er Tibra aus den Augen verlor und womöglich nicht eingreifen konnte, wenn er sich in Lebensgefahr begab. Dieses Risiko durfte er nicht eingehen. Es gab ein paar Dinge, die er nicht mochte und dazu gehörte es vorrangig, daß es ihm zuwider war, einen menschlichen Geist mit Macht zu bedrängen. Männer wie Karyson oder Tossar auf diese Art zu erfassen, zu belauschen und wo nötig auch zu strafen, das war eine Sache. Eine ganz andere aber war es, dies rein aus Vorsicht zu tun. Es widerstrebte ihm, aber es blieb keine Zeit für grundlegende Erwägungen. Nymardos richtete sich auf Tibra aus. Der Geist des Magiers war nicht abgeschirmt und noch nicht einmal auf Brynnar zentriert. Obwohl Tibra diesen Mann nicht aus den Augen ließ, nahm er doch zugleich die Eindrücke der näheren Umgebung mit wachem Geist wahr. Er spürte sogar, wie Nymardos' Geist ihn überschattete. Er zuckte förmlich
zusammen dabei, aber er wußte auch, daß er es nicht verhindern konnte. Tibra ballte eine Hand zur Faust, ließ sich aber ansonsten nicht anmerken, was geschah. Inzwischen erreichte Rhagan den Eingang der Talsenke. Sein Blick fiel auf Nymardos, der ihm ein rasches Zeichen gab, sich still zu verhalten. Gerrys fühlte sich ausgesprochen wohl, wie stets, wenn er sich ganz in der dunklen Kraft befand. Deshalb war es ihm fast ein wenig lästig, als er mit einem Mal ein anderes, aber trotzdem vertrautes Sein hier verspürte, das ihn an ein Leben außerhalb dieser Kraft erinnerte. Nymardos befand sich nun ganz auf Raakis Ebene, gab darin aber sein Bewußtsein nicht auf. Als Tibra einen Schritt nach vorn trat, wußte er es. Gerrys empfand diese Erinnerung mit einem Mal wie einen drängenden Ruf, endlich umzukehren. Dann erlosch sie. Nymardos riß sich aus der dunklen Kraft und in eben diesem Moment streckte Tibra die Hand aus, um das rote Licht zu berühren. Rhagan begriff nicht, was geschah. Der Pala des Than hatte ihm stumm geboten, ruhig zu sein und so kniete er still bei Nymardos, bis dieser ihn jetzt mit einer kraftvollen Bewegung hochzog und in Richtung Tibra stieß. Der Hüne stolperte, fing sich und kam erst nach drei Schritten zum Stehen. Unwillig hob Tibra den Kopf. "Verschwinde!" fuhr er Rhagan an und seine Stimme klang dabei alles andere als freundlich. Der Hüne zögerte. Nymardos wollte, daß sich die Aufmerksamkeit auf ihn richtete. Also mußte es einen Anlaß dafür geben. Langsam ging er einen Schritt zurück.
"Du sollst verschwinden. Geh mir aus den Augen," rief Tibra zornig. Rhagan trat einen weiteren Schritt zurück. "Es ist gut," flüsterte Nymardos, "komm zu mir." Da erst verließ der Hüne die Senke und begab sich aus dem Schein der Feuer. "Ich bin hier," begriff Nymardos da Gerrys Rückkehr ins bewußte Sein. Er atmete auf. Wenn Gerrys die Situation wieder überschauen konnte, mußte Tibras Plan gelingen. Der Magier war wütend und er wollte die Sache nun zu Ende bringen. Es war nicht so sehr das störende Geräsuch des fallenden Holzes und auch nicht Rhagans ungerufene Einmischung, die ihn ärgerte. Er wußte, daß Nymardos nach seinem Geist gegriffen hatte und dies nahm er ihm übel. Er fühlte sich in seiner Freiheit und in der Ganzheit seiner Person verletzt und daß dies ausgerechnet durch den Mann geschah, den er für einen Freund hielt, das schmerzte. "Wir sollten das Licht einfach lassen," schlug Brynnar vor. "Einfach lassen?" fuhr Tibra ihn da an. "Habt ihr so viel Angst vor ein bißchen Licht? Unvorstellbar, daß ich einst euch als Lehrer und Bürgen haben wollte." Unerwartet packte er Brynnar bei der Schulter und riß ihn nahe zu sich. Sein Zorn verlieh ihm erstaunliche Körperkraft, vor allem aber umgab er ihn mit einer Ausstrahlung von Macht und Selbstbewußtsein. Tibra krallte seine Hand in Brynnars Haar und zwang sein Gesicht nahe an das rote Licht.
