Kurt-H. Weber Die literarische Landschaft
Kurt-H. Weber
Die literarische Landschaft Zur Geschichte ihrer Entdeckung ...
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Kurt-H. Weber Die literarische Landschaft
Kurt-H. Weber
Die literarische Landschaft Zur Geschichte ihrer Entdeckung von der Antike bis zur Gegenwart
De Gruyter
ISBN 978-3-11-022763-5 e-ISBN 978-3-11-022764-2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandillustration: Gottfried Keller, An der Sihl, Bleistift und Aquarell, Zentralbibliothek Zürich Satz: Michael Peschke, Berlin Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Zur Einführung ............................................................................. 1
Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung 1. Die Lust an der Natur .................................................................... 15 2. Über Naturbegriffe und deren Widerschein in der Literatur ............................................................................... 47 3. Die Bilder und die Worte oder die Kunst der Beschreibung .......................................................................... 101 4. Vom Wesen der Landschaft ......................................................... 167 5. Das Naturschöne und das Erhabene ............................................. 199 6. Anmerkungen zur Geschichte der Naturbeschreibung ................................................................. 235
Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft 1. Der Tempel der Natur – Jean Paul ............................................... 297 2. Der große Wald – Adalbert Stifter ............................................... 319 3. Der Zauber einer Kiefernheide – Theodor Fontane .......................................................................... 361 4. Musivisches Dasein – Arno Schmidt ........................................... 385
Literaturverzeichnis ................................................................. 417 Verzeichnis der Abbildungen ................................................... 429 Namensregister ......................................................................... 431
Zur Einführung Einen Garten hat sich Schiller in Jena gekauft. Noch am ersten Abend, den er darin verbringt, schreibt er, sehr vergnügt, an Goethe: „Ich begrüße Sie aus meinem Garten, in den ich heute eingezogen bin. Eine schöne Landschaft umgibt mich, die Sonne geht freundlich unter, und die Nachtigallen schlagen. Alles um mich herum erheitert mich, und mein erster Abend auf dem eigenen Grund und Boden ist von der fröhlichsten Vorbedeutung.“1 Das Gefallen, das Schiller an seiner Umgebung findet, ist weniger selbstverständlich, als man glaubt. Eine Empfänglichkeit für die Schönheit der Natur muss sich erst herausbilden, und das ist ein individueller und ein historischer Vorgang. Exemplarisch dafür sind die Erfahrungen, die Goethe die Romanfigur ‚Wilhelm Meister‘ machen lässt. Der hat zunächst keinen Sinn für seine natürliche Umwelt. Erst durch einen Maler werden ihm „die Augen aufgetan“, und er entdeckt die landschaftlichen Reize des Lago Maggiore. Es ist demnach die Kunst, die den Menschen aufnahmebereit macht für die Vorzüge seiner natürlichen Umgebung. Sie macht sichtbar, sie regt an zum Hinsehen, und sie fordert dazu auf, über das Geschaute zu reflektieren. Sie spricht Goethe an als die „würdigste Auslegerin“ der Natur, und er meint damit nicht nur die Malerei, sondern, was er eigens hervorhebt, auch die Literatur. Aber damit sich die Natur aufschließt, müssen bestimmte Vorkehrungen getroffen werden; es bedarf dazu besonderer Hinsichtnahmen, Techniken und Darstellungsprinzipien, und vor allem, was ganz am Anfang steht, es muss überhaupt die Natur als Gegenstand der Kunst begriffen werden. So ergibt sich erst relativ spät, erst in der Renaissance, dass der Naturraum als Landschaft wahrgenommen wird. Das zeigt sich nur dem geschulten Blick, einem Blick, der sich darauf versteht, die sich darbietende Vielheit zusammenzusehen, der in der Lage ist, Geringes und Voluminöses, die einzelnen Gegenstände und die großen Formationen, Nahes und Fernes zu einer in sich konsistenten Einheit zu verbinden. Über den historischen Prozess, der dazu führt, hat sich Goethe selbst in zwei Entwürfen zur Geschichte der „landschaftlichen Malerei“ Rechenschaft gegeben. 1
Brief vom 2. Mai 1797; (Nationalausgabe, Bd. 29, S. 71).
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Wenn auch die Aufmerksamkeit auf Gegenstände gelenkt wird, die den Betrachter ansprechen, ihn fesseln und entzücken, so muss die Darstellung sich doch an die „Wahrheit“ halten, sagt Goethe. Nur dann offenbare sich die tatsächliche Schönheit der Natur. Sie, also die Natur solle der Künstler „so treu als möglich nachbilden“. Damit schließt sich Goethe einer Forderung an, die auf Aristoteles zurückgeht und die die Künste bis in die Gegenwart bestimmt hat, der Forderung, die Natur nachzuahmen. Darunter ist freilich sehr Unterschiedliches verstanden worden. Das ergibt sich schon daraus, dass jede Wiedergabe, ob eine bildnerische oder eine sprachliche, doch ein Kunstwerk ist, also ein Gebilde, das eine eigene Sichtweise aufweist, das bestimmte Mittel und Techniken einsetzt. Hinzukommt, dass die Abbildung keine geistlose Kopie sein will, sondern immer auch Ausdruck dessen, was der Betrachter bei einem Anblick fühlt und denkt. An Ruysdael lobt Goethe, er sei ein „denkender Künstler, ja Dichter“, also nicht einer, der nur eine öde Verdoppelung des Vorgefundenen anfertigt.2 Fürs erste kann man sagen, dass die Malerei und die Literatur mit aufdeckenden Mitteln an die Natur herangehen, dass sie verschiedene Sehmuster, Gestaltungsvorgaben und handwerkliche Fertigkeiten verwenden; nicht, um sich die Dinge willkürlich zurechtzulegen, vielmehr soll durch den Einsatz solcher Mittel etwas aufgezeigt werden, von dem, was ist, von dem, was sonst unerkannt bliebe. Die Behauptung Dichtung und Kunst erwiesen die „Wahrheit“ der physischen Welt, ist indessen höchst fraglich. Das traut man eher einer anderen Instanz zu, die darauf mit einem vermeintlich größerem Recht Anspruch erhebt, der Wissenschaft. Schließlich hat sie seit dem Beginn der Neuzeit Instrumente und Verfahrensweisen entwickelt, mit denen sie die wirklichen Sachverhalte eruieren will. Aber die Wahrheit der Kunst ist nicht die der Naturwissenschaft. Die genießende Betrachtung, zu der die erste anhält, verschafft andere Einsichten als es die sind, zu welchen die Forschung gelangt. Nur hat man über den Erfolgen der Wissenschaft die Lehren der artifiziellen Weltsicht nahezu vergessen, und das ist ein Verlust für uns und unsere Welt. Gleichwohl wollen beide Richtungen der Naturaneignung Wissen vermitteln. Den Unterschied zwischen ihnen markiert sehr treffend die Begrifflichkeit des Kunsttheoretikers John Ruskin. Er setzt eine ‚Wissenschaft von den Erscheinungen‘ ab gegen eine ‚Wissenschaft von den Fakten‘ („science of aspects“ – „science of facts“). Beide wollen genau hinsehen, das verbindet sie, und der Ausgang von der Empirie ist ihre 2
Zu den Ausführungen über Goethe vgl. Wilhelm Meisters Wanderjahre, zweites Buch, siebentes Kapitel; Werke, ed. Trunz (Hamburger Ausgabe), München 1981, Bd. VIII, S. 226 ff; dort finden sich die meisten der hier wiedergegebenen Zitate; vgl ferner: Bd. XI, S. 427, Bd. XII, S. 216 ff, S. 138.
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gemeinsame Basis. Das ist auch der Grund, warum sich Erkenntnisse der einen auf die andere übertragen lassen. Gewissermaßen personifiziert ist diese Übereinstimmung bei Naturkundigen, die sich auf beiden Gebieten hervorgetan haben. Das beste Beispiel dafür ist Ruskin selbst, der nicht nur Kunsttheoretiker, sondern auch Geologe war und zudem ein überragender Zeichner. In diese Reihe gehören auch Leonardo da Vinci, Goethe, Alexander von Humboldt und Stifter. Anders als die Wissenschaft von den Erscheinungen hält sich aber die von den Fakten nicht auf bei dem, was die Wahrnehmung darbietet. Sie will gerade darüber hinausgelangen und zu dem vordringen, was den sichtbaren Gestalten zugrunde liegt. Das sinnlich Gegebene interessiert sie eigentlich nicht; für sie ist dieses nur ein Fall, der auf die ursächlichen Zusammenhänge verweist, die hinter den Phänomenen stehen. Worauf die Naturwissenschaft aus ist, sind generalisierbare Bestimmungen, sind die allgemeinen Eigenschaften und Gesetze der Materie. Und um diese zu ermitteln, seziert und analysiert sie die Naturphänomene. In dieser Sicht ist es gleichgültig, ob ein Stern niederfällt oder ein Löffel; entscheidend ist, ob diese Vorgänge zurückzuführen sind auf dasselbe Gesetz. Die andere Erkenntnisart verweilt gerade bei den Dingen, sie versenkt sich in ihren Anblick. Ihr Untersuchungsfeld ist die Sinnenwelt. Von ‚Erscheinung‘ spricht Ruskin, und das ist ein Relationsbegriff. Er verweist auf die Beziehung zwischen einem Gegenstand und einem Betrachter: Eine ‚Erscheinung‘ ist das, was die Apperzeption von einem Objekt aufnimmt. Daraus geht schon hervor, wovon diese Naturerkundung eigentlich handelt und worin sie sich von der Naturwissenschaft im üblichen Verstande unterscheidet. In Ruskins Worten: „… es gibt genausogut eine Wissenschaft von den Erscheinungen der Dinge, wie eine >Natur-Wissenschaft< existiert. Und es ist genauso wichtig, herauszuarbeiten, welche Wirkungen die Dinge auf das Auge und das Herz machen, wie festzustellen, aus welchen Atomen oder Schwingungen der Materie sie bestehen.“3 Und an anderer Stelle sagt er, die etablierte Forschung befasse sich nur mit der Beschaffenheit der Dinge und mit ihrer Wirkung aufeinander, nicht aber damit, wie diese die „menschlichen Sinne und die menschliche Seele affizierten“. Genau das macht aber die Kunst. Sie ist Anwendung und Umsetzung der Wissenschaft von den Erscheinungen. Sie zeigt, was in der Natur ist, sie lehrt das Sehen, und sie ist Ausdruck der Gefühlswerte und der Gedanken, die sich mit einem Anblick verbinden. Ruskins Konzeption trifft sich in vielem mit dem, was auch Goethe vertreten hat. Seine kritische Haltung gegenüber der experimentellen Forschung, seine Berufung auf die An3
Zitiert nach Wolfgang Kemp, John Ruskin. Leben und Werk, München 1983, S. 76.
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schauung, begründet er ebenfalls damit, dass es darauf ankäme, die Beziehungen zwischen dem Menschen und den Naturerscheinungen zu klären. Und diese Aufgabe fällt dem bildnerischen und dem sprachlichen Kunstwerk zu. Sie holen Aspekte ein, die der szientistischen Weltsicht gerade entgehen. Von daher haben sie eine Erkenntnisfunktion und sind nicht bloße Dekoration oder Expression beliebiger Stimmungen. Man könnte sagen, Goethe und Ruskin argumentieren lebensweltlich. Die Lebenswelt ist das, was sich dem Menschen durch die Sinne erschließt, ist das, was er sieht, riecht, hört, schmeckt, fühlt. Und das findet eine Resonanz in seiner Seele. Es löst Gedanken und Empfindungen aus, Gefühle des Wohlgefallens, der Freude, der Trauer, der Furcht. Die Dinge haben eine Bedeutung für den Menschen, und die unterschlägt eine reine Faktenerhebung. Deshalb hält Alexander von Humboldt die Schilderung des Eindrucks, den eine Gegend auf den Betrachter macht, für eine notwendige Ergänzung der Daten und Messwerte, die die wissenschaftliche Sondierung eines Terrains einbringt. Humboldt selbst ist dieser Verpflichtung dadurch nachgekommen, dass er „Naturgemälde“ – so lautet der von ihm dafür geprägte Begriff – der untersuchten Gebiete anfertigte. Es kommt darin etwas zur Sprache, das doch der tiefste Grund dafür ist, dass der Mensch Gefallen findet an der Natur. „Wir fühlen uns … mit allem Organischen verwandt“, heißt es in den ‚Einleitenden Betrachtungen‘ zum KosmosWerk. Ohne es ausdrücklich zu sagen, liegt Goethe wie auch Ruskin an einer Rehabilitierung dessen, was in der Geschichte der abendländischen Philosophie ‚cognitio sensitiva‘, also sinnliche Erkenntnis heißt. ‚Gnoseologia inferior‘ lautet ein anderen Begriff für sie, und von einem ‚unteren Erkenntnisvermögen‘ spricht man im Deutschen. Klar ist, dass darin eine Abwertung steckt. In einer vornehmlich rational ausgerichteten Epistemologie gilt das Zeugnis der Sinne nicht viel. Dessen Wert wird von Descartes sogar grundsätzlich angezweifelt, ja es wird der Täuschung verdächtigt. Eine weniger strenge, aber doch ähnliche Beurteilung findet sich bei Kant. In dessen Erkenntnislehre ist die Anschauung zwar eine notwendige Bedingung und der Anfang aller Erkenntnis, aber sie reicht nicht an das Wesen der Dinge. Was sie zeigt, ist nur die „Erscheinung“, nicht das Ding, wie es an sich ist. Die volle Anerkennung als Erkenntnisquelle findet die Wahrnehmung dagegen bei einem der Begründer der Kunsttheorie, bei Alexander Gottlieb Baumgarten. Das ist schon dem Titel zu entnehmen, den er der neuen Wissenschaft gibt: ‚Ästhetik‘, was bekanntlich nichts anderes heißt als ‚Wahrnehmung‘ auf Griechisch. Aber auch Baumgarten bewegt sich in den herkömmlichen Vorstellungen, und danach ist die Sinnlichkeit eben einzustufen als eine niedrige Form der Erkenntnis. Gegen diese Einschätzung
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anzugehen ist schwer, zumal sie in einer Tradition begründet ist, die lange zurückreicht. Man braucht nur an Plato zu erinnern, dessen Dichotomie zwischen sinnlich-materiell und geistig-ideell die Geschichte des Denkens prägte. Danach vermag nur die Vernunft die Wahrheit, die Ideen zu erfassen, nicht dagegen die Sinnlichkeit. Unter diesen Voraussetzungen muss eine ‚Wissenschaft‘, die auf die Anschauung rekurriert, erst einmal beweisen, dass sie etwas zu leisten imstande ist. Und es klingt vermessen, wenn Ruskin behauptet, er wolle „die Wahrheit“ der Natur zeigen.4 Das Sehen ist, nicht nur nach der Meinung Ruskins, der vornehmste Sinn des Menschen, und demjenigen, der sich darauf einlässt, öffnet sich die Natur in ihrer überwältigenden Fülle. „Es gab immer mehr in der Welt, als Menschen sehen konnten, gingen sie auch noch so langsam“, hat Ruskin gesagt, und dieser Satz ist eine Art Bekenntnis.5 Nicht also um die von den Sinnesdaten abgezogenen allgemeinen Bestimmungen geht es, es geht um die Erscheinungen selbst. Und deren Beschaffenheit gewahrt nur der Blick, der nicht befangen ist durch vorgefasste Meinungen, der nicht schon zu wissen glaubt, was er vor sich hat. Gefordert ist die Anstrengung des genauen Hinsehens. Nur unter dieser Voraussetzung geht die unendliche Mannigfaltigkeit der Natur auf. Obwohl es zweifellos so etwas in der physischen Welt gibt wie Typen, Arten, Gattungen, wird man Ruskin doch darin zustimmen, dass keine Wolke der anderen gleicht, kein Baum dem anderen, kein Blatt dem anderen. „Unendlichkeit“ ist der Grundzug der Natur. Dabei denkt Ruskin weniger an kosmische Räume als vielmehr an den unausschöpflichen Reichtum dessen, was vor Augen liegt. Es ist damit gemeint die Mannigfaltigkeit der Formen, Farben, der Linien. Aber nicht nur das, die Unendlichkeit rührt auch daher, dass die Natur immer in Bewegung ist und ständig Neues hervorbringt. Damit zusammen hängt etwas, das Goethe das „Übergängliche“ genannt hat, also die Tatsache, dass sich die Natur in einem nie endenden Spiel der Variationen, Nuancierungen, Schwebungen, Schattierungen auslegt. Diese Vielheit lässt sich nicht in ein System bringen, ebenso wenig wie sie sich festen Schemata fügt. Man hat es hier zu tun mit flüchtigen Zuständen und besonderen Konstellationen. Die Wissenschaft der Erscheinungen kommt nur zu partikularen, nicht zu universalen Wahrheiten. Die Wandelbarkeit und Variabilität der Natur hat ihren Grund darin, dass sie nach ihrem innersten Wesen Leben ist. Mit Goethe und dem Deutschen Idealismus teilt Ruskin diese Überzeugung, die allerdings älteren Ur4 5
Diesen Anspruch erheben schon die Überschriften in Ruskins Werk Moderne Maler; sie lauten beispielsweise „Wahrheit der Farben“ oder „Wahrheit des Wassers“. Zitiert nach Kemp, a.a.O., S. 42.
