Die Herrin von Schlehdorn Roman von Leni Behrendt
Wohl selten hat ein Ort so viele Naturschönheiten aufzuweisen wie di...
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Die Herrin von Schlehdorn Roman von Leni Behrendt
Wohl selten hat ein Ort so viele Naturschönheiten aufzuweisen wie diese mittelgroße Provinzstadt. Vor ihren Toren erstreckt sich ein riesiger See, dessen bewaldete Inseln beliebte Ausflugsplätze sind, zu denen die erholungssuchenden Menschen auf Dampfern, Segel- oder Ruderbooten gelangen. Wenn man nun außerhalb der Stadt die Asphaltchaussee erreicht hat, kommt man nach drei Kilometern an eine Weggabelung. Links führt der Weg in den Stadtwald, rechts nach einem weiteren Kilometer zu einer Buchenallee, die nach dem Gut Schlehdorn führt, das man mit einem kleinen Paradies bezeichnen kann, so romantisch liegt es da. Sozusagen vor der Haustür flutet der See. Hinter dem Park, eine Sehenswürdigkeit für sich mit seinem alten Baumbestand, mit dem Weiher, auf dem Schwäne in majestätischer Ruhe dahinrudern, schließt sich der Wald an. An seinem Rande wuchern Schlehdornbüsche, denen das Gut seinen Namen verdankt. Auf der Wiese zwischen Park und Wald hüpft ein geschwätziges Bächlein seine unruhige Bahn dahin. Das Gehöft ist besonders gut eingebaut. Selbst auf dem großen Hof gibt es uralte Bäume und einen Teich, auf dem sich Gänse und Enten munter tummeln. Vor dem schloßartigen Wohnhaus breiten sich Anlagen mit üppigen Ziersträuchern, ein prächtiger Springbrunnen plätschert auf dem Rasenrund. Wahrlich glückliche Menschen, die ein so wundervolles Fleckchen Erde ihr eigen nennen dürfen! Und doch waren sie es nicht. Wenigstens Edgar Gerholt nicht, der vor einundzwanzig Jahren dort eingeheiratet hatte. Das taten vor dem ersten Weltkrieg so manche Offiziere, die nach einem flotten Leben in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren. Also nicht lange gejammert, kurz entschlossen eine Gutstochter geheiratet, den geliebten bunten Rock ausgezogen und Landwirt gespielt. In manchen Fällen gereichte es den Herren zum Glück, in anderen zum Unglück, noch andere resignierten langsam. Zu diesen letzteren gehörte der Dragoneroberleutnant
Edgar Gerholt. Mit sechsundzwanzig Jahren hatte er sein Vermögen, das ihm sein Vater, ein höherer Militär, hinterlassen, verjuxt. Sein Gehalt reichte nicht aus, um ihm ein sorgloses Leben zu ermöglichen – also griff er zu, als Fräulein Kunigunde Ansleit ihm diskret zu verstehen gab, daß er sich um sie bewerben könne, ohne mit einem Korb von dannen ziehen zu müssen. Zwar war sie nicht schön, dazu fünf Jahre älter als er, wurde jedoch nach dem Tode der Eltern Alleinbesitzerin des herrlichen Gutes Schlehdorn. Das lockte. Der Mann ging mit den besten Vorsätzen in die Ehe, die ihm jedoch bald zerschlagen wurden, als die Gattin sich gleich nach den Flitterwochen als herrisch, kleinlich und beinahe boshaft entpuppte. Nach und nach kam der Mann zu der Erkenntnis, warum er geheiratet worden war. Wahrscheinlich hatte es Fräulein Kunigunde an Freiern gefehlt, die ihr zusagten. Außerdem fand der schneidige Oberleutnant Gnade vor ihren Augen. War er doch eine Persönlichkeit, mit der man prahlen konnte. Nach einem knappen Jahr wurde ein Töchterchen geboren, das die Mutter ganz in ihrem Sinne erzog. Kaum daß die Nase der kleinen Alheidis übern Tisch reichte, wurde ihr eingetrichtert, daß sie etwas Besonderes sei. Warum, ließ sich allerdings nicht ergründen. Weil sie ein bildhübsches Dirnlein war? Nun, davon gab es viele auf der Welt. Daß ihre Wiege in einem wohlhabenden oder gar reichen Hause stand? Auf einem solchen Fundament schaukelten noch andere. Die Mutter flößte Alheidis durch ihre ganze Art Bewunderung und Respekt ein, der Vater jedoch war etwas, auf das man ruhig herabschauen durfte. Sie mochte ihn ganz gern, weil er so gut aussah, viel besser als die Väter ihrer Freundinnen, aber das war auch alles. Es berührte sie wenig, als er in den Krieg zog und nach vier Jahren wiederkehrte. Sie hatte ja die Mutter, die ihr immer mehr zum Vorbild wurde. Von den darauffolgenden schweren Jahren merkte sie nichts, da sie ihr gewohntes
Leben fortsetzen konnte. Allerdings nicht das der früheren höheren Töchter. Denn als sie das Pensionat hinter sich hatte und somit ihre Erziehung beendet war, hielt die Mutter es für notwendig, die Töchter mit der Bewirtschaftung des Gutes vertraut zu machen, damit sie als ihre spätere Erbin es selbständig verwalten konnte. Für Kaffeekränzchen, gesellschaftlichen Sport, Flirt mit jungen Herren und dergleichen Dinge mehr, mit denen sich die meisten Töchter wohlhabender Eltern ihre nutzlosen Tage vertrieben, blieb Alheidis keine Zeit. Die Mutter nahm sie tüchtig heran, so daß die Landwirtschaft allmählich das A und O des blutjungen Mädchens wurde. So hatte Alheidis sich bereits gute landwirtschaftliche Kenntnisse erworben, als eine tückische Krankheit die Mutter in wenigen Tagen dahinraffte. Das war genau vor einem Jahr gewesen. Soeben kamen Vater und Tochter von dem Grab, auf das sie einen Kranz niedergelegt hatten, zurück. Es war so ein richtiges Novemberwetter, mit grauverhangenem Himmel, einem Gemisch von Schnee und Regen und einem Wind, der sozusagen bis auf die Knochen ging. Daher waren die beiden Menschen froh, als sie das Wohngemach erreicht hatten und sich am brennenden Kamin erwärmen konnten. »Das ist so recht abscheulich draußen«, sagte Edgar Gerholt, indem er eine Zigarre in Brand steckte. Er war immer noch ein interessanter Mann mit seinen siebenundvierzig Jahren. So ein Held mit angegrauten Schläfen, wie sie sogar jungen Mädchen noch gefährlich werden können. Aber nach einem solchen stand gewiß nicht des Mannes Sinn, sein Herz ging ganz andere Wege. Auf diesem befanden sich jetzt auch seine Gedanken. Keinen Blick hatte er für seine Tochter, die gleichfalls schweigend im Sessel lehnte. Ein junges Menschenkind, das die Natur gar reizvoll ausgestattet hatte. Über mittelgroß die Figur, dazu weich und biegsam wie eine
Gerte. Das Gesicht fein geschnitten, die Augen groß und blau, mit einem leuchtendgrünen Schimmer. Einzig schön war das mittelblonde Haar, das den Anschein erweckte, als wäre Goldstaub darübergestreut. Ungeachtet der modischen Pagen- und Wuschelköpfe trug Alheidis es glatt und über den Nacken fallend. Über Scheitel und Hinterkopf hinweg eine tiefe Welle, unten leicht geringelt, fiel diese gleißende Pracht so, wie die Natur sie diesem eigenartigen und sinnverwirrend schönen Menschenkind mitgegeben hatte. Das ganze Äußere des Mädchens war dazu angetan, Männerherzen zu betören, wonach ihm jedoch absolut nicht der Sinn stand. Äußerlich war Alheidis Gerholt ganz die Tochter ihres Vaters, während sie charakterlich der Mutter glich. Selbstherrlich und hochmütig, eigenwillig und unnachsichtig gegen die Fehler anderer. Kein gutes Erbteil, das sie da angetreten hatte. Und wenn sie auch einen Teil der guten Eigenschaften des Vaters mitbekommen haben sollte, so waren diese jedoch durch die falsche Erziehung so verschüttet, daß sie nicht durchzudringen vermochten. Als der Fernsprecher anschlug, verharrte Alheidis gleichgültig in ihrer Stellung, horchte aber auf, als der Vater sprach. Wie frohbewegt seine Stimme klang, wie warm sein Lachen. Es mußte wohl ein lieber Sprecher am anderen Ende sein, der ihn aus seiner sonstigen Reserve herauslockte. Er sagte nur einige Worte, und das »Auf Wiedersehen« berührte wie ein zärtliches Streicheln. »Mit wem sprachst du denn da?« fragte die Tochter verwundert, als er wieder Platz nahm. »Mit Frau Lyth.« »Wenn du doch endlich den Verkehr mit diesen Leuten lassen würdest«, entgegnete Alheidis verächtlich. »Seit drei Jahren bist du täglich mit ihnen zusammen. Du wirst dich nächstens bei der unmöglichen Familie, die tief unter uns steht, noch ganz einquartieren.« Nur mit Aufbietung aller Energie zwang sich der Mann zur Ruhe. Er mußte an sich halten, damit er der Tochter nicht
in das hochmütig lächelnde Gesicht schlug. Ein Entschluß stieg in ihm auf, den er gleich in Worte faßte: »Hast recht – «, sagte er gelassen. »Ich gedenke mich wirklich nächstens bei ›diesen Leuten und bei dieser unmöglichen Familie‹ ganz und gar einzuquartieren. Zwar widerstrebt es mir, dir das, was ich dir zu sagen habe, am Todestag deiner Mutter zu sagen, aber deine nichtachtenden Bemerkungen fordern mich direkt dazu heraus. Ich fühle mich nämlich noch nicht alt genug, um hier immer weiter zu resignieren, wie ich es einundzwanzig Jahre hindurch tat. Daher will ich noch ein Zipfelchen Glück erhaschen, worauf ja jeder Mensch ein Recht hat. Kurz und gut, ich möchte heiraten – und zwar die unmögliche Frau Lyth.« Mit einer ungestümen Bewegung fuhr das Mädchen hoch. »Das gestatte ich nicht, Papa -!« »Danach werde ich nun nicht gerade fragen«, entgegnete er mehr amüsiert als ärgerlich. »Wenn ich hier auch absolut nichts zu sagen habe, so bin ich dennoch freier Herr über meine Person – Gott sei Dank!« »Du hast aber Pflichten gegen deine Tochter.« »Ach, sieh mal an – «, er kniff die Augen zusammen und betrachtete sie angelegentlich. »Wer kein Recht hat, der hat auch keine Pflichten. Und ersteres hast du mir nie eingeräumt. Es ist schon eines Mannes unwürdig, sich von seiner Frau schurigeln zu lassen, aber von der Tochter, das dürfte an Demütigung grenzen.« »Dann wundere ich mich, daß du das Leben an Mutters Seite so lange ertragen hast«, lächelte sie verächtlich. Ein finsterer Zug trat in sein Gesicht. Verbissen antwortete er: »Ich mußte es, weil ich nach ihrer Ansicht ihr so viel Dank schuldete, den abzutragen, mein ganzes Leben nicht ausreichen würde. Das erklärte sie mir jedesmal mit hämischen Worten, wenn ich sie bat, uns in Güte zu trennen. Es kam dann zum erbitterten Streit, dem ich, wie ich ehrlich zugeben will, nicht gewachsen war. Langsam
resignierte ich, bis – ja, bis die Frau frei wurde, der auch heute noch mein ganzes Herz gehört.« »Interessant. Dein Herz ging also andere Wege – aber das Geld deiner Frau war dir gut genug.« »Erlaube mal!« fiel er ihr scharf ins Wort. »Du mit deinen zwanzig Jahren bist noch längst nicht reif genug, um eine so tiefgründige Angelegenheit richtig beurteilen zu können. Ich bin mit den besten Vorsätzen in die Ehe gegangen, habe deiner Mutter ehrliche Zuneigung entgegengebracht, die sie dann nach und nach in mir tötete. Denn sie – sowohl wie auch du – seid keine Frauen, mit denen ein Mann in Liebe und Eintracht leben kann. Solche Wesen lieben nämlich nur sich selbst. Und von dem Geld deiner Mutter hatte ich nicht sehr viel, weil sie mir ein Gehalt zahlte, wie es einem Inspektor zukommt. Nur daß ein solcher nicht der Sklave seiner Herrin ist, über den sie ganz nach Willkür herrschen kann.« »Warum ließest du dir das bieten?« »Weil ich Streitigkeiten wie die Sünde hasse. Und wie ich bereits vorhin erklärte, war ich deiner Mutter nicht gewachsen.« »Nicht sehr rühmlich für einen Mann«, zogen sich ihre Mundwinkel verächtlich nach unten. Doch ehe er etwas erwidern konnte, fragte sie: »Wann gedenkst du zu heiraten?« »Möglichst bald«, gab er wie widerwillig zurück. »Wir brauchen den äußeren Schein nun nicht länger zu wahren, da heute das Trauerjahr um meine verstorbene Frau um ist, und Frau Lyth schon seit zwei Jahren Witwe ist.« Alheidis fuhr auf, ihre Augen waren dunkel vor Zorn. Dann jedoch gab sie sich gelassen. »Schön«, näselte sie ziemlich hochmütig. »Ich werde dir das Geld auszahlen, das meine Mutter dir als Pflichterbteil hinterlassen hat. Damit dürfte dann alles geregelt sein, und wir haben nichts mehr miteinander zu schaffen.« In Edgar Gerholt kochte es. Aber noch immer beherrschte er sich.
»Man könnte das Geld«, sagte er leise, »auf Schlehdorn stehen lassen. Ich brauche es nicht so dringend. Für das Gut hingegen ist es notwendig.« »Nein«, sagte sie hart. »Du sollst haben, was dir zusteht. Ich arbeite nicht gern mit fremdem Geld.« Da erhob sich der Mann und ging ohne ein Wort zu sagen. Edgar Gerholt ritt nach dem Ort, wohin seine Sehnsucht ihn zog. Ein mittelgroßes Gut nur, doch tadellos gehalten, war sein Ziel. Das Haus, schlicht von innen und außen, konnte sich an dem Schlehdorner nicht messen, an trauter Behaglichkeit jedoch war es ihm über. Wie eine warme Welle überflutete es das Herz des Mannes, der wie ein müder Wanderer Schutz in den Mauern des Hauses suchte. »Was hat’s denn gegeben, Edgar?« fragte die Frau, über deren Hand er sich beugte, leise. »Du siehst so verbittert aus und zugleich gequält. Ist etwas mit deiner Tochter? « »O ja – «, lachte er hart auf, indem er sich in einen Sessel am Kamin sinken ließ. Da fragte sie nicht weiter, strich nur sacht über seine umwölkte Stirn und sorgte für Kaffee. Und als der Mann die erste Tasse geleert, dazu die appetitliche Schnitte, die ihm die Frau fürsorglich auf den Teller gelegt, gegessen hatte, wurde ihm wohler. Bei der Zigarre lachte er bereits wieder. Dann sprach er sich das Herz frei, worauf seine geduldige Zuhörerin dann traurig meinte: »Unter den Umständen müssen wir wohl von einer Heirat absehen…« »Ausgeschlossen!« unterbrach er sie entschieden. »Glaubst du etwa, ich ließe mir von so einem eigensinnigen Gör mein Glück zerstören?« »Es handelt sich um deine Tochter, Edgar.« »Aber um eine, die ihren Vater genauso schurigelt, wie ihre Mutter es tat. Wenn ich bei der schon einen Inspektor spielte, der überhaupt nichts zu melden hatte, so kann ich mir das von dem jungen Ding unmöglich bieten lassen. Dann würde ja das letzte bißchen Achtung, das ich noch vor mir habe, auch noch zum Kuckuck gehen. Das eine
Jahr habe ich aushalten müssen, aber jetzt ist endgültig Schluß. Mag sie allein auf ihrem Besitz herumwurschteln, sie wird schon noch durch Schaden klug werden. Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen und damit holla! Aber wenn du mich nicht haben willst…« »Edgar, ich bitte dich -!« hielt sie ihm flehend die Hände entgegen, die er einfing und nacheinander zärtlich küßte. »Na ja – «, brummte er verlegen. »Ist ja schon gut. Wo sind die Kinder?« »Die müssen jeden Augenblick erscheinen.« »Wie werden sie es auffassen, daß sie einen neuen Vater bekommen sollen?« »Freuen werden sie sich.« »Meinst du wirklich, Irene?« »Ganz bestimmt, Edgar. Du weißt doch, wie sehr sie an dir hängen. Da kommen sie übrigens, also können wir sie fragen.« Die Tür wurde schwungvoll geöffnet, und herein stürmten drei junge Menschenkinder. Als sie den Gast sahen, umringten sie ihn jubelnd. »Endlich läßt du dich wieder einmal blicken, du Ungetreuer«, begrüßte ihn der Sohn des Hauses, ein prächtiger Bursche mit seiner sehnigen Gestalt, dem frischen Gesicht und braunen Kraushaar. »Was meinst du wohl, wie sehr wir dich vermißt haben.« »Aber wirklich, Onkel Edgar«, schmiegte sich Roselind an seine Seite, ihn vorwurfsvoll dabei ansehend. »Wir haben dir doch nichts getan, und du bist so schlecht zu uns.« »Sehr schlecht – «, bekräftigte das Nesthäkchen. »Ich mag dich gar nicht mehr leiden.« Dabei zitterte das Stimmchen bedenklich. Der Mann zog sie an sich und zupfte neckend an den Locken, die dem reizenden Dirnlein im Farbton reifer Kastanien über die Schulter fielen. »Ei, Irmela, soll das wirklich dein letztes Wort sein? Dann kann ich ja wieder gehen…« Schon umschlangen ihn zwei Arme, und ein Mund drückte
sich auf seine Wange. »Na also – «, lachte er fröhlich. »Wenn ihr kleine Bande nur wüßtet, wie lieb ich euch habe, dann würdet ihr mir sofort Absolution meiner Sünden erteilen.« »Schon geschehen – «, tat der Sekundaner Bernd gnädig. »Du bist ja jetzt hier und damit genug.« »Und bleibst auch«, verlangte Roselind. »So -?« schaute er in die tiefblauen Augen des reizenden Backfischchens hinein. »Wenn ich dich nun beim Wort nähme, hm?« »Kannst du, Onkel Edgar. Wenn du nämlich nicht hier bist, dann fehlt uns etwas.« Die kleine Unschuld ahnte nicht, wie sehr sie mit ihren Bemerkungen dem Mann das Sprechen über das, was er auf dem Herzen hatte, erleichterte. So nebenbei meinte er: »Ich bliebe schon gern für immer hier – wenn ich nur wüßte als was…« »Als unser Paps – «, kam es spontan über die Lippen der zehnjährigen Irmela. »Das ist doch so einfach, nicht wahr, Mutti?« Diese senkte in peinlicher Verlegenheit den Kopf. Es war doch nicht leicht, seinen Kindern mit einem so schwerwiegenden Problem zu kommen. Eine Träne sprang glitzernd von ihrer Wimper, und das konnte der ruppige Junge mit dem weichen Herzen nicht ungerührt mitansehen. Er räusperte sich, als wolle er eine Rede halten und sagte dann kurz und bündig: »Geliebte Mutsch, zum Weinen ist das doch nun wirklich nicht. Machen wir die Sache kurz und schmerzlos und feiern wir fröhlich Verlobung.« »Junge, du gehst ja forsch vor«, lachte Gerholt herzlich. »Aber wenn du meinst…« »Und ob! Ohne Vater ist es auf die Dauer doch nichts. Man muß schon manchmal jemand haben, mit dem man reden kann wie Mann zu Mann. Daß ihr beide euch mögt, das merkt man doch. Außerdem wäre es ganz im Sinne unseres guten Papas. – Hm, nun laßt mich doch nicht soviel reden,
das ist ja scheußlich. Ihr Marjellchen könnt schließlich auch was sagen und nicht so dastehen wie vom Donner gerührt.« »Schlingel, komm her«, schmunzelte Edgar Gerholt. »Einen besseren Brautwerber als dich hätte ich mir gar nicht wünschen können. Schlag ein, mein Sohn, du bist erkannt!« Ein fester Händedruck unter Männern wurde getauscht, und dann wandte Edgar sich an die beiden Mädchen, die vor Freude nur so strahlten. Ihres Einverständnisses war er somit gewiß, da brauchte er nicht erst viele Worte zu machen. Schon längst betrachteten ihn die Kinder der geliebten Frau als zu ihnen gehörig und liebten ihn wie einen Vater und waren glücklich, daß er als solcher nun immer bei ihnen bleiben wollte. Wohl hatten sie mit inniger Liebe an ihrem verstorbenen Vater gehangen und ihm lange nachgejammert. Aber Kinder vergessen allmählich, zumal dann, wenn sie ein sonniges Zuhause haben und eine so gute Mutter, wie Frau Irene es nun einmal war. Obwohl sie in ihrem Leben manches Schwere mitmachen mußte, hatte sie sich nie ihrem Kummer hingegeben, um damit ihren Kindern den Frohsinn nicht zu nehmen. Sie hatte den Oberleutnant Lyth aus herzlicher Liebe geheiratet. In sorglosem Glück vergingen die ersten Ehejahre, das noch durch den kleinen Stammhalter gekrönt wurde. Doch als das zweite Kind zur Welt kam, sah die Zukunft nicht allzu rosig aus. Und schon sechs Wochen später durchgellte Kriegsgeschrei das bis dahin so friedliche Land. Jahre der Angst folgten für Irene Lyth. Angst um den geliebten Mann, die sie jedoch tapfer bezwang, wenn dieser sich zu kurzem Urlaub einfand. Als Lyth als Krüppel nach Hause kam, fand er sein zweites Töchterchen vor, eben erst geboren. Mit herzrührender Freude wurde er von der Gattin empfangen, dann unermüdlich gehegt und gepflegt. Sie blieb auch tapfer während der darauffolgenden unruhigen
Jahre, die jedoch erst bitter schwer wurden, als die Inflation das Vermögen verschlang. Man mußte von der Pension leben, die man dem Kriegskrüppel zahlte. Bis Irene nach dem Tode ihres Onkels, eines alten Junggesellen, dessen Gut erbte, da war man plötzlich aller Sorgen ledig. Zwar hatte sie keine Ahnung von Landwirtschaft, konnte auch bei ihrem Mann keine Unterstützung finden, aber dafür gab es einen tüchtigen Inspektor, der schon seit zwei Jahrzehnten das Gut verwaltete. Eine ehrliche, biedere Haut, der seinem neuen Brotherrn bald ebenso treu ergeben war, wie er es dem Verstorbenen gewesen. Das Haupt der Familie jedoch siechte langsam dahin, da er außer den äußeren auch noch innere Verletzungen davongetragen hatte. Mit Liebe und Geduld umhegte ihn seine Frau. Freute sich mit ihm, als eines Tages sein Kriegskamerad Edgar Gerholt unverhofft auftauchte. Da Kiwitten nur vier Kilometer von Schlehdorn entfernt lag, wurde der getreue Freund fast täglicher Gast. Er widmete seine Freizeit dem kranken Kameraden, der sich an seiner frohen Zuversicht immer wieder aufrichtete. Leider nahm die Krankheit keinen guten Verlauf. Ein Jahr nach seinem Einzug in Kiwitten schloß der sieche Mann seine Augen für immer. »Nimm dich Irenes an, du treuer Freund«, waren seine letzten Worte an ihn. »Sie ist eine Frau, wie man sie selten findet.« Und das Versprechen, das Edgar dem Sterbenden gab, hielt er dann auch treu. Stand der zuerst so verzweifelten Witwe, die nur langsam über den Tod des Gatten hinwegkam, mit Rat und Tat zur Seite, kümmerte sich um die Kinder, so gut er es vermochte. Natürlich blieb es nicht aus, daß die lieben Nachbarn ihre losen Zungen über seine Besuche in Kiwitten zu wetzen begannen – und am meisten tat es seine Frau. Ihre Eifersucht stand in hellen Flammen. Sie schmähte die unschuldige Irene Lyth, wo sie nur konnte – und je mehr sie diese schmähte, um so fester schloß ihr Mann sie in sein
Herz. Als die erbitterte Kunigunde ihm einmal sogar mit einem Hinauswurf drohte, wenn er seine Besuche in Kiwitten nicht sofort einstellte, bekam sie zur Antwort, daß ihm nichts Lieberes geschehen könnte. »Nun gerade nicht!« schrie sie sinnlos vor Wut. »Du gehörst mir! Mit meinem Geld habe ich dich gekauft! Wage es nicht, dich meiner entledigen zu wollen. Dann sollst du mich kennenlernen – du und die Frau, die sich schämen sollte, eine Ehe zu zerstören!« Es war nur gut, daß Alheidis nie Zeugin derartiger Auftritte wurde, sonst hätte sie einen schlechten Begriff von ihrer Mutter bekommen, die ihr als Vorbild diente. Allein, die schlaue Frau wußte es immer so einzurichten, daß ihre Tochter nie in der Nähe war, wenn sie zur Megäre wurde. Nach einer fröhlichen kleinen Verlobungsfeier, bei der das junge Volk tapfer mitgehalten und nun zu Bett gegangen war, erhob sich Edgar Gerholt. »Nun gilt es Abschied nehmen, herzliebe Irene«, sagte er zärtlich. »Laß nicht das Köpfchen hängen, es ist ja nicht für lange. Nach drei Wochen lassen wir uns still zusammengeben und kehren dann hierher zurück, zu einem gemeinsamen Leben voll Liebe und Glück. Doch bis dahin kann ich nicht mit dir unter einem Dach leben. Du kennst doch die Menschen, und ich möchte nicht, daß du von lästernden Zungen besudelt wirst. Dazu stehst du mir zu hoch.« »Wo wirst du so lange bleiben?« fragte sie leise. »Ich reise dahin, wo viel Sonne ist. Will mein Herz vollsaugen, damit ich dir einen großen Teil abgeben kann, wenn ich dich ganz mein eigen nennen darf. Jeden Tag soll ein Brieflein von mir dir Kunde bringen.« »Du bist doch für eine längere Reise gar nicht vorbereitet. Kehrst du zuerst noch nach Schlehdorn zurück?« »Nein!« entgegnete er hart. »Da habe ich nichts mehr zu suchen, nachdem mir meine Tochter so kaltlächelnd den Abschied gab. Wenn ich erst für immer hier bin, muß sie mir meine Sachen schicken. Was ich bis dahin brauche, das
kaufe ich mir unterwegs.« »Oh, Edgar, ich kann das Schuldgefühl nicht loswerden, dich deiner Tochter entfremdet zu haben. Sie ist doch nach deinem Fortgang ganz allein.« »Sie hat sich selbst, und das genügt ihr. Menschen wie sie lassen keinen neben sich gelten. Sie ist eben ganz die Tochter ihrer Mutter.« »Aber etwas muß sie doch auch von dir haben, Edgar.« »Nicht daß ich wüßte. Und nun zerbrich dir nicht dein Köpfchen über Dinge, die du doch nicht ändern kannst, meine Herzliebste. Du nimmst meiner Tochter gar nichts, weil sie nie Wert auf meine Vaterliebe gelegt hat. Und was der Mensch für nichts achtet, das kann ihm auch nicht verlorengehen. Und nun laß uns den Abschied kurz machen. Denke an mich – und freue dich mit mir auf ein frohes Wiedersehen.« Nach dem Fortgang ihres Vaters führte Alheidis ihr gewohntes Leben weiter. Verwaltete ihren Besitz so, wie sie es für richtig hielt. Zwar verstand sie für ihre jungen Jahre erstaunlich viel, allein, um keine Fehler zu machen, dazu fehlte ihr die richtige fachmännische Ausbildung und außerdem noch die nötige Erfahrung. Schlehdorn war überhaupt nie richtig bewirtschaftet worden, weil die verstorbene Gutsherrin der schwierigen Aufgabe, die sie sich selbst gestellt, nicht gewachsen gewesen. Um das zu erkennen, war sie viel zu selbstherrlich gewesen, was sie tat, blieb für sie über jede Kritik erhaben. Wenn ihr Mann, der sich im Laufe der Jahre gute landwirtschaftliche Kenntnisse erworben hatte, sie auf ihre Fehler aufmerksam machte, hatte sie ihn empört abblitzen lassen. Von den Gutsbeamten ließ sie sich schon gar nicht dreinreden. Solche, die es trotzdem wagten, duldete sie nicht lange um sich. Ihr waren nur derartige Untergebene angenehm, die ihrer Selbstherrlichkeit schmeichelten und sich augendienerisch ihren Befehlen blindlings fügten. So hatte Alheidis das alles von ihrer Mutter gelernt, und so
handhabte sie es nach deren Tod weiter. Die Warnungen des Vaters fanden bei ihr nie Gehör, sondern wurden hochmütig abgetan. Daß er heimlich manchen Schaden verhütete, das schien sie nicht zu merken. Solange sie ihn zur Seite hatte, waren auch ernstliche Schäden nicht zu verzeichnen, weil er den Gutsbeamten scharf auf die Finger sah und dafür sorgte, daß sie einigermaßen ihre Pflicht taten. Nachdem er jedoch Schlehdorn verlassen hatte, riß dort eine regelrechte Lotterwirtschaft ein. Anscheinend fügte man sich blindlings dem Befehl der jungen Herrin, nannte sie jedoch unter sich eine hochmütige dumme Gans, tat, was man wollte und wirtschaftete ergiebig in seine Tasche. Inspektor und Rendant steckten schon längst unter einer schmutzigen Decke und zogen nun auch noch gleichwertige Kreaturen nach Schlehdorn, so daß dort eine regelrechte Vetternwirtschaft herrschte, wo jeder einzelne auf seinen Vorteil bedacht war. Man munkelte auf den Nachbargütern bereits über die unhaltbaren Zustände auf Schlehdorn – nur die Herrin selbst hatte keine Ahnung, was auf ihrem Besitz geschah. Ihr Vater, der von alledem, was auf Schlehdorn passierte, genauestens unterrichtet war, machte sich Sorgen um die Zukunft seiner Tochter, obwohl sie es gewiß nicht verdient hatte. Er vergaß seinen Groll und schrieb ihr einen langen Brief, in dem er ihr die Mißstände auf ihrem Besitz genau auseinandersetzte – und postwendend erhielt er das Schreiben mit dem Vermerk zurück: Annahme verweigert. In hellem Zorn sagte er sich da ganz von seiner Tochter los. Und bald geschah der selbstherrlichen Besitzerin von Schlehdorn, was schon lange befürchtet wurde: Inspektor und Rendant waren eines Tages verschwunden und mit ihnen die reichgefüllte Gutskasse. Da stand das über alles erhabene Fräulein zum ersten Mal in seinem Leben ratlos da – und mußte erfahren, daß sich niemand fand, der sich ihm helfend zur Seite stellte. Auch der Kriminalkommissar, den sie betreffs des Diebstahls
aufsuchte, zeigte sich außerordentlich reserviert. »Ja, mein gnädiges Fräulein, da kann man nichts weiter tun als die Angelegenheit gesetzmäßig verfolgen«, bemerkte er kühl. »Ob Sie jedoch damit Ihr Geld wiederbekommen, das steht in Frage.« »Gibt es denn keine Gerechtigkeit?« fragte sie hochfahrend, worauf die sachliche Antwort kam: »Daß Ihnen die wird, dafür werde ich mich einsetzen. Das ist aber auch alles, was ich für Sie tun kann.« Aufs tiefste empört ging Alheidis. Was dem Menschen nur einfiel, sie derart abweisend zu behandeln! Sie suchte doch weiter nichts als ihr Recht, und er war dazu da, es zu vertreten. Daß sie sich etwas im Ton vergriffen hatte, als sie den Beamten um seinen Beistand bat, das kam ihr natürlich nicht in den Sinn. In miserabler Verfassung ging sie die Straße entlang, taub und blind für alles, was um sie her geschah. Daher bemerkte sie auch den Herrn nicht, der ihr entgegenkam und bei ihrem Anblick stutzte. Ei, sieh mal an – das hochnäsige Fräulein Gerholt! Ganz nett purzeln die Tränen über das blasse Gesicht. Ja, ja, Kindchen, unser lieber Herrgott sorgt schon dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Da hat er also auch dich mit einem Dämpferchen bedacht, was du auch redlich verdient hast. Eigentlich sollte man dich, du selbstherrliche kleine Person, ungerührt laufen lassen, aber man ist ja schließlich kein Unmensch. Was mir da eben einfällt, ist sozusagen ein Schicksalswink mit dem Zaunpfahl. Also spielen wir da mal so ein bißchen Vorsehung. Du wirst mich ja wohl in bekannt hochnäsiger Art gehörig abblitzen lassen, aber ich habe nicht umsonst ein dickes Fell. Schließlich wirst du ja auch von deinem patenten Herrn Papa etwas mitgekriegt haben, und nicht nur von Frau Kunigunde allein belastet sein. Mal ausprobieren… Großartig, eben geht sie in die Konditorei. Also nach und forsch vorgegangen, alter Knabe! In dem großen Raum war wie immer am Frühvormittag
wenig Betrieb. Alheidis setzte sich an einen abseits stehenden lisch, bestellte Kaffee und sah nicht gerade freundlich auf den älteren Herrn, der plötzlich vor ihr stand. »Guten Tag, gnädiges Fräulein«, grüßte er vergnügt. »Schauen Sie mich nicht so bitterböse an, sonst muß ich Reißaus nehmen.« »Mir ist gewiß nicht zum Scherzen zumute, Herr Haßler…« »Weiß ich, Kindchen, weiß ich – «, winkte er beschwichtigend ab. »Sie tun mir gewiß leid, weil Sie so eklig in der Klemme sitzen. Darf ich Platz nehmen?« »Bitte…« Obgleich es recht frostig klang, ließ er sich seelenruhig ihr gegenüber nieder. Unangenehm berührt von seiner Vertraulichkeit musterte sie seine breite, untersetzte Gestalt, sein frisches Gesicht, seinen kantigen Kopf mit dem Borstenhaar. Als sie jedoch in seine ehrlichen Augen sah, da senkte sie den Blick. »Ja, mein kleines Fräulein, das ist nun eine böse Sache«, ging er forsch vor. »Wir Landwirte haben in dieser miserablen Zeit sowieso schon zu krebsen. Und wenn einem da noch so ein schönes Stück Geld abhanden kommt, das ist natürlich bitter. Sie sind viel zu arglos gewesen…« »Herr Haßler, ich muß doch sehr bitten!« »Na na – «, begütigte er. »Ich meine es gut mit Ihnen, das müssen Sie doch schließlich fühlen. Nehmen Sie an, Ihr Vater säße Ihnen gegenüber…« So, den Hieb mußte er ihr unbedingt versetzen. Und er saß, wie er mit Behagen feststellen konnte. Sollst schon noch mehr von mir zu hören bekommen, mein selbstgefälliges Fräulein – und wenn du mich auch noch so empört anblitzt. Also sprach er weiter: »Ich kann mir denken, daß Ihnen augenblicklich nicht wohl in Ihrer Haut ist…« »Herr Haßler…« »Aber kleines Mädchen«, lächelte er nachsichtig über ihren
eisigen Ton. »Man immer sachte mit den jungen Pferdchen. Ich habe davon gehört, wie übel man Ihnen mitgespielt hat. Aus dem Schlamassel können Sie unmöglich allein herausfinden, daher möchte ich Ihnen helfen. Die Verwaltung eines so großen Gutes macht in der heutigen Zeit sogar uns hartgesottenen Männern zu schaffen, wie soll da so ein zartes Fräulein wohl den Schwierigkeiten gewachsen sein. Die Gutsbeamtenfrage allein ist schon ein Kapitel für sich. Wer da nicht die richtigen zur Seite hat, der ist einfach aufgeschmissen. Es gibt nämlich Halunken darunter, daß es zum Himmel schreit.« »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte sie kurz, und da lachte er herzlich. »Kluges Köpfchen, kann nicht anders sagen. Also kann ich gleich mit der Tür ins Haus fallen. Ich möchte Ihnen nämlich zu einem Inspektor verhelfen, auf den Sie sich hundertprozentig verlassen können. Ein Kerl wie Stahl und Eisen, sage ich Ihnen, so was schafft unser Herrgott nicht alle Tage. Allerdings ist er ein bißchen schwierig zu behandeln, läßt sich sozusagen nicht an den Wimpern klimpern, hat dafür aber landwirtschaftliche Qualitäten ersten Ranges.« »Sagen Sie mal, Herr Haßler – «, fragte sie langsam. »Haben Sie diesen angepriesenen Herrn vielleicht in Ihren Diensten?« »Gott bewahre – «, lachte er. »Auf meiner Klitsche kann ich mir so einen erstklassigen Inspektor wahrhaftig nicht leisten. Der kommt von einem ganz anderen Gut.« »Hm, ich dachte nur, Sie wollten den Herrn wegloben.« »Schau mal an, so mißtrauisch ist das kleine Fräulein. Ist ja auch schließlich kein Wunder, gebranntes Kind pflegt das Feuer zu scheuen. Aber mir können Sie schon vertrauen, ich meine es tatsächlich ehrlich mit Ihnen. Außerdem ist es noch nicht sicher, ob der betreffende Herr gewillt wäre, sich um den Posten bei Ihnen zu bewerben. Bei seinen guten Referenzen dürfte es ihm nämlich nicht schwerfallen, auch anderweitig unterzukommen. Vielleicht schreckt er
vor den Schwierigkeiten zurück, die in Schlehdorn seiner warten – denn…« Jetzt schwand der gutmütige Zug aus seinem Gesicht. Die hellen Augen blickten wie bei einem Menschen, der fest entschlossen ist, dem andern die Wahrheit zu sagen, gleichviel wie er sie auffaßt. Er hatte genug von der vor ihm Sitzenden gehört, um zu wissen, daß er im Begriff stand, ihrer Selbstherrlichkeit und ihrem Hochmut einen gehörigen Dämpfer zu versetzen. Aber es half nichts, wenn man Schmarotzerbetriebe zart anfaßte. Da mußte man schon eine scharfe Schere ansetzen, um sie genügend zu stutzen denn ausrotten ließ sich so ein Wuchergewächs nur schwer, sehr oft gar nicht. »Denn – «, sprach er gelassen weiter, »ein Wirtschaften auf Schlehdorn dürfte alles andere als vergnüglich sein. Und wenn Sie mich da auch noch so empört anblitzen, gnädiges Fräulein, so sage ich Ihnen dennoch, daß Schlehdorn das schlechtbewirtschaftetste Gut in unserem Landkreis ist. Wenn es einem noch gelingen könnte, die – entschuldigen Sie – verfahrene Karre aus dem Dreck zu ziehen, dann ist es der Herr, den ich Ihnen so warm empfohlen habe…« Weiter kam er nicht. Denn Alheidis sprang auf, warf ein Geldstück als Bezahlung für den Kaffee auf den Tisch, musterte den Kühnen mit einem Blick, der ihn eigentlich hätte in Grund und Boden schmettern müssen und entfernte sich stolzerhobenen Hauptes wie aus der Nähe eines Unwürdigen. Er kniff die Augen zusammen, sah ihr nach und lachte in sich hinein. Nachher zog er ein kleines Buch aus der Tasche, schrieb einige Worte hinein, riß das Blatt aus, zahlte und verließ das Lokal. Er spähte die Straße entlang und hatte auch bald entdeckt, was er suchte. Nämlich die kurzangebundene junge Dame, die soeben den Schlag ihres Autos öffnete. Mit langen Schritten war er heran, drückte der Verblüfften den Zettel in die Hand und sagte schmunzelnd: »Das ist die Anschrift Ihres neuen Inspektors, gnädiges Fräulein. Und nun will ich machen, daß ich aus Ihrer Nähe
komme. Denn mein Happen, nach dem Sie so böse zu schnappen drohen, dürfte Ihnen doch zu schwer in Ihrem kleinen Magen liegen.« Eilig entfernte er sich, bog in die nächste Querstraße ein und lugte vorsichtig um die Ecke. Deutlich konnte er das Gesicht des Mädchens erkennen, auf dem die Farbe kam und ging. Würde sie den Zettel wegwerfen? Nein, sie steckte ihn ein. Die Bestellung für das Frühjahr drängte. So sehr Alheidis auch auf Posten war, tagsüber kaum aus dem Sattel kam, überall konnte sie trotzdem nicht sein. Dazu waren die Leute träge und verdrießlich, drückten sich vor der Arbeit, wo sie nur konnten. Wurden frech, wenn sie ihnen die Meinung sagte. Einige mußte sie wegen Aufsässigkeit sogar fristlos entlassen und bekam dann keinen Ersatz für sie, weil Schlehdorn seiner miserablen Möglichkeiten wegen bereits verrufen war. Nein, so ging es nicht weiter. Ein Inspektor mußte zu ihrer Unterstützung her, dessen wurde Alheidis sich immer deutlicher bewußt. Also noch ein Inserat aufgeben. Vielleicht fand sich diesmal unter den Bewerbern einer, der wenigstens passabel war. Außerdem konnte sie sich auch noch an eine Stellenvermittlung wenden. Eine solche wollte sie gleich mal aufsuchen. Ais sie den Mantel anzog und die Handschuhe aus der Tasche nahm, flatterte ein Zettel zu Boden. Sie hob ihn auf… Richtig, der warmempfohlene Schützling des Herrn Haßler, an den hatte sie ja gar nicht mehr gedacht. Nun, in Augenschein konnte sie ihn nehmen, das verpflichtete zu nichts. Sie bestellte ihn brieflich zu sich, und zur festgesetzten Zeit traf er dann auch ein. Hartger v. Elchstorff – Diplomlandwirt, las sie aus der Visitenkarte, die der Diener ihr ins Arbeitszimmer brachte. »Ich lasse bitten«, erklärte sie kurz und war nun doch gespannt, welche Persönlichkeit diesen nicht alltäglichen Namen führen mochte.
