Nr. 314
Die Herrin von Teimabor In der Oase der Schattenkullja von Marianne Sydow
Sicherheitsvorkehrungen haben verhi...
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Nr. 314
Die Herrin von Teimabor In der Oase der Schattenkullja von Marianne Sydow
Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der Berserker – er wurde beim letzten Auftauchen von Atlantis oder Pthor auf die Erde verbannt und durch einen »Zeitklumpen« relativ unsterblich gemacht – sind die einzigen, die den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Leiter der Invasion ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Und so landen Atlan und Razamon an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und der Schrecken. Das Ziel der beiden Männer, zu denen sich inzwischen der Fenriswolf gesellt hat, ist, die Herren der FESTUNG, die Beherrscher von Pthor, aufzuspüren und schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse. Während die Herren der FESTUNG, die mysteriösen Herrscher von Pthor, inzwischen den Androiden Koy als Jäger auf die beiden Eindringlinge angesetzt haben, sind Atlan und Razamon auf dem Weg durch die Wüste Fylln. Dort treffen sie DIE HERRIN VON TEIMABOR …
Die Herrin von Teimabor
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan und Razamon - Der Arkonide und der Atlanter in der Wüste Fylln. Fenrir und Stormock - Ein Wolf und ein Weißer Geier als Atlans und Razamons Weggefährten. Die Schattenkullja - Herrin der Oase des Schreckens. Gurnych - Ein hinterhältiger Techno. Zollor - Ein Berserker.
1. Der große, graue Wolf folgte den undeutlichen Spuren bereits seit drei Tagen. Die beiden Männer, die sich von dem Tier führen ließen, kamen weniger schnell voran. Fenrir glich die Pausen, die er deshalb einlegen mußte, aus, indem er auf die Jagd ging. Manchmal erwischte er nur ein paar Mäuse, aber es gab auch größere Tiere am Rand der Senke der verlorenen Seelen. Wenn er gute Beute machte, brachte er sie den beiden Männern. Sie schnitten sich dann ein Stück Fleisch heraus, und Fenrir begnügte sich mit den Resten. Atlan und Razamon wußten die Jagdleidenschaft des Wolfes zu schätzen. Zwar besaßen sie Waffen, aber sie wußten nicht, wie groß die Energievorräte der Waggus sein mochten. Darum setzten sie die Lähmwaffen nur ein, wenn es sich nicht umgehen ließ. Eine Waggu eignete sich außerdem nicht gut für die Jagd. Zwischen dem niedrigen, fahlgelben Gras wuchsen kleine Sträucher, die zwischen fingerlangen Dornen schmackhafte, faustgroße Früchte trugen. Das reichte zum Sattwerden, aber das Fleisch, das Fenrir brachte, war eine willkommene Abwechslung. Sie waren an diesem Tag noch nicht lange unterwegs. Auf den raschelnden Grashalmen glitzerten noch die Tautropfen, aber es wurde bereits sehr heiß. Die letzte Nacht hatten sie mit dem Wolf neben einer winzigen Quelle verbracht. Sie befanden sich jetzt am westlichen Rand der Senke. Ab und zu sahen sie von weitem die Glaspaläste, in denen die Wesen aufbewahrt wurden, die aus rätselhaften Gründen von ihren Welten entführt worden waren. Zwischen den Palästen be-
wegten sich wie winzige Punkte die Fahrzeuge der Technos. Aber im allgemeinen sorgten Atlan und Razamon dafür, daß sich zwischen ihnen und der Senke Hügel, Sträucher oder sonstige Dinge befanden, die sie vor einer zufälligen Entdeckung durch die Technos schützten. »Ich glaube nicht, daß wir sie noch einholen«, sagte Atlan, während sie hinter dem Wolf hergingen. »Drei Tage – und wir können nicht einmal sicher sein, daß wir die richtigen Spuren ausgesucht haben!« »Wir werden sie einholen«, erwiderte Razamon verbissen. »Und die Spuren stimmen auch. Wenn ich die Kerle erwische, die Stormock mitgenommen haben …« Er verstummte und bewegte unruhig die Hände. Unwillkürlich ging er schneller. Atlan seufzte und trabte hinter Razamon her. Es war sinnlos, mit dem Pthorer über Sinn und Zweck dieser Aktion sprechen zu wollen. Stormock war ein weißer Geier. Sie hatten ihn auf der DEEHDRA gefunden. Der Vogel hatte offensichtlich allerhand mitgemacht und befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Von Anfang an hatte Razamon sich um Stormock gekümmert. Als sie in die Senke der Verlorenen Seelen gingen, hatten sie den Vogel auf dem Schiff zurückgelassen. Und als sie zurückkehrten, waren Schiff und Stormock verschwunden. Am Ufer fanden sie nur ein paar weiße Federn und diese Spuren, denen sie nun folgten. Atlan hoffte, daß die ganze Mühe sich schließlich lohnen würde. Seiner Meinung nach konnte Stormock ebensogut auf dem Schiff sitzen und mit irgendwelchen Leuten den Regenfluß hinauffahren. Razamon war fest davon überzeugt, daß dieser Verdacht falsch war.
4 Aus einem Grund, den Atlan noch immer nicht genau kannte, fühlte Razamon sich mit diesem Geier verbunden. Er konnte sich schwach daran erinnern, daß er in seiner Kindheit mit einem solchen Geier gespielt hatte. Für Atlan war das noch lange kein Grund, alle Pläne und Vorsätze über den Haufen zu werfen und auf Teufel komm 'raus den Entführern des Vogels zu folgen. Aber Razamon war wie besessen von dieser Idee, es war unmöglich, ihn davon abzubringen. Er wäre auch alleine weitergegangen. Atlan hatte in diesen drei Tagen nicht nur einmal überlegt, ob er es nicht sogar darauf ankommen lassen sollte. Razamon würde sich schon durchschlagen, und der Arkonide litt durchaus nicht unter Minderwertigkeitskomplexen. Er würde auch alleine mit den Gefahren von Pthor fertig werden – er hatte immerhin schon viele Abenteuer überlebt. Trotzdem folgte er dem Pthorer immer noch. Es war nicht nur die seltsame Freundschaft zu dem ehemaligen Berserker, die ihn hielt. Ein unbestimmtes Gefühl sagte dem Arkoniden, daß sie trotz allem auf dem richtigen Weg waren. Dieses Gefühl bezog sich nicht auf Stormock, sondern auf etwas, das viel wichtiger war – so wichtig, daß sogar der Zeitverlust dagegen unerheblich erschien. Als Fenrir diesmal stehenblieb, war sein Vorsprung zu den beiden Männern ungewöhnlich gering. Auch seine Haltung deutete darauf hin, daß es Neuigkeiten gab. Der Wolf sah sich hechelnd nach Atlan und Razamon um und wedelte aufgeregt mit dem Schweif. »Was hast du entdeckt?« fragte Razamon das riesige Tier. Fenrir winselte leise und trabte ein paar Schritte weiter. Dann sah er sich abermals um und wartete. »Die Spur führt direkt in die Wüste Fylln«, stellte Atlan fest. »Wir sollten es aufgeben.« »Niemals!« »Wir haben weder die richtige Ausrü-
Marianne Sydow stung, noch Proviant«, sagte der Arkonide ärgerlich. »Von einem Wasservorrat ganz zu schweigen.« »In dieser Wüste gibt es viele Oasen. Wir werden Wasser finden.« »Vielleicht – vielleicht aber auch nicht. Auf jeden Fall ist es ein Risiko. Die Leute, die diese Spuren hinterlassen haben, kennen sich vermutlich in der Gegend aus. Sie kommen schneller voran als wir. Abgesehen davon werden die Spuren immer undeutlicher – in der Wüste werden wir sie bald nicht mehr erkennen.« »Sie werden uns zu Stormock führen«, beharrte Razamon stur auf seiner Meinung. Atlan seufzte. In diesem Land, das Pthor genannt wurde und auf geheimnisvolle Weise durch Raum und Zeit schweben konnte, gab es unzählige Gefahren. Man mußte durchaus nicht nach Schwierigkeiten suchen. Es war glatter Wahnsinn, in diese Wüste zu marschieren, noch dazu ohne jede Vorbereitung. Fenrir winselte noch einmal, und der Arkonide schrak aus seinen Gedanken auf. Ein Blick auf Razamons Gesicht machte ihm klar, daß jeder Widerstand sinnlos war. Er gab sich geschlagen. »Also gut«, murmelte er. »Hoffentlich finden wir Stormock bald, damit wir diese elende Wüste wieder verlassen können.« Razamon lächelte flüchtig und gab dem Wolf ein Zeichen. Fenrir zögerte einen Augenblick – auch ihm schien der Gedanke nicht zu behagen, in das heiße, knochentrockene Gebiet vorzudringen. Aber dann senkte er gehorsam die Nase und nahm die Fährte wieder auf. »Braver Kerl«, lobte Razamon leise. Fenrir sah sich schwanzwedelnd nach dem Pthorer um. Es schien, als könne er jedes Wort verstehen. Atlan begriff immer noch nicht, wie Balduur so töricht hatte sein können, den ebenso klugen wie treuen Wolf fast zu töten. Jetzt merkte man Fenrir von den schweren Verletzungen nichts mehr an. Fenrir hatte bisher keine Anstalten getroffen, zu seinem
Die Herrin von Teimabor früheren Herrn zurückzukehren. Wenn er sich irgendwann doch dazu entschloß, würde niemand ihn halten können. Das gelbe Gras wurde bei jedem Schritt kürzer und trockener. Dann tauchten die ersten kleinen Sandinseln auf, die bald zu größeren Flächen zusammenflossen. Das Gras verschwand, und typische Wüstenpflanzen tauchten auf, dornige Gewächse, die nur dann Blätter trugen, wenn ausnahmsweise etwas Regen fiel, und knollenartige Gebilde, die das kostbare Wasser in sich speicherten – die pthorischen Gegenstücke zu den terranischen Kakteen. Zehn Minuten später war der Boden auch für diese genügsamen Pflanzen zu trocken – vor den beiden Männern und dem großen Wolf gab es nur noch goldgelben Sand, den der Wind zu mächtigen Dünen aufgehäuft hatte. »Das mit den Klimazonen verstehe ich immer noch nicht«, murmelte Atlan, während er neben Razamon durch den lockeren Sand stapfte. »Auf Pthor scheint es alles zu geben. Die geografische Lage der verschiedenen Gegenden spielt offensichtlich keine Rolle. In der Senke waren die Temperaturen ganz erträglich, aber hier ist es auf einmal so heiß wie in einem Backofen. Auf der Landkarte, die wir leider nicht mehr haben, war nördlich der Wüste eine sogenannte Eisküste eingetragen. Ob es dort wirklich so kalt ist?« Razamon zuckte nur mit den Schultern. »Irgendwie sind die einzelnen Zonen voneinander abgegrenzt«, redete Atlan weiter. »Aber wie? Von energetischen Sperren ist nichts zu merken. Man kann mit einem Schritt vom schönsten Frühlingswetter in tropische Hitze gehen und umgekehrt.« Razamon schwieg beharrlich. In seinen Gedanken war jetzt nur noch Platz für den weißen Geier und die Frage, in welchem Zustand der Vogel sich befinden mochte. Atlans Befürchtungen erfüllten sich nur zu schnell. Sie hatten erst zwei Dünen hinter sich gebracht, da hörten die Spuren auf. Der Wind hatte sie zugeweht. Fenrir blieb stehen und sah die beiden Männer ratlos an. »Ich bin sicher, daß wir den Burschen
5 dicht auf den Fersen sind«, sagte Razamon beschwörend zu dem großen Wolf. »Kannst du sie riechen?« Fenrir winselte kurz. »Du verlangst zuviel von ihm«, warnte Atlan. »Außerdem kommt der Wind aus der falschen Richtung. Laß uns umkehren.« »Nein!« »Aber …« Razamon wandte sich schweigend ab und stieg den steilen Hang einer riesigen Düne hinauf. Atlan schüttelte den Kopf und gab Fenrir einen Wink. Sie folgten dem Pthorer, der verbissen gegen den Sand ankämpfte. Vom Kamm der Düne aus sahen sie zwar keine neuen Spuren, dafür jedoch etwas, was sie hier nicht erwartet hätten. Direkt unter ihnen lag eine Straße.
* Atlan strich prüfend mit der Hand über die glatte, harte Fläche. »Verfestigter Sand«, sagte er. »Eines steht fest – von alleine ist dieser Weg nicht entstanden. Aber wer baut mitten in dieser Wüste eine Straße, noch dazu eine, die mitten im Sand aufhört.« »Das ist doch egal«, brummte Razamon. »Wenigstens wissen wir jetzt, in welche Richtung wir gehen müssen.« »Hier gibt es keine Spuren. Die Leute, die Stormock mitgenommen haben, können überallhin verschwunden sein. Es ist nicht sicher, daß sie ausgerechnet diese Straße benutzt haben.« »Unsinn«, wehrte Razamon ab. »Sie wären schön dumm, wenn sie sich durch den Sand arbeiteten, obwohl sie es bequemer haben könnten.« »Vielleicht ist das gar keine Straße, sondern eine Falle«, überlegte Atlan. »Es gibt hunderte verschiedene Möglichkeiten«, sagte Razamon ärgerlich. »Komm schon, oder willst du hier Wurzeln schlagen?« Atlan fühlte sich unbehaglich, als er über diese merkwürdige Straße ging. Er behielt
6 Fenrir im Auge. Der große Wolf mit seinen scharfen Sinnen und seinem sicheren Instinkt würde eine sich nahende Gefahr am ehesten erkennen. Die Straße verlief nicht schnurgerade, sondern in einem scheinbar sinnlosen System von Kurven und Ecken. Das bestärkte den Arkoniden in seinem Verdacht, daß es sich nicht um eine Verkehrsverbindung handelte. Einmal kamen sie an eine Kreuzung. Die andere Straße war genauso glatt und hart. Sie führte in einem verrückten Winkel nach rechts, mitten durch eine Düne hindurch. Rechts und links bildete der Sand fast hundert Meter hohe Wände – die Straße selbst war völlig frei geblieben. Allmählich wurde dem Arkoniden die ganze Angelegenheit unheimlich. Er stellte fest, daß die Straße nirgends vom Sand bedeckt wurde. Er fand aber auch keine Spuren dafür, daß jemand den Weg regelmäßig säuberte. Es war, als halte etwas den goldgelben Sand von dieser Schneise zurück. Atlan ging ein paarmal an den Rand der Straße, aber er fand nichts. Es war genau wie mit den so verschiedenen Klimazonen auf Pthor. Es existierte eine Begrenzung, das sah man deutlich, aber wie diese Grenze beschaffen war, ließ sich nicht feststellen. Neben der Straße gab es einen nur wenige Zentimeter breiten Streifen, auf dem sich die kakteenähnlichen Pflanzen angesiedelt hatten – ein weiterer Beweis dafür, daß in diesem Bereich der Sand daran gehindert wurde, sich ständig mit dem Wind zu bewegen. Die Hitze nahm immer noch zu. Die beiden Männer trugen die bunte Tuchkleidung, die sie auf dem Schiff gefunden hatten. Atlan fühlte sich darin wie in einer Sauna. Er schätzte die Temperatur auf ungefähr fünfzig Grad. Manchmal lag die Straße im Schatten gewaltiger Sandmauern, zwischen denen ein angenehm kühlender Wind hindurchstrich. Aber andererseits trocknete dieser Wind den Schweiß und raubte dem Körper damit wertvolle Feuchtigkeit. Obwohl Atlan am Morgen reichlich getrunken hatte, verspürte er einen fast unerträglichen Durst.
Marianne Sydow Das ist psychisch bedingt, meldete sein Extrasinn. Der Anblick des trockenen Sandes löst das Durstgefühl aus. Eine instinktive Abwehr gegen dein Eindringen in diese lebensfeindliche Umgebung. Schön und gut, dachte der Arkonide. Aber den Durst werde ich durch deine klugen Sprüche auch nicht los. Einen Augenblick später vergaß er dieses Problem. Fenrir, der wie selbstverständlich die Führung übernommen hatte, blieb plötzlich stehen. »Was ist los?« fragte Razamon. Der Wolf zog den Schwanz ein und winselte. »Er will uns warnen«, bemerkte Atlan. »Vielleicht sind wir ganz in der Nähe von Stormock«, sagte Razamon. »Keine Angst, Fenrir, mit den Kerlen, die den weißen Geier gestohlen haben, werden wir schon fertig. Immerhin sind wir bewaffnet.« Fenrir schien nicht sehr beruhigt zu sein. Er winselte lauter und drehte sich ratlos im Kreis herum. Sein Nackenfell sträubte sich – es war nicht zu übersehen, daß Fenrir Angst hatte. Trotz der Hitze bekam Atlan bei dieser Erkenntnis eine Gänsehaut. Es gab nicht viele Dinge, vor denen der Wolf sich zu fürchten hatte. Und dann hörte er etwas. Zuerst klang es wie das Rauschen einer weit entfernten Brandung. Dann schwoll es mit beängstigender Geschwindigkeit zu einem ohrenbetäubenden Brüllen an. In Sekundenschnelle verfinsterte sich der Himmel, aber es waren keine Wolken, die die Sonne verdeckten. Ungeheure Massen von Sand erfüllten die Luft. Atlan sah, daß Fenrir heulte – hören konnte er es nicht. Er verstand auch kein Wort von dem, was Razamon ihm zubrüllte. Der plötzlich ausgebrochene Sturm verschluckte jedes andere Geräusch. Er sah, wie Razamon nach oben deutete. Die Straße führte an dieser Stelle durch den Ausläufer einer Düne hindurch, die Sandwände ragten zu beiden Seiten mehr als fünfzig Meter hoch auf. Das heißt, sie hatten das getan. Jetzt war der Sand in Bewegung geraten.
Die Herrin von Teimabor Atlan nickte und gab Fenrir einen Klaps. Der Wolf und die beiden Männer rannten keuchend in die Richtung, in der ein bißchen Helligkeit das Ende der Düne verriet. Hinter ihnen prasselte Sand auf die Straße, wurde hochgerissen und weitergeschleudert, hinter den beiden Männern her, die in der stauberfüllten Luft kaum atmen konnten. Der Sand hüllte sie ein und prallte mit solcher Wucht gegen sie, daß sie stürzten. Keuchend blieben sie liegen, bis der nächste Windstoß über sie hinwegfauchte. Fast blind vor Sand und Tränen taumelten sie weiter. Sie hielten sich an dem Wolf fest, dessen Kräfte unerschöpflich zu sein schienen. Sie wußten längst nicht mehr, wo sie sich befanden. Von der Straße war nichts mehr zu sehen, die ganze Umgebung bestand nur noch aus treibendem Sand. Fenrir lief unbeirrbar weiter. Er hatte immer noch Angst, das merkte man. Jedes andere Tier wäre in der Panik davongestürmt. Der graue Wolf dagegen bezwang sich. Und er vollbrachte ein mittleres Wunder, indem er einen Platz fand, an dem die beiden Männer sich wenigstens für kurze Zeit ausruhen konnten. Mitten in der Sandhölle der Wüste Fylln entdeckte Fenrir einen abgestürzten Zugor. Das Wrack war vom Sand fast zugeweht, aber unter ihm gab es eine windgeschützte Höhlung, in der Atlan und Razamon sich verkrochen. Fenrir legte sich am Eingang nieder. Die beiden Männer waren fürs erste vollauf damit beschäftigt, den gelben Sand aus all den Stellen zu entfernen, in die der Wind ihn getrieben hatte. Als sie damit fertig waren, krochen sie nach vorne zu Fenrir und sahen hinaus. Der Sturm war nicht mehr ganz so stark, die Sicht hatte sich gebessert. »Sieh mal«, sagte Razamon leise und deutete in eine Richtung. »Was ist das?« fragte Atlan bestürzt. Unwillkürlich hatte er geflüstert. Razamon antwortete nicht, denn auch er hatte keine Erklärung für das, was sich draußen abspielte. Die Dünen bewegten sich. Es war nicht
7 die langsame Bewegung, die durch den Wind entstand, der die Sandkörner immer wieder umschichtete, sondern ein träges Wallen und Kriechen, als wären die Dünen in Wahrheit monströse Wesen, die im Wind zum Leben erwachten. Razamon kroch unter dem Zugor hervor und stieß einen entsetzten Schrei aus. Atlan und der Wolf liefen hastig nach draußen. Ein gewaltiger Berg aus Sand wälzte sich auf sie zu und wurde mit jeder Sekunde schneller. Fenrir heulte auf und trabte los. Die beiden Männer rannten hinter ihm her. Trotz des Sturmes glaubten sie hinter sich das Rauschen des Sandes zu hören, der sich mit tödlicher Beharrlichkeit näher heranschob. »Wir schaffen es nicht«, keuchte Atlan. Der Wolf wurde schneller. Die beiden Männer sanken bei jedem Schritt tief in den Sand ein und kamen darum nur mühsam voran. Und der Sand bewegte sich immer noch. Mit der Geschwindigkeit eines flotten Fußgängers wälzte sich die Düne über das Land. Es wurde sehr knapp. Ohne Fenrir hätten sie dieses Abenteuer sicher nicht überstanden. Der Wolf war nicht einfach vor der Düne hergelaufen, sondern hatte sich schräg nach rechts gehalten. Als der Berg die Männer einholte, befanden sie sich bereits an seinem Rand. Fenrir trennte sich mit einem gewaltigen Sprung von den beiden Männern. Atlan und Razamon merkten voller Schrecken, wie der Sand an ihnen hochkroch und sie zur Bewegungslosigkeit verdammte. Aber dieser äußerste Ausläufer der wandernden Düne war nicht hoch genug, um die Männer unter sich zu begraben. Die Düne zog weiter, und Atlan und Razamon waren bald wieder frei. »Danke«, keuchte Razamon und strich über das graue Fell des Wolfes. Sie sahen überall wandernde Sandberge, aber im Augenblick bestand keine unmittelbare Gefahr. Fenrir setzte sich ohne besonderen Befehl wieder in Bewegung und trabte zielstrebig
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Marianne Sydow
vor den Männern her. Atlan fragte sich, wohin der Wolf sie bringen würde. Er selbst hatte längst die Orientierung verloren. Und das alles wegen eines weißen Geiers! dachte er. Der Wolf ging den Dünen gewissenhaft aus dem Wege. Und dann standen sie plötzlich wieder vor einer dieser rätselhaften Straßen. »Gut gemacht«, sagte Atlan. Fast im gleichen Augenblick flog ein Speer wenige Millimeter an seinem Kopf vorbei.
2. Sie waren inzwischen gut aufeinander eingespielt, um Mißverständnisse zu vermeiden. Razamon hechtete nach rechts, rollte sich im Sand ab und hielt, als er wieder hochkam, die Waggu bereits in der Hand. Atlan war nur um Sekundenbruchteile langsamer als der Pthorer. Auch Fenrir brachte sich in Sicherheit. Die Straße war an dieser Stelle in der für sie typischen, unmotivierten Weise geknickt. Sie führte genau in eine Düne hinein, die zum Glück nicht wanderte – wenigstens jetzt nicht. Zwischen dem Speerschützen und den beiden Männern befand sich daher eine nicht gerade solide Wand aus Sandkörnern. Razamon zeigte erst auf sich, dann nach oben. Atlan nickte. Er beobachtete, wie der Pthorer sich den Hang hinaufarbeitete. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Razamon es schaffen würde. Der wie mit einem Messer geschnittene Rand der Sandmauer mußte unter seinem Körpergewicht wegrutschen. Aber es geschah nichts. Razamon hob die Hände. Er zeigte an, daß es in dieser eigenartigen Schlucht sechs Gegner gab. Atlan nickte und zeigte auf die Waggu. Der Pthorer winkte und zielte nach unten. Er gab zwei Schüsse ab, dann hörte Atlan Schreie und Schritte. Mitten auf der Straße lagen zwei Technos. Sie waren gelähmt. Vier andere flohen. Sie zogen dabei ein schlittenähnliches Gefährt
hinter sich her und sahen sich immer wieder um. Als sie Atlan entdeckten, stellte es sich heraus, daß diese Leute keineswegs nur mit Speeren bewaffnet waren. Mindestens einer besaß eine Waggu – und er benutzte sie auch. Aber er hatte schlecht gezielt, und Atlan kam ungeschoren davon. »Stormock!« brüllte Razamon von oben. »Er muß in dem Fahrzeug sein!« Der Arkonide hatte keine Ahnung, wie Razamon zu dieser Annahme kam, aber in bezug auf den weißen Geier hatte der Pthorer eine Art sechsten Sinn. Atlan richtete also seine Waffe auf die fliehenden Technos und drückte ab. Er traf die Wand aus Sandkörnern und löste damit eine fatale Entwicklung aus. Was immer auch dafür gesorgt hatte, daß die Schlucht erhalten blieb, wurde von dem Lähmstrahl unwirksam gemacht. Der Sand geriet ins Rutschen. Razamon stieß einen qualvollen Schrei aus, als er erkannte, daß mit den Technos das schlittenähnliche Gefährt unter den goldfarbenen Massen verschwinden mußte. Er schoß ebenfalls, und ein Techno stolperte und fiel. Dann sprang Razamon auf die Straße hinunter. Atlan blieb wie erstarrt stehen. Der Höhenunterschied betrug ungefähr acht Meter und er rechnete fest damit, daß der Pthorer sich das Genick brechen würde. Razamon landete jedoch mit der Geschmeidigkeit einer großen Katze, rollte sich ab und raste im nächsten Augenblick hinter den Technos her. Noch rieselte der Sand einigermaßen langsam herab. Die Männer mit dem Schlitten hatten die Gefahr erkannt. Als einer von ihnen gelähmt zusammenbrach, ließen die beiden anderen die Zugriemen los und rannten, so schnell ihre Beine sie zu tragen vermochten, davon. Unterhalb der Stelle, an der Atlan die seltsame Wand getroffen hatte, bildete sich ein spitz zulaufender Haufen von Sand, der immer schneller wuchs und sich dem Gefährt näherte. Aber dann war Razamon da.
