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Sara Paretsky (Hrsg.)
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Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
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Sara Paretsky (Hrsg.)
Die Katze läßt das Morden nicht Ein Krimi-Lesebuch Aus dem Englischen von Christine Frauendorf-Mössel
Deutsche Erstausgabe Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Beastly Tales« bei Wynwood Press, New York Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Made in Germany 2/92 1. Auflage © der Originalausgabe 1989 by Mystery Writers of America © des Vorwortes 1989 by Sara Paretsky © der deutschsprachigen Ausgabe 1992 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Eisnerdruck, Berlin Lektorat: Ulrich Genzier Redaktion: Ursula Walther Herstellung: Ludwig Weidenbeck ISBN 3-442-05.170-3
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Vorwort Die Verflechtungen zwischen Mensch und Tier sind uralt. Circe hatte Odysseus’ wilde Gesellen in Schweine verwandelt; Artemis schlüpfte stets in den Körper einer Hirschkuh, sobald Männer ihr zu nahe kamen; sexuelles Verlangen hielt in der Gestalt der Schlange Einzug ins Paradies. Tiere, so scheint es, besitzen jene magischen Kräfte, die Männer und Frauen so gern für sich in Anspruch nehmen: die Weisheit oder Verschlagenheit der Schlange; den Mut des Tigers; die Beständigkeit des Hundes. Unsere Vorfahren tranken das Blut jener Tiere, denen sie nacheifern wollten, und hofften, daß damit deren Seele auf sie übergehen würde. In vielen Geschichten sind Tiere der menschlichen Sprache mächtig – angefangen von den Ameisen und Widdern, die Psyche zur Seite standen, bis zum Löwen und anderen wilden Tieren in C. S. Lewis’ Narnia Chronicles. Im Gegensatz zu uns Menschen spricht aus diesen Tieren die ungeschminkte Wahrheit. Möglich, daß der Mensch glaubt, abgesehen von seiner Sehnsucht nach Mut oder Treue und anderen den Tieren zugeschriebenen Eigenschaften, von ehrlichen Hunden, Katzen oder Ameisen jenes Verständnis zu erfahren, das ihm seine Artgenossen nicht entgegenbringen. Was auch immer die Gründe sein mögen, Geschichten, in denen Tiere eine Rolle spielen, sind so populär wie eh und je. Man denke nur an den spektakulären Erfolg von R. G. Adams’ Unten am Fluß (Watership Down) oder an den Dauerbrenner von Grahame: Wind in den Weiden (Wind in the Willows). Es überrascht daher kaum, daß auch Kriminalschriftsteller eine gewisse Affinität zu Tieren haben und Schubladen voller Geschichten über Tiere aufbewahren. Und trotzdem hatte ich keine große Resonanz erwartet, als wir für Die Katze läßt das Morden nicht Geschichten zum Thema »Tier« suchten, um eine Anthologie zusammenzustellen. Ich war erstaunt, als die Manuskripte stapelweise eintrafen. Geschichten über Hunde, Katzen, Affen, Pferde, Hamster, Leoparden, Pythons… Nennen Sie mir ein Tier, und ich kann Ihnen mittlerweile
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mindestens zwei Autoren sagen, die dieses Tier zur Hauptperson einer Geschichte gemacht haben. Glück und Leid lagen für mich sehr nahe beieinander, als ich Joyce Harrington bei der Herausgabe dieser Sammlung zur Hand ging. Als Glück betrachte ich die Gelegenheit, so viele ungewöhnliche Geschichten von so vielen guten Autoren lesen zu dürfen. Ich bin ehrlich gesagt richtig neugierig geworden, als ich Namen las, die ich nicht kannte, und merkte, daß mir die Arbeit als Herausgeberin eine ganze Menge neuer Autoren näherbringen würde. Zu meinem Leidwesen mußte ich eine Auswahl treffen. Aus einer Fülle guter Geschichten nur einige zu bestimmen, die veröffentlicht werden sollen, ist keine leichte Aufgabe. Wer bitte, tut das schon gern? Wenn der Stil gut ist, die Story mitreißend, aber nur fünfzehn Titel genommen werden können, dann wird die Sache zum Alptraum. Nachdem ich es einmal gemacht habe, hoffe ich, es nie wieder tun zu müssen. In der vorliegenden Sammlung sind die meisten Aspekte der Beziehung Mensch und Tier vertreten. Wir erleben Tiere als Jagdobjekt, als Gefährten, als empfindungsfähige Wesen, die in ihrer eigenen Welt miteinander kommunizieren, oder als eine Art übernatürliche Ergänzung zum menschlichen Leben. In Besuch für Mombasa beschreibt James Holding den klassischen Großwildjäger Afrikas mit einem Leoparden als Jagdobjekt und jener überraschenden Wende zum Schluß, die einem das Blut in den Adern gefrieren läßt. Ein anderes Tier, der Büffel in Clark Howards Die Hochebene, wird von einem völlig anderen Typ Jäger und Helden gehetzt. Der gute Hund, idealisierter Gefährte unserer Kindheit, sorgt für die ungewöhnliche Rettung der Heldin in Margaret Marons In stürmischer Höhe. Und Justin Scott klärt uns in seinem Der weiße Tod endlich darüber auf, was all diese Hunde eigentlich wirklich denken, und stellt uns den engagiertesten Detektiv vor, von dem ich seit Jahren gehört habe: einen Kater. Hope Raymonds Nachbarn hat mich das Gruseln gelehrt. Die Hauptperson, eine alte Dame, hat sehr ungewöhnliche Helfer. Diese Geschichte wurde wohl ursprünglich für die Abenddämmerung ge-
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schrieben. Sollten Sie jedoch spätabends in diesem Buch lesen, sparen Sie sich Donald E. Westlakes Eine gute Geschichte für den Morgen auf. Bei der Auswahl der Erzählungen kam es uns darauf an, möglichst viele unterschiedliche Tiere in all jenen Rollen vertreten zu wissen, die die Literatur ihnen zugewiesen hat. Darüber hinaus sollten dem Leser die zahlreichen Formen der Kriminalkurzgeschichte nahegebracht werden: vom Thriller über die Detektivgeschichte bis zur Gruselgeschichte, die Spionage- und Abenteuerstory nicht zu vergessen. Dorothy Salisbury ist vielleicht unter den zeitgenössischen Autoren die absolute Meisterin der Kriminalstory. Ihr preisgekröntes Frühlingsfieber, das in unserer Auswahl enthalten ist, läßt sich in keines der genannten Schemata pressen. Sie seziert darin die menschlichen Sehnsüchte und Ängste mit einer Konsequenz, die man nicht so schnell vergißt. Eine ebenfalls schwer einzuordnende Geschichte ist Der Zug der Störche von Ed Wellen und Josh Patcher. Diese düstere Story führt uns vor Augen, daß wir unserem Schicksal nicht entgehen – auch nicht durch die Flucht ans andere Ende der Welt. Leichtere Kost ist Isaac Asimovs Der entlaufene Hund. Mit dieser Story und Edward Hochs Das Geheimnis der Jagdhütte machen wir einen Abstecher in die klassische Detektivgeschichte. In Dwindle, Peak und Pine dagegen kreiert Joyce Harrington einen köstlichen neuen Typ des Detektivs – oder vielmehr drei Detektive, die mit dem herkömmlichen Allerwelts-Schnüffler absolut nichts gemein haben. Ich empfehle, Harrington oder Asimov nach Davis zu lesen, wenn Sie Ihren gesunden Schlaf brauchen oder einfach nur ihren Humor und guten Appetit nicht verlieren wollen. Lilian Jackson Braun und Gahan Wilson beherrschen das Genre der Gruselgeschichte, gewürzt mit einer Prise Esoterik. Braun ist hier mit Kleine Katze – Großer Schnurrbart vertreten, in der sie uns einen amüsanten Einblick in das Leben der Reichen gewährt; Wilson bietet schwere Kost in seinem düsteren Ein Geschenk der Götter, das bestimmt keine Gute-Nacht-Lektüre ist.
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Joan Richters klassischer Thriller Spuren im Mais hat erneut den Europäer in Afrika zum Thema. Richters Geschichte spricht viele Aspekte dieser Problematik an und gewährt uns erstaunliche Einsichten darüber, was alles schiefgehen kann, wenn wir das Vertrauen anderer mißbrauchen und ihren Wert nicht erkennen wollen. Dick Stodghill verschafft uns eine andere Art der Spannung, wenn er von einem guten Menschen erzählt, der unfreiwillig zum Verbrecher wird. In Töte nie ein Tier zum Scherz… ist es die Zuneigung einer warmherzigen Frau zu einem Hamster, die ihren Mann zu einem feigen Verbrechen verleitet. Falls Sie nie Freude daran gefunden haben, wie Charlotte, die Spinne, das Schwein Wilbur in dem immer wieder aktuellen Kinderbuch Charlotte und Wilbur verteidigt hat, Sie niemals das traurige Schicksal des Zugpferdes Blackbeauty im gleichnamigen Kinderbuch beweint haben, Sie die Begeisterung der Ratte bei einer Bootsfahrt oder die Zerknirschtheit der Kröte nach fehlgeschlagener Spritztour in einem Auto in Wind in den Weiden nachempfinden konnten, dann sollten Sie dieses Buch schleunigst beiseite legen und sich wieder dem Wirtschaftsteil Ihrer Zeitung widmen, wo Sie weder Poesie noch Allegorisches von dem ernsten Geschäft, das da Leben heißt, ablenken. Sollte jedoch Disneys Bambi oder der Hund Old Yeller je Ihr Herz berührt haben, weiß ich, daß Sie meinen Spaß an den vorliegenden Geschichten teilen werden. Und beim Lesen, das ist meine stille Hoffnung, erinnern Sie sich vielleicht der zahllosen Tierarten, die die Spezies Mensch bereits fast von diesem Planeten vertrieben hat – wie zum Beispiel an das Nashorn, den sibirischen Tiger, den Leoparden und viele andere. Ich hoffe, daß bei der Lektüre dieser Geschichten, in denen der Mensch Tiere sprechen läßt, in Ihnen der Wunsch wach wird, einige vom drohenden Aussterben zu bewahren. Während Sie das hier lesen, wird in Mexiko jene Hochfläche gerodet, auf der der Monarchfalter seine Eier legt. In einigen Jahren werden diese zauberhaften Gefährten des Frühlings nicht mehr zu uns kommen. Schon Dutzende von nordamerikanischen Singvögelarten sind verschwunden. Wenn sie in ihre Winterquartiere ins Amazonasgebiet fliegen, finden sie dort weder Nistplätze noch Nahrung.
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Wenn diese Anthologie sonst nichts zu bewirken vermag, wünsche ich mir doch, daß sie Sie daran erinnert, daß wir diesen Planeten lediglich als vorübergehende Gäste mit unzähligen anderen Lebewesen teilen. Und vielleicht ist kein Mord brutaler als der, den wir an diesen wehrlosen Geschöpfen begehen. Sara Paretsky
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Frühlingsfieber Dorothy Salisbury Davis Sarah Shepherd sah ihren Mann die Treppe herunterkommen. Er stellte den Koffer an der Haustür ab, verglich die Zeit auf seiner Uhr mit der der Dielenuhr und betrachtete eingehend seinen Hals im Spiegel. Da gab es eine Partie, die er beim Rasieren gelegentlich ausließ. Er trat einen Schritt zurück und musterte leicht stirnrunzelnd seine ganze Erscheinung. Um die Taille herum wurde er füllig; das gefiel ihm nicht. So weit reichte seine Selbstkritik, auch wenn er ihr gegenüber viel kritischer war. Allerdings äußerte er nichts dergleichen; weder etwas, was man als Mißfallen, noch etwas, das man als Kompliment hätte auffassen können. Und sie war peinlich berührt, als sie an die Kunstkniffe dachte, die sie angewandt hatte, um ihn auf sich aufmerksam zu machen: kokett naives Getue, das besser zu einem jungen Mädchen als zu einer fünfundfünfzigjährigen Frau gepaßt hätte. Die zwölf Jahre Altersunterschied zu Gerald waren ihr nicht bewußt – meistens jedenfalls nicht. Automatisch strichen ihre Fingerkuppen über die Rundung ihres Bauches. Gerald trug seinen Musterkoffer ins Wohnzimmer und klappte ihn auf. Das entströmende Aroma würde noch lange, nachdem er gegangen war, in der Luft hängen. »Es ist genug Holz da, Liebes«, sagte er, »für den Fall, daß es kühl werden sollte. Und schlepp bitte keine Einkäufe aus dem Dorf nach Hause. Dazu ist schließlich der Lieferservice da…« Gerald hakte sämtliche Fürsorglichkeiten mit derselben Automatik ab, wie er seine Musterfläschchen zählte. Als er den Koffer vom Tisch hob, stand sie auf und ging mit ihm zur Tür. Auf der Veranda zögerte er einen Augenblick, straffte die Schultern und atmete tief durch. »An einem solchen Morgen wünschte ich fast, ich könnte Auto fahren.« »Warum lernst du’s nicht, Gerald? Dann könntest du deine Besuche in der Hälfte der Zeit erledigen und…« »Nein, Liebes. Ich bin ganz zufrieden mit meiner Zeitung im Bus. Und in der Stadt ist ein Auto nur ein Hindernis.« Er beugte sich zu ihr und streifte mit den Lippen ihre Wange. »Hallo, da drüben!« rief er und richtete sich auf.
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Sie wandte den Kopf in die Richtung, in die er gerufen hatte. Dort ging ihr einziger Nachbar, ein Gemüse- und Blumengärtner, hinter dem Pflug, vor den er sein Pferd gespannt hatte; der Nachbar hatte den Kopf hoch erhoben; das Pferd hielt den Kopf gesenkt. Die morgendliche Brise hatte sich in einem grauen Haarbüschel verfangen und es keck aufgestellt. »Der alte Junge macht sich ein Leben!« bemerkte Gerald. »Wenn ich mal so alt bin, wär’ das auch was für mich.« »So alt ist er doch gar nicht«, entgegnete sie. »Nein, vermutlich nicht. Ich muß jetzt los, Liebes. Bis morgen abend. Paß gut auf dich auf.« Beinahe beschwingt ging er zur Straße. Es war seltsam, daß er sich mit dem Gedanken, ein Auto zu besitzen, nicht anfreunden konnte. Allerdings paßte das zu ihm. Ein Wagen wäre eine sichtbare und faßbare Verbindung zwischen seinem Leben da draußen und ihrem gemeinsamen Leben zu Hause gewesen. Am Abend könnte sie in diesem Auto dann die Atmosphäre seiner Reisen spüren. Der Staub der Straße würde auch auf sie abfärben. So allerdings, war das durchdringende Aroma von Geralds Gewürzmustern das einzige, was ihr von seinem Leben dort draußen blieb. Gerald war jetzt außer Sichtweite, und sie machte sich an die Hausarbeit – Frühstücksgeschirr, Betten, Staubwischen. Sie hatte viel zuviel aus der Stadt angesammelt. Ihre Mutter hatte ihr ein Haus voller Dinge, die sich in siebzig Jahren angesammelt hatten, hinterlassen, und mittlerweile war es praktisch unmöglich, irgendwo ein Buch abzulegen, ohne eine Porzellanfigur, eine Vase oder ein Stück Delfter Porzellan wegnehmen zu müssen. Die ganze Wohnung stand voller Nippes. Kein Wunder, daß sich Geralds Verhalten ihr gegenüber geändert hatte. Nicht die Ehe hatte das bewirkt – vielmehr war es dieses Haus und die Tatsache, daß sie sich hier wie ein alter Buddha mit einer Schale Räucherstäbchen im Schoß niedergelassen hatte. Seltsam, daß sie gerade jetzt daran dachte! Es war ja nicht das erste Mal. Nur hatte sie plötzlich Worte dafür gefunden. Gerald war nicht immer so verschlossen gewesen. Als sie einmal an einen der besonderen Augenblicke aus ihren frühen Tagen gedacht hatte, hatte sie
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seinen prüfenden Blick bemerkt – er wollte in diesem Moment nicht ihre Jahre zählen, wie er das inzwischen vielleicht tat, sondern in ihren Augen den eigenen Wert abschätzen. Sie reihte die Nippes auf, die sie entbehren oder an einen Trödler verkaufen konnte. Schließlich wählte sie aus der Sammlung einige Exemplare wieder aus, an denen sie besonders hing. Sie waren ihr wie Kinder ans Herz gewachsen, fast so, wie Gerald aus den Büchern seine Kinder machte, mit denen er die Abende zu Hause verbrachte. Sie hob ihre Küchenschürze auf und füllte einen ganzen Tisch voller Nippes hinein. Ohne noch einen einzigen Blick darauf zu werfen, ließ sie sie in der Mülltonne auf dem Hinterhof verschwinden. Danach fühlte sie sich mächtig erleichtert. Und mit dem Maiwind im Gesicht und der warmen Sonne, die sie sanft einhüllte, erfaßte sie fast so etwas wie Übermut. Über dem Zaun blühten die Narzissen, und die Tulpen wiegten wie feiste, kleine Buben ihre Köpfe im Wind. Mr. Joyce hatte das Pferd ausgespannt. In diesem Moment sah er sie. »Schöner Morgen!« rief er. Und er gab dem Pferd einen Klaps auf die Hinterflanke, daß dieses Richtung Weide davon trabte. Er kam an den Zaun. »Ich bewundere gerade Ihre Blumen«, sagte sie. »Die sind ganz schön faul heuer. Alles ist zwei Wochen zu spät dran.« »Ach! Stimmt das?« Natürlich stimmt das, dachte sie. Dämliche Bemerkung. Und die nächste war auch nicht intelligenter: »Sie blühen so schön wie nie. Was kommt als nächstes?« »Dieses Jahr? Löwenmäulchen, schätze ich. Und Rosen. Die Iris verkaufen sich schlecht. Ich lasse sie wachsen, wie sie wollen.« »Dann blühen sie bestimmt besonders üppig.« »Ja, so ist es doch, was? Man kann die Dinger ein Jahr lang hegen und pflegen, und es kommt nichts. Und wenn man sich nicht um sie kümmert, wachsen sie in den Himmel.« Wie die Liebe, dachte sie und verschluckte die Bemerkung. Trotzdem wurde sie rot. »Sie sehen verdammt hübsch aus, Mrs. Shepherd. Darf ich doch sagen, oder?«
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»Danke, ja. Das macht vermutlich der Frühling.« »Der bringt das Blut in Wallung, was? Möchten Sie ein paar Narzissen?« »Gern, Mr. Joyce. Aber nur, wenn ich sie bezahlen darf.« »Kommt nicht in Frage! Es sind so viele, daß ich nicht mal die Hälfte verkaufen kann.« Sarah sah zu, wie er fachmännisch die Blumen abschnitt. Er war bereits braun gebrannt und bewegte sich mit würdevoller Eleganz. In all den Jahren, die sie nebeneinander wohnten, war er nie in ihrem Haus gewesen. Sie hatten ihm lediglich einmal, anläßlich des Todes seiner Frau, einen Besuch abgestattet. Besonders traurig ist er nicht, hatte sie damals zu Gerald gesagt. Und das war kein Wunder. Seine Frau war mißmutig gewesen und hatte ständig genörgelt. Es hatte kaum einen Sonnentag gegeben, an dem sie nicht den Regen schon vorausgesagt hätte. Plötzlich fiel Sarah auf, daß Joyce viel jünger wirkte als noch zu Lebzeiten seiner Frau. »Ich bitte Sie! Hören Sie auf, Mr. Joyce! Das sind ja Unmengen.« »Heute morgen könnte ich Ihnen das ganze Beet schenken«, sagte er und legte ihr den riesigen Strauß Narzissen in den Arm. »Aber das ist ja schon das ganze Beet.« »Donnerwetter, das ist ein Bild… Sie mit den Blumen!« »Ich will sie schnell ins Wasser stellen«, sagte sie hastig. »Vielen Dank.« Sie lief ins Haus, floh wie ein junges Fohlen vor ihrer ersten Eroberung, und war sich der bewundernden Blicke bewußt, die ihr folgten. Der ganze Morgen erstrahlte in der Gegenwart der Blumen. Sie stellte das Radio aus. Es hätte nur gestört. Und bald hörte sie Mr. Joyces Pferdewagen aus dem Hof rollen, als der Nachbar zu seinem Gemüse- und Blumenstand am Highway fuhr. Sie beobachtete ihn vom Fenster aus. Er sah auf und zog die Mütze. Immer wieder kehrten an diesem Tag ihre Gedanken zu ihm zurück. Er hatte ihr ein bißchen Selbstwertgefühl zurückgegeben, und dafür war sie dankbar. Sie wünschte, Gerald würde noch an diesem Abend zurückkommen. Nichts überhasten, Sarah, sagte sie sich. Alte Gewohnheiten und die Jahre wirft man nicht einfach fort wie Nippes. Sie war zweifellos rundlicher geworden. Vielleicht war sie nicht
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gerade fett, aber mollig. Mollig. Sie wiederholte das Wort laut. Es klang wie eine Kartoffel, die ins Wasser plumpst. In der warmen Nachmittagssonne befiel sie die alte Trägheit erneut. Erst als Mr. Joyce nach Hause kam und sein Lied ihn schon von weitem ankündigte, nahm sie sich zusammen. Sie holte hastig ein Hühnchen aus dem Kühlschrank und rief ihm von der Veranda aus zu: »Mr. Joyce, möchten Sie mit mir zu Abend essen? Gerald kommt heute nicht. Und ich hasse es, für eine Person zu kochen.« »Wäre großartig. Ich hab’ nur ein bißchen Schinken zu Hause, auf den nicht mal ’n Hund scharf wäre. Kann ich was mitbringen?« »Kommen Sie einfach rüber, wenn Sie soweit sind.« Sarah, sagte sie sich beim Tischdecken, du bist eine alte Katze, die das Mausen nicht lassen kann. Eine halbe Stunde später sah sie aus dem Fenster, als Mr. Joyce wie ein steifbeiniges Fohlen über den Zaun setzte. Er trug seinen Sonntagsanzug und schwenkte eine Flasche Wein in der Hand. Sarah schluckte die erste Angst hinunter. Sie hatte sich einfach einen netten Abend machen wollen und nicht die Absicht, sich den Annäherungsversuchen eines alternden Don Juans auszusetzen. Mr. Joyce jedoch entpuppte sich als ein Gast, der wußte, was sich gehörte. Die Flasche enthielt Maibowle. Er trank mäßig und lobte das Essen über den grünen Klee. »Sie ahnen ja gar nicht, wie ich Sie beneide, Mrs. Shepherd! Besonders Ihren Mann. Wie hält er es nur aus, so lange fort zu sein?« Das hält er viel zu gut aus, dachte sie. »Daran ist seine Arbeit schuld. Er ist Vertreter für Gewürze.« Mr. Joyce entblößte zwei Reihen guter Zähne beim Lächeln. Es schienen noch die eigenen Zähne zu sein. Sarah fuhr sich mit der Zungenspitze über ihre Brücken. »Wer will guten Kuchen backen, der muß haben sieben Sachen, wie’s so schön heißt.« Muß ja ein ziemlicher Schwerenöter gewesen sein, dachte Sarah. Und dann heiratet er eine saure Gurke. War vermutlich ein hastiger Entschluß unter falschen Voraussetzungen. »Muß einsam für Sie sein, seit Ihre Frau tot ist«, bemerkte sie ernster als beabsichtigt. Immerhin war Mrs. Joyce seit drei Jahren tot. »Auch nicht einsamer als zu ihren Lebzeiten.« Er klang ebenso ernst wie sie. »Man sollte über Tote nichts Schlechtes sagen, aber
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wenn sie sich nicht geändert hat, dann wird die Ewigkeit für uns alle eine ungemütliche Sache.« Er stopfte eine Pfeife. »Stört Sie’s?« »Keineswegs. Ich mag Tabakgeruch im Haus.« »Raucht Ihr Mann?« »Ja.« Die Frage überraschte sie. »Er sieht gar nicht nach Pfeifenraucher aus.« Joyce zog geräuschvoll an seinem Pfeifenstiel. »Nein, wirklich, meine Verehrteste«, fügte er heftig qualmend hinzu. »Sie haben Glück, die Qualen eines stillen Hauses nicht zu kennen.« Plötzlich merkte sie, daß er vorsichtig das Terrain sondierte. Nicht mit mir, dachte sie. »Ja, das weiß ich wohl zu schätzen.« Der amüsierte Ausdruck in seinen Augen schien zu sagen: »Du bist doch genauso einsam wie ich, altes Mädchen.« Diese Direktheit verleitete Sarah zu dem Zusatz: »Ich wünschte, Gerald wäre öfter zu Hause.« »Tja! Er ist in dem Alter, in dem sich die meisten Männer zum letzten Mal die Hörner abstoßen.« Er blinzelte hintergründig durch den Pfeifenqualm. »Gerald ist erst dreiundvierzig«, sagte sie und hatte seine Worte vergessen, bevor sie den Sinn begreifen konnte. »Manche sind schon mit vierzig soweit, andere können’s noch im Rollstuhl nicht lassen.« Die Unterhaltung hatte eine Richtung genommen, die ihr nicht behagte. Sie trat von einem Fettnäpfchen ins andere. »Da ist der Mond«, bemerkte sie mit einer Handbewegung zum Fenster, als begrüße sie einen alten Freund. »Tja, da ist der Mond«, wiederholte er. »Wie wär’s mit einem kleinen Abenteuer?« »Wie bitte? Was haben Sie gesagt, Mr. Joyce?« »Vielleicht sollte ich erst mal erklären, was mir gerade in den Sinn gekommen ist. Wenn ich Mickey vor den alten Zweisitzer spanne, würden Sie dann auf ’ne Fahrt über die Mill Pond Road mitkommen?« Sarah sah sein Spiegelbild im Fenster. Sein Lächeln wirkte selbstgefällig und draufgängerisch. In sechzehn Jahren Ehe hatte sie vergessen, wie man mit Männern umging. Aber so ganz vergaß man es
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eigentlich nie. Es war wie mit dem Radfahren. Nach ein paar Umdrehungen faßte man wieder Tritt. »Ja, würde ich.« Das Pferd vor dem Zweisitzer war ein anderes Tier als das, das am Morgen den Pflug gezogen hatte. Mr. Joyce hatte kaum die Zügel über den Rücken des Pferdes gezogen, als der Wagen so abrupt anfuhr, daß Sarah unsanft in das Klappverdeck zurückgeworfen wurde. Mr. Joyce sprang sofort auf, riß Mickey mit der einen Hand zurück und drückte Sarah mit der anderen in die Polster. Dann sausten sie im Mondschein davon… Die Sonne schien Sarah beim Aufwachen am nächsten Morgen prall ins Gesicht. Wie gewöhnlich sah sie zuerst nach, ob Gerald neben ihr im Bett lag, um sich an den Tag und die Routine gewöhnen zu können. Mit der ersten Bewegung ihres Körpers wurde ihr klar, daß es nicht unbedingt die richtige Methode war, seine Jugendlichkeit zu beweisen, indem man sich hinter ein galoppierendes Pferd in einen klapprigen Wagen mit rostiger Federung setzte. Sie blieb noch eine Weile nachdenklich liegen und stand dann mit dem schmerzlich realistischen Gefühl auf, sich schlecht benommen zu haben. Dies verfolgte sie den ganzen Tag, und der Gedanke wurde nur kurzzeitig von wehmütigen Gefühlen gegenüber ihren Nippes verdrängt. Sie hatte nie gemerkt, wieviel Zeit sie mit deren Pflege zugebracht hatte. Als Gerald nach Hause kam, war sie schon fast wieder die Person, die er am Vortag verlassen hatte. Was die Nippes betraf, war sie allerdings standfest geblieben. Blumen waren der einzige Schmuck im Wohnzimmer. Erst nachdem das Abendessen abgeräumt war und Gerald es sich mit einem Buch bequem gemacht hatte, kam von ihm ein Kommentar. »Wo ist eigentlich der alte chinesische Philosoph geblieben, Sarah?« »Ich habe ihn weggetan. Fällt dir sonst nichts auf? Ich habe den ganzen Plunder weggeräumt.« Gerald sah sich geistesabwesend um, als versuche er, sich wenigstens an einige Stücke zu erinnern. »Hm, du hast wirklich Ordnung gemacht. Der alte Junge wird mir fehlen. Er hat mir zu denken gegeben.« »Inwiefern?«
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»Weiß nicht. Was in der Art: wie Konfuzius sagte… und so weiter.« »Der war kein Philosoph«, entgegnete Sarah. »Er war Bauer.« »Wirklich? Na, da besteht ein kleiner Unterschied.« Er schlug das Buch auf. »Sind die Blumen nicht schön, Gerald?« »Bezaubernd.« »Mr. Joyce hat sie mir geschenkt. Frisch aus seinem Garten.« »Wie nett von ihm.« »Mußt du jeden Abend lesen, Gerald? Ich bin den ganzen Tag hier im Haus, habe niemanden, mit dem ich reden kann, und wenn du nach Hause kommst, vergräbst du dich hinter deinen Büchern…« Sie hatte den Satz kaum ausgesprochen, als sie ihn schon bereute. »Ich hatte Mr. Joyce gestern zum Abendessen hier, Gerald.« »Nett von dir, meine Liebe. Der alte Herr ist sicher einsam.« »Glaube ich nicht. Der Tod seiner Frau war für ihn eher eine Erleichterung.« Gerald sah auf. »Hat er das gesagt?« »Nicht wörtlich. Aber er hat es angedeutet.« »Muß ja ein komischer Kauz sein. Woran ist sie gestorben?« »Weiß ich nicht mehr. Sie hatte, glaube ich, ein Herzleiden.« »Interessant.« Er konzentrierte sich wieder auf seine Lektüre. »Nach dem Abendessen hat er mit mir eine Spazierfahrt mit dem Pferdewagen gemacht. Wir sind bis Cos Corner und zurück gefahren.« »Aha.« Das war sein einziger Kommentar. »Gerald, du wirst langsam fett.« Er sah auf. »Finde ich nicht. Ich habe immer dasselbe Gewicht. Ein paar Pfund hin oder her…« »Dann hast du dir eben einen Bauch zugelegt. Mir ist aufgefallen, daß du die Gummis aus deinen Unterhosen herausgetrennt hast.« »Diese modernen Materialien«, entgegnete er gereizt. »Die sind alle vorgewaschen. Damit sie nicht eingehen«, bemerkte sie. »Dein Bauch ist schuld. Merkst du eigentlich nicht, daß du die ganze Zeit an deinem Kragen herumzerrst?«
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»Das wollte ich dir schon lange sagen, Sarah. Du benutzt zuviel Stärke.« »Seit letzter Woche ist mir die Stärke ausgegangen. Und ich habe vergessen, ein neues Paket zu besorgen. Die Hemden mußt du jetzt zwei Nummern größer kaufen.« »Mein Gott, Sarah, ich habe doch keinen Stiernacken!« Er klemmte das Buch zwischen die Schenkel. »Ich bin nur drei oder vier Nächte in der Woche zu Hause. Ich bin müde. Mach’s mir nicht noch schwerer, Liebes.« Sie ging zu seinem Sessel und setzte sich auf die Lehne. »Ist dir klar, daß ich mich schon frage, ob du überhaupt noch auf mich reagierst?« Er sah ihr zum ersten Mal direkt in die Augen. Es schien ihr Jahre her zu sein, daß das der Fall gewesen war. Dann wich er ihrem Blick aus. »Ich habe verdammt hart gearbeitet, Liebes.« »Ist mir egal, was du machst, Gerald. Ich bin nur froh, daß du noch menschliche Regungen zeigst.« Er schlang den Arm um sie und zog sie an sich. »Sind Frühlingsblumen nicht was Herrliches?« sagte sie. »Ja«, erwiderte er. »Genau wie der Frühling.« Sie beugte sich über ihn und nahm eine Blume aus der Vase. In dieser Haltung verharrte sie eine Weile. Seine Hand berührte sie. »Du bist auch wunderschön.« Es ist doch ganz einfach, dachte sie, indem sie sich aufrichtete. Hätte sich das Karnickel nicht in die Nesseln gesetzt, hätte es den Wettlauf gewonnen. »Drei Dinge… Was Schöneres gibt’s nicht auf dieser Welt«, bemerkte Gerald versonnen. »Ein weißer Vogel in der Luft, ein Weizenfeld und der Körper einer Frau.« »Ist das von dir, Gerald?« »Weiß ich nicht mehr. Vermutlich.« »Es ist lange her, seit du Gedichte verfaßt hast. Du hast ein paar hübsche Sachen geschrieben.« »So habe ich mir dich geangelt.« »Und ich dich mit einem alten Haus. Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem das Testament meiner Mutter eröffnet worden ist.
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Sag die Wahrheit, Gerald… In dem Moment hast du dich entschieden, oder?« Zuerst sagte er gar nichts. Und dann sprach er nur das Ende eines Gedankenganges aus, ein Fragment seiner Assoziation. »Weißt du noch, welche Verse ich über das alte Haus geschrieben habe?« »Ich hab’ sie gerade neulich wieder gelesen. Ich lese sie immer wieder… von Zeit zu Zeit.« »Wirklich, Sarah? Aber du erwähnst es mit keinem Wort.« Mittlerweile waren diese Gedichte fast ihre einzige Lektüre. Seine Affenliebe für Bücher hatte sie gegen das Lesen eingenommen. »Früher durfte ich dir deine Gedichte immer vorlesen, Gerald. Du hast behauptet, ich sei die einzige außer dir, die das könnte.« »Ja, ich weiß.« »Oder war das nur Süßholzraspelei?« Gerald lächelte. »Ich fürchte wirklich, ich wollte dir schmeicheln. Jeder nimmt wohl an, daß er die eigenen Gedichte am besten rezitiert. Trotzdem, Sarah – es wäre schön, wenn du heute ein paar meiner Gedichte vorliest. Um der alten Zeiten willen.« Um alter Zeiten willen, dachte sie, nahm den Ordner aus dem Schrank und nahm ihm gegenüber Platz. Er saß mit ausgestreckten Beinen im Sessel, zog an seiner Pfeife, die Lider halb geschlossen. Einst hatte seine nachdenkliche Art den ersten Schreck über den gravierenden Altersunterschied zwischen ihnen gemildert. »Das war immer mein Lieblingsgedicht ›Der Morgen meiner Tage.‹« »Also gut. Dann fang damit an«, murmelte er. »Ich hab’s sowieso für dich geschrieben.« Sarah las ein Gedicht nach dem anderen. Gelegentlich fragte sie sich, welches der Sprachbilder, die er da entstehen ließ, einen Bezug zu den Augenblicken hatte, in denen sie geschrieben worden waren. Gerald zog von Zeit zu Zeit an seiner Pfeife. Es klang wie bei einem Kind, das an seiner Flasche nuckelte. Sie glaubte, gut zu rezitieren, gab ihrer Stimme ein sanftes Timbre – die Zärtlichkeit einer alten Liebe. Sie war sicher, daß der Moment kommen mußte, in dem er sich aus dem Sessel erhob und zu ihr trat. Doch Gerald blieb sitzen, hatte die Augen fest geschlossen, die Pfeife in der Hand, die jetzt auf
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der Armlehne ruhte. Ein heiserer Hauch schlich sich in ihre Stimme, eine längst vergessen geglaubte Empfindung, und sie dachte an das Singen der Nachtigall, den Dorn in der Brust. Ein Schmerz in der Kehle zwang sie zu weiterer Anstrengung, denn die Gedichte neigten sich dem Ende zu. Ein Geräusch im Zimmer ließ sie mitten im Satz verstummen. Die Pfeife war klappernd zu Boden gefallen. Geralds Hand auf der Lehne griff ins Leere. Das Kinn war ihm auf die Brust gesunken. Sarah legte den Ordner beiseite. Sie ging zu ihm, hob automatisch die Pfeife auf, wie sie auch einen Vogel aufgenommen hätte, wenn er ihr tot vor die Füße gefallen wäre. Geralds Abreise am nächsten Morgen verlief mit dem Kuß auf ihre Wange und den Worten »Bis morgen abend, Liebes. Paß gut auf dich auf« nach dem gewohnten Muster ihrer gemeinsamen Jahre. Paß gut auf, dachte sie beim Hineingehen. Worauf? Und wozu? Sie erledigte hastig ihre Hausarbeit und zog sich an. Als Mr. Joyce das Pferd vor den Blumenwagen spannte, schloß sie die Haustür ab und paßte ihn beherzt ab. »Könnten Sie mich bis zum Highway mitnehmen?« rief sie ihm zu, als er bei ihr anhielt. »Jederzeit und sogar bis ans Ende der Welt, Mrs. Shepherd. Geben Sie mir die Hand.« Als sie neben ihm saß, fuhr er los. »Der Herr Gemahl ist wieder auf Achse, was? Hat sich vermutlich über unsere Mondscheinfahrt mächtig amüsiert, wie?« »Das war eine verrückte Sache«, bemerkte sie. »Hat’s denn wenigstens Spaß gemacht?« »Ja. Aber die Rechnung habe ich präsentiert bekommen.« Sie griff sich an den verlängerten Rücken. »Das Bücken macht mir heute auch Mühe. Aber das Vergnügen war’s mir wert. Ich bringe Sie gleich ins Dorf. Muß sowieso ein paar Meter Schlauch kaufen. Oder meinen Sie, die Leute halten Sie für verrückt, wenn Sie dort mit ’nem Pferdewagen auftauchen?« »Wäre nicht das erste Mal, daß ich die Leute schockiere«, entgegnete sie. »Mein Leben ist voller Verrücktheiten.«
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»Nur ein weiser Narr kann über die eigene Dummheit lachen. In dem Punkt sind wir beide uns sehr ähnlich. Wo essen wir heute zu Abend?« Der Mann war ein schlauer Fuchs. »Sie können gern zu mir kommen«, sagte sie. Er nickte. »Ich hole uns ein Steak. Und danach bringen wir Mickey wieder ein bißchen auf Trab.« Sarah stieg vor dem Postamt aus. Sie blieb im Gebäude, bis Joyce außer Sichtweite war – Joyce und die Gaffer, die stehengeblieben waren, um sie vom Wagen steigen zu sehen. Das Aufsteigen war eine, das Absteigen eine andere Sache. Sie war sich vorgekommen wie eine Hummel auf einem Veilchen. Es war höchste Zeit für diesen Besuch. Sie betrat die Arztpraxis und wartete, bis sie an der Reihe war. »Ich wollte mal zu einer Routine-Kontrolle zu Ihnen kommen, Dr. Philips«, sagte sie am Schreibtisch des Arztes. »Und vielleicht könnten Sie mir eine Diät verschreiben.« »Hm, mal sehen«, murmelte er. »Machen Sie sich frei.« Er griff nach dem Stethoskop. Diätempfehlungen verteilte er wohl nicht alle Tage. Es war vermutlich der letzte Ausweg. Dazu hätte sie in die Stadt und nicht zu einem Landarzt fahren sollen, der eine Frau daran maß, wie viele Kinder sie geboren hatte. »Unsere Nachbarin ist an Herzversagen gestorben«, sagte sie, als könne das alles erklären. »Und wer war das?« fragte er und legte das Instrument beiseite. »Mrs. Joyce. Ist schon ein paar Jahre her.« »Sie hatte ein krankes Herz. Mußte jahrelang mit Stärkungsmitteln leben. Ihr Herz dagegen ist kerngesund. Machen Sie den Arm frei.« Während Sarah den Ärmel hochschob, griff der Arzt nach dem Blutdruckmeßgerät. Sie hatte das Gefühl, gerade ihr Blutdruck müsse sich in schwindelnden Höhen bewegen. Sie schämte sich vor diesem Mann, ärgerte sich deshalb über sich und auch über ihn, weil er so geduldig mit ihr war. »Wir haben vor, eine Versicherung abzuschließen«, log sie. »Aber vorher wollte ich das Urteil unseres Hausarztes abwarten.«
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»Die Versicherung dürfte keine Schwierigkeiten machen, Mrs. Shepherd. Und eine Diät brauchen Sie auch nicht.« Grinsend nahm er die Manschette des Blutdruckmeßgeräts ab. »Wenig Kartoffeln und Brot, möglichst nichts Süßes. Sie überleben Ihren Mann mindestes um zwanzig Jahre. Wie geht es ihm denn?« »Gut. Sehr gut, danke.« Du spielst deine Rolle immer besser, Sarah, sagte sie sich draußen. Also, was willst du? Rein oder raus? Mach die Tür hinter dir zu… An diesem Abend kam Mickey wirklich auf Touren. Er hatte einen ruhigen Tag hinter sich und war bei Einbruch der Dunkelheit neu beschlagen worden. Es stachelte ihn an, daß Joyce bei jedem Knallen der Zügel auf und ab hüpfte, und das Kichern im Wagen verstärkte den Reiz noch mehr. Im Vergleich mit dem Gemüsewagen war der Buggy ein Fliegengewicht, das er kaum spürte. Er legte sich voll ins Zaumzeug, wenn die Zügel auf seine Flanken klatschten, und jagte vor dem Lachen in seinem Rücken davon. Je schneller sein Tempo wurde, desto rascher steigerte sich das Lachen zu einem Kreischen, das in seinen Ohren widerhallte und von dort kitzelnd über Hals und Bauch bis in die Lenden zuckte. Sein Galopp wurde so schnell, daß Funken wie Meeresgischt unter seinen Hufen aufzustieben schienen. Er stemmte sich in die Zügel, die ihn zurückreißen wollten, fühlte den eisernen Schmerz der Kandare im Maul wie eine wohltuende Qual. Er selbst bestimmte die Richtung, bis er endlich angesichts des heimischen Gatters den Kampf aufgab und am Schaum würgte, der seine Zunge bedeckte. »Bei Gott, in der Nacht, in der ein Pferd mich besiegt, steige ich in mein Grab«, rief Joyce. »Hü, du alter Gauner! Du kriegst erst deine Ruhe, wenn du noch mal bis zum Highway und zurück getrabt bist. Alles in Ordnung, Sarah?« Alles in Ordnung, dachte sie. Wann in all den Jahren war sie je in einer solch verwegen ekstatischen Stimmung gewesen wie jetzt? Vom ersten schnellen Galopp des Pferdes an waren Angst und Scham verflogen. Und hätte es die Räder unter ihnen fortgezogen, sie wäre zufrieden in den Graben gerollt. »Ist mir nie besser gegangen«, erklärte sie.
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Er beugte sich dicht zu ihr herüber, um sie im Licht des gerade aufgegangenen Mondes genauer zu betrachten. Der Wind hatte ihr die Tränen in die Augen getrieben. Aber sie lachte. »Heiliger Strohsack!« murmelte er. »Es hat Ihnen wirklich gefallen.« Schließlich ließ er dem Pferd seinen Willen. Es trabte in die Auffahrt. Joyce sprang vom Wagen und reichte ihr die Hand. »Was für ein prächtiges Stück ist da bloß all die Jahre im Schrank eingemottet gewesen? War Zeit, daß wir’s ausgelüftet haben.« »Falls das ein Kompliment sein sollte, hat es einen schalen Beigeschmack«, entgegnete sie. »Hm. Ist eben meine Art, Ihnen zu sagen, daß Sie eine schöne Frau sind.« »Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee bei mir trinken?« »Gern. Ich spanne nur aus. Dann komme ich.« Das Wasser im Kessel hatte gerade zu kochen begonnen, als er vor der Tür stand. »Oder möchten Sie lieber Tee, Mr. Joyce?« »Ist mir egal… solange es kein Wasser ist. Und sagen Sie Frank zu mir. Getauft hat man mich auf Francis, aber diesen Namen habe ich schon lange abgelegt.« »Meinen Vornamen kennen Sie ja offenbar bereits«, bemerkte sie. »Ist mir in der Aufregung so rausgerutscht. Kenne keine Frau, die bei einer solchen Fahrt nicht ohnmächtig geworden wäre.« »Es war herrlich.« Sarah goß Wasser in die Kaffeekanne. »Es geht doch nichts über eine Fahrt im Pferdewagen«, sagte er. »Nur reiten ist noch schöner. Ich würde Mickey nicht für viel Geld gegen einen Traktor tauschen.« »Als ich noch jünger war, bin ich geritten«, sagte Sarah. »Wie sind Sie eigentlich zu dem Mann gekommen… wenn ich mal fragen darf?« Und wie Sie zu der alten Frau, dachte sie. Wo hatten Sie die her? »Ich habe in einem Verlag gearbeitet, und er wollte Gedichte veröffentlichen.« »Ah, das war’s also.« Er nickte. »Und er hat gedacht, daß die Literatur in einem solchen Haus nur so aus ihm raussprudeln würde.«
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»Wir haben uns verliebt«, entgegnete sie gereizt. Es ärgerte sie, daß er so unverblümt aussprach, was sie oft gedacht hatte. »Als ob ich das nicht wüßte! Damals haben Sie die Jalousien noch nicht runtergelassen. Hat mich fast den Verstand gekostet.« »Nehmen Sie Sahne in den Kaffee?« »Ja, bitte. Und schön viel Zucker.« »Es scheint Ihnen ja kaum etwas entgangen zu sein«, bemerkte Sarah. »Es gibt Dinge, die man durch Fenster sieht, von denen die im Wohnzimmer keine Ahnung haben. Schätze, Sie haben sich schon über meine alte Dame und mich gewundert, was?« »Etwas, ja. Aber so alt ist sie doch eigentlich gar nicht gewesen, Mr. Joyce.« Frank, dachte sie. Aber das war wirklich zu intim. »Die? Die war schon alt, bevor sie geboren wurde. Aber sie brachte ein Gewächshaus mit. Ich habe für ihren Vater gearbeitet.« Sarah schenkte Kaffee ein. »Sie sind ja ein ganz kaltblütiger Gauner«, urteilte sie. Joyce grinste. »Nein. Ich behalte nur einen kühlen Kopf. Aber mein Blut ist heiß. Ich denke, in meiner Jugend war’s die Vorliebe für Poesie. Sie konnte singen wie eine Nachtigall. Aber als ich sie im Käfig hatte, hat sie sich zur alten Krähe gemausert.« »Es ist schrecklich, so etwas zu sagen«, entgegnete sie. Seine Miene wurde kurzzeitig düster. »Es ist schrecklich, damit leben zu müssen. Es bringt einen Mann um den Verstand. Sie haben nicht zufällig ein Stück Kuchen zum Kaffee im Haus, Sarah?« »Darf’s auch ein Brötchen mit Marmelade sein?« »Natürlich. Bestens.« Er lächelte wieder. »Wo verbringt der Göttergatte denn auf Reisen die Nächte?« »In einem Hotel in der Stadt, in der er gerade ist.« »Ein verdammt einsames Leben für einen verheirateten Mann«, stellte er fest. Sarah schob einen Stuhl vor den Schrank und stieg hinauf, um ein Glas Marmelade herunterzuholen. Joyce rührte keine Hand, obwohl sie an das Glas nicht herankam. »Sie könnten mir helfen!« »Versuchen Sie’s noch mal. Sie hatten’s doch fast schon geschafft.« Er grinste. Offenbar genoß er ihre Verlegenheit.
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Sarah sprang mit einem Satz vom Stuhl. »Holen Sie sich’s doch selbst. Sie wollten Marmelade. Mir genügt die Tasse Kaffee.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch und stand auf. »Richtig, Sarah. Man holt einem Mann nichts, das er sich selbst holen könnte. Welche Flasche ist es?« »Da, die Erdbeermarmelade.« Er sprang gelenkig wie eine Gemse rauf und runter. »Aber vielleicht reist er ja nicht allein, oder?« »Wie bitte?« »Ich meine, vielleicht hat Ihr Gatte was nebenher. Für Vertreter ist das ’ne große Versuchung, wissen Sie.« »Werden Sie nicht unverschämt, Mr. Joyce.« »Sie haben recht, Sarah. Entschuldigen Sie. Ich habe so lange nur Selbstgespräche geführt, daß ich mich in Gesellschaft gar nicht mehr zu benehmen weiß. Der Kaffee ist ausgezeichnet.« Sarah trank ihren Kaffee schweigend. Es war Zeit, daß sie sich der Frage stellte, überlegte sie. Sie drückte sich schon lange darum herum. Und der letzte Abend mit Gerald hatte sie ihr praktisch aufgedrängt. »Und wenn er was nebenher hat«, begann sie und reckte das Kinn. »Na und?« »Ah, Sarah… Sie sind eine kluge Frau. Hat sich gelohnt, auf die Bekanntschaft mit Ihnen zu warten. Und Sie kennen mich jetzt doch ein bißchen besser, oder?« »Ein bißchen.« »Tja dann.« Er stand auf. »Das nehme ich mit als Trost für die lange Nacht.« Und was tröstet mich? dachte sie. »Danke für die Spazierfahrt, Frank. Sie war aufregend.« »Wirklich?« Er trat dicht zu ihr und hob ihr Kinn hoch. »Wir haben noch so manchen Abend vor uns, Sarah. Es hängt alles von Ihnen ab.« Und als sie vor der Berührung seiner Hand nicht zurückschreckte, beugte er sich über sie und küßte sie. Danach ging er beschwingt zur Tür. Dort blieb er stehen und sah zurück. »Soll ich gehen oder bleiben?« »Sie gehen jetzt lieber«, antwortete sie gepreßt. Eigentlich hätte sie wütend sein müssen. Aber sie war es nicht.
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Den ganzen nächsten Tag kämpfte Sarah mit verworrenen Phantasien. Ich empfinde nichts für den Mann, sagte sie sich. Da hatte sie ja einen schönen Zustand erreicht, wenn der Kuß eines Fremden sie so aus dem Häuschen bringen konnte. Die Fahrt mit Pferd und Wagen war schuld. Sie hatte sie wie betrunken gemacht. Aber sie hatte doch nur an Gerald gedacht. Hatte gedacht… Weiß der Himmel woran! Sie beschäftigte sich im ersten Stock, bis sie den Pferdewagen vorbeirollen hörte. Wenn Gerald nach Hause kam, mußte sie einiges wieder zurechtgerückt haben. Es kam ihr vor, als wäre er lange fort gewesen. Es war ein bewölkter, feuchter Tag. Die Fliegen klebten an den Gittern. Es herrschte eine drückende Stimmung. Am späten Nachmittag türmten sich Wolkenberge auf und rollten über den Himmel wie Krapfen durchs heiße Öl. Als sie die Kartoffeln zum Abendessen schälte, fuhr Frank in seine Auffahrt. Er koppelte den Wagen ab, ließ das Pferd jedoch im Zaumzeug, und machte sich sofort daran, die Blumenrabatten abzudecken. Er rechnete offenbar mit einem Unwetter. Sarah sah auf die Uhr. Gerald mußte jetzt jeden Augenblick kommen. Sie trat auf die Veranda und hielt nach dem Bus Ausschau. Über dem Feld zwischen ihrem Garten und dem Highway lag flimmernder Dunst. Der Verkehr dahinter schien sich wie durch eine zähe Masse zu bewegen. Der Bus rollte auf die Kreuzung zu und passierte sie, ohne anzuhalten. Wut stieg plötzlich in ihr auf. Den ganzen Tag hatte sie nur für diesen Augenblick gelebt. Da er nicht angerufen hatte, mußte er den Bus verpaßt haben. Der nächste kam in zwei Stunden. Sie überquerte den Hof und ging zum Zaun. Du fängst schon wieder an, Sarah, warnte sie sich, ohne jedoch die innere Stimme zu beachten. Frank sah von seiner Arbeit auf. »Machen Sie lieber Türen und Fenster gut zu«, rief er. »Wird ein schweres Wetter geben.« »Frank, Sie haben’s sicher eilig. Sie können bei mir essen.« »Sehr nett, danke. Möglicherweise muß ich noch mal zum Stand an der Straße zurück.« Im nächsten Moment saß er am Küchentisch und schaufelte das Essen wortlos in sich hinein. Als Wetterleuchten über den düsteren
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Himmel zuckte, ging er zum Fenster. »Mann, das kann was geben«, murmelte er. »Ihr Gatte hat wohl den Bus verpaßt, was?« »Offenbar.« Frank sah erneut aus dem Fenster. »Ich mag Unwetter. Selbst wenn’s mich arm macht. Gibt nichts Schöneres als einen richtigen Sturm.« Auf der Straße ertönte eine Autohupe. Sarah fiel ein, daß Gerald mehrfach eine Mitfahrgelegenheit aus der Stadt gefunden hatte. Der Wagen fuhr vorbei. Noch während sie der Staubwolke nachsah, stellte sich bei ihr eine seltsame Beklommenheit ein. Joyce redete unaufhörlich. Er hatte sich zurückgelehnt. Zum ersten Mal sprach er vom Wetter, vom Gemüsebau und von Eiern. Sie empfand das als weitaus beunruhigender als seine überraschenden Intimitäten und wartete von einem Satz zum anderen, daß er endlich damit aufhören würde. Schließlich ging sie hinter seinem Stuhl vorbei und strich ihm dabei leicht über den Nacken. »Sie sollten mal zum Friseur gehen, Frank.« Er richtete sich prompt auf. »Ich merk’ das immer erst, wenn’s juckt. Hätten Sie noch ’nen Schluck Kaffee für mich?« Sarah schenkte ihm ein. Sie war sich seiner Blicke wohl bewußt. »Letzte Nacht… das war etwas, was ich nie vergesse. Ich meine die Fahrt mit Pferd und Wagen.« »Aber da war noch was… Haben Sie das schon vergessen?« »Nein.« »Würden Sie mir noch einen geben… wenn ich darum bitte?« »Nein.« »Und wenn ich ihn mir einfach nehme?« »Das würde mir kaum gefallen, Frank.« Er rückte den Stuhl abrupt zurück. Kaffee schwappte in die Untertasse. »Warum bringen Sie mich dann erst in Versuchung?« »Versuchung? Sie haben vielleicht Vorstellungen!« brauste sie auf. Dabei galt die Wut ihr selbst. Joyce spreizte die schmutzigen Finger auf dem Tisch. »Sarah, wissen Sie eigentlich, was Sie wollen?« Ihr kamen die Tränen. Sie hielt sich mühsam zurück. »Natürlich weiß ich das!« schrie sie.
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Joyce schüttelte den Kopf. »Sie haben Ihr Herz an ihn verloren, was, Sarah?« »Mein Herz gehört mir!« Sie warf den Kopf zurück. Joyce schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ha! Schaut euch die Frau an. Sie hat Feuer… Feuer, das den Mann versengen kann, der sich entzünden läßt.« Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Sarah trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Ich laufe Ihnen nicht nach, Sarah. Aus dem Alter bin ich raus. Keine Angst. Aber ich weiß zu nehmen, was man mir in den Schoß legt.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung Fenster. »Das da draußen war erst der Anfang. Es kommt ein Unwetter. Da bin ich sicher.« Sarah sah, wie die ersten Regentropfen gegen die Fensterscheiben klatschten. »Gerald wird völlig durchnäßt sein.« »Vielleicht ersäuft es ihn.« Joyce lehnte grinsend am Türrahmen. »Danke fürs Abendessen.« Soll es kommen: Hagel, Donner und Blitz. Soll es das Dach vom Haus blasen und den Schornstein einreißen. Dann gehe ich raus und kehre nie zurück. Wenn ein alter Mann dich auslachen kann, weil du versuchst, deinem Mann Hörner aufzusetzen, und der Ehemann das auch noch herausfordert, dann Schande über dich. Sie ging durchs Haus, legte die Riegel vor die Fenster. Am liebsten hätte sie den Besen durchgesteckt. Mit dem nahenden Unwetter kam auch die Dunkelheit, und die graue Regenwand verschluckte fast die Lichter des Highways. In den Regen hatte sich Staub gemischt und verlieh ihm eine häßliche Färbung. Der Wind fing sich im Schornstein und blies Rußpartikel auf den Fußboden im Wohnzimmer. Sie breitete Zeitungspapier aus, um sie aufzufangen. Der Spuk würde bald vorbei sein. Sarah ging zur Uhr in der Diele. In zehn Minuten kam der Bus. Und dann? Ein schnelles Abendessen, ein gutes Buch und ein ausgedehnter Schlaf. Der abgebrühte alte Kobold hatte recht. Ein Prophet, der einen Haarschnitt nötig hatte. Das Licht ging flackernd aus und wieder an. Soll es doch ausgehen, Sarah. Was dir geblieben ist, kannst du auch bei Kerzenschein erkennen. Sie holte die Petroleumlampe aus dem Keller und eine Taschenlampe aus der Speisekammer. Als sie ins Wohnzimmer zu-
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rückkam, wirbelte ein erneuter Windstoß das Zeitungspapier auf dem Kaminrost durch den Raum. Das Licht flackerte wieder. Ein Geräusch lockte sie in die Diele. Sie fürchtete, durch das Heulen des Windes das Telefon vielleicht nicht gehört zu haben. Als sie die Diele betrat, schlug die Standuhr. Der Bus hatte mittlerweile zwanzig Minuten Verspätung. Das Telefon sah irgendwie aus, als sei die Leitung tot. Es beunruhigte sie beinahe, festzustellen, daß es funktionierte. Die Phantasie spielte ihr einen Streich. Nichts verlief mehr in gewohnten Bahnen. Sie war wütend auf sich… und auf Gerald. Das Ganze war erniedrigend. Zu der Gleichgültigkeit kam auch noch diese Gemeinheit. Sie folgte einem dumpfen Klopfgeräusch in den ersten Stock. Es kam von draußen. Sie schaltete das Licht aus und preßte das Gesicht an die Fensterscheibe. Ein riesiger Ahorn wurde vom Wind hin und her gepeitscht. Dabei schlug ein Ast gegen das Haus. Von der großen Straße drang nicht einmal der schwächste Lichtschein herüber. Die Lichter waren wie ausgelöscht. Während sie hinausstarrte, nahm vor ihr ein punktartiger Lichtschein allmählich Form an. Er wurde größer und schwankte hin und her. Der Schein einer Taschenlampe, war ihr erster Gedanke, und sie fragte sich, ob Gerald eine Taschenlampe bei sich hatte. Dann erkannte sie die Ursache der Schaukelbewegung: Es handelte sich um die Laterne eines Pferdewagens. Frank kehrte zurück. Als sie den Lichtschalter betätigte, tat sich nichts. Sie tastete sich in den Korridor hinaus, doch im ganzen Haus gab es keinen Strom mehr. Schritt um Schritt stieg sie ins Parterre hinunter. Aus dem Kamin drang ein klammer, muffiger Geruch, der sich über alles legte. Sarah zündete die Petroleumlampe an und trug sie in die Küche. Vom Fenster aus sah sie Franks Laterne einen unsteten Weg durch die Dunkelheit beschreiben, als er das Pferd in die Scheune führte. Sie konnte nichts erkennen, sah nur den schwächer werdenden Lichtschein, bis er verschwunden war. Als er wieder auftauchte, hob sie wie zum Gruß die Petroleumlampe. Diesmal kam er zum Zaun. Sie stemmte die Tür gegen den Wind auf. »Hab’ jetzt keine Zeit, Sarah. Gibt Arbeit!« brüllte er. »Er ist nicht gekommen, was?«
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»Nein!« »Funktioniert das Telefon?« Sie nickte und winkte ihn näher. »Ist der Bus durchgekommen?« »Ja, und wieder gefahren! Machen Sie die Tür zu, sonst reißt es das Haus weg!« Er schwenkte die Laterne und war verschwunden. Sarah stellte den Braten für Gerald in den Kühlschrank. Dann zog sie die Uhr auf und deckte den Tisch ab. Sie suchte krampfhaft nach einer Beschäftigung. Schließlich wischte sie den Küchenboden auf, den sie erst am Vortag gesäubert hatte. Drüben schaukelte die Laterne jetzt an einem Haken vor der Scheune. Dicht über der Erde bewegte sich Joyces Schatten, während er die Rabattenabdeckungen befestigte. Schließlich ging Sarah ins Wohnzimmer. Dort saß sie lange in Geralds Sessel und starrte auf das Rußmuster im Glaszylinder der Petroleumlampe. Nicht einmal ein Hund oder eine Katze leistete ihr Gesellschaft; keine grinsende Porzellanfigur auf dem Kaminsims gab ihr das Gefühl, nicht allein zu sein; nur die kalten Augen der Ahnen in goldenen Rahmen waren auf sie, der letzten in der Folge fixiert, die nichts… nichts hinterlassen würde. Die Atmosphäre wurde unerträglich. Sarah sprang aus dem Sessel, ging in die Diele und stieg zum ersten Treppenabsatz hinauf. Von dort aus konnte sie in Joyces Hof sehen. Er arbeitete offenbar nicht mehr. Die Laterne hing auf der Veranda. Das Haus allerdings war dunkel. Die wie ein Phantom im Wind schaukelnde Laterne war das einzige Licht weit und breit. Sarah rannte die Treppe hinunter, riß ihren Regenmantel vom Haken und lief mit der Taschenlampe ins Unwetter hinaus. Sie tastete sich am Zaun entlang, stemmte sich gegen den Wind und lehnte sich immer wieder an die Pfosten, um neue Kraft zu schöpfen. In der Einfahrt trat Joyce ihr entgegen. Er hat auf mich gewartet, dachte sie, er hat darauf gewartet, wer von uns beiden zuerst die Nerven verliert. Wortlos nahm er ihre Hand und führte sie über die Hintertreppe ins Haus. »Ich habe eine Petroleumlampe«, sagte er dort. »Lassen Sie Ihr Licht an, bis sie angezündet ist.« Sarah betrachtete im schwachen Lichtschein sein nasses Gesicht. Sein Mund war zu einem hämischen Grinsen verzogen, und als das
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Licht aufflammte, war der Ausdruck seiner Augen von einer Wildheit, die der des Sturms in nichts nachstand. Ihr Blick folgte dem Schein der Lampe über die schmutzige Wand zum verblichenen Kalender, den leeren Regalen und dem Kabel mit der nackten Glühbirne, die über dem Waschbecken neben der Hintertür baumelte. Auf dem Tisch stapelte sich Geschirr, das zweifellos von einer Mahlzeit zur anderen wieder benutzt wurde. Die Vorhänge starrten vor Schmutz. Erst jetzt wurde ihr klar, welch fatale Laune sie hierher getrieben hatte. »Ich wollte nur mal für ’ne Minute rüberschauen, Frank…« »Für eine Minute oder die ganze Nacht. Setzen Sie sich, Sarah. Ich muß aus diesen Klamotten raus.« Sie nahm auf dem Stuhl Platz, auf den er gedeutet hatte und sah zu, wie er den Mantel in die Ecke warf. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden, als er sich setzte und Schuhe und Strümpfe auszog. Jede seiner Bewegungen faszinierte sie und stieß sie zugleich ab. Er wischte mit den Socken seine Zehen ab und ging barfuß zur Vordertür. Auf der Schwelle blieb er stehen. Ein gutaussehender Riese im bizarren Licht. »Stellen Sie Wasser für Kaffee auf, gute Frau. Die Zutaten stehen auf dem Herd.« »Ich muß nach Hause. Gerald…« »Zum Teufel mit Gerald«, fiel er ihr ins Wort. »Er hat sich für die Nacht irgendwo gemütlich eingeigelt. Vielleicht kommt er ja überhaupt nicht mehr zurück. So was passiert. Männer lassen Frauen sitzen, deren Wert sie nicht erkennen.« Sie verharrte steif und aufrecht am Tisch. Das war nur Gerede. Er versuchte nur ihr Herz gegen Gerald zu vergiften. Wie konnte sie ihm entkommen? Sollte sie wie ein verängstigtes Reh davonlaufen, um nie wieder ein Wort mit ihm zu wechseln? Nein, Sarah! Den bitteren Kaffee mußt du auslöffeln, entschied sie. Merze diese Verrücktheiten ein für allemal aus. Trotz dieser Entschlossenheit blieb der heimliche Wunsch, Gerald möge plötzlich in der Tür stehen und sie mit nach Hause nehmen. Lieber, sanfter Gerald! Sie stand auf, ging zum Spülbecken und füllte Kaffeewasser in den Kessel. Auf dem Fenstersims stand eine Reihe von Medikamenten.
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Sie waren staubverklebt. Sie beugte sich über sie und entzifferte ein verblichenes Etikett: »Mrs. Joyce – Im Notfall sofort einnehmen.« Sie wandte sich vom Fenster ab. In einer Zimmerecke stand ein Schaukelstuhl. Früher hatte die alte Frau stundenlang und schweigend darin auf der Veranda ausgeharrt. Der abgestandene Geruch von Krankheit hing noch immer im Haus. Was wußte sie schon von diesen Leuten? überlegte Sarah. Joyce polterte wie ein Stier im ersten Stock herum. Seine schmutzbedeckten Stiefel lagen noch dort, wo er sie hingeworfen hatte. Eine Wasserpfütze hatte sich darum gebildet. Erneut schweifte Sarahs Blick zum Fenstersims. Da stand keine Maibowle. Plötzlich fielen ihr Dr. Philips Worte wieder ein: »Mußte jahrelang Stärkungsmittel nehmen.« Sie glaubte, die verhärmte Frau beinahe wieder vor sich zu sehen – nach Luft ringend… »Im Notfall sofort einnehmen.« Brüh jetzt endlich den Kaffee auf, Sarah. Was soll diese Quälerei? Weshalb beschwörst du eine Tote aus dem Grab? Nichts als Quälerei. Dann drängte sich noch ein beunruhigender Gedanke auf. Sie erinnerte sich daran, daß Joyce am Vorabend grinsend beobachtet hatte, wie sie sich abgemüht hatte, das Marmeladenglas zu erreichen: »Versuchen Sie’s noch mal, Sarah. Sie hatten es doch fast schon geschafft.« Und wieder glaubte sie seine Frage zu hören: »Welche Flasche?« Nicht welches Glas, sondern welche Flasche. Sie griff nach dem Wasserkessel. Schluß damit, Sarah. Mach dich nicht verrückt. Es ist nur das Unwetter, das lange, endlose Warten… und deine Verfassung. Sie hörte seine schnellen Schritte auf der Treppe und straffte die Schultern. »Geben Sie mir doch das Jodfläschchen dort vom Fenstersims, Sarah. Ich habe mich an den verdammten Glasscheiben der Abdeckung geschnitten.« Sarah suchte angestrengt mit den Blicken das richtige Fläschchen, damit ihre zitternden Hände sie nicht verraten konnten. »Hier… tun Sie’s hier drauf«, sagte er und schob eine weiße Hemdenmanschette vom Handgelenk zurück. Die Handfläche, über die sie sich beugte, war feucht. Und sie atmete den Geruch nach Erde und Pferd ein, der von ihr ausging. Es war ein vertrauter Geruch. Alles an ihm war ihr vertraut, zu vertraut ge-
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worden. Sie fühlte seinen Atem in ihrem Nacken. Das Keuchen seines Atems war das einzige Geräusch im Zimmer. Sie gab das Jod auf die Schnittwunde und trat hastig zurück. Seine Lippen verzogen sich über den Zähnen zu einem Grinsen. »Ein Kuß würde den Schmerz sofort vertreiben«, sagte er. Sarah stellte das Fläschchen Jod sofort aus der Hand und packte die Taschenlampe. »Ich gehe jetzt nach Hause.« Seine Mundwinkel sanken herunter, als er sie anstarrte. »Weshalb sind Sie dann erst hergekommen?« »Weil ich einsam war. Ich war verrückt…« Die Angst verschlug ihr die Stimme. Aus einem Mundwinkel rann ihm Speichel. »Nein! Sie wollten mich nur quälen!« Sie zwang sich, einen Schritt in Richtung Tür zu machen. Sein Lachen schwoll dröhnend an, als sie versuchte, von ihm fortzukommen. »Großer Gott, Sarah! Was ist nur aus der Frau geworden, die gestern Wind und Wolken mit mir bezwungen hat?« Auf ihrer hastigen Flucht stieß sie an die von der Decke hängende nackte Glühbirne. Sie versengte sich die Wange. Joyce fing die Lampe auf und riß das Kabel so heftig aus der Wand, daß die Drähte wie eine Peitsche auf den Fußboden klatschten. »Und ich dachte, es wäre das Größte, wenn er nicht wiederkommen würde!« Der Türknauf entglitt ihrer feuchten Handfläche. Sie trocknete sie in wilder Hast. Er ist verrückt, schoß es ihr durch den Kopf. Total verrückt! »Du bist fett, Sarah!« brüllte er. »Und Mr. Joyce ist ein Idiot! Ein Narr. Und er wird es bleiben bis zu dem Tag, an dem sie ihn hängen.« Die Tür gab nach. Sarah lief in den Hof. In ihrer Hast prallte sie gegen den Buggy und zuckte zurück, als sei er ein lebendiges Wesen. Sie hielt den Atem an, um nicht zu schreien, und ihr Mantel verhedderte sich im Zaun. Er zerriß. Ein Stück Stoff blieb am Stacheldraht zurück. Sie stolperte die Treppen hinauf. Der Wind riß ihr die Tür aus der Hand und fuhr heulend durchs Haus. Sie zog die Klinke ins Schloß, daß die Glasscheibe klirrte und schob den Riegel vor. Dann warf sie die Taschenlampe auf den Tisch, griff nach dem Telefonhörer und drückte verzweifelt auf die Gabel.
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Schließlich ertönte die Stimme der Telefonistin. »Ich habe einen Anruf von Mr. Gerald Shepherd für Sie. Bitte bleiben Sie am Apparat.« Aus der Sprechmuschel drang nur hohl Sarahs keuchender Atem. Sie fixierte den Blick auf die Treppe und hoffte dadurch etwas Klarheit in ihre Gedanken zu bringen. Aber die Streben des Geländers begannen sich vor ihren Augen wie die Saiten einer Harfe zu biegen und ein hoher, schwingender Laut übertönte das Keuchen ihres Atems. Schwere Schritte kamen draußen näher. Joyces Fäuste trommelten gegen die Tür. Mit schwacher Stimme verlangte Sarah nach der Telefonistin. Und in irgendeiner Ecke ihres völlig chaotischen Bewußtseins klammerte sie sich an den Gedanken, daß sie die Tür freiwillig öffnen könnte und Joyce friedlich hereinkommen und sich setzen würde. Vielleicht konnten sie den Kamin anzünden. Es lag genug Holz im Keller. Aber sie brachte kein Wort heraus. Und es war bereits zu spät. Joyces Hand drang durch das berstende Glas und schob den Riegel zurück. Die Tür schwang auf. Ein Windstoß blies ihr den Mantel über den Kopf. Als die Tür wieder zuschlug, fiel der Stoff schlaff an ihr herunter und umschlang ihre Knie. Selbst diese Berührung zwang sie beinahe zu Boden. »Tut mir leid«, ertönte am anderen Ende die Stimme der Telefonistin. »Die Gesprächsanmeldung wurde vor zehn Minuten gestrichen.« Sarah ließ den Hörer einfach auf den Tisch fallen und wartete noch immer mit dem Rücken zur Tür. Zehn Minuten, das war nicht lange, überlegte sie verzweifelt ruhig. Sie zählte Joyces Schritte in ihre Richtung und wußte, daß jeder einzelne die Zeit maß, die ihr noch blieb. Und vage wurde ihr klar, daß sie gar nicht mehr Zeit wollte. Nur für einen Augenblick sah sie die Schlinge, die er aus Lampenkabel geschlungen hatte, sah die weißen Manschetten über den kraftvollen, knochigen Händen. Sarah schloß die Augen und reckte in der Hoffnung den Hals, daß das Ende auf diese Weise schneller kommen würde.