Gleich darauf stand ein Herr vor ihr, den sie zwar unauffällig, doch scharf musterte. Elegante Reitergestalt, blond, rassiges Gesicht, blaue kühle Augen und einen hartgeschnittenen Mund. »Nehmen Sie Platz, Herr von Elchstorff«, forderte sie ihn in der ihr eigenen hochmütigen Art auf. Schweigend verharrte er, bis sie sich gesetzt hatte, und ließ sich dann ihr gegenüber nieder. Abwartend sah er sie an, was sie irgendwie irritierte. Wahrscheinlich machten es die Augen, in denen so etwas wie versteckter Spott blitzte. »Sie sind nicht der erste, der sich um den Inspektorposten hier bemüht. Na, wollen mal sehen. Können Sie mir Zeugnisse vorlegen?« »Leider nicht, gnädiges Fräulein. Ich habe bisher noch nicht in fremden Diensten gestanden, sondern auf dem Besitz meines Bruders gearbeitet.« »Und warum wollen Sie sich jetzt verändern?« »Aus privaten Gründen.« »Hm – da weiß man immer nicht«, dehnte sie, worauf dann wieder das merkwürdige Licht in seinen Augen aufblitzte. »Es steht Ihnen ja frei, gnädiges Fräulein, sich nach mir zu erkundigen.« »Gewiß. Aber wie es mit den Auskünften so ist, man kann nicht viel auf sie geben. Eine Referenz ist Ihnen übrigens schon erteilt worden, und zwar durch den Bethener Haßler, der Sie mir vor einigen Wochen wärmstens empfahl. Von ihm habe ich auch Ihre Anschrift.« Ein Lächeln huschte um seinen Mund. »Schau mal an, Herr Haßler. Ein aufrichtiger, biederer Mensch und tüchtiger Landwirt, nicht wahr?« »Das zu beurteilen bin ich nicht in der Lage«, hob sich das feine Naschen. »Ich kenne den Herrn nur vom Sehen und Hörensagen. Er kommt mir nur so etwas plump vertraulich vor. Das schätze ich nicht.« »Natürlich nicht«, gab er zurück, wobei seine Nasenflügel leicht zuckten. Dann sah er sie wieder so abwartend an, als
wäre er bereit, gute Lehren von ihr anzunehmen. Das gefiel dem Fräulein – und wiederum auch nicht. Die ganze Art des Mannes sagte ihr absolut nicht zu. Er war ihr nicht devot genug, was man von einem Untergebenen wohl verlangen konnte – nach ihrer Ansicht, die ihr die Mutter eingetrichtert hatte. »Wären Sie bereit, auf eine Probezeit von vier Wochen einzugehen?« fragte sie jedoch. »Ja.« Diese kurze und bündige Antwort machte sie immer mißtrauischer. Ein forschender Blick traf ihn, dem er gelassen standhielt. »Dann können wir es versuchen«, meinte sie kühl. »Ich verlange eine gewisse Selbständigkeit, da ich ja nicht überall sein kann. Sonst müssen Sie sich allerdings bedingungslos meinen Anordnungen fügen.« »Selbstverständlich, gnädiges Fräulein.« Was war das nun wieder für eine Antwort – die man so und so deuten konnte. Na egal, versuchen wollte sie es mit ihm. Daß er nicht unbotmäßig würde, dafür sorgte sie schon. »Können Sie morgen Ihren Dienst antreten?« »Ja.« »Schön. Bezahlung erfolgt nach Tarif, ebenso das Ihnen zustehende Deputat. Was Sie dafür zu leisten haben, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erklären. Eine geräumige Dienstwohnung steht Ihnen zur Verfügung, so daß Sie später, falls ich mich nach abgelaufener Probezeit entschließen sollte, Sie in meinen Diensten zu behalten, Ihre Familie nachkommen lassen können. Wie viele Kinder haben Sie?« »Keine, da ich nicht verheiratet bin.« »Ach so. Dann können Sie das möblierte Zimmer beziehen, das die unverheirateten Inspektoren bisher innehatten. Das Essen bekommen Sie aus der Herrschaftsküche. Das wäre alles. Dürfte ich nun um Ihren Ausweis bitten…« Er entnahm seiner Brieftasche das Gewünschte, reichte es ihr und sah dann belustigt zu, wie sie seine Personalien
nebst Diplom sorgfältig prüfte. Dann gab sie ihm beides zurück. »Danke, das genügt mir. Ich erwarte Sie morgen. Auf Wiedersehen, Herr Inspektor.« Er stand auf, verbeugte sich - und dann fiel die Tür hinter ihm zu. Alheidis griff nach einer Zigarette, steckte sie in Brand und legte sich seufzend im Sessel zurück. Das wäre nun endlich erledigt. Hoffentlich hatte sie mit der raschen Einstellung des wichtigsten Gutsbeamten nicht übereilt gehandelt. Am nächsten Morgen war der Inspektor pünktlich zur Stelle. Alheidis begrüßte ihn kurz und ging dann mit ihm zu den Arbeitern, um ihnen ihren Vorgesetzten vorzustellen. Er schritt von einem zum anderen, reichte jedem freundlich die Hand, die teils verlegen, teils mürrisch genommen wurde. Hartger v. Elchstorff merkte wohl, wie mißtrauisch man ihn musterte, ließ sich jedoch davon nicht beirren. Die Herren Volontäre benahmen sich direkt herausfordernd, gaben ungebührliche Antworten, worauf er sie schließlich mit einem Blick musterte, der ihnen unbehaglich wurde. Da hatte Herr Haßler schon recht gehabt, als er Alheidis erklärte, daß für den Inspektor ein Wirtschaften auf Schlehdorn alles andere als vergnüglich sein würde. Überall stieß er auf Schwierigkeiten, die sich von heut auf morgen natürlich nicht beseitigen ließen. Die Arbeiter waren undiszipliniert, die Herren Volontäre anmaßend. Na, hoffentlich blieb dieser Inspektor nicht lange, und dann konnte man wieder das faule Leben führen, wie man es vor seinem Erscheinen auf Schlehdorn getan. Der »überkandidelten Gans«, wie sie ihre Herrin unter sich liebenswürdig betitelten, konnte man schon etwas vormachen, die hatte ja von Tuten und Blasen keine Ahnung. Allein, - sie sollten sich getäuscht haben. Die Zeit verging – und der Inspektor blieb. Nach vier Wochen fand er einen Brief in seinem Zimmer vor, in dem ihm gnädigst gestattet wurde, weiter in seinem Dienst zu
bleiben. Ein Vertrag lag bei, den er zu unterschreiben hatte und der ihn für ein Vierteljahr an seinen Posten band. Gehalt nur mäßig, Rechte so gut wie keine, dafür Pflichten reichlich. Eher amüsiert als ärgerlich setzte er seinen Namen unter das Schriftstück und war nun wohlbestallter Inspektor von Schlehdorn. Das Verhältnis zwischen ihm und seiner Brotgeberin konnte man als passabel bezeichnen. Und nur, weil er scheinbar alles tat, was sie anordnete – in Wirklichkeit jedoch ganz nach seinem Ermessen verfuhr. Er machte das so geschickt, daß sie nie etwas davon merkte. An einem Tage Anfang Mai ritten sie einen Feldrain entlang, wo zu beiden Seiten Winterung stand. Die zur Linken war wunderbar emporgeschossen, üppig und saftig grün, die zur Rechten spärlich und mickerig. »Zu welcher Gemarkung gehört das hier?« fragte er interessiert. »Zu Kiwitten«, gab sie kurz zurück. »Eine rechte Augenweide«, meinte er versonnen und ließ dann seine Blicke zur rechten Seite schweifen. »Das da ist ein Jammer. Schade um die Saat.« »Wie meinen Sie das?« fuhr sie gereizt auf. »Sie wollen doch nicht etwa sagen…?« »Genau das, gnädiges Fräulein, nämlich: Daß das da zum Weinen traurig ist. Eine gute Ernte wird es nicht geben.« »Warum nicht?« »Weil da, wo nichts hineingesteckt wird, auch nichts herauskommen kann. Der Acker schreit ja förmlich nach Dung…« »Ja, was machen Sie denn da, Eromeit?« fragte er einen jungen Mann, der längelang auf dem Weg lag. Vor ihm standen zwei Pferde mit hängenden Köpfen, eingespannt an einem Wagen, auf dem sich Grünfutter türmte. Der Mann sprang hoch und stand verlegen da. »Die Kracken können einfach nicht mehr weiter, Herr Inspektor«, murmelte er verdrießlich eine Entschuldigung. »Kein Wunder bei dem miserablen Futter und der
Schinderarbeit. Aber so ist es nun mal auf Schlehdorn: Aus Mensch und Tier das Unmöglichste herausholen…« »Mann, was erlauben Sie sich!?« unterbrach die Herrin empört den kühnen Sprecher. »Sie haben hier zu arbeiten und nicht aufsässige Reden zu führen.« Schon wollte sich der Mund des Gemaßregelten zu einer frechen Entgegnung öffnen, als der Inspektor eingriff. »Still, Eromeit, sprechen Sie jetzt kein Wort, es könnte Ihnen hinterher leid tun. Fahren Sie ganz langsam, damit die armen Tiere nicht gar zu sehr überanstrengt werden. Geben Sie Ihnen heute Kraftfutter, das wird ihnen vielleicht auf die Beine helfen.« »Erst haben, Herr Inspektor. Glauben Sie nur nicht, daß ich mein Gespann vernachlässige. Ich habe ein Herz für Tiere…« »Das weiß ich ja, Eromeit«, fiel Hartger ihm begütigend in seine verbitterte Rede. »Ich kenne Ihre Liebe für die Ihnen anvertrauten Pferde. Es soll denen auch fortan bessergehen, dafür will ich sorgen.« Er nickte ihm freundlich zu und folgte der Gutsherrin, die vorausgeritten war. Und kaum, daß er sie eingeholt hatte, sagte sie unwillig: »Sie haben ja eine ganz besondere Art, mit den Leuten umzugehen, Herr Inspektor. Anstatt daß Sie den Mann auf seine Pflicht hinweisen, da geben Sie ihm gute Worte. Wohin soll das führen?« »Ich hoffe zum Guten, gnädiges Fräulein. Denn so, wie es jetzt ist, kann es unmöglich weitergehen.« »Vielleicht drücken Sie sich deutlicher aus«, verlangte sie herrisch, und da blitzte es kalt in seinen Augen auf. »Wie Sie wünschen. Vorweg möchte ich Ihnen sagen, daß ich noch nicht ein so schlecht bewirtschaftetes Gut angetroffen habe wie Schlehdorn. Totes und lebendes Inventar einfach verheerend, Acker- und Viehwirtschaft gleichfalls, Leuteverhältnisse miserabel…« »Herr, ich verbitte mir Ihre Anmaßungen!« fuhr sie entrüstet auf, doch das ließ ihn nicht abschrecken. Unbeirrt
sprach er weiter: »Und wenn Sie da noch so böse werden, gnädiges Fräulein, ich fühle mich verpflichtet, Sie zu warnen. Wenn Sie nämlich alles im alten Trott belassen, dann können Sie nach wenigen Jahren Konkurs anmelden.« Röte und Blässe wechselten auf ihrem Gesicht in jähem Wechsel, der Mund preßte sich zusammen, in ihren Augen glitzerte es eisig auf. Der Mann an ihrer Seite wußte wohl, wie sehr er mit seinen schonungslosen Worten ihre Selbstherrlichkeit getroffen hatte, allein, das tat ihm nicht leid. Wer mit verbundenen Augen sich anmaßte, ein so großes Gut wie Schlehdorn zu leiten, dem mußte man die Binde rücksichtslos von den Augen reißen. Schweigend ritten sie dahin, bogen auf die Chaussee ab und gelangten so in die Nähe der Insthäuser. Unbekümmert, als gäbe es keine Gefahren auf der Welt, kam ein vielleicht zweijähriges Dirndlein ihnen entgegen. Mitten auf der Chaussee trollte es dahin, wich und wankte auch nicht, als ein Auto in schnellem Tempo angesaust kam. Die Hupe heulte, die Bremsen kreischten. Schon wurde das Kind emporgehoben – und die Gefahr war vorüber. Obgleich es nun wohlgeborgen auf dem Arm seines Retters saß, schrie es, was die kleine Kehle nur hergeben wollte. Erst als ein Stück Zucker in das offene Mäulchen geschoben wurde, da war aller Schreck vergessen. Zufrieden lutschte das Dinglein an der Süßigkeit. Aus dem Fenster des Autos, das mit einem Rad hart am Chausseegraben stand, beugte sich ein grauhaariger Kopf mit zorngerötetem Gesicht heraus, und eine Männerstimme wütete: »Zum Kuckuck, passen Sie besser auf Ihr Kind auf, junger Mann! So eine Fahrlässigkeit kann ja auch nur in dem unmöglichen Schlehdorn vorkommen!« »Aber nun schelten Sie doch nicht so arg, Herr Weller«, meinte der Inspektor und trat mit dem Kind auf dem Arm an den Wagen.
Der Genannte kniff die Augen zusammen – stutzte – und lachte dann schallend auf: »Sie sind es, Baron? Daß mich der Hahn hackt! Gehören Sie etwa in die Weiberwirtschaft hier hinein? Dann sehen Sie nur zu, daß Sie bald Schwung in diese erbärmliche Lotterei hineinbekommen. Das dürfte schon eine lohnende Aufgabe für einen solchen Mordskerl wie Sie sein. Seit wann haben Sie denn ein Kind?« »Leider ist es nicht meines, Herr Weller«, lachte der junge Mann herzlich. »Es gehört dem Oberschweizer des Gutes.« »Und da tappelt denn so was Niedliches die Chaussee entlang, als wäre sie ein Spielplatz? Bei mir zu Hause sperrt man solch Kleinzeug in den Kindergarten, weil die Mütter arbeiten und so auf ihre Kinder nicht achtgeben können. Vielleicht reiben Sie das dieser überkandidelten Gutsherrin mal unter die Nase. Mir stand fast das Herz still vor Schreck, als auch Sie sich noch in Gefahr begaben und das Marjellchen im letzten Augenblick wegreißen konnten. Paß mal auf, du kleiner Tunichtgut! Nächstens klatscht’s auf dein rosiges Hinterteilchen, wenn du dich wieder selbständig machst. Wart mal, da muß ich doch so ein Pflaster haben, das man auf deinen Schreck kleben kann. Zwar ist es für mein Enkelkind bestimmt, aber nimm schon.« Schmunzelnd drückte er eine Tafel Schokolade in das Kinderhändchen. »Sei froh, daß du noch die liebe Sonne sehen darfst, Marjellchen. Und nun gehaben Sie sich wohl, Baron. Soll ich Ihren Bruder grüßen? Der wird nicht wenig staunen, wenn ich ihm erzähle, in welch polnische Wirtschaft Sie hineingeraten sind.« Die Herren reichten sich lachend die Hände, der Chauffeur gab Gas, und der Wagen flitzte davon. Nun wurde auch die Reiterin sichtbar, die hinter dem Auto gehalten hatte und so unbemerkt geblieben war. Hartger sah ihr in das wie erstarrte Gesicht und sagte kurz: »Ich bringe das Kind nach Hause, gnädiges Fräulein.«
Er pfiff nach seinem Pferd, das friedlich am Graben graste, faßte die Zügel mit der freien Hand und ging eilig zu einem der Insthäuser, in dessen Tür eine alte Frau stand und lebhaft winkte. »Do es et joa, dat Marjellke.« »Ja, da ist es gottlob heil und unversehrt. Um ein Haar wäre es unter ein Auto gekommen. Sie müssen sorgfältiger auf die Kleine achten, Oma.« »Wie, wat seggt de Herr?« hielt sie die Hand an die Ohrmuschel, dabei über das ganze liebe Runzelgesicht strahlend. »Tracht gäwe dat Marjellke? Wahr öck, weil et ömmer utriete deiht.« Lachend gab er es auf, der Schwerhörigen ins Gewissen zu reden. Drückte ihr das Kind in den Arm und schwang sich in den Sattel. »So, – gnädiges Fräulein, jetzt können wir den Weg beruhigt fortsetzen. Wie gut, daß ich noch zur Zeit eingreifen konnte, sonst wäre es um das Kind geschehen gewesen.« »Die Leute sollen auf ihre Kinder besser aufpassen«, gab sie schroff zurück. »Die Chaussee ist ja schließlich kein Tummelplatz für Babys.« Einige Tage später hielt der Rentmeister, mit dem die Herrin von Schlehdorn dieses Mal einen guten Griff gemacht hatte, den Inspektor, der gerade an der Rentmeisterei vorüberging, an. »Haben Sie eine Stunde Zeit für mich, Herr Baron?« »Da heute Sonntag ist, auch zwei, mein lieber Herr Schraut. Aber ich muß doch sehr bitten, meinen Titel zu verschlucken, der bei meiner Position so wenig angebracht ist wie eine Ente auf dem Kirchturm.« »Guter Vergleich. Aber da Sie nun mal ein Recht auf diesen Titel haben, so sehe ich nicht ein, warum man nicht Gebrauch davon machen soll. Ehre wem Ehre gebührt. Außerdem müßte unsere Herrin doch schon längst spitzgekriegt haben, daß wir sozusagen aus einem Nest stammen. Wenn nicht, dann will ich es ihr langsam
beibringen.« »Um Gott, mein Lieber!« hob Hartger abwehrend die Hände. »Dann nimmt sie bestimmt an, daß ein Halunke den anderen nachgezogen hat.« »Na – Halunke – das würden wir beide doch verdammt übelnehmen, die wir ein fleckenloses Chemisettchen haben. Sie als Sohn des Baron von Elchstorff in Elchen und ich als der des dort wohlbestallten Rentmeisters. Was kann ich dafür, daß meine Bewerbung um die freie Rentmeisterstelle in Schlehdorn Gnade vor den Augen der Herrin fand? Aber froh bin ich doch, daß es geklappt hat – wenigstens in der Beziehung, daß ich mit Ihnen zusammen arbeiten kann – und dazu mit sauberen Pfoten. Alles andere – na, Sie werden ja sehen.« Es war tatsächlich Zufall, daß Ingo Schraut die Stelle dort als Rentmeister erhalten hatte, wo Hartger von Elchstorff als Inspektor segensreich wirkte. Letzterer hatte erstem dazu bestimmt nicht verholfen. Aber einen Glücksgriff hatte die Herrin mit dem jungen Gutsbeamten schon gemacht. Ehrenwerter Leute Kind, dazu durch und durch anständig, intelligent, mit reichem Wissen und Erfahrung in seinem Beruf. Er hätte sich um die freie Stelle auf Schlehdorn nicht beworben, wenn es der Bruder des Brotherrn seines Vaters auch tat. Denn er hing sehr an Hartger, mit dem er in Elchen zusammen aufgewachsen war und ihn daher als prächtigen Kameraden kannte. In dem Büro nahmen die Herren Platz und steckten sich eine Zigarette an. »Nun schießen Sie los, mein Lieber«, forderte Hartger den anderen auf. »Wo krümmt sich ein Härchen?« »Ein einzelnes nur?« griff Schraut sich in seinen vollen Schopf. »Sämtliche Haare stehen mir zu Berge! Ich habe mir immer eingebildet, von meinem Kram eine ganze Menge zu verstehen, aber diesem Tohuwabohu stehe ich denn doch gegenüber wie der Ochs dem blanken Tor. Soll und Haben, daß ich nicht lache! Gesollt wird nichts, gehabt wird nichts…«
Vorwurfsvoll sah er den Inspektor an, der herzlich lachte. »Herr Baron, ist das nun fair?« »Ich bin ja schon still, Sie Armer! Haben Sie schon versucht, unsere charmante Herrin für Ihr Tohuwabohu zu interessieren?« »Charmant – auch das noch«, brummte er. »Na ja, Sie sind eben ein Kavalier – ich jedenfalls hätte eine andere Bezeichnung…« »Ei, Ingo, denken Sie an Ihre gute Kinderstube«, warnte der andere schmunzelnd. »Doch nun Scherz beiseite. So trostlos sieht es also in den Büchern aus?« »Gar keine Bezeichnung dafür. Trost-, hoffnungs- und aussichtslos würde besser passen. Zettel, Zettel, nichts als Zettel und in den Büchern eine gähnende Leere. Höchstens noch ein Tintenklecks findet sich vor. Ich mache hier Feierabend, Herr Baron!« »Könnte Ihnen so passen. Glauben Sie etwa, in meinem Revier sieht es anders aus? Trotzdem lasse ich den Kopf nicht hängen. Glätte immer wieder hübsch die Haare, die mir oft genug zu Berge stehen.« »Wenn Sie bloß dabei keine Glatze kriegen«, lachte nun auch der junge Mann herzlich, und der andere fiel mit ein. »Na also! Schwierigkeiten sind dazu da, daß man ihnen zu Leibe geht. Nun zeigen Sie mal Ihre Sorgenkinder her. Wäre ja noch schöner, wenn es uns nicht gemeinsam gelingen sollte, diese zu schaukeln.« Als er jedoch in die Bücher einsah, schüttelte er verblüfft den Kopf. »Sollte man so etwas für möglich halten! Ihr Vorgänger hat sich da wahrlich das Leben leicht gemacht.« »Oder vielmehr ganze Arbeit geleistet, indem er einfach mit der unverbuchten Kasse verschwan«, gab der Rentmeister trocken zurück. »Merkwürdig ist nur, daß bis vor einem halben Jahr die Bücher gut geführt sind.« »Lassen Sie mal sehen, bis zu welchem Datum das geschehen ist. November, dachte ich mir doch. In dem Monat hat nämlich Herr Gerholt Schlehdorn verlassen –
merken Sie was?« »Der Groschen ist gefallen. Bis dahin hat der Herr dem Halunken von einem Rentmeister wahrscheinlich scharf auf seine unsauberen Finger gesehen, was sein Töchterlein fernerhin nicht für die Mühe wert hielt. Und so was ist nun von dem Wahn besessen, eine vorbildliche Gutsherrin zu sein.« »Leider, mein lieber Freund. Nun, machen wir uns daran, die Zettelei zu sichten. Her damit!« Sie waren so eifrig dabei, daß sie Zeit und Stunde darüber vergaßen. Sahen verblüfft auf, als die Herrin plötzlich vor ihnen stand: »Ja, meine Herren, was machen Sie denn am Sonntag zehn Uhr abends im Büro? Schaffen Sie Ihre Arbeit nicht, Herr Rentmeister, daß Sie auch noch am Ruhetag Überstunden machen und außerdem noch die Hilfe des Herrn Inspektors in Anspruch nehmen müssen? Ich stehe nämlich schon eine ganze Weile hier als stumme Zuschauerin. Sie waren beide so vertieft, daß Sie mich nicht bemerkten. Ist es denn eine so schwierige Angelegenheit?« »Das kann man wohl sagen«, antwortete Elchstorff gelassen. »Seit November ist nämlich so gut wie nichts verbucht. Nur Zettel finden sich vor – und die noch längst nicht vollständig. Eine merkwürdige Art von Buchführung muß der verflossene Herr Rentmeister an sich gehabt haben.« Wie immer, wenn man ihr die Wahrheit sagte, erstarrte Alheidis auch jetzt in Hochmut. Sehr schön, sehr unnahbar, sehr indigniert stand sie da. Ihre Stimme klirrte förmlich, als sie rief: »Ich werde einen Revisor herbeordern, damit er die Bücher in Ordnung bringt. Sie scheinen mir dessen nicht fähig zu sein, Herr Rentmeister.« »Dann kann ich ja getrost meine Sachen packen, gnädiges Fräulein.« »Das habe ich nicht gesagt. Guten Abend, meine Herren.« Sie ging – und die Zurückbleibenden sahen sich verblüfft
an. Dann lachte der Inspektor amüsiert auf. »Ihr Gesicht ist zum Malen, Ingo. Ach, was sind wir doch für armselige Kreaturen gemessen an dieser Herrin! Wollen wir uns zur Ruhe begeben und unser müdes Haupt betten mit der traurigen Erkenntnis, daß Undank der Welt Lohn ist.« Am nächsten Tag erschien ein Bücherrevisor, der zusammen mit dem Rentmeister eine Woche lang arbeitete, daß ihm der Kopf rauchte. Dann ließ er sich bei der Gutsherrin melden, die ihn sofort empfing. Nachdem man Platz genommen hatte, sah sie den alten Herrn erwartungsvoll an, der so umständlich seine Brille putzte, als hinge wer weiß was davon ab. Endlich sagte er: »Ja, gnädiges Fräulein, das ist eine ziemlich böse Sache. Die Bücher sind ja nun soweit in Ordnung, wie es sich bei ihrem verheerenden Zustand irgendwie machen ließ. Nun kann der Rentmeister, übrigens ein sehr intelligenter Mensch, der seinen Kram versteht, sie weiter führen.« »Und was soll nun böse aussehen?« »Die Verhältnisse in Schlehdorn. Um Ihnen jedoch alles bis ins kleinste auseinanderzusetzen, das übersteigt meine Kompetenz. Da wird Ihr Inspektor, der ja ein Landwirt über dem Durchschnitt zu sein scheint, besser raten können.« »Ich danke Ihnen, mein Herr«, entgegnete sie abweisend. »Wollen Sie bitte Ihre Forderung für geleistete Arbeit einreichen.« Damit war er entlassen und trollte sich, halb belustigt, halb ärgerlich. Alheidis saß regungslos da und kämpfte einen harten Kampf mit ihrer Selbstherrlichkeit. Schließlich ließ sie den Inspektor zu sich rufen, der bald darauf abwartend vor ihr stand. Sie bat ihn Platz zu nehmen und begann ohne Umschweife: »Was halten Sie von Schlehdorn, Herr Inspektor?« Die Frage kam so unerwartet, daß es einige Herzschläge lang dauerte, bis er sagen konnte: »Verlangen Sie auf Ihre kurze bündige Frage eine ebensolche Antwort, gnädiges Fräulein?«
»Bitte.« »Dann sage ich: Nicht viel.« »Und wozu raten Sie mir?« »Das Gut zu verkaufen.« Er wußte wohl, wie hart sie seine Worte trafen, aber sie tat ihm nicht leid. Wenn ein Mensch ohne sein Verschulden in Schwierigkeiten gerät, dann darf man ihm sein Mitgefühl nicht versagen. Aber hier lagen die Dinge anders. »Sie sind sehr aufrichtig, Herr Inspektor.« »Bitte, gnädiges Fräulein, Sie haben gefragt, und ich habe geantwortet.« »Ja – gewiß. Aber schließlich verstehe ich ja etwas von der Landwirtschaft. Und daß ich mich um meinen Besitz nicht gekümmert habe, etwa nur meinem Vergnügen nachgegangen bin, den Vorwurf kann mir wohl wirklich keiner machen.« »Ganz bestimmt nicht«, klang seine Stimme nun schon um einen Grad wärmer. »Sie verbeißen sich im Gegenteil zu sehr in Ihre Arbeit. Vergessen darüber, daß Sie noch so herrlich jung sind – eben viel zu jung, um einen so großen Besitz selbständig leiten zu können. Ihnen fehlt die jahrelange Praxis, die dazu erforderlich ist.« »Sie tun ja so, als ob Sie uralt wären«, bemerkte sie spöttisch. »Und doch zehn Jahre älter als Sie, gnädiges Fräulein«, gab er gelassen zurück. »Dazu hat mich das Leben hart angepackt. Mir ist während meiner Lehrzeit nichts erspart geblieben, das dürfen Sie mir glauben. Außerdem habe ich zwei Kriegsjahre hindurch immer da gelegen, wo die Hölle am ärgsten war. Das macht hart und alt vor der Zeit.« »Und was verlangen Sie nun von mir, Herr Inspektor?« »Um Gott, gnädiges Fräulein, wie dürfte ich mich erdreisten, Ihnen Vorschriften machen zu wollen!« Wohl eine Minute lang war es zwischen ihnen still. Alheidis hielt den Kopf von ihm abgewandt, so daß er nur ihr feines Profil sah. Hoch und schmal saß sie da, die Hände auf die Seitenlehnen des Sessels gestreckt, die
gestiefelten Beine gekreuzt. Die Sonnenstrahlen, die das Zimmer vergoldeten, flirrten über ihr Haar, ließen es aufsprühen in metallenem Glanz. Draußen bellte ein Hund, wieherte ein Pferd, in einem Zimmer schlug volltönend eine Uhr. Langsam wandte sie ihm das Gesicht zu. »Warum soll ich eigentlich Schlehdorn verkaufen?« fragte sie kurz. »Weil Sie es jetzt noch unter annehmbaren Bedingungen abstoßen könnten.« »Das ist Ihr ganzer Rat, Herr Inspektor?« »Einen andern wüßte ich nicht, gnädiges Fräulein«, entgegnete er achselzuckend. »Und eine Sanierung?« »Dazu gehört Geld.« »Wer sagt Ihnen denn, daß ich es nicht habe?« fragte sie in einem Ton, der ihm das Blut ins Gesicht steigen ließ… »Gnädiges Fräulein, wollen Sie mich etwa zum besten haben?« »Durchaus nicht, Herr Inspektor. Ich besitze ein ganz nettes Barvermögen.« »Und dann lassen Sie Ihren Besitz erst halb verkommen? Plagen sich darauf und schöpfen sozusagen Wasser mit Sieben? Da weiß ich wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.« Sie wich seinem indignierten Blick aus und meinte achselzuckend: »Schließlich muß ein Gut von einigen tausend Morgen doch wenigstens so viel abwerfen, um gut darauf wirtschaften zu können. Meine Mutter hat dabei noch reichlich Geld erspart.« »Also hat sie das Gut immer nur erpreßt – es dabei langsam verkommen lassen – und Sie folgen ihrem Beispiel. Sehen seelenruhig mit an, was einem Außenstehenden schon die Scham ins Gesicht steigen läßt. Lassen die abgetriebenen Pferde sich immer weiter schinden, bei hundsmiserablem Futter. Verlangen Milch von Kühen, die erbärmlich abgerackert sind. Sind empört, wenn die Gutsleute nur
verdrießlich ihrer Arbeit nachgehen, bei mehr als schlechten Lebensbedingungen. Der Acker soll tragen, ohne gedüngt zu werden, die Gebäude ohne jede Reparatur standhalten, als wären sie für eine Ewigkeit erbaut. Das alles stört Sie nicht. Die Hauptsache, daß Sie Ihr Sparguthaben vergrößern können. Nein, mein gnädiges Fräulein, unter den Umständen mache ich nicht mehr länger mit und bitte um meine Entlassung. Vielleicht können Sie einen Inspektor finden, den die Verwahrlosung des Gutes nicht stört. Mir jedoch ist es nicht möglich, das alles noch länger mit anzusehen.« Wort für Wort war gefallen, als wenn Stahl auf Eisen schlägt. Und gerade diese kalten Worte, in erbarmungsloser Wahrheit hingesagt, wirkten wie ein Sturz eisiges Wasser. Ohne seine Herrin noch eines Blickes zu würdigen, erhob der Inspektor sich, eine kurze Verbeugung – dann schlug die Tür hinter ihm zu Hartger Elchstorff saß in seinem Zimmer und schrieb einen Brief, der ihm zu schaffen machen mußte. Denn immer wieder hielt er inne, stützte den Kopf in die Hand und grübelte vor sich hin. Und schwer war es auch, Herrn Gerholt, auf dessen Bitte er nur nach Schlehdorn gegangen war, mitzuteilen, daß es ihm leider nicht möglich wäre, auf so einem verlorenen Posten länger auszuharren. Er schrak zusammen, als es klopfte, und sah dann überrascht auf die Gutsherrin, die zögernd eintrat. Sie blieb an der Tür stehen und ließ ihre Blicke wie hilflos im Zimmer umherschweifen. Der Anblick war aber auch nicht erfreulich, den der große Raum bot. Ein Feldbett, ein Schrank, ein Tisch, der gleichzeitig als Schreibtisch diente, ein Ständer mit Waschschüssel nebst Wasserkanne, zwei Holzstühle – das war das ganze Mobilar. Nicht einmal Gardinen gab es an den Fenstern. In einer Ecke lag ein Sattel, zwei Paar Stiefel standen daneben. Es roch nach einem Gemisch von Juchten, feinen Zigaretten und herbem Parfüm. Dann schweiften die Augen ab, zu dem Mann hin, der schweigend vor ihr verharrte.