Die Herrin von Teimabor Der Schlitten war vom Sand halb eingeschlossen. Atlan glaubte, durch das Heulen des Sturmes Stormocks krächzende Rufe zu hören. Er sah, wie der Pthorer den Schlitten aus der tödlichen Falle herauszog. Gleichzeitig schwoll das Rieseln des Sandes zu einem wahren Sturzbach an. Der gelähmte Techno verschwand, als die Schlucht sich an dieser Stelle immer stärker füllte. Niemand konnte ihm jetzt noch helfen. Razamon rannte mitsamt dem Schlitten um sein Leben. Es war sinnlos, ihm entgegenlaufen zu wollen. Atlan packte mit jeder Hand einen Techno am Kragen und strebte dem Ausgang der Schlucht entgegen. Obwohl er nur wenige Meter zurücklegen mußte, war er in Schweiß gebadet, als er seine Last endlich loslassen konnte. Hinter ihm kam Razamon ins Freie. Sein Gesicht war verzerrt – der Arkonide wußte nicht, ob die Anstrengung daran schuld war oder der Haß, den Razamon den Entführern Stormocks entgegenbrachte. »Weiter!« keuchte der Pthorer. »Das Zeug wird uns folgen!« Fenrir tauchte neben ihm auf und schob sich geschickt in einen freien Zugriemen. Zum Glück war das Fahrzeug so konstruiert, daß langwierige Wendemanöver überflüssig waren. Man konnte es von allen Seiten her in Bewegung setzen. Atlan schleppte sich mit den gelähmten Technos ab. Er fragte sich nicht, ob es überhaupt sinnvoll war, sich mit diesen Gefangenen zu belasten. Später, wenn die unmittelbare Gefahr vorbei war, konnte er darüber nachdenken. Auch jetzt war es Fenrir, der mit seinem untrüglichen Instinkt den richtigen Weg fand. Ein paarmal mußten sie noch zwischen Dünen hindurch, die sich vor dem Weg aufwölbten wie Wellen, die sich zu überschlagen drohten. Dann wurde das Land flacher. Und ebenso plötzlich, wie er begonnen hatte, legte sich der Sturm. Die Sonne verwandelte die Umgebung in ein erstarrtes Meer aus goldenem Sand. Die Dünen standen still und reglos. Erschöpft
9 ließen Atlan und Razamon sich fallen und blieben liegen, bis sie endlich wieder ruhig atmen konnten.
* Stormock befand sich tatsächlich auf dem Schlitten. Man hatte ihn gefesselt, seine Augen mit Stoff bedeckt und sogar seinen Schnabel zugebunden. Als wäre es damit nicht genug, hatte man ihn auch noch in einen Sack aus Leder gesteckt. So lag er, rundherum verschnürt, auf der Ladefläche des Schlittens. »Stormock«, sagte Razamon, und seine Stimme klang ungewohnt zärtlich. »Sei ruhig, Stormock, alles wird wieder gut.« Vielleicht verstand ihn der Geier, vielleicht war er aber auch nur zu schwach, um sich wehren zu können. Jedenfalls ließ er sich völlig problemlos von seinen Fesseln befreien. Die beiden Technos waren immer noch gelähmt. Atlan untersuchte sie kurz, fand ein paar Messer in ihren Taschen und nahm sie ihnen weg. Mit den Riemen, die Razamon dem weißen Geier abnahm, fesselte er die Gefangenen. Dann untersuchte er die Ladefläche. Razamon war zu sehr mit dem Geier beschäftigt – er hatte die wertvollste Beute völlig übersehen. »Da«, sagte der Arkonide lakonisch und hielt Razamon einen Becher und eine Wasserflasche hin. Der Pthorer mußte wohl wirklich ein ganz besonderes Verhältnis zu dem jetzt nicht gerade imponierend aussehenden Vogel haben. Er befeuchtete einen Zipfel seiner Jacke und wischte damit Stormocks Augen aus. Dann füllte er den Becher und flößte dem Vogel geschickt so viel Wasser ein, daß Atlan besorgt an die nahe Zukunft dachte. Die Technos führten nur wenig Wasser mit, und damit mußten sie vielleicht tagelang auskommen. Atlan hatte keine Ahnung, wo innerhalb dieser Wüste sie sich befanden. Sie konnten sich nach dem Sonnenstand richten und so den Rückweg zur Senke finden. Aber
10 sicher tauchten noch etliche Hindernisse auf – es schien in diesem teuflischen Land keine Ecke zu geben, in der es friedlich zugegangen wäre. Erst als der Vogel versorgt war, gönnte Razamon sich selbst eine Pause. Dabei wich er jedoch nicht von Stormocks Seite. Unaufhörlich sprach er leise und beruhigend auf den Geier ein. Stormock erholte sich schnell. Seine Augen wurden klarer, und einmal entfaltete er sogar seine gewaltigen Schwingen und bewegte sie probehalber. Er würde noch einige Zeit nicht flugfähig sein, denn man hatte ihm die Federn gestutzt. Inzwischen gab Atlan dem Wolf eine kleine Portion Wasser. Auf dem Schlitten lagen getrocknete Fleischstücke, in Leder eingewickelt. Sie sahen wenig appetitlich aus und rochen noch viel schlimmer, aber Fenrir stürzte sich mit Heißhunger darauf. Als alles erledigt war, sah Atlan sich nach Razamon um. »Es wird bald Abend werden«, sagte er. »Wir haben nicht viel Zeit. Wenn uns so ein Sturm in der Nacht erwischt, sind wir so gut wie tot. Wir sollten aufbrechen.« Razamon nickte und sah Stormock prüfend an. »Er kann seine Beine noch nicht gut genug gebrauchen«, sagte er. »Ich könnte ihn sonst auf der Schulter tragen.« Atlan sah den Pthorer zweifelnd an. Stormock war einen Meter hoch, und seine Flügelspannweite betrug ungefähr vier Meter. Vom Gewicht her war es für Razamon sicher nicht unmöglich, den Geier auch über längere Strecken zu tragen. Aber Stormock hätte auf der Schulter des Pthorers kaum Platz gefunden. »Wir werden diesen Teil von dem Schlitten ablösen«, fuhr Razamon fort. »Stormock hat genug Platz darauf, und für das bißchen Vorrat reicht es auch. Es wäre Unfug, das ganze schwere Gefährt mitzuschleppen.« »Du vergißt die beiden Technos«, wandte Atlan ein. Razamon warf einen kurzen Blick auf die beiden Männer, die immer noch nicht aus ih-
Marianne Sydow rer Lähmung erwacht waren. Er preßte die Lippen aufeinander, und in seine Augen trat ein unheildrohendes Glitzern. »Da irrst du dich«, murmelte er und stand auf. »Da irrst du dich sogar sehr!« Atlan sah das Messer in Razamons Hand aufblitzen. Er war entsetzt über das, was der Pthorer vorhatte. Er warf sich zwischen Razamon und die wehrlosen Technos. Die Waggu hatte er aus der Hand gelegt – er hatte nicht damit gerechnet, sie so schnell wieder zu brauchen. Sein Messer steckte im Gürtel, und Razamon würde zweifellos schneller reagieren. »Geh aus dem Weg«, forderte der Pthorer mit spröder Stimme. Atlan starrte ihn fassungslos an. Der Haß, der ihm entgegenschlug, war fast körperlich spürbar. Langsam wich er zurück und stieß mit dem Fuß gegen den ersten Techno. »Sie sind wehrlos«, sagte er beschwörend. »Das ist kein Kampf, sondern Mord!« Razamon lachte dumpf. »Es ist Strafe«, korrigierte er. »Sie haben Stormock gefangen und entführt.« »Der Vogel lebt«, versuchte Atlan es noch einmal. »Sie haben ihm nichts getan. Sie wußten nicht einmal, daß du Stormock gefunden hattest. Und sieh sie dir an! Sie haben ihre Strafe längst weg. Einer von ihnen ist unter dem Sand gestorben, was mit den beiden anderen geschehen ist, wissen wir nicht, und diese hier haben alles verloren …« Atlan hatte den grauen Wolf gesehen und verzweifelt weitergeredet. Er mußte Razamon ablenken, nur für ein paar Sekunden. Als Fenrir sprang, krächzte Stormock erschrocken auf. Razamon wirbelte herum, sah das Tier auf sich zukommen und duckte sich hastig. Fenrir landete dicht neben dem Pthorer, der geistesgegenwärtig das Messer gegen den Wolf richtete. Fenrir knurrte ratlos. Er kam nicht an Razamon heran, ohne Gefahr zu laufen, daß er selbst verletzt wurde. Er konnte nicht sagen, warum er den Mann angriff, dessen Befehle er vorher willig befolgt hatte.
Die Herrin von Teimabor Der Wolf wurde aus seiner Ungewißheit erlöst. »Laß das Messer fallen!« befahl Atlan. Razamon wälzte sich blitzschnell herum – und sah, daß er auf einen Trick hereingefallen war. Die Zeit hatte für den Arkoniden nicht ausgereicht, an die Lähmwaffe heranzukommen, und in einen Kampf Messer gegen Messer hätte er sich in diesem Fall bestimmt nicht eingelassen. Aber Razamon drehte Fenrir den Rücken zu, und der Wolf brauchte keine besonderen Anweisungen, um richtig zu reagieren. Razamon spürte das Gewicht der großen Pfoten auf seinen Schultern, und den heißen Atem in seinem Genick. »Geh weg!« befahl er heiser. Fenrirs Knurren war eine deutliche Warnung. »Ruf ihn zurück!« Atlan gab keine Antwort, aber Razamon spürte, wie Fenrirs Zähne ihn im Nacken berührten. »Wir nehmen die Technos mit«, sagte Atlan gelassen. »Und zwar in lebendigem Zustand. Sobald sie aufwachen, werden wir mit ihnen reden. Sie müssen aus der Senke stammen und zu denen gehören, die man wegen irgendwelcher Verfehlungen in die Wüste gejagt hat. Sie kennen sich hier aus – jedenfalls besser als wir. Sie werden uns den Weg zeigen.« »In eine Falle, ja«, stieß Razamon hervor. »Willst du denen vertrauen? Sie verdienen den Tod!« »Und du willst ihr Henker sein?« fragte Atlan spöttisch. »Damit würdest du dich mit ihnen auf eine Ebene stellen. Schade, daß ich mich so verschätzt habe.« Razamon schwieg. In ihm kochte es. Er war nahe daran, den letzten Rest von Beherrschung zu verlieren und sich in das tobende Monstrum zu verwandeln, als das er vor langer Zeit die Horden der Nacht bei ihrem Zerstörungswerk begleitet und gelenkt hatte. Fenrir spürte die Gefahr, und seine Zähne packten fester zu. Atlan, der scheinbar ungerührt dastand, zitterte innerlich vor
11 dem fast nicht mehr zu verhindernden Ausbruch. Lange Zeit blieb es still. Fenrir knurrte nicht mehr, war aber bereit, zuzubeißen. Selbst Stormock rührte sich nicht vom Fleck. Atlan war hin und her gerissen von dem Wunsch, dem Freund zu helfen und dem festen Entschluß, den doppelten Mord an zwei wehrlosen Männern zu verhindern. Als Razamon sich endlich entspannte, atmete der Arkonide pfeifend aus. »Es ist gut«, sagte der Pthorer leise. »Fenrir, du bist ein netter Kerl, aber jetzt habe ich genug Sand in den Mund bekommen. Laß mich aufstehen.« Wieder einmal bewies der Wolf, daß er zu eigenen Entscheidungen fähig war. Er hatte erkannt, daß die Lage sich geändert hatte. Er ließ Razamon los. Als der Pthorer sich aufrichtete, rieb der Wolf seinen Kopf an den Beinen des Mannes. Es war eine Geste, die wie eine Entschuldigung wirkte. »Ist schon gut, alter Junge«, murmelte Razamon und strich mit den Fingern durch das dicke, graue Fell. Stormock krächzte erleichtert und spreizte die Flügel. Atlan wandte sich ab. Er empfand keinen Triumph, denn er wußte, daß es in dieser Auseinandersetzung nur einen Sieger gab, und der hieß Razamon. Er hatte in sich selbst den schwersten und gefährlichsten Gegner. Sie sprachen nicht über den Zwischenfall. Gemeinsam legten sie die beiden Technos auf den Sandschlitten und banden sie fest. »Wohin?« fragte Razamon, als sie damit fertig waren. Atlan zuckte ratlos die Schultern. »Nach Süden«, murmelte er. »Wohin sonst?« »Die Kerle da«, sagte Razamon verächtlich und zeigte auf die Technos, »haben sich bestimmt nicht weit von ihrem trauten Heim entfernt. Vielleicht sind wir ganz in der Nähe einer Oase?« Atlan sah skeptisch nach dem Stand der Sonne. »Wir haben bestenfalls noch drei Stunden Licht«, stellte er fest. »Ich werde da hinaufsteigen. Vielleicht kann ich feststellen, wie
12 weit wir in diese Wüste hineingeraten sind. Bei den merkwürdigen Verhältnissen hierzulande ist alles möglich – am Ende brauchen wir nur um den nächsten Hügel herumzugehen.« Razamon gab keinen Kommentar, und Atlan stieg schweigend den steilen Hang einer riesigen Düne hinauf. Als er sich nach ein paar Minuten umsah, erschienen ihm Razamon, der Schlitten und Fenrir wie winzige dunkle Punkte im makellosen Gelb des Sandes. Der Hang war keineswegs glatt, sondern bildete ein eigenes System windbedingter Sandverwehungen. Bald konnte er auch die winzigen Punkte nicht mehr entdecken. Ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit überfiel ihn. In dieser Einöde gab es keinen Orientierungspunkt. Das einzige, wonach er sich beim Rückweg richten konnte, waren die Spuren, die er im Sand hinterließ. Wie eine Nabelschnur verbanden sie ihn mit jenem Ort, an dem Razamon auf ihn wartete. Angst erwachte in ihm bei dem Gedanken, der Wind könnte die Spuren zerstören. Die Angst machte ihn ärgerlich. Er war mehr als zehntausend Jahre alt, und Situationen wie diese hatte er schon oft erlebt. Warum gelang es ihm nicht, sich daran zu gewöhnen? Sei froh, flüsterte der Extrasinn. Solche Gefühle beweisen lediglich, daß nicht nur dein Körper jung bleibt, sondern auch dein Geist. Danke für das Kompliment, dachte Atlan wütend zurück. Als er den Kamm erreichte, blickte er zuerst nach Süden. Er hatte mehr oder weniger erwartet, am Horizont einen graugrünen Streifen zu sehen, der ihm andeutete, daß die Senke der verlorenen Seelen nicht allzu weit entfernt war. Aber im Süden erhoben sich nur immer neue goldgelbe Dünen, zwischen denen sich violette Schatten ausbreiteten. Langsam drehte er sich im Kreis. Von hier oben sah es aus, als bestünde die ganze Welt nur aus Sand. »Verdammt«, sagte er zu sich selbst. »So weit können wir doch gar nicht gegangen
Marianne Sydow sein. Und überhaupt – die Wüste Fylln ist schließlich nicht unendlich!« Er verstand das nicht. Dann dachte er an die wandernden Dünen. Hatte sich der Boden, auf dem sie gelaufen waren, ebenfalls bewegt, ohne daß sie es gemerkt hatten? Oder waren sie einer Täuschung unterlegen? Hatte sich am Ende nur der Boden bewegt, während die Dünen an Ort und Stelle blieben? Hatte die Wüste selbst sie mit sich getragen? In diesem Land schien alles möglich zu sein. »Dieser verfluchte Sand«, murmelte der einsame Mann und schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Er sah keinen einzigen grünen Fleck, keine glitzernde Fläche, die auf Wasser hindeutete, nicht einmal eine der geheimnisvollen Schneisen. Er wollte schon aufgeben, als ihm plötzlich zwei schwarze Punkte auffielen, die über einer Düne tanzten. Zuerst dachte er an eine optische Täuschung, aber dann stellte er fest, daß es sich tatsächlich um Vögel handelte. Er war wie elektrisiert. Dies waren die ersten größeren Tiere, die er in dieser Wüste zu Gesicht bekam. Wo sie waren, mußte es auch Wasser geben. Und da große Vögel in den seltensten Fällen vegetarisch lebten, existierte mit einiger Sicherheit da drüben auch die entsprechende Beute. Das wiederum ließ auf das Vorhandensein eßbarer Pflanzen schließen. Sorgfältig prägte er sich ein, in welchem Winkel zur sinkenden Sonne sie sich bewegen mußten. Wenn sie sich in den Dünnentälern hielten und keine großen Hindernisse antrafen, konnten sie es gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit schaffen. Hastig machte er sich auf den Rückweg.
* »Sie wachen auf«, sagte Razamon. Sie waren seit etwa einer Stunde unterwegs. Ihre Schultern schmerzten, die Zugriemen für den Sandschlitten scheuerten ihnen die Haut auf. Fenrir half nach besten Kräften. Stormock hatte anfangs immer wie-
Die Herrin von Teimabor der Flugversuche unternommen. Es schien, als könne er genau wie der Wolf die Situation durchschauen. Aber Razamon hatte dem weißen Geier schließlich unmißverständlich klarmachen müssen, daß er besser auf dem Schlitten sitzenblieb. Es kostete nämlich Zeit und Kraft, dem schweren Vogel nach den zwangsläufig erfolgten Bruchlandungen wieder auf die Beine zu helfen. Stormock war sichtlich geknickt. Atlan zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie in Begleitung ihrer seltsamen Menagerie das gesteckte Ziel jemals erreichen sollten. Fenrir war gewiß eine Hilfe, aber dieser Riesengeier mit dem sensiblen Innenleben war ihm unheimlich. Die Technos begannen sich zu rühren. Einer stöhnte vernehmlich – die Nachwirkungen eines Treffers waren bei einer Waggu nicht viel anders als bei einem terranischen Paralysator. »Bis sie sich bewegen können, dauert es noch eine Weile«, bemerkte Atlan und überlegte, ob er bei der nächsten Pause die Stiefel nicht lieber gleich ausziehen sollte. Es geriet doch immer wieder Sand hinein, und der scheuerte und rieb die Haut auf. Andererseits wußte er nicht, was sich möglicherweise im Wüstenboden verbarg. Je näher sie der Oase kamen, desto wahrscheinlicher war es, daß sie auf Schlangen oder andere Tiere trafen. »Ich werde sie ausquetschen wie Zitronen!« versprach Razamon grimmig. »Ich komme fast um vor Hunger und Durst«, stöhnte Atlan leiderfüllt, »und du sprichst von Delikatessen!« Razamon grinste verzerrt. Die Kruste, die sich aus Schweiß und Staub auf seinem Gesicht gebildet hatte, bekam Risse und bröckelte stellenweise ab. »Wenn Sie wüßten, wie Sie jetzt aussehen, Admiral und Arkonidenhäuptling«, sagte er, »träfe Sie der Schlag!« »Dem Wettgenie Aretosa ergeht es nicht viel besser«, gab Atlan zurück. »Hoffentlich finden wir Wasser.« »Es wird einen ganzen See davon geben«, behauptete Razamon todernst. »Kristallklar
13 und ganz kalt.« Atlan sah ihn mißtrauisch von der Seite an. Rührte sich etwas in Razamons Gedächtnis? »Wirklich?« fragte er vorsichtig. Razamon lachte schallend, als er merkte, daß sein Bluff gelungen war. Im ersten Augenblick war der Arkonide ärgerlich, aber dann mußte er ebenfalls lachen. Und er dachte daran, daß eine Portion Galgenhumor manchmal sehr hilfreich sein konnte. »Jetzt zappeln sie aber schon ganz ordentlich«, stellte Razamon wenig später fest. »Ich denke, von hier an sollten wir sie auf ihren eigenen Beinen weitergehen lassen!« Die beiden Technos starrten ihre Gegner ausdruckslos an. »Wer seid ihr, woher kommt ihr, und warum habt ihr uns überfallen?« fragte Atlan. »Ich heiße Gurnych«, sagte der eine widerwillig. »Wir gehören zur freien Kolonie von Fylln. Wir waren auf dem Weg zum Regenfluß, um dort Händler zu treffen, mit denen wir Waren tauschen wollten. Wir haben euch nicht überfallen, sondern sind nur durch Zufall auf euch gestoßen. Wir dachten, ihr gehört zu den Sklaven aus der Senke.« »Der Kerl lügt, sobald er den Mund aufmacht«, murmelte Razamon wütend. Atlan legte ihm beruhigend die Hand auf den Unterarm und deutete gleichzeitig an, daß er die Verhandlungen führen wollte. »Ihr betrachtet also die Bewohner der Senke als Sklaven?« fragte er. »Ja, sie sind unfrei. Sie müssen den Befehlen der Herren gehorchen. Uns hat niemand etwas zu befehlen.« »Das glaube ich gerne«, versicherte Atlan freundlich. »Wer möchte es auch schon mit einem Haufen von Halsabschneidern und Wegelagerern zu tun haben?« Der Techno wollte empört auffahren, aber in diesem Augenblick hüpfte Stormock ungeschickt in sein Blickfeld. Gurnych blickte auf den weißen Geier, dann auf Razamon. Seine Augen begannen ängstlich zu flackern. Er schrumpfte förmlich zusammen.