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Dwindle, Peak und Pine Joyce Harrington Max Dwindle hielt ein brennendes Streichholz an das angekokelte Ende seiner drei Tage alten Zigarre und verbreitete beißenden Gestank. Durch die stinkende Qualmwolke hindurch betrachtete er das in Tränen aufgelöste Mädchen, das in einem Sessel am anderen Ende des Raumes saß. »Loretta, Schätzchen, wein doch nicht! Kann ja sein, daß Lower-East-Side-Liebesgetränke bei Gojims aus Sheboygan nicht wirken. Sowieso bist du ohne den besser dran. Auf so einen Schmock kannst du doch verzichten. Warum fütterst du nicht mal die Ratte?« »Hab’ ich schon gefüttert«, schluchzte das Mädchen. »Die verdammte Ratte frißt mehr als ein Maultier und ist doppelt so störrisch. Warum konnten wir uns nicht einen netteren Hausgenossen anschaffen? Daheim hatte ich einen Skunk. Und dem mußte ich nicht dauernd Pizza besorgen. Der hat sich selbst ernährt. War wirklich ein putziges Tierchen. Hast du mal ’n Tempo für mich, Max?« Sie zog lautstark die Nase hoch und tupfte sich mit den Fingerkuppen die Tränen aus den Augen. Max begab sich schlurfend zum Metallschrank an der Wand. Er zog die Flügeltür auf und begutachtete nachdenklich den Inhalt. Das oberste Fach war mit Zigarettenschachteln vollgestopft. Im Regal darunter lagen Zuckerstangen, Kaugummis, Hustenbonbons, Pfefferminzdrops für frischen Atem, Reise-Nähetuis und eine Schachtel mit veralteten Lotteriescheinen. Im untersten Fach stapelten sich Zeitschriften – allesamt mindestens ein halbes Jahr alt. Der Schrank barg die Überreste von Max Dwindles Existenz. Noch ein halbes Jahr zuvor war er glücklicher Besitzer eines Kiosks – Zeitungen – Tabakwaren – Süßigkeiten – in der Eingangshalle eines Bürohauses an der Park Avenue South gewesen. Mehr als vierzig Jahre hatte er die kleinen Bedürfnisse einer ständig wechselnden Klientel befriedigt: Geleefrüchte, Ersatzstrumpfhosen für die hübschen jungen Sekretärinnen, die wechselten wie das Wetter im April, Zigarren und die Minipackung Alka-Seltzer für die Angestellten mit Bauchansatz und schütter werdendem Haar aus den mittleren Etagen;
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Wettscheine und Männermagazine, diskret eingewickelt in die seriösen Seiten des Wall Street Journals für die Juppies im Dreiteiler. Und für alle seine Kunden hatte Max Dwindle stets ein paar freundliche Worte übriggehabt. Für diejenigen, die sich als direkt und loyal erwiesen hatten, waren sogar selbstgebraute Liebestränke und andere Produkte von Max Dwindles übersinnlichen Fähigkeiten abgefallen. Gelegentlich hatte er einigen Einblicke in eine nebulöse Zukunft gewährt. Max Dwindle war ein freundlicher alter Hexenmeister. Sechs Monate zuvor allerdings hatte man Max des Gebäudes verwiesen und das Bürohaus abgerissen. Natürlich hätte er die Abbruchmannschaft mit einem Fluch belegen oder dafür Sorge tragen können, daß den Arbeitern Finger oder Zehen abfielen, während sie sich am Hort seines vergangenen Glücks vergingen. Doch Max war viel zu deprimiert gewesen, um einen wirksamen Fluch auszuhecken. Statt dessen hatte er den Rest seines Lagerbestandes zusammengepackt und diesen einem Freund bei der Verkehrsbehörde übergeben, der Zugang zu einem leerstehenden Laden in der U-Bahnstation an der Vierzehnten Straße hatte. Danach hatte Max sich die Tage auf einer Bank im Union Square Park vertrieben. Dort schließlich war er Loretta Peak und Peter Pine begegnet; einer Teenager-Hexe vom Lande und einem Ex-Werbefachmann mit hellseherischen Kräften. »Wie wär’s mit ein paar Drops?« fragte Max das Mädchen, während er eines der letzten verbliebenen Päckchen Papiertaschentücher hervorkramte. Loretta hatte einen fatalen Hang zum Weinen. »Waldmeister? Tropische Früchte? Da fühlt man sich gleich besser.« »Ist mir doch egal, wie ich mich fühle.« Loretta verzehrte fast ebenso viele Dropsrollen wie sie Tempotaschentücher verbrauchte. »Hast du noch Butterscotch?« Sie stand schwerfällig aus dem Sessel auf und watschelte auf ihren großen, nackten Füßen zum Schrank. »Ne!« erwiderte Max. »Die hast du schon alle aufgegessen.« »Verdammter Mist!« seufzte Loretta. »Habe ich wirklich.« Sie schnappte sich eine Rolle Drops der Sorte »Tropenfeuer«, riß die Packung Tempos auf, putzte sich die Nase und ließ sich in den klobigen Ledersessel sinken, den sie einige Nächte zuvor von der Straße geholt hatte.
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»Also, was ist jetzt mit diesem Peter, dem Schlemihl?« erkundigte sich Max. »Weshalb ist der Schmock noch nicht zurück? Meinst du, die Polizei hat ihn geschnappt?« »Keine Sorge, Max.« Loretta lutschte genüßlich ein Bonbon mit Mandarinengeschmack. »Dauert schon ’ne Weile, bis er die Zettel in sämtlichen U-Bahnhöfen der BMT-Linie angeklebt hat. Ich hätte mitgehen und ihm helfen sollen.« Loretta fischte einen Zettel aus einem Karton neben dem Sessel, auf dem die Druckerschwärze noch feucht war. »Dwindle, Peak und Pine«, las sie laut. »Parapsychologische Detektei. Vermissen Sie jemanden? Haben Sie etwas verloren? Kein Problem für uns! Spiritistische Personenüberwachung! Weitere Dienstleistungen auf Anfrage! Moderate Preise!« Am unteren Rand stand ihre Adresse an der Ostseite des Union Square und eine Telefonnummer. »Wer macht sich Sorgen?« entgegnete Max. »Vierzig Jahre habe ich meinen Laden gehabt und nicht einmal Werbung für mich gemacht. Max Dwindle kannte jeder. Jeder wußte, wozu er in der Lage ist.« Er machte sorgfältig seine Zigarre aus und legte sie beiseite. Dann schimpfte er weiter: »Und jetzt… jetzt habe ich mich mit einer minderjährigen Hexe aus der finstersten Provinz und einem Aussteiger aus der Madison Avenue mit dem Zweiten Gesicht eingelassen. Werbung ist nötig, sagt der. Weißt du überhaupt, was für Verrückte auf der BMT-Linie unterwegs sind? Wetthaie von der Rennbahn. Kleine miese Mafiosi. Schlitzäugige Gauner aus Brooklyn. WoodooPriester von der Bronx. Ich schlachte keine Hühner, Herrschaften. Egal, wer hier vor der Tür steht.« An der Tür ertönte verhaltenes Klopfen. »Herein!« rief Loretta und schluckte ihren Drops hinunter. Sie lief zur Tür. Vor Aufregung begann sie zu schweben. Sie riß die Tür auf. »Willkommen im Detektivbüro Dwindle, Peak und Pine. Ich bin Loretta Peak. Das ist Max Dwindle. Mr. Pine ist gerade unterwegs. Er betreibt Marktforschung. Womit können wir dienen?« Loretta hatte vorübergehend als Empfangsdame ausgerechnet bei der Werbeagentur gearbeitet, aus der Peter Pine ausgestiegen war.
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Im Türrahmen stand zögernd eine schwarz-verschleierte Gestalt. Unter Lagen von rauchfarbener Nylongaze ertönte ein rauher Mezzosopran. »Hilfe! Oh, ich brauche Hilfe.« Seide raschelte, als die schmächtige Gestalt ins Zimmer und direkt in Lorettas stämmige Arme taumelte. Max schüttelte nur den Kopf und griff erneut zu seiner schrecklichen Zigarre. »Kommen Sie, meine Liebe.« Loretta führte die gebeugte Besucherin zum voluminösen Ledersessel, und sie fiel in die Polster mit den vorstehenden Federn. Die Klientin unterdrückte einen Aufschrei und rutschte vorsichtig hin und her, bis sie eine bequeme Stellung gefunden hatte. »Also, Herzchen«, begann Loretta. »Was für Probleme haben wir denn? Ich kann einer Kuh auf fünfzig Meter Entfernung das Euter trockenlegen, und Max weiß, ob Ihr Erstgeborenes ein Junge oder ein Mädchen wird.« Die Dame in Schwarz schlug die Schleier zurück und nahm den breitrandigen Hut ab. Darunter kam unnatürlich glänzendes schwarzes Haar zum Vorschein, das ihr glatt bis auf die Schultern fiel. Das Gesicht schien hauptsächlich aus Wangenknochen zu bestehen, die Augen waren riesig, die Haut weiß und dick gepudert, der Mund üppig und scharlachrot geschminkt. »Mein Erstgeborener ist mein einziges Kind. Er studiert Tiermedizin. Möglich, daß er mit Kühen zu tun hat, aber deshalb bin ich nicht hier. Ich habe in der U-Bahn Ihr Plakat gelesen. Mein Name ist Tatjana Petrowna Smith.« »Ich wußte es! Ich hab’s gewußt!« fiel Max lautstark ein. »Eine Verrückte von der BMT-Linie. Die letzte der Romanows, was wetten wir? Eine russische Prinzessin vom Sheepshead Bay. Raus mit ihr! Schaff sie mir vom Hals!« Die Besucherin starrte Max verdutzt an. »Fabelhaft«, sagte sie atemlos. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Jetzt weiß ich, daß ich hier an der richtigen Stelle bin. Mein Sohn, der Tiermediziner… also dem ist seine aristokratische Herkunft völlig egal. Er will nur John Smith und Amerikaner sein. In gewisser Weise bin ich also die letzte unseres Geschlechts. Außerdem wohne ich wirklich in Sheepshead Bay. Hübsches Häuschen mit Garage. Allerdings nicht gerade der Winterpalast. Aber bei dem Dienstbotenmangel heutzuta-
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ge dürfte es mir schwerfallen, einen Palast zu unterhalten. Sie haben nicht zufällig eine gute, zuverlässige Putzfrau an der Hand?« Max biß in seine Zigarre und zermalmte die Tabakkrümel mit den Zähnen. »Sie sind hier, weil Sie eine Putzfrau brauchen? Sie glauben, daß ein Max Dwindle Scheuerpersonen vermittelt? Raus! Raus!« Max’ einen Meter siebzig große Fettmassen bebten vor Zorn. Jedes einzelne graue Haar auf seinem Haupt sträubte sich vor Entsetzen. Er riß schwungvoll die Tür auf und fuchtelte wild mit seiner Zigarre durch die Luft. »Gehen Sie, Verehrteste, bevor ich Ihnen die Schuppenflechte an den Hals… oder die Kopfhaut wünsche!« Die Hand der Dame in Schwarz zuckte unwillkürlich zu ihrer schwarzen Haarpracht. Sie lächelte gewinnend. »Das ist eine Perükke«, erklärte sie. »Täuschend echt, finden Sie nicht? Nein, wegen einer Putzfrau bin ich nicht hier«, fuhr sie fort. »Obwohl ich sie brauchen könnte. Vorausgesetzt, ich lebe noch so lange.« Sie senkte die Stimme zu einem heiseren Flüstern und winkte Max und Loretta näher. »Man will mich umbringen.« Max machte die Tür wieder zu. »Psst«, warnte er. »Nicht so laut. Im Korridor könnten die Kräfte des Bösen lauern. Hier drinnen sind Sie sicher. Hier drinnen haben wir ja auch ein Pentagramm.« Er deutete auf die weißen Linien auf dem Fußboden, die ein Sternfünfeck bildeten, das fast die gesamte Zimmerfläche einnahm. Während Loretta in Beschützerpose auf der Armlehne des Ledersessels thronte, baute sich Max mit bedeutungsvoller Miene hinter dem Schreibtisch auf, der eine Spitze des Sternfünfecks einnahm. »Also, meine Verehrte. Wer versucht, Sie umzubringen? Und warum und wie?« Tatjana Petrowna Smith zuckte mit den Achseln. »Was die Frage nach dem ›Wer‹ betrifft – also deshalb bin ich ja hier. Ich habe keine Ahnung, wer es ist. Das ›Warum‹… Da gibt es endlos viele Möglichkeiten. Es hängt vom ›Wer‹ ab. Das ›Wie‹ ist einfach. Wer es auch immer sein mag, dieser Jemand versucht, mir eine Todesangst einzujagen.« Mit einem Seufzer preßte sie eine schmale blasse Hand mit feuerroten Fingernägeln gegen die Brust. »Ich habe ein schwaches Herz.« Loretta schnalzte mitfühlend mit der Zunge und bot ihr ein Drops an. Tatjana Petrowna nahm ein Bonbon und schob es mit spitzen
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Fingern in den Mund. »Wenn ich hier einen klaren Bergsee hätte«, begann Loretta, »dann könnte ich den Feind sofort identifizieren. Zu Hause habe ich das immer so gemacht. Aber mit dem städtischen Wasser aus der Leitung funktioniert die Methode nicht. Vermutlich ist das viele Chlor schuld. Die Bilder sind so verschwommen.« »Feinde? Pah!« erklärte die blaublütige Tatjana. »Ich schätze, ich weiß, wer meine Feinde sind. Jede dieser Straßenkatzen, mit denen ich mittwochs Mah-Jongg spiele, würde mir den Tod wünschen. Eifersüchtige Bande!« »Was ist mit Mr. Smith?« fragte Max. »Mit wem?« »Mr. Smith. Ihr Mann. Die meisten Morde werden von Verwandten oder guten Freunden verübt. Das habe ich in der Zeitung gelesen.« »Ach so, ihn meinen Sie.« Tatjana machte eine wegwerfende Handbewegung. An ihrem Finger blinkte ein großer Edelstein. »Lieber armer Alexeij. Er ist vor drei Jahren gestorben. Ist in Miami von einem Golf-Cart gefallen und hat sich das Genick gebrochen. Ich bin untröstlich. Wie Sie sehen, trage ich noch immer Trauer.« Sie ordnete die Falten ihres raschelnden schwarzen Rocks, um die knochigen Fesseln und dürren Waden in schwarzen Nylons besser zur Geltung zu bringen. »Steht Ihnen doch ausgezeichnet«, bemerkte Loretta. »Danke«, sagte Tatjana. »Alexeij«, murmelte Max nachdenklich. »Ihr Mann war also auch ein russischer Aristokrat?« Tatjana schüttelte sich vor Lachen. »Alexeij? O nein! Aber können Sie sich vorstellen, daß ich einen Albert geheiratet hätte? Ich habe ihn überredet, vor der Hochzeit seinen Namen zu ändern. Morgen wären wir fünfundzwanzig Jahre verheiratet gewesen.« Sie wurde plötzlich ernst. »Und genau das ängstigt mich zu Tode. Ich kriege Anrufe. Mitten in der Nacht klingelt das Telefon. Ich horche. Zuerst ist da ein Geräusch, ein Jaulen… klingt richtig tierisch… wie Fingernägel auf einer Schiefertafel… nur noch schlimmer. ›Hallo‹, sage ich dann meistens. ›Wer ist da?‹ Dann ertönt von ganz fern eine dünne Stimme wie auf einem alten Grammophon. ›Tati?‹ sagt die Stimme. ›Tati, hier ist Al. Ich bin bald bei dir. Wir feiern unseren Hoch-
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zeitstag zusammen.‹ Also, wenn Alexeij dahintersteckt, woher ruft er dann an? Er ist der einzige, der mich je ›Tati‹ genannt hat. Aber ich glaube nicht, daß Alexeij der Anrufer ist. Irgendein Verrückter versucht, mir Angst einzujagen. Ich bin schon bei der Polizei gewesen, aber die haben mich zur Telefongesellschaft geschickt. Und da hat man mir geraten, mir eine geheime Telefonnummer zuzulegen.« »Donnerwetter!« sagte Loretta. »Daß Geister das Telefon benutzen, ist neu für mich. Aber warum eigentlich nicht? Wäre doch großartig, wenn wir einfach eine Telefonnummer wählen könnten, um mit den Toten Verbindung aufzunehmen… anstatt uns die Mühe mit dem ganzen Hokuspokus zu machen?« Sie hüpfte aufgeregt auf der Sessellehne auf und ab! Tatjana Petrowna verzog schmerzlich das Gesicht. »Haben Sie seine Nummer, Herzchen?« »Nein. Er hängt immer auf, bevor ich überhaupt was sagen kann.« Das Telefon auf dem zerkratzten Eichenschreibtisch klingelte. Max riß den Hörer von der Gabel. »Ja«, meldete er sich. »Max Dwindle hier.« Er hörte einen Augenblick stirnrunzelnd zu. Dann tauschte er seine Zigarre gegen einen Bleistiftstummel, nickte mit ernster Miene und machte sich Notizen. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Sie ruft Sie zurück.« Damit legte er auf. Er drehte sich um und starrte Tatjana Petrowna an. »Haben Sie irgend jemandem gesagt, daß Sie hierherkommen wollten?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe den Entschluß doch erst unten in der U-Bahn gefaßt, als ich Ihr Plakat entdeckt hatte. Eigentlich wollte ich zu Bloomingdales. Wenn ich schon morgen sterben soll, dann wenigstens in einem anständigen Kleid… habe ich mir gedacht. Von der Unterwäsche mal ganz abgesehen.« Sie sah lächelnd zu Loretta auf. »Sie verstehen das sicher, meine Liebe.« Loretta schlüpfte mit nackten Füßen in ein Paar gelber ausgetretener Gesundheitsschuhe und wischte sinnlos mit der Hand an den Farbflecken auf ihrer abgewetzten Jeans herum. »Nur zu gut«, bekräftigte sie. Max betrachtete zuerst blinzelnd seine Notizen und dann die Dame im Ledersessel. »Ich habe hier eine Telefonnummer. Der Kerl am Telefon hat sich als Al Smith ausgegeben. Er möchte, daß Sie die Bullen aus dem Spiel lassen… Angeblich ist ihm der Boden dort, wo
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er ist, schon heiß genug. Er bittet Sie außerdem, ihn anzurufen. Dann sagt er Ihnen, wo Sie ihn morgen treffen können.« Tatjana Petrowna sank mit einem Aufschrei in die Polster des Sessels zurück. Ihr ohnehin blasses Gesicht war jetzt totenbleich geworden. Sie schien kaum noch zu atmen. Loretta sprang von der Sessellehne. »Max!« kreischte sie. »Tu doch was! Ihre Aura… sie ist kaum noch zu spüren. Du weißt, daß ich Leichen hasse.« Max kam hastig hinter seinem Schreibtisch hervor und näherte sich Tatjana Petrowna mit einem Glitzern in den Augen. »Da hilft nur noch Mund-zu-Mund-Beatmung«, murmelt er und beugte sich über die Sessellehne. Hinter seinem Rücken ging die Tür auf. »Herrschaften, wir müssen uns was Besseres einfallen lassen«, erklärte Peter Pine erschöpft im Türrahmen. »Ich habe von Coney Island bis zum Dschungel der Bronx und zurück alles abgegrast. Man hat mich beklaut, niedergeschlagen und besprüht.« Er drehte sich um und präsentierte bekümmert das aufgesprühte Graffiti auf dem Rükken seiner kaffeebraunen, taillierten Lederjacke. »Wilde Horden von Schulmädchen sind über mich hergefallen, Weltverbesserer haben mich endlos bequatscht. Was ist hier eigentlich los?« Sein Blick fiel auf die ausgestreckten Gliedmaßen von Tatjana Petrowna und schließlich auf Max, der seine Lippen fest auf ihren Mund gepreßt hielt. Peter legte die Fingerspitzen an die Schläfen und rief: »Sagt nichts! Ich hab’s! Sie ist unsere erste Kundin, und der berühmte Manischewitzsche Liebestrank von Max hat mal wieder ’ne Fehlzündung verursacht.« »Falsch, falsch!« entgegnete Loretta. »Wenigstens zur Hälfte. Sie ist tatsächlich unsere erste Klientin. Tatjana Petrowna Smith. Aber sie ist nicht besinnungslos vor Leidenschaft. Sie ist zu Tode erschrocken!« Peter Pine kam endgültig ins Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. »Zurücktreten, Herrschaften!« befahl er. »Da muß ein Profi ran! Die Dame ist gleich wieder in Topform. Überlaßt das nur mir.« Damit setzte er sich mit verschränkten Beinen wie ein Buddha zu Tatjanas Füßen und stimmte einen murmelnden Singsang an. Bevor
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er sein Mantra das zweite Mal wiederholt hatte, flatterten Tatjanas Augenlider, und sie stöhnte vernehmlich. »Igitt!« waren ihre ersten Worte, und sie wandte das Gesicht von Max ab. »Sie haben schlechten Atem. Riecht nach abscheulichen Zigarren. Genau wie bei meinem armen Alexeij. Das habe ich ihm nie verzeihen können.« Max trottete mürrisch zum Schreibtisch zurück und sank auf seinen Stuhl. »Na gut, Verehrteste. Wollte nur helfen. Da muß man ja nicht gleich beleidigend werden. Wollen Sie die Telefonnummer?« Tatjana Petrowna sah aus, als würde sie jeden Augenblick erneut ohnmächtig werden. »Weiß ich nicht«, antwortete sie unsicher. Ihr Blick fiel auf Peter Pine, der noch immer in der Lotusstellung auf dem Fußboden saß und seinen Singsang murmelte. »Wer ist dieser Idiot? Was macht er da?« Peter riß die Augen auf. »Peter Pine, Madam«, stellte er sich vor. »Jederzeit zu Diensten. Ich weiß eine Lösung für Ihr Problem. Schlage vor, wir gehen zu Ihnen nach Hause und veranstalten eine Séance. Jemand versucht, Sie umzubringen. Die Mächte des Jenseits sagen uns, wer das ist.« »O Peter!« meldete sich Loretta und half ihm, seine in der Lotusstellung verklemmten Beine zu entwirren. »Das wissen wir doch schon. Es ist alles so aufregend. Wir haben eine Telefonnummer fürs Jenseits.« Sie zog ihn auf die Füße. »Wir brauchen keine Séancen mehr abzuhalten. Wir können einfach anrufen. Stimmt’s, Max?« »Möglich, möglich.« Max wickelte eine neue Zigarre aus der Zellophanhülle. Bevor er sie anzündete, steckte er sich verstohlen ein Pfefferminzbonbon in den Mund. »Der Bursche hat gesagt, falls der Anschluß besetzt ist, sollen wir’s noch mal versuchen. Angeblich hat er von einer Telefonzelle in der fünften Umlaufbahn angerufen. Und hinter ihm stand schon ’ne ganze Schlange von Leuten, die auch versuchen wollten, Kontakt aufzunehmen.« Er wandte sich Tatjana Petrowna zu. »Was meinen Sie, Verehrteste? Wir nehmen fünfzig Dollar pro Tag plus Spesen… für so was wie Ferngespräche versteht sich.«
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Tatjana Petrowna zog ein schwarzumrandetes Taschentuch aus der Handtasche und tupfte die verwischte Maskara ab. »Ich kann nicht glauben, daß mein armer Alexeij mich umbringen will.« »Ich schon«, murmelte Max. »Fünfzig Dollar, ’ne Menge Geld für einen geschenkten Tag. Aber wenn ich morgen ins Gras beiße, muß ich ja nicht zahlen. Und falls ich den Tag überleben sollte, hab’ ich’s überstanden. Wieviel kostet denn ein Anruf dorthin?« Max zuckte mit den Schultern. »Soll ich beim Amt nachfragen?« Peter Pine setzte sich auf die Schreibtischkante. »Darf ich mal ’nen Blick auf die Telefonnummer werfen?« Max gab ihm den Zettel. Peter betrachtete Max’ Notiz schweigend. Von Zeit zu Zeit schweifte sein Blick zur Wählscheibe des Telefons. »Ich finde, ich sollte mir doch noch was Neues zum Anziehen kaufen«, überlegte Tatjana Petrowna laut. »So für alle Fälle. Und zwar was Helles, Farbenfrohes. Möchten Sie mitkommen?« fragte sie Loretta. »Klar doch. Gern sogar.« »Madam«, begann Peter Pine in diesem Augenblick. Er notierte Zahlen und rechnete. »Ihr Geburtstag liegt im Spätsommer. August oder September? Stimmt’s?« »Richtig!« Tatjana lachte affektiert. »Es ist der neunundzwanzigste August. Über das Jahr reden wir lieber nicht.« »Ich tippe auf 1935, aber das ist nicht wichtig. Sie sind im Sternkreiszeichen der Jungfrau geboren. Der Geist, der Kontakt mit Ihnen aufnehmen möchte, war in seinem irdischen Leben ein Steinbock und versucht, Sie vor einem Skorpion zu warnen. Oder umgekehrt. Das geht aus der Telefonnummer nicht eindeutig hervor. Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Kennen Sie jemanden mit dem Tierkreiszeichen Skorpion oder Steinbock?« Tatjana Petrowna runzelte die Stirn. »Du meine Güte! Keine Ahnung. Um Astrologie habe ich mich nie gekümmert. Ich hatte allerdings mal ein Seidentuch mit all diesen komischen Zeichen drauf. Es ist verlorengegangen. Steinbock… hm. Das muß Alexeij sein. Der alte Bock ist doch immer hinter jungen Mädchen hergewesen.« »Wie lautet sein Geburtsdatum?« wollte Max wissen.
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»Der dritte Januar.« »Na bitte«, bemerkte Peter Pine. »Zwei von dreien haben wir schon. Jetzt müssen wir nur noch rauskriegen, wer der Skorpion ist und was er vorhat. Ich finde, Sie sollten die Nummer anrufen.« »Augenblick noch, Schlaumeier«, fiel Max ihm ins Wort und schnappte sich seinen Zettel. »Wie hast du das alles mit Hilfe einer Telefonnummer rausbekommen? Ich sehe nichts als Zahlen und Kritzeleien.« »Ganz einfach«, behauptete Peter Pine. »Vorausgesetzt man kennt sich mit Tarot aus. Seht euch mal die Vorwahlnummer -686an. Ersetzt man die Zahlen durch die entsprechenden Buchstaben auf der Telefonwählscheibe, erhält man die Buchstabenkombination NUN. Natürlich könnte man auch auf andere Kombinationen kommen, aber nur diese ergibt einen Sinn. Wir müssen nur die Laute ein wenig anders aussprechen: NOUN ist der vierzehnte Buchstabe im hebräischen Alphabet. Das müßtest du eigentlich wissen, Max.« »In Hebräisch bin ich durchgefallen.« »Na egal«, fuhr Peter Pine fort. »NOUN steht in Verbindung mit der Tarotkarte ›Teufel‹, die wiederum dem Tierkreiszeichen Skorpion zugeordnet wird. Mit den restlichen Zahlen der Telefonnummer bin ich genauso verfahren. Der erste Teil -963- ergibt JOD, und damit den Tarotschlüssel ›Eremit‹ im Tierkreiszeichen Jungfrau, während die letzte Zahlenkombination -2946- AJIN ergibt und die Karte des ›Todes‹ unter dem Steinbock aufdeckt. Gewußt, wie. Dann ist alles ganz leicht.« »Peter, du bist einfach großartig«, seufzte Loretta. Sie sah Tatjana Petrowna lächelnd an. »Finden Sie nicht auch?« Tatjana Petrowna krallte die Finger in die Armlehnen des Sessels. »Glauben Sie wirklich, daß Alexeij der Anrufer ist? Ich will nicht mit ihm reden. Ich weigere mich strikt, diese Nummer anzurufen.« Unter Max’ Schreibtisch ertönte ein leises Kratzen und ein schrilles Quieken. »Du liebe Güte«, seufzte Loretta. »Ralph hat wieder Alpträume. Daran ist die Pizza schuld, die er verdrückt hat.« Sie sank in die Knie, griff unter den Schreibtisch und murmelte Tröstendes. »Komm raus, mein Kleiner. Ist ja alles gut. Ist ja nur ein böser Traum. Loretta paßt schon auf, daß dir nichts passiert.« Damit zog
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sie ein schlankes, graues Bündel mit langem, zuckendem Schwanz und glänzenden Knopfaugen heraus. Tatjana Petrowna unterdrückte einen Schrei. »Das ist doch eine Ratte, oder?« fragte sie. »Eine schmutzige, ekelige, abscheuliche New Yorker Stadtratte! Mein Gott, Sie sind mir unheimlich!« »Wen haben Sie erwartet? Mickey Mouse?« erkundigte sich Max grinsend hinter einer Qualmwolke. Aus Lorettas Armbeuge betrachtete Ralph Tatjana Petrowna böse. Er reckte den Hals, an dem ein mit roten Steinen besetztes Lederhalsband prangte und zeigte ihr die Zähne. »Jetzt haben Sie seine Gefühle verletzt«, sagte Loretta. »Er ist sehr sensibel und kein bißchen schmutzig.« Sie streichelte Ralph über den Kopf, bis er die Augen schloß und sich in Lorettas Armbeuge schmiegte. »Tut mir aufrichtig leid«, behauptete Tatjana Petrowna. »Aber wie sollte mir eine Ratte jetzt helfen?« Ralphs Schwanz zuckte. Loretta murmelte etwas, und auf den Sessel, in den sich Tatjana duckte, ging ein Regen kleiner Kröten nieder. »Aufhören! Aufhören!« schrie sie und schüttelte Kröten aus der Perücke. »War schon immer einer meiner besten Tricks«, verkündete Loretta stolz. »Ich kann wunderbar Kröten regnen lassen. Leider komme ich viel zu wenig dazu. Was Kröten betrifft, ist Ralph eine unschlagbare Hilfe.« Sie vollzog eine Geste, und die Kröten verschwanden. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.« »Kröten sind ja recht und gut«, meldete Peter Pine sich zu Wort. »Aber das Problem der Dame lösen sie nicht. Sie hat eine Todesdrohung bekommen. Unsere Aufgabe ist es, sie zu beschützen und rauszukriegen, wer dahintersteckt.« Tatjana Petrowna nickte zustimmend. Sie ordnete ihren Rock und entblößte dabei ihre Knie. »Gehe ich richtig in der Annahme«, fuhr Peter fort, »daß Sie keinen Wert darauf legen, mit Ihrem geliebten verblichenen Ehemann wiedervereinigt zu werden?« »Iiiii… nein«, sagte Tatjana. »Vielleicht an einem anderen Hochzeitstag. Vielleicht am fünfzigsten oder hundertsten.«
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»Und mit dem Anrufer, der die Nummer hinterlassen hat, möchten Sie auch nicht sprechen?« Tatjana schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt kein Interesse daran, mit dem armen Alexeij Kontakt aufzunehmen. Ich habe vor, mich nächsten Monat wieder zu verheiraten. Vorausgesetzt, ich lebe noch so lange. Und ich will ihn nicht ermutigen, mich ständig mit Anrufen zu bombardieren. Er ist von jeher schrecklich eifersüchtig gewesen.« »Trotzdem könnten wir etwas erfahren, wenn wir anrufen. Darf ich vorschlagen, als Ihr Repräsentant das Telefonat zu führen und die Absichten dieses ruhelosen Schattens aufzudecken?« Tatjana zuckte mit den Schultern. »Kann ja nicht schaden, oder? Solange ich ihn weder sehen noch mit ihm sprechen muß, bitte. Ich glaube, der Schlag würde mich treffen, wenn Alexeijs Geist anfängt hier herumzuspuken.« »Also gut.« Peter Pine ging zum Telefon und wählte. Die anderen spitzten die Ohren. Tatjana hatte eine schmale weiße Hand über die Augen gelegt. Loretta hockte sich in die Mitte des Sternfünfecks. Ralph schlief in ihren Armen. Max Dwindle rauchte seine Zigarre und sah düster den Qualmwolken nach. Peter Pine hielt den Hörer dicht ans Ohr gepreßt und lauschte auf das ferne und immer hohler klingende Klicken von Relais. Als schließlich das Rufzeichen ertönte, hob er die Hand. Seine Mithörer beugten sich angespannt vor. Beim zweiten Klingeln wurde am anderen Ende abgenommen. Eine dünne, hohle Stimme sagte: »Richten Sie ihr aus, daß sie mich morgen um zwölf Uhr mittags im Zoo im Prospect Park treffen soll. Ich will ihr nichts Böses antun. Aber sollte sie diese Verabredung nicht einhalten, schwebt sie in tödlicher Gefahr.« »Der Zoo im Prospect Park«, wiederholte Peter. »Was für eine Gefahr? Können Sie mir nicht mehr sagen? Und wie erkennt sie Sie? In welcher Gestalt erscheinen Sie ihr?« Peters Fragen blieben unbeantwortet. Am anderen Ende wurde aufgelegt. Die Leitung war tot.
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»Der Zoo!« rief Tatjana Petrowna. »Morgen! Aber ich kann nicht. Morgen ist Mittwoch. Das weiß er doch. Was ist mit dem MahJongg-Club?« »Vielleicht sollten Sie den ausfallen lassen«, empfahl Loretta. »Psst!« befahl Peter. »Ich versuch’s noch mal.« Peter wählte die Nummer wieder und wieder. Der Anschluß blieb besetzt. »Tja«, seufzte er schließlich. »Wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben, als morgen in den Zoo zu gehen.« »Es ist Jahre her, seit ich zum letzten Mal im Zoo gewesen bin«, bemerkte Tatjana Petrowna. »Mein Johnny ist da noch ein kleiner Junge gewesen. Tiere hat er immer geliebt.« Sie lächelte zärtlich. »Und im Zoo habe ich meinen armen Alexeij kennengelernt. Im Elefantenhaus. Ich habe damals als Kindergärtnerin gearbeitet und war mit der ganzen Gruppe da. Alexeij hat für alle… die Elefanten eingeschlossen, Erdnüsse gekauft. Wie lieb, daß er das nicht vergessen hat.« »In diesem Fall treffen wir uns im Elefantenhaus«, entschied Peter. »Punkt zwölf. Einverstanden?« Tatjana Petrowna erhob sich mit einem Seufzer der Erleichterung aus dem Ledersessel. »Ich werde da sein«, versprach sie. »Ist mir neu, daß Gespenster jetzt schon am hellichten Tag erscheinen. Tauchen sie denn normalerweise nicht um Mitternacht auf?« »Im Jenseits hat die Zeit keine Bedeutung«, erklärte Peter. »Im Reich der Schatten nimmt man, was sich bietet. Wenn Ihr Mann mit dem Zoo starke Gefühle verbindet, ist es vermutlich leichter für ihn, dort zu erscheinen als anderswo.« »Tja, dann«, seufzte Tatjana Petrowna. »Ich gehe jetzt erst mal zu Bloomingdales. Eine Ralph-Lauren-Hose und ein Blazer scheinen mir das geeignete Outfit für einen Zoobesuch zu sein. Kommen Sie mit?« Tatjana blieb auf der Türschwelle stehen und sah zu Loretta zurück, die noch immer in der Mitte des Pentagramms kauerte. »Klar doch.« Loretta streckte sich auf dem Fußboden aus. Die Füße gen Süden, der Kopf gen Norden gerichtet verkreuzte sie die Arme über der Brust und schloß die Augen. Ralph, die Ratte, von seinem Schlaf aufgeschreckt, trippelte zu seinem Versteck unter dem Schreibtisch.
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»Gehen wir!« sagte Tatjana ungeduldig. Loretta hob den Kopf und schlug die Augen auf. »Ich gehe ja«, erklärte sie. »Ich war schon fast weg. Laufen Sie zu, Herzchen. Wir treffen uns dort. Passen Sie auf ein schwaches Leuchten über ihrem Kopf auf. Das bin dann ich. Es ist ein herrlicher Spaß, sich aller Körperlichkeit zu entledigen und Astralreisen zu machen. Keine Hetze, und man spart das Geld für Bus oder Taxi.« Sie nahm ihre Stellung wieder ein, versenkte sich in Trance und sagte kein Wort mehr. Ein feiner Dunstschleier entwich ihrem Mund und entschwand durch die Decke. »Sie sollten sich beeilen«, riet Max. »Sonst ist sie vor Ihnen da. Und wenn sie sich langweilt, fängt sie an zu klauen.« Tatjana starrte auf das auf dem Boden liegende Mädchen. »Und wie ist das morgen?« erkundigte sie sich. »Ich habe offen gestanden keine Lust, nur in Begleitung von Dunstwolken im Zoo zu erscheinen.« »Keine Sorge«, beruhigte Peter sie. »Da sind wir alle dabei. In Fleisch und Blut. Bis dahin empfehle ich vegetarische Diät. Und nehmen Sie sich vor einem großen Blonden im braunen Anzug in acht.« »Wie bitte? Was hat das denn zu bedeuten?« »Da bin ich überfragt. Ist einfach so über mich gekommen. Ich gebe nur die Botschaft weiter.« Peter packte einen Stapel Werbeplakate. »Kommen Sie. Die Lexington-Avenue-Linie wartet auf mich. Und ich will fertig sein, bevor die Rushhour anfängt.« Mittwoch, der nächste Tag, war schön und klar. Es herrschte das ideale Wetter für einen Besuch im Zoo. Dwindle, Peak und Pine trafen pünktlich um Viertel vor zwölf im Prospect Park im Herzen von Brooklyn ein. Die massigen Elefanten standen in ihrem Gehege und kauten stoisch Stroh. Kinder mit ernsten, eisverschmierten Gesichtern starrten auf die Dickhäuter, bis die Mütter sie zu den lustigen Affen oder den verspielten Seehunden im Bassin in der Mitte des Zoos riefen. Die drei Detektive mit den okkulten Neigungen saßen auf einer schattigen Bank gegenüber dem Elefantengehege. Loretta gähnte.
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»Schätze, ich bin gestern doch zu lange ausgeblieben. Aber ich wollte sie im Auge behalten, bis sie schlafen gegangen ist.« »War was los?« fragte Max. »Irgendwelche Telefongespräche?« »Nichts. Zum Abendessen kam ihr Freund. Sie haben ferngesehen, bis er gegangen ist. Ohne Perücke sieht sie ganz anders aus.« »Ist er vielleicht ein großer Blonder im braunen Anzug?« wollte Peter wissen. »Himmel, nein! Er ist nicht größer als Max und hat fast eine Glatze. Sein kariertes Jackett war ein Alptraum.« »Was gab’s zum Abendessen?« »Sah wie Kaninchenfutter aus. Sie hat sowieso kaum was angerührt. Schätze, sie war zu nervös. Dabei fällt mir ein, daß ich seit gestern mittag nichts mehr zu beißen hatte. Ich sterbe vor Hunger.« »So weit, so gut«, bemerkte Peter. »So weit – nicht gut«, verbesserte Max ihn und starrte verdrießlich auf das Zifferblatt seiner großen goldenen Taschenuhr, die er aus der Westentasche eines altmodischen Anzugs gezogen hatte. »Die Dame kommt zu spät. Es ist fünf nach zwölf.« »Heh!« sagte Loretta. »Ist ja komisch. Seht euch mal die Elefanten an.« Die sechs Elefanten knieten in der hintersten Ecke ihres Freigeheges im Kreis beisammen und hatten die kleinen Augen geschlossen. Sie wirkten beinahe wie schwergewichtige graue Footballspieler, die während einer Auszeit Kriegsrat hielten. In diesem Augenblick erhob sich einer der Dickhäuter und trabte zu dem Zaunteil, der den drei Betrachtern am nächsten lag. Er schwenkte den Rüssel in ihre Richtung und sagte: »Psst! Kommt mal näher!« Loretta begann vor Aufregung zu schweben und war im Nu über den gepflasterten Weg und am Zaun. »Vorsicht«, murmelte Max, der ihr gemessenen Schrittes folgte. Peter schlenderte lässig neben ihm her. »Wer bist du?« fragte Loretta neugierig. »Der, den ihr sucht«, antwortete der Elefant. »Habt ihr Erdnüsse?« »Ich besorge welche!« erbot sich Loretta umgehend und verschwand auf die ihr eigene schwerelose Art.
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»Bißchen flatterhaft, die Dame, was?« bemerkte der Elefant. »Wo ist denn mein Liebling, mein Herzblatt, meine Braut von vor fünfundzwanzig Jahren? Wo steckt meine Tati?« Max Dwindle zuckte mit den Schultern. »Sie hat sich wohl verspätet. Sie kommt bestimmt mit der U-Bahn. Und da ist alles möglich.« »Ja, ja«, seufzte der Elefant. »Früher war das Warten auf den Zug für mich die Hölle. Aber stellt euch vor, was es bedeutet, wenn auf einem völlig übervölkerten Bahnsteig Menschen auf einen Zug warten, der nie kommt. Letzte Woche haben sie endlich eine Telefonzelle aufgestellt. Eine einzige Telefonzelle für die ganze fünfte Umlaufbahn!« »Hier sind die Erdnüsse!« Loretta schwebte ein und setzte zur perfekten beidbeinigen Landung an. In der Hand hielt sie eine weiße Papiertüte, prallvoll mit Erdnüssen. Der Elefant packte sie mit dem Rüssel und schob die Erdnüsse samt Verpackung ins Maul. Einige Minuten kaute er mit verzücktem Leuchten in den Augen. »Braves Mädchen«, sagte er und schluckte den letzten Bissen hinunter. »Werde dich dem Boß empfehlen.« »Dem Boß?« fragte Loretta atemlos. »Na, du weißt schon. Der Junge mit dem Dreizack. Ist im Lauf der Jahrhunderte ziemlich faul geworden. Erscheint nicht mehr jedem. Ich lege mal ein gutes Wort für dich ein.« »Danke«, murmelte Loretta verhalten begeistert. »Ich weiß nicht recht, ob…« In diesem Augenblick trompetete der Elefant und wedelte wild mit den Ohren. »Da kommt sie!« dröhnte er. »Hab’ doch gewußt, daß sie mich nicht sitzenläßt. Ist sie nicht bezaubernd?« Dwindle, Peak und Pine drehten sich um. Hinter ihnen war auf dem Parkweg eine zierliche Gestalt in magenta-roter Hose, giftgrünem Samtjackett und mit Sonnenbrille aufgetaucht. Eine in der Sonne glänzende kupferrote Lockenpracht krönte die Erscheinung. In einer Hand schwenkte Tatjana Petrowna Smith eine Einkaufstasche von Bloomingdales. Sie lief auf die Gruppe vor dem Elefantengehege zu. »Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte sie atemlos. »Gerade als ich fort wollte, brachte ein Bote vom United Parcel Service ein Päck-
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chen. Weil ›verderblich‹ drauf stand, habe ich es natürlich sofort geöffnet. Und Sie raten nicht, was drin war!« »Tati«, murmelte der Elefant. Ohne ihn zu beachten, griff sie in die Einkaufstüte und förderte triumphierend ein Pfundglas Kaviar zutage. »Kaviar!« rief sie entzückt. »Der echte Beluga. Ist das nicht großartig? Ah, ich hätte den Straßenkatzen im Mah-Jongg-Club gern mal gezeigt, was Lebensart ist, aber da ich auf dem Weg hierher war, dachte ich, wir könnten ein Picknick machen. Ich habe ein paar Eier gekocht und in der Tüte ist Toast. Kaviar! Ich kann’s kaum erwarten.« Sie öffnete das Glas und holte einen Löffel aus der Tüte. »Tati!« schrie der Elefant. »Iß das bloß nicht!« »Alexeij? Bist du das?« Tatjana Petrowna sah sich um. Auf den Elefanten, der sie flehentlich ansah, achtete sie nicht. »Wo versteckst du dich? Und warum soll ich den Kaviar nicht essen? Du weißt, wie versessen ich darauf bin.« Sie steckte den Löffel vorsichtig ins Glas. »Tati!« trompetete der Elefant diesmal. »Hör auf mich! Er ist vergiftet. Einen Löffel voll, und du bist tot.« »Unsinn!« wehrte Tatjana ab, die schließlich begriffen hatte, woher Alexeijs Stimme kam. »Wieso sollte ich auf einen Elefanten hören? Und wer würde schon ein Pfund Kaviar vergiften? Das wäre geradezu ein Verbrechen.« Sie führte den Löffel an den Mund. Der Rüssel des Elefanten fuhr zwischen den Gitterstäben hindurch und schleuderte ihr den Löffel aus der Hand. Dann packte er das Glas und zog es hinter die Stäbe in Sicherheit. »Alexeij!« schmollte Tatjana. »Gib mir das Glas sofort zurück! Was machst du überhaupt in dieser lächerlichen Verkleidung? Komm raus und steh deinen Mann! Erklär mir gefälligst, was das alles soll!« Einen Augenblick sah es beinahe so aus, als würde der Elefant das Glas in ihre ausgestreckte Hand zurücklegen. Er sah ihre ärgerliche Miene, den ungeduldig aufstampfenden Fuß, und der Rüssel entrollte sich ein winziges Stück in ihre Richtung. Doch dann seufzte er tief und schüttelte den massigen Schädel.
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»Nein, Liebes«, murmelte er. »Ich glaube, du bist noch nicht reif für die Hölle.« Der Rüssel, der noch immer das geöffnete Glas hielt, hob sich in eleganter Geste und wurde dann zum Maul geführt. Das Glas verschwand darin. Der Elefant schluckte, erbebte, erschauderte und rülpste. Dann sank er mit einem Seufzer in die Knie. »Lebe wohl, Tati. Du sollst ewig leben.« Alexeijs Stimme war immer schwächer geworden. Der Elefant fiel auf die Seite, und als er aufschlug, zitterte die Erde unter ihren Füßen. Im hinteren Teil des Geheges wurden die anderen Elefanten unruhig. »Al!« schrie Max Dwindle. »Du darfst uns nicht verlassen! Sag uns, wer den Kaviar geschickt hat?« Ein schwacher Windhauch erhob sich raschelnd aus dem Heu im Elefantengehege und war im nächsten Augenblick verschwunden. »Der Mann vom Paketdienst«, wandte sich Peter Pine an Tatjana. »War er groß und blond und hatte einen braunen Anzug an?« »Die tragen doch alle braune Uniformen, oder?« entgegnete sie. »Er war größer als ich, aber an seine Haarfarbe kann ich mich nicht mehr erinnern. Die Mütze hat er nicht abgenommen. Sein Schnurrbart war gelblich.« »Na also, bitte!« seufzte Peter selbstgefällig. »Ich hatte recht.« »Peter, du bist ein Genie!« rief Loretta aus. »Aber wer hat den Kaviar gekauft und vergiftet?« »Das werden wir wohl nie erfahren«, jammerte Max. »Es sei denn, wir holen Al zurück.« »Versucht das bloß nicht«, wehrte Tatjana ab. »Mein Bedarf an Kontakten zum Jenseits ist gedeckt. Was ist, wenn er das nächste Mal als Alligator auftaucht?« »Mutter! Mutter!« Schritte kamen hastig auf dem Asphaltweg näher. Ein aufgeregter junger Mann stürmte auf sie zu und schloß Tatjana in die Arme. »Dem Himmel sei Dank, daß dir nichts passiert ist. Als ich’s erfahren habe, habe ich mich sofort in den Zug gesetzt und bin vom Bahnhof aus in deinen Mah-Jongg-Club gefahren, weil ich sicher annahm, daß du ihn dahin mitnehmen würdest. Ich hatte schon Angst, dort Dutzende von Leichen vorzufinden. Aber die waren alle putzmunter und haben mir gesagt, daß du hier bist. Es war Mary
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Ann, meine Verlobte. Aber eigentlich bin ich schuld, weil ich ihr so viel von dir, deinen Gepflogenheiten, deiner aristokratischen Herkunft und dem Geld erzählt habe, das ich eines Tages erben werde. Sie konnte nicht warten. Gleich nach dem Examen nächsten Monat wollten wir heiraten und eine Gemeinschaftspraxis eröffnen. Sie ist sehr ehrgeizig. Gestern abend war sie beschwipst. Wir haben ihren Geburtstag gefeiert. Und dann hat sie mir gestanden, was sie getan hat. Ich bin mit dem nächsten Zug hergekommen, um dich zu retten. Wo ist der Kaviar? Wir brauchen ihn als Beweismittel. Auf dem Glas müssen Fingerabdrücke sein.« »O Johnny«, stöhnte Tatjana. »Ich habe dir doch so viel über Frauen erzählt. Und jetzt ist dein Vater tot.« »Das ist er doch schon seit drei Jahren.« »Er ist noch mal gestorben«, sagte Tatjana und deutete traurig auf den leblosen Elefanten. »Was ist denn mit dem armen Dickhäuter los?« fragte der junge Mann. »Habe ich dir doch gerade gesagt. Er ist tot. Er hat den Kaviar gegessen!« »Große Güte!« stöhnte der junge Mann. »Es war genug Zyankali drin, um einen Elefanten umzubringen.« »Exakt«, bestätigte Max. »Woher wissen Sie eigentlich so gut Bescheid? War Ihre Freundin so gesprächig? Oder haben Sie das Gift in den Kaviar getan?« »Wann haben Sie Geburtstag?« wollte Peter wissen. »Den Ihrer Freundin haben Sie gestern gefeiert. Demnach ist sie Zwilling. Und wir suchen einen Skorpion.« »Er hat am vierten November Geburtstag«, sagte seine Mutter. »Das Datum vergesse ich nie. Es war eine schwere Geburt. Und er ist ein so gieriges Baby gewesen.« »Aha. Da haben wir ihn also!« verkündete Peter. »Den Skorpion.« »Oho!« sagte Max. »Was für ein verdorbener Sprößling.« »Und noch immer gierig«, bemerkte Loretta. »Nach all den Jahren.« »He, Augenblick mal!« wehrte sich der bürgerliche John Smith. »Sie haben da was in den falschen Hals gekriegt. Ich wollte sie ret-
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ten. Welcher Sohn würde seine geliebte Mutter unter die Erde bringen, um zu heiraten und eine Tierarztpraxis zu eröffnen? Wer sind Sie überhaupt?« »Dwindle, Peak und Pine«, antwortete Max. »Und wir demonstrieren gleich, wer wir sind. Schnapp ihn dir, Loretta.« »Auf geht’s, mein Junge!« rief Loretta, packte den jungen Mann um die etwas füllige Taille und schwebte mit ihm über die Wipfel der umstehenden Bäume hinauf. »Na, wie wär’s mit der Wahrheit, mein Sohn?« Der junge Mann schrie und zeterte. »Lassen Sie mich runter! Lassen Sie mich runter!« »Jetzt sofort?« Loretta lockerte den Griff ihrer kräftigen Arme. Der junge Mann kreischte, und vom anderen Ende des Zoos antworteten die Affen im Chor. »Ich war’s! Ich war’s!« schrie der junge Mann mit völlig verzerrter Stimme. »Lassen Sie mich wieder runter!« Loretta schwebte sanft zur Erde zurück. Sie setzte den kraftlosen jungen Mann auf die Bank unter den Bäumen. »Sie sollten sich schämen!« schimpfte sie. »Nach allem, was Ihre Mutter für Sie getan hat. Sie hat Sie immerhin auf die Universität geschickt und so.« Der bürgerliche John Smith ließ zerknirscht den Kopf hängen. »Ich schäme mich ja schon. Meinetwegen hat dieser arme Elefant sterben müssen. Aber ich mache das wieder gut. Ich gehe als Tiermissionar nach Afrika und betreue seine Artgenossen, bis ich den schrecklichen Elefantenmord gesühnt habe. Lebe wohl, Mutter. In zehn oder zwanzig Jahren bin ich wieder zurück.« Damit ging er mit hängenden Schultern davon. Das traurige Trompeten der Elefanten, die sich mittlerweile um den toten Artgenossen versammelt hatten, begleitete ihn. Tatjana Petrowna schüttelte den Kopf. »Dieses Kind war schon immer merkwürdig. Wie wär’s jetzt mit hartgekochten Eiern? Da wissen wir wenigstens, daß sie nicht vergiftet sind.« »Also ich greife zu!« verkündete Loretta. »Mir knurrt der Magen.«
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Kleine Katze – Großer Schnurrbart Lilian Jackson Braun Im Vergleich zu den anderen Landgütern der Umgebung war Hopple Farm in seinen Ausmaßen eher bescheiden zu nennen; es war jedoch gerade groß genug, um die Bedürfnisse von Mr. und Mrs. Hopple und ihren drei Kindern zu befriedigen. Das Anwesen bestand aus einem Haus mit acht Schlafzimmern, einer Garage für sechs Autos, einem Swimmingpool, Putting green, Stallungen mit angrenzender Koppel – von einer halben Meile Lattenzaun umgeben –, einer Wiese, groß genug, um als Flugfeld für Mr. Hopples kleines Geschäftsflugzeug zu dienen und natürlich den Dienstbotenunterkünften, dem Gewächshaus und dem Hangar. Das Haus war eine ehemalige Mühle, deren riesiges Mühlrad sich längst nicht mehr drehte. Die gegenwärtigen Besitzer hatten das alte Gemäuer mit großem finanziellem Aufwand umgebaut und es mit mindestens zweihundert Jahre alten amerikanischen Antiquitäten ausgestattet. Das Anwesen war bereits zweimal in ArchitekturMagazinen besprochen worden. Die Hopples, deren Vorfahren zu den ersten Siedlern in Amerika gehört hatten, waren herzensgute, patente Menschen mit einem schlichten Geschmack, die Familienleben und die Liebe zur Natur großschrieben. Sie liebten Picknicks im Grünen und Campingtouren in ihrem großen Wohnmobil und umgaben sich gern mit Tieren. Abgesehen von vier arabischen Zuchtstuten bester Abstammung und dem Kutsch-Pony, gab es vier abgerichtete Jagdhunde im Zwinger hinter dem Gewächshaus, einen Stall mit Angorahasen, polnische Hühner, die seltsam gefärbte Eier legten, und im Haus… vier exotische Katzen, in der Familie allgemein als die »Gang« bekannt. Und für kurze Zeit gab es da noch eine aus der Art geschlagene Katze mit überdimensionalem Schnurrbart. Die »Gang« bestand aus zwei Siamkatzen, einer SchildpattPerserkatze und einer rothaarigen Abessinierkatze. Die Stammbäume der vier waren beeindruckend, und die Tiere schienen das zu wissen. Niemals machten sie sich ihre Pfoten bei Spaziergängen im Freien schmutzig. Sie waren glücklich in ihrer geräumigen Suite mit Plüsch-
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teppich, zahllosen Kissen, einer gepolsterten Leiter, heimlichen Kuschelecken und vier Schlafkörben. Lichte Fenster gaben den Blick auf das Wasserrad frei, in dem zu dieser Jahreszeit die Vögel gerade ihre Nester bauten. Für schönes Wetter gab es einen abgeschirmten Balkon. Im Badezimmer standen vier Katzentoiletten mit ihren Namen. Als die Katze mit dem überdimensionalen Schnurrbart auftauchte, war es Anfang Juni. Zu diesem Zeitpunkt lebte nur eines der Hoppleschen Kinder zu Hause: Donald, ein sechsjähriger Junge mit großen, staunenden Augen. Er wurde täglich zu einer Privatschule im nächsten Distrikt chauffiert. John besuchte eine Kadettenschule in Ohio, und Mary war in einem Mädchenpensionat in Virginia untergebracht. Donald. John. Mary. Die Hopples bevorzugten schlichte, ehrliche, der Tradition verhaftete Namen. Ihren Jüngsten überhäuften sie mit Liebe, Aufmerksamkeit und Spielsachen, die seinen Charakter formen sollten. Donald besaß einen Computer, ein Teleskop und eine Videothek; ferner hatte er eine eigens seinem Alter angepaßte Gitarre, eine Golfausrüstung und einen Astronautenanzug der NASA. Zum großen Kummer des Vaters hatte kein einziges dieser Stücke bisher auch nur einen Funken Interesse bei Donald geweckt. Donalds größtes Vergnügen war es, mit gewöhnlichen Hauskatzen, die im Stall wohnten, herumzutollen und ihnen Gutenachtgeschichten zu erzählen. Dieses Thema kam auch eines Freitagabends Anfang Juni zur Sprache. Mr. Hopple war mit seinem Privatflugzeug aus Chicago zurückgekehrt, nachdem er eine zehntägige Geschäftsreise in den Nahen Osten beendet hatte. Im maßgeschneiderten englischen Tuch, den maßgefertigten Schuhen und dem täuschend echt wirkenden Toupé stellte er den Prototyp des erfolgreichen Unternehmers dar. Am Flugzeug auf der Wiese erwartete ihn bereits der Geländewagen, und seine Frau begrüßte ihn glücklich, während sein Sohn vor Aufregung hin und her hüpfte und seinen Aktenkoffer tragen wollte. Anschließend, während der kleine Donald sich duschte und zum Abendessen umzog, genossen die Eltern die Cocktailstunde im Herrenzimmer. Mr. Hopple öffnete im seidenen Hausmantel einen riesigen alten holländischen Schrank, der angeblich einst Peter Stuyve-
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sant gehört hatte und mittlerweile als Bar diente. »Für dich das Übliche, Liebes?« erkundigte er sich. »Meinst du nicht, heute wäre Champagner angebracht, Liebling?« erwiderte seine Frau. »Ich bin so froh, daß du gesund und unversehrt nach Hause gekommen bist. Im Kühlschrank liegt eine Flasche Dom Perignon.« Mr. Hopple schenkte Champagner ein und sprach einen gefühlvollen Trinkspruch auf seine schöne Frau aus. Es war zwanzig Jahre her, seit Mrs. Hopple amerikanische Schönheitskönigin gewesen war, doch sie hatte nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt; gleichgültig, ob sie ein Pariser Modellkleid auf einem Wohltätigkeitsball oder Designer Jeans auf dem Landsitz trug. »Und jetzt erzähl mir, was unsere Sprößlinge machen«, bat Mr. Hopple. »Ich mußte die ganze Woche über an sie denken.« Die Hopples vermieden saloppe Bezeichnungen für ihre Kinder. »Gute Nachrichten von John«, begann seine Frau und strahlte. »Er hat schon wieder zwei Einsen in Mathematik geschrieben und ist ins Golfteam aufgenommen worden. Im Sommer möchte er in ein Camp mit Schwerpunkt Mathematik. Aber vorerst hat er fünf Freunde übers Wochenende nach Hause eingeladen. Sie wollen fischen und auf die Jagd gehen.« »Prächtiger Junge! Mit ausgewogenen Interessen. Vielversprechend. Was ist mit Mädchen? Ist er schon interessiert?« »Das glaube ich nicht, Liebling. Er ist erst zehn. Mary hat dieses Wochenende ihr erstes Rendezvous. Mit dem Sohn eines Botschafters…« »Botschafter für welches Land?« warf Mr. Hopple hastig ein. »Für irgendein südamerikanisches, glaube ich. Übrigens hat sie dieses Frühjahr sämtliche Reitturniere gewonnen. Sie fragt uns, ob sie Polo spielen darf. Ihre Zensuren sind exzellent. Sie fängt an, von Harvard und Betriebswirtschaft zu reden…« »Prächtiges Mädchen! Dann heißt es wohl eines Tages ›Hopple & Tochter AG‹. Und wie macht sich Donald?« Mrs. Hopple glühte vor Glück. »Sein Lehrer sagt, er sei seiner Altersgruppe im Lesen drei Jahre voraus und hätte eine rege Phantasie.
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Vielleicht haben wir bald einen Literaten in der Familie, Liebling. Donald denkt sich dauernd kleine Geschichten aus.« Mr. Hopple schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich hatte mir für Donald etwas Vielversprechenderes vorgestellt. Wieviel Zeit verbringt er eigentlich mit seinem Computer und dem Teleskop?« »Überhaupt keine. Aber wir sollten ihn nicht drängen. Er ist ein intelligentes, gewissenhaftes Kind. Und so lieb. Im Augenblick interessiert er sich nur für Katzen. Die Gescheckte im Stall hat letzten Monat Junge bekommen, und Donald betreut sie wie ein Vater. Manchmal denke ich, daß er vielleicht Tierarzt werden könnte.« »Die Vorstellung, meinen Sohn eines Tages als ›Pferdedoktor‹ zu sehen, reizt mich offen gestanden wenig. Da ist mir ein Schriftsteller in der Familie doch lieber.« Mr. Hopple schenkte Champagner nach. »Und was macht der Haushalt, Liebes?« »Die Woche war ziemlich ereignisreich, Liebling. Ich habe mir eine Liste gemacht. Erstens: Mittwochnacht scheint es einen Stromausfall gegeben zu haben; sämtliche elektrische Uhren sind am Donnerstag siebenundvierzig Minuten nachgegangen. Dabei hatten wir kein Gewitter. Leider. Wir brauchen dringend Regen. Und seit diesem Stromausfall ist der Fernsehempfang miserabel. Der Elektriker hat sämtliche Apparate durchgecheckt und nichts gefunden. Das Personal ist ziemlich aufgebracht. Der Butler macht die geheimen Atomversuche dafür verantwortlich.« »Und was gibt’s sonst Neues beim Personal?« Die Hopples vermieden das Wort »Dienstboten«. »Einiges. Beide Mädchen sind schwanger… Den Stallburschen mußte ich wegen seiner ordinären Ausdrucksweise entlassen… Und die Köchin verlangt höhere Zulagen.« »Gib ihr, was sie verlangt«, entschied Mr. Hopple. »Wir können es uns nicht leisten, Suzette zu verlieren. Mit den Gärtnern ist vermutlich alles in bester Ordnung?« Mrs. Hopple warf einen Blick auf ihre Liste. »Mr. Bunsens Arthritis ist schlimmer geworden. Wir sollten noch einen Gehilfen für ihn einstellen.« »Am besten nimmst du gleich zwei. Er ist ein treuer Angestellter«, erklärte ihr Mann. »Bist du mit dem neuen Butler zufrieden?«
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»Da habe ich nur eins auszusetzen: wenn er Donald zur Schule fährt, jagt er dem Jungen mit unsinnigen Geschichten über russische Verschwörungen, Außerirdische und Gift in unserem Essen Angst ein.« »Ich werde umgehend mit dem Mann reden. Hast du schon Ersatz für den Stalljungen gefunden?« »Ja, zum Glück. Der Schuldirektor hat mir einen Schulabgänger geschickt, der eine anständige Sprache spricht. Er hat gute Manieren und gerade einen landesweiten Wissenschaftswettbewerb gewonnen. Vielleicht hat er einen guten Einfluß auf unseren Sohn, Liebling. Donald hat heute zum ersten Mal seinen NASA-Anzug angehabt.« »Klingt vielversprechend. Wie heißt der Junge?« »Bobbie Wynkopp. Seine Eltern wohnen in dem kleinen Haus hinter unserem Südtor.« »Erinnere mich bitte, daß ich ihn frage, ob ihm Fremde auf der Süd-Weide aufgefallen sind. Bevor wir heute nachmittag zur Landung angesetzt haben, habe ich von oben die Überreste eines offenen Feuers entdeckt. Gegen Ausflügler, die da Picknick machen, habe ich nichts. Aber für ein Feuer ist es jetzt viel zu trocken.« Es ertönte ein melodiöser Gong. Die Hopples kleideten sich an und gingen zum Abendessen hinunter. Donald erschien bei Tisch in seinem weißen, italienischen Seidenanzug, sonnte sich im Wohlwollen der Eltern und wartete gespannt darauf, daß man das Wort an ihn richtete. Nachdem das Mädchen den Porrée vinaigrette serviert hatte, sagte Mr. Hopple: »Na, junger Mann, hast du diese Woche was Aufregendes erlebt?« »Ja, Sir«, antwortete der Junge, und seine großen Augen glänzten. »Ich habe eine ganz komische Katze im Stall entdeckt.« Donald saß auf zwei Kissen und machte sich mit seinem Kinderbesteck, das dem Erbsilber der Erwachsenen exakt nachgestaltet war, routiniert über den Porrée vinaigrette her. »Keine Ahnung, woher der Kater stammt. Er hat 50 Zentimeter lange Schnurrbarthaare.« Donald hob beide Hände und deutete vage eine Strecke von fünfzig Zentimetern an. »Klingt fast wie Seemannsgarn«, bemerkte Mr. Hopple augenzwinkernd.