Eine Unnahbarkeit umgab seine Person, die einschüchternd wirkte. Sein kalter Blick hing an dem feinen Antlitz, auf dem die Farbe kam und ging. Die blaugrünen Augen wichen den leuchtendblauen aus. »Sie wünschen, gnädiges Fräulein?« klirrte seine Stimme auf. Der Mädchenkopf senkte sich, um gleich darauf in den Nacken zu rucken. »Ich möchte Sie sprechen, Herr Inspektor.« Schweigend schob er ihr einen Stuhl hin, lehnte sich gegen den Tisch und stand abwartend da. »Ich habe mir die Sache überlegt«, klang die Mädchenstimme spröde durch den Raum. »Da Sie meinten, daß Schlehdorn so, wie es ist, nicht weiter bestehen kann, so bin ich entschlossen, es zu restaurieren.« »Das freut mich für Sie, gnädiges Fräulein«, erwiderte er kühl, als sie ihn fragend ansah. Mit keinem Wort kam er ihr zu Hilfe, wo er doch fühlen mußte, wie unsagbar schwer es ihr fiel, bei ihm sozusagen zu Kreuze kriechen zu müssen. Ihre Handflächen rieben gegeneinander, die Nasenflügel zitterten nervös, die bebenden Lippen öffneten und schlossen sich, bis sie dann endlich in fliegender Hast die Worte formen konnten: »Dann bitte ich Sie – Ihre Forderung um Entlassung zurückzuziehen.« »Wie Sie wünschen* gnädiges Fräulein.« »Wünschen nicht, Herr Inspektor – ich – ich bitte Sie darum.« Die Lippen preßten sich zusammen, als wären ihnen unbedachte Worte entschlüpft. Der Kopf senkte sich, der Atem ging rasch und schwer. »Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein, daß Sie Vertrauen in mich setzen«, sprach darin die sonore Stimme in die peinliche Stille hinein. »Ich werde gewiß bemüht sein, mich deswegen würdig zu zeigen.« »Danke – ja – «, blieb der Kopf gesenkt. »Ich weiß allerdings nicht – ob mein Geld ausreicht, um alle Schäden zu beseitigen.«
»Es braucht ja nicht alles mit einemmal zu sein, so nach und nach genügt auch. Wenn etwas in das Gut hineingesteckt wird, dann wirft es auch mehr ab. Also nicht das Köpfchen hängen lassen, gnädiges Fräulein. Es wäre ja gelacht, wenn wir hier nicht Schwung hineinbringen sollten.« Das klang so frisch und zuversichtlich, daß sie aufatmend den Kopf hob. Großaufgeschlagen hingen nun die Augen an seinem Gesicht, über das ein Lächeln huschte. Sie erhob sich und reichte ihm die Hand, die er artig an die Lippen zog. »Wollen Sie bitte mit mir kommen, Herr Inspektor, damit wir gleich alles Notwendige besprechen können? Da es regnet, kann draußen doch nichts Besonderes unternommen werden, und wir sind schon auf einige Stunden abkömmlich.« »Wie Sie wünschen, gnädiges Fräulein. Moment mal…« Er trat an den Tisch, nahm das Briefblatt, riß es in Fetzen und warf sie in den Papierkorb. Dann war er bereit, ihr zu folgen. Nach einigen Tagen kam er spät aus der Stadt zurück. Von den Verhandlungen mit Handwerkern, vom Viehkauf und anderen wichtigen Besorgungen mehr war er recht abgespannt und wollte gleich zu Bett gehen. Überrascht blieb er an der Schwelle seines Zimmers stehen; denn der bis dahin so ungemütliche Raum hatte sich in einen äußerst Behaglichen verwandelt. Die Möbel gediegen, der Teppich auf dem Fußboden groß und schwer. Das breite Bett nebst Kleiderschrank durch einen Wandschirm verdeckt. Gardinen, einige gute Bilder, Diwan und sogar ein Blumenstrauß auf dem niedrigen runden Tisch, der zwischen zwei Sesseln stand. Ein wuchtiger Schreibtisch und ein breiter Bücherschrank fehlten natürlich auch nicht. Ja, aber wo sollte er sich waschen? Ahnungsvoll, daß es noch mehr Überraschungen für ihn geben würde, öffnete er die Tür zu dem nebenliegenden einfenstrigen Raum – und
siehe da, das bis dahin nicht benutzte Bad war instandgesetzt. Schmunzelnd schloß er die Tür und machte sich mit Appetit über die Delikatessen her, die auf dem Tischchen serviert waren. Trank mit Behagen dazu die gute Flasche Wein. Ein Lächeln, halb belustigt, halb gerührt, umzuckte seinen Mund. Was mag es das hochmütige kleine Mädchen für Überwindung gekostet haben, die erfreuliche Veränderung ringsum zu schaffen. Da mußte er seinen Dank wohl recht zart und behutsam abstatten. So besorgte er denn am anderen Tag einen Strauß rosa Nelken, legte eine Karte bei, auf der nur die beiden Worte standen: Ich danke – und ließ vom Geschäft aus die Blumen an die zuständige Adresse befördern. In der nächsten Zeit sollten die Menschen im Umkreis von Schlehdorn nicht mehr aus dem Staunen herauskommen. Da wurde nämlich gewirkt an allen Ecken und Enden. Und zwar mit einem Tempo, das unheimlich anmutete. Der Inspektor schien doch tatsächlich ein Teufelskerl zu sein, der Schwung in die Lotterei hineinbrachte. Zuerst räumte er einmal unter den Gutsleuten auf. Die gutgearteten, die nur durch die schlechten Lebensbedingungen verbittert waren, blieben, die Hetzer und Bösewichte mußten fort. Gleichfalls die beiden Volontäre, was ihnen ganz und gar nicht gefiel. Sie versuchten bei der Gutsherrin Klage über den Inspektor zu führen, wurden jedoch so kühl abgewiesen, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als wutschnaubend von dannen zu ziehen. Erst hielt es schwer, Ersatz für die entlassenen Arbeiter zu bekommen. Als es sich aber herumsprach, daß die Insthäuser renoviert waren und die Bedingungen sich bedeutend gebessert hatten, gab es Bewerber um die freien Stellen genug. Vieh und Pferde bekamen gutes und reichliches Futter, Gebäudeschäden wurden behoben, die Mauern erhielten frischen Anstrich. Das Wohnhaus war kaum wiederzuerkennen in seinem neuen Glanz, Hof und
Stallungen blitzten vor Sauberkeit. Die nun auserwählten Arbeiter taten ohne Murren ihre Pflicht. Zwei Volontäre wurden eingestellt, dazu ein junger Inspektor, so daß Hartger Elchstorff zum Oberinspektor avancierte, was er mit belustigtem Lächeln zur Kenntnis nahm. Der Rentmeister triumphierte, daß es in seinen peinlichst geführten Büchern wieder etwas zu »sollen und zu haben« gab. Ein Kinderhort nahm den arbeitenden Müttern die Sorge um ihre Kleinen ab. Das alles machte natürlich eine Riesenarbeit, zumal sie noch zusätzlich geleistet werden mußte. Und nicht nur der Oberinspektor war vom Morgen bis zum späten Abend unermüdlich tätig, sondern auch die Gutsherrin. Es schien, als könne sie ihren Besitz nicht schnell genug in Ordnung kriegen. Obwohl Alheidis jetzt mit ihrem ersten Inspektor Hand in Hand arbeitete, ging sie nie aus ihrer kühlen Reserve heraus. Nie stahl sich ein privates Wort in ihre landwirtschaftlichen Gespräche. Hochmütig und unnahbar ging sie durch ihr Leben, an dem kein anderer teilhaben durfte. An einem Sonntagnachmittag ritt der Oberinspektor zu einem Roggenschlag, der ihm besondere Sorge machte. In vier Wochen sollte das Getreide geschnitten werden und stand nun so vermickert da, daß es kaum lohnte, die Sense anzulegen. Hartger spähte den Weg entlang, wo ein Reiter sichtbar wurde. Gleich darauf war er heran und streckte dem andern erfreut die Hand entgegen. »Baron, endlich treffe ich Sie einmal. Ich habe immer so sehnsüchtig nach Ihnen Ausschau gehalten, wie ein Mägdlein nach dem Liebsten.« »Guten Tag, Herr Gerholt. Eben habe ich Ihren Roggen bewundert. Bei dem Anblick kann einem das Herz im Leibe lachen, während bei dem da es tiefe Trauer erfüllt.« »Ja, er steht schlecht. Wird wohl im allgemeinen keine gute Ernte auf Schlehdorn geben, wie?«
»Das fürchte ich auch. Das heißt, dieser Schlag ist der schlechteste. Wenn das Getreide an andern Stellen wohl auch nicht gerade üppig steht, aber so miserabel wie hier denn doch nicht.« »Bei den ausgelaugten Äckern kein Wunder. Damit ist schon seit Jahren Raubbau getrieben worden. Aber wie ich gehört habe, sollen Sie ja tüchtig dabei sein, Schwung in das verlotterte Schlehdorn hineinzubringen. Wie haben Sie das bloß fertiggekriegt, meine Tochter zu den grundlegenden Änderungen zu bewegen?« »Ich habe nicht viel dazu getan, Herr Gerholt. Die junge Dame ist wohl selbst zu der Erkenntnis gekommen, daß es in dem alten Trott nicht weitergehen konnte.« »Stellen Sie Ihr Licht nur nicht unter den Scheffel, mein Lieber«, lachte Gerholt. »Wenn meine Tochter Sie nicht zur Seite hätte, dann wäre sie schon längst aufgeschmissen. Ich bin Ihnen ja so dankbar, Baron, daß Sie meine Bitte erfüllten und nach Schlehdorn gingen. Sie hätten einen viel besseren und leichteren Posten bekommen können, wo Sie sich nicht so arg schinden müßten. Sie sollen ja fast Unglaubliches leisten, wie man allgemein hört.« »Sie wissen ja, wie die Menschen übertreiben, Herr Gerholt. Entweder sie verdammen einen in Grund und Boden oder sie heben einen himmelhoch. Den Mittelweg finden sie selten. Wo genügend Geld zur Verfügung steht, ist es wahrlich kein Kunststück, ein verwahrlostes Gut wieder flott zu machen.« »Darüber wundere ich mich ja am meisten, daß meine Tochter ihr ängstlich gehütetes Geld herausgerückt hat. Aber wie ist es, wollen Sie nicht mit mir kommen und meiner Frau in die Kaffeekanne fallen? Schon längst hat sie den Wunsch geäußert, Sie näher kennenzulernen.« »Wenn ich so formlos hereinplatzen darf – «, bemerkte er zögernd. »Ich bin im Reitanzug!« »Ach was, auf dem Lande nimmt man es nicht so genau. Lassen Sie sich überreden.« »Schon geschehen«, lachte er fröhlich. »Da heute Sonntag
ist, darf ich mir einige Ruhestunden bewilligen.« In Kiwitten führte der Gutsherr seiner Frau den Gast freudestrahlend zu. »Hier, Irene, ist er. Endlich erwischte ich ihn. Habe ich dir zu viel erzählt?« setzte er augenzwinkernd hinzu. »Noch viel zu wenig«, gab sie mutwillig zurück. »Seien Sie mir herzlich willkommen, Baron. Ich freue mich ehrlich, Sie kennenzulernen.« »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, gnädige Frau. Ich möchte mich wegen meines unpassenden Anzugs entschuldigen.« »Aber warum denn? Das ist doch das meistgetragene Kleidungsstück des Landwirts. Kommen Sie bitte weiter. Auf der Terrasse ist bereits der Kaffeetisch gedeckt.« »Das ist ja eine herrliche Blütenpracht«, meinte der Gast und schaute einige Minuten später von der Terrasse in den Park hinab, wo Blumenrabatten den gepflegten Rasen unterbrachen. »So etwas kann mir schon gefallen.« »Da haben Sie meiner Frau ein ungewolltes Kompliment gemacht. Der Blumenflor ist nämlich ihr ganzer Stolz. Ich glaube, es gibt kaum eine Sorte, die nicht vertreten ist. Wo sind übrigens die Kinder, Fraule?« »Auf einem Ausflug durch Feld und Wald. Wenn sie hungrig sind, dann finden sie sich schon wieder ein.« »Will ich meinen«, schmunzelte der Hausherr. »Placieren wir uns, mein junger Freund, und harren der Dinge, die da kommen sollen.« Als sie beim Kaffee saßen, kamen sie auf Schlehdorn zu sprechen, ein Thema, das ihnen allen am Herzen lag. »Sie haben über die Mißstände doit wohl nicht wenig gestaunt, Baron«, sagte Gerholt verlegen. »Hoffentlich geben Sie mir nicht die Schuld daran, der ich doch einundzwanzig Jahre da gewirkt habe. Aber als sogenannter Kuli meiner Frau und später als der meiner Tochter hatte ich absolut nichts zu melden.« »Edgar«, mahnte die Gattin leise. »Nicht immer gleich so bitter werden.«
»Na, schön, bleiben wir sachlich. Warum war ich so ein Trottel, mir alles das bieten zu lassen? Aber wie das so ist: Man resigniert mit der Zeit und trottet stupid weiter. Wie anders es sein kann, habe ich ja in meiner zweiten Ehe erfahren können. Jetzt bin ich doch wieder ein Mensch, der Achtung vor sich selbst haben darf. Und das verdanke ich nur dem Fraule hier.« Er griff nach ihrer Hand und drückte zärtlich die Lippen darauf. »Glauben Sie ihm nicht, Baron«, lächelte sie. »Er übertreibt fürchterlich. Wenn ich ihm nur helfen könnte, ihn mit seiner Tochter wieder zusammenzubringen, aber leider steht das nicht in meiner Macht, weil jeder Versuch an dem Starrsinn der jungen Dame scheitern würde.« »Starrsinn, das ist das richtige Wort dafür, Irene. Zweimal habe ich dem Gör schon geschrieben – aber die Briefe kamen zurück. Was habe ich denn schon Böses getan, daß sie annimmt, mich verachten zu müssen? Ich bin ja nicht der erste Mann, der eine zweite Ehe einging und werde nicht der letzte sein. Anstatt, daß sich so ein verstocktes Ding an uns anschließt, da sitzt es wie von aller Welt verlassen allein in dem großen Haus, schindet und rackert sich ab, ohne sich auch nur das kleinste Vergnügen zu gönnen. Vertrauert seine schönsten Jugendjahre und wird vor der Zeit alt. Wenn ich nur nicht die Eselei begangen und mit ihrer Mündigkeitserklärung einverstanden gewesen wäre, als sie nach dem Tode ihrer Mutter Herrin von Schlehdorn wurde. Dann würde ich schon ganz anders vorgehen. Aber so bin ich leider machtlos.« »Dann müssen Sie die junge Dame gewähren lassen«, meinte Hartger achselzuckend. »Sie ist eben anders als junge Mädchen ihres Alters. Eine Einsiedlernatur, die sich wohl dabei fühlt.« »Wie kommen Sie mit ihr aus?« »Gut, weil ich ja nur geschäftlich mit ihr zu tun habe. Sie möchte mich schön ansehen, wenn ich mich in ihre Privatangelegenheiten mischen würde.« »Aber in wirtschaftlicher Hinsicht tun Sie es um so mehr«,
zwinkerte der andere ihm verschmitzt zu. »Ich glaube nicht, daß ihre Herrinnenwürde noch fest steht; denn in Wirklichkeit sind Sie doch die Respektsperson auf Schlehdorn.« »Das dürfte nicht ganz stimmen, Herr Gerholt. Die Gutsherrin versteht nämlich eine ganze Menge von der Landwirtschaft und läßt sich sobald nichts vormachen…« »Und wäre trotzdem aufgeschmissen, wenn sie ihren tüchtigen Oberinspektor nicht zur Seite hätte«, warf der Hausherr trocken ein. »Wie bin ich doch froh, daß ich Sie überreden konnte, nach Schlehdorn zu gehen. Allerdings hatte der Bethener Haßler dabei schon sehr gute Vorarbeit geleistet oder nicht?« »Das kann man wohl sagen. Die junge Dame muß irgendwie sein Herz gerührt haben, weil er sich so für sie einsetzte.« »Tat sie: Er hat nämlich gesehen, wie sie weinend aus dem Polizeigebäude kam, als die Halunken ihr mit der Gutskasse durchgebrannt waren. Da muß sie schon sehr verzweifelt gewesen sein. Denn Tränen bei meiner Tochter sind eine große Seltenheit. Wissen Sie übrigens, daß man die erbärmlichen Wichte gefaßt hat und ihnen noch fast das ganze Geld abnehmen konnte?« »Nein, über solche Dinge spricht die Herrin mit ihrem Inspektor nicht. Aber was kommt denn da für ein reizendes Dirndlein angesprungen?« Er zeigte in den Park hinab, wo ein Mädchen den Weg entlang lief. »Das ist unsere Jüngste«, erklärte Gerholt stolz. »Dann werden die andern nicht mehr weit sein.« Und tatsächlich tauchten noch zwei weitere Gestalten auf, nahmen die Stufen der Terrasse im Sturm und standen beim Anblick des ihnen fremden Gastes verlegen still. »Nun kommt schon her«, ermunterte der Vater. »Begrüßt den Herrn Baron von Elchstorff. Das ist unsere Tochter Irmela, das die Roselind und das unser Sohn Bernd. Setzt euch, ihr Bande. Hunger?« »Ja…!« kam es dreistimmig zurück. Mit Wohlgefallen
ruhten Hartgers Augen auf den Kindern des Hauses. Ein prächtiger Bursche, hübsch und anscheinend sehr intelligent. Das Backfischchen entzückend mit dem blonden Lockenkopf, den strahlenden Augen in dem feinen Gesichtchen und der zierlichen Gestalt. Der Name Roselind paßte wie für sie geschaffen. Die kleine Irmela, süß und lieb mit ihrem molligen Kinderfigürchen, den braunen Ringellocken und den hellgrauen Augen war ganz der Mutter Ebenbild. Kein Wunder, daß Herr Gerholt die prächtigen Kinder so liebevoll betrachtete. »Könnte Alheidis nun nicht auch hier sein. Wie schön wäre dann alles – für sie und auch für uns.« »Hol sie doch her, Paps«, riet Irmela in ihrer Unschuld, und da mußten die andern ziemlich lachen. Man wählte ein anderes Gespräch, weil es nie guttut, in Gegenwart von Kindern schwerwiegende Probleme lösen zu wollen. »Nun, Herr Schraut, wie ist es nun in Ihren Büchern mit dem ›Gehabt und Gesollt‹?« fragte Hartger an einem Herbstabend den Rentmeister, mit dem er bei einer Flasche Wein gemütlich zusammensaß. »Was ist nun überwiegend?« »Gott sei Dank das ›Gehabt‹«, gab er vergnügt zur Antwort. »Zwar nur mäßig, aber besser als andersrum. Ich hoffe, daß wir nach der nächsten Ernte eine Null mehr dranhängen können. Was Sie aus diesem Schlehdorn gemacht haben, das steht wohl einzig da, Baron.« »Na, nun mal langsam, mein Freund. Lassen Sie das bloß nicht unsere Herrin hören. Sie ist es ja schließlich gewesen, die den Besitz mit ihrem Geld flottgemacht hat. Ich glaube, sie besitzt auf ihrem Bankkonto keine Mark mehr, so hat sie die Sanierung des Gutes ausgeplündert. Hut ab vor ihr!« »Den halte ich schon längst in der Hand. Dafür sitzt nun auf meinem Kopf ein Stein, der mich zu Boden drücken will.« »Denn mal den Kopf geschüttelt und herunter damit!« »Wenn das so einfach wäre. Ich möchte nämlich heiraten«,
kam es so kläglich heraus, daß der andere amüsiert lachte. »Ist denn das so weinerlich?« »O ja, mein Herz weint, meine süße Kleine weint, weil sie den glatten Reif noch immer an dem Finger der linken Hand tragen muß – kurz und gut: Das ganze Leben ist zum Weinen.« »Hat die Weinerei etwa der Wein bewirkt, dem Sie so tapfer zusprechen?« neckte Hartger. »Heiraten ist doch so einfach in Ihrem Fall. Eine Eingabe an die Gutsherrin um Erlaubnis zum Ehejoch, und schon klappt der Laden.« »Meinen Sie?« »Ich meine.« »Ich habe aber Angst.« »Vor wem denn? Etwa vor dem kleinen Mädchen da drüben?« »Leider. Wenn man die Dame nämlich mit Sonderwünschen belästigt, kann sie einen so verflixt ansehen, daß man sich ganz dämlich vorkommt. Die mit Ihrer Gletscherkühle wird es bestimmt nicht verstehen können, daß der Mensch neben seiner Arbeit auch noch etwas fürs Herz braucht. Daß man sich nach des Tages Müh und Plage in einer gemütlichen Häuslichkeit erholen will. Apropos Häuslichkeit! Dafür ist hier keine Gelegenheit geschaffen, weil die Rentmeister vor mir alle unverheiratet waren.« »Dafür steht die Wohnung leer, die mir zukommt. Darin kann ein junges Paar sich bequem sein gemütliches Nestchen bauen und später noch einige Junge atzen.« »Hm – und Sie, Baron? Wenn Sie sich ein Nestchen bauen wollen, wo geschieht das?« »Lieber Freund, meine Freiheit ist mir so lieb, daß ich Nestpflichten nicht auf mich nehmen will.« »Bis die richtige Schwälbin gefunden ist«, warf der andere trocken ein. »Bis vor einem Jahr hatte ich nämlich genau denselben Freiheitsdrang. Aber da flog mir das Schwälbchen aus dem Hulter Nest in die Flugbahn – und schon sind meine Flügel geschrammt.«
»Also das Töchterrein des Oberinspektors von Elchen ist’s«, schmunzelte Hartger. »Keinen schlechten Geschmack bewiesen. Die kleine Evelyn ist reizend.« »Danke, freut mich. Und nun zum Kern der Sache: Wollen Sie bei unserer Herrin ein gutes Wort für mich einlegen, Baron?« »Nein, Herr Schraut, das müssen Sie schon allein ausfechten. Möchte ja einen komischen Eindruck machen, wenn Sie einen Vormund vorschicken wollten.« »Aber auf Ihre Fürsprache darf ich rechnen?« »Wenn mir dazu Gelegenheit gegeben wird, gern. Aber Sie kennen ja unsere selbstbewußte Herrin, die über derartige Dinge ganz allein entscheidet.« Daher überraschte es ihn, daß Alheidis einige Tage später, als sie an einem abgeernteten Feld entlangritten, um es für die Bestellung einzuteilen, ganz unvermittelt sagte: »Der Rentmeister hat mich in einem Schreiben um Heiratsbewilligung gebeten. Was halten Sie davon, Herr Oberinspekor?« »Daß Sie diese ruhig befürworten können, gnädiges Fräulein. Ich kenne die Braut Herrn Schauts, er hat gut gewählt.« »Die Wahl des Rentmeisters interessiert mich nicht. Ich habe durchaus nichts dagegen, daß er heiratet. Ich weiß nur nicht, wie ich ihm eine ausreichende Wohnung beschaffen soll.« »Die mir Zukommende steht leer, gnädiges Fräulein.« »Ja, gewiß – aber wenn Sie diese eines Tages benötigen sollten?« »Vorläufig ist das nicht zu erwarten. Und wenn ich tatsächlich einmal heiraten sollte, dann bliebe ich sowieso nicht hier. Ich trage mich nämlich mit dem Gedanken, mich selbständig zu machen, sobald mein Bruder in der Lage ist, mir mein Erbteil auszahlen zu können.« »So, das ändert die Sachlage. Ich danke Ihnen, Herr Oberinspektor.« »Keine Ursache, gnädiges Fräulein.«
Am selben Abend noch kam der Rentmeister freudestrahlend in das Zimmer des Oberinspektors gestürmt. »Hurra, ich darf heiraten!« »Herzlichen Glückwunsch. Also hat’s geklappt?« »Ohne weiteres. Zwei Wochen Heiratsurlaub sind mir zugebilligt. Nun nichts wie das Aufgebot bestellt – dann rein ins Ehejoch…« »Ein Reinfall wird es doch«, setzte Hartger lachend hinzu. »Fressen Sie mich bloß nicht, Ingo – ich bin ganz still.« »Oh, über diesen Spötter! Aber ich will gnädig sein und Ihnen ein warmes Plätzchen an Heim und Herd zusagen, weil Sie so großzügig waren, mir die Ihnen zustehende Wohnung abzutreten. Himmel, was hab ich für eine Freude…« Schon war er hinaus, und Elchstorff sah ihm kopfschüttelnd nach. Muß nicht zu knapp verliebt sein, der gute Junge, daß ihn die Aussicht, die Liebste heimführen zu können, ihn einen Freudentaumel versetzt. Zwar unbegreiflich, aber das war ja manches im Leben. Eine Woche später wurde in Kiwitten der Geburtstag des Hausherrn gefeiert, wozu auch Hartger Elchstorff geladen war. Da er für diesen Besuch kein Gefährt des Gutes nehmen wollte und im Gesellschaftsanzug nicht reiten konnte, schickte Gerholt ihm sein Auto. Alheidis, die Wagen nebst Fahrer kannte, stand vor dem Portal, als der Oberinspektor auftauchte und dem Chauffeur freundlich zunickte. »Ist es nicht noch ein wenig früh, mein lieber Heinz?« »Nein, Herr Baron. Herr Major gab die Zeit an, weil er seinen liebsten Gast noch ein wenig für sich allein haben möchte, ehe die anderen Gäste eintreffen.« »Das Vergnügen soll er haben.« Nun hatte er Alheidis entdeckt, zog den Hut und stieg in den Wagen, dem sie wie entgeistert nachstarrte. Am nächsten Tage, einem Sonntag, bekam sie Elchstorff nicht zu Gesicht, doch der Tag darauf, als sie mit ihm zusammentraf, stellte sie ihn zur Rede:
»Sie waren am Sonnabendnachmittag in Kiwitten, Herr Oberinspektor?« »Ja, gnädiges Fräulein, weil dieser Nachmittag ja arbeitsfrei ist.« »So meine ich es nicht«, winkte sie herrisch ab. »Mir paßt es nicht, daß Sie mit den Leuten dort Verkehr pflegen.« Sein Gesicht wurde hart, die Augen darin blitzten wie blanke Kiesel. Die Stimme klang eiskalt, als er scharfbetont sagte: »Unter den ›Leuten‹ befindet sich auch Ihr Vater, mein gnädiges Fräulein. Und dann – überhaupt – diese Einmischung in meine Privatangelegenheit möchte ich mir doch ernstlich verbitten. Während der Dienststunden können Sie über Ihren Angestellten natürlich gebieten aber nicht während seiner Freizeit…« Brüsk wandte sie sich ab, ging davon, und er sah ihr nach, halb ärgerlich, halb erheitert. So darfst du mir natürlich nicht kommen, mein hochmütiges Kind, dann sind wir bald geschiedene Leute. Nun gerade! Er schaffte sich einen schnittigen Zweisitzer an und fuhr jeden Sonntag nach Kiwitten. Da es um diese Jahreszeit früh dunkelte, gab es auch frühen Feierabend. Dann suchte er Zerstreuung in der Stadt oder saß in der gemütlichen Wohnung des Rentmeisters. Wenn die junge Frau Lust verspürte, ins Theater oder ins Kino zu gehen, stand ihr das Auto Hartgers zur Verfügung. Der junge Ehemann klemmte sich in den Notsitz und war kreuzfidel dabei. Es fiel den drei Menschen gar nicht ein, ihr Leben zu vertrauern, wie die Herrin von Schlehdorn es tat. Mochte die in ihrem feudalen Haus versauern, was ging sie das an? Der Winter brachte dann auch seine Freuden. Die spiegelblanke Eisfläche des Sees lockte zum Schlittschuhlauf, Skigelände gab es auch, zwischendurch machte das Rodeln Spaß, und abends war es im warmen Zimmer urbehaglich. Die Bratäpfel brutzelten, der Grog dampfte auf dem Tisch. Man musizierte, spielte Skat, Schach, vertrieb sich jedenfalls seine Freizeit auf
angenehme Weise. Das Weihnachtsfest rückte immer näher, und endlich war es da. Und was auf Schlehdorn noch niemand erlebt hatte, das traf jetzt ein. Die Bescherung im Herrenhause. Die Beamten des Hauptgutes, der Vorwerke, der Forst, sie alle mit ihren Angehörigen, sämtliche Arbeiter mit Kind und Kegel waren dazu geladen. Festlich gekleidet erschien man am Nachmittag und wartete voll Neugier der Dinge, die da kommen sollten. Mitten in dem Saal stand eine riesengroße buntgeschmückte Tanne. Zweimal im Viereck zogen sich lange Tische darum, die mit glitzernden Bäumchen bestellt waren. Zwischendurch häufte sich Spielkram für die Kinder, praktische Dinge für die Frauen, für die Männer Rauchwaren und Likör. Daneben lag ein Umschlag mit einem Monatsgehalt. Ja, da war man denn doch sozusagen platt. Wenn man in dem verflossenen halben Jahr auf Schlehdorn auch Überraschungen am laufenden Band gewohnt war, diese jedoch setzte allem die Krone auf. Frohbewegt sah man der Gutsherrin entgegen, die wie eine Lichtgestalt im Saal erschien. Ein weißes Kleid floß in weichen Falten bis zu den Füßen hinab, in der Taille schlicht durch einen Goldgürtel gehalten. Das eigenartige Haar fiel wie eine Welle aus schimmernder Seide über den Nacken, die Augen leuchteten aus dem zarten Antlitz gleich kostbaren Steinen, um den hochmütigen Mund lag heute ein bezauberndes Lächeln. »Wie ein leibhaftiges Weihnachtsengelchen«, klang die Stimme einer alten Frau vernehmlich durch die andächtige Stille. Und die Gestalt erschien auch tatsächlich wie aus einer anderen Welt, die sich an das Harmonium setzte und das alte und doch ewig neue Lied von der stillen und heiligen Nacht ¦spielte,^ wobei zuerst zaghaft dann immer sicherer, die Stimmen einfielen. »Fröhliche Weihnacht wünsche ich allen. Nehmen Sie alles so freudig hin, wie ich es aufgebaut habe. Auf jedem Platz
liegt ein Kärtchen mit Namen«, sagte Alheidis dann. Das gab nun ein eifriges Suchen, bis jeder das Seine gefunden hatte. Die Kinder jubelten, die Erwachsenen lachten fröhlich. Eine Oma weinte, als wäre ihr ein Leid geschehen, als sie die nun ihr gehörende Schürze probierte. Und noch sollte die Überraschung nicht zu Ende sein… »Packen Sie die Sachen bitte zusammen, damit später gar kein Durcheinander aufkommen kann«, verkündete die Herrin. »Dann seien Sie bitte meine Gäste beim Weihnachtsmahl.« Hurtig wurden die Geschenke verstaut, und dann ging es in die Räume, wo wieder festlich geschmückte Tafeln standen. In einem für die Erwachsenen, im anderen für die Kinder. »Halten Sie mir hier am Ende einen Platz frei«, raunte der Oberinspektor dem Rentmeister zu. »Ich muß rasch mal telefonieren.« Er schlich sich fort zum Arbeitszimmer der Gutsherrin hin, das heute still und öde dalag. Wählte eine Nummer und sprach denn: »Sind Sie es, Herr Gerholt? Hier Elchstorff…« »Ja, Menschenskind, wo bleiben Sie bloß!« kam es aufgeregt vom anderen Ende. »Wir können die Kinder kaum noch bändigen.« »Bescheren Sie bitte ohne mich, ich bin jetzt hier unabkömmlich. Große Bescherung vorüber, nun allgemeines Essen. Ich darf unmöglich dabei fehlen.« »Jammerschade. Wie lange wird es dauern?« »Keine Ahnung.« »Hören Sie zu, mein Freund: Sie kommen unter allen Umständen noch hierher, und wenn es spät in der Nacht sein sollte. Wir erwarten Sie auf jeden Fall.« »Ich komme. Auf Wiedersehen.« Er hängte ab und schlich dann an die Tafel zurück, wo man sich inzwischen zwanglos gruppiert hatte. Ganz am Ende bemerkte er einen freien Stuhl. Auf dem danebenstehenden saß Evelyn Schraut und winkte ihm. »Gott sei Dank, daß Sie kommen«, lachte sie ihn an. »Es
war nicht leicht, den Platz für Sie freizuhalten. Als wenn er besondere Anziehungskraft hätte, so steuerten die meisten auf ihn zu.« »Kunststück, bei dem reizenden Magnet«, schmunzelte er. »Wo ist der Herr Gemahl?« »Dort sitzt er. Er wurde von dem Menschenstrom erfaßt und abgedrängt.« »Schade?« »Keine Spur. Ich habe in Ihnen ja einen fast vollwertigen Ersatz«, blinzelte sie ihm spitzbübisch zu. »Mag mein Tyrann nur eifersüchtig werden, das kann seiner Selbstherrlichkeit nichts schaden.« »Reizende kleine Kanaille«, lachte er. »Ganz entzückend schauen Sie aus.« »Plumpes Kompliment. Aber was sagen Sie zu der heutigen Überraschung? Da kann man tatsächlich aus den Schlorren kippen.« »Wenn ich welche anhätte, wäre ich es schon längst. Ja, ja, es geschehen noch Zeichen und Wunder.« »Es muß doch eine Riesenarbeit gemacht haben, das alles zu arrangieren. Und dabei so ganz heimlich, still und leise. Ich kann mich gar nicht sattsehen an der wunderschönen Erscheinung dort oben am Tisch.« »So neidlos erkennen Sie das an? Alle Achtung für eine Frau.« »Nun werden Sie nur nicht spöttisch, mein lieber Herr Baron«, lachte sie vergnügt. »Ich besitze nicht so viel Größenwahn, um mich mit dieser Schönheit etwa vergleichen zu wollen. In ihrer Haut möchte ich trotzdem nicht stecken, um alles nicht! Ich fühle mich in der meinen weniger betörenden entschieden wohler. Schauen Sie nur, wie die beiden Volontäre sie verzückt anstarren. Wenn das heute nur nicht gebrochene Herzen gibt.« »Gönnen wir ihnen das Vergnügen, wenden wir uns lieber den lukullischen Genüssen zu, die soeben nahen.« Das Essen war vorzüglich zusammengesetzt. Dazu gab es Wein, dem man eifrig zusprach und dabei die anfängliche
Befangenheit verlor. Die Fröhlichkeit stieg, und selbst die alten Omas, die sich sehr geehrt fühlten, an einer so festlich gedeckten Tafel sitzen zu dürfen und von livrierten Dienern bedient zu werden, wurden fidel. Man prostete der Gastgeberin immer wieder zu, die mit dem bezaubernden Lächeln, das heute kaum von ihrem Gesicht schwand, Bescheid gab. Auch dem Oberinspektor hob man oft das Glas entgegen, obgleich er sich so unbemerkt wie möglich machte. Er amüsierte sich über die Menschen, die, nachdem der Wein ihre Zungen gelöst, aus sich herausgingen und mit ihrem Mutterwitz für Stimmung sorgten. Daß niemand dabei aus der Rolle fiel, zeugte von ihrer Diszipliniertheit. In Kiwitten wurde Hartger von Elchstorff mit kaum zähmbarer Ungeduld erwartet. »Aber wirklich, Onkel Hartger, das ist gar nicht recht von dir, daß du so sehr spät kommst«, begrüßte Irmela ihn vorwurfsvoll. »Wir sind vor Ungeduld schon ganz kribbelig.« »Trotz der Geschenke?« neckte er. »Wir haben doch noch gar nicht beschert. Ohne dich mochten wir das nicht, weil du doch zur Familie gehörst.« »Ja, da staunen Sie«, schmunzelte Gerholt. »Die Bande meuterte einfach, als wir ohne Sie mit der Feier beginnen wollten.« »Das ist ja direkt rührend. Wie soll ich das wohl wettmachen?« »Hast du schon, weil du da bist. Hörst du das Glöcklein? Komm schnell…« Die Kleine zog ihn in das große Zimmer, wo die Weihnachtskerzen auf der glitzernden Tanne strahlten. Und wie vorhin Alheidis, so spielte jetzt Irene das Weihnachtslied. Dann mußte die Jüngste ihr Gedicht aufsagen, was sehr aufgeregt aber ohne zu stocken vor sich ging. Anschließend sangen die drei Kinder des Hauses ein reizendes Weihnachtsliedchen, wozu die Mutter sie auf dem Klavier begleitete – und dann durfte man endlich seine Geschenke
in Augenschein nehmen. Das gab hellen Jubel, als jeder gerade das vorfand, was er sich sehnlichst gewünscht, wozu auch der Gast seinen Teil beigetragen hatte. Dafür wurde auch er von allen Seiten bedacht, was ein Gefühl der Rührung in ihm aufkommen ließ. Die beiden Mädchen hatten ihre Fingerlein mit kleinen Handarbeiten abgemüht, Bernd ihm eine herrliche Pfeife geschnitzt, der Hausherr stiftete erstklassigen Tabak dazu, und die Hausherrin hatte ihm einen wunderhübschen Pullover gestrickt, dazu tausend gute Wünsche mit hinein, wie sie mit ihrem Lächeln versicherte. »Ich bin über die reichen Gaben ja ordentlich beschämt«, lachte er verlegen, wogegen man entrüstet Protest erhob. »Und die wunderschöne Puppe, die ich von dir bekommen habe, ist die wohl nichts?« rief Irmela. »Und nach der ein gewisses kleines Mädchen sich das Naschen am Schaufenster des Spielwarengeschäfts plattgedrückt hat«, ergänzte der Vater schmunzelnd. »Und die Flinte, nach der ich schon längst liebäugelte – « »Und mein süßes Necessaire!« erhob Roselind ihre Stimme. »Und mein prima Fotoapparat!« schrie Bernd. »Und das kostbare Porzellan?« meldete sich die Hausfrau zum Wort. »Das alles ist wohl nichts, wie? Das kam uns alles so mir nichts dir nichts ins Haus geschneit, mit den kargen Worten: Vom Weihnachtsmann. Aber ich kenne ja Ihre Schrift, mein Lieber…« »Ach was, ich sage du«, lachte sie fröhlich. »Ja, Hartger?« »Ein liebes Weihnachtsgeschenk, Irene. Ich danke dir.« »So – und ich soll mich wohl mit dem förmlichen ›Herr Gerholt‹ zufrieden geben? Nichts da, mein Junge, ich könnte dein Vater sein.« »Ziemlich früh, aber soll auch schon mal vorkommen«, lachte Hartger herzlich. »Kinder, ist das schön bei euch!« »Das kommt davon, wenn man einen so lieben Hausgeist hat.« Edgar streichelte zärtlich die Wange Irenes. »Hast alles ganz wunderbar arrangiert, Fraule. Nun lege doch mit
deiner Weihnachtsbowle Ehre ein. Dazu wünschen wir lukullische Schnitten, weil wir beim Abendessen vor lauter Aufregung fast nichts genießen konnten.« Bald saß man gemütlich beisammen, aß, trank und plauderte fröhlich. Das Jungvolk bestaunte zwischendurch immer wieder die Geschenke, scharte sich dann um den Gast und hörte gespannt zu, was er von der Feier in Schlehdorn erzählte. »Wie sah Alheidis denn aus?« erkundigte sich das Backfischchen neugierig. »Um mit der alten gerührten Oma zu sprechen: Wie ein leibhaftiges Weihnachtsengelchen. Hast eine wirklich schöne Tochter, Edgar.« »Kunststück, bei dem Vater«, schmunzelte er. »Sie macht sich, meine Kleine. Wenn mir einer vor einem Jahr gesagt hätte, daß sie sich so leutselig geben könnte, den hätte ich wohl dämlich angesehen. Aber sag mal, Junge, wenn du sie dazu bringen konntest, sich so zu überwinden, dann…« »Halt!« fuhr er ihm in die Rede. »Daran habe ich keinen Teil. Ganz allein hat sie das alles vorbereitet, was uns vor Überraschung fast aus den Schlorren kippen ließ, wie es die kleine Frau Schraut bezeichnete.« »Du hast tatsächlich nichts davon gewußt?« »Nein. Ich war genauso überrascht wie alle andern.« »Mit Alheidis muß sich irgendwie eine Wandlung vollzogen haben«, sagte der Vater nachdenklich. »Denn es ist noch nie dagewesen, daß auf Schlehdorn eine Leutebescherung stattgefunden hat. Nicht mit der geringsten Kleinigkeit wurde man dort bedacht. Und nun Geschenke, ein Monatsgehalt und ein Festmahl noch dazu, darüber muß ich mich sehr wundern. Wo sie doch sonst so zugeknöpfte Taschen hat, ist diese große Ausgabe aller Anerkennung wert. Dazu kommt noch die Riesenarbeit, die sie mit den Vorbereitungen gehabt hat. Zum erstenmal habe ich allen Grund, stolz auf meine Tochter zu sein. Und nun will ich auch aussprechen, woran du mich vorhin hindertest, Hartger. Wenn du schon so viel bei Alheidis
erreicht hast, das mit der Restaurierung Schlehdorns und so, könnte es dir da nicht auch noch gelingen, sie uns hier zuzuführen?« »Der Hoffnung gib dich nicht hin, Edgar«, antwortete er entschiedenen Tones. »Ich will es nicht abstreiten, daß sie bei manchem, was Schlehdorn betrifft, auf mich hört. Aber eine Einmischung in ihre Privatangelegenheit, das würde sie sich doch sehr energisch verbitten. Du kennst sie ja und weißt daher, wie unnahbar und hochmütig sie ist.« »Leider«, grollte der Vater. »So ein törichtes Kind! Anstatt hier froh mit uns zu feiern, sitzt es wie ein kleiner Uhu in seinem einsamen Nest. Na, lassen wir uns deshalb die vergnügte Laune nicht verderben. Prosit allerseits! Schmeckt recht lieblich, das Zeug. Besüffeln wir uns ruhig daran. Ans Steuer brauchst du dich ja nicht zu setzen, Hartger. Es ist Ehrensache, daß du über die Feiertage hier bleibst.« »Ach ja, Onkelchen«, umhalste Irmela ihn recht stürmisch. »Weißt du was? Morgen holen wir beide unsere große Schwester her.« »Du teure Unschuld«, lachte der Vater. »Hast du eine Ahnung von deren Starrsinn!« »Man müßte sie einfach entführen«, riet Bernd forsch. »Auf einem weißen Roß«, spann die eifrige Märchenleserin Irmela entzückt weiter, um dann bekümmert hinzuzusetzen: »Aber als Prinz bist du nicht schön genug, Bernd.« Vorwurfsvoll sah sie die Lachenden an, die so gar keinen Sinn für das Märchenhafte hatten. Ging dann zu ihrer Puppe zurück, um sie zum…zigsten Male freudestrahlend zu bewundern. Da es heute für das junge Volk keine Polizeistunde gab, blieb es bis zum Aufbruch im Familienkreis. So richtig müd-gefreut suchte es die Betten auf, wie alle andern im Hause es auch taten. Nach gemütlich verlebten Feiertagen kehrte Hartger nach Schlehdorn zurück, um dort wieder auf dem Posten zu
sein. Silvester und Neujahr feierte er gleichfalls in Kiwitten – und dann begann der graue Alltag, der eigentlich auch ganz beschaulich war, weil es winterüber für den Landwirt keine hetzende Arbeit gibt. Mitte Januar nahm Elchstorff seinen Urlaub, um in Ruhe Privatangelegenheiten regeln zu können, verbrachte den Rest von drei Wochen in der Sonne des Südens und kehrte frisch und braungebrannt nach Schlehdorn zurück, wo das Ehepaar Schraut ihn schon ungeduldig erwartete. »Endlich sind Sie wieder da, Herr Baron«, empfing die junge Frau ihn strahlend. »Ohne Sie war es kein Leben hier. Wir kamen uns alle vor wie Schafe ohne Hirt.« »Hauptsächlich dieses weiße Lämmchen«, neckte der Gatte. »Das kommt davon, wenn man so einen schneidigen Kerl als Hausfreund duldet. Übrigens hat Herr Gerholt wiederholt fernmündlich angefragt, ob Sie noch immer nicht zurück wären. Dort scheint man auch nicht ohne Sie leben zu können. Nur unsere Herrin vermißte Sie nicht. Weiß der liebe Himmel, was die so in ihren Mußestunden treibt. Ohne auch nur die kleinste Veranstaltung zu besuchen, lebt sie dahin. Pflegt keinen nachbarlichen Verkehr, hat nie Gäste, keine Freundin, keine Herrenbekanntschaft. Die wird bestimmt als alte verschrobene Jungfer dereinst in die Grube fahren.« »Bewerben Sie sich doch um den Posten eines mâitre de plaisir«, schlug Hartger vor. »Vielleicht tun Sie das, mein spöttischer Herr Baron.« »Gott soll mich bewahren! Ich gehe lieber allein meinem Amüsement nach. Allenfalls würde ich noch diese spitzbübische kleine Frau hier dazu mitnehmen. Wie wär’s zum Beispiel am Rosenmontag in der Redoute? Sie gehen am besten als Othello, Herr Schraut.« »Ich aber nicht als Desdemona«, wehrte Evelyn lachend ab. »Sondern?« »Als Circe.« »Das überlaß nur getrost dem Fräulein Gerholt«, meinte Ingo trocken, doch Hartger war anderer Ansicht.
