Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 577 Pers-Mohandot
Die letzte Zuflucht von Horst Hoffmann Jagd auf den Mörder der Per...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 577 Pers-Mohandot
Die letzte Zuflucht von Horst Hoffmann Jagd auf den Mörder der PersOggaren In den mehr als 200 Jahren ihres ziellosen Fluges durch die Tiefen des Alls haben die Bewohner und Crewmitglieder des Generationenschiffs SOL mannigfaltige Gefahren und Abenteuer bestehen müssen. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit der Zeit ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangt ist, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, im Jahre 3804 Solzeit, geht es bei den Solanern nicht mehr um interne Machtkämpfe – sie wurden mit dem Amtsantritt von Breckcrown Hayes, dem neuen High Sideryt, gegenstandslos –, sondern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung. Da geht es um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X, einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat. Jetzt glaubt man, den großen Gegenspieler endgültig stellen zu können, doch man irrt sich. Indessen verfolgt der HORT mit Insider und dem Multibewußtsein den Mörder der Pers-Oggaren – bis an DIE LETZTE ZUFLUCHT …
Die Hauptpersonen des Romans: Oggar - Das Multibewußtsein auf der Jagd nach dem Mörder der Pers-Oggaren. Insider - Der Kowallek sieht seinen Heimatplaneten wieder. Zeeth und Carna - Zwei Chatoris. Bati-Phar - Ein junger Mutant. Hapeldan - Der Schalter wird gestellt.
Prolog Du hörst mich, Meister! Du mußt mich hören, wie du mich immer gehört hast! Du antwortest mir nicht mehr, weil ich abermals versagt habe. Hapeldan ist für dich wertlos geworden, er existiert nicht mehr! Aber er lebt, und um dieses Leben wird er kämpfen! Es hat sich etwas geändert, Hidden-X! Ich arbeitete für dich und gab mein Bestes. Daß ich dabei scheiterte, lag nicht an mir. Du hättest mich besser unterstützen sollen! Ich bin frei, du hast keine Macht mehr über mich. Selbst das provoziert dich nicht zu einer Entgegnung, zu einem Zeichen? Du sollst sehen, wozu Hapeldan fähig ist, wenn er nicht gezwungen ist, auf höhere Weisungen zu warten, sondern Herr seiner selbst! Sie werden wiederkommen, ich weiß es. Sie werden mich jagen, bis entweder sie oder ich ausgelöscht sind. Sie werden es sein, nicht ich, Hidden-X. Ich brauche dich nicht mehr, keine Hilfe von jemandem, der von Anfang an nur an sich selbst gedacht hat! Aber meinen Triumph, den werde ich dir entgegenschreien!
1. Zeeth beobachtete aus einem Versteck heraus, wie sie sich zusammenrotteten. Anders konnte er das vollkommen ungeordnete
Zusammenströmen der Stammesmitglieder nicht bezeichnen. Der Mursta-Ohn schlug die Trommel wie immer, wenn die beiden Himmelsboten sich am dunklen Firmament trafen. Doch nur einer von ihnen leuchtete auf die Ebenen herab. Das Große Auge würde noch zehn mal zehn Mal aufblühen müssen, bevor die Himmelsboten sich erneut vermählten. Alles war anders geworden, seitdem der Fremde erschienen war. Sie sind besessen! dachte Zeeth. Unterschwellig empfand er bei diesem Gedanken Angst. Er fürchtete sich nicht vor dem Stamm. Kein Chatori hatte jemals einen anderen angegriffen oder gar getötet. Schlimmer war, daß er nicht wußte, warum ausgerechnet er offenbar als einziger noch nicht von der Besessenheit der anderen angesteckt war. Das bereitete ihm schlaflose Nächte. Dann lag er in seiner Mulde und grübelte darüber nach, wer denn nun an seinem Geist litt – er oder sie? Er wußte mit Bestimmtheit nur eines: Noch nie hatte ein Chatori so gesprochen, wie der Klaaht-Ohn es nun gleich wieder tun würde. Die Trommeln verstummten. Nur der Himmelsbote beschien den Sammelplatz zwischen den Hütten von oben herab, und es war, als sollten die überall angezündeten Feuer ihre Flammen zu ihm hinauf schicken. Zeeth hielt den Atem an, als nun auch Ruhe in die Chatoris kam. Ihre schlanken und doch so muskulösen Körper glänzten vom Fett, mit dem sie bestrichen waren. Sie bildeten einen Kreis zwischenden Feuern, der nur zu der Seite hin offen war, in der die Hütte des Klaaht-Ohns stand. Der Stammesführer erschien, und neben ihm ging der Fremde. Zeeth zog sich etwas tiefer in sein Baumversteck zurück, aus Angst davor, der Fremde mit den silbrig schimmernden Haaren könnte ihn sehen. Der Fremde war kein Chatori, er war nicht einmal auf den Ebenen geboren worden, sondern vom Himmel gefallen. Er glich den Chatoris an Gestalt, war nur einen Kopf größer und etwas breiter.
Dazu kam, daß er seinen Körper mit seltsamen Stoffen bedeckte. Völlige Ruhe trat ein. Die Nachtvögel verstummten in ihrem Gesang. Die Leuchtkäfer verschwanden. Selbst das Rauschen der Blätter erstarb, als gehorchten die Winde dem Willen des Fremden. Der Klaaht-Ohn trat in die Mitte des Kreises und hob beide Arme. »Chatoris!« rief er. »Ihr seid hier, weil ihr wißt, daß nicht nur wir von mächtigen Feinden bedroht sind, sondern alle unsere Ebenen! Ihr kamt, um zu hören, was wir zu unserem Schutz tun können! Nun, nachdem ich weiß, wie grausam und stark unsere Gegner sein werden, gibt es darauf nur eine Antwort: Kampf!« Zeeth glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Auch unter den Zusammengeströmten wurde Bestürzung laut. »Hört mich an!« rief der Klaaht-Ohn noch lauter. Der Fremde stand mit verschränkten Armen hinter ihm und drehte nur den Kopf dorthin, wo der Unmut am größten war. Wen seine Blicke trafen, der hockte sich nieder und schwieg. »Wir alle wollen es nicht, aber wir müssen es!« fuhr der Stammesführer fort. »Unser Freund nahm mich mit in seinen Himmelswagen und zeigte mir Bilder von jenen, vor denen er warnte. Es waren lebende Bilder, ein großer Zauber. Ich sah andere Ebenen, von deren Vorhandensein wir nie etwas ahnten. Ich sah Geschöpfe, die sie bewohnten, und sie waren weder Chatoris noch Tiere, die wir kennen. Sie lebten jedoch wie wir in Frieden miteinander, bis die Angreifer aus der Schwärze zu ihnen kamen und sie töteten oder verschleppten.« Wieder ertönten Schreie. »Kein Chatori kann einen anderen töten!« kam es von einem der Nomaden im Kreis. »Die Fremden sind keine Chatoris!« antwortete der Klaaht-Ohn. »Sie sind seelenlose Mörder, schlimmer als jedes Raubtier in unseren Wäldern, denn sie töten aus Gier. Wenn sie erscheinen, müssen wir alle gewappnet sein! Ihr kennt die Kräfte, die in euch schlummern. Es ist leicht, ein Wild damit zu erlegen. Die Fremden abzuwehren, wird ungleich schwerer sein. Ich will daher, daß ihr nun hier
zusammenbleibt und euch von unserem Freund sagen laßt, wie wir den Bestien begegnen. Jede Gruppe, die von einem anderen Stamm zu uns kam, soll einen aus ihrer Mitte schicken, um sein ganzes Volk zu holen. Nur eine Streitmacht, wie die Ebenen sie niemals zuvor sahen, kann das Verderben verhindern!« Zeeth kannte solche Worte nicht, obwohl ihre Bedeutung ihm auf Anhieb bewußt wurde. Er fror trotz der Schwüle der Nacht. Und er glaubte dem Klaaht-Ohn nicht. Es konnte keine von Grund auf bösen Wesen geben – auch wenn sie von weither kommen sollten. Was Zeeth dumpf geahnt hatte, wurde jetzt zur schrecklichen Gewißheit für ihn. Er verstand nicht, was der Silberhaarige von den Chatoris wollte. Dafür wurde ihm um so klarer, daß nur er das Verderben über den Stamm bringen würde, wenn es niemanden mehr gab, der seinem unheilvollen Wirken Einhalt gebieten konnte. Der Klaaht-Ohn war ihm hörig. Und nun, als der Fremde selbst vortrat und sich zu reden anschickte, war kein Laut des Unmuts mehr aus den Reihen der Umstehenden zu vernehmen. Zeeth wollte nicht hören, was er zu sagen hatte. Er ertrug den Anblick seiner wie willenlos dastehenden Gefährten nicht länger. Lautlos kletterte er aus dem Baum und schlich sich im Schutz der Schatten zu seiner etwas abseits gelegenen Hütte. Er schrak heftig zusammen, als er etwas im Dunkeln rascheln hörte, warf sich herum und wollte fliehen, als eine Hand sich um sein Gelenk legte und ihn zurückhielt. »Bleib doch!« flüsterte eine vertraute Stimme. »Ich habe fast den Verstand verloren, als ich voller Angst auf dich wartete.« Carna! durchfuhr es den Jäger. Er ließ sich von der Gefährtin in die Hütte führen und zog mit einer Hand das Tuch vor dem Eingang herunter. Mit der anderen drückte er Carna fest an sich. Erleichtert stellte er fest, daß sie am ganzen Leib zitterte – denn hieß das nicht, daß auch sie noch frei in ihrem Denken war?
Ihre vorwurfsvollen Worte ernüchterten ihn auf der Stelle. »Warum bist du nicht bei den anderen?« flüsterte sie heftig. »Ich wollte gehen, aber die Sorge um dich ließ mich nicht ruhen. Zeeth, beim Auge des Lichtes, du bringst uns beide durch deine starrköpfige Haltung noch in Gefahr.« Er ließ sie los und kroch zu seiner Schlafmulde. »In Gefahr?« fragte er, enttäuscht und mit bissigem Spott in der Stimme. »Ich denke, er will uns nur beschützen?« »Du sollst nicht soviel denken, denn er ist weiser als wir alle. Er ist der Sohn der Himmelsboten.« Dieser Frevel übertraf alles andere! Carna war also auch schon besessen. Zeeths Hand berührte die lehmige Erde dort, wo sein Schatz vergraben war. Plötzlich war es ihm, als spürte er ein feines Kribbeln in den Fingern. Er zog sie zurück, hielt so einen Augenblick in geduckter Haltung inne und schob die Hand langsam wieder heran. Sofort war das Kribbeln wieder da, und diesmal durchlief es seinen ganzen Körper. Sollte es möglich sein, daß der Stein ihn – schützte? Mit beiden Händen begann er zu graben. Carna kniete sich neben ihn und schüttelte den Kopf. »Was tust du da?« wollte sie wissen. »Zeeth, es ist noch nicht zu spät! Wenn es erst auffällt, daß wir nicht bei …« »Noch nicht zu spät«, wiederholte er ihre Worte. »Vielleicht hast du recht.« Er hatte das Bündel freigelegt und zog es heraus. Wie in einem feierlichen Akt wickelte er die Tücher von dem Stein, der im Dunkel der Hütte bläulich zu schimmern begann. Carna stieß einen Schrei aus und wich zurück. »Aber das ist ein Splitter der Schlummernden Macht, Zeeth! Wirf ihn fort! Er wird dich umbringen mit seiner Kraft!« Sie rang nach Luft. Erst jetzt begriff sie. »Du … hast auf ihm geschlafen? Alle die
vielen Nächte, die wir beide hier …?« Auf ihm geschlafen, dachte er. Und das viel länger, als du glauben magst, Carna. Nur der Stein kann mich unempfänglich für das Fremde gemacht haben. Er erhob sich, den Schatz mit beiden Händen fest umschlossen. »Ich habe ihn seit meiner Kindheit«, flüsterte er. »Niemand wußte davon – bis jetzt. Und auch du wirst nichts verraten, hörst du?« Sie wich bis zum Eingang zurück, als er sich zu ihr umdrehte. »Was willst du tun?« ächzte sie. »Ich werde sie wecken«, sagte der Jäger, kaum hörbar. »Wenn es etwas gibt, das uns vor unvorstellbarem Leid bewahren kann, dann ist es die Schlummernde Macht.« Das Leuchten des Steines drang durch die Lücken zwischen seinen langen, schlanken Fingern. In ihm war zu sehen, wie es in Carnas Gesicht arbeitete. »Übergib ihn!« forderte sie. »Gib ihn dem Mursta-Ohn, unserem Zauberer. Er wird dafür sorgen, daß er dorthin zurückgelangt, wo er hingehört.« Sie standen sich gegenüber und blickten sich in die Augen, ein stummes Kräftemessen. Dann schlug sie die Lider nieder. »Ich werde mich jetzt auf den Weg machen«, verkündete Zeeth. »Wenn dir unsere Partnerschaft je etwas bedeutet hat, dann schweige über das, was du gesehen hast. Wenn du aber glaubst, daß die Macht des Fremden größer ist als die Schlummernde Macht in den Bergen, dann laufe zu ihm und verrate mich.« Er preßte die Lippen fest aufeinander. »Nein!« stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Warne ihn!« Blitzschnell nahm er den faustgroßen Stein zwischen drei Finger und hielt ihn direkt vor Carnas Gesicht. Sie schrie auf und taumelte zurück. Zeeth tat es in der Seele weh, daß er ihr Schmerzen zufügen mußte, aber er hatte keine andere Wahl. Er schlug das Tuch vor dem Eingang zurück und huschte aus der Hütte. Carna folgte ihm nicht. Im Schatten eines Baumes richtete der
Chatori sich auf, und erst da wurde ihm bewußt, in welches Abenteuer er sich stürzte. Die Schlummernde Macht zu wecken, das war etwa so, als wollte ein Zauberer Orkane entfesseln und das Feuer aus den Herzen der Berge locken. Und der Weg zum Tal der Macht war mit Gefahren ohne Zahl gesät. Die Stimme des Fremden wurde von jäh auffrischenden Winden zu Zeeth herübergetragen: »Und deshalb, Chatoris, seid bereit! Ich werde euch darin unterweisen, eure Kräfte gegen die Bestien aus der Schwärze einzusetzen!« Kräfte des Geistes, die, taten sich nur genügend Chatoris zusammen, Berge zum Einsturz zu bringen vermochten. »Ich werde als euer wahrer Freund und Beschützer dafür sorgen, daß euch kein Leid von ihnen geschieht! Ich, der aus der Vermählung der Himmelsboten geboren wurde!« Zeeth rannte davon, fort von den Hütten. Das letzte, das die Winde hinter ihm hertrugen, war noch einmal die verzerrt klingende Stimme eines Chatoris – des Klaaht-Ohns: »Sage uns deinen Namen, Sohn der Himmelsboten!« Und der Fremde antwortete nur mit einem Wort: »Atlan!«
2. Insider war daran gewöhnt, daß Oggar sich ausschwieg, wenn er eine Antwort auf seine Fragen gerade am nötigsten brauchte. Was er jetzt aber erlebte, hatte nichts Geheimnisvolles an sich. Es war ja abzusehen gewesen, daß das Multiwesen die Ereignisse der letzten Tage und Wochen nicht ohne Nachfolgeerscheinungen überstehen würde.
Aber das war noch lange kein Grund, den Extra darüber im unklaren zu lassen, was denn nun eigentlich in Oggar vorging. Insider kam sich wieder einmal alleingelassen vor, einsam an Bord des HORTS. Dabei sollte er erst noch kennenlernen, was Einsamkeit wirklich bedeutete. In seiner Verzweiflung drehte sich der Grünhäutige zum Mnemodukt um. Die acht Meter große Kugel schwebte bewegungslos einen Meter über dem Zentraleboden. »Was geschieht mit ihnen?« fragte er heftig. »Warum antworten sie nicht? Mnemodukt, wenn sie schon wieder ein Experiment machen, um Hapeldan zu finden, dann sag es mir.« Dem war nicht so, und er wußte es. Ogger hätte ihn informiert und zu erhöhter Wachsamkeit aufgefordert. Es war nur wenige Stunden her, daß der HORT aus der Galaxis Pers-Mohandot aufgebrochen war, nachdem der Impuls des Kontakters eingetroffen war. Was das bedeutete, war nur zu klar: Hapeldan hatte das Flekto-Yn erreicht oder befand sich zumindest in dessen unmittelbarer Nähe – in der Aura von Hidden-X. Das Mnemodukt besaß die Koordinaten dieses Ortes. Der HORT jagte dem Ziel mit hohem Überlichtf aktor entgegen. Oggar hätte hellwach sein müssen. Sein ganzes Trachten galt dem Wiederauffinden desjenigen, der sein Volk ausgelöscht hatte. Statt dessen hing der androide Körper schlaff im Pilotensessel und reagierte auf nichts mehr. »Ich kann nicht ausschließen«, erklärte das Mnemodukt endlich, »daß er an den Folgen der vorangegangenen psychischen Belastungen stirbt.« Insider starrte die Kugel an, dann das Mischwesen. »Du meinst … sie alle drei? Ogger und Sternfeuer und Carch?« »Sie sind eine Einheit.« Insider spürte, wie seine Knie schwach wurden. Er mußte sich setzen, legte die Arme über die Lehne und schüttelte den Kopf.
Auf den Bildschirmen war Pers-Mohandot zu sehen, wie es allmählich zu einem Nebelfleck in der Unendlichkeit wurde. Der Impuls des Kontakters war aus 36,7 Lichtjahren Entfernung gekommen. Nicht einmal ein Zehntel davon hatte der HORT zurückgelegt. »Es kann doch nicht so einfach zu Ende gehen!« begehrte der Extra auf. »Oggar hat Kräfte, die er mobilisieren kann. Er war völlig normal, als wir aufbrachen. Wir hätten uns nie von der SOL trennen sollen! Warum konnten wir nicht mit ihr gemeinsam fliegen, wo unser Ziel das gleiche ist!« Als hätten seine Worte etwas bei Oggar bewirkt, richtete sich der Androidenkörper ruckhaft auf. Insider war sofort bei ihm, und er sah, welche Kraft es Oggar kostete, den Kopf zu heben. »Die SOL kann uns nicht helfen«, stieß das Mischwesen hervor. »Du weißt gut genug, daß wegen der verschiedenen Antriebssysteme jeder für sich allein fliegen muß. Und außerdem …« Ein neuer Schwächeanfall ließ Oggar zurücksinken. »Außerdem was?« fragte Insider schnell. »Außerdem bin ich nicht Atlans Anhängsel, auch wenn wir gegen den gleichen Feind kämpfen.« »Du kannst kaum noch reden, aber deinen Stolz hast du dir bewahrt!« rief der Extra anklagend aus. »Vielleicht denkst du auch einmal an Sternfeuer und Carch, die so bald wie möglich in ihre Körper zurückwollen!« »Sie sind erloschen«, antwortete ihm Oggar. Insider brauchte Sekunden, bis ihm klar wurde, daß das Mnemodukt II zu ihm gesprochen hatte – jene kleinere Positronik in Oggars Bauchhöhle. »Was soll das heißen, erloschen?« »Ich erhalte keine Befehle des Bewußtseins mehr.« Insiders erster Gedanke war: Ich habe ihn überfordert! Doch als ob die Körperpositronik seine Gewissensnöte spürte, fügte sie noch hinzu, bevor auch sie verstummte:
»Oggar, Sternfeuer und Carch sind nicht tot. Sie schweigen nur, und das in allen Bereichen.« Oggar würde sterben, wenn es nicht gelang, ihn aus seinem Dämmerzustand zu reißen. Der HORT raste auf den Standort des Flekto-Yns zu. Ohne Oggar war er verloren. »Laß das Schiff stoppen!« befahl Insider der großen Kugel. »Wir fliegen erst weiter, wenn sich Oggars Zustand gebessert hat!« Das Mnemodukt gehorchte. Es erkannte Insider nun als einzige Autorität an. »Versuche, einen Funkkontakt zur SOL herzustellen, Mnemodukt!« »Das ist nicht möglich«, antwortete die Positronik. Täuschte sich Insider, oder war da bereits so etwas wie Desinteresse in der seelenlosen Stimme? »Unmöglich ist gar nichts! Du versuchst es weiter!« Die SOL, überlegte der Extra, mußte das Ziel inzwischen schon fast erreicht haben. Und sie war mehr für ihn als nur ein Faktor in einem undurchschaubaren Kräftemessen. Für Sternfeuer war sie die Heimat. Sie war an Bord dieses Schiffes geboren wie auch er. Was Carch anbetraf, lagen die Dinge anders. Die SOL war auch Insiders Zuhause, aber … Insider hatte erst vor kurzem durch das Logbuch der SOL erfahren, woher er kam – wenn in dem entsprechenden Eintrag auch nur die Geschichte seiner Vorfahren geschildert war. Sie waren Angehörige eines Volkes gewesen, das sich »Kowalleks« nannte. Ihren Heimatplaneten, den Versorger der SOL fast zwei Jahre nach der Unabhängigkeit angeflogen hatten, nannten sie liebevoll »Unsere Welt Zwzwko«. Insider wollte ihn einmal in seinem Leben noch sehen. Er schalt sich selbst einen Narren, als ihm bewußt wurde, daß er bereits dabei war, auch sich aufzugeben. Er rüttelte an Oggars reglosem Körper.