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Donald lächelte über die amüsierte Reaktion des Vaters. »Aber es stimmt. Er ist für so lange Barthaare viel zu klein. Er ist ganz sonderbar.« »Die Schnurrbarthaare wirken bei Katzen manchmal lang, wenn die Tiere noch klein sind«, warf die Mutter sanft ein. »Sie müssen erst noch wachsen.« Donald schüttelte den Kopf. »Das ist kein junger Kater, Mutter. Er benimmt sich wie eine ausgewachsene Katze. Manchmal sind seine Schnurrbarthaare lang… manchmal sind sie kurz. Er ist wirklich komisch. Ich habe ihn ›Schnurrbart‹ getauft.« »Ist ja interessant.« Sein Vater versuchte ernst zu bleiben. »Ausfahrbare Schnurrbarthaare.« »Sie werden ganz lang, wenn er etwas sucht«, erklärte Donald weiter. »Und er steckt seinen Rüssel überall hinein. Er ist schrecklich neugierig.« »Schätzchen, wir sagen ›Nase‹«, verbesserte seine Mutter ihn gelassen. »Seine Schnurrbarthaare leuchten im dunkeln«, fuhr der Junge mit wachsendem Selbstbewußtsein fort. »Wenn er in einer dunklen Ecke ist, flimmern sie grün wie unsere Computer-Bildschirme. Und seine Ohren bewegen sich immer im Kreis.« Donald ließ seine Finger kreisen. »So kann er auch fliegen. Er geht hoch wie ein Helikopter.« Die beiden Erwachsenen wechselten hastig einen Blick. »Dein Mr. Schnurrbart ist ja ein schlauer Bursche«, bemerkte Mr. Hopple. »Welche Farbe hat er denn?« Donald dachte einen Moment nach. »Manchmal ist er blau. Aber meistens ist er grün. Gestern habe ich sogar gesehen, wie er dunkelrot geworden ist. Da war er nämlich stinkwütend.« »Ärgerlich, mein Junge«, verbesserte die Mutter ihn leise. »Und was hält der neue Stalljunge von Schnurrbart?« »Bobbie konnte ihn nicht sehen. Schnurrbart mag keine Großen. Wenn er Erwachsene sieht, verschwindet er. Peng! Einfach so!« Mrs. Hopple klingelte nach dem nächsten Gang. »Und welche Laute gibt dieses herrliche Tier von sich, Liebes? Schreit es so schrill wie die Siamkatze, oder miaut es wie die anderen?«
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Donald überlegte sich die Antwort, während der den letzten Bissen Lauch ordnungsgemäß kaute und hinunterschluckte. Dann sprudelte eine ganze Folge seltsamer Laute aus ihm heraus: »AWK AWK ngngngngng hhhhhhhhhhhhhhh beep-bepp-beep beep beepbeep AWK.« Das Dienstmädchen, das ins Speisezimmer kam, um abzuräumen, machte eine besorgte Miene, und musterte Donald mißtrauisch, während sie den zweiten Gang servierte. Da rief der Junge plötzlich: »Er ist da! Da ist Schnurrbart!« Donald zeigte zum Fenster. Doch als die Erwachsenen ihre Köpfe wandten, war Schnurrbart bereits wieder verschwunden. Der Hauptgang des Abendessens war eines jener ländlich einfachen Gerichte, die die Hopples so liebten: ein Eintopf aus weißen Bohnen, Lamm, Schweinerippen, hausgemachten Würstchen, Kräutern und einem kleinen gepökelten Fasan. Die Köchin, aus einer französischen Weingegend stammend, wollte mit Mikrowellenherden oder anderen modernen Haushaltsgeräten nichts zu tun haben. Die Hopples hatten daher eine altmodische Küche mit einem riesigen alten Steinofen errichten lassen, um Suzette bei Laune zu halten. Das Cassoulet, das serviert wurde, hatte den ganzen Tag im alten Steinofen geköchelt. Mit dem Übergang zum Hauptgericht vollzog sich auch ein Themawechsel, so daß die Mahlzeit endete, ohne daß Schnurrbart noch einmal erwähnt wurde. Nach dem Essen machte sich Donald an die Fütterung der Gang, was zu seinen täglichen Pflichten gehörte. Er trug ihr Essenstablett hinauf, wusch ihre antike silberne Trinkschale (ein Stück, das der Werkstatt von Paul Revere zugeschrieben wurde) und füllte sie mit frischem Wasser. Währenddessen wurde seinen Eltern in der Bibliothek der Kaffee serviert. »Du hattest recht mit dem Jungen«, bemerkte Mr. Hopple. »Seine Phantasie geht mit ihm durch.« »Vermutlich ist Donalds Geschichte nur die übertriebene Wiedergabe einer tatsächlichen Begebenheit«, beschwichtigte seine Frau. »Wahrscheinlich ist es wirklich eine ungewöhnliche Katze. Vielleicht ist sie herrenlos, war als schwächste eines Wurfs unerwünscht und wurde einfach aus dem fahrenden Wagen geworfen.«
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»Du hast doch immer für alles eine Erklärung, Liebes. Und du bist so tüchtig. Hast du schon Pläne fürs Wochenende?« »Nein, Liebling. Ich wußte, daß dir die Zeitverschiebung noch zu schaffen machen würde. Aber ich habe die Enkelkinder des Gärtners eingeladen, mit Donald zu Mittag zu essen. Sie sind in seinem Alter, und er sollte gelegentlich mit den Kindern hier aus dem Ort zusammenkommen.« Am Samstag frühstückten die Hopples gewöhnlich in großem Stil im Glashaus, doch da beide Mädchen am darauffolgenden Morgen unter Übelkeit litten, versammelte sich die Familie in der Küche. Dort saßen sie an einem alten französischen Refektoriumstisch unter Kupferkesseln und getrockneten Kräutersträußen, während Suzette in einer langstieligen Kupferpfanne über dem offenen Feuer ein Omelette zubereitete. Nach dem Frühstück sagte Donald: »Mutter, kann ich was vom Katzenfutter der Gang mit in den Stall zu den kleinen Katzen nehmen?« »Darf ich, heißt das, Schätzchen«, verbesserte sie ihn sanft. »Ja, du darfst. Aber überlege mal, ob es sinnvoll ist, sie zu verwöhnen. Schließlich sind es nur Stallkatzen.« »Zwei der kleinen Katzen sind sehr schlau, Mutter. So schlau wie die Siamkatzen.« »Also gut, Donald. Ich verlaß mich auf dich.« Nachdem er gegangen war, wandte sie sich an ihren Mann: »Siehst du? Die Geschichte mit Schnurrbart war reine Phantasie. Er hat sie schon vergessen… Und denke bitte daran, Bobbie nach der Feuerstelle zu fragen.« Ihr Mann dankte ihr dafür, daß sie ihn erinnert hatte, und rief die Stallungen über die Haussprechanlage an. »Morgen, Bobbie. Hier spricht Hopple. Wir kennen uns noch nicht, aber ich habe nur Gutes von Ihnen gehört.« »Danke, Sir.« »Wie ich erfahren habe, wohnen Sie in der Nähe des Südtors. Sind Ihnen kürzlich zufällig Fremde auf der Weide aufgefallen? Jemand hat dort ein Feuer gemacht, und das paßt mir gar nicht.«
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»Nein, Sir. Ich hab’ niemanden gesehen«, antwortete der neue Stalljunge. »Allerdings bin ich drei Tage bei einem Wettbewerb gewesen.« »Falls Ihnen irgend etwas auffällt, rufen Sie uns bitte sofort an… jederzeit.« »Ist klar«, sagte Bobbie. »Und noch etwas. Sind Ihnen ungewöhnliche Katzen im Stall oder sonstwo aufgefallen?« »Nur eine alte Katze mit ihrem Wurf.« »Kein komischer streunender Kater mit langen Schnurrbarthaaren?« Am anderen Ende entstand eine kurze Stille, bevor der junge Mann antwortete: »Nein. Ich habe nur merkwürdige Geräusche gehört. Klang wie das Quaken von Enten. Ein elektronisches Piepen war auch dabei. Aber ich konnte nicht feststellen, woher es kam.« »Danke, Bobbie. Machen Sie weiter so.« Mr. Hopple schaltete die Sprechanlage aus und wandte sich an seine Frau. »Donald produziert diese lächerlichen Geräusche auch im Stall. Wie lange soll das noch so weitergehen, ohne daß wir einen Arzt konsultieren?« »Liebster, er spielt den anderen doch nur einen Streich. Irgendwann legt sich das. Es ist ganz normal, daß sich Kinder in dem Alter eine Phantasiegestalt ausdenken, mit der sie sich unterhalten.« »Also ich habe das nie gemacht«, erklärte ihr Mann und verschwand in seinem Arbeitszimmer, wo er nicht gestört werden durfte. Kurz vor zwölf Uhr mittags fuhr der Butler mit dem Mercedes in die Stadt, um die Bunsen-Zwillinge, ein Mädchen und einen Jungen, abzuholen. Mrs. Hopple empfing sie herzlich und händigte den Kindern einen Picknickkorb aus, in den die Köchin Essen gepackt hatte, das gut für zwölf Personen ausgereicht hätte. »Steck bitte deinen Piepser ein, Donald, Schätzchen«, erinnerte sie den Jungen. »Ich melde mich dann, wenn es Zeit ist, deine Gäste zurückzubringen.« Donald fuhr die Zwillinge in seinem Ponywagen zur Weide. Da er bereits genügend Gelegenheit gehabt hatte, seinen Vater bei gesellschaftlichen Ereignissen zu beobachten, spielte er die Rolle des
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Gastgebers schon recht gut, und das Picknick verlief friedlich. Keiner fiel hin. Niemand zankte. Keinem wurde schlecht. Als Mrs. Hopple ihren Sohn »anpiepte«, fuhr er seine Gäste zum Haus zurück; ein kurzer Abstecher zum Hundezwinger, dem Kaninchen- und Hühnerstall und den Pferden war inbegriffen. »Habt ihr euch gut amüsiert?« fragte Mrs. Hopple die Zwillinge. »Ich habe vier Schokoladenkekse gegessen«, sagte der Junge. »Meine Mutter hat mir gesagt, daß ich mich bedanken soll«, sagte das Mädchen. »Ich hab’ ’ne Schlange gesehen«, berichtete der Junge. »Ich hab’ Schnurrbart gesehen«, trumpfte das Mädchen auf. »Er ist grün.« »Nein, blau mit grünen Schnurrbarthaaren.« »Seine Augen leuchteten.« »Aus seinen Schnurrbarthaaren kommen Funken.« »Er kann fliegen.« »Wirklich?« fragte Donalds Mutter. »Hat er vielleicht auch mit euch gesprochen?« Die Zwillinge sahen sich an. Dann begann der Junge plötzlich wie eine Ente zu quaken, und das Mädchen machte: »Beep beep beep.« Mrs. Hopples erster Gedanke war, daß Donald die beiden angestiftet hatte. Die Sache mit den Funken allerdings machte sie unsicher. Aufgrund der Tatsache, daß sie so weitab auf dem Land wohnten, hatten sämtliche Hopples eine nur zu verständliche Angst vor Feuer. Sie verließ das Haus und fuhr mit einem Moped zum Stall. Bobbie trainierte ein Pferd in der Koppel. Donald spannte das Pony aus. Die Stallkatzen tollten herum. Von einem Wesen mit funkensprühendem Schnurrbart war nichts zu sehen. Schließlich gewann ihr sprichwörtlicher Optimismus wieder die Oberhand. Auf dem Rückweg zum Haus überholte sie den arthritischen Obergärtner, der sich mit einem Korb voller Tulpen und Narzissen den Berg hinaufquälte. Sie schimpfte ihn freundlich. »Mr. Bunsen, warum haben Sie nicht einen Ihrer Gehilfen mit den Blumen geschickt?« »Muß in Bewegung bleiben«, antwortete er. »Sonst wollen die alten Knochen gar nicht mehr.« »Mr. Hopple stellt noch mehr Helfer für Sie ein.«
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»Das nützt nichts. Heutzutage will doch keiner mehr arbeiten.« »Sie haben übrigens reizende Enkelkinder, Mr. Bunsen. Wir haben uns gefreut, daß sie uns mal besucht haben.« »Die sehen viel zuviel fern«, klagte der alte Mann. »Sehen Sie mal, wie braun das Gras wird. Seit zehn Tagen hatten wir keinen Tropfen Regen mehr! Außerdem haben wir irgendein Vieh im Gewächshaus. Es frißt sämtliche Geranienknospen ab. Und der Traktor ist kaputt. Ich weiß auch nicht, was los ist. Heute nachmittag hat er einfach den Geist aufgegeben.« »Rufen Sie gleich Montagmorgen den Mechaniker an«, riet Mrs. Hopple ihm aufmunternd. »Er soll das vorrangig erledigen.« »Das nützt nichts«, wehrte der Gärtner ab. »Die kommen heutzutage, wann sie wollen.« Mrs. Hopples Frohnatur konnte der Pessimismus des Gärtners nichts anhaben. Während sie stumm ein paar Verse von Wordsworth zitierte, trug sie die Blumen in den vollständig ausgekachelten Schuppen. Dort wählte sie aus den etwa fünfzig Vasen einige geeignete aus, als ein Aufruhr in der angrenzenden Küche ihre Neugier erregte. In der Küche stand Suzette am mittlerweile kalten, gesäuberten Ofen, klapperte rastlos mit Töpfen und Pfannen und schrie etwas in den Kamin hinauf. Dem englisch-französischen Kauderwelsch der Köchin entnahm Mrs. Hopple, daß ein diable oben auf dem toit versuchte, durch den cheminée in die Küche zu gelangen. Mrs. Hopple lobte die Köchin, weil es ihr gelungen war, den Teufel vom Dach zu jagen, versicherte ihr jedoch, daß der Kamin so gesichert sei, daß nichts und niemand von oben in ihre Küche eindringen könne. Wieder im Schuppen entschied sie sich für einen silbernen Champagnerkübel für die Tulpen und suchte nach einem geeigneten Gefäß für die Narzissen, als die Haussprechanlage klingelte. »Der Traktor ist wieder in Ordnung, Miss Hopple«, erklärte der Gärtner. »Er ist ganz von selbst wieder angesprungen. Aber im Glashaus sind ein paar Scheiben gesprungen.« Sie dankte Mr. Bunsen und wandte sich ihren Blumen zu. Mr. Bunsens Art, eine schlechte Nachricht stets mit einer guten abzumildern,
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entlockte ihr ein Lächeln. Als sie die Narzissen in einem Kupferkrug arrangierte, stürmte Donald in den Schuppen. »Ich habe dich schon gesucht, Mutter«, begann er unglücklich. »Die Kaninchen sind weg! Ich glaube, die hat jemand gestohlen.« »Nein, Schätzchen«, erwiderte sie ruhig. »Ich denke, du findest sie im Gewächshaus. Da fressen sie sich an Geranienknospen satt. Was hältst du von Erdbeeren Chantilly heute abend?« Es war das Lieblingsdessert der Familie. Donald hüpfte vor Freude und umarmte die Mutter. Später sagte Mrs. Hopple zu Suzette, indem sie deren Kauderwelsch imitierte: »Ich fahre zum ferme und hole die fraises und die crème.« Mrs. Hopple war um jeden Vorwand froh, der es ihr ermöglichte, in ihrem Ferrari mit offenem Verdeck über die Landstraße zu flitzen. An diesem Nachmittag hatte sie vor, zur Erdbeerplantage zu fahren, frische Früchte zu holen und anschließend bei der Meierei noch Sahne mitzunehmen. Zuerst jedoch lief sie in den ersten Stock, um ein Tuch fürs Haar auszusuchen. Dabei kam sie an der Tür zur Katzensuite vorbei und hörte Donald drinnen diese lächerlichen Geräusche machen, auf die die Katzen schreiend und miauend antworteten. Die Hand bereits auf dem Türknauf beschloß sie dann jedoch, ihren Sohn mit ihrer Anwesenheit nicht in Verlegenheit zu bringen. Als sie kurz darauf mit einem Seidentuch und im Kashmerepullover zurückkehrte, kam Donald mit zufriedener Miene aus der Katzensuite. »Amüsierst du dich, Schätzchen?« fragte sie. »Schnurrbart war dort drinnen«, verkündete er. »Er ist am Mühlrad herumgeklettert und hat durchs Fenster geschaut. Ich hab’ ihn reingelassen. Er mag unsere Katzen ganz doll.« »Er mag unsere Katzen sehr, Schätzchen«, verbesserte die Mutter ihn. »Hoffentlich hast du das Fenster wieder zugemacht. Wir wollen doch nicht, daß die Gang rausklettert, oder?« Beschwingt ging Mrs. Hopple in die Garage und glitt hinter das Steuer des Ferrari. Sie drückte auf einen Knopf, und das Verdeck öffnete sich automatisch. Dann drehte sie den Zündschlüssel im Schloß. Nichts geschah. Der Motor gab keinen Laut von sich. Sie
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versuchte es erneut, aber so sehr sie sich auch anstrengte, fast beschwörend auf den Motor einredete, es rührte sich nichts. Der Butler hatte die Zwillinge mit dem Mercedes in die Stadt gebracht und war noch nicht zurück. Trotzdem standen ihr noch drei weitere Autos zur Verfügung. Sie stieg in den Rolls. Aber auch er sprang nicht an. Dasselbe erlebte sie mit dem Cadillac und dem Jeep. Irgend etwas stimmte da nicht. Der Butler würde den KGB oder den sauren Regen dafür verantwortlich machen. Resolut marschierte sie zum Haus zurück und ging zu ihrem Mann, der sich mit Computer, Aktenkoffer und Diktiergerät in seinem Arbeitszimmer verschanzt hatte. Er hörte sich ihre unglaubliche Geschichte an, seufzte und schickte sich an, sich die Bescherung selbst anzusehen, während Mrs. Hopple ein paar Atemübungen machte, um ihr seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. »Alles in Ordnung«, erklärte Mr. Hopple bei seiner Rückkehr. »Alle Wagen springen an. Die Türen gehen auf. Ich glaube, du brauchst mal Tapetenwechsel, Kleines. Wir essen heute abend auswärts. Zieh dein neues Saint-Laurent-Kleid an. Wir gehen in den Club. Suzette kann mit Donald essen.« »Das ist leider unmöglich, Liebling. Es soll Erdbeeren Chantilly geben. Ich hab’s Donald fest versprochen.« Somit blieben die Hopples zu Hause und genossen einen altmodischen Familienabend. Das Essen wurde auf der Terrasse serviert. Anschließend spielte man Rasen-Croquet und briet Popkorn auf dem offenen Feuer im Kamin. Donald erwähnte Schnurrbart mit keinem Wort, und seine Eltern schnitten das Thema auch nicht an. Am Sonntagmorgen, als der frühsommerliche Sonnenaufgang und das Singen der Vögel alle zu einer unchristlichen Zeit zu wecken versuchten, klingelte auf Hopplewood Farm das Telefon. Mr. Hopple stützte sich schläfrig auf einen Ellbogen und starrte blinzelnd auf den elektronischen Digitalwecker auf dem Kaminsims. »Halb fünf! Wer ruft denn jetzt an?« Mrs. Hopple setzte sich abrupt im Bett auf. »Auf der alten mechanischen Uhr ist es fünf Uhr fünfundzwanzig. Wir hatten wieder einen Stromausfall.« Ihr Mann räusperte sich und nahm den Hörer ab. »Ja, bitte?«
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»Morgen, Mr. Hopple. Bobbie Wynkopp hier. Entschuldigen Sie die frühe Störung, aber Sie hatten mir gesagt, falls ich etwas sehe…« »Ja, Bobbie. Was gibt’s?« »Die Feuerstelle auf der Weide, Sir… Wie groß war die?« »Hm, soweit ich das von oben beurteilen konnte, vielleicht drei Meter im Durchmesser. Jedenfalls war es ein kreisrunder, brauner Fleck.« »Tja, es ist genauso einer wieder da.« »Wie bitte? Haben Sie jemanden auf der Weide gesehen?« Mr. Hopple war plötzlich hellwach. Am anderen Ende war es still. »Mr. Hopple, Sie werden’s nicht glauben, aber diese Nacht bin ich aufgewacht, weil es plötzlich taghell war. Ich schlafe unter dem Dach auf der Seite zur Weide hin. Alles war in grünliches Licht getaucht. Ich habe aus dem Fenster gesehen… Sie werden’s nicht glauben, Mr. Hopple.« »Nun sagen Sie’s schon, Bobbie. Bitte.« »Also da ist dieses Flugobjekt gelandet. Sah überhaupt nicht wie Ihr Flugzeug aus, Mr. Hopple. Es war kreisrund wie ein Frisbee. Es kam einfach so aus der Luft… sehr langsam, lautlos. Und es hat grell geleuchtet.« »Falls Sie damit sagen wollen, daß Sie eine fliegende Untertasse gesehen haben, Bobbie, dann müssen Sie das geträumt haben. Oder Sie hatten Halluzinationen.« »Ich war hellwach, Sir. Das schwöre ich. Und ich nehme keine Drogen. Das wird Ihnen hier jeder bestätigen.« »Weiter, Bobbie.« »Das Komische war… es war so klein! Viel zu klein für eine Mannschaft. Es sei denn, die Leute wären höchstens dreißig Zentimeter groß gewesen. Das Ding ist gelandet und hat merkwürdige elektronische Geräusche verbreitet. Ich hab’s ganz deutlich gesehen. Über der Weide lag Nebel. Ich bin runtergerannt und habe das Fernglas meines Vaters gesucht. Ich hab’s erst gar nicht gefunden. Sämtliche Lichter gingen nicht. Wir lagen völlig im dunkeln… Hören Sie noch, Mr. Hopple?« »Ja, ich höre. Was ist mit Ihren Eltern? Haben sie das Flugobjekt auch gesehen?«
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»Nein, leider nicht. Jetzt halten mich bestimmt alle für verrückt. Meine Mutter macht Nachtdienst im Krankenhaus, und wenn mein Vater schläft, weckt ihn nichts auf.« »Und was haben Sie mit dem Fernglas gesehen?« »Nichts mehr. Es war zu spät. Sie waren bereits wieder gestartet. Langsam hob es vom Boden ab, und dann war’s verschwunden. Das ist kein Witz. Jedenfalls konnte ich danach nicht mehr schlafen. Als es hell wurde, bin ich sofort raus auf die Weide. Das Flugobjekt hat einen braunen kreisrunden Fleck ins Gras gebrannt… Einen Kreis von gut drei Metern Durchmesser. Sie können ihn sich selbst ansehen. Vielleicht sollten Sie die Stelle auf Radioaktivität hin untersuchen lassen. Vielleicht sollten Sie lieber nicht in die Nähe gehen.« »Danke, Bobbie. Das war wirklich äußerst interessant. Wir sprechen später noch drüber. Ich werde mich jetzt erst mal informieren. Vorerst würde ich an Ihrer Stelle mit niemandem darüber sprechen.« »Mit niemandem. Keine Sorge, Mr. Hopple.« »War das der Stalljunge?« fragte seine Frau. »Stimmt was nicht…? Liebling, ist was passiert?« Mr. Hopple war ans Südfenster getreten und starrte zur Weide – ein Bild des Kummers. »Wie bitte? Was hast du gesagt? Der Junge hat mir eine wilde Geschichte erzählt… Drei Meter im Durchmesser! Er hat recht. Das ist erstaunlich klein.« Es gab einen dumpfen Knall, als sich der Sechsjährige gegen die Schlafzimmertür warf und hereinstürmte. »Schätzchen«, begann seine Mutter. »Man klopft an, bevor man ein Zimmer betritt.« »Sie sind weg! Sie sind einfach weg!« rief er in kindlicher Erregung. »Ich wollte ihnen guten Morgen sagen, aber keiner war da.« »Wer war nicht da, Herzchen?« »Die Gang! Sie sind aus dem Fenster und über das Mühlrad geklettert.« »Donald! Hast du das Fenster offengelassen?« »Nein, Mutter. Die Fensterscheibe ist im Eimer. Zerbrochen«, korrigierte er sich, als er den Blick seiner Mutter sah. »Das Glas ist… ist geschmolzen! Das muß Schnurrbart gewesen sein. Er hat sie gekidnappt.«
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Die Mutter schob ihn sanft aus dem Schlafzimmer. »Geh, zieh dich an, Herzchen. Wir finden die Gang wieder. Wir veranstalten eine Suchaktion.« Mrs. Hopple schlüpfte in ihr Negligé und verließ das Zimmer. Als sie kurz darauf zurückkehrte, stand ihr Mann noch immer am Fenster und starrte durch das Südfenster ins Leere. »Donald hat recht«, sagte sie. »Das Fensterglas ist tatsächlich geschmolzen. Außerordentlich merkwürdig.« Mr. Hopple stand noch immer unbeweglich wie in Trance. »Liebster, ist mit dir alles in Ordnung? Hast du gehört, was Donald gesagt hat?« Ihr Mann wandte sich vom Fenster ab. »Du kannst eine Suchaktion veranstalten, wenn du willst. Aber die Gang wirst du nicht finden. Die kommt nicht zurück. Auch Schnurrbart nicht.« Er hatte recht. Sie wurden nie mehr gesehen. Die beiden frechsten kleinen Katzen aus dem Stall waren in jener Nacht ebenfalls spurlos verschwunden. Aber die Kaninchen fanden sich im Gewächshaus wieder, wo sie sich königlich amüsiert hatten. Das Leben auf Hopplewood Farm verläuft jetzt in geregelten Bahnen. Die Garagentüren sind offen. Die Autos springen an. Der Fernsehempfang ist ausgezeichnet. Stromausfälle sind nur noch bei schweren Gewittern zu verzeichnen. Keiner läßt mehr die Karnickel aus dem Stall. Der Traktor funktioniert zuverlässig. Niemand versucht in den Schornstein zu klettern. Kein Fensterglas schmilzt. Und der kleine Donald, der vielleicht mehr vermutet, als er sagt, spricht bei Tisch über Planeten und Asteroiden, und verbringt viele Stunden hinter seinem Teleskop, wenn seine Eltern glauben, daß er schläft.
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Der weiße Tod Justin Scott Auf Hunde konnte der Kater durchaus verzichten, aber er liebte die Abwechslung. Das Kommen und Gehen auf einer Farm füllte die gähnende Langeweile. Also war der Kater selbstverständlich zur Stelle, als die neuen Hunde in den großen rot-weiß-blauen, mit Luftlöchern durchsiebten Air-France-Containern eintrafen und es ans Auspacken ging. Die Menschen waren aufgeregt. Schließlich hatten sie keine ruhige Minute mehr gehabt, seit sich die Kojoten über die Schafe hermachten. Dabei hätte es Kojoten in Connecticut eigentlich gar nicht geben dürfen. Und trotzdem waren sie plötzlich dagewesen: groß, böse und hungrig. Eines Nachts hatten sie ein Lamm gerissen und sich dann zwei Mutterschafe geholt. Die Menschen beschimpften sie als »böse Bande«. Die Katze wußte es besser. Sie hatte sich auf eigene Faust kundig gemacht und auf ihre vorsichtige Art herausgefunden, daß es sich keineswegs um eine »Bande«, sondern um eine Familie handelte – um eine Familie, bestehend aus drei fast ausgewachsenen männlichen Jungtieren mit Mutter und Vater, wobei letztere erstaunlich gut miteinander harmonierten. Die Frage, ob sie »bösartig« zu nennen waren, war eine intellektuelle Spielerei, die den Kater nicht interessierte. Tatsache war, daß die Kojoten alles, was ihnen in die Quere kam und sie überwältigen konnten, als ihr Futter ansahen. Aus diesem Grund hatten die Menschen drei Hunde kommen lassen, die in Frankreich speziell zur Bewachung von Schafherden abgerichtet worden waren. Der Kater hatte automatisch angenommen, daß es sich bei diesen Hunden nur um Königspudel handeln konnte. Seine Erfahrung mit französischen Hunden beschränkte sich nämlich auf seinen langjährigen Hausgenossen Roger, einen prächtigen Pudel, der allerdings so betagt war, daß ihm die Zähne bereits ausfielen; der Kater fand gelegentlich in Ecken eines dieser Beißwerkzeuge, die rund und abgewetzt wie Kiesel in einem Flußbett herumlagen. Statt dessen entstiegen den Air-France-Containern drei Monster, die mit Roger soviel Ähnlichkeit hatten wie ein Huhn mit einem
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Habicht. Mit wolkenweißem Fell, Staturen wie Mähtraktoren und Zähnen, die man gesehen haben mußte, um es zu glauben, glotzten sie mißtrauisch in die Runde. Nachdem sich der Kater vom Dach des Lieferwagens aus erst einmal eine neue Perspektive verschafft hatte, gab er den Neuankömmlingen die Namen Weißer Tod Eins, Zwei und Drei, um sie auseinanderzuhalten. Selbst die Menschen waren im ersten Augenblick eingeschüchtert, bis Weißer Tod Eins, Zwei und Drei, nachdem sie sich offenbar vergewissert hatten, daß keine Kojoten in unmittelbarer Nähe lauerten, mit ihren voluminösen Schwänzen wedelten. Mit dem Weißen Tod Eins, Zwei und Drei auf dem Farmgelände blieben die Schafe in dieser Nacht unversehrt. Als man den Nachbarshund am nächsten Morgen tot auffand, behaupteten die Menschen, die Kojotenbande habe sich statt dessen an ihm vergriffen. Familie, dachte der Kater, keine Bande. Eine Familie mit Mutter, Vater und drei großen Jungen. Eine bösartige Bande, sagten die Menschen. Und der arme Hund habe keine Chance gehabt. Die Katze konnte nicht einsehen, daß das eine Tragödie sein sollte. Der sogenannte »arme« Hund war ein gemeines Vieh gewesen, das sich stets einen Spaß daraus gemacht hatte, Karnickel, Streifenhörnchen und Katzen zu vernaschen. Eigentlich konnte nur von einer positiven Wendung der Dinge gesprochen werden. Am darauffolgenden Morgen ging es den Schafen bestens, und ein anderer Nachbarshund war tot. Die Kojoten, so sagten die Menschen, seien verzweifelt. Eines Tages würden sie an den falschen Hund geraten. Es wurde sogar erwogen, den Weißen Tod auszuleihen. Der Kater beschloß, sich die Leiche anzusehen. Er entdeckte einen weiteren üblen Schurken, der sein verdientes Ende gefunden hatte. Merkwürdigerweise hatten die Kojoten ihn gar nicht aufgefressen. Sie hatten ihm nur sauber wie ein Tierarzt mit dem Skalpell die Kehle durchtrennt. »Was glotzt du da!« schrie ein Mensch mit einer Schaufel den Kater an. Der Verlust des Hundes hatte ihm offenbar zugesetzt. »Glotze ja gar nicht«, murmelte der Kater vor sich hin und tappte davon.
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In den folgenden Nächten blieb es auf allen Ebenen ruhig: Schafe – null, Hund – null, Kojoten – null. Die Kojoten hätten sich verdrückt, behaupteten die Menschen, was nicht stimmte. Sie verhielten sich ruhig und überdachten die neue Lage. Der Kater konnte sie wittern. Er war auf eines ihrer Opfer gestoßen, ein dämliches Opossum. Sie hatten es auf freier Wildbahn erwischt. Entsprechend vorsichtig verhielt sich von da an der Kater. Er achtete besonders auf die Windrichtung, mied offene Plätze, und, wenn er einen solchen überqueren mußte, vergewisserte er sich zuvor der Fluchtmöglichkeiten, wozu im Fall von Kojoten nur Bäume dienen konnten. Sich irgendwo zu verstecken, wo sie graben konnten, war zwecklos. Es mußten Bäume sein, sonst nichts. Mittlerweile verliefen die Tage des Weißen Todes nach einem bestimmten Muster: Es wurde im Stall geschlafen, mit den Kindern herumgetollt, in der Sonne gedöst und gefressen. Gelegentlich fühlte der Kater ganz überraschend ihre Augenpaare auf sich gerichtet, und gewöhnte sich an, einen großen Bogen um sie zu machen. Trotzdem ereilte ihn ein häßlicher Schreck… und daran war die MenschenMutter schuld, die manchmal die Schnelligkeit einer Schlange entwickelte. Sie schnappte ihn schwungvoll von seinem Plätzchen auf der warmen Motorhaube des Lieferwagens und vollführte mit ihm im Arm einen ihrer (für sie) vergnüglichen Walzer über den Hof bis hin zum Weißen Tod. Dabei sang sie, wer den nächsten Tanz mit ihr wolle, und ließ ihn wie einen Leckerbissen an der ausgestreckten Hand über die Schnauzen des Weißen Todes baumeln. Als der Kater steif wurde, drückte sie ihn lachend an sich und sagte: »Die tun dir doch nichts, Katerchen. Die sind viel zu gut erzogen. Stimmt’s nicht?« fragte sie, und alle drei sahen mit undurchsichtigem Ausdruck in den schwarzen Knopfaugen zu ihr auf. Die Menschen debattierten über einen weiteren toten Hund eines Nachbarn, der mit einem Kombi auf den Hof gefahren kam. Wieder war die Kehle durchgebissen, stellte der Kater fest, als er nachsehen ging. Es handelte sich um einen großen Golden Retriever, der genug Fleisch auf den Knochen hatte, um eine ganze Kojotenfamilie satt zu kriegen. Sein Körper allerdings war unversehrt; bis auf einen gebro-
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chenen Fuß, wie der Kater entdeckte. Der Hund hatte sich wenigstens gewehrt. Es begann zu regnen, und der Kater machte sich auf den Heimweg; er war nachdenklich und bereute seine Neugier bereits. Er hatte einen langen Weg vor sich und würde naß werden. Schließlich fiel er in eine leichte, kilometerfressende Gangart und nahm eine Abkürzung über ein weites Heufeld. Der Kater hatte gewußt, daß der Retriever ihm nicht grün gewesen war, aber um Katzen zu jagen, hätte er abspecken müssen. Tiefer gehende Überlegungen waren nicht die Stärke des Katers. Schnelle Entscheidungen, das war eher seine Sache. Er verhedderte sich so in seine Gedankengänge, daß er über ein völlig verdattertes Streifenhörnchen fiel und sich beinahe den Fuß gebrochen hätte. Er überschlug hastig die Stunden bis zum Abendessen, sagte sich, zum Teufel damit und jagte nach dem Imbiß. Das Streifenhörnchen hatte Vorsprung und verschwand in einem Loch. Es im Regen auszubuddeln war eine matschige Angelegenheit. Der Kater kehrte ihm gerade den Rücken, als hinter ihm etwas durch die Luft rauschte. Idiot, dachte er, und drückte sich instinktiv platt ins nasse Gras, du hast den Tod verdient. Der Kojote, dem Mond sein Dank, sauste wie der Intercity über ihn weg. Und sein Ende wäre sicher gewesen, hätte es sich um den Vater-Kojoten und nicht um eines seiner plumpen Jungen gehandelt. Nach einem Satz von gut vier Metern landete der Kater schon wieder laufend im Gras und suchte in panischer Hast nach einem Baum, der, wie er aus Erfahrung wußte, auf Heufeldern ausgesprochen selten zu finden war. Idiot, Idiot, Idiot! Der Kojote war keuchend hinter ihm, machte schnell Boden gut, und schrie nach seiner Verwandtschaft. Vor dem Kater lag eine Steinmauer, und dahinter erstreckte sich ein weiteres leeres Heufeld. Er machte einen Satz auf die Mauer und rannte über den Sims. Der Kojote heulte fast vor Freude über die Langsamkeit der Katze und setzte mit eingeknickten dürren Hinterläufen zum Sprung an. Der Kater sah das Loch, auf das er gehofft hatte, und zwängte sich durch die schmale Öffnung zwischen den großen Steinen in eine kleine Höhle, duckte sich, hielt die Luft an, wartete, daß sich sein Herzschlag normalisier-
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te, während sich draußen die Kojotenfamilie frustriert knurrend und heulend versammelte. Rechte Freude an dem Leben, das ihm eben geschenkt worden war, wollte beim Kater in diesem Augenblick nicht aufkommen. Regen tropfte von seinem Rückenfell. Und allein der Mond wußte, wie lange es dauerte, bis das Warten einer Familie von ausgehungerten Kojoten langweilig wurde. Und sie waren tatsächlich halb verhungert, waren nur noch Haut, Knochen und Zähne. Der Kater haßte es, mit nassem Fell zu schlafen. Draußen patrouillierten die Kojoten. Drinnen hörte die Katze ein Zischen und ortete das Geräusch im dunkeln – in einer Ecke lag eine zusammengerollte Schlange. Es reichte ihm. Er fuhr seine Krallen aus, zeigte die Zähne und knurrte: »Verpiß dich, Schuppenkopf!« Die Schlange blinzelte, glitt davon und verschwand wie eine Zunge zwischen den Zähnen in den Steinen. Als der Kater in dieser Nacht nach Hause kam, schwenkte die Menschen-Mutter ihn in die Höhe und hätte ihn beinahe tot gedrückt. »Gott sei Dank! Ich dachte schon, die Kojoten hätten dich erwischt. Sie haben wieder zwei Hunde getötet. Armes Katerchen! Du bist ja ganz naß! Hast du Hunger?« Der Kater gab ihr zu verstehen, daß er Hunger hatte, und die Menschen-Mutter türmte so viel Hühnchen in seinen Napf, daß der alte Pudel Roger angetrabt kam, um nachzusehen, was für ihn übrigblieb. »Da ist für dich nichts drin«, erklärte der Kater kategorisch, und Roger antwortete: »Okay.« Er legte sich hin und sah dem Kater beim Essen zu, was den Genuß nur noch steigerte. Roger lag da mit knurrendem Magen. Seine milchigen Augen glänzten in falscher Hoffnung, und die schwerhörigen Ohren waren auf die Geräusche der Nacht konzentriert. »Kojoten«, erklärte die Katze knapp. »Vier Kilometer.« »Exakt«, log Roger. »Dachte ich mir schon.« Die Katze fraß weiter. Roger stellte die Ohren auf. »Große Eule.« »Exakt.«
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Die PanAm-Linienmaschine New York-Boston flog mit fünf Minuten Verspätung übers Haus. »Lastwagen auf der Holzbrücke«, sagte der Kater. »Exakt.« Die Katze seufzte. »Hör mal, Roger. Tu mir einen Gefallen.« »Und der wäre?« »Geh nachts nicht raus.« »Warum nicht?« »Geh nachts einfach nicht raus.« »Ich mach’ immer nur einen kleinen Spaziergang. Weißt du doch. Ach so! Du meinst, die Kojoten könnten mich erwischen? Vergiß es. Ich gehe nicht weit. Außerdem werden wir doch von den Herrschern der Pyrenäen bewacht.« »Hm.« Der Kater verfügte über kein überwältigend gutes Gedächtnis. Die meisten Tage begannen für ihn immer wieder neu. Häufig erfreute er sich an Entdeckungen wie dem blauen Himmel, den weißen Wolken, Bäumen, ja selbst dem Geschmack des Futters. Die ernsten Dinge des Lebens meisterte er mit Instinkt. Sein Körper duckte sich unter dem Sprung eines Kojoten, was schneller funktionierte als jeder Gedanke. Trotzdem besaß er tiefverwurzelte Erinnerungen – zusätzlich zum Instinkt. Genaugenommen handelte es sich um vier dieser bleibenden Erinnerungen. Eine hatte etwas mit dem Geruch der Menschen-Mutter zu tun, der ihm gelegentlich weiche Knie bescherte. Die übrigen drei galten allesamt Roger. Als kleine Katze hatte der Kater dicht an Rogers hohem Schädel geschlafen und sich an dessen weicher Lockenpracht gewärmt. Stundenlang hatte Roger so vor dem Kamin gelegen, um das Kätzchen nicht zu wecken. Dann eines Tages, er war längst erwachsen gewesen und hatte Roger kaum noch registriert, hatte ihn ein schneller, aggressiver Terrier auf offenem Gelände erwischt, und es hatte übel für den Kater ausgesehen, bis Roger mit markerschütterndem Gebell aus dem Haus gerannt gekommen war; für den Kater war er ein ganz neuer Roger gewesen, einer mit furchterregendem Gebiß und Mordlust in den Augen. Soweit der Kater die Situation beurteilen konnte, befand sich der Terrier bestimmt noch immer auf der Flucht. Die dritte Erinnerung be-
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zog sich auf den reifen Roger. Ein Schlaumeier aus New York, zu Besuch bei den Menschen, hatte die Bemerkung gemacht, wenn sein Zwergpudel über ein Sofa springen konnte, müßte ein ausgewachsener Königspudel wie Roger mindestens die Garage schaffen. Zur Verwunderung des Katers hatte Roger es versucht… zweimal. Und genau das war der Grund, weshalb er sagte: »Roger, wir bleiben heute hübsch zu Hause. Okay?« »Okay. Aber nur heute. Ich brauche meine Gymnastik.« Der Kater saß bei Roger, bis dieser eingeschlafen war, und die Menschen die Tür abgeschlossen hatten. Das dauerte eine ganze Weile, und er kam später los, als er gehofft hatte, doch daran war nichts zu ändern. Er schlüpfte aus dem Haus, benutzte jedoch das Badezimmerfenster im ersten Stock und nicht seine Katzenklappe… für den Fall, daß der Killer die Farm beobachtete. Von der Dachrinne aus verschaffte sich der Kater einen Überblick. Das beleuchtete Haus im Rücken, wartete er, bis sich seine Augen an die Dunkelheit angepaßt hatten. Die Schafe grasten. Er hörte die Kaugeräusche. Der Weiße Tod hatte die übliche Verteidigungsstellung eingenommen. Einer war zwischen Haus und Schafen postiert. Die beiden anderen patrouillierten die Grenzen des Pferchs. Ungefähr alle fünfzehn Minuten konferierte einer mit den beiden anderen, und gelegentlich tauschten sie die Rollen. Einmal schienen sie eine Falle aufzubauen. Zwei Hunde gingen zum Haus, während sich der dritte mit seinem weißen, wolligen Fell zwischen den Schafen verbarg. Vermutlich sollte das die Kojoten zu einer Unbedachtheit verlocken. Aber die Kojoten fielen nicht darauf herein. Der Kater konnte sie mit dem Wind hören. Sie waren mindestens fünf Kilometer weit entfernt. Nach zwei Stunden änderte der Weiße Tod die Taktik. Sie steckten die Köpfe zusammen. Dann verschwand einer von ihnen in der Dunkelheit. Der Kater, der ein exzellentes Gehör besaß, vorausgesetzt er besann sich darauf, hatte gehört, was die Hunde verabredet hatten, und heftete sich an die Fersen des Pyrenäenhundes. Es war der Weiße Tod Zwei, dessen Silhouette der Kater im Lauf zwischen den Bäumen erkannte.
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Zuerst hatte der Kater Mühe, das Tempo mitzuhalten. Der große Hund entfernte sich immer weiter von der Farm und legte eine Geschwindigkeit vor, die der Kater höchstens zwei Kilometer durchstehen würde. Aber er schaffte sogar drei Kilometer, bis das riesige Vieh endlich stehenblieb und die Nase in den Wind hielt. Dankbar erklomm der Kater einen niedrigen Ast, um zu verschnaufen. Eine Minute später schoß der Hund wie ein Pfeil davon. Der Kater hetzte mit pochendem Herzen hinter ihm her. Allmählich kam ihm der Gedanke, daß er auf dem besten Weg war, die einzige Katze Connecticuts zu werden, die je an Überlastung gestorben war. Danach erwog er ernsthaft, die Sache an den Nagel zu hängen. Nach zwei weiteren mühseligen Kilometern kam der Kater zu dem Schluß, daß der dämliche Hund tatsächlich hinter den Kojoten her sein mußte. Die Katze witterte sie und hörte sie. Was der Weiße Tod Nummer Zwei allerdings nicht zu begreifen schien, war, daß die Kojoten umsichtig darauf bedacht waren, ihn nie näher als einen Kilometer weit an sich herankommen zu lassen. Der Kater hatte zwar keine Ahnung, wie man es in Frankreich machte, aber wer in Connecticut eine Familie von Kojoten überraschen wollte, der sorgte tunlichst dafür, daß der Wind gegen ihn stand. Der Kater beschloß, Feierabend zu machen, und lief nach Hause. Das laute Gezeter der Menschen weckte ihn am späten Nachmittag des folgenden Tages, und er reckte seine steifen, schmerzenden Gliedmaßen. Der Nachfolger des Wachhundes auf der Nachbarfarm war getötet worden. Er war ein scharf abgerichteter deutscher Kampfhund gewesen, was den Kater mächtig freute. Da er wußte, daß die Kojotenfamilie und der Weiße Tod Zwei kilometerweit entfernt gewesen waren, reduzierte sich sein Verdacht auf den Weißen Tod Eins und Drei. Andererseits dachte er besorgt daran, was passieren würde, falls er in dieser Nacht den falschen Hund beschattete und Roger spazierenging. Glücklicherweise jedoch war Roger mehr als erschöpft, nachdem er den ganzen Tag der Katze beim Schlafen zugesehen hatte. Das war ein Hobby des Pudels, für das der Kater kein Verständnis aufbringen konnte. Der Weiße Tod hielt sich auch in dieser Nacht an die Strategie des Vorabends, und der Kater heftete sich bald an die Fersen des ausge-
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wählten Jägers. Diesmal war es der Weiße Tod Nummer Eins, der größte der drei Hunde mit einem beeindruckenden Brustkorb. Er verschwand in gemächlichem Tempo in die Nacht, die Katze lief in einer leichten Gangart hinter ihm her. Der Kater war besonders vorsichtig, denn immerhin standen die Chancen 50:50, daß er es mit dem Killer zu tun hatte. Gut einen Kilometer hinter der Farm bog der Hund in ein Wäldchen ab, das an ein Pferdegut mit einem Dobermann Pinscher grenzte. Mittlerweile war es ein neuer Dobermann, da der alte, wie dem Kater jetzt einfiel, eine aufgeschlitzte Kehle hatte. In seinem Eifer kam der Kater zu nahe heran, und eine kritische Sekunde lang blieb der Weiße Tod Nummer Eins stehen und starrte in seine Richtung. Die Katze ahmte die Silhouette einer krüppeligen Schierlingstanne nach. Der Hund lief weiter. Als er den Waldrand erreichte – und das war bereits so nahe an der Farm, daß die Katze das Flüstern der Pferde hören konnte –, legte sich der Hund plötzlich auf den Bauch, riß sein Maul mit den furchterregenden Zähnen weit auf, gähnte und schlief ein. Dem Kater klappte die Kinnlade herunter. Der Weiße Tod Nummer Eins war ein Faulenzer. Er jagte keine Kojoten. Er schlief. Die Katze kletterte auf einen zerzausten Ahorn, machte es sich auf einem Ast bequem und wartete ab. Ungefähr eine Stunde nach Monduntergang stand der Pyrenäenhund auf, lief nach Hause und erzählte dort seinen Kameraden, daß die Kojoten ihn getäuscht hätten. Der Weiße Tod Nummer Drei, der mit dem unheimlichen Leuchten in den Augen, erklärte seine Gefährten verächtlich zu erbärmlichen Versagern. Er wolle, so behauptete er, ein für allemal mit den Kojoten aufräumen. Der Weiße Tod Eins riet daraufhin der Nummer Drei das Maul zu halten, wenn er nicht eins draufbekommen wolle. Beide Hunde standen sich plötzlich steifbeinig und mit gesträubten Nakkenhaaren gegenüber. Und einen wohligen Augenblick lang glaubte der Kater, es würde ein Gemetzel geben. Dann ging der Weiße Tod Zwei dazwischen und erinnerte die Kampfhähne scharf, daß sie den weiten Weg aus einer der besten französischen Ausbildungsstätten gekommen seien, um glänzende Arbeit zu leisten. »Hier geht’s nicht um dich oder mich, sondern um Schafe!« Auch wenn dem Kater der
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Sinn dieser Argumentation nicht einleuchtete, Eins und Drei murmelten beschämt Entschuldigungen und nahmen ihre Patrouillengänge wieder auf. Der Killer ist also Drei, dachte der Kater. Der schlanke, ranke Zwei würde im Leben keinen Kojoten zu fassen bekommen, und Eins mit der Heldenbrust verschlief seine Chancen. Drei hatte eine Schraube locker. Drei raste durch die Gegend und brachte statt Kojoten Hunde um. Weshalb, das wußte der Kater nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Obwohl… falls die Menschen recht hatten, und Hunde und Kojoten nahe verwandt waren, dann bestand immerhin die grauenvolle Möglichkeit, daß Drei sie einfach nicht unterscheiden konnte. Die Menschen waren spät nach Hause gekommen. Der Lieferwagen war noch warm. Der Kater kletterte auf den Reifen unter dem vorderen Kotflügel und aalte sich in der Wärme des noch vibrierenden Motors. Dann kam ihm ein wunderbarer Gedanke. Vielleicht machte der Weiße Tod Drei jahrelang weiter und tötete jeden Hund im Land, während die Menschen die Kojoten dafür verantwortlich machten. Eine äußerst angenehme Vorstellung! Nur, wie war er überhaupt auf das Thema gekommen? Der Kater wurde unruhig. Etwas hatte ihn doch… Gütiger Mond! Roger. Armer, schwerhöriger, dummer alter Roger. Eines Nachts würde der Weiße Tod ihn schnappen. Und der Kater mochte Roger. An den Grund für diese Gefühle konnte er sich im Augenblick nur nicht erinnern. Dämlicher Hund. Er hatte keine Chance. Selbst dann nicht, wenn es stimmte, daß er ein Marinehund gewesen war. Roger behauptete nämlich, zu einer Kommandoeinheit der SEALs gehört zu haben. Speerspitze der Siebten Flotte oder so was Blödes. Der Pudel behauptete, die Schiffsschraube eines U-Boots abgebissen zu haben. Kein Wunder, daß ihm die Zähne aus dem Maul fielen. Trotzdem, gegen den Weißen Tod hatte er nicht den Schimmer einer Chance. Und allmählich dämmerte es dem Kater wieder – der weiche Lockenkopf, der Terrier, die Garage. Der Motor des Lieferwagens sprang mit lautem Dröhnen an. Der Kater sprang hoch, knallte mit dem Kopf unsanft gegen den Kotflü-
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gel und sprang vom bereits rollenden Reifen. Heiliger Mond! Er war eingeschlafen. Hatte gar nicht gehört, daß sie eingestiegen waren. »Paß doch auf die Katze auf!« sagte die Menschen-Mutter. »Soll die blöde Katze doch selbst auf sich aufpassen. Roger, du bleibst hübsch auf der Veranda. Sonst machen die Kojoten Hackfleisch aus dir!« Der Lieferwagen ratterte über die Auffahrt. Kieselsteine spritzten nach allen Seiten und gingen wie ein Regen auf den Kater nieder. Als es wieder ruhig war, lief der Kater auf die Veranda. »Ich bleib’ doch nicht auf der Veranda«, murmelte Roger dort. »Ich mach’ meinen Spaziergang.« »Hm. Ich geh’ mit dir rüber zum Stall und zurück«, verkündete der Kater. »Ne, ne. Ich mache einen richtigen Spaziergang.« Draußen lauerte der Weiße Tod. Nicht unbedingt der richtige Zeitpunkt für einen Spaziergang. »Laß uns zum Schuppen rübergehen.« »Du kannst gehen, wohin du willst, Kater. Ich jedenfalls mache einen Spaziergang.« »Die Kojoten…« »Habe ich dir je erzählt, daß ich bei einer Kommandoeinheit der Marine gewesen bin?« »Jeden Abend. Seit sieben Jahren.« Roger hörte ihn nicht. »Ich nehm’s noch mit jedem Kojoten auf, der sich blicken läßt.« »Und wenn alle fünf auf einmal kommen?« fragte die Katze. Sie wußte, daß es zwecklos gewesen wäre, dem einfältigen Roger das Problem mit dem Weißen Tod Drei auseinanderzusetzen. »Ich hör’ die Bande rechtzeitig und laufe zur Veranda zurück. Und dich nehme ich mit. In Ordnung?« Sie hatten den Schuppen erreicht, und Roger machte keine Anstalten, umzukehren. Der Kater überlegte, was zu tun war, als plötzlich der Weiße Tod Eins hinter einer Futterkrippe hervorsprang. »Na, wo soll’s denn hingehen, Jungs?« »Auf ’nen Spaziergang«, antwortete der Kater. »Zum Schlittschuhlaufen ist es noch nicht ganz die Jahreszeit.«
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»Ich würde mich nicht zu weit wagen«, riet der Weiße Tod Eins. »Wenigstens, bis wir die Kojoten erledigt haben.« Na, darauf können wir lange warten, Schlafmütze, dachte der Kater. »Wir halten Augen und Ohren offen«, sagte Roger und stolzierte an dem großen Pyrenäenhund vorbei. Der Kater bewunderte Rogers Selbstbewußtsein. Er war zwar keine Intelligenzbestie, aber er bewies immerhin Stil, indem er sich von einem dahergelaufenen Ausländer nichts sagen ließ. Der Weiße Tod Eins trabte neben ihnen her. »Na gut. Ich gebe euch Geleitschutz.« »Nicht nötig.« Der Kater dachte daran, daß der Weiße Tod Drei und fünf Kojoten die Gegend unsicher machten, und sagte daher: »Wenn’s dir Spaß macht, bitte.« Und zu seiner Erleichterung blieb der riesige weiße Hund an seiner Seite. Nachdem sie einen guten Kilometer gelaufen waren und geschnüffelt hatten, fragte Roger unvermittelt: »Wer bewacht eigentlich die Schafe?« »Die zwei anderen. Das reicht vollkommen.« Die Gedanken des Katers schweiften in die Ferne. In der mondlosen Nacht war kaum etwas zu sehen. Im Wind witterte er die Kojoten. Und er konnte hören, wie sie sich leise, in etwa drei Kilometer unterhielten. Er spitzte die Ohren nach dem Weißen Tod Drei, nach einem kurzen, schlurfenden Geräusch und einem plötzlichen Tod, wenn der Killer wieder einen Wachhund umbrachte. Solange der Weiße Tod Eins bei ihnen war, waren sie sicher. Drei würde Roger niemals in Anwesenheit von Eins töten. Eins war sehr still geworden. Zuerst hatten sich Roger und er angeregt unterhalten, hatten Kriegserlebnisse ausgetauscht. Roger hatte über Eskapaden im Mittelmeerraum gequasselt, und Eins hatte von der Wolfsjagd geprahlt. Schließlich hatte Eins durchblicken lassen, daß die Kojoten für sie ein Kinderspiel seien. Immerhin hätten sie es sonst mit richtigen Wölfen zu tun. »Weshalb sind die Kojoten dann noch da?« hatte der Kater wissen wollen, und danach war Eins sehr still geworden. Auf einer kleinen Lichtung waren sie schließlich stehengeblieben. Die Katze hörte seltsame Geräusche. Sie kletterte auf eine Birke, um sie besser ein-
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ordnen zu können. Es waren die Kojoten. Und sie waren mittlerweile nur noch zwei Kilometer entfernt. Sie flüsterten erregt miteinander. Der Kater kletterte höher, bis er die Unterhaltung verstehen konnte. »Wieder der weiße Hund. Der dämliche. Der mit den verrückten Augen.« Drei, dachte der Kater. Der mit den verrückten Augen war Nummer Drei. Der, der Kojoten jagte, anstatt Hunde umzubringen. Was, beim Mond, ging da vor? »Wenn dieser Idiot mit den verrückten Augen je draufkommt, uns gegen den Wind anzugreifen, sitzen wir im Dreck«, sagte die Mutter mißmutig. »Ich hätte Lust, ihm den Kopf abzureißen, bevor er’s kapiert.« »Es gibt einfachere Methoden, an Futter zu kommen, mein Sohn. Also gehen wir. Legt Spuren!« »Verdammt. Wo ist der mit der Heldenbrust?« Der mit der Heldenbrust mußte Nummer Zwei sein. »Der schiebt auf der Farm Wache.« »Und die Schlafmütze?« »Die schläft vermutlich.« »Spurenlegen, habe ich gesagt. Lauft flußabwärts!« Die Katze sah von ihrem Ast zum Boden hinunter. Roger saß auf den Hinterläufen und starrte lächelnd in die Dunkelheit. Offenbar hatte er das Geschwätz der Kojoten für einen Lieferwagen gehalten. Der Weiße Tod Nummer Eins stand hinter ihm und wedelte gemächlich mit dem Schwanz. Und er sah kein bißchen schläfrig aus. Der Kater war mit einem Satz vom Baum und landete unsanft auf allen vieren. »Gehen wir nach Hause, Roger«, erklärte er. »Augenblick noch.« »Viele Zweikämpfe gehabt bei der Marine?« fragte Nummer Eins. Roger sah ihn an. »Nein.« Er bewegte die Kinnladen und versuchte mit der Zunge einen lockeren Zahn zu lösen. Der Kater hörte, wie die Kojoten durch das Flußbett planschten, das in gut dreihundert Meter Entfernung parallel zu dem Wildpfad verlief, auf dem sich der Kater mit den beiden Hunden befand. Der Kater horchte angestrengt. Nummer Drei entfernte sich weiter. Er
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suchte die Kojoten wieder in der falschen Richtung. Man konnte sich über diese französischen Meisterschüler wirklich nur wundern. Der Kater trat unauffällig näher zu Roger und rieb sich an dessen Vorderlauf. Dabei flüsterte er leise: »Roger, dieser Hund ist ein verrückter Killer. Er hat sämtliche Hunde der Nachbarschaft erledigt, und jetzt bist du an der Reihe.« »Was hast du gesagt? Was brabbelst du da?« Der Blick des Katers schweifte zu Nummer Eins, dessen Schwanz rhythmisch hin und her schlug. Der Weiße Tod sah auf die Katze herab. Du weißt, daß ich’s weiß, du Mistvieh, dachte die Katze. Du hast mich heute nacht bemerkt. Du hast nur so getan, als ob du schläfst. Der Kater versuchte Roger eine weitere Warnung zuzuflüstern. »Warum gehst du nicht endlich nach Hause, du hinterhältiges Katzenvieh!« knurrte Nummer Eins. »Laß den Kater in Ruhe«, mahnte Roger sanft. »Er kann nichts dafür.« »Was, bitte, soll das denn heißen?« forderte der Kater. »Verdufte, solange noch Zeit ist!« entgegnete Nummer Eins. »Laß den Kater in Ruhe«, wiederholte Roger, stand auf und baute sich vor dem großen Pyrenäenhund auf. Dieser Pudel ist wirklich dämlich, dachte der Kater. Er riskiert tatsächlich meinetwegen sein Leben. Wofür hält er diesen Killer? Für Kaugummi? »Roger«, sagte der Kater laut. »Ich lauf mal rasch zum Fluß runter. Ich bin durstig. Kommst du mit?« »Ich warte lieber hier.« »Komm bitte mit. Ich seh’ im dunkeln so schlecht.« Roger lachte. »Du hast doch Augen wie eine Katze! Schon gut. Ich komme ja.« Sie verschwanden im Gestrüpp. Der Kater lief geschmeidig voraus. Der große Pyrenäenhund heftete sich dicht an ihre Fersen. Der Wind stand noch immer gegen sie, doch der Winkel war flacher geworden. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis die Kojoten die Witterung des Hundes aufnehmen würden, oder der Weiße Tod umgekehrt die Kojoten hören mußte. Für den Kater hieß es, jetzt oder nie.
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Er rannte zum Fluß und das Flußbett hinauf, indem er von Stein zu Stein sprang. Hinter einer Biegung sah er sich plötzlich den goldgelben, hungrigen Augen eines Kojoten gegenüber. »Deine Mutter treibt’s mit Hunden!« Damit machte der Kater auf der Hinterpfote kehrt und raste flußabwärts den Weg zurück, den er gekommen war. Jaulend setzten die Kojoten ihm nach. Die Kojoten-Mutter überholte ihren Gefährten und die Söhne und schrie: »Ich hole mir deine Leber, Katze!« Der Kater schlitterte von bemoosten Steinen zu glitschigem Treibholz, landete schließlich auf kühlen, nassen Kieseln, jagte die Uferböschung hinauf und prallte beinahe gegen Roger, den der große Pyrenäenhund in die Enge getrieben hatte und der jetzt mit dem Rücken zu einem Baum stand. Der Kater bemerkte zufrieden, daß die Instinkte des alten Pudels noch soweit intakt waren, daß er sich Rückendeckung in Form eines Baumes verschafft hatte. Davon abgesehen machte er einen hilflosen, völlig verwirrten Eindruck. Er schien nicht begreifen zu wollen, daß der Weiße Tod Nummer Eins ihm an den Kragen wollte. Mit peitschendem Schwanz setzte der große Pyrenäenhund zum Sprung an. Er war so berauscht von seiner Lust zu Töten, daß er die Kojoten erst hörte, als diese auf die Lichtung stürmten. Einen endlosen Augenblick lang rührte sich keiner. Dann sprang der Kater auf Rogers Rücken und zischte: »Spring!« Und damit grub er die Zähne in das Fell des Pudels. Roger sammelte seine morschen Knochen und sprang. Tatsache war, daß er vor der Garage gar keine so schlechte Figur gemacht und schon beim zweiten Versuch die Dachrinne erreicht hatte. Der Kater hatte den Eindruck, daß er diesmal die Garage glatt übersprungen hätte, wenn eine im Wald gestanden hätte. Er schnellte jedenfalls so hoch und so weit, daß der Kater beinahe heruntergefallen wäre. Er rettete sich nur mit Hilfe seiner Krallen, was Roger zu einem zweiten Satz veranlaßte, womit der Weiße Tod Nummer Eins sich auf der Waldlichtung endgültig allein fünf wütenden Kojoten gegenübersah. Der Kater hätte sich das Gemetzel gern angesehen, aber er befürchtete, Roger könnte sich verlaufen und unfreiwillig an den Ort der
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Gefahr zurückkehren. Der Kater blieb daher auf dem Posten und lenkte den alten Pudel mit Zwicken heimwärts, was ihm auch kein geringes Vergnügen bereitete. Nummer Zwei und Drei waren vor dem Haus. Die Katze wartete, daß das Schlachtgetümmel leiser wurde. »Euer Partner hat gesagt, er braucht Hilfe. Er ist auf dem Wildpfad. Gut drei Kilometer von hier. Einer von euch soll gleich kommen, der andere fünf Minuten später.« Der Pyrenäenhund mit den irren Augen stürmte in die Dunkelheit. Drei Minuten später folgte ihm der mit der Heldenbrust. »Habe ich gar nicht gehört«, keuchte Roger und sank erschöpft auf die Veranda. »Wenn wir Glück haben, gibt es morgen nur noch einen Pyrenäenhund und keine Kojoten mehr.« »Aber ich habe gar nicht gehört, daß er das gesagt hat.« »Vielleicht hast du’s nicht mitgekriegt, weil der Zug gerade vorbeigefahren ist.«
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Besuch für Mombasa James Holding Sergeant Harper von der Polizei in Mombasa träumte mit offenen Augen von Rebecca Conway, als sein Telefon klingelte. Er streckte einen langen Arm nach dem Apparat auf seinem Schreibtisch aus. »Ja?« »Hier Constable Jenkins, Sir. Küstenbezirk.« »Was gibt’s, Jenkins?« »Ich habe da eine komische Meldung, Sir. Vermutlich ein Windei, aber man kann ja nie wissen.« Jenkins war neu auf dem Posten und wollte natürlich auf Nummer Sicher gehen. »Also was gibt’s?« wiederholte Harper. »Es handelt sich um einen gewissen Crosby, Sir. Er arbeitet am Ende der Straße, die über den Damm führt. Als Nachtwächter. Und er behauptet, daß in der Nacht – oder eher heute morgen – kurz vor Sonnenaufgang ein Leopard über die Chaussee in die Stadt gelaufen ist.« »Ein Leopard?« Harpers Stimme drückte Erstaunen aus. »Richtig, Sir.« Jenkins wartete respektvoll auf Harpers Reaktion. Diese kam prompt. »Der Bursche muß betrunken gewesen sein.« »Dachte ich auch, Sir.« Und Jenkins fuhr besorgt fort: »Crosby gibt zwar zu, daß er während der Nachtschicht ein paar Bier getrunken hat, aber er schwört, daß er ’nen Leoparden gesehen hat. Angeblich ist das Tier ganz dreist vom Festland über die Straße auf dem Damm in Richtung Stadt getrottet. Crosby hat zwar die Fellzeichnung der Großkatze nicht sehen können. Dazu war’s zu dunkel. Aber er ist sicher, daß es ein Leopard war.« »Bei mir ist noch keine ähnliche Meldung eingegangen«, erwiderte Harper. »Und wenn hier ein Leopard frei rumlaufen würde, hätten wir schon Anrufe gekriegt. Trotzdem danke, Jenkins. Ich gehe der Sache nach.« Damit legte er auf. Harper lehnte sich auf seinem Schreibtischsessel zurück. Er verfluchte die stickige Hitze in seinem engen Büro und die Leichtgläubigkeit der Polizeirekruten. Ein Leopard in Mombasa! Er schnaubte verächtlich. Natürlich lagen der Tsawo, der Nairobi und der Amob-
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seli Nationalpark nicht weit entfernt. Aber trotzdem! Alles Unsinn! Er versenkte sich lieber wieder in seine Träumereien von der blonden skandinavischen Schönheit, der Frau von Lieutenant Conway. Zehn Minuten später klingelte sein Telefon erneut. Der diensthabende Beamte in der Telefonzentrale sagte: »Da ruft eine Lady wegen eines Leoparden an, Sir. Sie besteht darauf, mit einem leitenden Offizier zu sprechen.« Harper stöhnte. »Stellen Sie durch.« Die Lady, eine Mrs. Massingale, berichtete, sie habe bei Tagesanbruch an diesem Morgen ein Tier gesehen und sei ganz sicher, daß es sich um einen Leoparden gehandelt habe. »Wo?« erkundigte sich Harper. »Hier mitten in Mombasa, Sergeant!« erwiderte Mrs. Massingale empört. »Das mindeste, was man in diesem gottverlassenen Nest erwarten kann, ist, daß man wilde Tiere von der Straße holt!« »Ich meinte, wo in Mombasa haben Sie den Leoparden gesehen?« entgegnete Harper übertrieben geduldig. »Auf der alten Eisenbahnstrecke am Mbaraki Creek. Unser Haus liegt nur gut fünfzehn Meter hinter den Gleisen. Bei Tagesanbruch heute morgen habe ich zufällig durch ein rückwärtiges Fenster geschaut. Da trabte dieser schwarze Schatten die Schienen entlang. Für einen Augenblick habe ich ihn genau gesehen. Es war ein Leopard.« »Danke für den Hinweis, Mrs. Massingale«, sagte Harper. »Ich kümmere mich umgehend um die Angelegenheit.« »Ja, tun Sie das!« Damit fiel am anderen Ende der Hörer krachend auf die Gabel. Harper grinste. Zwei Hinweise. Möglich, daß sich doch ein Leopard in Mombasa herumtrieb. So unwahrscheinlich das auch klingen mochte. Harper stand auf. Er war ein großer, kräftiger Mann mit einem dichten schwarzen Schnurrbart, der seine Enttäuschung über das Leben offen zur Schau trug. Eine Enttäuschung, die bei einem Mann seines Typs durchaus verständlich und auch leicht erklärbar war. Harper war erst spät in den Polizeidienst eingetreten, nachdem er viele Jahre lang als weißer Großwildjäger im ehemals britischen Tanganjika gelebt hatte. Nach der relativen Berühmtheit, die er dort gewesen war, fristete er mitt-
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lerweile das Dasein eines einfachen Polizei-Sergeants, der den Anordnungen eines Lieutenant Conway zu gehorchen hatte. Conway war ein ziemlich spießiger Mann, zehn Jahre jünger als Harper, und zu allem Übel mit der schönsten Frau von ganz Mombasa verheiratet. Harper machte zwei Schritte und stand bereits dicht vor dem Stadtplan von Mombasa an der Wand seines Büros. Ein Leopard kurz vor Sonnenaufgang an der Straße, die über den Damm führte… Harper legte eine Fingerspitze auf die Stelle. Dann ein Leopard bei Tagesanbruch auf den Eisenbahngleisen am Mbaraki Creek. Er legte den zweiten Finger auf diesen Punkt und betrachtete abschätzend die Entfernung. Ja, entschied er schließlich. Das war durchaus möglich. Er war plötzlich guter Laune. Auf Leoparden verstand er sich. Das war gewohntes Terrain für ihn. Den Blick auf die Wandkarte gerichtet, versuchte er, sich in die gefleckte Großkatze hineinzuversetzen, zu denken, wie der Leopard denken mochte, die Handlungen des mordlustigen Tieres vorauszusehen, das er von zahllosen Safaris her so gut kannte. Angenommen, so überlegte er, der Leopard war rein zufällig aus einem der nahe gelegenen Wildreservate entkommen. Der überraschende Anblick einer langen, einsamen und angenehm dunklen Brücke, mochte den Leoparden so neugierig gemacht haben, daß er sich auf die Straße gewagt hatte. Nachdem er einmal diesen Weg eingeschlagen hatte, hatte ihn vielleicht die Witterung der Rinderverschläge am Hafen hungrig gemacht und weiter getrieben. Harper konnte sich lebhaft vorstellen, wie der lautlose Jäger vorsichtig die Straße über den Damm entlang geschlichen war. Seine Nase hatte beim Gestank nach Diesel und Abfall angewidert gezuckt, die sich in den Geruch der Rinder über dem Kilindini-Hafen gemischt hatten. Nachdem er die Brücke wohl überquert und keinen direkten Weg zu den Rindern, die ihn lockten, gefunden hatte, war das Raubtier angesichts der seltsamen Ausdünstungen einer großen Stadt bestimmt verwirrt und ängstlich geworden. Der Wunsch, auf dem für ihn fremden Terrain Schutz und Deckung zu suchen, hatten vermutlich über Neugier und Hunger die Oberhand gewonnen.
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Der Leopard, so überlegte Harper, mußte sich instinktiv von der gefährlich offenen weiten Schlucht der Makupa Road abgewandt und Zuflucht auf dem vergleichsweise geschützten Terrain der stillgelegten Eisenbahnstrecke gesucht haben. So hatte er sich vermutlich vorsichtig über die Schwellen durch das Industrieviertel der Stadt bis zum Mbaraki Creek gepirscht. Beim Betrachten der Karte schien die Folgerung nur logisch, daß die Großkatze auf dem Steilufer am Azania Drive gelandet sein mußte; sicher mit wunden Pfoten und dem angesichts der immer höher stehenden Sonne bis zur Panik gesteigertem Wunsch nach Deckung. Azania Drive. Harper versuchte, sich die Örtlichkeit in Erinnerung zu rufen. Der Abschnitt, wo die Eisenbahnstrecke die breite Straße kreuzte, war eine eintönige und einsame Gegend. Hier mäanderte der Verkehrsweg an der Steilküste entlang und führte an einem arabischen Wachturm vorbei. Dieser Teil hatte kaum Ähnlichkeit mit dem mondänen Abschnitt des Azania Drives, der Ausblicke auf Meer, Oceanic Hotel, den Golf-Club und zahlreiche herrschaftliche Villen bot. An der besagten Stelle des Azania Drives, über der Fähre, stand eine Gruppe von Baobab-Bäumen, die dem Seewind trotzten. Bei diesem Gedanken nickte Harper unwillkürlich. Er war aufs äußerste konzentriert und dachte mit seltsamer Erregung daran, daß das dichte, verzweigte Blätterdach der Baobab-Bäume dem völlig verängstigten Leoparden ein willkommenes Versteck bieten mußten. Harper wandte der Karte den Rücken zu. Sein nächster Schritt war klar. Constable Gordon, der Bereitschaft hatte, mußte den Auftrag erhalten, sich umgehend bei den Baobab-Bäumen am Azania Drive nach einem Leoparden umzusehen. Gordon würde die Aktion als willkommene Abwechslung nehmen und war, wie Harper wußte, ein ausgezeichneter Schütze. Nach der äußerst stimulierenden Gedankenakrobatik zögerte Harper jedoch, die Angelegenheit aus der Hand zu geben, solange er das Wild noch nicht selbst in Augenschein genommen hatte. Beim eigentlichen Abschuß brauchte er nicht dabeizusein, sagte er sich. Auf Safari hatte er den Fangschuß stets seinen Kunden überlassen. Daran war er gewöhnt. Aber er wollte das Ziel der Jagd zweifelsfrei identifiziert haben, bevor er einen anderen zum Schuß kommen ließ. Abgesehen von seinen bis dahin erfolglosen
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Bemühungen, Rebecca Conway dazu zu verleiten, ihren Mann zu betrügen, war diese Stadtjagd nach einem Leoparden das Aufregendste, was Harper seit seinem Eintritt in den Polizeidienst erlebt hatte. Er griff nach seiner Uniformmütze, nahm den Feldstecher aus dem Regal und ging in den Bereitschaftsraum. »Bin in ein paar Minuten zurück, Gordon«, verkündete er im Vorbeigehen. »Sie übernehmen das Kommando, bis Lieutenant Conway da ist, ja?« Conway erschien nie vor neun Uhr morgens im Dienst. Aber wer sollte ihm daraus schon einen Vorwurf machen? dachte Harper neidvoll. Hielt ihn doch sicher die schöne Rebecca bis zum letzten Augenblick zu Hause. Harper fühlte, wie ihm der Schweiß aus den Poren trat, kaum daß er das Polizeihauptquartier verließ und über den Hof ging. Er bestieg eines der beiden Dienstfahrzeuge, die dort parkten, einen Landrover. Als er aus dem Hof fuhr und in Richtung Azania Drive abbog, hatte die Sonne den Fahrersitz bereits derartig aufgeheizt, daß ihm die Polster durch die Hose hindurch die Haut zu versengen drohten. Harper parkte den Landrover gut hundertfünfzig Meter von der Baobab-Gruppe am Azania Drive entfernt am Straßenrand und ging langsam auf die Bäume zu. Das Fernglas hatte er umgehängt. Es war erst kurz vor acht Uhr. Auf dem Azania Drive herrschte kaum Verkehr. Er wartete, bis die Fahrbahn beidseitig leer war, dann trat er vom Asphalt auf das weiche Gras, das die Straße auf der dem Meer abgewandten Seite wie ein abgetretener Teppich säumte und die gut viertausend Quadratmeter große Fläche unter den Bäumen vollständig überdeckte. Vorsichtig näherte sich Harper den Bäumen bis auf dreißig Meter. Dann blieb er stehen, hob das Fernglas an die Augen und betrachtete aufmerksam das weitverzweigte Astwerk und die dichten Blätter der Baobabs. Er entdeckte nichts, was auch nur entfernt ein Leopard hätte sein können. Nach fünf Minuten überquerte er die Straße in respektvollem Abstand zu den Bäumen und ging fünfzig Meter weiter zu einer Stelle, von der aus er die Baobab-Gruppe aus einem anderen Blickwinkel betrachten konnte. Bedächtig langsam richtete er das Glas auf einen Baum nach dem anderen und vermochte seine wachsende Enttäu-
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schung darüber, daß er nicht fand, was er suchte, kaum noch zu unterdrücken. Er hatte das Glas auf den letzten der Bäume gerichtet, auf einen knorrigen Riesen, der dichter an der Straße stand, als seine Nachbarn… als er mit einem Gefühl, das einem elektrischen Schock gleichkam, durch die vergrößernden Objektive des Feldstechers geradewegs in ein Paar mitleidslose, gelbe Augen starrte, die körperlos zwischen den sonnenbefleckten Blättern des Baumes zu stecken schienen. Harper entfuhr ein leiser Ausruf, der teils die Bewunderung für diese herrliche Raubkatze ausdrückte, deren böser Blick ihn gefangenhielt, teils die Genugtuung darüber artikulierte, daß ihn seine Hartnäckigkeit den Leoparden hatte finden lassen. Er prägte sich den Baum und die Position des Leoparden sorgfältig ein. Dann kehrte er zum Landrover zurück und fuhr leise pfeifend davon. Er ärgerte sich beinahe, das Polizeihauptquartier ohne sein Gewehr verlassen zu haben. Allerdings rechtfertigte er seine Nachlässigkeit damit, daß er kaum eine Chance gesehen hatte, den Leoparden bei den Baobab-Bäumen zu finden. Trotzdem war die Raubkatze dort gewesen. Harper war in Feierlaune. All seine Frustrationen schienen vorübergehend vergessen. Er hatte Erstaunliches vollbracht… hatte allein mental einen wilden Leoparden in einer großen Stadt aufgespürt. Seine Stimmung war nahezu überschwenglich. Das ist es, was ich wirklich kann, überlegte er. Und das ist, was ich immer wollte… nicht auf einem miesen Polizeiposten versauern, sondern mit wilden Tieren arbeiten, irgendwie und irgendwo, auf freier Wildbahn, die Tiere aufspüren und töten, oder sie vor dem Aussterben bewahren, solange die Aufgabe nur sinnvoll ist, ja, gefährlich ist. Es war ein fataler Fehler gewesen, die Jagd auf Tiere gegen die Jagd auf Menschen einzutauschen. Wenn er Rebecca Conway überreden könnte, mit ihm zu gehen, würde er Mombasa noch morgen verlassen… ob nach Nairobi, Uganda, Australien, Indien, Alaska, überallhin würde er sie mitnehmen, wo sie außer Reichweite von Rebeccas unerträglichem Mann waren.