»Circe? Nein, dazu ist sie zu langweilig. Die junge Dame würde sich eher zur Vesta eignen, weil sie doch ohnehin so treu Heim und Herd hütet.« Am Rosenmontag flatterte Evelyn als reizende Libelle durch das närrische bunte Völkchen, während Ingo als Eulenspiegel allerlei Schabernack trieb. Gegenseitig hielten sie Ausschau nach Carmen und Torero, wie sie Kostüme vereinbart, in aller Heimlichkeit jedoch andere besorgt hatten. Von den erstgenannten gab es einige und nun galt es, die richtigen davon herauszufinden. Zwischendurch versuchten sie Hartger Elchstorff in dem Wirrwarr zu erspähen. Allein, seiner Statur gab es verschiedene, die Masken verdeckten die Gesichter – schwierige Angelegenheit. Währenddessen machte ein Cowboy die Umgebung unsicher, indem er die Masken, die ihm gefielen, geschickt mit dem Lasso einfing. Überall, wo er auftauchte, gab es jubelndes Lachen. Gern ließ man sich einfangen, um sich dann mit dem verwegenen Burschen im Tanz zu wiegen. Als Lösegeld forderte er eine Blume oder ein ähnliches Requisit, mit dem er seinen breiten Hut schmückte. Lockten die roten Lippen verlangend zu ihm empor, drückte er die seinen darauf, entzogen sie sich spröde, ließ er es bleiben. Wollte man ihn fangen, entwand er sich mit fabelhaftem Geschick, tauchte immer da auf, wo man ihn nicht vermutete und hielt so die weiblichen Masken in Atem. Es war leicht für ihn, immer wieder zu entwetzen, weil ja nicht nur in einem Raum getrubelt wurde. An fünf Stellen gab es Musik und närrische Menschen- und überall schwang der freche Cowboy sein Lasso mit Treffsicherheit. Wo es das größte Hallo gab, da konnte man ihn finden. Eben fing er sich ein Libellchen ein, das lachend an der breiten Brust landete. Ein starker Arm umschlang die Taille, die seidenbeschuhten Füßchen wirbelten über das Parkett, die schelmischen Braunaugen blitzten durch die Löcher der Maske.
Der Cowboy lachte in sich hinein. Also hatte er doch richtig getippt. So ein Rackerchen! Aber warum versuchte der listige Eulenspiegel, einer Carmen die Maske zu lüften, was ihm einen Klaps auf die vorwitzigen Finger eintrug. Olala, nun war der verwegene Wildwestler im Bilde! Eulenspiegel, du befindest dich auf falscher Fährte. Was du suchtest, das halte ich im Arm. Hei, wie war das heute so närrische Leben schön! Als er sich bückte, um seinen Mund auf die jungroten Lippen zu drücken, da entwand sich ihm das Insektchen blitzschnell und war im Gewühl verschwunden. Wenn nicht, dann nicht! Suche ich mir etwas anderes fürs Herz. Aber zuerst einmal ein Glas Sekt in die heute so durstige Kehle gegossen. In die Bar zu gehen wagte er nicht, weil man ihn da zu sehr bestürmt hätte. Aber da kam ihm ein Ober in den Weg, der auf einem Tablett gefüllte Sektkelche trug. Schon hatte der Cowboy einen in der Hand, warf dem verblüfften Mann ein Geldstück zu und entwetzte lachend mit seinem Raub in den nächsten Raum. Oh, das war ja hier eine ganz idyllische Angelegenheit. So recht etwas für verliebte Leute, die stille Verträumtheit dem lauten Trubel vorzogen. Selbstvergessen drehten sich einige Paare nach der Musik, die weich und zärtlich von irgendwo aufklang. Das gedämpfte Licht ließ alles ringsum fast unwirklich schön erscheinen. Also eine kleine Insel der Seligen stellte der Cowboy schmunzelnd fest. Hier lohnte es nicht, das Lasso zu werfen, weil die männlichen Masken ihn lynchen würden, wenn er ihnen die weiblichen aus dem Arm zog. Aber was drückte sich dort in der Ecke so scheu herum? Unverkennbar ein Veilchen. Warte, mein feines Blümelein, du sollst bald nicht mehr im Verborgenen blühen – lachte er in sich hinein, pirschte sich hinter den Rücken der Ahnungslosen – und schwupp flog das Lasso um die Taille. Ehe die Maske zur Besinnung kam,
stand sie auch schon vor dem kühnen Banditen, der sie eingehend betrachtete. Einfach hinreißend schön, mußte er zugeben. Veilchensträuße auf ein bauschiges Gazeröckchen geheftet, das Mieder damit garniert, das breite Samtbänder in passender Farbe zusammenhielten, von gleicher Tönung Strümpfe, Seidenschuhe und Maske. Ein Veilchenstrauß auch im goldlodernden Haar, wie Alabaster Schultern und Arme. »Entzückend bist du, fein’s Blümelein«, lachte der Räuber keck, indem er die blumige Angelegenheit, die einen süßen Veilchenduft ausströmte, umfaßte und mit ihr davontanzte. »Du sollst heute meine letzte Beute sein. Darf ich mal deine Maske lüften, ja? Du schüttelst recht energisch dein bezauberndes Köpfchen, ergo: Lassen wir es bleiben. Kind, bist du süß. Gern möchte ich wissen, wer du bist, aber du belügst mich ja doch!« Fest zog er sie an sich und tanzte mit ihr nach den schmeichelnden Klängen. Willig überließ die grazile Gestalt sich seiner Führung. Ihn beherrschte ein Gefühl, wie noch nie in seinem Leben zuvor. Heiß wurde ihm Kopf und Herz. Verflixt noch mal, was hatte er nur! Machte es der verträumte Raum, die zärtliche Musik, der Veilchenduft, der ihn umschmeichelte oder gar der genossene Sekt, was ihn in eine so süßduselige Stimmung versetzte? »Ich möchte dir so vieles Gute sagen, doch kommt immer nur eins heraus: Ich liebe dich. Ich möchte dich auf Händen tragen…«, sang es irgendwo. So was Verrücktes – dachte der Cowboy unbehaglich. Aber hatte er nicht tatsächlich das Verlangen, die grazile Gestalt einfach auf die Arme zu nehmen und mit ihr davonzueilen? »Kind, sei doch nicht so scheu. Bist du etwa unerlaubt hier?« fragte er. »Ja«, kam die Antwort wie ein Hauch. »Verheiratet?«
»Nein.« »Wer bist du, holdseliges Kind? Darf ich das wirklich nicht wissen?« Wieder ein heftiges Kopfschütteln. Da tat er etwas, was er hinterher als unfair empfand. Blitzschnell lüftete er die veilchenfarbene Maske und küßte den Mund darunter wieder und wieder, bis er dann beschämt innehielt. Abscheulich hatte er sich benommen! Das verhüllte Antlitz senkte sich, der Körper zitterte in seinem Arm – aber kein Laut entschlüpfte den Lippen. »Verzeih – «, bat er leise. »Aber deine sinnverwirrende Süße kann einem Mann schon das Herz heiß machen. Sei doch nicht so scheu, du seltsames Kind, geh doch aus dir heraus. Heute ist Rosenmontag, einen Aschermittwoch gibt es hinterher und noch lange genug. Hebe nur einmal die Lider von den Augen. Hörst du, was die Geige singt? Wie für mich geschaffen: Heute tanz ich nur mit dir, mit dir allein nur, und das Leben ist schön. Heute tanz ich nur mit dir, um dir noch einmal in die Augen zu sehn. Hörst du, fein’s Blümelein, wie die Geige nun klagt: Denn morgen bin ich nicht mehr hier. Klingt das nicht traurig? Darf ich dir die Maske abnehmen, ja? Nur ein lieber Blick – ein liebes Lächeln…« Er horchte auf den brandenden Jubel in den Nebenräumen… »Demaskierung! Demaskierung! Masken ab!« »So, mein mißgünstiges Kind, jetzt brauche ich nicht mehr zu bitten. Gleich werde ich dein Gesichtchen sehen…« Leichtsinnigerweise löste er den Arm von ihrer Mitte – und schon verduftete sein Veilchen im wahrsten Sinne des Wortes. Zwar folgte er sofort, hatte jedoch die Rechnung ohne die Masken gemacht, die ihn bei seinem Erscheinen lachend umringten. »Runter mit der Maske, du frecher Cowboy -! Jetzt steh zu deinen Schandtaten, du Bandit -!« So umjubelte es den Mann, der keineswegs fest wie ein Fels in der Brandung
stand. Noch ehe er die Maske abnehmen konnte, hatten es bereits zwei kleine Hände energisch besorgt. »Herr Baron – Elchstorff Hartger!« rief es lachend von allen Seiten. »Na, so ein charmanter Tunichtgut! Platz da, meine Herrschaften, damit ich ihn bei den Ohren nehmen kann!« rief ein Michel, dem ein Landmädchen mit Kopftuch auf dem Fuß folgte. Nach einigen Hindernissen standen sie dann endlich vor dem Cowboy. »I, du vermaledeiter Schlingel!« lachte der Michael alias Edgar Gerholt. »Uns so an der Nase herumzuführen! Wo hast du die letzte Stunde gesteckt? Hier mittenmang bestimmt nicht, sonst hätte es mehr Hallo gegeben.« »Kinder, laßt mich gehen, damit ich mein Veilchen suchen kann…« »Was braucht ein Cowboy ein Veilchen!« schrie eine fesche Mexikanerin. »Lassen Sie ihn nicht laufen, meine Herrschaften! Erst muß er Absolution für seine Sünden erbetteln!« »Zärtlich?« blitzten die Augen zu der Sprecherin hin, die ihm drohend eine Faust machte. »Das wäre! Demut verlangen wir Überrumpelten!« »Soll euch werden, Marjellchen. Doch zuerst muß ich meine trockene Kehle anfeuchten.« »Glaubt ihm nicht«, warnte ein kecker Backfisch in Matrosenkleid und Mozartzopf mit Riesenschleife im Nacken. »Er will euch nur entrinnen. Sind hier nicht zwei Polizeigewaltige?« Die fanden sich im Aufzug des vorigen Jahrhunderts mit Helm und herrlichem Schnauzer. Sie nahmen den Übeltäter in Haft. Unter ihrer Bewachung durfte er die Bar aufsuchen, um sich zu stärken. Jedesmal, wenn er das Glas an die Lippen setzten wollte, nahm es ihm jemand aus der Hand, bis das Landmädchen ihm mitleidig das seine reichte. »Dank dir, Irenchen, unter Larven die einzig fühlende Brust«, setzte er an und trank ihn aus, den Trank voll süßer
Labe. »Eine gräßliche Gesellschaft! Findest du nicht auch?« »Laß nur nicht abschätzen, wer gräßlicher war«, lachte sie herzlich. »Die weiblichen Masken hast du ganz nett in Atem gehalten, bis du dann spurlos verschwandest. Wo hast du gesteckt?« »Bei meinem herzigen Veilchen. Aber schau mal an, da ist ja auch das Libellchen mit Eulenspiegel auf den Fersen. Habt ihr euch endlich gefunden, die ihr so sehnsüchtig nach Carmen und Torero suchtet?« »Dann haben Sie mich womöglich erkannt?« fragte Evelyn enttäuscht. »Wie bloß?« »Sie hat ein schelmisch Augenpaar und in den Wangen Grübchen«, sang er übermütig und so falsch, worüber man sich vor Lachen ausschütten wollte. »Und wie haben Sie mich erkannt, Baron?« fragte Ingo. »Indem Sie jeder Carmen nachliefen.« »Na, so was – und ich glaubte mich sooo gut getarnt.« »Ein Cowboy muß gute Augen haben, mein Lieber.« »Aber Veilchen braucht er nicht!« rief eine Maske. »Nimm mich, ich bin eine wilde Rose.« »Auch gut, komm her, mein holdes Gewächs. Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist.« Seine Blume am Arm, winkte er den andern zu und ging in den Saal zurück, wo eine übermütige Stimmung herrschte. Er steppte, trottete, walzte und tangote mit den reizendsten Masken, aber rechte Freude machte es ihm nicht. Sein Herz hing fest an den Veilchensträußen, die nun für ihn verwelkt waren. Er tanzte, lachte, scherzte, trank, doch ohne das alles voll zu genießen. Was half es, daß er sich einen Narren schalt? »Suchst du immer noch dein Veilchen?« fragte neckend Irene, die mit ihm tanzte und seine umhertastenden Blicke bemerkte. »So bezaubernd kann es doch gar nicht gewesen sein, weil es mir nicht aufgefallen ist.« »Es blühte im Verborgenen, Irenchen. Ich habe es entdeckt und mit meinem Lasso keck gepflückt.« »Du Barbar! So was pflückt man mit zarter Hand, tut es in
die Brieftasche und birgt diese am Herzen.« »Wollte ich auch, allein, es ist meinen Händen entfallen. Ich habe eben zu zart zugefaßt.« »Hast du denn wenigstens ihren Namen in dein Herz geschrieben?« »Leider hat sie ihn mir nicht verraten. Und wenn, dann wäre er bestimmt falsch gewesen.« »Was hatte sie für Augen?« »Weiß ich nicht, weil sie hartnäckig zugedeckelt blieben.« »Und die Nase?« »Mit veilchenblauem Atlas bedeckt.« »Und der Mund?« »Wie ein Veilchenblatt so weich und süß.« »Also hast du ihn geküßt, du Schwerenöter!« lachte sie hellauf. »Schlingel, schüchtern bist du gerade nicht.« »Viel zu sehr, Maruschka, geliebtes. Sonst wäre die Maske nicht auf ihrem Gesicht geblieben.« »Was hatte sie denn für Haare?« »Rote.« »Schönes Rot?« »Nein, häßlich und unnatürlich. Wahrscheinlich trug sie eine Perücke. Es widerstrebte mir jedenfalls, mein Gesicht in die flammende Angelegenheit zu drücken, was ich sonst gewiß getan hätte. Darf ich dich zum Trost küssen, Maruschka? Dein lachender Mund lockt so süß.« »Aber nicht für dich, du frecher Wildwestler. Du suche dir nur deinesgleichen. Schau mal, dort hopst die fesche Mexikanerin.« »Gleich und gleich gesellt sich nicht immer gern. Aber das Libellchen werde ich mir fangen, und du gehst wieder zu deinem Michel.« Lachend trennte man sich. Da der Cowboy nun nicht mehr sein Lasso schwingen konnte, gelang es ihm auch nicht, das Insektchen einzufangen, das munter umherflatterte. Auch gut – griff er sich eine andere Maske und drückte sie an sein Herz, aber das klopfte darum nicht stärker. Wo mochte sein Veilchen sein? Wo war die Verborgenheit,
in der es blühte? Ein scheußlicher Zustand, ständig an etwas denken zu müssen, das so aussichtslos war! Langsam setzte die Schneeschmelze ein. Am Tage schien die Sonne recht warm, doch mit Nachtfrösten mußte man immer noch rechnen. Als auch die schwanden, da erwachte die Natur vollends aus ihrem Winterschlaf. Die ersten Blumen blühten im Walde und auf den Gartenbeeten. An den Bäumen saßen glänzende Knospen. Die Rasenflächen im Park wie die in den Weidegärten schimmerten grün. Auf dem Weiher ruderten wieder die Schwäne im klaren Wasser. Am Ufer des Sees leuchtete es weiß von Schneeglöckchen. Die im Herbst gepflügten Felder konnten bestellt werden, und somit begann die stramme Arbeit für den Landwirt. Dem Oberinspektor von Schlehdorn konnte das nur recht sein. Er kam sich bereits ganz eingerostet vor. Eben ritt er mit verhängtem Zügel durch den Wald. Ließ sich die Frühlingsluft um den unbedeckten Kopf wehen und zog die würzige Waldluft tief atmend ein. Ah, da erschien die Herrin. Sie saß mit einer vornehmen Gelassenheit im Sattel, das mußte ihr der Neid lassen. Ein flauschiger Pullover aus leuchtendem Blau schmiegte sich um den schlanken Oberkörper, die hellgraue Reithose saß wie angegossen, die Lackstiefel blitzten. Das unbedeckte Haar fiel wie goldgetönte Seide in wunderbarer Gepflegtheit in den Nacken, das Gesicht, von der Frühlingssonne leicht gebräunt, zeigte eine klare Schönheit, die Augen leuchteten in ihrem Blaugrün so eigenartig, daß wohl kein Pinsel sie naturgetreu auf die Leinwand bannen könnte. Alles in allem ein bezauberndes junges Menschenkind, dessen Reiz man sich nicht verschließen konnte. Dazu unnachahmlich in Haltung und Gebärde. Eine selten schöne Blume im Garten der Mädchenwelt. Schade, daß sie nie lacht – dachte der Mann, der ihr entgegenritt, bedauernd. Es müßte entzückend sein, wenn die Zähne durch die jungroten Lippen schimmern, wenn der hochmütige Ausdruck des Gesichts einem lächelnden
weichen würde. Aber dieser herbgeschlossene Mund, die kühlblickenden Augen wirken direkt erkältend. »Guten Morgen, gnädiges Fräulein«, grüßte er höflich. »Wenn wir weiter so ein Sonnenwetter behalten, dann kann die Arbeit flott weitergehen. Die Acker sind trocken, also scheint die neuangelegte Drainage glänzend zu funktionieren.« »Ja«, kam die Antwort gleichmütig. »Schlehdorn ist in Ordnung. Nun müssen die beiden Vorwerke in Angriff genommen werden. In der Försterei sind auch verschiedene Fehler auszubessern, gleichfalls an den Waldhüterhäusern.« »Werden Sie geldlich das alles schaffen können, gnädiges Fräulein?« »Ich muß«, entgegnete sie kurz. Ließ ihre Augen zu den Waldriesen schweifen, über die bemoosten Stämme bis hinauf zum Wipfel, wo zwischen dem vertrockneten Laub sich bereits grünes drängte. An den Spitzen der Fichten schimmerte es hell, da strebten die neuen Triebe zum Licht. Der Waldboden schien von Anemonen und Leberblümchen überschüttet zu sein. Ein Leuchten trat in die Mädchenaugen, der Mund lächelte wie in glückseliger Freude. Doch nur einige Herzschlage lang, dann war das Antlitz wie gewöhnlich herb und verschlossen. Knapp und klar sprach sie über Wirtschaftsangelegenheiten, wobei er aufmerksam zuhörte. Auf dem Hof saßen sie ab, und während sie dem Herrenhaus zuschritt, ging er in sein Zimmer, wo er die Post durchsah und wichtige Briefe gleich beantwortete. Dann sah er bis Mittag draußen nach dem Rechten und fuhr nach dem Essen in seinem Auto zur Stadt, wo es allerlei zu regeln gab, was natürlich Schlehdorn betraf; denn seine Privatangelegenheiten pflegte er während der Dienstzeit nicht zu erledigen. Als er dann nach der Uhr sah und feststellte, daß in einer halben Stunde sowieso Feierabend war, konnte er ruhigen Gewissens die Konditorei aufsuchen und dort Kaffee trinken. Als er den Raum betrat, sah er aber unangenehm
berührt zu einer Dame hin – und die ihr gegenüber saß, war ihm auch nicht gerade angenehm. Trotzdem war es für ihn unumgänglich, an den Tisch zu treten »Guten Tag, Hartger«, begrüßte erstere, eine sehr gut aussehende und elegant gekleidete Dame Mitte Zwanzig, ihn verlegen. »Willst du nicht hier Platz nehmen?« »Wenn es gestattet ist, gnädiges Fräulein?« Alheidis Gerholt gestattete es, und so setzte er sich zu den beiden Damen. »Wie geht’s zu Hause, Ada?« begann er das Gespräch. »Davon hättest du dich schon längst persönlich überzeugen müssen«, kam es vorwurfsvoll zurück. »Aber du in deiner Unversöhnlichkeit…« »Bitte, Ada, laß das«, schnitt er ihr nicht gerade höflich das Wort ab. Er bestellte bei dem Ober, der an den Tisch trat, ein Kännchen Kaffee nebst Gebäck und schien nicht zu sehen, daß sich die dunkelblauen Augen seiner reizenden Schwägerin mit Tränen füllten. Diese erhob sich auch bald, verabschiedete sich, ging hastig davon, und der Schwager sah ihr spöttisch nach. »Wahrscheinlich hat die kleine Frau sich bei Ihnen, gnädiges Fräulein, über mich bitter beklagt«, wandte er sich dann an Alheidis, die lächelnd antwortete: »Hat sie. Und ich glaube, daß sie recht damit tut.« »Na schön. Mein Rücken ist breit, und mein Fell ist dick.« Der Ober nahte, brachte das Gewünschte. Hartger aß, trank und unterhielt dabei seine Nachbarin über die alltäglichsten Dinge. Dann sah er interessiert auf die fünf Menschen, die draußen an dem großen Fenster vorübergingen. Auch Alheidis hatte sie bemerkt, erhob sich hastig und legte ein Geldstück auf den Usch. »Auf Wiedersehn, Herr Oberinspektor, ich habe es eilig…« Und während Edgar Gerholt mit seiner Familie durch den Haupteingang das Cafe betrat, strebte Alheidis einer Seitentür zu, die auch ins Freie führte. Der Vater sah gerade noch, wie sie verschwand. »Hierher!« rief Elchstorff. Schon hatten sie ihn erspäht und
traten an den Tisch. »Hallo, Hartger, nett, daß du hier bist. Aber sag mal, war das nicht meine Tochter, die dort hinausging?« »Ja.« »Also doch. Da sollte man doch gleich…« Was, blieb unausgesprochen, weil Irene mahnend ihre Hand auf die seine legte. Man nahm Platz, und die Eltern wurden von ihren Kindern, die heute Sonderwünsche äußern durften, so in Anspruch genommen, daß der Vater nicht dazu kam, Hartger nach Alheidis zu fragen. Erst als sie alle vergnügt schmausten, erkundigte er sich kurz. »Hast du hier mit ihr zusammengesessen?« »Ja. Sie war bereits hier, als ich eintrat. Und zwar in Gesellschaft meiner Schwägerin, die sich jedoch bald verabschiedete.« »War es Zufall, daß meine Tochter gerade aufbrach, als wir hier in Erscheinung traten?« »Nein. Sie hat euch vom Fenster aus kommen sehen.« Gerholt hätte gern seinem Grimm über die Verstocktheit seiner Tochter Luft gemacht, was in dem gutbesetzten Lokal natürlich nicht anging. Außerdem pflegte er in Gegenwart der Kinder mit seinen Bemerkungen über Alheidis vorsichtig zu sein. Liebevoll hing sein Blick an dem lachenden Gesicht Irenes, an deren Seite er ein volles Glück ’gefunden hatte. Und nicht zu spät, um es noch eine Reihe von Jahren aus vollem Herzen genießen zu können. Auf keinen Fall wollte er es sich durch die Verstocktheit seiner Tochter trüben lassen. Mochte sie nur weiter darin verharren. Sie schien sich dabei ja recht wohl zu fühlen – und das blieb ja schließlich die Hauptsache. Der Frühling zeigte sich in diesem Jahr von seiner besten Seite. Als wenn er sich schier verschwenden wollte, so entfaltete er all seine Pracht. Es machte ihm nichts aus, daß er dem launischen Knaben April vorübergehend das Regiment überlassen mußte, der sonnige Mai würde ihn bald wieder vertreiben.
Heute trieb der griesgrämige Geselle es besonders arg. Es regnete und stürmte draußen, daß es nur so eine Art hatte. Alheidis stand am Fenster ihres Arbeitszimmers und schaute auf den Hof, der nicht nur des schlechten Wetters wegen so ruhig dalag, sondern weil es der erste Osterfeiertag war. Eigentlich hätte an dem Fest der Auferstehung die Natur nur so strahlen müssen, aber der mißgünstige April vereitelte das, weil er gerade an dem Tag miserabelster Laune war. Und das schien auch das junge Menschenkind zu sein, das am Fenster stand. Mißmutig sah es in das unwirtliche Wetter hinaus. Am besten sie kroch ins Bett, um über diese Trostlosigkeit hinwegzuschlafen. Schon wollte sie den Gedanken in die Tat umsetzen, als sie ein Auto erspähte, das auf den Hof fuhr. Der Herr, der aus dem Wagen stieg, flüchtete vor dem strömenden Regen ins Haus, um gleich wieder draußen zu erscheinen, wo er sich ratlos umsah. Alheidis öffnete das Fenster und rief hinaus: »Wen suchen Sie, mein Herr?« Er stutzte, entdeckte die Dame und lief mit Riesenschritten auf das Herrenhaus zu, deren Tür sie geöffnet hatte. »Herzlichen Dank.« Damit trat der Fremde über die Schwelle. »Wenigstens eine Pforte steht mir offen, damit ich vor dem miserablen Wetter Zuflucht suchen kann. Gestatten, Gnädigste: Lutz Elchstorff. Wenn ich nicht irre, habe ich die Besitzerin von Schlehdorn vor mir?« »Stimmt. Seien Sie mir herzlich willkommen, Baron.« »Tausend Dank, gnädiges Fräulein.« Er beugte sich artig über die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. »Sicherlich können Sie mir sagen, wo mein Bruder augenblicklich steckt.« »Wahrscheinlich in Kiwitten, Baron.« »Was? Na, so ein Pech! Nun komme ich bei dem Hundewetter zu ihm und treffe ihn noch nicht einmal an. Was macht man da?« »Zuerst bitte ich Sie, näherzutreten«, entgegnete Alheidis
höflich. »Dann können wir beraten, was zu tun ist.« »Falls ich nicht störe – sehr gern.« »Sie stören nicht.« Er zog den Regenmantel aus, hängte ihn samt Hut an die Garderobe, strich mit den Fingern durch das dichte Blondhaar und lachte dann die vor ihm Stehende an. Es bestand zweifellos eine Ähnlichkeit zwischen den Brüdern, nur wirkte alles an dem jüngeren eleganter, rassiger, als an dem ein wenig unbeholfenen Hünen. Alheidis führte ihren unverhofften Gast in ein lauschiges Gemach, dessen Kamin wohlige Wärme entströmte. Sie nahmen in den tiefen Sesseln Platz, und die Herrin des Hauses zeigte mit einladender Handbewegung auf die Kästchen, die auf dem niederen Tisch standen. »Da finden Sie Zigaretten und Zigarren, Baron. Bedienen Sie sich nach Belieben. Ich darf Ihnen doch eine Tasse Kaffee anbieten?« »Wenn es Ihnen keine Mühe macht, gnädiges Fräulein – « »Keineswegs. Kaffee trinke ich ja sowieso, und nun freue ich mich, Gesellschaft zu haben.« Sie rief durch ein Klingelzeichen den Diener herbei, erteilte den Auftrag, den Kaffee zu bringen. Der Gast legte sich im Sessel zurück und sagte vergnügt: »Hübsch mollig! Man kann bei dieser Witterung schon eine warme Stube vertragen. Gemütlich haben Sie es hier, nur ein bißchen still. Hausen Sie etwa ohne Anhang in dem großen Kasten, gnädiges Fräulein?« »Ja.« »Aber – eine Dame existiert doch wohl, die dem Hause vorsteht und Sie mütterlich betreut?« »Nein, auch die nicht. Erstens hätte die Dame nicht genügend Beschäftigung – und dann gibt es bei mir nichts zu betreuen.« Betroffen schüttelte er den Kopf. »Aber gnädiges Fräulein, Sie sind doch noch viel zu jung, um mutterseelenallein zu hausen. Ist das nicht trostlos?« »Durchaus nicht, Baron. Ich habe meine Arbeit und bin
außerdem keine gesellige Natur.« Da der Diener mit der Kaffeemaschine erschien, mußte das Gespräch abgebrochen werden. Nachdem er den Tisch gedeckt und alles das daraufgestellt hatte, was zu einem Feiertagskaffee gehört, zog er sich lautlos zurück. Alheidis füllte die feinen Schalen und bat dann den Gast, tüchtig zuzulangen. »Herzlichen Dank, gnädiges Fräulein. Wenn mir das so lieb geboten wird, dann sage ich gewiß nicht nein, selbst auf die Gefahr hin, Sie zu stören. Eigentlich hätte ich es mir ja denken können, daß mein Bruder am ersten Osterfeiertag nicht zu Hause sein würde. Ob ich Kiwitten anrufen soll…« »Zuerst werden Sie Kaffee trinken. Oder wollen Sie zum dritten Mal hören, daß Sie mich nicht stören?« »Jetzt habe ich endlich begriffen. Ja, so ist das nun. Obgleich ich allen Grund habe, meinem Bruder zu zürnen, laufe ich ihm nach. Verflixter Hartschädel! Wie kommen Sie übrigens mit ihm aus, gnädiges Fräulein? Schwierig zu nehmen, wie?« »Das kann ich nicht sagen«, entgegnete Alheidis reserviert. »Ich habe ja nur geschäftlich mit ihm zu tun, und da gibt es nichts an ihm auszusetzen.« Lutz Elchstorff hatte schon manches über die junge Herrin von Schlehdorn gehört, doch da er ihr nun gegenübersaß, mußte er denen recht geben, die sie äußerst unzugänglich nannten. Deubel noch eins, das junge Ding hat eine Art, die einen ganz klein werden ließ! Was sprach man nun eigentlich mit so einem unnahbaren Persönchen? Was war da angenehm und was nicht? »Hoffentlich hält die Schlechtwetterperiode nicht zu lange an, damit wir Landwirte mit der Arbeit vorankönnen«, sagte er unverfänglich. »Das wäre zu wünschen.« »Hm – ja – so ist es. Also sind Sie mit meinem Bruder zufrieden?« . »Ja.« »Er versteht auch tatsächlich was von der Landwirtschaft.