»Das nützt dir nun auch nichts mehr«, war die Stimme des Mnemodukts zu vernehmen. »Er wird dir nicht mehr antworten. Das Mnemodukt II hat sich selbst desaktiviert, nachdem es die Sinnlosigkeit jeglicher Rettungsversuche einsehen mußte.«
* Mehrere Stunden waren verstrichen, Stunden des Wartens, der quälenden Ungewißheit und Hilflosigkeit. Insider hatte die Zentrale kein einzigesmal verlassen. Immer wieder sah er zu Oggar hinüber, doch das Mischwesen rührte sich nicht. Der Androidenkörper hing im Sitz wie tot. Insider wurde immer verzweifelter. Er wollte etwas tun und konnte es nicht. Der HORT stand fahrtlos im Leerraum zwischen den Galaxien. Dann kam der Moment, in dem auch das Mnemodukt I sich abschaltete, ohne daß es es für nötig gehalten hätte, eine Erklärung abzugeben. Insider war nun wirklich allein. Ohne die Positronik blieben ihm kaum noch Möglichkeiten, den HORT zu steuern. Er fühlte sich von allen im Stich gelassen. »Irgend jemand muß mich doch hören!« schrie Insider in höchster Verbitterung. »Mnemodukt, Schiff!« Keine Antwort. In einem Aufwallen von Zorn warf sich der Extra auf die Kontrollen und schlug auf die empfindlichen Tasten, als wollte er sie in die Paneele treiben. Der HORT reagierte nicht. Nur Bildschirme verdunkelten sich. Und die Zentrale wurde zum Gefängnis, als alle Schotte wie auf ein geheimes Kommando zufuhren. Insider versuchte nicht länger, gegen das in ihm aufkommende Endzeitgefühl anzukämpfen. Er sank unter der Kugel des
Mnemodukts zu Boden und wünschte sich, sie möge auf ihn herabstürzen und ihm ein schnelles Ende bereiten. Flach auf dem kalten Boden liegend, sah Insider den HORT als Geisterschiff, für immer im Leerraum treibend. Irgendwann mochten fremde Raumfahrer ihn entdecken, durchsuchen und eine verweste Leiche finden. Nein! Etwas in ihm bäumte sich auf. Er lebte noch, und er würde viele weitere Tage durchstehen, in diesem unheimlichen Raumschiff. Seine Gedanken glitten ab. Er dachte an Cpt'Carch, in dessen dahindämmerndem Bewußtsein sich möglicherweise jetzt ähnliche Vorgänge abspielten wie nun in dem seinen. Carch wußte nicht, woher er stammte. Schlimmer noch – er wußte nicht einmal, wohin ihn der Pfad seiner Entwicklung noch treiben mochte. Carch, den Insider liebgewonnen hatte, lebte in einer seltsamen Zustandsform. Er hatte an Bord der SOL immer wieder beteuert, noch nicht richtig geboren zu sein, dann, nach seiner Integration in Oggar, ausgesagt, er wäre nun wirklich geboren. Carch hatte das widerrufen. Was immer auch er von seiner nächsten Zustandsform erwartete, er hatte es wohl noch nicht gefunden. Insider verfiel, ohne sich dessen noch bewußt zu sein, in eine Art Trance. Bilder drängten sich ihm auf und zogen ihn wie magisch in eine Traumwelt, die ihm vor allem eines gab, das er in der Realität nicht mehr fand: das Gefühl der Geborgenheit. Auch auf der SOL war er für lange Zeit einsam gewesen. Dann kam der Tag, an dem er der Magnidin begegnete …
* Es war am 22. 8. 3791 gewesen. Insider hatte sich das Datum genau gemerkt, denn am Abend dieses Tages wußte er, daß für ihn ein
neues Leben beginnen würde. Dabei ließ es sich zuerst gar nicht gut an. Er gehörte eigentlich zu niemandem. Dann und wann fand er Anschluß an eine Gruppe von Solanern, die seine Fähigkeiten schätzten und ihn aufnahmen, bis es ihn weiterzog. Insider führte ein Vagabundendasein auf der SOL. Die Zeiten, in denen er höllisch darauf achten mußte, nicht unversehens ein paar Monsterjägern vor die Strahler zu laufen, waren zwar vorbei, da das Wirken Atlans und seiner Freunde auf die Solaner nicht ohne Einfluß blieb. Doch für Insider änderte das nicht viel. Mit seinen vier Armen und von Kopf bis Fuß grün, war er ein Extra. Nur fühlte er sich nicht als solcher. Er war hier im Schiff geboren und begriff sich deshalb als Solaner. Er ging anderen Extras aus dem Weg, wenn er nur konnte. Manchmal half er ihnen, dann wieder gesellte er sich zu den Buhrlos. Wahre Befriedigung fand er nirgendwo. Er wollte etwas Nützliches tun, seinem Leben einen Sinn geben. Er konnte vieles – warum nicht für die SOL? Was die Bewohner des Schiffes ihm an Freundlichkeit entgegenbrachten, war oft genug ein reines Ausnützen seiner Fähigkeiten. Er empfand es als Verschwendung, brachte es aber nicht über sich, eine Bitte abzuschlagen. Genau das wäre ihm an diesem 22. August beinahe zum Verhängnis geworden. Wieder einmal lebte er bei einer kleinen Gruppe von einfachen Solanern, die sich in einer verlassenen Kabinenflucht einquartiert hatten. Es waren durchweg Jugendliche, die sich bisher hauptsächlich dadurch hervorgetan hatten, daß sie Parolen gegen die Schiffsführung an die Wände sprühten oder kleinere Sabotageakte verübten oder auf Raubzüge gingen. Das war bei allem Übermut noch relativ ungefährlich gewesen, bis sie bei einem Überfall auf Pyrriden zwei Kombistrahler erbeuteten. Insider versuchte, mäßigend auf sie einzuwirken. Zwar hatte auch
er keine besonders großen Sympathien für die SOLAG und trug sich sogar mit dem Gedanken, sich den Basiskämpfern anzuschließen, denen die Jugendlichen nachzueifern vorgaben, wenn auch mit den falschen Mitteln. Für Insider war Gewalt aber keine Lösung. Es ging doch bergauf mit der SOL. Das Chail-Abenteuer lag hinter den Menschen. Die Versorgung funktionierte von Tag zu Tag besser. Magg Notrun, der Anführer der Bande, tat dann auch so, als nähme er sich Insiders Mahnungen zu Herzen. Als der Extra die Wahrheit erkannte, war es zu spät. Die insgesamt elf Rebellen hatten ihre Unterkünfte verlassen, um, wie Notrun vorgab, einen Haematen-Trupp zur Diskussion über die Lage an Bord zu zwingen. Vernünftigen Argumenten, so sagte er, konnten sich die Soldaten der SOLAG nicht für immer verschließen. Das war ganz in Insiders Sinn, wenngleich er sich von der »Aktion« nicht sehr viel versprach. Aber es war ein Schritt auf dem richtigen Weg. Das dachte er, bis Notrun und einer seiner Anhänger die Waffen zogen und die vollkommen überraschten Haematen paralysierten. Das Quartier der Soldaten befand sich in unmittelbarer Nähe einer Versorgungsstelle, die sie zu bewachen hatten. »Sie sind ausgeschaltet«, triumphierte Notrun. »Jetzt holen wir uns soviel aus dem Depot, wie wir auf die dort stehenden Antigravscheiben packen können, und die Haematen nehmen wir mit. Deccon wird eine Menge herausrücken müssen, um sie zurückzubekommen.« Insider starrte ihn an, keiner Worte fähig. »Was ist, Extra?« fragte Notrun bissig. »Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, wir wollten nur mit ihnen reden. Das ist der Beginn des bewaffneten Kampfes gegen die Hunde von der SOLAG, und du steckst mit drin. Also mache dich nützlich und flitze mit deinen schnellen Beinen durch die Korridore, damit wir gewarnt sind, falls Vystiden auftauchen.« »Ihr seid verrückt!« brachte Insider hervor. »Das ist Wahnsinn!
Noch könnt ihr zurück, und wenn ihr Glück habt, war keine Kamera auf euch gerichtet! Bei allen Planeten, lauft …!« Die Solaner lachten nur. Notrun richtete den Strahler auf ihn. »Spare dir dein Geschwätz jetzt, Extra. Tu, was ich dir sage, oder du liegst neben denen da!« Er deutete nur auf die Paralysierten. Insider drehte sich auf dem Absatz um und rannte davon. Hinter ihm lachten und grölten die Möchtegernhelden, die gar nicht zu wissen schienen, in welche Gefahr sie sich brachten. Die Versorgungsstellen wurden ständig überwacht. In der Zentrale mußte man längst wissen, was hier geschehen war. Insider wußte nicht, wie weit er gelaufen war, als er stehenblieb. Was sollte er tun? Er verwünschte Notrun, der ihn so hinters Licht geführt hatte. Andererseits widerstrebte es ihm, die Verrückten nun einfach im Stich zu lassen. Er befand sich in einem Ringkorridor, so daß er die Schritte der anrückenden Vystiden hörte, bevor er sie sehen konnte. Es mußten viele sein, und sie waren gewarnt. Insiders erster Gedanke war, mit ihnen zu reden, sie zu bitten, die Irregeleiteten zu schonen. Die Chancen, daß man auf ihn hörte, waren minimal. Deccon wartete doch nur auf eine Gelegenheit, wieder einmal ein Exempel statuieren zu können. Der Extra machte kehrt und lief zur Versorgungsstelle zurück, wo die Bande gerade damit beschäftigt war, die wertvollsten Güter aus dem hier Gelagerten herauszusuchen und auf die Antigravscheiben zu verladen. Alle vier Eingänge der riesigen Halle standen weit offen. »Aufhören!« schrie Insider. »Hört auf damit! Sie sind im Anmarsch!« »Wir haben aber noch nicht genug«, versetzte Notrun. »Du solltest uns warnen, und das hast du getan. Jetzt sieh lieber zu, daß du ein sicheres Versteck suchst.«
Sie wollten nicht fliehen. Sie wollten wahrhaftig den Kampf! Bevor Insider noch etwas sagen konnte, fuhren drei Schotte zu. Nur noch ein Eingang blieb offen – und das war jener, durch den Insider gekommen war. Und schon waren die Vystiden da. An der Spitze der Schwerbewaffneten stand eine Frau in einem weißen Gewand mit einem Atomsymbol aus Brillanten über dem Herzen. Sie war grauhaarig, und Insider schätzte ihr Alter auf ungefähr 60 Jahre. Sie richtete eine Waffe auf Notrun. »Euer Spiel ist jetzt aus, Kinder«, sagte sie mit klarer, fester Stimme, die es gewohnt war, Befehle zu erteilen. »Werft die Waffen zu uns herüber und macht keine Dummheiten.« Notrun lachte wieder. Insider stand zwischen den Parteien und sah sich wie gehetzt um. Hinter ihm Notrun und seine Anhänger eng zusammengeschart, vor ihm eine Wand aus kräftigen Leibern. Mindestens zwanzig Strahler waren auf die Rebellen gerichtet. Sie besaßen nicht den Hauch einer Chance. Einer nach dem anderen traten die Solaner mit erhobenen Händen zu den Soldaten. Nur Notrun und der zweite Bewaffnete rührten sich nicht von der Stelle. »Braucht ihr eine besondere Einladung?« fragte die Magnidin scharf. »Es hat keinen Sinn«, sagte Notrun zu seinem Nebenmann, machte ihm ein Zeichen und ließ den Strahler sinken, aber nicht aus der Hand fallen. Insider stand noch immer an seinem Platz, als die beiden nun wie resignierend auf die Magnidin zugingen. Notrun war auf gleicher Höhe mit dem Extra, als dieser das kurze Aufblitzen in seinen Augen wahrnahm. Insider reagierte blitzschnell, als der Besessene die Hand mit der Waffe hochriß und schrie: »Ich will sehen, was ihr Hunde tut, wenn eure Chefin tot am Boden liegt!«
Insider sprang und schlug Notruns Arm zur Seite. Der grelle Energiestrahl fuhr neben den wartenden Vystiden in eine Wand und brannte ein fingerdickes Loch. Zu einem zweiten Schuß kam der Solaner nicht. Ein Faustschlag gegen die Schläfe ließ ihn bewußtlos zu Boden gehen. Insiders dritte Hand entwaffnete den anderen. Das alles geschah so schnell, daß der Extra den SOLAG-Leuten wie ein wirbelndes Phantom vorkommen mußte. Notrun wurde in die Höhe gezerrt und weggetragen, seine Anhänger abgeführt. Nur die Magnidin blieb in der Halle zurück. Langsam kam sie auf Insider zu, der sich darüber wunderte, daß er ungeschoren geblieben war. Sie streckte im eine Hand entgegen. »Du hast mir das Leben gerettet, aber du gehörtest zu ihnen«, sagte sie ernst. Insider schluckte, sah die dargebotene Hand und war sich sehr wohl über die Bedeutung der Geste im klaren. Zögernd berührte er sie. »Ich lebte nur bei ihnen«, brachte er hervor. Der Blick der schlanken Frau irritierte und bannte ihn gleichermaßen. Sie war elegant in ihrem Äußeren wie in ihren Bewegungen. Hatte er sich so eine Magnidin vorgestellt? »Wie heißt du?« fragte sie weiter, offenbar dazu aufgelegt, sich ausführlicher mit ihm zu unterhalten. »Von welchem Planeten stammst du?« Insider begriff das alles nicht. Natürlich, er hatte ihr vermutlich wirklich das Leben gerettet. Doch rechtfertigte das dieses Interesse an ihm? Alles, was er gehofft hatte, war, daß sie ihn laufenließ. Dann begriff er, welche Gelegenheit sich ihm hier und jetzt bot. »Zwzwko«, sagte er langsam. »Aber das kann keiner aussprechen, und alle nennen mich deshalb nur Extra oder Grüner. Und woher ich stamme, weiß ich nicht. Ich bin schon ewig auf der SOL.« Er sagte nicht: auf der SOL geboren. So klang es interessanter, fand er. Und interessant wollte er sich für die Magnidin ja machen.
»Du hast keine Eltern mehr?« »Nein«, antwortete er. »Ich bin allein.« Für Sekunden betrachtete sie ihn schweigend. »Zwzwko«, versuchte sie dann, diesen Zungenbrecher über die Lippen zu bringen. »Das ist wirklich nicht leicht. Du bist sehr schnell. Du sprichst unsere Sprache jedenfalls besser als wir wohl die deine.« Sie lachte erheitert. »Du scheinst ein wahres Sprachengenie zu sein. Was kannst du noch?« Er sagte es ihr und übertrieb dabei leicht. Unaufgefordert berichtete er dann über sein Vagabundendasein und seinen großen Wunsch, einmal etwas wirklich Sinnvolles tun zu dürfen. Wieder sah sie ihn lange an, und er fieberte ihrer Antwort entgegen. Als sie endlich kam, wäre er dieser Frau vor Freude fast um den Hals gefallen. »Schön, mein vierarmiger Freund. Ich denke, du hast dir eine Chance verdient. Ich werde mich deiner annehmen und sehen, was sich aus dir machen läßt. Zuerst aber brauchst du einen Namen, den auch wir Menschen aussprechen können. Wie wäre es denn mit – Insider?« »Insider?« fragte der Extra verblüfft. Sie zuckte die Schultern. »Das bedeutet soviel wie Dabeisein, eingeweiht. Und wenn du das hältst, was ich mir von dir erhoffe, wirst du über kurz oder lang ziemlich weit oben stehen.« Und damit hatte er seinen Namen, der schon bald darauf vielen Solanern geläufig sein sollte …
* Insider erwachte aus seinen Träumen und sah das Mnemodukt wieder über sich schweben. Für Augenblikke hing er den Erinnerungen noch nach und dachte daran, wie Brooklyn ihn nach
und nach aufgebaut und schließlich zum Stabsspezialisten vorgeschlagen hatte, nachdem Breckcrown Hayes neuer High Sideryt geworden war. Brooklyn war weit. Die SOL war weit. In einem Anflug von Trotz richtete Insider sich auf, versetzte dem Mnemodukt einen Stoß und ging zu Oggar. Er rüttelte an den Schultern des erschlafften Körpers. »Carch! Sternfeuer! Gebt mir wenigstens irgendein Zeichen, daß ihr noch lebt! Mnemodukt, ich befehle dir, dich wieder zu aktivieren!« Alles blieb so still wie vorher. Insider stützte sich auf ein Schaltpult und starrte ins Leere.
3. Zeeth marschierte und lief die ganze Nacht hindurch, und als das Große Auge aufblühte, tat es das über den nun schon bereits schwach erkennbaren Bergen im Osten. Der Chatori machte erst Rast, als er eine Anhöhe erreicht hatte, von der er auf den Weg zurückblicken konnte, den er gekommen war. Vom Dorf war längst nichts mehr zu sehen. Andere Siedlungen gab es in diesem Gebiet nicht. Die gewaltigen Ebenen waren meist ringförmig von dichten und hohen Wäldern umsäumt, so daß sie fast aussahen wie Seen. Zeeth atmete die würzige Luft, wischte sich Schweiß aus dem Gesicht und trank aus einer der hier zahlreichen Springquellen. In den Bergen, so hieß es, gab es noch mehr davon. In den Bergen gab es überhaupt merkwürdige Dinge, wenn man den Alten glauben durfte. Zeeth schauderte bei dem Gedanken daran. Es war zu spät zur Umkehr. Der junge Chatori suchte sich eine Handvoll Beeren zusammen und zerdrückte sie mit der Zunge. Wer
wie er oft zehn Tage und länger allein auf der Jagd war, wußte genau, welche Früchte nicht nur den schlimmsten Hunger stillten, sondern auch Kraft gaben, heilten oder Träume schenkten. Zeeth blieb eine Weile im saftigen Gras sitzen und betrachtete seinen Stein. Unwillkürlich drängten sich ihm dabei die Erinnerungen auf. Er war ein Kind gewesen und noch nicht einmal mit den Narben der Heranwachsenden versehen, als er den Stammeslosen unweit des Dorfes fand. Alle seine Spielgefährten flohen beim Anblick des von Gelbpocken übersäten Alten mit den zottigen, blauschwarzen Haaren und den leeren Augenhöhlen. Nur er blieb stehen, wie von einer geheimnisvollen Macht eingefangen, und näherte sich dem Fremden sogar. Toth-Omonn war vom Tod gezeichnet und suchte nur noch einen würdigen Platz zum Sterben. Er hatte keine Augen mehr und sah doch besser als jeder Gesunde. Nie würde Zeeth die Worte vergessen, die er ihm gesagt hatte: »Ich sehe nicht die Gestalt eines Chatoris, sondern sein Herz.« Was er damit gemeint hatte, war Zeeth erst viel später klargeworden. Und erst jetzt schienen auch Toth-Omonns weitere Worte einen Sinn zu erhalten. Zeeth hörte sie wieder, als trüge der Wind sie ihm geradewegs von den Bergen zu, wo der alte Mann den größten Teil seines langen Lebens verbracht hatte: »Ich sehe in dir, daß eines Tages du es sein wirst, der über die Zukunft vieler Stämme entscheiden muß. Das Leben eines jeden Chatoris ist vorgezeichnet, und auf wundersame Weise offenbaren sich mir seine Linien. Die deinen weisen darauf hin, daß der Herr der Ewigen Ebenen dir eine besondere Bedeutung beigemessen hat. Nimm diesen Stein von mir und verstecke ihn gut. Hüte ihn wie deine Seele und sprich zu niemandem von ihm und von mir. Es wird der Tag kommen, an dem das Unheil über den Häuptern der Stämme lastet, an dem das Böse in die Herzen der Chatoris einzieht. Dann nimm den Stein und wecke die Schlummernde Macht in den
Bergen, von der er ein Splitter ist.« Zeeth hatte das Geschenk des Todgeweihten genommen und getan, wie ihm geheißen, obwohl ihm unheimlich dabei war. Er hatte Toth-Omonn nie wiedergesehen und seinen Namen erst später erfahren, als man im Dorf davon sprach, daß einer der Ewigen Wächter von den anderen aus ihrem Kreis verstoßen worden war, nachdem ihn die Gelbpocken befallen hatten. Zeeth hatte geschwiegen und begonnen, die Wächter der Schlummernden Macht zu verachten, weil ihr Handeln ihm grausam und unwürdig erschien. Oft hatten ihn schlimme Träume gequält, bis er sich daran gewöhnte, auf dem Stein zu schlafen. Schließlich vergaß er ihn fast. »Er wird dir den Weg zur Schlummernden Macht zeigen, ohne daß du etwas dazuzutun brauchst«, waren die letzten Worte des Alten gewesen. Zeeth stand auf und schlug seinen Schatz wieder in die Tücher, kniff die Augen zusammen und warf einen letzten Blick auf die Ebenen. Von Verfolgern war nichts zu sehen. Vielleicht erfüllte sich seine Hoffnung, und der Stein hatte auch Carnas Geist vom Dunkel befreit. Er wünschte es sich um ihrer und seiner Zukunft willen, doch er verließ sich nicht darauf. Zeeth fühlte sich frisch und lief in leichtem Trab, bis das Große Auge hoch über ihm stand und die Schatten schon wieder länger wurden. Nach kurzer Rast marschierte er weiter, und als die Dunkelheit sich über die Ebenen legte und der Himmelsbote am Firmament erschien, waren die Ausläufer der Berge erreicht. Der Jäger suchte sich ein Versteck für die Nacht. In der Dunkelheit die Ebenen zu durchstreifen, machte ihm nichts aus, solange er sich in vertrautem Gelände wußte. Hier aber war Verbotenes Land. Kein Chatori außer einigen Wächtern war jemals aus den Bergen zurückgekehrt. Nicht einmal die Mursta-Ohns durften es wagen, die
Ebenen zu verlassen. Das war so, solange die Erinnerung zurückreichte. Dabei war das Tal der Macht noch weit. Zeeth schätzte, daß das Große Auge noch zweimal aufblühen würde, bevor er am Ziel war. Er fand eine Höhle und legte sich in ihrem Eingang flach auf den Bauch. Leuchtkäfer umschwirrten sein Haupt. Seltsame Geräusche, wie er sie nie gehört hatte, drangen an seine Ohren. Irgendwo heulten Zarrus, doch auch das klang anders als gewohnt. Zeeth drückte den Stein fest an seine Brust, als könnte dieser die Angst nehmen, die den Chatori mehr und mehr beschlich. Das Heulen schwoll an und verursachte Zeeth bald körperliche Schmerzen. Plötzlich sah er die glühenden Augen der Räuber. Wie von der Schwärze der Nacht ausgespien, tauchten sie auf und umkreisten die Höhle, wobei sie immer näher kamen. Zeeth zog sich weiter zurück und konnte nicht fassen, daß die stachelbewehrten Leiber fast doppelt so groß waren wie alle, die ihm in seinem Leben unter die Augen gekommen waren. Sie hatten ihre Beute gewittert. Ihr Heulen rief ihre Artgenossen herbei. Zwei der Tiere, höchstens drei konnte Zeeth mit der Kraft seines Geistes erlegen. Dann jedoch … Ich sitze in der Falle! durchfuhr es ihn. Der junge Chatori suchte verzweifelt nach einem Ausweg, einem zweiten Ausgang der Höhle oder einem Felsenschacht, in dem er nach oben klettern konnte. Schon steckte der erste Zarru seinen mächtigen Schädel in die Höhle. Einen Augenblick unfähig, sich zu bewegen, starrte Zeeth in den weit aufgerissenen Rachen mit den fingerlangen und messerscharfen Reißzähnen. Der Bann fiel von ihm ab, als die Bestie sprang. Zeeth schrie auf und warf sich zur Seite. Eine Kralle streifte ihn an der Schulter und ließ ihn gegen die Wand taumeln. Schwer und doch so leichtfüßig kam das große Tier auf seinen sechs Beinen auf und warf sich zum nächsten Angriff herum. Stirb! dachte Zeeth und entlud die in einem einzigen Aufwallen
der Panik aufgebauten geistigen Kräfte gegen den Gegner. Aus weit aufgerissenen Augen sah er, wie die Bestie, die Hinterläufe schon zum Sprung gespannt, kraftlos in sich zusammenfiel. Zeeth wartete nicht darauf, daß ihr andere folgten. Geduckt lief er weiter, immer tiefer in die Höhle hinein. Bald mußte er kriechen, um sich nicht den Rücken an den scharfen Felskanten der Decke aufzureißen. Es war stockdunkel. Hinter ihm hob das Geheul wieder an, diesmal noch wütender. Krallen scharrten auf dem nackten Gestein. Nach einem kurzen Blick zurück glaubte der Jäger, sein Herz müßte zerspringen. Aus den glühenden Augen der Zarrus sprach Mordlust. Diese Kreaturen griffen nicht an, weil sie Nahrung brauchten. Sie wollten töten um des Tötens willen. Zum erstenmal geriet Zeeths Glaube ins Wanken, kein Wesen könne von Natur aus böse sein. Das irritierte ihn und ließ ihn für einen Augenblick unaufmerksam werden. Der Zarru zwängte sich durch den nur kniehohen Spalt zwischen Boden und Decke und war über Zeeth, bevor dieser genug Kraft aufbauen konnte, um ihn abzuwehren. Allein die Glut der feurigen Augen schien ihn verbrennen zu wollen. Im letzten Moment konnte der Jäger eine Hand in den Hals der Bestie krallen. Die tödlichen Fänge schnappten zu. Krallen und Stacheln rissen tiefe Wunden in Zeeths ungeschütztes Fleisch. Was dann folgte, war später für den Chatori ebenso unbegreiflich wie erschreckend. Leib an Leib mit dem Zarru ringend, konnte er den Geistesbefehl nicht geben, ohne sich damit selbst zu gefährden. Ein Jäger kämpfte nicht mit Waffen, nicht einmal mit den Händen. Er spürte sein Wild auf und ließ es erstarren. Zeeth war nicht geübt im direkten Kampf. Der Zarru zischte und heulte und versuchte sich aus der Umklammerung zu befreien. Es konnte nur einen Sieger geben. Und niemand wird den Stein ins Tal der Macht bringen! Plötzlich saßen Zeeths beide Hände an den Seiten des mächtigen
Schädels. Plötzlich war etwas in ihm, das ihm sagte, was er tun konnte. Plötzlich lag der Körper des Tieres schlaff neben dem seinen. Zeeth atmete schwer und rollte sich fort. Er hatte den Stein verloren. Dort, wo der Splitter der Macht in einer Bodenvertiefung lag, drang sein blaues Leuchten durch die Stoffetzen. Es war, als wollte das Licht dem Chatori zeigen, was er getan hatte. Der Schädel des Zarrus war zerschmettert, die Felskante, unter dem er lag, von seinem Blut gefärbt. Entsetzt starrte Zeeth auf seine Hände. Abscheu vor sich selbst überkam ihn. Schnell nahm er den Stein und drückte ihn an sich. Er kroch weiter, spürte die Schmerzen der Wunden kaum. Irgendwann sah er ein anderes Licht in der sich wieder verbreiternden Höhle. Er wunderte sich nicht lange darüber, woher es kam. Die Luft war viel zu stickig, als daß es hier hätte einen Ausgang geben können. Doch es verhieß Sicherheit. Es lockte. Zeeth fiel nicht auf, daß das Heulen verstummte. Er konnte wieder aufrecht gehen. Über ihm tat sich ein Stollen auf, breit genug, um ihn hineinklettern zu lassen. Er riß sich die Haut dort auf, wo sie noch heil geblieben war, zog sich an Vorsprüngen in die Höhe und ließ sich erschöpft vornüber fallen, als die Röhre sich abrupt verbreiterte. Er lag auf dem Rücken. Über ihm wölbte sich im fahlen Schein des weißen Lichtes eine mit Tropfsteinen bestückte Felsdecke. Diese zweite Höhle war mindestens doppelt so groß wie die untere. Das Licht kam von irgendwo hinter ihm. Ganz langsam drehte der Jäger sich um. »Ich habe auf dich gewartet«, sagte die leuchtende Gestalt.