14 »Weitere Fragen erübrigen sich wohl«, knurrte der Pthorer, und Atlan fürchtete bereits, die Wut könnte erneut mit seinem Freund durchgehen. »Wir sollten uns mit diesem Gesindel nicht weiter abplagen. Laß sie laufen – vielleicht finden sie nach Hause. Wenn nicht …« Er machte eine verächtliche Geste und ging um den Schlitten herum. Er lockte Stormock zu sich und setzte sich nieder, mit dem Rücken zu den beiden Gefangenen. Für ihn war dieser Fall abgeschlossen. Die Technos starrten Atlan unverwandt an. »Wir befinden uns vermutlich in der Nähe einer Oase«, sagte der Arkonide. »Kennt ihr euch in dieser Gegend aus?« Gurnych grinste schief und bewegte unruhig seine immer noch gefesselten Hände. »In diesem Sandhaufen?« fragte er. »Hier sieht es doch überall gleich aus. Da muß man schon eine Schneise finden, dann hat man wenigstens einen Anhaltspunkt.« »Wofür?« »Für die Richtung, natürlich. Einige Schneisen verbinden Oasen und Wasserstellen miteinander. Es kommt auf die Form an.« »Weißt du, wer diese Wege gebaut hat?« »Gebaut ist gut. Der Sage nach gab es hier früher irgendwelche Riesenwürmer, Dorgonen nannte man sie. Es heißt, daß sie sich durch den Sand gefressen haben und dabei die Schneisen schufen. Viele dieser Wege wurden im Lauf der Zeit zerstört oder vom Sand begraben. Manche funktionieren noch.« Atlan dachte an die seltsamen Winkel und Windungen, die die Straßen beschrieben, an die unerklärlichen Wände, die den Sand fernhielten – er wußte jetzt, daß auf diese Wände nicht unbedingt Verlaß war, aber er konnte sich auch nicht vorstellen, daß die Lösung des Rätsels im Verdauungsprozeß ausgestorbener Riesenwürmer zu suchen sein sollte. »Wir haben gerade einen solchen Weg verlassen«, sagte er nachdenklich. »Auf den
Marianne Sydow letzten hundert Metern bildete er einen Halbkreis mit drei nach innen gerichteten Zacken. Kennst du einen solchen Weg?« Gurnych dachte nach, dann wirkte er plötzlich sehr erschrocken. »Der Weg war plötzlich vom Sand verdeckt, nicht wahr?« fragte er hastig. »Ich kann es jetzt nicht sehen, aber hinter uns müßte die Fortsetzung der Schneise zu sehen sein. Stimmt das?« Atlan nickte. »Es ist ein Trichter, und nach wenigen Metern geht es ganz scharf nach rechts um die Ecke.« »Ja, das stimmt. Was ist mit diesem Weg? Kennst du ihn?« Er beobachtete die beiden Technos genau. Gurnych zeigte deutliche Angst. Der andere, der noch kein Wort gesprochen hatte, wirkte dagegen ganz ruhig. Dem Arkoniden entging es nicht, daß Gurnych seinen Freund anstieß und ihm heimlich ein Zeichen gab. Er war nicht überrascht, als daraufhin der zweite Techno ebenfalls Angst bekam. Er beschloß, das Spiel vorerst mitzumachen. Er war gespannt darauf, was Gurnych sich hatte einfallen lassen. »Es ist der Weg nach Teimabor«, sagte Gurnych so leise, als fürchte er, von jemandem belauscht zu werden. »An eurer Stelle würde ich so schnell wie möglich von hier verschwinden. Man sagt zwar, daß die Schattenkullja die Oase niemals verläßt, aber andererseits kenne ich niemanden, der sie gesehen hat und davon berichten kann.« »Teimabor ist also eine Oase«, stellte Atlan unbeeindruckt fest. »Wer ist diese Schattenkullja?« »Sie besitzt die Kraft der Magie«, flüsterte Gurnych. Atlan hatte Mühe, ernst zu bleiben. Die Furcht der Technos wirkte so übertrieben, daß er fest davon überzeugt war, eine faustdicke Lüge aufgetischt zu bekommen. »Mit ihren Gedanken hat sie Teimabor erschaffen. Sie ist wie das Böse selbst, und darum ist auch Teimabor der Ausdruck der feindlichen Kräfte in der Magie. Sie hält sich Gefangene – in klaren, windstillen
Die Herrin von Teimabor Nächten hört man über große Entfernungen hinweg ihre grauenvollen Schreie. Keiner von ihnen kehrt jemals zurück. Man sagt, die Leiden der unglücklichen Opfer würden der Schattenkullja immer neue Kräfte verleihen.« »Soso«, machte Atlan. »Das hört sich beeindruckend an. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht an Magie. Bist du sicher, daß du nicht einer Lüge aufgesessen bist?« »Du mußt fremd in diesem Land sein«, stotterte der Techno, und Atlan war beeindruckt von Gurnychs schauspielerischer Leistung. Das Zähneklappern hörte sich ziemlich echt an. »Magier gibt es überall. Nicht alle sind so böse und schrecklich wie die Schattenkullja, das gebe ich gerne zu. Aber du müßtest trotzdem schon von ihr gehört haben.« Der Arkonide dachte an die einzelnen Stationen der verwirrenden Wanderung kreuz und quer durch Pthor – er war sicher, diesen seltsamen Namen nie zuvor gehört zu haben. »Na schön«, brummte er. »Gibt es Wasser und Nahrung in Teimabor?« »Wasser?« fragte Gurnych verblüfft. »Wasser«, wiederholte Atlan freundlich. »Langsam bekomme ich nämlich Durst.« »Willst du wirklich nach Teimabor, nur weil dir das Wasser fehlt?« »Im Augenblick bin ich soweit, daß ich durch die Hölle laufen würde, wenn ich mich hinterher satt trinken dürfte«, behauptete Atlan. Er beobachtete Gurnych und seinen Freund weiterhin genau. Er war sich seiner Sache ziemlich sicher. Es fehlte nur noch ein Steinchen im Mosaik. »Wir sind dir ausgeliefert«, stellte Gurnych fest und starrte auf seine Fesseln. »Unser Leben gehört dir. Trotzdem bitte ich dich, uns gehen zu lassen.« »Das wäre euer sicherer Tod. Es gibt weit und breit keine zweite Oase. Warum kommt ihr nicht mit?« »Lieber verrecke ich im Sand«, keuchte Gurnych verzweifelt, »als der Schattenkullja in die Hände zu fallen. Teimabor ist schlimmer als der Tod. Ich flehe dich an: Gib uns
15 die Freiheit!« »Was nützt dir diese Freiheit, wenn sie für dich tödlich ist?« Gurnych sagte nur ein Wort: »Bitte!« Atlan zuckte mit den Schultern und bückte sich, um die Fesseln zu lösen. Fenrir tauchte lautlos neben ihm auf und behielt die Technos im Auge. Angesichts der scharfen, schimmernden Zähne des Wolfes kam keiner der beiden Gefangenen auf dumme Gedanken. Atlan sah zu, wie sie sich die Gelenke rieben, dann stand er demonstrativ auf. »Geht«, sagte er. »Aber beeilt euch. Wir haben nicht viel Zeit, und wenn wir merken sollten, daß ihr uns folgt, werden wir uns zu wehren wissen.« »Euch folgen?« fragte Gurnych entsetzt. »Ihr müßt wahnsinnig sein!« Er packte seinen Freund am Arm und zog ihn in der Richtung davon, aus der der Schlitten gekommen war. Nach etlichen Metern verschwanden die beiden Technos hinter einer Düne. Atlan gab Fenrir den Befehl, den Männern zu folgen und nach einer kurzen Strecke zurückzukehren. Damit konnte er feststellen, ob die Technos die Richtung einhielten, und gleichzeitig würden Gurnych und sein Freund rennen, so gut sie konnten, solange sie immer wieder den grauen Wolf hinter sich sahen. »Du hast sie also freigelassen«, stellte Razamon düster fest. Er hatte sich umgedreht und starrte Atlan vorwurfsvoll an. Stormock rieb seinen Schnabel an der Schulter des Pthorers. Atlan winkte ab. »Wenn dir deine Rache so wichtig ist«, murmelte er, »dann hast du immer noch Gelegenheit, dich mit diesen Strauchdieben zu befassen. Sie laufen uns nicht davon.« Razamon richtete sich auf und zog fragend die Augenbrauen hoch. »Faß mit an«, bat Atlan und reichte dem Pthorer den einen Zugriemen. »Ich erkläre es dir unterwegs.« Atlan erzählte kurz, was er beobachtet hatte. »Ich bin meiner Sache ziemlich sicher«,
16 sagte er dann. »Die beiden wollten uns hereinlegen. Vielleicht gibt es die Oase Teimabor samt dieser Schattenkullja tatsächlich, aber sie liegt nicht da vorne.« »Warum sollten sie gelogen haben?« fragte Razamon. Er mußte laut sprechen, weil Stormock durchdringend krächzte. Er drehte sich um und befahl dem Vogel, ruhig zu sein. Der weiße Geier gehorchte, aber er blieb auf dem Rand der Lastenfläche hocken und äugte mißtrauisch umher. »Er spürt eine Gefahr«, behauptete Razamon. »Logisch. Da vorne lauern die Technos auf uns.« Razamon schwieg, und allmählich wurde der Arkonide wütend. Er war sicher, daß ihm kein Irrtum unterlaufen war. »Unsere beiden Helden wären sicher nicht bereit gewesen, sich aus der Nähe des Schlittens zu wagen, wenn sie nicht ein sicheres Ziel gehabt hätten«, knurrte er. »Vor uns liegt ihr Stützpunkt. Dort gibt es nicht nur Wasser und Proviant, sondern auch Waffen und weitere Technos, die ihnen helfen werden. Ich weiß, wie sehr du an Stormock hängst, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß der Vogel für die Technos nichts weiter als eine äußerst kostbare Ware darstellt. Auf dem Schlitten befanden sich außer dem Vogel nur ein paar Vorräte, gerade ausreichend, um einigermaßen sicher durch die Wüste zu kommen. Sie haben also den weiten Weg nur zurückgelegt, um Stormock zu holen – sicher haben sie Verbindung mit den Besitzern der DEEHDRA, denn das Schiff ist wohl kaum zufällig zum passenden Zeitpunkt verschwunden. Alles, was sie jetzt brauchten, war ein Vorsprung. Darum haben sie das Märchen von Teimabor erzählt und dafür gesorgt, daß ich sie laufenließ.« »Wenn du das alles so sicher weißt«, murmelte Razamon, »kann mich nur eines wundern: Warum hast du ihnen die Freiheit gegeben? Nun müssen wir damit rechnen, in einen Hinterhalt zu geraten.« »Du vergißt Fenrir. Er ist schneller als ein
Marianne Sydow Techno, und er kann uns selbst dann noch folgen, wenn es dunkel ist. Außerdem werden wir in ein paar Minuten diese Schneise verlassen. Die Technos werden vergeblich warten. Und später, wenn es dunkel genug ist, schleichen wir uns in ihren Stützpunkt und holen uns, was wir brauchen.« Er wartete darauf, daß Razamon in irgendeiner Weise seine Zustimmung äußerte, aber der Pthorer stemmte sich schweigend gegen die Riemen. Als sie die Schneise an einer günstigen Stelle verließen, herrschte in den Tälern zwischen den Dünen bereits die Dunkelheit. Sie wuchteten den Sandschlitten um einen Hang herum, dann lief Atlan mit einem Bündel dünner Riemen zurück. Er erreichte die Straße in dem Augenblick, in dem Fenrir um die nächste Biegung kam. Mit den ihm zur Verfügung stehenden Gesten gab der Wolf zu verstehen, daß alles in Ordnung sei. Atlan schickte ihn zum Schlitten und folgte ihm, langsam rückwärts gehend, wobei er mit Hilfe der Riemen die Spuren verwischte. Viel richtete er damit nicht aus, aber die Dunkelheit nahm zu und der Wind frischte ein wenig auf – spätestens am nächsten Morgen sollten selbst die Eindrücke der Schlittenkufen nicht mehr zu sehen sein. Als er Razamon erreichte, ging eine geisterhafte Helligkeit über das öde Land. Erschrocken sahen sie nach oben. Die Spitzen und Kämme der höchsten Dünen schienen zu brennen. Sie leuchteten wie gleißende Linien vor dem schwarzblauen Himmel auf. Das Licht reichte aus, um bis in die Täler hinabzudringen. So schnell wie es gekommen war, erlosch das Glühen – die Nacht war gekommen. »Dann wollen wir mal«, murmelte Razamon. Atlan hörte die Skepsis in der Stimme des Pthorers. Er selbst machte sich nur darüber Sorgen, ob sie in dieser Finsternis die Richtung einhalten konnten.
3.
Die Herrin von Teimabor »Da ist es!« sagte Razamon plötzlich. Unwillkürlich blieben sie stehen. Fenrir hielt sich dicht neben Atlan, und Stormock hatte inzwischen den Kopf unter den rechten Flügel gesteckt. Er balancierte schlafend auf der Lastenfläche und schnarrte manchmal im Traum. »Die Oase«, flüsterte der Arkonide und bemühte sich, seinen Triumph nicht allzu offen zu zeigen. »Wir haben es geschafft.« »Fast«, korrigierte Razamon trocken. »Außerdem geht es nicht nur darum, sie zu erreichen. Wir müssen heil hinein und wieder hinaus kommen.« »Auf jeden Fall existiert die Oase«, sagte Atlan mißmutig. »Daran habe ich eigentlich niemals gezweifelt«, antwortete Razamon nachdenklich. »Wenn dort Technos leben, haben sie sich nicht schlecht eingerichtet. Sie gehen mit dem Licht recht verschwenderisch um.« »Ich steige da hinauf«, entschied Atlan. »Von hier aus sieht man zu wenig.« Diesmal brauchte er sich keine besonders hohe Düne auszusuchen, und er brauchte auch nicht zu befürchten, daß er sich verirrte, denn er blieb in Rufweite – was er unter den bestehenden Bedingungen allerdings nur im äußersten Notfall ausnutzen würde. Er erreichte den scharfen Kamm des Hügels und ließ sich zu Boden gleiten. Für einen Beobachter im Tal hätte er sich sonst deutlich gegen den etwas helleren Himmel abgezeichnet. Schon auf den ersten Blick erkannte er, daß seine Einschätzung der Technos nicht stimmte. Was immer das darstellen sollte, was sich im Tal befand, es war jedenfalls nicht von den Leuten erbaut worden, die man aus der Senke der verlorenen Seelen vertrieben hatte. Die Oase mochte eine Fläche von etwa sechs Quadratkilometern bedecken. Soweit sich das in der unzureichenden Beleuchtung beurteilen ließ, war diese Fläche völlig eben und bildete zwischen den Dünen einen erstaunlich exakten Kreis. Genau im Mittelpunkt erhob sich ein Turm. Er war so hoch,
17 daß man von ihm aus auch über die höchsten Sandhäufungen hinwegsehen konnte. Seine Konstruktion ließ sich nicht feststellen, er wirkte verdreht und fremdartig. Genau das traf auf alles andere zu, was sich in der Oase befand. Man hätte meinen können, ein übergeschnappter Bildhauer hätte dort unten seine Werke aufgestellt. Zwischen verbogenen und zerbeulten Blöcken, Säulen, Bögen und Podesten hingen gläserne Kugeln, in denen Lampen brannten. Verschwommen erkannte Atlan innerhalb der Kugel Wesen, die sich bewegten. Und überall zuckten unvermittelt Lichter auf, rasten mit irrsinnigem Tempo über den Boden, flackerten unstet am Rand kleiner Brunnen und Wasserflächen und erloschen wieder. Wasser! Als Atlan die Reflexe der rasenden Lichtflecken richtig erkannt hatte, wurde er sich des Durstes bewußt. Er spürte die Trockenheit in seiner Kehle. Am liebsten wäre er aufgesprungen und nach unten gerannt, auf die erste Wasserfläche zu, die er erblicken konnte. Der Logiksektor meldete sich mit einem warnenden Impuls. Die Tatsache, daß der aktivierte Gehirnteil die Warnung nicht deutlich formulierte und auch den Grund für den Impuls nicht bekannt gab, irritierte den Arkoniden, aber er beschloß, dieser inneren Stimme ausnahmsweise keine Beachtung zu schenken. Er ließ sich nach unten gleiten und stand wenig später wieder neben dem Schlitten. »Alles in Ordnung«, sagte er rauh. »Nur noch ein paar Minuten, dann haben wir Wasser.« »Also sind dort doch keine Technos«, stellte Razamon fest. Atlan griff nach dem Zugriemen. Am Rand der Oase blieben sie stehen. Der Pthorer atmete tief durch, als er zum erstenmal die verdrehten Dinger im ungewissen Licht vor sich aufragen sah. Wenige Meter vor den beiden Männern stieg ein grelles Leuchten aus dem Boden, hob rasch ab und pfiff in einem atemberaubenden Tempo da-
18 von. Es prallte gegen einen tiefschwarzen Block, der die Umrisse eines am Boden kauernden Raubtieres besaß, und zerbarst in Tausende von roten Funken, die wie lebendige Wesen über den Boden huschten. »Da hinein?« fragte Razamon zweifelnd. Atlan deutete mit dem Daumen nach hinten, wo Stormock im Traum mit den Flügeln zuckte und keuchende Geräusche von sich gab. »Hier draußen stirbt er«, sagte der Arkonide. »Dann war alles umsonst.« Razamon nickte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er starrte zu Fenrir hinüber. Der große Wolf blickte aufmerksam nach vorne, seine Ohren waren steil aufgestellt. Das Tier zeigte keine Anzeichen von Furcht, wirkte aber auch nicht aggressiv. Der Pthorer gab sich einen Ruck. Er wußte selbst nicht, was mit ihm los war. Seit dem Augenblick, an dem sie Stormock gefunden hatten, fühlte er sich unsicherer als sonst. Und als die Technos den Geier entführten, hatte eine geradezu unheimliche Kraft von ihm Besitz ergriffen und ihn vorwärtsgetrieben, bis in diese Wüste hinein. Jetzt war diese Kraft erloschen. Der weiße Geier war gerettet – vorerst, denn das Tier war erschöpft von den Strapazen. »Den Schlitten sollten wir hier stehenlassen«, murmelte er. »Stormock kann ich tragen, und für unsere Ausrüstung brauchen wir das schwere Ding nicht.« Sie zogen das Fahrzeug an eine Stelle, an der zwei Dünen aneinanderstießen. Dann bedeckten sie es mit Sand. Im Notfall, wenn sie den Schlitten wider Erwarten doch noch brauchten, würden sie ihn leicht herausziehen können. Razamon nahm Stormock so vorsichtig auf den Arm, als handele es sich nicht um einen ausgewachsenen Riesengeier, sondern um ein neugeborenes Baby. Die Waggus und die Messer trugen sie griffbereit in den Gürtelschlaufen, und sonst gab es nichts, was sie hätten mitnehmen können. »Wir nehmen den Brunnen dort«, sagte Atlan leise. Die Entfernung betrug nicht einmal zwan-
Marianne Sydow zig Meter. Die Grenze zwischen dem Dünengebiet und der Oase war hier nicht fließend, wie Atlan es von normalen Wüsten gewöhnt war. Eben noch hatten sie den weichen Sand unter den Füßen gespürt – dann standen sie auf einem fast steinharten Boden. Sie nahmen sich keine Zeit, die Veränderung gebührend zu beachten. Mit jedem Schritt hörten sie das Sprudeln des Brunnens deutlicher. In der Nähe des verlockenden Wassers stand eine Säule, die aus sich heraus leuchtete. Das Licht ließ zerstäubendes Wasser glitzern, und neben dem Brunnen wurden jetzt Pflanzen sichtbar. Einige trugen Früchte. »Sieh dir Fenrir an«, flüsterte Razamon plötzlich. Atlan zuckte unwillkürlich zusammen. Er hatte sich ganz auf den Brunnen konzentriert. Er roch bereits die Feuchtigkeit. Er fand das Benehmen des Wolfes in keiner Weise ungewöhnlich. Fenrir trabte ruhig vorwärts. Er war aufmerksam, wie immer. »Er müßte eigentlich auch Durst haben«, erklärte Razamon, als Atlan ihn nur fragend ansah. Jetzt fiel es auch dem Arkoniden auf. Fenrir hatte wenig Wasser abbekommen. Er war sehr genügsam. Dennoch hätte man es ihm nicht übelnehmen können, wenn er jetzt voller Gier zu dem Brunnen gerast wäre. Atlan schob es auf die hohe Intelligenz und die tadellose Erziehung des Wolfes, wenn Fenrir sich selbst jetzt unter Kontrolle hatte. Sie erreichten die Wasserstelle. Der Brunnen bestand aus Metall. Entweder war das Material bei irgendeiner Gelegenheit unkontrolliert zerschmolzen worden, oder derjenige, der den Brunnen geschaffen hatte, war dem Wahnsinn verfallen. Kein vernünftiges Wesen konnte dieses Gebilde mit Absicht hergestellt haben. Es besaß Zacken und scharfe Kanten, Aushöhlungen und gedrehte Auswüchse. Wer an das Wasser herankommen wollte, mußte sich vorsehen, sonst trug er etliche Wunden davon. Aber das Wasser war vorhanden und sogar trinkbar.
Die Herrin von Teimabor Auch jetzt versorgte Razamon zuerst den Geier, der blinzelnd erwachte, als das Licht aus der Säule ihn traf. Fenrir schob sich vorsichtig an eines der kleinen Becken heran und trank. Dabei hob er aber immer wieder in kurzen Abständen den Kopf, um die Witterung zu prüfen. Allmählich fand auch Atlan das Verhalten des Wolfes alarmierend. Sie untersuchten die fruchttragenden Pflanzen und fanden einige, die sie bereits kannten. Darunter waren melonenartige Kugeln. Ihr Inhalt schmeckte leicht salzig, und die Händler in Orxeya verwendeten das gebratene Fruchtfleisch in schlechten Zeiten als Fleischersatz. Sogar Fenrir und Stormock nahmen etwas davon an. Der weiße Geier war sichtlich erschöpft. Nach der kargen Mahlzeit schloß er sofort die Augen, und er wäre umgefallen, wenn Razamon ihn nicht festgehalten hätte. »Er braucht Ruhe«, sagte der Pthorer besorgt. Fenrir knurrte leise. Ein paar Meter entfernt zischte eine leuchtende Kugel vorbei. Ein durchdringendes Heulen näherte sich rasch und verklang, ohne daß die beiden Männer etwas gesehen hatten. Fenrir stand mit gesträubtem Nackenfell vor ihnen. »Draußen zu schlafen, wäre ein sinnloses Risiko«, murmelte Atlan. »Aber hier drinnen …« Er verstummte, als eine laute Stimme einen klagenden Gesang erzeugte. Es war ein Lied in einer fremden Sprache. »Komm«, sagte Razamon endlich. Er hob Stormock auf, sah sich kurz um und deutete dann auf einen schmalen Weg, der an der leuchtenden Säule vorbei tiefer in den Irrgarten der seltsamen Gebilde hineinführte. »Vielleicht finden wir eine Kugel, die unbewohnt ist«, meinte er. »Abgesehen davon – die Schattenkullja muß ihre Gefangenen mit Nahrung und Wasser versorgen, sonst leben sie nicht lange. Und es dürften sich recht wenig Opfer hierher verirren.« Ein irres Kichern erklang. Es kam von
19 oben. Beide Männer warfen die Köpfe zurück – über ihnen war nur die Dunkelheit. »Du glaubst also wirklich, daß wir in Teimabor gelandet sind?« fragte Atlan unbehaglich. »Du nicht?« »Ich weiß, was du meinst, aber du irrst dich. Ich scheue mich nicht, einen Irrtum einzugestehen. Aber ich frage mich, wie sich in diesem Fall das Verhalten der Technos erklären läßt. Welchen Grund sollten sie gehabt haben, ausgerechnet uns vor einer Gefahr zu warnen?« »Was weiß ich? Diese Technos sind mir sowieso unbegreiflich.« »Aber sie müssen einen Grund gehabt haben!« Razamon lachte leise auf. »Es ärgert dich, daß du sie nicht durchschaust«, stellte er fest. »Sei nicht so ungeduldig. Wir werden es schon noch herausbekommen. Da ist eine Kugel.« Das Gebilde hing an einem surrealistisch geformten Metallblock. Es bestand ganz und gar aus Glas. Drinnen brannte eine Lampe. Deutlich konnte man erkennen, daß die Innenwände verschieden geformte Auswüchse hervorgebracht hatten. Sie bildeten das Mobiliar. Es gab ein aus Glas geformtes Bett, einen niedrigen Sessel, einen kleinen runden Tisch und eine Art Truhe. Auf dem Bett lagen schmutzige Tücher und Felle. Die Truhe enthielt ein paar zerschlissene Kleidungsstücke, und auf dem Tisch standen die Überreste einer Mahlzeit. Atlan trat dicht an die Kugelwandung heran. Er mußte sich recken, um in das Bett hineinsehen zu können. Verblüfft zuckte er zurück. Das blasse Gesicht einer Frau starrte ihn an. »Wer sind Sie?« fragte Razamon und fiel unversehens in terranische Umgangsformen zurück. Die Frau schwieg. Atlan entdeckte ein paar Fugen im Glas. »Hier ist der Eingang«, sagte er leise. »Merkwürdig, es gibt weder ein Schloß,
20 noch einen Riegel.« Razamon hatte sich inzwischen gefangen. »Kannst du die Tür öffnen?« fragte er die Fremde. Sie reagierte nicht auf die Frage. »Wir möchten dir helfen«, sagte der Pthorer eindringlich. »Wenn du es von innen versuchst und wir von außen, schaffen wir es vielleicht.« Er wartete vergebens auf eine Antwort. Ratlos sah er sich nach Atlan um. »Entweder versteht sie uns nicht«, überlegte der Arkonide, »oder sie will nichts mit uns zu tun haben!« Razamon sah an sich herab und klopfte etwas Sand von der Stoffjacke. Dann schüttelte er verständnislos den Kopf. »Wir sind zwar nicht elegant gekleidet«, sagte er, »aber furchterweckend sehen wir nun auch wieder nicht aus.« Atlan dachte an den Augenblick, an dem er Razamon zum erstenmal gesehen hatte. Der Pthorer wirkte auf jemanden, der ihn nicht kannte, immer unheimlich, daran änderte auch seine Kleidung nichts. Und jetzt, im Dunkeln, wurde sein Gesicht mit den tiefschwarzen Augen zu einer düsteren Maske. Außerdem trug er Stormock, der wie tot in seinen Armen hing. »Laß mich mal«, murmelte der Arkonide und trat an die gläserne Wand heran. »Kannst du mich verstehen?« Die Fremde antwortete nicht, aber ihre Augen weiteten sich für einen Moment. Atlan sah sie sich genau an. Er konnte sie keinem der Völker und Stämme zuordnen, die er bisher in Pthor kennengelernt hatte. Sie hatte strähniges, dunkles Haar und ein breites, etwas grobes Gesicht. Ihre Augen waren auf keinen Fall dunkel, aber die genaue Farbe ließ sich bei der mangelhaften Beleuchtung nicht feststellen. »Ich nehme an, daß du mich verstehst«, sagte er langsam, »daß du aber nicht antworten kannst. Wenn es so ist, dann gib mir ein Zeichen.« Die Augen der Fremden irrten ab und richteten sich auf einen Punkt in der Unend-
Marianne Sydow lichkeit. Sekundenlang blieb sie so, dann drehte sie sich um und verschwand unter den Fellen. Atlan zuckte ratlos mit den Schultern. »Da kann man nichts machen«, meinte er. »Suchen wir nach der nächsten Kugel.« Razamon blickte besorgt auf Stormock hinab. Fenrir folgte den Männern wie ein grauer, lautloser Schatten. Die nächste Kugel war ebenfalls besetzt. Diesmal handelte es sich bei dem Insassen unverkennbar um einen Techno. Auf seinem unfertig wirkenden Gesicht lag ein idiotisches Lächeln. Als Razamon ihn ansprach, begann der Techno zu summen. Es war eine nervtötende monotone Melodie. »Hör auf damit!« befahl Razamon ziemlich scharf. Der Techno zuckte zusammen. Seine Augen gerieten außer Kontrolle. Er hatte Mühe, den Pthorer zu fixieren. Dann aber stieß er einen markerschütternden Schrei aus und rollte sich blitzschnell auf dem Boden zusammen. »Mir scheint, ich sollte mir eine Maske besorgen«, murmelte Razamon bitter. Atlan schwieg. Er konnte sich vorstellen, was jetzt in dem Pthorer vorging. Lange Zeit hatte er zu den Berserkern gehört und im Auftrag der Herren der FESTUNG Not und Zerstörung über die Welten gebracht, denen Pthor einen Besuch abstattete. Dann hatte er sich gegen seine Herren und deren unmenschliche Befehle gewandt und war dafür grausam bestraft worden. Mit unglaublicher Selbstbeherrschung war es ihm gelungen, unter den Menschen zu leben und seine zerstörerischen Instinkte unter Kontrolle zu halten. Jetzt war er wieder in seiner Heimat, und er war gekommen, um sich an den Herrschern von Pthor zu rächen. Und auch hier fürchtete man ihn immer noch – nicht ihn persönlich, sondern das, was er und seine Artgenossen einmal verkörpert hatten. Atlan legte die Hand auf Razamons Arm und zog ihn weiter. »Es ist schon spät«, sagte er beschwörend. »Diese Leute sind wahrscheinlich Gefange-
Die Herrin von Teimabor ne. Allein unser Auftauchen in dieser Oase muß sie irritieren. Wir werden uns morgen früh mit ihnen beschäftigen. Wenn sie ausgeschlafen haben, lassen sie vielleicht mit sich reden.« Razamon folgte dem Arkoniden schweigend durch das Labyrinth aus geschmolzenem Metall. Sie fanden viele Kugeln, die aber alle bewohnt waren. Sie unternahmen keinen weiteren Versuch, mit einem der Gefangenen ein Gespräch anzuknüpfen. Zu ihrer Erleichterung – aber auch Verwunderung – gab es sehr viele Brunnen, Quellen, Teiche und sogar kleine Bäche. Sie verstanden nicht, wo mitten in der Wüste dieses viele Wasser herkam. In den Nischen zwischen den Metallblöcken waren kleine Gärten angelegt, deren Pracht sich sogar jetzt schon ahnen ließ. Nach über einer Stunde, als sie beinahe bereit waren, aufzugeben und neben einem Brunnen auf dem harten Boden zu schlafen, sahen sie plötzlich eine Glaskugel, deren Tür geöffnet war. »Wenn das keine Falle ist …«, murmelte Atlan und ging vorsichtig näher heran. »Stormock braucht endlich einen ruhigen Platz«, brummte Razamon. »Sein Zustand bessert sich nicht gerade, wenn ich ihn dauernd durch die Gegend schleppe.« »Als Gefangener in einer Glaskugel dürfte er sich noch schlechter fühlen«, konterte Atlan und gab Fenrir einen Wink. Der Wolf umkreiste das seltsame Haus mißtrauisch, fand jedoch offensichtlich nichts, was ihn zu einer Warnung veranlaßt hätte. Atlan spähte durch die offene Tür. »Zwei Sessel«, murmelte er. »Und vier Ruhelager – man könnte meinen, die Kugel wäre für uns maßgeschneidert worden.« Fenrir wedelte plötzlich mit dem Schwanz und schnüffelte aufgeregt. »Was habe ich gesagt!« knurrte Atlan. »Da, auf dem Tisch steht Fleisch. Zwei Portionen gebraten, die anderen beiden roh. Wasser in einem Trog, und dazu ein Krug und zwei Becher. Ich möchte wetten, daß wir Wein in dem Krug finden.«
21 Wieder kicherte es schrill, und wieder kam das Geräusch von oben. Zu sehen war nichts, und auch Fenrir gab durch nichts zu erkennen, daß jemand in der Nähe war. »Es ist mit Sicherheit eine Falle«, sagte Razamon mißmutig. »Aber was sollen wir machen? Hier draußen stehenbleiben, bis Stormock mir unter den Händen wegstirbt?« Atlan hatte eine scharfe Bemerkung auf der Zunge und schluckte sie gerade noch rechtzeitig hinunter. Ein Streit war das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten. »Wir gehen hinein«, entschied er. »Aber ich werde dafür sorgen, daß niemand heimlich die Tür hinter uns schließen kann!« Zuerst versuchte er, das Glas zu zerschlagen. Es ging nicht. Dann stemmte er sich gegen die Tür. Er hörte, wie in dem von einer kugelförmigen Lampe erleuchteten Raum Razamon leise auf den großen Vogel einredete. Fenrir stand dicht vor der Tür. Er hechelte aufgeregt, blieb aber immer noch bei Atlan. Der Arkonide setzte seine ganze Kraft ein. Er war versucht, Razamon anzubrüllen. Der Pthorer hätte das Hindernis mit seinen gewaltigen Kräften weit schneller überwinden können. Endlich knirschte es da, wo die Tür mit der Glaswand verbunden war. Atlan richtete sich schweratmend auf und besah sich den Schaden. Er hatte erwartet, Splitter vorzufinden, gesprengte Scharniere oder Ähnliches. Aber das Glas sah hier nicht anders aus als an vielen anderen Stellen. Sicherheitshalber brach er ein paar Äste von einem Strauch ab, der in der Nähe wuchs. Mit viel Mühe klemmte er sie so fest zwischen Tür und Wand der Kugel, daß sie nicht bei der ersten leichten Berührung herunterfallen konnten. Fenrir stürzte sich mit Heißhunger auf seine Fleischration, als Atlan endlich in die Kugel kletterte. Der Arkonide ließ sich erschöpft in einen der gläsernen Sessel sinken. Er war erstaunt darüber, wie bequem diese Dinger waren. Razamon fütterte Stormock mit winzigen Fleischhäppchen. Er sah Atlan an und lächelte flüchtig.