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sprungs ist. Für Platon ist der „Kosmos“ ein „Zoon“, ein Lebewesen, ein großer Organismus, der selbst wieder die verschiedenen Formen des Lebens aus sich entlässt und sich entfaltet in der unendlichen Mannigfaltigkeit der vitalen Gestalten.6 Ruskin hat nicht nur Theorien aufgestellt. In dem grandiosen Werk, das in berühmt gemacht hat, in ‚Moderne Maler‘ („Modern Painters“) führt er vor, wie die Kunst die Erscheinungen der physischen Welt adaptiert und sichtbar macht. William Turner, sicher einer der bedeutendsten Landschaftsmaler überhaupt, ist ihm dafür Beispiel und Vorbild. Was Ruskin vorlegt, sind jedoch nicht nur Bildbesprechungen, sind nicht einmal kunsthistorische Ausführungen im üblichen Sinne. Er kennt die Motive Turners und anderer Künstler aus eigener Anschauung. Und davon hat er Schilderungen angefertigt, kaum zu überbietende, hinreißende Glanzstücke der Naturbeschreibung. In langen, weit ausschwingenden Perioden gibt er eine Ansicht wieder, und man kann sich kaum vorstellen, dass ihm die Malerei in der Subtilität, im Reichtum, in der Genauigkeit der Wahrnehmung folgen kann. Sie habe durch dieses Buch Sehen gelernt, schrieb Charlotte Brontë, und diesem Urteil wird sich jeder Leser anschließen; ihm wird aufgehen, wie wenig er über das Wasser, über die Wolken, die Bäume wusste, bevor er nicht die entsprechenden Kapitel in ‚Moderne Maler‘ gelesen hat. Um einen Eindruck davon zu vermitteln, wird hier eine längere Passage wiedergegeben, die dem Abschnitt „Wahrheit der Farbe“ entnommen ist. Als ich über einen weiten Abhang der Albaner Berge hinan klomm, drehte sich das Gewitter nach Norden und die edeln Umrisse der Türme von Albano und die dunkle Anmut seines Ilextals hoben sich vom reinen, blau und wie Bernstein schimmernden Himmel ab. Oben lichtete es sich allmählich und leuchtete nun durch die letzten Fetzen der Regenwolke – in tiefer zitternder Bläue – halb Äther, halb Tau. – Die Nachmittagssonne sandte schiefe Strahlen über die felsigen Abhänge von La Riccia und seine Massen hohen, verworrenen Laubwerks. In die herbstlichen Töne mischte sich das feuchte Grün von tausend immergrünen Pflanzen, und benetzte sie wie Regen. Das war nicht mehr Farbe zu nennen – es war eine Feuersbrunst. Purpurn, hochrot, scharlach, wie Vorhänge vor Gottes Gezelt sanken die in Lichtschauern frohlockenden Bäume ins Tal; jedes einzelne Blatt zitternd, schwimmend und brennend vor Leben; jedes einzelne Blatt, das den Sonnenstrahl widerspiegelte oder fortpflanzte – war erst eine Fackel und dann ein Smaragd. Weit oben in den Tiefen des Tals wölbten sich die grünen Schluchten wie gewaltigen Wogen eines kristallenen Meeres, von Blüten wie mit Schaum überschüttet; silberne Strahlen von Orangenblüten wirbelten in den Lüften um sie her, sprühten auf über den grauen Felsmauern wie tausend Sterne, sanken und loderten, je nachdem der sanfte Wind sie trug und fallen ließ. Jeder Grashalm brannte, wie wenn der goldne Himmelsboden sich plötzlich leuchtend öffnete, bis das Laub sich wie6
Vgl. Timaios 30 c.
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der über ihm zusammenschloss; es war wie Wetterleuchten, das bei Sonnenuntergang aus der Wolke bricht. Die bewegungslosen Massen dunkler Felsen – dunkel doch glühend von Scharlachmoosen, die ihre stillen Schatten über ruhelose Pracht breiten; darunter die Fontäne ihr marmornes Becken mit blauem Nebel und launischem Plätschern füllend; und über allem – als ein reiches Gelände von Rosa und Ambra – die heiligen Wolken ohne Dunkel, die nur in unermesslicher Ferne leuchten, zwischen der feierlichen, sphärischen Stille der Steinfichten. Sie zogen vorüber, um sich endlich in dem letzten weißen, blendenden Glanz der endlosen Linie zu verlieren, in der die Campagna sich mit dem Leuchten des Meeres verschmilzt.7
Die Naturbeobachtungen hat Ruskin aber nicht nur umgewandelt in eine prunkende Prosa, für ihn hatten sie auch eine praktische Abzweckung. Sehr genau registrieren sie die Veränderungen der Umwelt, und Ruskin war einer der ersten, der die Zerstörung und die Verschmutzung der menschlichen Lebenswelt wahrgenommen und davor gewarnt hat. Die vorstehenden Bemerkungen umreißen das Thema des Buches. Hinzuzufügen wäre noch, dass sich die Darstellung auf die Naturbeschreibung, also auf Prosatexte beschränkt. Zudem bezieht sie sich hauptsächlich auf die deutsche Literatur. Bleibt für die Einführung noch übrig, wenigstens anzudeuten, worum es in den einzelnen Kapiteln geht. Mit Zuneigung, Liebe, Verehrung, Bewunderung, Anbetung, Schwärmerei, Nachahmung ist die Natur bedacht worden. Einen Eindruck davon vermittelt ein Blick auf die europäischen Literaturen; er zeigt auch, dass diese Bewegung nicht beschränkt ist auf ein Land oder eine Epoche. Man kann aber darüber nicht reden, ohne wenigstens ein andere Sicht der Natur zu erwähnen. In der erscheint sie als eine zerstörerische, schreckenerregende Gewalt. Aber auch so betrachtet, behält sie ihre Faszination. Erstaunlich ist, wie viele Facetten die Literatur dem Thema Natur abgewonnen hat, eben das entdeckt sich einer übergreifenden Lektüre. Damit setzt das erste Kapitel ‚Die Lust an der Natur‘ ein. Eine Theoriebildung kann aber bei einer Bestandsaufnahme nicht stehen bleiben. Der zweite Teil dieses Kapitels geht daher den Gründen für die Attraktivität der Natur nach. Er findet sie in drei Motiven, die die Menschen dazu bewegen, sich der Natur zuzuwenden. Nun ist das leicht dahingesagt, die Natur. Zu prüfen ist aber, was damit jeweils gemeint ist. Sicher ist, dass dieser Begriff, wie übrigens alle fundamentalen Begriffe, sehr weit gefasst ist. Das legt schon die simple Einsicht nahe, dass die Natur des Physikers eine andere ist als die des Dichters. Den verschiedenen Bedeutungen, die der Begriff Natur unter sich fasst, geht das zweite Kapitel nach. Es ist überschrieben 7
John Ruskin, Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung, Bd. XI, XII (Moderne Maler Bd. I, II), Leipzig 1902, S. 75f.
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‚Über Naturbegriffe und deren Widerschein in der Literatur‘, womit angedeutet wird, dass dieser Abschnitt sich seine Ausrichtung vorgeben lässt durch die generelle Thematik. Untersucht wird, auf welche Vorstellungen von Natur oder auf welche Aspekte von Natur die Dichtung bezogen ist. Die Ausführungen kommen zu dem Schluss, dass sich die verschiedenen Auffassungen von Natur zwei großen Linien zuordnen lassen, die von der Antike bis in Gegenwart reichen. Die erste orientiert sich an der Analyse und an der Reduktion des Bestehenden auf seine Bestandteile, während sich die zweite an die Anschauung und an die lebendigen Formen hält. Jene ist weitgehend gleichzusetzen mit der wissenschaftlichen Sicht der Natur; diese dagegen weist eine Affinität zu deren künstlerischen Betrachtung auf. Soviel kann aber jetzt schon festgehalten werden: Wenn die Natur reduziert wird auf nackte Zahlen und Fakten, wenn ihr das Leben und die sinnliche Gestalt genommen werden, dann hat die Kunst über sie nichts mehr zu sagen. Die Naturbeschreibung ist Teil einer alten Kunst, die ‚ekphrasis‘ mit ihrem griechischen, ‚descriptio‘ mit ihrem lateinischen Namen heißt. Sie wurde abgehandelt in den Lehrbüchern der Rhetorik und Poetik. Anschaulichkeit ist die erste Forderung, die an sie gestellt wird. Damit rückt die Literatur in die Nähe der bildenden Kunst. Sie solle es der Malerei gleichtun, hat man von ihr verlangt. Aber auch umgekehrt wurde es als geboten erachtet, dass die bildende Kunst sich an der Poesie ein Beispiel nehme. Das Bild müsse einen dichterischen Gehalt haben, wurde postuliert. Beide Künste standen also in einem engen Verhältnis. Zeitweilig hat man sogar behauptet, sie würden das Gleiche ausdrücken, nur in etwas unterschiedlicher Weise. Im Gegenzug dazu entstand in der Renaissance eine ästhetische Theorie, die gerade den Unterschied der Künste hervorhob, die sogar einen Wettstreit der Künste ausrief. Ihr zufolge ist die bildnerische Kunst besser geeignet, die Natur abzubilden als die Literatur. Diese Auseinandersetzung läuft hinaus auf eine Besinnung, was die zwei Künste überhaupt zu leisten imstande sind. Das aber entscheidet sich an den Zeichensystemen, die sie benutzen. Das pikturale Zeichen ist völlig anders geartet als das linguale, und entsprechend behaupten beide Künste eine Eigenständigkeit, wie Lessing in seinem Laokoon herausstellt. Gleichwohl sind sie auch wieder aufeinander verwiesen. Das Bild bedarf des sprachlichen Kommentars wie die Beschreibung eine imaginative Vergegenwärtigung verlangt. Wenn also im vorigen Kapitel dargetan wurde, auf welche Seite von Natur sich die Literatur richtet, so geht es in diesem dritten Kapitel mit dem Titel ‚Die Bilder und die Worte oder die Kunst der Beschreibung‘ darum, wie und mit welchen Mitteln das sprachliche Kunstwerk die Natur darstellt.
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Zweifellos kulminiert die Naturdarstellung in der Landschaft. Diese ist nicht etwa etwas Vorfindliches. Sie beruht vielmehr auf einer geistigen Konstruktion. Zu ihren Voraussetzungen hat sie die Entwicklung der Zentralperspektive und des panoramatischen Sehens. Daraus geht das Sehmuster ‚Landschaft‘ hervor. Bei dessen Herausbildung übernimmt die bildende Kunst die Führung. Erst viel später gelingt es der Literatur, mit ihrem Mitteln eine Ansicht der landschaftlichen Natur anzufertigen. Das Sehmuster Landschaft ermöglichte es, die physische Umwelt als vielgestaltige, mehrgliedrig strukturierte Ganzheit in den Blick zu nehmen, und es entsteht damit zugleich eine Vorstellung von der Einheit der Natur. Bei der Erfassung der physischen Welt als Landschaft lässt sich auch verfolgen, wie die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft wenigstens teilweise aufgehoben werden, nicht die zwischen diesen beiden Gebieten überhaupt, sondern die zwischen der artifiziellen Erfassung der Natur und den deskriptiven Wissenschaften. Das ist der Inhalt des vierten Kapitels, welches die Überschrift ‚Vom Wesen der Landschaft‘ trägt. Ein Grund, warum eine Landschaft als anziehend empfunden wird, ist der, dass sie schön ist, und um das ‚Naturschöne‘ geht es im fünften Kapitel. Zunächst weist das Naturschöne die allgemeinen Kennzeichen auf, die man seit der Antike für die Bedingungen der pulchritudo gehalten hat; dazu zählen die Harmonie der Teile und die Abgerundetheit zu einem Ganzen. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht aber die Naturphilosophie Kants. Deshalb, weil an ihr sich exemplarisch zeigen lässt, dass Schönes in der Natur nur auszumachen ist, wenn sie als teleologischer Zusammenhang begriffen wird. An Zwecken und Zielen ausgerichtet zu sein, ist aber ein Kennzeichen des Lebens. Und die Schönheit ist verbunden mit der Seite der Natur, nach der sie schöpferisch, zielsetzend, gestaltend, formgebend ist. Entsprechend wird in der Kritik der Urteilskraft die Theorie des Naturschönen entwickelt als Teil einer Teleologie der Natur. Aufschlussreich ist Kants Naturphilosophie noch in anderer Hinsicht. Sie beschränkt sich nämlich nicht, wie man immer zu hören bekommt, auf die transzendentale Begründung der Naturerkenntnis vom Typus der Galileisch-1ewtonschen Physik. Diese wird vielmehr ergänzt durch die Ausführungen über das Prinzip der Zweckmäßigkeit der 1atur in der dritten Kritik, aus gutem Grund, denn ohne sie würden die Erscheinungsweisen des Organischen überhaupt nicht berücksichtigt. Anders gesagt: Der Bereich des Biologischen, der doch einen großen Teil der Natur ausmacht, käme gar nicht vor in Kants Philosophie der physischen Welt und mit ihm auch nicht das Phänomen des Naturschönen. Dieses lässt sich nur begründen, wenn der Naturbegriff nicht reduziert ist auf die Vorstellungen der experimentellen Wissenschaft. Die Natur ist jedoch nicht nur gefällig, sie ist auch über-
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mächtig, ist furcht- und schreckenerregend. Aber auch diese Ansicht von ihr vermag zu faszinieren. Unter dem Begriff des ‚Erhabenen‘ ist das Teil der Naturästhetik, worüber am Schluss dieses Kapitels gehandelt wird. ‚Anmerkungen zur Geschichte der Naturbeschreibung‘ heißt das sechste Kapitel. Damit wird gesagt, dass es sich um eine Art Abriss der historischen Entwicklung handelt. Mit den angeführten Autoren und Werken sollen bestimmte geschichtliche Konstellationen skizziert werden. Die Übersicht beginnt mit dem höfischen Epos des Mittelalters und reicht bis zum Roman des 18. Jahrhunderts. Wenigstens hingewiesen wird darauf, dass es auch außerhalb der Dichtung eine Naturschilderung gibt, die künstlerischen Ansprüchen genügt. Die findet sich vor allem in den Abhandlungen der deskriptiven Wissenschaften, in geographischen und historischen Werken, dann auch in der Reiseliteratur. Darauf gingen auch schon die früheren Kapitel ein. Der eigentlichen geschichtlichen Darstellung ist eine Reflexion über die Bedingungen der prosaischen Naturdarstellung vorangestellt. Diese sind zunächst allgemeiner Art, beruhen auf bestimmten Raumvorstellungen und Sehgewohnheiten, sind verbunden mit religiösen und philosophischen Weltdeutungen. Abhängig ist die Behandlung der natürlichen Umgebung zudem von rein künstlerisch-literarischen Gesichtpunkten, von den Vorgaben durch die Gesetze der Gattung, des Epos oder des Romans beispielsweise; sie ist ferner geprägt durch die Übernahme traditioneller Topoi und Stilfiguren. Wie im vierten Kapitel dargetan, ist die Wahrnehmung der Natur als Landschaft nicht selbstverständlich, vielmehr handelt es sich um eine Sichtweise, die zuerst die bildende Kunst entwickelt. Sie eröffnet damit einen ganz neuen Zugang zur Natur. Erst relativ spät folgt ihr die Dichtung. Das bedeutet aber, und das ist eine der Hauptthesen dieses Buches, dass nicht jede Aussage zum Naturraum umstandslos für eine Landschaft genommen werden kann, wie das die bisherige Literaturgeschichtsschreibung getan hat. Man muss hier auf Klarheit der Begriffe dringen und den der Landschaft für eine Schilderung reservieren, die genau angebbare Bedingungen erfüllt. Die Kapitel des zweiten Teils brauchen in dieser Einleitung nicht jedes für sich durchgenommen zu werden. In gewisser Weise setzen sie den historischen Überblick fort, denn an einzelnen Autoren wird die Ausgestaltung der literarischen Landschaft von der idealistischromantischen Epoche über den Realismus bis in die Gegenwart verfolgt. Interessiert ist dieser Teil aber nicht allein an der Literaturgeschichte, er will ebenso herausarbeiten, welche Mittel und Perspektiven überhaupt die Literatur für die Erfassung des Naturraums entwickelt hat, welche Möglichkeiten ihr dazu zur Verfügung stehen. Behandelt werden entscheidende Beiträge zur Landschaftsschilderung, die visio-
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nären, ins Metaphysische gesteigerten Bilder Jean Pauls, die genauen, sorgfältig ausgearbeiteten Landschaftsporträts Adalbert Stifters, die von der Geschwindigkeit neuer Verkehrsmittel bestimmten Ansichten Theodor Fontanes. Schließlich wird gezeigt, wie sich bei Arno Schmidt das Wahrnehmungsschema ‚Landschaft‘ auflöst. Dabei muss auch geklärt werden, welcher Naturbegriff dem Werk des jeweiligen Schriftstellers zugrunde liegt. Selbstverständlich sind die besprochenen Autoren auch abhängig von außerliterarischen Einflüssen, von Anregungen aus der Malerei, von Fortschritten auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet, von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Auch diese Aspekte sind in die Fragestellung einbezogen.
Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung
Hans Thoma, Taunuslandschaft, Ölgemälde, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Neue Pinakothek, München.
1. Die Lust an der Natur Viele zieht es hinaus. Es macht ihnen Vergnügen, sich, wie sie sagen, in der Natur aufzuhalten. Häufig ist dieses Verlangen lediglich der Ausdruck rein physischer Bedürfnisse, des Wunsches, frische Luft zu atmen und des Dranges nach Bewegung. Die Umgebung spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die Natur gewährt aber noch ganz andere Genüsse. Das Blau des Himmels, das Grün der Wälder, die Weite des Meeres, davon geht eine große, namenlose Anziehung aus. Unbestimmt genug heißt sie ‚Liebe zur Natur‘. Die Literatur hat ihr ein Bewusstsein gegeben, hat gesagt, wie sich diese Liebe äußert und was das ist, wonach sie sich verzehrt. Das Gefühl für die Natur, das Gespür für ihre Erscheinungen und für ihren Ausdruck ist nicht der Vorzug eines bestimmten Volkes oder einer Nationalliteratur, etwa der deutschen. Großartige Zeugnisse davon finden sich bei den Russen, bei den Franzosen und Engländern, bei den Italienern und Skandinaviern. Man trifft darauf auch bei den antiken Autoren, bei den griechischen und lateinischen Schriftstellern. Sie alle stehen unter dem Eindruck eines gewaltigen Zaubers, den sie wiederzugeben suchen. Und für die Reize der jeweiligen Landesnatur haben sie besondere Sensorien entwickelt. Endlos dehnt sich bei Anton Tschechow die Steppe, bis zu der lilafarbenen Hügelkette in der Ferne, der man sich, so scheint es dem Reisenden, überhaupt nicht nähert. Melancholisch wirkt die weite, von der Julisonne versengte Grasebene, traurig und verloren; ein Eindruck, der noch durch eine einsame Pappel und durch eine allein stehende Windmühle verstärkt wird. Wie das Land, dehnt sich die Zeit. Nur selten werden die Monotonie und die Stille unterbrochen durch einen jähen Windstoß oder durch aufsteigende Steppenvögel. Und doch ist dieses Land schön. Ein unvergleichlicher Himmel spannt sich des Nachts über es, von blassgrüner Farbe und von Sternen übersät. „Schrecklich“ sei dieser Himmel, „schön und zärtlich“, sagt Tschechow. Über die unergründliche Tiefe und Grenzenlosigkeit des Himmels könne man nur auf dem Meer und in der Steppe sprechen. Und dann gibt es eine Gegend, die besteht aus „Parks von Apfelbäumen“. Alleen ziehen sich hin, hoch und kühlen Schatten gebend; sie hallen wider vom Schlag der Nachtigallen. Und das ist nun Guy de
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Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung
Maupassant, das ist die Normandie. Das Meer ist nicht weit. Felder und Wiesen neigen sich ihm zu, die dann jäh abfallen und sich zu einer gewaltigen Steilküste formieren, welche hier Falaise heißt. Sie bildet eine lange Küstenlinie, die weiter weg nur noch als kaum wahrnehmbarer Strich auszumachen ist. Vor ihr weitet sich, soweit das Auge reicht, die See. Dunkelblau und glatt liegt sie da, im Sommer, wenn das Wetter schön ist. Und Segel, „weiß wie Vogelschwingen“, ziehen draußen vorbei. Und das Herz dessen, der das alles, der Felder, Bäume und das Meer mit seinen Blicken umfasst, „überschwemmt tolle Freude, unendliche Rührung vor der Herrlichkeit der Welt“. Das schildert Samuel Taylor Coleridge: die Berge, auf denen er umherwandert im Lake District. Bögen bilden sie und Rücken. Und über ihnen ragen Gipfel auf. Wie ein Zuckerhut sieht der eine aus, wie ein Kegel aus Steinen. Und ein anderer ist zerklüftet und zerfallen in weiße Klippen. Und weiter weg erhebt sich ein vornehmer, einzelner Berg. Von oben eröffnen sich weite Ausblicke auf enge, grüne Täler. Und Seen liegen da, die sehen aus wie schwarze Spiegel. Steil fallen die Berghänge ab. Der nackte Fels tritt grau und weiß hervor. Bisweilen ist diese Nacktheit durchsetzt mit gelbgrünen Flecken oder mit Lineamenten von Moos. Diffus und nebelig liegt das Licht über den Bergen; doch dann schießen Ströme von Helligkeit aus der Höhe, so dass die Farben aufleuchten: die braunen und gelben Tönungen der hoch gelegenen Moore, das satte Grün der Wiesen im Tal und, davon abgesetzt, das dunklere Grün der Baumgruppen. Im Gebirge gehen die Füße über Steine und Moose, und sie streifen durch Farn. Auf und ab schlängelt sich der Pfad. Und der Wanderer ist ganz hingerissen; bald fesseln ihn ein herabstürzender Gießbach oder ein blinkender Bergsee, bald umfängt ihn die schreckliche Ödnis eines Torfmoores. Dann wieder überrascht ihn die grandiose Aussicht auf ferne Täler und Seen. „Die Natur“, sagt Coleridge, „schlug alle Saiten meines Herzens an“. Die Natur hat nicht nur den Augen etwas zu bieten, sie spricht alle Sinne an. Sie lässt sich vernehmen in Geräuschen, Klängen und Tönen. Wie sie riecht, in einer Frühlingsnacht z.B. oder nach einem Herbstregen, ist bei Jean Giono nachzulesen. Vor allem schmeckt sie, und beim Franzosen Giono gibt es ordentlich was zu essen. Da finden sich ein paar Bauernfamilien, die verstreut auf einem weiten Plateau wohnen, zu einem sonntäglichen Essen ein. Vor dem Haus braten die Männer ein Zicklein und einen Hasen am Spieß. Drinnen hört man es Hacken und Klopfen. Das sind die Frauen, die eine Hühnerfrikassee zubereiten. Sie singen bei ihrer Arbeit. Tische und Stühle sind ins Freie gerückt, und unter dem Essen hat man das weite Plateau vor sich und die entfernteren Berge. Schwer und saftig sind die Braten. Sie riechen nach frischen Kräutern und wildwachsenden Berg-
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pflanzen. Salbei, Terpentinblüte und Kardomon haben sie vermengt mit gewiegtem Spinat und Sauerampfer, mit zerhacktem Knoblauch, Öl, Pfeffer und Salz. Damit sind die Braten gefüllt. Der Geruch des Feuers mischt sich mit dem des Fleisches und der Kräuter. Und der Wind bringt den Duft von blühenden Narzissen mit, denn es ist Frühling. Wenn man in das Fleisch beißt, kracht es zuerst zwischen den Zähnen, dann zerschmilzt es auf der Zunge, so zart ist es. Schweren Wein trinken sie zum Essen, der dunkel wie Teer in den Gläsern funkelt. Die verschiedenen Aromen und Gerüche kommen zusammen, die der Kräuter, der Gewürze, des Fleisches und des Weines. Sie reizen und kitzeln die Sinne. Dazu liegt die Frühlingssonne angenehm auf der Haut. Und die, die um den Tisch sitzen, empfinden „unbestimmt, wie schön die Welt ist“, dass sie das beinahe haben: „das Glück und die Freude“. Das Dasein in der Natur scheint überaus verlockend, und es hat einen Namen: Arkadien. Man hat sich darunter eine anmutige Gegend vorzustellen, ausgestattet mit sanften Wiesentälern und lauschigen Hainen. Begrenzt wird sie von bewaldeten Höhenzügen. Ein angenehmes Klima kommt hinzu. Hier strahlt purpurner Lenz, hier breitet bunt um die Ströme Blumengefilde der Grund, hier schimmert silbern die Pappel über der Grotte, der Weinstock webt sein Schattengeranke.1
So beschreibt es Vergil, und er muss es wissen, denn Arkadien ist seine Erfindung. Zwar gibt es einen Landstrich gleichen Namens auf dem Peloponnes. Der ist aber ziemlich öde und entspricht so gar nicht dem, was Vergil daraus gemacht hat, nämlich das Ideal einer schönen, paradiesischen Natur, wo Schäfer und Schäferinnen ohne anstrengende Arbeit ihr Leben vertändeln. Nur an einige reale Züge konnte Vergil anknüpfen. Der Antike galt Arkadien als Hirtenland und als Heimat des Hirtengottes Pan. Üblich sei es dort gewesen, so überliefert es der Historiker Polybios, sich im Singen zu üben und musikalische Wettkämpfe abzuhalten.2 Offenkundig war es aber gar nicht Vergils Absicht, einen wirklichen Ort zu schildern. Sein Arkadien ist eine Geburt der Phantasie. Dort leben keine realen Landbewohner, sondern als Hirten verkleidete Dichter, die die Natur und die Liebe besingen. Bewusst setzt Vergil die Natur der Geschichte entgegen. Während diese geprägt ist von Unheil, von Krieg und von der Zerstörung des Lebensgrundlagen, herrschen in jener Friede und Harmonie. Arkadien trägt utopische Züge. 1 2
Vergil, Bucolica IX, 40–42, Landleben, ed. Johannes u. Maria Götte, lateinisch – deutsch, Zürich 1995, S. 75. Näheres dazu und zu Vergils Arkadien bei Bruno Snell, Arkadien, die Entdeckung einer geistigen Landschaft, in: Ders., Die Entdeckung des Geistes, 5. Aufl., Göttingen 1980, S. 257–274.
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Nun war Vergil nicht der erste, der das Hirtenleben zum Thema der Dichtung machte. Er hatte griechische Vorgänger, deren wichtigster Theokrit ist. Im Unterschied zum Römer Vergil wählt dieser aber nicht eine entlegene Lokalität, sondern seine Heimat Sizilien zum Schauplatz. Das verschafft seiner Dichtung einen mehr realistischen Anstrich. Auch seine Hirten reimen und musizieren, aber sie sind, anders als die Vergils, nicht schwärmerisch und sentimental. Sie sind eher von der groben Observanz und kommen wirklichen Bauern nahe. Ihre poetische Ader hindert sie nicht, über die „Mistviecher“, GXVVRDheißt das auf Griechisch, zu schimpfen. Und um das richtige Ziegenfutter kümmern sie sich auch. Was nun die Liebe betrifft, so sind Theokrits Figuren nicht nur von zarten Gefühlen bewegt. Sie haben ziemlich perverse Sexualpraktiken, deren drastische Schilderung nicht gerade aufs Humanistische Gymnasium gehört. Von Arkadien weiß Theokrit nur zu sagen, dass sie dort „schöne Schafe“ hätten. Gleichwohl gibt es auch bei ihm den Preis der Natur, das Lob der schönen Umgebung. Viele Pappeln und Ulmen rauschten oben über unserem Kopf; und das nahe heilige Wasser floß plätschernd aus der Nymphen-Grotte herab. Die dunklen Zikaden auf den schattigen Zweigen mühten sich mit ihrem Gezirpe; der Laubfrosch quakte von fern in den dichten Dornen der Brombeersträucher; es sangen Lerchen und Finken, es gurrte die Taube, es flogen summend im Umkreis der Quellen die Bienen. Alles roch nach üppiger Ernte, roch nach Fruchtreife. Birnen rollten zu unseren Füßen, zu den Seiten Äpfel in Hülle und Fülle, und die Zweige hingen unter der Last der Schlehen zum Boden herab.3
Vergil hatte also Vorläufer, und Theokrit ist als eigentlicher Begründer der Bukolik anzusehen. Es war aber Vergil, der diesem literarischen Genre die Wendung ins Idealische gab, der mit ihm die Erinnerung an ein goldenes Zeitalter verband. Die Späteren haben ihn immer wieder aufgenommen, bis hin zur Schäferei des Barock und des Rokoko, den Traum von einer Natur, der seit Vergil Arkadien heißt.4 Das literarische Vorbild hat weiter gewirkt, es ist auch eingegangen in die bildende Kunst, in die Landschaftsgemälde Annibale Carraccis und Claude Lorrains, von denen das ganze geistige Europa entzückt war. Etwas zu finden, das an ihr Ideal heranreichte, war auch das Ziel vieler Italienreisender, von denen nicht wenige glaubten, es tatsächlich entdeckt zu haben. Und wenn es schon nicht in der Wirklichkeit anzutreffen war, so konnte man es wenigstens nachbauen. Ganze Parks sind 3 4
Bezug genommen wird auf folgende Stellen: Theokrit, Gedichte, hrsg. u. übersetzt v. Bernd Effe, IV,45; IV,25; IV, 58ff; V, 41ff; XXII, 157; VII, 135ff. Einen Überblick vermittelt Johannes Hösle, Die europäische Hirtendichtung, in: August Buck (Hg.), 1eues Handbuch der Literaturwissenschaft ,Bd. 9, Frankfurt/M. 1972, S. 212ff; einzelne Aspekte und Autoren werden behandelt bei Klaus Garber (Hg.), Europäische Bukolik und Georgik, Darmstadt 1976.