*
Carna erwachte von einem Geräusch, einem Geruch, einem leichten Wind, der über ihren Körper strich. Sie konnte nicht sagen,was es gewesen war. Sie wußte nur, als sie noch mit geschlossenen Augen im hohen Gras lag, daß sie nicht allein war. Instinktiv spannte sie ihre Muskeln an. Sie spürte die Gefahr und versuchte, sich an etwas zu erinnern. Es konnte entscheidend sein. Wo war sie hier? Wie kam sie hierher? Die gewohnten Laute des Dorfes fehlten ihr. Von plötzlicher Panik gepackt, sprang sie auf und warf sich in eine Richtung. Drei, vier kräftige Hände packten ihre Arme und zogen sie jäh zurück. Carna riß die Augen auf. Sie erkannte den Klaaht-Ohn auf Anhieb, dann Kreehl, Soygor, Achath. Das ist der ganze Stamm! dachte sie entsetzt. Die finsteren Mienen der Männer schienen sich noch näher an ihr Gesicht heranzuschieben. Es war noch Nacht, aber nicht jene, in der sie geflohen war. Sie hatte noch das Aufblühen des Großen Auges erlebt, bevor … »Was ist geschehen?« fragte sie halblaut. Die Männer ließen sie auf ein Zeichen des Stammesführers los. »Das möchten wir auch gerne wissen«, sagte der Klaaht-Ohn streng. »Dies und noch anderes. Wo ist Zeeth, dein Gefährte?« »Nein!« schrie sie, plötzlich am ganzen Körper zitternd. »Geht weg! Laßt mich allein! Ich weiß es nicht!« »Du wirst es wissen, wenn du dem Sohn der Himmelsboten gegenüberstehst«, prophezeite der Klaaht-Ohn düster. »Du und Zeeth, ihr wart beide nicht auf dem Sammelplatz, als er zu uns sprach. Ihr wart als einzige nicht dort.« »Weil …!« »Weil was? Sag es uns jetzt, Carna. Sag uns, wo Zeeth ist.« »Aber wenn ich es doch nicht weiß!« Sie wußte es wirklich nicht. Sie blickte sich um und sah im Schein
des Himmelsboten ein weites Tal, durch das sich glitzernd ein kleiner Fluß schlängelte. Da erst begriff sie, wie weit sie sich vom Dorf entfernt hatte. »Packt sie!« befahl der Klaaht-Ohn den Männern. »Atlan in seiner grenzenlosen Weisheit wird die Wahrheit aus ihren Blicken lesen.« Carna wich zurück und streckte den Chatoris abwehrend die Handflächen entgegen. »Ich komme freiwillig mit euch!« Das Große Auge überschüttete die Ebene mit seinem ersten Licht, als sie das Dorf erreichten. Zwischen den Hütten warteten mehr Chatoris, als Carna sie jemals zuvor zusammen gesehen hatte. Die benachbarten Stämme waren mit ihren Anführern, ihren Zauberern, den Frauen und Kindern gekommen. Carna wurde in den Kreis der Feuer geführt. Aus einer der Hütten trat der silberhaarige Fremde. Carna drehte den Kopf fort, um nicht in seine roten Augen sehen zu müssen. »Wo ist Zeeth?« fragte die gnadenlose Stimme, die sie noch bis vor kurzem als so wohltuend, vertrauenerweckend empfunden hatte. Und was Carna aus eigenem Willen nicht erreicht hatte, das vollbrachte sie in einem einzigen Augenblick. Die Chatori sah sich wieder mit Zeeth zusammen in der Hütte, sah das Leuchten des Steines, sah Zeeth in der Dunkelheit verschwinden. Er ist auf dem Weg zur Schlummernden Macht! Sie erschrak, als sie das Gefühl bekam, der Fremde könnte selbst ihre Gedanken lesen. Dabei hatte sie ihm Zeeths Absicht verraten wollen, bevor sich ihr Geist verwirrte. Sie mußte aus dem Dorf geflohen und einen ganzen Tag lang wie blind umhergeirrt sein. Und das konnte nur der Stein bewirkt haben. »Wo ist er?« quälte die Stimme sie wieder. Carnas Kopf fuhr herum. Aus schmalen Augen starrte sie den Fremden an, der über alle hier zusammengeströmten Chatoris
Macht besitzen mochte, aber nicht mehr über sie. »Wenn du allwissend bist, warum fragst du dann noch?« fuhr sie ihn an. Für einen Moment nur zeigte er Überraschung. Wie schnell er sich dann wieder fing und was er mit lauter Stimme verkündete, das war ihr der endgültige Beweis dafür, daß dieses Wesen ganz genau wußte, was es hier auf den Ebenen wollte – und daß es alles andere im Sinn hatte als das Wohl der Chatoris. »Ihr habt ihre Worte gehört!« rief Atlan in den Kreis, eine Hand zum Himmel emporgereckt. »Es sind die Worte einer von den Mächten des Bösen Besessenen! Weit reicht der Arm des Bösen, und bevor es selbst über den Ebenen erscheint, um euch zu vernichten, hat es hier seine Diener gefunden! Zeeth ist mit ihm im Bund, und er wird alles daransetzen, uns zu schwächen!« Wütende Schreie antworteten. Carna konnte es nicht fassen: Chatoris forderten den Tod des Gefährten! »Klaaht-Ohn!« wandte sich Atlan an den Stammesführer. »Wie könnte er das am besten erreichen? Wo auf den Ebenen findet er Unterstützung gegen sein eigenes Volk?« Der Klaaht-Ohn wirkte ratlos. »Nirgendwo auf den Ebenen. Wir Chatoris sind Jäger und Nomaden. Wenn ein Jagdgrund und unsere Felder nichts mehr hergeben, brechen wir unsere Hütten ab und ziehen weiter, um auf neuem Land neue zu errichten. Wir kennen immer nur die Stämme, die in der jeweiligen Nachbarschaft leben. Es gibt keine Feinde unter den jetzigen Nachbarn – nirgendwo dort, wo Chatoris leben.« »Und jenseits der Ebenen? In den Bergen?« Carna hielt den Atem an. Der Klaaht-Ohn machte einen Schritt zurück. Zum erstenmal sah sie ihn unsicher. »In den Bergen«, sagte er leise, »lebt nur die Schlummernde Macht.«
»Was für eine Macht ist das?« »Das weiß niemand, nicht einmal ihre Wächter.« Stille trat ein. Für einen Moment war neue Hoffnung in Carna. Vielleicht genügte allein die Erwähnung der Macht, um die Chatoris zur Besinnung zu bringen. »Dann«, sagte der Silberhaarige, »werde ich euch nun verlassen, um in meinen Himmelswagen zu steigen und nach dem Verräter zu suchen. Bewacht seine Gefährtin gut. Das Böse darf sich nicht weiter unter euch ausbreiten. Die Mächte des Guten verlangen ein Opfer. Carna wird hier im Feuerkreis sterben, wenn ich zurück bin!« Die Chatori sank auf die Knie und weinte wie ein Kind. Doch es waren Tränen der Wut und Verzweiflung, die über ihre Wangen rollten. Warum widerspricht ihm denn keiner! schrie es in ihr. Warum jagt ihr ihn nicht von den Ebenen!
* Zeeth wischte sich über die Augen. Die Gestalt war immer noch da, als er die Hand zurücknahm. »Ich habe auf dich gewartet«, wiederholte sie im Näherkommen. »Die Schlummernde Macht sagte mir dein Erscheinen voraus. Komm, ich führe dich zu ihr.« Es war eine junge Frau von unbeschreiblicher Schönheit. Ihr Haar schimmerte in allen Farben und fiel lang auf die Schultern herab. Sie war nicht nackt wie eine Chatori, sondern in weite, weiße Tücher gehüllt. Das, dachte Zeeth befreit, kann nur eine Wächterin der Macht sein. Und sie ist nicht gekommen, um mich zurückzustoßen! Sie streckte ihm lächelnd eine Hand entgegen. Zeeth ergriff sie, ohne zu überlegen. Als er ihre Kälte spürte, war es zu spät. Vor seinen Augen
verwandelte sich die Gestalt. Ihre Umrisse verschwammen. Etwas schlang sich um seine Hand, dann blitzschnell den Arm hinauf bis zur Schulter. Er schrie, als der graue Leib des riesigen Wurmes sich um seine Brust wickelte und ihn zu ersticken versuchte. Er verlor den Halt und stürzte. Seine Beine waren gefesselt. Die Lungen wurden unter den Rippen zusammengepreßt. Zeeth schnappte nach Luft und sah einen flachen Kopf mit zwei ausgestülpten Augen vor seinem Gesicht. Aus dem breiten Maul züngelte ihm eine gespaltene Zunge entgegen. Zeeth warf den Kopf so weit ins Genick, daß er seine eigenen Knochen knacken hörte. Die scharfe Zunge bestrich sein Kinn. Er konnte nicht mehr atmen. Schwarze Punkte erschienen vor seinen Augen. Vollkommen eingeschnürt wälzte er sich über den Boden. Dämonisches Gelächter hallte von den Höhlenwänden wider. Zeeth drehte und drehte sich, soweit die tödliche Umklammerung dies noch zuließ. Nichts befreite ihn. Die Arme waren in den Körper gedrückt. Mit letzter Kraft versuchte er, sie zu bewegen. Er konnte sie nicht zurückziehen, um keine Handbreit. »Schlummernde Macht!« preßte er mit letztem Atem hervor. »Wenn dies deine Dienerin ist, wenn du der Feind der Chatoris bist, dann laß es mich wissen, bevor du mich tötest!« Er mußte bereits dem Jenseits so nahe sein, daß seine Sinne ihm etwas vorgaukelten, denn er glaubte zu fühlen, wie der Druck der Schlange für einen Augenblick nachließ. Seine Fingerspitzen berührten den Stein. Er konnte ihn umfassen. Es war nicht sein ersterbender Wille, der seine Hand führte. Nicht ich habe die Schlange getötet, dachte er, als er mit dem geschundenen Rücken an der Höhlenwand lehnte und allmählich das Leben in seinen Körper zurückströmen fühlte. Das Ungeheuer lag starr und verfärbte sich im Tode. Aus dem Grau wurde ein schmutziges Braun.
Zeeth nahm den Stein in beide Hände und sah ihn an. Der Splitter der Macht schien sich vor ihm aufzublähen. Für Momente hatte der Jäger das Gefühl, in eine neue, unbegreifbare Welt hineinzustürzen. Etwas flüsterte in seinem Geist: »Bringe mich zum Ganzen! Vollende es!« Er richtete sich unter Schmerzen auf und schwankte zum Ausgang. Er brauchte nicht mehr danach zu suchen. Er wußte, wie er seine noch unsicheren Schritte zu setzen hatte. Jede einzelne seiner Wunden bereitete ihm nun höllische Qualen. Doch auch diese würde er ertragen können, denn jetzt wußte er, daß am Ende seines Weges mehr als nur die Rettung der Chatoris stehen würde. Dabei war es ganz gleich, welche Gefahren sich ihm noch in den Weg stellten. Er konnte sie meistern. War er denn wirklich ein Narr gewesen, nur das Gute in der Schöpfung zu sehen? Das Böse gehörte in gleichem Maß dazu. Es lauerte überall. Vielleicht war er der erste Chatori, der wirklich begriff, wie stark es war. Vielleicht war er der erste, der begriff, was sich hinter der Schlummernden Macht verbarg. Das spornte ihn an. Er fand sich im Freien wieder, auf einer steilen Erhebung, von der er einen weiten Blick auf die Ebenen hatte. Er fand heilkräftige Kräuter, mit denen er seine Wunden bestrich. Sein Leben rettete er dadurch nicht, denn der Wundbrand hatte schon eingesetzt. Aber es mußte ihm die Kraft geben, noch bis zum Tal der Macht durchzuhalten. Das Große Auge blühte auf. Zeeth konnte sich nicht erinnern, es jemals so zornig funkeln gesehen zu haben.
4.
Er war ein Kowallek. Seine Vorfahren stammten von »Unserer Welt Zwzwko«, einem der ersten Planeten, die noch im geheimen operierende Versorgerkommandos der SOL im zweiten Jahr nach der Trennung von Perry Rhodan angeflogen hatten. Zwei junge Solaner – ihre Namen waren Etonia Gess und Histar Veysbal – hatten damals heimlich 14 Kowalleks an Bord des Schiffes geschleust. Diese vierzehn konnten nach dem heimtückischen Mord an den beiden jungen Menschen in den Tiefen der SOL untertauchen. Auli-Phans, ihr Anführer, hatte geschworen, die Weltraumlebenden eines Tages von der Vernunft und der Gerechtigkeit der Wesen zu überzeugen, die niemals vergessen hatten, wo ihre Wurzeln lagen – auf den Planeten, die sie hervorgebracht hatten. Was war davon geblieben? Hätten nur meine Eltern lange genug gelebt, um mir mehr von der Heimat zu erzählen, dachte Insider bitter. Es gab so vieles, was er wissen wollte, bevor es mit ihm zu Ende ging. Es war nun offenkundig, daß die Kowalleks an Bord der SOL gescheitert waren. Aber was war aus ihnen geworden? Wie sah ihre – seine – Heimat aus? Die Logbucheintragungen ließen zu wünschen übrig. Insider wußte sehr gut, daß die Menschen oft dazu neigten, zurückliegende Erlebnisse in ihrem Sinne zu färben und zu verfälschen. Er wollte Zwzwko sehen, bevor er starb. »Insider«, flüsterte es von irgendwoher. Er schrak aus seinen Gedanken auf. »Insider! Siehst du nicht, daß wir auf dem Weg sind?« Wer sprach da? Oggar hatte sich nicht gerührt. Nichts bewegte den Androidenkörper. Kein Gedankenbefehl erging an das Mnemodukt II, ihn zu reaktivieren.
»Mnemodukt?« fragte der Extra. »Ja«, flüsterte die große Kugel. »Sieh auf die Schirme. Der helle Stern dort. Er ist die Sonne, die Zwzwko bestrahlt.« Insider sah es. Er schwang sich aus dem Sessel und fiel fast vornüber, weil seine Beine eingeschlafen waren. Die Blutzirkulation litt bereits unter der Bewegungslosigkeit. Insider schüttelte die Gliedmaßen und lief kurz auf der Stelle, bis das Kribbelgefühl vorbei war. Der HORT mußte mit großer Geschwindigkeit in das System einfliegen. Schon lag die sonnenbeschiene Oberfläche des Planeten unter ihm. Insider sah große Kontinente und Ozeane und Hunderte von Inseln; dann Wälder und Steppen – und Städte! Städte, die von pulsierendem Leben erfüllt waren. Insider wurde ganz seltsam zumute. Vorbei waren die Depressionen und Selbstmordgedanken. Er befahl dem Mnemodukt: »Ausschnittvergrößerung! Dieser Platz dort!« Dabei zeigte er mit drei Armen zugleich auf eine Stelle der gerade neu aufgetauchten Stadt. »Tele-Faktor fünfhundert!« verkündete die Positronik. Insider hätte jauchzen mögen. Er erkannte die vielen Dutzend Kowalleks in den Straßen und auf dem Platz mit dem riesigen Denkmal so deutlich, als schwebte er bereits nur noch Meter über ihnen. Einige blieben stehen, sahen ihn und winkten. Da waren Kowallek-Frauen, junge Frauen, die ein Gefühl in Insider auslösten, das er noch nie gekannt hatte. Andere sahen von ihm zum Denkmal und wieder zurück. Die mindestens fünffach lebensgroße Plastik zeigte einen Kowallek in der lindgrünen Kombination der Solaner. Soll das etwa ich sein? fragte sich Insider. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. »Du Monstrum!« schrie er das Mnemodukt an, griff, nach einem herumliegenden, schweren Gegenstand und schleuderte ihn gegen die Kugel. »Das ist alles nicht wahr! Als die Solaner auf Zwzwko
landeten, trugen sie noch ganz andere Uniformen! Du hast dich getäuscht, um …!« Seine Beine gaben nach. Insider ließ sich fallen und krümmte sich auf dem Zentraleboden zusammen, von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt. Er selbst war verantwortlich. Was er zu sehen und hören geglaubt hatte, waren nichts als Produkte seiner Sehnsüchte und Phantasien. Das ist der Anfang! dachte er. Die ersten Wahnvorstellungen. Es wird immer schlimmer werde, bis ich als lallender Idiot durch das Schiff taumele! Insider kroch auf das Pult zu, in dessen Schubfach er den Kombistrahler wußte. Mit zitternden Händen holte er die Waffe heraus, schaltete auf IMPULS und setzte sie an seine Schläfe. Ihr hattet einen Kinderreim, weißt du noch, kleiner Grüner! Du sangst ihn mit deinen beiden Schwestern in den Korridoren der SOL, wenn ihr euch verirrt hattet und Angst vor den vielen Fremden an Bord. Weißt du noch, wie er lautete? Insider zuckte zusammen. Der Finger am Auslöser der Waffe blieb so gekrümmt, wie er war. Wer hat Angst vor den Ferraten? sang eine Kinderstimme in ihm. Wer fürchtet die SOLAG? Solange wir zusammenhalten, kann kommen, kann kommen, wer mag! Der Strahler polterte aus Insiders Hand zu Boden. Der Kopf des Extras fuhr herum. »Wer spricht da?« Komm her, alter Kampfroboter, wir spielen lauf und fang! Wir holen unsre Mutter, und dann putzen wir dich blank! »Und dann putzen wir dich blank!« wiederholte Insider mit belegter Stimme. Erneut sah er sich um, aber da war niemand in der Zentrale außer ihm, dem Mnemodukt und Oggars schlaffem Körper. Er sah alle Gegenstände ganz deutlich. Auf den wenigen noch hellen Bildschirmen war nur die Schwärze des Leerraums mit den
Nebelflecken der weit entfernten Galaxien zu sehen. »Ich bin bei klarem Verstand«, murmelte Insider. »Aber wie kann ich Stimmen hören, wenn niemand bei mir ist?« Ich bin da! wisperte es in ihm, ganz in deiner Nähe, mein verzweifelter Freund. Die Stimme veränderte sich dabei. Sie war nicht mehr die eines Kindes, sondern vermittelte Insider einen Eindruck von großer Überlegenheit und Macht. »Wer bist du?« Die fremde Stimme lachte. Daß es euch Sterblichen niemals reicht, einen anderen nur bei euch zu wissen! Daß ihr für alles und jeden einen Namen haben müßt! Aber schön, mein kleiner Freund – ich bin Wöbbeking! Und wieder sang es: Lauf, du armes Monster, lauf fort in dein Versteck! Tu du nichts, dann tun wir nichts – lauf weg, lauf weg, lauf weg! Insider sprach die letzten Worte laut nach. Er sah sich wieder mit den beiden Schwestern verirrt durch die endlosen Korridore der SOL schleichen und sich gegenseitig Mut machen. Eine weitere verschüttete Erinnerung brach durch. Doch wer hatte die Macht, dies zu bewirken? Wer war denn damals überhaupt dabeigewesen? »Ich kenne keinen Wöbbeking!« rief Insider. »Wir sind uns nie begegnet!« Ich dir nicht, Zwzwko, aber du mir. Und jetzt muß ich sehen, daß du dabei bist, das Kostbarste fortzuwerfen, das du besitzt – dein Leben! »Meine Schwestern leben auch nicht mehr, sie starben noch vor meinen Eltern!« Das war eine reine Trotzreaktion, und Insider wußte es. Er dachte schon gar nicht mehr an den Strahler, noch weniger an Oggar oder das Mnemodukt. Hier, in diesem toten Schiff, war jemand erschienen, der es gut mit ihm meinte, der es mit einfachen Mitteln verstanden hatte, neues Interesse in ihm zu wecken, wobei er noch
nicht einmal körperlich anwesend war. Er rief nicht umsonst die Erinnerung an seine Kinderzeit in ihm wach. Auch damals hatten er und die Schwestern lernen müssen, sich von Tag zu Tag aufs neue zu behaupten. Aber da war er auch nicht so schrecklich allein gewesen. Fühlst du dich denn noch so allein, Zwzwko? Insider sprang auf, drehte sich einmal um sich selbst und breitete die Arme aus. »Siehst du das nicht? Alles ist tot! Ich höre dich, aber warum zeigst du dich nicht?« Das hat seinen Grund, so wie alles seinen Grund hat, mein kleiner Freund. Verlange nicht zuviel. Ich bin bei dir, und auch Oggars Zeit ist noch nicht abgelaufen. Er lebt, wie auch du leben mußt, denn ihr beide werdet im Kampf für die kosmische Ordnung noch benötigt. Insider spürte das Unwirkliche dieses Geschehens, doch irgend etwas schien zu verhindern, daß es ihm voll bewußt wurde. Abermals lachte die Stimme. Das klingt alles ziemlich hochtrabend, oder? Was ich dir sagen will, Zwzwko: du hast nicht das Recht, dich so einfach davonzustehlen. Du fühlst dich von allen verlassen. Wünsche dir etwas! Die Überraschungen rissen nicht ab. Insider war es nun, der auflachte. »Ich hätte viele Wünsche, aber kannst du sie etwa in Erfüllung gehen lassen?« Einen von ihnen! Überlege ihn dir gut! Dieser Unsichtbare mußte verrückt sein! Insider kam sich vor wie in einem der modernen Theaterstücke, die in der SOL-Zelle Zwo kurz vor seinem Überwechseln in den HORT aufgeführt worden waren. Diese Darbietungen zeichneten sich in der Regel dadurch aus, daß niemand so richtig wußte, worum es eigentlich ging, und sich doch im Mittelpunkt einer irrealen Handlung wähnte. Insider lachte.