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»Der Braten schmeckt, und der Wein ist ausgezeichnet«, sagte er leise. »Die erste Wache übernehme ich.«
* Es war eine seltsame Nacht. Den ersten Teil hatte Atlan verschlafen. Er war todmüde, als Razamon ihn weckte. Fenrir lag auf dem Boden. Er träumte vermutlich von einer spannenden Jagd, denn seine Läufe zuckten manchmal, und jedesmal knurrte er leise. Der weiße Geier hatte es sich auf der zweiten Schlafgelegenheit bequem gemacht. Er saß darin wie in einem Nest. »Nur Lichter und Geräusche«, berichtete Razamon leise. Atlan nickte und ließ sich im Eingang nieder. Die Waggu legte er neben sich. Immer stärker wurde in ihm der Eindruck, daß diese Oase ein unwirkliches Eigenleben führte. Vielleicht lag es an den Lichterscheinungen, die auf unberechenbaren Wegen auftauchten und wieder verschwanden. Ab und zu ertönte ein grauenhaftes Knarren und Knistern. Die metallenen Gebilde schienen sich zu recken und ihre Formen zu verändern. Gegen Morgen frischte der Wind auf. Er heulte um die Kanten hoher Säulen, wimmerte zwischen den gläsernen Gefängnissen, raste pfeifend durch die Bogengänge und trieb das Wasser über die schartigen Ufer eines kleinen Teiches ganz in der Nähe. Aber er brachte keinen Sand mit sich. Als Atlan nach oben sah, konnte er keinen einzigen Stern mehr entdecken. Wahrscheinlich tobte in der Wüste Fylln wieder einmal ein Sandsturm. In Teimabor war davon nicht viel zu merken. Nach einer guten Stunde ließ der Wind nach. Sekunden später wurde die Sicht besser. Durch einen Schleier von Staub sah Atlan die Dünen jenseits der Grenze zu dieser Oase. Sie bewegten sich, wälzten sich wie riesige Schnecken vorwärts. Der Sturm legte sich schnell. Die Dünen kamen zur Ruhe. »Komisch«, murmelte Atlan. »Um die
Oase machen sie offensichtlich einen weiten Bogen.« Er zuckte zusammen, als dicht neben seinem rechten Ohr dieses widerliche Kichern ertönte. Blitzschnell hob er die Waggu – aber er fand kein Ziel. Das Kichern entfernte sich. In einem Durchgang, etwa zehn Meter entfernt, bewegte sich etwas Dunkles von unbestimmbarer Form. Der Arkonide zielte, aber da war das Etwas schon wieder verschwunden. »Wenn das die Schattenkullja war«, sagte er laut, »dann ist sie entweder noch ein Kind, oder sie ist nicht bei Sinnen. Anders kann ich mir solche Spiele nicht erklären.« Er wartete auf das Kichern, das vielleicht als Antwort auf seine Herausforderung erklingen konnte. Es blieb still. Etwas später weckte er Razamon. Stormock hockte immer noch mit geschlossenen Augen da. Der Pthorer sah den Vogel besorgt an. »Das Fleisch ist alle«, murmelte er. »Die Fütterung der Raubtiere wird sicher bald erfolgen«, meinte Atlan sarkastisch. »Es sei denn, heute findet ein Fastentag statt.« Razamon antwortete nicht. Er trat vor die Tür und reckte sich ausgiebig. Fenrir sprang an ihm vorbei und lief im schnellen Trab zu dem Teich, um dort zu trinken und sich nach einer Beute umzuschauen. »Ich schwimme eine Runde«, erklärte Razamon. »Bleibst du solange in der Kugel und paßt auf?« »Was bleibt mir anderes übrig«, murmelte Atlan, denn der Pthorer lief bereits hinter dem Wolf her. Im Augenblick sah man sehr deutlich, daß er das linke Bein nachzog. Der Zeitklumpen machte sich bemerkbar – ein Begriff, unter dem Atlan sich immer noch nichts vorstellen konnte. Immerhin hatte er eines herausgefunden: Wenn Razamon sich bedroht fühlte, war von seiner »Behinderung« so gut wie nichts zu merken. Insofern war Razamons Hinken immer ein gutes Zeichen.
Die Herrin von Teimabor »Da sitzen wir nun beide«, sagte er zu Stormock. »Dir hat man die Federn gestutzt, aber das ist kein Grund zum Trauern, denn die Dinger wachsen nach. Mir dagegen hat man die gesamte Ausrüstung genommen, als wir uns diesem verdammten Land näherten. Wenn du genau darüber nachdenkst, wirst du feststellen, daß Razamon und ich viel schlimmer dran sind als du. Also stell dich nicht so an und werde wieder gesund, he?« Stormock öffnete ein Auge, musterte den Arkoniden mißbilligend und krächzte leise. Als Atlan vorsichtig die Hand ausstreckte, hackte Stormock blitzschnell nach ihm. Der Arkonide war darauf vorbereitet und kam unverletzt davon. »Na siehst du«, sagte er lächelnd. »Du bist auf dem Wege der Besserung.« Draußen fegte kichernd ein düsteres Etwas vorbei. »Nach der solltest du hacken«, sagte Atlan zu dem Geier. »Und nicht nach mir, du undankbarer Vogel.« Stormock rührte sich nicht. Vielleicht schlief er, vielleicht verstellte er sich aber auch nur. Atlan traute diesem Geier so ziemlich alles zu. Er wartete, bis Razamon zurückkehrte, dann nahm er selbst ein Bad. Das Wasser war kühl und frisch. Die ersten Sonnenstrahlen drangen bis in das Tal vor. »Kein Service«, murmelte Atlan mißbilligend. »Schattenkullja!« rief er laut. »Ich brauche ein Handtuch. Hörst du? Ein Handtuch, Schattenkullja!« Razamon erschien besorgt in der Türöffnung. Atlan winkte ärgerlich ab. Auf der anderen Seite des Teiches knurrte Fenrir triumphierend. Er hatte ein hasenähnliches Tier erwischt. Der Arkonide wartete, bis die Sonnenstrahlen ihn getrocknet hatten, dann klopfte er den Sand aus der Tuchkleidung. Langsam schlenderte er zum Glashaus zurück. Als er eintrat, saß Razamon auf dem Rand des gläsernen Lagers und streichelte Stormock, wobei er beruhigende Worte vor sich hinmurmelte.
23 »Nett, daß du mit dem Frühstück gewartet hast«, sagte Atlan und ließ sich seufzend in einen Sessel sinken. Razamon fuhr hoch. Ungläubig starrte er auf den Tisch. »Wie ist die Bedienung?« fragte Atlan und betrachtete zufrieden den Teller, der vor ihm stand. Brot war vorhanden, es sah nur etwas fremd aus, roch aber sehr verführerisch. Daneben lagen Früchte und in dünne Scheiben geschnittenes Dörrfleisch. »Nicht gerade luxuriös, aber sättigend. Das wird uns neuen Schwung geben. Sag schon, wer das Zeug gebracht hat. Du mußt ihn doch gesehen haben!« »Willst du dich über mich lustig machen?« krächzte Razamon. »Ich habe keine Ahnung, woher das alles kommt. Hier war jedenfalls niemand. Das hätte ich doch merken müssen!« Atlan zuckte mit den Schultern. Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Normalerweise ließ Razamon sich nicht so leicht zum besten halten. Aber er hatte sich vielleicht zu sehr auf Stormock konzentriert und darüber seine Umgebung vergessen. Der Arkonide verzichtete auf weitere Bemerkungen, denn er sah, wie es in dem Pthorer arbeitete. »Das ist vermutlich für Stormock«, sagte er leise und hielt Razamon eine Schale mit kleinen Fleischbrocken hin. »Und Fenrir?« »Hat sich selbst etwas besorgt.« Während Razamon den Vogel fütterte, dachte Atlan darüber nach, ob die geheimnisvolle Schattenkullja für diese Vorgänge verantwortlich war. Wenn ja, dann beobachtete sie die Eindringlinge in ihrem Reich sehr genau. Sie hatte kein Futter für den Wolf bereitgestellt, weil sie wußte, daß Fenrir an diesem Morgen nichts brauchte. Und sie hatte dafür gesorgt, daß Stormocks Fleisch kleingeschnitten war, damit Razamon den Vogel besser füttern konnte. »Wie bei Hänsel und Gretel«, murmelte Atlan vor sich hin. Razamon hob irritiert den Kopf. »Ein altes, terranisches Märchen«, erklär-
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te Atlan verlegen. »Nichts von Bedeutung. Bist du fertig?« Der Pthorer nickte. »Ich möchte mich hier umsehen«, sagte Atlan. »Kommst du mit?« »Ich weiß nicht, ob ich ihn alleine lassen kann«, murmelte Razamon und blickte auf Stormock hinab. »Fenrir könnte auf ihn aufpassen«, schlug Atlan vor. »Nein. Nimm den Wolf mit. Das wird am besten sein.« Atlan war nicht ganz dieser Meinung, aber er schwieg. Er merkte nur zu deutlich, daß Razamon einer neuen Krise entgegentrieb. Er wünschte, er hätte ein Mittel, um diese verheerenden Anfälle zu verhindern.
4. Jetzt, im hellen Tageslicht, wirkte die Oase zwar immer noch unheimlich, aber vieles verlor den Anschein der Unwirklichkeit. Die verdrehten Figuren, die in der Nacht wie irrsinnige Statuen ausgesehen hatten, zeigten ihre wahre Natur. Sie bestanden aus Metall und ragten aus dem Boden auf, als wären sie fest mit ihm verwachsen. Atlan untersuchte sie näher und erkannte die Spuren anderer Materialien, die mit dem Metall verschmolzen waren. Alles erinnerte ihn an die Überreste technischer Einrichtungen, die die Angehörigen eines fremden Volkes hier aufgestellt haben mochten. Dieser Gedanke beruhigte ihn. Es paßte zu den übrigen Fakten. Eine kreisrunde Fläche, in deren Mittelpunkt einmal ein Turm gestanden hatte – denn jetzt sah er auch genau, daß dieser Turm ebenso deformiert war, wie die Gebilde rundherum. Eine Sendeanlage vielleicht, umgeben von verschiedenen Geräteblöcken. Dann waren Angreifer aufgetaucht, hatten das Gelände mit Hilfe von Hitzestrahlern in ein Trümmerfeld verwandelt und sich wieder zurückgezogen. Daran war nichts Unheimliches oder gar Magisches. Nicht die Schattenkullja hatte mit ihren Gedanken diese Einrichtungen geschaffen, sondern das Ganze war der Rest
einer untergegangenen Station. Im übrigen schien die Schattenkullja eine zwiespältige Natur zu haben. Überall gab es die Glaskugeln, und ihre Türen blieben geschlossen. Die Gefangenen hinter den durchsichtigen Wänden machten nicht den Eindruck, als wären sie in dieser Umgebung glücklich. Andererseits gab es die Gärten. Im Sonnenschein entfalteten sich unzählige Blüten. Kleine Springbrunnen waren so geschickt zwischen Steinen und Pflanzen angebracht, daß sie keineswegs kitschig wirkten. Blühende Sträucher und kleine Bäume spendeten Schatten, es gab dichte, grüne Rasenflächen und viele Ruheplätze. Und das alles war so gepflegt und so geschickt angelegt, daß Atlan sich manchmal in einen Park in TerraniaCity versetzt fühlte. »Was hältst du davon?« fragte er Fenrir und kraulte den Wolf hinter den Ohren. »Das muß schon ein merkwürdiges Weib sein, was? Sie gilt als die Bosheit in Person, und wenn ich mir die armen Kerle in den Glaskugeln ansehe, muß ich dem zustimmen. Andererseits legt sie sich solche Gärten an. Wo mag sie stecken? Kannst du es nicht herausfinden?« Der Wolf schmiegte sich an den Arkoniden, und Atlan strich mit der Hand die struppige Mähne glatt. »Geht nicht, hm? Mach dir nichts daraus. Ich hätte sie in der letzten Nacht zehnmal erwischen müssen. Komm. Wir sehen uns da drüben um.« In einer Kugel saß ein Mann, der Atlan auf den ersten Blick einen gräßlichen Schrecken einjagte. »Razamon!« stöhnte er dumpf, dann rannte er los. Fenrir folgte ihm, gab aber keinen Laut von sich. Dicht vor der Kugel blieb der Arkonide keuchend stehen. »Wie hat sie das gemacht?« schrie er. »Rede doch endlich! Sag mir, wo ich sie finden kann. Ich bringe sie um, wenn sie dich nicht auf der Stelle freiläßt!« Das Kichern schrillte in seinen Ohren.
Die Herrin von Teimabor Fenrir stieß seine feuchte Nase gegen die Hand des Arkoniden. Atlan fuhr herum und sah den Schatten, der hinter einem Busch verschwand. »Warum hast du sie nicht verfolgt?« fragte er den Wolf vorwurfsvoll. Fenrir sah ihn verständnislos an. Dann blickte er zur Glaskugel hinüber, drehte sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und hob erwartungsvoll den rechten Vorderlauf. Atlan stutzte. Er sah den Mann in der Kugel genauer an. Es war ein Berserker. Aber es war nicht Razamon.
* Die Unterschiede waren groß, wenn man erst einmal auf die richtige Spur kam. Das Gesicht dieses Mannes war entspannt. So sah Razamon nicht einmal im Schlaf aus. Alle Härte war daraus verschwunden. Die schwarzen Augen blickten nicht scharf und stechend, sondern sanft. Der Mann bewegte sich lässig, ohne jene innere Spannung, die Razamon eigentlich nie ganz verlor. »Wie heißt du?« fragte Atlan. Der Berserker lächelte freundlich. »Zollor«, sagte er mit einer angenehm klingenden Stimme. »Wie kommst du hierher?« Zollor bewegte in einer unsicheren Geste die Hände. »Ich weiß es nicht.« »Die Schattenkullja hat dich eingefangen, nicht wahr?« »Die Schattenkullja …« »Erinnerst du dich nicht mehr daran?« Zollor schwieg, und Atlan befürchtete bereits, den Kontakt zu diesem seltsamen Gefangenen schon wieder verloren zu haben. Aber dann antwortete Zollor doch. »Irgendwann wachte ich auf«, sagte er gedehnt. »Und da war ich hier.« »Wo warst du vorher?« »Ich weiß es nicht.« Amnesie, dachte Atlan mißmutig. Genau wie bei Razamon. Aber Zollor wurde nicht von den Herren der FESTUNG verstoßen –
25 oder doch? Er beobachtete den Berserker. Die wenigen Bewegungen ließen keinen sicheren Schluß zu. »Trägst du einen Zeitklumpen?« fragte der Arkonide schließlich. Zollor sah ihn verständnislos an. »Schon gut«, murmelte Atlan. »Es war nur so ein Gedanke. Wie lange steckst du schon in dieser Kugel?« »Ich weiß es nicht. Die Tage kommen und gehen, weißt du? Es ist zu mühsam, sie zu zählen.« »Warum befreist du dich nicht?« »Womit? Ich habe weder Werkzeuge noch Waffen.« »Du hast dich selbst, und das sollte genügen.« Wieder dieser verständnislose Blick. Allmählich kam dem Arkoniden die Angelegenheit verdächtig vor. Hatte er sich geirrt? War Zollor doch kein Berserker? Aber die Ähnlichkeit war unverkennbar. Und wenn Zollor sich in einer bestimmten Position zu der kugelförmigen Wand befand, konnte Atlan das Spiegelbild des Berserkers sehen. Es war unvollkommen. Die Augen bildeten schwarze Löcher darin. Dieser Umstand beseitigte die letzten Zweifel. Aber warum saß der Bursche dann immer noch in seinem Gefängnis? Das Glas konnte nicht widerstandsfähiger sein als Stein oder Metall. Wenn Zollor seine Berserkerwut bekam, konnte er die Wände mit der bloßen Hand in einen Scherbenhaufen verwandeln. Der Arkonide überlegte, ob die Schattenkullja vielleicht ein Mittel gefunden hatte, selbst einen Berserker zu zähmen. »Gefällt es dir da drin?« fragte er. Zollor lachte bitter. »Nein«, antwortete er. »Ich bin ein Gefangener. Wie kommt es, daß du noch frei herumläufst?« »Wenn ich das wüßte«, murmelte Atlan, »wäre ich der Lösung um vieles näher. Packt dich niemals die Wut? Kämpfst du nicht gegen dein Schicksal an?« »Sicher kämpfe ich«, versicherte Zollor
26 ernsthaft. »Aber sie kennt die Eigenheiten jedes Gefangenen. Sie weiß, welchen Weg ich gewählt habe, und sie sorgt dafür, daß ich ihn nicht benutzen kann. Seit ich den Entschluß gefaßt habe, taucht kein brauchbares Werkzeug bei mir auf.« »Wie willst du es anstellen?« fragte Atlan gespannt. »Es gibt nur einen Weg«, sagte Zollor traurig. »Merkwürdig, daß du ihn nicht siehst. Viele sehen ihn nicht. Es ist eine innere Blindheit, glaube ich. Sie wollen nichts erkennen und verschließen sich vor der Wahrheit. Geh jetzt, ich möchte alleine sein.« »Das bist du doch immer!« Zollor antwortete nicht mehr. Er zog sich in die Mitte seiner Kugel zurück, hockte sich dort auf den Boden und summte leise vor sich hin. Sein Oberkörper schwankte im Rhythmus der Melodie vor und zurück. Der Arkonide spürte eine Gänsehaut auf seinem Rücken. Vorsichtig zog er sich zurück. Er überlegte, ob er nach Razamon sehen sollte. Der Pthorer war nicht in der besten Verfassung. Es konnte für die Schattenkullja nicht schwer sein, ihn in diesem Zustand zu überlisten. Seitdem er hatte erkennen müssen, daß die Glaskugeln selbst den Kräften eines Berserkers widerstanden, wuchs sein Respekt vor diesen Gefängnissen. Aber dann beschloß er, seinen Rundgang fortzusetzen. Irgendwo mußte er eine Spur finden, die ihn zu der Herrin dieser Oase führte. Er hatte nicht die Absicht, länger als irgend nötig in Teimabor zu bleiben. Aber ehe sie weiterzogen, brauchten sie verläßliche Aussagen darüber, in welche Richtung sie gehen mußten, und wie groß die Entfernung war, die sie bis zum Rand der Wüste zurücklegen mußten. Sie brauchten Behälter, in denen sie Wasser mitnehmen konnten, und genügend Proviant auch für Fenrir und Stormock. Der große Wolf hielt sich immer dicht neben Atlan. Gegen Mittag hatten sie ungefähr die Hälfte der Oase untersucht – flüchtig zwar, aber genau genug, um zu wissen, daß
Marianne Sydow die Schattenkullja in diesem Gebiet kein Versteck hatte. Allmählich fragte Atlan sich, ob dieses Wesen überhaupt ein Versteck brauchte. Vielleicht gab es gar keine Schattenkullja. »Und woher kommt das Essen?« fragte Razamon, als der Arkonide sich beim Mittagsmahl mit ihm über seine Vermutungen unterhielt. »Es kann eine robotgesteuerte Station sein. Hier oben ist zwar alles zerstört worden, aber unter uns gibt es möglicherweise noch Maschinen, die einwandfrei funktionieren.« »Eine bestechende Idee«, murmelte der Pthorer nachdenklich. »Nur paßt sie leider nicht zu diesem verdammten Land. In deiner Welt mögen solche übergeschnappten Roboter vorkommen. Hier gilt die Technik nicht besonders viel.« »Wir haben genug Beweise gesehen, die auf das Gegenteil hindeuten. Wolterhaven mit seinen Robotbürgern zum Beispiel. Oder die Feste Grool. Und zum Schluß die Senke der verlorenen Seelen.« »Das sind technische Einrichtungen«, gab Razamon zu. »Aber sie ähneln nur im Endergebnis den Dingen, die wir von Terra her kennen. Die Basis ist grundverschieden.« Atlan beschloß, dieses Thema nicht weiterzuverfolgen. Er war gereizt und ungeduldig, und er fürchtete, unversehens in ein Streitgespräch zu geraten. Die Folgen konnten vernichtend sein. Er erzählte Razamon von dem Berserker, den er getroffen hatte. »Ein Mitglied meiner Familie!« stieß Razamon aufgeregt hervor. »Hier, an diesem Ort! Ich muß ihn sehen!« »Er wird dir nicht viel sagen können«, warnte Atlan. »Er hat fast alles vergessen.« »Wenn ich mit ihm spreche, wird er sich vielleicht erinnern«, wehrte Razamon ab. »Wo finde ich ihn?« »Willst du alleine gehen?« Razamon nickte nur. Atlan beschrieb ihm den Weg und sah dem Pthorer seufzend nach. Er ahnte, daß seinem Freund eine schlimme Enttäuschung bevorstand. Fenrir
Die Herrin von Teimabor bewegte sich unruhig, ging ein paar Schritte hinter Razamon her und sah sich dann nach dem Arkoniden um. »Nein, Grauer«, sagte Atlan leise. »Komm zurück. Er kann dich jetzt nicht gebrauchen.« Fenrir fügte sich mit einem bekümmerten Winseln. Atlan überlegte, ob er den Rundgang fortsetzen sollte, aber er brachte es nicht übers Herz, Stormock alleine zu lassen. Der weiße Geier behandelte den Arkoniden zwar nicht gerade zuvorkommend, aber wenn dem Vogel während Razamons Abwesenheit etwas zustieß, würde der Pthorer endgültig die Nerven verlieren. Hinter ihm kicherte es. Er fuhr herum – die Kugel war leer. Aber auf dem Tisch lag etwas. Vorsichtig hob er die Glasphiole auf. Sie war ungefähr fünf Zentimeter lang und zwei Zentimeter dick und enthielt eine dunkelgrüne Flüssigkeit. Ratlos drehte er den kleinen Behälter zwischen den Fingern. »Was soll ich damit anfangen?« fragte er laut. Ein neues Kichern antwortete ihm. Wutentbrannt zog Atlan die Waggu aus dem Gürtel und drehte sich mehrmals im Kreis. »Wo steckst du?« schrie er. »Warum zeigst du dich nicht? Was soll dieses Spiel?« Die Schattenkullja brach ihre Schweigsamkeit. »Gib sie ihm, wenn er zurückkehrt«, flüsterte jemand, der – der Lautstärke nach zu urteilen – direkt neben Atlan hätte stehen müssen. »Wem?« fragte der Arkonide wild. Am liebsten hätte er die Umgebung mit dem lähmenden Energiestrahl bestrichen. Vielleicht konnte er damit das scheinbare Gespenst aus der Reserve locken. Aber bei einer solchen Maßnahme hätte er auch Fenrir und Stormock getroffen. Diesmal kam das Kichern vom Eingang. Fenrir sprang unversehens mit allen vieren gleichzeitig in die Luft. Seine scharfen Fän-
27 ge schnappten zu – aber er bekam nichts zu fassen. Der Wolf jaulte entsetzt auf und zog sich in den hintersten Winkel der Kugel zurück. »Schon gut«, murmelte Atlan beruhigend. »Sie wird dir nichts tun. Sei vernünftig und komm zu mir. Armer alter Grauer, da hast du dir einen schönen Schrecken einjagen lassen!« Er streichelte den Wolf und klopfte ihm den Hals, bis Fenrir sich beruhigt hatte. Stormock sah zu und krächzte eifersüchtig. Er hielt Atlan herausfordernd den Kopf hin, aber der Arkonide hütete sich, auf die scheinbare Vertraulichkeit des Geiers einzugehen. »Immerhin hat sie endlich mal den Mund aufgekriegt«, sagte er zu sich selbst. »Das ist ein Fortschritt. Ich bin gespannt, wie sie aussieht.« Fenrir blickte zu ihm auf. Er zeigte in einer verächtlich wirkenden Grimasse die Zähne. »Deine Vorstellungen von Schönheit müssen nicht unbedingt mit dem übereinstimmen, was ich gerne sehe«, sagte Atlan streng. »Wenn du sie häßlich findest – bitte sehr. Was machen wir mit dieser Phiole? Ich nehme an, daß sie für Razamon bestimmt ist. Das kann eigentlich nur bedeuten, daß das grüne Zeug tatsächlich ein Medikament ist. Sozusagen ein Beruhigungsmittel, Spezialentwicklung für Berserker. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Seine Anfälle gefallen mir gar nicht, aber wenn er von dem Zeug so wird wie Zollor …« Er schüttelte sich. Der Wolf hörte ihm geduldig zu. Atlan dachte nicht darüber nach, ob es einen Sinn hatte, dem Tier das alles zu erzählen. Niemand konnte beurteilen, was der Wolf tatsächlich verstand. Aber seit Razamon sich intensiv mit Stormock beschäftigte, hatte Atlan sich immer mehr um Fenrir gekümmert. Das Ergebnis dieser Bemühungen war positiv. Das Einverständnis zwischen Atlan und dem Wolf wurde von Tag zu Tag besser. Der Arkonide schrak hoch, als ein Schat-
28 ten über ihn fiel. Razamon stand vor dem Eingang. »Dafür verdient sie den Tod!« sagte der Pthorer dumpf. Atlan schwieg und dachte fieberhaft darüber nach, wie er seinem Freund die dunkelgrüne Medizin aufdrängen konnte. Razamon stand kurz vor einer Explosion. Der Arkonide konnte sich lebhaft vorstellen, warum die Schattenkullja ihm das Medikament zugespielt hatte. Sie wollte dem Pthorer helfen – nicht aus Nächstenliebe, sondern aus purem Eigennutz. Denn Razamon würde im Zustand der Raserei vieles zerstören, was sich nur schwer oder gar nicht ersetzen ließ. »Sie hat ihn eingesperrt wie ein Tier«, stöhnte Razamon. »Sie hat ihn zu einem lebenden Leichnam gemacht. Er kennt keine Gefühle mehr, er erinnert sich an nichts. Das einzige Ziel, das er noch hat, ist der Tod. Und sie verweigert ihm sogar das Recht, seinem Leben ein Ende zu setzen.« Das also war der Weg, von dem Zollor gesprochen hatte! »Ich werde sie umbringen«, murmelte Razamon, und seine Stimme bekam einen gequälten Klang. Die einzelnen Worte waren kaum noch zu verstehen. Atlan drehte die Phiole zwischen den Fingern. Er wußte, daß er etwas tun mußte, und er wußte auch, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Aber die Entscheidung fiel ihm fast zu schwer. Wieder stöhnte Razamon auf. Es schien, als wollte er etwas sagen. Seine Hände bewegten sich unruhig, und plötzlich drehte er sich um. Noch hatte er sich in der Gewalt. Er zitterte am ganzen Körper. Atlan gab Fenrir ein Zeichen. Während der Wolf sprang, öffnete der Arkonide die Phiole. Ein dumpfer Geruch ließ ihn zurückzucken. Der Wolf warf Razamon im ersten Ansturm zu Boden. Der Angriff kam so überraschend, daß der Pthorer für einen Augenblick fassungslos war. Wortlos starrte er Fenrir an, und seine Lippen bewegten sich in dem vergeblichen Versuch, dem Tier seinerseits einen Befehl zu erteilen. Es war äußerst fraglich, ob Fenrir ihm gehorcht hätte – der