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nach literarischen Mustern gestaltet worden. Im regnerischen, gemäßigten Klima des nördlichen Europa nehmen sich allerdings die schattigen Plätze und künstlichen Felsenhöhlen wie ein ironischer Kommentar zu Theokrits und Vergils Kühlung verheißenden Grotten aus. Nicht jeder fühlt sich von der Natur angesprochen. Es gibt auch solche, denen sie nichts sagt oder die sie sogar verachten. Sokrates ist so einer. Nur mit einem Buch kann ihn ein gewisser Phaidros in Platons gleichnamigen Dialog ins Freie locken. Gefragt, warum er selten vor die Stadt gehe, entgegnet er, dass ihn „Felder und Bäume“ nichts „lehrten“, wohl aber „die Menschen in der Stadt“. Und Baudelaire, ein später Geistesverwandter des Sokrates, sagt sogar, dass der Mensch sich nicht nach der Natur richten dürfe. Er müsse über sie hinausgehen und sich seine eigene Welt schaffen. Die Künstlichkeit einer urbanen Existenz wäre demnach einer naturwüchsigen vorzuziehen. Indessen, selbst Sokrates kann sich dem Reiz eines ländlichen Aufenthaltes nicht entziehen. Er gerät sogar ins Schwelgen angesichts einer Schatten spendenden „prächtigen Platane“, unter der die „lieblichste Quelle des kühlsten Wassers“ fließt. Und er rühmt die „Fülle des Grases am sanften Abhang“. „Erfüllt“ sei der Ort von „Wohlgeruch“, die Luft „wehe willkommen“, und „süß und sommerlich“ säusele „der Chor der Zikaden“.5 Was Sokrates bzw. Platon rühmt, ist ein locus amoenus6. Es ist dies ein Stück liebliche Natur, wie es die Antike so überaus schätzte. Der Lustort, so lautet die deutsche Bezeichnung, muss ein bestimmtes Inventar aufweisen. Zum Grundbestand gehören ein Baum oder eine Baumgruppe, eine Quelle oder ein Bach und eine Wiese. Dieses Ensemble kann bereichert und variiert werden, etwa durch Vogelgesang, Blumen und Düfte. Und zuweilen wird das lauschige Fleckchen mit wahrhaftem Prunk ausgestattet. Berechnet ist es auf die Bedürfnisse des Südländers, der der drückenden Hitze entfliehen will. Die Bäume sorgen für Schatten, das Wasser für Erquickung und der Rasen lädt zum Niederlassen ein. Keine Frage, dergleichen existiert. Der Rastplatz des Sokrates lässt sich lokalisieren. Er liegt in Athen am Bach Illissos. Platon, und das gilt auch für andere Autoren, wollte aber weniger eine bestimmte Örtlichkeit abbilden. Ihm ging es hauptsächlich um eine passende Szenerie für seinen Dialog. Das weist darauf hin, dass der locus amoenus vor allem eine literarische Figur ist. Nicht nur die pastorale Dichtung verwendet ihn, das Beispiel Platons zeigt es. Homer ist derjenige, der ihn zuerst gestaltet hat. In der knappsten Darstellung liest sich das so: 5 6
Platon, Phaidros, 229d–230e; zu Baudelaire vgl. den Essay Der Maler des modernen Lebens. Vgl. dazu: Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 8. Aufl., Bern 1948, Kp. 10, §§ 2,6.
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„Einen herrlichen Hain der Athene wirst du nahe an den Wiesen finden, von Pappeln, und drinnen fließt eine Quelle, und rings umher ist eine Wiese.“7
Und wenn man an Homers Welt denkt, an die „rosenfingrige Eos“, die „graue Salzflut“ und an das „gutbebaute Land“ auf fernen Inseln im Meer, so sind es immer die Bilder von lieblichen Plätzen, die einen besonderen Reiz ausüben. Auf ihnen lassen es sich die Menschen wohl sein, und selbst die Götter verweilen da mit dem größten Behagen. Die Späteren haben sich hier bedient, und der locus amoenus wird zum festen Bestandteil der Hirtendichtung Theokrits, Vergils und ihrer Nachfolger. Schließlich erreicht er auch den Norden. Er nimmt nun die Gestalt eines von Wald bekränzten, von einem Bach durchflossenen Wiesentals an. In Deutschland ergehen sich an ihm die Spaziergänger Goethes und Jean Pauls.8 Vergil hält sich nicht nur bei der arkadischen Seite der Natur auf, er kennt auch die praktische. In seinem Werk Georgica, Über den Landbau, wird er ganz handfest, ganz erdnah. Über das richtige Pflügen handelt er da, über Mist und Fruchtwechsel. Die vier Bücher der Georgica beschäftigen sich mit den Themen Ackerbau, Baumkultur, Viehzucht und Bienenpflege. Dass alles in kunstvolle Verse gesetzt ist, verweist darauf, dass es um mehr geht als um simple Anleitungen für den Landwirt. Der Würde des Gegenstandes sucht die gehobene, die dichterische Rede zu entsprechen. Die Arbeiten des bäuerlichen Alltags sind nämlich keineswegs geringe Tätigkeiten. Ihre Dignität erhalten sie dadurch, dass sie hineingenommen sind in das kosmische Geschehen, das die Welt trägt und erhält. Die Kultivierung der Erde fügt sich ein in das Walten der Naturkräfte. Dieses beruht auf einem Geben und Nehmen, auf einem Hin- und Zurückströmen. Den Ausgleich, der dadurch entsteht, bezeichnet Vergil als „iustitia“, als Gerechtigkeit, und es ist die ausgleichende Gerechtigkeit, die den Bestand der kosmischen Ordnung garantiert. Der Bauer ist Teil von ihr; auch in seinem Tun vollzieht sich das Gesetz, dem alle Erscheinungen der Natur unterstehen. Die Mühseligkeit des bäuerlichen Lebens wird entgolten, auf das Säen folgt das Ernten. „O fortunatos nimium ... agricolas“, so beginnt Vergil seinen großen Hymnus auf das Landleben, „überglücklich“ sind „die Bauern“.9 Sie wären das, schränkt er ein, wenn sie denn wüssten, was sie besitzen, denn selbst ihr bescheidenes Dasein verfügt über eine große Zahl von Glücksgütern, über solche, die der Reichtum und der Luxus nicht zu bieten haben. Der Gewinn des Landlebens resultiert aus der Selbstge7 8 9
Homer, Odyssee, 6,291, in der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt. Zu denken ist an die Wahlverwandtschaften und an das Kampaner Tal. Vgl. Georgica, II, 458 ff, a.a.O. S. 139ff.
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nügsamkeit. Der homo rusticus ist von niemand abhängig, weder in materieller noch in psychischer Hinsicht. Sein Dasein schuldet er allein der Erde und dem, was er ihr abgewinnt. Um politische Umwälzungen braucht er sich nicht zu scheren, ebenso wenig wie um „Rechtsstreitigkeiten“ und um den „Lärm des Marktes“. Er muss sich nicht um den Beifall der Menge kümmern. Und die Gier nach Macht, Ruhm und Reichtum sind ihm fremd. Seine Glücksgüter sind anderer Art. Die bezieht er aus seiner Arbeit, daraus, dass aufgeht, was er angelegt hat. Er freut sich an dem Gedeihen der Früchte und des Viehs. Sein Tun bestimmen die Jahreszeiten. Sie halten auch die Genüsse bereit, die sein Leben kennt. Getreide, Öl und Wein hat er und Fleisch und Milch dazu. Gefeiert werden diese Gaben an ländlichen Festen, im Gedenken an die Götter der Erde und des Weins. Aber nicht nur darüber verfügt er, ihm sind Friede und Beschaulichkeit gegeben und die Schönheit der Natur. Seiner Sehnsucht nach „Ländlichkeit“ gibt Vergil beredten Ausdruck: „… O wer mich in kühle Täler des Haemus brächte und tief mich bärge im schattigen Dunkel der Zweige!“10
Vom einfachen Leben redet Vergil, davon, dass man glücklich sein kann auf dem Lande. Nach ihm hat sich eine ganze Literatur mit diesem Thema befasst. Was bei Vergil noch zusammengeht, teilt sich aber in einen eher praktischen und in einen eher poetischen Zweig. Zu ersterem gehören Handbücher, die Anweisungen geben wollen für die Landwirtschaft. Schon die Antike kennt sie, und sie sind über die Jahrhunderte fortgeschrieben worden. Erst die Verwissenschaftlichung der Agrikultur, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einsetzt, macht ihnen ein Ende. Diese Schriften haben aber nicht nur den Charakter nüchterner Ratgeber. Auch sie enthalten ein Lob des Landlebens, betonen aber vor allem dessen sittlichen Wert. Sie folgen darin der Systematik dieses literarischen Genres. Den Anfang macht immer eine Tugend- und Pflichtenlehre. Bevor es also ans Werken geht, ist es nötig, auf die richtige Gesinnung zu achten. Vor allem muss Ordnung in Haus und Hof herrschen. Dafür zu sorgen hat der Hausvater, der pater familias, was seit alters auch ein Rechttitel ist. Er ist derjenige, an den sich die Ratgeber wenden, und zu den Büchern, die ein Wissen von der Agrarik vermitteln wollen, gehören auch die, die man auf den Begriff Hausväterliteratur gebracht hat. Nicht selten wird darin das Leben auf dem Lande als das einzig wahre ausgegeben.11 Mehr ins Fach der Dichtung fällt die Ausmalung des ländlichen Daseins, wie sie in der erzählenden Literatur, aber auch im beschreibenden 10 Ebd., II, 485–489. 11 Vgl. dazu Gotthardt Frühsorge, Die Kunst des Landlebens, München/Berlin 1993, insbesondere S. 19–29; dort finden sich auch Hinweise auf weitere Literatur.
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Gedicht zu finden ist. Was diese schildern, ist eine Lebensform. Und in den verschiedenen Sprachen haben sich dafür bestimmte Termini herausgebildet. Trotz aller Gemeinsamkeiten spricht daraus eine facettenreiche Vielfalt. Landleben, countrylife, vie champêtre sind Ausdrücke, die jeweils mit etwas anderen Gefühls- und Erfahrungswerten besetzt sind. Darin aufbewahrt sind nationale Eigenheiten und Traditionen, die einen festen Platz im Bewusstsein der Völker haben. Das Italienische kennt den Begriff der Villegiatura. Er ruft Bilder auf, Ansichten von Landhäusern, wie sie auf den Gemälden Giorgiones, Tizians und selbst noch Morandis erscheinen. Ein solches Haus liegt für sich auf einem Hügel und behauptet einen beherrschenden Platz in der offenen Landschaft. Ringsum sind Felder, weite Flächen, die sich an den Hängen hinziehen und in den Tälern. Zuweilen erheben sich lichte Haine von Oliven über dem Getreide und dem Wein. Große Bäume, ausladend und Schatten spendend, sind nur oben zu finden, bei dem Landsitz. Sie umstehen ihn als Einzelexemplare oder als ganze Gruppen und geben ihm Schutz. Ihr dunkles Grün setzt sich ab gegen die sonst helleren Töne des Landes. Eine Allee führt hinauf zu der Villa, ein weißer Weg, gesäumt von Zypressen oder Pinien. Und im Sommer, wenn die Fluren der südlichen Sonne ausgesetzt sind, verspricht dieser Ort Kühle und ein angenehmes Leben. Ganz so liegen die beiden Güter, die den Rahmen abgeben für Boccaccios Dekameron. Die Landschaft der Toskana gibt Boccaccio nur in äußerster Stilisierung wieder, um nicht zu sagen, er führt nur deren Elemente auf. Da sind die „wogenden Getreidefelder“ und die verschiedenen „Bäume, der freie, klare Himmel“ und, als der angestammte Platz des Landsitzes, eine „Anhöhe“. Der Leser empfängt aber den Eindruck eines ganz vom Menschen gestalteten, eines kultivierten Stückes Natur. Mehr in die Details geht Boccaccio, wenn er an den eigentlichen Wohnbereich kommt. Der ist komfortabel ausgestattet. Auf den Hof gehen Loggien, und das Innere verfügt über Säle und Zimmer, die mit „sehenswerten Malereien auf das schönste geschmückt sind“. Was den Aufenthalt aber besonders angenehm macht, sind die gärtnerischen Anlagen. Insbesondere die der zweiten Villa werden hervorgehoben. Dass sie „zu Seiten“ von ihr lägen und mit einer „hohen Mauer umgeben“ seien, lässt erkennen, woran Boccaccio bei seiner Darstellung denkt. Vor Augen hat er einen Garten, der noch mittelalterliches Gepräge hat. Erst etwas später wird die Renaissance den Garten zur Landschaft hin öffnen und ihn als Teil des Wohnhauses begreifen, ihm also nicht einen besonderen Bezirk zuweisen. Der hier dagegen gehört noch zum Typus des hortus conclusus. Laubengänge von Wein durchziehen ihn, die gesäumt sind von Rosen und Jasmin. Der Besucher wird die schattigen Wege als angenehm empfinden und sich an den Farben er-
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freuen, am Rot der Rosen und am Weiß des Jasmins. Zudem kann er den Duft der Blumen genießen, und der Gesang der Vögel bereitet ihm ein zusätzliches Vergnügen. Das gärtnerische Arrangement ist also darauf berechnet, die verschiedenen Sinne anzusprechen. Das wird noch gesteigert durch einen „Rasenplatz“ in der Mitte des Gartens. Der hat solch ein sattes Grün, dass er geradezu „schwarz“ erscheint. Zitronen- und Orangenbäume umstehen ihn; die haben zugleich Blüten und Früchte. Und die Bäume und das Gras und die Blumen auf dem Gras vereinigen sich zu einem ganzen Tableau von Farben und Gerüchen. Die Mitte des Platzes nimmt ein „Springbrunnen“ in einem „weißen, intarsiengeschmückten Marmorbecken“ ein. Das reine, klare Wasser bietet Erquickung, und sein Plätschern und „gefälliges Rauschen“ erhöht noch den Reiz des Ortes. Unschwer erkennt man hierin eine Spielart des locus amoenus. An diesen Plätzen finden sich, eine Jeunesse dorée, sieben junge Damen und drei junge Herren ein, die sich auf der Flucht vor einer Pestepidemie in Florenz auf ihre Landgüter begeben haben. Sie verfügen nicht nur über Geld, sondern auch über Geschmack und sind kultiviert genug, ihr müßiggängerisches Dasein mit Beschäftigungen auszufüllen, die auch für den Geist anregend sind. Wenn sie nicht im Garten auf dem Rasen sitzen und sich Geschichten erzählen, sie bringen es auf die 10 x 10 Novellen des Dekameron, machen sie Musik, oder sie vergnügen sich mit allerlei Spielen. Vor allem aber gehen sie viel spazieren, nicht nur in den Gärten. Morgens, gleich nach Tagesanbruch, wenn die Temperaturen noch angenehm sind, durchstreifen sie die Gegend. Das ist freilich kein Wandern, eher ein heiter-gemächliches Dahinschreiten in Gesellschaft. Wenn es zu heiß wird, ziehen sie sich in die Kühle des Hauses und der Gärten zurück.12 Beim Gang durch die Felder und beim Genuss der Erträge des Landes ist von der Arbeit, die damit verbunden ist, nicht die Rede. Darum müssen sich die Villenbesitzer auch kaum kümmern. Sie sind Angehörige einer Oberschicht, für deren Bequemlichkeit ihre Bauern und andere Bedienstete sorgen. Aufs Land wechseln sie, wenn es ihnen in der Stadt, wo sie natürlich auch ein standesgemäßes Haus haben, zu eng oder zu stickig geworden ist. Zuweilen geschieht der Umzug nicht ganz freiwillig, dann nämlich, wenn sich die Machtverhältnisse gegen sie gekehrt haben. Unter diesen Bedingungen müssen sie in die Verbannung, oder, schlimmer noch, sie sind gezwungen, sich der Verfolgung der gerade Herrschenden zu entziehen. In Florenz ist es einigen der Medici so ergangen und Machiavelli. 12 Vgl. zu dem oben Ausgeführten: Giovanni Boccaccio, Das Dekameron, Berlin und Weimar 1985, S. 29f, 33f, 288–291; Bd. 2, S. 73, 313.