Das war alles verrückt, aber nicht schlimmer als die Situation, in der er sich vorher befunden hatte. Er schnitt eine Grimasse und bildete sich ein, Wöbbeking auf einem der Bildschirme zu sehen. »Warte! Ich werde gut überlegen!« Dann beeile dich. Es gibt nicht nur dich, und auch ich kann mich nicht beliebig vielen Schauplätzen zuwenden! Jaja, dachte Insider. Außerdem muß ich ohnehin irgendwann aus diesem Traum erwachen. Er betrachtete es als ein Spiel. Er fand seinen Wunsch, und er sagte nicht: »Mache, daß Oggar, Carch und Sternfeuer wieder lebendig werden!« Wenn Wöbbeking recht behielt, würden sie das sowieso. Eine noch phantastischere Möglichkeit schoß ihm durch den Kopf. Er hätte sich wünschen können, daß Wöbbeking Hidden-X vernichtete – oder den Schalter, Hapeldan. Er konnte den Gedanken an Hidden-X, an Hapeldan, an die scheinbar nie zu Ende gehende Jagd nicht mehr ertragen. Oggar mochte davon besessen sein und seine guten Gründe haben – er nicht. Er war ein Kowallek. Er wollte seine wirkliche Heimat sehen – »Unsere Welt Zwzwko«. Dies war der Wunsch, den er an Wöbbeking richtete. Und wenn dies wirklich ein Spiel sein wollte, so gewann es nun eine makabre Komponente. Denn Wöbbeking sagte: Du denkst bereits wie ein anderer, der ebenfalls lange von seiner Welt getrennt war, der nun im Auftrag höherer Mächte für die kosmische Ordnung kämpft und doch niemals vergessen wird, wo sein Ursprung liegt. Du denkst fast schon wie er – Perry Rhodan, der Terraner. Ich werde dir den Wunsch erfüllen, Zwzwko, wenn du darauf bestehst. Doch du wirst eine böse Enttäuschung erleben. »Wie kann ich das, wenn du mich nach Hause bringst!« Wöbbeking antwortete nicht mehr. Insider verspürte nur einen Hauch von Mitleid.
Dann aber, ohne daß er etwas dazugetan hätte, setzte der HORT sich in Bewegung. Insider war durch und durch verunsichert. Er versuchte alles mögliche, um sich darüber klarzuwerden, ob er denn nun wirklich bei Verstand war oder wieder unter Halluzinationen litt. Er kniff sich in die Arme und spürte den Schmerz. Er schlug die Augen nieder, und als er sie wieder öffnete, hatte sich nichts verändert. Er rief nach Wöbbeking, doch erhielt keine Antwort. Etwas sagte ihm, daß dieses unbegreifliche Wesen sich endgültig von ihm entfernt hatte. Doch der HORT war unterwegs. Eine Geisterkraft mußte ihn steuern, denn das Mnemodukt war nach wie vor desaktiviert. Keine Kontrollämpchen blinkten auf. Nichts verriet dem Extra, mit wievielfacher Überlichtgeschwindigkeit das Schiff durch den Leerraum jagte. Er wollte es nun wissen, setzte sich und wartete darauf, daß der Flug zu Ende ging. Flüchtig dachte er dabei an den Namen, den Wöbbeking erwähnt hatte – Perry Rhodan. Auch Atlan hatte oft von diesem Rhodan gesprochen, wenn er mit seinen Freunden allein gewesen war. Aber woher kannte Wöbbeking ihn? »Wer sich nicht zeigt, hat etwas zu verbergen«, murmelte Insider. »Wer sagt mir denn, daß Wöbbeking keine Projektion von Hidden-X ist und mich nur in eine Falle lockt?« Wieder vergingen Stunden. Insiders Spannung wuchs mit jeder Minute. Als der HORT dann endlich im Sternengewimmel einer fremden Galaxis in den Normalraum zurückfiel, war sie fast unerträglich geworden. Auf einem Bildschirm war ein Planetensystem zu erkennen. Insider machte sich nicht die Mühe, die Begleiter der gelben Sonne zu zählen. Einer von ihnen war durch einen roten Leuchtpunkt markiert.
Es kostete Insider alle seine Selbstbeherrschung, jetzt nicht in Jubel auszubrechen und »Klatsch-hurra!« zu brüllen. Diese hervorgehobene Welt konnte die Heimat der Vorfahren sein. Sicher würde er erst sein, wenn er gelandet und ausgestiegen war. Der HORT durchbrach die Atmosphäreschichten und senkte sich langsam auf eine große Landfläche herab. In Gedanken verglich Insider das, was er sah, mit dem, was im Logbuch der SOL geschildert war. Vielleicht narrte ihn Wöbbeking durch vorprogrammierte Verwirrschaltungen, die nun Falschfarbenaufnahmen von der Oberfläche produzierten – denn die Flüsse und wenigen Seen leuchteten dunkelrot, an einigen Stellen heller. Das Land selbst war von einem häßlichen Schwarz. An einigen Stellen schimmerte es wie glasiert. »Ich will ein richtiges Bild haben!« rief der Extra in die Zentrale. Die Landung wurde verzögert. Das Bild einer unwirklich erscheinenden Welt blieb. Insider begriff die schreckliche Wahrheit in dem Augenblick, in dem eine Computerstimme (nicht die des Mnemodukts!) aus dem Nichts heraus warnte: »Ich rate dringend von einem Betreten des Planeten ab! Auf der gesamten Oberfläche und in der Atmosphäre herrscht eine überhohe Radioaktivität mit allen Begleiterscheinungen!« »Dann ist es nicht Zwzwko!« rief Insider heftig aus. »Die Bestimmung ist eindeutig«, wurde ihm geantwortet. »Es handelt sich um ›Unsere Welt Zwzwko‹.« »Sie ist es nicht! Ich werde es dir beweisen! Der HORT soll landen, ich steige in einem Schutzanzug aus!« Für Augenblicke herrschte Schweigen. Insider ballte die Fäuste. Hatte Wöbbeking ihn vor dem Selbstmord bewahrt, um ihm eine radioaktive Hölle zu zeigen? »Wir landen in der Nähe einer der ehemaligen Städte«, verkündete endlich die Computerstimme. »Ich hoffe, daß du weißt, was du tust. Der Anzug schützt dich für eine gewisse Zeit vor der
Strahlung, nicht aber vor den mutierten Nachkommen der Kowalleks.« »Hier gibt es keine Kowalleks!« schrie Insider die Wände an. »Hier gab es sie nie! Laß mich jetzt in Ruhe. Ich weiß, was ich tue!« Wütend öffnete er einen Wandschrank und riß einen Strahlenschutzanzug heraus.
5. Zeeth wurde schwächer. Auch die Säfte der Heilpflanzen nützten kaum noch etwas, und irgendwann erreichte er Höhen, in denen kein Kraut mehr wuchs. Hier gab es nur nackten Fels und allenfalls Flechten und Moose, wo kleine Rinnsale von den Gipfeln herabsickerten. Der Chatori mußte eine weitere Rast einlegen, die vierte seit Anbruch des Tages. Die Abstände zwischen den Aufenthalten wurden immer geringer, der Weg zusehends schwieriger und steiler. Zeeth war es nicht gewohnt, zu klettern. Auch das kostete Kraft. Die Wunden brannten wie Feuer, aber das ließ sich eher ertragen als der Gedanke daran, daß er scheiterte. Zeeth befand sich auf einem schmalen Grat. Zu allen Seiten ragten die Bergriesen in den Himmel. Wenn sich der Blick auf den Ebenen hinab auf tat, glaubte der Jäger, bis zum Ende der Welt blicken zu können. Er hatte nie geahnt, wie groß sie war. Zeeth raffte sich auf und biß die Zähne zusammen. Er hatte längst die Lappen weggeworfen, mit denen der Stein umwickelt gewesen war. Der Splitter der Macht leuchtete schwach in seinen Händen und wies ihm den Weg, so wie es Toth-Omonn vorausgesagt hatte. Zeeth wußte einfach, welche Richtung er einzuschlagen hatte und wie er am besten Hindernisse umging. Zweimal hatte er seine Geisteskräfte gegen angreifende Monstren
einsetzen müssen, die noch weniger als die Zarrus an Tiere erinnerten, die er kannte. Hier schien sich alles gegen die Chatoris verschworen zu haben. Was den Jäger dabei am meisten beschäftigte, war die Frage, warum die Schlummernde Macht dies duldete, weshalb sie sich durch das Böse schützte. Irgendwann aber erschien ihm auch das unwichtig. Er setzte monoton einen Fuß vor den anderen, und jeder Schritt war eine Qual. Schluchten taten sich vor ihm auf, dann führte sein Weg in dünner Luft über schmale Felsleisten an den Flanken gewaltiger Massive. Er mußte um seine Sinne kämpfen, als plötzlich giftige Dämpfe aus dem Boden drangen und ihn umhüllten. Er ging durch tausend Höllen, hörte Stimmen, die ihn in Abgründe zu locken versuchten, sah in den Schatten gespenstische Kreaturen, die ihm winkten. Nur weiter! Dachte er das noch aus eigenem Willen, oder war es der Stein, der ihn beherrschte? Das Große Auge verblühte im Westen, und mit der Dunkelheit kamen die Geister der Nacht. Zeeth schleppte sich am Rand einer Schlucht dahin, deren Grund er nicht sehen konnte, als der Angriff erfolgte. Sie stießen auf ihn herab, zehn Kreaturen und mehr. Ihre schrillen Schreie erfüllten die Luft, Schwingen von der Länge eines Chatorikörpers schlugen nach ihm, Raubvogelschnäbel hackten nach seinen Augen. Zeeth warf sich flach auf den Boden, beide Hände schützend über den Kopf gelegt. Seine Schreie vermischten sich mit dem Gekreische der Vögel. Zeeth gab seine letzte geistige Kraft in den einen Befehl: Sterbt alle! Etwas strömte aus ihm heraus. Er fühlte sich vollkommen leer. Neben ihm klatschten leblose Körper auf den Fels. Er hörte es nicht. Er sah und hörte überhaupt nichts mehr. Die Leere sog seinen Geist in sich hinein. Als Zeeth auf den Beinen stand und wie ein
Schlafwandler zu gehen begann, klebte der Stein mit schwachem Leuchten an seiner linken Schulter. So marschierte und kletterte der Chatori die ganze lange Nacht hindurch. Als das Große Auge aufblühte, kroch er auf allen vieren, und als es senkrecht über ihm stand, lag er zusammengekrümmt auf einem Plateau, das wie eine in der Mitte durchgeschlagene Scheibe in die steile Felswand hineingesetzt wirkte. Tief unter ihm gähnte der Talkessel. Das Leuchten des Steines war erloschen.
* Zeeth kam zu sich, als die Abenddämmerung schon wieder eingesetzt hatte. Er mußte sich spontan übergeben, und als ob das Würgen einen Teil seines Geistes aus dem Dunkel herausgerissen hätte, lösten sich die Nebel vor seinen Augen etwas auf. Er konnte sehen, wenn auch nur verschwommen und nicht sehr weit. Seine Hand fand und berührte den Stein an der Schulter. Der Splitter der Macht fühlte sich warm an und gab ein gewisses Gefühl von Geborgenheit. Nach einer langen Jagd wieder zu Hause! durchfuhr es Zeeth. Das konnte nicht sein. Er schob sich bis zum Rand des Plateaus vor und schrak instinktiv zurück, als er das Nichts unter sich sah. Erst nach einer Weile wagte er einen zweiten Blick hinab. Diese nun wahrhaftig vollkommene Stille, die Wärme, die der Stein seinem vom Fieber geschüttelten Körper gab, und daß keine neuen Angreifer erschienen, um sich eine leichte Beute zu holen – alles das konnte nur eines bedeuten. »Ich bin am Ziel«, flüsterte Zeeth mit aufgequollener Zunge. Der Stein sagte ihm, daß der letzte Schritt noch nicht getan war. Wie Zeeth den Abstieg schaffte, sollte er nie erfahren. Er sah nur irgendwann im Schein des Himmelsboten das Plateau weit über
sich. Nein! dachte der Jäger verwirrt. Beide Himmelsboten stehen am Firmament! Es mußte ein Omen sein, ein Zeichen der Götter, denn noch war es nicht soweit, daß sie sich vermählen sollten. Auf jeden Fall aber spendeten sie genug Licht, um ihn die Öffnung am Rand des Talkessels finden zu lassen. Zeeth taumelte zwischen die Felsen und in den Spalt hinein, wobei er sich immer wieder stützen mußte. In der vollkommenen Dunkelheit strahlte sein Stein auf, heller als jemals zuvor. Es ging abwärts. Dort, wo der Boden durch herabtropfendes Wasser glitschig war, rutschte Zeeth aus und ließ sich mit angezogenen Armen über eine Art natürlich entstandene Rampe nach unten gleiten, bis seine Füße gegen ein Hindernis stießen. Auf die Beine kommen und fallen; kriechen und rutschen. Irgendwie kam er voran. Wie lange noch, wie weit? dachte er in einem der immer seltener werdenden klaren Momente. Seine Finger berührten etwas, das sich nicht wie Fels anfühlte. Ein Ächzen entrang sich seiner ausgetrockneten Kehle, als das Leuchten des Steines ihm zeigte, worauf er halb lag. Von Entsetzen geschüttelt, wälzte er sich von dem Skelett fort. Es waren die Gebeine eines Chatoris. Zum Teil lagen sie noch auf den vermodernden Resten eines weiten Umhangs, der einmal in vielen Farben geleuchtet haben mußte. Einer der Wächter! begriff Zeeth. Doch sie sind ewig! Es drängte ihn weiter, noch tiefer in den Berg hinein. Er fand zwei weitere Skelette. Sein letzter bewußter Gedanke war: bald werde ich neben ihnen liegen und verfaulen! Er taumelte weiter, ohne sich dessen noch bewußt zu sein, ausgebrannt und tot.
* Einer der beiden Monde, der, den Zeeth für den zweiten Himmelsboten gehalten hatte, wurde über dem Talkessel heller. Als er tief genug herabgesunken war, wäre er für einen Beobachter, gäbe es ihn noch und hätte dieser Chatori den Himmelswagen des Silberhaarigen einmal gesehen, als das erkennbar geworden, was er in Wirklichkeit war. Das 150 mal 100 Meter große Raumfahrzeug setzte sanft in der Mitte des Talkessels auf. Scheinwerferkegel bestrichen die schroff in die Höhe ragenden Wände, bis sie die Felsenöffnung fanden. Sie erloschen. Ein Luk öffnete sich, und eine hochgewachsene Gestalt stieg aus. Der Mann zog eine Waffe aus dem Gürtel der Kombination und trat in den Spalt. Ein Handscheinwerfer leuchtete ihm voraus. Er überwand geschickt alle Hindernisse, bis er das erste Skelett am Boden fand. Nachdenklich blieb er stehen. »Wenn dieser junge Narr zur Schlummernden Macht wollte«, murmelte er, »und sie hier gefunden hat, dann muß das einer der Wächter gewesen sein, von denen der Klaaht-Ohn sprach.« Er lauschte in sich hinein, doch von einer Macht, einem Einfluß irgendwelcher Art war weit und breit nichts zu spüren. Der Silberhaarige ging vorsichtig weiter und stieg achtlos über die nächsten Skelette hinweg. Es gab abzweigende Seitengänge, aber die Blutspur zeigte sehr deutlich, welchen Weg Zeeth genommen hatte. Er fand ihn leblos am Rand eines Kraters von gut fünf Meter Durchmesser in der Mitte einer großen Höhle liegen, deren Decke sich wie ein Dom über ihm wölbte. Die Tiefe des Kraters war nicht absehbar. Erst als der Raumfahrer ein Instrument aus einer Tasche zog und den Grund auslotete, konnte er von der Leuchtanzeige 60,8 Meter ablesen. Zeeth war tot, wie wahrscheinlich alle Chatoris, die hier einem
Götzen gedient haben mochten, der nicht einmal existierte. Der Silberhaarige lachte lauthals. Die Höhlenwände warfen die Laute in schaurigen Echos zurück. »Eure Schlummernde Macht!« rief er. »Es gab sie niemals! Ihr seid euren eigenen Scharlatanen aufgesessen, Chatoris!« Ob sich in früherer Zeit einmal eine Sekte gebildet hatte, ob der Glaube der Chatoris an ihre Macht in den Bergen auf uralten Aberglauben zurückging, das spielte für ihn nun keine Rolle mehr. Für Hapeldan zählte nur, daß nichts und niemand ihm hier in die Quere kommen würde. Er hatte die Eingeborenen fest im Griff. Carnas Tod würde sie auch ihre letzten Skrupel vergessen lassen. »Jetzt kannst du kommen, Oggar«, knurrte er. »Freue dich auf unsere letzte Begegnung!« Achtlos trat er einen herumliegenden Stein in den Krater.
6. Insider warf einen skeptischen Blick zurück zum HORT, nicht völlig sicher, ob der Doppeldiskus auch noch an Ort und Stelle stehen würde, wenn er zurückkehrte. Irgendwie, dachte er, paßt das Schiff in diese Landschaft. Beide sind tot. Daß zumindest letzteres nicht zutraf, merkte er, als kleine Eidechsen aus Erdspalten oder Trümmern zum Vorschein kamen und ihm frech vor die Füße liefen, als hätten sie keinen Grund, ihn zu fürchten. Keine von ihnen sah ganz so aus wie die andere, obwohl sie doch offensichtlich ein und derselben Gattung angehörten, vielleicht sogar aus dem gleichen Gelege geschlüpft waren. »Mutiertes Leben«, sagte er leise. Gegen seinen Willen drängte sich ihm die Warnung der Geisterstimme wieder auf. Er umfaßte den Griff des Strahlers fester, trat nach einem der
Kriechtiere und hielt wahllos auf eine Ruine zu. Die Stadt konnte einmal so oder so ausgesehen haben – elegant mit schlanken Türmen und geschwungenen Hochstraßen oder häßlich mit gedrungenen Gebäudeklötzen und lärmerfüÜten Straßen voller Unrat. Jetzt gab es nur noch verbogene Stahlgerüste, zum Teil geschmolzen und an den Enden in Tropfen wieder erstarrt, und Trümmer – Berge von Trümmern. Eine der Bomben mußte in unmittelbarer Nähe oder gar im Zentrum selbst detoniert sein. Was Insider vom HORT aus gesehen hatte, war keine Täuschung gewesen. Die Oberfläche dieser Welt war verbrannt und glasiert. Was die unvorstellbare Hitzeentwicklung nicht vernichtet hatte, war den fürchterlichen Druckwellen zum Opfer gefallen. Was er für Flüsse und Seen gehalten hatte, waren Risse in der Planetenkruste und Krater voller glutflüssigem oder langsam erstarrendem Magma. »Wo finde ich einen Hinweis auf die ehemaligen Bewohner?« überlegte er halblaut. Es mußte Bunker geben. Wo ein Volk Atombomben baute und bereit war, sie auch einzusetzen, gab es Bunker für die, die die Apokalypse auslösten. Hier in der Stadt? Irgendwo draußen, wo weniger damit gerechnet werden mußte, daß die Bomben fielen? Insider konnte nicht hoffen, die SCHNECKE benutzen zu können. Auch diese Möglichkeit war ihm durch die Selbstdesaktivierung des Mnemodukts genommen. Insider ging weiter, nachdem er nicht in die Ruine eindringen konnte. Alle noch vorhandenen Eingänge waren von meterhohen Schutthalden versperrt. Er glaubte, eine ehemalige Straße gefunden zu haben und folgte ihr. Waren es Menschen gewesen? Atlan hatte einmal davon erzählt, wie nahe die Terraner vor knapp 2000 Jahren daran gewesen waren, sich selbst auszulöschen. Und auch er selbst mußte nicht immer der Mann mit den jetzigen hohen Idealen gewesen sein. Nach dem, was Insider manchmal von
ihm gehört hatte, war er einen harten und steinigen Weg gegangen und hatte mehr als einen Planeten zu einer Gluthölle werden sehen. Es waren auf jeden Fall keine Kowalleks! Aus dem Logbuchbericht ging einwandfrei hervor, daß es sich bei Insiders Vorfahren um zuvorkommende und gelehrige Geschöpfe gehandelt hatte, die ihre Welt liebten und Respekt vor der Natur besaßen. Sie hätten sich niemals vernichtet, sie nicht! Sie lebten ganz woanders, vielleicht auch in dieser Galaxis, aber nicht hier! Insider hämmerte sich diesen Gedanken regelrecht ein – und das um so wütender, je mehr er die Unsicherheit spürte. Irgendwo muß es einen Hinweis geben! Der Extra blieb stehen und schaltete den Außenlautsprecher des Raumhelms auf maximale Lautstärke und schrie ins Mikro: »Ist hier jemand, der mich hören kann?« Im nächsten Moment verwünschte er sich selbst dafür, sich der Sprache der Kowalleks bedient zu haben. Grimmig marschierte er weiter, bis er einen trümmerfreien Platz vor sich sah. Das war der Augenblick, in dem der Angriff erfolgte. Insider hörte das Geräusch herabpolternder Steine hinter sich, fuhr herum und erblickte zwei gräßliche Gestalten mit mehreren Armpaaren und klobigen Beinen. Von Gesichtern konnte keine Rede mehr sein. Es waren entstellte Fratzen, aus denen der Wahnsinn sprach. Jeder der beiden war größer als er und schwang drei oder mehr Stahlrohre. Insider zählte sie nicht. Er konnte die Waffe gerade noch umschalten und auslösen, bevor ihn ein Hieb traf. Paralysiert brachen die Mutanten nur wenige Schritte vor ihm zusammen. Ihr Geschrei aber hatte andere angelockt. Insider sah sie aus Lücken in den Trümmerbergen gekrochen oder über die Halden kommen. Er zögerte, beugte sich über einen der beiden Gelähmten und suchte in seinen Zügen nach Bekanntem. Das Monstrum besaß zwei Augen, eine deformierte Nase und einen Mund, der von einem
Ohr fast bis zum anderen reichte – hätte es ein zweites besessen. Zwei der Armpaare waren stärker ausgebildet als die anderen. An einigen Stellen schimmerte die verkrustete und schmutzige Haut grün. Das Entsetzen würgte an Insider. Keine Kowalleks! Die grünen Flecken auf der Haut besagen gar nichts! Und auch die Solaner haben zwei Augen, die meisten Lebewesen! Insider begann, wild um sich zu schießen. Er feuerte auf alles, was sich bewegte oder wo er Bewegung zu erkennen glaubte. Reihenweise kippten die anrennenden Mutanten um, aber es wurden immer mehr. Für jeden Paralysierten erschienen mindestens zwei neue. Sie kannten sich hier aus, jeden Schlupfwinkel und jede Abkürzung, wo er umständlich Hindernisse überwinden mußte. Dies war ihr Reich, ihre Welt. Insider floh auf den freien Platz, gejagt vom Gebrüll der Monster und geschleuderten Steinen. Mehr als einmal wurde er getroffen. Von irgendwoher kam der Knall einer primitiven Schußwaffe. Insider geriet außer Atem. Immer geringer wurde der Abstand zu den Verfolgern. Was wollten sie von ihm? Was ging hinter den deformierten Stirnen vor? Ein Fahrzeug! dachte er verzweifelt, als ihm klar wurde, daß er aus dieser Falle nie wieder aus eigener Kraft herauskam. Das einzige, was der Platz ihm versprach, war eine gute Rundumsicht. Er ließ die Ruinen hinter sich, warf sich zu Boden und drehte sich auf den Knien um die eigene Achse, wobei er den Finger nicht vom Auslöser des Strahlers nahm. Er feuerte, bis das Magazin leergeschossen war. Die Paralysierten lagen im Kreis um ihn herum. Horden von Deformierten kletterten einfach über sie hinweg und schleuderten unter wütendem Gebrüll alles nach ihm, was sie gerade fanden. Aus! dachte Insider. Er verfluchte Wöbbeking, der ihm dies nicht erspart hatte. Er blieb
auf den Knien hocken und wartete mit gesenktem Kopf darauf, daß man ihn erschlug. Irgendwann merkte er, daß der Geschoßhagel aufgehört hatte. Ungläubig richtete er sich auf und sah, daß die Mutierten zurückwichen. Sie brüllten nicht mehr, sondern gaben klagende Laute von sich. Überall am Rand des Platzes standen sie und schüttelten ihm ihre Fäuste entgegen. Und erst jetzt bemerkte er, daß die Gelähmten nicht wirklich einen Kreis um ihn bildeten. Sie lagen nur im Halbkreis, und zwar bei den Ruinen. Der Platz war völlig frei von ihnen, als ob sie sich davor fürchteten, ihn zubetreten. Aus Insiders Wut wurde Mitleid. Er ertappte sich dabei, wie er nach Worten suchte, die er den Monstern entgegenrufen konnte. Sie konnten doch nichts für ihr Schicksal. Ihr Haß galt nicht ihm, einem fremden Besucher, sondern jenen, die ihre Welt so zugerichtet hatten. Er konnte ihnen nicht helfen, und sie nicht ihm. Mit hängenden Schultern ging er auf das Zentrum des Platzes zu. Dort befand sich etwas, das aus der Ferne wie ein willkürlich zusammengetragener Steinhaufen wirkte. Als Insider davorstand, stöhnte er. Am liebsten wäre er weggerannt, ganz gleich wohin. Etwas fesselte ihn an diesen Ort. Etwas zwang ihn dazu, in die Hocke zu gehen und einzelne Stücke aus dem vermeintlichen Steinhaufen aufzuheben und zu betrachten. Er wähnte sich plötzlich wieder im HORT, wo er die Halluzinationen gehabt hatte. Ein großer, freier Platz, und in seiner Mitte ein Denkmal. Insider setzte die Stücke zusammen, so gut er konnte. Dort, wo es auseinandergebrochen war, setzte er Stein um Stein des Standbilds aufeinander, das nicht viel größer war als er. Sie hielten, wie von einer unsichtbaren Macht zusammengekittet.