Ich vermisse seine Mitarbeit sehr.« »Das glaube ich.« »Musizieren Sie, gnädiges Fräulein?« »Ein wenig.« »Dann besuchen Sie wohl oft musikalische Veranstaltungen?« Donner ja, dem Mann wurde es unbehaglicher von Minute zu Minute in Gesellschaft dieser Sphinx. Da war ihm die Redseligkeit seiner Frau manchmal zuviel, doch die konnte man wahrhaftig eher ertragen als eine solche Schweigsamkeit! Also trank er die Tasse leer und sagte: »Nun will ich Sie nicht länger aufhalten, gnädiges Fräulein. Darf ich den Apparat hier benutzen?« »Bitte.« »Kennen Sie vielleicht die Nummer von Kiwitten?« »Bedaure.« So suchte und fand er sie denn im Telefonbuch, wählte sie und sprach gleich darauf: »Ist dort Kiwitten? Mit wem spreche ich? Mit dem Diener. Schön. Sagen Sie mal, ist Herr Baron Elchstorff im Hause? Ja? Ausgezeichnet. Schicken Sie ihn bitte an den Apparat…« Nach kurzer Wartezeit ging das Gespräch weiter. »Bist es, Hartger? Jawohl, hier Lutz. Freut dich? Kunststück, wenn ich dir nachlaufe. Wo ich bin? Im Herrenhaus von Schlehdorn. Komm gefälligst hierher, ich warte… Wie bitte – Herr Gerholt spricht jetzt? Freut mich. Ich soll mich nach Kiwitten bemühen, weil Sie Hartger nicht weglassen wollen? Muß sich bei Ihnen ja bereits ganz nett festgesetzt haben. Und ich soll dem hartnäckigen Bengel gar noch bis Kiwitten nachlaufen? Ist das nicht zu viel verlangt? Prachtvoller Junge, meinen Sie? Ich habe dafür eine andere Bezeichnung. Soso – geliebter Onkel Ihrer Kinder und unentbehrlicher Hausfreund Ihrer Frau Gemahlin«, lachte der Sprecher herzlich. »Das muß ich mir denn doch an Ort und Stelle ansehen. Also nehme ich Ihre liebenswürdige Einladung dankend an, Herr Gerholt. Auf
Wiedersehen.« Er legte den Hörer in die Gabel und wandte sich schmunzelnd Alheidis zu. »Dem Gespräch werden Sie sicherlich entnommen haben, gnädiges Fräulein, daß ich meinem Bruder bis Kiwitten nachlaufen muß, wenn ich ihn sprechen will. Dort scheint er sich ja nicht wenig beliebt gemacht zu haben, der charmante Schwerenöter. Und nun will ich machen, daß ich fortkomme. Haben Sie herzlichen Dank für gewährte Gastfreundschaft, gnädiges Fräulein. Würde mich freuen, Sie bald in Elchen begrüßen zu dürfen.« Ordentlich froh, auf gute Art entrinnen zu können, beugte er sich höflich über die Hand, die ihm gereicht wurde, und enteilte. Wie anders war alles in Kiwitten. Diese blutwarme Herzlichkeit empfand Lutz jetzt doppelt. »Wie ähnlich Sie unserm Hartger sehen, Baron«, sagte Irene froh, und er lachte. »Bis auf den Eisenschädel, gnädige Frau.« Schon war der Kontakt da. Als der Gast im behaglichen Zimmer Platz nahm, hatte er das Gefühl, die Menschen um ihn her schon lange zu kennen. Der Hausherr, ganz alte vornehme Schule, die Dame nun, eben Dame. Die Kinder, wie sie in einer solchen Atmosphäre nicht anders sein können. »Das glaube ich, daß es dir hier gefällt, du Schlingel«, wandte er sich schmunzelnd an den Bruder. »Anstatt daß es dir schlecht geht, bist du anscheinend so obenauf wie nie.« »Warum sollte es ihm wohl schlecht gehen?« fragte Irene verwundert. »Weil er ein Tunichtgut ist.« »Das läßt du dir gefallen, Hartger?« »Soll ich etwa Streit anfangen? Mag er nur reden, mich stört das nicht.« »Sehen Sie, gnädige Frau, ist er. Er hält es nicht einmal der Mühe wert, sich zu verteidigen.«
»Damit würde ich ja eine Schuld anerkennen«, gab der andere lachend zurück. »Jedenfalls freue ich mich, daß du gekommen bist, Lutzbruder.« »I, du verflixter Bengel! Nun sieh mich so an, daß einem ganz warm ums Herz werden muß«, brummte der Hüne mit dem weichen Herzen. »Hast du eine Ahnung, wie du mir in Elchen fehlst? So viele Jahre haben wir miteinander in Eintracht gehaust und nun – futsch und weg. War das nötig?« Ehrlich betrübt sah er Hartger an, in dessen Augen ein warmer Schein trat. Und warm klang auch seine Stimme, als er sagte: »Wie wir zueinander stehen, das wissen wir doch…« Und dann lächelnd zu den andern: »Er ist der beste Mensch von der Welt, mein Lutzbruder. Wenn ich als Junge mich nicht wohl in meiner Haut fühlte, ging ich zu ihm – und schon war alles gut.« »Nun übertreibe nur nicht«, wehrte der Gelobte sich verlegen. »Ich hatte den Schlingel lieb, das war alles.« »Jetzt nicht mehr, Lutz?« »Ist das nicht zu viel verlangt, mein Sohn? Daß du wegen einer Lappalie so ein Sums machen mußtest, war doch wahrhaftig nicht nötig. Du kennst doch deine Schwägerin und mußt daher wissen, daß sie manchmal eine flinke Zunge hat, was ihr hinterher gleich leid tut. Wie sehr, hat sie doch wohl damit bewiesen, daß sie verschiedentlich um Verzeihung bitten wollte, wozu du es jedoch nicht kommen ließest, sondern die Reumütige in deiner bekannten Kaltschnäuzigkeit zurückwiesest. Das arme Ding ist ganz zerknirscht, was ich nicht länger mit ansehen kann. Willst du es jetzt endlich genug sein lassen, du vertrackter Bengel, und nicht länger dein Vaterhaus meiden? Was antwortest du mir darauf?« »Daß ich morgen in Elchen erscheinen werde.« »Ist doch ein Wort, Junge!« lachte der Hüne so befreit auf, wie ein Mensch nur lachen kann, dem der berühmte Stein vom Herzen gefallen ist. »Hab ich eine Freude – jawohl!«
Seine Freude hatte direkt etwas Rührendes, dadurch wurde er seinen Gastgebern immer sympathischer. Zwar wußten sie nicht, was zwischen den Brüdern vorgefallen war, aber daß dieser kindgute Mensch Hartger nichts zuleide getan haben konnte, dessen war man sich gewiß. »Wie hast du übrigens gewußt, daß ich hier bin, Lutz?« »Durch deine Herrin, mein Jungchen«, kam die Antwort schmunzelnd. »Als ich im Inspektorhaus vor verschlossener Tür stand, rief sie mich ins Herrenhaus, wo ich in ihrer Gesellschaft Kaffee getrunken habe. Ich muß Ihnen schon ein Kompliment über Ihre Tochter machen, Herr Gerholt. Olala, das ist ja ganz was Bezauberndes! Man kommt sich ganz klein ihr gegenüber vor.« »Weniger Zauber und mehr Gemüt wäre mir lieber«, entgegnete der Vater trocken, setzte jedoch lachend hinzu, als er das betretene Gesicht des Barons sah: »Es ist nicht immer leicht, Komplimente zu machen, weil sie manchmal gegenteilig aufgefaßt werden können.« »Meines ist aber ehrlich«, gab Lutz gleichfalls lachend zurück. »Mir spricht sie nur zu wenig, der ich bei meiner Frau an Redseligkeit gewöhnt bin. Aber da weiß man wenigstens immer, woran man ist bei meiner geschwätzigen Schwalbe, was, Hartger?« »Kann man wohl sagen«, bestätigte dieser schmunzelnd. »Da lobe ich mir unsere charmante Frau Irene, die ein Mittelding von Schwätzerin und Schweigerin ist.« »Es gibt aber noch eine andere Sorte Frauen, die nur durch die Blume sprechen«, blitzte sie ihn mutwillig an. »Zum Beispiel – ein Veilchen.« Sie wollte sich über die verblüfften Gesichter der andern halbtotlachen. Hauptsächlich über das des Gastes, der kopfschüttelnd sagte: »Ich verstehe immer Veilchen. Seit wann bist du für die zu haben, Hartger? Soviel ich weiß, schwärmtest du immer für halbverschlossene Rosen… Aber nun mal Scherz beiseite. Willst du etwa heiraten?« »Vielleicht.«
»Wann?« »Wenn die Veilchen blühen.« »Die blühen doch schon.« »Aber nicht für mich. Laß ab, Lutzbruder, du findest des Rätsels Lösung ja doch nicht.« »Da sehen Sie, meine Herrschaften, so macht er es immer«, beklagte der Geneckte sich. »Eine präzise Antwort ist bei ihm nicht zu erzielen. Sie lachen, gnädige Frau – und ich muß mich ärgern.« »Na, so ärgerlich sehen Sie nicht aus, Baron, eher stillvergnügt. Lassen Sie ihn doch ruhig nach Veilchen suchen.« »Ich helfe dir dabei, Onkel Hartger«, bot Irmela sich eifrig an und konnte nicht verstehen, warum die andern lachten. »Ist das denn so lächerlich, wenn man Veilchen sucht?« fragte sie vorwurfsvoll. »Mit Onkel Hartger schon«, wollte das Backfischchen sich ausschütten. »Das würde schon bei Bernd komisch aussehen, und der ist noch nicht einmal ein Mann.« »Aber du dafür eine dum…« »Ei, Junge«, warnte der Vater, worauf die Fortsetzung des Satzes in Murmeln unterging. Lutz Elchstorff hatte seine Freude an den Kindern seiner Gastgeber. Ihm gefiel es in dem trauten Familienkreis so gut, daß er später, als er sich verabschiedete, treuherzig fragte, ob er wiederkommen dürfte. »So oft Sie mögen, Herr Baron«, entgegnete die Hausherrin warm. »Selbstverständlich bringen Sie dann auch Ihre Gattin mit.« Das versprach er gern. Und somit war eine Freundschaft geschlossen, die sich aufs herzlichste bewähren sollte. Am nächsten Vormittag ließ Alheidis den Oberinspektor zu sich rufen. Als er vor ihr stand, sah sie ihn prüfend an und sprach dann zögernd: »Baronin Elchstorff hat eben angerufen und mich für heute nachmittag so herzlich nach Elchen eingeladen, daß es mir nicht möglich war, die Einladung auszuschlagen. Was
halten Sie davon, Herr Oberinspektor?« »Daß meine Schwägerin ein Mensch ist, der impulsiv zu handeln pflegt. Wenn sie Sie, gnädiges Fräulein, zu sich einlädt, dann hat sie Gefallen an Ihnen gefunden.« »Danke, das genügt mir. Fahren Sie heute auch nach Elchen?« »Ja.« »Dann möchte ich vorschlagen, daß wir uns zusammentun. Es wäre möglich, daß gefeiert wird, und dann müßten Sie sich ausschließen, wenn Sie sich später ans Steuer setzen wollen…« Sie schwieg errötend unter seinem lächelnden Blick. Es klang aber ganz korrekt, als er antwortete: »Wie Sie wünschen, gnädiges Fräulein.« So fuhren sie denn im großen Wagen, den der Chauffeur steuerte, um die Kaffeezeit nach Elchen, wo sie herzlich empfangen wurden. »Das ist lieb von Ihnen, Fräulein Gerholt, daß Sie gekommen sind«, begrüßte die Hausherrin sie in ihrer lebhaften Art. »Mein Mann hat mir nämlich erzählt, wie einsam Sie in Schlehdorn leben. Das geht nicht, mein Kind«, tat die um fünf Jahre Ältere so, als ob sie eine Matrone wäre und erfahren genug, um weise Ratschläge erteilen zu können. »Sie müssen unter Menschen, sonst verfallen Sie dem Trübsinn. Wir meinen es gut mit Ihnen, nicht wahr, Lutz?« »Ohne Frage, Ada. Seien Sie uns herzlich willkommen, gnädiges Fräulein.« Damit zog er artig ihre Hand an seine Lippen, sie so treuherzig dabei ansehend, daß sie nicht daran zweifeln konnte, wie ehrlich seine Worte gemeint waren. Dann wandte er sich dem Bruder zu. »Und da ist ja auch unser Prinz. Hast du eine Ahnung, wie sehr ich mich freue?« »Ei, ich erst«, schaltete seine Frau sich ein. »Endlich geruhst du, hier zu erscheinen. Meinetwegen hättest du schwieriger Herr wegbleiben können, aber Lutz gebärdet sich ja so, als ob er ohne dich nicht leben könnte. Und was tut man nicht alles seinem Mann zuliebe? Sieh mich nicht so
ironisch an und nimm meinen schwesterlichen Kuß entgegen. So. Was verlangst du nun noch?« »Nicht totgeredet zu werden, beste Schwägerin.« »Na, so ein abscheulicher Mensch! Warte nur -Ah, da sind auch unsere lieben Nachbarn.« Damit eilte sie einem älteren Ehepaar nebst Tochter entgegen, die soeben die Halle betraten. Alheidis wurde mit ihnen bekannt gemacht, dann folgte die allgemeine Begrüßung. »Da haben Sie ja den verlorenen Sohn wieder«, lärmte der joviale Herr von Stietz, Hartger dabei kräftig die Hand schüttelnd. »Wie es Ihnen geht, brauche ich erst gar nicht zu fragen. Sie sehen prächtig aus.« »Mein Vater hat recht«, begrüßte Fräulein Ilka von Stietz den jüngeren Elchstorff strahlend. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen.« »Ich gewiß nicht minder, gnädiges Fräulein«, entgegnete er höflich. Zutraulich schob sie ihren Arm in den seinen und folgte so den andern, die nach dem Zimmer gingen, in dem der Kaffeetisch gedeckt war. Sie blieb wie selbstverständlich an seiner Seite, als man Platz nahm. Belegte ihn so mit Beschlag, als ob er nur für sie allein da wäre. Alheidis saß zwischen den anderen beiden Herren. Stietz behandelte sie zuerst so wie einen Menschen, den man nicht für voll nimmt. Nachdem er jedoch einige verwunderte Blicke von ihr aufgefangen hatte, wurde es ihm unbehaglich. Weiß der Kuckuck, mit dem jungen Ding schien nicht gut Kirschen essen zu sein. Das hatte ja ’ne Art wie eine Prinzeß. Die überließ er lieber dem Hausherrn und beteiligte sich am Gespräch der andern. Wie gewöhnlich führte die Hausherrin die Unterhaltung. Der junge rote Schnabel stand nicht still. Unbekümmert plauderte er frisch drauflos. Fast jeder Satz begann mit: Mein Mann sagt, mein Mann meint – so daß man bald heraus hatte, daß der blonde Hüne das A und O seiner lebhaften Gattin war. Und tatsächlich liebte sie ihren Mann über alles. Er wurde
der verhätschelten Tochter eines reichen Vaters so zum Ideal, daß sie ihm zuliebe gegen ihre Fehler und Schwächen, die bei einer mehr als nachsichtigen Erziehung wie Unkraut emporgewuchert waren, tapfer anging. Dank ihrer gutherzigen Veranlagung konnte sie nicht boshaft werden und sah mit liebenswerter Freimütigkeit jeden Lapsus ein, auf den der Gatte sie in seiner gütigen Art aufmerksam machte. Es waren auch immer nur kleine Verfehlungen gewesen, die sie sich hatte zuschulden kommen lassen. Bis dann ein Fall eintrat, der fast zu einem Bruch der Ehe geführt hätte. Es war gewiß mehr unbedacht als gehässig gemeint, als sie eines Tages ihrem Schwager, über den sie sich geärgert hatte, deutlich zu verstehen gab, daß er absolut kein Recht dazu hätte, sich in Elchen großartig als Herr aufzuspielen, das mit ihrem Geld saniert sei. Er hätte sich als Inspektor zu betrachten – als weiter nichts. Verblüfft hatte sie ihm dann nachgesehen, als er aus dem Zimmer ging – um es nicht mehr zu betreten. Noch zur selben Stunde verließ er sein Vaterhaus. Was dann kam, traf sie bis in die tiefsten Tiefen ihres Seins. So zornig, wie sie ihren Mann noch nie gesehen, erklärte er ihr, daß sie ihr Geld nehmen und Elchen verlassen möge. Das gab nun einen grenzenlosen Jammer. Sie flehte ihn herzrührend an, sie doch nicht von sich zu stoßen, weil sie ihn so unendlich liebe. Winselte um Gnade wie ein treuer Hund, dem man einen Fußtritt versetzt – allein, er blieb hart und unzugänglich, was bei dem gutmütigen Menschen gewiß nur höchst selten geschah. Bis sie eines Tages von ihrem Jammer zermürbt ohnmächtig zusammenbrach und es sich herausstellte, daß sie Mutter werden würde. Das rührte den grollenden Mann so sehr, daß er ihr nicht mehr mit der unerträglichen Nichtachtung begegnete. Jedoch sein Groll schwand erst restlos dahin, als er den Knaben in Augenschein nahm, den ihm die Gattin nach stundenlanger Qual geboren. Mit einem guten Lächeln trat er an das Bett der Erschöpften, die ihm mit erschütternder
Gebärde die Arme entgegenstreckte… »Lutz, sei mir wieder gut«, bat Ada flehend. »Ganz gut bitte! Ich habe dich nicht kränken wollen – so doch nicht! Ich kann ja nie mehr froh werden, wenn du so unpersönlich zu mir bist.« Erbarmend umschlossen seine Arme den bebenden Körper des reumütigen Menschenkindes. Seine Lippen drückten sich zart auf den zitternden Mund. »Still, mein Liebstes, ganz still«, sagte er zärtlich. »Wie kann ich dir böse sein, die du mir einen so prachtvollen Sohn geschenkt hast? Deshalb muß ich dich doch schon liebhaben, du kleines Mütterchen.« Da legte sie beseligt den Kopf an seine Brust. Die Augen schlossen sich zu dem Schlaf, den sie nach den qualvollen Stunden so nötig hatte. Als sie dann wieder auf den Beinen war, ging sie mutig daran, das Unausgesprochene, das noch immer zwischen ihr und dem Gatten war, restlos zu beseitigen. »Nun, was hat mein Schwälbchen denn?« fragte er zärtlich. »Wo drückt’s Herzchen, hm?« Sie kuschelte das Gesicht an seine Brust, dann kam es zaghaft heraus: »Lutz, ich weiß immer noch nicht ganz genau, warum du mir so furchtbar böse warst…« »Lassen wir das, Ada«, unterbrach er sie kurz, doch sie ließ nicht locker. »Nein, jetzt wirst du mir endlich Rede und Antwort stehen. Bitte, Lutz, sprich doch.« »Oh, über eine so hartnäckige kleine Frau«, seufzte er. »Na schön, wärmen wir all das Unerquickliche noch einmal auf. Böse bin ich dir nie gewesen, Ada, nur sehr verletzt durch dein schonungsloses Betragen.« »Dir habe ich doch nichts getan, Lutz.« »Doch, Ada. Wenn man unser Verhältnis zueinander richtig in Worte faßt, bin ja auch ich nur Inspektor auf Elchen, weil du mit deinem Geld…« Entsetzt preßte sie die Hand auf seinen Mund. Ihre Lippen
zitterten so sehr, daß sie kaum die Worte formen konnten: »Lutz, um Gottes willen – sprich nicht weiter. Zwischen uns gibt es doch kein Mein und Dein…« »Und zwischen meinem Bruder und mir erst recht nicht«, entgegnete er hart. »Schlimm genug, daß der Junge als Zweitgeborener von seinem Vatererbe so weit zurücktreten muß. Da bin ich, als der Bevorteilte, wenigstens moralisch dazu verpflichtet, ihm Zugeständnisse zu machen, soweit sich das nur ermöglichen läßt. Und da kommst du und weist ihn erbarmungslos darauf hin…« Das fassungslose Schluchzen Adas ließ seine erbitterte Rede stocken. Unter Herzstößen stammelte sie: »So war das doch – nicht gemeint – so doch nicht! Großer Gott – was hat – meine Unbedachtsamkeit - da bloß angerichtet…« »Na ja, du törichte kleine Frau, wer wird denn über etwas so fassungslos weinen, das sich nicht mehr ändern läßt? Du bist ja nicht der erste Mensch und wirst auch nicht der letzte sein, der durch ein unbedachtes Wort Unheil schafft.« Nun hob sie den Kopf und sah ihn mit den verweinten Augen flehend an. »Aber wenn man bereut, Lutz – so recht tief bereut, dann muß sich das doch wiedergutmachen lassen?« »Im großen und ganzen vielleicht. Allein, ein letzter Stachel wird immer bleiben.« »Auch bei dir?« fragte sie erschrocken. »Nein, bei mir nicht, weil ich ja meine geschwätzige kleine Schwalbe kenne und liebe. Aber bei Hartger…« »Ich hol ihn zurück – «, sagte sie eifrig, doch er schüttelte wehmütig den Kopf. »Da kennst du den Stolz meines Bruders nicht, Ada. Der ist fertig mit uns, das kannst du mir schon glauben. So fertig, daß er sogar das Geld ablehnte, das ich ihm auszuzahlen verpflichtet bin. Wörtlich heißt es in seinem Schreiben: Wenn du die Summe aus dem Besitz ziehst, dann bist du ganz und gar von deiner Frau abhängig – und das muß
unter allen Umständen vermieden werden.« »So schlecht denkt er von mir?« fragte Ada bedrückt. »Daran bist du selber schuld. Ja, ja mein Schwälbchen, es tut nicht gut, wenn man seinem Schnabel freien Lauf läßt. Das gibt auf manchmal nur kleine Ursachen ganz große Wirkungen. Das soll dir eine Lehre für die Zukunft sein.« »Ach, Lutz, dann will ich fortan nicht mehr so viel reden«, meinte sie kläglich, und er lachte. »Schwatze nur munter drauflos. Aber gib dabei acht, daß du keinem damit weh tust.« »Bin ich denn so boshaft?« »Gottlob nicht – «, entgegnete er ernst. »Nur manchmal reichlich unbedacht. Du glaubst, kraft deines Geldbeutels mit den Menschen umspringen zu können, wie mit Marionetten…« »Lutz – bitte…!« »Na ja, ich bin schon still. Hat auch keinen Zweck, um Dinge herumzudrehen, die doch nicht mehr zu ändern sind. Um Hartger brauchen wir uns keine Sorge zu machen, der beißt sich schon durch. Und mir ist auch geholfen, wenn er sein Geld noch auf Elchen stehen läßt. So kann ich dir nach der Ernte schon einen Teil der Summe zurückzahlen, die du mir vorgestreckt hast.« »Lutz, du tust mir weh.« »Wie töricht, Ada! Es war doch so vereinbart, daß das Geld nur geliehen ist.« »Und was soll ich damit anfangen?« »Dir Extradinge leisten und es später dem Jungen zukommen lassen. Hoffentlich bleibt er nicht unser Einziger, dann findest du Verwendung für deinen Geldbeutel noch und noch.« »Damit ist aber Hartger nicht geholfen. Es paßt mir gar nicht, daß er in fremden Diensten steht. Ob wir mal versuchen,’ ihn mit Ilka Stietz zusammenzubringen?« »Damit auch er von einer Frau abhängig wird?« »Pfui, Lutz, das war sehr häßlich.« »Ja, Kind, du bist doch dafür, jedes Ding beim richtigen
Namen zu nennen. Bei ihm stehen die Verhältnisse noch schwieriger als bei mir. Ich holte mir auf meinen Besitz eine wohlhabende Frau, da jedoch würde die Frau sich den Mann auf den ihren holen.« »Ein Wunder, daß du nicht sagst, sie würde ihn sich kaufen.« »Du hast den Sinn erfaßt, mein Kind. Schau mal, ich habe es mir immer so nett gedacht, wenn Hartger heiraten und mit seiner Frau hier wohnen würde. Der Kasten ist groß genug, um zwei Familien bequem beherbergen zu können. Daß du verträglich bist, das weiß ich, und Hartger hätte an einer zänkischen Frau gewiß keinen Gefallen gefunden. Also hätten wir hier in Frieden und Eintracht leben können, mit den gleichen Rechten und den gleichen Pflichten. Und da kommst du mit deinem losen Schnabel… Nun weine nicht wieder. Es war nur ein Traum – und Träume gehen eben nicht in Erfüllung.« »Und wenn ich Hartger um seine Rückkehr bitte – so recht von ganzem Herzen bitte?« »Das wird dir alles nichts nützen, Ada. Und nun laß gut sein, geschehen ist geschehen. Alles Grübeln ist hier zwecklos…« Das fand Ada nicht. Sie grübelte, und was sie ergrübelte, das setzte sie gleich in die Tat um. Zuerst schrieb sie dem Schwager einen langen Brief, in dem sie ihn um Verzeihung bat und ihn anflehte, nach Elchen zurückzukehren. Allein, das Schreiben kam zurück. Darauf rief sie ihn an, um eine Zeit zu vereinbaren, in der er für sie zu sprechen wäre. Er lehnte es ab. Als sie ihn einmal zufällig in der Stadt traf, sich ihm bittend näherte und er sie zwar höflich aber kalt abfertigte, da erzählte sie ihrem Mann bitterlich weinend, was sie bereits alles unternommen hatte, um den Schwager zu versöhnen und wie unzugänglich er wäre. Da war Lutz seinem Bruder denn doch gram. Wenn er auch allen Grund hatte, beleidigt zu sein, so brauchte er bei so
viel Zerknirschung der kleinen Frau nicht unversöhnlich zu bleiben. Sie tat ihm ordentlich leid. Doch als sie ihn bat, nach Schlehdorn zu fahren und Hartger in ihrem Namen um Verzeihung zu bitten, lehnte er ganz entschieden ab. Zwar bangte er sich sehr nach dem starrköpfigen Bengel und hätte ihn für sein Leben gern wiedergesehen, aber deshalb lief er ihm noch lange nicht nach. Meinte er zuerst. Aber so nach und nach wurde er den Bitten seiner Frau zugänglicher – bis, ja bis er dann doch nach Schlehdorn fuhr. Wenn auch brummend und knurrend, aber er tat’s. Und dieser gewiß nicht leichte Weg sollte nicht umsonst gewesen sein. Ohne viel Worte kam die Versöhnung zustande, und der liebe Bengel war endlich hier, Gott sei Dank! Warum seine Frau die Familie Stietz eingeladen hatte, ahnte Lutz und beobachtete den Bruder, wie er sich Ilka gegenüber verhielt. Nun, gar nicht mal so reserviert. Vielleicht bahnte sich da etwas an… Na, abwarten! Schmunzelnd nahm er wahr, wie Ilka den Mann umgarnte. Da fehlte bestimmt nicht viel Zustimmung von seiner Seite, und sie lag ihm beseligt an der Brust. Dann gab er sich alle Mühe, Alheidis Gerholt zu unterhalten, was gewiß nicht einfach war. Entweder schwieg sie oder gab nur einsilbige Antworten. Er war froh, als Ada sich diesem schwierigen Gast zuwandte. Der kleinen Schwätzerin würde es schon eher gelingen, die rechten Worte für diese Sphinx zu finden. »Liebes Fräulein Gerholt, es ist mir unverständlich, wie Sie so einsam leben können«, plauderte die junge Frau frisch drauflos. »Ich jedenfalls könnte es nicht, muß immer Menschen um mich haben. Dabei bin ich alles andre als vergnügungssüchtig, nicht wahr, Lutz? Aber Geselligkeit muß ich pflegen. Zu lieben Menschen gehen und sie wiederum bei mir sehen. Theater, Kino, auch ab und zu der Besuch einer öffentlichen Veranstaltung, kleine Reisen, das
gehört nun mal zu meinem Leben. Und vor allen Dingen habe ich meinen lieben Mann und unseren Jungen. Verstehen Sie etwas von Babys, Fräulein Gerholt? Nein? Das ist schade! So ein kleines molliges Wesen, das macht glücklich. Aber Sie sagen ja gar nichts, wie kommt das?« »Weil du die junge Dame ja gar nicht zu Wort kommen läßt, mein geschwätziges Schwälbchen.« lachte der Gatte herzlich, und sie meinte kleinlaut: »Ach ja, ich rede wieder einmal zu viel. Stört Sie das, Fräulein Gerholt? Sie schütteln den Kopf, also nicht. Warten Sie nur, ich zeige Ihnen gleich unseren ganzen Stolz, den Sie noch nicht kennen. Auch sein Onkel…« Das weitere verschluckte sie schnell, weil sie sich fest vorgenommen hatte, den schwierigen Herrn Schwager mit Worten zu verschonen, die ihm »in die falsche Kehle kommen könnten.« Hurtig eilte sie davon, um bald darauf mit einem Baby zurückzukehren, das rosig auf ihrem Arm hockte. Es sah nicht anders aus, als andere gepflegte Kleinkinder auch, aber für die strahlende junge Mutter schien das Geschöpfchen ein Wunder an Schönheit und Klugheit zu sein. »Ist er nicht süß?« fragte sie Alheidis, die lächelnd auf das Kind schaute, das sie mit den stahlenden Blauaugen des Vaters ansah. Dann trat Ada zögernd zu dem Schwager, der nach dem molligen Händchen des kleinen Neffen griff und einen Kuß darauf drückte. »Du bist ja ein ganz prächtiges Kerlchen…« »Nicht wahr?« fiel Ilka ihm eifrig – zu eifrig – ins Wort. »So etwas Süßes findet man selten. Ich mag Kinder für mein Leben gern. Und dazu noch so goldige wie dieses. Komm, mein reizendes Bengelchen, zu der lieben Tante, ja?« Sie lockte das Kind mit spielenden Fingern zu sich, das sie zuerst eingehend betrachtete und dann das Köpfchen an die Wange der Mutter schmiegte. Wahrscheinlich war ihm das forciert wirkende Getue zu unbehaglich, das laute
Lachen zu unheimlich. Von dem sicheren Platz aus ließ das Kerlchen die Blauaugen von einem zum anderen schweifen, bis sie an Alheidis haften blieben. Obgleich sie sich um den kleinen Knaben nicht im geringsten bemühte, schien sie ihm lieber zu sein als die andere Tante, die noch immer süß flötend auf ihn einsprach. Mit einem Schelmenlächeln streckte er Alheidis die Arme entgegen und als die Mutter näher trat, klatsche er mit dem dicken Patschhändchen dem Mädchen vergnügt krähend ins Gesicht. »Oh, Fräulein Gerholt!« jubelte Ada. »Sie haben aber eine rasche Eroberung gemacht. Sonst ist unser Schlingelchen nämlich sehr zurückhaltend. Nun nehmen Sie es schon.« Mit einem Ungeschick, das die andern schmunzeln machte, nahm Alheidis notgedrungen den Jungen von der Mutter Arm. Ob sie es gern oder ungern tat, das war dem Bürschlein höchst gleichgültig. Es war zutraulich da, wo es wollte, scherte sich um keine Unnahbarkeit. Jauchzend griff es nach dem blitzenden Anhänger, der an einer recht dünnen Kette hing und wollte ihn in den Mund stecken. »Halt ein!« gebot die Mutter lachend. »Komm schon lieber her…« Dem kleinen Bengel gefiel es gar nicht, als er wieder auf Adas Arm hockte, aber gab sich dann doch zufrieden – mehr als Ilka es tat, die sich über die Ablehnung des Kindes ärgerte. Es war kein freundlicher Blick, den sie Alheidis zuwarf, die für die spontane Eroberung gewiß nichts konnte, vielmehr darüber verlegen war, zumal es ihr nicht entging, wie die Nasenflügel Hartgers vibrierten. »Das war ungewohnt, nicht wahr, gnädiges Fräulein?« schmunzelte der Hausherr. »Aber lassen Sie nur, das lernt sich auch noch.« »Was es dabei wohl zu lernen gibt?« Ilkas Mundwinkel zogen sich nach unten. Und dann mit einem süßlächelnden Blick zu Elchstorff, dem jüngeren, hin: »So etwas muß einem weiblichen Wesen doch angeboren sein, stimmt’s, Hartger?«
»Das übersteigt meine Kompetenz«, gab er lachend zur Antwort. »So tief bin ich in die Materie noch nicht eingedrungen.« »Dann wird es aber Zeit«, lärmte Vater Stietz, wohlgefällig das junge Paar betrachtend, das so ganz nach seinem Herzen zu sein schien. Er zwinkerte zuerst seiner Frau, dann Lutz vergnügt zu – und Ada lachte in sich hinein, als sie den kleinen Knaben zu seiner Pflegerin zurückbrachte. Na also, die Sache schien ja zu klappen. Wenn das Paar zusammenkam, würde Lutz sehr zufrieden sein. Sein Bruder, an dem er so hing, war gut versorgt und blieb außerdem in seiner Nähe. Direkt glücklich würde ihn das machen und sie mit, weil sein Glück auch das ihre war. Hartger Elchstorff hatte keine Ahnung, wie sehr man sich mit ihm beschäftigte. Den interessierte erst einmal die Heuernte, die in Schlehdorn ganz anders ausfiel als im Vorjahr. Unermüdlich war er dabei, den reichen Segen zu bergen. Alles war so gut organisiert, daß keine Stockung eintreten konnte. Willig folgten die Arbeiter den Befehlen des Oberinspektors und es kam niemand in den Sinn, daß er gar nicht der Herr war. Bei ihm liefen nun einmal die Fäden zusammen, die er straff in Händen hielt. Er verstand alles, er wußte für alles Rat, er ging jedem mit gutem Beispiel voran. Na also!… Ermüdet von des Tages Plage ritten an einem Feierabend die Herrin von Schlehdorn und ihr Oberinspektor dem Gutshof zu. Vor ihnen schwankte ein Fuder Heu, das letzte des Tages. Die Sonne stand wie ein Feuer getaucht am Horizont. »Das gibt morgen wieder schönes Wetter«, sagte der Reiter froh. »Wenn es noch eine Woche lang anhält, dann wäre die Ernte mühelos geschafft. Leider muß man mit Regen rechnen. Was haben Sie denn, gnädiges Fräulein?« unterbrach er sich erschrocken, als er sie im Sattel wanken sah. »Ist Ihnen nicht wohl?«
»Ich weiß nicht…« Rasch glitt er vom Pferd und hob die leichte Gestalt von dem ihren. Legte sie am Feldrain in das weiche Gras, zog seine Jacke aus, faltete sie zusammen und schob sie der Willenlosen unter den Kopf. Dann entnahm er der Satteltasche eine kleine Flasche mit Kognak, goß die klare Flüssigkeit in den Schraubbecher und hielt ihn dem Mädchen an den Mund. »Trinken Sie nur«, sprach er ihr gütig zu. »Wenn das Zeug auch nicht schmeckt, aber es tut gut.« Nachdem sie einen Schluck getan hatte, schüttelte sie sich. »Brr – gräßlich!« »Macht nichts, brav ausgetrunken – so ist es recht. Besser?« »Ich glaube ja.« Sie wollte sich erheben, doch er drückte sie zurück. »Halt, liegengeblieben! Erst muß Ihr Gesicht wieder Farbe bekommen.« »Ich schäme mich.« »Warum, weil Sie schlappgemacht haben?« »Ja.« »Nun, das dürfte auch robusteren Naturen passieren, wenn sie mit ihrem Körper so Raubbau treiben, wie dieses unvernünftige kleine Mädchen. Ich dürfte nicht über Sie zu bestimmen haben…« Er hielt inne, weil er bemerkte, wie sich die Tränen unter den geschlossenen Lidern hervorstahlen. Setzte sich neben sie und verhielt sich ganz still. Um sie herrschte tiefer Abendfriede. Vom nahen Walde her flatterte ein Eulenruf, Frösche quakten im Uferschilf des Sees, von fernher klang das Dängeln einer Sense, auf der Weide wieherte mutwillig ein Fohlen, worauf die beiden Reitpferde, die am Feldweg grasten, Antwort gaben – und über all dem Sommerabendzauber schwebte der süße Duft des Heues. Keinen Blick ließ der Mann von dem Mädchengesicht, in das langsam die gesunde Farbe stieg. Ab und zu zitterten die feinen Nasenflügel nervös, der Mund zuckte. Ganz unerwartet schlug sie die Augen auf, die noch umflort
waren von Tränen. Schauten hinauf in des Himmels Bläue und schweiften ab zu dem Mann hin, der den wie fragenden Blick mit dem seinen festhielt. Vom Gutshof her flatterten die Klänge einer Ziehharmonika, eine Stimme sang dazu eine süßschmerzliche Weise von Lieben und Leiden… Hastig richtete Alheidis sich auf, drückte sekundenlang die Knöchel der Zeigefinger in die Augen und sprang dann hoch. »So, jetzt geht es mir wieder gut«, sagte sie in gewohntem Ton. »Entschuldigen Sie, Herr Oberinspektor, daß ich Ihnen Mühe gemacht habe.« »Davon kann nicht die Rede sein, gnädiges Fräulein«, entgegnete er gelassen, indem er ihr in den Sattel half. Dann saß auch er auf, und langsam ritten sie davon. Immer wieder gingen die Blicke des Mannes zu dem geneigten Gesicht des Mädchens hin, bis er zu sprechen anhub: »So kann das nicht weitergehen, gnädiges Fräulein. Zwar ist es sonst nicht meine Art, mich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen, weil das größtenteils eine undankbare Sache ist, aber wo es die Menschenpflicht gebietet, muß man es dennoch wagen. Ich will nicht ableugnen, daß Sie ein in sich gefestigter Charakter sind, der auf die Gesellschaft anderer nicht unbedingt angewiesen ist und einsam leben kann. Aber Sie sind noch viel zu jung, um sich direkt in Einsamkeit zu vergraben.« »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte sie kurz. »Daß Sie eine Dame ins Haus nehmen, die Sie mütterlich betreut. Die dafür sorgt, daß Sie sich, wenn Sie müde nach Hause kommen, nicht noch um den Hauswirtschaftskram zu kümmern brauchen, sich nicht mit der Dienerschaft herumärgern müssen. Daß Sie die Mahlzeiten regelmäßig einnehmen, die nötigen Stunden Ruhe und nebenbei auch Abwechslung haben, die ein so junges Menschenkind braucht, wenn es – entschuldigen Sie den krassen Ausdruck – nicht ganz versäuern soll.« »Sie sind sehr aufrichtig, Herr Oberinspektor.«
»Gnädiges Fräulein, ein aufrichtiges Wort zur rechten Zeit hat manchem Menschen schon gutgetan. Daß ich es ehrlich mit Ihnen meine, werde ich hoffentlich nicht noch extra betonen müssen.« »Nein. Sie berücksichtigen nur eines nicht, nämlich, daß eine Dame, wie sie Ihnen vorschwebt, nicht leicht zu finden ist, weil man vollstes Vertrauen in sie setzen muß.« »Zugegeben. Denn gerade Damen auf solchen Posten enttäuschen oft.« Nun lachte sie hellauf, was gewiß nicht oft bei ihr vorkam. Dann blitzte in ihren Augen der Schelm, als sie sagte: »Ich denke wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß Sie mir eine geeignete Persönlichkeit empfehlen können, Herr Oberinspektor.« »Stimmt«, gab er gleichfalls lachend zurück. »Aber ich muß da vorsichtig sein, wenn ich nicht in den Verdacht kommen will, mit meinem Vorschlag einen eigennützigen Zweck zu verfolgen.« »Nun, über den Verdacht dürften Sie doch wohl erhaben sein.« »Danke, gnädiges Fräulein. Das war ein gutes Wort.« Er atmete erleichtert auf. »Es handelt sich nämlich um eine Tante von mir, die ich Ihnen gern aufdrängen möchte. Sie hat nach dem Tode meiner Mutter, die ich leider früh verlor, unserm Hause vorgestanden und meinen Bruder und mich betreut. Sie blieb in Elchen, bis er heiratete. Dann zog sie in ein Stift, wo sie sich unter den alten, zum Teil recht schrulligen Dämchen kreuzunglücklich fühlt, weil sie selbst alles andere als das ist. Ich kann ja meine Verwandte in vorliegendem Fall nicht allzusehr herausstreichen, will sie daher nur kurz charakterisieren: Ein durch und durch anständiger Mensch. Genügt Ihnen das?« »Voll und ganz. Also will auch ich mich kurz fassen: Benachrichtigen Sie die Dame, daß sie mir herzlich willkommen ist und ich sie so bald wie möglich erwarte.« »Um Gott, gnädiges Fräulein, ist das nicht zu übereilt?«
»Nein.« Sie winkte kurz ab. »Ich habe nicht vor, Ihrer Verwandten – verzeihen Sie – ein Asyl zu gewähren, sondern sie als Hausdame einzustellen, wie ich eine solche schon lange suche und nie die passende finden konnte. Ich bin es nämlich schon längst überdrüssig, mich mit dem Hauswesen zu befassen, was Unerquicklichkeiten aller Art mit sich bringt, weil ich mich ja nicht ausschließlich damit befassen kann, wie die meisten Hausfrauen. Daher kommt Ihre Vermittlung mir wie gerufen und ich sage Ihnen dafür Dank.« »Wenn es so ist, gnädiges Fräulein, dann will ich wohl zufrieden sein. Also darf ich meine Tante sofort benachrichtigen?« »Ich bitte darum.« Eine Woche später hielt dann das Fräulein Gundula von Bartold ihren Einzug in das Herrenhaus von Schlehdorn. Man konnte sie als einen Menschen von einer natürlicher Vornehmheit bezeichnen, dazu umsichtig, gelassen, lebensklug und taktvoll. Sie besaß Menschenkenntnis genug, um die junge Herrin richtig einzuschätzen, um zu wissen, daß man sehr vorsichtig vorgehen mußte, wenn man ihr Vertrauen gewinnen wollte. Ohne viel Aufhebens zu machen, war sie bald der gute Geist des Hauses, der immer da war, wenn er gebraucht wurde, und unsichtbar blieb, wenn er unerwünscht schien. Alheidis lernte kennen, wie es ist, wenn man von echter Mütterlichkeit umhegt wird. Empfand die feine Art der Dame so wohltuend, daß sie sich ihr, ohne es selbst so recht zu wissen, immer mehr ergab. Es war doch so heimelig traut, einen Menschen seiner wartend zu wissen, wenn man müde nach Hause kam. Wie unbewußt nach den Erfrischungen zu greifen, die immer bereitstanden. Eine Stunde, auch zwei, nach dem Abendessen gemütlich zu verplaudern, bevor man zu Bett ging. Und als Alheidis erst wußte, wie gut Fräulein Gundula den Flügel beherrschte, bat sie diese öfter zu musizieren. Ganz still saß sie dann da und ließ sich von den schmeichelnden Tönen
einspinnen. Allmählich stieg gar in ihr der Wunsch auf, sich an das Instrument zu setzen und darauf zu spielen. Sie hatte ja nicht umsonst jahrelangen vorzüglichen Unterricht gehabt und war nur aus der Übung gekommen. Zuerst zaghaft, dann immer sicherer wurde sie im Spiel, ließ ab und zu auch ihre Stimme hören, die nicht sonderlich geschult, aber von einschmeichelnder Süße war. Jedenfalls geizte Gundula mit ihrem Lob nicht, das ehrlich gezollt wurde. Freute sich über ihren Schützling, der von Tag zu Tag mehr aus sich herausging. »Nun, wie wirst du denn mit dem hochmütigen kleinen Mädchen fertig, Tante Gunde?« erkundigte sich Hartger, als er der Dame einmal allein begegnete. »Schwierig zu nehmen, wie?« »Hochmütig? Ach du lieber Gott! Ein armes Ding ist es, um das sich bisher niemand liebevoll gekümmert hat. Ihr ganzer Hochmut ist nichts weiter als ein Verkriechen in sich selbst. Das bedauernswerte Geschöpf kann ja noch nicht einmal lachen. Ich begreife den Vater nicht, der sein eigen Fleisch und Blut in Einsamkeit förmlich verkommen läßt.« »Das liegt nicht an ihm, sondern an Fräulein Gerholts hartnäckigem Widerstand.« »Ach was, der wird bei einem so jungen Ding wohl noch zu brechen sein«, entgegnete die Dame unmutig. »Wahrscheinlich ist der Herr zu bequem, um sich diese Mühe zu machen. Die wendet er Heber bei seinen Stiefkindern an… Aber laß nur, jetzt bin ich ja da, um das verlassene Kind unter meine Obhut zu nehmen und an Liebe nachzuholen, was die Eltern ihm schuldig geblieben sind. So bin ich doch wenigstens zu etwas nütze auf der Welt. Vor allem muß die Kleine das Lachen so richtig lernen, wozu sie wahrscheinlich bisher noch keine Veranlassung hatte. Sie ist mit ihren knapp einundzwanzig Jahren ja vernünftiger als eine Greisin. Dagegen bin ich ja noch ein Backfisch an
Lebensübermut. Aber wie könnte es bei dem Leben, das sie bisher geführt hat, auch anders sein? Arbeit und immer wieder Arbeit von früh bis spät, das hält kaum ein Mann auf die Dauer aus.« »Dann soll sie sich doch zwischendurch Abwechslung verschaffen«, bemerkte er achselzuckend. »Die Stadt ist doch so nah, die allerlei an Vergnügungen bietet.« »Du sprichst das so gedankenlos hin, mein Sohn. So allein, wie sie noch vor kurzem war, konnte sie doch keinem Vergnügen nachgehen. Um sich Freundinnen oder gar Freunde anzuschaffen, dazu ist sie nicht leichtlebig genug. Außerdem pflegen die meisten jungen Menschen ihres Alters so albern zu sein, daß Alheidis an ihrer Gesellschaft keine Freude finden könnte. Aber wie gesagt, jetzt bin ich ja da.« »Das klingt ja ordentlich drohend«, lachte er amüsiert. »Recht so, Gundchen, nimm deinen Schützling nur ans Händchen und führe ihn aus.« »Worauf du dich verlassen kannst, mein Jungchen. Jedenfalls werde ich darauf achten, daß das arme Ding nicht nur schuftet, sondern sich zwischendurch auch vergnüglich beschäftigt.« Und tatsächlich sah man in Zukunft die beiden Damen öfter einmal nach Feierabend im Auto zur Stadt fahren. Am Sonntag fuhren sie im Viererzug durch die Gegend, was Alheidis, die kutschierte, viel Freude bereitete. Da Fräulein Gundula gut zu Pferd saß, begleitete sie ihren Schützling auch alltags auf seinen Ritten. Wenn sie abends zu Hause waren, hörte man durch die geöffneten Fenster des Herrenhauses Klavierspiel und Gesang, zwischendurch flatterte helles Mädchenlachen. Also schien es der Hausdame tatsächlich zu gelingen, die junge Herrin immer mehr aus ihrer ernsten Verschlossenheit herauszulocken. Aber auch nur der frischfröhlichen Gundula; denn allen anderen gegenüber verharrte Alheidis in ihrer hochmütigen Unnahbarkeit. Gundula von Bartold hatte Geburtstag. – Dieser Tag war für
die alte Dame eine einzige Überraschung, die bereits am frühen Morgen begann, als sie den Geburtstagstisch sah, den Alheidis hergerichtet hatte. Was darauf lag, war auserlesen und feinsinnig gewählt. Dazu herrlicher Blumenschmuck – kein Wunder, daß das Geburtstagskind ein Gesicht machte, welches man nicht als besonders geistreich bezeichnen konnte. Es entlockte Alheidis ein so herzliches Lachen, wie selbst Gundula es noch nie gehört hatte. »Kommen Sie nur wieder zu sich, Fräulein von Bartold…!« »Na, warten Sie nur! Macht sich so ein Schelm auch noch darüber lustig, wenn man vor Überraschung sozusagen aus den Schlorren kippt. Soviel ich weiß, habe ich kein Wort über meinen Geburtstag verlauten lassen.« »Ist auch nicht nötig, da ich Ihre Personalien kenne. Lassen Sie sich recht herzlich gratulieren und alles Gute wünschen.« Die zweite Überraschung für Gundula war, daß das Mädchen sie umfaßte und einen Kuß auf ihre Wange drückte, was bei seiner sonstigen Zurückhaltung sehr hoch zu bewerten war. Gerührt zog das alternde Fräulein das junge Menschenkind in die Arme, das sich mit einem reizenden Lächeln darein schmiegte. »Liebes Fräulein Gerholt, was haben Sie mir für eine Mordsfreude gemacht…« »Sagen Sie Alheidis zu mir und du, ja?« bettelte sie mit Augen und Lippen. »Es nennt mich ja sonst niemand so.« »Von Herzen gern, mein liebes Kind. Aber dann will ich auch Tante Gundula für dich sein, einverstanden?« »Mit tausend Freuden. Ach ja – so ist es schön.« Immer gerührter wurde die Dame, in deren Herzen so viel Liebesreichtum brach lag, den sie jetzt über das seltsame Geschöpf, dessen Holdseligkeit sich nun vor ihr offenbarte, ausschütten konnte. Da sollte noch jemand kommen und seine Glossen über die hochmütige Herrin von Schlehdorn machen, dem würde sie schon eine Abfuhr erteilen!