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Ein dutzendmal hatte er sie gebeten, diesen Idioten zu verlassen, um mit ihm irgendwo anders ein neues, freies Leben zu beginnen. Rebecca allerdings quittierte sein Drängen stets nur mit einem Lächeln, küßte ihn dann meist geschwisterlich auf die Wange, nannte ihn einen Don Juan, der in die Jahre käme (dabei war er erst einundvierzig!), und meinte, der Spatz in der Hand sei ihr lieber als die Taube auf dem Dach. Natürlich fühlte sie sich angesichts seiner Leidenschaft für sie geschmeichelt, aber sie liebte ihr sorgloses Leben an der Seite von Conway in Mombasa zu sehr, um es leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Harper beschloß, auf dem Rückweg zum Polizeihauptquartier die längere Route durch das Stadtzentrum zu nehmen. Das ließ ihm noch etwas mehr Zeit, seinen Erfolg mit dem Leoparden auszukosten, die Vorfreude auf jenen Augenblick der Erregung zu genießen, in dem der exakt vorbereitete Schuß abgefeuert wurde, der Mombasa von seinem gefährlichen Besucher im Baobab-Baum befreien sollte. Ob der Leopard nun fünfzehn Minuten früher oder später sein Ende fand, konnte niemanden stören. Der Leopard saß in sicherer Entfernung von der Straße auf einem Baum. Er hatte Angst, war gereizt und hungriger als zuvor, stellte jedoch nach Harpers Erfahrung keine Gefahr für die Passanten auf dem Azania Drive dar; vorausgesetzt, es kam keiner seinem Baum zu nahe. Dabei fiel ihm automatisch die Warnung ein, die er stets an seine Safariteilnehmer weitergegeben hatte: nämlich, nie zu vergessen, daß ein Leopard auf einem Baum, wenn er hungrig, verängstigt oder verwundet war, alles attackierte, was sich unter seinem Versteck bewegte. Aber weshalb sollte sich jemand dem Baobab nähern? Harper war die einzige Person in der Stadt, die ein Interesse an der Baumgruppe hatte. Als Harper am Mombasa Club vorbeifuhr, kamen die imposanten Zinnen des Fort Jesus über der Blütenkulisse der Flamboyant-Bäume in Sicht. In der Mitte des Kreisverkehrs blinkte die Büste von König Georg in der Sonne und schien ihm zuzuzwinkern. Harper bog in die Prince Albert Street ein. Obwohl er nur sein Gewehr aus dem Büro holen und sofort wieder abfahren wollte, parkte er den Landrover im Hof des Polizeihaupt-
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quartiers und nicht auf der Straße. Er beachtete damit eine von Lieutenant Conways unsinnigen Anordnungen, die Straße vor dem Polizeihauptquartier unter allen Umständen freizuhalten, damit die Fahrzeuge der Feuerwehr nicht behindert wurden, falls ein Feuer ausbrechen sollte. Der Gedanke an Lieutenant Conway und damit automatisch auch an Rebecca erwies sich als ernüchternd. Die durch den Leoparden verursachte Hochstimmung, in der er noch Minuten zuvor geschwelgt hatte, hatte sich schlagartig in graue Depression verwandelt, als er sein Büro betrat. Das spannende Spiel mit dem Leoparden hatte plötzlich seinen Reiz verloren. Falls Rebecca ihn erneut abweisen sollte, so schwor Harper sich, würde er den Job hinwerfen und weggehen… auch ohne sie. Harper schloß seinen Waffenschrank auf und betrachtete seine alten Gewehre. Er hatte sie bei der letzten Safari fünf Jahre zuvor zum letzten Mal benutzt. Es war ein besonderes Entgegenkommen von Lieutenant Conway gewesen, ihm zu erlauben, seine eigenen Waffen zu behalten. Jetzt war Harper froh darüber. Er steckte Munition ein, schloß den Gewehrschrank wieder ab und war schon auf dem Weg zur Tür, als das Telefon klingelte. Gereizt machte er vor seinem Schreibtisch halt und riß den Hörer von der Gabel. »Ja?« »Da möchte jemand den Lieutenant sprechen«, sagte der Mann in der Telefonzentrale. »Dann geben Sie ihm den Lieutenant!« fuhr Harper ihn patzig an. »Der Lieutenant ist noch nicht da, Sir«, erwiderte der Constable zerknirscht. Harper warf einen Blick auf die Uhr. Es war noch nicht neun Uhr. »Und wer ist der Anrufer?« »Das will er nicht sagen, Sir. Behauptet, es sei streng vertraulich und dringend. Ein Eingeborener, vermute ich. Er spricht Suaheli.« »Stellen Sie ihn durch.« Die männliche Stimme am anderen Ende klang leise und sehr jung. »Wer ist da?« fragte sie. »Sergeant Harper«, antwortete Harper. »Lieutenant Conway ist nicht da. Was wünschen Sie?«
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»Die Belohnung, Sir«, flüsterte die jugendliche Stimme. »Die Belohnung, die der Lieutenant ausgesetzt hat.« »Welche Belohnung?« »Für Pfeilgift, Sir. Für die Namen von Wakamba-Medizinmänner, die noch Pfeilgift herstellen, obwohl’s jetzt verboten ist.« »Ach so.« Harper erinnerte sich, daß Conway seit Monaten die Wakamba-Medizinmänner zu finden versuchte, die noch immer Pfeilgift herstellten und damit der Massentötung von Wild in den Reservaten Vorschub leisteten. Das Pfeilgift der Wakambas wurde aus Baummark hergestellt. Es roch wie Lakritze und verfärbte die Pfeilwunde schwärzlich. Außerdem konnte man damit einen Elefantenbullen innerhalb von fünfzehn Minuten töten. »Und… hast du die Belohnung verdient?« fragte Harper. »Ja, Sir. Ich habe zwei Namen für Lieutenant Conway.« »Und die wären? Ich richte es dem Lieutenant gern aus.« »Ohne Belohnung keine Namen«, entgegnete der junge Wakamba. »Erst wenn gezahlt wird.« Harper grinste. »Du traust uns nicht, was?« Der Junge am anderen Ende sagte nichts. »In diesem Fall, bekommst du zuerst die Belohnung. In Ordnung? Wie heißt du?« »Ich habe keinen Namen«, wehrte die junge Stimme förmlich ab. »Ich riskiere Kopf und Kragen, um dem Lieutenant diese Information zukommen zu lassen, Sir. Meine Leute bringen mich um, wenn sie davon erfahren.« Harper änderte die Taktik. »Von wo aus rufst du an?« »Ich bin im Golden Key.« Harper kannte den Golden Key. Es war eine üble Bar auf der anderen Seite der Nyalla Bridge. Man nannte sie im Volksmund die »Gespenster-Kneipe«, weil sich dort Eingeborene als Gespenster verkleideten, um Gäste zu erschrecken. »Bist du da angestellt?« »Nein, Sir.« Harper wog sein Gewehr in der Hand. Es drängte ihn, endlich zu dem Leoparden zu kommen. »Wie soll ich dir die Belohnung zukommen lassen, wenn du mir nicht sagst, wer du bist?«
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»Ganz einfach, Sir. Ich treffe mich mit dem Lieutenant. Rein privat. Er bringt mir die Belohnung. Und ich verrate ihm die Namen der Giftmischer.« Harper dachte einen Moment nach. »Und wo willst du ihn treffen?« »Dort, wo kein Wakamba mich mit einem Polizisten sehen kann.« Das war klar und einfach. »Wann?« wollte Harper wissen. »Auf jeden Fall heute. Wenn möglich, heute morgen. Ich brauche das Geld dringend, Sir. Andernfalls…« Er verstummte. Die Verzweiflung in seiner Stimme war nicht zu überhören gewesen. »Also gut«, antwortete Harper. »Ich komme und übergebe dir die Belohnung. Der Lieutenant ist nämlich nicht da. Wieviel hat er dir versprochen?« »Zehn Pfund, Sir.« Er klang jetzt sehr eilfertig. »Wo treffe ich Sie?« Die schlichte Frage des Wakamba-Jungen schien in Harper unaufhörlich und seltsam eindringlich widerzuhallen; und im selben Augenblick war die Idee geboren, und sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Er sank auf seinen Schreibtischstuhl, das Gewehr auf dem Tisch mit einer Hand fest umklammert. Dann holte er tief Luft und erwiderte: »Kennst du den alten arabischen Wachturm, Junge? Den unterhalb des Azania Drive in der Nähe der Fähre?« »Ja, Sir.« »Ich bin in einer Stunde dort. Ich oder Lieutenant Conway, falls er vorher noch auftaucht. Schaffst du es bis dahin in einer Stunde?« »Ja. Aber ich darf auf keinen Fall gesehen werden, Sir. Auf dem Azania Drive ist viel los. Können wir uns nicht in einer einsameren Gegend treffen?« »Dort ist es einsam genug«, entgegnete Harper schroff. »Du meidest am besten den Azania Drive und kommst vom Strand unterhalb der Steilküste her. Dann sieht dich niemand. Am Turm ist sowieso nie jemand.« »Also gut«, hauchte die jugendliche Stimme. »Ich bin dort, Sir. In einer Stunde.«
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»Gut.« Harpers Hand am Gewehrkolben war feucht geworden. Nachdem er aufgelegt hatte, rieb er die Handflächen an seiner Uniformjacke trocken. Er sah erneut auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach neun. Conway war an diesem Morgen später dran als sonst. Er stand auf und stellte das Gewehr in den Schrank zurück. Dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und verschanzte sich hinter einem Stapel von Berichten, bis er Lieutenant Conways pedantische Stimme im Bereitschaftsraum hörte. Harper wartete, bis Conway in sein Büro gegangen war und klopfte an. »Morgen, Sergeant«, schnarrte Conway. »Was gibt’s?« Harper berichtete vom Anruf des jungen Wakamba, der seinen Namen nicht hatte preisgeben wollen. »Aber da Sie jetzt hier sind, Sir«, schloß er wie beiläufig, »möchten Sie sich vermutlich persönlich mit dem Jungen treffen. Schließlich ist das sozusagen Ihr Baby.« »Natürlich.« Conway rieb sich genüßlich die Hände. Harper empfand die Selbstgefälligkeit des Mannes als ausgesprochen ärgerlich. Conway war in bester Stimmung, und seine hohe Stimme klang beinahe schrill vor Vergnügen, als er fortfuhr: »Der schlaue Junge will also zwei Namen preisgeben, was? Da können wir unser Image tüchtig aufpolieren, Sergeant, wenn es uns gelingt, diese PfeilgiftGeschichte aufzuklären. Und wo soll ich ihn treffen?« »Am arabischen Wachturm unterhalb des Azania Drive«, erwiderte Harper seelenruhig. »Dort ist es einsam. Der Junge hat panische Angst davor, gesehen zu werden. Außerdem ist der Turm von uns aus schnell zu erreichen. Sie kennen die Stelle?« »Selbstverständlich. Da haben Sie eine ausgezeichnete Wahl getroffen, Sergeant. Ich bin in fünfzehn Minuten dort und wieder zurück, und es werden keine unnötigen Steuergelder verschleudert, was? Außerdem gibt es einen Pfad über die Klippen zum Turm, wenn mich nicht alles täuscht, oder?« »Richtig, Sir. Sie können den Wagen bei den Baobab-Bäumen am Azania Drive stehenlassen, und direkt unter den Bäumen hindurch zum Klippenrand gehen.« »Ich darf nur das Geld des Jungen nicht vergessen. Wann haben Sie ihm gesagt, daß ich dort bin?«
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»So bald wie möglich. Er wollte die Sache schnell hinter sich bringen. Er behauptet, viel zu riskieren.« »Dann mache ich mich sofort auf den Weg.« Lieutenant Conway stand auf. »Übernehmen Sie das hier, Sergeant.« Damit stolzierte er aus dem Zimmer und rief dem Kassierer herrisch zu, er brauche umgehend zehn Pfund aus der Kasse. Das war um zwanzig Minuten nach neun. Um Viertel nach zehn kam der Anruf. »Gerade hat ein Autofahrer vom Azania Drive angerufen, Sir«, meldete der Mann in der Telefonzentrale. »Er behauptet, daß er im Vorbeifahren unter einem Baum einen blutüberströmten Mann habe liegen gesehen. Er hat angehalten und wollte helfen. Aber er hat schon auf fünfzehn Meter Entfernung gesehen, daß der Mann tot ist, und uns angerufen.« »Tot?« Harper zwang sich zur Ruhe. »Wie kann er das aus fünfzehn Metern Entfernung so sicher sagen?« »Von dem Gesicht des Mannes war nichts mehr übrig, Sir«, antwortete der Constable abgebrüht. »Es ist angeblich nur noch ein blutiges Bündel. Der Mann meint, es sähe beinahe so aus, als sei ein Leopard über den armen Kerl hergefallen.« Der Constable räusperte sich. »Könnte es vielleicht der Leopard gewesen sein, den die Lady heute früh gesehen haben will?« »Möglich. Woher kam der Anruf?« »Aus dem nächstgelegenen Haus. Der Mann wartet dort auf uns.« »Gut. Hoffentlich ist er so schlau und hält die Neugierigen von dem Baum fern, unter dem die Leiche liegt. Und wo auf dem Azania Drive soll es sein?« »Beim alten arabischen Wachturm. Da steht eine Gruppe von Baobab-Bäumen…« »Weiß Bescheid«, fiel Harper ihm ins Wort. »Bin schon unterwegs. Mein Gewehr nehme ich lieber mit. Etwaige Anrufe übernimmt Constable Gordon.« Als Harper die Gruppe von Baobab-Bäumen auf dem Azania Drive erreichte und den Landrover hinter Conways Wagen parkte, war außer dem Autofahrer, der die Polizei informiert hatte, ein Mann namens Stancy, überraschenderweise niemand weit und breit zu se-
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hen. Stancy empfing Harper sichtlich erleichtert. Er berichtete, daß die Bemerkung, ein Leopard verstecke sich in den Bäumen, das kleine Grüppchen Schaulustiger schnell vertrieben habe. »Gut gemacht«, lobte Harper heiser und stieg aus dem Landrover. Wie von Magneten angezogen, schweifte sein Blick zu der übel zugerichteten Gestalt, die ausgestreckt unter dem Baum lag. Dann sagte Harper mit einer Stimme, die selbst für ihn überraschend entsetzt klang: »Was die Vermutung bezüglich des Leoparden angeht, Mr. Stancy, hatten Sie wohl recht. So wie der arme Kerl da drüben aussieht!« Stancy schluckte. »Mußte mich bei dem Anblick erst mal übergeben. Dann bin ich zum nächsten Telefon gerannt.« Harper nickte. Er griff nach seinem Gewehr, das auf dem Rücksitz des Landrovers lag. »Mal sehen, was da zu machen ist. Gehen Sie über die Straße und weg von den Bäumen, Mr. Stancy. Mit Schaulustigen werden Sie schon fertig, ja?« Stancy war sichtlich froh, sich zurückziehen zu können. Harper wußte, wo sein Jagdziel saß. Lediglich um Stancys willen mußte er so tun, als suche er den Baum gründlich von allen Blickwinkeln aus ab. Das Gewehr im Anschlag, nahm er die unterschiedlichsten Positionen ein. Dann machte er Stancy ein Zeichen mit der Hand und nickte heftig, als habe er die Raubkatze entdeckt. Und er hatte sie entdeckt. Selbst ohne Feldstecher hatte er kaum Mühe, die blitzenden Augen auszumachen, die unverwandt auf ihn gerichtet waren. Und er brauchte auch kein Fernglas, um die Blutspritzer auf der kräftigen Raubtierschnauze zu erkennen. Lieutenant Conways Blut, sagte sich Harper mit grimmiger Genugtuung. Harper hob das Gewehr, zielte und drückte ab. Fast augenblicklich löste sich eine schwere Masse aus geflecktem Fell und eingezogenen Krallen von einem Ast und sauste krachend wie ein Wirbelwind durch das Blätterwerk zu Boden. Beim Knall des Schusses war vom Gipfel des benachbarten Baumes ein Witwenvogel aufgeflogen und schwebte mit trägen Flügelschlägen davon. Harper wußte nicht recht, ob er das als Omen nehmen sollte. Als der Leopard nicht weit von seinem Opfer auf die Erde aufschlug, war er tot.
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»Sie haben ihn erwischt!« schrie Stancy schrill vor Erregung. »Bravo!« Harper ließ den Leoparden jedoch nicht aus den Augen. Er war jederzeit für einen zweiten Schuß bereit. Zwar war er überzeugt, daß die erste Kugel bereits ihre Schuldigkeit getan hatte, doch eine Grundregel seines Großwildjägerdaseins war ihm in Fleisch und Blut übergegangen; und die besagte, daß man sich erlegtem Wild erst näherte, wenn zweifelsfrei feststand, daß es wirklich tot war. Schließlich war er seiner Sache ganz sicher. Er bedeutete Stancy, auf der anderen Straßenseite zu bleiben, dann ging er langsam auf die leblose Gestalt unter dem Baobab-Baum zu. Ein Blick genügte ihm, um zu wissen, daß der Leopard tödlich getroffen war. Es war ein glatter Kopfschuß gewesen, auf den er stolz sein konnte. Erst jetzt wandte er sich Lieutenant Conways Leiche zu, und mit einemmal überschlugen sich die Gedanken. Er durfte nicht versäumen, sich mit dem jungen Wakamba am arabischen Turm zu treffen, ihm die Belohnung auszuhändigen und damit die PfeilgiftGeschichte aufzuklären. Außerdem mußte er Rebecca vom tragischen Tod ihres Mannes benachrichtigen und sie, so gut es ging, trösten. Würde er zum Lieutenant befördert werden und damit in der Lage sein, Rebecca das privilegierte Leben in Mombasa zu bieten, an dem ihr so viel lag? Mit der Zeit gelang es ihm sicher, sie zu überreden, ihn zu heiraten, und Zeit, dachte er lächelnd, Zeit hatte er jetzt genug. Da täuschte er sich. Es blieb ihm nicht einmal mehr die Zeit, die Augen zu dem Ast über ihm zu heben, geschweige denn das Gewehr in Anschlag zu bringen, das er noch immer locker in der Hand hielt. Im letzten Sekundenbruchteil seines Lebens, bevor ihm Zähne und Krallen erbarmungslos die Kehle aufschlitzten, kam Harper blitzartig eine letzte Erkenntnis: Es war ein Leopardenpärchen gewesen, das Mombasa einen Besuch abgestattet hatte.
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Eine gute Geschichte Donald E. Westlake Die Riesenschlange im Käfig bewegte sich. Sie wurde hungrig. Stumpfe Augen folgten Leon im Vorübergehen. Leon spielte den Unbeteiligten. Er trat aus dem Schuppen. Heute war nichts bei der Post gewesen. Er hatte frei. Er schlenderte an Käfigen und Verschlägen vorbei, durch den Dunst von Sägemehl aus dem Schuppen, in dem die Kisten zusammengenagelt wurden, vorbei am langgestreckten Haupthaus mit der summenden Klimaanlage, und die staubige, unbefestigte Straße hinunter in die Stadt. In der Cantina neben der Kirche besorgte er sich ein Bier und ging hinaus, um den Tag zu genießen. Die Sonne stand gleißend hell über der Plaza. Die Luft war rein und heiß. Als er die Flasche ansetzte, den Kopf in den Nacken legte, schäumte das lauwarme Bier in seinem Mund. Mit nacktem Oberkörper, das T-Shirt halb aus der Gesäßtasche seiner abgeschnittenen Jeans baumelnd, Mokassins an den Füßen, ging Leon über die rissige, trockene Lehmfläche der Plaza und lächelte zu den fernen Gipfeln der Anden hinüber. Leon trank langsam das Bier und genoß jede sinnliche Regung. Die Stadt lag so hoch über dem Meeresspiegel, und die Luft war so dünn, daß jeder Schweißtropfen augenblicklich auf der Haut trocknete. Vor acht Monaten, als Leon nach Ixialta gekommen war, hatte er dieses Gefühl als eklig und unangenehm empfunden. Mittlerweile mochte er den trockenen, kitzendeln Film auf seiner Haut, die Salzkruste, die man später wie eine Puderschicht abreiben konnte. Acht Monate. Das war nicht lang. Die Arbeit war einfach, die Bezahlung phantastisch und die Versuchung, sich treiben zu lassen, groß… etwas, womit Jaime-Ortiz rechnete, wie er inzwischen wußte. Leon hatte sich allerdings geschworen, nach einem Jahr Schluß zu machen. Erste Sahne. Ein Jahr. Dann reich und sauber nach Hause; vierundzwanzig Jahre alt, und die Welt stand einem offen. Leon grinste. Er war ein großer, auffallender Junge mit sehnigen Armen und den Beinmuskeln eines Joggers. Er grinste noch immer, als der Wagen auftauchte.
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Abgesehen von Jaime-Ortiz’ Fuhrpark, waren Autos in Ixialto eine Seltenheit. Die Lehmstraße, die sich durch den Bergdschungel empor wand, war nichts als eine kurze Abzweigung von der Transitroute über die Anden, die auf diesem von niedrigen Stuckfassaden umgebenen Platz endete. Wie viele Fremde hatte die Stadt in den vergangenen acht Monaten gesehen? Ein Steuerbeamter der Regierung war zu Jaime-Ortiz gekommen, hatte ein Mittagessen eingenommen, die Bestechungssumme kassiert und war wieder abgefahren. Zwei wortkarge Amerikaner hatten eine neue Satellitenschüssel installiert und Jaime-Ortiz in die Gebrauchsanleitung eingeweiht. Und dann? Zwei Engländerinnen von einem Entwicklungsprogramm der UNO hatten sich umgesehen; zwei Junkies auf der Suche nach Stoff, die enttäuscht wieder abziehen mußten; zwei Amerikaner auf Großwildjagd, die drei Tage blieben, einen Alpaka schossen und sich die Ruhr holten; vielleicht noch ein oder zwei mehr. In der ganzen Zeit hatte es höchstens sieben dieser Berührungen mit der Außenwelt gegeben. Und jetzt war Nummer acht da. Ein staubiger, brauner HondaLeihwagen mit zwei Amerikanern. Die Frau vom Beifahrersitz stieg aus. Sie war eine umwerfende Blondine. In einer Khaki-Hose, Riemensandalen, blaßblauer Hemdbluse und lederner Schultertasche sah sie aus wie der Designer-Wunschtraum in der Rolle der Auslandskorrespondentin. Die große, schwarze Sonnenbrille allerdings war ein Fehlgriff. Leon war der Meinung, daß nur Jackie O. eine JackieO.-Sonnenbrille tragen konnte, ohne daß das äußere Erscheinungsbild Schaden nahm. Ansonsten war sie ein Traum auf zwei Beinen. Der Mann war das genaue Gegenteil. Mit fülliger Taille, engen und steifen neuen Jeans, den braunen Oxfords der Juppies und dem Buttondown-Hemd mit langen Ärmeln wirkte er wie ein Bürohengst, ein Professor für alte Sprachen oder ein Bankkassierer. Jedenfalls gehörte er nicht in diese Berge. Und er paßte nicht zu dieser Frau. Leon ging lächelnd auf sie zu, überlegte, wie er sie ansprechen sollte, doch sie kam ihm zuvor. »Was ist das hier?« fragte sie stirnrunzelnd, als sei er der Türsteher. »Ixialta«, antwortete Leon.
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»Das hohe Ixi«, übersetzte sie überraschenderweise. Ihre Stimme hatte ein gar nicht unangenehmes, leicht rauhes Timbre. »Was ist ein Ixi?« »Vielleicht ein Gott.« Leon hatte sich diese Frage nie gestellt. Der Mann hatte sich mittlerweile mit etlichen Kameras dekoriert. Er blinzelte durch seine Brille mit den aufgesetzten Sonnengläsern. »Sieh dir bloß diesen Stuck an! Und erst die Tür!« rief er. »Ja, Frank«, sagte sie desinteressiert und deutete auf Leons Bierflasche. »Sieht gut aus.« »Ich besorge Ihnen eins.« »Mit Schatten?« »Am Tisch dort drüben neben der Cantina.« Leon deutete über den Platz. »Im Schatten unter freiem Himmel kann man die Welt an sich vorüberziehen lassen.« »Gut.« Sie gingen Seite an Seite über die Plaza. »Kommt viel von der großen weiten Welt vorbei?« »Bis dato nur Sie.« Auf dem Kopfsteinpflaster neben der Cantina standen zwei Metalltische mit wackeligen Eisdielenstühlen im Schatten der nahe gelegenen Kirche San Sebastian. Die Frau wählte den Tisch, unter dem kein Hund schlief, während Leon in der Cantina verschwand. Wie immer, wenn er kam, unterbrachen die wenigen Gäste in der halbdunklen, übelriechenden Kneipe ihre leisen Gespräche und starrten auf ihre groben Hände und Füße. Leon trank sein Bier aus und bestellte zwei weitere Flaschen. Dann zog er sein T-Shirt ordentlich an, bezahlte und trug das Bier nach draußen. Gegenüber machte Frank Fotos von Fenstersimsen und Türen. Die Frau hatte ihre große Sonnenbrille auf die Stirn geschoben und betrachtete sich im Spiegel einer Puderdose. Sie hatte schöne, graue Augen mit einem Anflug von Kälte. Leon setzte sich ihr gegenüber, stellte die Flasche auf den Tisch und sagte: »Ich bin Leon.« »Ruth.« Sie klappte die Puderdose zu. Ihr Blick war auf die leere Plaza gerichtet. »Einiges los hier, was?« »Sie müssen Sonntag wiederkommen«, riet Leon. »Was ist am Sonntag?«
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»Paseo.« Leon beschrieb mit dem Arm einen weiten Kreis. »Die Jungs gehen so rum, die Mädchen kommen aus der entgegengesetzten Richtung. Dann beäugen sie sich. Überall von den Bergen kommen sie her.« »Das Paarungsritual«, sagte sie und griff nach der Flasche. Leon zuckte mit den Schultern. »Hier macht man das so. Bei allen Indio-Jungen und Mädchen ist das üblich.« Frank saß im Staub und fotografierte eine Steinstufe. Ruth trank, den Kopf in den Nacken gelegt, die Kehle zart und verwundbar. Leon hätte sie gern liebkost. Seine Miene mußte ihn verraten haben, denn als sie die Flasche absetzte, betrachtete sie ihn mit einem wissenden, aber reservierten Lächeln. »Sie sind kein Indio«, bemerkte sie. »Ich bin der Sekretär eines Indios«, antwortete er und lachte über den Witz. »Wie geht das?« »Da droben lebt ein reicher Mann. Hat ’ne Menge Landbesitz… alles, was er sich wünscht.« »Und da lebt er hier?« In der Skepsis schwang Spott mit. »Hier verdient er sein Geld.« »Dann ist er Landwirt?« »Er verkauft Tiere.« »Rinder?« Das Ratespiel machte sie gereizt, und sie war beinahe schon gelangweilt. »Nein, nein«, wehrte Leon ab. »Wilde Tiere. Jaime-Ortiz verkauft sie an zoologische Gärten, Zirkusunternehmen, Tierdompteure in aller Welt. Deshalb braucht er einen Sekretär. Für die Korrespondenz in Englisch.« »Was für Tiere?« fragte sie leicht pikiert. »Alle möglichen. Alles, was in Peru, Bolivien, Paraguay zu kriegen ist. Das hier oben ist eines der tierreichsten Gebiete. Es gibt den Puma, den Jaguar, zahlreiche Affen, Lamas, Schlangen…« »Igitt«, sagte sie. »Was für Schlangen denn?« »Klapperschlangen, Anakondas, Boas. Oben im Stall liegt gerade eine riesige Boa… versandfertig.«
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Sie trank einen Schluck Bier und schüttelte sich leicht. »Auch ’ne Art, sein Geld zu verdienen.« »Jaime-Ortiz kommt über die Runden«, versicherte Leon und grinste über das, was ungesagt blieb. Sie schien zu spüren, daß mehr dahintersteckte. Während sie wie selbstvergessen die Bierflasche auf dem zerkratzten Metalltisch herumschob, sagte sie: »Und Sie vermutlich auch.« »Sehe ich aus, als ob ich mich beklagen könnte?« Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Nein«, antwortete sie schließlich. »Sie machen einen recht selbstzufriedenen Eindruck.« Machte sie sich über ihn lustig? Trotz schwang in seiner Antwort mit: »Das hier ist ein interessanter Job. Interessanter, als Sie denken.« »Wie sind Sie daran gekommen? Durch eine Annonce?« Leo lächelte. Er war wieder auf sicherem Terrain. »Jaime-Ortiz setzt keine Annoncen in die Zeitung. Er will nicht, daß Fremde ihre Nasen in seine Angelegenheiten stecken.« »Dann kannten Sie ihn also bereits?« »Beziehungen. Die Familie. Jemand am anderen Ende des Geschäfts.« »Ein Onkel.« Sie lächelte und zeigte sämtliche Zähne, als sei er ein Kind, das man nicht ernst zu nehmen brauchte. »Okay, ein Onkel.« Er war jetzt wütend. »Das macht aus mir noch keinen Neffen.« Mit zerknirschter Miene, jedoch lächelnd berührte sie mit zwei rotlackierten Fingernägeln seinen Handrücken. Die Nägel gruben sich leicht in die Haut. »Nicht böse sein, Leon. Einen Spaß muß man schon vertragen können.« Frank und seine Kameras waren noch auf der gegenüberliegenden Seite der Plaza. Leon drehte die Hand um und umschloß ihre schlanken Finger. »Ich habe gern Spaß.« »Ganz der Raubtierdompteur.« Sie entzog ihm die Hand. »Immer nur Zoo zu spielen würde mich bald langweilen.« »Es gibt auch Besseres.« Er war plötzlich nervös, trank hastig einen Schluck Bier, und als er die Flasche absetzte, sah sie ihn an.
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Eine innere Stimme mahnte ihn zur Vorsicht, und er zögerte. Die beiden Engländerinnen waren allerdings sehr beeindruckt gewesen. Und was konnte es schon schaden, wenn er plauderte? Die Fremden kamen und gingen, hatten Ixialta schnell vergessen. Den Blick auf die Berge gerichtet, sagte er: »Hier wächst auch der Koca-Strauch. Überall in der Umgebung.« »Kokain«, murmelte sie, begriff plötzlich und runzelte die Stirn: »Und die Polizei?« »Hier oben? Machen Sie Witze?« »Nein, ich meine die der Staaten, in die Sie das Zeug schmuggeln.« »Das ist ja gerade die Krönung«, antwortete er grinsend. »Man nimmt das weiße Puder, füllt es in Pergaminbeutel und füttert damit einen Affen.« »Einen Affen? Aber der verdaut das Zeug. Er würde…« »Nein«, fiel Leon ihr ins Wort. »Dann verfüttert man den Affen an die Boa Constrictor.« »Aha.« »Kein Zollbeamter der Welt würde nachsehen, was ein Affe im Bauch hat, der im Bauch einer Boa Constrictor steckt.« »Ich bestimmt nicht.« »Der Affe muß lebendigen Leibes von der Schlange verschlungen werden«, fuhr Leon fort und weidete sich an ihrem entsetzten Gesicht. »Die Schlange braucht sieben Tage, um den Affen zu verdauen, aber es dauert nur zwei Tage, bis sie per Flugzeug bei Wilkinson, dem Tierhändler, in Florida ist.« Die Geschichte war so gut, daß er sich immer wieder ausschütten konnte vor Lachen. »Wie heißt es doch so schön? Alles inbegriffen!« »Ja«, bemerkte sie plötzlich mit undurchsichtiger Miene. Sie stand auf, wandte sich ab und rief: »Frank! Frank!« »Hören Sie…«, begann Leon. »Augenblick!« fiel sie ihm schroff und geschäftsmäßig ins Wort. Sie war plötzlich ganz anders. Verdutzt kam Leon auf die Beine. Frank joggte über die Plaza, die Kameras mit den Händen schützend. »Was gibt’s?« Mit einem Kopfnicken auf Leon sagte Ruth: »Das ist er.« Frank machte ein überraschtes Gesicht. »Bist du sicher?«
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»Er hat’s mir gerade erzählt.« »Das ging aber schnell«, bemerkte Frank. Auch sein Verhalten änderte sich schlagartig. Selbstbewußt ging er auf Leon zu und ballte die Faust. Leon war so verdattert, daß er sich nicht einmal duckte. Jemand zog ihn an den Haaren. Leon wand sich, versuchte aufzustehen, doch etwas hielt ihn fest… grobe Schnüre hielten ihn an einem Stuhl fest. Er schlug die Augen auf. Vor ihm stand Jaime-Ortiz mit Paco und zwei anderen Arbeitern. Sie befanden sich alle zusammen im großen Schuppen. Hier war es immer kühl. Beißender Tiergestank hing in der Luft. Der Besen hatte Muster auf dem gestampften Lehmboden hinterlassen. An der gegenüberliegenden Wand, unter trübem Licht standen die Käfige. Nur wenige waren besetzt. Ein Brüllaffe mit rotem Fell und breiten Schultern, halb so groß wie ein Mensch, hatte ihnen den Rücken zugewandt, die nackte Schwanzspitze locker um einen Gitterstab gewunden, während im Nachbarkäfig ein goldbraunes Guanako mit angelegten zierlichen Ohren und rollenden Augen unruhig auf und ab ging. Etwas außerhalb des Lichtkreises lag die riesige, abgemagerte Boa, die Schuppenhaut hellbraun mit dunkleren Querstreifen, den Schuppenkopf gut einen Meter in die Höhe gereckt, so daß man ihren gelben Unterleib sehen konnte. Sie starrte durch Gitterstäbe und Maschendraht auf alles, was sich bewegte. »Jaime?« Leon zerrte an den haarigen Seilen. Er hatte den Geschmack von Blut im Mund, und seine Lippen brannten. »Jaime? Was…« »Du hast mich sehr enttäuscht, Leon«, sagte Jaime-Ortiz. Er war ein großer, schwergewichtiger Mann mit einem breiten, runden Gesicht und wäßrigen braunen Augen, die seelenvoll wie die eines Guanakos oder kalt wie Eis dreinblicken konnten. »Du«, fuhr er fort und zeigte mit einem dicken, kurzen Finger auf Leon. »Du bist die Enttäuschung meines Lebens.« Er schüttelte schicksalsergeben den Kopf. »Aber was habe ich… Was ist…« »Kleine Geschichten machen die Runde«, sagte Jaime-Ortiz. »Es wird über unsere Geschäfte geredet, Leon. Über deine und meine. Das gibt Schwierigkeiten – für dich und für mich.«
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»Jaime… bitte…« »Wie aus heiterem Himmel«, fuhr Jaime-Ortiz fort, »tauchen die Drogenfahnder bei unserem Freund Wilkinson mit einem Wisch von einem Richter auf.« »Gütiger Himmel!« Leon schloß die Augen und leckte sich die wunden Lippen. Die Fesseln schnitten tief in sein Fleisch. Hände und Füße wurden bereits gefühllos. »Wer sollte dir und mir und Wilkinson Schwierigkeiten machen wollen? Leon? Wer?« Leon bewegte mit geschlossenen Augen den Kopf von Seite zu Seite. »Es tut mir leid, Jaime. Es tut mir leid.« »Freunde in New York haben mich das gefragt«, sagte Jaime Ortiz. »Ich habe geantwortet: Ich bin es nicht. Leon ist es nicht. Paco nicht. Wir alle haben zuviel zu verlieren. Meine Freunde schlagen vor, jemanden zu schicken. Jemanden, der sich umhört und feststellt, wer hier Geschichten erzählt.« »Jaime, ich werde nie… nie…« »Oh, das weiß ich«, seufzte Jaime-Ortiz. »Du kannst hier nicht bleiben, Leon. Ich muß dich in die Staaten zurückschicken.« Leon schöpfte Hoffnung. Er sah zu Jaime-Ortiz auf. »Jaime, ich verspreche dir, von mir erfährt niemand ein Wort. Ich werde nie…« »Ganz recht«, unterbrach Jaime-Ortiz. »Von dir erfährt keiner ein Wort. Nicht bei der Art, wie wir dich in die Staaten zurückschicken.« Leon hatte noch immer nichts begriffen, bis schließlich Paco mit einem Pergaminumschlag auf ihn zukam. »Mund weit aufmachen, bitte«, forderte Paco.
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Töte nie ein Tier zum Scherz… Dick Stodghill Martha sagt, daß ich nicht nachtragend sein soll. Die Sache liege immerhin Jahre zurück. Möglich, daß sie recht hat. Trotzdem lasse ich mir die Freude daran nicht nehmen, wie die Geschichte letztlich ausgegangen ist. Es hat zwar eine Weile gedauert, aber für meine Begriffe hat die Gerechtigkeit dann doch gesiegt. Als die Baseball-Meisterschaftsspiele im Fernsehen liefen, kam mir alles wieder ins Gedächtnis; und das, obwohl es eigentlich an dem Tag angefangen hatte, an dem wir im Discountmarkt das restliche Material für die Küchenrenovierung kaufen wollten. Das wiederum war zehn Jahre, bevor der Reißnägel-Räuber anfing, die Schlagzeilen der Zeitungen zu beherrschen. Martha weiß, daß mir die Meisterschaftsspiele heilig sind, seit ich Don Larsens größte Partie 1956 verpaßt habe. Damals hatte ich mir geschworen, daß mir das nie wieder passieren würde, und ich habe mir keinen einzigen Schlag in einem Meisterschaftsspiel mehr entgehen lassen. Nicht einmal die Werbespots können mich vom Fernsehapparat vertreiben. Martha versteht mich und versorgt mich von Zeit zu Zeit mit Essen und Bier. Jedenfalls war der Küchenumbau unsere erste Tat nach dem Hauskauf. Obwohl wir beide in den Fünfzigern waren, freuten wir uns wie Kinder… denn es war das erste Mal. Bis dahin war ein eigenes Haus für Martha nur ein unerfüllter Wunschtraum gewesen. In unseren jungen Jahren war ich fast immer als Waschmittelvertreter unterwegs gewesen und hatte alle zwölf Monate einen neuen Bezirk zugewiesen bekommen. Ein Jahr in South Bend. Zwei in Vincennes. Immer auf Achse. Wir mieteten eine Wohnung oder ein kleines Haus. Etwas Eigenes hatten wir nie. Eines Tages, versprach ich Martha immer, würden wir uns in einer Stadt niederlassen und das Haus kaufen, von dem sie träumte. Ähnlich erging es uns mit Kindern. Martha wollte eine Familie, aber wir haben es immer wieder hinausgeschoben, bis… Die Jahre vergehen so schnell.
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Sogar mit Haustieren war es so. Martha hatte sich immer einen kleinen Hund gewünscht. Der richtige Zeitpunkt, sich ein Tier anzuschaffen, schien nie gekommen. Dann, eines Tages, habe ich ihr überraschend einen Welpen mitgebracht. Das war kurz nach unserem Einzug in Terre Haute. Es war ein weißes Wollknäuel mit schwarzen Flecken. Für beide war es Liebe auf den ersten Blick. Nach ein paar Wochen rannte er auf die Straße und wurde von einem Auto überfahren. Danach schien Martha nicht mehr den Mut aufzubringen, wieder einen Hund anzuschaffen. Die Geschichte begann also, als wir in der Haushalts- und Eisenwarenabteilung des Discount-Marktes standen. Martha drehte sich plötzlich zu mir um. »Was ist das für ein Krach?« Mir war nichts aufgefallen. Ich horchte angestrengt. Einige Gänge weiter war ein metallisches Klappern zu hören. Wir gingen dem Geräusch nach und entdeckten, daß es aus der Tierabteilung kam. Außer ein paar Bottichen mit tropischen Fischen, Käfigen mit weißen Mäusen, Meerschweinchen und anderen Kleintieren gab es dort nicht viel. Schließlich stellte sich heraus, daß ein Hamster den Radau veranstaltete. Er hatte einen Käfig für sich. Ein winziger Bursche, nur ein paar Zentimeter groß. Sein Wasserfläschchen war leer. Er hatte sich am Käfiggitter festgekrallt, stieß mit seiner Schnauze gegen die Stäbe und machte einen äußerst indignierten Eindruck. Weit und breit war kein Angestellter zu sehen – in derartigen Märkten ist das nichts Ungewöhnliches. Martha war empört. Sie ging in die nächste Abteilung und zu einer Frau, die hinter einer Vitrine mit Waffen und Munition stand. Ihr erklärte sie das Problem. Die Frau versprach, jemandem Bescheid zu sagen. Aber Martha entgegnete, sie würde sich nicht eher von der Stelle rühren, bis der Hamster sein Wasser bekommen habe. Allmählich kam auch mir die Galle hoch. Die Verkäuferin wartete noch ein paar Minuten, um uns zu zeigen, wer hier das Sagen hatte, dann schlenderte sie betont desinteressiert in die Tierabteilung und füllte die Flasche des Hamsters mit Wasser. Martha und ich beobachteten, wie der kleine Kerl trank, und amüsierten uns über sein geschäftiges, und auch ein bißchen verwirrtes Gehabe. Als der Hamster seinen Durst gelöscht hatte, stellte er sich
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auf die Hinterbeine, umfaßte mit den Vorderpfoten die Gitterstäbe und sah uns fragend an. Martha redete auf ihn ein, wie das ihre Art mit kleinen Lebewesen war. Dann blieben sogar Vögel sitzen und hörten ihr aufmerksam zu, als könnten sie sie verstehen. Der Hamster stand reglos da, sah sehr ernst aus und nahm jedes Wort in sich auf. Martha ergriff meine Hand und zog mich näher. Mit einem Lächeln meinte sie: »Sieh dir bloß die winzigen Finger an.« »Vermutlich sind das Zehen«, erwiderte ich. »Ich finde, sie sehen eher wie Finger aus.« Martha richtete sich prompt mit besorgter Miene auf. »Was passiert, wenn sein Wasserfläschchen wieder leer ist? Es gefällt mir gar nicht, wie hier die Tiere vernachlässigt werden.« Ich ahnte, was kommen würde. Der Hamster sah Martha wie gebannt an, seit sie mit ihm gesprochen hatte. Martha redete erneut auf ihn ein. Dann sagte sie lächelnd zu mir: »Komm, wir nehmen ihn mit nach Hause.« Nein zu sagen, hätte keinen Zweck gehabt. Kurz darauf verließen wir mit Käfig, Wasserfläschchen, einem Turnrad, einem kleinen Haus, das wie ein Schuh aussah, einer Packung Futter und einem Buch über Hamster den Discount-Markt. Den Hamster hatten wir in der Pappschachtel, in die der Verkäufer ihn unter heftigem Protest gesteckt hatte. Wir waren schon fast zu Hause, als wir feststellten, daß wir die gewünschten Haushaltswaren gar nicht besorgt hatten. Ich baute den Käfig auf. Dann setzten wir den Hamster vorsichtig hinein. Wir waren ängstlich und unsicher, weil wir von Hamstern keine Ahnung hatten. Der Hamster lief sofort zu dem Schuh und war Sekunden später eingeschlafen. Die Aufregung war zuviel für ihn gewesen, vermutete ich. Sicher dachte er jetzt, daß das Leben eines Hamsters aus einer Kette gefährlicher Abenteuer bestünde. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, konnte ich das nur bestätigen. Selbst wenn ihm sonst nichts zustößt, hat ein Hamster eine Lebenserwartung von tausend Tagen. Aber das weiß natürlich der Hamster nicht.
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Unser Freund brauchte einen Namen. Martha kam auf Chigger, weil er so klein war. Es dauerte nicht lange, bis Chiggy daraus wurde – zumindest was Martha betraf. Im Buch stand, ein Hamster würde immer einen Weg finden, seinem Käfig zu entkommen. Chigger brauchte drei Tage für den ersten Versuch. Mittlerweile waren wir bereits geübte Hamster-Eltern, und ich hatte gelernt, ihn geschickt beim Nackenfell zu packen, was er haßte. Wenn ich ihn dann wieder auf den Boden setzte, trippelte er ein Stück weiter und sah vorwurfsvoll zu mir zurück. Wie alle Hamster verschlief Chigger die Tage und war nachts für jeden Unsinn zu haben. Er schwang sich in seinem Käfig von Gitterstab zu Gitterstab, lief im Rad – wahrscheinlich glaubte er tatsächlich, vorwärts zu kommen… und machte alles mögliche, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Martha nahm ihn dann meistens heraus, hielt ihn in der Hand, streichelte ihn und redete leise auf ihn ein. Er starrte sie meist wie verzaubert aus seinen kleinen, schwarzen Knopfaugen an und horchte auf jedes Wort. Schließlich lief er auf ihrem Schoß umher, steckte die Nase in die Taschen oder versuchte zwischen Kissen und Stuhlpolster hinunterzuklettern. Hamster, so könnte man glauben, sind den Menschen sehr ähnlich: immer vermuten sie, irgendwo anders müsse es besser sein, nie sind sie dort zufrieden, wo sie gerade sind. Wir kamen eines Tages an einem Tierbedarfsgeschäft vorbei. Martha zog mich hinein. Sie betrachtete sich alles und sagte gelegentlich: »Also das würde Chiggy gefallen.« Als wir den Laden wieder verließen, hatten wir eine Fünfzigdollarausrüstung für einen drei Dollar teuren Hamster erstanden. Als ich Martha darauf hinwies, antwortete sie: »Er ist es wert.« Jede Diskussion wäre zwecklos gewesen. Chigger hatte die höchste Freude an seinem neuen Spielplatz. Er erforschte sofort jede Ecke und jeden Winkel und erkor umgehend einen runden, hohlen Plastikball zum Lieblingsspielzeug. Er kletterte hinein, wir klappten den Deckel zu, und er rollte über den Fußboden, als erobere er die große weite Welt. Am morgen entdeckten wir, daß er von seinem Schuh-Haus in eine Plastikschachtel umgezogen war, die als eine Art Beobachtungsturm konzipiert war. Sie stand einige
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Zentimeter über dem Fußboden, doch Chigger hielt sie wohl für eine sichere Höhle tief in der Erde. Chigger war schnell zu einem vollwertigen Familienmitglied geworden, ein glücklicher Hausgenosse, der nur seinem Vergnügen lebte. Bald war er ein ausgewachsener Hamster, und er wurde immer schlauer. Es war ein Spaß zu beobachten, wie aufgeregt er wurde, wenn Martha in die Küche ging und dort einen Schrank oder den Kühlschrank öffnete. Er wußte, daß sie nie ohne einen Leckerbissen wie einen Cracker mit Erdnußbutter oder ein Stückchen Karotte oder Sellerie für ihn zurückkam. Gelegentlich dachte ich an die tausend Tage und rechnete nach, wie viele er davon schon gelebt hatte. Martha gegenüber erwähnte ich das natürlich nie. Chigger hatte ungefähr die Hälfte seines Lebens hinter sich, als neue Leute in das leerstehende Nachbarhaus einzogen. Es waren eine Frau Mitte Dreißig und ihr zwölfjähriger Sohn. Schon nach kurzer Zeit wünschten wir den Jungen wieder nach Indianapolis oder sonstwohin zurück. Er gehörte zu den Kindern, denen nichts Spaß machte, es sei denn, sie konnten jemanden ärgern oder ihm weh tun. Die beiden waren kaum einen Monat in der Stadt, als es die ersten Schwierigkeiten gab. Der Junge hatte im nahe gelegenen Park drei Enten totgeschlagen. Bei diesem Anlaß merkten wir, daß die Mutter stets davon ausging, daß ihr Sohn recht und alle anderen unrecht hatten. Sie paßte Martha auf der Straße ab und beklagte sich darüber, daß die Leute auf ihrem Jungen herumhackten, weil er neu in der Stadt war. »Was erwarten die eigentlich?« hörte ich sie sagen. »Da lassen sie Enten einfach frei in einem Park herumlaufen. Arnie hat getan, was jeder andere Junge auch getan hätte.« »Bis jetzt ist noch keiner auf die Idee gekommen«, mischte ich mich ein. Ihre Miene wurde starr, und sie ging wortlos zum Haus zurück. Der Junge schoß von da an ständig mit einem Luftgewehr auf Vögel oder Eichhörnchen. Eines Tages rief ein anderer Nachbar die Polizei an, weil er in jeder Hinsicht zu größeren Kalibern übergegangen war. Er versuchte gerade vom Hintergarten aus, ein Kaninchen
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mit einem Gewehr, Kaliber 5,6 mm zu treffen. In der Schußlinie befand sich ein einjähriges Mädchen in der Sandkiste. Der Junge erwischte das Kaninchen später schließlich mit einem Baseballschläger. Seine Mutter ignorierte von da an den betreffenden Nachbarn und dessen Frau, was diese kaum kümmerte. Ich wußte, daß die Mutter teilweise für das Verhalten ihres Sohnes verantwortlich war, aber nichts und niemand wird mich je davon überzeugen, daß das Kind nicht von Natur aus schlecht war. Leute die glauben, daß es das nicht gibt, sind nicht weit herumgekommen. Martha verhielt sich weiterhin freundlich und nachbarschaftlich, obwohl ich ihr immer wieder sagte, daß sich das gelegentlich nicht auszahlt. Ich war daher nicht allzu überrascht, als ich eines Tages nach Hause kam und die beiden, die Mutter und den Jungen, mit Martha im Wohnzimmer vorfand. Die Frauen tranken Tee. Das Kind verschlang Marthas Schokoladenkekse. Neben dem Teller, auf dem sich die Kekse befanden, stand ein Glas Milch. Ich war gerade fünf Minuten zu Hause und balancierte die Tasse Tee mit Unterteller, die Martha mir gereicht hatte, auf einem Knie, da der Junge meinen Lieblingssessel am Tisch mit meinen Pfeifen und dem Tabak mit Beschlag belegt hatte, als Chigger von seinem Beobachtungsturm herunterkam. Die fremden Stimmen hatten ihn vermutlich angelockt. Vielleicht hatte er auch die Kekse gerochen, denn er stellte sich auf die Hinterbeine und sah uns von der vordersten Ecke seines Käfigs aus an. »Was ist denn das? Eine Maus?« fragte der Bengel. Martha erklärte ihm, daß Chiggy ein Hamster sei, ging zum Käfig, öffnete die Tür und nahm Chiggy heraus. Ich beobachtete sie mit wachsender Unruhe. Sie hielt ihn in den Händen, redete leise mit ihm und gab ihm ein Stück Keks. »Ich möchte ihn mal haben«, sagte der Junge. Ich machte den Mund auf, um sie zu warnen, doch bevor ich auch nur ein Wort herausbrachte, gab Martha Chiggy an ihn weiter. Martha glaubt eben immer an das Gute im Menschen. Chiggys Augen weiteten sich ängstlich. Die Hände, die ihn plötzlich hielten, waren ihm fremd. Er versuchte, sich ihnen zu entwinden.
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Der Bengel hielt ihn jedoch fest. Zu fest, für meine Begriffe. Und das Grinsen in seinem Gesicht gefiel mir nicht. Ich stand auf, doch bevor ich etwas tun konnte, hörte ich ein leises Knacken. Dann schrie der Bengel laut auf, als Chiggy seine nadelspitzen Zähne in seinen Finger grub. Der Junge ließ Chiggy sofort fallen. Aber Chiggy lief nicht weg. Eines seiner Vorderbeine war seltsam gekrümmt. Es war wie ein dürrer Ast gebrochen, als der Bengel es ihm absichtlich verdreht hatte. Ich hob Chiggy gerade noch rechtzeitig auf, bevor der Junge mit dem Fuß nach ihm treten konnte. Die Mutter stieß einen schrillen Schrei aus, lief zu ihrem Sprößling, nahm seine Hand und jammerte: »Arnie, du blutest ja.« Dann ging sie auf Martha los und beschimpfte sie, weil sie dem armen Arnie ein wildes Tier in die Hand gegeben habe. Martha war schneeweiß, völlig durcheinander und hilflos. Ich teilte ihre Unsicherheit in keiner Weise. Ich warf die beiden aus dem Haus. Chiggy gab keinen Laut von sich. Hamster tun das selten, aber wir sahen ihm an, daß er Schmerzen hatte und völlig durcheinander war. Bis dahin hatte es in seiner kleinen heilen Welt Mißhandlungen oder Schmerzen nicht gegeben. Martha hielt ihn, während ich zum Tierarzt fuhr. Die Tierärztin tat ihr Bestes und streckte das dünne kleine Bein, so gut es ging. Das Gelenk sei gebrochen, sagte sie, und da sei nicht viel zu machen. Wir brachten Chiggy wieder nach Hause. In einer Käfigecke schlief er ein. Danach war nichts mehr wie früher. Chiggy versuchte sich noch ein paarmal auf seinen Plastikbahnen, rutschte jedoch immer schon nach wenigen Zentimetern kraftlos zurück. Schließlich gab er es ganz auf. Er verbrachte seine Zeit nur noch unten im Käfig und zog wieder in den Schuh. Ab und zu setzten wir ihn in den Plastikball. Aber Chiggy versuchte erst gar nicht, ihn wie früher durchs Zimmer zu rollen. Irgendwie schien er seinen Lebenswillen verloren zu haben. Selbst wenn Martha ihn in der Hand hielt und mit ihm redete, war es anders. Chiggy verhielt sich zwar ganz ruhig, wirkte jedoch stets verunsichert. Offenbar hatte er das Erlebnis in jener fremden Hand nicht vergessen. Er hatte uns blind vertraut und war enttäuscht worden.
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Ihn zu beobachten und erleben zu müssen, wie freudlos das Dasein für Chiggy geworden war, traf mich härter, als ich je zugegeben habe. Für Martha allerdings war es die Hölle. Und natürlich gab sie sich und nicht dem eigentlichen Bösewicht die Schuld. Eines Morgens war Chiggy schließlich tot. Warum, weiß ich nicht. Er hätte noch gut und gern ein weiteres Jahr leben können, aber ein Blick in seinen Käfig genügte mir, um zu sehen, daß nichts mehr zu machen war. Es Martha beibringen zu müssen, war das Schlimmste. Ich benutzte einen Karteikasten aus Metall als Sarg, versiegelte ihn mit Isolierband und begrub Chiggy im Garten. Nach ein paar Wochen machte ich den Vorschlag, einen anderen Hamster zu kaufen; aber Martha wollte davon nichts wissen. Eines Tages kam ich nach Hause, und der Platz, an dem Chiggys Käfig gestanden hatte, war leer. Martha hatte alles auf dem Dachboden verstaut. Die meisten Menschen werden das nicht verstehen, aber es kommt nach all den Jahren noch immer gelegentlich vor, daß sie beim Gedanken an ihren kleinen Freund zu weinen anfängt. Vor ungefähr eineinhalb Jahren begann die Serie von Raubüberfällen. Die Zeitungen bauschten die Sache auf und nannten den Täter den »Reißnagel-Räuber«. Der Rummel erregte auch unsere Aufmerksamkeit. Der Reißnagel-Räuber überfiel nur private Kreditunternehmen mit großen Geldvorräten für Kunden, die schnell Bares brauchten. Er ging dabei stets nach demselben Muster vor: Er betrat das Kreditinstitut mit der Waffe im Anschlag, sobald keine Kunden im Kassenraum waren. Hatte er die geforderte Beute an sich gebracht, riß er das Telefon aus der Wand und zwang die Angestellten, die Schuhe am Eingang abzulegen und sich dann an der Rückwand aufzustellen. Anschließend schüttete er große Mengen von Reißnägeln über den Fußboden. Bis die Angestellten die Reißnägel beiseite geschafft und die Tür erreicht hatten, war er längst über alle Berge. Keines der Opfer konnte je mit einer brauchbaren Beschreibung aufwarten. Der Reißnagel-Räuber erschien stets mit einem tief in die Stirn gezogenen breitkrempigen Hut und hatte das Gesicht nach Wildwest-Manier hinter einem Dreieckstuch verborgen. Alle sagten aus, daß er eine besonders harsche Stimme habe. Und seine Stimme
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war bei den Überfällen ausgiebig zu hören, da es eines seiner Markenzeichen war, die ganze Zeit über Kommandos zu erteilen. Dies schien die Leute mehr einzuschüchtern als alles andere. Vor einem Jahr schließlich, am Abend der dritten Meisterschaftsbegegnung, ging etwas schief. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Raubüberfälle völlig glatt verlaufen. Ein Kreditinstitut am anderen Ende der Stadt hatte einmal pro Woche bis um zehn Uhr geöffnet. Es bot in einer großen Werbeaktion Sofortkredite über kleinere Summen in bar an und versprach bei größeren Beträgen die Auszahlung bis zum Mittag des folgenden Tages. Mir kam die Sache damals allerdings nicht ganz koscher vor. Der Räuber überfiel das Kreditinstitut kurz vor Geschäftsschluß. Der Direktor war etwas früher nach Hause gefahren, um wenigstens das Ende des Meisterschaftsspiels mitzuerleben. Zurückgelassen hatte er eine junge, hübsche Angestellte Anfang Zwanzig, die erst seit kurzem in der Filiale arbeitete, und eine dreimal so alte erfahrene Kraft, die bereits einen Raubüberfall erlebt hatte. Die vierzig Jahre im Bankgeschäft hatten letzterer eine Brille mit dicken Gläsern eingebracht. Und selbst damit sah sie alles, was über einen halben Meter weit von ihr entfernt war, nur verschwommen. Der Täter ging nach der üblichen Methode vor, bis es ans Ausziehen der Schuhe ging. Anstatt sie wie sonst am Eingang ausziehen zu lassen, sollten die beiden Frauen das bereits hinter dem Schalter tun. Als die junge Frau an der Reihe war, wurde er zudringlich. Halb wahnsinnig vor Angst, verlor die Angestellte völlig die Nerven. Sie begann laut zu schreien. Der Räuber versuchte, sie zum Schweigen zu bringen, langte etwas zu kräftig zu und brach ihr das Genick. Als die Polizei am Tatort eintraf, war die junge Frau bereits tot. Die Beschreibung, die die ältere Angestellte geben konnte, stimmte im großen und ganzen mit den Angaben aus früheren Raubüberfällen überein. Für eine Identifizierung des Täters genügte es jedoch nicht. Selbst wenn die Polizei den Täter hätte fassen und eine Gegenüberstellung hätte vornehmen können, hätte sie ihn bestimmt nicht überführt. Auch die Stimme war in diesem Fall keine Hilfe gewesen, denn der Täter hatte kaum ein Wort gesprochen. Dies und die abweichende Handhabung der Schuhe verleitete viele zu der Ansicht, daß
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es sich um einen Nachahmer und nicht um den richtigen ReißnagelRäuber gehandelt hatte. Das Kreditinstitut setzte eine Belohnung von fünftausend Dollar aus, und andere Institute versprachen gemeinsam noch einmal dieselbe Summe. Das brachte schnelle Ergebnisse. Drei Tage nach dem Mord fiel die Polizei wie Heuschrecken über unser Viertel her und verhaftete den Bengel von nebenan. Er war mittlerweile einundzwanzig, kaum älter als das Opfer und kein bißchen netter als an dem Tag, an dem er in die Stadt gekommen war. Die Polizei fand einige Dinge im Haus, die ihn deutlich mit den früheren Raubüberfällen in Verbindung brachten, sowie fünf Schachteln Reißzwecken zur zukünftigen Verwendung. Zusätzlich konnten ihn mehrere Zeugen identifizieren – sie behaupteten es wenigstens. Nur im Fall des Mordes an der jungen Angestellten gelang das nicht. Der Junge gestand schließlich sämtliche Raubüberfälle – bis auf den letzten. Er behauptete steif und fest, er habe damit nichts zu tun. Seine Mutter machte alles und jeden verantwortlich, nur nicht ihren Sohn. Die finanziellen Verhältnisse, schwierige Arbeitsmarktlage, die Lehrer, die ihn vom College gewiesen hatten, ohne ihm eine echte Chance zu geben. Und vor allem die Leute vom Autoersatzteillager, die ihn gefeuert hatten, weil er sich an der Geschäftskasse vergriffen hatte. Sie schwor, daß ihr Sohn in der Mordnacht das Haus nicht verlassen habe. Beide behaupteten, er habe eine schwere Erkältung gehabt, und in der einige Blocks weit entfernten Apotheke erinnerte man sich, daß die Mutter an jenem Tag ein Schmerzmittel gekauft hatte. Das Alibi stand auf schwachen Beinen, und die Aussage einer Mutter kann in den meisten Fällen nicht ausschlaggebend sein. In Anbetracht der Tatsache jedoch, daß es auch sonst keine überzeugenden Hinweise dafür gab, daß der Bengel von nebenan den letzten Raubüberfall durchgeführt hatte, hätte diese Aussage für ihn die Rettung bedeuten können. An diesem Punkt trat ich in Erscheinung. Die Polizei vernahm sämtliche Nachbarn. Als sie zu mir kam, widersprach ich der Aussage von Mutter und Sohn. Ich erklärte, der Junge habe gegen neun Uhr an jenem Abend das Haus verlassen. Was die Zeit beträfe, sei
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ich ganz sicher, da ich gerade von einem Spaziergang zurückgekehrt sei, als er weggefahren war. Monate vergingen bis zum Prozeß. Als er schließlich begann, stand längst nicht fest, ob die Staatsanwaltschaft genug Material für eine Mordanklage in der Hand hatte. Aber der Staatsanwalt hatte gute Arbeit geleistet. Der Richter konnte mehr Zeugen und andere Beweismittel zulassen, als man erwartet hatte. Die Aussage eines unparteiischen Zeugen, der den Behauptungen der Mutter in allen Punkten widersprach, verfehlte ihre Wirkung auf die Geschworenen nicht. Sie erschütterte letztendlich die Glaubwürdigkeit des Jungen. Niemand schenkte seinen Unschuldsbeteuerungen Gehör. Als alles zu Ende war, sagte der Staatsanwalt, ich sei sein bester Zeuge und ausschlaggebend für den Schuldspruch gewesen. Jetzt ist wieder Meisterschaftssaison, und Martha sorgt wie immer dafür, daß ich nicht gestört werde, daß mich nichts auch nur eine Minute vom Fernsehschirm fernhalten kann, solange ein Spiel im Gang ist. Es war in dem Augenblick, als sie mir ein frisches Bier brachte, als sie sagte, ich solle nicht nachtragend sein. »Chiggy liegt jetzt schon so viele Jahre unter der Erde«, seufzte sie, wischte sich verstohlen ein paar Tränen ab und ging hastig aus dem Zimmer. Das war ihr erster Kommentar zu meiner Zeugenaussage gewesen. Seit dem Tag, an dem ich mit dem Inspektor gesprochen hatte und während des gesamten Prozeßverlaufs war sie mit keinem Wort darauf eingegangen. Allerdings hat sie unrecht. Ich bin nicht nachtragend. Vielleicht bin ich das eine Zeitlang gewesen, aber jetzt bin ich einfach nur zufrieden. Und ich habe das Gefühl, Martha geht es ebenso – sie will es nur nicht wahrhaben. Auf die eine oder andere Weise siegt die Gerechtigkeit immer.
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Spuren im Mais Joan Richter Sie wartete, bis das knirschende Geräusch der breiten Reifen des Landrovers auf der langgestreckten Kieszufahrt in sanftes Surren auf festerem Untergrund übergegangen war. Dann stand sie auf und zog sich hastig an. Sie ärgerte sich, daß sie die vergangene Stunde damit vergeudet hatte, sich schlafend zu stellen. Trotzdem war das einer Auseinandersetzung mit Jack vorzuziehen. Sie hatte gehört, wie er noch bei Dunkelheit aufgestanden war und das Haus verlassen hatte; hatte sich ausgemalt, wie er auf der Anhöhe gestanden, auf das Maisfeld hinuntergespäht und gewartet hatte, wie er jeden Tag bei Sonnenaufgang in den vergangenen zwei Wochen gewartet hatte. Manchmal fragte sie sich, ob er überhaupt noch wußte, worauf er wartete. Sie hängte sich einen Pullover um die sonnengebräunten Schultern, ging durch die Verandatür hinaus und an der Küche vorbei, um Kariuki zu sagen, daß sie zum Frühstück nur Kaffee haben wollte, den sie sich später selbst kochen würde. Sie lief über den taugetränkten Rasen, vorbei am Flaschenbürstenbaum, auf dessen rosenfarbenen Blüten die Kolibris ihren morgendlichen Durst stillten, und weiter zu dem Teil des Gartens, von dem aus man einen freien Blick über das grüne Tal bis hin zum gegenüberliegenden Höhenrücken hatte. Über ihr spannte sich tiefblau und endlos weit der ostafrikanische Himmel mit hohen Wolkentürmen, die wie weiße Berge zum Besteigen einluden. Sie überlegte, ob Jack je auch nur einen kleinen Teil von alldem sah, ob er überhaupt merkte, wieviel Schönes direkt vor ihrer Haustür lag. Sie atmete tief die kühle Luft ein. Sie war trocken. Dünn kam sie ihr nicht vor. Nicht einmal an jenem ersten Tag vor einem Jahr, als sie angekommen waren, hatte sie Beschwerden gehabt. Nur beim Bergaufgehen machte sich die Höhe bei ihr bemerkbar. Dann ging ihr Atem schnell und stoßweise, und eine eiserne Klammer legte sich über ihre Brust. Das Knacken eines Zweiges lenkte ihren Blick automatisch zu jenem Abhang hinüber, wo zwischen Bäumen und Sträuchern der
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Rauch von Küchenfeuern aufstieg. Sie sah einen Mann den Pfad heraufkommen. Er hielt den dunklen Kopf gesenkt, so daß sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. Aus seiner Kleidung – dem weißen kurzärmeligen Hemd und der schwarzen Hose – schloß sie jedoch, daß es sich nur um Molo handeln konnte. Molo war einer der wenigen Farmer der Gegend, der europäische Kleidung trug. Molo hatte eine shamba auf der gegenüberliegenden Seite des Tals, wo er früher Kartoffeln und Mais angebaut hatte. In dieser Saison hatte er sich zum ersten Mal darauf eingelassen, mit einer Ernte Geld zu verdienen. Er hatte ein Feld mit Pyrethrum angebaut, einer silbergrünen Margeritenart, aus deren Blüten man ein Insektizid gewann. Sie fragte sich, was ihn wohl veranlaßt haben mochte, seine shamba schon so früh am Tag zu verlassen. »Habari«, grüßte sie ihn auf suaheli. »Mzuri«, erwiderte er mit einer Miene, die seine Antwort, es gehe ihm gut, Lügen strafte. Sie wechselten noch einige Worte, bevor ihre Kenntnisse in Suaheli erschöpft waren. Dann würden sie zum Englischen übergehen. Und Molo würde allmählich auf den Grund seines Besuchs zu sprechen kommen. Molo sah zum Himmel auf. »Die Wasser kommen bald.« Sie folgte seinem Blick, konnte jedoch nichts erkennen, das wie eine Regenwolke ausgesehen hätte. Aber der afrikanische Himmel war ihr fremd; sowohl bei Tag als auch bei Nacht. Die Sterne waren nicht da, die sie kannte. Dasselbe galt für die Wolken. Sie wußte nur, daß sie schöner waren als alles, was sie bisher gesehen hatte. »Ist der Bwana zu Hause?« Molo nannte sie Memsab Simon, doch zu Jack sagte er nur Bwana. »Er ist schon früh heute morgen auf Safari gefahren«, erwiderte sie lächelnd. Sie konnte sich noch immer nicht an die ostafrikanische Bedeutung des Wortes gewöhnen. Nur selten schien man hier Jäger in Tropenhelmen und Träger auf dem Weg durch den Busch zu verstehen. Meistens umschrieb der Begriff lediglich eine Fahrt aus der Stadt; gleichgültig ob diese einen Tag oder eine Woche dauerte. »Ist Bwana Red mit ihm gefahren?«
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In letzter Zeit ging Jack nur noch in Begleitung von Red aus. Sie wußte nicht, ob sie darüber Ärger oder Erleichterung empfinden sollte; ob es ein Anzeichen für Jacks Mißtrauen ihr gegenüber oder mangelndes Selbstvertrauen war. Sie mochte Red – mochte ihn vielleicht zu sehr –, aber sie hatte nichts getan, was Jack Grund zur Eifersucht gegeben hätte. Sie hatte keine Ahnung, ob Red ihre Bewunderung erwiderte, denn er ließ sich nichts anmerken. Doch ihr Ego wurde durch das Wissen besänftigt, daß Red nicht dumm war. Er mußte mit Jack arbeiten – ein weiterer kritischer Punkt, denn Jack war der Boß, obwohl Red, der bereits zehn Jahre in Ostafrika lebte, der Kompetentere war. »Ja, Bwana Red ist mitgefahren. Was gibt’s denn, Molo? Brauchst du mehr Saatgut?« Jack war als landwirtschaftlicher Berater mit einem Zwei-JahresVertrag nach Ostafrika gekommen und unter anderem für die Verteilung von Saatgut verantwortlich. Das Saatgut wurde auf Kreditbasis vergeben und mußte nach dem Ernteerlös bezahlt werden. Es war daher eine wertvolle Handelsware, die aufgrund früheren Zahlungsverhaltens zugeteilt wurde. Jack hatte Angst vor Diebstahl und hielt die Saatgutsäcke daher in einem Lagerhaus am Ende des Maisfeldes unter Verschluß. Das allerdings war etwas, was sie nicht mochte; etwas, das die Schönheit dieses Landes und des Himmels trübte: vergitterte Fenster, verriegelte Türen – und nicht nur die Außentüren, sondern auch die Türen im Haus, die einen Teil des Hauses vom anderen trennten, und die Türen zu Schränken und Vorratskammern. »Beim Saatgut ist das etwas anderes«, hatte sie zu Jack gesagt, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Aber das Saatgut ging sie nichts an. »Ich habe nicht die Absicht, jedesmal, wenn ich aus dem Haus gehe, die Speisekammer abzuschließen, damit der Hausboy sich nicht einen Löffel Zucker nehmen kann.« Sie deutete auf ein Schlüsselbrett an der Wand. »Sieh dir das bloß an! Da hängen fünfzig Schlüssel. So will ich nicht leben.« »Das Haus kannst du führen, wie du willst«, hatte Jack geantwortet. »Aber jammere mir nicht eines Tages die Ohren voll, wenn einer von denen…«, er hatte mit einem Kopfnicken in die Richtung ange-
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deutet, wo Kariuki und seine Helfer das Mittagessen zubereiteten, »…mit etwas verschwindet, was wir nicht mehr ersetzen können.« Daraufhin hatte sie das Silber, das sie von Jacks Familie bekommen hatten, in den Wandsafe hinter dem Spiegel im Schlafzimmer geschlossen und es seitdem nicht wieder hervorgeholt. Es war zu umständlich, es morgens herauszunehmen und abends wieder wegzuräumen. Eines Tages hatte Jack das Thema in Anwesenheit von Red zur Sprache gebracht, weil er auf die Unterstützung seines Kollegen hoffte. Aber Red hatte gesagt: »Wenn ich mir die Mühe machen würde, es zu überprüfen, würde ich vermutlich am Monatsende feststellen, daß ein Pfund Zucker und vielleicht ein bißchen Tee fehlt. Jinja nimmt sich vermutlich gelegentlich eine Banane oder Toastbrot, das vom Frühstück übriggeblieben ist. Die Banane würde sowieso verderben, bevor ich dazu komme, sie zu essen, und übriggebliebenes Toastbrot würde ich doch nur wegwerfen.« »Darum geht es gar nicht«, hatte Jack entgegnet. »Man muß ihnen beibringen, daß sie fremdes Eigentum zu respektieren haben.« »Es ist doch ein Unterschied, ob Geld oder Wertsachen gestohlen werden – oder ob man sich etwas Eßbares nimmt.« Reds Stimme hatte geduldig, aber unnachgiebig geklungen. »Wenn Jinja meine Hosen wäscht, durchsucht er zuerst die Taschen, weil ich immer Zigaretten, Schrauben, Schlüssel oder ein paar Shillinge darin vergesse. Er legt alles in einen Korb auf dem Regal über dem Waschtrog. Dort finde ich auch die Shillinge wieder, zusammen mit all den anderen Kleinigkeiten.« Jack musterte ihn aus schmalen Augen. »Hast du dir je die Mühe gemacht, das nachzuprüfen? Hast du je eine Summe Kleingeld drin gelassen…« »Du meinst, ob ich ihm eine Falle gestellt habe?« Jack nickte. Red schüttelte den Kopf. »Wenn ich das täte, würde das bedeuten, daß ich ihm nicht vertraue. Er würde es merken. Dann ist das sensible Gleichgewicht gestört, und ich könnte ihm wirklich nicht mehr trauen.«
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Jack führte die Diskussion weiter, obwohl Red das Thema längst als erledigt betrachtete. In dem letzten Versuch, doch noch nach Punkten zu gewinnen, war er aufgebraust: »Die Afrikaner wollten die Freiheit. Jetzt müssen sie auch die damit verbundene Verantwortung tragen.« »Da bin ich ganz deiner Meinung«, antwortete Red. »Aber deine Methoden gefallen mir nicht. Du willst sie überwachen, und wo bleibt da die Freiheit? Natürlich sind auch Diebe unter ihnen. Aber welche Gesellschaft hat keine Diebe? Wenn du sie nur einmal grundlos des Diebstahls verdächtigst, dann machst du wirklich Diebe aus ihnen.« Nachdem Red gegangen war, hatte sie ihren Mund nicht halten können. Vielleicht hatte sie ihren Standpunkt zu kompromißlos vertreten, denn Jack hatte wütend reagiert: »Du siehst in Bwana Red also auch schon einen großen Helden!« Damit hatte sich Jack abgewandt. Jetzt schüttelte Molo den Kopf. Nein, wegen des Saatguts war er nicht gekommen. Was will er? fragte sie sich. Was hatte ihn zu einer Tageszeit aus dem Tal heraufgetrieben, indem er längst auf seiner shamba hätte arbeiten sollen? Obwohl sie mittlerweile einiges dazugelernt hatte, fiel es ihr noch immer schwer, in den Gesichtern der Afrikaner zu lesen. Freude vermochte sie inzwischen zu erkennen, aber andere Emotionen wie Wut, Angst und Mißtrauen entgingen ihr noch immer. Sie machte sich auf ein längeres Gespräch gefaßt. »Die Tomatenpflanzen, die du mir gegeben hast, gedeihen gut, Molo. Möchtest du sie sehen?« Eine plötzliche, wenn auch kaum wahrnehmbare Veränderung seines Ausdrucks sagte ihr, daß sie zufällig angesprochen hatte, worauf er wartete. Er hatte darauf gehofft, daß sie ihn einladen würde, ihren Grund und Boden zu betreten. »Ich würde gern den Mais sehen. Bwana sagt, wildes Schwein kommt und frißt.« Selbst Molo hatte also von Jacks morgendlichen Exkursionen erfahren. »Nimm ein Gewehr«, hatte Red angeboten. »Was es auch
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sein mag, es kommt sicher im Morgengrauen. Und von der Anhöhe dort oben dürfte es ein leichtes Ziel sein.« »Ich kriege es«, antwortete Jack. »Aber ohne Gewehr.« »Wie du willst. Aber die Jagd mit Fallen ist eine langwierige Geschichte. Das Maisfeld ist verdammt groß.« »Fallen?« Sie erinnerte sich deutlich an den arroganten Unterton in Jacks Stimme. »Ich will Pfeil und Bogen benutzen.« Red hatte hastig aufgesehen. Und möglicherweise war der Ausdruck in seinem Gesicht Bewunderung gewesen. Sie jedoch hatte ihn nicht so gedeutet. Aber Jacks zufriedene Miene war ein unmißverständliches Zeichen für seine Interpretation gewesen. »Ich bin ein guter Bogenschütze«, fuhr er fort. »Ich habe den Sport schon in den Staaten betrieben.« Stumm hatte sie an den makellosen Rasen des Countryclubs und die unbewegliche Zielscheibe gedacht. »Ich habe vor ein paar Wochen von einem von Molos Brüdern einen Bogen und ein Dutzend Pfeile gekauft. Das ist zwar eine andere Waffe, als ich sie gewöhnt bin, aber sie hat eine gute Spannung.« »Für ein Wildschwein ist die Waffe zu leicht«, kommentierte Red. »Es sei denn, du bist ein absoluter Meisterschütze.« Jack musterte Red blasiert. »Ich habe etwas, das ein bißchen nachhelfen wird.« Red runzelte die Stirn. »Sei mit diesem Zeug vorsichtig. Damit spielt man nicht.« »Danke für den Rat. Aber ich brauche kein Kindermädchen.« Allein bei der Erinnerung an diese Bemerkung wurde sie rot. Molo ging voraus, den Höhenrücken entlang zum Maisfeld. Das höfliche Palaver war vorbei. Allmählich näherten sie sich dem Grund seines Besuchs. Als sie den Rand des grünen Feldes erreicht hatten, schlug Molo den Weg am nördlichen Saum der Pflanzung ein. Sie kamen zu der Anhöhe, jenem Ausguck, den Jack allmorgendlich aufsuchte, bevor er das Haus verließ und Red traf. Auf der Anhöhe blieb Molo stehen. In diesem Augenblick sah sie, daß er seine panga, das machetenähnliche Buschmesser bei sich trug, dessen breite Klinge zum Schneiden des Grases, zum Hacken der Wurzeln, zum Ausgraben der Kartoffeln, zum Baumschneiden und
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zum Hühnerschlachten benutzt wurde. Es gehörte zum Leben auf dem Land in Afrika wie die Hacke zu Amerika vor der Erfindung der landwirtschaftlichen Maschinen. Normalerweise, wenn Molo einen Höflichkeitsbesuch bei ihnen machte oder Jack geschäftlich sprechen wollte, ließ er seine panga zu Hause. Molo deutete mit der panga. Ihr Blick folgte der dunklen Linie seines Arms bis zum Ende der Klinge. »Schwein kommen aus Wald und kriechen auf dem Bauch durch Mais.« Im ersten Moment sah sie die schwach angedeutete Furche zwischen den grünen Maisstengeln gar nicht. Doch dann entdeckte sie die schmale Linie, die quer über das sonst unberührte Feld führte. »Sie hierbleiben, Memsab Simon.« Es lag etwas in seinem Ton, was sie hellhörig machte. Er war nicht unhöflich, sondern schien sie eher beschützen zu wollen. Und sie fragte sich automatisch, woher eine Bedrohung kommen sollte. Oder hatte sie das alles falsch verstanden? Hatte sie den Schwarzen wieder einmal nicht zu deuten gewußt? »Molo, du glaubst doch nicht, daß das Schwein jetzt hier ist?« »Nein, Schwein verschwunden.« »Dann warum… was…?« »Besser hierbleiben. Ich nachsehen.« Sie nickte. Molo mochte zwar Gast auf ihrem Land sein, doch sie war noch immer eine Fremde in seiner Heimat. Nervös und ängstlich, ohne sich der Gründe für ihre Gefühle bewußt zu sein, beobachtete sie Molo, wie dieser den kleinen Abhang hinunterging und das Maisfeld betrat. Der Himmel über ihr war noch ebenso blau wie noch wenige Minuten zuvor, als sie ihn aus dem Tal heraufkommen gesehen hatte, mit denselben weißen, sich auftürmenden Wolken. Noch immer war kein Anzeichen von Regen zu erkennen. Etwas anderes hatte einen Schatten auf den Tag geworfen. Der Mais stand schulterhoch. Als Molo stehenblieb, um etwas auf der Erde zu betrachten, konnte sie nicht sehen, was das war. Was hatte er gefunden? Was betrachtete er?