Die Deformierten auf den Trümmerhaufen gaben keinen Laut mehr von sich. Die Zeit schien stillzustehen. Insider legte den Kopf in den Nacken und zwang sich dazu, das Standbild anzusehen. Er blickte hin und spürte ganz deutlich, wie etwas in ihm abstarb. Phrasen! dachte er verbittert, ohne noch wirkliche Gefühle empfinden zu können, nicht einmal Verzweiflung oder Haß auf Wöbbeking. Kosmische Ordnung! Für etwas kämpfen! Das waren Phrasen! Hatte Wöbbeking deshalb sein Leben verlängert – damit er dies hier noch sehen sollte? Damit ein Kreis sich schloß? Insider hob den Strahler vor sein Gesicht und starrte ihn an. »Das wäre zu einfach«, murmelte er. Vielleicht existierte irgendwo auf dieser Welt noch eine Bombe, vielleicht fand er sie hier, in einem Arsenal, das den Atomschlag überstanden hatte. Der HORT hatte ihn hierhergebracht. Raumfahrer von der SOL konnten es nur gewesen sein, die einem unschuldigen Volk zeigten, wie man solche Waffen baute. Insider lachte irr. Die SOL war nicht hier, aber der Hort sollte bezahlen! Der letzte der Kowalleks drehte sich um und ging langsam zurück zu den Ruinen, wo die Mutierten warteten. Er hatte keine Furcht mehr vor ihnen. Irgendwie würde er es schaffen, sich mit ihnen zu verständigen. Eigentlich sollte es nichts Leichteres geben, denn auch sie hatten letztendlich keine Überlebenschance. Einige mochten noch Kinder zeugen können, noch entstelltere Karikaturen eines Kowalleks. Hinter Insider begann das Standbild zu bröckeln. Der Kopf fiel herunter. Die vier Arme waren so ausgebreitet, als wollten sie den radioaktiven Staub auffangen. An vielen Stellen war die grüne Farbe noch nicht abgeblättert. In einem letzten Aufwallen von Zorn drehte Insider sich um und zerstrahlte das Denkmal eines seiner dreimal verfluchten Vorfahren.
* Sie griffen nicht wieder an und hätten das möglicherweise auch nie getan, wenn Insider nicht geflohen, sondern direkt auf sie zugegangen wäre – wie jetzt. Vielleicht spürten sie auch seine Entschlossenheit. Nun flohen sie. Insider rief ihnen zu, sie sollten stehenbleiben und ihm zuhören. Jetzt wußte er ja, daß sie ihn verstanden. Sie mußten ihn hassen, weil er so war wie die Mörder. Sie mußten sich für ihre Väter und Großväter schämen. Als Insider einsah, daß es mit Zureden keinen Sinn hatte, machte er Jagd auf die Deformierten, bis einer von ihnen hinfiel und nicht schnell genug wieder auf die Beine kam. Insider war über ihm und packte ihn. Der Mutierte war noch ein Kind und blickte ihn aus drei großen, hervorstehenden Augen entsetzt an. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Insider. »Ich tue dir nichts. Ich will etwas von dir wissen.« Der Unglückliche versuchte sich loszureißen. »Verstehst du mich?« fuhr Insider ihn an. »Du bist einer von ihnen!« schrie es ihm entgegen. »Geh weg! Alle sagen sie, daß ihr wieder aus euren Verstecken kommen werdet, um uns zu töten!« »Wer?« »Ihr in den Bunkern! Ihr, die uns die Bomben schicktet!« »Ich sagte dir doch, ich tue dir nichts. Der Krieg liegt länger zurück, als daß noch irgend jemand von den Verbrechern leben könnte. Ich komme aus dem Weltraum zurück!« Das würde das Mutantenkind kaum begreifen. Immerhin schien die Eindringlichkeit zu wirken, mit der Insider sprach. Der Junge hörte auf zu zappeln und musterte ihn von oben bis unten.
»Dann geh dahin zurück«, krächzte er. »Und erzähle allen, was du gesehen hast! Verschwinde und warne sie davor, das zu tun, was sie getan haben!« Insider war so überrascht, daß er das Kind losließ. Er versuchte, sein Alter zu schätzen. Zehn Jahre? Fünfzehn? Der Körper war deformiert, aber die Intelligenz schien wenigstens dieser Überlebende nicht ganz verloren zu haben. Diese Feststellung änderte nichts an Insiders Absichten, doch hier bot sich vielleicht die Gelegenheit, mehr über den Krieg und seine Ursachen zu erfahren. Das Kind lief nicht weg. Ohne daß Insider eine Frage zu stellen brauchte, begann es plötzlich zu erzählen. Dicke Tränen quollen aus den Froschaugen, als die Worte nur so aus dem zahnlosen Mund hervorsprudelten: »Unsere Anführer sagen, daß wir es niemals vergessen dürfen. Jeder sagt jedem Neuen, der zur Horde stößt, die Geschichte auf. Die Fremden aus dem Weltraum brachten uns viel Gutes, und wir lernten daraus, aber leider das Falsche. Wir bauten Maschinen und noch größere Städte. Wir vergaßen dafür, unsere Welt zu lieben. Einige wurden mächtiger als die anderen. Sie dachten bald nur noch daran, wie sie noch mehr für sich gewinnen konnten. Sie belauerten sich und versuchten, sich gegenseitig alles abzunehmen. Kannst du dir vorstellen, daß sie begannen, Grenzen zu ziehen? Sie spalteten unser Volk und hetzten die Kowalleks gegenseitig auf. Das ging soweit, daß sie immer furchtbarere Waffen bauten und sie eines Tages auch einsetzten. Sie haben alles zerstört!« Die letzten Worte waren kaum zu verstehen gewesen. Insider nahm das Kind in die Arme und starrte in den blutroten Himmel. »Sag mir deinen Namen«, bat er. »Bati-Phar«, flüsterte der Mutant. Und Bati-Phar sprach so, als wäre er damals dabeigewesen, wie ein Kowallek. Wie viele Generationen Überlebender mußten diese Worte an immer Entstelltere weitergegeben haben?
»Wo liegen die Bunker, Bati-Phar?« Das Kind machte einen Schritt zurück. »Du … du willst doch nicht hingehen?« »Nein«, log Insider. »Ich will es nur wissen.« Bati-Phar streckte wortlos eine Hand aus und deutete über den freien Platz hinweg. »Dort am Rand der Trümmer, wo das Glasland beginnt.« »Ich danke dir«, sagte Insider. »Lauf jetzt zu den anderen zurück.« »Nein! Ich weiß, was du tun willst! Das darfst du nicht, das …!« Insider empfand nur noch Abscheu vor sich, als er das Mutantenkind paralysierte. Ein Blick auf die Sauerstoffvorratsanzeige machte ihm klar, wie wenig Zeit er noch hatte.
* Er fand den Eingang zum unter der Oberfläche gelegenen Stollenund Kammernsystem am Rand einer bis zum Horizont reichenden Zone glasierten Landes. Eine der Bomben mußte hier eingeschlagen und mit ihrer ungeheuerlichen Hitzeentwicklung das unter der Humusschicht und Beton gelegene Gestein innerhalb von Sekunden geschmolzen haben. Die stählerne Treppe, die in die Tiefe hinabführte, war anfangs noch lückenhaft, das Metall verbogen oder ebenfalls geschmolzen und in bizarren Formen wieder erstarrt. Es war kein leichter Weg für Insider, auch dann nicht, als er die erste Schleuse passierte. Die Schotten standen auf. Vor und neben ihnen lagen die sterblichen Überreste der Kowalleks, die irgendwann versucht haben mußten, an die verseuchte Oberfläche zu steigen. Bilder des Grauens begegneten Insider und berührten ihn nicht mehr. Wie ein Roboter bahnte er sich seinen Weg, nur noch das eine Ziel vor Augen.
Er durchstreifte lange Korridore, bis er die Warnschilder sah. Markierungen an Betonwänden leiteten ihn weiter, bis er endlich vor dem Schott mit dem Atomsymbol stand. Selbst das haben sie von den Solanern übernommen! dachte er ohne Gemütsbewegung. Insider zerstrahlte die Verriegelunguund drang in das Arsenal ein. In gewaltigen Schächten standen noch zwei Raketen, für die der Abschußbefehl nicht mehr gekommen war. Insider beachtete sie nicht. Ihn interessierten nur die Wasserstoffbomben in den Bodennischen. Es waren keine Sprengköpfe für Raketen. Irgendwann mußte sich über dem Bunker ein Rollfeld mit Bombern befunden haben, die auf ihre Bestückung warteten. Auch dazu war es nicht mehr gekommen. Insider brauchte seine ganze Körperkraft, um eine der Bomben zu heben, doch er trug sie aus dem Bunker, durch die Reste der Stadt, bis zum HORT. Die geheimnisvolle Kraft, die das Schiff in diese Galaxis und nach Zwzwko geführt hatte, hatte es auch schutzlos gemacht. Insider traf auf keinen Widerstand. Nun waren alle Systeme ohne Ausnahme abgeschaltet. Schotte mußten manuell geöffnet werden, die Bombe über Treppen und Leitern mühsam in die Zentrale gebracht. Kein Aufzug funktionierte mehr. Kein Projektor würde einen Schutzschirm aufbauen, der allein Insiders Vorhaben noch hätte vereiteln können. Der Extra ließ die H-Bombe fallen und brach vollkommen erschöpft neben ihr zusammen. Es dauerte eine Weile, bis er wieder zu Atem kam. Er stieg aus dem Schutzanzug und sah Oggar an. Der Androidenkörper hatte sich um keinen Zentimeter bewegt, seitdem Insider den HORT verlassen hatte. In ihm konnte kein Leben mehr sein. Das Mnemodukt schwieg. Kein Wöbbeking tauchte körperlos auf und hinderte Insider daran, die Bombe scharf zu machen. Er stellte die Zündvorrichtung auf zehn Minuten ein, legte sich
neben den leise tickenden Zylinder und wartete auf das Ende. »Du hast es getan!« sagte da plötzlich eine krächzende Stimme. »Du hast es getan!« Insider fuhr hoch und starrte das Mutantenkind an. »Du hast es wirklich getan!« schrie Bati-Phar noch einmal. »Ich habe gesehen, wie du zurückkamst und die Bombe hierher schlepptest. Was willst du jetzt tun – mich wieder lähmen?«
7. Es war wie ein Brodeln, das tief aus dem Krater kam, ein tiefblaues Leuchten, das die Höhle nur allmählich in seine Helligkeit tauchte. Etwas stieg aus der Tiefe, schob sich Meter um Meter an den Trichterwänden empor und wuchs nicht nur an Umfang. Es hatte in einem Jahrtausende und mehr währenden Schlummer gelegen, gefangen in den Fesseln, die es sich selbst angelegt hätte. Ganz zu Anfang war es sich der eigenen Existenz nicht mehr bewußt gewesen. Dann waren Teile der Fesseln gelockert worden, als Stein um Stein dem Krater geopfert wurde. Etwas vom Ganzen war erwacht. Empfindliche Sinne hatten sich behutsam hinausgetastet, bis sie das neue Leben fanden – Leben, das sich zum zweitenmal anschickte, diese Welt zu erobern. Es war bereits fortgeschritten. Die Nachfolger durchzogen als jagende Nomadenstämme ihre Welt, die sie »die Ebenen« nannten. Sie lernten sie kennen und stießen in kleinen Gruppen immer weiter vor. Besonders Mutige hatten auf der Suche nach Lebensraum jenseits der Gipfel das Tal entdeckt und etwas von dem gespürt, das sich hierher zurückgezogen hatte. Sie waren geblieben, um der Macht zu dienen, die sie die »schlummernde« nannten. Sie hatten im Lauf der Zeit die überall verstreuten Steine gefunden
und zum Kern gebracht, dem absoluten Minimum an materieller Substanz, das notwendig war, um das geistige Potential zu erhalten. Es hatte einmal diese Welt beherrscht, die nicht immer in der sternenlosen Leere zwischen den Galaxien gestanden hatte. Die Erinnerung rief Wehmut hervor, zumal Chator nun abermals das gleiche grausame Schicksal drohte. Bilder entstanden, während der Prozeß der Loslösung vom Stein sich beschleunigte: Die Fol-Chator hatten jene Stufe der Evolution erreicht, die keine weitere Entwicklung als körpergebundenes Leben mehr sinnvoll erscheinen ließ. Es gab keinen materiellen Anreiz mehr. Sie besaßen alles, was sich aus Energie und Materie nur formen ließ. Das technische Zeitalter mit all seinen Segen und Flüchen lag weit hinter ihnen, als sie sich auf den Schritt hin zur rein geistigen Existenz vorbereiteten. Ihre Welt drehte sich um eine noch junge Sonne, die sie liebevoll nur »Mutter« nannten, wie ihre Galaxis schlicht und einfach »Urschoß« hieß. Natürlich wußten die Fol-Chator von den Bewegungen der Sterne, und daß es andere Intelligenzen gab, die ihr Heil darin sahen, mit Hilfe von technischen Einrichtungen die Grenze der Lichtgeschwindigkeit zu überwinden und von Sonne zu Sonne zu springen. In immer größeren Kollektiven waren sie in der Lage, die Wünsche und Sehnsüchte der anderen zu empfangen. Sie bemitleideten sie, denn die Sinnlosigkeit dieser Anstrengungen war ihnen bewußt. Sie selbst hatten nicht einmal die Nachbarsysteme mit technischen Mitteln erforscht, und auch die anderen würden eines Tages einsehen, daß es viel leichter und erfüllender war, den reinen Geist auf die Reise zu schicken. Die Fol-Chator waren davon überzeugt, daß es dann ein Begegnen ohne Schranken geben würde. Sie empfingen auch die Ausstrahlungen aggressiver Geschöpfe, denen der Weltraum nur Macht und Reichtum versprach. Sie ignorierten sie, denn sie hielten sie für entartet und ohne Überlebenschance. Als sie den Irrtum erkannten, war es zu spät. Die Raumschiffe der Fremden standen am Himmel und eröffneten ohne den Versuch einer friedlichen Kontaktaufnahme das Feuer. Selbst falls die
Fol-Chator dazu bereit gewesen wären, auf Gewalt mit Gewalt zu antworten, hätten sie keine Mittel mehr besessen, sich der Invasoren zu erwehren. Für zwei Tage zuckten die Strahlbahnen der Fremden auf Chator herab, bis alle Meditationszentren und Kuppeln zerstört waren. In einem verzweifelten Kraftakt gelang es den Überlebenden, sich zur geistigen Einheit zusammenzutun. Es war ein Sprung ins Ungewisse, denn zwar hatte man eine Gesteinsart mit allen Eigenschaften entdeckt, die eine Bewußtseinskonservierung über längere Zeit hinweg versprachen, doch waren derartige Experimente erst für die Zukunft geplant gewesen. Eine Zukunft gab es für das Volk der Fol-Chator nicht mehr, obwohl der Sprung gelang. Tief in den Bergen fanden sich ihre Bewußtseine zusammen und vereinten sich. Sie warteten, bis ihr Planet geplündert war und die Fremden sich neuen Zielen zuwandten. Dann unternahmen sie eine zweite geistige Anstrengung, die sie fast zum Erlöschen brachte. Sie stießen Chator mit seinen Monden und seiner Sonne aus dem Gravitationsfeld ihrer Galaxis heraus in den Leerraum. Nicht alles Leben war erloschen, und die Sonne spendete auch weiterhin ihr wärmendes Licht. Eines Tages, darin lag die ganze Hoffnung der Vergeistigten, würde sich aus den primitiven Formen erneut intelligentes Dasein entwickeln. Darüber wollten sie wachen, ohne den Gang der Dinge zu beeinflussen und dadurch zu stören. Deshalb sprengten sie den Stein, der auf dem Grund eines tiefen Kraters lag, bis auf den Kern. Erst wenn auch der letzte der überall verstreuten Splitter ihn wieder zu einem Ganzen fügte, würden sie ihre Fesseln ablegen und zu neuer Aktivität emporsteigen können. Sie sorgten dafür, daß der letzte Splitter einem der nach ihnen Kommenden erst dann den Weg zu ihnen wies, wenn sie entweder die gleiche Stufe der Reife erreicht hatten oder erneut von fremden Eroberern bedroht waren. Dieser Tag, so schien es, war nun gekommen. Das blaue Leuchten stieg aus dem Krater und kroch wie in Nebelschwaden über den Felsboden, tastend und espernd, wo es
nichts mehr zu espern gab. Der Träger des letzten Steines lag ohne Leben. Das Leuchten konzentrierte sich über ihm und drang in ihn ein, bis auch die letzten Lichter sich scheinbar verflüchtigt hatten. Zeeths Hände begannen zu zucken, dann die Arme, die Beine. Seine Brust hob und senkte sich. Der junge Chatori schlug die Augen auf. Ganz langsam hob sich sein Kopf. Er sah, obwohl es dunkel war. Nur für einen Moment wunderte er sich darüber, wo er war. Seine Finger strichen über die Haut, deren Wunden ohne eine Narbe verheilt waren. Er begriff das nicht, aber er wußte, daß es auch das seine Richtigkeit hatte. Ebensowenig berührte ihn die allmählich wiedereinsetzende Erinnerung. Er hätte aufschreien müssen, doch irgend etwas in ihm war stärker als alle Angst. Zeeth fühlte sich auf seltsame Weise emporgehoben. Es war ein gutes Gefühl, es gab ihm Kraft und ließ ihn wissen, was er nun zu tun hatte. Das genügte ihm. Er trug die Schlummernde Macht in sich. Seine Zweifel waren unbegründet gewesen. Das Ungeheuerliche war vom ersten bewußten Augenblick an etwas Selbstverständliches, als hätte am Ende seines Weges nie etwas anderes stehen können. Alle die vielen Fragen, die seinen Geist jetzt nur flüchtig streiften, würden ihre Antwort erfahren, wenn die Zeit gekommen war. Zeeth richtete sich auf. Für einen ganz kurzen Moment nur verspürte er einen Schwindel, aber keinerlei Schmerzen mehr. Er warf einen Blick zurück zum Krater. Etwas in ihm nahm Abschied. Zeeth drehte sich um und begann zu laufen. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand er den Weg aus dem Stollen zurück in den Talkessel. Das Große Auge war noch nicht wieder erblüht, doch die Dunkelheit hielt ihn nicht auf. Behende kletternd, überwand er die Steilwände. Die Kreaturen des Bösen griffen ihn
nicht an. Wo sie auftauchten, ergriffen sie die Flucht vor ihm. Zeeth hatte nur eine Furcht. Er wußte, daß er ohne eine einzige Rast rennen und klettern würde, bis er das Dorf erreicht hatte. Aber er wagte nicht daran zu denken, daß er zu spät kommen konnte.
* Carna war mit starken Lianen an einen Pflock gefesselt, den ihre eigenen früheren Gefährten mitten im Feuerkreis in den Boden gerammt hatten. Die ganze Nacht über hatten die Chatoris zwischen den Feuern gesessen und nie gehörte Gesänge von sich gegeben. Viele der neu Hinzugekommenen mußten weit hinter den Hütten lagern. Einige führten Tänze auf oder übten sich in gegenseitigem Kampf, so wie der Fremde es ihnen gezeigt hatte. Immer häufiger geschah es dabei, daß Jäger ihre Gegner im Rausch der Sinne nicht nur mittels ihrer Geisteskräfte für kurze Zeit lähmten, sondern umbrachten. Die Toten wurden weggeschafft, andere traten an ihre Stelle. So ging es die ganze Nacht durch, und Carna fragte sich immer wieder, welche Macht der Fremde über ihr Volk hatte. Allein die stumpf und angriffslustig machenden Gebräue aus Pflanzensäften und Tierblut, die die Klaaht-Ohns verteilten, konnten sie nicht so verändern. Und doch schien es ihr manchmal so, als sollten die Jäger mehr und mehr zur Besinnung kommen, je länger der Silberhaarige fortblieb. Sie schrie den Besessenen ihre Verachtung entgegen und warnte sie vor den schrecklichen Folgen ihres Treibens. Sie ertrug die Schmerzen, als sie dafür geschlagen wurde. Jeder nachdenkliche Blick, den sie in den Augen eines Chatoris sah, war ihr Belonung und Ansporn.