Auch diesem Herrn Gerholt würde sie gern mal ihre Meinung sagen. So ein Narr! Hätte alle Vaterfreuden an dieser Tochter erleben können und kümmerte sich einfach nicht um sie. Gab seine Liebe den beiden Mädchen, die gar nicht seines Blutes waren, während dieses danach darben mußte. Gewiß waren seine Stieftöchter ganz niedliche Marjellchen, aber mit diesem stolzen, seltsam schönen Menschenkind überhaupt nicht zu vergleichen! Zärtlich küßte sie die Augen, die zu ihr emporstrahlten. Tränen klopften in ihrer Stimme, als sie leise sagte: »So sehr ich mich über deine Gaben freue, so ist deine Zutraulichkeit doch das wertvollste Geschenk für mich, meine kleine Mimose. Es beglückt mich ungemein.« Alheidis schmiegte ihr Gesicht an den weichen Platz und bekannte leise: »Nun habe ich doch einen Menschen, der zu mir gehört. Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich mich das macht. Wenn ich auch nicht besonders weich veranlagt bin – aber deshalb habe ich doch auch ein – Herz.« Nun ja, das Gundulas wurde weich wie Butter und öffnete sich weit. Den Hauptplatz nahm fortan Alheidis darin ein… Als das Geburtstagskind sich nach dem Mittagessen zurückgezogen hatte, machte das junge Mädchen sich daran, den Kaffeetisch herzurichten. Wo im Park ein alter Lindenbaum blühte und eine Rosenhecke im Halbrund sich erstreckte, standen weißlackierte Gartenmöbel. Dieses wonnevolle Plätzchen war wie geschaffen für eine festliche Tafelrunde, zumal der strahlendschöne Julitag ein übriges dazu beitrug. Das beste Porzellan holte Alheidis herbei, wand ein Rosenkränzchen, legte es um das Gedeck des Geburtstagskindes, streute duftende Blüten über den Tisch und besah sich dann ihr Werk zufrieden. Später kam dann noch das Gebäck darauf, das Gundula gern mochte und das die Mamsell heimlich hatte backen müssen. Und dann war der Moment da, wo die drei Geburtstagsgäste anrückten. Auch sie lachten herzlich über
das verblüffte Gesicht der Tante. »Gundelchen, mach den Mund zu – «, neckte Hartger. »Komm, laß dir viel Glück wünschen zu deinem Wiegenfest.« Nachdem sie auch die Glückwünsche nebst Geschenken der andern in Empfang genommen hatte, brach die Freude durch. »Kinder, wie rührend, daß ihr den Geburtstag der alten Tante nicht vergessen habt…« »Na – alt!« Lutz betrachtete das siebenundvierzigjährige Fräulein augenzwinkernd, das in seiner jugendlich wirkenden Schlankheit und mit dem blühenden Gesicht vor ihm stand. »Du hast ja noch nicht einmal graue Haare.« »Kommt daher, weil ich mich mit keinem Mann herumärgern muß«, gab sie schlagfertig zurück. »Aber wie ist das möglich, daß ihr mich hier so mir nichts dir nichts überfallen dürft?« »Weil ich die Herrschaften darum gebeten habe«, erklärte Alheidis mit einem Lachen, das die Gäste frappiert aufhorchen ließ, da sie es bei dem sonst so ernsten Mädchen noch nicht gehört hatten. Auch so froh hatten sie es noch nicht gesehen. Und da strahlende Freude ja jeden Menschen zu verschönen pflegt, so machte sie dieses ohnehin schöne Menschenkind einfach bezaubernd. Doch während die beiden Herren das nur dachten, mußte die geschwätzige kleine Schwalbe es natürlich gleich in Worte fassen: »Oh, Fräulein Gerholt, Sie sind ja heute entzückend!« bekannte sie treuherzig, was die Wangen des Mädchens heiß erglühen ließ vor Verlegenheit. Hastig bat sie die Gäste, ihr zu folgen. »Wie bei Dornröschen!« jubelte Ada, als sie das Ziel erreicht hatten, spontan, wie sie war, griff sie nach dem Rosenkränzchen und drückte es dem Geburtstagskind auf den Kopf, das lachend protestierte. »Na, so habe ich mir ein Dornröschen nun wirklich nicht vorgestellt. Da würde der Prinz wohl große Augen gemacht
haben. Aber hier…« Blitzschnell wechselte das duftige Gebilde seinen Platz. Es schmückte nun das seidenhaarige Haupt der jungen Alheidis, die erschrocken in die lachenden Gesichter um sich sah. Als sie jedoch Miene machte, den Kranz zu entfernen, gebot Lutz Elchstorff Einhalt. »Daraus wird nichts, gnädiges Fräulein. Sie werden doch nicht so abgünstig sein und uns den wunderholden Anblick mißgönnen? Schauen Sie, meine Frau schmückt sich als Hofdame des Dornröschens bereits.« Er zeigte auf Ada, die eine Rose ins Haar steckte und also bei Gundula tat, die sie diesmal geduldig gewähren ließ und schmunzelnd sagte: »Ich bin doch schließlich die böse Fee. Gib acht, Alheidis, gleich werde ich dich in tiefen Schlaf sinken lassen.« Bei dem trauten Du horchten die drei Gäste überrascht auf. Es kam ihnen so unerwartet, daß selbst Ada es unterließ, sich darüber zu äußern. »Nun, Tante Gundula«, lachte sie fröhlich. »Wie eine böse Fee siehst du doch wirklich nicht aus. Ernennen wir dich also zur Königinmutter. Hartger ist der Prinz und mein lieber Mann der Hofmarschall. Empfanget eure Orden.« Nachdem auch eine Rose das Knopfloch der Herrenröcke zierte, nahm man Platz. Man kam sich tatsächlich wie verzaubert vor, so unwirklich schön war das Plätzchen. Die Äste der blühenden Linde hingen so weit herab, daß sie die Hecke berührten. Ihr süßer Duft vermischte sich mit dem der Rosen. Selbst das Gebäck, das der Diener brachte, mundete ganz besonders gut, der Kaffee nicht minder. Ada schwatzte fröhlich in die behagliche Stimmung hinein, was man vergnügt über sich ergehen ließ. Selbst Alheidis war aufgeschlossener als sonst. Sie beteiligte sich am Gespräch und lachte auch hie und da über die Drollerie der kleinen Baronin. Alheidis merkte nicht, wie die Blicke Gundulas und die der Herren immer wieder zu ihr hingingen. Sie hörte amüsiert dem Geplauder Adas zu. Eben nahm das flinke Zünglein
den Schwager aufs Korn: »Sag mal, Hartger, was hast du dir eigentlich dabei gedacht, als du Stietz’ Einladung ausschlugst. War das nötig?« »Ja, weil ich bereits die von Fräulein Gerholt angenommen hatte. Auf zwei Stellen zugleich kann der Mensch ja bekanntlich nicht sein.« »So ein Pech!« »Na, erlaube mal, Ada, das ist gerad kein Kompliment für unsere Gastgeberin.« »So meine ich es doch nicht.« Sie sah erschrocken zu Alheidis hin. »Entschuldigen Sie bitte, Fräulein Gerholt. Das Pech bezog sich auf Ilka Stietz. Sie feiert heute nämlich auch ihren Geburtstag und ist nun unglücklich, daß bei der Feier gerade der Gast fehlt, auf den sie den größten Wert legt. Eine halbe Stunde lang hat sie mir heute vormittag am Telefon das Ohr vollgejammert, daß sie das Fest ohne dich begehen muß, Hartger. Ganz durcheinander war sie vor Enttäuschung und Zorn. Ich glaube, du darfst ihr vorläufig nicht unter die Augen treten, wenn du diesen nicht zu spüren bekommen willst. Hast du ihr wenigstens Blumen geschickt?« »Nein, weil ich keine Ahnung hatte, daß heute ihr Geburtstag ist.« »Und das kannst du so gelassen hinsagen?« »Nun, soll ich mich etwa dabei aufregen?« »Lutz, was sagst du bloß zu dem kaltschnäuzigen Menschen?« fragte sie so konsterniert, daß er lachte und die anderen mit ihm. »Daß du die Sorgen anderer doch immer zu den deinen machen mußt, Ada. Laß gut sein, Ilkas Zorn wird verfliegen, sofern Hartger ihr unter die Augen tritt.« »Meinst du?« »Ich meine.« »Aber einen Strauß könntest du ihr trotzdem schicken, Hartger.« »Wo soll ich den wohl am Sonntag herkriegen?« »Hier an der Hecke und dort auf den Beeten blühen doch
Blumen in den wundervollsten Sorten und Farben. Die Besitzerin all der Herrlichkeit wird es gern gestatten, daß du einen Strauß zusammenstellst. Nicht wahr, Fräulein Gerholt?« »Selbstverständlich, Baronin.« »Na siehst du. Komm, Schwagerherz, ich helfe dir. Das soll ein herrlicher Strauß werden.« Als sie eilig aufsprang, winkte er gelassen ab. »Harmloses Gemüt! Du nimmst doch nicht etwa an, daß die mondäne Ilka Stietz sich mit den Blumen begnügen würde, die in einem Gutsgarten blühen. Die müssen möglichst fern der Heimat gewachsen sein und eine Menge Geld kosten, wenn sie vor den Augen der anspruchsvollen Dame Gnade finden sollen.« »Das verstehe ich nicht«, schüttelte die junge Frau verblüfft den Kopf. »Lutz hätte mir Disteln schicken können, und ich wäre darüber erfreut gewesen, weil sie von ihm kamen.« Das klang so treuherzig, daß die andern gerührt auf sie schauten. Der Gatte nickte ihr herzlich zu. »Dafür bist du ja auch mein herzliebes Schwälbchen und kein bunter Paradiesvogel. Zerbrich dir dein Köpfchen nun nicht länger über die verpatzte Geburtstagsfeier. Die heikle Angelegenheit muß der in Ordnung bringen, den sie am meisten angeht.« Da gab sie sich denn zufrieden und wandte sich der Tante zu, um mit ihr über das zu sprechen, was ihre Welt bedeutete. Das waren der große und der kleine Lutz. Geduldig hörte Gundula alles mit an, warf nur, wenn die Schwärmerin zu sehr mit den Augen der Liebe sah, trockene Bemerkungen dazwischen, die die andern ergötzten und Ada selbst hellauf lachen ließen. Denn das gehörte zu ihren guten Eigenschaften, daß sie jede Neckerei vertrug, sofern sie nicht boshaft gemeint war. Nachdem sie Mann und Sohn genügend verherrlicht hatte, verschnaufte sie erst ein wenig, dann bedauerte sie lebhaft, ihre Laute nicht mitgebracht zu haben, denn zu einer rechten Geburtstagsfeier gehörte ihrer Ansicht nach nun
einmal froher Gesang. »Mit einer Laute kann ich Ihnen aushelfen, Baronin«, erbot sich Alheidis höflich. »Ich habe allerdings lange nicht mehr darauf gespielt und fürchte, daß sie recht verstimmt sein wird.« »Macht nichts, ich kriege sie schon wieder in Ordnung. Aber da fällt mir ein, daß ich ja noch gar nicht deinen Geburtstagstisch bewundert habe, Tante Gundula. Willst du ihn mir nicht zeigen?« »Muß ich wohl, da du sonst doch keine Ruhe gibst, du Neugier. Gehen wir also ins Haus. Wo kann ich die Laute finden, Alheidis? Ich bringe sie dann gleich mit.« »Ich weiß selbst nicht recht, wo sie steckt, Tante Gundula. Da muß ich schon selber nachsehen.« »Na schön, dann schließe dich uns an. Die Herren müssen solange ohne uns auskommen.« So gingen denn die drei Damen davon. Tante nebst Nichte nach dem Zimmer, wo der Geburtstagstisch stand, Alheidis auf die Suche nach der Laute. Sie fand sie schneller, als sie vermutet hatte und machte sich auf den Rückweg zur Rosenlaube. Als sie sich in deren Nähe befand, hörte sie die Herren in einem Gespräch, das sie peinlich berührte. Unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte, trat sie hinter ein Gebüsch. »Ilka war heute vormittag am Telefon nicht wenig in Fahrt«, sagte Lutz soeben lachend. »Wahrscheinlich hat sie damit gerechnet, daß sie auf dem Fest ihre Verlobung bekanntgeben kann.« »Mit wem?« »Junge, nun tu bloß nicht so ahnungslos. Mit dir natürlich, mit wem sonst? Eure bevorstehende Verlobung ist doch direkt Tagesgespräch. Man wartet jedenfalls mit Spannung darauf.« »Aha, nur um die sensationslüsternen Leutchen zufriedenzustellen, soll ich mich verloben«, klang nun die sonore Stimme Hartgers auf. »Denn Sensation wäre es wirklich, wenn ich mich als Knecht bei Ilka Stietz
verdingen sollte.« »Aber Hartger!« »Aber Lutz! Was anders wäre ich wohl, wenn ich der Erbtochter in das aufgestellte Netz ginge? Wie die meisten Einheiraten endeten, haben wir doch schon oft beobachten können. Denke nur an Edgar Gerholt. Was war er denn anders als ein Knecht seiner herrschsüchtigen, hochfahrenden Frau? Ein wahres Martyrium hat der arme Kerl hinter sich.« »Da suchst du dir aber auch einen der krassesten Fälle heraus, Hartger. Es sind ja nicht alle Erbinnen solche Kanaillen wie diese Kunigunde. Trotzdem hat Gerholt den Mut zu einer zweiten Einheirat gehabt und scheint mit seiner jetzigen Frau recht glücklich zu sein.« »Dafür ist diese aber auch ein so prächtiges Menschenkind, wie es unter dem weiblichen Geschlecht nicht oft zu finden ist. Mit so einer Frau kann ein Mann schon glücklich sein. Nicht aber mit so einem launenhaften, herrischen Geschöpf wie Ilka Stietz. Die wird in der Ehe gewiß nicht anders sein, als die liebe Kunigunde es war. Also hieße es, erstere ehelichen, mit offenen Augen in sein Verderben rennen.« »Hm«, meinte der Bruder nachdenklich. »Du hast recht – und wiederum auch nicht. Bedenke, daß du einen guten Batzen ihrem Besitz in die Waage zu werfen hättest, wenn ich dir dein Vatererbe auszahle.« »Und doch bleibe, ich immer nur der Mann meiner Frau«, kam die Antwort hart. »Oder wie ich schon vorhin noch treffender sagte: Ihr Knecht. Da bin ich in fremden Diensten bestimmt mehr mein eigener Herr, als auf einem angeheirateten. Außerdem möchte ich das Geld noch solange auf Elchen stehen lassen, bis du es von deinen Einkünften abzahlen kannst…« »Hartger, ich bitte dich!« »Laß nur«, winkte er gelassen ab. »Ich will deiner Frau gewiß nicht zu nahe treten. Aber…«
Er sprach nicht weiter, weil Ada in langen Sprüngen angewetzt kam. Langsamer folgte Gundula. Nun war erstere heran und ließ sich atemlos vom schnellen Lauf in den Gartensessel sinken. »Wunderhübsche Sachen hat Fräulein Gerholt unserem Geburtstagskind aufgebaut. Da kommt sie ja, die großzügige Spenderin mit der Laute – « Gleich darauf hielt sie diese im Schoß und bewunderte die vielen farbigen Bänder, mit denen das übrigens kostbare Instrument geschmückt war. »Ist das eine Pracht! Obwohl ich eifrige Sammlerin von Lautenbändern bin, habe ich es noch nicht einmal bis zur Hälfte dieser Anzahl hier gebracht. Alle von Verehrern?« fragte sie naiv. »O nein. Es brauchen ja nicht immer Verehrer zu sein, Freundinnen und Bekannte tun’s auch«, gab Alheidis mit einem Lächeln zur Antwort, das fremd an ihr war. Nicht hochmütig und abweisend, nicht amüsiert, wie es heute öfter ihren Mund umzuckte, sondern wie ein Gemisch von Schmerz und Verbitterung. Die Augen hatten den strahlenden Schein verloren, das Gesicht war blaß. Schweigend nahm sie ihren Platz ein und zog die Schultern hoch, als ob sie fröre. Das alles bemerkten die anderen nicht. Sie schauten lächelnd auf Ada, die eifrig die Laute stimmte. »So, nun ist sie in Ordnung«, stellte sie dann fröhlich fest. »Vielleicht geben Sie zuerst etwas zum besten, Fräulein Gerholt?« »Das überlasse ich gern Ihnen, Baronin. Mein Spiel und Gesang dürfte alles andere nur kein Genuß sein.« »Nicht gesagt, daß es bei meinem einer wird. Na, egal. Wenn es euch zuviel wird, dann schreit.« Es wurde niemand zuviel. Sie lauschten sogar mit Vergnügen der frischen Stimme, die kleine Liedchen schelmisch vortrug. Man konnte Lutz Elchstorff sehr gut verstehen, daß er sein Herz an dieses fröhliche Menschenkind gehängt hatte, das Wachs in seinen Händen
war. Das nichts auf der Welt so fürchtete wie seine Unzufriedenheit und nichts so liebte wie sein frohes Lachen, seine herzwarme Zärtlichkeit, die es einhüllte wie in einen weichen Mantel… Als die Gäste fort waren, galt es für Alheidis noch, den Dank Gundulas für die ihr bereiteten frohen Stunden in Empfang zu nehmen – dann konnte sie sich endlich zurückziehen. Und da war es denn auch mit ihrer so mühsam aufrechterhaltenen Beherrschung vorbei. Denn was sie heute erlauschen mußte, das hatte sie getroffen bis ins tiefste Herz. So schätzte man ihre Mutter ein, die ihr stets Vorbild gewesen und an deren Seite ihr Vater ein – Martyrium erlitten hatte Und dann das andere… Nicht mehr denken, schlafen – nur schlafen – am liebsten gar nicht mehr erwachen. Also nahm sie eine Tablette, warf die Kleider ab, ging zu Bett und schluchzte sich in einen Schlummer hinein, der von wirren, quälenden Träumen durchweht war. Am nächsten Morgen erwachte Alheidis vom hellen Ton der Hofglocke, die zur Arbeit rief. Durch das geöffnete Fenster hörte sie Stimmen, Zurufe wurden laut, Pferde wieherten, Hunde bellten aufgeregt dazwischen, also war unten alles bereits mobil. Richtig, heute begann ja die Roggenernte, daher der Hochbetrieb. Und so wichtig Alheidis sonst derartige Begebenheiten genommen hatte, heute machte sie alles verdrießlich. Jetzt hörte sie Gundula sprechen, die wahrscheinlich am Portal stand und jemand frischfröhlich einen guten Morgen wünschte. Und nun vernahm sie auch die sonore Stimme, die ihr ein ziemlich bitteres Lachen entlockte. »Guten Morgen, Gundchen, so früh schon auf den Beinen?« »Nun, bei dem Spektakel auf dem Hof kann man doch unmöglich schlafen«, gab sie lachend Antwort. »Nur unsere
Alheidis scheint es zu können.« »Nur ruhig schlafen lassen, Tantchen, das kann ihr nur guttun.« »Wenn du meinst, den Kram ohne sie schmeißen zu können…« »Kann ich. Auf Wiedersehen, Gundchen.« »Auf Wiedersehen, mein Junge.« Dann war es still. Alheidis erhob sich und begann mit der Morgentoilette. Nachdem sie den Körper mit lauwarmem Wasser abgebraust hatte, fühlte sie sich frisch wie immer. Wie hatte sie gestern nur so schlappmachen können – einfach blamabel! Was war überhaupt geschehen? Nichts weiter, als daß sie einige Bemerkungen eines Mannes gehört, der in ihren Diensten stand. Und diese abfälligen Worte galten noch nicht einmal ihr selbst, sondern ihrer Mutter und dem Fräulein von Stietz. Was ging der Mann sie überhaupt an? Nichts! Er hatte als ihr Angestellter seine Pflicht zu tun, für die er bezahlt wurde. Es tat ihr leid, daß sie seiner Tante so herzlich entgegengekommen war. Als sie später mit ihr am Frühstückstisch saß und so liebevoll von ihr betreut wurde, schämte sie sich etwas. Und als sie dann mit dem Oberinspektor zusammentraf, zerstoben ihre aufrührerischen Betrachtungen wie lose Blätter im Wind. Seine blitzblauen Augen, die so hart und wiederum so froh blicken konnten, seine sonore Stimme, die so scharf und doch gütig klingen konnte, sein warmes, unwiderstehliches Lachen überhaupt der ganze Mann… wiederum so froh blicken konnten, seine sonore Stimme, die so scharf und wiederum so gütig klingen konnte, sein warmes, unwiderstehliches Lachen – überhaupt der ganze Mann… »Guten Morgen, gnädiges Fräulein«, begrüßte er sie, als ihr Pferd neben dem seinen hielt. »Gut geschlafen?« »Danke. Wie ich sehe, geht die Arbeit flott voran.« »Ja – «, entgegnete er froh. »Wenn wir das Getreide trocken bergen können, soll es schon ein reicher Segen werden.
Hallo, Holtscher, was gibt’s?« wandte er sich an den Gutskämmerer, der näher trat, höflich die Herrin grüßte und dann in seiner bedächtigen Art sagte, indem er sich den Hinterkopf kratzte: »Dat ös schon er rieker Sägen, Herr Owerinspekter. I der Schinder! Dat Koarnke steht so dicht, dat de Binders et nich schaffe könne. Doa motte e poar Wiewers ran, da noahelpe.« »Sehen Sie, mein Freund, so hat man seine Sorgen«, lachte der Oberinspektor. »Steht das Korn schlecht, ärgert man sich. Steht es zu üppig, ärgert man sich auch, weil es nur mühsam zu überwältigen ist. Was macht man da, gnädiges Fräulein?« »Das überlasse ich Ihnen«, kam es so abweisend zurück, daß er sie erstaunt ansah und dann gelassen die Achseln zuckte. Er saß ab und folgte dem Mann aufs Feld, wo reges Leben herrschte. Zwei Selbstbinder glitten durch das Korn, es so exakt niedermähend, wie es eine Sense nicht besser vermocht hätte. Gleichzeitig band die Maschine die Schwaden zu Garben, die fix und fertig auf die Erde rollten. Nur an manchen Stellen war der goldene Segen so reich, daß kleine Schichten liegenblieben, die zwei Frauen, die der Oberinspektor anstellte, rasch rafften und bündelten. Ihre bunten Kopftücher leuchteten im Sonnenlicht, ihr frohes Lachen klang bis zu der Reiterin hin, die mit gemischten Gefühlen dem emsigen Treiben zusah. Niemand kümmerte sich um sie, alle folgten sie willig dem Befehl des Mannes, der hoch und stolz über das Feld schritt, als wäre es sein Eigentum. Ab und zu klang sein mitreißendes Lachen auf, in das die Menschen lustig einfielen. »Das ist schon eine übermütige Gesellschaft. Aber besser so als anders«, sagte Hartger, als er zurück war. Er rief sein Pferd, das am Feldrain graste, auf den bekannten Pfiff die Ohren spitzte und auf seinen Herrn zutrabte, der ihm auf dem Handteller ein Stückchen Zucker
hinhielt. Vorsichtig wurde es mit den Lefzen genommen und dann mit Behagen verspeist. »So, mein lieber Kerl.« Der Mann klopfte den seidenglänzenden Hals des Prachttieres. »Nun wieder frischauf zu fröhlichem Tun!« Er sah auf und sah zu der Herrin hin, die schlank und rank wie eine Amazone im Sattel saß. Eine weiße Bluse, aus deren weißen Ärmeln die leichtgebräunten Arme heraussteckten, umschloß den Oberkörper, die Hose saß wie angegossen, gleichfalls die Lackstiefelchen. Das Haar gleißte in der Sonne wie dunkles Gold. Sie ist schön – dachte der Mann. Gefährlich schön. Gut, daß sie so zurückgezogen lebt – sonst… Aber was ging ihn das an? Nichts – Gott sei Dank! »Was beginnen wir heute?« fragte Gundula ihren Schützling, als sie mit ihm zu Mittag speiste. »Für eine Wagenfahrt ist das Wetter ungeeignet. Also schlage ich vor, im Auto zur Stadt zu fahren und uns das Kinostück anzusehen, von dem man so viel Aufhebens macht. Soll ich telefonisch Karten bestellen?« »Ich habe keine Lust.« »Die kommt schon noch, Alheidis. Wenn man die Woche hindurch so auf Posten gewesen ist wie du, dann darf man sich am Sonntag schon Abwechslung gönnen.« »Wüßte nicht, was ich viel getan hätte.« Das Mädchen zuckte resigniert die Achseln. »Seitdem ich den tüchtigen Oberinspektor beschäftige, habe ich auf meinem Besitz nichts mehr zu sagen.« Erschrocken sah Gundula in das junge Gesicht, um dessen Mund ein bitteres Lächeln spielte. Sie griff nach der Hand, die auf dem Tisch lag und umschloß sie warm mit der ihren. »Kind, das klingt ja so, als ob du dich verdrängt fühlst«, sagte sie gütig. »Wie töricht wäre das. Denn die Herrin von Schlehdorn bist du – und das ist doch schließlich die Hauptsache. Ich kenne meinen Neffen so gut, um
behaupten zu können, daß es gewiß nicht in seiner Absicht liegt, sich Rechte anzumaßen, die ihm nicht zukommen. Er hält es für selbstverständlich, dir Arbeit abzunehmen, soweit er es vermag, weil du trotz deiner Herrinnenwürde nur ein kleines zartes Mädchen bist. Ich gebe dir den guten Rat, Hartger nie etwas davon merken zu lassen, daß du dich übergangen fühlst. Sofort würde er Konsequenzen ziehen, darauf gebe ich dir mein Wort.« »Mag er doch, es gibt noch andere tüchtige Inspektoren«, entgegnete sie so hochmütig, daß Gundula verletzt schwieg. Doch schon legten sich zwei weiche Arme um ihren Hals, und eine zarte Wange schmiegte sich an die ihre. »Dich habe ich doch nicht kränken wollen, du liebe Güte. Das hast du doch wirklich nicht um mich verdient. Sei mir wieder gut, ja?« »Na schön«, seufzte die Dame, die dem Mädchen nun einmal nicht böse sein konnte. »Du hast eine ganz verflixte Art, mein Kind, die nicht jeder vertragen kann. Ich wundere mich, daß Hartger sich die gefallen läßt. Das kommt wohl daher, weil er dich einfach nicht ernst nimmt, du hochmütige Herrin, die im Grunde genommen nichts anderes als ein törichtes kleines Mädchen ist, dem seine Würde in den Kopf gestiegen ist. – Ja, sieh mich nur so empört an, einer muß dir doch die Wahrheit sagen. Wie ist es nun, soll ich Karten bestellen?« »Wenn du durchaus willst – « »Herzchen, wie kann man nur in den jungen Jahren so resigniert sein. Als ich so alt war, erschien mir die Welt im rosigsten Licht. Und auch heute gefällt sie mir noch, obwohl ich nur eine alte Jungfer bin.« Jetzt lachte das Mädchen hellauf, und Gundula war zufrieden. Sie eilte hurtig davon, um bald darauf wieder zu erscheinen. »Zwei Logenplätze habe ich noch erwischen können. Scheint ein gutes Stück zu sein, wie das Kinofräulein
beteuerte. Na, wollen uns überraschen lassen.« Das Kino war schon gut besetzt, als die beiden Damen erschienen. Beim Eintreten der Loge verhielt Alheidis den Schritt. Die beiden vorderen Plätze waren noch frei, doch auf den hinteren saßen das Ehepaar Gerholt nebst Sohn Bernd und Hartger Elchstorff. Schon wollte Alheidis die Loge verlassen, als letzterer auch schon vor ihr stand. Während er sich zur Begrüßung über ihre Hand beugte, raunte er ihr zu: »Kein Aufsehen erregen, gnädiges Fräulein. Wir werden nämlich von vielen Augen beobachtet – und Sie wissen, der Klatsch blüht…« Ehe sie antworten konnte, stand auch der Vater vor ihr und streckte ihr die Hand entgegen. »Guten Tag, mein Kind«, sagte er herzlich. Ohne viel Worte zu machen, führte er sie zu seiner Frau, die sie mit liebem Lächeln begrüßte. Bernd machte eine linkische Verbeugung, weil er nicht recht wußte, wie er sich zu verhalten hatte – und dann war die peinliche Begrüßung vorüber. Gundula wurde vorgestellt und dann mußten die beiden Damen rasch die Plätze einnehmen, weil es im Raum dunkel wurde. Nach der üblichen Reklame kam die ebenso übliche Wochenschau, und dann begann das Hauptstück, das wirkungslos an Alheidis vorüberzog. Was kümmerte sie das Schicksal der Menschen auf der Leinwand? Sie hatte sich gegen das ihre genug zu wehren. Hinter ihr saß nun der Mann, der durch Bande des Blutes zu ihr gehörte – und der sie rücksichtslos allein gelassen hatte, um eine Frau an sein Herz zu nehmen, die sie haßte – und deren Kindern die Vaterliebe zu geben, an die seine einzige leibliche Tochter ein heiliges Recht hatte. Und dann saß neben ihnen ausgerechnet noch der Mann, der mit seinen schonungslosen Worten sie bis ins tiefste Herz hinein getroffen hatte – den sie zu hassen glaubte, wenn sie ihn nicht sah – und diesen Haß zusammenbrechen ließ, wenn er nur nahte…
Alheidis hätte aufspringen mögen und laufen – laufen, ohne Rast und Ruh, immerzu, bis ans Ende der Welt. Und mußte doch ruhig auf ihrem Platz verharren, weil sie den Menschen rundherum kein Schauspiel bieten durfte. Der Klatsch blüht – hatte er ihr zugeraunt. Was ging sie das an, was man über sie klatschte? Mochten sie sich doch die Klatschmäuler darüber zerreißen, daß sie ihrem Vater seine zweite Heirat nicht verzeihen konnte. Mochte er mit dieser zweiten Frau nur glücklich sein, nachdem er an der Seite der ersten ein Martyrium erlitten hatte. Daher konnte er auch das Kind nicht lieben, das sie ihm geboren. Es waren sehr bittere Gedanken, die in ihrem Herzen wühlten, während sie auf die Leinwand sah, ohne zu erfassen, was da vor sich ging. So schlug sich Alheidis länger als eine Stunde mit ihren verbitterten Gedanken herum. Schrak zusammen, als Licht wurde und die Menschen sich von den Plätzen erhoben. Sie tat dergleichen und wappnete sich mit Ablehnung, als der Vater fröhlich sagte: »Wie wäre es, wenn wir in die Konditorei gingen, um dort noch gemütlich zusammen zu sein. Wer macht mit?« Schon wollte Alheidis den Mund zur schroffen Absage öffnen, als ihr Blick auf Hartger Elchstorff fiel, der sie mit seinen zwingenden Augen zu hypnotisieren schien. Und als gar noch Gundula vergnügt sagte: »Wir machen gern mit, nicht wahr, mein Herzchen?« Da nickte sie wie unter einem Zwang. Ließ es sogar geschehen, daß der Vater seinen Arm unter den ihren schob und mit ihr davonging, als lebten sie in bestem Einvernehmen. Sie bemerkten sehr wohl die neugierigen Blicke der Menschen, die gleich ihnen dem Ausgang des Kinos zustrebten. Wie ein Schaustück kam sie sich vor, das man ohne weiteres bekritteln durfte. Warum tat sie denn nicht, wozu sie Lust hatte? Weshalb ging sie so geduldig am Arm des Vaters dahin, wo es doch richtig gewesen wäre, ihm ihre Verachtung zu zeigen, indem sie hocherhobenen Hauptes davonschritt.