Gerrys verkrampfte sich, als er die Szene sah. Er würde nicht dulden, daß Tibra diesen Mann so tötete. Aber das war auch nicht die Absicht des Magiers. Er spürte die Angst seines Opfers und riß ihn zurück. Maleebs Leute ließen alles tatenlos geschehen. Unfaßbar war für sie, was hier mit ihrem Führer geschah. Nur Chohlos glaubte, eingreifen zu müssen. Aber er stand am Anfang seines Weges und überschätzte seine Kraft. Als er einen geheimen Spruch murmelte, mit dem er Tibra bedrohen wollte, kam er nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Tibra stieß Brynnar beiseite, wirbelte herum und schleuderte in derselben Bewegung aus den hohlen Handflächen kleine Feuerbälle auf den Magier zu. Der kleine Trick verletzte einen Menschen kaum, auch wenn er Schmerzen zufügen konnte. Chohlos schrie auf und warf sich zu Boden, bedeckte den Kopf mit den Armen und fürchtete die größten Qualen. Die anderen wichen etwas zurück. Tibra schaute verdutzt auf den am Boden liegenden Mann. Und dann lachte er aus vollem Hals. Es war einfach nur lächerlich, was hier geschah. Sie waren neun gegen einen und einige von ihnen waren ihm durchaus überlegen. Zumindest Brynnar konnte ihn spielend vernichten. Aber jeder von ihnen hielt ihn für unbesiegbar in magischer Kraft und jeder fürchtete ihn. Tibra trat zu Brynnar und hob ihn auf. "Bringen wir es zu Ende," schlug er vor. Seine Stimme klang gelassen und fast freundlich. "Wie habt ihr das Licht gerufen?" "Ich rief es nicht," beharrte Brynnar irritiert. Tibra grinste. "So unbewußt handelt ihr bei einem Ritual?" spöttelte er. Dann legte er kurz die Handfläche auf Brynnars Stirn.
"Erstaunlich," bemerkte Tibra grinsend, "so kann man es natürlich auch machen." "Was soll das?" Brynnar trat einen Schritt zurück. "Wollt ihr andeuten, in meinem Geist gelesen zu haben?" "Hey," wehrte Tibra fast vergnügt ab, "ich bin Magier, kein Priester. Außerdem hat schon Maleeb selbst diese kleine Kunst beherrscht." Er trat zum Opferstein und hob beide Hände. Langsam näherte er die Handflächen der dunkelroten Lichtwolke. Sie wich vor ihm zurück. Tibra grinste. Immerhin konnte er sich auf Gerrys verlassen, der das Licht seines Lebenden Kristalles nun langsam zurückzog. Es sah so aus, als wenn Tibras Hände das Licht zurückdrängen würden. Aber zu weit durfte er das Spiel nicht treiben, denn ansonsten würden die Menschen den Kristall als Quelle sehen können. Also trat er einen knappen Schritt zurück und klatschte die Handflächen zusammen. Bei diesem Geräusch ließ Gerrys das Licht erlöschen. Es war, als fiele ein Bann von den Menschen. Mit dem verlöschenden Licht gab es nun nur noch das schwache Leuchten der Feuer, welches die Nebel kaum zu durchdringen vermochte. Chohlos erhob sich langsam. Sie kamen zu Tibra und Brynnar, umstanden sie schweigend. "Ihr geht jetzt besser," schlug Tibra mit befehlender Stimme vor. "Verlaßt die Senke und vergeßt diese Nacht. Das Ritual kann ohnehin nicht mehr vollzogen werden. Und nehmt den Toten mit." Für ihn war damit alles gesagt. Er beachtete die Leute nicht weiter, sondern sprang auf den Opferstein und neigte sich über Quenryn. Der Junge befand sich noch immer unter dem Einfluß der Droge. Er nahm nichts von seiner Umwelt