Wenn der Fremde nur lange genug fort bleibt, dachte sie verzweifelt, kann ich es schaffen! Etwas von der Schlummernden Macht ist in mir, seitdem Zeeth mir den Stein zeigte. Seine reinigende Kraft hat mich vom Bösen befreit! Sie muß auf die anderen wirken! Ihre Hoffnung erlosch, als Atlan an der Seite des Klaaht-Ohns vor die Jäger hintrat. Er blieb vor ihr stehen und deutete anklagend auf sie. »Zeeth ist tot!« rief er laut aus. »Nicht ich habe ihn gerichtet, sondern er sich selbst durch die fremde Macht, die er wie Carna in sich trug! Sie hat einen ihrer beiden Diener verloren – nun ist es an euch, sie völlig zu bannen! Die Angreifer sollen durch sie nicht wissen, daß wir vorbereitet sein werden, wen sie in ihrem Himmelsdrachen erscheinen!« »Himmelsdrache!« entfuhr es dem Klaaht-Ohn. Auch diese Überraschung wirkte gespielt. »Ich werde euch sagen, wie unser Feind aussehen wird, nachdem ihr seine Dienerin gerichtet habt!« Carna brachte keinen Laut mehr heraus. Sie wußte, daß der Stammesführer nun ihren Tod befehlen würde, und hoffte doch noch auf ein Wunder. Der Fremde log! Zeeth durfte nicht tot sein! Warum hatte er ihn denn nicht mitgebracht? Warum erwähnte er die Schlummernde Macht mit keinem einzigen Wort? Weil er Angst hat! durchfuhr es sie. Angst vor ihr und vor Zeeth, der sie uns bringen wird! Dieses Wissen war plötzlich in ihr, und die Chatori sandte einen stummen Hilferuf an ihn. Sie schloß die Augen und hoffte inbrünstig, daß Zeeth zwischen den Feuern erscheinen möge, um dem grausamen Treiben ein Ende zu bereiten. Sie hoffte bis zuletzt, als die Stimme des Klaaht-Ohns ertönte und die geballten Geisteskräfte ihrer Stammesbrüder und -schwestern sie auslöschten.
Als man sie losband und wegbrachte, wußte Hapeldan, daß seine Gewalt über die Eingeborenen vollkommen war. »Beschreibe uns die Fremden!« schrien sie. »Sage uns, wie wir sie vernichten können!« Hapeldan ließ sich Zeit und wartete, bis jeder abermals von dem enthemmenden Gebräu getrunken hatte. Dann wurde er dort konkreter, wo der Klaaht-Ohn bisher nur vage Andeutungen hatte machen dürfen. »Es sind nur zwei Feinde!« verkündete er. »Doch in ihrem Himmelsdrachen werden sie stärker sein als alle Chatoris der Ebenen!« Er gab eine Beschreibung des HORTs und von Oggar und Insider. »Wir müssen sie aus dem Himmelsdrachen locken, bevor sie ihn sein alles verbrennendes Feuer speien lassen können! Dann sind sie schutzlos gegen eure Kräfte! Hört nun, welcher List wir uns dazu bedienen werden …«
8. Insiders erste Reaktion bestand darin, daß er sich zu Oggar umdrehte, als erwartete er sich Hilfe von diesem. Schlagartig wurde ihm klar, was er wirklich getan hatte. Sich selbst umzubringen und dabei den HORT in die Luft zu jagen, war eine Sache – Hunderte von Mutanten in der Explosion sterben zu lassen, eine andere. Der HORT wa nicht gegen die Umwelt abgeschirmt. Bati-Phar ergriff den Extra und rüttelte ihn mit Kräften, die Insider dem Kind niemals zugetraut hätte. »Warum?« fragte Bati-Phar. »Warum haßt du uns so sehr – und dich selbst?« Insider schüttelte ihn ab und wich bis zu einer Wand zurück. Er warf einen flehenden Blick hinüber zum Mnemodukt, das ihm auch
nicht mehr helfen konnte. »Geh weg!« rief er, als er sich endlich einigermaßen gefangen hatte. »Lauf, so schnell du kannst! Du kennst den Weg aus dem Schiff, denn du bist mir ja nachgeschlichen! Du hast noch … acht Minuten! Verstecke dich irgendwo!« »Wo denn?« Der Anblick des verzweifelten Kindes, körperlich so entstellt und dabei doch hochintelligent, bewirkte in Insider das, was er aus eigener Kraft nicht geschafft hatte. Etwas von seiner Endzeitstimmung löste sich, doch die Aufgabe, die seinem Leben eine Spur von Sinn gegeben hätte, war unlösbar. Insider warf sich auf die Bombe und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, sie zu entschärfen. Die Zeit lief erbarmungslos ab. »Bringe uns in den Weltraum, Mnemodukt!« schrie er die Kugel an. »Wöbbeking! Du mußt die Schutzschirme wieder aktivieren, hörst du nicht!« Nur das Ticken des Zeitzünders antwortete ihm. Und immer noch stand Bati-Phar vor ihm und sah ihn aus seinen großen, traurigen Augen an. Er hätte mein Kind sein können! dachte Insider. Wenn meine Vorfahren nicht mit den Solanern gegangen, sondern auf Zwzwko geblieben wären, hätte dieser Mutantenjunge mein Kind sein können! Er sank zu Boden und haßte sich, wünschte sich, daß er den Zünder auf eine kürzere Zeit eingestellt hätte, daß er in diesem Moment sterben könnte. Eine Hand legte sich sanft auf seinen Nacken. »Du kommst aus dem Weltraum«, hörte er Bati-Phars Stimme. »Meine Eltern und deren Eltern wußten, daß eine Gruppe unserer Vorfahren Unsere Welt Zwzwko mit den Fremden verließ. Du bist zurückgekommen und mußtest sehen, was aus ihr geworden ist. Ich glaube, daß ich dich verstehen kann.« »Du verstehst gar nichts«, versetzte Insider.
»Ich bleibe bei dir, Mann ohne Namen. Ob ich hier sterbe oder draußen, ändert nun nichts mehr. Vielleicht mußte es alles so kommen, vielleicht war die Strafe noch nicht groß genug.« So redete kein normales Kind. Die plötzliche Ahnung, daß die Mutierten vielleicht doch nicht zum allmählichen Aussterben verurteilt sein könnten, sondern durch eine gnädige Fügung des Schicksals den Keim einer neuen, weiseren Intelligenz in sich trugen, machte alles nur noch viel schlimmer für Insider. »Nenne mir deinen Namen«, bat Bati-Phar, und kein Haß klang in seiner Stimme mit, nur Mitleid. Vollstrecker! war Insiders erster Gedanke. Besiegler des Untergangs! Er sprach es nicht aus, sondern erfüllte die Bitte des Jungen. Noch drei Minuten … Sie sprachen nichts mehr, warteten auf die alles beendende Explosion. Es waren Minuten, die Insider nicht einmal seinem schlimmsten Feind gewünscht hätte. Als die Anzeige des Zündes sich immer schneller der roten Marke näherte, schloß er die Augen. In Gedanken zählte er die Sekunden mit. »Spielverderber!« War auch Bati-Phar nun schon vom Wahnsinn befallen? Wie konnte er das ein Spiel nennen? »Du bist aber ein ganz dummer Spielverderber!« Das war nicht Bati-Phars Stimme, und so redete er auch nicht. Insider fuhr herum und sah das 18 Zentimeter hohe und 11 Zentimeter dicke Ei mit der hellgrün und hellrot glitzernden, aus ineinander übergehenden seckseckigen Flächen bestehenden Oberfläche über sich schweben. Das »Ei« durchkurvte einige Male die Zentrale, blieb knapp zehn Zentimeter über Oggars Kopf in der Luft stehen und schien sich auf unbegreifliche Weise um den so leblos Erscheinenden zu kümmern. Dann schwebte es zu Insider zurück – und zur Bombe. Es sagte nichts mehr, doch Insider glaubte in diesen Sekunden,
von allen Seiten mit Worten wie »Narr«, »Dummkopf« oder »Versager« bedacht zu werden. »Was … was ist das?« fragte Bati-Phar erstaunt. »Gehört es zum Schiff?« »Nein«, brachte der Extra hervor. »Das ist …« Chybrain unterbrach ihn durch einen mehr als riskanten Anflug. Beim Versuch, ihm auszuweichen, stolperte Insider über die eigenen Beine. Als er den Kopf wieder hob, sah er, wie sich die Bombe, die jeden Moment gezündet werden mußte, vom Boden hob. »Spielverderber!« rief Chybrain noch einmal, bevor er mit der Bombe verschwand. Insider starrte auf die leere Stelle. Er konnte nicht fassen, daß es vorbei sein sollte. Chybrains Erscheinen erschien ihm wie ein unwirklicher Spuk. Er mußte es geträumt haben. Aber Bati-Phar zog ihn vom Boden hoch und fragte: »Hat dieses Ding uns gerettet? Passiert jetzt nichts mehr?« Er sah über die Schulter. »Ich meine, außer daß dein Begleiter wach wird?« Das war nun endgültig zuviel für den Kowallek. Er sah gerade noch, wie neues Leben in Oggars Androidenkörper kam, bevor er das Bewußtsein verlor. Oggar stemmte sich aus dem Sessel und sah sich so um, als stände er zum erstenmal in der Zentrale seines Schiffes. Er schüttelte den Kopf, als er Insider reglos am Boden sah und den jungen Mutanten neben ihm. »Was hast du mit ihm gemacht?« fragte er noch sichtlich benommen. Als er keine Antwort erhielt und nur die fragenden, großen Augen des Kindes auf sich gerichtet sah, wandte er sich ärgerlich ans Mnemodukt: »Ich will wissen, was hier geschehen ist und wie ein Fremder an Bord kommen konnte! Ich will wissen, wo wir hier überhaupt sind!« Die Positronik aktivierte sich. Bildschirme wurden hell, Kontrolllichter blinkten. Fassungslos sah Oggar, in welcher Glut-
und Trümmerwüste der HORT stand. Und sämtliche Schutzsysteme waren ausgeschaltet gewesen, das Mnemodukt ebenfalls! »Was hat das zu bedeuten?« fragte Oggar. »Mnemodukt, soll das heißen, daß wir das Ziel erreicht haben?« »Ich bin nicht im Besitz ausreichender Daten«, antwortete die Kugel. »Nur Insider dürfte wissen, was nach meiner Selbstdesaktivierung geschah.« »Du hast dich selbst …?« Oggar machte zwei, drei Schritte auf die Positronik zu, vorbei an dem staunenden Kind. Er brauchte Minuten, um sich zur nächsten Frage durchzuringen. Dann erfuhr er vom Mnemodukt, was sich aus dessen Sicht bis zu seiner Abschaltung ereignet hatte. »Aber ich weiß nichts davon!« begehrte er auf. »Sieh mich doch an! Ich bin weder krank noch körperlich oder geistig geschwächt!« »Frage Insider, wenn er zu sich kommt«, riet das Mnemodukt ihm. Bati-Phar zupfte am Ärmel der blauen Kombination. Oggar schien sich erst jetzt wieder an ihn zu erinnern. »Bedeutet das«, fragte der Junge, »daß du der Herr dieses Schiffes bist?« »Natürlich«, antwortete das Mischwesen etwas unwirsch. Mache nicht ihn für unseren Zustand verantwortlich! meldete sich Sternfeuer im Multibewußtsein. Er muß ein Eingeborener dieser Welt sein. Ich kann von Insider nichts empfangen außer wirren Traumbildern und einem alles überlagernden Schuld- und Schamgefühl. Frage das Kind doch, wo wir sind! Oggar tat es, obwohl er sich nichts davon versprach. »Natürlich weiß ich es«, sagte Bati-Phar. »Dein Schiff steht auf ›Unserer Welt Zwzwko‹.« Er machte eine Geste in Insiders Richtung. »Auf seiner Heimat. Darum wollte er sich und das Schiff ja mit der Bombe vernichten.« Oggar faßte sich an die Stirn, als er begriff. Er ließ sich von Bati-Phar berichten und erfuhr, in welcher Gefahr
er geschwebt hatte – ganz abgesehen von seinem Zustand, der ihm nach wie vor unerinnerlich blieb. Für ihn war es vielmehr so, als hätte er nur für zwei Sekunden erschöpft die Augen geschlossen. »Was machst du mit ihm?« fragte Bati-Phar, als Oggar etwas aus einem Schubfach holte und sich über den Besinnungslosen beugte. »Ihn zu sich bringen, aber was interessiert dich das? Sieh lieber zu, daß du von Bord kommst.« Carch kicherte lautlos. Wie denn, Partner? Glaubst du, daß er sich in die Zentrale teleportiert hat? »Es interessiert mich, weil ich ihn mag«, antwortete das Kind. Etwas gereizt, fügte es hinzu: »Mehr als dich, Zweiarmiger! Wenn du ihm etwas tust, kannst du etwas erleben!« »Wir tun ihm bestimmt nichts«, sprach Sternfeuer aus dem Mischwesen. »Aber laß uns bitte jetzt für einen Moment in Ruhe, ja? Es ist wichtig für uns, daß Insider uns sagt, wo wir sind.« »Auf Zwzwko!« wiederholte das Mutantenkind verständnislos. »Das habe ich euch doch schon gesagt.« Aber nicht, wo der Planet lag. Nicht, wieviel Zeit Oggar verloren hatte. Oggar setzte die Injektionspistole an, als die Alarmsirenen durch das Schiff heulten. Ein Zittern durchlief den HORT. Das Schiff hob sich von der vernarbten Oberfläche Zwzwkos und startete in den Weltraum. »Was soll das, Mnemodukt!« schrie Oggar die Positronik an. »Wer hat dir den Startbefehl gegeben!« »Wir wurden angegriffen«, tönte es teilnahmslos aus der Kugel. »Ich meine damit nicht die Steinwürfe von den immer nähergekommenen Mutanten, sondern die Bomben, die sie unter dem HORT zündeten.« Im gleichen Augenblick fingen die Schutzschirme die atomaren Gewalten auf, die den Doppeldiskus gerade noch erreichten. Bati-Phar sah auf den Schirmen, wie sich die strahlenden Pilze
ausbreiteten. Tränen glitzerten auf seinen Wangen. Für Oggar, Sternfeuer und Cpt'Carch kam das alles viel zu schnell. Beeile dich mit Insider! drängte das Bewußtsein der jungen Solanerin. Wir haben jetzt nicht mehr nur unser Problem! Wir müssen uns um den Mutanten kümmern – oder wollt ihr ihn auch nun noch wieder auf dem Planeten absetzen?
* Insider sollte das erklären, was er selbst nur zum Teil oder gar nicht verstand. Er war bei sich und sah Oggar und Bati-Phar. Der HORT war im Weltraum, doch nicht weit genug von Zwzwko entfernt, um dem Kowallek den Schock zu ersparen. Auch das, dachte er in grenzenloser Enttäuschung, geschah durch meine Schuld. Er beantwortete Oggars drängende Fragen wie ein Roboter, ohne eine Miene zu verziehen, ohne sein Gegenüber anzublicken. Er sagte, was er wußte oder zu wissen glaubte, wobei er alles aussparte, was mit Zwzwko zusammenhing. Er konnte einfach nicht darüber reden, erwähnte Chybrains Erscheinen noch und war froh, als das Mnemodukt sich wieder meldete und auf Oggars immer wieder gestellte Frage für ihn antwortete: »Die Koordinaten des Zieles sind in mir gespeichert.« Als ob es nichts Wichtigeres mehr gäbe! »Wie ist das möglich?« fragte das Mischwesen. »Ich kann nur Insiders Aussagen auszuwerten versuchen. Demnach wurde der Kurs hierher von einer Wesenheit vorprogrammiert, die sich Wöbbeking nennt. Wöbbeking war es auch, der alle Schutzsysteme ausschalten ließ. Zumindest die geheimnisvolle Art seiner Präsenz im HORT läßt eine Parallele zu Chybrains Erscheinen zu. Hierbei klammere ich die Möglichkeit aus,
daß Insider nur phantasiert. Chybrains Eingreifen bestärkt diese Einschätzung, denn nur auf sein Einwirken kann dein Erwachen zurückzuführen sein.« »Aber du bist dir nicht sicher?« fragte Oggar. »Nein. Sicher erscheint mir nur, daß du ohne einen fremden Einfluß niemals wieder aus deiner todesähnlichen Starre erwacht wärest, die sowohl ich als auch das Mnemodukt II für den endgültigen Tod hielten. Um zur Frage nach den Koordinaten zurückzukommen: sie können nur durch Wöbbeking in mir verankert worden sein, denn uns fehlt jeder Bezugspunkt. Ich war desaktiviert und kann auch über die Beobachtungssysteme des HORTs keinen Hinweis darauf finden, wo diese Galaxis liegt, in der wir uns nun befinden.« Und das wird immer ein Geheimnis bleiben! dachte Insider. Er nahm sich vor, eine Manipulation an den Speichern von SENECA und in den Logbucheintragungen vorzunehmen, sollte er jemals wieder die SOL betreten. Niemand soll Zwzwko noch mal sehen! Oggar sparte nicht mit Vorwürfen an das Mnemodukt, sich einfach abgeschaltet zu haben. Dann jedoch schien alles Unerklärliche vergessen und nur wieder das eine Ziel in ihm zu dominieren. »Wir gehen auf Kurs!« befahl er der Positronik. »Höchster Überlichtfaktor!« Er hat Angst, daß die SOL vor ihm auf Hapeldan stößt und ihm seine Rache nimmt, dachte Insider. Der Kowallek hatte plötzlich wieder Verständnis für Oggar. Er war tiefer gefallen, als er dies jemals für ein vernunftbegabtes Wesen für erträglich gehalten hätte. Er sah seine Fehler und wußte, daß er kein Recht hatte, andere zu verurteilen. Im Gegenteil glaubte er, Oggar nun zum erstenmal wirklich zu verstehen. Auch Oggars Volk war vernichtet worden, nur mit dem Unterschied, daß es nicht selbst die Schuld dafür trug.
Oggar jagte den Mörder der Pers-Oggaren. Was hätte er an seiner Stelle getan? Insider trat an das Mischwesen heran und sagte leise: »Wenn ich dir jetzt irgendwie helfen kann …« Oggar legte eine Hand auf seine Schulter, und auch seine Stimme klang endlich versöhnlich: »Du wirst es können, Insider, wenn wir am Ziel sind. Du hast dich im Stich gelassen gefühlt. Es tut mir leid.« Damit war alles gesagt. Oggar sprach nicht von dem, was Sternfeuer aus Insiders Gedanken herausgelesen haben mußte. Er erwähnte den Krieg und die Selbstauslöschung seiner Rasse mit keinem Wort. Insider war ihm dankbar dafür, doch auch das ließ seine Scham nur noch größer werden. Er sah sich nach Bati-Phar um. Das Mutantenkind lehnte an einem Schaltpult und erwiderte seinen Blick. Er wird eine Zukunft haben! schwor sich Insider. Ich weiß noch nicht wie, aber wenn es das letzte ist, das ich in diesem Leben vollbringe, er wird eine Zukunft haben! Nur wenige Sekunden, nachdem der HORT in Normalflug übergegangen und die Nebelflecke der Galaxien auf den Bildschirmen erschienen waren, meldete sich das Mnemodukt mit den ersten Auswertungen: »Position lokalisiert, Entfernung von Pers-Mohandot 36,7 Millionen Lichtjahre; genauere Daten …« Oggar und Insider hörten sich die nun folgenden Angaben an, ohne mit den Gedanken dabei zu sein. Der HORT befand sich im Leerraum. Weit und breit war keine Sonne zusehen. Die einzige Besonderheit bestand in einer ausgedehnten Wolke kosmischen Staubes in nur einigen Lichtminuten Entfernung. Das Mnemodukt nannte sie eine Dunkelwolke, obwohl der Begriff hier im Nichts zwischen den Milchstraßen eher absurd wirkte. Es
konnte nur die Gravitationsfelder feststellen, die die Materiepartikel zusammenhielt, jedoch keine größeren Körper oder gar Planeten. »Dann müssen die Koordinaten falsch sein!« rief Oggar aus. »Das ist möglich«, räumte das Mnemodukt ein, »aber es sind die einzigen, die ich besitze.« »Was soll das heißen? Was ist mit den anderen, die der Kontakter übermittelte? Wenn du jetzt durch Pers-Mohandot einen Bezugspunkt hast und sicher auch All-Mohandot …« »Die ursprünglichen Koordinaten wurden gelöscht«, lautete die ernüchterne Antwort. Diesmal ersparte die Positronik sich Spekulationen über das Wie und Warum. Oggar ballte eine Faust und schlug sich einige Male in die Innenfläche der anderen Hand. »Die SOL müßte hier sein, oder?« fragte er. »Sie hätte auf uns gewartet.« Insider nickte schwach. Er verzichtete darauf, die ganze Palette von Möglichkeiten aufzuzählen, die Atlan und Hayes dazu bewogen haben könnten, diesen Ort zu verlassen – falls die SOL jemals hier eingetroffen war. Der Extra sprach überhaupt nur noch, wenn er direkt gefragt wurde. Wenn er bei Bati-Phar stand, hatte Oggar den Eindruck, daß zwischen den beiden ein stummes Zwiegespräch stattfände. »Unser einziger Anhaltspunkt ist die Dunkelwolke«, meldete das Mnemodukt. »Wir sollten sie untersuchen.« »Was bleibt uns anderes übrig«, sagte Oggar finster. »Also schön. Wir gehen langsam an sie heran.« Er sah keinen wirklichen Sinn darin, bis etwa die Hälfte der Strecke bis zum Rand der Wolke zurückgelegt war. Er glaubte plötzlich, jemanden zu ihm reden zu hören. Verwundert drehte er sich zu Insider und dem Mutantenkind um. Beide standen teilnahmslos vor einem Bildschirm. Doch die Stimme war wieder da. Sie wisperte in ihm, zwar noch unverständlich, aber mit ständig zunehmender Intensität.
Oggar schüttelte den Kopf und überprüfte die Ortungssysteme des HORTs. Gab es doch ein Schiff in der Nähe, das sich der Entdeckung durch entsprechende Defensivsysteme entzog? Ein Schiff mit einem oder mehreren Telepathen an Bord? Sternfeuer erkannte die Wahrheit als erste. Du wirst vergeblich suchen, Oggar, teilte sie mit. Du übersiehst das Naheliegende. Oggar und Cpt'Carch wußten im gleichen Augenblick, was sie damit meinte. Dennoch dauerte es Sekunden, bis Oggar die Wahrheit zu akzeptieren bereit war. »Es ist die Wolke, Mnemodukt«, sagte er fast andächtig. »Was wir für eine rein zufällige, nur durch Schwerkraftfelder zusammengehaltene Ansammlung von Staubpartikeln hielten, ist eine phantastische Lebensform. Ich würde es nicht glauben, wenn sie nicht zu uns spräche.« Das war nicht übertrieben. Über Sternfeuers Telepathie, im Multibewußtsein noch verstärkt, konnte Oggar die Botschaft der Wolke nun klar verstehen, ja sogar mit ihr kommunizieren. Sie erzählte ihm von der SOL – und von Hidden-X…
* Ich habe keinen Namen wie ihr. Ich weiß nicht einmal, wie, wann und woraus ich entstand. Das Bewußtsein war plötzlich da, als die Sternennebel noch viel näher beieinanderstanden. Daß es Sternenansammlungen sind, erfuhr ich erst aus den Gedanken von Wesen wie ihr, die ich belauschen konnte, wenn sie in meine Nähe kamen. Nähe, erkannte Oggar, bedeutete für die Wolke nichts Konkretes. Alles war ihr nahe, das sie mit ihren unglaublichen Sinnen erreichen konnte.