Statt dessen – ach, sie verstand sich selbst nicht mehr! Fürchtete sie sich vor zwei Männeraugen, die bei manchem, was sie tat, so etwas wie Bedauern widerspiegeln konnten. War sie diesen zwingenden Augen bereits so verfallen, daß sie sich von ihnen regieren ließ und so immer weiter von dem Weg abirrte, den sie schnurgerade gehen wollte? Wohin konnte der führen? Doch nur in eine blühende Wildnis voll von tückischen Blüten und Dornen, aber nimmer auf eine sonnenüberflutete Straße, die von tausend roten Rosen der Liebe umsäumt war. Einige Male war sie schon fest entschlossen gewesen, den Oberinspektor zu entlassen, um dem unhaltbaren Zustand ein Ende zu machen. Wollte auf die Stimme des Herzens nicht hören – und mußte ihr doch immer wieder lauschen. Die Konditorei war recht gut besucht. Eine Kapelle spielte abwechselnd einschmeichelnde oder schwungvolle Weisen. Und wie es mit dem Kaffeehauspublikum so ist: Je lauter die Musik spielt, um so lauter und angeregter wird die Unterhaltung. Man lachte und schwatzte, ließ sich Kaffee und Kuchen gut schmecken und kam sich wie losgelöst vom Alltag vor. Die Hinzugekommenen fanden noch einen Platz mit einem Ecksofa und bequemen Armstühlen. Ob es Zufall war oder nicht, jedenfalls saß Alheidis zwischen dem Vater und seiner Frau. Neben dieser Gundula und gegenüber hatten Hartger und Bernd ihren Platz. Wenn Alheidis sich auch gegen ihren Willen hatte herschleifen lassen, so war es damit gerade genug. Da durfte man nicht noch verlangen, daß sie aus sich herausging. Hochmütig wie nur je saß sie da, gab auf die Fragen des Vaters nur knappe Antworten und schien die bittenden Blicke seiner Frau nicht zu sehen. So wirkte sie störend in dem Kreis, was die andern jedoch nicht merken ließen. Die Unterhaltung war so allgemein gehalten, daß man nicht das Wort an das unnahbare Mädchen direkt zu richten brauchte. Bernd, der sich zuerst gar nicht wohl in seiner Haut fühlte
und sich daher recht linkisch benahm, fand allmählich seine Sicherheit wieder. Mochte diese… Gans, wagte er nicht einmal zu denken, weil sie doch die Tochter von Paps war… mochte also diese hochmütige junge Dame von ihm denken was sie wollte, dadurch ließ er sich noch lange nicht seine gute Laune verderben. Man ließ sie einfach links liegen, dann brauchte man sich keiner Abfuhr auszusetzen. So saß denn Alheidis unter den Menschen wie eine Fremde, die zufällig zu ihnen geraten war. Gundula, die diesen unnatürlichen Zustand als peinlich empfand, suchte nach einem triftigen Grund, aufbrechen zu können. Die andern folgten ihrem Beispiel und verabschiedeten sich vor der Konditorei. »Kommst du mit uns, Hartger?« fragte die Tante. »Täte ich gern, wenn ich nicht meinen Wagen in Kiwitten hätte. So muß ich mich der Gesellschaft anschließen, mit der ich hergekommen bin.« »Muß ist gut – «, lachte Irene, sich wie selbstverständlich in seinen Arm hängend. »Wir hätten dich sowieso nicht freigelassen, du Böser, der sich in letzter Zeit bei uns so rar macht.« »Finde ich auch«, meinte Bernd, sich an der anderen Seite einhakend. »Wie ein Gefangener wirst du abgeführt. Wage nicht etwa Reißaus zu nehmen, weil ich sonst Gewalt anwenden müßte.« »Renommiere nur nicht. Mein kleiner Finger genügt, um so ein Pennälerlein k. o. zu schlagen.« »Das sagt er mir, wo ich so viel von ihm weiß«, brachte der Junge so drollig heraus, daß die andern, außer Alheidis, herzlich lachen mußten. Man ging auseinander und suchte getrennt seine Fahrzeuge auf. Obwohl Gundula ihren Schützling wegen seiner Unzugänglichkeit am liebsten getadelt hätte, unterließ sie es, weil auch sie eine Abfuhr fürchtete. So begann sie denn ein harmloses Gespräch und war froh, als der Wagen vor dem Portal des Schlehdornschen Herrenhauses hielt.
Während der nächsten Wochen kam man in der Landwirtschaft kaum zur Besinnung. Das gute Wetter mußte ausgenutzt werden, um die Ernte trocken zu bergen. Zwar regnete es auch mal zwischendurch, aber ein richtiger Landregen trat gottlob nicht ein. Die Ernte auf Schlehdorn war im Vergleich zum Vorjahr direkt fabelhaft, und der Rentmeister verbuchte mit Freuden gar stattliche Summen. Stolz zeigte er während einer Mittagspause dem Oberinspektor die mit peinlichster Ordnung geführten Bücher, der lachend sagte: »Na also, da wird jetzt ja ganz anständig gehabt und gesollt. Wenn ich daran denke, wie es noch vor einem Jahr in Ihrem Bereich aussah, dann kann man nur staunen.« »Das müßten Sie zuerst einmal über sich selbst, Baron«, entgegnete der junge Mann vergnügt. »Denn daß Schlehdorn jetzt so dasteht, ist doch wahrlich Ihr Werk.« »Fehlgedacht, mein Lieber«, wehrte der andere trocken. »In der Hauptsache ist es das Werk des Geldbeutels unserer Herrin. Wenn der sich nicht so unerschöpflich gezeigt, hätte ich trotz besten Willens wohl kläglich versagt.« »Na schön, streiten wir uns nicht. Dazu bin ich viel zu friedfertig. Ich muß mich nur beklagen, daß Sie sich in letzter Zeit so rar bei uns gemacht haben.« »Eigentlich müßte ich in dreifacher Ausfertigung einherwandeln«, lachte Hartger. »Denn von drei Seiten ist mir das Rarsein zum Vorwurf gemacht worden. Mir steht nämlich immer nur der Sonntag zur Verfügung, wo ich mich an einer Stelle sichtbar machen kann. Abends bin ich froh, wenn ich zu Bett gehen kann. Aber wenn meine faule Zeit beginnt, dann will ich es mir schon wieder an Ihrem Herd gutsein lassen. Hoffentlich sind Sie dann schon zu dritt. Wie geht’s übrigens der kleinen Frau Evelyn?« »Den Verhältnissen entsprechend gut. Sie hat ebenso wenig Zeit wie Sie, Baron, weil sie Berge von Baby kram anfertigt, als erwarte sie Vierlinge.« »Wäre doch schön, wie?« »Danke, so unbescheiden bin ich nicht«, wehrte er
schmunzelnd. »Mir würde ein kleiner Schreihals genügen. Außerdem kann man es der Herrin nicht zumuten, für unsere Familie anbauen zu lassen. So viel Verständnis dürfte ihr wohl abgehen. Was ist übrigens los mit ihr? Gesprächig war sie ja nie, doch neuerdings gibt sie ihre Befehle nur noch im Telegrammstil. Ich für meinen Teil schwitze, wenn sie bei mir ist und bin erkältet, wenn sie geht. Geschieht Ihnen das auch?« »Dann würde ich aus der Schwitz- und Erkältungstour ja gar nicht mehr herauskommen«, war die lachende Erwiderung. »Denn ich bin ja täglich stundenlang mit ihr zusammen.« »Sie Ärmster! Aber nun mal Scherz beiseite. Unsere Herrin gefällt mir nicht.« »Wäre ja auch noch schöner!« »Baron – na, nun mal Vorsicht! Ich meine gesundheitlich. Sie sieht irgendwie krank aus. Ob wir ihr mal den Onkel Doktor aufs Hälschen hetzen?« »Erbarmung, ich kneife!« Lachend eilte Hartger davon, weil die Hofglocke zur Arbeit rief. Als er mit der Herrin zusammentraf, beobachtete er sie verstohlen. Der Rentmeister hatte recht, sie schien tatsächlich nicht gesund zu sein, wie ihr blasses Gesicht, ihre müde Haltung verrieten. Da mußte er doch mal Tante Gundula fragen… »Daß mit Alheidis irgendwas nicht in Ordnung ist, das habe ich schon längst bemerkt«, entgegnete sie bekümmert, als er sie fragte. »Aber sie ist ja viel zu verschlossen, um über sich selbst zu sprechen. Jedenfalls ißt sie schlecht, wird unlustiger mit jedem Tag, scheint an nichts Freude zu haben. Man hat schon seine Not mit dem unzugänglichen Mädchen. Wenn es mir nicht so sehr ans Herz gewachsen wäre, dann würde ich mein Bündel schnüren. Manchmal muß ich schon auf den absurden Gedanken kommen, daß die Kleine unglücklich verliebt ist.« »Der Gedanke ist wirklich absurd, Gundchen. Denn bei so
viel loreleihafter Kühle dürfte ihr dergleichen nicht passieren. Also zerbrechen wir uns nicht den Kopf, sondern lassen wir den Dingen ihren Lauf. Sie ist ja schließlich erwachsen und daher für sich verantwortlich.« »Leicht gesagt. Ich jedenfalls mache mir Sorgen um sie und möchte am liebsten mit ihrem Vater in Verbindung treten.« »Dabei würde nichts herauskommen, Tante Gundula«, bemerkte er ernst. »Du weißt doch, wie feindlich sie ihm gegenübersteht. Damit würdest du nur erreichen, daß er sich um seine Tochter noch mehr Sorgen macht, als er es ohnehin schon tut.« Also ließ man wirklich den Dingen ihren Lauf. An einem Sonntag im August äußerte Alheidis ihrer Hausdame gegenüber den Wunsch, einen Ausflug zu machen. »Im Viererzug?« »Nein, Tante Gundula. Die Tiere werden während der Erntezeit als Reitpferde gerade genug bewegt und müssen daher sonntags ihre wohlverdiente Ruhe haben. Zu Fuß möchte ich nach der Waldschenke wandern, die so idyllisch liegt.« »Wirst du den weiten Weg auch schaffen, Alheidis?« »Warum nicht?« war die verwunderte Gegenfrage. »Weil du dich wochentags abrackerst und kaum aus dem Sattel kommst.« »Eben deshalb möchte ich einmal wandern. Aber wenn du nicht magst…« »Natürlich mag ich, sogar mit Freuden. So ein Waldspaziergang ist für mich sehr reizvoll.« Also brachen sie nach dem Mittagessen auf. Am Inspektorhaus stand Hartger vor der Tür und rief der Tante neckend zu: »Du siehst ja so unternehmungslustig aus, Gundchen?« »Bin ich auch, du Schlingel. Zur Abwechslung wollen wir mal per pedes in die Ferne schweifen. Hast du Lust mitzukommen?« »Lust hätte ich schon, aber man erwartet mich in Elchen.«
»Sag ab.« »Kurz und bündig«, lachte er. »Ganz Tante Gundula. Und wenn sie das dort in die falsche Kehle bekommen?« »Geht vorüber.« »Wohin soll es gehen?« »Nach dem Waldhaus zu den drei Eichen.« Überlegend stand er da. Eigentlich eine gute Gelegenheit, Ilka Stietz auszuweichen, die sicherlich in Elchen auf ihn wartete, um ihm mit ihrer Anhimmelei lästig zu fallen. Da konnte er die Wanderung als Ausrede gebrauchen… »Vielleicht geh’s«, sagte er kurz entschlossen. »Aber du bestimmst so einfach, Tante Gundula, ohne vorher Fräulein Gerholt gefragt zu haben. Wenn sie nun mit meiner Begleitung nicht einverstanden ist?« »Oh, bitte sehr.« Das klang nicht freundlich, aber auch nicht abweisend. »So bitte ich die Damen um Geduld, bis ich Elchen angerufen habe…« Gleich darauf hörten sie ihn im Zimmer sprechen: »Guten Tag, Ada. Bist du mir sehr böse, wenn ich heute nicht zu euch komme? Ja, du bist es? Sei lieb, kleine Schwägerin, es geht nicht anders. Tante Gundula möchte mit Fräulein Gerholt eine Wanderung durch den Wald machen, was für zwei einzelne Damen nicht ganz ungefährlich ist. Daher möchte ich sie begleiten. Fräulein von Stietz würde mir mein Nichterscheinen schwer verdenken, meinst du. Darüber brauchst du dich doch nicht aufzuregen. Dem Zorn muß schließlich ich standhalten. Dir persönlich macht es nichts aus, wenn ich nicht komme und Lutz auch nicht, weil er Dringendes zu erledigen hat? Das wollte ich nur hören. Also auf Wiedersehen andermal, wartet nicht auf mich. Unser Ziel? Das Waldhaus zu den drei Eichen. So, das wäre geschafft.« Er steckte lachend den Kopf zum Fenster hinaus. »Ich mache mich rasch fertig. Bitte schon voranzugehen.« »Ich glaube, daß der Junge froh ist, weil er der Ilka
entfliehen kann«, sagte Gundula im Weiterschreiten zu Alheidis. »Hat die also immer noch nicht gemerkt, daß Hartger nichts von ihr wissen will. Dazu gehört schon eine gute Portion Dickfelligkeit. Ich bin schließlich auch einmal in der Blüte meiner Jugend gewesen, doch da hätte ich mir eher die Augen aus dem Kopf geschämt, als einem Mann nachzulaufen. Und dazu noch einem wie Hartger, dem Aufdringlichkeit an einer Frau verhaßt ist… Da bist du ja, mein Sohn«, nickte sie dem Neffen zu, der sie eingeholt hatte. »Also hurtig davon auf Schusters Rappen.« Sie überquerten den großen Hof, gingen noch ungefähr zweihundert Meter einen Feldrain entlang, dann war der Wald erreicht. Gundula wandte sich um und schaute nach dem Gutshof zurück. Die Dächer der Wirtschaftsgebäude leuchteten rot im strahlenden Sonnenschein, durch die Bäume der Anlagen schimmerten die weißen Mauern des Herrenhauses, rechts blitzte der See silbern auf. »Ist doch, ein herrliches Fleckchen Erde, dieses Schlehdorn«, sagte sie versonnen. »Wie glücklich kannst du sein, es dein eigen nennen zu dürfen, Alheidis.« »Ja«, entgegnete diese, doch recht überzeugt klang es nicht. Betroffen sah Gundula in das recht junge Gesicht, das von einer wehen Trauer überschattet war. Da stimmte wirklich etwas mit der Kleinen nicht – aber was? Wie fragend sah sie den Neffen an, der hinter dem Mädchen stand und die Achseln zuckte. »Da steht man vor einem Rätsel«, meinte die Dame unverständlich für Alheidis. »Na kommt, Kinder, setzen wir uns in Trab.« Es war ein müheloses Wandern auf der glatten Waldchaussee, die an dieser Stelle nur wenig belebt war. Gundula und ihr Neffe sorgten für angeregte Unterhaltung. Stimmten sogar ein Wanderlied an, wovon sie jedoch bald absehen mußten, weil Hartger durch falsche Töne die Tante aus der Melodie brachte. Es bereitete Alheidis so viel Vergnügen, daß sie hellauf lachte. »Na also«, schmunzelte Gundula, sang zwar nicht mehr,
sorgte jedoch mit ihrem trockenen Humor dafür, daß das Mädchenlachen immer wieder aufklang. Dadurch verging die Zeit so rasch, daß sie ganz erstaunt vor ihrem Ziel standen. »Das kann doch nicht die Waldschenke ›Zu den drei Eichen‹ sein?« murmelte Alheidis. »Sie ist im Frühjahr umgebaut worden. Wußten Sie das nicht, gnädiges Fräulein?« »Nein, ich bin schon lange nicht mehr hier gewesen. Schade, es war früher so gemütlich in dem alten Waldhaus. Jetzt sieht es nicht anders aus als viele andere Ausflugsorte. Die ganze Traulichkeit ist futsch. Am liebsten möchte ich umkehren.« »Aber nicht, ohne vorher Kaffee getrunken zu haben«, protestierte Gundula. »Es kann dir kleinen Einsiedlerin gar nicht schaden, wenn du einmal unter viele Menschen kommst. Denn dem Radau nach zu schließen herrscht hier ein Mordsbetrieb.« Sie fanden in dem vollbesetzten Garten noch einen Tisch, der ihnen zwar nicht zusagte. Aber bei der Fülle mußten sie froh sein, überhaupt ein Plätzchen erwischt zu haben. Die Tische standen so dicht beieinander, daß die Bedienung mit den vollbepackten Tabletts sich hindurchschlängeln mußte und man jeden Augenblick gewärtig sein konnte, irgend etwas auf den Kopf zu bekommen. Dazwischen spielten lärmende Kinder gar noch Ball oder rollten ihre Holzreifen. Ungeduldige Gäste schrien nach der Bedienung, die Musikkapelle dudelte und jazzte, und auf der runden Tanzfläche herrschte ein Gewühl, daß die Tanzenden kaum einen Schritt tun konnten. »Das soll nun schön sein«, sagte Gundula kopfschüttelnd. »Ich für mein Teil finde es nervenaufreibend und du wahrscheinlich auch, Alheidis, weil du ein so kreuzunglückliches Gesicht machst. Wollen zusehen, daß wir Kaffee erwischen, und dann entfleuchen wir.« Der Kaffee, den ein abgehetztes Servierfräulein nach geraumer Zeit brachte, war schlecht und mäßig warm, der
Kuchen schauderhaft, wie es bei solchen Massenfütterungen üblich zu sein pflegt. Während Hartger zahlte, fragte er: »Hier tagt wohl ein Verein?« »Ganz recht, mein Herr. Eine Innung…« Schon war sie davon, um den ärgsten Schreier zufriedenzustellen. Sie stieß fast mit den beiden Damen zusammen, die soeben an den Tisch traten. »Ja, da staunen Sie«, lachte Ilka Stietz, die nebst Ada Elchstorff wie aus dem Boden gewachsen plötzlich vor den drei Menschen stand, die alles andere als freudig überrascht waren. Nach der Begrüßung machte Hartger sich auf die Suche nach zwei Stühlen, die er mit Hilfe einer Bedienung, der er ein gutes Trinkgeld in die Hand gedrückt, durch das Gewühl schleppte. Daß er dabei kein frohes Gesicht machte, konnte ihm wohl niemand verdenken. »Sehr erfreut scheinen Sie über meinen Besuch wohl nicht zu sein, Baron«, murmelte Ilka. »Dazu bin ich zu überrascht, gnädiges Fräulein. Warum ist Lutz nicht mitgekommen, Ada?« »Er hatte keine Lust«, entgegnete sie kleinlaut. Als der Schwager sie forschend ansah, errötete sie und senkte den Blick. Man dachte sich sein Teil und gab sich Mühe, durch ein lebhaftes Gespräch keine Peinlichkeit aufkommen zu lassen. Ilka, die über den kühlen Empfang von Seiten des Barons wütend war, warf andauernd spitze Bemerkungen dazwischen, die von den andern überhört wurden. Dadurch geriet sie immer mehr in Wut, machte den Eindruck, als ob sie jeden Augenblick platzen müßte. Die Augen funkelten, die zu rot lackierten Lippen zitterten. Überhaupt hatte sie sich viel zu sehr herausgeputzt. Ihrer Aufmachung nach hätte sie in einen Tanzsaal gehört und nicht an einen Ausflugsort. Die drei andern Damen stachen in ihren zwar eleganten doch zweckmäßigen Kleidern angenehm von ihr ab. Besonders Alheidis, die in ihrem duftigen Sommerkleidchen bezaubernd aussah, zog die Blicke der
Herren auf sich. Hauptsächlich der eine am Nebentisch schien sie mit seinen Augen verschlingen zu wollen. Plötzlich stand er vor ihr und machte seine schönste Tanzstundenverbeugung. »Danke, die Dame tanzt nicht«, winkte Hartger gelassen ab, worauf der junge Mann sich mit langem Gesicht verkrümelte. Und nun hatte Ilka etwas, womit sie dem Mann, dessen reserviertes Verhalten sie ungeheuer wurmte, eins auswischen konnte. »Diese Bevormundung würde ich mir an Ihrer Stelle nicht bieten lassen, Fräulein Gerholt«, hetzte sie. Doch bevor sie antworten konnte, kam der Baron ihr zuvor. »Der Dame liegt gar nichts daran, in dem Tanzgewühl die Ellenbogen ihrer Mitmenschen in die Rippen zu kriegen und sich die Füße abtreten zu lassen.« »Das können Sie ja gar nicht wissen. Jedenfalls würde ich es mir ernstlich verbitten, wenn der Oberinspektor meines Gutes sich so eigenmächtig in meine Angelegenheiten mischen wollte – « »Aber Fräulein von Stietz!« rief Ada erschrocken dazwischen, doch der Schwager winkte gelassen ab. »Laß nur, Kleine. Die Taktlosigkeit eines Menschen fällt letzten Endes immer auf ihn selbst zurück.« Wer weiß, wozu die ungnädige junge Dame sich noch hätte hinreißen lassen, wenn nicht ein Herr an den Tisch getreten wäre, der ihnen allen bekannt war. Man begrüßte sich, wechselte einige nichtssagende Worte, dann sagte der Hinzukommende: »Ist es gestattet, daß ich Fräulein von Stietz zum Tanz entführe?« Man gestattete, und Ilka nahm den Arm des Herrn, Hartger dabei einen höhnischen Blick zuwerfend. Und kaum daß sie außer Hörweite war, machte Gundula ihrer Entrüstung Luft: »So eine impertinente kleine Kanaille!« begann sie, mußte dann jedoch in das amüsierte Lachen des Neffen einstimmen.
»Hast recht, Junge. Sie ist es wirklich nicht wert, daß man sich über sie ärgert. Es war keine gute Idee, Ada, mit ihr hierher zu kommen.« »Von mir stammt die bestimmt nicht, Tante Gundula. Sie hat mir so arg zugesetzt, bis ich, um nur Ruhe zu haben, herkam, obgleich Lutz mir deswegen zürnt«, setzte sie bekümmert hinzu. »Ilka war nämlich sehr enttäuscht, als sie Hartger in Elchen nicht vorfand. Auch auf ihre beiden Briefe hat er nicht geantwortet, wie sie mir wutschnaubend erzählte. Und da du sie hier noch so kalt abgefertigt hast, Hartger, wird ihre Wut wohl kaum noch Grenzen kennen. Ich graue mich schon davor, wenn ich mit ihr zurückfahren muß.« »Sie wird allein nach Hause fahren.« »Aber das geht doch nicht, Hartger.« »Und wie es gehen wird, mein Kind. Sündenbock bei der impertinenten Dame zu spielen, das hast du doch wahrhaftig nicht nötig. Außerdem scheint sie sich an die Bekannten anzuschließen, an deren Tisch sie soeben Platz nimmt.« »Von Schlehdorn in meinem Auto. Allerdings mußt du uns per pedes dorthin begleiten, weil wir auf die Art hergekommen sind. Wenn die beiden Damen sich ausgeruht haben, mache ich den Vorschlag aufzubrechen, denn um länger als notwendig hier zu verweilen, dafür dürfte es zu ungemütlich sein. Oder fühlen Sie sich etwa in diesem Trubel wohl, gnädiges Fräulein?« »Nein, ich finde es schauderhaft und möchte so schnell wie möglich fort. Aber um zu gehen, bin ich zu müde. Rufen Sie bitte Schlehdorn an, Baron, und bestellen Sie den großen Wagen hierher.« Er beeilte sich, dem Befehl nachzukommen. Als er zurückkehrte, sagte er zu Ada: »Ich habe auch gleich Elchen angerufen und Lutz Bescheid gesagt.« »Ist er mir noch böse?« »Nein. Er wird bis zur Stadt entgegenkommen, um mit dir
auf den Jahrmarkt zu gehen.« Oh, wie strahlte die kleine Frau da. Sie konnte es kaum erwarten, bis das Schlehdorner Auto zur Stelle war. Als sie jedoch erklärte, daß sie sich von Fräulein Stietz verabschieden wolle, die einige Tische weiter in lustiger Gesellschaft saß, hielt der Schwager sie zurück. »Hiergeblieben, Ada! Ein Mensch, der so unhöflich ist wie die Dame, hat auch keine Höflichkeit von seinen Mitmenschen zu verlangen. Es schallt immer so aus dem Wald heraus, wie man hineinruft.« »Richtig«, bekräftigte die Tante. »Dieses gutmütige kleine Schaf bekäme es tatsächlich fertig, der anmaßenden Person nachzulaufen. Übrigens hat sie schon bemerkt, daß wir aufbrechen. Hoffentlich kommt sie uns nicht nach, um ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Denn so wie ich sie seit heute beurteile, ist sie zu allem fähig.« Nein, so weit vergaß Fräulein Ilka von Stietz sich denn doch nicht. Sie erreichten unangefochten das Auto, wo der Chauffeur sich an Hartger wandte. »Soll ich den kürzeren Weg zur Stadt fahren, Herr Oberinspektor, oder den Umweg über Schlehdorn nehmen?« Zum ersten Mal war Gundula Zeuge davon, wie die Herrin einfach übergangen wurde, wie der Mann sich wie selbstverständlich mit seiner Frage an den Oberinspektor wandte. Sie empfand die Situation als äußerst peinlich und atmete erleichtert auf, als der Neffe sagte: »Da müssen wir unsere Herrin entscheiden lassen. Wie befehlen Sie, gnädiges Fräulein?« »Den kürzeren Weg. Halten Sie am Rummelplatz, Walter«, bestimmte sie in ihrer kurzen Art. Sie schien es gar nicht bemerkt zu haben, was Gundula so peinlich berührte. Man nahm Platz, und schon zehn Minuten später hielt der Wagen an erwähnter Stelle, wo Lutz Elchstorff sie bereits erwartete. Neben ihm stand Herr Haßler, der über das ganze Gesicht strahlte, als er die Damen begrüßte. »Na, dann wollen wir uns mal ins Vergnügen stürzen.«
»Sie auch?« fragte Ada lachend. »Selbstverständlich, Baronin. Möchte mich gern als Ihr Ritter anbieten, wenn ich nicht den Zorn Ihres Gatten fürchtete. Aber wie ist es mit uns, gnädiges Fräulein?« zwinkerte er Gundula verschmitzt zu. »Ich fürchte nun wie er den Zorn Ihrer Gattin«, gab sie vergnügt zurück. »Außerdem können wir sechs ja hübsch zusammenbleiben.« »Bei dem Gedränge wird sich das schlecht machen lassen«, schmunzelte Lutz. »Also nimm schon Herrn Haßlers Ritterdienste an, Gundelchen. Fräulein Gerholt läßt sich von Hartger beschützen, und ich spiele Kavalier bei meiner Liebsten. Treffpunkt in der Konditorei. Einverstanden?« »Man weiß ja noch gar nicht, ob Fräulein Gerholt überhaupt mitmachen will«, gab der jüngere Elchstorff zu bedenken. »Der Trubel dürfte nämlich nicht nach ihrem Geschmack sein. Stimmt’s, gnädiges Fräulein?« »Ach was, mitgefangen, mitgehangen«, bestimmte Gundula. »Oder willst du wirklich Spielverderber sein, Alheidis?« »Nein, ich mache mit.« Die Damen hakten sich bei ihren Kavalieren ein und gingen geschlossen zu dem großen Platz, auf dem es vor Menschen nur so wimmelte. Zuerst blieben die drei Paare auch zusammen, doch allmählich wurden sie abgedrängt. »Es ist besser, wenn ich Sie unterfasse, gnädiges Fräulein«, schlug Hartger seiner Dame vor, die ihre Fingerspitzen auf seinem Arm hielt. »Sie hängen ja wie eine Schneeflocke und können leicht abgeweht werden. Ist’s gestattet?« »Bitte.« Hartger schob den Arm unter den von Alheidis und war nun seiner Partnerin sicher. Diese schaute mit großen Augen um sich. War es doch das erste Mal, daß sie sich mitten in so einem bunten Treiben befand. Denn selbst als Kind hatte sie nie einen Jahrmarkt besuchen dürfen, weil die Mutter es zu vulgär fand, sich unter das »rohe Volk« zu mischen.