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Gleichwohl, was die Renaissance mit dem Aufenthalt in der Natur verbindet, schildert Boccaccio an deren Beginn. Es ist dies ein Leben, das frei, leicht und heiter ist. Aber das gewährt nur eine Natur, die wohltemperiert ist, deren Härten gemildert sind. Und das weiß die Kultur des Landhauses einzurichten. Sie gewinnt den geographischen Gegebenheiten, dem Klima und der Vegetation die erfreulichsten Seiten ab. So bestimmt Leon Battista Alberti in seinem Werk Über die Baukunst, dass die Villa „höher“ gelegen sein soll, um einen Rundblick zu ermöglichen. Der Aufstieg sei aber so zu gestalten, dass er nicht beschwerlich falle. Ein „sonniges Feld, blühende Wiesenflächen, kühle Waldschatten“ und „klare Bäche“ soll die Umgebung aufweisen. Das Haus selbst müsse sich „heiter“ und „anmutig“ präsentieren. Es dürfe keinesfalls den Eindruck des Ernstes und der Strenge erwecken. Die Besucher werden aufgefordert, sich zu befreien von den Gedanken an ihre Alttagsgeschäfte. Zustimmend zitiert Alberti Martial, der auf die Frage, was er auf dem Land tue, geantwortet habe: „Nur wenig. Frühstücken, trinken und singen; spielen, baden und essen. Ruhen, lesen sodann. Apoll weck ich und necke die Musen.“13 Das weist darauf hin, dass die Kultur des Landhauses in Italien weit zurückreicht, bis in die Römerzeit. Den besten Einblick vermittelt Plinius der Jüngere. In seinem Briefwerk beschreibt er detailliert die Einrichtung eines solchen Gutes; er gibt Auskunft über seinen Tagesablauf und macht auch Angaben über wirtschaftliche Aspekte.14 Die Renaissance hat sich bei den antiken Schriftstellern bedient. Und der Springbrunnen in der Marmorschale, den Boccaccio in seinen Garten stellt, könnte eine literarische Reminiszenz sein, denn Plinius erwähnt ein ähnliches Becken. Der Wunsch, in der Natur zu leben, richtet sich nicht gegen den städtischen Lebenszuschnitt. Er enthält keinen antizivilisatorischen Affekt. Die Nähe der Stadt ist sogar erwünscht. Boccaccio denkt an „zwei Meilen“; bei Alberti und bei Plinius finden sich ähnliche Vorstellungen. Der Reiz liegt gerade im Wechsel der Umgebung. Der Landaufenthalt folgt nicht dem Ideal des einfachen Lebens, er ist keine asketische Übung. Die Landhäuser des Plinius, er hatte welche am Comer See, in der Toskana und in der Nähe von Rom, sind mit einem erstaunlichen Luxus und mit großem Raffinement ausgestattet, wobei die jeweiligen natürlichen Gegebenheiten geschickt genutzt werden. Geradezu neuzeitlich mutet der Blick an, den Plinius für die individuelle 13 Vgl. Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, ed. Max Theuer, Darmstadt 1975, 9. Buch, 2. Kp., S. 476–480. 14 Vgl. Plinius der Jüngere, Sämtliche Briefe, ed. André Lambert, Zürich 1969, Briefe: 1,3; 2,17; 3,19; 5,6; 6,19; 6,30.
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Schönheit einer Landschaft hat. Dieser erweist sich der eher emblematischen Betrachtungsweise Boccaccios überlegen. Man kann den Tag auch damit hinbringen, durch die Gegend zu streifen und irgendwelchen Tieren nachzustellen. Geschieht das ohne Not, so wird daraus ein Sport. Land, Wasser und Himmel geraten dann unter einen bestimmten Blickwinkel. Und es sind vor allem die Briten, die die damit verbundenen Vergnügungen überaus schätzen. Der Sport oder der Sportfimmel wird für sie zu einem wesentlichen Bestandteil des countrylife. Und das Scheinen der Frühlingssonne lässt bei einem rechten englischen Landedelmann nicht Gedanken an die Liebe aufkommen, sondern an eine zünftige Angeltour. Jedenfalls stellt es so James Thomson dar. Gleich 49 Verse seines großen Lehrgedichtes The Seasons, Die Jahreszeiten, sind dem Fischen gewidmet. Ausführlich wird dargestellt, wie die Bachläufe aussehen, in denen die Forellen stehen und wie man die Angel werfen muss, um eine gute Beute zu machen. Epochemachend war aber die Schilderung der Jahreszeiten und ihres Wechsels. Das zeigt die enthusiastische Aufnahme des Werkes, nicht nur in England, sondern auch auf dem Kontinent. In Deutschland hat Barthold Heinrich Brockes das Gedicht übersetzt und es zur Vorlage eigener Schilderungen genommen. Und Gleim, Gessner, Ewald v. Kleist, Lessing und Wieland haben sich ausdrücklich auf Thomson bezogen. Eine ähnliche Aufnahme fand er in Frankreich. Diese Resonanz ist einigermaßen erstaunlich, denn das Thema ist wahrlich nicht neu. Seit jeher fühlt der Mensch sich eingebunden in den Rhythmus der Natur. Die Mythen sprechen davon, und Gottheiten wie Dionysos oder Demeter sind figürliche Manifestationen dieses Kreislaufes. Dass er auch Gegenstand der artifiziellen Darstellung wurde, versteht sich fast von selbst. Mit dem jahreszeitlichen Wandel hat sich vor allem die bildende Kunst befasst. Selbstverständlich ist auch die Literatur, wie das Beispiel Vergils belegt, darauf eingegangen. Aber sie hat daraus zunächst kein eigenes Thema gemacht. Anders die bildende Kunst. Sie entwickelt Bilderfolgen oder Bilderzyklen mit einer festen Ikonographie, die das Werden und Vergehen in der Natur wiedergeben. Da sind zunächst die Monatsbilder mittelalterlicher Kalendarien, von denen die Très riches heures des Herzogs von Berry die berühmtesten sind. Sie stammen von den Brüdern von Limburg und zeigen die mit den einzelnen Monaten verbundenen Arbeiten und Tätigkeiten. Auf dem Bild für den März sind beispielsweise ein Sämann und ein Pflüger zu sehen. Es wird so die Vorstellung einer Welt entworfen, die bestimmt ist durch wohlgeordnete Abläufe. Das findet seine Fortsetzung in den Darstellungen der vier Jahreszeiten. Diese halten immer eine feste Reihenfolge ein: der Frühling macht den Anfang, und am Ende
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steht der Winter. Solche Bilderfolgen gibt es vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, von Malern wie Pieter Breughel, 1icolas Poussin und Caspar David Friedrich. Nicht selten gehen diese Darstellungen ins Allegorische über, immer aber haben sie einen ausgesprochen symbolischen Charakter, was sich schon daraus ergibt, dass die Jahreszeiten seit alters als Sinnbilder der menschlichen Lebensalter angesehen wurden. Es ist sicher nicht zufällig, dass zeitgleich mit Thomsons Dichtung auch eine musikalische Bearbeitung des Themas entstanden ist: Antonio Vivaldis Violinkonzerte Die vier Jahreszeiten. Dagegen ist Joseph Haydns Oratorium Die Jahreszeiten abhängig von dem literarischen Vorbild. Sein Librettist Van Swieten hat sich an die englische Vorlage gehalten. Was die Jahreszeiten an Freuden, aber auch an Entbehrungen und Leiden bringen, das erfährt der Landbewohner intensiver als der Städter. Wer dem Frost im Winter ausgesetzt war, dem Erstarren der Erde und des Lebens, der empfindet die Wiederkehr der Wärme als ungeheure Wohltat. Er genießt die Sonne, erfährt ganz unmittelbar ihre „lebensspendende Kraft“. Es sind diese Erfahrungen, die einen Begriff vermitteln von dem, was die Natur ist, und nur einer Betrachtung, die sich auf den Wandel einlässt, erschließt sich ihre Größe und Macht. Thomsons Schilderungen des jahreszeitlichen Wechsels, der Veränderung von Vegetation, Klima und Licht und deren Auswirkungen auf Tiere und Menschen rückten den Zeitgenossen diese Seite des Landlebens eindrücklich vor Augen. Auch er spricht von den Annehmlichkeiten dieses Daseins, spricht von der Stille, der Zurückgezogenheit und von seinen Büchern. Der Gestus des Rühmens, den, wie alle Landlebendichtung, sein Werk einnimmt, bezieht sich aber vor allem darauf, dass die Abfolge der Jahreszeiten als eine sinnvolle Ordnung ausgewiesen wird. Auch das scheinbar Zerstörerische ist Teil des göttlichen Plans, es erfüllt, wie alles in der Welt, eine Bestimmung, eine, die der Schöpfer in es gelegt hat. Die zweckmäßige Einrichtung der Welt geht dem Menschen dann auf, wenn er erfährt, wie die Naturerscheinungen auf ihn zugestellt sind. Sie alle können ihm nutzen, sie können ihn darüber hinaus erfreuen und belehren. Darin offenbart sich das segensreiche Wirken Gottes. Und der Erfolg Thomsons beruht auch darauf, dass er ganz dem teleologischen Denken des Barock verpflichtet ist, wonach alle Erscheinungen einen Zweck haben, sinnvoll und nützlich sind. Das gesteigerte Interesse der Epoche an der Empirie verschafft sich eine religiöse Rechtfertigung. Die Hinwendung zur Natur ist keine Abkehr vom Göttlichen, sie lenkt im Gegenteil die Gedanken gerade auf den Schöpfer. In seinen Werken gibt er sich zu erkennen. Brockes bringt diese Auffassung mit dem Titel seines Hauptwerkes auf eine Formel:
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Irdisches Vergnügen in Gott. In den Besitz der göttlichen Gaben bringt man sich aber nach Thomson vor allem durch ein tätiges Leben. Der Begriff country life ist mit einer Lebensweise verbunden, die der englischen Gesellschaft als erstrebenswertes Ideal gilt. Die Literatur hat sie beschrieben und überhöht. Materialisiert hat sie sich im country house und vor allem im country garden. Ihren grandiosesten Ausdruck findet sie aber im englischen Landschaftspark. Mit ihm hat sich das englische Landleben das passende Umfeld geschaffen, eine ideale Landschaft, deren weite Rasenflächen, stattliche Baumgruppen, gewundene Wege und zu Weihern anschwellende Wasserläufe sich in die Umgebung einfügen. Dieses Arrangement schafft auch den Platz für die Art von Vergnügungen, die man auf den britischen Inseln so überaus schätzt, für den Sport. Der Rasen, hier schlicht Green genannt, gibt auch die Spielfelder ab für das Bowling- und Kricketspiel. Das weist darauf hin, dass das country life durchaus aristokratische Züge trägt. In ihm nimmt die Jagd und der Sport, aber auch das Interesse an der Gärtnerei und der Agrikultur breiten Raum ein. Ihnen widmet sich vor allem der gentry, der Landadel, deren Angehörige – leicht blasiert, die Jagdflinte lässig in der Hand – einem aus den Bildern Gainsboroughs anblicken. Die englische Literatur hat zur Darstellung des Landlebens sogar ein besonderes Genre geschaffen, das der Country House Poems. Exemplarisch dafür ist Ben Jonsons Gedicht To Penthurst. Es entwirft die Topographie einer Herrschaft, in deren Mittelpunkt der Adelssitz liegt. Er ist das Zentrum eines wohlgeordneten Mikrokosmos, auf den alles ausgerichtet ist, die Behausungen der abhängigen Bauern, die Gärten, Felder und Wiesen und selbst die angrenzende Landschaft.15 Die Ansicht einer solchen Herrschaft begegnet einem wieder in Henry Fieldings Roman Tom Jones. Das Herrenhaus liegt auf halber Höhe eines Hügels, aber hoch genug, um eine „höchst reizende Aussicht“ auf das umliegende Land zu gewähren. Vor sich hat der Betrachter eine offene Ebene, die durch „Gruppen von Buchen, Ulmen und weidende Schafe verschönt“ wird. Ihr Mittelpunkt bildet ein See, aus dem im gekrümmten Lauf ein Bach durch Wiesen und Gehölze dem Meer zufließt. Zur Rechten schaut man auf ein kleineres Tal, „geziert mit verschiedenen Dörfern“, das seinen Abschluss im „Turm einer alten verfallenen Abtei“ findet. Schließlich zeigt der Ausblick zur Linken „einen schönen Park …, der mit einer großen Mannigfaltigkeit von Hügeln, Grasplätzen, Wäldchen und Gewässern mit vortrefflichem Geschmack gestaltet ist und dennoch der Kunst weniger verdankt als der Natur“. Begrenzt
15 Vgl. dazu Eckhard Lobsien, Landschaft in Texten, Stuttgart 1981, S. 21ff.
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und abgeschlossen wird die Szenerie durch ein „hohes Gebirge“.16 Hier ist auf knappem Raum alles versammelt, was nach englischem Geschmack landschaftliche Schönheit ausmacht. Der darüber herrscht, ist der Squire Allworthy. Mit ihm hat Fielding das Portrait eines englischen Landjunkers geschaffen, aber eines von der milden Observanz. Er regiert sein kleines Reich mit Güte, Wohlwollen und Nachsicht. Freilich, die schöne Ländlichkeit ist für alle da, auch für die niedrigen Klassen – wenigstens in der englischen Literatur ist das so. Sie kommt auch vor in dem harten Leben der Pächter und Landarbeiter, das Thomas Hardy beschreibt. Und die Melkerin Tess ist durchaus empfänglich für den Liebreiz eines gefälligen, anmutigen Tales im Südwesten Englands.17 Das Grün, „die gelassenste der Farben“, über das Bulwer-Lytton ins Schwärmen gerät, erfreut Arme wie Reiche, den vagabundierenden Zauberkünstler wie den vornehmen Lord. „Oh süßes Grün!, für die Welt das, was ein sanftes Gemüt für das Leben der Menschen bedeutet: Wer möchte all deine lieblichen Schattierungen auf einen derben Farbton reduzieren!“18 Und dann gibt es Orte in Europa, da geht es sehr gemütvoll zu, um nicht zu sagen schläfrig. Sehr dörflich sind diese Orte, und an sportliche Aktivitäten, Raffinement der Lebensführung und philosophische Klügeleien ist überhaupt nicht zu denken. Ganz unaufgeregt verläuft das Leben, und die große Welt dringt nicht hinein in diesen Winkel. So unspektakulär wie das Leben ist auch die Landschaft. Sie ist herabgemildert, moderat, ohne Schroffheiten und Härten. Es gibt weder steile Berge noch dunkle Wälder. „Lodernde Kornfelder und ein glitzerndes Flüsschen“ bestimmen das Bild. Das Wäldchen, das sich gleichwohl gehalten hat, wirkt fast schon unheimlich und sollte möglichst gemieden werden. Die Orte, die so aussehen, könnten allesamt Oblomoska heißen. Sie liegen in Russland, in einem entlegenen Gouvernement, Moskau ist weit und der Zar auch. Der Romanheld, der hier seine Kindheit und Jugend verbringt, trägt denselben Namen, nämlich Oblomow. Sein Autor Gontscharow beschreibt diese Welt mit einem milden Spott, der nicht ohne Schärfe ist, aber auch mit Anteilnahme und einer leichten Trauer.19 Die rührt daher, dass das Leben stillzustehen scheint. Es herrscht „das Ideal der Ruhe und der Tatenlosigkeit“. Ein Adelssitz ist das auch, denn schließlich gehören den Oblomows einige hundert Seelen und das Dorf. Aber hochherrschaftlich geht es 16 Henry Fielding, Die Geschichte des Tom Jones, eines Findlings, 1. Buch, 4. Kp. 17 Das bezieht sich auf Hardys Roman Tess of the d’Urbervilles. 18 Edward Bulwer-Lytton, Was wird er damit machen?, Deutsch von Arno Schmidt, Frankfurt/M. 1990, S. 302. 19 Das bezieht sich auf Iwan Alexandrowitsch Gontscharow, Oblomow, Erster Teil, Kp. 9: Oblomows Traum.