wahr. Die Maleeb-Leute nahmen Skalkars Leichnam auf und strebten ihren Pferden zu. Nymardos verbarg sich rasch im Schatten, Rhagan blieb unbewegt stehen. Brynnar befand sich zuletzt noch in der Senke. "Wir sehen uns wieder, Tibra," sagte er mit fester Stimme. "Vielleicht," lenkte der Magier ein. "Wir werden sehen, ob wir dann Feinde sind." "Das sind wir," versprach der Maleeb-Mann. "Ihr habt mich heute lächerlich gemacht und das vergesse ich euch nicht." Tibra grinste. Er setzte sich auf den Stein und sah Brynnar an. "Vor Jahren habt ihr mich von eurem Besitz prügeln lassen. Diese Demütigung hat noch nach ihrem Ausgleich verlangt. Sagen wir so, Brynnar: wir sind quitt. Ich wünsche euch eine gute Reise." Brynnar preßte die Lippen zusammen. So ganz Unrecht hatte Tibra wirklich nicht. Was er ihm damals antat, das verlangte durchaus nach Rache. Er nickte Tibra kurz zu, wandte sich nach Afrinar und ergriff dessen Handgelenk. "Laßt ihn hier," schlug Tibra fast gemütlich vor. "Er bot sich als freiwilliges Opfer an. Ihr wißt, was das bedeutet." "Ich weiß es, Brynnar," gab Tibra zu. "Aber er ist kein Auserwählter. Er ist der Bruder des Jungen hier und damit gehört er mir."
"Die beiden sind fast zu schade, um als Miska zu enden," mutmaßte Brynnar. "Gebt mir einen davon." Tibra schüttelte langsam den Kopf. "Ich habe keinen Grund, euch etwas zu geben. Geht jetzt, Mann." Gleichzeitig winkte er Afrinar, der sich sofort auf den Opferstein schwang und bei seinem Bruder niederkniete. "Wenn ihr je wieder euer Ritual aufführt, Brynnar, dann seht zu, daß ihr dabei nicht meinen Wirkungskreis stört." Brynnar wollte die Sache noch nicht auf sich beruhen lassen. Er setzte zu einer Erwiderung an, aber Tibra ließ ihn nicht zu Wort kommen. "Ihr geht jetzt, oder wir tragen unsere Fehde zu Ende aus. Allerdings bin ich im Moment im Vorteil, da ich diese rote Kraft beherrsche. Ihr solltest das womöglich erst lernen, ehe wir miteinander kämpfen." Gerrys hörte die Worte und spannte sich an. Wenn Tibra das Licht noch einmal brauchen sollte, mußte er bereit sein. Aber Brynnar ging das Risiko nicht ein. "Für den Moment habt ihr gewonnen," gab er zu. "Ich werde diese Kraft beherrschen und dann, Tibra, dann bezahlt ihr für alles, was ihr heute getan habt." Der Magier grinste gelassen. "Gebt mir Bescheid, wenn ihr so weit seid," schlug er vor. "Das werde ich," versprach Brynnar und es klang wie ein Schwur. Danach wandte er sich um und ging mit großen, aber langsamen Schritten aus der Senke.