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Er richtete sich auf und setzte seinen Weg fort, nur um nach wenigen Schritten erneut stehenzubleiben. Dann lief er weiter, als habe er entdeckt, wonach er suchte. Molo hatte das Feld von der dem Wald zugewandten Seite her betreten und folgte der ausgetretenen Spur. Als ihr Blick weiter vorausschweifte, erkannte sie, daß die schmale Schneise im Maisfeld geradewegs zum Lagerhaus zu führen schien. Großer Gott, schoß es ihr durch den Kopf. Irgendein Tier mußte sich Zugang zu Jacks diebstahlsicherem Lager verschafft haben! Sollte Jack jeden Morgen in den vergangenen zwei Wochen hier gewesen sein, ohne das zu merken? Molo hatte den Holzschuppen fast erreicht. Während sie ihn beobachtete, kam ihr allmählich ein Verdacht. Stammte der Pfad durchs Maisfeld von einem Tier oder von einem Menschen? War es ein Mensch gewesen, der in das Saatgutlager einzubrechen versuchte? Molos Bemerkung kam ihr wieder in den Sinn: »Schwein kommen aus Wald und kriechen auf dem Bauch durch Mais.« Das schien ihr eine merkwürdige Beschreibung eines wilden Tiers zu sein. Molo stand jetzt vor dem Lagerschuppen, den Blick auf die Erde geheftet. Dann hob er den Kopf und rief ihr auf Suaheli zu: »Kommen Sie jetzt!« Stolpernd und rutschend vor Hast lief sie den Abhang hinunter. Die Ungeduld, die durch das Warten, die Neugier und die wachsende Sorge, daß etwas passiert sein könnte, noch verstärkt worden war, trieb sie voran. Der Pullover glitt von ihren Schultern, doch sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihn aufzuheben. Am Rand des Maisfeldes hob sie schützend die Arme gegen die peitschenden Maispflanzen vors Gesicht. Sie stolperte, sah zu Boden und sah, was Molo entdeckt hatte – einen blutverschmierten Stein und dann noch mehr Blut an den unteren Blättern der Maispflanzen. Vor ihr wiesen Blutstropfen den Weg. Sie waren auf der rotbraunen Erde kaum sichtbar, leuchteten jedoch auf dem blassen Grün der Maisblätter. Hatte Jack an diesem Morgen sein Opfer gestellt? Hatte er es nur verwundet? Sie sah hastig in die Runde. Der Mais bildete eine undurchdringliche grüne Wand. War es möglich, daß sich das verwun-
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dete Tier hier irgendwo versteckt hatte und geduckt darauf wartete, sich auf sie zu stürzen? Wie konnte Molo so sicher sein, daß es nicht mehr hier war? Ihr Atem ging stoßweise, als sie Molo erreichte, der im Schatten eines Holzschuppens stand. Ihr Blick fiel auf einen Erdhaufen und ein Loch, das unter dem Fundament des Lagerhauses hindurchgegraben worden war. Daneben lagen ein Sack Saatgut und eine panga, die zum Graben des Lochs benutzt worden war. Sie nahm alles in sich auf und sah noch mehr: zu Molos Füßen lag ein Pfeil mit blutigem Schaft und blutverklebter, scharfer dreieckiger Spitze. Sie schlug die Hände vors Gesicht und hörte sich stöhnen. Ein Tier benutzte keine panga, und es konnte sich auch keinen Pfeil aus der tödlichen Wunde ziehen. Der nächste Gedanke brachte sie vollends um den Verstand: Jack hatte einen Menschen getötet. Pfeile sahen alle gleich aus. Vielleicht gehörte er gar nicht Jack. Jack hatte seine Pfeile am Schaft markiert. Von dort, wo sie stand, konnte sie nichts dergleichen erkennen – lockere Erde überdeckte teilweise den Schaft. Es kostete sie eine beinahe übermenschliche Anstrengung, die Hände vom Gesicht zu nehmen. Sie mußte sich vergewissern. Und trotzdem zögerte sie. Dann trat sie grimmig entschlossen und mit ausgestreckter Hand einen Schritt vorwärts. Doch noch bevor sie die Bewegung zu Ende führen konnte, fiel Molos Schatten über sie, sein Arm legte sich über ihre Brust und warf sie zu Boden. Mit einem erstickten Aufschrei starrte sie zu dem Schwarzen auf, der mit erhobener panga über ihr stand. Die Klinge zischte durch die Luft, erfaßte den blutverschmierten Pfeil und schleuderte ihn beiseite. Sie sah, wie er seine panga in die Erde stieß und sich zu ihr umdrehte. »Tut mir leid, Memsab. Aber der Pfeil vergiftet.« Er streckte die Hand aus und half ihr auf die Beine. »Der kleinste Kratzer bedeuten Tod.« Das nackte Entsetzen steckte ihr noch in den Knochen, und sie traute ihrer Stimme kaum, denn Molo durfte von ihrem Verdacht nichts erfahren. Sie sah ihn an und deutete auf den Pfeil. Langsam formten ihre Lippen die Frage: »Ist es der Pfeil des Bwana?«
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»Ja«, antwortete er. »Er hat meinen Bruder getötet.« Sie streckte die Hand aus und ließ sie kraftlos wieder sinken. Was gab es da zu sagen? »Mir auch leid tun«, sagte Molo. Und sie wußte plötzlich, daß Molo ihre Mimik besser zu deuten wußte als umgekehrt. »Mir leid tun, daß Bruder Dieb geworden und daß Ihr Mann muß sterben.« Großer Gott, dachte sie. Was soll das bedeuten? Blutrache eines Stammes? Konnte sie Molo zur Vernunft bringen? Wenn nicht, mußte sie Jack irgendwie warnen. Möglicherweise waren er und Red noch in der Stadt. Sie wandte sich Molo zu und hoffte, die richtigen Worte zu finden, um ihn zu überzeugen, doch Molo kam ihr zuvor. Er sprach langsam, nachdenklich und in einem seltsamen Kauderwelsch aus Englisch und Suaheli. »Bevor Bwana gekommen, mein Bruder war Wachmann bei Bwana Red. Er schlafen nachts vor dem Saatgutlager, dem alten, das wir nicht mehr benutzen. Niemand je gestohlen, sonst die panga von meinem Bruder zu spüren gekriegt.« Molos Blick fiel auf die Stelle, wo das Messer lag. Dann sah er sie wieder an: »Aber dann kam der neue Bwana und alles anders, und mein Bruder wurde ein Dieb.« Er hielt inne. Mehr vermochte er wohl nicht zu sagen. »Aber warum hat dein Bruder meinem Mann Pfeil und Bogen verkauft? Warum hat er ihm das Gift gegeben?« »Den Bogen hat er verkauft, weil er Geld gebraucht und gedacht hat, daß der Bwana nicht gut schießen. Aber Gift hat er ihm nicht gegeben. Das hätte er nie getan. Der Bwana hat das Gift woanders her… von jemandem weit weg, dem viel Geld bezahlen.« Plötzlich neigte Molo den Kopf zur Seite. Er schien ein Geräusch zu hören. Und dann hörte sie es auch. Der Landrover kehrte zurück. Sie hörte, wie er in die Kiesauffahrt einbog. »Sein Bwana Red«, erklärte Molo. Sie starrte angestrengt über das Maisfeld, doch der Landrover war für sie zu weit weg, als daß sie hätte erkennen können, wer im Wagen saß. Er kam geradewegs auf sie zu und fuhr so dicht wie nur
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möglich an das Maisfeld heran. Dann sah sie Red am Steuer. Der Sitz neben ihm war leer. Sie lief auf ihn zu. »Wo ist Jack?« »In der Stadt. Was ist los? Er hat mich hergeschickt. Ich solle mir hier was ansehen, hat er gesagt.« »Es war kein Wildschwein im Mais – es war Molos Bruder. Er hat ein Loch unter dem Fundament des Lagerhauses gegraben.« Red kletterte stirnrunzelnd vom Landrover. »Ein Punkt für Jack. Ich hätte nie gedacht, daß aus Molos Bruder je ein Dieb werden könnte.« Dann huschte ein Hoffnungsschimmer über sein Gesicht. »Jack hat ihn vermutlich in flagranti ertappt, oder?« Sie holte tief Luft. »Jack hat ihn nicht ertappt. Er hat ihn umgebracht.« Red starrte sie fassungslos an. »Warum? Er war ein Mensch, kein Tier! Warum hat er ihn getötet?« Tränen traten ihr in die Augen, doch sie beherrschte sich. Die Zeit zum Weinen war vorbei. Auf Reds Frage wußte sie keine Antwort. Sie hatte sich das selbst bereits gefragt. Molo stellte sich zu ihnen. Red wandte sich an ihn. »Wie ist das passiert? Er war kein besonders guter Bogenschütze.« »Pfeil treffen hier.« Molo berührte seinen Oberschenkelmuskel. »Hätte ihn nicht getötet, aber er war vergiftet.« »Vergiftet!« Red sah sie an. »Woher hatte Jack das Gift?« »Ich dachte von Molos Bruder. Aber Molo leugnet das. Er sagt, er habe es irgendwo von weither bekommen.« »Dieser arrogante… das gibt Ärger für uns alle… für die Weißen und die Schwarzen.« Molo schüttelte den Kopf. »Nein, Bwana Red. Keinen Ärger. Mein Bruder tot. Und der Bwana wird sterben. Damit alles zu Ende.« »Molo, alter Freund«, begann Red auf suaheli. »Die Viper stirbt letztendlich an ihrem eigenen Gift. Bring dich lieber nicht in Gefahr.« Sie sah von einem zum anderen. Was hatten sie gesagt? Sie hatte das Sprichwort verstanden, wußte jedoch nicht, welchen Bezug es haben sollte. Sie wandte sich an Red: »Warum ist Jack nicht mit dir zurückgekommen? Wo ist er?«
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»Ich habe ihn beim Hospital abgesetzt. Er hat sich an einem dieser verdammten Pfeile geschnitten – nicht schlimm, aber die Wunde muß genäht werden. Ich wollte auf ihn warten, aber er hat mich fortgeschickt. Jetzt begreife ich, warum.« Sie horchte auf jedes Wort, auf jede Silbe und allmählich zeichnete sich das Entsetzen, das in ihr wuchs, auch auf ihrem Gesicht ab. Red ergriff ihre Hand. »Mein Gott, das tut mir leid. Ich weiß, was du denkst. Aber mit ihm ist alles in Ordnung. Es ist nur ein kleiner Kratzer. Das Gift wird nicht auf die Pfeilspitze, sondern auf den Schaft gegeben, weißt du. Sonst wäre es wirklich zu gefährlich. Man ritzt sich so leicht daran – wie du siehst.« Sie schaute ihn an und schüttelte den Kopf. Dann drehte sie sich zu Molo um. »Woher hast du es gewußt? Woher wußtest du, daß der Bwana sterben wird?« »Viele Leute in der Stadt – warten vor Hospital. Sie bringen Nachricht zu meiner shamba.« »Was soll das alles?« erkundigte sich Red. »Ich hab’ dir doch gesagt, daß ihm nichts passieren kann.« »Nein«, widersprach sie. »Nein, es ist schon passiert. Er wußte ja nicht, daß man das Gift auf den Schaft des Pfeils gibt – er hat die Pfeilspitzen damit präpariert.«
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Die Hochebene Clark Howard Tank Sherman fühlte die Hand seiner Tochter Delia, die ihn sanft wach rüttelte. »Tank, Tank! Wach auf! Bruno ist tot.« Tank setzte sich auf, schwang die Beine von der Bettstatt, auf der er in voller Montur, jedoch ohne Stiefel, geschlafen hatte. Bruno? Bruno tot? »Du meinst Hannah«, sagte er und tastete automatisch nach den Stiefeln. »Nein, Tank. Ich meine Bruno. Hannah lebt. Bruno ist tot.« Tank runzelte die Stirn. Das war gegen die Natur. Er schlüpfte zuerst mit dem einen, dann mit dem anderen Fuß in die schwarzen Cowboystiefel. Er hatte diese Stiefel seit sechzehn Jahren, und sie waren so weich wie Handschuhleder. Nachdem er sie angezogen hatte, setzte er sich wieder und starrte verwirrt zu Boden. Bruno tot? Wie war das möglich? Bruno hätte Hannah eigentlich überleben müssen. Bruno war jung. Hannah war alt. Außerdem hatten sie wegen Bruno das Lotteriespiel veranstaltet. »Was ist passiert?« fragte er Delia. »Keine Ahnung. Doc Lewis ist schon unterwegs.« Sie ging durch die kleine Hütte mit dem einzigen Zimmer zum Herd und zündete die Gasflamme unter dem Kaffeekessel an. Dann griff sie nach einer Tasse und goß einen Schluck Pfirsichschnaps hinein. »Was meinst du? Wird die Jagd trotzdem abgehalten? Jetzt ist Bruno schließlich nicht mehr da. Nur noch Hannah.« »Nein«, erwiderte Tank im Brustton der Überzeugung. »Das können sie gar nicht machen. Das wäre keine Jagd. Das wäre nur Zielschießen.« Der Kaffee war fertig. Delia goß ihn zum Schnaps und brachte Tank die Tasse. Während er Schluck für Schluck trank, betrachtete er seine Tochter. Sie hatte das dunkle Haar ihrer Mutter geerbt: dick und schwarz wie die Flügel einer Krähe. Und die hohen Wangenknochen des Stammes der Mutter, einer Shoshonin. Die verhältnismäßig helle Haut des Halbbluts und die blauen Augen hatte sie von ihm. Ihr ganzes Leben lang hatte sie ihn Tank und nicht Daddy ge-
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nannt. Der Körper der Neunzehnjährigen war wohlgeformt und fest. Sie lebte in ihrem eigenen Wohnmobil ein Stück weiter unten an der Straße. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als professionelle Siebzehnundvierspielerin in einem illegalen Spielsalon hinter dem Restaurant »Custers’s Last Stand«. Tank wohnte noch in derselben Hütte, in der Delia geboren war. Seit einem Jahr, seit Delias Auszug, lebte er dort allein. Einsam war er seit sechs Jahren, seit Delias Mutter an Arthritis gestorben war. »Gehst du runter?« fragte Delia. »Gleich.« Er hielt die Kaffeetasse mit beiden Händen, als wolle er sich daran wärmen, und sah lächelnd zu seiner Tochter auf. »Weißt du noch, wie wütend deine Mutter gewesen ist, als sie dich dabei erwischt hat, wie du Schnaps in meinen Kaffee getan hast?« »Ja.« Delia erwiderte sein Lächeln. »Sie wollte immer was aus mir machen, deine Ma. Wollte immer, daß ich was tue, was wichtig ist. Aber vermutlich ist mir das einfach nicht gegeben. Wenn Hannah zuerst gestorben wäre, wie man das eigentlich hätte annehmen sollen, tja… ja dann hätte ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas tun können, was von Bedeutung gewesen wäre. Von Bedeutung wenigstens für deine Ma, wenn sie noch lebte. Und für Bruno. Aber Bruno verdirbt alles und stirbt zuerst. Also habe ich wieder nichts Wichtiges zu tun. Wenn deine Mutter noch bei uns wäre, würde sie bei ihrem Medizinbeutel schwören, daß ich das so arrangiert habe.« Tank schüttelte emotionslos den Kopf und trank einen kräftigen Schluck Kaffee. Mit sechzig war Tank ein schlanker, verlebter Mann mit keinem Gramm Fett auf den Knochen. Sein Gesicht trug die Spuren von Hunderten von Fäusten. Zwanzig Jahre zuvor war er mit einer fahrenden Box-Show in die Stadt gekommen, bei der Weiße gegen Indianer gekämpft hatten. Dan Sherman war sein Name gewesen, aber sie hatten ihn »Tank« genannt, weil er so stark und zäh war. Tank Sherman, nach dem Sherman Tank. An ihm waren die Gegner abgeprallt wie an einem Panzer. Er konnte Schläge wegstecken wie Jake LaMotta. Aber damals hatte er bereits zu viele eingesteckt. In der Kleinstadt in Montana hatte ihm ein Nord-Cheyenne, der die Weißen haßte, das Gesicht zu Brei geschlagen. Und als die Show
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weiterzog, nahm sie den Cheyenne mit und ließ Tank zurück. Delias Mutter hatte ihn hinter dem Supermarkt gefunden, wo er versucht hatte, ein paar Cracker und Wienerwürstchen zu essen, die er von seinem letzten Dollar gekauft hatte. Seine Lippen waren so geschwollen, daß er kaum kauen konnte, seine Augen nur noch Schlitze, durch die er kaum etwas zu erkennen vermochte. Delias Mutter hatte ihn mit nach Hause genommen. Danach hatten sie sich nie wieder getrennt. Delia war ihr einziges Kind. »Gehen wir runter«, sagte Tank, als er seinen Kaffee ausgetrunken hatte. Die Hütte lag an einem flachen Hang. Als Tank und Delia den Weg entlanggingen, sahen sie, daß sich vor dem Büffelgehege bereits Schaulustige versammelten. Die Tierschau bestand eigentlich nur aus einem kleinen Stall mit angrenzendem Pferch. Über der Stalltür prangte ein farbenfrohes Schild mit der Aufschrift: »DIE LETZTEN LEBENDEN BÜFFEL« – EINTRITT $1. Die Touristen kauften Eintrittskarten und stellten sich am Gatter auf. Dann wurde die Stalltür geöffnet. Man trieb Bruno und Hannah in den Pferch, wo sie zur Besichtigung freigegeben waren. Die beiden waren die letzten überlebenden nordamerikanischen Bisons. Jetzt allerdings war da nur noch einer. Der alte Doc Lewis, der Tierarzt einer nahe gelegenen CrowReservation untersuchte Bruno gerade, als sich Tank und Delia ihren Weg durch die Menge bahnten. »Woran ist er gestorben, Doc?« fragte Tank und sah auf den riesigen Büffel hinab, der vor ihnen auf der Erde lag. »Herzschlag«, antwortete der Tierarzt und klopfte sich den Staub aus der Hose. »Der Bursche war zu fett. Muß weit mehr als zweitausend Pfund gewogen haben.« Tank nickte. »Ist schwer, in einem Gatter nicht fett zu werden.« Doc Lewis machte sich Notizen in ein kleines Buch. »Wie alt war er? Wissen Sie das?« »Neun«, antwortete Tank. »Meine Frau hat bei seiner Geburt geholfen.« In sein zerschundenes Boxergesicht trat ein trauriger Ausdruck, als er sah, wie Delia die Hand ausstreckte und den massigen Schädel des toten Büffels klopfte. Dann sah er zu der Ecke des Ver-
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schlags hinüber, in dem Hannah stand und alles ruhig beobachtete. Während Bruno ein junger Bulle gewesen war, war Hannah eine alte Büffelkuh von mindestens dreißig Jahren, mit einem lichteren und helleren Fell als die meisten Büffel. Ein dreieckiger, fast blonder Fleck am Nackenansatz deutete daraufhin, daß es irgendwann in der Reihe der Vorfahren einen weißen Bison gegeben haben mußte. Außerdem war Hannah kleiner als Bruno, ihre Schulterhöhe maß nur gut einen Meter fünfzig, und sie wog nur wenig mehr als siebenhundert Pfund. »Schätze, die große Büffeljagd muß abgesagt werden, was, Doc?« erkundigte sich Tank. Delia hatte ihn dasselbe gefragt, und der Doc gab jetzt dieselbe Antwort. »Natürlich. Eine Jagd auf Hannah könnte man wohl kaum als sportliches Ereignis bezeichnen. Sie ist viel zu alt.« Zu dritt gingen sie zu Hannah und klopften wie einem Zwang gehorchend ihren Hals. »Tja, altes Mädchen«, sagte Doc Lewis. »Du kommst in die Geschichtsbücher… als letzter Präriebüffel Nordamerikas.« »Vielleicht kommt sie auch auf ’ne Briefmarke oder so«, bemerkte Delia. »Möglich«, stimmte Doc Lewis ihr zu. »’s gab sogar mal ein Fünfcentstück mit ’nem Büffel drauf. Aber das war vor deiner Zeit.« In diesem Augenblick trat eine hübsche junge Frau in der Uniform des State Park Rangers aus dem Stall und kam auf sie zu. Das weiße Mädchen mit Schulbildung und dem sicheren Auftreten verkörperte all das, was Delia nicht war. »Tag, Dr. Lewis, Mr. Sherman«, begrüßte sie die Männer. »Hallo, Delia.« Sie hakte einen Zügel in Hannahs Zaumzeug. »Das Hauptquartier hat gerade angerufen. Die Büffelschau wird geschlossen. Und ich soll Hannahs Hufe in Ordnung bringen. Ist es nicht aufregend?« Doc und Tank tauschten überrascht einen Blick. »Was soll daran aufregend sein?« fragte der Tierarzt beinahe zögerlich. Tank und er ahnten instinktiv, was kommen würde. »Na, die Jagd natürlich. Ich weiß, mit Bruno wäre selbstverständlich alles anders gewesen. Trotzdem ist es die allerletzte Büffeljagd. Das ist doch ein historisches Ereignis.«
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»Das ist blanke Barbarei«, entgegnete Doc Lewis vorwurfsvoll. »Soll das heißen, daß die Jagd stattfindet?« wollte Tank wissen. »Auf Hannah?« »Sicher doch.« Der weibliche Ranger zuckte mit den wohlgeformten Schultern. »Was denn sonst? Die Tickets sind verkauft, die Ziehung der Gewinner hat stattgefunden. Sie erwarten doch wohl nicht, daß die Regierung wortbrüchig wird, oder?« »Nein, bestimmt nicht«, warf Delia ein. »Wäre ja auch das erste Mal.« »Na, sehen Sie.« Dem weiblichen Ranger war Delias beißender Sarkasmus völlig entgangen. »Soviel ich weiß, wurden allerdings die Regeln leicht abgeändert. Aus Gründen der Fairneß. Bruno sollte doch einen Vorsprung von zwölf Stunden kriegen. Hannah bekommt volle vierundzwanzig.« Sie lächelte zufrieden. Doc Lewis wandte sich angewidert ab und stapfte davon. Tank und Delia gingen ebenfalls. Auf dem Rückweg zu Tanks Hütte sagte Delia: »Sieht ganz so aus, als solltest du doch noch deine Chance kriegen, was Bedeutendes zu tun.« Tank dachte an seine verstorbene Frau und nickte: »Sieht so aus.« Nachdem allmählich klargeworden war, daß die Präriebüffel zum Aussterben verurteilt waren, weil der Bestand an Büffelkühen hoffnungslos überaltert war, hatte der Staat sofort zwei Maßnahmen ergriffen: die wenigen verbliebenen Exemplare der Spezies wurden in einem Gehege zusammengefaßt und zur Besichtigung freigegeben; außerdem wurde eine landesweite Lotterie ins Leben gerufen, um den Personenkreis zu bestimmen, dem die Chance zuteil werden sollte, an der Jagd nach dem letzten nordamerikanischen Büffel teilzunehmen. Fell und Trophäe sollten dem Sieger gehören. Beide Maßnahmen erwiesen sich als ungeheuer erfolgreich. Die SCHAU DER LETZTEN BÜFFEL, vom staatlichen »Bureau of Parks« verwaltet, war neun Monate im Jahr geöffnet. Unterhalten wurde sie von Park Rangers. Sie arbeitete mit geringem Aufwand und wurde zur gewinnträchtigsten Touristenattraktion des Staates. Im gesamten Umkreis des Geheges waren Münzautomaten aufgestellt, aus denen die Besucher für einen Vierteldollar Trockenfutter ziehen und es an die Büffel verfüttern konnten. Wie Erdnüsse für die Affen im Zoo,
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nur mit dem Unterschied, daß die Büffel sich weigerten, Kunststücke vorzuführen. Trotz der anfänglich enthusiastischen Bemühungen der Rangers, die auch auf die Peitsche nicht verzichteten, hatten sich die Büffel hartnäckig und gelassen allen Dressurversuchen verweigert. Die Ranger mußten sich schließlich darauf beschränken, die Büffel aus dem Stall in das Gehege zu führen, wo sie stoisch herumstanden und sich von kleinen Kindern mit Trockenfutter vollstopfen ließen. Nichtsdestotrotz waren die Büffel eine beliebte Touristenattraktion. So gewinnbringend das Unternehmen jedoch war, die Einkünfte blieben im Vergleich zu dem, was die Lotterie einbrachte, eher bescheiden. Nach einem von einem jungen, gewitzten Regierungsbeamten konzipierten System waren im ganzen Land zwei Millionen Lotteriescheine, das Stück fünf Dollar, aufgelegt worden. Der Vorrat war innerhalb eines Monats verkauft, und der Staat hatte so eben mal schnell zehn Millionen Dollar verdient. Selbst Bürger, die nie ein Jagdinteresse gehabt hatten, erwarben aus reiner Spekulationsfreude Lotteriescheine. Schon vor der Gewinnziehung erschienen Annoncen von Leuten, die anboten, die Gewinnscheine den Inhabern abzukaufen. Die Ziehung der drei Gewinner erfolgte nach dem Zahlensystem, das durch die Anzahl der täglich an der New Yorker Börse gehandelten Aktien vorgegeben war. Die glücklichen Gewinnscheininhaber waren ein Klavierstimmer aus Boston, ein Kellner aus Memphis und ein Rancharbeiter aus Nevada. Der Klavierstimmer verkaufte seinen Lotterieschein für zehntausend Dollar an Gregory Kingston, den Schauspieler. Der Kellner verkaufte seinen Schein für achttausendfünfhundert an den Bestsellerautor Harmon Langford. Lester Ash, der Rancharbeiter, behielt sein Ticket selbst. Er war zu dem Schluß gelangt, daß Fell und Trophäe wesentlich mehr wert sein würden als der Lotterieschein. Und er räumte sich weitaus bessere Jagdchancen ein als dem Schauspieler und dem Autor. Innerhalb von zwei Stunden nach dem höchst unpassenden Tod von Bruno, wurden die drei registrierten Besitzer der Gewinnscheine aufgefordert, sich ihren Preis zu holen. Hannah, der letzte überlebende Präriebüffel sollte am Freitag um zwölf Uhr mittags in der Prärie freigelassen werden.
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Samstagmittag um zwölf Uhr war für die Lotteriegewinner die Jagd auf. Am Donnerstag gegen Mitternacht war Tank Sherman reisefertig. Er hatte einen Pferdetransporter an seinen Ford-Lieferwagen angekoppelt. Aus dem ursprünglich mit zwei Boxen ausgestatteten Transporter hatte er die Trennwand entfernt, so daß eine geräumige Box entstanden war. Nachdem der Wagen gut hundert Meter hinter dem Büffelgehege in der Prärie geparkt hatte, stiegen er und Delia aus und schlichen in der Dunkelheit in den Stall, brachen das Vorhängeschloß mit einer Drahtschere auf und führten Hannah ins Freie. Die alte Büffelkuh war zahm wie ein Lamm und machte keinerlei Geräusche, als Delia ihr eine Handvoll frisches Gras gab und Tank ihr das Zaumzeug anlegte. Nachdem sie die Büffel-Dame auf den Anhänger geladen und lautlos die Klappe geschlossen hatten, überreichte Tank Delia ein Kuvert. »Da ist die Grundstücksurkunde für das Blockhaus. Und das Sparbuch deiner Mutter. Bei ihrem Tod hatte sie sechshundertvierzig Dollar gespart. Die Summe sollte an deinem einundzwanzigsten Geburtstag dir gehören. Oh, und der Fahrzeugschein des Lieferwagens ist auch dabei… für alle Fälle. Ich glaube, das ist dann alles.« Delia nahm eine Papiertüte und eine Thermoskanne aus ihrem Jeep. »Belegte Brote«, sagte sie. »Und Kaffee. Mit… ehem…« »Ja, mit Schnaps.« Er stellte Papiertüte und Thermoskanne auf den Beifahrersitz und zog einmal die Nase hoch, als sei eine Erkältung im Anzug. »Paß gut auf dich auf, mein Kind«, erklärte er schroff und machte Anstalten, in den Lieferwagen zu steigen. Plötzlich jedoch drehte er sich um. »Hör mal, ich weiß, daß ich kein Bilderbuch-Vater gewesen bin. Ich konnte dir auch kein besseres Zuhause als die Blockhütte bieten, und aufs College habe ich dich auch nicht geschickt. Aber das hat mit Liebe nichts zu tun. Verstehst du?« »Natürlich«, antwortete Delia. Sie zuckte mit den Achseln. »Immerhin hast du mir das Pokern beigebracht und gezeigt, wie man einen Reifen wechselt oder es anstellt, daß einem die Eichhörnchen aus der Hand fressen. So was lernen die wenigsten Mädchen.« Delia hatte Mühe, ihrer Stimme einen normalen Klang zu geben. Nur die
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Tränen konnte sie nicht zurückhalten. Sie wußte jedoch, daß Tank sie im dunkeln nicht sehen würde. »Okay«, sagte Tank. »Ich mache mich jetzt auf den Weg.« Damit zog er die Tür des Lieferwagens leise zu, ließ den Motor an und fuhr langsam und ohne Licht davon. Delia winkte in der Dunkelheit hinter im her und murmelte: »Bye… Daddy.« Tank erreichte den Highway, schaltete die Scheinwerfer ein und gab Gas. Okay, Rose, das tue ich für dich, Schätzchen, dachte er. Mit Rose war Tanks verstorbene Frau gemeint, die Frau, die sich immer gewünscht hatte, daß er eines Tages etwas Besonderes tun würde. Ihr Shoshoni-Name war »Primrose«, was Nachtkerze bedeutet, weil sie an einem Juliabend geboren war, an dem die Nachtkerzen geblüht hatten. Später, als sie in die Stadt gezogen und den Lebensstil des weißen Mannes angenommen hatte, hatte sie nur noch die Abkürzung Rose benutzt. In Tanks Erinnerung war Rose eine Schönheit. Das entsprach nicht der Wahrheit. Rose war nicht einmal hübsch gewesen. Sie hatte ein wenig anziehendes Gesicht mit viel zu eng zusammenstehenden Augen, einer langen Nase und einer pockennarbigen Wange gehabt. Lediglich ihr Haar, dick und glänzend wie schwarzer, polierter Onyx, war wirklich schön gewesen. Tank jedoch sah so viel mehr in ihr, als oberflächlich betrachtet erkennbar gewesen wäre. Er sah ihre Hoffnungen und Träume, ihren Stolz, ihre Nacktheit, wenn sie sich liebten, ihre heimlichen Freuden. Es waren all diese Dinge zusammen, die aus ihr eine Schönheit für ihn machten. Drei Monate nachdem sie ihn nach seinem fatalen Kampf bei sich aufgenommen hatte, hatte sie ihm zum ersten Mal die Büffel gezeigt. An Roses freiem Tag waren sie früh aufgestanden. Rose arbeitete in einer Zuckerfabrik. Und sie waren in ihrem alten Jeep in die Prärie gefahren. Dort, auf einer abgeschiedenen Weide, graste eine kleine Büffelherde: drei Bullen, eine Kuh und sechs Kälber. Sie waren der Anfang der großen Wanderbewegung der Büffel, die die Touristenschwemme von den Black Hills immer weiter nördlich und westlich trieb.
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»Sehen sie nicht edel aus?« hatte Rose gefragt. »Wie würdevoll sie dastehen und dreinschauen.« Ihre Augen waren feucht geworden, und sie hatte hinzugefügt: »Sie sehen zu, wie ihre Welt untergeht.« Von Rose erfuhr er, daß es einst sechzig Millionen Büffel gewesen waren. Nie hatte es eine solche Ansammlung großer Tiere auf einem Gebiet gegeben. Für den roten Mann der Prärie waren die Büffelherden die Säulen seiner Existenz. Der Büffel allein gab ihm zu essen, gab ihm das Material für Kleidung, Zelte und die Medizin für eine ganze Rasse. Es war das einzige Mal in der Geschichte der Menschheit, daß ein derartiges Gleichgewicht zwischen Mensch und Tier erreicht worden war. »Und dann ist der weiße Mann gekommen«, sagte Rose. »Zuerst hat er den Büffel wegen seines Fleisches und der Häute getötet. Genau wie unsere Leute. Das war in Ordnung. Die Herden waren groß. Später hat der weiße Mann nur noch wegen der Häute getötet, und die Kadaver in der Sonne verrotten lassen. Auch dieses Verhalten, wenn es auch würdelos war, hätte man tolerieren können. Aber dann fing der weiße Mann an für etwas zu töten, was er Sport nannte. Sport und Spaß. Freizeitvergnügen. Zuerst haben sie sie zu Zehntausenden umgebracht. Der Schlächter Cody, den sie Bufallo Bill nannten, hat allein in siebzehn Monden nachweislich einundvierzigtausend Büffel getötet. Bald wurden sie zu Hunderttausenden aus purer Böswilligkeit abgeschlachtet. Heute sind nur noch ein paar Hundert übrig. Die meisten in den Black Hills. Aber allmählich ziehen sie wieder hierher zurück.« »Warum?« fragte Tank fasziniert. »Sie wissen, daß ihr Ende naht. Tiere wissen das. Sie wissen, wann ihre Zeit zu Ende ist. Jedes Jahr gibt es weniger Kälber, die Herde wird ständig kleiner. Deshalb sind sie auf der Suche nach einem Platz, wo ihre Art aussterben kann. Sie suchen nach einer fetten Weide, von Menschen unberührt. Einen Platz, an dem sie mit Würde sterben können.« All die Jahre, die Tank Sherman die Shoshoni-Frau Rose gekannt und mit ihr gelebt hatte, hatte sie den großen Präriebüffel geliebt und um seine zum Aussterben verdammte Spezies getrauert. So sehr Tank Rose vermißte, war er doch froh, daß sie es nicht mehr hatte
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erleben müssen, wie die letzten der Büffel, Bruno und Hannah, eingesperrt und zur Schau gestellt worden waren. Und zum Glück war ihr auch das Wissen um die Lotterie erspart geblieben, durch die das Vorrecht, den letzten Überlebenden zu jagen und zu töten, vergeben worden war. Deshalb tue ich das für dich, Schätzchen, dachte er, während er mit Hannah im Pferdeanhänger nach Südosten fuhr. Er hatte ungefähr fünf Stunden Vorsprung. Das waren vermutlich zweihundertfünfzig Meilen. Vielleicht war es genug. Vielleicht auch nicht. Zwei Stunden nach Sonnenaufgang, spazierte ein ungewöhnlich gutaussehender Mann wutschnaubend im leeren Büffelgehege auf und ab. »Was, zum Teufel, soll das heißen – verschwunden? Wie kann ein so großes Tier wie ein Büffel einfach verschwinden?« Der Mann war Gregory Kingston, ein Schauspieler und Oscarpreisträger. Im Augenblick allerdings spielte er keine Rolle; er war außer sich vor Wut. »Der Staat hat uns diese Jagd garantiert«, erklärte ein zweiter. Er war kleiner, dicker und nicht so attraktiv, zeigte doch mehr Haltung. Es war Harmon Langford, ein international bekannter Bestsellerautor. Wie Kingston trug er einen teuren Jagdanzug und hielt ein wertvolles, handgefertigtes, ziseliertes ausländisches Jagdgewehr in der Hand. »Wer ist hier eigentlich verantwortlich?« erkundigte er sich ruhig. Ein dritter, Lester Ash, der Rancharbeiter aus Nevada, hielt sich etwas im Hintergrund. Obwohl er kein Wort sagte, entging ihm nichts. Er trug Arbeitskleidung: Jeans und Leder. »Meine Herren«, flehte der verantwortliche Regierungsbeamte. »Bitte glauben Sie mir! Wir tun alles, um die Sache so schnell wie möglich aufzuklären. Im Augenblick wissen wir nur, daß Hannah entführt wurde. Die Polizei ist benachrichtigt, und es wurde bereits eine Suchaktion eingeleitet.« »Weshalb sollte jemand einen Büffel entführen?« fragte Kingston laut und vernehmlich in die spärliche Runde und fuchtelte hilflos mit den Armen herum. Jetzt spielte er eine Rolle. »Kingston, wir reden nicht von einem Büffel, sondern von diesem Büffel«, warf Harmon Langford ein. »Immerhin gibt es Leute…«,
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sein Blick ruhte bedeutungsvoll auf Lester Ash, »…die sich nicht wie wir aus Sportsgeist, sondern aus reiner Profitgier für dieses Tier interessieren.« Lester Ash grinste nur. Langford fuhr fort: »Sowieso können wir es uns nicht leisten, Zeit mit Ursachenforschung zu vergeuden. Die Frage ist, wo ist unser prächtiger Büffel? Und wie kriegen wir ihn wieder?« Der Mann von der Nationalparkverwaltung räusperte sich. »Wir müßten jeden Augenblick Nachricht von der Verkehrspolizei kriegen. Sämtliche Straßen im Staat werden überwacht.« »Und was schlagen Sie vor, daß wir tun sollen?« wandte sich Gregory Kingston an Langford. »Wir sollten dafür sorgen, daß wir so schnell wie möglich bei unserem Büffel sein können, sobald er wieder auftaucht«, antwortete der Schriftsteller. »In jedem Fall ist Eile geboten. Wir müssen verhindern, daß uns irgendein dahergelaufener Möchtegern-Cowboy zuvorkommt und den Büffel einfach über den Haufen schießt. Von der Sorte gibt’s hier genug. Sie kennen deren Markenzeichen: Lieferwagen, Gewehre auf der Heckablage, ausgeblichene Jeans. Könnte mir vorstellen, daß so mancher von denen als der Mann in die Geschichte eingehen will, der den letzten Büffel geschossen hat.« »Genau wie Sie, was?« meldete sich Lester Ash zum ersten Mal zu Wort. Langford lächelte hämisch. »Ja«, gab er zu und fuhr fort: »Und auch genau wie Sie.« Sie sahen sich einen Moment lang an. Jeder erkannte im anderen die verwandte Seele. Dann sagte Langford: »Was wir brauchen, ist ein schnelles, flexibles Transportmittel.« Er wandte sich an den Mann von der Nationalparkverwaltung: »Wo kann man hier einen Hubschrauber mieten?« »Ungefähr fünfzig Meilen von hier.« »Dann schlage ich vor, wir machen uns umgehend auf den Weg. Wenn der Büffel wieder auftaucht, haben wir einen Hubschrauber und sind sofort zur Stelle. Die Behörden haben keine Einwände, nehme ich doch an?«
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Der Mann von der Nationalparkverwaltung zuckte mit den Achseln. »Vorausgesetzt, Sie haben alle drei dieselbe Chance und keiner schießt aus der Luft.« »Selbstverständlich nicht. Wir sind doch keine Barbaren.« Langford sah Kingston und Lester Ash an. »Einverstanden?« »Einverstanden«, antwortete der Schauspieler. »Gehen wir«, sagte Ash. Drei Stunden zuvor hatte Tank den Lieferwagen mit Anhänger inmitten einer Ulmengruppe geparkt und war zu Fuß in das Wäldchen gegangen, wo Otter seine Blockhütte hatte. Es war noch immer dunkel gewesen, jene unheimliche Zeit zwischen Nacht und Morgengrauen. Er klopfte leise an Otters Tür. »Wer stört den schwachen alten Mann zu dieser Stunde?« fragte eine Stimme drinnen. »Ist es das Böse, das sich meine Hilflosigkeit zu Nutzen macht?« »Otter, ich bin’s, Sherman«, sagte Tank. »Der Mann deiner Tochter, die jetzt in den ewigen Jagdgründen ist.« »Was willst du?« kam es von Otter. »Ich bin arm und habe dir nichts zu bieten. Ich habe weder Geld noch Wertsachen. Ich lebe recht und schlecht von der Hand in den Mund. Weshalb bist du zu mir gekommen?« »Ich brauche deinen weisen Rat, Otter.« »Den kann ich dir vielleicht geben. Allerdings bin ich meist so schwach vor Hunger, daß jeder Atemzug mein letzter sein kann. Wie viele andere sind bei dir?« Tank lächelte in der Dunkelheit. »Ich bin allein, Otter.« Vielleicht hörte der alte Schurke jetzt endlich mit dem Theater auf. »Tritt ein«, forderte Otter ihn auf. »An der Tür stehen Kerzen.« Hinter der Eingangstür zündete Tank eine Kerze an. In ihrem Lichtschein lag ein unglaublich verdreckter, ärmlicher Raum. Die alte Schlafstatt in der Ecke bestand aus einer durchgelegenen Matratze. Im rostigen Spülbecken stapelten sich Pfannen und Töpfe. Die Schranktür hing schräg in den Angeln. Dahinter wurden abgetragene Kleidungsstücke sichtbar. Alles hier war schmutzig, übelriechend und verkommen.
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Tank blieb nicht stehen. Er ging mit der Kerze geradewegs zu einer Tür, die in einen zweiten Raum führte. Und dort fand er Otter. Der alte Indianer saß auf einem großen Bett, hatte eine Zigarre im Mund und die Whiskyflasche neben sich. Als Tank die Tür hinter sich zumachte, sicherte Otter die doppelläufige Schrotflinte auf seinem Bett und stellte sie auf den Fußboden. »Wie geht es dir, Weichgesicht?« fragte er. Als Otter Tank zum ersten Mal gesehen hatte, war das Gesicht des jungen Boxers bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen gewesen. Seither nannte Otter ihn Weichgesicht. »Gut«, antwortete Tank. »Du hast dich nicht verändert.« Der alte Indianer zuckte mit den Schultern. »Warum sollte sich etwas verändern, was seinen Idealzustand erreicht hat?« Tank lächelte und sah sich im Zimmer um. Otter lebte in einer kleinen Welt, in der er sich selbst genug sein konnte. Hier hatte er alles, was er brauchte: tragbare Klimaanlage, Farbfernseher, Mikrowellenherd, Tiefkühltruhe, Generator, das moderne Badezimmer in der einen und das japanische Dampfbad in der anderen Ecke. »Und was macht der Alkoholschmuggel?« erkundigte sich Tank. »Die Kunden sind mir treu. Ich komme zurecht.« Otter stand vom Bett auf und legte eine Hopi-Decke um die Schultern. »Spielt meine Enkeltochter noch das Kartenspiel des weißen Mannes?« »Ja.« »Und spielt sie auch falsch, wenn die Gelegenheit günstig ist?« »Ja, wenn es sich um Touristen handelt.« Otter nickte zustimmend. »Das ist gut. Selbst ein Halbblut sollte die Weißen betrügen, wann immer sich die Möglichkeit bietet.« Otter stellte den Wasserkessel auf einen Zweiplattenkocher. »Setz dich an den Tisch«, forderte er Tank auf. »Was hast du auf dem Herzen?« Tank berichtete dem alten Indianer, was er getan hatte und aus welchen Gründen. Als er von Rose und ihrer Liebe zu den Büffeln sprach, wurden Otters Augen feucht. Nachdem Tank geendet hatte, stand Otter auf, schenkte Kaffee und Schnaps ein und stellte die Tassen auf den Tisch. »Wie kann ich dir helfen?« wollte er wissen. »Ich brauche für die alte Büffelkuh ein sicheres Versteck. Irgendeinen Ort, an dem sie ihre Tage in Frieden und ohne Angst vor Jägern
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beenden kann. Einen Platz, an dem sie in Würde sterben kann, so wie deine Tochter Primrose es sich gewünscht hätte.« Otter trank langsam seinen Kaffee und dachte nach. Mehrmals schüttelte er schweigend den Kopf, als habe er eine bereits in Erwägung gezogene Möglichkeit wieder verworfen. Schließlich pochte er mit dem Finger auf die Tischplatte und sagte: »Erinnerst du dich noch an die Stelle, wo der Ditch Creek am Bear Mountain entlang fließt?« »In den Black Hills?« fragte Tank. »Wohin du uns immer zum Picknick mitgenommen hast, als Delia noch klein war?« »Das ist die Stelle. Hoch über dem Ditch Creek ist eine fette Weide, die den wenigen Überlebenden des Deerfield-Stammes gehört. Sie liegt auf dem Territorium des Black-Hills-Nationalparks. Aber die Bundesregierung hat das Weideland den Deerfields überlassen, weil keine Straße dorthin führt, und sie vermutlich überlegt haben, daß Touristen sowieso nicht dorthin gelangen können. Die Deerfields benutzen das Gelände für religiöse Feiern. Für sie ist es heiliges Land. Wenn die Büffelkuh erst einmal dort ist, kann ihr nichts mehr passieren. Da wäre sie geschützt. Allerdings führen nur ein paar Trampelpfade dort hinauf. Ich weiß nicht, ob die Büffelkuh das schafft.« »Wie hoch liegt die Weide?« fragte Tank. »Gut zweitausendeinhundert Meter hoch«, antwortete Otter. »Bis auf tausendachthundert Meter führt eine Schotterstraße. Aber die restliche Strecke ist nur zu Fuß begehbar. Wäre besser gewesen, du hättest eine Bergziege gestohlen. Besonders schlau warst du nie, Weichgesicht.« »Kannst du mir den Weg aufzeichnen?« bat Tank. »Selbstverständlich. Ich bin ein Mann mit vielen Talenten.« Otter holte Papier und Bleistift und zeichnete aus dem Kopf eine Karte für Tank. Es war mittlerweile hell geworden, als die beiden Männer zum Pferdeanhänger hinausgingen. Tank führte Hannah vom Anhänger, um sie zu füttern und ihr etwas Bewegung zu verschaffen. »Sie ist eine prächtige alte Büffelkuh«, urteilte Otter. »Nur dein Volk konnte auf die Idee kommen, Jagd auf sie zu machen.«
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»Nur weil wir dieselbe Hautfarbe haben, sind die noch lange nicht mein Volk«, entgegnete Tank. Tank band die Büffelkuh an einen Baum und kehrte mit Otter in die Hütte zurück. Der alte Indianer machte Frühstück. Sie aßen zusammen. Dann war es Zeit für Tank, sich zu verabschieden. Otter begleitete ihn zu dem Wagen und half ihm, Hannah in den Pferdeanhänger zu verfrachten. Nachdem Tank eingestiegen war und den Motor bereits angelassen hatte, legte Otter eine Hand auf die Wagentür. »Im Leben eines jeden Mannes gibt es eine Hochebene«, begann er ruhig. »Jeder erreicht diese Ebene. Mag er einen Tag, ein Jahr oder nur einen Augenblick verweilen. Die Zeit, die er dort verbringt, ist der Sinn seines Lebens. Ich glaube, Weichgesicht, deine Hochebene könnte die fette Weide über dem Ditch Creek sein.« Er berührte Tank leicht an der Schulter. »Geh mit dem Wind, mein Sohn.« Tank schluckte mit trockener Kehle, nickte und fuhr schnell davon. Etwa zweihundert Meilen vom Büffelgehege entfernt flog der Hubschrauber das Gelände ab. Harmon Langford saß neben dem Piloten. Gregory Kingston und Lester Ash waren auf die Notsitze verfrachtet worden. Alle drei suchten die Landschaft mit Ferngläsern ab. »Es ist zum Verrücktwerden«, murmelte Kingston. Er tippte Langford auf die Schulter. »Erklären Sie mir das noch mal!« schrie er gegen das Dröhnen des Hubschraubermotors an. »Warum suchen wir in dieser Richtung?« »Heute morgen um vier ist ein Lieferwagen mit Pferdeanhänger bei einer Tankstelle in Dayton vorgefahren!« brüllte der Schriftsteller zurück. »Meldung von der Verkehrspolizei! Der Tankwart sagt, daß über dem Tier im Anhänger eine Decke ausgebreitet gewesen sei. Der Fahrer hat behauptet, er transportiere einen Rodeo-Stier. Der Tankwart ist sicher, daß es unser Büffel gewesen ist. Sie sind in Richtung Gilette weitergefahren. Und wir suchen jetzt das Terrain südlich von Gilette ab.« Der Schauspieler zuckte mit den Schultern, als ging ihn das alles nichts an. Lester Ash beugte sich vor und sagte dicht an Kingstons Ohr: »Die Verkehrsstreife ist der Meinung, daß sie zum Thunder Basin wollen. Großes Weidegebiet. Ideal, um einen Büffel freizulassen.«
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»Verstehe.« Kingston lächelte. »Klingt logisch.« Er tätschelte Ash wohlwollend das Knie. Der Rancharbeiter rückte mißtrauisch von ihm ab. Der Hubschrauber setzte die Suche nach dem alten Muster fort. Der Pilot hakte ein Quadrat nach dem anderen auf der Karte an seinem Instrumentenbrett ab. Sie flogen gut zwanzig Meilen tief ins Grasland hinein und begannen eine willkürliche Flugroute, die sich an Schatten, der Windrichtung, gesichtetem Wild und an allem orientierte, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Trotzdem blieb die Suche erfolglos. »Wir müssen bald auftanken«, informierte der Pilot Langford nach einer Stunde. Er hatte noch nicht ausgesprochen, als ein Funkspruch von ihrem Verbindungsmann bei der Nationalparkverwaltung durchkam. »Ein ziviles Aufklärungsflugzeug hat den Lieferwagen mit Anhänger gesichtet. Er fährt auf der R 16 südlich von Osage in Richtung Black Hills. Er will über die Staatsgrenze. Das scheint sicher. Wir haben die Staatspolizei von South Dakota eingeschaltet. Sie bauen Straßensperren auf. Ich halte Sie auch weiter auf dem laufenden.« »Wie weit ist Osage?« fragte Langford den Piloten. »Ungefähr fünfzig Meilen.« »Schaffen wir das noch?« »Ja, aber knapp, Sir. In Osage müssen wir unbedingt auftanken.« »Dann los!« befahl Harmon Langford. Tank hatte den Polizeifunk eingeschaltet und hörte die letzten Anweisungen der Staatspolizei von South Dakota bezüglich der Straßensperren mit. Die Posten sollten in Custer, Four Corners und an der Kreuzung der R 85 und der R 16 aufgestellt werden. Tank fuhr an den Straßenrand und breitete die Karte aus, die er an einer Tankstelle in Sundance gekauft hatte, wo Otter lebte. An der Tankstelle war die Anhängerplane geschlossen gewesen, so daß niemand hatte hineinsehen können. Der Tankwart hatte ihn also bestimmt nicht an die Polizei verraten. Diesen Hinweis hatten sie sicher dem tieffliegenden kleinen Sportflugzeug außerhalb von Osage zu verdanken. Tank studierte die Karte und entdeckte, daß die Position der Straßensperren ihm wesentlich mehr Bewegungsfreiheit ließen, als er zu
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hoffen gewagt hatte. Offenbar nahm man an, daß er die direkte Zufahrt zu den Black Hills wählen würde. Das war ein Irrtum. Er mußte nur ein kurzes Stück weit hineinfahren und dann auf eine kleine Nebenstraße abbiegen, die zuerst nördlich und dann östlich des Ditch Creek verlief. Lächelnd stellte er fest, daß er damit alle drei Straßensperren weit umfahren würde. Tank stieg aus dem Lieferwagen, schlug die Plane hoch, griff hinein und klopfte Hannahs lockiges, dichtes Fell. »Wir schlagen diesen Arschlöchern ein Schnippchen, altes Mädchen«, sagte er fröhlich. Auf die Idee, daß sie einen Hubschrauber einsetzen könnten, kam er allerdings nicht. In Osage telefonierte Langford mit dem für die Straßensperren verantwortlichen Beamten. »Weiß Ihre Hilfe zu schätzen, Captain. Sie und Ihre Männer finden sich bald in meinem neuen Bestseller über die Geschichte wieder. Und zwar sehr positiv. Trotzdem sollten wir nichts überstürzen. Ich und meine Kollegen erledigen das schon. Die Gerechtigkeit siegt immer. Ist ja nicht unbedingt ein krimineller Akt, womit wir’s zu tun haben. Eher ein Ärgernis. Und damit werden wir schon fertig.« Anschließend sprach er mit dem Piloten des Aufklärungsflugzeugs. »Behalten Sie den Wagen im Auge?« »Ja, Mr. Langford. Er ist in eine Nebenstraße eingebogen. Die führt zum Ditch Creek.« »Prima. Bleiben Sie in seiner Nähe. Wir sind in ein paar Minuten wieder in der Luft und können dann übernehmen. Wir sehen uns, wenn alles vorbei ist… Für Fotos und so weiter. Publicity, Sie wissen schon. Over and out.« Als sich Langford umdrehte, sahen Kingston und Lester Ash ein triumphierendes Leuchten in seinen Augen. Es war kein angenehmer Anblick. »Es sollte nicht mehr lange dauern, Gentlemen«, sagte er. »Bald haben wir unseren Büffel wieder. Ich schätze, Sie beide wissen, was zu tun ist, wenn sich der Entführer widersetzt.« Kingston runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«
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Langford griff nur schweigend nach seinem Gewehr und lud es durch. Lester sah ihm zu und lächelte. Das Aufklärungsflugzeug folgte Tank, als er von der Nebenstraße auf den stetig bergan führenden Schotterweg einbog. Es kümmerte ihn wenig. Seine beiden Insassen konnten ihm kaum gefährlich werden. In diesen Bergen gab es weit und breit keine Landemöglichkeit für ein Flugzeug. Sie konnten ihn lediglich aufspüren und seine Position durchgeben. Aber er war dem Ziel jetzt zu nahe, als daß ihn jemand hätte aufhalten können. Er wußte, wo die Straßensperren aufgebaut waren. Von dort aus holte ihn keiner mehr ein. Nur noch ein Hindernis lag vor ihm: Der gut dreihundert Meter lange Anstieg vom Ende der Schotterstraße zum Hochplateau. Tank runzelte die Stirn. Ob Hannah es schaffen würde, war die große Unbekannte in seiner Rechnung. Eine Menge hing davon ab, wie steil der Pfad war und welcher Untergrund sie dort erwartete. Er hoffte auf feste Erde. Auf einem Felsen würden Hannahs gepflegte Hufe zu leicht rutschen. Am Ende der Schotterstraße fuhr Tank das Gespann so weit unter die Bäume wie möglich. Trotzdem ragte noch ein Teil des Anhängers unter den Zweigen hervor. Aus der Luft war er damit leicht zu erkennen. Doch Tank störte das nicht mehr. Sie würden sie nicht erwischen. »Los, altes Mädchen«, feuerte er Hannah an, führte sie aus dem Anhänger und klopfte ihren Nacken. Sein Blick schweifte über den vor ihnen liegenden Hang. Er entschied sich für die Route, die die wenigsten gefährlichen Steilpassagen aufwies. Dann ging er ein paar Schritte auf dem eingeschlagenen Pfad voraus, zog leicht die Zügel an, und Hannah folgte ihm willig. Ist vielleicht einfacher, als ich dachte, sagte er sich hoffnungsvoll. Eine gute Stunde, nachdem Tank und Hannah den Aufstieg angetreten hatten, traf der Hubschrauber auf das Aufklärungsflugzeug. »Wo sind sie jetzt?« fragte Langford den Piloten des Sportflugzeuges über Funk.
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»Dort unter den Bäumen am Abhang, Sir. Im Augenblick sind sie im Dickicht nicht zu sehen. Sie sind ungefähr auf halber Höhe unterhalb der Weide auf der Hochebene dort drüben.« Langford bedankte sich überschwenglich bei den Insassen des Sportflugzeugs, brach den Funkkontakt ab und wandte sich an den Hubschrauberpiloten: »Wir landen. Auf der Weide da drüben.« »Geht nicht, Sir«, widersprach der Pilot, ein Halbblut vom Stamm der Nez Percé. »Das ist ein heiliger Ort der Deerfields. Unbefugten ist das Betreten streng verboten.« Langford richtete den Lauf seines Jagdgewehrs auf den Piloten. »Ich möchte, daß Sie da jetzt runtergehen«, sagte er betont langsam. Das Halbblut lächelte. »Vorsicht mit dem Gewehr, Sir. Oder können Sie oder einer Ihrer Freunde das Baby hier fliegen? Die Dinger sind schneller unten, als man denkt.« Langford spitzte die Lippen, legte das Gewehr auf die Knie und zog ein Bündel Geldscheine aus der Tasche. Davon zählte er fünf Hundertdollarscheine ab. »Bleiben Sie einfach nur ein paar Zentimeter über dem Boden, damit wir abspringen können, ja?« »Das allerdings läßt sich machen«, sagte der Pilot und steckte das Geld ein. Das Schlimmste waren die letzten hundert Meter, sowohl für den Mann als auch für die Büffelkuh. Nach einem verhältnismäßig gut begehbaren ersten Stück war der Pfad immer schmaler, steiler, unwegsamer und heimtückischer geworden. Hannah verlor dreimal den Halt, glitt auf Stein oder verborgenem Wurzelwerk aus, rutschte vier, fünf Meter zurück und riß Tank mit. Und jedesmal rollte sie sich mit ängstlichem Muhen zur Seite, wenn sich über ihr die Erde aus dem Hang löste und sie halb unter sich begrub. Dann mußte Tank sie streicheln, ihr gut zureden, sie von der Erde befreien und ihr auf die Beine helfen. Es war alles ein Geduldsspiel. Zweimal rutschte auch Tank. Das Leder seiner betagten Stiefel reagierte ähnlich wie Hannahs Hufe auf den feindlichen Untergrund. Beim ersten Sturz trat er mit dem linken Bein ins Leere, fiel mit den Knien auf den Felsen, riß sich an einem spitzen Stein das Hosenbein auf und handelte sich eine blutende Schürfwunde am Knie ein. Das zweite Mal rutschten beide Beine unter ihm weg. Er stürzte bergab,
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purzelte hilflos an Hannah vorbei, löste einen regelrechten Erdrutsch aus, bei dem sich Erde und Steine wie ein Platzregen über ihn ergossen. Zum Glück war er so geistesgegenwärtig, Hannahs Zügel loszulassen. Tank rutschte gut zwölf Meter weit in die Tiefe. Als er wieder auf den Beinen stand, klebte Schmutz an seiner schweißnassen Kleidung, und unter der Erdschicht auf Gesicht, Händen und Armen blutete er aus zahllosen Schnitt- und Schürfwunden. Heftig fluchend kletterte Tank wieder zu Hannah hinauf, die neugierig auf ihn herabsah. Gut sechs Meter unterhalb der Felskante, am Ende des steilen Aufstiegs, glaubte Tank plötzlich das Dröhnen eines Motors zu hören. Geräusche waren dort oben schwierig zu identifizieren, da die Baumwipfel und der in dieser Höhe ständig wehende Wind ihn von allem abschottete, was um ihn herum passierte. Vermutlich kreiste das kleine Sportflugzeug über der Weide auf dem Plateau, und der Gedanke, daß seine Insassen dort nichts entdecken würden, bereitete Tank diebische Freude. Wir schlagen sie, Rose. Hannah und ich. Das ist wichtig. Es ist wichtig, daß wir sie schlagen. Wichtig, daß wir auf die Hochebene kommen! Der Mann und die Büffelkuh stiegen weiter bergan, kämpften ihren einsamen Kampf gegen die Natur: gegen die Steilheit des Geländes, den tückischen Untergrund, die dünne Luft, den Schmutz und den Staub, die Felsen und die Wurzeln. Blut und Schweiß brannten mittlerweile in den Augen des Mannes und der Büffelkuh, denn auch Hannahs altes Gesicht hatte einige Blessuren davongetragen. Schaum stand der Büffelkuh vor dem Maul; Speichel und Tränen rannen dem Mann übers Gesicht. Sie kletterten, bis die Muskeln zu versagen drohten, ihre Lungen beinahe platzten und ihre Herzen zersprangen. Blinder Wagemut mobilisierte ihre letzten Reserven. Schließlich hatten sie die Hochebene erreicht. Gemeinsam kamen sie über die Kante auf die satte, grüne Wiese. Die drei Jäger erwarteten sie dort bereits. Erst als Tank Sherman die Jäger sah, begriff er, daß er nicht das Aufklärungsflugzeug, sondern einen Hubschrauber gehört hatte. Als
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er und die Büffelkuh über den Rand des Plateaus gestolpert waren, waren beide in die Knie gesunken: Tank war vornüber gefallen, so daß er praktisch auf allen vieren landete; Hannah war in den Vorderläufen eingeknickt und hielt den mächtigen Schädel gesenkt. Beide rangen nach Luft, konnten in der schwindelnden Höhe kaum genug Sauerstoff in die brennenden Lungen bekommen. Für einen flüchtigen Augenblick, als die beiden so nebeneinander knieten, Tanks Schulter Hannahs Hals berührte, beide die Köpfe gesenkt hielten, sah es so aus, als seien Mensch und Tier eins geworden. Dann hob Tank den Kopf und sah die Jäger. Sie standen in einer Reihe. Die Läufe ihrer Gewehre blinkten in der Sonne. »Nein«, entfuhr es Tank leise, und er schüttelte den Kopf. »Nein«, wiederholte er etwas lauter, als er auf die Beine kam. »Nein!« brüllte er und schritt auf sie zu. Harmon Langford, der in der Mitte stand, ergriff das Wort: »Bleiben Sie, wo Sie sind! Einen Schritt näher, und wir schießen.« Mit einem wahnsinnigen Lachen in den Augen, zuckenden Gesichtsmuskeln, die kräftigen Hände zu Fäusten geballt, stapfte Tank auf die Männer zu. »Nein!« schrie er wieder. »Nein! Nein! Nein!« »Wir haben Sie gewarnt!« zischte Langford. Tank ließ sich dadurch nicht aufhalten. »Gut. Erschießt ihn!« befahl Langford, riß sein Gewehr hoch und legte an. Kein Schuß fiel. Langford ließ seine Waffe sinken und sah wütend von Kingston zu Lester Ash. »Schießt! Warum schießt ihr nicht?« »Warum schießen Sie denn nicht?« erkundigte sich Lester Ash gelassen. Für eine Antwort blieb keine Zeit. Tank hatte ihn erreicht, riß ihm das Gewehr aus der Hand und schleuderte es durch die Luft. Dann versetzte er ihm einen kräftigen Faustschlag ins Gesicht, der ihn von den Füßen riß. Nase und Lippen bluteten. Als Langford zu Boden ging, wandte sich Tank Gregory Kingston zu. »Augenblick mal!« bettelte der Schauspieler. »Ich hatte nicht die Absicht, auf Sie zu schießen.« Und als Beweis seiner friedlichen Absichten warf er das Gewehr freiwillig von sich. Tank Sherman hielt das nicht auf. Der alte Boxer landete bei Kingston einen Ma-
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genschwinger. Der Schauspieler sackte kraftlos in sich zusammen. Er war bleich, und die Augen traten ihm aus den Höhlen. Er ging in die Knie und fiel vornüber mit dem Gesicht ins saftige grüne Gras. Tank wandte sich dem Dritten zu und mußte feststellen, daß der erfahrene Jäger Lester Ash die Gelegenheit genutzt hatte, seinen Gegner zum Umdrehen zu bewegen, so daß jetzt Tank auf der Wiese stand und Lester Ash, die Sonne im Rücken, Maß nahm. »Sie können’s einfach, sie können’s auch kompliziert haben, Freundchen«, begann Lester. »Der Büffel gehört in jedem Fall mir.« Tank schüttelte den Kopf. »Nein.« Er trat einen Schritt auf Ash zu. »Ich bin kein Maulheld wie der Schriftsteller oder eine Memme wie der Schauspieler«, sagte der Mann aus Nevada. »Wenn Sie sich mit mir anlegen, landen Sie im Krankenhaus. Der Büffel gehört mir.« »Nein.« Tank ging weiter auf Ash zu. »Wie Sie wollen!« entgegnete Lester Ash angewidert. Er hob das Gewehr und drückte ab. Die Kugel durchschlug Tanks linken Oberschenkel und riß ihn von den Füßen. Die Instinkte des alten Kämpfers jedoch waren noch wach. Und als ob ihn ein imaginärer Ringrichter auszählte, rollte Tank zur Seite und stand wieder auf. Er hielt sich mit beiden Händen den Schenkel und humpelte auf Ash zu. »Sie sind ein Idiot, Freundchen«, sagte Lester Ash. Er drückte erneut ab. Die zweite Kugel erwischte Tank am rechten Oberschenkel und schleuderte ihn zu Boden. Er stöhnte laut und setzte sich auf, je eine Hand auf den beiden Einschüssen. Sein ganzer Körper brannte vor Schmerz. Er würgte, hustete und weinte. Ich bin erledigt, dachte er. Dann sah er zu seinen Füßen verschwommen die Farben Weiß und Gelb. Er wischte sich die Tränen aus den Augen, um besser sehen zu können. Weiße Blütenblätter und gelbe Staubfäden. Vor ihm wuchs eine Nachtkerze. Tank kam ein letztes Mal auf die Beine. Stolpernd und schwankend wie ein Betrunkener schleppte er sich vorwärts. Den Blick hatte er unverwandt auf Lester Ash gerichtet.
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»Okay, Freundchen«, sagte Lester. »Das kostet dich eine Kniescheibe…« Bevor Lester abdrücken konnte, stieß Hannah zu. Den massigen Kopf angriffslustig gesenkt, die schweren Hufe lautlos auf dem saftigen Gras, war sie bei Lester, bevor dieser begriff, was passiert war. Sie erwischte ihn von links, bohrte ihre Stirn in seinen Brustkorb, daß die Rippen wie Streichhölzer zerbrachen, und zerquetschte ihm die Lunge. Seinen Körper halb über ihrem Gesicht wirbelte sie herum und schleuderte ihn über den Rand des Plateaus in die Tiefe. Lester Ash schrie, als sein Körper von den ersten drei Bäumen abprallte. Auf dem restlichen Weg in die Tiefe war kein Laut mehr von ihm zu hören. Der Marshall des Stammes der Deerfield und sein Deputy, die beim ersten Schuß mit ihren Pferden zum Plateau geritten waren, sicherten das Gelände ab und sorgten für den Abtransport von Harmon Langford und Gregory Kingston. Mit der strikten Anweisung, sich nie wieder auf dem Territorium der Deerfield blicken zu lassen, setzte man sie auf freien Fuß. Zwei Männer mit einer Bahre trugen Lester Ashs Leiche davon. Offiziell hieß es, er habe bei einer riskanten Klettertour den Tod gefunden. Ein Medizinmann der Deerfields mit Namen Alzada, der in einer Hütte im Wäldchen neben der Weide hauste, wurde vom Marshall um Rat gefragt, was aus der Büffelkuh werden sollte. »Wenn Manitu den Büffel hierhergebracht hat«, erklärte Alzada, »dann muß der Büffel heilig sein. Er soll auf der heiligen Weide grasen, bis ihn der große Gott zu sich holt.« Der Marshall sah zum Rand der Weide hinüber, wo Tank völlig erschöpft und aus zwei Schußwunden blutend unter einem Baum saß. »Und was ist mit dem Mann?« »Welchem Mann?« fragte Alzada. »Ich sehe keinen Mann. Ich sehe nur eine heilige Büffelkuh, die zufrieden weidet. Wenn du etwas anderes siehst, dann muß es ein Geist sein.« Der Marshall schüttelte den Kopf. »Wenn Alzada nichts sieht, sehe ich auch nichts. Nur Alzada kann Geister sehen.«
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Damit ritten der Marshall und sein Deputy wieder durch den Wald hinunter ins Tal. Als die beiden verschwunden waren, holte der Medizinmann Tank in seine Hütte unter den Bäumen.
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Der entlaufene Hund Isaac Asimov Plötzlich waren sie auf Haustiere zu sprechen gekommen, und Jennings und Baranov überboten sich geradezu mit Geschichten über die spektakulären Fähigkeiten von Haustieren, die sie selbst gehabt oder zumindest gekannt hatten. Ich, als Haustiergegner, war mehr als verärgert. Da ich keine Geschichte zum Thema beitragen konnte, verlegte ich mich darauf, die der anderen ins Lächerliche zu ziehen. Ich leugnete, daß Hunde eine menschliche Intelligenz haben konnten, daß Pferde über telepathische Kräfte verfügten und daß Katzen eine Art von Schläue und Weisheit besaßen, die ihre Besitzer immer wieder in Erstaunen versetzte. Selbstverständlich zog ich mir den Unmut der anderen zu, und schließlich rief ich, aus purer Verzweiflung, Griswold zu Hilfe. Griswold, so schien es, hatte während der gelegentlich doch recht hitzigen Diskussion, sanft in seinem Sessel geschlummert. Doch, obwohl er sich den Anschein gab, in einen an Bewußtlosigkeit grenzenden Dämmerschlaf versunken zu sein, zweifelte ich nicht daran, daß er genau wußte, was um ihn herum vorging. »Griswold«, begann ich. »Sind Ihnen je Tiere mit übermenschlichen Fähigkeiten begegnet?« Griswold schlug seine stahlblauen Augen auf, und zog eine imposante Augenbraue sarkastisch hoch. Dann trank er einen Schluck Scotch aus dem Glas, das er fest in seiner Hand gehalten hatte, und sagte: »Ich habe mal einen Hund gefunden.« »Einen Wunderhund?« fragte ich skeptisch. »Nein«, erwiderte Griswold. »Nur einen ganz ordinären Köter. Undefinierbare Rasse…« »Also falls er kein Wunderhund ist«, erklärte ich, »ist die Diskussion für mich beendet. Wenn schon ein Mann mit deiner Phantasie keinen Wunderhund kennt, dann bleibe ich dabei, daß es so was nicht gibt.« »Dieser Hund…«, begann Griswold.