Marianne Sydow Wolf schien zu ahnen, daß Razamon in solchen Augenblicken die Verantwortung über sich selbst nicht zu tragen vermochte. Als Atlan sich über ihn beugte, unternahm Razamon einen Versuch, sich zur Wehr zu setzen. Aber er hatte das gefährliche Stadium noch nicht erreicht. Sein Selbsterhaltungstrieb und ein Teil seiner Vernunft verhinderten es, daß er mit der Rücksichtslosigkeit des Berserkers vorging. Darum blieb Fenrir Sieger. Und als Atlan dem Pthorer befahl, den Mund zu öffnen, lagen die Zähne des Wolfes an Razamons Halsschlagader. Zweifellos würde Fenrir erhebliche Skrupel haben, diesen Mann tatsächlich zu verletzen – die Drohung verlor dadurch nichts an Wirksamkeit. Vor der Phiole schreckte Razamon zurück, aber der Arkonide blieb hart. Und dann hatte der Pthorer das dunkelgrüne Gebräu geschluckt. Sekunden vergingen, in denen Atlan verzweifelt hoffte, daß seine Tat positive Folgen haben möge. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Das grüne Zeug konnte ein tödliches Gift sein, mit dem die Schattenkullja Razamon als ersten und gefährlichsten Gegner ausschalten wollte. Oder eine Droge, die so stark war, daß der Pthorer für immer in ihrem Bann leben mußte. Oder auch etwas, das außerhalb seiner Vorstellungskraft lag, wie die wandernden Dünen. Dann stand Fenrir plötzlich auf. Razamon blieb entspannt liegen. Er atmete tief und regelmäßig. »Wie fühlst du dich?« fragte Atlan vorsichtig. Razamon stemmte sich auf die Ellenbogen. »Wie nach fünf Stunden Stahlbad«, grollte er. »Ist noch etwas Eßbares da? Ich komme fast um vor Hunger!«
5. Obwohl Razamon selbst versicherte, keine lästigen Nebenwirkungen zu spüren, blieb Atlan mißtrauisch. Er beobachtete den
Die Herrin von Teimabor Pthorer den ganzen Nachmittag über. Den geplanten Rundgang verschob er. Fenrir nahm die Gelegenheit wahr und ging auf die Jagd. Es gab in der Oase kaninchenähnliche Tiere, die sich ziemlich leicht erwischen ließen. Die Schattenkullja hatte offensichtlich nichts dagegen einzuwenden, daß der Bestand der Nager reduziert wurde. Jedenfalls hinderte sie den Wolf nicht an seinem Vorhaben. Das Zeug aus der Phiole hatte Razamons Anfall abgeblockt. Atlans Befürchtung, daß es gleichzeitig aus dem Pthorer ein ähnlich gleichgültiges Geschöpf wie den Berserker in der Glaskugel machen könnte, war unbegründet. Razamon selbst lieferte den besten Beweis dafür. Er war alles andere als lammfromm. Als wieder einmal dieses irrsinnige Kichern erklang, sprang er wütend auf und schüttelte die Fäuste. »Warte nur!« schrie er. »Wenn du mir in die Hände fällst, wird dir das Kichern für alle Zeiten vergehen!« Der Schattenkullja imponierte er damit wenig. Den ganzen Nachmittag hindurch trieb sie ihr seltsames Spiel. Atlan fragte sich, ob das Wesen, das sich hinter diesem Namen verbarg, tatsächlich unterwegs war, oder ob die Lichterscheinungen und das Kichern nicht auch von einer Automatik erzeugt werden konnten. Er fand unzählige Theorien und Möglichkeiten und gab das Grübeln schließlich auf. Stillschweigend einigten er und Razamon sich darauf, in der Oase zu bleiben, bis Stormock kräftig genug war. Offensichtlich drohte ihnen in Teimabor keine reale Gefahr. Das Geisterlicht und das Gekicher würden sie nicht um den Verstand bringen, und es gab hier alles, was sie zum Leben brauchten. Sobald Stormock transportfähig war, würden sie aufbrechen – alles andere würde sich ergeben. Dennoch teilten sie die Nacht in zwei Wachen ein. Atlan übernahm den größeren Teil davon. Dank seines Zellaktivators brauchte er wenig Schlaf. Die zweite Nacht in Teimabor war nicht
29 besser als die erste. Zwar tobte diesmal kein Sandsturm über der Wüste Fylln, aber die Leuchterscheinungen und die Geräusche traten dafür um so deutlicher in Erscheinung. Inzwischen hatten die beiden Männer sich daran gewöhnt. So war Atlan auch nicht verwundert, als vor dem Eingang plötzlich ein greller Feuerball erschien. Es war bereits nach Mitternacht. Razamon schlief, Fenrir und Stormock ruhten ebenfalls. Der Feuerball bewegte sich unruhig, und Atlan sah ihm gelassen zu. Er war am Abend mit einem solchen Licht zusammengestoßen. Seitdem wußte er, daß diese Erscheinungen für organische Wesen ungefährlich waren. Man konnte hindurchgehen, ohne irgend etwas zu spüren. »Du bist ein Fremder in unserer Welt«, sagte der Feuerball plötzlich. Atlan zuckte zusammen und griff nach der Waffe. Das Ding vor dem Eingang kicherte schrill. Der Arkonide kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Verschwommen erkannte er hinter dem Licht die Umrisse eines humanoiden Wesens. Für einen Augenblick wurde das Bild klarer – er sah eine Frau von unbestimmbarem Alter, die von Flammen umweht war. »Schattenkullja?« fragte er vorsichtig. »So nennt man mich«, gab das feurige Etwas trocken zurück. »Es ist nicht dein richtiger Name?« »Ein Name ist so gut wie der andere«, erwiderte die Schattenkullja wegwerfend. »Ich habe dich und deinen Freund beobachtet und bewirtet. Das ist – gewissermaßen – ungewöhnlich für hiesige Verhältnisse.« Fenrir war aufgewacht und tauchte neben Atlan auf. Der Arkonide legte ihm beruhigend die Hand auf den Kopf. »Mit anderen Worten: Du hast uns einen für dich ungewohnten Dienst erwiesen und erwartest von uns eine Gegenleistung.« »So ist es«, kicherte die Schattenkullja. »Ich ahnte bereits, daß du schnell begreifen würdest. Die meisten Wesen, die sich hier-
30 her verirren, sind schon von der Wüste geprägt. Wen die rollenden Berge nicht um den Verstand bringen, um den kümmern sich die Dorgonen.« »Ich dachte, die sind ausgestorben!« Der Feuerball bekam einen leuchtenden Arm und wedelte damit in der Luft herum. »Narrengeschwätz!« sagte die Schattenkullja verächtlich. »Nur die Wüste selbst weiß, was in ihr lebt. Wer von draußen kommt, bringt so viele feste Gedanken mit, daß sich ihm die Wirklichkeit gar nicht erst zeigt. Ihr müßt außergewöhnliche Leute sein, denn ihr habt Dinge gesehen, die manche Technos in ihrem ganzen Leben nicht geboten bekommen.« Atlan fand, daß das Gespräch in Bereiche geriet, die gefährlich werden konnten. »Was willst du?« fragte er. »Ich brauche Hilfe.« Verwundert sah der Arkonide den Ball an. Die feurigen Schlieren bewegten sich unruhig. Ab und zu wurde ein Teil der Frau sichtbar, die sich hinter diesem Vorhang versteckte, aber das Feuer verzerrte alle Konturen. Atlan vermutete, daß dieses Feuer nichts anderes war, als eine Energieblase. Er wußte jetzt mit einiger Sicherheit, daß es die Schattenkullja tatsächlich gab. Aber mehr denn je war er davon überzeugt, daß alles, was in Teimabor geschah, mit Magie nicht das geringste zu tun hatte. Diese Frau – falls es eine war – bediente sich der Errungenschaften einer Technik, deren Erzeuger irgendwann an diesem Ort gelebt hatten. »Hilfe?« fragte er gedehnt. »Du hast bessere Mittel zur Verfügung als wir. Wie sollten wir dir helfen können?« »Ich werde es dir zeigen. Vom Turm aus kannst du sehen, welche Gefahr da draußen droht.« Atlan zögerte: War das eine Falle? Wollte die Schattenkullja ihn aus der Kugel locken, um Razamon in ihre Gewalt zu bekommen? Oder hatte sie es auf den Arkoniden selbst abgesehen? Es schien, als hätte die Schattenkullja die
Marianne Sydow Zweifel erraten, mit denen Atlan sich herumplagte. »Gegen meinen Willen«, sagte sie, »hättet ihr Teimabor niemals gefunden, geschweige denn betreten. Und jeder Schritt, den ihr hier getan habt, hätte euren Tod oder ewige Gefangenschaft mit sich gebracht, wenn ich es gewollt hätte. Alles, was du hier siehst, gehorcht mir.« Atlan nickte nachdenklich. Zweifellos gab es in Teimabor unzählige Fallen. Wahrscheinlich konnte die Schattenkullja sie von einer zentralen Schaltstelle aus ganz nach Wunsch aktivieren oder stillegen. Natürlich war ihr daran gelegen, den Mythos aufrechtzuerhalten, der die Oase umgab. Der Arkonide nahm an, daß sie die technische Seite des Ganzen sorgfältig verborgen hielt. Wer nur die Wirkung der geheimen Anlagen sah, mußte annehmen, daß eine gewaltige Magie dahintersteckte – es sei denn, ein Beobachter käme aus einer nüchternen, hochzivilisierten Umgebung hierher. »Ich werde mir die Sache ansehen«, sagte er. Als er aufstand, wollte Fenrir ihm folgen. »Der Wolf kann dich leider nicht begleiten«, sagte die Schattenkullja sofort. »Der Aufstieg wäre für ihn unmöglich.« Atlan sah Fenrir bedauernd an. Einerseits hielt er es für besser, wenn der Wolf während seiner Abwesenheit die Kugel bewachte. Andererseits hatte er sich an die Begleitung gewöhnt. Er überlegte, ob er Razamon wecken sollte, ließ es jedoch bleiben. Wenn der Pthorer unversehens mit dem Wesen konfrontiert wurde, das Zollor zu dem gemacht hatte, was er jetzt war, dann ließen sich Schwierigkeiten kaum vermeiden. Fenrir winselte und war offensichtlich unglücklich, als Atlan ihm den Befehl gab, ihm auf gar keinen Fall zu folgen und immer vor dem Eingang zur Kugel zu bleiben. Er hatte ein schlechtes Gewissen dem Wolf gegenüber, als er der Schattenkullja folgte, ohne sich noch einmal umzusehen. Je weiter sie in die Richtung des Turmes gingen, desto stärker schrumpfte das Ener-
Die Herrin von Teimabor giegebilde, das die Schattenkullja verbarg. Es verlor dadurch nichts an Intensität. Nach einiger Zeit umgab das grelle Flackern die nun völlig unsichtbare Gestalt wie ein maßgeschneiderter Anzug. Vor dem Turm blieb die Schattenkullja stehen. »Du kommst von der Welt jenseits des Wölbmantels, nicht wahr?« fragte sie. Atlan nickte. »Dann liegt der Verdacht nahe, daß du Pthor als eine Bedrohung empfindest. Oder bist du hergekommen, um Reichtum zu erwerben?« Der Arkonide lächelte amüsiert. »In meiner Welt«, sagte er, »gehöre ich zu denen, die alles haben, was normale Menschen für erstrebenswert halten.« »Du warst glücklich dort?« Atlan dachte an die Ereignisse kurz vor dem Erscheinen Pthors. »Nein«, sagte er. »Glücklich nicht.« »Aber du hattest Macht«, bohrte die Schattenkullja weiter. »Auch Reichtum, Freunde, Einfluß – oder nicht?« Atlan fragte sich vergebens, worauf sie hinauswollte. »Du weißt, daß ein undurchdringlicher Wall Pthor von deiner Welt trennt?« »Ja.« »War es dein Werk?« Was hatte dieses Wesen vor? Welchen Zweck erfüllten die eindringlichen Fragen? War sie eine Kreatur, die den Herren der FESTUNG diente? Wenn ja, dann hatte er das Spiel bereits verloren. Auf eine Antwort mehr oder weniger kam es nicht an. Es schien, als würde sie ihr Geheimnis erst lüften, wenn sie sich über den Standpunkt des Arkoniden klar geworden war. Sie ist keine Gegnerin der FESTUNG, meldete sich plötzlich der Extrasinn, aber sie arbeitet auch nicht mit den Herrschern zusammen. Sie empfindet sich selbst als das Zentrum ihres Lebens. »Es war zum Teil auch mein Werk«, gab Atlan zu und starrte die lodernde Gestalt gespannt an. »Warum fragst du?« »Du wolltest deine Welt gegen Pthor schützen«, stellte die Schattenkullja fest.
31 »Und um sicherzugehen, daß die Gefahr ferngehalten wurde, bist du selbst in dieses Land gekommen. Dein Begleiter gehört zur Familie Knyr, die am Taamberg lebte. Große Schande wurde auf sie geladen. Ihr habt dasselbe Ziel, aber unterschiedliche Motive.« Atlan wunderte sich nicht darüber, daß die Schattenkullja die Zusammenhänge so gut kannte – jeder, der auch nur einen blassen Schimmer davon hatte, was auf Pthor vorging, hätte sich das zusammenreimen können. Die Schattenkullja deutete auf ein düsteres Loch in der Wand des Turmes. »Ich werde dir zeigen, was die Herren der FESTUNG planen«, versprach sie. »Komm – aber sei vorsichtig. Dieser Turm ist nicht ohne Gefahren.« Das hatte Atlan gar nicht anders erwartet. Früher mochte das Bauwerk einen imponierenden Anblick geboten haben, jetzt dagegen besaß es bestenfalls noch Schrottwert. Im Inneren sah man die Verwüstungen noch deutlicher. Hier mußten unvorstellbare Gewalten gewütet haben. Metallene Träger und Streben waren miteinander verwickelt und verknotet, manchmal auch korkenzieherartig verdreht. Es hatte einmal eine gewundene Treppe gegeben, von der aber nur noch ab und zu einzelne Stufen vorhanden waren. Die Schattenkullja führte Atlan zu einer Strickleiter. Das wackelige Gebilde zog sich durch den ganzen Turm und berührte dabei in unregelmäßigen Abständen die Seitenwände, vorspringende Metallplatten oder die Reste der Wendeltreppe. Es war eine anstrengende Kletterei. Atlan wunderte sich darüber, wie geschickt und sicher die Schattenkullja Sprosse um Sprosse erklomm. An einigen Stellen führte die Strickleiter als schwankende Brücke waagrecht von einer Wand zur anderen. Der Blick in die Tiefe, auf die spitzen Metallteile, die im Falle eines Absturzes unweigerlich zum Tode führen mußten, hätte so manchen erschauern lassen. Aber die Schattenkullja lief ungerührt aufrecht über die Abgründe hinweg.
32 Endlich hörte die Strickleiter auf, und die Schattenkullja blieb vor einer metallenen Platte stehen. Atlan konnte nicht erkennen, wie sie es anstellte, aber nach einer halben Sekunde wich die Platte zurück. Einen Schlüssel hatte die seltsame Frau jedenfalls nicht benutzt. Vor ihnen lag eine Plattform. Sie war etwa zwei Meter breit und wurde weder durch ein Geländer noch eine Brüstung begrenzt. Sie hörte ganz einfach auf, und die ausgezackten Ränder bewiesen, daß auch hier die ursprüngliche Form des Turmes gelitten hatte. Sie befanden sich jetzt in einer Höhe von ungefähr hundert Metern. Tief unten blinzelten als winzige Punkte die Lampen durch die Finsternis, die in den Kugelgefängnissen brannten. Die Schattenkullja trat bis an den Rand der Plattform und deutete mit einem flammenumwehten Arm in die Ferne. Zuerst sah Atlan nichts. Dann bemerkte er den hellen Schein am Himmel. Und nach einer Weile vernahm er hallende, metallische Töne. »Was ist das?« fragte er. »Eine Baustelle«, sagte die Schattenkullja erstaunlich nüchtern. »Mit der Barriere habt ihr die Herren der FESTUNG in Verlegenheit gebracht. Sie lieben so etwas nicht. Sie halten sich für allmächtig, glaube ich, und wenn sie auf Widerstand stoßen, werden sie böse. Dann setzen sie sich notfalls auch über Traditionen hinweg. Dort drüben arbeiten Technos, die unter normalen Umständen das Bewußtsein verloren hätten, ehe sie die Wüste Fylln auch nur erreichten. Es ist ein Sonderkommando.« »Du meinst, man baut dort etwas, womit man die Barriere durchbrechen könnte?« fragte Atlan aufgeregt. »Das ist der Sinn des Unternehmens.« Die Schattenkullja drehte sich langsam zur Seite. Für einen Augenblick glaubte Atlan jenseits des energetischen Umhangs bernsteinfarbene Augen zu sehen. »Du und dein Begleiter«, sagte sie, »ihr habt ein großes Risiko auf euch genommen, als ihr nach Pthor kamt. Ich frage mich, ob
Marianne Sydow ihr immer noch bereit seid, euer Leben zu riskieren für diese fremde Welt da draußen.« »Für uns ist Pthor fremd«, antwortete Atlan grob. »Und die Erde ist unsere Heimat.« »Sie bauen einen Kartaperator«, sagte die Schattenkullja, als wäre damit alles erklärt. »Was kann man damit anstellen?« fragte Atlan, nachdem er vergeblich auf eine Erklärung gewartet hatte. »Die Barriere hinwegfegen, zum Beispiel. Man will eine Gasse für die Horden der Nacht schaffen. Ich würde die teuflische Maschine selbst vernichten, aber ich kann es nicht. Du und dein Freund – ihr müßt es tun.« »Wir haben jeder eine Waggu und ein Messer«, sagte Atlan spöttisch. »Dazu einen verwundeten weißen Geier und einen Wolf, dessen Fähigkeiten zwar erstaunlich sind, der aber gegen den Kartaperator auch nichts ausrichten kann.« Die Schattenkullja produzierte ihr schrilles Kichern. »Komm!« befahl sie und ging zurück in den Turm. Atlan folgte ihr – und schrie überrascht auf, als er plötzlich unten vor dem Eingang stand. »Was war das?« fragte er. Die Schattenkullja gab keine Antwort. Sie lief wie ein überdimensionales Irrlicht vor ihm her. Er folgte ihr verwirrt. Natürlich ließen sich Dutzende Erklärungen finden, aber sie stellten ihn alle nicht zufrieden. Ein Antigravschacht fiel aus. Ein Transmitter – dann erhob sich die Frage, warum er nicht auch in der umgekehrten Richtung funktionierte. Außerdem vermißte der Arkonide die entsprechenden technischen Anlagen. Die Schattenkullja führte ihn fast bis zum entgegengesetzten Rand der Oase. Als sie stehenblieb, sah Atlan einen großen, polierten Block aus grauem Metall. Er war nicht verformt, sondern machte einen wohltuend normalen Eindruck. »Paß auf«, sagte die Schattenkullja kichernd. Ihre von glühenden Schlieren umschlossenen Hände hielten plötzlich einen seltsamen Gegenstand. Das Ding sah beina-
Die Herrin von Teimabor he aus wie eine falsch konstruierte Schere. Schlagartig begriff Atlan, daß es sich um eine Waffe handeln mußte. Er hatte so etwas noch nicht gesehen. Das Ding hatte zwei Handgriffe und zwei Läufe, war ungefähr dreißig Zentimeter lang und bestand aus einem roten Material. Die Schattenkullja richtete die »Schere« auf den Metallblock und betätigte einen Auslöser, der sich zwischen den Griffen befand. Aus den Läufen zuckten grelle Blitze, ein Gewitter aus Lichtern und Farben schloß den Metallblock ein. Das Ganze dauerte vielleicht eine Sekunde, dann ließ die Schattenkullja die Waffe sinken. »Wenn dem Kartaperator das zustößt«, sagte sie gelassen, »dürfte er nicht mehr imstande sein, eure Barriere auch nur anzukratzen.« Benommen sah Atlan den Block an. Jetzt wußte er, was mit der Oase geschehen war. Alle die seltsamen Gebilde waren entstanden, weil die Schattenkullja die scherenförmige Waffe eingesetzt hatte. Der Block hatte sich in ein verdrehtes, zerbeultes Etwas verwandelt.
* »Wie funktioniert das?« fragte Atlan, als er sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Die Siarta zapft viele verschiedene Dimensionen gleichzeitig an«, erklärte die Schattenkullja gelassen. »Einem solchen Ansturm zum Teil entgegengesetzter Energien ist auch der Kartaperator nicht gewachsen. Er wird genauso deformiert aussehen wie dieses Stück Metall.« Der Arkonide war verwundert darüber, wie selbstverständlich die Schattenkullja von fremden Dimensionen sprach. Woher hatte sie ihre Kenntnisse? Und woher hatte sie diese unglaubliche Waffe? »Die Siarta stammt von einer fremden Welt«, sagte die Schattenkullja, ohne Atlans Frage abzuwarten. »Ich glaube nicht, daß ei-
33 ne zweite Waffe dieser Art nach Pthor gelangt ist.« »Aber du willst sie uns geben? Hast du keine Angst, wir könnten uns mit der Siarta aus dem Staub machen?« Die Schattenkullja kicherte. »Nein«, behauptete sie. »Erstens werdet ihr nicht weglaufen können. Du glaubst nicht an Magie, aber ich kann dir versichern, daß diese Kraft sehr wirksam ist – zumindest hier, in diesem Land. Zweitens ist die Waffe für mich bei weitem nicht so wichtig, wie du denkst. Ich habe noch andere Mittel.« Atlan zweifelte daran nicht. »Was geschah mit der Welt, von der die Siarta stammt?« fragte er. »Sie wurde vernichtet«, antwortete die Schattenkullja gleichgültig. »Die Intelligenzen, die dort lebten, dürften sich nie mehr so weit nach oben arbeiten, daß ein Besuch auf ihrem Planeten nötig ist.« »Wie meinst du das?« Aber die Schattenkullja war nicht gewillt, auf dieses Thema einzugehen. »Ihr werdet euch beeilen müssen«, sagte sie. »Der Kartaperator ist bald einsatzfähig. Du, dein Freund und der Wolf – ihr werdet es schaffen. Um den weißen Geier werde ich mich solange kümmern. Ich bin sicher, daß er wieder gesund ist, wenn ihr zurückkehrt.« »Warum gehst du nicht selbst? Du kannst mit dieser Waffe besser umgehen.« »Ich sagte es schon. Ich kann es nicht tun. Es hätte auch keinen Sinn, dir die Gründe erklären zu wollen.« »Ich könnte mir denken«, murmelte der Arkonide, »daß du, wie alle Bewohner von Pthor, mehr oder weniger unter dem Einfluß derer stehst, die in der FESTUNG leben. Sie haben sicher dafür gesorgt, daß niemand gegen sie revoltiert.« »Sie brauchen sich vor niemandem zu fürchten«, wehrte die Schattenkullja ab. »Aber sie werden zurückschlagen, wenn jemand etwas unternimmt, was gegen ihre Interessen verstößt.« »Das ist logisch.«
34 Atlan glaubte, die Schattenkullja damit durchschaut zu haben. Sie wollte die beiden Fremdlinge vorschicken. Wenn dann die Herren der FESTUNG sich für die Zerstörung des Kartaperators rächen wollten, stand die Schattenkullja abseits. »So dumm sind sie nicht«, kicherte die Schattenkullja. Es war, als könne sie wirklich Gedanken lesen. »Sie wissen, von welcher Welt diese Waffe stammt, und sie wissen auch, daß ich sie besitze. Sie rechnen eben nur nicht damit, daß ich die Siarta gegen den Kartaperator richten könnte.« »Das heißt, daß du dich in Gefahr bringst.« »Diese Gefahr besteht bereits«, sagte die Schattenkullja ernst. »Was meinst du wohl, warum das Gerät mitten in der Wüste Fylln gebaut wird, weshalb man die Tradition bricht und die Technos herbringt? Der Kartaperator ist eine furchtbare Waffe und schwer zu bedienen. Sie läßt sich nicht immer genau genug auf das richten, was sie eigentlich vernichten soll. Wenn der Kartaperator zum Einsatz kommt, wird das mit einiger Wahrscheinlichkeit das Ende dieser Oase nach sich ziehen. Ich hatte Pech, als ich diesen Ort wählte, und jetzt ist es zu spät, um das alles an einen anderen Platz zu bringen.« »Mir scheint, hier ist ein Risiko so hoch wie das andere.« »Nicht unbedingt. Die Herren der FESTUNG treffen oft seltsame Entscheidungen.« Atlan wollte die Schattenkullja fragen, was es mit diesen geheimnisvollen »Herren« auf sich habe. Es schien, als wisse sie mehr darüber als irgendein anderer Bewohner dieses Landes, den Atlan bisher getroffen hatte. Die von grellem Licht umflossene Gestalt verblaßte vor seinen Augen. Für einen Augenblick dachte der Arkonide, der Schutzschirm wäre zusammengebrochen. Gespannt wartete er darauf, die Schattenkullja endlich klar und deutlich vor sich zu sehen. Aber anstelle der rätselhaften Frau erschien nur ein dunkler Fleck, der sich rasend schnell ent-
Marianne Sydow fernte. »Du darfst die Siarta nur einmal gegen ein und denselben Gegenstand richten«, flüsterte es hinter ihm. Er fuhr herum, aber der Platz war leer. »Merke es dir gut«, flüsterte es weiter, diesmal aus der entgegengesetzten Richtung. »Der zweite Schuß würde auf dich selbst zurückschlagen.« Er drehte sich im Kreis und suchte nach der leuchtenden Gestalt, nach einem Hinweis darauf, wo die Schattenkullja sich verborgen hielt. Aber er sah nichts. Dann stieß er mit dem Fuß gegen einen harten Gegenstand. Es war die Siarta. »Schattenkullja!« brüllte er. »Kannst du mich hören?« Ein leises Kichern antwortete ihm. Es war so nahe, daß Atlan glaubte, die merkwürdige Frau berühren zu können. Er rief noch einmal, aber diesmal erhielt er gar keine Antwort. Nachdenklich ging er zur Wohnkugel zurück.