A
frinar atmete hörbar auf. Er wollte Tibra ansprechen, aber der gab ihm einen Wink, noch zu warten. Reglos verharrte der Magier. Solange sich die Maleeb-Leute noch in der Nähe aufhielten, mußte es unklug sein, jede Vorsicht zu vergessen. Maleebs Leute gingen wirklich. Es dauerte nicht lange, bis Rhagan nach vorne trat und Tibra mit einem Zeichen zu verstehen gab, daß die Fremden sind entfernten. Da sprang der Magier vom Stein. "Herr," sprach ihn Afrinar mit flehender Stimme an. "Was ist mit Quenryn." Tibra lächelte ihm beruhigend zu. "Nur eine lähmende Droge, kein Grund zur Sorge. Nymardos wird deinen Bruder rasch heilen können." "Er ist so leblos." "Das ist gut so. Das erspart ihm Angst und Entsetzen. Er wird diese Nacht leichter vergessen als wir alle." Rhagan kniete vor Tibra nieder und faßte zögernd nach seinen Händen. "Ich wußte, daß ihr kommen werdet, Herr," versprach er. "Ich habe darauf vertraut und doch gefürchtet, daß es zu spät sei." Tibra zog ihn hoch. "Ich hätte früher kommen müssen," gab er zu. "Und es tut mir leid, wenn ich dich vorhin wie einen Sklaven behandeln mußte." "Ihr
wißt, daß ihr stets das Recht dazu haben werdet,"
erwiderte der Hüne langsam. "Ich fühlte mich nie durch euch bedroht. Wird Quenryn gesunden?" "Das wird er gewiß." Nymardos kam schon zu ihnen. "Du verdankst dem Jungen viel, wie?" "Er rettete mein Leben," bestätigte Rhagan. "Er ist ein erstaunlicher junger Mann, der jede Hilfe verdient. Darf ich bei ihm bleiben, bis er gesundet ist?" "Wer sollte dich hindern?" wunderte sich Tibra. "Du bist ein freier Mann." Nymardos erreichte den Opferstein und neigte sich nun über Quenryn, den sein Bruder flach nieder gebettet hatte. Er griff nach der Rechten des Jungen und legte seine Linke auf dessen Stirn. Er wirkte ganz ruhig und keineswegs angespannt. Wenig später löste er sich schon wieder von Quenryn. "Er schläft nun," versprach er dem besorgten Afrinar. "Wenn er erwacht, ist die Droge verbraucht." Erst jetzt wandte er sich Tibra zu. Sie sahen sich an. "Laßt mich los," verlangte der Magier, der nun die Unversehrtheit seines Geistes forderte. "Das habe ich schon getan," versprach Nymardos mit leiser Stimme. "Laß dir erklären, Freund. Ich..." Tibra schüttelte den Kopf. "Ihr vier übernachtet am besten hier unten," schlug er mit unpersönlicher Stimme vor. "Es wäre unklug, in der Dunkelheit auf die Ebene zu wollen. Gerrys wartet wohl oben. Also ist alles in Ordnung." "Nichts ist in Ordnung," begriff Nymardos.
Aber Tibra ließ sich auf kein Gespräch ein. Er drehte sich um und verließ die Senke. Nymardos folgte ihm nicht, da er spürte, daß Afrinar seine Furcht noch nicht verwand und Hilfe brauchte.
T
ibra ging nur bis zur Quelle. Mit sicherem Gespür wußte er, daß Nymardos ihm nicht folgte und er in Ruhe hier den Morgen erwarten konnte. Er trank ein wenig des klaren Wassers, dann lagerte er sich nieder. Es gab so vieles, über das er nachdenken wollte, doch es dauerte nicht lange, bis die Müdigkeit ihn überkam. Tibra hieß den Schlaf willkommen und verschob alles weitere auf den kommenden Tag.