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nicht zu. Und am Haus blickt überall der Verfall durch. Beide, Herrschaft wie Dienerschaft, leben im herzlichen Einvernehmen miteinander, und das bisschen Schimpfen darf man nicht allzu ernst nehmen. Die Herrschaft redet hauptsächlich über das Essen, trinkt viel Tee und gibt den Domestiken sinnlose Anweisungen, die gleich wieder vergessen sind. Viel leisten alle nicht. Und doch gibt es so etwas wie den „Zauber der Oblomowschen Atmosphäre“. Und Gontscharows Held, den es in die Großstadt verschlagen hat, sehnt sich zurück in sein Dorf, in den Kreis träger, aber herzensguter Menschen, bei denen er sich umsorgt und geborgen fühlte. Interessantes, Anregendes hat so ein Leben nicht zu bieten. Dafür stellt es aber auch keine Ansprüche an die Menschen. Still und gemächlich geht es dahin. Es sind Möglichkeiten, die einem die Literatur vorhält, Möglichkeiten, wie es sich leben lässt auf dem Lande. Sie stehen aber unter dem Eindruck der urbanen Zivilisation, sind immer auch gedacht als Gegenbilder dazu. Diejenigen, die hinauswollen, kennen das Leben in der Stadt; sie wissen um seine Nachteile und entwickeln Vorstellungen eines besseren Daseins. Die Schilderungen des Landlebens sind also Hervorbringungen einer städtischen oder verstädterten Intelligenz. Und die Verklärungen, die es erfahren hat, lassen sich darauf zurückführen. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Entwürfe rein illusionär wären. In sie eingegangen sind durchaus reale Züge. Und zudem, es gibt sie ja wirklich, die Schönheit der Natur, und reine Luft und Ruhe in der Abgeschiedenheit auch. Die Opposition der beiden Bereiche lässt sich jedoch nicht auf einen simplen Gegensatz reduzieren, bei dem alles Böse auf die Seite der Stadt fiele, das Land dagegen auf die Seite des Guten rückte. Das liefe auf das ewige Lamento über die angebliche Verdorbenheit der Metropolen hinaus, wogegen sich dann das Land umso vorteilhafter abhebt. Darüber hat sich bereits Wilhelm Busch im ersten Kapitel der Frommen Helene gründlich lustig gemacht. Die Gegenstellung der beiden Lebensformen gestaltet sich entschieden differenzierter. Das erklärt sich schon aus den unterschiedlichen persönlichen und sozialen Milieus, aus denen die Verfasser kommen. Das Spektrum reicht von der einseitigen Verdammung alles Städtischen bis zu der Überzeugung, dass beide Sphären sich keine Konkurrenz machten, dass jede von ihnen ihre eigenen Vorzüge hätte. Das Rom Vergils sieht anders aus als das London Thomsons, und entsprechend muss der Kontrast dazu jeweils anders ausfallen. Das Landleben selbst hat die vielfältigsten Ausformungen gefunden. Und wenn man zurückblickt, so ist einiges davon vorgeführt worden. Selbstverständlich spielt dabei die Landesnatur, das Klima, die Vegetation und die geographischen Formationen eine wichtige Rolle.
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Der Süden lässt eben andere Gewohnheiten entstehen als der Norden. Trotzdem sind diese Lebensformen nicht naturwüchsig. Sie sind im Gegenteil ein Ausdruck von Kultur. Sie stellen Entwürfe dar, denen abzunehmen ist, wie sich eine Gesellschaft in der Natur einrichtet. Es versteht sich, dass es immer auch den Freiraum individueller Gestaltung gibt, aber die Schriftsteller stehen doch in einer Tradition. Sie geben etwas von dem wieder, wie die Kultur, der sie entstammen, ihr Verhältnis zur Natur auffasst. Nun steht es nicht so, dass Städter Menschen wären, die nichts anderes im Sinn hätten, als ihr Territorium zu verlassen. Alles Dörfliche trifft sogar ihre Verachtung, und gegen die sprichwörtlich dummen Bauern spielen sie gern ihre Überlegenheit aus. Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass in dem Wort ‚Tölpel‘ der Dörfler steckt. Ein Reflex davon findet sich auch in der Literatur; diese hat sich also keineswegs nur aufs Rühmen verlegt. Nun ist die Dichtung immer an Formen gebunden. Die Form ist mitbestimmend für den Inhalt, das Personal und die Stilhöhe eines Werkes. Der grobe, ungehobelte, blöde Bauer ist vor allem ein Fall für das Lustspiel und die Posse. Darin werden die dörflichen Verhältnisse, ihre Primitivität und Rückständigkeit bloßgestellt und verspottet. Darauf soll hier nicht eingegangen werden, eben so wenig wie auf die im engeren Sinne lyrischen Formen. Die Darlegungen beschränken sich auf die Prosa und auf das beschreibende Gedicht. Wenn oben von Landlebendichtung gesprochen wurde, so ist diese keinem bestimmten Genre zuzuordnen. Da gibt es die Tradition der Hirtendichtung oder der Bukolik, dann die Idylle und die Dorfgeschichte, ferner die Schriften, die den Charakter von Ratgebern haben, und nicht zuletzt findet sich die Pastorale im Roman und in der Erzählung. Formengeschichte zu betreiben, ist aber nicht die Absicht dieser Abhandlung. Wie verwickelt jedoch die Verhältnisse sind, zeigt der Umstand, dass im Barock, bei Opitz zum Beispiel, der Begriff Landleben auch auf die bukolische Dichtung angewendet wird, also nicht etwa reserviert ist für belehrende Schriften. Vermerkt sei noch, dass die deutsche Literatur bisher nur gestreift wurde. Wie sich die Dinge in ihr darstellen, wird später an geeigneter Stelle erörtert. Die Natur ist nicht nur schön und verlockend. Sie zeigt auch ein ganz anderes Gesicht. Joseph Conrad berichtet über eine Flussfahrt ins Innere Afrikas, ins Herz der Finsternis.20 Tückisch sieht der Fluss schon auf der Landkarte aus; er bildet die Form einer Schlange. Nach einer Fahrt entlang einer ganz verlorenen Küste geht es hinein in die Wildnis. Das Land ist vollkommen unvertraut, in einem Maße fremd, dass es sich jedem Vergleich mit einer bekannten Umgebung entzieht. 20 So der Titel der Erzählung.
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An beiden Ufern des Stromes erhebt sich der Urwald, höher hinausreichend als „die Mauer eines Tempels“, ein Verhau aus Pflanzenwuchs, „eine strotzende und ineinander verflochtene Masse von Stämmen, Ästen, Blättern, Zweigen, Rankenwerk“. Nur scheinbar eröffnet der Fluss einen Zugang zu der „grünlichen Düsternis“. Gleich hinter der Expedition schließt sich wieder die Wildnis „wie das Meer über einen Taucher“. Der Wald gleicht einer „heranrollenden Woge aus Pflanzen“, bereit, „jedes kleine Menschenwesen aus seinem Dasein zu fegen“. Er führt ein ganz unverständliches Leben. Meist ist er stumm, bewahrt ein unheimliches Schweigen. Dann wieder hört man Geräusche, sogar Schreie. Aber die kann man nicht zuordnen. Sie sind Regungen eines geheimnisvollen Lebens, deren Bedeutung sich nicht entschlüsseln lässt. Die Artikulationen der Wildnis haben nichts mitzuteilen. Sie ist „ein Ding, das nicht sprechen“ kann und scheinbar auf nichts reagiert, sie ist „taub“. Von ihren Äußerungen weiß man nicht, ob sie ein „Flehen“ oder eine „Drohung“ sind. Unermesslich ist dieses Stück Natur. Es übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen; es verbreitet einen „begriffslosen Schrecken“. Die „Tiefen der Finsternis“ sind undurchdringlich für das menschliche Denken und zudem „erbarmungslos gegen menschliche Schwächen“. Was die Unheimlichkeit vollkommen macht ist, dass nichts an eine Welt erinnert, die für den Menschen bewohnbar wäre. Die Wildnis wirkt „unirdisch, vorgeschichtlich“, wie der „Mars“. Und doch ist sie auch das, sie ist „primitiv und herrlich“. Die Natur ist, wie das Verhältnis des Menschen zu ihr, durchaus ambivalent. Neben der Seite der Schönheit und Gefälligkeit, weist sie auch die des Zerstörerischen und Furchteinflößenden auf. Gegenüber ihrer Größe, Weite und Unermesslichkeit muss sich der Mensch als klein und unbedeutend empfinden. Aber gerade dieses Grenzenlose und in seinen Ausmaßen Majestätische übt auch wieder eine ungeheure Anziehung aus. Es ist nicht nur schreckenerregend, sondern auch faszinierend. Und das konstatiert ja auch Joseph Conrad. Der Aspekt der bewundernswürdigen Größe der Natur wird in der Kunst und in der ästhetischen Theorie unter dem Begriff des Erhabenen abgehandelt. Beides, das Schöne und das Erhabene, gehört zur Natur. Nicht selten geht das eine in das andere über. So kann das Schöne sich ins Übermäßige steigern und das Erhabene eine Wohlgestalt annehmen. Die Analyse dessen, warum die Natur auf den Menschen anziehend wirkt, kommt im Wesentlichen auf drei Motive.21 Das erste ist so nahe21 So auch Martin Seel, Eine Ästhetik der 1atur, Frankfurt/M. 1996. Er unterscheidet drei Grundformen ästhetischer Wahrnehmung der 1atur oder drei Attraktionen der Natur: Kontemplation, Korrespondenz und Imagination. Das entspricht ungefähr dem, was hier ausgeführt wird, wobei die Reihenfolge allerdings umgekehrt ist. Manches, was Seel
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liegend wie simpel. Die Natur erscheint deswegen schön, weil die Kunst sie als schön erscheinen lässt. Oder auch, etwas weniger kategorisch, die Kunst lenkt den Blick auf ihre Schönheiten. Die Steppe mag für die Augen eines unvorbereiteten Besuchers ein öder Landstrich sein. Erst Tschechows Beschreibung lässt ihre Reize hervortreten. Sie richtet die Aufmerksamkeit auf die sonst nirgendwo anzutreffenden Formen und Farben, und sie vermittelt ein Gespür für die Weite und Größe dieser Landschaft. Ebenso geht es mit Maupassants Normandie. Auch sie ist dem ersten Anschein nach ziemlich eintönig, flaches Land, nur Felder und Wiesen und ein paar Bäume dazwischen. Aber auch diese grandiose Herbheit vermag zu überzeugen, vorausgesetzt es gelingt, dafür empfänglich zu werden, und dazu kann eben die Literatur verhelfen. Der Künstler, sagt Marcel Proust, gehe vor „wie etwa ein Augenarzt“. Durch seinen Eingriff sieht man die Welt anders. Sie hat ihr gewohntes Aussehen abgestreift und bietet einen neuen Anblick. Die Gegenstände, die Farben, das Licht – alles ist verändert, weil es in der Sichtweise des Künstlers aufscheint. Und der Betrachter gewahrt Qualitäten an den Dingen, die ihm vorher nie aufgegangen sind. „Wir haben Lust“, so Proust, „in dem Walde, den Renoir gemalt hat, spazierenzugehen, der uns am ersten Tag alles andere als ein Wald vorkam, eher zum Beispiel wie eine Stickerei mit vielen Farbtönen.“22 So kann selbst das Gewöhnliche attraktiv werden, dann, wenn seine bislang unbeachteten Werte aufgedeckt worden sind. Nun sind bildende Kunst und Literatur nicht umstandslos gleichzusetzen. Diese hat durchaus ihre eigenen Gesetze. Anders als etwa die Malerei zeigt sie die Dinge nur indirekt. Das soll heißen: sie zeigt sie vermittelt durch eine fiktive Person. Die Personen eines Romans oder einer Erzählung leben in einer bestimmten Gegend. Sie gehören zu ihr, sind oft sogar typische Vertreter von ihr. Was sie erleben und erleiden, ist verbunden mit diesem Umfeld. Der Leser wird da hineinversetzt. Mit dem alten Dubslav ist er in der Grafschaft Ruppin, sitzt mit ihm auf einer Bank am Stechlinsee, unter den „alten Buchen“, von denen Fontane sagt, dass „deren Zweige, von ihrer eigenen Schwere nach unten gezogen, den See mit ihren Spitzen berühren“.23 Und er wartet mit dem Hausherrn auf die Gäste, die gerade eine der für diese Landschaft chaausführt, kann man nicht mitmachen; so die wenig plausible Trennung zwischen ästhetischer Aneignung und Erkenntnis der Natur. 22 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Deutsch von Eva RechelMertens. Frankfurt/M. 1964, Bd. 6, S. 435f. 23 Theodor Fontane, Der Stechlin, Werke, hrsg. v. Walter Keitel u. Helmuth Nürnberger, Abt. I, 5. Bd., S. 7. Das verweist schon auf das Kapitel über Fontane. Auch die Ausführungen zu Jean Paul, Stifter und Arno Schmidt sind so zu verstehen; das wird im Folgenden nur ausnahmsweise vermerkt.