Oggar sprach die Botschaft laut nach, um auch das Mnemodukt und Insider an der unwirklich erscheinenden Unterhaltung teilnehmen zu lassen. Er fragte: »Wann geschah dies zum letztenmal?« Vor so kurzer Zeit, daß es noch jetzt sein könnte. Etwas wie Trauer mischte sich in die psionische Stimme. Noch nie bot sich mir die Gelegenheit, solches Leben wirklich zu studieren. Als ich meinen Fehler erkannte, war es fast zu spät. Dabei wollte ich die Ankömmlinge doch nur fühlen und wissen lassen, daß auch ich Leben bin. Sie haben mich nicht verstanden. Klar und deutlich erschienen Bilder im Multibewußtsein. Oggar sah eine Korvette der SOL in die Wolke eindringen und zermalmt werden, dann das Hantelschiff selbst, das in einiger Entfernung wartete. Dann tauchten drei fremde Raumschiffe auf – und hinter ihnen kaum erkennbar ein viertes. Eine Raumschlacht entbrannte. Als die Korvette auseinanderbrach, erschien auch in der Wolke ein kleineres Raumschiff, das die im letzten Moment ausgestiegenen Raumfahrer aufnahm. Oggar »sah« Atlan, Uster Brick, Hage Nockemann, den Roboter Blödel und Sanny, dazu ein Wesen mit der Körperform eines Rieseninsekts. Auch sein Schiff konnte den Gewalten innerhalb der Wolke nicht lange standhalten. Sie retteten sich, erklärte die Wolke weiter und bewies dann, daß sie aus den Gedanken der Raumfahrer auch deren Namen und die Bezeichnungen für die ihr fremden Objekte erfahren hatte: Die SOL und die drei großen Schiffe der Vulnurer oder Bekehrer verschwanden kurz darauf, nachdem sie den Kampf gegeneinander eingestellt hatten. Oggar hatte von einem solchen Volk noch niemals gehört. »Es war noch ein viertes dabei!« sagte er schnell. Es wurde von einem Teil der SOL vernichtet. Das Wesen aber, das mit ihm zu den Bekehrern gekommen war, konnte mit einem winzigen Schiff entkommen. Es wurde offenbar, daß die Wolke nicht alle Zusammenhänge
kannte und auch nicht wußte, wohin die SOL mit den drei großen Raumern abgeflogen war. Dazu kam, daß sie sich immer noch heftigste Vorwürfe machte. »Weißt du den Namen des Wesens?« fragte Oggar. Einige, die ich belauschte, dachten von ihm als Hapeldan, antwortete die Wolke. Das reichte Oggar. Die SOL und alles, was mit ihr und den Bekehrern zusammenhing, trat weit in den Hintergrund. Das vernichtete Schiff mußte der Zentralkegel gewesen sein! Oggar dachte konzentriert an ihn und erhielt die Bestätigung seiner Annahme. Darüber hinaus erfuhr er nun, daß eine Macht, die nur Hidden-X sein konnte, die Besonderheiten der Wolke dazu benutzt hatte, um das Signal des Kontakters so zu verändern, daß die darin enthaltene Information verfälscht wurde. Ich habe es nicht gewußt! beteuerte die unfaßbare Wesenheit. Es wurde mir wie vieles andere erst später klar! »Wir und die SOL sollten also in eine Falle gelockt weden«, sagte Oggar, »und fast wäre es Hidden-X auch gelungen. Kannst du die Manipulation rückgängig machen? Ich meine, hast du die Möglichkeit, die ursprünglichen Informationen über den Ort zu rekonstruieren, von dem aus der Impuls kam?« Nein! Damit war die Hoffnung zunichte gemacht, das Flekto-Yn doch noch zu finden. Ich kann etwas anderes für dich tun, erklärte die Wolke, als spürte sie Oggars Enttäuschung. Ich kann dir zeigen, in welchem Schiff Hapeldan floh, den du doch suchst. Im gleichen Moment wußte das Multibewußtsein, wie ein vulnurischer Blitzaufklärer aussah. Oggar zögerte etwas damit, die entscheidende Frage zu stellen: »Kennst du die Richtung, in die Hapeldan floh?« Ich zeige sie dir!
9. Das letzte, was Oggar, Sternfeuer und Carch von der Wolke empfingen, bevor der HORT in den Hyperraum ging, war ein Schwall von Impulsen, die etwas Wehmut über den Abschied ausdrückten, vor allem aber eine tiefe Dankbarkeit. »Wir haben ihr nicht alle Schuldgefühle nehmen können«, sagte Sternfeuer laut. »Aber wir haben ihr etwas gegeben, das sie den Schmerz darüber, Atlan und seine Begleiter fast umgebracht zu haben, vergessen lassen wird: neues Wissen.« Darin, das hatte die Wolke sie in der letzten klar verständlichen Gedankenbotschaft erkennen lassen, sah sie den Sinn ihrer Existenz: im Lauf der Zeit soviel an Wissen über das Universum und die Geschöpfe in sich aufzunehmen, die es bevölkerten, wie ihr in Form von Gedankeninhalten von anderen Intelligenzen nur zufließen konnte. Oggar hatte seinen Geist weit für sie geöffnet. Es wäre ihm dabei lieber gewesen, ihr eine positivere Sicht der Dinge geben zu können. Eines Tages, dachte er, werde auch ich wieder anders in die Zukunft schauen können – dann, wenn die Mörder meines Volkes endlich bestraft sind. »Wir werden Hapeldan finden«, sagte er zu Insider. »Ich weiß es. Diesmal entwischt er uns nicht mehr.« »Ja«, sagte der Extra nur. Er rührte sich nicht von Bati-Phars Seite. Oggar verglich ihn unwillkürlich mit einem Vater, der sich rührend um sein Kind bemühte. Das änderte nichts daran, daß der HORT kein Platz für den Mutanten war, vor allem dann nicht, wenn es zum Kampf kam. Oggar kannte die Richtung, in die Hapeldan geflohen war, nicht aber die Entfernung, die der Molaate zurückgelegt hatte. Er rechnete sich allerdings aus, daß ihm der Blitzaufklärer keine allzu langen
Flüge gestattete, und ließ den HORT alle 50 Lichtjahre in den Normalraum zurücktauchen. Schon beim zweitenmal sprachen die Orter an. Das Mnemodukt überspielte die ersten Auswertungen auf einen der Bildschirme. Oggar las die Daten und nickte grimmig. »Eine gelbe Normalsonne in 28 Lichtjahren Entfernung von unserer jetzigen Position. Weit und breit gibt es keine anderen Sterne. Es ist verwunderlich genug, daß dieser hier im Leerraum steht. Mnemodukt, wir gehen im Uberlichtflug bis auf eine Lichtwoche an ihn heran.« »Du bist dir deiner Sache jetzt sehr sicher«, kam es überraschend von Insider. »Das warst du bisher jedesmal.« »Diesmal ist es anders«, versetzte Oggar. »Was ist ein Lichtjahr?« fragte Bati-Phar. »Und was eine Lichtwoche?« Oggar seufzte. »Erkläre du ihm das, Insider. Wie soll ich ihm ausgerechnet jetzt astronomische Entfernungen verdeutlichen?« »Du mußt das Wesen Hapeldan sehr hassen, großer Zweiarmiger«, flüsterte das Kind. »Ich kann niemanden hassen, auch wenn ich manchmal sage: ›Ich hasse dich!‹« »Ich sage es und ich tue es!« beendete Oggar die Unterhaltung. Der HORT legte die Hyperraumetappe in weniger als zwei Minuten zurück. Als er abermals ins Einsteinuniversum zurückfiel, leuchtete die gelbe Sonne im Zentrum des großen Bildschirms. »Sie besitzt nur einen Planeten«, verkündete das Mnemodukt, »der von zwei Monden umlaufen wird. Ihre Bahnen sind konträr zueinander. Alle 121 Tage stehen sie in einer Linie mit dem Planeten. Für eventuelle Eingeborene muß dies so aussehen, als verschmölzen sie miteinander.« »Gibt es Eingeborene?« fragte Oggar. »Das läßt sich erst feststellen, wenn wir näher heran sind. Wenn du eine fortgeschrittene Zivilisation meinst, lautet die Antwort
›nein‹. Die Fernortung hätte ihre Energieemissionen angemessen.« Oggar verschränkte die Arme über der Brust und sah den Schirm an, als wäre auf ihm bereits Hapeldan abgebildet. »Annäherung mit Überlichtfaktor Einhundert«, befahl er. »Hyperraumaustritt unmittelbar hinter dem planetennächsten Mond. Ich will, daß dann sofort alle Systeme bis auf die der passiven Beobachtung ausgeschaltet werden.« Das Mnemodukt bestätigte. Er ist der Jäger! dachte Insider, der sich der Faszination dieser Augenblicke nicht länger zu entziehen vermochte. Kalt und berechnend! Er hat gelernt! Doch galt nicht das gleiche auch für Hapeldan – falls er sich hierher geflüchtet hatte? Das Manöver brachte den Doppeldiskus bis auf wenige Kilometer an die vernarbte Oberfläche des Mondes heran. Einige der gewohnten Laute erloschen. Die Teleoptiken zeigten eine auf der Tagseite grün und blau schillernde Welt, als der HORT sich hinter dem Trabanten hervorschob. Es gab Kontinente und Meere. Das Land war von urwüchsiger Vegetation überzogen. Zwischen den Wäldern waren fast kreisrunde Flächen zu erkennen, offenbar Steppen und Savannen. Oggar ließ eine Spionsonde ausschleusen. Bald wußte er, daß in den Steppen ungewöhnlich menschenähnliche Geschöpfe lebten, die auf der Stufe steinzeitlicher Jäger zu stehen schienen. Doch wie sollte er einen nur 150 mal 100 Meter großen Blitzaufklärer finden, den Hapeldan irgendwo dort in der Wildnis versteckt hatte? Er hatte die Hände schon auf den Kontrollen, um den HORT vorsichtig an den Planeten heranzuführen, als plötzlich und unerwartet der Normalfunkempfänger ansprach. Insider legte die Arme um das Mutantenkind. Oggars Gestalt versteifte sich, als das Wellengekräusel auf dem Bildschirm sich klärte und er Hapeldan zu sehen erwartete. Tonlos befahl er dem
Mnemodukt, alle Waffensysteme des Schiffes in Feuerbereitschaft zu versetzen. Dann machte er vor Überraschung einen Schritt zurück und gab einen undefinierbaren Laut von sich. Nicht das Gesicht des Molaaten sah ihm entgegen, sondern das von … »Atlan!« entfuhr es Oggar. Der Arkonide nickte und fuhr mit der flachen Hand waagrecht durch die Luft, um Oggar am Weiterreden zu hindern. Er wirkte erregt und sprach entsprechend schnell: »Ich hoffte, daß ihr den Weg finden würdet. Wir haben keine Zeit für lange Erklärungen, Oggar. Nur soviel: ich folgte Hapeldans Spur bis hierher mit der SZ-1. Ich konnte ihn auch stellen, doch er lockte mich in eine Falle und bemächtigte sich des Schiffes. Ich habe jetzt die Koordinaten des Flekto-Yns. Landet auf dem sternförmigen Kontinent etwa zwanzig Kilometer westlich des Gebirges. Du wirst beim Anflug eine Siedlung der Eingeborenen sehen, Oggar. Ich erwarte euch bei ihnen. Den Chatoris verdanke ich, daß ich noch lebe. Beeilt euch, wenn wir das Flekto-Yn vor Hapeldan erreichen wollen – noch können wir es, denn der Antrieb der SZ-1 wurde beim Kampf beschädigt!« Bevor Oggar eine Frage stellen konnte, riß der Funkkontakt ab. Das Mischwesen drehte sich unschlüssig zu Insider und Bati-Phar um. »Das war nicht Atlan«, sagte der Kowallek. »Du weißt, wie gut sich Hapeldan zu maskieren versteht.« »Du hast recht«, preßte Oggar zwischen den Zähnen hervor. »Er ist es. Er weiß vielleicht auch, daß wir es wissen. Aber was er sich auch immer für unseren Empfang ausgedacht haben mag, wir sind vorbereitet. Selbst ein von ihm gefügig gemachter Stamm von Wilden kann uns nicht gefährlich werden.« Insider hatte eine Warnung auf der Zunge, sah jedoch ein, daß jedes Wort verschwendet wäre. Oggar sah sich zu nahe am Ziel, um
jetzt noch abwarten zu können. Insider hoffte, daß wenigstens Sternfeuer und Cpt'Carch noch klar dachten und ihn zur Besonnenheit bewegen konnten. Oggar ließ den HORT Fahrt aufnehmen. Als das Schiff durch die oberen Atmosphäreschichten war und wenig später die Siedlung der Eingeborenen zu sehen war, wußte auch Insider mit absoluter Sicherheit, daß es diesmal zur Entscheidung kommen würde – so oder so. Ihn fröstelte. Die Falle schnappte zu. Der HORT landete etwa einen Kilometer neben dem Dorf. Oggar bewaffnete sich und wartete, bis Insider einen Schutzanzug angelegt hatte. »Ich weiß nicht, ob ich dich mitnehmen soll«, sagte das Mischwesen gedehnt. »Du hast zweimal versucht, dich umzubringen. Wenn es zum Kampf kommt …« »… mache ich keine Dummheiten«, versprach Insider. Er deutete auf Bati-Phar. »Nicht, solange es eine Aufgabe für mich gibt.« »Ich komme auch mit!« rief das Mutantenkind. Oggar winkte ab. »Insider und ich gehen. Mnemodukt, du riegelst den HORT hinter uns ab und fährst die Schutzschirme hoch. Sollte uns etwas zustoßen, dann wirst du nach der SOL suchen und Atlan berichten.« Bati-Phar hielt Insider an den Beinen fest. Es mußte den Extra unsägliche Überwindung kosten, ihn sanft, aber bestimmt von sich zu stoßen. »Du verstehst das noch nicht«, sagte er traurig. »Aber jetzt muß ich bei Oggar sein. Wir kommen ja wieder.« Der Abschied wäre ihm leichter gewesen, wenn er nur daran hätte glauben können. »Komm endlich!« rief Oggar aus dem Lift.
* Hapeldan war der Herr der Stämme. Mehr als tausend Chatoris gehorchten ihm blind. Carna zu opfern, war der letzte Schritt gewesen. Das Gebräu, das sie auf seine Veranlassung regelmäßig tranken, verstärkte ihren Mut und ihre Entschlossenheit, die Gegner zu töten. Was jedoch tiefer reichte, war die Scham über den Mord an einer aus ihrer Mitte. Hapeldan hatte es gut verstanden, die daraus entstehenden Aggressionen in die richtigen Kanäle zu lenken. Etwa fünfzig Chatoris hielten sich zwischen den Feuern und Hütten auf und taten genau das, was Hapeldan ihnen eingeschärft hatte. Sie boten das Bild friedlicher Eingeborener. Der Rest wartete gut versteckt in Baumwipfeln oder getarnten Gräben, um auf sein Zeichen hin zuzuschlagen. Sie sollten versuchen, Oggar und Insider zu lähmen. Daß bei ihrer geballten Geisteskraft der Tod der beiden wahrscheinlicher war, lag näher. Hapeldan würde so oder so triumphieren. Lieber würde er die Verhaßten jedoch vor sich am Boden sehen und ihnen vor dem endgültigen Tötungsbefehl ins Gesicht lachen. Sie sollten sehen, wer sie bezwungen hatte! Natürlich konnte der abtrünnige Molaate nicht ausschließen, daß sie sein Spiel bereits durchschaut hatten. Es war nicht sehr wahrscheinlich, aber möglich. Deshalb würde er sich erst im letzten Augenblick zeigen, wenn Oggar und Insider keine Zeit mehr zum Angriff blieb. Ohne deine Hilfe, Hidden-X! dachte er siegesbewußt. Ohne deine Hilfe, hörst du mich! Ich brauche sie nicht! Ich hätte sie nie gebraucht! Hapeldan schlug das Tuch vor dem Hütteneingang ein wenig zurück und konnte nun sehen, wie Oggar und Insider aus dem HORT kamen. Einige der Chatoris zeigten Unsicherheit und Angst beim Anblick des »Himmelsdrachen«. Ihre Klaaht- und MurstaOhns sorgten dafür, daß sie tranken.
Kommt nur weiter heran! dachte Hapeldan. Kommt nur! In diesen Augenblicken, bevor er seine ärgsten Feinde endgültig ausschalten würde, zog sein Leben noch einmal vor Hapeldans geistigem Auge wie in einem Film vorbei. Er lebte einmal als fähiger Wissenschaftler und Raumfahrttechniker auf der Welt Heimat-2 der Molaaten in Bumerang am Rand der Kleingalaxis All-Mohandot. Sein Leben erhielt seinen ersten bedeutenden Einschnitt, als die Ysteronen erschienen und Heimat-2 entvölkerten und zerstörten. Hapeldan fand sich an einem unbekannten Ort wieder, wo er und sein Volk dazu gezwungen wurden, ein wahrhaft gigantisches Bauwerk zu vollenden, an dem zuvor Roxharen gearbeitet hatten. Die Roxharen waren damals vollkommen ausgelaugt gewesen. Sie hatten alles gegeben, weil ihr »geistiger Faktor« es so wollte. Hidden-X besaß viele Namen, dachte Hapeldan, und nun weckte allein der Gedanke an seinen ehemaligen Meister Ekel und Abscheu in ihm. Die Molaaten hatten es zu Anfang nur als »den Architekten« gekannt. Nur eine Bezeichnung hatte es von Anfang an für das Bauwerk gegeben – das Flekto-Yn! Er, Hapeldan, hatte sich durch seine Tatkraft und Intelligenz in der Folgezeit besonders hervorgetan und schließlich das Vertrauen von Hidden-X erworben. Er lachte in sich hinein. Erschlichen habe ich es mir, Meister! Ich habe dich benutzt, um immer größere Macht über andere zubekommen! Seine gedankliche Rückschau wurde unterbrochen, als Oggar und Insider das Dorf erreichten. Sie blieben stehen und unterhielten sich. Hapeldan konnte von dem, was sie besprachen, natürlich nichts verstehen. Es war auch nicht wichtig für ihn. Langsam kamen sie näher, beide mit einem Strahler in der Hand. Sie traten zwischenden Hütten hindurch in den Kreis der Feuer.
Jetzt! dachte Hapeldan. Geh auf sie zu, Klaaht-Ohn! Der Stammesführer löste sich auch schon aus dem Kreis seiner Jäger und machte drei, vier Schritte auf die Stehengebliebenen zu. Er hob beide Hände zum Zeichen der Friedfertigkeit und begann zu reden, bis Oggars und Insiders Translatoren genügend Brocken ihrer Sprache aufgefangen hatten. Hapeldans eigenes Gerät übersetzte ihm sowohl die Worte des Eingeborenen als auch die der Verhaßten. Oggar unterbrach den Klaaht-Ohn ziemlich unwirsch in seiner Begrüßungsrede, in der er die Ankömmlinge als Söhne der Himmelsboten ansprach und die Unterwürfigkeit aller Chatoris versicherte. Die Eingeborenen unterstrichen dies scheinbar dadurch, daß sie in demütiger Haltung näherkamen und schließlich einen Halbkreis um Oggar und Insider bildeten. Hapeldan hatte ihnen auch beigebracht, wie sie ihre Gedanken vor Telepathen verschließen konnten. Oggars Haut schimmerte fahlrosa und grün, Insider war in einen Körperschutzschirm gehüllt. Hapeldan konnte sich nicht genug daran ergötzen, daß sie sich für gewappnet hielten. Gegen meine Waffen, ja! Aber es gibt nichts, das euch vor den Chatoris schützt, ihr Narren! »Ich danke dir«, sagte Oggar nun laut zum Klaaht-Ohn. »Auch wir möchten eure Freunde sein. Doch nun sagt uns, wo Atlan ist, der uns rief.« Hapeldan spannte die Muskeln unter der perfekt sitzenden Körpermaske an, als es nun völlig still wurde und der Klaaht-Ohn wortlos auf seine Hütte deutete. Hapeldan schlug das Tuch ganz zurück und trat hinaus. Als er sah, wie Oggars Daumen den Strahler umschaltete, hob er eine Hand wie zum Gruß. Es war das Zeichen an die Chatoris. Bevor Oggar oder Insider schießen konnte, entluden die Eingeborenen ihre Geisteskräfte auf sie. Mit einem heiseren Ächzen brachen sie zusammen. Die überall versteckten Chatoris kamen
herangelaufen und schickten sich an, das Werk ihrer Gefährten zu vollenden. Hapeldan mußte laut schreien, um sie davon abzuhalten. »Das genügt!« rief er. »Es ist gut! Sie werden eure Ebenen nicht mehr verwüsten! Das ist euer Sieg! Trinkt und feiert, bis ich euch wieder rufe!« Einige murrten enttäuscht. Hapeldan beugte sich über Oggar, nahm dessen Waffe und gab einige Strahlschüsse in die Luft ab, nachdem er sie entsprechend geschaltet hatte. Er überprüfte die reglosen Körper und stellte bei Insider ohne große Schwierigkeiten fest, daß er noch lebte. Bei Oggar war dies nicht ganz so einfach. Erst als er mit einer kleinen Lampe in die Augen des Androidenkörpers leuchtete und sie sich nach einer Weile fast unmerklich bewegten, hatte er Gewißheit. »Laßt mich mit ihnen allein!« befahl er den immer noch zögernden Jägern. »Ihr habt eure Sache gut gemacht. Ich will mit ihnen reden, sobald sie zu sich gekommen sind. Dann gehören sie euch!« »Tod den Bestien!« schrie es aus vielen Kehlen. Ja, dachte Hapeldan zufrieden. Geht und trinkt euch in euren Rausch. Danach gebt ihnen den Rest! Er setzte sich und hielt den Strahler auf die Feinde gerichtet. Insiders Waffe steckte in seinem Gürtel. Er hatte viel Zeit. Und bevor Oggar starb, sollte er wissen, von wem er besiegt worden war. Er sollte alles wissen.
* Für Bati-Phar war das Warten viel schlimmer, als wäre er selbst in Gefahr. Etwas sagte ihm, daß ein Unglück geschehen würde, und als er dann auf einem der Bildschirme Oggar und Insider zusammenbrechen sah, heulte er vor Wut und Enttäuschung. Eine ohne Oggars Wissen vom Mnemodukt ausgeschleuste Spionsonde, kleiner als eine Fingerkuppe, schwebte in geringer
Höhe über dem Dorf und übertrug neben den Bildern auch Hapeldans Worte. Ein zwischengeschalteter Translator machte sie für den Mutantenjungen verständlich. Dieses Schiff, der Weltraum, alles, in das er so unversehens hineingeraten war, blieb für Bati-Phar unverständlich. Er wußte nur, daß sein Freund und der Zweiarmige verloren waren, wenn ihnen nicht jemand zu Hilfe kam. »Du mußt etwas tun!« schrie er das Mnemodukt an. »Du kannst doch sprechen und weißt soviel, große Kugel! Du kannst von einem Ort zum anderen schweben! Dann fliege ihnen nach und töte den Mann!« »Ich kann mich nur in der Zentrale bewegen«, wurde ihm geantwortet. »Außerdem erhielt ich klare Befehle. Wenn Oggar gewollt hätte, daß ich von den Waffen des HORTs Gebrauch mache, hätte er es gesagt.« Bati-Phar starrte die Positronik an. »Dann laß mich aus dem Schiff!« »Auch davon sagte Oggar nichts. Im Gegenteil verbot er dir, ihm zu folgen.« »Wie dumm du nur bist! Ich gehe jetzt, Kugel!« »Ich bedaure, aber das darf ich nicht zulassen.« »Dann versuche, mich aufzuhalten!« Bati-Phar rannte los und war durch das Schott, bevor das Mnemodukt es schließen konnte. Er sah sich nicht um und nahm den Weg, über den er Insider in die Zentrale gefolgt war. Er hatte keinen anderen Gedanken, als daß der Mann mit den silbrigen Haaren seinen Freund umbringen wollte. Er schaffte es sogar, den HORT zu verlassen. Dann aber stand er vor einer Wand, die wie schillernde Luft aussah. Bati-Phar spürte instinktiv, daß es gefährlich war, sie zuberühren. »Komm zurück!« hörte er eine Stimme, die direkt aus der Hülle des Schiffes zu kommen schien. »Du würdest im Schutzschirm verbrennen.«
»Lieber das, als wieder allein zu sein! Ich spaße nicht, Schiff! Sieh her, ich gehe hinein!« Er machte einen Schritt auf die flimmernde Wand zu, dann noch einen. Er steckte eine Hand aus. »Komm sofort zurück!« Bati-Phars Fingerspitzen berührten den Schutzschirm fast. Sie schoben sich weiter vor. »Du mußt Oggar doch gehorchen, Schiff, oder?« rief das Kind. »Wenn du meinst, daß Oggar mich jetzt sterben lassen würde, dann nimm die Wand nicht weg!« Er schloß die Augen und warf sich nach vorne. Er erwartete etwas Schreckliches und dann den Tod. Doch er stolperte nur vornüber und fiel nach drei, vier taumelnden Schritten der Länge nach hin. »Du kannst nichts für Insider tun«, hörte er hinter sich. »Ich habe dir meinen guten Willen bewiesen. Nun komm zurück.« Bati-Phar drehte sich um und sah eine Lücke in der flimmernden Wand rings um das Schiff. Er antwortete nicht und sprang auf. Was er anstellen konnte, um unbemerkt ins Dorf und an den Fremden heranzukommen, wußte er noch nicht. Es würde ihm einfallen. Er mußte es doch wenigstens versuchen. Der Mutantenjunge begann zu laufen, ohne noch einmal hinter sich zu sehen. Er kam nicht weit. Eine Hand schloß sich um seinen Arm und zog ihn zurück. Vom eigenen Schwung herumgewirbelt, verlor Bati-Phar den Boden unter den Füßen und schlug auf die Knie. Er starrte in das Gesicht eines Eingeborenen.