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arcylen, Lorynir und Cyprina schliefen oben auf der Ebene. Sie hatten sich dort, wo sie waren, etwas vom Abgrund zurück gezogen und auf den nackten Boden gebettet. Die feuchten Nebel durchdrangen ihre Kleidung, doch es war warm und nicht einmal unangenehm. Og und Gur schliefen bei den Pferden und warteten darauf, daß sie jemand rief.
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ls sich die Nebel hoben, entfachte Rhagan in der Senke eines der Feuer neu. Holz war noch genug vorhanden und er hielt es für eine gute Idee, für ein schmackhaftes Frühmahl zu sorgen. Die andern schliefen noch, als er leise die Senke verließ. In der Nähe der Quelle hatte er am Vortag einige große Pilze gesehen, die gebraten eine vorzügliche Speise ergaben. "Bringst du mir ein Stück, wenn sie fertig sind?" wollte Tibra grinsend wissen. Rhagan kam rasch zu ihm. "Ich dachte, ihr schlaft noch. Habe ich euch geweckt, Herr?
Kommt doch mit zum Feuer, ich bitte euch." "Ich will Nymardos nicht begegnen," erklärte Tibra mit dunkler Stimme. "Aber ich habe trotzdem Hunger." Rhagan setzte sich neben ihn. "Herr, das verstehe ich nicht," gab er zu. "Er war so viele Jahre hindurch unser Gebieter und ich fühlte mich nie von ihm bedroht oder bedrängt. Tut ihr ihm nicht Unrecht, wenn ihr ihn nicht sehen wollt? Ich habe wohl kein Recht, so mit euch zu reden. Es ist nur, daß ihr nicht glücklich zu sein scheint." Tibra lächelte verhalten. "Als mein Freund wirst du wohl immer so reden, wie du es magst, Rhagan. Aber was Nymardos betrifft, nun, für den Moment will ich nicht darüber reden. Na, was ist? Bekomme ich meinen Pilz?" "Ihr bekommt das beste Stück davon," versprach Rhagan. Als er die Senke wieder betrat, fand er Afrinar und Quenryn in ein angeregtes Gespräch vertieft. Sein junger Beschützer befand sich wieder wohlauf. Die Droge besaß keinerlei Wirkung mehr auf ihn. Jetzt begrüßte er Rhagan mit Freude. Sie brieten die Pilze über dem offenen Feuer und als sie garten, nahm Rhagan mit leisem Seufzer einen der Bratspieße und erhob sich. Entschuldigend sah er Nymardos an, als er erklärte: "Er will euch nicht sehen, Herr." Nymardos nickte nur und da brachte der Hüne dem Magier das Frühmahl. Nur ungern ließ er sich von Tibra wieder zu den anderen schicken. Als sie später das Feuer erstickten und den Aufstieg begannen, befand sich Tibra nicht mehr bei der Quelle.
A
uch Gerrys hatte ein Feuer entzündet. Da sich die Nebel hoben, kamen Parcylen und Lorynir wieder zu Cyprina, bei der ihr Vater schon geraume Zeit weilte. Parcylen holte die Pferde, die Sklaven und mit ihnen den Proviant. Oben auf der Hochebene gab es ein üppiges Frühmahl und heißen Kräutertee. Als Tibra zu ihnen kam, richteten sich die beiden Sklaven sofort ganz auf ihn aus. Er beachtete sie jetzt nicht. "Gerrys, ich will mit dir sprechen." Der Falla erhob sich sofort. Er wußte, was geschah, denn längst verband sich Nymardos im Geist mit dem geliebten Freund und ließ ihn alles wissen. "Komm," schlug er vor, "wir gehen ein wenig gemeinsam." Sie entfernten sich von der Begleitung und streiften über die Hochebene. Tibra schwieg und Gerrys wartete geduldig auf sein Reden. "Erklär's mir," bat Tibra zumindest verstehen können."
endlich.