6. »Ich werde Stormock auf keinen Fall zurücklassen«, sagte Razamon empört, als Atlan ihm am Morgen erklärte, was in der Nacht geschehen war. »Erstens traue ich der Schattenkullja nicht, und zweitens würde Stormock sich bei ihr sowieso nicht wohl fühlen!« »Aber wir haben einen Marsch durch die Wüste vor uns. Das Tier wäre unnötigen Strapazen ausgesetzt. Abgesehen davon wäre Stormock nur hinderlich, wenn es zu einem Kampf kommt. Es wird nicht einfach sein, nahe genug an den Kartaperator heranzukommen.« »Falls es dieses Ding überhaupt gibt«, knurrte Razamon abfällig. »Vielleicht ist es nur ein Trick. Sie will uns loswerden und Stormock für sich behalten.« »Unsinn!« widersprach Atlan energisch und hob die Siarta hoch. »Diese Waffe ist wirklich wertvoll, vor allem in einem Land wie Pthor. Sie hätte sie mir nicht gegeben,
Die Herrin von Teimabor wenn sie nicht davon überzeugt gewesen wäre, daß eine große Gefahr besteht.« »Stormock kommt trotzdem mit. Sieh ihn dir doch an!« Atlan betrachtete den weißen Geier verwundert. Die Veränderungen waren ihm vorher gar nicht aufgefallen. Der Vogel machte einen lebhaften Eindruck. Er war nicht mehr hilflos und schwach. Seine Augen glänzten, und als er Atlans Blicke bemerkte, entfaltete er demonstrativ die Schwingen. »Die Federn!« ächzte Atlan entgeistert. »Wie konnten sie so schnell wachsen?« »Das weiß ich auch nicht. Es muß wohl an dem Futter liegen, das die Schattenkullja für ihn geschickt hat.« »Wenn du recht hast, ist das ein deutlicher Beweis dafür, daß sie es ehrlich meint!« »Es beweist lediglich, daß sie an Stormocks Genesung interessiert ist. In ein paar Tagen wird er wieder fliegen können. Dann kann ihn niemand halten. Stormock kommt mit, und damit Schluß. Ich gehe kein Risiko mehr ein. Wenn die Schattenkullja den Handel ehrlich meint, habe ich einen anderen Vorschlag für sie.« »Welchen?« fragte Atlan gespannt. Razamon stand schweigend auf und entfernte sich ein paar Meter von der Wohnkugel. Er legte die Hände trichterförmig an den Mund. »Schattenkullja!« schrie er. »Ich habe deinen Vorschlag gehört. Er gefällt mir nicht. Ich werde den Geier mitnehmen. Aber du mußt die Gefangenen freilassen!« Sekundenlang blieb es still, dann klang das schrille Kichern auf, mit dem die Herrin von Teimabor sich zu melden pflegte. »Willst du mir Bedingungen stellen, Berserker?« fragte eine körperlose Stimme höhnisch. »Meinetwegen kannst du dich ruhig mit dem Vogel abschleppen. Aber die Gefangenen bleiben da, wo sie sind!« »Dann werden wir den Kartaperator nicht vernichten!« schrie Razamon zurück. »Damit würdest du dir und deinen Freunden jenseits der Barriere einen schlechten
35 Gefallen tun.« »Vielleicht. Woher soll ich wissen, daß der Kartaperator tatsächlich gegen die Barriere gerichtet wird? Genauso gut ist es möglich, daß die Herren der FESTUNG dich und deine sadistische Sammlung vernichten wollen!« Für einen Moment blieb es still. Es schien der Schattenkullja die Sprache verschlagen zu haben. Atlan wartete gespannt. »Dieser Verdacht ist absurd«, behauptete die Schattenkullja endlich. »Eine solche Behauptung ist kein Beweis für deine Aufrichtigkeit«, konterte Razamon. »Ich werde erst dann an die angebliche Bedrohung glauben, wenn du die Gefangenen freigibst.« Wieder entstand eine Pause. Razamons Argumente waren durchaus logisch. Atlan war zwar davon überzeugt, daß dieser Test überflüssig war, aber er hoffte, daß Razamons Plan aufging. »Bist du sicher, daß du den Gefangenen nicht eher schadest, indem du diese Bedingung stellst?« fragte die Schattenkullja. Razamon schwieg. Die Stimme der Schattenkullja schien von allen Seiten zugleich zu kommen. Atlan fragte sich, ob in den Metallblöcken Lautsprecher und Mikrophone verborgen waren. Irgendwo mußte es eine Zentrale geben, von der aus die Schattenkullja die ganze Oase überwachen konnte. Er nahm sich vor, später mit Fenrir noch einmal nach dieser Zentrale zu suchen. »Also gut«, sagte die Schattenkullja. »Du sollst deinen Willen haben. Wie du mit dem Ergebnis fertig wirst, ist deine Sache. Noch etwas: Ich werde euch Proviant und Wasser schicken. Wenn ihr nach der Vernichtung des Kartaperators hierher zurückkehrt, erhaltet ihr auch eine Karte, mit deren Hilfe ihr den Weg durch die Wüste Fylln finden könnt. Mehr habe ich euch nicht zu sagen.« »Es hat ja auch gereicht«, knurrte Razamon. »Unsere Ausrüstung ist da«, sagte Atlan leise und deutete auf den Tisch in der Wohn-
36 kugel. »Ja. Und da drüben öffnet sich eine Tür. Sie hat ihr Wort gehalten.« Sie sahen zu, wie der Gefangene – ein Techno – mühsam ins Freie kletterte. Mit unsicheren Schritten entfernte sich der Mann von der Kugel. Er ging direkt auf den Teich zu. Als er das Ufer erreichte, stolperte er und blieb im seichten Wasser liegen. Er versuchte gar nicht, sich aufzurichten. »Er wird ertrinken«, sagte Atlan entsetzt. Razamon war bereits unterwegs. Als Atlan ihn eingeholt hatte, trug der Pthorer den Techno bereits vom Wasser weg. Der Mann spuckte Wasser und rang keuchend nach Luft. Razamon setzte ihn vorsichtig auf den Boden. »Warum hast du das getan?« fragte er vorwurfsvoll. »Du mußt das Wasser doch gesehen haben. Oder bist du blind?« Der Techno antwortete nicht. Sie warteten ein paar Minuten, aber der Mann blieb einfach auf dem Boden sitzen und gab durch nichts zu verstehen, daß er auf Gesellschaft Wert legte. Razamon versuchte mehrmals, den Fremden zum Sprechen zu bringen. Der Techno schien ihn gar nicht zu hören. »Komm!« sagte Atlan schließlich. »Es gibt noch mehr Gefangene. Wir sollten nachsehen, wie es ihnen geht.« Eine böse Vorahnung sagte ihm, daß diese Befreiung kein guter Einfall gewesen war. Die Schattenkullja hatte Razamon gewarnt. Natürlich hatte auch Atlan diese Warnung nicht ernst genommen. Und die Ahnungen des Arkoniden wurden bestätigt. Kein einziger Gefangener konnte mit der Freiheit etwas anfangen. Viele entfernten sich nur wenige Meter von ihrem Gefängnis und saßen dann tatenlos herum. Sie sprachen nicht und achteten auf niemanden. Andere verkrochen sich in ihren Betten. Die blasse Frau, die sie zuerst gesehen hatten, kletterte in panischer Angst auf einen Baum, als sie die beiden Fremden bemerkte. Sie war nicht dazu zu bewegen, wieder auf den Boden zu-
Marianne Sydow rückzukehren. Der größte Schock erwartete sie, als sie an den Ort kamen, an dem sie den Berserker gefunden hatten. Auch seine Wohnkugel war verlassen. Atlan sah sich sichernd um, aber Razamon entdeckte vor dem Arkoniden, was geschehen war. Sein lauter Schrei ließ Atlan zusammenschrecken. Erschüttert starrte er den toten Berserker an. Der Mann, der Razamon so ähnlich sah, hatte die Gelegenheit benutzt, um endlich seinen Weg zu gehen: Er hatte sich erhängt. Lange Zeit stand Razamon regungslos da. Atlan fürchtete bereits, der Schock könnte einen der fürchterlichen Anfälle hervorrufen. Aber die Medizin der Schattenkullja wirkte immer noch. Endlich drehte Razamon sich langsam um. Atlan erschrak, als er das Gesicht des Pthorers sah. »Ich werde ihn rächen«, sagte Razamon. Atlan antwortete nicht. Der Pthorer wußte selbst, welche Schwierigkeiten sich diesem Versprechen entgegenstellten. »Du wirst einen Führer brauchen, wenn du sie finden willst!« sagte statt dessen eine schrille Stimme hinter dem Arkoniden. Er drehte sich um und starrte den kleinen, seltsamen Mann verblüfft an, der eben hinter der Wohnkugel hervorkam.
* »Wer bist du?« fragte Razamon, der sich als erster von seiner Überraschung erholt hatte. »Sindro«, antwortete der Zwerg und rieb sich eifrig die Hände. »Du kannst mich zur Schattenkullja führen?« »Aber ja!« versicherte Sindro überschwenglich. »Ich kenne alle Geheimnisse dieses Landes, warum sollte mir ausgerechnet das Versteck der Schattenkullja unbekannt geblieben sein?« »Worauf wartest du dann noch?« fragte Razamon ungeduldig. »Immer mit der Ruhe«, empfahl Sindro. »Erst müssen ein paar Bedingungen erfüllt
Die Herrin von Teimabor werden.« »Welchen Preis verlangst du?« Der kleine Mann wollte sich ausschütten vor Vergnügen. Atlan beobachtete ihn aufmerksam. Sindro war knapp einen Meter groß. Körper, Kopf und Gliedmaßen standen im richtigen Größenverhältnis zueinander. Auf dem Kopf trug Sindro eine Art Turban, unter dem schneeweißes Haar hervorlugte. Das Gesicht des Zwerges war faltig, und die Augen schimmerten rot wie die eines Arkoniden. Sindro trug ein einfaches, gelbes Gewand, das an eine Mönchskutte erinnerte und bis auf den Boden reichte. An den winzigen Fingern steckten zahlreiche Ringe mit riesigen Edelsteinen. »Ich habe alles, was ich mir wünsche«, versicherte Sindro. »Eure Quorks brauche ich nicht, und etwas anderes habt ihr ja sowieso nicht zu bieten. Ich meinte andere Bedingungen. Die Schattenkullja hat einen wunden Punkt. In unregelmäßigen Abständen bekommt sie – hm – Anfälle. Ihr werdet es selbst sehen und dann einiges verstehen, was euch bis jetzt rätselhaft erschien. Wenn es sie trifft, ist sie wehrlos. Nur dann kannst du deine Rache vollziehen – oder auch nicht.« »Was soll das heißen?« brauste Razamon auf. »Oh, es ist nichts«, versicherte Sindro hastig. »Wenn du sie wirklich töten willst – ich werde dich nicht daran hindern.« »Bis es soweit ist, sollten wir uns um die Gefangenen kümmern«, schlug Atlan vor. »Du willst diesen Wesen helfen?« fragte Sindro spöttisch. »Ich weiß, wie schwer das ist«, antwortete der Arkonide ärgerlich. »Wir können praktisch nichts für sie tun. Hier gibt es nicht einmal Medikamente. Aber wir können wenigstens aufpassen, daß sie sich nicht selbst oder gegenseitig umbringen.« »Das werden sie gewiß nicht tun«, murmelte der Zwerg. »Ich verstehe nur nicht, warum du deine Zeit an ein so hoffnungsloses Unterfangen verschwenden willst. Da
37 draußen bauen die Technos eine Waffe zusammen, die deine Welt bedroht – und du machst dir Sorgen um ein paar Verrückte.« »Das ist meine Sache!« sagte Atlan wütend. »Gut«, sagte Sindro. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Ich habe zwar nicht die Macht, die armen Kerle zu heilen, aber ich kann immerhin dafür sorgen, daß sie euch nicht beim Kampf um Teimabor behindern.« »Ich habe nicht die Absicht, um diese Oase zu kämpfen«, sagte Atlan verblüfft. Sindro schwieg, lächelte geheimnisvoll und zog einen kleinen Gegenstand aus der Tasche, dessen Formen dem Arkoniden bekannt vorkamen. Erst als Sindro das Instrument an die Lippen setzte, erkannte der Arkonide, worum es sich handelte. Es war eine Panflöte. Atlan wunderte sich darüber, wie ein solches Instrument nach Pthor kam, aber er fand keine Zeit, sich weiter den Kopf darüber zu zerbrechen. Sindro begann zu spielen. Dem Arkoniden war es ein Rätsel, auf welche Weise der Zwerg dem kleinen Instrument eine solche Fülle von Tönen entlockte. Außerdem hatte er sich immer für einigermaßen immun gegen Beeinflussungen aller Art gehalten. Sindros Lied jedoch, dieses simple Stückchen Musik, zog ihn völlig in seinen Bann. Es war eine einfache Melodie, auf unbestimmbare Weise traurig und heiter zugleich. Die seidenweichen Töne erzeugten ein Gefühl der Geborgenheit, gleichzeitig die Sehnsucht nach einer unendlichen Weite, wie es sie in dieser Form weder im Weltraum noch auf einem Planeten geben konnte. Der Arkonide fühlte sich restlos entspannt. Aber sein Geist war wacher und aufnahmebereiter denn je zuvor. Er war enttäuscht, als die Melodie abbrach. Die Töne schwangen in ihm nach. Die Vorstellung, daß er Sindros Lied vermutlich niemals wieder hören würde, war ihm fast unerträglich. Er sah Razamon an und stellte fest, daß es dem Pthorer nicht anders erging. »Jetzt sind alle wieder in ihren Wohnku-
38 geln«, sagte Sindro sachlich, und die anderen beiden Männer schraken beim Klang seiner Stimme zusammen. »Sie werden sie auch nicht mehr verlassen.« Es dauerte eine Weile, bis Atlan und Razamon die volle Bedeutung dieser Bemerkung begriffen. Razamon wollte zu einem Protest ansetzen, schwieg dann aber doch. Es war besser so. Diese bedauernswerten Kreaturen hatten zu lange unter dem Einfluß der Schattenkullja in den Glaskugeln gelebt. Sie wußten mit der Freiheit ohnehin nichts anzufangen. Den Gefahren, die jenseits der gläsernen Wände auf sie lauerten, waren sie hilflos ausgesetzt. Um so überraschter war Razamon, als Sindro weitersprach. »Diesmal werden sie freiwillig bleiben!« behauptete der Zwerg. »Die Schattenkullja wird keine Gelegenheit mehr haben, die Türen zu verschließen.« »Warum …«, setzte Atlan an und zuckte erschrocken zusammen, als – scheinbar in nächster Nähe – jemand laut aufstöhnte. »Es ist soweit«, verkündete Sindro. »Kommt!« Die Luft war erfüllt von lautem Stöhnen, Ächzen und Jammern. Obwohl der Himmel wolkenlos war, schien sich das Licht in der Oase zu verändern. Die metallenen Produkte der Siarta wurden zu kauernden Ungetümen, zwischen denen düstere Nebel wallten. Sindro ließ sich von all dem nicht beeindrucken. Selbstsicher schritt er vor den beiden Männern her. Fenrir hielt sich dicht neben Atlan. Dem Wolf war deutlich anzusehen, daß ihm die ganze Angelegenheit nicht geheuer war. Die Nebel verdichteten sich mit jedem Schritt. Als Atlan einmal den Kopf in den Nacken legte, erkannte er den Standort der Sonne nur an einem schweflig gelben Schimmer hinter einer Schicht, die wie treibender Ruß aussah. Ein Flüstern ging durch die Oase, aber die einzelnen Wörter blieben unverständlich. Die Bewohner der Glaskugeln, an denen sie vorüberkamen, starrten regungslos nach draußen. Aus den Spitzen der Metallblöcke züngelten kleine blaue
Marianne Sydow Flammen dem verdunkelten Himmel entgegen. Sie umrundeten den Turm. Sindro blieb unvermittelt stehen und hob die Hand. »Wir sind am Ziel«, sagte er. Ein Fauchen ertönte, und eine grelle Feuerlanze stach nach dem Zwerg. Sindro schien es gar nicht zu bemerken. »Denkt daran, daß es nicht nur um Rache geht. Ob ihr den Kartaperator nun zerstört oder nicht, ihr seid auf jeden Fall gezwungen, der Wüste zu trotzen. Die Schattenkullja hat eine Landkarte – nehmt sie an euch. Ich bin gespannt, wie ihr mit eurem Schicksal fertig werdet.« »Bleib hier!« rief Atlan, der bereits ahnte, daß Sindro sich verabschieden wollte. »Wir haben noch viele Fragen! Was bedeutet diese Oase? Wer sind die Herren der FESTUNG? Und was ist mit den wandernden Bergen und den Schneisen der Dorgonen los?« Sindro kicherte und legte die Hände vor der Brust zusammen. Die Konturen seines Körpers verschwammen. »Ihr werdet die Rätsel selbst lösen müssen!« rief er, bevor er verschwand. Er schien noch mehr zu sagen, aber seine Stimme war viel zu leise, und binnen weniger Sekunden wurden die letzten Laute vom plötzlich aufkommenden Wind verschluckt. »Was jetzt?« fragte Atlan ratlos. Die Wand des Turmes war glatt und fugenlos. Nirgends zeichnete sich eine Tür ab. Hatte Sindro sie belogen? Der schwarze Nebel wurde immer noch dichter. Razamon betastete die Wand und fluchte erbittert vor sich hin. »Sie muß hier ein Versteck haben«, überlegte Atlan. »Der Zwerg hat uns zum Narren gehalten«, sagte Razamon böse. »Ich wußte gleich, daß man ihm nicht trauen kann!« »Er hatte keinen vernünftigen Grund, uns zu belügen. Falls er ein Interesse daran hatte, daß wir die Schattenkullja nicht finden, hätte er sich ja lediglich zurückhalten brauchen. Wir hätten nicht einmal gewußt, daß der Nebel und das Stöhnen etwas mit unse-
Die Herrin von Teimabor rer Gastgeberin zu tun haben.« »Gastgeberin!« murmelte Razamon verächtlich. Atlan ging nicht darauf ein. Er hatte Fenrir die ganze Zeit über beobachtet und bemerkt, daß der Wolf wie gebannt auf den Boden starrte. »Wo ist es?« fragte der Arkonide leise. »Bring mich hin, Fenrir!« Der große Wolf bewegte sich zögernd und unsicher. Atlan hatte die rechte Hand auf den Hals des Tieres gelegt. Gemeinsam mit Fenrir bewegte er sich in verschlungenen Kurven vorwärts. Der Wolf blieb immer in der Nähe des Turmes, aber Atlan zweifelte sehr schnell selbst daran, daß Fenrir den Zugang zum Versteck der Schattenkullja finden würde. Um so überraschter war er, als vor seinen Füßen der Boden nach unten absackte. Sofort war Razamon zur Stelle. »Eine Treppe«, murmelte der Pthorer. »Komm!« Atlan verfluchte die Rachsucht, die Razamon vorwärtstrieb. Der Berserker eilte die Treppe hinunter, ohne sich auch nur einmal davon zu überzeugen, daß das Loch im Boden nicht eine Falle war. Aber Fenrir hatte keine Bedenken, die Treppe zu benutzen, und so lief der Arkonide hinter Razamon her. Am Ende der Treppe brannte eine winzige Lampe. Das Stöhnen der Schattenkullja hörte sich hier nicht lauter an als an jedem anderen Punkt in der Oase. Razamon hämmerte mit den Fäusten wütend auf eine Tür ein. »Laß mich mal«, murmelte Atlan. Der Pthorer trat zurück. Die Tür besaß weder ein Schloß, noch einen Riegel oder eine Klinke. Für den Arkoniden war klar, daß die Schattenkullja sich mit allen Mitteln davor schützte, daß jemand zufällig oder gewaltsam zu ihr vordrang. Diese Tür besaß also ein Geheimnis. Irgendwo mußte es einen Anhaltspunkt für die Lösung des Rätsels geben. Fenrir konnte diesmal nicht helfen. Vorsichtig tastete Atlan die Tür ab. Er spürte ein paar Unebenheiten, maß ihnen jedoch zu-
39 nächst keine Bedeutung zu. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, daß es auf der sonst glatten Fläche verschlungene Linien aus flachen Rillen gab. Er erinnerte sich daran, wie Fenrir den Zugang zur Treppe gefunden hatte. Nachdem er erst einmal auf die richtige Idee gekommen war, fiel es ihm nicht mehr schwer, den Anfang des Labyrinths aus Rillen zu finden. Er zerbrach sich gar nicht erst den Kopf darüber, warum die Schattenkullja sich ein derartig kompliziertes Verschlußsystem ausgedacht hatte. Zweifellos brauchte sie nicht diese zeitraubende Prozedur mitzumachen, wenn sie ihr Versteck betreten wollte. Razamon stieß zischend die Luft aus, als die Tür sich endlich öffnete. Atlan konnte es nicht verhindern, daß der Pthorer an ihm vorbei in den nächsten Raum stürmte. Der Arkonide hoffte nur, daß Razamon rechtzeitig zur Besinnung kam. Es war nicht nur sinnlos, sondern sogar gefährlich, wenn der Pthorer die Schattenkullja umbrachte. Sie hatten schon zu viele Spuren hinterlassen. Irgendwann mußten die Herren der FESTUNG auf die Eindringlinge aufmerksam werden. Er folgte dem Pthorer. Der Raum hinter der Tür war riesig. An einigen Stellen brannten Lampen, die aber nur ein ungewisses Zwielicht verbreiteten. Atlan sah weiter vorne einen Schatten, der sich schnell vorwärts bewegte und dann plötzlich stehenblieb. Beunruhigt rannte der Arkonide los. Und dann sah er die Schattenkullja vor sich.