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rakteristischen Alleen hinunterreiten. Der Leser ist also mit den epischen Personen an den Orten des Geschehens. Und er steht auch mit ihnen vor der Natur, sieht sie mit ihren Augen, erfährt, welche Gedanken und Gefühle sie bei einer Aussicht bewegen. Wie der Maler muss auch der Schriftsteller ein Bild entwerfen, mit seinen Mitteln versteht sich, mit den Mitteln der Sprache. Aber er fügt dem optischen Eindruck noch etwas hinzu, nämlich die Reaktion des Betrachters. Er spricht aus, wie ein Anblick wirkt. Auf diese Weise wird dem Leser die Schönheit eines Ortes nahe gebracht oder auch dessen Großartigkeit, vielleicht auch das, was an ihm abstoßend oder schreckenerregend ist. Selbst wenn letzteres der Fall ist, wird der Leser doch immer eine Lokalität als interessant empfinden, die Schauplatz merkwürdiger, spannender oder tragischer Ereignisse geworden ist. Und gesetzt ein Buch hat Erfolg, so zieht die in ihr geschilderte Landschaft die Aufmerksamkeit auf sich. Sie, die vorher niemand beachtet hat, findet nun ihre Liebhaber. Diese sehen sie in der Perspektive ihrer künstlerischen Aufbereitung. Natürlich gibt es da auch Enttäuschungserlebnisse, dann, wenn nicht aufzufinden ist, was ein Autor so eindrucksvoll beschrieben hat. Das beruht zum Teil aber auf einem Missverständnis, denn es ist nicht unbedingt die Absicht von Literatur, eine realitätsgetreue Abbildung anzufertigen. Sie verändert das Vorgefundene und unterwirft es einem künstlerischen Zweck. Ihm folgend arrangiert sie die Wirklichkeit, sodass sie etwas ausdrückt. Sie soll zum Beispiel eine Stimmung widerspiegeln oder einen Gedanken, oder sie soll sich zu einer bestimmten Atmosphäre verdichten. Oft genug ist der Schauplatz einer Geschichte auch nur eine Erfindung, die allenfalls an eine tatsächliche Gegend erinnert oder Züge einer solchen verwendet. Die Schönheit, die der Betrachter oder der Leser wahrnimmt, ist also das Ergebnis einer bestimmten Anordnung der Realität. Dazu gehören Operationen wie die der Selektion. Sie besteht darin, dass nur ein besonderer Ausschnitt einer Landschaft ins Bild gesetzt wird. Selektion bedeutet aber auch, dass Elemente der Realität ausgewählt und neu zusammengesetzt werden. Selbstverständlich kann sich der Betrachter auch von der Vorlage lösen. Er vollzieht nicht nach, was ein Künstler ihm vorgesetzt hat, sondern er hat gelernt, so hinzusehen wie ein Künstler. Das Bild komponiert er gewissermaßen selbst. Er wird etwa bemüht sein, einen ausgesuchten Standpunkt einzunehmen, und er wird einen Ausschnitt aus dem Vorgefundenen herauslösen. Man kann das gut mit dem Vorgehen beim Fotografieren vergleichen, nur dass es dabei die Kamera ist, die das Segment festlegt. Durch dieses Verfahren verwandelt sich die Umgebung. Sie ist herausgenommen aus den üblichen Lebensvollzügen, ist nicht länger alltäglich und gewöhnlich. Sie gewinnt einen ganz eigenen Reiz, sie sieht aus wie gemalt. Eine solche
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Sichtweise wird vor allem dem geschulten Blick gelingen, geschult durch die Kunst. Die Aussicht auf eine flache Meeresküste wird dann das Aussehen eines niederländischen Gemäldes annehmen, ein Hochgebirgsprospekt gerät zu einem Waldmüller, und der Wald gibt sich erhaben und geheimnisvoll, ganz in der Manier von Stifter. Anziehend erscheint die Realität, weil sie gesehen wird durch das Medium der Kunst. Welche Natur als schön und einnehmend gilt, ist beträchtlichen Schwankungen unterworfen. Und es ist beileibe nicht so, dass das, was unser Gefallen findet, auch zu anderen Zeiten als angenehm empfunden wurde.24 Die Kunst und die Literatur haben da geschmacksbildend gewirkt. Nichts ist diesbezüglich aufschlussreicher als die ästhetische Vereinnahmung der Schweizer Bergwelt. Über Jahrhunderte ist sie mit Prädikaten wie „hässlich“, „erschröcklich“, „unwegsam“ versehen worden. Diese Einschätzung beginnt sich erst im 18. Jahrhundert zu ändern. Bezeichnend ist, dass derjenige, der daran entscheidend mitgewirkt hat, nämlich Albrecht von Haller, anfänglich noch ein ganz anderes Naturideal vertritt. Ausgerechnet Holland findet er „bezaubernd“, und bei Heidelberg kommt ihm die Unterbrechung der Ebene durch Berge „störend“ vor.25 Mit seinem Werk Die Alpen setzt aber eine gründliche Neubesinnung ein. Die Favorisierung bestimmter Gegenden hat auch seine triviale Seite. Dergleichen fördert den Tourismus. Und ohne das Zutun der Literaten und Maler, von Männern wie Haller und vor allem Jean-Jacques Rousseau hätte die Schweiz vermutlich lange noch als ein ziemlich wüstes Land gegolten. Der Drang, sich fremde Räume zu erschließen, hat verschiedene Gründe. Für die Künstler und Literaten ist aber entscheidend, dass sich ihnen mit dem Betreten eines unbekannten Terrains neue Möglichkeiten des Ausdrucks eröffnen. Das ist zunächst so zu verstehen, dass eine Naturszenerie bestimmt psychische Reaktionen herausfordert. Und eine neue Umgebung setzt verborgene seelische Regungen frei. Das Reisen ist ein vergleichbarer Vorgang. Auch das ist begleitet von einer Fülle von Eindrücken und Anregungen. Die künstlerische Adaption eines Naturraumes bedeutet demnach immer auch eine Bereicherung des Fühlens, Wollens und Denkens. Genau das wollten diejenigen erreichen, die einen solchen Aufbruch unternahmen. Die Maler, die die Landschaft um Worpswede für sich entdeckten, geben ein Beispiel dafür ab. Rilke, der sich ihnen anschloss, hat ihre Intentionen interpretiert und kommentiert. Es sei ihnen, führt er aus, darum gegangen, das 24 Einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung gibt Alfred Biese, Das 1aturgefühl im Wandel der Zeiten, Leipzig 1926. Zu dem hier angesprochenen Sachverhalt vgl. insbesondere S. 114–134. 25 Nachweise ebd., S. 116.
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Repertoire an Stimmungen und Gefühlsvalenzen zu erweitern. Und dazu hätten sie herausgemusst aus dem allzu Vertrauten, hätten eine Gegend aufsuchen müssen, die eine Herausforderung darstellte – wie eben der äußerst karge, dürftige Landstrich des Teufelsmoores. „Woran unsere Väter im geschlossenen Reisewagen, ungeduldig und von Langeweile geplagt, vorüberfuhren, das brauchen wir“, schreibt Rilke. Die Berge, zu denen diese gereist wären, wirkten nicht auf seine Generation: „Unsere Empfindung gewinnt keine Nuance hinzu, unsre Gedanken vertausendfachen sich nicht, …denn wir leben in Zeichen der Ebene und des Himmels.“26 Nicht die Schönheit allein, nicht allein das, was an ihr Expression ist, macht die Natur attraktiv. Die Kunst, insbesondere aber die Literatur spricht auch davon, dass sie ein Versprechen auf ein gutes Leben enthält, und daraus ergibt sich das zweite Motiv für das Wohlgefallen an ihr. Eine Erinnerung an die Landlebendichtung macht das deutlich. Da laden Wald und Flur zum Spaziergang ein und zur Jagd; die abgeschiedene Lage verheißt Muse, Ruhe und Beschaulichkeit; die Erde fordert auf zur Gestaltung und zu selbstbestimmter Arbeit. Eine Anschauung, wie das Dasein sein könnte, liegt in der Natur. Und die Dichtung führt das vor. In Gottfried Kellers Roman wird der junge Heinrich Lee ins Heimatdorf seiner Eltern geschickt. Er ist niedergeschlagen und orientierungslos. Von der Schule hat man ihn verwiesen, und eine Aussicht auf einen beruflichen Werdegang hat er auch nicht. Und dann kommt er in das Haus seines Onkels, in ein Haus halb Pfarrei, halb Bauerngut, das angefüllt ist mit buntem, quirligem Leben; Menschen und Tiere laufen durcheinander, Jungen und Mädchen, Hunde und Katzen und ein zahmer, verspielter Marder. Dazwischen bewegen sich der joviale Onkel und die sehr um das leibliche Wohl besorgte Tante. Und als Heinrich kurz nach seiner Ankunft allein ist in dem Haus, die anderen sind draußen auf den Feldern, da guckt durch die Fenster die ganze, wunderbare Gegend: Das „sattgrüne Wiesental“, durch das sich „silbern der Fluss schlängelt“; und die aufsteigende „waldige Berghalde“ jenseits des Wassers, an der „alle Laubarten durcheinander wogen“; und die „düsteren Felswände“ weiter oben, über denen sich die „ferneren Blauberge zeigen“. Von der Mühle flussaufwärts leuchtet nur „das Blitzen und Stäuben des Rades“ durch die Bäume. Und vor dem Haus liegen „Gemüse- und Blumengärten“; die bilden zusammen mit „vernachlässigten Zwischenräumen eine reizende Wildnis“. Und aus Heinrich, auf den das alles einstürmt, das Haus mit seinen Bewohnern und die umliegende schöne Natur, bricht es heraus: „Hier war überall Farbe und Glanz, Bewegung, Leben und Glück, reichlich, ungemessen, dazu Frei26 Rainer Maria Rilke, Worpswede, Sämtliche Werke, V. Bd., Frankfurt/M. 1987, S. 26.
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heit und Überfluß, Scherz, Witz und Wohlwollen.“27 Ihn überkommt ein unbändiger Wille, sich zu entfalten und sich zu betätigen. Das Talent zu zeichnen und zu malen, welches zeitweilig verschüttet war, regt sich wieder in ihm. Beim Erkunden der Umgebung des Dorfes beeindruckt ihn das Alpenpanorama, das über Bergrücken hin in der Ferne auszumachen ist. Er wird aufmerksam auf die eigentümlichen Landschaftsformationen in seiner Nähe. Sie versprechen eine „reiche Zuflucht für fortwährende Streifereien“. Er gewahrt eine „Menge malerischer Anblicke, und an Bäumen und Steinen springt“ ihm das „reichste Detail entgegen“. Alles drängt sich danach, festgehalten zu werden. Heinrich erkennt darin seine Aufgabe; ganz hingegeben ist er an sie. Vergessen ist das, was ihn kürzlich noch bedrückte, und in ihm reift der Entschluss, ein Maler zu werden. Anziehend ist die Natur für den, der in ihr findet, was seinem Wesen gemäß ist. Es ist das besondere Stück Natur, das jemandem zusagt, weil er glaubt, in ihm sich verwirklichen zu können. In eine Umgebung ist er gelangt, welche ihm ein Leben nach seiner Fasson gestattet. Nicht länger fühlt er sich eingeengt, nicht zurückgeworfen auf die Bilder in seinem Inneren. Das, was er sich wünscht, kommt ihm draußen entgegen. Die Dinge und selbst die Menschen neigen sich ihm zu. Sie spornen ihn an, und er hat das Gefühl, dass sich entfalten darf, was vordem zurückgedrängt war und nur als Ahnung in ihm lag. Es ist dies ein gesteigertes Leben, ein Dasein, das endlich gelungen ist, eines, das sich nicht zurückhalten muss, sondern das sich ausleben darf. Das Glücksgefühl, das jemand überfällt, wenn er eine bestimmte Gegend betritt, rührt eben daher, dass er das Empfinden hat, bei sich angekommen zu sein. Und wenn eine Definition des Glücks die ist, dass es keine Diskrepanz zwischen Innen und Außen gibt, dass das Glück auf dem Zusammenstimmen der beiden beruht, so ist das hier zu haben. Vor dem Ankömmling breitet sich eine Fülle von Möglichkeiten aus. Er braucht sie nur zu ergreifen oder auch, bei wiederholtem Aufenthalt, sie sich erneut anzueignen. Anschaulich wird ihm vorgeführt, auf welche Beschäftigung er sich verlegen kann. Die Aufnahme eines Stückes Natur kann demnach die Vergegenwärtigung einer Lebenskonzeption sein, eines Entwurfes von einem geglückten Dasein. Dergleichen stellt immer auch ein Korrektiv dar zu einem schlechten Leben, wenigstens aber zu einem, das nicht so gut geraten ist. Verheißen ist ein Leben jenseits des Zwangs. Und selbst wenn es mit Arbeit und Mühe verbunden ist, so sind diese doch nicht aufgenötigt, sondern sie wurden freiwillig übernommen. Noch die fadeste Urlaubsregion hat etwas von diesem Glanz, auch sie enthält ein Versprechen auf Freiheit und Glück. 27 Gottfried Keller, Der grüne Heinrich, Sämtliche Werke, 1. Bd., München 1958, S. 194f.
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Sich so hingezogen zu fühlen zur Natur, ist elementarer als jede künstlerische Gestaltung. Die Zuneigung, die Menschen für eine bestimmte Gegend empfinden, entsteht aus ihrer eigenen Situation, und es sind ihre Existenzmöglichkeiten, die sie in ihr gewahren. Zudem sind es ganz unterschiedliche Gesichtspunkte, die sie anlocken: Das Klima mag angenehm sein; oder es ist die Physiognomie einer Landschaft, die beeindruckt; vielleicht überzeugt auch die Stimmung, die von einem Ort ausgeht, dessen Heiterkeit oder Gelassenheit. Die Literatur nun hat dieses Motiv aufgenommen und es vielfach variiert. Wie sich das Dasein ausnimmt unter den unterschiedlichsten natürlichen Bedingungen, das wird ihr ein Gegenstand der Darstellung. Sie erzählt dem Leser von fremden Existenzweisen, versetzt ihn in unbekannte Territorien und lässt ihn teilhaben an dem Leben, das sich dort entwickelt hat. Abenteuerlich mag es da zugehen oder auch exotisch. Das hat dann den Geschmack der Ferne und des Entlegenen. Es kann aber auch so sein, dass nur geschildert wird, was jedem vertraut ist, etwas, das vielleicht in der Kindheit am intensivsten genossen wird. Da wirkt irgendein Ferienland mit seinen Sensationen. Schon beim ersten Augenschein ist den Örtlichkeiten anzusehen, welche Freuden sie bereithalten. Das Wasser und der Wald, die Wiesen und die Berge warten nur darauf, erkundet und in Besitz genommen zu werden. Für Kinder sind solche Aufbrüche eine Weise der Welterfahrung. Es gibt sie auch bei anderer Gelegenheit. Und Wilhelm Raabe hat die daran geknüpften Wonnen festgehalten. Die „grüne Freiheit“ beginnt gleich hinter den Häusern. „Der Inbegriff aller Dinge, die Welt, die absolute Totalität eröffnet dem Forscher nicht weitere und nicht geheimnisvollere Räume, als dem Kinde die engbegrenzte Wiese und das Stückchen Himmelblau darüber bieten.“ Es gibt tausend Dinge, die neu sind und unbekannt. An ihnen entzündet sich die Leidenschaft des Forschens und des Sammelns. Es kommen auch Zeiten, „wo man still im Gras liegt und den Wind in den Blättern hört, die Wolken in der Luft schwimmen sieht und nach den fernen Bergen hinüberstaunt.“ Dann wieder muss man laufen, „um die Stelle zu finden, an welcher der Regenbogen auf der Erde steht“. Eine Zeit ist das, schreibt Raabe, „wo man mit Gras und Baum, mit dem lieben Gott, mit jedem Vogel, jeder bunten Mücke, jedem glänzenden Käfer auf du und du steht; wo man Pantheist in der lautersten Bedeutung des Wortes ist.“28 Kaum sind sie draußen, geraten Jean Pauls Helden in Verzückung. Grund dafür haben sie eigentlich nicht, denn Sorgen haben sie genug. Mit dem Auszug in die Natur sind diese nicht abgeschafft. Sie existie28 Wilhelm Raabe, Der Hungerpastor, in: Werke in vier Bänden, hg. v. Karl Hoppe, Bd. I, München o.J., S. 536f.