"Ich
will
es
Gerrys verstand durchaus. Mit ruhigen Worten schilderte er, weshalb er vor der verabredeten Zeit seinen Kristall erweckte und weshalb er es in dieser Fülle tat. "Ich weiß, daß ihr beide mich dadurch aus dem Sog der Kraft da unten befreien wolltet. Es gelang euch ja auch. Und weiter?" "Du weißt auch, daß ich diese Kraft nicht beherrsche. Sie beherrscht mich, Tibra, und wenn sie so stark wirken soll, dann muß ich mich ihr ganz ergeben. Ich befand mich so tief in Raaki, daß ich den Bezug zur Senke verlor."
"Deshalb das fallende Holz und Rhagans Einmischung. Es sollte mich warnen," verstand Tibra. Gerrys nickte. In ruhigen, mit Bedacht gewählten Worten versuchte er dem Freund zu erklären, wie Nymardos ihn in Raaki erreichte und weshalb er zuvor eine feste Verbindung zu ihm schaffen mußte. Tibra hörte ihm schweigend zu. "Er hat dir dadurch das Leben gerettet," schloß der Falla dann. "Für Nymardos war es sicher keine leichte Entscheidung, glaub mir. Er hat deinen Geist davor nie berührt und er wird es gewiß auch nie wieder tun. Aber letzte Nacht, da hatte er keine andere Wahl. Verstehst du es?" "Nein," wehrte Tibra ab, "das tue ich nicht. Das ist wie... er hat mich vergewaltigt, Gerrys. Was immer der Anlaß dazu war, es entschuldigt die Sache nicht. Und vor allem, ich bezweifle, daß ich mich in seiner Gegenwart jemals wieder sicher fühlen werde." Gerrys verhielt den Schritt. Diese Worte trafen ihn tief, mehr, als wenn sie sich gegen ihn selbst richteten. "Es gibt keine größere Sicherheit als seine Nähe," versprach er eindringlich. Auch Tibra blieb nun stehen. "Wenn du dich mit einem Geliebten vereinst, ist das Sicherheit," gab er zu. "Wenn er dich vergewaltigt, zerstört es das Vertrauen." "Du willst ihm keine Chance mehr geben?" staunte Gerrys ungläubig. "Ganz gewiß nicht," versprach Tibra. "Ich lasse ihn nie wieder so nahe an mich heran."
Gerrys griff zögernd nach seiner Hand und da zog ihn überraschend Tibra an sich und umarmte ihn fest. "Nymardos wird es akzeptieren und sich in Nodher nicht in deine Nähe begeben," versprach der Falla, als sich der Freund von ihm löste. Tibra nahm den Weg wieder auf, hielt nun aber den Arm um die schmalen Schultern des Falla gelegt. Gerrys ließ es gern geschehen. Tibra gab ihm in dieser Stunde mehr Nähe als in all den Jahren zuvor. Daß es eine Stunde des Abschieds war, erfuhr er aber wenig später. "Ich komme nicht mit zurück," erklärte Tibra mit fester Stimme. "Ich nehme Og und Gur mit mir, Gerrys." "Og gehört dem Tempel," erwiderte der Falla langsam. "Und du weißt, daß ich dich nicht hindern werde, wenn du darauf bestehst, Tharas Sklaven mit nach Nodher zu nehmen." "Ich fange langsam an, den Wert des Opalsiegels zu erkennen," erwiderte Tibra lächelnd. "Der Tempel muß mir Og überlassen, wenn er sich nicht mit Seymas überwerfen will. Außerdem, nun, das alles hat nichts mit dir zu tun. Ich bleibe in Thara, weil ich es will. Ich denke, ich habe in diesem Land noch etwas zu erledigen." "Was meinst du?" "Nun, ich habe ein Miska erschaffen und werde mir das nie verzeihen. Die Menschen hier machen aus ihresgleichen etwas, das nicht viel anders ist. Also werde ich auch ihnen nicht verzeihen." "Du kannst Tharas Sklaven nicht ändern," vermutete Gerrys.