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»Schon gut!« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Kein Bedarf. Lassen wir die Geschichte.« Diesen Hund, so erzählte Griswold, hat mir Katherine Adelman beschert. Katherine ist eine Krankenschwester, mit der mich in den guten alten Zeiten einiges verbunden hat. Dazu kommt, daß ich noch immer jugendliches Feuer in mir hatte – die Geschichte liegt Jahrzehnte zurück – und sentimental genug war, ihr zuzuhören. Und das obwohl ich, wenn ich mich recht erinnere, damals weiß Gott Wichtigeres im Kopf hatte. »Auf meiner Station liegt ein Mann im Sterben«, sagte sie. »Das verfolgt mich Tag und Nacht.« »Tut mir leid«, bemerkte ich automatisch. Allerdings dürfte der Tod ihr kaum fremd sein. Sie hatte täglich damit zu tun. »Es ist ein Obdachloser«, fuhr sie fort. »Sie haben ihn auf der Straße aufgelesen und zu uns gebracht. Wir wissen praktisch nichts über ihn. Wir kennen nicht mal seinen vollständigen Namen. Als wir ihn danach gefragt haben, hat er nur ein ersticktes ›Jeff‹ rausgebracht. Seitdem hat er nichts mehr gesagt. Er hat nur vor sich hingedämmert, bis er in eine Art Koma verfiel.« »Ist er gut versorgt?« erkundigte ich mich leicht sarkastisch. Hypokratischer Eid hin oder her, ein Krankenhaus brauchte Geld. Einen sterbenden Obdachlosen zu hätscheln, ging irgendwie gegen den Strich. »Selbstverständlich«, antwortete Katherine mit leichtem Vorwurf in der Stimme. Und zum Zeichen, daß sie begriffen hatte, fügte sie hinzu: »Er wird uns nicht viel kosten. In ein paar Tagen ist er tot.« Ich sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen, daß die Medizin damals noch nicht über die hochempfindlichen Geräte verfügte, die die Seele gegen den Willen des Körpers im Körper festhalten. Die Menschen starben schneller, leichter und würdevoller. »Was berührt dich an dem Fall so?« fragte ich. »Ich meine abgesehen davon, daß du den Tod im allgemeinen nicht magst.« »Da ist eine winzige Kleinigkeit. Man hat ihn auf der Straße gefunden. Und ich bin sicher, daß er krank und schwach unterwegs war, um in Kälte und Regen seinen Hund zu suchen.«
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Tränen standen in ihren Augen. Ich wurde nervös. Katherine war eine fanatische Hundefreundin – übrigens ein sehr störender Faktor in unserer sonst so angenehmen Beziehung –, und ich wußte, daß ihr die Sache mit dem Hund wichtiger war als alles andere. Sie würde mich um Hilfe bitten, und ich konnte womöglich nicht ablehnen. »Hat er dir das erzählt?« fragte ich. »Nein. Dazu war er gar nicht mehr in der Lage. Aber er konnte mir eine Nachricht auf ein Stück Papier schreiben, das ich ihm zu diesem Zweck gebracht hatte.« »Ich schätze, auch gleich einen Bleistift, oder?« »Ja. Und ein Brett als Unterlage.« »Und woher hast du gewußt, daß er das alles haben wollte?« »Er hat mehrmals vergeblich versucht, etwas zu sagen. Außer Husten und Keuchen kam nichts aus ihm heraus. Es war schrecklich. Als er dann in seiner Verzweiflung mit letzter Kraft Schreibbewegungen angedeutet hat, war nicht mehr schwer zu erraten, was er wollte. Ich habe schon so viele Sterbende gesehen, daß ich ihre Gedanken lesen kann.« Ich nickte. »Und die Nachricht hast du jetzt dabei, und ich soll sie mir ansehen?« »Richtig.« Sie reichte mir einen Zettel. »Das war seine letzte Tat. Danach fiel er ins Koma.« Ich habe den Zettel leider nicht mehr, um ihn euch dreien zu zeigen. Und ich erinnere mich weder genau an den Wortlaut noch an die Orthographie oder die Handschrift, um ihn zu kopieren. Aber ich greife auf die Schätze der Union-Club-Bibliothek zurück, wo ich sicher etwas finde, das für diesen Zweck geeignet ist. Hier haben wir es. Es lautet: BIETE MEIN HUHND IS IN TIRHEIM BIETE HOHLEN SIE IHN MIR KANN OHNE IHN NICH SEIN SAGE ADIEU HÖRT AUF DEN NAHMEN… Katherine weinte bereits. »Er muß zu krank gewesen sein, um zu verhindern, daß sein Hund ins Tierheim kommt. Steuern hat er be-
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stimmt nicht bezahlt. Und dann hat er vermutlich all seine Kraft zusammengenommen, um den Hund wieder aus dem Tierheim zu holen. Und auf dem Weg haben ihn dann die Kräfte verlassen.« »Und mehr konntest du über ihn nicht in Erfahrung bringen? Hat er Freunde?« »Er ist nur ein Obdachloser. Und er ist nicht einmal aus dieser Gegend. Weder die Polizei noch die Leute von der Armenküche kennen ihn. Vermutlich hatte er überhaupt kein Zuhause, hat sich aus Mülltonnen ernährt, und der einzige Freund, den er hatte, war sein Hund. Seine Kleidung bestand nur aus Fetzen. Wertgegenstände haben wir nicht bei ihm gefunden. Von Geld war sowieso keine Spur. Wenn wir Nachforschungen anstellen könnten, würden wir vermutlich auch nur Unwichtiges herausbekommen. Aber wir müssen diesen Hund finden.« »Wozu sollte das gut sein?« fragte ich düster. »Er hat sich umgebracht, um den Hund wiederzubekommen, Griswold, und jetzt wird er einsam und allein sterben. Niemand sollte allein sterben müssen.« »Vielen bleibt gar nichts anderes übrig«, versuchte ich sie zu trösten. Aber es kam mir selbst nur herzlos vor. »Wie willst du den Hund denn finden?« »Ich bin heute morgen schon im Tierheim gewesen«, berichtete sie. »Leider konnte ich nicht angeben, an welchem Tag der Hund eingeliefert worden ist, und die Leute dort hatten keinen, der nachweislich einem Obdachlosen gehört hatte. Die lesen einfach nur Hunde ohne Hundemarke auf. Mehr nicht. Über ein Dutzend waren da. Mir sind es wie hundert vorgekommen. Am liebsten hätte ich alle mitgenommen und dem armen Kerl gebracht. Er wüßte bestimmt, welcher sein Hund ist. Vorausgesetzt er kommt wieder zu sich… Aber natürlich kann ich nicht die ganze Meute in sein Zimmer lassen. Einen allerdings könnte ich reinschmuggeln.« »Du würdest deinen Job riskieren.« »Ich weiß. Aber welcher Hund könnte es bloß sein? Ich weiß nur, daß er auf einen Namen hört, aber den hat er uns nicht mehr aufschreiben können. Hast du je ›Rumpelstilzchen‹ gelesen, Griswold?« »Natürlich«, antwortete ich. »Als Kind.«
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»Ich bin mir wie die Prinzessin vorgekommen, die ihr Kind an den bösen Zwerg verlieren, sollte, wenn sie seinen Namen nicht errät. Mit dem Unterschied, daß die Prinzessin ein Jahr Zeit für das Rätselspiel hatte. Mir blieb nur eine Stunde. Ich habe einfach Namen gerufen, die mir gerade einfielen: Rex – Fido – Spot – sämtliche Hundenamen, die ich schon mal gehört hatte. Ein paar Hunde haben gebellt und gejault und sind hin und her gerannt. Aber das haben sie die ganze Zeit über gemacht. Als Reaktion auf einen bestimmten Namen konnte man das nicht bezeichnen.« »Du weißt nicht mal, ob der Hund ein Rüde oder ein Weibchen ist, oder?« »Nein. Aber wenn ich Rex gerufen habe, dann habe ich’s danach immer gleich mit Regina versucht. Ich habe auch ganz normale Namen wie Bill und Jane nicht ausgelassen. Mit Curly und Geneviève habe ich mich abgemüht.« Sie brachte ein Lächeln zustande. »Und sogar mit Rumpelstilzchen.« »Das hat vermutlich auch nicht funktioniert.« »Nein. Nichts hat funktioniert. Schließlich hab ich’s aufgegeben.« »Ist dir klar, daß sie den Hund möglicherweise eingeschläfert haben?« gab ich zu bedenken. »Nein, nein«, wehrte sie schmerzlich berührt ab. »Sie behalten die Tiere immer ein paar Tage, für den Fall, daß sich der Besitzer meldet, oder jemand anderer Interesse an ihnen hat.« Dann fuhr sie fort: »Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß sich jemand ausgerechnet für diesen Hund interessiert. Ich nehme an, daß ein völlig mittelloser, verwahrloster alter Mann auch einen verwahrlosten Hund hat, wenn du weißt, was ich meine. Ihre Liebe zueinander war das einzige, was die beiden auf dieser Welt hatten. Und deshalb muß ich etwas unternehmen!« Ich nickte. Katherine hatte ein weiches Herz. Es war nicht ihre Schuld, daß die Welt keine Zynikerin aus ihr machen konnte. »Das ist der Grund, weshalb ich gekommen bin«, erklärte sie. »Was kann ich tun?« »Würdest du mit mir ins Tierheim fahren? Jetzt? Mein Dienst fängt erst in zwei Stunden an.«
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»Wenn es unbedingt sein muß, kann ich ja mitkommen. Aber was soll ich tun?« »Vielleicht fällt dir ein Name ein, an den ich gar nicht gedacht habe. Möglich, daß du ganz intuitiv den richtigen Hund rauspickst. Du kannst sehr schlau sein.« »Nicht schlau genug, um aus heiterem Himmel den richtigen Namen herzuzaubern. Sogar die Prinzessin hat den Namen des Zwergs nur erraten, weil sie ihn belauscht hat.« Katherine rannen die Tränen über die Wangen. Und sie war hübsch. Ich war noch verhältnismäßig jung. Und meine Erinnerungen verfehlten ihre Wirkung nicht. »Warte, laß mich mal nachdenken«, sagte ich schließlich. Sie wartete und sah mich aus ihren großen, vertrauensvollen Augen an. Da hatte ich keine andere Wahl. »Also gut, Kate. Fahren wir zum Tierheim.« Im Tierheim brachte man uns in die Abteilung mit den Neueinlieferungen. Es roch übel, war laut und gefiel mir gar nicht. Es war zufällig mein erster Besuch in einem Tierheim. Ich klatschte mir auf die Schenkel und rief einen Namen, und einer der Hunde gebärdete sich wie wild. Er jaulte vor Glück laut auf, sprang gegen den Maschendraht, um zu mir zu kommen, und wedelte heftig mit dem Schwanz. »Den Hund möchte ich haben«, sagte ich zu dem Wärter. »Er gehört einem Freund. Ich bezahle die Steuern und sämtliche Gebühren. Allerdings brauche ich den Hund sofort. Mein Freund liegt im Sterben.« Kate trug ihre Schwesterntracht. Sie zeigte ihren Ausweis mit Foto und bestätigte, daß es um Leben und Tod ging. Wir bekamen den Hund. Wir rasten ins Krankenhaus zurück. Mit Hilfe eines verständnisvollen Arztes schmuggelten wir den Hund gegen jede Vorschrift in das Krankenzimmer, in dem sein Herrchen im Sterben lag. Der Hund stieß ein unterdrücktes Jaulen aus und leckte die Hand des alten Mannes. Der Sterbende schlug die Augen auf und wandte leicht den Kopf zur Seite. Er brachte ein schwaches Lächeln zustande, und seine Hand zitterte, als er sie ausstreckte, um einmal über
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den Kopf des Hundes zu streicheln. Dann verstarb er, während sein einziger Freund ihm die Hand leckte. Kate brachte den Hund hinaus, der sich zuerst mit aller Kraft sträubte. Dann ließ sie ihn in meiner Obhut zurück. Als ihr Dienst zu Ende war, nahm sie das Tier mit nach Hause und behielt ihn. Der Hund starb ein Jahr später. Und Kate starb schließlich auch. Ich habe damals auf ihrer Bettkante gesessen und dafür gesorgt, daß sie nicht allein gestorben ist. Griswolds Augen glitzerten verräterisch. Er trank sein Glas aus und rieb sich ziemlich heftig die Nase. Eine Weile sagte keiner ein Wort. Jennings brach als erster das Schweigen. »Aber wie bist du nur auf den Namen des Hundes gekommen?« fragte er leise. »Zuerst war es nur eine vage Vermutung«, antwortete Griswold. »Alles, was wir wußten, war, daß der Mann Jeff hieß. Also habe ich mich gefragt, wie würde ein Mann namens Jeff seinen Hund – einen struppigen, verwahrlosten Köter – nennen? Nun, es gab einmal eine Comicserie, die über ein halbes Jahrhundert äußerst populär war. Ihr Titel lautete ›Jeff und Köter‹. In der Comicserie war Augustus Köter allerdings ein Mensch, aber einem Mann namens Jeff, der einen struppigen Hund hat, scheint es vielleicht logisch, diesen zu Ehren der beliebten Geschichte ›Köter‹ zu nennen. Zuerst kam mir die Sache sehr, sehr weit hergeholt vor, aber da waren Kate und ihre seelenvollen Augen. Ich mußte es einfach versuchen.« »Wirklich verdammt weit hergeholt«, bemerkte ich sarkastisch. »Ihr drei hättet sofort draufkommen müssen«, konterte Griswold brummig. »Ich habe den Hund gleich am Anfang als ordinären Köter beschrieben. Erinnert ihr euch? Das war wirklich ein Wink mit dem Zaunpfahl. Aber offenbar hätte ich bei euch die Holzhammermethode anwenden müssen.«
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Nachbarn Hope Raymond Miss Parsons saß auf der Hintertreppe. Die Frühlingssonne schien warm auf ihre schmalen Schultern. Es war einer jener Tage, die einen den Winter vergessen lassen. Wolkenfetzen schmückten einen azurblauen Himmel. Ein Schilfrohrsänger sang am Ufer des Teichs. Hinter dem Schilfgürtel patrouillierte ein majestätischer, weißer Schwan auf der gekräuselten Wasseroberfläche auf und ab und bewachte seine nicht sichtbare Gefährtin auf ihrem Nest an der Wasserlinie. Näher am Haus blühten die Krokusse an der alten Vogeltränke. Amseln zwitscherten in der Forsythie. Zu Miss Parsons’ Füßen lag ausgestreckt Ulysses, der Beagle, räkelte sich auf dem jungen Gras und grunzte zufrieden. Miss Parsons Stimmung allerdings war nicht euphorisch. Während ihr Blick über ihren schönen Garten zu der Wildnis des Nachbargrundstücks schweifte, war ihre Miene düster. Das Undenkbare, so schien es, sollte tatsächlich Wirklichkeit werden. Das Nachbargrundstück reichte wie ihr eigenes von der Straße bis zum See, und war offenbar einfach übersehen worden, als die Grenzen der umliegenden Farmen abgesteckt worden waren. Miss Parsons hatte von Anfang an ein Auge darauf geworfen, hatte es von jenem ersten Tag an begehrt, als sie vor vielen Jahren mit ihrer Mutter das kleine Haus am Ende der Straße bezogen und den Schuldienst an der Bayern Highschool angetreten hatte. Schon damals war die Parzelle verwildert und für niemanden von erkennbarem Nutzen gewesen – Vögel und Kaninchen ausgenommen. Damals allerdings hatte sie weder die Zeit noch das nötige Geld besessen, den Eigentümer des Grundstücks ausfindig und ihm ein Kaufangebot zu machen. Jahre später, als sie sich durch Ersparnisse und eine Erbschaft ein hübsches finanzielles Polster geschaffen hatte, hatte sie entsprechende Nachforschungen angestellt. Dabei hatte sie erfahren, daß die Parzelle Mrs. Burger gehörte, die die meiste Zeit über im Rollstuhl saß und von Geschäften dieser Art nichts wissen wollte. Miss Parsons hatte den Rat erhalten, zu warten und später den Erben ein
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Kaufangebot zu machen. Sie hatte den Vorschlag schon deshalb allzu gern angenommen, weil Mrs. Burger kinderlos war und die Erbin mit größter Wahrscheinlichkeit Betty Vogel heißen sollte. Betty Vogel war Mrs. Burgers Großnichte, und Miss Parsons’ sympathische Kollegin beim Operettenchor von Bayern. Niemand nahm an, daß Miss Parsons lange warten mußte. Mrs. Burger jedoch überraschte alle. Als sie schließlich mit siebenundneunzig Jahren den Löffel aus der Hand legte, war Miss Parsons’ Mutter längst tot, und Miss Parsons selbst stand kurz vor der Pensionierung. Die Lehrerin ließ eine angemessene Zeitspanne verstreichen, bevor sie Betty ihr Anliegen vortrug. Was sie allerdings bei dieser Gelegenheit erfuhr, war beunruhigend. Obwohl Betty das Burger-Haus und einen beträchtlichen Teil des Barvermögens geerbt hatte, war das Grundstück an der Schimmler’s Lane an Mrs. Burgers Neffen in Chicago, Fred Jansen, gefallen. Fred Jansen, so hieß es, verdiene sein Geld mit Weizen-Termingeschäften. »Ich kenne ihn kaum«, hatte Betty gesagt. »Und ich glaube nicht, daß Tante Anna ihn besonders gemocht hat. Trotzdem war er der Sohn ihres Bruders. Sie meinte wohl, ihm das schuldig zu sein. George Winters ist der Testamentsvollstrecker. Rufen Sie ihn an. Machen Sie ihm ein Angebot. Fred ist sicher froh, wenn er das Grundstück an Sie verkaufen kann. Bayern interessiert ihn nicht die Bohne. Und wer außer Ihnen sollte schon ein Interesse an der Parzelle haben?« Um die Antwort auf letztere Frage war George Winters nicht verlegen. Mr. Jansen, so erzählte er, habe ihn gebeten, das Land so teuer wie möglich zu verkaufen, sobald das Eigentumsrecht auf ihn übergegangen war. Ein Gaststättenbesitzer aus der Nachbarstadt habe bereits ein Angebot gemacht. Dieser wolle das Grundstück gründlich roden und darauf ein Tanzlokal mit Parkplatz, Bootsvermietung und der unvermeidlichen Bar errichten. Selbstverständlich, so erklärte George, würde Mr. Jansen ebenso bereitwillig an Miss Parsons verkaufen, vorausgesetzt, sie böte denselben Preis. Daraufhin nannte er eine Summe, die Miss Parsons auch dann nicht hätte aufbringen können, wenn sie sich völlig ruiniert hätte.
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Miss Parsons war empört. Sie hatte das Haus einst gekauft, weil sie in Ruhe und Abgeschiedenheit leben wollte. Und sie hatte hart gearbeitet, um daraus ein Heim zu machen, das keine Wünsche offenließ. Und jetzt, da sie ihr Leben endlich richtig genießen konnte, kam dies! Sie konnte sich seelisch schon auf randalierende Betrunkene, ständigen Autoverkehr, neugierige Störenfriede und den üblichen Vandalismus einstellen. In einem ersten Rückzugsgefecht hatte Miss Parsons den Antrag an den Stadtrat gestellt, das Grundstück entweder aus dem Bebauungsplan herauszunehmen oder es als Naturschutzgebiet auszuweisen. Aber die Zeiten waren hart, auch für Bayern. Obwohl alle mit Miss Parsons sympathisierten, wollte es doch niemand auf sich nehmen, einem Unternehmen den Standort zu verweigern, das Geld in die Stadt bringen würde. Und schließlich wußte jeder, daß die Main Street neu geteert werden mußte, und die Highschool ein neues Dach brauchte. Betty Vogel hatte angeboten, zwischen ihr und Fred Jansen zu vermitteln. Sie wollte ihm sagen, daß es in Tante Annas Sinn gewesen wäre, an Miss Parsons zu verkaufen. Miss Parsons setzte keine großen Erwartungen in Bettys Appell an Mr. Jansens Gutwilligkeit, wollte es aber auf einen Versuch ankommen lassen. Betty hatte gerade angerufen und Bericht erstattet. Fred Jansen hatte sich am Vortag aus Minneapolis gemeldet und gefragt, wann die Erbsache endgültig geregelt sein würde. Sie hatte ihm sofort Miss Parsons Wünsche vorgetragen, doch er hatte sich völlig unzugänglich gezeigt. Er behauptete, die Weizengeschäfte gingen schlecht und er brauche jeden Cent, den er aus dem Grundstück herausholen könne. »Für meine Begriffe ist er einfach nur geldgierig und gemein«, hatte Betty gesagt. »Wenn wir es nur mit seiner Tochter zu tun hätten! Ich kenne sie. Sie ist sehr nett. Ihr Mann ist Chirurg. Sie braucht kein Geld. Tut mir wirklich leid.« Miss Parsons hatte das Gefühl gehabt, diesen letzten Schlag an der frischen Frühlingsluft besser überwinden zu können. Trotzdem weigerte sich etwas in ihr, sich damit endgültig auseinanderzusetzen. Ulysses brummte zu ihren Füßen, und sie dachte wenigstens so weit
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voraus, daß es ihm in einer Stadtwohnung kaum gefallen würde. Sie hatte schon vor einiger Zeit beschlossen, zu verkaufen und in die Stadt zu ziehen, wenn das Ausflugslokal tatsächlich gebaut wurde. Mit diesem zukünftigen Nachbarn allerdings konnte sie kaum auf einen angemessenen Preis hoffen. Plötzlich kam ein Motorengeräusch auf der Schimmlers’ Lane näher. Miss Parsons nahm sich zusammen und stand auf, um für Besucher gewappnet zu sein. Ein Auto auf der Schimmlers’ Lane bedeutete meistens Besuch für sie. Doch das Motorengeräusch verstummte abrupt, ohne daß ein Wagen vor ihrem Vorgarten aufgetaucht wäre. Weit und breit war kein Fahrzeug zu sehen. Während sie noch überlegte, ob sie einer Sinnestäuschung erlegen war, kam auf der Schimmlers’ Lane ein stämmiger Mann mit Halbglatze in Sicht, der eine Bootskarre mit einem Kajak hinter sich herzog. Möglicherweise war es diese ungewöhnliche Kombination, die den sonst gutmütigen Ulysses aufbrachte. Er fletschte die Zähne und knurrte gefährlich. Kaum in Rufweite, schrie der Fremde zu Miss Parsons herüber: »Ist das das Burger-Grundstück?« Er deutete auf die Wildnis. »Ja, ganz richtig«, antwortete Miss Parsons. Eine Hand an Ulysses’ Halsband ging sie ihm entgegen. Der Mann lehnte die Bootskarre an einen Baum und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Mit seiner Kondition schien es nicht weit her zu sein. Außerdem registrierte Miss Parsons verwundert, daß er offenbar in einem Straßenanzug Boot fahren wollte. »Hab’ das Grundstück gerade geerbt«, plauderte der Mann drauflos. »Ein gottverlassenes Fleckchen, was? Aber ich darf mich nicht beklagen. Hätte nie gedacht, daß die gute alte Anna mir was vermachen würde. Haben uns nicht besonders gut verstanden. Trotzdem – da ich schon mal hier bin, wollte ich’s mir wenigstens ansehen. Jemand bietet mir ’ne hübsche Stange Geld dafür, mehr als ich erhofft hatte. Da ist mir natürlich gleich die Idee gekommen, daß was dahinterstecken könnte.« Ein schlauer Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Man kann nie wissen, was? Der Anwalt behauptet, der Bursche sei wegen des Sees so scharf drauf. Ob da was dran ist, stellt
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man am besten mit einem Boot fest. Deshalb habe ich den Kajak gemietet.« Er zuckte mit den Schultern. »Hoffentlich kann ich noch damit umgehen. Bin seit meiner Jugend nicht mehr in einem solchen Kahn gesessen. Der Anwalt hat gesagt, am Ufer sei es ziemlich schlammig, aber es soll irgendwo einen alten Bootssteg geben. Stimmt das? Wissen Sie das?« »Sie müssen Mr. Jansen sein«, murmelte Miss Parsons. »Ob Sie den Bootssteg von der Straße aus noch erreichen können, weiß ich nicht. Ich bin länger nicht drüben gewesen. Das wäre schließlich auch Hausfriedensbruch, nicht?« Etwas an ihrem Ton schien Jansen stutzig zu machen. »Sind Sie die Lady, die das Grundstück kaufen wollte?« fragte er prompt. »Konnten Sie nicht mehr bieten?« »Ich bin Lehrerin«, entgegnete Miss Parsons. »Dabei wird man nicht reich. Wenn ich mehr hätte, hätte ich auch mehr geboten. Aber ich will keine Kneipe in meiner Nachbarschaft.« Jansens Blick schweifte über ihr hübsches Haus, den schönen Garten mit dem gepflegten Rasen, und so etwas wie Bedauern trat in sein Gesicht. Im nächsten Augenblick jedoch wurden seine Züge wieder hart. »Schade«, seufzte er. »Aber Geschäft ist Geschäft. Da vorn bin ich an einem Weg vorbeigekommen. Führt der zum Bootssteg?« »Ich glaube schon«, sagte Miss Parsons. Sie zögerte einen Moment. Dann schien sie sich einen Ruck zu geben und fuhr fort: »Passen Sie im Schilf unten lieber auf.« Jansen sah sie wissend an. »Wollen Sie mir angst machen?« fragte er. »So schnell wird man mich nicht los. Hier gibt’s keinen Treibsand und keine Mocassinschlangen. Trotzdem danke für die Hilfe. Ich mach’ mich jetzt lieber auf den Weg.« Damit griff er nach der Bootskarre und ging in Richtung Weg davon. Miss Parsons sah ihm nach, unschlüssig, ob sie ihrer Warnung noch etwas hinzufügen sollte. Dann schüttelte sie unmerklich den Kopf und ging zum Haus zurück. Ulysses folgte ihr. Sie hatte das Gefühl, durchaus fair gewesen zu sein. Als der Deputy Sheriff am darauffolgenden Tag vorfuhr, kniete Miss Parsons vor dem Betunienbeet im Vorgarten. Neben ihr lag ein klei-
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nes Häuflein Unkraut. Sie erhob sich, als er aus dem Wagen stieg. Ulysses, der in der Hecke selbstvergessen nach einem Kaninchen grub, beachtete ihn gar nicht. »Schönen guten Morgen, Miss Parsons«, begann der Deputy höflich. Er hatte Miss Parsons zehn Jahre zuvor an der Highschool in Geschichte gehabt. »Guten Morgen, Carl«, erwiderte Miss Parsons. »Was führt Sie denn her?« »Hat einen Unfall am See gegeben«, antwortete der Deputy. »Ich soll Sie fragen, ob Sie vielleicht was gesehen haben.« »Einen Unfall?« wiederholte Miss Parsons. »Kommen Sie mal lieber ins Haus, wenn Sie mich vernehmen wollen.« Sie ging voraus und wies ihm einen Stuhl am polierten Eßtisch zu. »Also? Was möchten Sie wissen?« Carl zögerte. Es kostete ihn einige Mühe, das Gespräch nach seinem Gutdünken zu führen. Miss Parsons war noch immer eine Autorität für ihn. Schließlich nahm er sich zusammen. »Also folgendes«, begann er. »Bill Dorfman von der anderen Seite war heute morgen auf der Anhöhe bei seinen Kühen. Von dort hat er etwas im See schwimmen gesehen. Es sah aus wie ein umgekipptes Kanu. Er ist gleich mit seinem Boot raus gefahren. Ein Kajak trieb im Wasser, und im Flachwasser lag ein Mann. Bill hat ihn mit einem Seil an sein Ufer rübergezogen, wo es nicht so sumpfig ist. Er hat noch Wiederbelebungsversuche gemacht, aber es war zwecklos. Dann hat er uns angerufen. Der Mann war tot. Bill hatte ihn noch nie gesehen. Er hatte Papiere auf den Namen Jansen bei sich. Kommt aus Chicago. Hat hier im Hotel gewohnt. Die Kollegen versuchen gerade, seine Familie ausfindig zu machen. Jedenfalls müssen wir einen Bericht schreiben. Vor allem interessiert uns, was er auf dem See wollte. Bill behauptet, er hätte ihn in der Nähe seiner Farm vorher nicht gesehen. Wie steht’s mit Ihnen, Miss Parsons?« »Gestern ist ein Mr. Jansen mit einem Kajak auf einem Bootskarren hier die Straße runtergekommen«, erwiderte Miss Parsons. »Er hat mir gesagt, daß er sich das Grundstück ansehen wolle, das er hier geerbt hat.« Sie gab dem Deputy eine Beschreibung des Besuchers. »Scheint er zu sein«, murmelte Carl. »War er allein?«
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»Soweit ich weiß, ja«, antwortete Miss Parsons. »Allerdings habe ich seinen Wagen nicht gesehen… Dem Motorengeräusch nach zu urteilen, muß er weiter unten an der Straße geparkt haben. Vielleicht saß ja noch jemand im Auto. Aber dann hätte sich sein Begleiter doch bestimmt gemeldet und Alarm geschlagen.« »Bei Ihnen war also niemand?« »Keine Menschenseele.« »Billy will auch niemand gesehen haben. Bei uns hat auch keiner angerufen.« »Wie kommen Sie auf die Idee, er könnte nicht allein gewesen sein?« Carl machte ein unglückliches Gesicht. »Tja, der Doktor ist der Ansicht, daß der Mann nicht ertrunken ist. Er sagt, er habe einen Herzinfarkt gehabt. Aber das war kein friedvoller Tod. Der Mann hat Quetschungen an Gesicht und Armen. Sieht beinahe so aus, als hätte jemand mit einem Stock auf ihn eingeprügelt und als hätte er sich mit den Armen zu schützen versucht. Der Doktor meint, ein Schockerlebnis könne den Herzinfarkt ausgelöst haben.« »Wollen Sie damit sagen, daß dieser Unglückliche ermordet worden ist?« fragte Miss Parsons. »Würde mich nicht überraschen, wenn da jemand nachgeholfen hat«, erwiderte Carl. »Großer Gott«, sagte Miss Parsons. »Ihr Grundstück ist das einzige, von dem aus man über den See sehen kann, Miss Parsons«, erklärte Carl. »Sie haben nicht zufällig etwas beobachtet?« »Ich habe den ganzen Nachmittag drinnen gearbeitet«, erwiderte Miss Parsons. »Und Ulysses hat auch nicht gebellt. Aber er ist nicht sehr zuverlässig. Ich fürchte, er ist kein guter Wachhund«, schloß sie bedauernd. Anzeichen von Angst vermochte Carl an ihr jedoch nicht zu entdecken. Er hatte gefürchtet, daß die Vorstellung, daß in ihrer Nähe ein Mörder lauerte, sie erschrecken würde. »Ich sehe mir das Nachbargrundstück auf dem Heimweg mal an«, verkündete er und stand auf. »Aber finden werde ich wohl nichts. Falls sich dort wirklich jemand verborgen gehalten hat, ist er jetzt über alle Berge.«
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»Mr. Jansens Wagen müßten Sie da drüben doch finden«, erinnerte Miss Parsons ihn. »Ja, richtig. Ich habe das Auto schon auf dem Herweg bemerkt«, erwiderte Carl. »Es steht an der Straße unter einem Baum. Sehe es mir gleich mal an.« »Und seien Sie vorsichtig«, mahnte Miss Parsons. »Sie wissen, worauf Sie unten im Schilf achten müssen.« »Ich halte mich nicht lange auf. Will nur mal nachschauen, wo Jansen das Boot zu Wasser gelassen hat. Unten im Schilf ist es feucht und ungemütlich. Da kann sich niemand länger versteckt halten. Bill meint das auch.« »Das ist sicher richtig«, stimmte Miss Parsons ihm zu und folgte ihm zur Tür. Carl öffnete sie. Auf der Schwelle blieb er stehen. »Vielen Dank, Miss Parsons. Falls Ihnen noch was einfällt oder Sie Hilfe brauchen, rufen Sie an. Und sollten Sie mit dem Gedanken spielen, für ein paar Tage in die Stadt zu ziehen, bis wir sicher sind, daß hier draußen alles in Ordnung ist, gibt’s ’ne Menge Leute, die Sie liebend gerne bei sich aufnehmen würden. Nedda und ich gehören auch dazu. Allerdings ist es bei uns mit dem Baby zur Zeit ein bißchen unruhig.« Miss Parsons lächelte. »Nett von Ihnen, Carl. Aber keine Sorge. Mir kann hier nichts passieren.« Damit machte sie sanft die Tür hinter ihm zu. Carl ging in Richtung Trampelpfad davon, der zum Bootssteg führte. Auf dem Weg sah er ein letztes Mal zum kleinen Haus der Lehrerin zurück. Er wußte von Miss Parsons Bemühungen, das Nachbargrundstück zu kaufen. In Bayern wußte jeder alles über jeden. Wenn dieser Jansen tatsächlich der Erbe des Grundstücks gewesen war, dann kam sein Tod für sie sicher sehr gelegen. Sie hatte die Nachricht auch erstaunlich ruhig aufgenommen. Es war schwer vorstellbar, aber könnte sie möglicherweise…? Dann schüttelte er den Kopf. Miss Parsons war höchstens einen Meter sechzig groß und wog in besten Zeiten sicher kaum mehr als fünfzig Kilogramm. Jansen war zwar nicht in bester körperlicher Verfassung, aber doch erheblich größer und kräftiger gewesen. Die Vorstellung war absurd, daß…
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Carl seufzte erleichtert. Es wäre für ihn einfach undenkbar gewesen, Miss Parsons zu verhaften. Ein Monat verging. Miss Parsons pflanzte Gemüse und erledigte ihre zahlreichen ehrenamtlichen Aufgaben. Im Büro des Sheriffs wurden die Ermittlungen fortgeführt. Die Krokusse verblühten und die Tulpen kamen aus der Erde. An einem besonders schönen, warmen Tag fuhr Miss Parsons mit ihrem kleinen Auto nach Bayern, um einiges zu erledigen. Im Postamt traf sie Carl. »Haben Sie schon herausgefunden, was dem armen Mr. Jansen zugestoßen ist?« fragte sie, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Wir stellen die Ermittlungen ein«, erwiderte Carl. »Wir wissen jetzt, wo er übernachtet hat. Er war auf Geschäftsreise und allein. Kurz bevor Sie mit ihm gesprochen haben, hat er noch an einer Tankstelle seinen Wagen aufgetankt. Und auch da war er allein. In der ganzen Gegend sind an dem Tag keine Fremden gesehen worden. Der Doktor bleibt dabei, daß er sich die Verletzungen vor seinem Tod zugezogen hat, aber das muß ja nicht unbedingt am See gewesen sein. Vielleicht war er irgendwo in eine Schlägerei verwickelt. Bei uns liegt zwar keine entsprechende Meldung vor, aber das will nichts heißen. Jedenfalls ist er für uns eines natürlichen Todes gestorben. Todesursache: Herzinfarkt. Seine Tochter akzeptiert das. Sie hat uns erzählt, daß der Arzt ihren Vater bereits zur Vorsicht gemahnt hatte. Aber er hat sich nicht darum gekümmert.« »Ich verstehe«, sagte Miss Parsons. Sie war ganz sicher, daß Jansen keinerlei Verletzungen im Gesicht gehabt hatte, als er bei ihr gewesen war. Aber sie hatte nicht die Absicht, das zu erzählen. »Jetzt sind Sie sicher erleichtert, was? Wie geht es dem Baby?« Das Baby gedieh offenbar prächtig. Miss Parsons wurde eingeladen, es sich bald einmal anzusehen. Miss Parsons versprach, das zu tun, und verließ das Postamt. Einer alten Schülerin, die zufällig beobachtete, wie sie die Main Street hinunterging, fiel auf, wie beschwingt und jugendlich ihr Schritt war. Vor der Bäckerei traf Miss Parsons auf Betty Vogel. »Oh, Nell!« begann Betty. »Ich wollte Sie schon anrufen. Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie!«
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»Die schlechte bitte zuerst«, erwiderte Miss Parsons. »Ich habe mit Helen telefoniert – Fred Jansens Tochter. Sie ist die Erbin, und sie möchte das Grundstück nicht an Sie verkaufen. Die gute Nachricht ist, daß sie es überhaupt nicht verkaufen möchte. Sie und ihr Mann behalten es. Vielleicht bauen sie sich dort irgendwann ein Wochenendhäuschen. Helen wäre eine nette Nachbarin. Sie wird Ihnen gefallen. Und das ist immerhin besser als eine Kneipe, was?« Ein kleines, aufrichtiges Lächeln umspielte Miss Parsons Mundwinkel und blitzte in ihren Augen auf. »Viel besser«, bekräftigte sie. »Natürlich hätte ich das Grundstück gern besessen. Aber angenehme Nachbarn sind auch was wert. Ich werde ja auch nicht jünger. Vielen Dank, Betty.« Auf der Heimfahrt sang Miss Parsons leise vor sich hin. Sobald sie ihre Einkäufe verstaut hatte, nahm sie eine Packung geschnittenes Brot aus dem Kühlschrank, zog Gummistiefel an und ging, begleitet von Ulysses, zum See hinunter. Dort auf der Wasserfläche war mittlerweile die ganze Schwanenfamilie unterwegs: der stolze Schwanenvater segelte voraus, vier Schwanenkinder mit ihrem flaumigen, beigefarbenen Federkleid paddelten aufgeregt hinterher. Den Schluß bildete die Mutter. Miss Parsons bahnte sich den Weg durchs Schilf und trat ans Ufer. Dort begann sie, Brotstücke ins Wasser zu werfen. Als der Schwan seinen Kurs änderte und gefolgt von seiner Familie auf Miss Parsons zuschwamm, jaulte Ulysses leise auf und zog den Rückzug an. Jetzt war der Schwan zahm und harmlos, aber früher im Jahr, als sich Ulysses einmal zu weit an das Schwanennest herangewagt hatte, hatte der Hund mit dem harten, scharfen Schnabel, dem kräftigen, biegsamen Hals und seinen mächtigen Schwingen Bekanntschaft gemacht, die einem Mann mit einem Schlag den Arm brechen konnten. Seine Beweglichkeit und gesunde Konstitution hatte den Beagel vor Schlimmerem bewahrt, doch seither hatte er kein Bedürfnis mehr, dem Schwan noch einmal zu begegnen. Miss Parsons verfütterte die ganze Packung Brot an die Schwäne. Für sie war es die einzige Möglichkeit, sich bei ihnen zu bedanken.
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In stürmischer Höhe Margaret Maron Tatenloses Warten ist das Schlimmste. Und ich war müde; müde bis in die Knochen. »Kommt mir so vor, als sei es schon viel länger her, daß die zwei zum Windy Ridge raufgegangen sind. Und nicht erst gestern«, sagte ich. »Zwei sind raufgegangen. Aber in Wirklichkeit waren sie zu dritt.« »Was soll denn das heißen, Ruth?« fragte Wayne. Wayne ist mein Cousin und ein guter Sheriff. Was ihm an beruflicher Ausbildung fehlt, macht er durch gesunden Menschenverstand wett. Außerdem kennt er sich wie kaum ein anderer in diesem Distrikt aus. Er ist in den Bergen aufgewachsen und mit dem halben County verwandt oder verschwägert. Unsere Großmütter waren Schwestern, und wir gehen seit vierzig Jahren beieinander aus und ein. Ich wußte, daß er sich jetzt fragte, ob meine seltsame Bemerkung meiner Müdigkeit zuzuschieben war oder ob ich die Geschichten glaubte, die sich hartnäckig in diesen Bergen hielten. Er trat ans Balkongeländer und sah in die Schlucht hinunter. Mein Blick jedoch schweifte zu den fernen Bergen, deren schroffe Silhouetten sich über dem rot und gold leuchtenden Laub der Bäume im rauchigen Blau des Himmels verloren. Die Berge waren das Echte, das Ewige. Schon früher hatte ich aus ihrem Anblick Kraft geschöpft. Damals, vor fast zwanzig Jahren, als ich den Balkon hatte bauen lassen, hatte ich ihn groß genug für ein Hochzeitsfrühstück geplant. Luke Randolph und ich hatten heiraten wollen, sobald er aus Vietnam zurück war. Es war Mai gewesen, wilder Wein rankte die Balkonpfosten empor, und der schwere Duft von Geißblatt und Glyzinien hing in der Luft, als Lukes Bruder Tom mit dem zerknitterten Telegramm gekommen war. Die Berge waren dieselben geblieben. Die roten Zedernbretter des Balkons waren mittlerweile silbergrau verwittert. Wayne sah mich über die breite Fläche hinweg unsicher an. »Du siehst doch hoffentlich keine Gespenster, Ruth? Ist schließlich nicht das erste Mal, daß jemand auf Windy Ridge angeschossen
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wird. Und es wird auch nicht das letzte Mal sein. Verdammter Mist! Sam hat sich schon zweimal beschwert.« Der reizbare Sam Haskell betrieb eine kleine Milch-Farm am Rand von Windy Ridge. Seine Versuche, zu verhindern, daß ihm alljährlich sein Vieh praktisch unter dem Hintern weggeschossen wurde, machten ihn zu einer ständigen Quelle von amüsanten Geschichten. In seiner Verzweiflung hatte er eines Tages das Wort »K-U-H« mit grellroter Farbe auf die Flanken seiner Rinder gemalt. Prompt wurden zwei erschossen. Wayne seufzte. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Gordon Tyler ist ein Städter, aber Noah hätte doch schlauer sein müssen. Ausgerechnet am ersten Tag der Jagdsaison in den Wald zu gehen, wenn die ganzen Städter kommen und auf alles schießen, was sich bewegt, ob es nun zwei oder vier Beine hat. Warum hat er das gemacht?« »Gordon wollte unbedingt sein neues Gewehr ausprobieren und hat Noah überredet mitzugehen«, antwortete ich. Gestern war einer jener vollkommenen Oktobervormittage gewesen, mit nur einem Hauch von Frost in der Luft. Wir hatten gerade ein spätes Frühstück auf dem Balkon beendet: Noah Randolph, Lukes Neffe, meine Nichte Julie und ich. Julie sprühte vor Lebensfreude und ihr Haar leuchtete flammend rot in der Sonne. Nach einem heftigen, sommerlangen Flirt mit Gordon Tyler hatte sie schließlich in Noah den Mann erkannt, den sie wirklich heiraten wollte. Und jetzt blinkte ein brandneuer Brillant an ihrem Finger in der kühlen Morgenluft. Noah war meinem Luke zum Verwechseln ähnlich: ein typischer Mann aus den Bergen, groß und kräftig, mit klaren braunen Augen und dichtem, sandfarbenem Haar. Er war kein schöner Mann. Dazu hatte er zu charaktervolle und offene Züge. Aber er hatte ein gutes Gesicht. Ein Gesicht, dem man getrost sein Leben oder das seiner Nichte anvertrauen konnte, die einem in fünfzehn ihrer zwanzig Jahre Lebensinhalt und Freude gewesen war, nachdem die Eltern bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen waren. Die beiden stritten sich um den letzten Käse-Cracker, als plötzlich Gordon Tyler die Seitentreppe heraufkam, das neue Gewehr in der
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Hand. Dunkel und sehnig-schlank, bewegte er sich mit der geschmeidigen Eleganz einer Raubkatze. Die meisten Frauen fühlten sich geradezu magnetisch von ihm angezogen. »Ich habe Gordon nie gemocht«, gestand ich Wayne. »Warum hast du ihn dann auch noch ermutigt?« »Weil Julie gar nicht wußte, was sie an Noah hatte. Erinnerst du dich noch, wie lange ich wegen Luke herumgedruckst habe? Immer hatte ich das Gefühl, ich würde ihn nur lieben, weil kein Besserer da war. Es mußte erst dieser verdammte Krieg und die Angst kommen, daß er sterben würde, um mir die Augen zu öffnen. In Julie fand ich mich wieder. Gordon hatte Geld, weltmännisches Gehabe und jenes aufregende Flair, das sie bei Noah zu vermissen glaubte. Ich dachte, wenn sie Gordon so richtig kennenlernt, erkennt sie Noahs wahre Werte eines Tages ganz von selbst.« »Hat sich noch nie ausgezahlt, den lieben Gott spielen zu wollen«, bemerkte Wayne. Genau das hatte ich mir auch gesagt, als ich Gordon die Kaffeetasse aus der Küche holte und ihn drängte, Platz zu nehmen und zuzugreifen. Es war mir klar, daß ich ihn schamlos ausgenutzt hatte, um Julie zu helfen, erwachsen zu werden. Und indem ich mich übertrieben gastfreundlich gebärdete, versuchte ich nur, mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. In Wirklichkeit hätte ich Gordon Tyler am liebsten aufgefordert, zu verschwinden – aus diesen Bergen und aus Julies Leben. Er hatte seine Schuldigkeit getan. Bis dahin hatte ich die jahreszeitlich bedingte Schwemme an reichen Leuten nur genossen, die plötzlich unsere Gegend bevölkerten und unsere halbverfallenen Ställe und Farmhäuser aufkauften und sie zu luxuriösen Ferienhäusern umbauen ließen. Die ewig Gestrigen mochten über die Flachländer und Großstadtpflanzen herziehen und sich nach jenen Zeiten sehnen, als das Exotischste im Sortiment von Jedediahs Laden unten an der Kreuzung die Wiener Würstchen gewesen waren. Ich dagegen fand es ganz amüsant, über den schlappohrigen Hund vor dem bauchigen Kachelofen zu steigen und dann Kaviar, geräucherte Austern oder eine Flasche Riesling bei Jedediah zu kaufen.
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Jetzt fühlte ich mich beinahe wie einer dieser ewig Gestrigen, wünschte alle Flachländer und Großstädter, und besonders Gordon Tyler, zum Teufel. Gordon Tyler hatte im vergangenen Jahr die Eddiston-Obstplantage als Abschreibungs- und Vorzeigeobjekt gekauft. Angeblich hatte er ein großes Vermögen geerbt. Irgendeiner geregelten Arbeit schien er nicht nachzugehen, von den gelegentlichen Aufsichtsratssitzungen im Norden einmal abgesehen. Jedenfalls hatte er jede Menge Freizeit. Ganz besonders, seit er diesen Sommer ein Auge auf Julie geworfen hatte. Julie behauptete, sie habe ihm wegen Noah reinen Wein eingeschenkt. Aber ich saß Gordon gegenüber, als Noah und Julie in Taylor’s Inn ihre Verlobung bekanntgegeben haben. So bleich, wie er dabei geworden war, schien er damit letztendlich doch nicht gerechnet zu haben. Allerdings hatte er sich schnell wieder erholt und war der erste, der aufsprang, um einen Toast auszubringen. Vor der Verlobung hatte Gordon Noah kaum wahrgenommen. Danach dauerte es nicht einmal zwei Wochen, bis Gordon sich von Julies verschmähtem Liebhaber in Noahs besten Kumpel gewandelt hatte. Sobald Noah sich von seiner Arbeit auf der Farm freimachen konnte, die er von Luke geerbt hatte, gingen die beiden sogar gemeinsam auf Eichhörnchenjagd oder fischen. »Hat mich von jeher gewundert, wie gut Gordon schießen kann«, sagte Wayne. »Immerhin ist er ein Junge aus der Stadt und so.« »Gordon tut in der Öffentlichkeit nur etwas, was er besser kann als alle anderen«, bemerkte ich bitter. »Er muß zwanghaft der Gewinner sein; egal ob mit Haken und Ösen.« »Den Schützenwettbewerb hat er einwandfrei und ehrlich gewonnen«, erklärte Wayne. »Auch nur, weil der junge Anson nicht teilnehmen konnte.« »Ruth! Bitte! Du glaubst doch nicht im Ernst, daß Gordon dafür gesorgt hat, daß Tim Anson durch sein Scheunendach gekracht ist!« »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, entgegnete ich gereizt. »Gordon ist mit ihm zusammen auf dem Dach gewesen. Er hat ihm die defekten Stellen gezeigt, an denen die Schindeln ausgebessert werden mußten. Vielleicht wußte er ja nicht, wie verrottet das Dach in Teilen schon gewesen ist. Ich sage ja auch nur, daß Tim Anson der
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beste Schütze weit und breit ist, und Gordon sich erst hat aufstellen lassen, nachdem sich Tim den Arm gebrochen hatte und nicht teilnehmen konnte.« »Nein, Ruth«, widersprach Wayne sanft. »Du sagst ’ne ganze Menge mehr.« Wayne kannte mich ein Leben lang. Hatte er gespürt, daß ich die vergangenen vierundzwanzig Stunden unaufhörlich über all das nachgegrübelt hatte, was seit Julie und Noahs Verlobung passiert war? Als Gordon in unser Frühstück auf dem Balkon geplatzt war, herrschte plötzlich eine seltsam gespannte Atmosphäre. Ich hatte das allerdings als Folge meiner Gewissensbisse abgetan. Im Gegensatz zu Noah und Julie war ich alles andere als glücklich darüber, daß Gordon ihre Verlobung so locker weggesteckt hatte. Diese Art freundlicher Resignation paßte nicht zu ihm. Ich brachte eine frische Kanne Kaffee aus der Küche, und Gordon zeigte Noah sein neues Gewehr. Den ganzen Vormittag hatten die umliegenden Wälder von Schüssen widergehallt, denn die Jagdsaison war mit großem Aufwand eröffnet worden. Und Gordon konnte es nicht erwarten, die Waffe auszuprobieren. »Damit müßte ich sogar Rehwild erwischen«, sagte er. »Einwandfrei«, stimmte Noah ihm auf seine trockene Art zu. Der teure Remington-Karabiner, eine Spezialanfertigung, lag ihm erstklassig in der Hand. Und als er den handgefertigten Schaft an die Wange legte und am glänzenden Lauf Maß nahm, fiel ihm eine braune Haarsträhne über die Augen. Julie strich sie ihm in besitzergreifender Geste aus dem Gesicht. Ihr Ring glitzerte in der Sonne. Gordons Augen wurden schmal, doch er sagte lächelnd: »Ich weiß, du gehst nicht gern aus, wenn die Jagdsaison anfängt, aber heute ist meine letzte Gelegenheit. Ich fliege morgen geschäftlich nach Delaware. Wer weiß, wann ich zurückkomme. Wenn du natürlich Angst hast, mitzukommen, gehe ich allein.« »Seit wann ist unser gesunder Menschenverstand Angst?« warf ich gereizt ein. Und Julie sagte: »Noah bleibt hier. Da draußen sind jetzt viel zu viele Idioten unterwegs.«
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Hätten wir unseren Mund gehalten, hätte Noah Gordon vielleicht abblitzen lassen. Aber da wir uns beide ereifert hatten, stand er auf, zerwühlte Julies rotgoldenes Haar und sagte, sie solle sich nicht wie eine herrschsüchtige Ehefrau benehmen. »Wie weit willst du gehen?« fragte er Gordon. »Ich dachte an Windy Ridge. Habe neulich einen hübschen Bock da oben gesehen.« Noah griff nach seiner Jacke und folgte Gordon zur Treppe. Plötzlich blieb er stehen und sah zu Julie zurück. Es gibt Augenblicke, da kann sie sehr kleinlaut und niedergeschlagen aussehen, gerade so, als sei jede Freude aus ihrem Leben gewichen. Und das war jetzt der Fall. Ich hätte schwören können, daß sogar ihr Haar an Glanz eingebüßt hatte. Tränen schimmerten durch ihre sandfarbenen Wimpern. Noah kam zurück, wischte ihr mit seinem Taschentuch die Tränen ab und nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Keine Sorge, Julie. Ich setze meine orangerote Jagdmütze auf. Damit verwechselt mich niemand mit einem Hirsch. Und jetzt gib mir einen Kuß!« Sofort trat der alte Glanz wieder in Julies Augen, und sie küßte ihn so gründlich, daß Gordon unten in der Auffahrt kräftig hupen mußte, bevor Noah sich losreißen konnte. »Sei vorsichtig, Noah Randolph!« rief Julie ihm nach. Sie sah meine Miene und lächelte traurig. »Ist dein Luke auch so dickköpfig gewesen wie Noah?« »Niemals«, log ich, ohne mit der Wimper zu zucken. »Die Randolphs kannst du alle um den kleinen Finger wickeln, du mußt nur wissen, wie.« »Ha, ha. Und morgen kommt der Weihnachtsmann!« konterte sie gut gelaunt. Julie war wieder glücklich. Ich ergriff die Gelegenheit, um die Hochzeitsvorbereitungen weiter voranzutreiben. Am Nachmittag waren wir mit der Gästeliste beschäftigt. Plötzlich fiel unten in der Auffahrt eine Autotür ins Schloß. Julie schob die Papiere beiseite und lief zum Geländer. »Cousin Wayne kommt«, verkündete sie enttäuscht. »Gordon ist bei ihm. Und wo ist Noah?«
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Ich trat zu ihr ans Balkongeländer. Als ich Waynes Gesicht sah, legte ich instinktiv die Arme um Julie, als könne ich sie vor dem bewahren, was jetzt unweigerlich kommen mußte. In den folgenden Minuten vermischten sich für mich Vergangenheit und Gegenwart wie die Teile eines Kaleidoskops. Ich hörte Waynes Worte, die von den Ereignissen zwanzig Jahre zuvor überlagert wurden. »…irgendein schießwütiger Jäger (Heckenschütze der Vietkong)… droben am Windy Ridge (auf Patrouille um Mitternacht)… es ging alles so schnell… Tut mir leid, Julie. (Luke ist tot, Ruth).« »Ich bin schon weiter oben im Dickicht gewesen«, berichtete Gordon mit unsicherer Stimme. »Am Westhang war noch eine andere Jagdgesellschaft unterwegs. Aber wir dachten nicht, daß noch jemand so weit oben sein könnte wie wir. Ich habe den Schuß gehört. Als Noah nicht geantwortet hat, bin ich runtergerannt und habe ihn da liegen sehen. Irgend jemand ist durchs Unterholz davon. Ich habe geschossen und geschrien, er solle stehenbleiben – ohne Erfolg. Zum Glück waren die Jungs am Westhang gleich zur Stelle. Ich hätte sie nicht einmal bemerkt, wenn ihr Hund nicht gebellt hätte.« Einer dieser Jäger war ein Arzt aus Asheville. Er hatte sofort erste Hilfe geleistet, während die anderen eine notdürftige Bahre zusammengebastelt hatten. Gemeinsam hatten sie Noah ins Tal und zu einem Wagen gebracht. Ein Amateurfunker benachrichtigte einen Krankenwagen, der Noah dann auf halbem Weg nach Asheville übernommen hatte. Trotzdem sah es nicht gut für ihn aus. »Er hat zuviel Blut verloren«, sagte Wayne ruhig zu mir. Gordon fuhr uns ins Krankenhaus. Wayne blieb zurück, um die Suchaktion nach demjenigen zu leiten, der Noah angeschossen hatte. Die Fahrt dauerte vierzig Minuten. Gordon machte sich die ganze Zeit über Vorwürfe. »Wenn er stirbt, ist das meine Schuld«, wiederholte er immer wieder. »Er stirbt nicht!« widersprach Julie hitzig. »Was auch passiert, deine Schuld ist es nicht, Gordon«, erklärte ich. »Noah ist ein erwachsener Mann. Er ist aus freien Stücken mit dir gegangen.«
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Tom und Mabel Randolph saßen bereits im Warteraum der Intensivstation, als wir kamen. Außerdem hatten sich noch Mabels Schwester und einige Cousinen eingefunden. Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Noah wurde noch operiert. Es blieb uns nichts anderes übrig, als zu warten. »Und zu beten«, sagte Mabel Randolph. Ihre Augen waren vom vielen Weinen dick geschwollen. »Bitte, betet für ihn.« Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Neben dem Wartezimmer befand sich eine Caféteria, und die jungen Lernschwestern sorgten dafür, daß der Kaffeeautomat stets gefüllt war. Immer mehr Verwandte trafen ein, um mit uns zu warten und uns mit gebratenen Hühnchen, Schinkenbroten und gefüllten Eiern zu versorgen. Alle versuchten Julie und mich zu überreden, etwas zu essen. Aber Julie schien keinen Bissen herunterzubekommen. Sechs Stunden nachdem man Noah in den Operationssaal gerollt hatte, erschien der operierende Arzt. Er hatte noch seine Operationskleidung an, eine Maske baumelte an seinem Hals. Er beschrieb exakt, welchen Weg die Kugel durch Noahs Körper genommen hatte. Sie war durch den Rücken in die Lunge eingedrungen. Das Rückgrat war zum Glück verschont geblieben. Er sprach über Schock, Trauma und den Blutdruck, der sich offenbar nicht stabilisieren ließ. Mabel Randolph hörte ihm wie benommen zu. Als er geendet hatte, fragte sie: »Aber er wird doch wieder gesund werden, oder?« Der Arzt senkte den Blick. Und in diesem Moment wurde er mir sympathisch. Bis dahin hatte er sich nur hinter seiner Fachterminologie versteckt. Trotzdem hatte er sich noch so viel Menschlichkeit bewahrt, daß er der Mutter eines sterbenden jungen Mannes nicht in die Augen sehen und behaupten konnte, es würde alles wieder gut werden. »Vielleicht, wenn er die Nacht überlebt«, erwiderte er schließlich und verstummte. Der Chirurg war offensichtlich erleichtert, als in diesem Moment Waynes vierschrötige Gestalt durch den Warteraum auf ihn zukam. »Hier ist sie, Sheriff.« Damit überreichte der Arzt Wayne ein kleines Päckchen. »Habe versucht, jeden weiteren Kratzer zu vermeiden.«
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Das Päckchen enthielt die Kugel, die er aus Noahs Lunge entfernt hatte. Wayne gab es an einen seiner Deputys weiter, der es umgehend in das forensische Labor brachte. »Es sind überall Straßensperren aufgebaut, und wir haben sämtliche Waffen eingesammelt, die wir an diesem Berg finden konnten. Anschließend haben wir das Gelände noch einmal durchkämmt, um sicherzugehen, daß sich dort niemand verborgen hält.« Am nächsten Morgen hing Noahs Leben noch immer an einem seidenen Faden, und Wayne hatte den Laborbericht bekommen. Noah war mit einer Kugel vom Kaliber 7,6 Millimeter angeschossen worden. Ich gebe zu, daß ich mich in mondhellen Nächten gern an ein paar niedliche Waschbären heranpirsche, und ich hole mit meiner Winchester jedes Opossum aus einem Baum. Was allerdings Dinge wie »gezogene Läufe«, »Laufbohrungen« oder »Kaliber« betrifft, bin ich völlig ahnungslos. Ich weiß eben nur, daß sämtliche Straßen gesperrt worden waren und daß die Polizei die Waffen aller Jäger am Windy Ridge und Umgebung konfisziert hatte; darunter auch Noahs alte Winchester und Gordons neue Remington. Zuerst wurden all jene Gewehre getestet, für die Munition vom Kaliber 7,6 Millimeter verwendet werden konnte. Die Tatwaffe war nicht dabei. »Was ist mit den drei Männern, die geholfen haben, Noah ins Tal zu schaffen?« fragte ich. »Sind entlastet«, antwortete Wayne. Wir hatten alle eine lange, schreckliche Nacht hinter uns. Als Wayne daher anbot, Julie und mich nach Hause zu fahren, war ich bereit. Julie jedoch wollte das Krankenhaus um keinen Preis verlassen. Sie versprach, auf einem der Sofas zu schlafen. Ich sollte ihr Kleidung zum Wechseln mitbringen, wenn ich am Nachmittag zurückkehrte. Wir gingen, als Gordon sie zu einem Frühstück in der Caféteria zu überreden versuchte, und Mabel sie ermahnte, sie müsse jetzt um Noahs willen bei Kräften bleiben. Auf der Fahrt über die kurvenreichen Bergstraßen, sagte Wayne: »Wir haben, wo’s ihn getroffen hat, sein weißes Taschentuch gefunden, Ruth. An einem warmen Tag wie gestern, kommt ein Mann dort
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oben im Unterholz ganz schön ins Schwitzen. Schätze, er hat sich vergessen und wollte sich die Stirn damit trocknen.« Als ich ihn nur verwirrt ansah, fuhr er fort: »Große Jagderfahrung hast du wirklich nicht. Wenn ein Jäger mit einem nervösen Finger am Abzug im Unterholz was Weißes sieht – glaubst du der wartet, bis es sich umdreht und ihm das Geweih zeigt? O Mann! Was Weißes bedeutet Rehwild mit einem weißen Spiegel. Also drückt man ab! Peng!« Zu Hause duschte ich mich und legte mich ins Bett. Trotz all der Müdigkeit und Erschöpfung, wollte sich der Schlaf lange nicht einstellen. Dann kamen die Träume; Träume, in denen Noah mit Luke verschmolz – mit einem Luke, der in seiner Uniform auf einem einsamen Wachposten zwischen dichten roten Beerenbüschen und goldgelben Pappeln stand. Ich sah, wie der Heckenschütze des Vietkong durch das Unterholz kroch, versuchte zu schreien, doch Luke konnte mich nicht hören. Er fiel langsam ins Laub, und der Heckenschütze bedeckte sein Gesicht mit einer weißen Flagge. »Aber Luke hat doch keine weiße Flagge!« rief ich und wurde wach, als das Telefon klingelte. Es war Julie mit einer Liste von Kleinigkeiten, die ich ins Krankenhaus mitbringen sollte. Sie erzählte, daß sie Mabel überredet hatte, sich von Gordon für ein paar Stunden nach Hause bringen zu lassen, während sie und Tom weiter Wache hielten. Noahs Zustand war unverändert. »Das ist vielleicht ein gutes Zeichen, meinst du nicht?« Julies Stimme zitterte. »Es bedeutet, daß er überleben will.« Ich erwiderte, es gäbe jedenfalls Anlaß zur Hoffnung, aber bei dem Gedanken daran, was sie möglicherweise noch erwartete, wurde mir das Herz schwer. Mein Traum von Luke hatte mich rastlos gemacht. Ich war so aufgewühlt, daß an Schlafen nicht mehr zu denken war. Statt dessen ging ich auf meinem großen Balkon auf und ab, wie ich es zwanzig Jahre zuvor getan hatte, bis ich, ebenfalls wie vor zwanzig Jahren, in meinen Wagen stieg und ziellos in der Gegend herumfuhr. Als die Verzweiflung allmählich nachließ, hatte ich das Ende der alten Holzfällerwege erreicht, die kreuz und quer über Windy Ridge führten.
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Die Bäume warfen bereits ihre Blätter ab, und ein kühler Luftzug raschelte im trockenen Laub. Ich stieg aus und schlug einen Weg am Hang ein, auf dem Luke und ich oft spazierengegangen waren. Eichhörnchen schlugen Alarm, ein Wachtelpaar stob dicht vor meinen Füßen auseinander, und irgendwo weiter oben auf dem Kamm, meldete ein Hund mein Kommen mit lautem Bellen an. Ich hatte bislang angenommen, jeden Hund in der Gegend zu kennen. Den Pointer, der in wilder Hast den Abhang hinunter und auf mich zugerannt kam, hatte ich jedoch noch nie gesehen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund, verlieren Hunde in meiner Gegenwart jede Zurückhaltung. Ich mag Hunde eigentlich nicht besonders, doch im Lauf der Jahre, habe ich mich damit abgefunden, daß sie bei meinem Anblick völlig aus dem Häuschen geraten. Auch der Pointer bildete keine Ausnahme. Er tollte durch das trockene Laub, als sei ich seine älteste Freundin, versuchte an mir hochzuspringen und mir das Gesicht zu lecken. »Sitz!« kommandierte ich streng, und er gehorchte. Er hatte ein weißes Fell mit den üblichen rostfarbenen Flecken, Schlappohren und intelligente braune Augen. Sein langer dünner Schwanz peitschte durch die Luft, um mir zu sagen, wie glücklich er war, meine Gesellschaft gefunden zu haben. Und plötzlich fiel mir ein, daß Gordon behauptete, Hundegebell gehört zu haben, kurz bevor Noah angeschossen worden war. Vermutlich war es dieser Hund gewesen. Er trug zwar kein Halsband, doch ich nahm an, daß er zu der kleinen Jagdgesellschaft gehörte, die bei Noahs Abtransport geholfen hatten. Allerdings hatte ich noch nie gehört, daß man Pointer zur Rotwildjagd benutzte. »Haben dich deine Leute bei all der Aufregung vergessen?« fragte ich und kraulte ihn hinter den Schlappohren. Die Frage provozierte nur noch heftigeres Schwanzwedeln und einen erneuten Versuch, mir das Gesicht zu lecken. Es war alles so friedlich um mich herum, daß ich mich auf einem Baumstumpf niederließ und mich einfach nur der Stille hingab. Der Hund legte sich mir zu Füßen, den großen Kopf auf meinem Schuh. Eichelhäher schrien in den Baumwipfeln, und um uns herum tanzten rote Ahornblätter durch die Luft. Vom Kamm oben drang das träge
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Läuten der Kuhglocken von Sam Haskells Herde zu uns. Daß mitten in dieser friedvollen Schönheit Noahs Leben sein Ende gefunden haben sollte, schien unfaßbar. Winterwinde hatten die Bäume ihrer flammendroten Blätter beraubt, und die Frühjahrsregen hatten sie wieder in ein grünes Kleid getaucht. Zwanzig Jahre waren vergangen, seit ich mit Luke an diesen Hängen um die Wette nach wilden Alpenveilchen und Eßkastanien gelaufen war. Und jetzt war auch Lukes Neffe vielleicht bald tot. Ich legte den Kopf auf die Knie. Der Hund berührte mitfühlend mit seiner Schnauze mein Ohr. Als ich schließlich aufstand, hörte ich ihn auf einem Vorsprung weiter oben fröhlich bellen. Die Jäger aus der Stadt hatten sich Noah gegenüber als gute Samariter erwiesen. Schon deshalb fühlte ich mich verpflichtet, wenigstens auf ihren Hund aufzupassen. Auf meinen Pfiff reagierte er zwar mit einem Bellen, kam jedoch nicht zurück. Wayne hatte mir gesagt, daß er die Jagd am Windy Ridge verbieten würde. Wir sind hier also unter uns, dachte ich. Bis auf das Läuten der Kuhglocken, dem Gesang der Vögel und den Geräuschen des Hundes, der weit voraus durchs trockene Laub lief, war kein Laut zu hören. Ich folgte dem Hund immer weiter hinauf, vorbei an einer Gruppe von Hartriegel mit roten Blättern, bis zum letzten Steilhang unter dem Bergkamm. Als ich mich um einen überhängenden Felsen gehangelt hatte, erkannte ich überrascht, daß ich offenbar genau dort stand, wo die Kugel Noah getroffen hatte. Der Boden war hier zertrampelt. Und Zigarettenkippen und die Verpackung eines Films für eine Sofortbildkamera markierten die Stelle, von der aus Waynes Deputies Aufnahmen vom Tatort gemacht hatten. Weiter oben hörte ich das Bellen des Hundes. Er war vor einem dicken, umgestürzten Baumstamm stehengeblieben. Als ich näher kam, scharrte er mit der Pfote am hohlen Ende und heulte, als habe er dort etwas entdeckt. Ich hoffte auf eine Feldmaus oder ein Streifenhörnchen. Für Schlangen war es schon ein bißchen spät im Jahr, aber man konnte nie wissen. Ich fand einen Stock und stocherte damit in den Blättern, die sich im Loch gesammelt hatten. Dabei berührte ich mit dem Ende etwas
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weiches, das beinahe wie trockenes Laub knackte. Vorsichtig, denn ich hatte den Gedanken an Schlangen noch nicht aufgegeben, zog ich es heraus. Das Bündel war lang, schwer und mit mehreren Lagen wasserdichter Plastikfolie umwickelt. Der Inhalt war schlimmer als eine Klapperschlange. Noch bevor ich es auspackte, wußte ich, daß ein Gewehr darin stecken mußte, das nur zu einem Zweck gekauft worden war. Dann wurde ich unsanft zur Seite gestoßen. Gordon Tyler riß mir das Gewehr aus der Hand. Seine Augen blitzten vor Wut und Angst. »Woher, zum Teufel, hast du das gewußt?« schrie er. »Du bist nicht mal hier gewesen!« »Der Hund…«, begann ich. »Welcher Hund?« zischte er böse. »Du bist hinter dem Felsen vorgekommen und geradewegs zu dem Baumstamm gegangen, als hättest du mich gestern beobachtet.« Ich sah mich um. Der Hund war nirgends. In diesem entsetzlichen Augenblick wurde mir allerdings etwas nicht bewußt, denn plötzlich kehrte die Erinnerung zurück. »Noah konnte unmöglich ein Taschentuch herausgezogen haben! Er hat es unten bei Julie gelassen. Du hast eines hier hingelegt, nachdem du auf ihn geschossen hattest, Gordon. Wayne sollte denken, daß irgendein schießwütiger Idiot auf etwas Weißes reagiert hat.« »Und heute abend wird er annehmen, daß du zufällig den Killer hier oben überrascht und dir für deine Neugier ebenfalls eine Kugel eingehandelt hast.« Der Gewehrlauf blinkte in der Sonne, als Gordon ihn auf mich richtete. Danach schien alles wie in Zeitlupe zu passieren. Gordon hob das Gewehr an die Wange, doch bevor er zielen konnte, sprang ein weiß-braunes Fellknäuel Gordon an die Kehle. Beide fielen rücklings auf die Felsen am Abhang. Als ich schlitternd und stolpernd in die Schlucht hinunterraste, hatte die klaffende Wunde an Gordons Stirn zu bluten aufgehört, und es war kein Puls mehr zu spüren.
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Ich dachte, der Hund müsse in der Nähe sein und piff und rief aus Angst, er könne vielleicht ebenfalls irgendwo verletzt und sterbend zwischen den Felsen liegen. Schließlich mußte ich die Suche aufgeben. Ich kletterte aus der Schlucht. Obwohl ich von der hautnahen Berührung mit dem Tod und der Erkenntnis, daß Gordon vorsätzlich auf Noah geschossen hatte, wie betäubt war, fragte ich mich angesichts des seltsam beruhigenden, süßen Blütendufts, der mir in die Nase stieg, welche Herbstpflanzen die Sinne auf diese Weise betören könnte. Jetzt warteten Wayne und ich auf meinem Balkon und sahen zu, wie das Zwielicht über den blauen Bergen dunkle Nuancen gewann, während Gordons Leiche und Gordons Gewehr in irgendwelchen Laboratorien oder Leichenschauhäusern untersucht wurden. In der Dämmerung kam einer von Waynes Deputies. »Tut mir leid, Miss Ruth. Wir haben unter jeden Baumstamm und jeden Felsen geschaut, aber von Ihrem Hund fehlt jede Spur.« »Danke, daß Sie sich die Mühe gemacht haben. Aber es war nicht mein Hund«, sagte ich. »Er muß zu den Jägern gehört haben.« »Die hatten keinen Hund bei sich«, klärte Wayne mich auf. »Ich habe mich erkundigt. Und Sam Haskell hat dort oben auch keinen streunenden Pointer gesehen.« Ich zuckte mit den Schultern und ließ das Thema auf sich beruhen. Auch Gordon hatte den Hund geleugnet. Vielleicht wurde ich allmählich senil. Dann rief Wayne erneut das Labor an. Er erfuhr, daß die Kugel, die man aus Noahs Lunge entfernt hatte, aus Gordons zweitem Gewehr stammte. Zehn Minuten später rief der Gerichtsmediziner an. Gordon hatte sich das Genick gebrochen. Seine Leiche wies jedoch abgesehen von der klaffenden Wunde an der Schläfe keine weiteren Verletzungen, vor allem keine Bißwunde an der Kehle, auf. Das Telefon klingelte erneut. Diesmal war es Julie. »Noahs Blutdruck hat sich stabilisiert. Die Ärzte glauben, daß er bald wieder zu Bewußtsein kommen wird.« Freude und Dankbarkeit sprachen aus ihrer Stimme, und eine schwere Last fiel von meinem Herzen.
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Ich habe oft gehört, daß die meisten Menschen den Augenblick, indem sie schwer verletzt wurden, gar nicht registriert haben. Ich habe jedoch fest vor, Noah bald zu fragen, ob er Hundegebell gehört hat, bevor Gordon auf ihn geschossen hatte. Irgend etwas hatte Gordons Konzentration gerade so weit abgelenkt, daß die Kugel Noah nicht tödlich getroffen hatte. Und selbst wenn Noah sich nicht erinnern kann, spielt das keine Rolle. Denn plötzlich war es mir gelungen, den süßen Duft zu identifizieren, den ich auf Windy Ridge in der Nase gehabt hatte. Überall um mich herum standen Bäume und Pflanzen im flammend bunten Herbstkleid, doch in der Schlucht des Windy Ridge hatte die schwere Süße des im Mai blühenden Geißblatts und der Glyzinie in der Luft gehangen.