»Wenn Ihnen der Lärm auf die Nerven fällt, dann wollen wir lieber kehrtmachen«, sagte ihr Begleiter besorgt, doch sie winkte ab. »Nein, bitte. Es ist mir nur alles so neu.« »Aber nicht unangenehm?« »Bestimmt nicht.« So schoben sie denn durch das Gedränge. Von allen Seiten hörte man die Marktschreier, die Musik der Schaubuden und Karussells. Dazwischen quietschen, bliesen, quarrten und rasselten die Kinder mit ihrem Radauspielzeug, wovon sich auch mancher Erwachsene nicht ausschloß. Bunter Flitter gleißte in Buden und Verkaufsständen. Rostbratwürste lockten, belegte Brötchen, Pfefferkuchen und Süßigkeiten aller Art. Vor einer Würfelbude, in der allerlei Kleinkram ausgestellt war, blieb Hartger stehen und schüttelte die Würfel im Becher. Dreimal gab es nichts, beim vierten Mal durfte er wählen. Und zwar fiel seine Wahl auf einen Bastkorb mit schreiend rotgrünen Karos, den er stolz über den Arm hängte. »Was wollen Sie denn damit?« fragte Alheidis, die dem allen mit Spannung gefolgt war. »Meine Gewinne hineintun«, kam es vergnügt zurück. »Der Korb muß voll werden.« »Dann herzlichen Glückwunsch«, lachte sie so übermütig, wie noch nie in ihrem Leben zuvor. Ihr Begleiter lachte in sich hinein. Na warte nur, du ernsthaftes kleines Mädchen, du sollst heute noch recht vergnügt werden. Wenn dir das hier keinen Spaß macht, dann bleibst du ein Sauertöpflein dein Leben lang. Mit Vergnügen nahm er wahr, wie das bunte Treiben sie aus ihrer kühlen Reserve herauszulocken begann. Eifrig machte sie all seine Torheiten mit. Wo es nur etwas zu würfeln gab, da tat er es mit zäher Ausdauer, bis er eine Süßigkeit erwürfelt hatte, die dann in den Korb wanderte, der sich langsam füllte. Bei einem Stand, an dem es allerlei Krimskrams zu
gewinnen gab, erregte ein großer Teddybär Alheidis Entzücken. »So einen habe ich mir schon immer gewünscht, aber nie bekommen«, verriet sie eifrig, und er lachte sie an. »Welcher Teddy soll es denn sein?« »Der so herrlich zottige, braune.« »Das ist schon ein prachtvoller Kerl, den müssen wir haben. Fordern wir also Fortuna heraus.« Er kaufte einige Lose, die sich jedoch als Nieten entpuppten. Aber er ließ nicht locker, griff immer wieder in den Kasten. Nieten, kleine Gewinne von Süßigkeiten, die alle in den Korb wanderten, wechselten sich ab. Ein großes Pfefferkuchenherz in rotem Stanniolpapier, das an einem langen Band baumelte, hing er Alheidis, die vor Aufregung ganz rote Bäcklein hatte, um den Hals, mit in dem zweiten schmückte er sich. Los auf Los ging durch seine Hände, bis er endlich einen Haupttreffer erwischte und Alheidis den gewünschten Teddy in den Arm drücken konnte. Da erst zog er sie mit sich fort hinter eine Bude, wo es verhältnismäßig ruhig war. Ihr Mund lachte, die Augen strahlten wie die eines Kindes am Weihnachtsabend. »Da brauche ich gar nicht erst zu fragen, wie es Ihnen auf dem Radauplatz gefällt, gnädiges Fräulein«, schmunzelte er. »Das Herz hängt Ihnen ja direkt zum Halse heraus. Wollen mal lesen, was darauf steht: Küssen ist keine Sund – na also! Und was sagt mein Herz: Wehe, wehe, dreimal wehe, auf die Liebe folgt die Ehe. Schauerlich schön! Machen wir nicht mit, was gnädiges Fräulein? Ist nur was für Dummköpfe. So, nun ziehen wir weiter auf Raub aus.« Den rechten Arm unter den des Mädchens geschoben, über den linken den Korb gehängt, der schon fast gefüllt war, so zog er frohgemut von dannen. An einer Schießbude machte er halt, schoß mit der Sicherheit des geübten Jägers für Alheidis und sich ein keckes Jägerhütchen und mit so geschmückten Häuptern zogen sie weiter, von manchem lachenden Blick gefolgt. Wenn er die andern beiden Paare
erspähte, verkrümelte er sich rasch, weil ihm nichts daran lag, mit ihnen zusammenzutreffen. »Wie ist’s damit?« Er zeigte auf ein Karussell, das schwungvoll dahinsauste. Dazu spielte die Musik mehr laut als schön, aber das gehörte nun mal dazu. »Wollen wir es wagen, gnädiges Fräulein?« Sie nickte strahlend, und schon zog er sie durch das Gewühl bis zum Karussell hin, hob sie in den Wagen, der von zwei Schwänen gezogen wurde – und fort ging’s in atembeklemmendem Tempo. Als er sah, wie sie sich angstvoll an die blitzende Stange klammerte, umfaßte er sie und zog sie dicht zu sich heran. Hei, wie das ging, blitzschnell wie der Wind! Bergauf, bergab, gerade und schräg. Die Musik dudelte, die Burschen pfiffen, die Mädchen kreischten. Nicht genug bekommen konnte Alheidis von der tollen Fahrt, bis Hartger ein Machtwort sprach und sie aussteigen mußte. Sie taumelte, als sie festen Boden unter den Füßen hatte, lachte ihn an und war glücklich – so aus vollem Herzen glücklich. Wenn er vorschlug, den Platz zu verlassen, fand sie immer noch etwas, das sie unbedingt mitmachen mußte. Sie schien Zeit und Stunde vergessen zu haben. Wie ein störrisches Kind mußte er sie schließlich von dem Rummelplatz ziehen, auf dem die stolze, hochmütige Herrin von Schlehdorn auf Stunden glücklich gewesen war – restlos glücklich. In der Konditorei warteten die andern beiden Paare auf die Säumigen. Man wollte sich ausschütten vor Lachen über das verwegene Pärchen, das gar herrlich geschmückt daherkam. Das Mädchen hielt den Teddy fest ans Herz gedrückt, der Mann trug stolz den leuchtendbunten Korb, der bis zum Rande gefüllt war. »Na ihr habt ja gut gehamstert«, lachte Gundula, verstohlen dabei in das strahlende Gesicht ihrer jungen Herrin blickend. »Ich habe mir die Augen nach euch ausgeschaut, konnte euch jedoch nirgends entdecken.« »Was schmunzeln Sie denn so, Herr Haßler?« fragte
Alheidis. »Ich lese eben die Aufschrift Ihres Herzens, meine kleine Gnädige. Richten Sie sich danach – und Sie werden selig, seliger als Ihr Partner, dem nach der Liebe die Ehe winkt, was wiederum sein Herz verrät. Wehe, wehe, dreimal wehe…! Aber da taucht ja unser Nachbar Gerholt auf. Schon hat er uns erspäht…« Wie ein kalter Reif legte es sich auf Alheidis’ Freude, als ihr Vater mit seiner Familie an den Tisch trat. Während er die anderen begrüßte, hörte sie eine raunende Stimme an ihrem Ohr: »Nicht abweisend werden, gnädiges Fräulein, sondern die frohe Laune behalten. Heut ist heut, der graue Alltag kommt morgen schon von selbst – « Sie schaute mitten in Hartgers bittende Augen hinein, der neben ihr saß – und da lachte sie schon wieder. Begrüßte den Vater nebst den Seinen unbefangen und zuckte auch nicht zurück, als ersterer ihre glühende Wange streichelte. »Alheidis, mein liebes Kind, wie bin ich glücklich, dich so froh zu sehen«, sagte er leise, nur ihr verständlich. Konnte sich nicht sattsehen an seiner Tochter, die er noch nie so zauberhaft schön gesehen hatte. Das fanden auch die andern, hüteten sich jedoch, es laut werden zu lassen. Man konnte bei der kleinen Mimose nie wissen, wie sie es auffaßte. In den letzten Tagen des Monats erhielt Gundula von einer alten Verwandten einen Brief, in dem diese herzlich um ihr Kommen bat, weil ihre langjährige Gesellschafterin sich einer Operation unterziehen mußte. Solange die Getreue im Krankenhaus lag, war die alte Dame einsam. Gundula, die aber der Tante viel verdankte, mochte ihr die Bitte ungern abschlagen. Wiederum wollte sie auch Alheidis nicht allein lassen, die mehr denn je Aufmunterung brauchte. »Natürlich fährst du«, erklärte die junge Herrin von Schlehdorn in ihrer bestimmten Art, als Gundula mit ihr über den Brief der Tante sprach. »Die alte Dame hat dich
nötiger als ich.« »Das möchte ich nicht so ohne weiteres behaupten«, entgegnete das Fräulein trocken. »Auf dich muß man nämlich aufpassen wie auf ein kleines Kind, damit du die notwendige Nahrung zu dir nimmst. Ich mache mir Sorgen um dich, Alheidis.« »Wie töricht, Gundchen. Ich verspreche dir, mich während deiner Abwesenheit aufzunudeln wie eine Weihnachtsgans.« »Es ist nicht das allein, Herzchen. Ich fürchte, daß du ohne mich in Trübsinn versinkst.« »Aber Tante Gundula! Es ist eben nicht meine Art, sehr munter zu sein. Du mußt mich schon so nehmen, wie ich von Natur aus bin. Fahre nur, die wenigen Wochen komme ich schon ohne dich zurecht obgleich ich dich sehr vermissen werde.« »Das war ein gutes Wort, mein Mädchen«, sagte die Dame gerührt. »Wenn ich mich bloß um die Reise herumdrücken könnte, dann täte ich es bestimmt. Vielleicht kann ich der Tante eine Vertretung besorgen.« »Dazu mußt du erst einmal dort gewesen sein. Und nun Schluß. Du fährst und damit holla!« Also trat Gundula schweren Herzens die notwendige Reise an. Alheidis vermißte sie sehr. Ohne ihre Getreue wußte sie einfach nichts mehr mit sich anzufangen. So schrecklich allein war sie sich noch nie in ihrem Leben vorgekommen. Sie ging durch ihre Tage wie ein Mensch, der keine Hoffnung mehr hat. Hartger Elchstorff… Oh, daß sie diesen Namen nie gehört, den Mann, der ihn trug, nie gesehen hätte! Wie wohl wäre ihr dann. Um nur nichts von ihren Gefühlen zu verraten, wurde sie gegen ihn schroff und ungerecht. Es war erstaunlich, wie viel der sonst so stolze Mann sich von dem kleinen ungnädigen Mädchen bieten ließ. Bis Alheidis eines Tages die Nerven verlor und sich hinreißen ließ, was nie hätte geschehen dürfen. Die Ursache dazu war gering.
Als nämlich der Kämmerer den Oberinspektor etwas fragte, während die Herrin dabeistand, da geschah es. Warum? Das wußte sie wohl selbst nicht. Kaum daß der Mann sich entfernt hatte, machte sie dem Oberinspektor Vorwürfe schroffster Art. Er maße sich Rechte an, die unerhört wären. Die Herrin von Schlehdorn wäre immer noch sie. Er sah sie nur an, als ob sie ihm leid täte, wandte sich weinend ab, ging – und Alheidis hatte das Gefühl, als wanke der Boden unter ihren Füßen. Und dann stand sie am Fenster, sah auf den Hof hinaus und wartete mit angstzitterndem Herzen auf das, was unweigerlich kommen mußte. Trostlos sah es draußen aus. Der Regen rieselte unaufhörlich vom grauverhangenen Himmel. Wie anklagend streckten die Bäume die fast entlaubten Äste in die Luft. Was noch daran hing, war welk und braun. Klagend sang der Wind sein Lied vom Sterben und Verderben. Unverwandt starrte Alheidis auf die Tür, die zur Wohnung des Oberinspektors führte. Gleich würde er aus ihr heraustreten, auf das Herrenhaus zukommen… Und dann – und dann… Qualvoll stöhnte sie auf. Ein dumpfer Schmerz bohrte in ihrem Herzen, der es langsam auseinanderzuzerren schien. Wenn er doch endlich kommen würde – und so alles vorüber wäre. Das ließ sich gewiß leichter ertragen, als dieses entsetzliche Warten. Aber war es denn so sicher, daß er überhaupt kam? Er konnte seine Kündigung ja auch schriftlich einreichen. Dafür war heute, der erste November, der richtige Termin. Mit beiden Händen umklammerte sie den Kopf, in dem es zerrte und riß. Jetzt nur etwas unternehmen, sich ablenken, sonst wurde sie noch wahnsinnig. Mechanisch stellte sie den Rundfunk an, ließ sich in den danebenstehenden Sessel sinken und horchte fast widerwillig auf den Gesang. Was die Stimme da klagte, war wie für sie bestimmt. Ach, ich habe sie verloren, all mein Glück ist nun dahin,
war, o war ich nie geboren, weh daß ich auf Erden bin… Sie drückte das Gesicht in die Hände und weinte, als müßte sie sich das Herz aus der Brust schluchzen. Sie war so vertieft in ihren Jammer, daß sie den Mann nicht bemerkte, der in der Tür stand und betroffen auf das unglückliche Menschenkind schaute. Leise schloß er die Tür und ging nachdenklich davon. Was mochte das allzeit beherrschte Mädchen so sehr aus der Fassung gebracht haben, daß es so herzzereißend weinen mußte? Denn wegen einer Lappalie vergoß Alheidis Gerholt gewiß keine Tränen. Jedenfalls war jetzt nicht der rechte Augenblick, sie um seine Entlassung anzugehen, weswegen er sie aufgesucht hatte. Scheußliches Gefühl, eine Frau weinen zu sehen – und dazu noch Alheidis Gerholt – dieses stolze, hochmütige, süße, törichte kleine Mädchen. Ganz erbärmlich war ihm zumute! Als er aus der Portaltür trat, wäre der Rentmeister fast gegen ihn gerannt. »Hallo, Herr Schraut, warum so eilig?« »Herr Baron, ich habe Sie gesucht wie eine Stecknadel – meine Frau…« Ein Blick in das verstörte Gesicht des Mannes, und Hartger war im Bilde. »Nun, man nicht so aufgeregt, lieber Freund. Es wird so schlimm nicht werden.« »Ist es schon.« Der Verzweifelte raufte sich buchstäblich die Haare. »Ich glaube, die Ärmste schafft es nicht mehr bis zur Klinik. Es kam alles so unvorbereitet. Helfen Sie, Baron!« »Ja, indem ich Arzt und Hebamme hole…« Schon rannte er davon, machte den großen Wagen flott und sauste ab. In unwahrscheinlich kurzer Zeit erschien er mit den Helfern, und eine Viertelstunde später war der Rentmeister Vater eines strammen Jungen. Er benahm sich so närrisch, wie ein Mensch sich nur benehmen kann, schüttelte Hartger fast die Hand aus dem Gelenk.
»Baron, wenn Sie nicht gewesen wären! Es hätte schwarz werden können – ganz schwarz.« »Was, das Kind. Sie verdrehter Kerl. Das ist doch sicher rosenrot. Wie geht’s dem kleinen Mütterchen?« »Gut. Es lacht und strahlt. Ist das eine Frau! Lieber Gott, ich danke dir, daß ich dich erwischt habe…« Schon war er davon, und der Baron sah ihm kopfschüttelnd nach. Daß Freude so närrisch machen kann, hätte er nicht geglaubt. Aber aufregend war so was schon. Ihm steckte der Schreck noch in den Gliedern, obgleich ihn das alles gar nichts anging. Hoffentlich fühlte die Herrin sich nicht wieder einmal übergangen, daß er ihr Auto genommen hatte, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Aber dazu war wirklich keine Zeit gewesen. Wenn sie das nicht einsah, dann ließ sie es bleiben. Doch sie sah es ein, nachdem sie erst erfaßte, worum es ging. Vom Fenster aus beobachtete sie, wie der Oberinspektor mit dem Auto absauste. Warum, wurde ihr klar, als später zwei Personen aus dem Wagen stiegen und eiligst im Inspektorhaus verschwanden. Die hätten im Zweisitzer des Oberinspektor keinen Platz gefunden – daher also… Ob er nun zu ihr kam? Nein, er verschwand in der Haustür, die zu seiner Wohnung führte. Fünf Minuten später trat er wieder ins Freie. Er war mit einem Regenmantel bekleidet und trug die Flinte über der Schulter. Rasch schritt er über den Hof und war dann ihren Augen entschwunden. Also hieß es für sie immer länger warten. Wie das peinigte und quälte, wie das an ihrem Herzen zerrte und riß. Durfte sie hoffen – oder würde sie morgen sein Kündigungsschreiben erhalten? Alheidis lief im Zimmer auf und ab, begann dieses und jenes, allein, die quälenden Gedanken ließen sich nicht ablenken. Nervös fuhr sie zusammen, als der Fernsprecher anschlug. Hob den Hörer auf – und erblaßte bis in die Lippen über das, was sie zu hören bekam.
»Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, daß ich Sie belästigen muß«, sprach am anderen Ende eine Stimme, die ihr Herz erzittern ließ. »Ich habe schon mehrere Male die Rentmeisterei angerufen, doch da meldet sich niemand. Nun ist mir ein kleines Malheur passiert, das es mir unmöglich macht, nach Schlehdorn zurückzukehren. Wollen Sie die Güte haben und dem Rentmeister Bescheid sagen, daß er mich mit meinem Auto von der Jagdhütte abholen möchte?« »Was ist Ihnen denn geschehen?« fragte sie mit einer Stimme, die ihr kaum gehorchen wollte. »Nichts von Bedeutung, gnädiges Fräulein. Der Kopf sitzt jedenfalls noch an seinem richtigen Platz«, setzte er mit dem Lachen hinzu, das sie so sehr liebte, jetzt jedoch als Qual empfand. Sie mußte erst einige Male ansetzen, ehe sie sagen konnte: »Ich werde alles Nötige veranlassen.« »Verbindlichsten Dank.« Sie hörte am Knacken in der Leitung, daß er den Hörer aufgelegt hatte, tat dasselbe – und mußte sich erst einmal setzen, weil ihr die Knie weich wurden. Sie zitterte vor Erregung, die Hände waren eiskalt, der Kopf glühte, hinter dessen Stirn die Gedanken rasten. Ja, was saß sie denn noch hier, wo er sicherlich Hilfe brauchte? Jetzt sich nicht lange mit Wenn und Aber herumschlagen, sondern handeln. Hastig warf sie den Regenmantel über, hastete zur Garage, brachte den Zweisitzer in Gang und fuhr dem Wald zu. Die Hände konnten das Steuer kaum halten, so sehr flatterten sie. Obwohl sie kaum drei Kilometer zurückzulegen hatte, schien es ihr, als führe sie schon stundenlang. Endlich war die Stelle erreicht, wo sie halten mußte. Sie sicherte den Wagen und lief den Waldpfad entlang, der zur Jagdhütte führte. Als sie davor stand, hatte sie das Gefühl, als müßte ihr das Herz zum Halse herauskommen, so raste sein Schlag. Es wurde ihr schwarz vor den Augen.
Jetzt nicht schlappmachen, erst wissen, wie es ihm ging. Mühsam öffnete sie die Tür, sah wie durch einen Schleier Hartger Elchstorff auf dem alten Kanapee sitzen. Sein Bein war umwickelt, um die Stirn ein Verband gelegt. Da stöhnte sie auf und sank in sich zusammen. Der Mann erschrak bis ins tiefste Herz. Mühsam humpelte er auf die Gestalt zu, die regungslos am Boden lag. Seiner Schmerzen nicht achtend, die ihm der verletzte Fuß bereitete, hob er unter unsagbarer Anstrengung die Ohnmächtige auf die Arme und trug sie mühsam zu dem Polster. Rasch setzte er sich dazu, weil der Schweiß ihm aus allen Poren brach und der Raum sich vor seinen Augen zu drehen begann. Verflixt, das war ja ganz abscheulich! Wenn auch er noch zusammensackte, das konnte gut werden. Doch davon blieb er gottlob verschont. Das Schwächegefühl wich allmählich, die Nebel vor den Augen schwanden, und er konnte wieder klar denken und sehen. Angstvoll hing sein Blick an dem todblassen Gesicht des Mädchens, an dem Mund, der wie im Schmerz verkrampft war. Ja, da mußte nun etwas geschehen. Er konnte das arme Ding doch nicht so liegen lassen. Die Schmerzen verbeißend, humpelte er zum Schrank, entnahm ihm eine Flasche mit belebender Essenz, humpelte zu der Ohnmächtigen zurück, rieb Stirn und Schläfen mit der scharfriechenden Flüssigkeit, benetzte die Lippen damit und bemerkte dann aufatmend, wie die Lider zu zucken begannen. »Gnädiges Fräulein, hören Sie mich?« »Ja«, kam es leise wie ein Hauch. »Versuchen Sie einmal kräftig zu atmen.« Damit hielt er ihr die Flasche unter die Nase. Erst schwach, dann immer stärker zog sie den starken Geruch ein. Die gesunde Farbe kam langsam in ihr Gesicht zurück – und dann schlug sie plötzlich die Augen auf. »Baron…«, flüsterte sie. »Ruhig bleiben, gnädiges Fräulein«, beschwichtigte er.
»Erst muß – ich wissen – ob -Sie…« »Noch leben?« lachte er in ihr Gestammel hinein. »Aber sehr! Mein Fuß ist verknacks, und mein Kopf hat ein Löchlein. Mehr habe ich nicht aufzuweisen.« »Wie konnte das – geschehen…?« »Ganz einfach. Ich stolperte über eine Baumwurzel und schlug mit dem Schädel auf einen spitzen Ast. Aber jetzt muß ich gehörig mit Ihnen zanken, weil Sie hierher gekommen sind, obgleich Sie sich nicht wohl fühlten, wie die Ohnmacht bewies. War denn der Rentmeister nicht zu erreichen?« »Das weiß ich nicht«, entgegnete sie leise. »Ich mußte kommen – weil ich wollte – weil ich habe… Ach, es ist doch so entsetzlich schwer.« »Was denn, gnädiges Fräulein?« fragte er mit tiefer, weicher Stimme, die ihr Herz in Aufruhr brachte. »Wenn Sie nicht sprechen mögen, dann tun Sie es bitte nicht.« »Ich muß aber doch«, rief sie verzweifelt. »Muß Sie um Verzeihung bitten – weil ich – « Es blitzte überrascht in seinen Augen auf. Das sah ja ganz nach rabenschwarzem Gewissen aus – oder gar Reue. Aber erst mal abwarten. Bei der kleinen Mimose mußte man es können, wenn man sich nicht sozusagen in die Nesseln setzen wollte. Er zuckte mit keiner Wimper, als sie flehend bat: »Kommen Sie mir doch zu Hilfe, Baron – so ein ganz klein wenig nur – « »Wenn ich doch keine Ahnung habe von dem, was Sie mir sagen wollen.« »Wie tue ich es nur – «, kam es so kläglich heraus, daß er nur mit Mühe ein Lachen1 unterdrücken konnte. »Fallen Sie doch mit der Tür ins Haus«, riet er harmlos. Da setzte sie sich auf. Ihre Augen wirkten fast schwarz in dem nun wieder erblaßten Gesicht. Die Lippen zuckten, die dann wie zornig die Worte formten: »Schön, falle ich mit der Tür ins Haus. Also: Nehmen Sie Ihre Kündigung zurück, Herr Oberinspektor.«
»Aber ich habe eine solche ja noch gar nicht ausgesprochen«, war er nun wirklich überrascht. »Allerdings hatte ich es vor, kam deshalb zu Ihnen und sah Sie weinen…« Sie zuckte zusammen und drückte das Gesicht in die Hände, durch die Tränen tropften. »Gnädiges Fräulein, wollen Sie mir nicht sagen, was Sie quält?« fragte er behutsam, doch ein heftiges Kopfschütteln war die Antwort. »Ja, dann kann ich Ihnen leider nicht helfen – und ich täte es doch so gern.« Die Hände sanken vom Gesicht. In den Augen lag ein Ausdruck, der mehr als viele Worte verriet. Aber noch hielt der Mann an sich, obwohl er in dem Mädchengesicht wie in einem offenen Buch zu lesen glaubte. Wie rührend es wirkte, als sie nun bettelte: »Baron, sind Sie mir – sehr böse?« »Nein, gnädiges Fräulein.« »Dann – dann gehen – Sie nicht fort?« »Wenn Sie schön darum bitten, daß ich bleibe, dann nicht.« »Ja, o ja«, atmete sie auf. »Das will ich mehr als einmal. Und nun ist alles gut.« »Alles – gnädiges Fräulein…?« Verwirrt von seinem seltsamen Ton, errötete sie, schlug die Augen nieder und saß nun da wie ein kleines Mädchen, das in seines Herzens süßester Not nicht mehr aus noch ein weiß. Die Finger verschlangen sich im Schoß, der Mund öffnete und schloß sich automatisch. »Kleine dumme Alheidis«, traf es da wie ein Hauch ihr Ohr. Zaghaft hob sie den Blick – und was sie da in seinen Augen las, ließ ihr den Atem stocken. Wie abwehrend streckte sie die Arme aus, stammelte fast entsetzt: »Aber – das – geht – doch – nicht – « »Warum nicht?« fragte er tiefernst. »Täusche ich mich etwa, wenn ich annehme, daß ich Ihnen nicht ganz gleichgültig bin?«
»Nein, gewiß nicht.« Die Augen flackerten vor Erregung in dem todblassen Gesicht. »Aber ich bin die – Besitzerin von Schlehdorn – und ich habe gehört, wie Sie zu Ihrem Bruder sagten, daß Sie nie – Knecht – sein könnten…« »Alheidis, das haben Sie gehört?« fragte er erschüttert. »Dann läßt sich vieles erklären. Ich muß schon sagen, daß ich… mich da ganz gehörig festgefahren habe. Und wenn Sie mir nun nicht behilflich sind, mein Lebenswägelchen wieder flottzumachen, dann bleibe ich damit stecken bis an mein Lebensende.« »Wenn ich nur wüßte wie – « »Einige Worte genügen.« »Darf ich dann sagen: Was mein ist – ist auch dein?« kam es so demütig heraus, daß der Mann nun nicht mehr länger an sich halten konnte, sondern das bezaubernde Geschöpf in seine Arme zog. Aber er küßte noch nicht den Mund, der so verlockend zu ihm emporblühte, nahm nur das weiche Antlitz wie eine Kostbarkeit in seine Hände und sagte mit tränendunkler Stimme: »Hör zu, Alheidis: Gottlob habe ich es nicht nötig, bei dir Knecht – zu sein, weil ich einen guten Batzen deinem Besitz in die Waage zu werfen habe. Ich will ja auch nicht Schlehdorn, ich will dich – die ich so unsagbar liebe.« »Oh – «, stammelte sie ordentlich erschrocken. »Oh – dann bin ich ja so unendlich – glücklich – « Verschämt drückte sie ihr heißerglühtes Gesicht gegen seine Schulter, und er lachte so herzlich, so frei, frisch und froh, wie nur ein Mensch lachen kann, dem so recht wohl in seiner Haut ist. »Das beruhigt mich ungemein, du stachelige kleine Person du. Du hast nämlich eine ganz verflixte Art, deine Mitmenschen zu peinigen. Aber mich verschone fortan damit, sonst desertiere ich. Herrin von Schlehdorn sollst du bleiben, aber nicht für mich. – Nun hebe dein Köpfchen und sage auch mal was. Ich komme mir bereits wie ein Mensch vor, der sich gern reden hört.« »Ich mache es kürzer.« Ihre Augen strahlten ihn an wie
zwei Sonnen. »Ich sage nur: Ich – hab – dich lieb – « Was weiter geschah, war unausbleiblich. Vier Lippen vergnügten sich bei dem uralten und doch ewig neuen Spiel. In zwei Herzen sang das uralte, ewig neue Jubellied der Liebe. Das Mein und Dein spielte bei so heißer, beseligender Liebe keine Rolle mehr, das war zusammengeschweißt zu einem festgefügten Ganzen. Freudig trat das stolze Mädchen seine Herrinnenwürde an den Mann ab, dem es mit ganzem Herzen und ganzer Seele verfallen war. »Du hättest tatsächlich deinen Dienst gekündigt?« fragte sie endlich. »Ohne weiteres. Ich war ja deswegen schon bei dir. Als ich dich jedoch so bitterlich weinen sah, wurde mein Herz weich wie Butter.« »Wie schön«, lächelte sie so ein ganz klein bißchen niederträchtig. Er nahm sie bei den rosigen Ohren und stieß seinen Kopf gegen den ihren. »Nicht, Hartger, das muß dir doch weh tun«, sagte sie erschrocken und zugleich beschämt, daß sie in ihrem Glück seinen Unfall vergessen konnte. »Hast du arge Schmerzen?« »Bisher spürte ich sie vor Freude nicht. Aber jetzt fangen sie langsam an, sich bemerkbar zu machen.« »Da hast du Ärmster mich noch vom Boden heben und hierher schleifen müssen. Ich schäme mich, so schlappgemacht zu haben.« »Laß nur, sonst wären wir längst noch nicht so weit. Du apartes Personellen mußtest eben auch bei deiner Verlobung etwas Apartes haben. Doch was spielst du andauernd mit dem Medaillon an deinem Hals und siehst mich dabei so – na, sagen wir mal – niederträchtig an.« »Oh – es ist mein Talisman.« »Nichts Besonderes.« »Für mich schon. Soll ich die Kapsel mal öffnen?« »Wenn es sein muß.« Gleich darauf starrte er nicht gerade geistreich auf den
Inhalt des goldglänzenden Dinges. Auf einer Seite sein Bild, auf der andern ein – Veilchen… Und dann perlte ein Lachen über die jungroten Lippen, einfach betörend in seiner klingenden Süße. »Oh, du Mann mit der langen Leitung!« »Da soll doch gleich. Alheidis, warst du etwa das Veilchen?« »Ich habe mir erlaubt.« »Ach, ich Tölpel! Da bildet man sich ein, nicht gerade auf den Kopf gefallen zu sein – und nun. Aber da sieht man doch wieder einmal, daß so ein Herz unbestechlich ist. Wie habe ich nach meinem Veilchen, das mich so ganz und gar betörte, gesucht. Zuerst fieberhaft, dann geruhsamer – doch fort und fort - immer noch, gestern noch. Du raffinierte kleine Person hast mich ja gut am Bändel gehabt.« »Das freut mich. Ach, Hartger, wie habe ich gehofft, gebangt und gelitten. Ich liebte dich, wohl schon gleich, als ich dich sah. Und du warst so eiskalt. Um dich nur einmal anders zu sehen, denn nur als korrekten Oberinspektor, deshalb habe ich mich ja nur auf die Redoute geschlichen – und dann deine betörende Art – dein Kuß.« »Es war gräßlich!« »Danke, soll das etwa ein Kompliment sein?« »Nur.« »Dann bin ich beruhigt. Was sind wir beide doch töricht gewesen. Liebe hier, Liebe da – dazu Stolz gegen Stolz. Bei uns hat das Schicksal noch gnädig gewaltet, aber in vielen Fällen tut es das nicht. Wie heißt es doch bei Geibel: Oh, Stolz war schlimm, das eine Wort blieb ungesprochen. So schieden sie. Ja, sieh mich nur so entsetzt an. Bald hätten wir das auch von uns sagen können.« Bang sah sie in sein tiefernstes Gesicht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die er zärtlich fortküßte. Seine Stimme klang unendlich weich, als er sagte: »Wir wollen uns das eine Warnung sein lassen für unser
ferneres Leben, mein Liebstes. Es nie zu einem Mißverständnis kommen lassen, hörst du?« »Ja, Hartger. Ich bin klein geworden in meiner Liebe zu dir.« »Also nicht mehr die Herrin von Schlehdorn?« neckte er. »Das bin ich schon längst nicht mehr«, entgegnete sie kläglich. »Ich will es ja auch gar nicht mehr sein.« »Für die andern mußt du es sogar, Alheidis. Doch jetzt müssen wir aus unsern sieben Himmeln für ein Weilchen auf die Erde zurückkehren. Wie komme ich nach Hause? Bist du mit dem Auto hier?« »Ja, mit deinem, das ich jedoch am Fahrweg stehen lassen mußte, weil der Waldpfad hierher zu schmal ist.« »Nun, die kurze Strecke schaffe ich es schon.« Es ging tatsächlich besser, als zu befürchten war. Alheidis bot ihm so gute Hilfestellung, daß er den verletzten Fuß nur wenig aufzusetzen brauchte. Der war nur vertreten, wie der Arzt später feststellte. Eine zwar schmerzhafte, jedoch nur harmlose Angelegenheit, die in wenigen Tagen behoben sein würde. Über die Wunde an der Stirn verlor der alte Herr kaum ein Wort. Er klebte ein Pflaster darauf und überließ die Heilung der Natur. Am nächsten Sonntag, an dem der November seinem Namen alle Ehre machte, saß man in Kiwitten beim Nachmittagskaffee. In dem traulichen Gemach spürte man nichts von Regen und Sturm, der draußen wütete. Zentralheizung und Kamin sorgten für mollige Wärme, Kaffee und Kuchen für Sättigung und die lustigen Gespräche für frohe Stimmung. Eben hatte man von Hartger gesprochen, der plötzlich in der Tür stand – und noch jemand, dessen Anblick der Familie den Atem stocken ließ… Der Hausherr faßte sich zuerst und trat seiner Tochter entgegen, die ihn freundlich anlachte. »Alheidis, mein liebes, liebes Kind«, sagte er mit schwankender Stimme. »Sei uns herzlich willkommen. Und so glücklich siehst du aus…«
»Kunststück – als meine Braut – «, unterbrach Elchstorff ihn schmunzelnd. Vier Worte nur, die jedoch von so ungeheurer Bedeutung waren, daß man von Salzsäule sprechen konnte, zu denen fünf Menschen erstarrten. Edgar Gerholt sah so hilflos aus wie ein Kind, das die Mutter allein gelassen hat. Seine Frau machte ein Gesicht, als ob sie weinen wollte, und ihre drei Kinder hatten wohl noch nie so dämlich dreingeschaut wie in diesem Augenblick. Hartgers herzliches Lachen, in das Alheidis einfiel, löste endlich die Erstarrung. Nicht wiederzuerkennen war die hochmütige Herrin von Schlehdorn mit den Augen, aus denen das Glück nur so leuchtete. So strahlend hatte der Vater sein Kind noch nie gesehen. »Aber Papa, nun komme doch endlich zu dir«, neckte sie mit allerliebster Schelmerei, die auch neu an ihr war. »Ist es denn so schwer zu begreifen, daß ich Hartgers Braut bin?« »Kind, Kind – «, murmelte er – und dann brach die Freude bei ihm durch. Er zog das Mädchen in die Arme, küßte und streichelte es. Schämte sich der hellen Tränen nicht, die über sein Gesicht liefen. Dann rief er seine Frau herbei, die sich der Gruppe nicht zu nähern gewagt hatte. »Komm her, Irene. Sag unserer Tochter, wie glücklich wir sind, sie endlich bei uns zu haben – und daß sie uns einen Schwiegersohn bringt, wie wir uns einen lieberen gar nicht denken können. Sie wird lieb zu dir sein. Schau nur, wie sie dich anlacht.« »Alheidis – «, sagte die Frau zwischen Lachen und Weinen, indem sie die Stieftochter in die Arme schloß, die ihr durch ihre Unzugänglichkeit manch trübe Stunde bereitet hatte. »Kind, du bringst uns ja eine glückselige Freude ins Haus.« Nun waren auch die beiden Mädchen nicht mehr zu halten. Jubelnd umringten sie die große Schwester, vor der sie kein bißchen Scheu mehr hatten. Bernd näherte sich ihr in männlicher Würde, aber der Druck seiner Hand ließ sie schmerzhaft fühlen, daß er die Freude der andern teilte.
Nachdem der Sturm sich gelegt hatte, nahm man am Kaffeetisch Platz, konnte jedoch vor Aufregung kaum etwas genießen. Man bestürmte das Brautpaar mit Fragen wie, wo und wann es sich gefunden hatte. Bernd wollte es schon vorher gewußt haben, was man natürlich anzweifelte. »Ihr harmlosen Gemüter«, bemerkte er herablassend. »Daß die beiden lichterloh brannten, weiß ich schon seit dem Rummel, wo ich sie heimlich beobachten konnte. Traulich vereint strolchten sie dahin, und als im Karussell, wo ich hinter ihnen meinen Platz hatte, der Herr Oberinspektor die Herrin von Schlehdorn kühn in den Arm nahm, was die sonst so Unnahbare friedlich duldete, da konnte mir keiner mehr ein X für ein U vormachen. Ich schwieg über meine Beobachtungen, weil ich Paps nicht beunruhigen wollte!« Eine stürmische Heiterkeit brach los, in die Hartger hineinrief: »Na warte, du Schlingel, hier so aus der Schule zu plaudern! Das streichen wir ihm schwarz an, was, mein Herzliebelein?« »Ich finde, daß er lange genug seinen Mund gehalten hat«, nahm Alheidis den Angegriffenen in Schutz. »Wir werden sicherlich gute Freunde werden, nicht wahr, Bruder Bernd?« »Und ob, Schwester Alheidis. Du bist nämlich goldrichtig.« »Und so wunderschön«, schmiegte Irmela sich an sie. »Schau nur, Mutti, was für herrliche Haare sie hat. Oh, wie bin ich stolz auf meine große Schwester!« »Wenn das kein Kompliment ist«, schmunzelte der Vater, der heute so von ganzem Herzen glücklich war. Seine Frau, deren Herz ein gleiches Gefühl erfüllte, wandte sich mit spitzbübischem Lächeln an Hartger. »Also doch nicht -Veilchen?« »Fehlgedacht – «, gab er schadenfroh zurück. »Mein Herz ist mehr denn je von Veilchenduft erfüllt.« »Laß dir das nicht gefallen, Alheidis«, hetzte sie. »Ich an deiner Stelle würde eifersüchtig sein.« »Auf mich?« fragte sie harmlos.
»Nein, auf Hartgers angeschwärmtes Veilchen.« »Das bin ich doch«, wollte sie sich nun über Irenes verblüfftes Gesicht halbtot lachen. Hartger war barmherziger und gab humorvoll die Narretei zum besten, was natürlich einen Heiterkeitsausbruch zur Folge hatte. Von allen Seiten wurde er geneckt, was er sich auch gutmütig gefallen ließ. Gerholt, der sich so ganz wohl in seiner Haut fühlte, meinte schmunzelnd: »Wie wäre es, Fraule, wenn wir die Elcher herbitten würden und wir gemeinsam Verlobung feierten?« »Mit Freude bin ich dafür, Edgar. Das sind wir unserer Tochter schuldig. Auf die verblüfften Gesichter bin ich gespannt.« O ja, sie waren verblüfft, was bei Ada allerdings nicht lange anhielt. Sie war halb närrisch vor Freude. Beteuerte immer wieder, wie glücklich sie über ihre Schwägerin wäre. Lutz zeigte seine Freude weniger stürmisch. Er nannte seinen Bruder einen Glückspilz und sah Alheidis verliebt an. »Potztausend, Hartger, da hast du dir ja was ganz Bezauberndes auf den Hals geladen. Wenn ich durch meine Frau nicht gegen Liebe gefeit wäre, dann bliebe mein Herz ganz gewiß an dieser kleinen Schönheit hängen.« »Untersteh dich!« machte Ada ihm eine Faust. »Ich kratze dir und ihr die Augen aus. Hach, was habe ich bloß für eine Mordsfreude! Schon wegen der gräßlichen Ilka Stietz. Wenn die erfährt, daß Alheidis ihr den Hartger weggeschnappt hat, dann gibt es Wutanfälle noch und noch.« Die gab es tatsächlich, und die armen Eltern hatten dabei nichts zu lachen. Die Verlobung wirbelte überhaupt viel Staub auf. Zu denen, die sich herzlich darüber freuten, gehörte auch Haßler. »Eigentlich haben Sie Ihr Glück nur mir zu verdanken, verehrtes Brautpaar«, schmunzelte er bei der Gratulation. »Hätte ich diesen Prachtkerl nicht der bezaubernden Herrin von Schlehdorn aufgedrängt, dann gäbe es zwei glückliche
Menschen weniger auf der Welt.« Sollte man ihm recht geben? Hocherfreut zeigten sich auch der Rentmeister und seine Frau, die sich auf ihre Mutterwürde viel zugute tat. Sie bat die Verlobten, Patenschaft bei ihrem Jungen zu stehen, damit er ein gutes Vorbild hätte. Ingo Schraut beteuerte, nun noch einmal so gern in den Büchern zu »Haben« und zu »Sollen«, weil es für das charmanteste Paar geschähe. Sehr zufrieden waren die Gutsleute über die Verlobung. Sie hielten es nun für gut und richtig, daß sich zwei Menschen zusammentaten, die schon weit über ein Jahr an einem Strang zogen. Sie blähten sich ordentlich vor Stolz über ihre Herrschaft. Und dann Gundula. Die Überraschung warf sie fast um, als sie nach Schlehdorn zurückkehrte. Dann lachte und weinte sie in einem Atemzug vor Freude, pries den Herrgott in allen Tonarten, daß er wieder einmal so ein prächtiges Paar zusammenführte. Zärtlich streichelte sie Alheidis, die sich glücklich an sie schmiegte. »Nun, mein Mädchen, jetzt hast du gut lachen, wie? Ja, ja, was doch die Liebe so alles zuwege bringt. – Doch wie ist es nun.« Sie zwinkerte verschmitzt. »Soll er dein Herr sein?« »Als ob er das nicht schon längst wäre.« Alheidis zog eine Grimasse! »Seitdem er auftauchte, war sie nur noch eine Staffage – die Herrin von Schlehdorn.« -ENDE-