Tibra lächelte. "Wahrscheinlich nicht," immerhin versuchen."
gab
er
zu. "Aber ich kann es
"Und danach?" "Was sollte da sein?" "Kommst du danach wieder nach Nodher?" Tibra hielt ihn etwas fester, als er antwortete: "Ich weiß es nicht, Gerrys. Wenn es dir nichts ausmacht, laß mein Haus verschließen und unberührt. Wenn du es brauchst, dann..." "Es wird auf dich warten," versprach der Falla, ihn unterbrechend. "Wie ich auch," fügte er nach kurzer Pause hinzu. Sie hatten das Lager fast wieder erreicht. Nahende Geräusche verrieten, daß Nymardos mit den anderen bald kommen mußte. Tibra bedeutete den Sklaven, daß sie aufsitzen sollten. "Und wenn ich Nymardos bitte, den Tempel zu verlassen?" wollte Gerrys nach langer Überwindung wissen. Tibra trat zu ihm und umarmte ihn kurz. "Du bist ein Narr," schalt er liebevoll. "Meine Entscheidung hat nichts mit Nymardos zu tun. Ich nehme ihm übel, was er getan hat. Irgendwann kann ich wohl mit ihm darüber reden. Jetzt jedenfalls nicht und das ist der Grund, weshalb ich ihn nicht sehen will."
"Aber ist es gut, wenn du jetzt allein reitest? Darf ich dich begleiten, Tibra?" Der Magier lachte leise. "Keine Sorge, Gerrys, ich verkrafte die letzte Nacht vermutlich leichter als ihr alle. Hilf lieber den jungen Leuten. Ich denke, Afrinar braucht dich. Du hast keinen Grund, besorgt zu sein. Ich habe vor, meine Zeit in Thara sehr angenehm zu gestalten." Gerrys war nicht beruhigt und so redete Tibra entgegen seiner ursprünglichen Absicht weiter mit ihm. Der Falla versprach, Afrinar zu leiten. Gleich darauf kam Nymardos aus dem Unterholz, dicht gefolgt von den Brüdern und Rhagan. Er blieb stehen, da er genau spürte, wie wenig Tibra ihm begegnen wollte. Aber der Magier sah auf und ihre Blicke fanden sich für kurze Zeit. Dann schwang sich Tibra in den Sattel. Er neigte sich Gerrys zu. "Leb wohl, mein Freund. Ich liebe dich." Sein Blick huschte kurz zu Nymardos. "Ich denke, ihn auch." Dann riß er hart am Zügel und lenkte sein Pferd vom Lager fort. Die beiden Sklaven folgten ihm still.
D
er heiße Tee tat den Neuankömmlingen gut. Nymardos und Gerrys unterhielten sich leise, während Rhagan mit sichtbarem Vergnügen Quenryn erzählte, wer all diese Männer waren. Der junge Mann erkannte erst jetzt, daß der Hüne ihm stets die Wahrheit sagte. Afrinar lachte über die Verblüffung des Bruders. Sie verbrachten ein paar fröhliche Stunden, in denen sich Nymardos und Gerrys vom Lager entfernten. Unbelauscht konnten sie offen miteinander reden. Gerrys berichtete von seinem letzten Gespräch mit Tibra. Nymardos
nahm es gelassen. "Ich wußte, daß er mir das geistige Festhalten übelnimmt," meinte er. "Aber ich weiß ihn lieber zornig als tot, mein Freund. Und was sein Verweilen in Thara betrifft, nun, den Entschluß hatte er wohl schon vor Tagen gefaßt." "Als du seinen Geist umfaßtest, hast du das erkannt?" "Unter anderem auch das," gab Nymardos zu. "Er wäre also so oder so hier geblieben. Und irgendwann sehen wir ihn wieder, da bin ich sicher." Er erzählte nun von Rhagan und Quenryn und er wußte bereits erstaunlich viel über Afrinars Bruder. Sie gingen zum Lager zurück. Rhagan sah sie kommen und eilte Gerrys entgegen, vor dem er voll Freude niederkniete. "Steh auf," mahnte der Falla. "Ich freue mich, dich wohlauf zu sehen." "Darf ich wieder nach Hause kommen?" stellte der Hüne die bange Frage, die ihn die halbe Nacht beschäftigte. "Seymas meint, wenn es für dich in Thara nichts mehr zu tun gibt, gehörst du wieder nach Nodher," versprach Nymardos. "Aber dein Hiersein hat viel erwirkt, Rhagan." "Im Tempel, Herr?" staunte er. Nymardos nickte lächelnd. Sie kamen zum Lagerfeuer, wo Afrinar dem Falla den Bruder vorstellte. Gerrys lächelte, als er dem jungen Mann sechs Solare zuschob. Erstaunt sah Quenryn ihn an. "Der Preis für Rhagan," lächelte Gerrys. "Dein Mut und deine Hilfsbereitschaft sollen dich nicht auch noch um deine Solare bringen."