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Der Zug der Störche Edward Wellen – Josh Patcher Es war nicht besonders kühl, noch nicht. Trotzdem wußte der große, weiße Vogel, daß die Zeit gekommen war. Die Zeit, die alljährliche Reise gen Süden anzutreten. Wissen war bei ihm keine rationale Kenntnis wie bei uns Menschen. Es war etwas, das tief in seinen Genen und Chromosomen steckte, die sich im ewigen Kreislauf durch das Mikrolabyrinth seines Nervensystems bewegten und von dem der uralte Ruf seiner Spezies ausging, der forderte: jetzt! Die alte Annie Dekkers wippte in ihrem müde knarrenden Schaukelstuhl hin und her, der schon in ihren Kindertagen ein uraltes Modell gewesen war. Plötzlich zersprang der Himmel vor ihrem Fenster in einem grellen Feuerwerk in der Sonne glitzernder Schwingen, als der elegante Vogel sich in die Lüfte erhob und das Nest auf dem Wagenrad über Annie Dekkers stillgelegtem Schornstein verließ. Ein mädchenhaftes Lächeln umspielte ihre trockenen, rissigen Lippen. Es war eine Freude, den Vogel wieder im Flug zu beobachten. Sie war nicht traurig, daß er sich verabschiedete. Sie wußte, er würde im Frühjahr zurückkommen. Er kam in jedem Frühling wieder, hatte es seit zwölf Jahren so gehalten, wie sein Vater und seine Mutter vor ihm. Wohin mochte es ihn ziehen, wenn er den beschaulichen Frieden des Bauernhofs verließ? Die einzige Antwort, der sie sich sicher war, lautete: gen Süden. Dann verdüsterte ein Gedanke schließlich doch ihre Stirn. Der Vogel würde im Frühjahr wiederkommen, daran bestand kein Zweifel. Aber dieses nächste Mal, diesen nächsten Frühling, wenn der Vogel zurückkehrte, würde sie dann noch dasein, um ihn willkommen zu heißen? Der Bauernhof unten wurde kleiner und verschwand, während kräftige Flügelschläge den weißen Vogel in die Höhe trugen. Wie immer waren die ersten Stunden seiner Reise angenehm, friedlich. Erst später, wenn die Stürme einsetzten, wurde der Flug zum Kampf. In der Ferne tauchte eine große Stadt auf, rückte näher, ein Ort mit riesigen Gebäuden, Krach und Gestank. Und doch gab es in ihrer
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Mitte eine Oase mit belaubten Bäumen und glitzernden Wassern. Es existierte ein Flecken, den Zeit und Zivilisation ausgespart hatten, wo Affen in einer dschungelhaften Umgebung schwätzten, und Polarbären zur Freude kleiner Kinder auf und ab wanderten. Diese Oase war für den Vogel der einladende Vorgeschmack auf die Leichtigkeit des Lebens, die ihn am Ende der Reise erwartete. Wäre es schon einige Stunden später gewesen, hätte der Vogel hier seinen Flug unterbrochen und die Nacht verbracht. Doch es war heller Tag, und der Vogel fühlte vibrierende Lebendigkeit in sich. Er genoß das Rauschen des Windes, der über sein Gefieder hinwegzog, wenn er sich mit kräftigen Flügelschlägen in jene thermischen Luftströme begab, die seinen Gleitflug begünstigten. Und er flog weiter. Während er über die Oase hinwegzog, erhob sich unten ein zweiter Vogel, dem ersten bis auf einen dreieckigen, schwarzen Fleck auf der Stirn vollkommen gleich. Obwohl zwischen den beiden nichts ausgetauscht wurde, was die Menschen Botschaft oder Zeichen genannt hätten, schwebte der unausgesprochene Gedanke zwischen ihnen: wie gut, Gesellschaft zu haben, nebeneinander zu fliegen auf der langen, oft einsamen Pilgerreise in den Süden. Unter ihnen stand ein großer Mann im strengen, schwarzen Anzug neben dem viereckigen Backsteingebäude, auf dessen Dach der zweite Vogel sein Nest hatte. Er schirmte mit der Hand seine Augen gegen die Sonne ab und sah den fortziehenden Vögeln nach. Der Mann lächelte wie die alte Frau auf dem Bauernhof, doch seine Miene wirkte gemein und gierig. Auf einer menschenleeren Straße am Südrand der Stadt spürte ein junger Mann mit ungepflegtem langen Haar und einem dünnen Goldring im rechten Ohrläppchen, wie etwas weiches, flüssiges auf die Schulter seiner schäbigen, schwarzen Lederjacke klatschte. In Gedanken hob er automatisch die Hand, um das Zeug wegzuwischen. Als er es berührte, zuckten seine Finger angeekelt zurück. »Gott verdammt!« fluchte er, sah in die Höhe und reckte in sinnloser Wut die Faust gegen die beiden Vogelsilhouetten vor der Herbstsonne, die zielstrebig dem südlichen Horizont entgegenstrebten. »Der Storch ist unterwegs«, sagte Gerard Valkenier, klopfte Krümel von seinen schwarzen Hosenbeinen und stand auf, um den schlaksigen Südafrikaner zu begrüßen, der im Türrahmen seines Büros in
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dem viereckigen Backsteinbau stand, in dem sich das Vogelhaus von Artis, dem Amsterdamer Zoo befand. »Vor ungefähr einer Stunde. Ich habe ihn beobachtet und dich gleich von hier aus im Hotel angerufen.« »Es geht also los«, sagte Kuypers. Der Südafrikaner artikulierte das Holländische langsam und mit dem Akzent des verwandten Afrikaans. »Ja.« Valkenier nickte. »Es geht los.« Die beiden Männer saßen sich in Sesseln gegenüber. Valkenier angelte sich einen weiteren negerzoen aus der Tüte, die er am Morgen aus der Bäckerei gegenüber dem Haupteingang geholt hatte. »Er dürfte den Krüger-Nationalpark schätzungsweise in drei Wochen erreichen«, fuhr er fort. »Und dort überwintert er bis Mitte März. Jetzt bist du an der Reihe. Sobald du wieder in Johannesburg bist und die Diamanten hast, mußt du sie nur in die Kapsel stecken und am Bein des Vogels befestigen. Genau wie ich’s dir gezeigt habe. Den Rest besorgt der Storch. Wenn sein Verhalten in den letzten Jahren ein Maßstab sein kann, dann ist er bis zur zweiten Aprilwoche wieder hier.« »Und wir brauchen uns nicht um Grenzen, Zoll oder Export- und Importsteuern zu scheren. Das gefällt mir. Sehr sogar. Nur eines gefällt mir nicht. Was mache ich, wenn fünfzig von diesen weißen Vögeln plötzlich im Reservat sind? Wie soll ich dann wissen, welcher der ist, der den Sommer auf deinem Dach verbringt?« »Das habe ich dir doch schon erklärt«, entgegnete Valkenier geduldig. »Und zwar gleich bei unserer ersten Begegnung.« Er stopfte sich erneut eine Süßigkeit in den Mund und kaute geräuschvoll. »Der Vogel ist markiert. Mit einem schwarzen V auf der Stirn. Mit einem wasserfesten Stift. Mit einem passablen Fernglas erkennst du ihn schon aus hundert Metern Entfernung.« Kuypers grinste. »Richtig«, erinnerte er sich. »Sehr gut.« Er griff nach der Gebäcktüte. Schließlich war er doch hungrig geworden. Aber er kam zu spät. Sein Partner hatte gerade das letzte Stück hinuntergeschluckt und leckte sich mit einem Schmatzen die Lippen. Dirk Kuypers betätigte die Toilettenspülung und wusch sich sorgfältig die schrundigen Hände. Neben dem Alu-Becken prangte ein Me-
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tallschild mit der Aufschrift: BECKEN BITTE AUS RÜCKSICHT AUF DIE ANDEREN PASSAGIERE MIT BENUTZTEM PAPIERHANDTUCH ABWISCHEN UND LETZTERES WEGWERFEN. Er ignorierte das Zeichen, kehrte an seinen Platz zurück und hinterließ ein Waschbecken voll schmutzigen Wassers. Die Stewardeß kam in diesem Augenblick mit ihrem Trolley vorbei. Er bestellte ein winziges Fläschchen Genever, und trank den Schnaps aus der billigen Plastiktasse, die ihm die Frau gab. Was für ein Ding, dachte er wie so oft in der vergangenen Woche in Amsterdam. Was für ein herrlicher, idiotensicherer Coup! Sie flogen in einer Höhe von zehntausend Metern über dem Mittelmeer südlich von Gibraltar mit Kurs auf den afrikanischen Kontinent bei einer Geschwindigkeit von gut sechshundert Kilometern pro Stunde. An der Rumpfunterseite des Flugzeugs öffnete sich an vor Öl triefenden Scharnieren eine Heckklappe, die am Flughafen Schiphol von einem Mechaniker gewartet worden war, der seine Gedanken nur bei seiner Freundin gehabt hatte. Kuypers’ Abwasser fiel heraus. Es erstarrte bei den Minustemperaturen in dieser Höhe augenblicklich zu einem unregelmäßig geformten, grünlichen mit schwarzen noch flüssigen Öltropfen durchsetzten Eisblock. Als sich der Eisblock in nur noch fünfhundert Metern Höhe befand, hatte er seine Endgeschwindigkeit erreicht. Sekunden später würde er in die smaragdgrüne Weite des Meeres eintauchen und schmelzen. Vorher jedoch traf und tötete er einen weißen Storch, der ihn nicht einmal kommen gesehen hatte. Ein zweiter Storch blieb unverletzt. Beim Aufprall des Eisprojektils spritzte Öl hoch und hinterließ auf der weißen Stirn des zweiten Storches eine seltsame V-förmige Markierung. Der Gefährte des Storchs begriff die Tragik des Todes, dessen Zeuge er geworden war, nicht – jedenfalls nicht in dem Sinn, wie wir Menschen Tragik verstehen –, aber auf einer tiefen Ebene des Bewußtseins trauerte er bei der Aussicht, die Reise allein fortsetzen zu müssen. Der Messerstich kam für den Minenarbeiter vollkommen überraschend. Sein Schmerzensschrei verlor sich in der Weite des südafri-
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kanischen Buschs. Und der Ausdruck von Entsetzen und Betrogensein, breitete sich in seinem kohlschwarzen Gesicht schneller aus als der warme, leuchtendrote Blutfleck auf dem weißen Hemd über der Gürtellinie, den niemand anderer sah als sein Mörder. Dirk Kuypers wischte die Messerklinge am harten, braunen Gras ab und steckte sie in die Lederscheide, die an seinem Gürtel baumelte. Der Lederbeutel mit Rohdiamanten, für den er gerade diesen Mord begangen hatte, wanderte zusammen mit seinem Insektenspray, den Zigaretten und den Käsebroten in den Rucksack. Dann machte er sich auf den Rückweg zum Wasserloch, wo er seinen Jeep gelassen hatte, ohne den Toten noch eines Blickes zu würdigen. Er bahnte sich seinen Weg durch das Gestrüpp von KarooBüschen und ging im Zickzackkurs um die gefährlichen Haufen der roten Ameise herum. Daraus könnte man einen Haiku machen, dachte er und jonglierte geschickt mit den Bildern, die vor seinem geistigen Auge entstanden, während er weiterging: Wir reisen zu zweit, Bis ew’ge Dunkelheit fällt Mein Schatten und ich. Es war ein guter Haiku. Er wollte ihn noch am selben Abend zum besten geben, wenn er wieder in der Stadt bei seinen Kumpanen war und das Bier reichlich floß. In Amsterdam biß Gerard Valkenier kräftig in seinen moorkop und seufzte zufrieden, als die süße Sahne seine Geschmacksnerven berührte. Dann wischte er sich mit einer Papierserviette sorgfältig den Mund ab, griff nach einem roten Filzstift und markierte auf dem Wandkalender hinter seinem Schreibtisch das Datum des Tages mit einem X. Es war das achtzehnte X, das er bisher eingetragen hatte, angefangen mit dem Tag, da der Südafrikaner nachmittags sein Büro verlassen hatte, und der Storch in den Süden gezogen war. Jeden Tag konnte es jetzt soweit sein, sagte er sich verträumt und streckte die Hand erneut nach dem Gebäck aus. Jeden Tag.
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Kuypers wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und schmeckte den salzigen Schweiß an seiner Zungenspitze. Er rieb sich die brennenden Augen. Zum neunten Mal suchte er mit dem Fernglas die öde Landschaft des Krüger-Nationalparks ab. Wohin er auch blickte, das Buschland reichte bis in dürre Weiten, die ihn zu verschlingen drohten und jede Kreatur auf die Größe von Ameisen zu reduzieren schienen. Wo steckt bloß der verdammte Vogel? fragte er sich. Seit einer Woche war er täglich heimlich über die Maschendrahteinzäunung des Wildreservats geklettert, und eine innere Stimme sagte ihm, daß er sein Glück allmählich zu sehr strapazierte. Wenn die Wildhüter ihn nicht schnappten und ihn einlochten, würden ihn früher oder später die Löwen erwischen. Die Nashörner machten ihm weniger Sorgen. Obwohl sich beim Nashorn brutale Kraft mit einem unberechenbaren Temperament paarte, verfügte es über ein schlechtes Sehvermögen und eine noch geringere Intelligenz. Schlägt sein erster Angriff fehl, unternimmt es keinen zweiten Versuch. Es galoppiert einfach blindwütig weiter, bis ihm die Puste ausgeht. Erst dann bleibt es stehen. Sollte Kuypers ein Nashorn zu nahe kommen, brauchte er ihm nur im richtigen Augenblick aus dem Weg gehen. Damit war die Sache dann erledigt. Bei den Löwen jedoch – das stand auf einem anderen Blatt. Genug damit! Kuypers schüttelte den Kopf, um gedanklichen Ballast abzuwerfen. Er mußte sich auf den Storch konzentrieren. Und der Storch mußte kommen. Dieses holländische Milchgesicht schien sein Geschäft zu verstehen: Es trafen tatsächlich Störche ein, und exakt an der Stelle, die Valkenier beschrieben hatte. Offenbar kehrten sie hier an ihre Ursprünge zurück. Die Menschen der Vorzeit hatten ihre Bilder so tief in einen nahe gelegenen Stein geritzt, daß man dem Zahn der Zeit zum Trotz noch immer, wenn auch schwach, Vogelsilhouetten erkennen konnte, die in elegantem Flug über den Stein zu gleiten schienen. Ein schmaler Schatten kreiste über der unwirtlichen Erde und veranlaßte Kuypers, zum Himmel aufzuschauen. Wieder nur einer die-
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ser verdammten Geier auf der Suche nach Fleisch oder vielmehr nach Verwesung! Die blutrote Sonne, Taktmesser des Lebens, kündigte an, daß der Tag unausweichlich und langsam zur Neige ging. Störche flogen nur bei Tag, und bald würden alle landen, um die Nacht auf der Erde zu verbringen. Falls Valkeniers Vogel nicht bald auftauchte, mußte Kuypers für den Tag Schluß machen und am nächsten Morgen wiederkommen. In diesem Augenblick senkte sich etwas Weißes wie ein Relikt des jungen Tages in das abnehmende Licht herunter. Kuypers sah es kommen: ein großer, weißer Storch. Und als der Vogel landete, rückte er näher, um ihn mit dem Fernglas erfassen zu können. Er stellte die Schärfe ein und… da war der schwarze Fleck auf der weißen Stirn; vielleicht etwas blaß, aber trotzdem deutlich im Licht des Spätnachmittags zu sehen. Kuypers summte leise vor sich hin und packte die Büchse mit getrockneten Heuschrecken aus, die er mitgebracht hatte, um den Vogel anzulocken. Langsam kroch er auf ihn zu und legte zwischen dem Vogel und sich mit ruhigen Bewegungen eine Spur von getrockneten Insekten. Valkenier hatte den Vogel gezähmt, fast domestiziert, so daß Kuypers’ menschliche Gestalt ihn nicht schrecken würde. Der Vogel machte zwar tatsächlich keine Anstalten, davonzufliegen, näherte sich jedoch ebensowenig den schmackhaften Bissen, die ihm den Weg zu der menschlichen Gestalt wiesen. Möglicherweise war ihm auf der langen Reise etwas zugestoßen, hatte er schlechte Erfahrungen gemacht, die ihn jetzt besonders vorsichtig sein ließen. Der Vogel wirkte müde. Die sonst so stolze Silhouette schien der Erdenschwere nicht mehr trotzen zu können. Dann verlieh ihm der Hunger frische Kraft. Und mit der Delikatesse des Feinschmeckers pickte er die Spur der Insekten auf, die zu Kuypers führte, bis er ihm schließlich aus der Hand fraß. Mit einem schnellen, sicheren und doch behutsamen Griff hatte Kuypers das sich kaum wehrende Tier gepackt. Vorsicht, Vorsicht, mahnte er sich stumm. Ein gebrochenes Bein oder ein verletzter Flügel, und das Spiel war aus.
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Indem er mit Rücken und hochgezogenen Schultern das Gesicht vor dem Schnabel und den Schwingen des Storchs schützte, befestigte er die Metallkapsel mit Hilfe eines Blechrings am Bein des Vogels, wie Valkenier es ihm beigebracht hatte. Die Metallkapsel trug die Aufschrift: EIGENTUM DER NIEDERLÄNDISCHEN ORNITHOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. DER FINDER WIRD GEBETEN, DIE KAPSEL GEGEN BELOHNUNG UND MIT UNVERSEHRTEM SIEGEL AN N.O.S. BOX 4234 AMSTERDAM NIEDERLANDE ZURÜCKZUSENDEN. Falls dem Storch auf dem Rückweg nach Holland etwas zustoßen sollte, bestand auf diese Weise die Chance, daß die Diamten trotzdem ihren Bestimmungsort erreichten. Die Niederländische Ornithologische Gesellschaft! Gütiger Vater! Woher nahm Valkenier nur die Ideen? Der Mann war ein Genie! Fertig! Nachdem die Kapsel befestigt war, war Kuypers’ Job beendet. Alles Weitere hing vom Storch ab. Kuypers machte passend zur verwischten Markierung auf der Stirn des großen Vogels das churchillsche Siegeszeichen und trat versehentlich zwischen die Speichen eines alten Wagenrads, das festgebacken in der Erde lag. Das Rad war ein Relikt vom großen Treck der Buren. Seine Spur reichte zurück zu jenen Tagen, als die Pioniere ihre Ochsen vor die Wagen gespannt hatten und mitten durch den afrikanischen Busch gefahren waren. Da hatte es nun all die Jahre gelegen und auf ihn gewartet, nur um seinen Fuß dort festzuhalten, wo zwei Speichen in die Radnabe mündeten, und ihm schmerzhaft das Gelenk zu verdrehen. Kuypers fluchte. Sein Fuß steckte zwischen den Speichen fest. Es schien einfacher, eine Speiche zu lösen, als den Fuß herauszuzerren. Das brüchige alte Holz gab mit einem ächzenden Krachen nach, das an den Protest eines Gartentors mit verrosteten Angeln erinnerte. Aber es war nicht allein das Holz, das Geräusche von sich gab. Kuypers brüllte vor Schmerz, als er die Balance zu verlieren drohte, und sein Fuß nur noch tiefer unter das Rad rutschte, das jetzt mit seinem ganzen Gewicht auf ihm lastete. Kuypers rang nach Luft. Sein Knöchel brannte vor Schmerz. Benommen registrierte er, daß er die herausgebrochene Speiche noch immer in der Hand hielt, und warf sie achtlos über die linke Schulter.
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Hinter seinem Rücken kollidierte das Holzstück mit einem dumpfen »Pflop« mit einem anderen Objekt. Aus derselben Richtung ertönte umgehend ein gereiztes Schnauben. Kuypers wandte den Kopf. In ungefähr zehn Metern Entfernung stand ein Nashorn, hatte den Kopf gesenkt und scharrte mit einem Vorderhuf. Kuypers hatte es mit dem unbedachten Wurf der Speiche getroffen und damit seinen primitiven Sinn für Würde verletzt. Trotz seiner schlechten Augen nahm es aufgrund der eindeutigen Witterung exakt Maß und griff an. Kuypers bemühte sich verzweifelt, seinen festgeklemmten Fuß freizubekommen. Unter unmenschlichen Schmerzen gelang ihm dies schließlich. Doch es war zu spät. Ihm blieb weder Zeit, aus der Angriffslinie des Nashorns zu humpeln, noch hatte er eine Chance das Messer zu ziehen, wobei letzteres kaum etwas genützt hätte. Die Klinge wäre am Lederpanzer des Dickhäuters hilflos abgeglitten. Das Horn erfaßte Kuypers genau an der Stelle über der Gürtellinie, an der er zuvor den Minenarbeiter beim Diebstahl der Diamanten tödlich verletzt hatte. Im alles absorbierenden Wundschmerz jedoch ging diese zynische Erkenntnis unter. Kuypers wurde in die Luft geschleudert und landete unsanft auf dem Wagenrad, während das Nashorn weiter in den Busch galoppierte und schließlich in einer Staubwolke verschwand. Kuypers lag allein in öder Landschaft, und mit jedem Tropfen Blut, den er verlor, rann sein vergeudetes Leben allmählich aus seinem Körper. Der Storch mit der Metallkapsel am Bein sah ihm dabei mit leicht geöffnetem rötlichen Schnabel zu. Ein schwacher Schrei drang aus Kuypers’ Kehle, der wie die letzten, klagenden Töne einer Dudelsackmelodie klang. Der Storch wurde neugierig und kam näher zu dem vernichteten menschlichen Wesen, das sich auf einem Wagenrad niedergelassen hatte. Fast zärtlich rieb er die Stirn an der Handfläche des Südafrikaners, als wolle er ihm die Sünden an seiner Spezies vergeben. Diese Berührung unterbrach Kuypers’ Reise in die Welt der Schatten vorübergehend, und er wandte unter Schmerzen den Kopf, um die unschuldige Kreatur anzusehen. Mit Tränen in den Augen sah er, daß das schwarze Zeichen auf der Stirn des Tiers längst nicht mehr die Form eines Vs hatte, sondern nur noch ein schmieriger Fleck war. Mit letzter An-
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strengung hob er den Kopf und entdeckte, daß seine Handfläche ölverschmiert war. Es ist der falsche Vogel, registrierte er benommen. Verdammt, der falsche Vogel! Hoch über Kuypers kreiste ein Trio hungriger Geier. Sie hielten geduldig Wache, warteten, bis die auf der Erde ausgestreckte Gestalt ihre letzte Zuckung getan hatte, um sich dann zum Abendessen niederzulassen… Nach langem, extrem hartem Winter – einem Winter mit so niedrigen Temperaturen, daß zum ersten Mal seit Jahren wieder Schlittschuhläufer die Kanäle bevölkerten – wurde es schließlich Frühling in Amsterdam. In Tausenden von Schaufenstern blühten Krokusse, Narzissen und natürlich die obligaten Tulpen; in zahllosen Gärten öffneten sich zaghaft die ersten Birnenblüten. Eine Armada von Touristenschiffen mit Plexiglasdächern ersetzten die Schlittschuhläufer. Das ausgedehnte, komplizierte Netz von Kanälen hallte wider von Stimmen auf Tonbändern, die die Sehenswürdigkeiten der Stadt auf Holländisch, Englisch, Französisch und Deutsch beschrieben, während die gläsernen Kuppeldächer vom Atem der Touristen beschlugen, die unaufhörlich das kleinste Haus Hollands und die schönen Giebelhäuser der Herengracht fotografierten. In der Leidesplein wurde die Schlittschuhbahn abgebaut, auf Lastwagen verladen und in ein Lagerhaus gebracht. An ihrem Platz sprossen gut hundert Tische und Stühle wie Pilze aus dem Boden, die bald rot-weiße Campari-Schirme beschatteten. Ober in weißen Jacketts servierten einer Bevölkerung Bier und Kaffee, die gerade aus dem Winterschlaf erwacht zu sein schien. Natürlich gab es auch Regen mit hoffnungsvoll sonnigen Unterbrechungen. Fahrräder waren überall. Straßenmusikanten verließen den Schutz der U-Bahnstationen und füllten die Stadt mit ihren Klängen. Im Vondel Park liefen die Hunde frei herum, und Frisbees flogen durch die Luft. Dünne, weiße Rauchsäulen stiegen aus Pfeifenköpfen auf, die mit Shagtabak, libanesischem Haschisch oder einer Mischung aus beiden gestopft waren. In den Häusern, hinter verschlossenen Türen, wurde ohne Unterlaß konferiert, während die Atomkraftgegner, die Homosexuellen, die
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Punks und Feministinnen Plakate, Farbe und Pinsel hervorholten, um sich auf die lange Saison der Protestmärsche vorzubereiten, die vor ihnen lag. Auf dem Dach eines hohen weißen Gebäudes, unweit der Stadtgrenze, saß stolz eine Möwe in ihrem geräumigen Nest aus Gras, Schilf und Federn. Sie brütete über vier gesprenkelten Eiern, aus denen bald Junge schlüpfen mußten. Dann gab es hungrige Mäuler zu stopfen und knurrende Magen zu füllen. Für die Möwe war es Zeit für die Aufzucht ihrer Brut. Für die Stadt Amsterdam und das flache Land war es Frühling. Gerard Valkenier ertappte sich dabei, wie er sich automatisch die Finger leckte. Die Erkenntnis dessen, was er sich durch diesen Mangel an Konzentration im entscheidenden Moment hatte entgehen lassen, erschütterte ihn zutiefst. In welch trauriger Verfassung mußte sich ein Feinschmecker wie er befinden, wenn er frisch zubereitetes tompoes einfach nicht genießen konnte? Er versuchte, das herrliche Aroma im nachhinein noch einmal wachzurufen, doch es hatte sich bereits verflüchtigt. Welch eine Verschwendung! Und wieder war ein Tag ereignislos vergangen. Der Blick aus dem Fenster zeigte ihm, daß sich die Stadt für den Abend rüstete. Die Zeit fliegt dahin. Die Zeit fliegt dahin, aber was macht mein Storch? Den ganzen Winter keine Nachricht von Kuypers! Valkenier fürchtete, daß etwas mit seinem Plan grundlegend schiefgelaufen war. Tag um Tag stapelten sich mehr Fortschrittsberichte, Kaufgesuche und Rechnungen, die seine Aufmerksamkeit verlangt hätten, auf seinem Schreibtisch, als seien sie Barometer seiner wachsenden Befürchtungen. Er jedoch saß nur tatenlos vor seinem Fenster und wartete, daß die weiße Silhouette dort endlich auftauchen würde. Was konnte nur schiefgelaufen sein? War es Kuypers nicht gelungen, die Diamanten an sich zu bringen? Hatte man ihn im Reservat erwischt und verhaftet? All diese Möglichkeiten erklärten jedoch nicht das Ausbleiben des Vogels. Oder hatte der verdammte Südafrikaner den Vogel beim Versuch, ihm die Kapsel am Bein zu befestigen, verletzt? Oder war der Storch Beute der Raubtiere im Reservat
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geworden? Oder hatte ihn ein anderes unvorhersehbares Schicksal auf dem Hin- oder Rückweg ereilt? Oder? Oder? Oder? Valkenier ballte hilflos die Fäuste. Tausend Katastrophen quälten sein Vorstellungsvermögen. Er war absolut hilflos. Er konnte nichts anderes tun, als warten und hoffen, daß der nächste Tag den Storch zurückbringen werde; konnte nichts weiter tun, als nach Hause gehen, und eine Stippvisite auf dem Postamt machen, um nachzusehen, ob die Kapsel mit den Diamanten inzwischen in dem Postfach gelandet war, das er im Namen der fiktiven Niederländischen Ornithologischen Gesellschaft gemietet hatte. Und natürlich mußte er in der Konditorei gegenüber dem Haupttor seinen schwindenden Vorrat an süßen Leckereien auffrischen. Sie waren die einzige ihm verbliebene Freude in jenen Tagen – und jetzt sollte ihm auch noch dieser kleine Trost verwehrt werden. Wütend riß Valkenier das oberste Blatt von seinem Tischkalender. Die Zeit fliegt dahin, dachte er erneut. Dann lachte er humorlos und beherrschte sich soweit, das Kalenderblatt nicht zu zerknüllen und gereizt in den Papierkorb zu werfen. Statt dessen faltete er einen Papierflieger daraus und ließ das leichte Flugobjekt durchs Zimmer segeln. Die Zeit fliegt dahin, wiederholte er mit einem bitteren Lächeln, als das Papierflugzeug durch das geöffnete Fenster segelte, dort von einer Brise erfaßt und hoch über den Zoo getragen wurde. Das Papierflugzeug segelte mal hoch, mal tief, spielerisch bewegt von den unterschiedlichsten Luftströmen. Es dauerte etliche Minuten, bis ihm der Treibstoff ausging und es eine Bruchlandung in einen grell-lila blühenden Rhododendronbusch machte; bei diesem letzten Landeanflug segelte ein schwarzer, habichtartiger Schatten über das Drahtdach eines Taubenkäfigs, und löste unter den Vögeln panische Verwirrung aus. Annie Dekkers lag hilflos in ihrem breiten Messing-Bettgestell. Ihre runzeligen Hände krallten sich krampfhaft in die dicke Daunendecke, unter der sie gefangen lag. Sie hatte die Daunendecke selbst genäht. Das war im Herbst des Jahres gewesen, in dem sie den armen Fokke geheiratet hatte. Jetzt hatte das Rheuma sie so geschwächt, daß sie nicht einmal mehr die Kraft hatte, die Decke zurückzuschla-
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gen, aufzustehen, sich auf den mageren Beinen nach unten zu tasten, um sich dort die heißersehnte Tasse Tee zu kochen. Inzwischen mußte es fast drei Uhr sein. Lien kam um halb sechs aus dem Geschäft. Brave Lien. Eine liebe, wundervolle Tochter. Ein echter Trost für die alte Annie, in diesen beschwerlichen Tagen. Wie Lien bei ihrem eigenen Kind, Annies mißratenem Enkel Roel, so kläglich hatte versagen können, das war Annie ein ewiges Rätsel. Allerdings war es Lien, die bei ihr lebte, für sie sorgte; und Gott sei Dank nicht Roel. Sie würde mit der Tasse Tee bis zur Rückkehr ihrer Tochter warten. Es war bereits drei Uhr. Die Glocken vom Kirchturm im Dorf läuteten vernehmlich durch das geöffnete Fenster ihres Schlafzimmers. Lien hatte es in ihrer liebevollen, umsichtigen Art am Morgen geöffnet, damit sie die herrliche Frühlingsluft atmen und die Vögel am Himmel beobachten konnte. Vielleicht kehrte ja heute ihr geliebter Storch zurück. Vielleicht würde heute… Wie durch ein Wunder glättete ein Ausdruck seliger Freude die tiefen Falten in Annie Dekkers Gesicht und verwandelte die Sterbende in ein junges Mädchen. Draußen vor dem Fenster näherte sich der große, weiße Vogel. Annie verfolgte seinen Flug mit feuchten Augen. Er kam näher, wurde auf erregende Weise größer. Sie hielt vor Schreck den Atem an, als er am obersten Fensterrand aus ihrem Blickfeld entschwand, bis sie endlich das vertraute Rascheln hörte. Der Storch hatte sich wieder auf seinem Nest auf dem Schornstein niedergelassen; auf jenem alten Wagenrad, das der arme Fokke ein Jahr vor seinem Tod dort hinaufgeschafft hatte. »Du bist zurückgekommen«, seufzte sie zufrieden. Fokke, Lien und der Tee waren sofort vergessen. »Du bist zurückgekommen«, wiederholte sie wie ein glückliches Kind. Der pickelige Schlägertyp in der abgetragenen Lederjacke spielte geistesabwesend mit dem dünnen goldenen Ring in seinem linken Ohrläppchen und starrte aus dem Busfenster. Kühe grasten auf den ausgedehnten Weiden zu beiden Seiten der Straße. Die Sonne schien. Das rief die Erinnerung an den Strand von Scheveningen und die flotten deutschen Mädchen wieder wach, die sich nach einem schar-
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fen Macker wie ihm verzehrten. Aber die Szene kostete Geld, und zwar eine ganze Menge Geld. Dabei hatte er gerade seinen letzten Cent für die Fahrkarte ausgegeben. Ihm war nicht einmal genug geblieben, um die Strandtaxe bezahlen zu können, ganz zu schweigen von den Moneten, die nötig waren, um eine, oder wovon er träumte, zwei dieser geilen Supermütter einen Abend lang auszuhalten. Mit düsterer Miene wandte er sich vom Fenster ab und versenkte sich in die Ungerechtigkeit seines Lebens. Diese verdammten Gastarbeiter mußten sich nur einmal pro Woche am Sozialamt anstellen, dem gelangweilten Beamten vorjammern, wie verzweifelt sie einen Job suchen, dann streute die Regierung so viel Geld über sie aus, daß sie für sich und ihre lausige Kinderschar für den Rest ihres Lebens genug pisang goreng, oder was sie sonst fraßen, beschaffen konnten. Surinamesen, Marokkaner, Türken, Molukken – für sie sorgte die Regierung. Aber wenn er, Holländer von Geburt und Herkunft, ja wenn er es wagen würde, sich beim Sozialamt blicken zu lassen… Im Knast würde er landen. Das war nicht fair. Er hatte dem alten Knacker an der Trambahnhaltestelle schließlich nur einen Schreck einjagen wollen. Der Alte sollte sich in die Hosen machen, und er hätte seinen Spaß gehabt. Was konnte er dafür, daß die alte Memme durchgedreht und einem vorbeifahrenden Wagen vor den Kühler gesprungen war? Dafür durften sie ihn doch nicht verantwortlich machen! Aber natürlich würde es genauso kommen. Verdammte Schweine! Zum Glück hatte er genug Grips gehabt, eine Fliege zu machen, als der Alte auf der Straße gelegen hatte. Der Bus ruckelte heftig und kam zum Stehen. Er merkte es erst im letzten Augenblick. Die Gummimanschetten der automatischen Türen erfaßten ihn noch am Arm, als er sich hinausdrängte. Für den halbstündigen Fußmarsch über die Landstraße, die vom Dorf zu Omas Hof führte, war er wirklich nicht in Stimmung. Aber er hatte keine andere Wahl. Einen Bus gab es nicht. Das Geld für ein Taxi hatte er nicht. Und ein Anhalter wie er, mit schulterlangem Haar, einem goldenen Ohrring und geiler abgewetzter Ledermontur, wurde in diesem Spießernest sowieso nicht mitgenommen. Wütend vor sich hin schimpfend machte er sich auf den Weg zu Oma. Seine
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Lederstiefel drückten ihm schon nach den ersten Metern die Zehen ab. Die alte Hexe hatte ihn nie leiden können; nicht mehr, seit er als Kind mit einer Steinschleuder bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf ihren blöden Vogel geschossen hatte. In jenem letzten Jahr, bevor er das Kleinstadtmilieu endgültig mit der City vertauscht hatte, war dieser dämliche Storch der einzige Grund gewesen, aus dem er sich von der Meckerziege von Mutter hatte mitschleppen lassen, damit er Oma Annies Liebling auf dem Dach, ein paar Brocken auf das weiße Gefieder brennen konnte. Bei dem Gedanken, daß er heute hierher hinausgekrochen kam – er Roel Olpers mit eingezogenem Schwanz – um die Alte um Hilfe anzubetteln, wurde ihm speiübel. Aber er war vom Pech verfolgt und auf der Flucht vor den Bullen. Sie war seine einzige Hoffnung. Immer hatte sie die arme alte Witwe eines Bauern gespielt, aber die ganze Familie wußte von dem Schatz, den sie im Schornstein aufbewahrte. Ihm machte sie nichts vor. Dann hatte er das Haus erreicht… Und er traute seinen Augen nicht. Das dämliche Vogelvieh saß tatsächlich im Nest. Er hob einen Stein auf, holte zum Wurf aus und beherrschte sich. Mit einem Fluch ließ er den Stein fallen. Ein Storch auf dem Dach bringe Glück, hieß es. Vielleicht half ihm Oma Annie williger aus der Patsche, wenn er ihren Liebling diesmal in Ruhe ließ. »Roel!« rief die alte Hexe, als sie ihn sah. Er war ins Haus gegangen und hatte sie im oberen Stock gefunden, wo sie sich im Bett aalte. »Was machst du denn hier?« Widerwillig bot sie ihm ihre Wange zum Kuß. Roel schluckte seinen Ekel hinunter und streifte flüchtig mit den Lippen die papierne Haut. »Ich bin in Schwierigkeiten, Oma«, begann er. »Ich brauche Geld. Soviel du entbehren kannst. Ich muß ’ne Weile untertauchen. Ich…« »Geld?« Das Wort schoß wie eine Schrotladung aus ihrem Mund. »Du läßt dich jahrelang nicht blicken und jetzt willst du Geld?« »Exakt! Du hast’s kapiert!« schrie er wütend zurück. »Und erzähl mir bloß nicht, daß du nichts hast. Ich weiß, was Opa Fokke dir hinterlassen hat.« Damit stürzte er zum Kamin, griff in die schwarze Schornsteinöffnung und tastete die Wände nach jenem Schatz ab, von dem die Er-
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wachsenen so oft geheimnisvoll geflüstert hatten, wenn sie dachten, daß er schliefe. Hinter ihm kreischte die Großmutter, aber er ignorierte sie, bis sie ihre alte Decke zur Seite zerrte und ihm mit letzter Kraft in den Rücken sprang. Ihre Kraft war lächerlich. Trotzdem verlor er das Gleichgewicht, knallte mit Wucht gegen den Kaminsims und löste damit eine Lawine aus zehn Jahre altem Ruß aus, die das Zimmer in eine dicke, schwarze Rauchwolke hüllte. Blind stolperte er rückwärts und über die alte Frau, die heiser keuchend auf dem Fußboden lag. Ihr Körper hatte seinen Fall gebremst, aber sein Gewicht konnte ihren Willen nicht brechen; noch nicht. Sie klammerte sich schrill schreiend an ihn, bis er ihr mit aller Macht mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Dann endlich herrschte Stille im Raum. Die Rußwolke legte sich allmählich. Und als er wieder sehen konnte, sah er als erstes Großmutter Annie auf dem Boden. Sie bewegte sich nicht. Sie atmete nicht. Sie war tot. Und überall aus dem dicken schwarzen Staub vom Schornstein leuchteten ihm seine Schuh- und Fingerabdrücke entgegen und klagten ihn an. Das ist nicht meine Schuld, dachte er in panischer Angst. Das ist nicht fair. Vor dem Fenster klang Glockengeläute über die Felder. Es war fünf Uhr. In einer halben Stunde würde seine Mutter nach Hause kommen. Er durchsuchte in panischer Hast das Zimmer und entdeckte schließlich ganz hinten in einem vollgestopften Schrank einen uralten Staubsauger. Er rollte das ausrangierte Modell an Oma Annies Leiche vorbei zur Kaminöffnung und stellte es an. Doch er hatte den rostigen Schalter versehentlich in die falsche Richtung gedreht, denn statt die Luft einzusaugen, blies die verdammte Maschine einem elektrischen Drachen gleich ihren abgestandenen Atem ins Zimmer. Als er den Schalter endlich richtig eingesteckt hatte, entwich die Rußwolke durch die lockere Nestkonstruktion aus der Schornsteinöffnung. Annie Dekkers Lieblingsvogel breitete in panischer Angst
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die Schwingen aus und erhob sich für immer in die Lüfte, sein ursprünglich weißer Körper rabenschwarz und schwer von Ruß. Roel, der eifrig damit beschäftigt war, alle Indizien einzusaugen, die ihn mit dem Tod der Großmutter in Verbindung bringen konnten, sah und hörte nicht, wie der Storch sein Nest für immer verließ. Als das Zimmer zu seiner Zufriedenheit gesäubert war, brachte er den Drachen zum Schweigen und kehrte zum Kamin zurück. Seine tastenden Hände fanden schließlich einen lockeren Ziegelstein in der rückwärtigen Kaminmauer. Dahinter tat sich eine tiefe Öffnung auf, und in dieser Nische berührten seine Finger Metall. Eine Kassette! Roel zog sie vorsichtig heraus, schlug den Deckel auf und starrte verwundert auf das Vermächtnis seines Opas Fokke. Kein Bargeld, keine Aktien oder Pfandbriefe, keine Juwelen. Goldmünzen. Hunderte von Goldmünzen. Gold! Am Donnerstag war koopavond in der Stadt, jener Abend, an dem die Geschäfte bis spät geöffnet hatten, um Berufstätigen eine Einkaufsgelegenheit zu geben. In der Gegend in und um Damrak, Rokin und der Kalverstraat, vom Hauptbahnhof am einen bis zum Munt Plein am anderen Ende, herrschte im grellen Licht der Neonreklamen hektische Betriebsamkeit. In den Läden, Cafés und Restaurants war ein ständiges Kommen und Gehen. Nur in Jordaan, einem der ältesten Viertel im Mokum war es ruhig. Ein Autosalon, eine Milchbar und ein paar Snackbars waren geöffnet. Sonst lag das Viertel im dunkeln. Am Ende der schmalen Gasse standen mehrere zerbeulte Mülltonnen. Vom Anfang der Gasse her, war dieser Teil nicht einsehbar, weil ein prächtiger Sportwagen den Blick verstellte. Die Möwe allerdings brauchte die Mülltonnen nicht zu sehen. Sie wußte auch so, daß sie da waren. Ihr feiner Geruchssinn lenkte ihren Flug unweigerlich zu der Stelle. Sie segelte herab, ließ sich auf der prallsten Tonne nieder und begann umgehend, sich durch eine dicke Lage von Werbeprospekten bis zu den leckeren Resten belegter Brote vorzuarbeiten.
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Zwei Männer, in eine Unterhaltung vertieft, bogen in die Gasse ein. Sie kamen aus der Richtung des Autosalons. »Viel Glück damit!« wünschte der ältere gut gelaunt und schüttelte dem anderen freundschaftlich die Hand. Der Kunde, der in einem tadellos sitzenden cremefarbenen Anzug sehr vermögend aussah, nahm die Autoschlüssel entgegen und setzte sich hinter das Steuer seines neuen Wagens. An seinem linken Ohrläppchen baumelte eine blanke Goldmünze. Doch der junge Mann mit dem Ohrring hatte nie zuvor einen Wagen mit Knüppelschaltung gefahren, und legte statt des ersten Ganges den Rückwärtsgang ein. Als er die Kupplung losließ, schoß das Auto rückwärts und fuhr krachend in die Mülltonne. Der Fahrer fluchte unterdrückt und lief zum Heck des Wagens, um sich die Bescherung anzusehen. Natürlich interessierte er sich ausschließlich für sein Auto. Den zermalmten Körper der Möwe in der umgekippten Mülltonne am Ende der Gasse bemerkte er nicht. Gerard Valkenier stocherte lustlos und deprimiert in seinem Essen herum. Er hatte Froschschenkel bestellt und das Hühnerlebergericht eines anderen Gastes serviert bekommen. Zuerst hatte er mit dem Gedanken gespielt, zu reklamieren, doch war das die Mühe wert? Was war jetzt überhaupt noch wichtig? Der Storch war mittlerweile fast einen Monat überfällig. Und Valkenier rechnete nicht mehr mit seiner Rückkehr. Was war schiefgegangen? Warum hatte er nie mehr von Kuypers gehört? Was blieb ihm jetzt noch, als die Scherben seiner mittelmäßigen Laufbahn im Zoo zu kitten? Als er traurig aus dem Fenster vor seinem Tisch starrte, flog ein majestätischer schwarzer Storch vorbei. Aber zum ersten Mal in seinem Leben war er zu niedergeschlagen, um die schlichte Schönheit eines Vogels im Flug zu bewundern. Vögel, dachte er unglücklich, und hob Messer und Gabel, um die wehrlosen Hühnchenteile auf seinem Teller zu attackieren. Und dann erstarrte er. Er bekam Gänsehaut. Ein schwarzer Storch? Aber es gibt keine schwarzen Störche! Alle Störche sind weiß! Dieser schwarze Storch mußte eine Mutante sein, eine bislang unbe-
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kannte Spezies, eine so seltene und wichtige Spielart der Natur wie das Nashorn-Albino, auf das Smedts so unerträglich stolz war. Mein Gott, schoß es ihm durch den Kopf. Ich werde berühmt! Das ist besser als Diamanten! Er warf einen Hundert-Gulden-Schein auf den Tisch und stürmte aus dem Restaurant, ohne auf das Wechselgeld zu warten. Der auf der Banknote abgebildete Schnepfenvogel schien seinen Abgang neugierig zu beobachten. Sein hellbraunes Gefieder schillerte im Schein der Deckenbeleuchtung. Fred Bogaard und Ad van de Polder saßen in ihrem VW-Käfer und warteten geduldig darauf, daß sich die Straße wieder leeren würde. Der Zug der Demonstranten marschierte in gemessenem Tempo über die Kreuzung. Das Ende des Protestmarsches war allerdings noch lange nicht abzusehen. Bogaard und van de Polder hatten es nicht eilig. Sie sympathisierten mit dem Anliegen der Demonstranten. Und wären sie nicht im Dienst gewesen, hätte zumindest van de Polder an der Demonstration teilgenommen. »Das gefällt mir«, sagte er und deutete durch die Windschutzscheibe auf die drei jungen Frauen ohne Büstenhalter und im T-Shirt. »Was? Das Plakat oder die Plakatträgerinnen?« erkundigte sich Bogaard lächelnd. »He! Was soll das denn bedeuten?« »Was? Das Plakat ›SS-20 – EUROPA o?‹« »Nein. Das weiter links. Ah, jetzt kannst du’s nicht mehr sehen. Der Junge dort im Parker trägt’s. Er sieht aus wie ein Relikt aus den Sechzigern. Sein Plakat lautete: ›PERSHING 1-5314.‹« »Vielleicht hat er rausbekommen, wo die Raketen gelagert sind. Möglicherweise ist das eine Silonummer. Aber schau dir das Spruchband an. ›WIR HASSEN JAN‹. Was soll das denn heißen?« »Keine Ahnung. Jan kann einem leid tun.« Genau in diesem Moment verlor der Fahrer des Sportwagens vor den beiden Polizisten die Geduld. Er drückte auf die Hupe und ließ nicht mehr los. Bogaard und van de Polder wechselten einen resignierten Blick. »Was meinst du?« Van de Polder seufzte. »Sollen wir?«
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»Müssen wir wohl«, antwortete Bogaard. »Dafür werden wir schließlich bezahlt.« Die Türen des Volkswagens wurden gleichzeitig geöffnet, und die beiden Männer stiegen aus. Die Szene wirkte fast wie geprobt. »Tjongejonge«, murmelte Bogaard und schüttelte beim Anblick des übel verbeulten hinteren Kotflügels des neuen Sportwagens den Kopf. Als sie neben die Fahrertür traten, mußte van de Polder gegen die Hupe und die Hintergrundgeräusche der Demonstration anbrüllen, um sich Gehör zu verschaffen. »Warum haben Sie’s denn so eilig, mein Herr? Finden Sie nicht, daß die Leute ein Recht haben…« Der Fahrer hatte ihn gehört, sich umgedreht und sich plötzlich den beiden großen, selbstbewußten Männern in ihren blauen Uniformen gegenübergesehen. Seine Hände ließen von der Hupe ab, als habe ihn eine giftige Schlange gebissen. Sein weißer Anzug und die Goldmünze im Ohr glitzerten hell in der Nachmittagssonne. Die Miene des jungen Mannes jedoch drückte Angst aus. »So eine Überraschung«, sagte van de Polder leise und amüsiert. »Wenn das nicht Roel Olpers ist. Und in einem so schicken Wagen. Bei unserer letzten Begegnung, Roel, konntest du dir nicht mal ’ne Trambahnfahrkarte leisten. Was ist denn mit dir passiert, Macker? Hast du im Lotto gewonnen?« »Apropos Trambahn«, warf Bogaard ein. »Es kursieren da häßliche Geschichten über dich, Roel. Wir müssen dich leider bitten, mitzukommen und uns ein paar Fragen zu beantworten.« Plötzlich fiel eine säurehaltige weiße Flüssigkeit aus heiterem Himmel auf die Schulter des teuren Anzugs des Sportwagenfahrers, und die beiden Polizisten lachten schallend. Roel Olpers hob den Blick und sah eine schlanke, schwarze Silhouette majestätisch über den Himmel gleiten. Das letzte Mal war es ein weißer Vogel gewesen, der seine schwarze Lederjacke beschmutzt hatte. Diesmal ruinierte ein schwarzer Vogel seinen neuen Anzug. Waren denn alle gegen ihn? »Verdammt!« brüllte er und drohte dem Vogel in ohnmächtiger Wut mit der Faust.
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Hunderte von Demonstranten nahmen den Schrei auf und grölten so laut sie konnten, und reckten die Fäuste in den Himmel. Und dann kam unten ein leeres Nest in Sicht. Vielleicht etwas klein, aber dem konnte abgeholfen werden. Der Storch kreiste und ging tiefer. Er war müde und wollte sich ausruhen. Als er näher kam, sah er jedoch, daß das Nest nicht leer war. Es lagen vier Eier darin, vier perfekte Eier, verlassen und hilflos. Es waren Möweneier, doch der Storch wußte das nicht, und es kümmerte ihn auch nicht. Es waren Eier. Und er war ein einsamer, heimatloser Storch auf der Suche nach einem Nest. Das war alles, was zählte. Er landete und setzte sich bequem auf die Eier. Natürlich war er zu Empfindungen im menschlichen Sinn nicht fähig, und doch war er in diesem Moment auf seine Art glücklich. Valkenier ging in seiner im englischen Stil eingerichteten Wohnung auf und ab wie ein Tier im Käfig. Er war zum Platzen frustriert. Irgendwo in dieser Stadt war ein einzigartiger schwarzer Storch, die Entdeckung seines Lebens, und er hatte keine Ahnung, wie und wo er ihn suchen sollte. Er fluchte inbrünstig. Er war hilflos. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als endlich den Papierkram auf seinem Schreibtisch im Büro aufzuarbeiten. Vielleicht vertrieb das seine Selbstmordgedanken. »Hast du das gesehen? Ein Storch. Ein schwarzer Storch. Er hat sich auf dem Möwennest auf dem Dach von Block B niedergelassen.« »Ein Storch? Ist ja nicht zu glauben. Da wird unsere Möwe aber wütend werden, wenn sie heimkommt und einen Storch auf ihren Eiern findet.« »Hast du schon mal einen schwarzen Storch gesehen, Ed? Also ich habe noch nie einen schwarzen Storch gesehen.« »Ich auch nicht. Ein schwarzer Storch.« »Vielleicht rufe ich mal die Zeitung an, damit die wissen, daß hier ein schwarzer Storch ist. Was meinst du?« »Gute Idee.« »Vielleicht benennen sie ihn nach uns.« »Der Knastbruder-Vogel. Klingt doch großartig.«
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Valkenier knallte den Hörer auf die Gabel, riß seinen Fotoapparat aus der Schreibtischschublade und rannte die Treppe hinunter auf den Parkplatz. Sein Wagen hinterließ schwarze Spuren geschmolzenen Gummis, als er nach einem Kavalierstart zum Haupttor des Zoos raste. Schönwetterwolken standen noch am Himmel, doch im Westen baute sich bereits eine drohende Gewitterfront auf. Valkenier lenkte den Wagen so schnell durch die Stadt, wie es der nachmittägliche Straßenverkehr zuließ, bog auf die Ausfallstraße ein und drückte auf den letzten Kilometern nach Bijlmerbajes, der Strafanstalt, das Gaspedal durch. Der Wachposten am Tor erwartete ihn bereits. Er deutete über den Hof zum Block A, wo sich bereits eine aufgeregte Gruppe von Aufsehern versammelt hatte. Sie führten ihn stolz auf das Dach des Gebäudes A und dort weiter zur Nordflanke. Von hier hatte man die beste Aussicht auf das Dach von Block B, das Nest und seinen Insassen. Valkenier hob die Kamera und sah durch sein Teleobjektiv. Es schien unglaublich, aber der Vogel im Nest war tatsächlich ein dunkelgrauer, fast schwarzer Storch. Sein Anblick nahm ihm den Atem. Aufgeregt stellte er die Tiefenschärfe ein, regulierte die Geschwindigkeit des Filmdurchlaufs, stellte auf Automatik ein und begann zu fotografieren. Dann öffneten die turmhohen Gewitterwolken ihre Schleusen, und das Unwetter brach los. Valkenier ließ die Kamera sinken und wandte sich zum Gehen. Als die ersten Regentropfen auf ihn herabfielen, schmiedete er bereits fieberhaft Pläne für den nächsten Besuch, für viele Besuche, mit ausreichendem Filmmaterial, Videokamera und Tonbandgerät. Er überlegte sogar, ob es vorteilhaft sein konnte, sich eine 16-mmArriflex-Schmalfilmkamera zu leihen, um alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Er drehte sich noch einmal um, um sich den Vogel anzusehen und starrte voller Entsetzen auf die rußige Brühe, die der strömende Regen aus dem Gefieder des Storches wusch. Darunter kam ein ganz ordinärer weißer Storch zum Vorschein.
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Valkenier klappte der Unterkiefer herab. Schon wieder reingelegt, dachte er wie benommen. Sie haben mich schon wieder reingelegt. Und während er wie angewurzelt auf dem Dach stand, ihm der kalte Regen wie Tränen über das Gesicht rann, erhob sich der Storch aus dem Nest und spreizte das Gefieder, um Nässe und die letzten Rußspuren abzuschütteln. An seinem rechten Bein war eine Ausbuchtung zu sehen, wo keine Ausbuchtung hätte sein dürfen. Im ersten Moment glaubte Valkenier, sein Herz müsse aufhören zu schlagen. Dann hob er mit zitternder Hand erneut die Kamera und starrte hoffnungsvoll durch das Teleobjektiv. »Meine Diamanten!« schrie er. »Meine Diamanten!« »Diamanten?« fragte der Wärter an seiner Seite. »Was ist mit Diamanten?« Roel Olpers ging in der schmalen Zelle auf und ab. Seine Gedanken kreisten wild um Rachepläne gegen die beiden gemeinen Bullen, den arroganten Staatsanwalt und den selbstgerechten Richter; gegen seine Mutter, seine tote Oma und die Welt und das ganze verdammte System im allgemeinen. Auf seiner Pritsche in der Ecke saß Gerard Valkenier, hatte den Kopf in den Händen versenkt und hing seinen eigenen Gedanken nach. Zwei Wärter schlenderten über den Gang vor den Zellen. »Sieh dir bloß die komischen Vögel an«, sagte der ältere zum jüngeren, der erst am Morgen seinen Dienst im Gefängnis aufgenommen hatte. »Der Rocker mit dem Loch im Ohr sitzt jetzt seit zwei Wochen hier ein, und der andere ist seit acht oder neun Tagen bei uns… aber ich habe die ganze Zeit über von denen noch keinen Piep gehört. Das sind verdammt ruhige Kameraden.« Hinter dem vergitterten Fenster der Zelle jedoch piepste es unaufhörlich. Auf dem Dach von Block B fütterte eine stolze Storchenmutter vier muntere Möwenbabys aus ihrem vollen Schnabel.
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Ein Geschenk der Götter Gahan Wilson Für die Kinder von Lakeside war der Frühling stets eine Überraschung. Die Winter waren in ihrem Verlauf so einprägsam und ausgedehnt, daß wir darüber schließlich die Alternativen, ja sogar nur die Möglichkeit einer Veränderung einfach vergaßen. Dann jedoch, und wie immer ohne jede Vorwarnung, sprossen zarte, junge Blätter an den Büschen rund um die Wohnblocks, und ein frischer erdiger Duft erfüllte die Luft. Die Vögel pickten Staub- und Flusenreste von Besen und Mops auf, um Nester zu bauen. Die Sommerferien wurden zu einer faßbaren Realität. Die mutigsten unter den jungen Fliegen krochen aus den Ritzen an den Fensterrahmen und wanderten über die sonnengewärmten Scheiben. Die Kinder begannen wieder ihre ausgedehnten Streifzüge, suchten Plätze auf, die sie normalerweise nicht interessierten, und beobachteten Dinge, die sie sonst unbeachtet ließen. Die Zeit des Forschens war wieder gekommen. Alles atmete den Geruch von Abenteuer, steckte die ganze Welt an und verfehlte auch auf Henry Laird seine Wirkung nicht. Er war aus unerfindlichen Gründen die breite, still daliegende Harmon Avenue entlang geschlendert, hatte sich die majestätischen alten Bäume, die flachen Rasenhügel und die imposanten Silhouetten der alten Herrenhäuser zu beiden Seiten angesehen und plötzlich festgestellt, daß er schon fast bis zu dem kleinen Park gelaufen war, der am Ende der Main Street und der weiten Wasserfläche des Sees vorgelagert lag. Der Park war ein kleines Juwel der Gartenkunst, dessen Beete selbst jetzt, vor der eigentlichen Blüte, hübsch anzusehen waren, und die knospenden Bäume, die auf ihr neues Blätterkleid warteten, lockten das Auge durch die Anordnung in stilvollen Bögen und Gruppen. In der Parkmitte, oder vielmehr gerade reizvoll von dieser Mitte abweichend, stand ein nach allen Seiten hin offener griechischer Säulentempel. Henry stieg die breiten Stufen an der Westseite hinauf und blieb im Vorraum stehen, fast wie ein verirrter Prinz, der endlich sein Königreich wiedergefunden hatte.
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Vom See her strich eine Brise sanft wie eine Liebkosung über sein Gesicht, und er zog die Wollmütze vom Kopf, um der angenehmen Berührung eine noch größere Angriffsfläche zu bieten. Er schloß die Augen. Erst nach langen Minuten schlug er die Lider blinzelnd wieder auf. Er sah sich wie benommen um und genoß den schwachen, seltsam goldenen Glanz, den alles um ihn herum angenommen zu haben schien. Schließlich begann er, seine Umgebung detaillierter in sich aufzunehmen, und betrachtete alles wie einer, der nach langer, gefährlicher Reise nach Hause zurückkehrt. Das war der Moment, in dem sein Blick auf die schmutzigschmierige Papiertüte fiel. Ein derart häßliches Ding hatte in dieser Umgebung keine Daseinsberechtigung. Es gehörte in einen schmuddeligen Hinterhof und neben die Mülltonnen. Es war nicht recht, daß ein solches Objekt an einem solchen Ort war. Henry hatte sich langsam der braunen Tüte genähert. Nach kurzem Zögern ob ihres wirklich ekligen Äußeren, bückte er sich und hob sie mit beiden Händen hoch. Die Papiertüte war nicht einmal annähernd so schwer, wie man das bei ihren voluminösen Rundungen hätte erwarten können. Obwohl bis zum Rand gefüllt und bis zum Bersten voll, wog sie schätzungsweise kaum drei Pfund. Ein scharfer Geruch nach Tier entströmte ihr. Henry starrte in die gähnend weite Öffnung und sah nichts anderes als schwarz-graues Fell. Er beschloß das unanständig scheußliche Ding fortzuschaffen. Kurz bevor er jedoch den Park verließ und er vom Parkrasen auf den Bürgersteig trat, der ihn in den Irrgarten des zwanzigsten Jahrhunderts aus Beton und Asphalt zurückbringen würde, aus dem diese Stadt bestand, hatte er plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Etwas, das wußte er, etwas mit glänzenden, dunklen Augen beobachtete ihn und nahm sorgfältig Maß wie der Jäger ein Kaninchen oder der Löwe ein Zebrafohlen musterte – und dieses Etwas, das fühlte Henry instinktiv, versuchte sich auszumalen, wie es wohl schmecken würde, wenn es seine Zähne in Henrys Schulter grub, bis das Blut in seine Fänge spritzte. Es genoß die Ahnung dieses Geschmacks, genoß sie außerordentlich.
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Henry verließ also den kleinen Park eiliger, als er das normalerweise getan hätte, und war froh, als er seinen Apartmentblock mit heiler Schulter erreichte; und sogar noch erleichterter, als er ohne Beanstandung an seiner Mutter vorbeikam, die zum Glück in der Küche vollauf mit der Zubereitung eines Wackelpuddings mit Fruchtstükken beschäftigt war. Endlich umgab ihn die Sicherheit seines Zimmers. Auf seinem Schreibtisch sah die große Tüte noch schlimmer aus als zuvor. Es hatte den Anschein, als seien ihre Flecken noch zahlreicher und variationsreicher geworden, und ihre geradezu anrüchige Häßlichkeit, ihre trostlose Ärmlichkeit hob sie noch deutlicher von der gepflegten Umgebung des Zimmers ab. Henry ergriff die langen, schwarzen Haare, die aus der Tütenöffnung ragten, und als er daran zog, glitt das Fell heraus und ergoß sich mit der Geschmeidigkeit einer dicklichen Flüssigkeit wie Blut oder Öl über den Teppichboden. Henry warf die Papiertüte beiseite, fiel auf die Knie, breitete das Fell aus und glättete es mit den Händen. Und dann schnappte er lautlos nach Luft, und seine Augen weiteten sich, als ihm klar wurde, was er sich da nach Hause geholt hatte. Von dem Kopf (und es hatte tatsächlich einen Kopfteil) bis zu den scharfen, gebogenen Krallen seiner Hinterläufe (denn auch diese waren vorhanden) sah es wie ein Fellkostüm aus – einem Alptraum entsprungen. Es bestand, soweit Henry das beurteilen konnte, mit einer Länge von gut einem Meter achtzig und seiner beachtlichen Spannweite der Arme und Beine, aus einem einzigen Fell. Und es war ein Tierfell, zweifellos, und doch hatte es etwas äußerst beunruhigend Menschliches. Es schien von einem Wesen zu stammen, das man zwischen Tier und Mensch ansiedeln mußte, ein Wesen aus der Mitte eines Evolutionssprunges. Die Ohren waren die eines Tiers, spitz zulaufend und mit der aufgestellten Ohrmuschel des Wildtiers, das zur Jagd auf die Beute oder zum Schutz vor dem Jäger auf sein Gehör angewiesen war; und doch war die Anordnung der Ohren im Verhältnis zur Stirn völlig den menschlichen Proportionen gleichzusetzen. Und war das eine Nase oder eine Schnauze?
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Ebenso schwierig war die Entscheidung, ob die Fortsätze der Arme oder Vorderbeine Pfoten oder Hände waren, denn sie hatten von beidem etwas. Ihre Ausformung ließ eine Anatomie vermuten, die aufgrund ihrer Brutalität kaum menschlich sein konnte; Daumen und Finger wiederum waren deutlich opponierend, und die Innenflächen schienen kaum einem Tier gehört zu haben. In ihrem gegenwärtigen Zustand natürlich, waren es weder Hände noch Pfoten, sondern Handschuhe; große Handschuhe, viel zu voluminös für die Hände von Henry Laird, aber nichtsdestotrotz Handschuhe. Henry hielt seine linke Hand über den linken Fellhandschuh des Kostüms. Sie war tatsächlich viel zu klein, um die haarige Hülle mit den Krallen ausfüllen zu können. Die Handschuhfinger waren Zentimeter zu lang. Wenn Henrys Hand darin steckte – ein Gedanke, der ihn seltsam beunruhigte und ihm Gänsehaut verursachte –, würden die Handschuhe vom ersten Fingerglied an schlaff herunterhängen. Trotzdem wollte Henry es wenigstens einmal versuchen. Er beschrieb mit der Hand einen leichten Bogen, um unter den Handschuh zu kommen und schob die Hand in den Schlitz unterhalb der Handfläche und war erstaunt, wie weich und geschmeidig dieses Hineingleiten war; und als seine Hand im Handschuh steckte, zog sich dieser mit einem seltsamen Geräusch, das dem Fauchen einer Katze glich, über seinen Fingern, dem Handrücken und der Handfläche zusammen, bis er ihm wie eine zweite Haut paßte. Henry stieß einen unterdrückten Schrei aus, packte den Handschuh mit der freien Hand und riß verzweifelt daran. Er hatte brutalen Widerstand erwartet. Das war ein Irrtum. Die Fellhülle ließ sich willig lösen, schoß ihm geradezu von den Fingern, weil er so heftig daran gerissen hatte. Als Henry dann sah, daß seine Hand durch das Fell unversehrt geblieben war, zog er den Handschuh probeweise gleich noch mehrmals an und aus. Daß Henry den Handschuh getragen hatte, hatte offenbar einen bleibenden Effekt. Er behielt exakt Henrys Größe, gleichgültig ob er ihn trug oder ausgezogen hatte. Das allerdings bedeutete, daß er eine geradezu lächerliche Unproportion zu seinem Gegenstück darstellte. Nach kurzem Nachdenken schob Henry nun auch die andere Hand in
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den anderen Fellhandschuh mit dem gleichen Ergebnis. Nun hatten beide Handschuhe dieselbe, nämlich Henrys Handgröße. Die Schlußfolgerungen, die sich aus diesem Phänomen ergaben, stellten für Henry eine Herausforderung dar, der wohl kaum ein Junge seines Alters hätte widerstehen können; Henry jedenfalls gelang es nicht. Nachdem er sich lautlos vergewissert hatte, daß seine Mutter noch immer in die Zubereitung des Wackelpuddings vertieft war, nahm Henry das Kostüm und zog es mit ängstlich zusammengebissenen Zähnen an. Er begann mit den Beinen, schlüpfte in sie hinein wie in eine Hose, und hielt die Luft an, als sie umgehend und mit dem bekannten katzenhaften Fauchen zu schrumpfen begannen. Dann kamen die Arme an die Reihe. Die Prozedur verlief nach bekanntem Muster. Dann allerdings gab es einen kritischen Augenblick, als sich der Torso des Kostüms um Henrys Körper legte und ihn schließlich wie eine geschmeidige zweite Haut umgab. Dies geschah mit dem bislang lautesten Zischen. Das bei weitem Schlimmste sollte jedoch kommen, als sich die Öffnungen des Kostüms zu Schlitzen zusammenzogen, und die Schlitze zu glatter Haut verheilten, bis dunkelgraues Fell seinen ganzen Körper umschloß. Nur sein Kopf war frei geblieben. Henry hatte sich den Kopfteil bis zuletzt aufgehoben, wie er das bei einem Halloween-Kostüm getan hätte. Er ging zum Spiegel, der sich an der Innenseite der Schranktür befand, und betrachtete sich verwundert; sein rosarotes Gesicht starrte ihm aus dunklem haarigen Fell entgegen. Er bewegte Arme und Beine, vorsichtig zuerst, und beobachtete das zögernde Spiel der Muskeln. Er streckte die Hand aus, um den Spiegel zu berühren, und ihn durchzuckte das erregende Gefühl, das Glas tatsächlich an der Haut und nicht durch das Fell hindurch zu spüren. Nach etlichen Tast- und Bewegungsversuchen und vorsichtigem Beobachten, hob Henry den Arm hinter den Nacken und tastete nach der Maske, die dort wie eine Kapuze am Rücken baumelte. Er ergriff sie, und ohne den Blick von seinem Spiegelbild zu wenden, zog er sie behutsam über die Haare und die Stirn; dann schloß er die Augen. Es war ihm unangenehm, sie offenzuhalten, während sie blind und
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bedeckt waren. Er streifte die Maske über Gesicht und Hals, bis sie den Halsausschnitt des Kostüms berührte; ein heftiges Schaudern durchzuckte seinen Körper, als er mit fest geschlossenen Lidern fühlte, wie sich das Fell über den Konturen seines Gesichts zusammenzog, sich sanft darüber glättete, und erst als das katzenhafte Fauchen verstummt war, wagte er, die Augen wieder aufzuschlagen. Aus dem Spiegel seines Schlafzimmers mit einem Schreibtisch voller Schulbücher und dem Modellflugzeug, das im Hintergrund von der Decke hing, starrte ihm ein Monster entgegen… ein wahrhaftig kleines Monster, doch deshalb nicht minder furchterregend. Henry duckte sich leicht, während er sein Spiegelbild betrachtete. Die Haltung erschien ihm bequemer. Er schob sein Gesicht dichter an das Glas. Die Nasenlöcher blähten sich, während er atmete. Dann legte er den Kopf etwas in den Nacken, zog tief die Luft ein und stellte fest, daß er den Duft des Wackelpuddings intensiver empfand, als wenn er die Nase in den heißen Topf auf dem Herd steckte. Sein Blick wanderte wieder zu seinem Spiegelbild, und er musterte die Augen. Es waren seine Augen, zweifellos, obwohl ihre Bläue in ihrer gegenwärtigen Umgebung fremd und seltsam anmutete. Dann machte er den Mund auf und wäre beinah in Ohnmacht gefallen. Das, was er sah, war nicht mehr der Mund von Henry Laird. Es war ein gähnendes Maul; aber das sollte nur der auffallendste, nicht der einzige Unterschied sein. Zwei Reihen nadelspitzer Zähne starrten ihm entgegen, und in ihrer Mitte wand sich eine rastlos tastende, schleckende lange schmale Zunge. Nicht Henry Lairds Zunge. Nicht einmal eine menschliche Zunge. Henry brauchte nicht lange nachzudenken. Er zog sich hastig das Fellkostüm über den Kopf und von den Armen und schließlich vom Körper und warf es zu Boden. Dann betrachtete er sich erneut im Spiegel, strich sich tastend über die Stirn, befühlte die Arme, bewegte die Finger; erst dann, nach all diesen einleitenden Tests, machte er den Mund auf und hätte vor Erleichterung beinahe laut aufgeschrien, als darin nichts anderes zu sehen war, als seine normalen Eck-, Schneide- und Backenzähne mit den vereinzelten Füllungen von Dr. Mineke, dem Zahnarzt der Familie, der die Folgen von Bonbons und Lakritze behoben hatte.
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Das Fell wurde in seine widerliche Papiertüte zurückgesteckt und landete ganz hinten in der untersten Schublade des Schreibtischs. Henry nahm die gründlichste Dusche seines Lebens, und putzte sich dreimal hintereinander die Zähne mit der DreikomponentenZahnpasta. Gegen zehn Uhr am selben Abend, als Henry sich gerade anschickte ins Bett zu gehen, nachdem er sich erfolgreich eingeredet hatte, daß ihn in seinem Zimmer nichts erwartete, ging die Türglocke. Sein Vater erhob sich widerwillig aus dem Sessel und drückte auf den Knopf der Sprechanlage neben der Tür. »Ja? Ja. Wer ist da?« sagte er in die Anlage hinein. Zuerst war unten nichts als Atmen; dann hörten sie alle eine Stimme, Henry, sein Vater und seine Mutter… eine tiefe Stimme mit leicht knurrendem Unterton. »Ich will’s zurück!« sagte die Stimme dumpf und verzerrt in der Anlage. »Was?« fragte Henrys Vater. »Was haben Sie gesagt?« »Gib’s zurück!« wiederholte die Stimme lauter; und diesmal war das speichelfeuchte Lallen deutlicher. »He du! Es gehört mir! Sie haben’s mir gegeben! Klar?« »Hören Sie«, begann Henrys Vater, »wer sind Sie? Und was wollen Sie?« »Wer ist da, Liebling?« erkundigte sich Henrys Mutter. »Was will er?« Jetzt waren nur noch Atemstöße zu hören. Sie gingen keuchender als zuvor und wurden vom Zischen der Spucke zwischen den Zähnen begleitet. »Sie müssen lauter reden!« forderte Henrys Vater den Unbekannten auf. »Ich verstehe kein Wort.« Aber das Atmen war inzwischen verstummt. Geblieben war nur noch das Rauschen des Regens, der regelmäßig gegen die Fensterscheiben der Wohnung trommelte. Henry nahm hastig die Bücher vom Tisch, wo er seine Hausaufgaben erledigt hatte. »Hallo? Hallo?« rief sein Vater und drückte ungeduldig auf den Sprechknopf der Anlage. »Muß ein Betrunkener gewesen sein.« Henry ging, die Schulbücher an die Brust gepreßt, den Flur entlang.
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»Er scheint wieder gegangen zu sein«, vermutete Henrys Vater. Und der Regen, der plötzlich stärker geworden war, wurde von beängstigend heftigen Windböen gegen die Fenster gepeitscht. »Sicher niemand, den wir kennen«, vermutete Henrys Mutter, und der Vater, der ein wenig auf der Unterlippe kaute und nachdenklich die Wohnungstür betrachtete, drehte sich um und setzte sich wieder in seinen Sessel. Während Henry in seinem Bett lag und im dunkeln zur nicht sichtbaren Decke starrte, horchte Henry auf das Heulen des Sturms und überdachte die Lage. Dort draußen in der sturmgepeitschten Regennacht schlich ein Wesen umher, das für Henry und seine Familie gefährlich war. Es genügte nicht, das Geforderte zurückzugeben. Als Henry das Fell auf dem Leib gehabt hatte, war ihm einiges klargeworden. Und deshalb wußte er jetzt alles und genoß den Gedanken daran, was unausweichlich war. Als ihm die Stille der Wohnung sagte, daß seine Eltern schliefen, stand er vorsichtig und leise auf, tappte zum Schreibtisch und holte das Fell aus dem doppelt gesicherten Versteck von Tüte und Schublade. Er zog es an. Das katzenhafte Fauchen mündete in einen leisen, ungebrochenen Schrei, als er das Kostüm in schneller Bewegung überstreifte. Ein kehliges Schnurren steigerte sich zu einem letzten triumphierenden Heulen, als die Maske mit dem restlichen Kostüm verschmolz, was jedoch alles im Trommeln des Regens unterging. Henry war sicher, daß seine Eltern nichts gehört hatten. Sein Weg durch die Wohnung und in die Küche verlief so lautlos, daß selbst sein mit Hilfe der aufgestellten Ohren des Kostüms erstaunlich geschärfter Hörsinn kein Geräusch wahrnahm, mit Ausnahme eines kleinen Klickens, als er die Hintertür aufschloß. Er holte tief Luft, öffnete und schloß die Tür so schnell und leise wie er konnte, und stand schließlich in Wind und Regen auf der rückwärtigen Veranda. Er stützte sich mit den Klauen – jetzt waren es Klauen, keine Hände – auf das hölzerne Geländer und sah in den drei Etagen tiefer liegenden großen Hinterhof des Apartmentgebäudes hinunter.
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Vereinzelt brannten Außenlichter, nachlässig angebracht, wie man aus dem wilden Schwanken der Laternen schließen konnte: einige auf Pfosten, so daß ihr unsteter Lichtstrahl über parkende Autos zuckte; einige an den Backsteinmauern des Apartmenthauses, ein flackernder Schein erzeugte auf dunklen, nassen Fensterscheiben und in Kellereingängen furchterregende Schatten, aber keine dieser Laternen half, die lauernde Dunkelheit wirklich zu durchdringen. Henry hob die Schnauze in die Höhe, zog tief die Luft ein und nahm ein Potpourri nächtlicher Gerüche wahr: Regen und Asche; etwas, das von See her kommen mußte; ein Nest auf einem nahegelegenen Dach, von dem der Duft nach frischen Eiern und Vogelfleisch ausging und ihm das Wasser im Maul mit den nadelscharfen Zähnen und der rollenden Zunge zusammenlaufen ließ – aber nicht die geringste Witterung von seinem Feind. Er lief lautlos die vor Nässe glitschige Holztreppe hinunter, während seine ungewöhnlich blauen Augen unaufhörlich die Umgebung musterten. Am Fuß der Treppe blieb er nicht stehen, sondern duckte sich unter dem verräterischen Lichtkreis einer Lampe hindurch und rettete sich in pechschwarzen Schatten, wo er niederkauerte und stoßweise atmete und analysierte. Plötzlich wurde er starr; er blinzelte und zog erneut die Luft ein, ohne sich zu bewegen. Ein Lachen, einem heiseren Knurren gleich, entrang sich seiner Kehle, und er entblößte die Zähne zu einem durchaus menschlichen, aber einzigartigen gemeinen Grinsen. Tief geduckt pirschte er sich geschickt von Schatten zu Schatten unaufhaltsam zu jener weiten Öffnung im Holzzaun, die zu dem schmalen Durchgang an der Rückseite des Wohnblocks führte. Er preßte sich flach gegen die Wand, lauschte mit seinen sensiblen Ohren in die Nacht und fühlte den Regen, als fiele er auf seine nackte Haut. Er hörte das Motorengeräusch eines weit entfernten Wagens; aus einer Wohnung drang Radiomusik, und jemand summte dazu; aus einem Katzenversteck kam das leise Miauen junger Katzen; und dann war da der rasselnde Atem seines Feindes. Er war jetzt ganz nah. Und Henry witterte noch etwas; in den Gestank von Abfall, von schimmelnden Orangen und verwesenden
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Lammknochen mischte sich die beißende Ausdünstung von Haß, dem Geruch des Killers in der Nacht. Vermutlich beobachtete er die Öffnung im Zaun. Henry schlich langsam am Zaun entlang, um den Rückweg anzutreten, und entfernte sich von der Öffnung, bis er eine Veranda seines Apartmenthauses erreicht hatte. Nachdem er kurz verschnauft und sich vergewissert hatte, daß sein Feind noch an derselben Stelle war, kletterte er auf die Veranda und spähte von dort aus in den dunklen Durchgang hinunter. Der Asphaltbelag glänzte im Regen und dem Schein der einzelnen nackten Glühbirne über dem Hinterausgang des Nachbargebäudes wie schwarze Emaille. Auf den ersten Blick schien der Durchgang keinerlei Gefahren zu bergen. Außer einer sorgfältig aufgereihten Armee von Mülltonnen unter der Betonrampe des Wohnblocks und einer weniger spektakulären Ansammlung von Tonnen und Müll vor dem Hinterhof eines Einfamilienhauses ein Stück weiter, war nichts zu sehen. Ein zweiter Blick jedoch offenbarte die unheilvolle Silhouette, die zwischen jenem zweiten Müllplatz und einem niedrigen Holzzaun kauerte. Lautlos, und so schnell er konnte, um dem Feind keine Zeit zu geben, den Standort zu wechseln, lief Henry durch sein Apartmenthaus und um den Block, so daß er den Zaun des Einfamilienhauses von der Hinterseite erreichen konnte. Sobald er den Hinterhof des Hauses betreten hatte, ließ er sich auf allen vieren nieder und atmete tief. Wieder grinste er, und diesmal war sein Grinsen eindeutig weniger menschlich als zuvor. Sein Opfer war noch da. Der Drang, sich sofort auf den Feind zu stürzen, ihn zu zerfleischen und das sprudelnde Blut zu trinken, war so verheerend übermächtig, daß Henrys Bauchmuskeln in Wellenbewegungen über die Rippen zuckten, während er versuchte, diesem Gefühl Herr zu werden. Er duckte sich, schwer atmend von der Anstrengung, diesen plötzlichen Zwang zu beherrschen. Er durfte nicht zulassen, daß so etwas die Oberhand gewann. Und ein blinder, überhasteter Angriff, konnte alles verderben, was er bislang so klug vorbereitet hatte. Für einen Neuling hatte er seine Sache gut gemacht; und er hatte die Absicht, sie so auch zu Ende zu führen.