7. In der Nacht, als sie ihm den Kartaperator gezeigt hatte, war Atlan aus irgendeinem Grund davon überzeugt gewesen, daß sich hinter dem flammenden Vorhang aus Energie eine wunderschöne Frau verbarg. Und das, obwohl er so gut wie nichts von ihr gesehen hatte. Vor ihm, auf einem unordentlichen Lager
40 aus Stoffetzen und Heu, lag das Zerrbild eines Menschen. Lange Zeit war Atlan unfähig, ein Wort zu sagen. Razamon schien es ähnlich zu ergehen. Er stand regungslos da, das Messer in der rechten Hand, und starrte voller Entsetzen auf den total verzerrten Körper, der sich auf dem Lager vor Schmerzen wand und krümmte. »Du kannst deine Rache vollziehen!« rief Sindros Stimme von weit her. Dann folgte ein höhnisches Lachen. Razamon zuckte zusammen. Er warf noch einen Blick auf die Schattenkullja, dann zuckte er mit den Schultern und steckte das Messer in den Gürtel zurück. »Komm«, sagte er zu Atlan. »Ich glaube, hier gibt es nichts mehr für uns zu tun.« »Wir können sie in diesem Zustand nicht alleine lassen«, murmelte der Arkonide unsicher. »Sindro behauptete, daß sie diese Anfälle öfter hat. Sie wird es auch diesmal überstehen. Bis sie sich wieder erholt hat, sollten wir besser verschwunden sein. Wir kennen jetzt ihr Geheimnis, und damit könnte sich einiges geändert haben.« »Wir haben die Siarta«, sagte Atlan. »Sie dürfte kaum eine Möglichkeit haben, sich gegen diese Waffe zu schützen.« »Das mag stimmen. Trotzdem bin ich dafür, daß wir Teimabor schnellstens verlassen. Vergiß nicht, daß draußen in der Wüste noch eine Aufgabe auf uns wartet. Wir müssen den Kartaperator zerstören! Das ist wichtiger als alles, was die Schattenkullja angeht. Dieser Zwerg sprach von einer Landkarte. Was meinst du, wo könnte das Ding in dieser Halle zu finden sein?« Atlan zuckte mit den Schultern. Hier, in unmittelbarer Nähe der Schattenkullja, war das Stöhnen und Jammern merkwürdigerweise nicht halb so laut wie außerhalb des Verstecks. Dem Arkoniden fiel es nicht leicht, sich auf die Suche nach der Landkarte zu konzentrieren, während die merkwürdige Herrin von Teimabor dicht neben ihm unvorstellbare Qualen durchlitt. Nur der Ge-
Marianne Sydow danke an den Kartaperator hielt ihn davon ab, alles andere von sich wegzuschieben und sich um diese bedauernswerte Frau zu kümmern. »Die Halle ist zwar groß«, überlegte er, »aber soviel ich erkennen kann, hat die Schattenkullja nur diesen Winkel bewohnt. Die Karte muß also hier zu finden sein.« »Falls sie sie nicht versteckt hat.« »Warum sollte sie? Es ist unwahrscheinlich, daß jemand bis hierher vordringt.« »Uns ist es immerhin gelungen.« »Das liegt lediglich daran, daß wir Hilfe bekamen. Komm, sehen wir mal nach, was hier so alles herumliegt.« Sie durchwühlten Truhen und Kästen und förderten dabei Unmengen von ebenso absonderlichen wie unverständlichen Gegenständen zutage. Sie vermieden es sorgfältig, während dieser Suche zu dem Lager hinüberzusehen. Fenrir blieb bei Atlan. Ab und zu winselte er leise und sah sich unruhig nach der Tür um. Am liebsten wäre er wohl davongelaufen. Nach Atlans Schätzung verging fast eine halbe Stunde, bis sie endlich einen Stapel grober Papierblätter entdeckten. Die meisten Blätter enthielten nur Zaubersprüche, in krausen Schriftzeichen geschrieben und von üppigen Ornamenten umrahmt. Außerdem gab es einen Übersichtsplan für Teimabor. Und ganz zuletzt fanden sie die Landkarte. Sie stellten fest, daß sie sich tatsächlich unerwartet weit von der Senke der verlorenen Seelen entfernt hatten. In der Wüste Fylln gab es mehrere Oasen. Die Schattenkullja hatte sogar schon den Ort eingezeichnet, an dem der Kartaperator gebaut wurde. »Damit schaffen wir es«, sagte Atlan erleichtert. Das Stöhnen der Schattenkullja hatte nachgelassen. Es sah ganz danach aus, daß dieser Anfall im Abklingen war. Jetzt hatte der Arkonide es ebenfalls eilig, die Halle zu verlassen. Ausgerechnet Razamon sorgte für eine Verzögerung dieses Vorhabens. Der Pthorer war auf eine gläserne Schatulle aufmerksam geworden.
Die Herrin von Teimabor »Ein ganzer Vorrat von dieser merkwürdigen Medizin«, murmelte Razamon und betrachtete die mit grüner Flüssigkeit gefüllten Phiolen. »Ich denke, ich sollte mir ein paar von den Dingern mitnehmen.« Das war leichter gesagt als getan. Der Deckel der Schatulle war verschlossen, und Razamons Bemühungen, den Verschluß zu sprengen, hinterließen lediglich ein paar Kratzer auf dem Glas. »Warte«, sagte Atlan. Razamon bekam eine Gänsehaut, als der Arkonide an das Lager der Schattenkullja trat. Atlan hatte Mühe, seinen Abscheu gegenüber diesem mißgestalteten Körper zu überwinden. Er hatte vorher einen winzigen Schlüssel entdeckt, den die Schattenkullja an einem Kettchen trug. Der Schlüssel mußte also sehr wichtig sein. Vielleicht ließ sich die Schatulle damit öffnen. Der Arkonide war bereit, nahezu jedes Risiko einzugehen, wenn er Razamon vor seinen furchtbaren Wutanfällen bewahren konnte. Er hatte die Schattenkullja kaum berührt, da schnellte der verkrümmte Körper sich herum. Das, was einmal normal gestaltete Hände gewesen waren, krallte sich um Atlans Arme. Der Arkonide zuckte unwillkürlich zurück. Die Schattenkullja verfügte über unmenschliche Kräfte, und Atlan hätte nicht die geringste Chance gehabt, sich selbst zu befreien, wenn nicht die nächste Welle von Schmerzen gekommen wäre. Die Schattenkullja schrie auf und ließ die Arme des Arkoniden los. Atlan war geistesgegenwärtig genug, um die günstige Gelegenheit zu nutzen. Als sich seine Hand um den Schlüssel legte, löste sich die dünne Kette spurlos auf. Die Schatulle ließ sich mit dem Schlüssel mühelos öffnen. Beinahe andächtig nahm Razamon die erste Phiole heraus. Atlan hatte inzwischen ein paar Stoffetzen aufgesammelt. Hastig wickelte er eine Phiole nach der anderen ein und verstaute die Kapseln dann in seinen Jackentaschen. Er hatte sechs von den kleinen Behältern sicher untergebracht, als Fenrir scharf aufjaulte und in die Richtung lief, in der der Ausgang lag.
41 »Sie kommt zu sich!« rief Razamon. Atlan steckte die siebente Phiole ein, ohne sie einzuwickeln, dann rannten er und der Pthorer hinter dem Wolf her. Sie hörten hinter sich das Keifen der Schattenkullja. Die Herrin von Teimabor beschimpfte die Eindringlinge zwar, versuchte jedoch nicht, sie aufzuhalten. Vermutlich war sie noch zu sehr geschwächt. Erst als sie draußen vor dem Turm standen und sich hinter ihnen mit einem plötzlichen Knall die Luke im Boden schloß, begriffen sie, was sie gewagt hatten, als sie in das Reich der Schattenkullja eingedrungen waren. »Jetzt aber nichts wie weg«, sagte Razamon. »Sie scheint sich schnell zu erholen.« »Sie hätte uns die Karte früher oder später sowieso geben müssen, und wegen der Phiolen wird sie uns nicht gleich umbringen«, antwortete Atlan. »Du vergißt, daß wir die einzigen Wesen sein dürften, die die Schattenkullja in ihrer wahren Gestalt gesehen haben.« Anfangs kamen sie nur langsam voran, aber allmählich wurde es heller um sie herum. Der schwarze Nebel löste sich auf. Ein paar letzte Nester hielten sich noch in der Nähe des Turmes. Der Wind legte sich, und es wurde geisterhaft still. »Was um alles in der Welt kann einen Menschen so zurichten?« überlegte Razamon, während sie nebeneinander zu ihrer Wohnkugel zurückkehrten. »Man sollte meinen, daß ein so entstellter Körper gar nicht mehr lebensfähig ist!« »Du hast den Gegenbeweis gesehen.« »Ja, leider, denn mir wird jetzt noch schlecht, wenn ich nur daran denke.« Auch Atlan dachte daran. Das Bild hatte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt. Ein Körper, der total verdreht und verzerrt war – das brachte ihn plötzlich auf einen Gedanken! »Sie hat die Siarta benutzt«, sagte er überrascht. »Ich weiß. Du hast es mir vorhin schon erzählt.«
42 »Das meine ich nicht. Sie hat mich ausdrücklich vor der Waffe gewarnt. Man darf auf einen Gegenstand nur einmal schießen, sonst schlägt die Energie zurück. Begreifst du jetzt?« »Sie hat einmal zuviel geschossen«, murmelte Razamon erschüttert. »Aber worauf? Ein Schuß aus dieser Waffe sollte genügen, um mit jedem Gegner fertig zu werden.« »Vielleicht hat sie von dieser Wirkung ihrer Siarta damals noch nichts gewußt.« Atlan schwieg. Er konnte einfach nicht daran glauben, daß die Schattenkullja ihr ganzes Elend einer einzigen Unvorsichtigkeit zu verdanken hatte. Der Gedanke an einen Gegner, der die Herrin von Teimabor zum wiederholten Einsatz der Siarta gezwungen hatte, war ihm ausgesprochen unangenehm. Sie erreichten die Wohnkugel im selben Augenblick, in dem die ersten Sonnenstrahlen durch die Reste des Nebels brachen. Fast gleichzeitig hörten sie das wilde Geschrei etlicher Technos. Im ersten Moment dachten sie, die Gefangenen hätten sich von der Beeinflussung durch Sindros Lied erholt und wären nun endlich in der Lage, sich halbwegs normal zu verhalten. Dann hörten sie das Zischen mehrerer Waggus. »Die Oase wird angegriffen!« stieß Razamon hervor. »Stormock!« Der weiße Geier hüpfte unbeholfen aus der Wohnkugel, flatterte wild mit den Flügeln und hob tatsächlich etwas vom Boden ab. »Ich muß ihn tragen«, stellte Razamon fest. »Aber es kann nicht mehr lange dauern, dann ist er völlig gesund. Nimmst du den Proviant?« »Schick den Vogel in die Kugel zurück. Da ist er sicherer.« »Willst du dich etwa mit den Technos herumprügeln?« fragte Razamon verblüfft. »Wozu? Die Schattenkullja kann für sich selbst sorgen!« »Ja, aber die Gefangenen sind wehrlos.
Marianne Sydow Ich werde die Oase erst verlassen, wenn ich sicher bin, daß den armen Kerlen nichts passiert.« »Manchmal übertreibst du es wirklich«, murmelte Razamon, gab aber Stormock den Befehl, in der gläsernen Kugel auf ihn zu warten.
* Als sie die ersten Technos sahen, holte Razamon tief Luft. »Ich wußte doch, daß wir mit dem Kerl noch Ärger kriegen würden«, zischte er. »Ich hätte …« »Schon gut«, unterbrach Atlan ihn. »Es läßt sich nicht ändern.« Der Anführer der Technos, die mit vorgehaltenen Waffen in die Oase eindrangen, war Gurnych. Die seltsam unfertig wirkenden Gesichter der Technos verrieten äußerste Entschlossenheit. Es waren etwa dreißig Männer, die diesen Angriff durchführten. Atlan, Razamon und Fenrir waren durch einen hohen Brunnen gut gedeckt. Aufmerksam beobachteten sie die Technos. Die Angreifer schossen auf alles, was sich bewegte. Als Gurnych die Wohnkugel mit der blassen Frau darin erreichte, hielt Atlan es nicht länger aus. Die Gefangenen wurden zwar vorerst nicht getötet, sondern nur betäubt, aber das rücksichtslose Vorgehen der Technos empörte den Arkoniden. Diesmal nahmen sie keine Rücksicht darauf, wieviel Energie in den Speicherzellen der Waggus vorhanden war. Atlans erster Schuß traf Gurnych, und Razamon setzte gleich zwei Gegner aus dem Gefecht. Die Technos spritzten blitzschnell auseinander. Einen erwischte Atlan noch, ehe er hinter einem Metallblock verschwinden konnte. Die anderen brachten sich in Sicherheit. »Verflixt«, murmelte Razamon. »Wie kommen wir jetzt an sie heran?« »Ich gehe nach rechts, du nach links. Fenrir, du kehrst um und gehst zu Stormock zurück. Paß gut auf ihn auf, Alter!« Der Wolf trabte davon. Die beiden Män-
Die Herrin von Teimabor ner visierten die nächste Deckung an und rannten los. Es zeigte sich, daß die Technos äußerst wachsam waren. Atlan entging einem lähmenden Energiestrahl nur deshalb, weil er stolperte und ein paar Meter weit über den glatten Boden rollte. Hastig duckte er sich hinter einen Gegenstand, der wie ein riesiger Becher aussah – allerdings mußte dieser Becher mehrmals mit einem Schmiedehammer zusammengestoßen sein. Er hielt Ausschau nach dem Gegner, aber die Technos waren nicht zu sehen. Von links hörte er das Fauchen einer Waggu, aber er wußte nicht, ob Razamon mit diesem Schuß Erfolg gehabt hatte. Von dem zerbeulten Becher führte eine kniehohe Metalleiste bis zu einem pilzförmigen Gebilde mit gewundenem Stamm. Unter dem »Pilzhut« ragten zahlreiche dünne, scharfe Metallstangen aus dem Boden. »Hier bleibt einem auch nichts erspart«, murmelte der Arkonide vor sich hin. Für einen Augenblick dachte er daran, was geschehen wäre, wenn er sich nicht auf den verrückten Plan eingelassen hätte, Atlantis von innen her unschädlich zu machen. Da solche Gedanken lediglich Zeit kosteten und nichts einbrachten, legte er sich auf den Bauch und robbte vorwärts. Die Entfernung zu dem metallenen Pilz betrug nur etwas über dreißig Meter, aber dem Arkoniden kam der Weg mindestens dreimal so lang vor. Mehrmals fauchten lähmende Strahlen über ihn hinweg. Die Technos wußten also, wo sie ihn zu suchen hatten. Aber ihre Angriffswut hatte auch eine gute Seite. In dem Bemühen, Atlan auszuschalten, gaben sie sich zu viele Blößen, und Razamon gelang es, vier weitere Technos zu betäuben. Der Erfolg stimmte den Pthorer optimistisch, und er war schon fast davon überzeugt, daß er und Atlan mit diesen Gegnern innerhalb weniger Minuten fertig werden konnten. Dann stellte es sich heraus, daß die Technos mit ihren Ideen noch lange nicht am Ende waren. Sie hatten es sich in den Kopf gesetzt, Teimabor zu erobern. Für den Fall,
43 daß ihnen das nicht gelang, sollten auch andere Leute keine Freude an dieser Oase haben. Auch Atlan sah den fetten Rauch, der hinter ein paar Wohnkugeln aufstieg. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was geschehen war. Die Technos betätigten sich als Brandstifter. Die vielen Büsche und Bäume brannten zwar schlecht, aber wenn erst mal ein paar davon aufflammten, würde der Rest bald folgen. Er fragte sich, was die Schattenkullja jetzt tun mochte. Wußte sie, was hier draußen vor sich ging? Hatte sie keine Mittel, die Technos zu verjagen? Zwischen einer Wohnkugel und einem schwarzen Gebilde, das wie ein Thronsessel mit unzähligen Antennen aussah, bemerkte er eine Bewegung. Er schoß, und ein gelähmter Techno rollte auf den Weg. Atlan lief weiter, und jetzt hatte er mehr Glück, denn hier standen die verdrehten Skulpturen der Schattenkullja dichter zusammen. Erst nach etlichen Stationen begann er sich darüber zu wundern, daß niemand auf ihn schoß. Er war zwar vorsichtig gewesen, aber die Technos konnten sich ausrechnen, welchen Weg er nahm. Er hörte abermals einen Schuß, diesmal aber aus größerer Entfernung. Von bösen Ahnungen gequält, rannte er noch schneller und achtete kaum noch darauf, ob er sich in die Sichtweite der Technos begab. Sein Verdacht bestätigte sich. Die Technos hatten schnell gemerkt, daß sie nur zwei Gegner vor sich hatten. Atlan ärgerte sich über seine eigene Voreiligkeit. Sie hätten die Gruppe gleichzeitig aus entgegengesetzten Richtungen angreifen sollen. Jetzt war es zu spät. Die Technos hatten nur drei oder vier Männer zurückgelassen, um die Verteidiger von Teimabor hinzuhalten. Der Rest der Gruppe hatte sich davongeschlichen und war jetzt damit beschäftigt, weitere Insassen der Wohnkugeln zu lähmen. »Da drüben sind sie!« rief Razamon, der ebenfalls das Versteckspiel aufgegeben hatte. Er wartete, bis Atlan bei ihm angelangt
44 war, dann hob er grimmig die Waggu. »Das ist glatte Energieverschwendung«, knurrte er. »Warum gehen wir so schonend mit diesen Strauchdieben um?« »Erstens haben sie noch niemanden umgebracht«, sagte Atlan unwillig, »und zweitens wäre es unsinnig, sich auf eine Prügelei mit einem so überlegenen Gegner einzulassen.« »Überlegen sind uns die Technos bestenfalls zahlenmäßig«, murmelte Razamon ärgerlich. Ein Energiestrahl fauchte dicht an ihm vorbei. Die beiden Männer hechteten auseinander und rollten sich hinter die erstbesten Metallblöcke. Dem lähmenden Strahl folgte ein anderer, der eine Wohnkugel total zerstörte und eine breite Bahn von Büschen in Flammen aufgehen ließ. Atlan fluchte lautlos vor sich hin. Er hatte bis zu diesem Augenblick geglaubt, daß die Technos nur verhältnismäßig harmlose Waffen besaßen. Es war jedoch absolut sinnlos, sich mit dem Besitzer dieses Strahlers anzulegen. Atlan und Razamon zogen sich vorsichtig zurück. »Wir schlagen uns bis zum Turm durch«, beschloß Atlan. »Dort haben wir die größte Chance, an die Technos heranzukommen. Hoffentlich hat sich die Schattenkullja bald erholt.« »Sie wird bestimmt zu spät kommen«, unkte Razamon. »Ich möchte wetten, daß Gurnych diesen Überfall genau geplant hat. Wir sind ihm wohl gerade zum richtigen Zeitpunkt über den Weg gelaufen. Als er uns vor Teimabor warnte, da wußte dieser gerissene Kerl bereits, daß wir uns an einem so geheimnisvollen Ort auf jeden Fall umsehen würden. Damit war die Schattenkullja erstmal abgelenkt. Und sicher haben die Technos die Oase lange genug beobachtet. Sie wissen von den Anfällen, und sie wissen auch, wieviel Zeit vergeht, bis die Schattenkullja wieder einsatzfähig ist.« Der Arkonide gab dazu keinen Kommentar ab. Ihm war klar, daß diese Oase die
Marianne Sydow Technos magisch anziehen mußte. Aus der Senke der verlorenen Seelen hatte man sie vertrieben, sie waren Parias, und das Leben in der Wüste war hart genug. Teimabor bot unter diesen Bedingungen ein Höchstmaß an Sicherheit und Bequemlichkeit. Als sie den Turm fast erreicht hatten, hörten sie laute Schreie, dazwischen ein schrilles Kichern, das ihnen nur zu bekannt war. Ein Techno kam schreiend um eine Ecke gerannt. Er schien Atlan und Razamon gar nicht zu sehen. Niemand stellte sich ihnen in den Weg, als sie bis an den Rand des Platzes vordrangen, in dessen Mitte sich der Turm erhob. Fassungslos beobachteten sie, was sich dort abspielte. Die Schattenkullja hatte sich soweit erholt, daß sie sich frei bewegen konnte. Aber entweder hatte sie vergessen, den Projektor für ihren Schutzschirm einzuschalten, oder das flammende Etwas, hinter dem sie sich zu verbergen pflegte, hing auf rätselhafte Weise von ihren eigenen Kräften ab. Jedenfalls war sie voll und ganz sichtbar, in ihrer schrecklichen Gestalt, mit diesem Körper, an dem nichts mehr am richtigen Fleck saß und an dem man sogar Organe, die nach innen gehörten, von außen besichtigen konnte. Der Anblick dieses Monstrums hatte die Technos voll getroffen. Viele hatten sich auf den Boden geworfen und robbten mühsam rückwärts, um die Schattenkullja nicht mehr sehen zu müssen. Andere standen hilflos herum und starrten die Frau mit glasigen Augen an. Die Schattenkullja nutzte die Wirkung, die ihr Anblick hervorrief, weidlich aus. Sie ging mit den bloßen Händen auf die Technos los, die aber gar nicht erst abwarteten, was die Schattenkullja mit ihnen anstellen wollte. Sobald sie sich näherte, wichen die Männer erschrocken zurück. Viele wandten sich zur Flucht. Es war abzusehen, daß die Schattenkullja binnen kürzester Zeit die Eindringlinge vertrieben haben würde. »Das ist die Gelegenheit«, flüsterte Razamon. »Los, worauf warten wir noch! Wir
Die Herrin von Teimabor können einen nach dem anderen aus dem Verkehr ziehen.« »Laß sie doch laufen«, murmelte Atlan. »Ich glaube nicht, daß sie zurückkommen.« Razamon ließ sich nicht beirren. Wenn die Technos den Schock überwunden hatten, würden sie umkehren – davon war er fest überzeugt. Noch einmal konnte der verzweifelte Trick der Schattenkullja nicht gelingen. Er zielte sorgfältig. Das Zischen der Waggu klang scheinbar anders als sonst. Es ließ die Technos zusammenschrecken, und auch die Schattenkullja war irritiert. Einer der Parias brach zusammen. Ein anderer vollführte eine schnelle Bewegung. Und ehe irgend jemand etwas tun konnte, stand der heiße Energiestrahl in der Luft, erfaßte und umschloß den monströsen Körper der Schattenkullja und erlosch erst wieder, als von der Herrin von Teimabor absolut nichts mehr übrig war. Einige Sekunden lang blieb es ganz still. Niemand bewegte sich, und sogar der Wind schien den Atem anzuhalten. Dann drehten sich die Technos wie auf ein Kommando um und starrten in die Richtung, in der sie nach dem lähmenden Schuß Atlan und Razamon vermuteten. »Los«, flüsterte Atlan. »Nichts wie weg!«
8. Sie rasten um Ecken und Wohnkugeln, warfen sich manchmal zu Boden und feuerten fast ungezielt auf ihre Verfolger. Sie wußten genau, daß sie verloren waren, wenn die Technos ihren Strahler noch einmal einsetzten. Und doch mußten sie versuchen, Zeit zu gewinnen. In der gläsernen Kugel lagen die Vorräte, ohne die sie verloren waren, und dort befand sich auch die Siarta. Abgesehen davon hätte Razamon seinen weißen Geier um keinen Preis der Welt im Stich gelassen. »Hier trennen wir uns«, keuchte Atlan, als er eine wahre Burg aus besonders massiven Metallteilen erreichte. »Beeile dich. Wenn du fertig bist, gib zwei kurze Schüsse ab!«
45 Razamon huschte lautlos voran. Der Arkonide duckte sich hinter ein Gebilde, das an eine halbzerschmolzene Hauswand erinnerte. Als er den ersten Techno auftauchen sah, hob er die Waggu und schoß. Bevor die Parias reagieren konnten, rollte er sich zur Seite. Er hatte sich nicht geirrt. Das Mauerteil, hinter dem er sich gerade noch befunden hatte, glühte grell auf und zerplatzte dann in einem Funkenregen. Mit angehaltenem Atem wartete Atlan auf den nächsten Schritt der Technos. Er lag jetzt zwischen zwei Blöcken. Wenn die Technos den Spuren folgten, die Razamon und er hinterlassen hatten, mußten sie am einen Ende dieser künstlichen Schlucht vorbei. Atlan hoffte, bei dieser Gelegenheit den größten Teil der Gegner ausschalten zu können. Natürlich war sein blitzschnell gefaßter Plan auch mit einem Risiko verbunden. Die Wände rechts und links waren fast glatt. Nur direkt neben ihm gab es eine Mulde, gerade groß genug, daß er sich darin verbergen konnte. Falls der Kerl, dem die Strahlwaffe gehörte, Verdacht schöpfte und in die Schlucht hineinfeuerte, wurde es ungemütlich. Atlan hoffte, daß die Technos ihn für nicht sehr mutig hielten. Dann nämlich mußten sie zu dem Schluß kommen, daß er am anderen Ende der Schlucht in sicherer Deckung hockte oder gar längst die Flucht ergriffen hatte. Die Technos kamen tatsächlich. Vorsichtig schlichen sie an den Ausgang der Schlucht heran und spähten in das Halbdunkel zwischen den Wänden. Atlan hielt die Luft an. Deutlich sah er einen flirrenden Lichtpunkt – die Mündung der Energiewaffe. Die Technos flüsterten miteinander, aber Atlan verstand nicht, was sie sagten. Zwar war die Entfernung relativ gering, aber das Flüstern brach sich in den metallenen Wänden und wurde dadurch völlig unverständlich. Endlich gab einer der Männer dem Techno mit dem Strahler ein Zeichen. Der Mann huschte zur Seite. Fast gleichzeitig drückte Atlan den Auslöser seiner Waggu. Er sah vier Technos zusammenbrechen und
46 rollte sich rückwärts in die Mulde. Wieder wartete er. Er hörte wütende Rufe, das Trampeln schneller Schritte und das Klirren von Waffen. Dann wurde es für einen Moment still, und Augenblicke später zischte es. Unwillkürlich duckte sich der Arkonide tiefer in die Mulde hinein. Dabei wußte er genau, wie sinnlos dieses Verhalten war. Wenn der sonnenheiße Strahl durch die Schlucht fauchte, war er auf jeden Fall verloren. Da er noch lebte, mußten die Technos auf den Einsatz der tödlichen Waffe verzichtet haben. Er überlegte, wie er die Eindringlinge noch länger hinhalten konnte. Seiner Berechnung nach mußte Razamon inzwischen die Wohnkugel erreicht haben. Befand der Pthorer sich schon in Sicherheit? Es war leicht möglich, daß Atlan das verabredete Zeichen überhört hatte. Von hinten näherten sich tastende Schritte. Atlan erschrak. Der Plan der Technos war simpel; aber tödlich. Nachdem sie versucht hatten, ihn auszuräuchern, hatten sie jemanden um die Metallblöcke herumgeschickt, um dort nach Spuren zu suchen. Der betreffende Techno hatte nichts gefunden und daraus den Schluß gezogen, daß der Gegner allen Erwartungen zum Trotz in der Schlucht steckte. Wenn Atlan den sich nähernden Techno angriff, hatte er die ganze Meute auf dem Hals. Andererseits konnte der Techno den in der Mulde kauernden Arkoniden gar nicht übersehen. Plötzlich veränderte sich das Geräusch der Schritte, es wurde unregelmäßig, jemand keuchte erschrocken auf, und dann gab es einen dumpfen Aufprall. Atlan schnellte hoch. Sein Vorteil gegenüber den Technos draußen vor der Schlucht bestand darin, daß er sich an das Halbdunkel gewöhnt hatte, während seine Gegner halb geblendet waren. Es war Nachmittag geworden, die Sonne stand schon tief, und ihr Licht wurde von den Metallblöcken und den gläsernen Wohnkugeln in einer Vielzahl von grellen Reflexen zurückgeworfen.