* Als Zeeth das Raumschiff vom Himmel herabschweben sah, hatte er
nur noch den einen Gedanken: Ich komme zu spät! Er blieb stehen, ließ sich ins Gras fallen und sah schwer atmend zu, wie das riesige Gebilde sich auf die Ebene herabsenkte, ganz nahe beim Dorf. Panik wollte von ihm Besitz ergreifen. Er hatte so oft geglaubt, vor Erschöpfung tot zusammenbrechen zu müssen, doch immer war wieder neue Kraft in ihn geströmt und hatte ihn vorangetrieben. Sollte das alles jetzt umsonst gewesen sein? Was soll ich tun? dachte er verzweifelt. Es wäre so einfach gewesen, wenn die Fremden noch nicht gekommen waren. Er hätte nur ins Dorf zu gehen brauchen und das auf die Stammesgefährten wirken zu lassen, das ihn selbst erfüllte und ihm Zug um Zug ein Wissen eingegeben hatte, das er noch nicht verarbeiten konnte. Aber sie wären vom bösen Bann befreit gewesen. Immerhin sah er nun seine ganze Welt in einem anderen Licht. Er wußte, daß es außer den Ebenen noch viele Welten gab, und daß auf ihnen Wesen lebten, die niemals nur gut oder böse waren. In einigen aber überwog das Böse, und sie flogen zu anderen Welten und raubten, töteten und zerstörten. Andere wollten nur forschen und mit ihren Brüdern und Schwestern in Frieden leben. Der Silberhaarige trug das Böse in sich. Wie aber stand es um die anderen, die nun gekommen waren? Waren sie echte Freunde der Chatoris – oder handelte es sich bei ihnen um Eroberer, die Atlan fürchtete, weil sie ihm die Ebenen streitig machen könnten? Wußte das, was in ihm war, es selbst nicht, oder schwieg es nun, weil es nichts sagen durfte? Zeeth preßte die Zähne aufeinander, daß es schmerzte. Er mußte es selbst herausfinden. Vielleicht war dies eine Bewährungsprobe für ihn. Er sah, wie zwei Gestalten das Schiff verließen und sich langsam aufs Dorf zu bewegten. Sein erster Gedanke war, ihnen zu folgen, doch etwas warnte ihn davor.
Als sie zwischen den Hütten verschwunden waren, schlich er auf allen vieren auf das Schiff zu, das er nun verlassen glaubte. Er wußte nicht, was er dort eigentlich erwartete. Es war ihm so fremd, wie nur irgend etwas fremd sein konnte. Aber er brauchte Gewißheit, wollte er nicht durch sein Eingreifen zugunsten einer der beiden fremden Parteien genau das Gegenteil von dem erreichen, was gut für sein Volk war. Die Macht in ihm mußte das Böse spüren, falls es hier vorhanden war – so wie sie es in sich selbst gespürt hatte, als sie in ihrem Schlummer lag. Sie hatte es aus sich verbannt, und es war übergeströmt auf die Kreaturen, die in den Bergen lebten. Zeeth blieb dicht vor der flimmernden Wand um das Schiff liegen, und wieder wartete er vergeblich auf eine neue Offenbarung. Dann endlich, als das Geschrei im Dorf schon verklungen war, sah er den dritten Fremden, der wieder vollkommen anders aussah als die beiden anderen. Diesmal handelte er. Zeeth holte das Wesen ein, kaum daß es zu laufen begonnen hatte. Er hielt es fest und sah seine drei großen Augen auf sich gerichtet, aus denen soviel Hilflosigkeit und Schmerz sprachen. Der Fremde begann zu treten und zu schlagen, um freizukommen. Als Zeeth nicht mehr ein noch aus wußte, geschah etwas, das er selbst nicht begriff – obwohl er inzwischen an Wunder gewöhnt sein mußte. Seine Hand wurde von blauem Leuchten umspielt, das stärker wurde und sich behutsam um den Körper des Wesens legte. Es hörte zu schlagen auf und sank zu Boden. Für einen schlimmen Moment dachte Zeeth, er hätte es getötet. Dann aber war er das Wesen. Er verschmolz mit ihm zu einer geistigen Einheit, in der es keine Geheimnisse und keine Verständigungsschwierigkeiten mehr gab. Er erfuhr die Geschichte der Fremden, soweit Bati-Phar sie selbst kannte.
10. Insider glaubte sich wieder bewegen zu können. Er versuchte es aber nicht, denn jede noch so harmlose Regung konnte Hapeldan dazu bringen, zu schießen. Insider lag so, daß er sowohl den Verräter als auch Oggar sehen konnte. Obwohl der Androidenkörper kein Lebenszeichen zeigte, hätte er schwören mögen, daß das Multibewußtsein ebenfalls wieder erwacht war. Erwacht war kein treffender Ausdruck. Etwas hatte erbarmungslos zugeschlagen, als Oggar Hapeldan paralysieren wollte – trotz allem noch nicht ganz sicher, ob er nicht doch Atlan vor sich hatte. Etwas hatte Insiders Bewußtsein in tiefstes Dunkel gerammt. Was er danach erlebt hatte, konnte er nicht mehr beschreiben. Doch so mußte es wohl sein, wenn man starb. Der Kowallek fühlte sich immer noch nicht ganz wiederhergestellt. Er konnte sehen und hören. Alles andere würde mit der Zeit zurückkehren, wenn Hapeldan ihn nicht schon vorher erschoß. Oggar gab ein Stöhnen von sich. Das Multibewußtsein hatte den Körper und dessen Organe also noch nicht wieder unter seiner Kontrolle. Hapeldan nahm die Waffe in beide Hände und grinste mit Atlans Gesicht. »Ihr habt es also fürs erste überstanden«, höhnte er. »Der unbesiegbare Oggar und sein vierarmiger grüner Freund. Tröstet euch, ihr werdet meinen Anblick nicht lange ertragen müssen.« Er lachte finster. »Ihr fragt euch, warum ich euch nicht sofort von den Chatoris umbringen ließ. Weil ihr zuvor erfahren solltet, wer euch bezwang!«
Er stand auf und gab einen Schuß in den Boden ab, als Oggars rechter Arm kurz zuckte. »Notfalls vollende ich es! Wer von euch sich bewegt, stirbt auf der Stelle! Und jetzt hört die Geschichte von Hapeldan!« Warum? dachte Insider. Es interessiert mich nicht! Er hatte sich den Tod gewünscht, doch nun, wo es keine Hoffnung mehr gab, hätte er selbst Hapeldan um sein Leben angefleht. BatiPhar brauchte ihn doch! Oggar rührte sich nicht mehr. Der Molaate begann zu reden. Er erzählte von sich als von einem ehemals tüchtigen und geachteten Wissenschaftler, dann von den Ysteronen und dem Flekto-Yn. »Ja, ich habe mir das Vertrauen von Hidden-X erschlichen!« Hapeldan sprang auf und fuchtelte mit dem Strahler in der Luft herum. Seine Stimme wurde immer erregter. Teile der Maske lösten sich. »Ich habe mit ihm gespielt! Meine Macht wurde immer größer. Ich verachtete die Molaaten, die sich zu Tode schufteten und sich von Hidden-X auslaugen ließen wie die Roxharen! Sie bedeuteten mir nichts mehr! Ich feierte Triumphe, und mein größter war, daß mir die Lenkung der Landschaft im Nichts als deren Schalter anvertraut wurde! Hidden-X versprach mir dafür das Kommando über die SOL!« Er ist irre geworden! durchfuhr es Insider. Er hat den Verstand verloren – und Angst, furchtbare Angst vor Hidden-X! »Ich sollte die SOL bekommen, wenn es mir gelungen wäre, sie zu entvölkern und unversehrt in meinen Besitz zu bringen! Wer hat Fehler gemacht? Nicht Hapeldan! Hidden-X versprach viel und hielt nichts! Es unterstützte mich nicht genug und nannte dann mich einen Versager – mich!« Hapeldan warf sich auf die Knie und stieß Oggar den Lauf des Strahlers in die Kombination. Die rechte Hälfte des Atlan-Gesichts rutschte herab und ließ einen Teil des darunterliegenden Stützgewebes zum Vorschein kommen. Hapeldan merkte es anscheinend nicht. Er geriet immer tiefer in seinen Wahn hinein.
»Ich habe mich losgesagt von Hidden-X. Ich habe gelernt, allein zu kämpfen – und alles gewonnen! Ihr beide standet dem Neubeginn noch im Weg! Ihr werdet gleich für immer schweigen, und dann beginnt Hapeldans neue Zeit! Dann wird er herrschen! Oh, gern hätte ich eure größte Neugier noch befriedigt und euch mehr über Hidden-X verraten. Ich kann es nicht, tut mir leid, meine Freunde. Ich habe es nie gesehen!« Er kicherte. »Nun, vielleicht kann man es auch gar nicht sehen!« Insider hatte plötzlich nur noch Mitleid mit diesem gestrauchelten Molaaten, der sich vor der eigenen Existenzangst, die er sich selbst gegenüber nicht zugab, in Größenwahn flüchtete. Er war nicht mehr Hidden-X' Werkzeug. Doch das Böse, das ihn so lange beherrscht hatte, war tief in ihm eingebrannt geblieben. »Ich werde dich jetzt töten«, sagte Oggar ruhig. Hapeldan sprang zurück, als sich der Oberkörper des Mischwesens langsam aufrichtete. »Töten!« lachte er schallend. »Du mich! Ich hatte euch den Chatoris versprochen! Jetzt werde ich selbst …!« »Du wirst nichts mehr tun, falscher Sohn der Himmelsboten!« dröhnte da eine dunkle Stimme über den Platz. Hapeldan schrie auf und fuhr herum. Auch die zweite Hälfte der Maske rutschte herab und blieb als Zerrbild eines Gesichts am Kinnteil des Stützgewebes hängen. Insider war nicht aufgefallen, daß die Eingeborenen sich von den Feuern zurückgezogen hatten. Nun standen sie in dichten Reihen zwischen ihren Hütten – und es waren an die tausend! Einer von ihnen war vorgetreten und deutete nun mit lang ausgestrecktem Arm auf Hapeldan. »Seht ihn euch an, Chatoris!« rief der Jäger. »Seht euch unseren Freund jetzt gut an!« »Nein!« schrie Hapeldan. »Zurück, ihr alle! Ich töte jeden mit meinem Blitz, der …« Er starrte auf seine Hand und sah, daß sie durchsichtig wurde.
Blaues Leuchten umhüllte seine Körperattrappe und ließ ihn darin erkennbar werden – Hapeldan, den molaatischen Zwerg. Oggar war aufgestanden und streckte fordernd eine Hand aus. »Gib mir den Strahler, Hapeldan!« Die Antwort war nur ein Wutschrei. Den blanken Irrsinn in den Augen, gab der Molaate einen Schuß auf das Mischwesen ab, wirbelte herum und zielte auf den Chatori, dessen Finger noch immer von diesem unwirklichen Licht umspielt wurden. Insider sprang aus der Hocke. Mit der Handkante schlug er die Waffe aus den Fingern des falschen Körpers. Ein zweiter Schlag streckte Hapeldan nieder. Oggar hob blitzschnell den Strahler auf. Insider stellte sich geistesgegenwärtig zwischen ihn und Hapeldan. »Geh mir aus dem Weg!« forderte Oggar. »Tu es nicht«, beschwor der Kowallek ihn. »Sieh dich doch um. Ich glaube, das ist nun allein Sache der Eingeborenen.« Sie schickten den Tod lautlos. Noch einmal bäumte sich Hapeldan auf. Dann war alles vorbei. Das blaue Leuchten an der Hand des Chatoris verschwand. Insider kam es so vor, als würde es in die Finger zurückfließen. »Dies«, sagte Zeeth mit einem letzten, verachtungsvollen Blick auf den Toten, »war für Carna.« Er drehte sich um und lächelte Insider an. »Danke, Freund. Vor seinem Blitz hätte mich auch die Macht nicht geschützt.« »Welche Macht?« fragte der Extra verblüfft. »Ich werde euch alles sagen. Vorher aber …« Er steckte zwei Finger in die Mundwinkel und pfiff. Eine kleine Gestalt schob sich durch die Eingeborenen und lief auf Insider zu. Der Extra fing Bati-Phar mit allen vier Armen auf, lachte zum erstenmal seit Tagen wieder und rollte sich mit dem Mutantenjungen auf dem weichen Boden. Oggar aber stand vor Hapeldans Leiche und fragte sich nun allen Ernstes, ob dies wirklich das Wesen war, das er so lange gejagt und
gehaßt hatte. Die Jagd ist vorbei, meldete sich Sternfeuer im Multibewußtsein. Sieh das ein, Oggar. Der Mörder deines Volkes ist bestraft. Der Mörder meines Volkes, gab Oggar gedanklich zurück, ist HiddenX.
* Insgesamt neun Stämme hatten sich in der Ebene zusammengetan, und neun Klaaht-Ohns hörten von Zeeht, was es mit der Schlummernden Macht auf sich hatte, und daß sie endgültig aus ihrem Schlaf erwacht war. Was er selbst noch nicht gewußt hatte, wurde ihm nun offenbart, während er sprach. Die Macht legte ihm die Worte in den Mund. »Bleibt bei uns und gründet hier eine neue, große Siedlung«, endete er schließlich, »oder zieht weiter und berichtet allen anderen Stämmen von dem, was hier geschehen ist. Sagt den Brüdern und Schwestern, daß die Macht von nun an über uns wachen und uns beschützen wird. Sie wird uns mit Ratschlag zur Seite stehen und uns den richtigen Weg in eine neue Zukunft weisen. Sie ist in mir, und ich werde leben, solange auch sie existiert.« »Dann sollst du der Klaaht-Ohn aller Ebenen sein!« rief einer aus dem Kreis der Chatoris. Zeeth schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich will keine Macht über euch, Brüder. Doch ich bin für jeden von euch da, wenn er mich braucht.« Er beantwortete noch einige Fragen, unter anderem die nach den Wächtern der Schlummernden Macht im Tal. Die letzten von ihnen waren gestorben, kurz nachdem sie Toth-Omonn verstoßen hatten. Ein Teil der Macht selbst hatte von Zeit zu Zeit einem Chatori eine Botschaft geschickt, ohne ihn wissen zu lassen, woher diese kam. In der Hütte, die man ihnen zugewiesen hatte, warteten Oggar,
Insider und Bati-Phar auf ihn. Oggar wußte inzwischen, wo Hapeldan den Blitzaufklärer versteckt hatte. Er drängte bereits wieder zum Aufbruch – anders Insider. »Zeeht«, sagte er, als der Chatori sich zu ihnen setzte. »Bathi-Phar hat mir gesagt, daß er hier bei euch auf Chator bleiben möchte. Sicher würde er von deinem Volk auch gut aufgenommen werden. Aber das gibt ihm keine Zukunft.« »Du meinst, er wird eines Tages einsam sterben und keine Nachkommen haben können«, erriet Zeeth seine wahren Bedenken. Insider nickte heftig. »Seine Erbmasse muß durch die Strahlung zu stark beschädigt sein, um jemals selbst Kinder zu zeugen – selbst falls wir nach Zwzwko zurückflögen und ihm eine kleine Partnerin holten.« Oggar fuhr herum und starrte ihn an wie einen Geist. »Ich kann euch beide beruhigen«, sagte Zeeth. »Was in mir lebt, war auch in ihm, wenn auch nur für ganz kurze Zeit. Aber es sah in ihm den Keim neuen Lebens. Er braucht keine Partnerin, Insider. Hast du nicht gewußt, daß er Mann und Frau zugleich ist? Die Strahlung auf deiner Welt mag Millionen Wesen getötet und Tausende zu Krüppeln gemacht haben.« Er strich zärtlich über BatiPhars Kopf. »Er ist der eine, in dem sie das Positive bewirkt hat. Er wird Nachkommen haben, die so sind wie er. Es werden keine Kowalleks sein wie seine und deine Vorfahren, sondern …« »Auch Chatoris!« rief der Mutantenjunge mit strahlenden Augen aus. »Zeeth sagte, daß die Ebenen Platz genug für zwei Völker haben. Bitte, Insider, laß mich hierbleiben, und sei nicht traurig. Wenn du uns eines Tages wieder besuchen kommst, werden dich viele kleine Bati-Phars begrüßen.« »Sicher ist er einverstanden«, sagte Oggar und drohte Insider scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Und daß wir eines Tages wiederkommen, verspreche ich dir.« »Er hat mich gefragt!« rief Insider in der Art eines Mannes aus, der sich in sein Schicksal zu fügen hatte. Doch dann, in der langen
Nacht des Abschieds, in der auch die letzten Chatoris endlich den Schock überwinden konnten, den nach Zeeths Erscheinen das Wissen über ihr eigenes Tun ausgelöst hatte, sah man ihn glücklich an einem Baum lehnend sitzen. Am sternenleeren Himmel näherten sich die beiden Monde einander.
* Der HORT hatte eine Strecke von rund zehn Lichtjahren zurückgelegt, als Oggar vom Mnemodukt die Auskunft erhielt, daß es nun über die Positronik des in Schlepp genommenen vulnurischen Schiffes eine Verbindung zu den drei Heimatschiffen der Bekehrer herstellen könne. Ebenfalls von der Positronik waren genügend Daten über das unbekannte Volk geliefert worden, um das Mischwesen auf den Anblick eines Vulnurers vorzubereiten, als sich ein Bildschirm erhellte. Er nannte seinen Namen und berichtete so knapp wie möglich über Hapeldans Tod und wie er zu dem Blitzaufklärer gekommen war. Sein Gegenüber stellte sich als der Mono der Bekehrer vor. Kurz darauf kam Jacta hinzu, die neue Oberpriesterin. Sie konnte ihm keine guten Nachrichten übermitteln. Er hörte aus ihrer Sicht noch einmal, wie Atlan und seine Begleiter fast in der Dunkelwolke umgekommen wären, erfuhr von den Machtkämpfen und von Hapeldan unter den Vulnurern gesponnenen Intrigen. Wieder einmal war der Molaate dabei in eine Maske geschlüpft, und zwar in die der Oberpriesterin Mara. Als diese hatte er nach dem Auftauchen der drei Heimatschiffe GESTERN, HEUTE und MORGEN bei der Dunkelwolke den sofortigen Angriff auf die dort stehende SOL befohlen. Erst Sanny konnte ihn entlarven. Der Rest war Oggar bekannt. Hapeldan konnte in einem Blitzaufklärer seinen Verfolgern
entkommen. Und auch Sanny war es mit Hilfe ihrer »Berechnungen« gelungen, den Ort herauszufinden, von dem der Impuls des Kontakters wirklich gekommen war. »Er befindet sich nur 4,3 Lichtjahre von der Dunkelwolke entfernt«, sagte Lichtquelle-Jacta. Sie sprach nun erregter, als hätte sie Angst davor, daß die Verbindung abreißen könnte. »Wir haben diesen Ort angeflogen, von dem Sanny sagte, dort sei Hidden-X. Aber wir sind alle in eine unerklärliche Falle gegangen – unsere Schiffe und die SOL. Wenn du uns folgen willst, Oggar, mußt du unbedingt wissen, daß …« Der Bildschirm wurde abrupt dunkel, Jactas Stimme mitten im Satz unterbrochen. »Was bedeutet das, Mnemodukt?« wandte sich Oggar bestürzt an die Positronik. »Der Kontakt ist abgerissen und nicht wiederherzustellen«, lautete die ernüchternde Antwort. »Versuche es wieder!« Es war sinnlos. Die Empfänger blieben stumm, die Schirme dunkel. Oggar ballte die Fäuste. »Das ändert nichts daran, daß wir die genannte Position anfliegen«, entschied er. »Wir werden vorsichtig sein!« Wenn Jacta nur noch hätte sagen können, ob sie das Flekto-Yn gefunden hatten! »Die Jagd ist zu Ende, die nächste Jagd beginnt«, ließ sich Insider vernehmen, der allem bisher schweigend zugesehen hatte. »Du findest das lustig?« fragte Oggar überrascht. »Das ganz bestimmt nicht. Ich freue mich nur darüber, daß ich lebe.« »Es kann sich schnell ändern – daß du lebst, meine ich. Auch in der SOL war man bestimmt nicht leichtsinnig, aber das ändert nichts daran, daß wir ihr folgen.«
»Du wiederholst dich. Aber ganz gleich, was uns dort erwartet, Oggar, es kann für mich nicht schlimmer sein als das, was ich hinter mir habe.« Insider setzte sich und streckte die Beine aus. Er sah Oggar dabei zu, wie er den HORT Fahrt aufnehmen ließ. Es wird wieder Kowalleks geben, dachte er. Und das ist vielleicht nur Wöbbeking zu verdanken. Er fragte sich, wer oder was dieser Wöbbeking war. »Vielleicht singst du mir nie wieder Kinderreime vor«, murmelte er halblaut. »Aber auf jeden Fall danke ich dir – auch für mein Leben. Du hast mir gezeigt, daß aus der tiefsten Verzweiflung wieder neue Hoffnung und neue Kraft erwachsen können, wenn man nur daran glaubt.« »Was erzählst du dir da?« fragte Oggar. »Nichts«, winkte der Extra ab. »Gar nichts, das dich interessieren müßte.« Der HORT glitt in den Hyperraum, einem unbekannten, gefährlichen Ziel entgegen.
ENDE
In Begleitung der drei Raumschiffe der Vulnurer erreicht die SOL das Gebiet im Weltraum, in dem sich HIDDEN-X, der große Widersacher der Solaner, nach paramathematischen Berechnungen aufhalten soll. Das Gebiet ist die ZONE-X … ZONE-X – das ist auch der Titel des nächsten Atlan-Bandes. Der Roman wurde von Hubert Haensel geschrieben.