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Und doch trieb ihn der Geruch seines Feindes mit seiner satten Fleischlichkeit an den Rand des Wahnsinns. Es schien beinahe, als könne er das Pulsieren der Venen und Arterien spüren. Henry zwang sich zur Ruhe und duckte sich in das nasse Gras. Dann atmete er tief den Duft der Erde ein, um einen klaren Kopf zu bekommen, und arbeitete sich langsam und lautlos zu der Stelle vor, wo ein Stapel Müll und sein Opfer auf der anderen Zaunseite zu einer Silhouette verschmolzen waren. Je näher er jedoch kam, desto wirrer wurden seine Wahrnehmungen. Plötzlich überlagerte der Abfallgestank die Witterung von seinem Feind. Und dann kam ihm der Gedanke, daß das exakt der Grund für die Wahl des Ortes gewesen war. Offenbar hatte er es mit einem wesentlich erfahreneren… Blankes Entsetzen, als im nächsten Augenblick mit einem alles versengenden Lichtstrahl Henrys Kopf explodierte und ein großer, schwarzer Schatten, der auf ihn zusprang, ihn unglaublich brutal hin und her beutelte, so daß er völlig die Orientierung verlor und wegen der entsetzlichen Schmerzen zu schreien begann und nicht mehr aufhören konnte… jemand riß ihm die Haut vom Gesicht, zog ihm den Skalp vom Kopf und Nacken. Er keuchte: »Aufhören! Bitte! Bitte!« Doch es hörte nicht auf. Stück um Stück verlor er von sich. Sein Ich wurde auseinandergenommen mit einer Brutalität, die ihn in einen Taumel brennender Agonie stürzte, bis nichts mehr übrig war von ihm als ein ausgebrannter, nutzloser Torso, den man achtlos weggeworfen hatte. Henry lag nackt im Gras, und seine Tränen mischten sich in die Regentropfen, die über seinen Körper rannen; und er war zutiefst dankbar für Regen und Tränen, denn sie kühlten die allmählich heilenden offenen Wunden seines Körpers, so daß er endlich noch an etwas anderes als an den Schmerz denken konnte und sich der Nacht und dessen, was sich vor ihm abspielte, bewußt wurde. Vor ihm war der Feind, der Sieger und nicht das Opfer, groß und übelriechend – und selbst für Henrys menschliches Geruchsorgan war die Ausdünstung, die von ihm ausging, deutlich zu erfassen – kauerte er auf der Erde und zog und zupfte an etwas, das er in den Händen hielt.
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»Du hast es versaut, du kleiner Bastard!« schluchzte der Feind. Und dann beugte sich die bullige, dunkle Gestalt vor, holte mächtig mit der Faust aus und schlug Henrys Kopf gegen den Gartenzaun. »Du hast alles vermasselt, du Scheißer!« Henry kauerte sich noch weiter in sich zusammen, und zum ersten Mal sah er, daß das, woran der Feind herumfummelte, das Fellkostüm war. Und er war so in diese Beschäftigung versunken, daß ihm irgendwann der Hut vom Kopf rutschte und ihm der strömende Regen das schwarze, lange Haar in Strähnen an die gerunzelte Stirn klebte, ohne daß er es merkte. Die Augen des Feindes waren schwarz und glänzend, gerade so wie Henry sie Stunden zuvor im Park beim griechischen Tempel gespürt hatte; und die Zähne waren eindeutig ein menschliches Gebiß, wenn sie auch spitzer und die Schneidezähne schärfer und länger zu sein schienen als es normal war. Diese Zähne entblößte er immer wieder, während er abwechselnd knurrte und schluchzte. Der Feind war verzweifelt. Schließlich warf er den Fellanzug wütend zu Boden, stürzte sich auf Henry, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn so, daß ihm die Zähne aufeinanderschlugen. »Es ist ganz klein geworden, du Mistkerl!« schrie er Henry ins Gesicht und verbreitete so schlechten Atem, daß Henry sich beinahe übergeben hätte. »Was hast du damit gemacht? Wie hast du’s so verdammt klein gekriegt, du Ratte?« »Ich hab’ es angezogen!« schluchzte Henry. Sein Kopf wackelte wie blöde hin und her, während sein Gegner ihn rüttelte und schüttelte. »Ich hab’s angezogen.« Ein schlauer Ausdruck trat in die Augen des Feindes. Er hielt Henry noch eine lange Sekunde fest und musterte ihn eingehend. »Jaaa«, sagte er gedehnt. »Jetzt erinnere ich mich. Als sie’s mir gegeben hatten, hat sich’s auch verändert.« Damit schleuderte er Henry heftig gegen den Zaun, griff sich die Fellhaut und hielt sie ausgebreitet vor sich. »Jaaa«, wiederholte er wie zu sich selbst, und sein nasses Gesicht glitzerte, und seine Schneidezähne blinkten. »Jaaa.« Dann hob er mit einem heiseren Lachen den Arm des Fellanzugs hoch, steckte seine große Hand in die Handschuhe, und sein Grinsen
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wurde immer breiter, bis er alle Zähne entblößt hatte. Der Handschuh hatte sich wie von selbst geweitet, und was bei Henry eine kleine Klaue gewesen war, war jetzt die Pranke eines Grizzlybärs. Der Feind reckte die Hand mit dem Handschuh in böser, triumphaler Geste in den Regen, so daß das restliche Fellkostüm wie ein nasser Lappen daran herunterbaumelte. Dann fuchtelte er mit der Faust vor Henrys Nase herum. »Warte, du kleiner Scheißer! Warte!« dröhnte er rauh. »Warte, was ich damit aus deinem Gesicht mache!« Er zog den zweiten Handschuh mit derselben Leichtigkeit an. Dann stand er auf und stieg mit seinen langen, stämmigen Beinen in das Kostüm. Schallendes Gelächter ertönte, als auch sie problemlos in die Haut schlüpften. Dann zuckte ein greller Blitz über den Himmel, der Henry blendete. Als er die Augen wieder aufschlug, glättete sich gerade das Fell des Kostüms mit schmeichlerischer Sanftheit über dem Brustkorb des Feindes. Der Feind sah mit so haßerfülltem Grinsen auf Henry herab, daß der Junge erschauderte. Und dann, als plötzlich der Donner grollte und die Erde bebte, ergriffen die Grizzlypranken die Maske und zogen sie über die brutale, feixende Visage; und der folgende Blitz ließ das Monster in seiner vollen Größe vor Henry erstehen. Dann kam es auf Henry zu, bückte sich und hielt seine Kehle mit einer Pranke umschlossen. »Habe ich dich endlich, du Widerling!« sagte das Monster, und Henry fühlte, wie durch die Bewegung die Krallen tief in sein Fleisch drangen, als er in hohem Bogen hochgeschwenkt und dicht vor das Gesicht des Monsters gehalten wurde. Die haarige Visage und die langen Schneidezähne waren so furchterregend, daß Henry sich beinahe übergeben hätte. Plötzlich erstarrte das Monster mitten in der Bewegung. Und dann ging mit der Maske des Grauens eine unheimliche Veränderung vor sich. Ihre Züge verloren an Spannkraft und nahmen schließlich den Ausdruck äußerster Verzweiflung an. »Neeeiiin!« brüllte der Feind. »Neeeiiin!« Dann erschütterte ein ohrenbetäubender Donnerschlag das gesamte Lakeside; und während seines endlosen über den ganzen Himmel vibrierenden Echos, sah Henry, wie dem Monster die Augen aus den
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Höhlen traten. Die Pranken gaben Henry mit einer letzten, zuckenden Bewegung frei. Er landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden und starrte verdutzt in die Höhe. Eine nicht enden wollende Serie von Blitzen, deren Krachen vom stakkatohaften Echo des Donners absorbiert wurde, erhellte die Umgebung. Jetzt begann das Monster einen wilden Tanz, schlug mit Armen und Beinen um sich wie eine außer Kontrolle geratene Marionette, und aus der gähnend schwarzen Öffnung seines Mauls spritzte Blut und Schleim. Seine Schreie hätten sicher markerschütternd geklungen, hätte man sie hören können… Aber das Rollen des Donners verschlang alles – und in diesem ohrenbetäubenden Getöse, beobachtete Henry, wie die Augen des Monsters immer weiter hervortraten, wie schließlich der gesamte Augapfel hervorquoll und dann mit zwei parallelen Blutspritzern endgültig aus den Höhlen der Maske katapultiert wurden. Henry beobachtete ungläubig, wie daraufhin sein geblendeter Feind zu schrumpfen begann. Zuerst war es ein synchron verlaufender Prozeß. Eine riesige Pranke schrumpfte zurück, ein Arm schob sich wie ein Teleskop zusammen; doch dann, als habe die Kreatur endlich die Kontrolle über sich wieder gewonnen, begann sie sich Schritt um Schritt in ihren Ausmaßen zu reduzieren. Und Henry erlebte fasziniert und entsetzt zugleich, und doch mit kaum zu leugnender Genugtuung, wie das Monster etappenweise zermalmt wurde, während es schrie und tanzte. Ein mächtiger Zauber schien es am Leben und bei Bewußtsein zu halten, bis es sich auf die ursprüngliche Größe, das heißt auf die Maße reduziert hatte, in die Henry Laird so perfekt gepaßt hatte. Erst dann, und keine Sekunde zu früh, war das Leiden des Feindes beendet, und die Kreatur konnte auf das von Regen und Blut durchweichte Gras sinken, auf dem es all die schrecklichen Minuten hindurch getanzt hatte. Nach Vollendung dieser mörderischen Verkleinerung, öffnete das Fellkostüm seine zahlreichen Schlitze und spieh langsam Henrys Feind aus, der mittlerweile nur noch eine formlose, glänzend rote Masse war. Anschließend wusch es sich im strömenden Regen, bis es sich auf diese Weise auch der letzten Spur seines unglückseligen Trägers entledigt hatte. Dann glitt es geschmeidig zu Henrys zittern-
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den Beinen und schmiegte sich an ihn, wie eine Katze an den geliebten Herren, um zu erkunden, was wohl als nächstes passieren würde.
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Das Geheimnis der Jagdhütte Edward D. Hoch »Hatte ich Ihnen nicht versprochen, vom Besuch meiner Familie hier in Northmont zu erzählen?« begann Dr. Sam Hawthorne und schenkte Brandy ein. »Es war bei Beginn der Jagdsaison. Im Herbst 1930. Ich war damals dreißig. Ich hatte bereits seit acht Jahren hier in der Stadt praktiziert. Und ich war hier heimischer geworden, als in der Stadt im mittleren Westen, in der ich aufgewachsen bin. Das allerdings war meinem Vater schwer begreiflich zu machen… Wir sind in meiner Jugend häufig auf die Jagd gegangen«, fuhr Dr. Sam fort. »Ich schätze, es war daher nur natürlich, daß mein Vater Harry Hawthorne den Besuch bei seinem einzigen Sohn in New England mit einem Jagdausflug verbinden wollte. Mein Vater hatte sich inzwischen zur Ruhe gesetzt und sich aus dem profitablen Textilgeschäft zurückgezogen, das er vierzig Jahre lang betrieben hatte. Meine Mutter begleitete ihn natürlich. Und ich war froh, sie beide wiederzusehen. Weihnachten war ich zum letzten Mal zu Hause gewesen, kurz nach Sheriff Lens’ Hochzeit. Und es war das zweite Mal, während der acht Jahre, daß die Eltern mich besuchten. Ich holte sie am Bahnhof ab und half Dad mit dem Gepäck. »Man könnte glauben, wir wollen einen Monat und nicht fünf Tage bei dir bleiben«, murmelte er brummig. »Aber du weißt ja, wie das ist, wenn deine Mutter verreist.« Sein Haar war schlohweiß, aber noch immer dicht und füllig. Seine Energie war ungebremst. Meine Mutter dagegen war von jeher etwas gebrechlich gewesen. Ich brachte sie zu meinem neuen Stutz Torpedo und hörte mir das etwas widerwillig gespendete Lob meines Vaters an: »’ne Arztpraxis muß heutzutage eine einträgliche Sache sein, wenn du dir so ein Auto leisten kannst.« »Ich hab’s günstig gekauft«, erklärte ich. »Von einem Arzt, der Geld brauchte.« »Ein Jammer um den Wagen, den wir dir zum Examen geschenkt haben«, seufzte meine Mutter und setzte sich auf den Beifahrersitz.
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»Er ist restlos ausgebrannt. Ein Glück, daß ich nicht drin saß«, sagte ich, schlug die Tür neben dem Beifahrersitz zu und ging auf die andere Seite. Zuerst machten wir an der Praxis halt. Ich führte sie hinein. »Mom, das ist Schwester April. Sie ist mir eine große Hilfe. Wie du weißt.« April kannte meine Eltern noch nicht und bemühte sich rührend um sie. Wir wollten gerade wieder gehen, als Sheriff Lens vorbeikam und meinem Vater herzlich die Hand schüttelte. »Ihr Sohn würde einen prima Detektiv abgeben, Mr. Hawthorne. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft er mir schon geholfen hat.« »So?« Meine Mutter erschrak. »Werden hier denn viele Verbrechen verübt, Sheriff?« »Mehr, als man für möglich hält«, sagte er nicht ohne einen gewissen Stolz. »Da brauchen wir schon jemand mit Grips wie den Doktor, um damit fertig zu werden. Er hat den Scharfsinn eines Einstein!« »Wir gehen jetzt lieber«, drängte ich verlegen. »Was haben Sie denn vor, solange Sie hier sind?« fragte der Sheriff meinen Vater. »Na, vielleicht gehe ich ein bißchen auf die Jagd.« »Das Wetter ist ideal.« »Hier in der Nähe wohnt ein Mann, mit dem ich brieflich in Verbindung stehe«, fuhr mein Vater fort. »Ryder Sexton. Ich wollte mal zu ihm rüber fahren.« »Oh, Sexton ist ein passabler Jäger! Aber Sie sollten mal seine Waffensammlung sehen.« »Darauf bin ich schon gespannt. Er hat mir davon geschrieben.« Sheriff Lens leckte sich die Lippen. »Darf ich Ihnen einen Rat geben? Fahren Sie möglichst schnell zu Sexton… noch heute oder morgen. Vielleicht lädt er Sie zur Jagd ein. Er hat ein Revier ganz in der Nähe. Ein Wäldchen mit See. Das beste Rotwildrevier im ganzen Bezirk. Hat sogar eine Jagdhütte am See. Da geht er meistens auf Enten.« »Danke für den Tip«, erwiderte mein Vater. »Auf bald, Sheriff.« Eigentlich hatte ich einen gemütlichen Abend mit den beiden geplant, aber nach der Bemerkung des Sheriffs wurde mein Vater un-
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ruhig. Er bestand darauf, Sexton nach dem Abendessen anzurufen. Ich kannte den Mann nur flüchtig. Als ich ihn jedoch mit meinem Vater verband, war klar, daß die beiden darauf erpicht waren, sich endlich persönlich kennenzulernen. Die Folge war, daß ich mich bereit erklärte, meine Eltern am nächsten Morgen zu den Sextons zu fahren. »Ich muß um neun Uhr einen Hausbesuch machen«, sagte ich ihnen, als ich das Gästezimmer meiner Wohnung für sie herrichtete. »Danach komme ich zurück und hole euch ab. Ich schätze, so gegen zehn. Die Fahrt zu Sextons Haus dauert ungefähr zwanzig Minuten.« Ryder Sexton war der letzte echte Großgrundbesitzer in unserer Gegend. Ihm gehörten gut siebenhundert Hektar Land, auf denen hauptsächlich Landwirtschaft betrieben wurde. Aber Sexton war kein Farmer, nicht einmal ein Gentleman-Farmer. Er hatte sein Geld während des Krieges als Munitionsproduzent verdient, und obwohl er mittlerweile am Sexton-Waffenimperium nicht mehr beteiligt war, war er nominell noch immer damit verbunden. Am darauffolgenden Morgen war es kühl. Ich fuhr über die schlechten Nebenstraßen und zeigte meinen Eltern Farmen und Naturschönheiten. »Der Zaun dort markiert den Beginn von Sextons Land«, erklärte ich schließlich. »Ein großer Besitz«, bemerkte meine Mutter. »Harry, du hast dir schon immer reiche Freunde ausgesucht.« Vater protestierte unterdrückt. »Ich habe lediglich einen Brief von ihm im ›American Rifleman‹ gelesen und ihm dazu geschrieben. Ich wußte nicht mal, ob er arm oder reich ist. Und mit dem SextonKonzern habe ich ihn nie in Verbindung gebracht.« »Er hat den Besitz hier vor ein paar Jahren gekauft«, klärte ich meine Eltern auf. »Nach dem Verkauf des Konzerns. Einen Teil des Jahres lebt er in Florida und New York. Aber während der Jagdsaison ist er hier. Sheriff Lens hat mir schon von seiner Waffensammlung erzählt.« Ryder Sexton hieß uns persönlich willkommen. Er trug eine Jacke aus Hirschleder mit Fransen und eine Reithose. Er war ein großer Mann von imposanter Statur, mit rötlicher Gesichtsfarbe und stahlgrauem, militärisch kurzgeschnittenem Haar. Als ich ihn neben mei-
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nem Vater sah, dachte ich unwillkürlich an ein Wiedersehen zwischen zwei Armeeoffizieren des letzten Krieges, obwohl ich wußte, daß Sexton an der Heimatfront beschäftigt gewesen war, und sich die militärische Karriere meines Vaters auf eine Mitgliedschaft im örtlichen Musterungskomitee beschränkt hatte. Sexton begrüßte mich mit einem kurzen Nicken, schien jedoch ehrlich erfreut darüber, meinen Vater kennenzulernen. »Ich erwarte Ihre Briefe immer mit Spannung, Harry. Da steht oft Vernünftigeres drin als in den Zeitungen. Und Sie müssen Doris sein«, wandte er sich an meine Mutter. »Willkommen in Northmont. Kommen Sie herein! Kommen Sie!« Ich war bis zu diesem Zeitpunkt noch keinem Mitglied der Familie Sexton begegnet, und war daher überrascht, als eine junge Frau mit einem Arm voller Herbstblumen erschien und als Sextons Frau vorgestellt wurde. »Es soll heute Frost geben«, erklärte sie. »Deshalb habe ich die letzten Blumen noch schnell abgeschnitten.« Sie hieß Rosemary. Meiner Schätzung nach mußte sie mindestens dreißig Jahre jünger sein als ihr Mann, der auf die Sechzig zuging. Vermutlich war sie seine zweite Frau. Sie war attraktiv und hatte eine offene, freundliche Art. In der Stadt hatte ich sie tatsächlich nie gesehen. Das war kaum erstaunlich, da die Sextons nur einen Teil des Jahres hier verbrachten. »Wie steht’s mit der Rotwildjagd hier in der Gegend?« fragte mein Vater, nachdem wir in einem getäfelten Wohnzimmer mit großem offenen Kamin Platz genommen hatten. »Da ich schon mal in der Gegend bin, will ich mein Glück versuchen.« »Im Augenblick sehr gut«, versicherte Sexton ihm. »Könnte eigentlich nicht besser sein. Ich habe für morgen eine kleine Jagdgesellschaft eingeladen. Wenn Sie sich uns anschließen möchten – herzlich gern. Wir jagen in meinem Revier am See. Ich besitze hier etwas über siebenhundert Hektar Land mit viel Wald. Eine Jagdhütte am See gehört dazu.« »Das ist verdammt großzügig von Ihnen«, erwiderte Vater mit einem Lächeln und nahm die Einladung an.
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»Für Sie gilt dasselbe, Sam«, fügte Sexton hinzu. »Ihre Mutter kann hier im Haus bei Rosemary bleiben, solange wir unterwegs sind.« Ich murmelte etwas von Patientenbesuchen, wußte jedoch bereits, daß ich mir die Zeit nehmen würde. Die Vorstellung, wie in alten Tagen mit meinem Vater auf die Jagd zu gehen, war verlockend und in diesem Augenblick stärker als meine Abneigung gegen das Töten von Tieren. »Wann soll’s losgehen?« Sexton dachte kurz nach. »Ziemlich früh. Seien Sie um sieben hier. Wenn Sie können, heißt das. Mein Nachbar, Jim Freeman, wird dasein, und Bill Tracy kommt aus der Stadt. Vielleicht lade ich Sheriff Lens noch ein. Damit wären wir zu sechst.« Bill Tracy war ein Grundstücksmakler, der Geschäfte mit Sexton gemacht hatte, und Jim Freeman war ein erfolgreicher Farmer. Ich kannte beide gut, und es war noch nicht lange her, daß ich Freemans Tochter während der üblichen Kinderkrankheiten behandelt hatte. »Wir sind um sieben da«, versicherte mein Vater Sexton. »Und jetzt zu Ihrer Sammlung. Ich bin schon sehr gespannt.« Ryder Sexton lächelte. Er führte uns in sein angrenzendes Arbeitszimmer. An zwei Wänden dieses Raumes standen Glasvitrinen, die die seltsamsten Gegenstände, die meisten aus Holz, enthielten. »Ich sammle seit vielen Jahren Waffen – vor allem die primitiver Kulturen. Und obwohl wir nur einen Teil des Jahres hier leben, wollte ich, daß dieses Haus meine Sammlung beherbergt. Das hier ist eine Steinschleuder. Man hat einen dieser Steine in den Lederteil gelegt, sie ein paarmal über dem Kopf im Kreis geschwungen und dann losgelassen. Auf diese Weise hat David Goliath bezwungen. Die Steinschleuder aus Indien ist auch sehr interessant. Bei diesem Modell wird der Stein zwischen zwei Stöcken in eine Seilschlinge gelegt.« »Sehr ungewöhnlich«, murmelte mein Vater bewundernd. »Sehe ich zum ersten Mal.« »Hier haben wir Wurfhölzer aus Australien. Die Bumerangs der Aborigines kennen Sie doch sicher. Diese Vitrine enthält alle möglichen Pfeile, Speere und Wurfspieße. Jim Freeman, mein Nachbar
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erzählt, daß er während des Krieges Wurfpfeile mit dem Flugzeug abgeworfen hat. Das daneben ist eine Art hölzernes Katapult für Speere aus dem Südpazifik. Die Eskimos verwenden für ihre Harpunen ein ähnliches Wurfgerät. Hier haben wir eine Wurfschlinge, eine sogenannte Bola aus Patagonien. Drei durch Schnüre miteinander verbundene Bälle an einer gemeinsamen Mitte befestigt. Man verwendet die Bolas dazu, jemanden zu erdrosseln.« Ich war den anderen ein paar Schritte voraus. »Diese Schwerter scheinen neueren Ursprungs zu sein«, bemerkte ich. »Sie stammen aus dem Westpazifik«, erklärte Sexton. »Sie werden bei religiösen Feiern getragen. Aber sehen Sie sich bitte diesen Knüppel an. Er ist mit Haifischzähnen gespickt und damit eine absolut tödliche Waffe. Ich benutze ihn gelegentlich, um verwundetes Wild schnell von seinem Leiden zu erlösen. Das hier sind Schilde aus Kokosfasern – sie stammen aus derselben Region.« Sexton hätte vermutlich noch länger so weitergemacht, hätte seine Frau ihn nicht unterbrochen: »Da kommt ja Jennifer!« Durch das Fenster sah ich eine junge Frau Anfang Zwanzig ein Fahrrad in den Hof schieben. »Kommen Sie«, forderte Mrs. Sexton uns auf. »Ich möchte Ihnen meine Schwester vorstellen.« Wir folgten ihr gehorsam ins Freie. Ihre Schwester verstaute gerade das Fahrrad in einem ehemaligen Hühnerstall. »Jennifer, das sind Harry und Doris Hawthorne… und ihr Sohn Dr. Sam Hawthorne aus der Stadt. Sie sind diese Woche bei ihm zu Besuch. Und Harry ist Ryders Briefbekanntschaft.« Jennifer schien ehrlich erfreut, uns kennenzulernen. »Rosemary hat darauf bestanden, daß ich einen Monat hierbleibe. Aber offengestanden ist es mir ein bißchen zu einsam. Das Leben in New York hat eine Städterin aus mir gemacht.« »Mit dem Fahrrad können Sie aber noch recht gut umgehen«, bemerkte ich. »Leider hat Ryder mir verboten, damit durch den Wald zu fahren. Er hat Angst, ein Jäger könnte mich mit einem Reh verwechseln.« Sie zog eine hübsche Schnute. »Würden Sie mich mit einem Reh verwechseln?«
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»Schon möglich«, erwiderte ich. Unsere Abfahrt wurde durch die Ankunft von Jim Freeman verzögert. Er war von der Nachbarfarm über die Felder zu Fuß zu den Sextons gekommen. Freeman war ein großer, kräftiger Mann, der mich stets eher an einen Preisringer als an einen Farmer erinnerte. »Der Wetterbericht hat leichte Schneefälle für die Nacht vorausgesagt«, sagte er zu Ryder Sexton. »Wollen Sie den Schlauch zur Jagdhütte runterlegen, damit dort das Wasser nicht zufriert?« Sexton nickte. »Sollte ich vermutlich machen.« Er wandte sich an meinen Vater. »Die Wasserversorgung in der Jagdhütte wird durch einen Tank gespeist«, erklärte er. »Ist schon angenehm, wenn man da auch Kaffee kochen, einen Drink mixen, Geschirrspülen oder die Wasserspülung im Klohäuschen bedienen kann.« »Ein Komfort wie in einem anständigen Zuhause«, bemerkte meine Mutter trocken. Von der Jagd hatte sie noch nie etwas gehalten. Und ich erinnerte mich, daß sie meinen Vater immer geschimpft hatte, wenn er mich in meiner Jugend mitnahm, um am Sonntag Fasane zu jagen. Hinter einer Scheune auf Sextons Grund stand eine große Trommel. Darauf waren gut hundert Meter Schlauch aufgerollt. Sexton zog den Anfang mit sich, als er zu seiner Jagdhütte hinunterging. »Ich lasse das Wasser die ganze Nacht über langsam laufen, dann friert es nicht ein.« Er wandte sich an seinen Nachbarn. »Wir sind morgen zu sechst, Jim. Harry und Sam kommen mit. Und vielleicht lade ich noch Sheriff Lens dazu.« »Prima.« Wir marschierten zwischen zwei Eichen hindurch und über eine Hügelkuppe. Unter uns lag, noch ungefähr fünfzig Meter entfernt eine primitive Blockhütte mit einem Dach aus Zweigen. Sie stand am Ufer eines kleinen Sees, dessen glatte Oberfläche friedlich in der Morgensonne glänzte. Sexton zog den Wasserschlauch mit einem Ruck weiter und den Hügel hinunter durchs kurze Gras. Der Schlauch war kaum dicker als ein ganz normaler Gartenschlauch, doch viele Farmer kauften diese Sorte in großen Längen, um ihre Felder damit zu bewässern.
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Die Jagdhütte war geräumiger, als ich angenommen hatte, denn wir hatten dort alle bequem Platz. Rosemary Sexton und ihre Schwester waren uns gefolgt, und mit Sexton, Freeman, meinen Eltern und mir waren wir immerhin zu siebt. Der Raum war nicht hoch, aber ich konnte aufrecht stehen, ohne mir den Kopf an den Dachbalken anzustoßen. Es gab drei Kanonenöfen, einfache Stühle und einen Tisch, Gewehrständer und sogar einen kleinen Eisschrank, in dem Lebensmittel und Getränke gekühlt werden konnten. An einem Wandregal hing ein Wassertank aus Metall. Sexton steckte den Schlauchanfang hinein. »Der Tank faßt gut hundertfünfzig Liter«, erklärte er meinem Vater. »Ich stecke den Schlauch in die obere Öffnung, dann stelle ich drüben an der Pumpe den Wasserhahn an, und das Wasser fließt die ganze Nacht langsam hier hinein. Den Hahn da unten lasse ich leicht tröpfeln. Der Abfluß führt in den See.« »Sie haben hier aber ’ne Menge Löcher in der Wand«, bemerkte ich. »Das sind Schießscharten, Sam«, klärte mein Vater mich auf. »Stimmt’s, Ryder?« »Natürlich! Morgen früh warten ein paar von uns hier, während die anderen das Wild direkt auf die Hütte zutreiben. Sobald die Tiere drüben auf der Lichtung auftauchen, nehmen wir sie aufs Korn.« »Das gefällt mir«, sagte mein Vater begeistert. »Kann ich mir vorstellen«, murmelte meine Mutter. Jennifer stöhnte hörbar. »Sieht so aus, als müßten wir wieder mal Wild zubereiten, Rosemary.« »Noch haben sie keines erlegt«, schnaubte Rosemary verächtlich. »Ich jedenfalls halte den Rehen und Hirschen den Daumen.« Wir schlenderten den Hügel wieder hinauf und sahen zu, wie Sexton die Pumpe anstellte und den Wasserdruck des Schlauchs regulierte. Dann ging Freeman über die Felder zurück zu seiner Farm, und wir stiegen in den Wagen. »Sieben Uhr!« rief Ryder Sexton uns nach. »Nicht vergessen.« Beim Abendessen mußte sogar meine Mutter zugeben, daß die Sextons nette Leute waren. »Zumindest für Jäger«, fügte sie hinzu.
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Vater lachte. »Ich glaube nicht, daß Sextons Frau auf die Jagd geht. Du mußt sie also nicht mit demselben Maß messen.« »Ich muß noch kurz in die Praxis«, sagte ich. »Für den Fall, daß April mir dort eine Nachricht hinterlassen hat.« »Fahr nur.« Meine Mutter stand auf und begann das Geschirr abzuräumen. »Dein Vater und ich gehen lieber früh ins Bett. Wir müssen schließlich mit den Hühnern aufstehen.« »Vor den Hühnern, Doris«, verbesserte er sie. Ich fuhr in die Praxis. Auf meinem Schreibtisch erwartete mich nur eine Nachricht von Bedeutung. Einer meiner Patienten hatte einen Unfall auf seiner Farm gehabt und war ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ich fuhr zur Pilgrim Memorial Klinik, um mich nach dem Befinden meines Patienten zu erkundigen. Auf dem Weg zum Wagen lief mir Bill Tracy über den Weg. Er war wie immer elegant angezogen und sah in seinem gestärkten weißen Kragen wie ein Bankier und nicht wie ein Grundstücksmakler aus der Provinz aus. Außerdem war es mir neu, daß er sich für die Rotwildjagd interessierte. Ich stellte ihn zur Rede. »Wie ich dazu komme? Vermutlich auf dieselbe Weise wie Sie, Sam. Sie sind doch auch kein Jäger. Und weshalb nehmen Sie an dieser Jagd teil?« »Meine Eltern sind zu Besuch. Vater und Sexton unterhalten schon seit Jahren einen regen Briefwechsel. Er hat uns beide eingeladen. Wir sind heute morgen schon bei ihm gewesen. Schönes Anwesen.« »Ist seine Schwägerin noch da?« »Jennifer? Ja. Reizendes Mädchen.« Bill Tracy fuhr mit dem Finger den gestärkten, weißen Kragen entlang. »Ich glaube, ich habe sie vergangene Woche im Vorbeifahren auf Freemans Farm gesehen. Sicher war ich mir allerdings nicht. Könnte auch Mrs. Sexton gewesen sein. Die beiden sind sich recht ähnlich.« »Nicht aus der Nähe. Vielleicht war es eine von Freemans Töchtern.« »Ausgeschlossen. Ich hab’ das Fahrrad erkannt. Es war Jennifers. Sie hatte es ans Haus gelehnt.« Er zwinkerte mir zu. »Und sie hat mir gesagt, daß sie das Landleben langweilig findet.«
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»Das hat sie heute morgen auch angedeutet«, gab ich zu. »Also, wir sehen uns dann morgen, Sam. Halten Sie die Augen offen. Vielleicht entdecken Sie was Interessanteres als Hirsche.« Ich dachte noch immer über diese Bemerkung nach, als ich nach Hause kam. Meine Mutter saß am Fenster und trank eine Tasse heiße Schokolade. »Ich muß mich noch ein bißchen entspannen. Sonst kann ich nicht schlafen«, sagte sie. »Dein Vater ist anders. Er schnarcht schon.« »Wie geht es ihm gesundheitlich, Mom?« fragte ich und setzte mich zu ihr aufs Sofa. »Für sein Alter nicht schlecht. Vergangenen Monat ist er beim Arzt gewesen. Er hatte leichte Herzrhythmusstörungen. Paß morgen auf der Jagd ein bißchen auf ihn auf, Sam.« »Selbstverständlich.« Sie trank einen Schluck heiße Schokolade und seufzte. »Ich habe diese Jagden nie gemocht. Und du auch nicht.« »Ich bin inzwischen fast zwanzig Jahre nicht mehr auf der Jagd gewesen – nicht seit dem letzten Jagdausflug mit Vater. Und morgen gehe ich auch nur um seinetwillen mit.« »Er sieht in dir noch immer seinen kleinen Jungen, Sam.« »Ich schätze, das bleibe ich mein Leben lang. Auch für dich.« »Nein, nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist ein erwachsener Mann. Und du solltest heiraten und eine Familie gründen.« »Ich weiß, Mom.« »Als du mir Weihnachten von der Hochzeit geschrieben hast, dachte ich fast, es wäre deine…« »Sheriff Lens hat geheiratet. Und er ist wesentlich älter als ich.« »Paß auf, daß du den Zeitpunkt nicht verpaßt, Sam. Du solltest dich nicht nur auf deinen Beruf und das Detektivspielen versteifen. Sonst wachst du eines Morgens auf und stellst fest, daß du ein alter Mann bist und niemanden hast, der dich liebt.« Ich lachte. »Das ist ja starker Tobak! Komm, wir gehen lieber ins Bett. Der Wecker läutet morgen um halb sechs.« »Na gut«, stimmte sie zu. Sie gab mir einen Kuß auf die Wange. »Aber denk trotzdem mal darüber nach.«
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Danach lag ich lange wach, horchte auf das Schnarchen im Nebenzimmer, und fragte mich, ob meine Mutter jemanden hatte, der sie liebte. Das Klingeln des Weckers riß mich aus einem tiefen traumlosen Schlaf. Ich sah aus dem Fenster. Eine dünne Schneedecke hatte sich über die Landschaft gebreitet. Es war noch dunkel, als ich meine Eltern im Badezimmer hörte. »Guten Morgen!« rief ich ihnen zu. »Wir haben heute nacht gut zwei Zentimeter Schnee bekommen.« »Gutes Wetter, um das Wild aufzuspüren!« erwiderte mein Vater. »Kann man wohl sagen. Ich mache uns Frühstück.« Als wir eine Stunde später zu den Sextons hinausfuhren, war die Straße leer und verlassen. Bislang hatten nur wenige Autoreifen die jungfräuliche Schneedecke zerstört. Als wir in die Auffahrt der Sextons einbogen, stellte ich fest, daß ein Paar dieser Reifenspuren von Sheriff Lens’ Wagen stammte, der bereits vor uns eingetroffen war. Inzwischen war die Sonne aufgegangen. Sheriff Lens stand an sein Auto gelehnt, ein Jagdgewehr an seiner Seite, und unterhielt sich mit Sexton und Jim Freeman. »Der Schnee kommt doch wie gerufen?« rief Ryder Sexton uns zur Begrüßung. »Da hat das Wild keine Chance.« Jennifer kam aus dem Haus und brachte ein Paket Sandwichs als Jagdverpflegung. Dann tauchte hinter ihr Rosemary Sexton auf, um meine Mutter zu begrüßen. »Kommen Sie rein. Drinnen ist es warm und sicher.« Ein dritter Wagen bog in die Auffahrt ein und hielt hinter meinem Stutz an. Bill Tracy stieg aus. Sein Gewehr steckte in einer eleganten Lederhülle. »Morgen allerseits.« Ich stellte ihn meinen Eltern vor, und er nahm ein Sandwich von Jennifer. Dann begann Sexton die Aufgaben zu verteilen. »Sie gehen im Halbkreis auf den See und die Jagdhütte zu. Halten Sie bitte größere Abstände zu Ihrem jeweiligen Nachbarn ein, damit Sie ein größeres Gebiet abdecken können. Sie treiben das Wild auf die Jagdhütte zu. Sam, möchten Sie mit mir in der Jagdhütte bleiben?«
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Ich hatte mein Versprechen vom Vorabend, auf meinen Vater aufzupassen, nicht vergessen. »Wenn’s Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber draußen mitmachen.« Ryder Sexton zuckte mit den Schultern. »Natürlich. Dann bleibe ich allein dort unten und picke mir das schönste Exemplar raus. Da ihr zu fünft seid, müßte einiges zusammenkommen.« Wir stapften durch den Schnee zum Pumpenhäuschen. Sexton stellte das Wasser ab, das die ganze Nacht über durch den Schlauch in den Tank gelaufen war. »Jim, Sie bleiben hier, bis ich den Schlauch unten herausgenommen habe. Dann wickeln Sie ihn wieder auf. Ich will nicht, daß jemand über diesen Schlauch stolpert und sich um einen guten Abschuß bringt.« Während Freeman zurückblieb, machten wir anderen uns auf den Weg zur Jagdhütte. Jennifer, die nur einen dünnen Anorak über dem Pullover und eine Hose trug, ging mit Sexton voraus. »Wollen Sie mit uns auf die Jagd gehen?« rief ich ihr zu. »Würde ich gern. Aber man läßt mich ja nicht!« Ich ging neben Sheriff Lens, während Bill Tracy mit meinem Vater den Schluß bildete. »Wie geht’s Ihrer Frau, Sheriff?« »Gut, Doc. Allerdings sollte ich heute schon einen Braten mit nach Hause bringen. Sonst vergibt sie mir nie, daß ich meinen freien Tag dafür geopfert habe.« »Verdammt!« schimpfte Sexton vor uns. »Ich werde immer vergeßlicher.« Er gab Jennifer hastig und leise ein paar Anweisungen. Dann blieb er auf der Hügelkuppe über der Jagdhütte stehen. »Und noch was, Jennifer. Auf dem Rückweg sagst du Jim, daß er den Schlauch aufrollen soll, sobald ich das Zeichen gebe!« »In Ordnung«, antwortete Jennifer und ging zum Haus zurück. »Ihre Stiefel gefallen mir«, sagte ich zu Sexton und betrachtete bewundernd das glänzende, neue Lederschuhwerk an seinen Füßen. »Die hab’ ich in New York gekauft. Sehen Sie sich die Sohle an!« Er zeigte mir die solide Profilsohle. Dabei schien er zum ersten Mal mein Gewehr zu bemerken. Es war eine alte Winchester, die ich seit vielen Jahren besaß. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, Sam. Aber für die Hirschjagd ist das kaum die richtige Waffe. Ich habe noch ein Ersatzgewehr oben im Haus.«
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»Nein, danke«, wehrte ich ab. »Ich komme mit meiner Winchester zurecht. Das Schießen überlasse ich sowieso meinem Vater.« »Wie Sie meinen.« Sexton wandte sich an Dad, Bill, Tracy und den Sheriff. »Die kleine Anhöhe hier schützt das Haus vor Querschlägern. Trotzdem wär’s mir recht, wenn Sie nicht in diese Richtung schießen würden. Eine Kugel fliegt weit, und ich will keine zerbrochenen Fensterscheiben oder tote Ehefrauen.« Er lachte kurz auf, um zu zeigen, daß das als Scherz gemeint war. Danach warteten wir auf der Hügelkuppe, bis er durch den unberührten Schnee zur Jagdhütte gestapft war, den Wasserschlauch aus dem Tank gezogen und ihn vor die Tür geworfen hatte. »Sie können ihn jetzt aufwickeln!« schrie er und gab das mit Jim Freeman verabredete Zeichen. Am Pumpenhäuschen begann Freeman die Trommel zu drehen. Der Schlauch glitt lautlos durch den Schnee. Als Sexton sah, daß sich Freeman zu uns gesellt hatte, rief er: »Wir fangen an. Im Halbkreis aufstellen! Achten Sie auf Hirschfährten. Sie treiben die Tiere am besten in diese Richtung. Ich warte hier und setze schon mal Kaffeewasser auf.« Wir schwärmten über die Felder aus. Tracy und Freeman gingen nach Osten, während der Sheriff, Dad und ich uns in der anderen Richtung verteilten. Es gelang mir, meinen Vater immer im Blickwinkel zu behalten. Als er schließlich auf eine Fährte stieß, lief ich zu ihm, um sie mir anzusehen. »Es ist wirklich ein Hirsch«, stimmte ich ihm zu. »Und zwar ein größeres Exemplar.« Ich blieb an seiner Seite und gab meine frühere Position auf. Wir waren jetzt gemeinsam auf der Pirsch, ganz wie früher. Vaters Gedanken gingen offenbar in eine ähnliche Richtung. »Wie in guten alten Zeiten, was?« bemerkte er. »Klar, Dad.« »Hat Mutter dir von meinen Herzbeschwerden erzählt?« »Ja. Nimmst du Tabletten?« »Natürlich. Und damit kann ich hundert werden. Schließlich ist mein Sohn ja Arzt.« »Schade, daß ihr so weit weg seid. Wollt ihr nicht zu mir in den Osten ziehen?«
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»Nach New England? Niemals! Wir sind aus dem mittleren Westen. Da gehören wir hin. Du übrigens auch.« »Schon. Aber jetzt wieder dorthin zurückzukehren – das wäre schwierig für mich.« »Warum eigentlich? Gefällt’s dir hier so viel besser?« »Ich fühle mich jedenfalls wohl.« »Magst du Männer wie Sexton als Patienten? Reiche Leute?« »Sexton ist nicht mein Patient, Vater. Er ist dein Freund. Hast du das vergessen?« »Deine Mutter hat den Eindruck, daß seine Frau nicht sehr glücklich ist.« »Wie kommt sie denn darauf?« fragte ich. Ich ging der Fährte folgend voraus, so daß wir in einer Linie hinter dem Wald blieben. »Rosemary Sexton hat offenbar ein paar Bemerkungen über die Jagdleidenschaft ihres Mannes gemacht. Sie behauptet, daß sich alles nach den Hobbies ihres Mannes richten müsse. Doris fand, daß sie reichlich verbittert ist.« »Die meisten Frauen in Northmont würden freudig mit ihr tauschen.« Wir stießen auf eine frische Hirschlosung im Schnee. Mein Vater hob die Hand. »Still jetzt«, flüsterte er. »Wir sind dicht hinter ihm.« Wir traten aus dem Unterholz. Auf der Lichtung sahen wir Sheriff Lens zu unserer Linken. Er winkte und deutete geradeaus. Wir konnten dort jedoch nichts erkennen. Dann brach plötzlich ein Hirsch aus dem Dickicht. Er war gut zweihundert Meter vor uns und galoppierte in Richtung Blockhütte davon. »Schau dir bloß sein Geweih an!« sagte mein Vater atemlos. »Könnte glatt ein Zwölfender sein.« Dann machte der Hirsch eine Kehrtwendung und hielt auf uns zu. Sheriff Lens legte an. Aber für einen präzisen Schuß war die Entfernung zu groß. Das muß ihm ebenfalls klargeworden sein, denn er ließ die Waffe sinken, als der Hirsch erneut die Richtung änderte. »Wir stehen genau im Wind«, bemerkte mein Vater. »Er hat Witterung aufgenommen.«
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»Wenn Tracy und Freeman auf dem Posten sind, sitzt er in der Falle. Dann bleibt ihm nur noch der Ausweg über die Jagdhütte. Und da sitzt Sexton.« Wir beschleunigten das Tempo und liefen im Dauerlauf hinter dem Hirsch her. Es dauerte nicht lange, bis der See in Sicht kam. Schließlich sahen wir die Jagdhütte. Ich entdeckte, daß Freeman in diesem Augenblick auf der Hügelkuppe auf der gegenüberliegenden Seite auftauchte. Dann war auch Bill Tracy da. Beide Männer hatten den Hirsch gesehen und waren schußbereit. »Warum schießen die nicht?« keuchte Sheriff Lens, der sich zu uns gesellt hatte. »Der Bursche ist jetzt so nahe an der Hütte, daß Sexton ihn mit links erledigen kann«, sagte mein Vater. Er hatte sein Gewehr ebenfalls im Anschlag, aber der Hirsch flog im gestreckten Galopp davon. Er passierte die Lichtung in einer Entfernung von zwanzig Metern zum Haus. Kein Schuß fiel. Und bevor einer von uns noch reagieren konnte, setzte der prächtige Hirsch durch das Flachwasser des Sees, und versuchte aus Freemans Schußlinie zu kommen. Der Farmer fiel auf ein Knie und schoß. Wasser spritzte an der Stelle auf, wo die Kugel einschlug und den Hirsch knapp verfehlte. Im nächsten Moment war das prächtige Tier im Wäldchen am See verschwunden. »Was, zum Teufel, ist passiert!« brüllte Tracy und lief den Abhang herunter. Freeman kam ebenfalls auf uns zu. »Warum hat Sexton ihn nicht erledigt?« »Keine Ahnung«, antwortete mein Vater. Und auch ich war ratlos. Wir standen stumm da und starrten zur Hütte. Noch immer führten nur Ryder Sextons Spuren durch den Schnee zur Hütte. Über dem Schornstein der Jagdhütte stand eine schmale Rauchsäule. Er schien also bereits ein Feuer angezündet zu haben, um Kaffee zu kochen. Mein Vater ging als erster den Hang hinunter. Er folgte der Fährte des Hirschs, bis er auf der Höhe der Hütte war. Dann bog er ab und ging zur Eingangstür.
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Bereits Minuten später tauchte er wieder auf. »Komm schnell, Sam!« rief er. »Es ist was passiert! Ich glaube, man hat ihn ungebracht.« Ich bat die anderen, auf der Anhöhe zu bleiben, und lief zur Hütte hinunter. Ryder Sexton lag in der Mitte des Raumes vor dem Tisch, mit dem Gesicht nach unten. Sein Hinterkopf war blutig. Neben ihm lag einer der mit Haifischzähnen gespickten Knüppel. »Er ist tot«, bestätigte ich. »Nach dem Schlag mit diesem Ding muß er sofort tot gewesen sein.« »Aber wer soll das gewesen sein, Sam?« fragte mein Vater. Ich ging zur Tür. »Ich brauche Sie, Sheriff!« rief ich Lens zu. »Aber seien Sie vorsichtig. Wir dürfen keine Spuren verwischen.« »Da sind keine Fußspuren, Doc«, entgegnete Lens. »Bis auf die von Ryder selbst, heißt das. Ich bin um die Hütte herumgegangen. Das Klohäuschen ist leer.« Ich nahm die dem See zugewandte Seite in Augenschein und mußte das bestätigen. Die Hütte lag hier kaum zehn Meter vom Ufer entfernt, aber die Schneedecke war unversehrt. Entgegen meiner Bitte waren Tracy und Freeman schließlich doch zur Blockhütte heruntergekommen. Aber es spielte keine Rolle mehr. Ryder Sextons Fußspuren waren die einzigen, die in die Hütte führten. Wer auch immer ihn mit dieser primitiven Waffe umgebracht hatte, mußte die Tat irgendwie aus der Ferne gesteuert haben. »Jemand muß seine Frau benachrichtigen«, sagte Jim Freeman und starrte auf Sextons Leiche. »Wer könnte das getan haben?« fragte Tracy. »Vielleicht irgendein Pennbruder, der sich im Wald versteckt hält?« »Ein Pennbruder, der keine Fußspuren hinterläßt?« entgegnete ich. »Wir haben nur die Hirschfährte gefunden. Sonst nichts. Hat von Ihnen jemand Fußspuren entdeckt?« Alle schüttelten die Köpfe. Ich ging hinaus und kniete mich in den Schnee, um mir Sextons Fußspuren genauer anzusehen. Dann kehrten wir gemeinsam zum Haus zurück. Sheriff Lens überbrachte Rosemary Sexton die traurige Nachricht, während wir betreten dabei-
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standen. Rosemary Sexton starrte uns völlig verwirrt an. »Tot? Was soll das heißen – er ist tot?« »Wir haben einen Schuß gehört«, warf Jennifer ein. »War es ein Jagdunfall?« »Nein. Er ist erschlagen worden«, erklärte ich. »Wir wissen nicht, wer’s gewesen ist.« Rosemary Sexton wurde ohnmächtig. Während Jennifer und Jim Freeman sie auf ihr Zimmer brachten, holte ich meinen Arztkoffer aus dem Wagen. Ich gab ihr eine Beruhigungstablette. Sheriff Lens telefonierte bereits mit seinem Büro und forderte einen Krankenwagen an. Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, ging ich als erstes zu meiner Mutter, die bleich in einem Sessel saß. »Was ist passiert, Sam?« fragte sie. »Das versuche ich gerade herauszufinden«, antwortete ich. »Sag mir bitte, ob eine der beiden Frauen das Haus verlassen hat, während wir unterwegs waren? Mrs. Sexton oder Jennifer?« »Nein«, antwortete meine Mutter, korrigierte sich jedoch sofort. »Das heißt, ich glaube es nicht. Rosemary hat für nachmittags Kuchen gebacken und war längere Zeit in der Küche. Jennifer ist mal oben gewesen. Ungefähr zehn Minuten lang. Ich schätze, beide könnten das Haus verlassen haben, ohne daß ich es gemerkt hätte.« Ich drückte ihre Hand und ging in den ersten Stock hinauf. Jennifer und Freeman waren noch immer bei Rosemary. Ich entdeckte auf der Rückseite des Hauses ein weiteres Schlafzimmer, das dem See und der Jagdhütte zugewandt lag. Allerdings versperrte hier ein großes, rotes Stallgebäude den Blick. »Versuchen Sie zu rekonstruieren, wie es passiert sein könnte?« fragte plötzlich eine Stimme hinter mir. Es war Jim Freeman. »Ich weiß, es ist absurd, aber er ist nun mal tot. Ich hatte eine hübsche Theorie, dachte, die Tatwaffe könnte von hier mit irgendeinem Katapult abgeschossen worden sein.« Freeman trat zu mir ans Fenster. »Das ist Jennifers Zimmer. Glauben Sie, sie hat’s getan?« »Keine Ahnung. Mich hat nur die Aussicht hier interessiert.«
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Freeman nickte. »Ich bin während des Krieges in Frankreich gewesen. Bei der Luftwaffe. Da haben wir tatsächlich Wurfpfeile, sogenannte fléchettes von Flugzeugen über feindlichen Truppen abgeworfen.« »Genau so was schwebt mir vor. Pfeile können aus Flugzeugen abgeworfen werden. Vielleicht kann man auch Knüppel mit Katapulten abschießen.« »Klingt allerdings nicht sehr realistisch.« Freeman schüttelte den Kopf. »Nein«, mußte ich zugeben. »Besonders da das Dach der Hütte keine größere Öffnungen aufweist.« Plötzlich fiel mir etwas ein. »Sind Mrs. Sexton oder ihre Schwester je bei Ihnen auf der Farm gewesen?« »Warum fragen Sie?« »Wäre doch ganz normal. Schließlich sind Sie Nachbarn. Bill Tracy hat mir erzählt, daß er eine von beiden vergangene Woche bei Ihnen gesehen haben will.« Freeman schnaubte verächtlich. »Bill Tracy ist ein altes Waschweib. Klar ist Jennifer mit dem Fahrrad bei uns gewesen. Warum auch nicht? Wir sind Nachbarn.« »Aber Rosemary Sexton ist nie bei Ihnen gewesen?« »Nie kann ich nicht sagen. Vielleicht war sie mit Ryder abends mal da. Aber nie allein, falls es das ist, worauf Sie hinauswollen. Glauben Sie, ich habe ihn umgebracht, um bei seiner Frau freie Bahn zu haben?« »Im Augenblick glaube ich gar nichts, Jim. Ich stelle nur Fragen.« »Dann stellen Sie andere.« Damit wandte er sich ab und verließ das Zimmer. Ich ging wieder hinunter. Sheriff Lens unterhielt sich gerade mit seinen beiden Deputies, die inzwischen eingetroffen waren. »Sie machen ein paar Blitzlichtaufnahmen von der Jagdhütte und schaffen die Leiche weg. Ist das in Ordnung, Doc?« »Natürlich. Sie haben das Sagen.« Wir gingen zusammen mit den beiden Deputies durch den Wald zur Jagdhütte. Der Schnee schmolz stellenweise, doch Ryders Fußspuren waren noch deutlich sichtbar. »Wissen Sie, Doc«, begann
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Sheriff Lens nachdenklich, »ich schätze, es gibt nur drei Möglichkeiten, wie der Mord passiert sein könnte.« Ich kannte das inzwischen. Aber Sheriff Lens war stets euphorisch, wenn er mir eine Lösung präsentierte. An diesem Tag allerdings klang seine Stimme eher niedergeschlagen. »Und die wären?« »Der Knüppel muß irgendwie über den Schnee geworfen oder katapultiert worden sein.« »Sexton war in der Hütte, als es passierte«, erinnerte ich ihn. »Selbst wenn wir davon ausgehen, daß er in diesem Augenblick den Kopf aus dem Fenster gestreckt hat, hätte er ins Haus zurück und der Knüppel draußen in den Schnee fallen müssen. Außerdem haben ihn eigentlich die Haifischzähne umgebracht. Und ein Knüppel, der durch die Luft auf das Opfer geworfen wird, hat aus diesem Winkel zu wenig Schwung, um tödlich zu sein.« »Sie haben also auch daran gedacht?« »Ja«, gab ich zu. »Gut. Kommen wir zu Möglichkeit zwei. Der Mörder könnte in Sextons Spur zur Hütte gegangen sein und sie auf dieselbe Weise wieder verlassen haben.« Ich schüttelte widerwillig den Kopf. »Sexton hatte neue Schuhe mit erstklassigen Profilsohlen. Ich habe mir die Spuren genau angesehen. Die Muster sind weder verwischt noch ausgelöscht. Nur Sexton ist durch den Schnee gelaufen – und auch nur einmal.« Sheriff Lens holte tief Luft. »Tja, Doc, bleibt nur noch eine dritte Möglichkeit. Vielleicht wurde Sexton von einer Person ermordet, die die Jagdhütte betrat, bevor wir auftauchten.« »Der erste, der in die Jagdhütte ging, war mein Vater.« »Ich weiß«, sagte Sheriff Lens. Danach ließen wir die Sache erst einmal auf sich beruhen. Wir überquerten das allmählich schmelzende Schneefeld und gingen zu den Deputies, die an der Hütte bereits mit ihrer Arbeit begonnen hatten. Sextons Leiche wurde auf einer Bahre fortgebracht, und ein Deputy fotografierte die Spuren im Schnee, bevor sie schmelzen konnten. »Das habe ich auf dem Fußboden gefunden«, sagte einer der Männer.
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»Was ist das?« fragte der Sheriff und nahm den Gegenstand, den ihm sein Mitarbeiter reichte. »Eine Feder?« »Ja.« »Sieht alt aus«, murmelte Sheriff Lens. »Vermutlich ein Überbleibsel von der letzten Entenjagdsaison.« »Ich finde, sie sieht eher wie eine Hühnerfeder aus«, bemerkte ein Deputy. »Vielleicht steckte sie an einem Pfeil.« »Nur ist Sexton nicht mit einem Pfeil getötet worden«, erwiderte der Sheriff mißmutig. Er steckte die Feder in die Tasche. Als der zweite Deputy die Hütte verlassen hatte und wir allein waren, sagte ich: »Mein Vater hat Sexton nicht umgebracht.« »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist, Doc. Mir würd’s genauso gehen. Gut, er scheint kein Motiv gehabt zu haben…« »Er kann Sexton gar nicht getötet haben. Denken Sie mal nach, Sheriff! Wie ist der Knüppel, die Tatwaffe, in die Hütte gelangt? Die Waffe lag im Haus in einer Vitrine. Und Sexton hat das Ding nicht dabei gehabt. Als er in die Jagdhütte gegangen ist, hatte er für uns alle sichtbar nur sein Gewehr und ein Sandwich in der Hand. Sonst nichts. Und daß er die Hütte nicht heimlich verlassen hat, habe ich anhand der Fußspuren nachgewiesen.« »Doc, der Mörder hat natürlich den Knüppel mitgebracht. Das ist doch ganz einfach.« »Selbstverständlich hatte der Mörder die Waffe bei sich. Aber das bedeutet, daß mein Vater unschuldig ist. Ich bin während der Jagd ständig bei ihm gewesen. Er hatte die Waffe nicht unter der Jacke versteckt. Und die Hütte hat er auch nicht mit einem Knüppel betreten. Das haben wir schließlich alle gesehen.« Sheriff Lens’ Miene entspannte sich sichtlich. »Klar, Doc. Sie haben recht. Er kann’s nicht gewesen sein.« »Und wenn Sexton noch am Leben gewesen wäre, als wir uns der Hütte genähert haben, dann hätte er den Hirsch erlegt. Er hat nicht geschossen, weil er bereits tot war.« »Aber was bedeutet das für uns?« »Das weiß ich auch nicht«, gestand ich.
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»Vielleicht hat ein Vogel ihn getötet. Das würde die Feder erklären. Oder vielleicht hat sich jemand große Flügel an die Arme gebunden und ist zur Jagdhütte geflogen. Wie klingt das, Doc?« »Unwahrscheinlich«, erwiderte ich. Wir verließen die Jagdhütte und gingen zum Haus zurück. »Aber vielleicht ist es doch kein so schlechter Gedanke, daß jemand die Waffe unter einer Jacke versteckt hatte«, murmelte ich. »Wie konnte sich der Killer Sexton mit dem Knüppel ungehindert nähern? Weshalb hat Sexton nicht gemerkt, was ihm bevorstand, und warum hat er sich nicht gewehrt?« »Der Mörder muß die Waffe irgendwie versteckt haben.« Ich schnippte mit den Fingern. »In einer Gewehrhülle!« »Und so was hat Bill Tracy!« Als wir zum Haus kamen, packte Tracy gerade Gewehr und Tasche in seinen Wagen. Sheriff Lens holte den Knüppel, und wir versuchten, ihn in die Waffentasche zu stecken, ohne Erfolg. War das Gewehr in der Hülle, ging es gar nicht. War die Hülle leer, beulte der Knüppel diese auf eine sehr verdächtige Art und Weise aus. »Ich hatte die Hülle doch gar nicht mit!« behauptete Tracy. »Nur das Gewehr. Ihr seid verrückt. Mir hängt ihr das nicht an!« »Wir wollen Ihnen gar nichts anhängen, Bill«, widersprach ich. Er stieg in den Wagen. »Sie wissen, wo Sie mich erreichen können, wenn Sie noch Fragen haben.« Als Tracy davonfuhr, kam meine Mutter aus dem Haus. »Sam, das Ganze hat deinen Vater sehr mitgenommen. Wir sollten so schnell wie möglich nach Hause fahren.« »Natürlich«, stimmte ich ihr zu. »Ich will das nur noch schnell mit dem Sheriff zu Ende bringen.« Sheriff Lens war kurz im Haus gewesen, kam jetzt jedoch wieder. »Bis auf den Knüppel ist seine Waffensammlung vollständig. Aber ich habe eine andere Idee, Sam. Vielleicht hat jemand aus Eiskugeln so ’ne südamerikanische Bola gemacht. Die hätte der Mörder dann durch die Tür der Hütte schleudern, Sexton erschlagen und verschwinden können. Und das Eis wäre in der warmen Hütte schnell geschmolzen.«
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»Und die Schnüre, Sheriff? Sollen die auch geschmolzen sein? Außerdem habe ich keine Pfützen von geschmolzenem Eis gesehen. Und was ist mit den Spuren am Hinterkopf des Opfers, die eindeutig von den Haifischzähnen stammen?« Bei dem Gedanken an den Ofen in der Hütte und den Kaffee, den Sexton hatte kochen wollen, kam mir noch etwas in den Sinn. »Der Wassertank«, sagte ich. »Wie?« »Kommen Sie, Sheriff. Ich erklär’s Ihnen unterwegs.« Lens folgte mir hastig am Pumpenhäuschen und der Scheune vorbei und die Anhöhe hinauf, die zur Jagdhütte führte. »Mein Gott, Sheriff, der Mörder hat keine Spuren im Schnee hinterlassen, weil er sich schon die ganze Zeit über dort unten versteckt hatte – noch bevor der Schnee gefallen ist. Wenn dieser Metalltank hundertfünfzig Liter faßt, dann paßt da auch ein Erwachsener rein. Er hat Sexton umgebracht und sich dann wieder im Tank versteckt. Und jetzt wartet er darauf, daß die Luft rein ist und er verschwinden kann.« Wir hatten die Jagdhütte schon fast erreicht. Ich hatte den Sheriff mit meiner Euphorie angesteckt. »Sie meinen, er ist noch da?« »Nein, wahrscheinlich nicht«, schränkte ich ein. »Aber als Beweis brauchen wir nur einen leeren Wassertank. Der Mörder hat das Wasser ausgelassen, um sich darin verbergen zu können. Aber er konnte ihn später nicht wieder auffüllen. Die Schlauchverbindung mit dem Pumpenhäuschen war bereits unterbrochen, und der Schlauch aufgerollt.« Ich war meiner Sache so sicher wie noch nie. Wir betraten die Jagdhütte. Ich schob den Deckel vom Tank und steckte die Hand hinein. Er war fast bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Sheriff Lens versuchte mich zu trösten. »Hören Sie, Doc. Er hat ihn vielleicht doch später wieder aufgefüllt.« »Der Schlauch war weg.« »Vielleicht ist das Wasser vom See.« »Die Schneedecke zwischen Haus und Seeufer war völlig unversehrt«, erinnerte ich ihn. Um sicherzugehen, ließ ich etwas Wasser aus dem Tank. Es war kristallklares Brunnenwasser und kein brackiges Seewasser.
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Bis wir im Haus waren, war meine Stimmung auf dem Nullpunkt angelangt. Es mußte eine Lösung für dieses Verbrechen geben. Doch ich wußte aus Erfahrung, daß es immer schwieriger wurde, je mehr Zeit verstrich. Ein Verdächtiger, Tracy, war bereits nach Hause gefahren. Rosemary Sexton schien sich etwas erholt zu haben und saß bei den anderen im Wohnzimmer. Sie war noch blaß und sprach sehr langsam. Aber daran war vielleicht das Beruhigungsmittel schuld, das ich ihr gegeben hatte. »Erzählen Sie mir, wie es passiert ist«, bat sie mich. »Das wissen wir nicht«, gestand ich. »Vielleicht hat ihn ein Pennbruder umgebracht, der in der Hütte übernachtet hat.« Mrs. Sexton machte eine wegwerfende Handbewegung. »Jim Freeman hat mir gesagt, daß er mit einer Waffe aus seiner Sammlung erschlagen worden ist. Das kann kein Pennbruder gewesen sein.« Mein Vater kam ins Zimmer und hörte ihre letzten Worte. »Meinen Sie, es muß jemand gewesen sein, der ihn gekannt hat? Das kann ich nicht glauben.« »Im Augenblick wissen wir noch gar nichts«, bemerkte ich müde. »Er war mein Freund. Ich tue alles, um seinen Mörder zu finden.« »Ich halte es fürs beste, wir fahren in die Stadt zurück, Harry«, warf meine Mutter ein. »Sam fährt uns.« Sie hatte recht. Es war Zeit, aufzubrechen. Trotzdem konnte ich mich nicht losreißen. »Ich möchte mir diese Vitrine noch mal ansehen«, sagte ich. »Ich habe schon alles überprüft«, erinnerte der Sheriff mich. Trotzdem ging ich in das Arbeitszimmer mit den zahlreichen Glasvitrinen. Jennifer folgte mir. »Wo hat er die Schlüssel hierfür aufbewahrt?« »Die Vitrinen sind offen. Er hat sie nie abgeschlossen.« Ich stand vor der betreffenden Vitrine und starrte auf den leeren Fleck, wo der mit Haifischzähnen gespickte Knüppel aus dem Westpazifik gelegen hatte. Ryder Sextons Worte fielen mir wieder ein. Jemand hatte die Waffe an sich genommen, war wie ein Vogel über den Schnee geschwebt und hatte den Mann erschlagen.
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Ich starrte durch die Glasscheibe, und sah mein Spiegelbild und das von Jennifer an meiner Seite. »Gehen wir hinaus«, sagte ich. »Die Sonne ist schon wieder hinter den Wolken verschwunden. Es wird kühl«, seufzte sie und machte die Tür auf. Ich half ihr die Hintertreppe hinunter, und wir gingen auf die Farmgebäude zu. »Vielleicht schneit es heute nacht weiter.« »Ich komme mir so hilflos vor«, sagte Jennifer. »Das geht uns allen so. Und wie hilflos ich bin, das ist mir jetzt erst vor dieser Vitrine klargeworden. Ich wußte plötzlich, wer Ryder Sexton umgebracht hat. Aber ich habe keine Beweise, die ein Gericht überzeugen könnten.« »Die Vitrine hat es Ihnen verraten?« Ich nickte. »Mir ist eingefallen, was Sexton gestern vor der Vitrine mit dem Knüppel gesagt hat. Er hat uns erklärt, er würde sie gelegentlich benutzen, um das Leiden von angeschossenem Wild zu verkürzen. Damit hatte er recht, nicht? Und als er heute morgen murmelte, er habe etwas vergessen, da meinte er den Knüppel. Er hat daraufhin jemanden gebeten, ihn für ihn zu holen und zur Jagdhütte zu bringen.« Sie sah mich fragend an. »Er hat Sie darum gebeten, Jennifer. Sie waren bei ihm, und ich habe gehört, wie er Ihnen leise Anweisungen gegeben hat. Danach sind Sie zum Haus zurückgegangen und haben den gefährlichen Stock geholt. Wir anderen waren längst im Wald, so daß wir Sie auf dem Rückweg nicht mehr gesehen haben. Der Anblick der Waffe hat Sexton nicht erschreckt, weil er Sie ja gebeten hatte, sie ihm zu besorgen. Er hat Ihnen sogar den Rücken zugewandt und war damit eine blendende Zielscheibe. Mit diesen Haifischzähnen muß man nicht sehr heftig zuschlagen, um einen Menschen zu töten.« »Sie beschuldigen mich?« »Nur Sie können es gewesen sein, Jennifer. Vermutlich hatten Sie es auf das Geld abgesehen, das Ihre Schwester jetzt erbt.« »Nein.« »O doch, Jennifer. Meine Mutter hat mir erzählt, daß Sie für zehn Minuten nach oben gegangen waren – und zehn Minuten wären durchaus lange genug gewesen.«
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»Und wie soll ich über das Schneefeld gekommen sein? Es gab keine Spuren.« Wir hatten die Hügelkuppe erreicht, blieben stehen und sahen zur Jagdhütte hinab, die friedlich in der herbstlichen Landschaft lag. Es war noch so viel Schnee übriggeblieben, daß wir Ryder Sextons Fußspuren sahen. »Oh, es gab Spuren«, widersprach ich ihr. »Und es gibt sie noch immer. Sie schreien geradezu danach, beachtet zu werden. Aber wie Chestertons Briefträger sind sie so offensichtlich, daß niemand Notiz von ihnen nimmt. Ich meine damit natürlich die Spuren, die der Gartenschlauch hinterlassen hat, der vom Pumpenhäuschen zur Jagdhütte führte. Die zwei Zentimeter Schnee, die nachts gefallen waren, hatten den Schlauch bedeckt. Als er daher heute morgen aufgerollt wurde, blieb eine deutliche Spur zurück, die über die Wiese direkt zur Hütte reichte.« »Sie sind ja verrückt! Der Schlauch hat vielleicht einen Durchmesser von drei Zentimetern! Selbst wenn ich auf Zehenspitzen gegangen wäre, hätte ich der Spur nicht folgen können, ohne Abdrücke zu hinterlassen.« Ein kalter Wind war aufgekommen, und ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch. »Sie sind nicht auf Zehenspitzen gegangen, Jennifer«, sagte ich gelassen. »Sie sind mit Ihrem Fahrrad gefahren.« Hätte ich die Wut eines in die Enge getriebenen Tieres erwartet, wäre ich enttäuscht worden. Sie schloß lediglich die Augen und schwankte leicht. Ich streckte die Hand aus, um sie zu stützen. »Sie hatten mir erzählt, daß Sexton Ihnen verboten hatte, während der Jagdsaison mit dem Fahrrad durch die Wälder zu fahren«, fuhr ich fort. »Offensichtlich hatten Sie das also häufiger getan. Der schmalen Spur zu folgen, die der Schlauch hinterlassen hatte, dürfte nicht schwierig gewesen sein. Und wenn Sie auch ein- oder zweimal darüber hinausgefahren sind, dann wäre das niemandem aufgefallen. Es konnte immer vom Schlauch selbst stammen. Beim Aufrollen kommt so was vor. Und das Fahrrad haben Sie vom alten Hühnerstall zum Pumpenhäuschen, wo die Spur begann, getragen, um im Hof keine Spur zu hinterlassen. Auf dem Fahrrad hatten Sie den Knüppel vermutlich unter den Arm geklemmt. Und Sie sind sicher auf dem-
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selben Weg wieder zum Haus zurückgekehrt. Eine Spur haben Sie allerdings doch hinterlassen: eine alte Hühnerfeder. Die mußte sich im Hühnerstall in den Speichen verfangen haben. Und diese Feder war das einzige Beweisstück, das ich brauchte, nachdem mir eingefallen war, daß Sie das Fahrrad gestern dort verstaut hatten.« »Es war nicht das Geld«, sagte sie schließlich. »Damit hat es nichts zu tun. Er war so brutal und grausam zu meiner Schwester. Es muß Ihnen doch aufgefallen sein, wie unglücklich sie ist. Wenn er betrunken war, hat er sie sogar geschlagen. Aber sie wollte ihn nicht verlassen. Da habe ich ihr den einzigen Gefallen getan, den ich tun konnte. Ich habe ihn umgebracht.« »Erzählen Sie das dem Sheriff? Wenn nicht, dann tu’s ich.« Wir gingen zum Haus zurück. Ich fuhr mit meinen Eltern in die Stadt, während Jennifer mit Sheriff Lens sprach. Auf der Fahrt sahen wir für einen Augenblick am Waldrand unseren prächtigen Zwölfender. Mein Vater wollte, daß ich anhalte, damit er sein Jagdglück versuchen konnte, aber ich fuhr weiter.« »Danach haben mich meine Eltern nie wieder in Northmont besucht«, schloß Dr. Sam Hawthorn. »Sie haben behauptet, das Stadtleben sei wesentlich sicherer. Ah, die Flasche ist leer. Aber wenn Sie das nächste Mal wiederkommen, ist eine neue da. Dann erzähle ich Ihnen, wie Sheriff Lens letztendlich doch mal einen Fall ganz allein gelöst hat.«
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Nachweise »Frühlingsfieber« von Dorothy Salisbury Davis, Originaltitel: »Spring Fever«, © 1952 by Dorothy Salisbury Davis. © erneuert 1980 von Dorothy Salisbury Davis. Zuerst erschienen in »Ellery Queen’s Mystery Magazine«. »Dwindle, Peak und Pine« von Joyce Harrington, Originaltitel: »Dwindle, Peak and Pine«, © 1989 by Joyce Harrington. »Kleine Katze – Großer Schnurrbart« von Lilian Jackson Braun, Originaltitel: »A Cat Too Small for His Whiskers«, © 1988 by Lilian Jackson Braun. Reprinted by permission of the author. »Der weiße Tod« von Justin Scott, Originaltitel: »The White Death«, © 1989 by Justin Scott. »Besuch für Mombasa« von James Holding, Originaltitel: »A Visitor to Mombasa«, © 1974 by H. S.D. Publications. Reprinted by permission of the author and Scott Meredith, the author’s agent. Zuerst erschienen in »Alfred Hitchcock’s Mystery Magazine«. »Eine gute Geschichte« von Donald E. Westlake, Originaltitel: »A Good Story«, © 1984 by Donald E. Westlake. Zuerst erschienen in »Playboy Magazine«. »Töte nie ein Tier zum Scherz…« von Dick Stodghill, Originaltitel: »Best Evidence«, © 1988 by Dick Stodghill. »Spuren im Mais«, von Joan Richter, Originaltitel: »Intruder in the Maize«, © 1967 by Davis Publications, Inc. Zuerst erschienen in »Ellery Queen’s Mystery Magazine«. »Die Hochebene« von Clark Howard, Originaltitel: »The Plateau«, © 1984 by Davis Publications, Inc. Zuerst erschienen in »Ellery Queen’s Mystery Magazine«.
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»Der entlaufene Hund« von Isaac Asimov, Originaltitel: »The Lost Dog«, © 1988 by Davis Publications, Inc. Zuerst erschienen in »Ellery Queen’s Mystery Magazine«. »Nachbarn« von Hope Raymond, Originaltitel: »Neighbors«, © 1989 by Davis Publications, Inc. Zuerst erschienen in »Alfred Hitchcock’s Mystery Magazine«. »In stürmischer Höhe« von Margaret Maron, Originaltitel: »On Windy Ridge«, © 1984 by Davis Publications, Inc. Reprinted by permission of the author. Zuerst erschienen in »Alfred Hitchcock’s Mystery Magazine«. »Der Zug der Störche« von Edward Wellen – Josh Patcher, Originaltitel: »Stork Trek«, © 1985 by Edward Wellen und Josh Patcher. Reprinted by permission of the authors. Zuerst erschienen in »Alfred Hitchcock’s Mystery Magazine«. »Ein Geschenk der Götter« von Gahan Wilson, Originaltitel: »A Gift of the Gods«, © 1984 by Gahan Wilson. Zuerst erschienen in »Playboy Magazine«. »Das Geheimnis der Jagdhütte«, von Edward D. Hoch, Originaltitel: »The Problem of the Hunting Lodge«, © 1983 by Edward D. Hoch. Zuerst erschienen in »Ellery Queen’s Mystery Magazine«.
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