Marianne Sydow Atlan entdeckte den geschmeidigen grauen Schatten, der sich von dem am Boden liegenden Techno löste. Er drehte sich hastig um und schickte einen lähmenden Strahl in die Richtung, in der die anderen Technos warteten. Dann rannte er zu Fenrir, und der Wolf warf sich herum und lief vor ihm her. Noch zweimal mußte Atlan die Waggu benutzen, dann war das Ende der Schlucht erreicht. Draußen wartete Razamon. In seiner Umgebung lagen ein halbes Dutzend Technos. Sie waren bewußtlos. Stormock saß im kahlen Geäst eines abgestorbenen Baumes und sah sich wachsam nach allen Seiten um. »Einer von den Kerlen ist mir entwischt«, sagte Razamon grimmig. »Fenrir hat ihn aus dem Verkehr gezogen«, antwortete Atlan. »Komm jetzt, ich fürchte, die Technos werden allmählich ungeduldig.« Razamon gab dem weißen Geier ein Zeichen. Der riesige Vogel schwebte vom Baum herunter. Atlan wunderte sich darüber, wie schnell das Tier seine Verletzungen überwunden hatte. Stormock war fast gesund und würde kaum noch eine Belastung darstellen. Nur die Landung fiel noch etwas ungeschickt aus. Sie schlichen sich aus der Nähe der Schlucht. Nach einer Minute hörten sie ein dröhnendes Fauchen. Sie drehten sich um und sahen die Rauchwolke, die hinter weiteren Metallblöcken aufstieg. Die Technos hatten die Schlucht zerstört. Ohne weitere Schwierigkeiten erreichten sie den Rand der Oase. Als sie zwischen den ersten Dünen angelangt waren, legten sie eine kurze Pause ein. Atlan robbte bis an den Kamm einer Düne hinauf und warf einen letzten Blick auf Teimabor. Erschrocken bemerkte er die Veränderungen, die dort stattfanden. Die Pflanzen schienen zu sterben. In den kleinen Gärten waren die Blüten bereits verschwunden, das Gras war gelb geworden, und der Wind trieb verwelkte Blätter zu großen Haufen zusammen. Vergeblich hielt er nach den Gefangenen der Schattenkullja Ausschau. Ziemlich dicht
Die Herrin von Teimabor am Rand der Oase gab es eine Wohnkugel. Sie waren dort vorbeigekommen, als sie Teimabor verließen. Deutlich erinnerte sich Atlan daran, einen Techno in der Kugel gesehen zu haben. Jetzt war der Mann verschwunden. Die Eroberer von Teimabor schienen die alarmierenden Zeichen noch nicht bemerkt zu haben. Sie hatten festgestellt, daß ihre Gegner den Widerstand aufgegeben hatten. Nun bereiteten sie das Siegesfest vor. Atlan beobachtete, wie die Parias aus der Senke der verlorenen Seelen trockene Äste sammelten und zum Platz am Turm trugen. Eine untrügliche Ahnung sagte ihm, daß die Technos sich zu früh freuten. Sie hatten Teimabor zwar erobert, aber es war ein bitterer Sieg, der sich im letzten Augenblick noch in eine Niederlage verwandeln konnte. Nachdenklich kehrte er zu Razamon zurück. Stormock machte Flugübungen, und seine Geschicklichkeit wuchs mit jedem Versuch. »Was geschieht, wenn er wieder fliegen kann?« fragte Atlan. »Wird er bei uns bleiben?« Razamon antwortete nicht. Es schien, als hätte er die Frage nicht gehört. Seufzend setzte Atlan sich neben ihn. Er zog die Landkarte aus der Tasche und betrachtete sie. »Wenn der Maßstab stimmt«, sagte er, »beträgt die Entfernung zwischen Teimabor und der Baustelle gute dreißig Kilometer Luftlinie. Ich schlage vor, daß wir bis zum Einbruch der Dunkelheit weitergehen und dann eine längere Rast einlegen. Wir brechen noch während der Nacht wieder auf. Wir müssen genau nach Norden, können uns also an den Sternen orientieren. Wenn wir nicht zu sehr herumtrödeln und wenn kein Sturm ausbricht, sollten wir am frühen Morgen die Baustelle erreicht haben. Dann haben wir einen ganzen Tag zur Verfügung, um alles genau zu beobachten und uns einen Plan zurechtzulegen. Was meinst du?« »Mir ist alles recht«, murmelte Razamon. Atlan sah den Pthorer nachdenklich an, dann
47 zuckte er die Schultern. Razamon hatte ein Problem, aber wenn er nicht darüber sprechen wollte, war es sinnlos, auf ihn einzureden. Sie nahmen ihre Sachen und marschierten los. Stormock bestand darauf, ohne fremde Hilfe vorwärtszukommen. Wie ein weißer Schatten tanzte er halb hüpfend, halb fliegend über den goldgelben Sand. Anfangs hörten sie manchmal noch das Schreien und Johlen der Technos. Aber schon nach kurzer Zeit waren sie wieder allein mit den im Wind leise singenden Sandkörnern. Später, als es dunkel wurde, hallten von weit her dumpfe Schläge über das Land.
* Gurnych pries den Zufall, der ihm die beiden Fremden über den Weg geführt hatte. Zwar waren drei seiner zuverlässigsten Anhänger im Sand umgekommen, und auch der weiße Geier schien für immer verloren zu sein, aber dafür saßen sie endlich an dem Ort, der ihnen schon immer wie ein verwunschenes Paradies erschienen war. Die Schattenkullja hatte ihnen nie erlaubt, Teimabor zu ihrem Stützpunkt zu machen. Teimabor besaß alles, was die Parias brauchten, im Überfluß. Hier gab es Wasser, eßbare Pflanzen und sogar Tiere, die man jagen konnte. Für Gurnychs kleine Rebellengruppe reichte das, was die Oase hervorbrachte, voll und ganz aus. Und es gab die Wohnkugeln, die man nur zu besetzen brauchte, um endlich vor den verheerenden Stürmen sicher zu sein. Gurnychs Plan war aufgegangen. Er hatte Teimabor lange genug aus sicherer Entfernung beobachtet. Jedesmal, wenn die Schattenkullja ein neues Opfer in die lockende Sicherheit einer Glaskugel gebracht hatte, senkte sich ein schwarzer Nebel über die Oase, und grauenvolle Schreie wurden hörbar. Wenn der Spuk vorbei war, rührte sich viele Stunden lang nichts in Teimabor. Einmal hatte Gurnych es gewagt, während einer solchen Ruheperiode die Oase zu betreten.
48 Damals hatte der Durst ihn in das Tal getrieben. Niemand hatte ihn daran gehindert, seine Wasservorräte zu erneuern. Er hatte auch einen Gefangenen gesehen, der wie in Trance unbeweglich in seinem gläsernen Gefängnis hockte. Von diesem Augenblick an kannte Gurnych nur noch ein Ziel. Er mußte gemeinsam mit seinen Freunden in einer solchen Phase Teimabor erobern. Nur nach dem Verschwinden des schwarzen Nebels bestand eine Chance, die Schattenkullja zu finden und zu töten. Lange Zeit sah es so aus, als wäre der Plan absolut undurchführbar. Es ließ sich nicht vorhersagen, wann die Schattenkullja ein neues Opfer fand. Wer in der Wüste lebte, kannte die Oase ohnehin so gut, daß er sich nicht einmal in ihre Nähe wagte. Man hätte einen Fremden einfangen und nach Teimabor bringen können – aber dann wären die, die den Gefangenen führten, ebenfalls in einer Glaskugel gelandet. Es war auch unmöglich, ständig in der Nähe auf der Lauer zu liegen. Erstens mußte jeder Tropfen Wasser und jeder Bissen Proviant über weite Strecken herantransportiert werden. Zweitens würden die anderen Rebellen mißtrauisch werden und Gurnych den Triumph streitig machen. Und drittens war jede Sekunde, die man zwischen den Dünen verbrachte, ein tödliches Risiko. Gurnych hatte bereits daran gedacht, einen seiner Männer freiwillig der Schattenkullja zu opfern. Er hätte dem armen Kerl natürlich allerhand versprechen müssen, aber das wäre ihm nicht schwergefallen. Seine Leute wußten nicht, daß die Schattenkullja ihren Gefangenen den Verstand nahm – keiner von ihnen hätte einen Nutzen aus einer etwaigen Befreiung ziehen können. Gurnych war ein ziemlich skrupelloser Techno. Sonst hätte er nicht mehrere Jahrzehnte in dieser Hölle überlebt. Und dann führte ihm das Glück, daß Gurnychs Meinung nach nur dem Tüchtigsten treu blieb, die Fremden über den Weg. Sie hatten den Köder sofort geschluckt. Wer
Marianne Sydow wie sie ohne zwingende Notwendigkeit durch die Wüste rannte, nur um den Geier zu befreien, konnte nicht recht bei Trost sein. Sie mußten die Geschichte von der Schattenkullja für ein Märchen halten, und da sie neugierig waren, würden sie der Sache auf den Grund gehen. Fast hätte Gurnych seinen Entschluß noch bereuen müssen. Entgegen seinen Erwartungen hatte die Schattenkullja die verrückten Fremden nicht in ihre Kugeln gesperrt. Und die Fremden waren wohl wirklich nicht bei Sinnen, sonst hätten sie die Schattenkullja nicht auch noch beschützen wollen. Selbst nach dem Tod dieser monströsen Gestalt hatten sie weitergekämpft. Aber jetzt steckten sie da, wo sie hingehörten, nämlich in der Wüste. Gurnych gab sich keinen Illusionen hin. Falls die Fremden der Wüste ein paar Tage zu trotzen vermochten, würden andere Pariagruppen sich ihrer annehmen. Als er mit seinen Überlegungen soweit gekommen war, wurde Gurnych unsanft aus seinen Träumen gerissen. Gerade wollte er sich das künftige, bequeme Leben ausmalen, da tauchte Frantok neben ihm auf. Der Techno war aufgeregt. »Die Gefangenen«, stotterte er. »Sie verschwinden!« »Na und?« fragte Gurnych unwillig. »Sollen sie doch in der Wüste umkommen, was kümmert das uns? Wir hätten sie sowieso nicht durchfüttern können.« »Sie gehen nicht in die Wüste. Du hast mich falsch verstanden.« »Wohin sollen sie sonst gehen?« »Sie verschwinden«, wiederholte Frantok verzweifelt. Gurnych wurde stutzig. Frantok gehörte zu seinen zuverlässigsten Leuten. Er pflegte sich sonst recht deutlich auszudrücken. »Die Kugeln sind plötzlich leer«, sagte der Techno nervös. »Es ist, als würden sich die Gefangenen in Luft auflösen.« »Laß den Unsinn!« knurrte Gurnych. »Du bist auf einen Trick hereingefallen. Die Schattenkullja ist zwar tot, aber irgendwelche Geräte arbeiten sicher noch weiter. Das
Die Herrin von Teimabor wird sich bald geben. Morgen durchsuchen wir alles und zerstören den ganzen Kram. Dann gehört Teimabor endgültig uns.« Frantok preßte die Lippen aufeinander. Dann zeigte er zu einer Wohnkugel hinüber. »Siehst du den da?« »Ich bin doch nicht blind!« knurrte Gurnych. In der Kugel saß ein Techno, dessen Alter sich nicht bestimmen ließ. Er hatte mit Sicherheit niemals zu den Parias gehört, sonst wäre er nicht in diese Falle geraten. Noch während Gurnych hinsah, veränderte sich etwas. Die gläsernen Wände schienen hauchdünne Risse zu bekommen, und milchige Schleier wogten dazwischen. »So fängt es an«, flüstere Frantok. Gurnych starrte gebannt die Kugel an. Die Erscheinung dauerte nur etwa eine halbe Minute. Dann wurde das Glas wieder klar. Der Gefangene war nicht mehr zu sehen. Gurnych sprang auf und rannte zu dem Gefängnis. Die Tür ließ sich leicht öffnen. Er sprang hinein und sah sich suchend um. Auf dem Boden lag ein Bündel halbzerfallener Kleidungsstücke. »Glaubst du immer noch an einen Trick?« fragte Frantok vom Eingang her. Gurnych fuhr herum. »Das betrifft nicht uns!« zischte er. »Du kennst die Überlieferungen. Es heißt, daß die Schattenkullja schon seit Jahrhunderten über Teimabor herrscht. Man sagt, daß ihre Gefangenen niemals sterben können, und daß die Schattenkullja aus dem ewigen Leiden ihrer Opfer geheimnisvolle Kräfte schöpft. Zwischen ihr und den Gefangenen bestand eine enge Verbindung. Es ist denkbar, daß die Opfer auf den Tod der Schattenkullja spontan reagieren. Sie durften nicht sterben, und nun holen sie es nach.« »Sie sterben aber nicht«, stellte Frantok trocken fest. »Sondern sie lösen sich auf.« »Was macht das schon für einen Unterschied«, sagte Gurnych wegwerfend und kletterte aus der Wohnkugel, ohne dem Kleiderbündel noch einen Blick zuzuwerfen. »Mir scheint, die Verbindungen der
49 Schattenkullja waren sehr vielseitig«, murmelte Frantok nachdenklich. »Nicht nur die Gefangenen reagieren auf ihren Tod!« Gurnych verstand zunächst nicht, was Frantok meinte. Dann folgte er dem Blick des anderen und entdeckte den Strauch. Die Blätter waren eben noch grün und saftig gewesen. Jetzt hingen sie schlaff herab. Ein leichter Windstoß brachte sie zum Rascheln und löste sie von den Zweigen. Frantok bückte sich und zupfte ein paar fahlgelbe Grashalme ab. Er rieb sie zwischen den Fingern, und sie trieben als grauer Staub mit dem Wind davon. »Wir bringen neue Pflanzen her«, sagte Gurnych grimmig. »Es kann sich nicht alles auflösen. Ein paar Karawanen verschwanden in der Nähe von Teimabor. Wir werden die Schätze finden, die die Schattenkullja hier zusammengerafft hat. Die Piraten vom Regenfluß werden uns dafür Saatgut liefern.« Frantok nickte und betrachtete mißtrauisch einen kleinen Brunnen. Es kam ihm so vor, als würde das Wasser in einem weitaus dünneren Strahl als vorher in das Auffangbecken sprudeln. »Solange wir das Wasser haben, sind wir immer noch die reichste Gruppe in der Wüste Fylln«, sagte Gurnych. »Hör jetzt auf zu grübeln. Sorge lieber dafür, daß es bald etwas zu essen gibt. Sind die Jagdgruppen schon zurück?« Frantok schüttelte stumm den Kopf. Er hoffte, daß wenigstens die kleinen Tiere von der Auflösung verschont blieben. Die Technos hatten Gurnych blind vertraut. Er hatte ihnen versprochen, daß sie in Teimabor Wasser und Proviant in Hülle und Fülle finden würden. Sie führten natürlich Notrationen mit sich. Das tat man in der Wüste immer. Aber die Vorräte reichten knapp für den Rückweg, und das auch nur, wenn sie nicht zu spät aufbrachen. Seine Sorgen erwiesen sich in diesem Fall als unbegründet. Die sechs geschicktesten Jäger brachten genug Beute zum Turm, um alle Technos zu versorgen. Das Feuer wurde
50 entfacht, und bald drehten sich die enthäuteten und ausgeweideten Tiere an dünnen Spießen über den Flammen. Inzwischen hatten auch die letzten Technos die Auswirkungen der lähmenden Schüsse überwunden. Natürlich hatten sie alle gemerkt, was mit den Pflanzen und den Gefangenen geschah, aber sie gaben sich Mühe, sich nichts von ihren Gefühlen anmerken zu lassen. Dennoch war die Stimmung bedrückt. Frantok, der Gurnych am besten kannte, sah an dessen Gesichtsausdruck, daß der Techno einem Wutausbruch nahe war. Gurnych wartete darauf, daß man ihn feierte, ihn und seine Schlauheit, die geschickte Art und Weise, in der er die begehrteste Oase erobert hatte. Bevor Gurnych die Geduld verlor, stöberte zum Glück ein noch junger Techno, den man erst vor wenigen Wochen aus der Senke verjagt hatte, eine Art Vorratskammer auf. Gurnych hatte in diesem Punkt recht behalten. Die Schattenkullja hatte alles aufbewahrt, was ihre Opfer mitbrachten. In diesem Fall handelte es sich um eine große Zahl von Schläuchen. Sie enthielten Beerenwein aus Orxeya. Frantok brachte dem Anführer der Parias seinen Anteil an der Beute gerade in dem Moment, als Gurnych den ersten fertigen Braten überreicht bekam. Das über dem Feuer geröstete Tier war außen halb verbrannt und innen noch halb roh. Das Fleisch war kaum gewürzt und sehr zäh, weil man keine Zeit gehabt hatte, die Beute abhängen zu lassen. Aber in der Wüste Fylln konnte man es sich nicht leisten, ein Feinschmecker zu sein. Der chronische Nahrungsmangel erklärte auch, warum die Parias im Gegensatz zu den anderen Technos sehr viel Fleisch aßen. In einer solchen Umgebung konnte man nichts verkommen lassen, was überhaupt noch eßbar war. Gurnych schlug seine gelben Zähne in den heißen Braten. Er spülte den zähen Bissen mit dem Wein hinunter und nickte dann zufrieden. »Gib diesen Dummköpfen genug zu trinken«, befahl er. »Dann vergessen sie viel-
Marianne Sydow leicht die albernen Spukgeschichten.« Inzwischen war es dunkel geworden. An einigen Stellen brannten noch die kleinen Lampen in den Wohnkugeln, aber sie verloschen nacheinander. Das Feuer warf ein unruhig flackerndes Licht auf die Metallklumpen, die jetzt noch unheimlicher wirkten. Es war windstill und kalt, und die Technos drängten näher an das Feuer heran. Der Wein tat seine Wirkung. Gurnych hörte verächtlich zu, wie seine Leute sich gegenseitig davon zu überzeugen versuchten, daß gerade sie entscheidend dazu beigetragen hatten, die Fremden zu vertreiben. Gurnych wußte, wem der Ruhm gebührte. Auch Frantok wußte es. Und da er seinen Anführer kannte, sorgte er dafür, daß Gurnych bekam, was ihm gehörte. »Es war ein großer Tag für uns«, sagte er laut, als einmal das Geplapper der anderen stockte. »Wir haben die Schattenkullja besiegt. Das alleine wäre schon eine große Tat. Aber wir haben auch Teimabor in unsere Hand gebracht. Es wäre uns niemals gelungen, wenn wir uns nicht in allen Schritten nach Gurnychs genialem Plan gerichtet hätten. Trinken wir auf ihn!« Gurnych lächelte geschmeichelt. Die Technos wußten, was sie ihm schuldeten. Sie schrien sich mit ihren Glückwünschen gegenseitig nieder und waren jeder für sich bestrebt, den besten Eindruck auf Gurnych zu machen. Der Techno winkte schließlich zufrieden ab und erhob sich. »Ich will keine langen Reden halten«, verkündete er. »Die Tatsachen sprechen für sich. Aber ich möchte dich, Frantok, in einem Punkt berichtigen. Es stimmt, daß es mein Plan war, der uns zum Sieg verhalf. Aber ohne die Hilfe jedes einzelnen wäre ich keine zehn Schritte weit gekommen. Morgen werden wir alles genau durchsuchen. Ihr wißt, daß die Pflanzen sterben. Das ist nicht schlimm, denn wir haben genug Wasser, um den Boden feucht zu halten. Wir werden Teimabor in einen festen Stützpunkt verwandeln, und alle anderen Gruppen, die sich jetzt noch sehr wichtig vorkommen,
Die Herrin von Teimabor werden einsehen müssen …« Er unterbrach sich, als ein leuchtender Punkt vor seinen Augen auftauchte. Er wollte das lästige Ding mit der Hand zur Seite wischen, aber der Punkt wich geschickt aus. Gurnych glaubte, ein dünnes Kichern zu hören. Verunsichert beobachtete er seine Leute, aber sie schienen nichts gemerkt zu haben. Er beschloß, den Lichtpunkt zu ignorieren. »Wir werden ihnen zeigen«, rief er, »daß wir alleine in der Lage sind, in der Wüste Fylln zu herrschen. Wir werden von Teimabor aus den Handel …« Wieder unterbrach er sich, denn der Punkt war dazu übergegangen, in rasendem Tempo um seinen Kopf zu kreisen. Das Ding irritierte ihn. Er duckte sich und wich zur Seite aus, aber der Punkt folgte ihm unbarmherzig. »Sie werden sich unserer Führung beugen müssen«, schrie Gurnych in wachsender Verzweiflung. Was zum Höhepunkt seines Triumphes hatte werden sollen, drohte sich in ein Fiasko zu verwandeln. »Alle Technos, die aus der Senke vertrieben wurden …« Der Punkt dehnte sich abrupt aus. Gurnych wurde binnen weniger Sekunden von grellem Licht umhüllt. Die Technos starrten ihn entsetzt an. Gurnych wußte nicht, was das Licht bedeutete. Im Augenblick war er einfach nur wütend. Er fühlte sich betrogen. »Geh weg!« schrie er wütend. Er fühlte sich betrogen. »Geh weg!« schrie er und meinte damit die Aureole aus Helligkeit. »Frantok, hilf mir!« Frantok trat zögernd näher. Als er die Hand ausstreckte, dehnte sich das Leuchten auf ihn aus. Der Techno zuckte zurück und versuchte zu fliehen, aber das Licht hielt ihn fest. Gemeinsam mit Gurnych saß er in der schimmernden Blase fest. Die anderen Technos waren aufgesprungen. »Bleibt hier, ihr Feiglinge!« schrie Gurnych mit überschnappender Stimme. »Holt mich hier heraus, aber beeilt euch,
51 oder ich werde euch Beine machen!« Sein Befehl bewirkte das genaue Gegenteil. Bis dahin waren die Technos nur verwirrt gewesen. Jetzt begriffen sie, daß das Licht eine Gefahr darstellte, und daß Gurnych dieser Gefahr hilflos gegenüber stand. Aus der Verwirrung wurde Furcht. Und als einer, der als besonders mutig galt, dennoch einen Versuch unternahm, den beiden Gefangenen zu helfen, ebenfalls vom Licht eingeschlossen wurde, verwandelte sich die Furcht in nackte Panik. Wie von Furien gehetzt, rasten sie davon. Gurnychs Flüche verfolgten sie, bis sie die Dünen erreicht hatten. Dann rissen die wilden Beschimpfungen plötzlich ab. Zitternd vor Angst lagen die Technos im Sand und starrten auf die Oase hinab. Einer von ihnen hatte bei einem Beutezug ein Fernglas erobert. Es kostete ihn einige Überwindung, das Instrument an die Augen zu setzen und sich so Gewißheit zu verschaffen. »Sie sind weg«, flüsterte er. »Die Lichtkugel ist leer.« »Das war die Rache der Schattenkullja«, sagte ein anderer. »Gurnych entwarf den Plan, Frantok gab den tödlichen Schuß ab. Wir sollten verschwinden, ehe sie uns alle umbringt.« Der Lichtfleck im Tal dehnte sich aus. Er erfaßte die Metallklumpen und die Wohnkugeln, die Brunnen und verdorrten Gärten. Das Leuchten wurde so grell, daß die Technos fast geblendet im Sand lagen. Und als das Licht schwächer wurde, lösten sich unten im Tal die Metallblöcke, die Glaskugeln, die Brunnen und die Gärten auf. Zum Schluß verschwand auch noch der Turm. Die Technos starrten lange Zeit die kahle Fläche an, die von der Oase Teimabor übriggeblieben war. Der ewige Wind trieb die Sandkörner über die Kämme der Dünen. Ein erster Schleier aus Sand zog über den Boden des Tales. Bald würde nichts mehr darauf hinweisen, daß es an dieser Stelle jemals eine Oase gegeben hatte. Im Morgengrauen machten sich die Technos schweigsam und niedergeschlagen auf
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Marianne Sydow
den Rückweg.
* Zur gleichen Zeit legten Atlan und Razamon etwa dreißig Kilometer weiter nördlich eine Pause ein. Es gab in dieser Wüste keine Orientierungspunkte, die sie mit der Karte hätten vergleichen können. Daher wußten sie auch nicht genau, wie weit sie noch von der Baustelle entfernt waren. Aber die Geräusche waren um vieles lauter geworden, und sie rechneten damit, innerhalb einer Stunde den Kartaperator zu erreichen. Weil sie nicht wußten, ob sie bei der Baustelle einen günstigen Platz finden würden, beschlossen sie, sich erst einmal auszuruhen. Fenrir war damit auf Anhieb einverstanden. Er legte sich hin und schlief augenblicklich ein. Stormock dagegen hatte sich während der Dunkelheit von Razamon tragen lassen. Jetzt erwachte er, reckte die Flügel und hüpfte zu dem Pthorer. Razamon öffnete schweigend seinen Proviantbeutel. Stormock bekam eine volle Ration von dem kostbaren Wasser. Während der Geier trank, schnitt Razamon ein Stück Fleisch in kleine Stücke. Atlan beobachtete ihn aus halb geschlossenen Augen. Er war einerseits gerührt durch die fast kindliche Zärtlichkeit, mit der Razamon den Geier pflegte, andererseits besorgt, weil der Proviant, den die Schattenkullja ihnen mitgegeben hatte, alles andere als reichlich war. Er fragte sich, wie lange sie den Vogel wohl noch durchfüttern konnten. Stormock verspeiste das Fleisch mit Heißhunger. Als nichts mehr da war, blickte er den Pthorer an und legte den Kopf schief.
»Tut mir leid«, sagte Razamon. »Aber mehr kann ich dir nicht geben, sonst haben wir später nichts mehr.« Stormock krächzte und hüpfte um den Pthorer herum. Dabei schlug er heftig mit den Flügeln. Der goldgelbe Sand wurde aufgewirbelt, und Razamon rollte sich lachend aus der Staubwolke heraus. Und dann ging die Sonne auf und tauchte die Dünenkämme in gleißende Helligkeit. Stormock erhob sich mit lautem Krächzen in die Luft. Razamon sah ihm lächelnd zu – bis er erkannte, daß dies kein Übungsflug war. Das Lächeln fror zu einer Grimasse. Er sprang auf und rannte hinter dem Geier her. Atlan hörte, wie der Pthorer den Vogel immer wieder rief, aber Stormock schien ihn nicht hören zu wollen. Ungerührt schraubte er sich höher in die Luft hinauf. Atlan raffte in aller Eile ihre Habseligkeiten zusammen. Fenrir war sofort aufgewacht und trabte neben dem Arkoniden her. Sie fanden den Pthorer auf halber Höhe des nächsten Dünenhangs. Atlan fürchtete schon, die Flucht des Geiers könnte Razamon zu einem Wutanfall treiben, und darum näherte er sich dem Pthorer nur zögernd. Als er dann neben ihm stand, stellte er fest, daß der Abschied von Stormock für Razamon noch viel schlimmer war, als er angenommen hatte. Der ehemalige Berserker saß zusammengekauert im Sand und weinte wie ein Kind. Hilflos wartete Atlan darauf, daß Razamon seinen Kummer überwand.
ENDE
ENDE