"Er wird von nun an davon immer genug haben," versprach Afrinar. "Ich habe nur nie drüber nachgedacht, daß mein eigener Bruder in allem von mir abhängig ist." "Ich wußte immerhin, daß sein Sklavenpapier falsch ist," gab Quenryn zu. "So ganz richtig habe ich wohl nicht gehandelt." "Wie sonst sollte er mich vor Zargyn retten?" stand Rhagan seinem Helfer sofort bei. "Tibra sagte, daß Quenryn kein Vorwurf treffen wird," erinnerte Afrinar, der nicht verstand, weshalb der Magier allein davon ritt. "Das tut es auch nicht," versprach Nymardos. "Allein über Zargyn muß noch ein Urteil gesprochen werden." Quenryn fühlte die Blicke auf sich. "Von mir?" fragte er verwundert. "Das will ich nicht." "Am Gerechtesten wohl von mir," murrte Rhagan, der Quenryn eine solche Entscheidung nicht zumuten wollte. "Nanu," wunderte sich Gerrys, "willst du etwa Rache?" "Nein, Herr," wehrte Rhagan ruhig ab, "aber ich habe das Gefühl, daß alles, was ich damals seinem Vater tat, vergeblich war, wenn nicht wenigstens Valvarans Sohn ein aufrechter Mann wird." "Dann wird man dir den Jungen überstellen," versprach Nymardos. "Ich will ihn holen," erwiderte der Hüne.
Afrinar und Quenryn starrten Rhagan sprachlos an. Der Mann war Tharas Sklave gewesen und erdreistete sich hier, vor dem Pala des Than seinen Willen durchsetzen zu wollen. Ihr Erstaunen aber wuchs, als Nymardos sich lächelnd einverstanden erklärte.
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inige Tage später staunten auch Estoryn und seine Verwandten. Zargyn mußte sich der Reisegruppe nach Nodher anschließen. Allein Quenryn blieb zurück im Haus seines Vaters und er sorgte in unbekümmertem Plaudern dafür, daß der Lanas nie vergaß, was aus einem echten Sklaven Tharas werden konnte. Die Freunde nahmen sich sogar die Zeit, den Umweg über Minosantes Tempel zu reisen. In Nymardos' und Gerrys' Begleitung fühlte sich Rhagan völlig sicher. Nun bewegte er sich im Tempel, als sei er in Nodher. Als sie wenige Tage später diesen Bereich verließen, hatte der Hüne auch dort bleibenden Eindruck hinterlassen. Aber nun gab es kein Zögern mehr. Rhagan sehnte sich nach seiner Familie und Raakis Tempel. Dort war seine Heimat und dies war der einzige Platz, wo er leben wollte. Nymardos bremste die Eile des Hünen nicht aus, denn in diesem Denken waren sie einander gleich.