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ren noch. Sie sind nicht vergessen, etwa weil zeitweilig für Ablenkung gesorgt wäre. Sie beschäftigen auch weiterhin die Gedanken. Es hat sich nur ein Zustand eingestellt, in dem sie nicht mehr als belastend empfunden werden. Die Figuren fühlen sich hinausgehoben über den Kreis ihrer Sorgen. So geht es dem Armenadvokaten Siebenkäs. Der macht sich in gedrückter Stimmung auf eine Fußreise. Die engen Verhältnisse, in denen er sich gefangen sieht, liegen ihm schwer auf der Seele. Als er aber hinauskommt in die offene Landschaft, da geht vor ihm eine ganze Frühlingswelt auf: „Über die Erde schwammen tausend Farben, und aus dem Himmel brach ein einziges lichtes Weiß“. Und Siebenkäs wird das Dasein leicht, er fühlt sich getragen und gehoben. Das Schicksal pflückte aus Firmians Seele, wie Gärtner im Frühjahr aus Blumen, die meisten gelben, alten, welken Blättchen aus … In der Seele stieg eine überirdische Sonne mit der zweiten am Himmel. In jedem Tal, in jedem Wäldchen, auf jeder Höhe warf er einige pressende Ringe von der engen Puppe des winterlichen Lebens und Kummers ab und faltete die nassen Ober- und Unterflügel auf und ließ sich von den Mailüften mit vier ausgedehnten Schwingen in den Himmel unter tiefere Tagesschmetterlinge und über höhere Blumen wehen.29
War die Welt vorher verdüstert durch allerlei Kümmernisse, so ist Siebenkäs nun empfänglich für ihre Schönheit. Selbstverständlich ist das abhängig von seiner Gemütsverfassung, aber doch nicht allein davon. Die Umgebung trägt das ihrige dazu bei, und es kommt zweierlei zusammen: die Gestimmtheit des Individuums und das Besondere der äußeren Gegebenheiten. Der Einzelne erlebt das in der Weise, dass sich die Welt verändert hat. Sie hat alles Gewöhnliche abgelegt. Es ist dies nicht auf eine Operation des Willens zurückzuführen, nicht auf ein Tun. Diese Veränderung erfasst einen Menschen, sie kommt über ihn. Getragen wird sie also vom Gefühl, und der Einzelne erfährt sie als Versetzung in einen bestimmten Zustand. Gleichwohl handelt es sich nicht um ein bloßes Erleiden, vielmehr um eine erhöhte geistige Aktivität. Es ist die der Kontemplation. Aus dieser Haltung ergibt sich der dritte Grund für die Attraktivität der Natur. Für gewöhnlich sind die Dinge eingepasst in einen bestimmten Zusammenhang. Sie haben ihren Platz und ihre Funktion im Vollzug des Lebens. Die Alltagswelt ist so beschaffen. Da gehen die Dinge auf in ihrem Gebrauch. Sie haben nichts Besonderes, nichts, was Beachtung verdiente, und schön sind sie schon gar nicht. Die Aufmerksamkeit ziehen sie allenfalls dann auf sich, wenn die Selbstverständlichkeit, mit 29 Jean Paul, Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten Firmian Stanislaus Siebenkäs, in: Werke, hrsg. von Norbert Miller, München 1959–66, 2. Bd., S. 352f.
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der man sich ihrer bedient, aufgehoben ist. Sie erlangen den Status der Auffälligkeit, und man ist bemüht, diese Störung schleunigst zu beheben.30 Mit dem Raum verhält es sich so ähnlich. Auch er hat eine von der Gewohnheit vorgegebene Gliederung und Bedeutung. Er stellt sich etwa dar als Weg zur Arbeit. Auch er ist eingebunden in die Routine, erscheint unter dem Blickwinkel der sich wiederholenden Abläufe des alltäglichen Besorgens. Eine ästhetische Qualität hat er ebenso wenig wie die Gebrauchsdinge. Und nun kann es geschehen, dass sich dieser Zusammenhang auflöst. Die Dinge und die Umgebung, der sie angehören, haben sich verändert; sie sind fremd geworden; frisch und unverbraucht sehen sie aus; und in ihrer Fremdheit wirken sie überaus reizvoll und schön. Sie weisen Eigenschaften auf, die der geschäftige Umgang mit ihnen verdeckt hat. Es war die allzu große Vertrautheit mit ihnen, die sie banal und unbedeutend machte. Jetzt aber beginnen sie zu leuchten. Auf sie legt sich ein ungeahnter Glanz. Aber der subjektiven Seite stellt sich dieses Geschehen als Distanz zum Leben dar. Jemand hat Abstand gewonnen zu dem, was er üblicherweise betreibt. Eben das tritt ein in der Denkweise der Kontemplation. Arthur Schopenhauer, der diese eindringlich analysiert hat, erklärt deren Entstehung mit der Aussetzung des Willens. Der Wille ist gleichzusetzen mit dem Prinzip des Lebens. Er äußert sich als blinder Drang, als der dem einzelnen Lebewesen innewohnender Trieb, sich im Dasein zu halten. Das gilt für alles Leben, auch für das des Menschen. Und so ist es die Not des Existierens, die den Menschen beherrscht. Sie bestimmt sein Handeln und lässt ihn vor allem danach streben, ein einigermaßen erträgliches Auskommen zu haben. Aber auch die höheren Interessen, die Bemühungen des Geistes um Erkenntnis stehen unter der Botmäßigkeit des Willens. Im Verstand habe „der Wille…sich… ein Licht angezündet“31, lautet einer der Kernsätze Schopenhauers. Selbst von der Wissenschaft behauptet er, dass sie nicht nach dem Wesen der Dinge frage, sondern einzig danach, wie diese sich einsetzen ließen für die Zwecke der Daseinsfristung. Ihr gehe es lediglich um „das Wo, das Wann, das Warum und das Wozu“, nicht aber um „das Was“32. Der Bann, der den Einzelnen an den Willen fesselt, kann aber gebrochen werden. Gleichgültig werden dann die Sorgen, die ihn sonst drückten, sie interessieren nicht mehr. Wie abgefallen ist von ihm die Last des Daseins. Aus einem von der Lebensnot umgetriebenen Individuum ist ein „reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der 30 Man kann hier an die Untersuchung der Alltagswelt denken, die Martin Heidegger vorgenommen hat; vgl. Sein und Zeit, 3. Kp., §§ 14ff. 31 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Sämtliche Werke, hrsg. v. Arthur Hübscher, Wiesbaden 1966, S. 179. 32 Ebd., S. 210.
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Erkenntnis“ geworden33. Dieses ist demnach herausgetreten aus den Relationen, in die es eingebunden war. Vor allem aber ist es dem „Strom der Zeit“ enthoben, es ist „zeitlos“, weil es weder Gedanken an die Zukunft noch an die Vergangenheit kümmern. Es befindet sich in einer reinen Gegenwärtigkeit. Hineingezogen in diese Verwandlung sind auch die Gegenstände. Sie sind nicht länger bloßes Material der Lebenssicherung und der Zukunftsgestaltung. Mit dem Subjekt haben sich auch die Objekte aus diesen Bindungen gelöst. Dadurch haben sie gewonnen an Format, Tiefe und Vielgestaltigkeit. Das Subjekt der Kontemplation hat sich demnach von den Zwängen der Individualität befreit. Es kann sich deswegen öffnen für die Gegenstände, kann sich hingeben an sie, ganz so wie man sagt, jemand sei in einen Anblick versunken. Es sind dies Momente der Selbstvergessenheit, in denen nichts mehr von dem zählt, was sonst die Existenz ausmachte. „Es ist dann einerlei, ob man aus dem Kerker, oder aus dem Palast die Sonne untergehn sieht“, so macht Schopenhauer diesen Zustand kenntlich.34 Freilich, er kann nicht anhalten. Der ins Schauen Vertiefte muss zurück ins Leben, und das sagt nicht nur Schopenhauer. Ekstatische Züge hat die Kontemplation bei Jean Paul. Die ästhetische Wahrnehmung der Natur steigert sich zur Erfahrung des Göttlichen. Die Schönheit der Natur ist nur der Abglanz des Überirdischen, ist sichtbarer Ausdruck einer alle Erscheinungen durchwaltenden Harmonie. Sie führt hin zu einer Schau des Ganzen, in der dem Menschen der Sinn für die Einheit der Welt aufgeht. In diese ist alles einbezogen, das Größte und das Geringste und nicht zuletzt der Betrachter selbst. Er empfindet sich als Teil von ihr, fühlt sich in ihr aufgehoben und geborgen. Was demnach in dieser Einstellung geschieht, ist eine ‚unio mystica‘, eine Vereinigung mit dem Göttlichen. Und selbst wenn man diesen Vorgang nicht religiös versteht, wenn man ihn, wie Schopenhauer, begreift als Akt der Erkenntnis, so ist auch dann die Gegenstellung von Subjekt und Objekt aufgehoben, in der Weise nämlich, dass sie einander nicht länger fremd sind. Denn indem alle selbstischen Impulse vom Subjekt abgefallen sind, erscheinen auch die Gegenstände nicht mehr unter dem Aspekt der Zu- oder Abträglichkeit. Von der „Seligkeit des willenlosen Anschauens“ spricht Schopenhauer. Und die Kontemplation nennt er eine „uninteressierte Betrachtung“, eben weil die Nöte des Daseins nicht mehr zählen.35 Das verweist auf den Zusammenhang der Kontemplation mit der antiken ‚Theoria‘, was wörtlich übersetzt ‚Schau‘ heißt. Sie ist ein Wissen, das jenseits des tätigen Lebens steht 33 Ebd. 34 Ebd., S. 232. 35 Ebd., S. 233; S. 220.
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und sich auf die Einsicht in die kosmische Ordnung richtet. Für Platon, auf den sich Schopenhauer beruft, besteht sie darin, sich von der Welt des Scheins, die den Menschen gemeinhin gefangen hält, frei zu machen. Derjenige, der das tut, übersteigt die sichtbare Wirklichkeit und erhebt sich zu dem, was dieser zu Grunde liegt, und das sind die reinen geistigen Formen, die Ideen, während die sinnlichen Erscheinungen nur deren Abbilder sind. Wer sich dieser Aufgabe stellt, hat sich ganz der Wahrheit verschrieben; er hat sich der Wesensschau überlassen, verliert sich in ihr. Anders als für die Neueren geht für Platon die Kontemplation aber weniger aus einem ekstatischen Erfasstwerden hervor, als vielmehr aus einer ethischen Entscheidung. Sie beruht auf dem Beschluss, sich in der Wahrheit zu halten. So jedenfalls stellt es das Höhlengleichnis der Politeia dar, in dem Platon seine Erkenntnislehre entwickelt. Die Kontemplation braucht sich nicht auf den Höhen der Metaphysik zu bewegen; sie ist auch nicht unbedingt darauf angelegt. Sie vermag andere Formen anzunehmen, solche, die eher bescheiden sind. Es kann sich dabei um ein vorübergehendes Aussetzen der Alltagswahrnehmung handeln oder um ein Gefühl des Abgehobenseins und des Hinübergleitens zu den Dingen. Das ist nicht die Sache einer besonderen Begabung, einer philosophischen, künstlerischen oder religiösen. Ganz gewöhnliche Menschen berichten darüber, dass sie Momente kennten, in denen die Trennung zwischen ihnen und den Dingen aufgehoben sei, Momente, die insbesondere als Gefühl des Einsseins mit der Natur erlebt werden. Die Literatur knüpft an diese Erfahrungen an und gestaltet sie, nicht nur in der Weise, dass sie diese, wie Jean Paul, ins Transzendente steigert. Stifter kennt die kleinen, als glückhaft erlebten Augenblicke, die sich beim Anblick eines sonnenbeschienenen Waldweges oder einer besonderen Gesteinsformation einstellen. Noch die moderne Literatur weiß davon. Gehäuft finden sich die Zustände des Innehaltens in den kleinen Prosastücken Robert Walsers. Deren ausgeprägt meditativer Charakter lässt nicht nur die Menschen und die Gebrauchsdinge in einem ungewöhnlichen Licht erscheinen, sondern auch die Natur. Oben auf der winterlichen Bergweide lag Schnee, der wunderbar glänzte, die Schneefläche so silbern, und unten in der Tiefe so abendsonnig-dunkel das weite, grau-grüne Land, und in der Ferne das göttlich-schöne, kühne, zarte Hochgebirge. Es war mir, als wolle meine Seele in die Seele der Landschaft, die ich da so groß vor mir sah, hineintauchen. Ein Abendrot, wie ich es so schön und so reich noch nie glaubte gesehen zu haben, kam nun über die Welt
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und machte sie zur bezaubernden Rätselerscheinung. Die Welt war ein Gedicht, und der Abend war ein Traum.36
Und selbst in Handkes Amerika der Großstädte und der Autobahnen kommt noch ein Gefühl des Angesprochen- und Angezogenseins von Naturerscheinungen auf. Auf einem kleinen Hügel stand in einiger Entfernung eine Zypresse. Ihre Zweige sahen in der Dämmerung noch fast kahl aus. Sie schwankte leicht hin und her, in einer Bewegung, die dem eigenen Atem glich. Ich vergaß sie wieder, aber während ich dann auch mich selbst vergaß und nur noch hinausstarrte, rückte die Zypresse sanft schwankend mit jedem Atemzug näher und drang mir schließlich bis in die Brust hinein. Ich stand regungslos, die Ader im Kopf hörte auf zu schlagen, das Herz setzte aus. Ich atmete nicht mehr, die Haut starb ab, und mit einem willenlosen Wohlgefühl spürte ich, wie die Bewegung der Zypresse die Funktion des Atemzentrums übernahm, mich in sich mitschwanken ließ, sich von mir befreite, wie ich aufhörte, ein Widerstand zu sein, und endlich als Überzähliger aus ihrem sanften Spiel ausschied.37
Man kann bei diesen Erfahrungen nicht einmal von geistigen Zuständen sprechen. Getragen werden sie von starken Emotionen, von einer Ergriffenheit, die sich des ganzen Menschen bemächtigt, des Körpers wie der Seele. Das kontemplative Verhältnis zur Wirklichkeit, wie es in der Literatur anzutreffen ist, kann jedoch auch anders angelegt sein. Es versteht sich dann mehr artistisch, behält sozusagen einen klaren Kopf. Es hat dann etwas vom Geist des Experiments und verfährt spielerisch mit den Gegenständen. Es wendet sie nach allen Seiten und entdeckt an ihnen Eigenschaften, die dem einfachen Umgang mit ihnen verborgen bleiben. Diese Vorgehensweise setzt die Dinge frei. Sie werden erlöst vom Zwang der bloßen Verfügbarkeit, und erlöst wird auch der Blick, der sie, nicht minder zwanghaft, nur aus dieser Perspektive zu sehen vermochte. Diese Art der Betrachtung erprobt sich nicht zufällig gerade am Banalen und Unscheinbaren. Dass es die Moderne ist, die sich den unbedeutenden Erscheinungen zuwendet, die das Triviale, selbst das Hässliche zum Gegenstand der Kunst macht, hat sicher auch damit zu tun, dass der Aspekt der puren Nützlichkeit sich auf alles und jedes gelegt hat, auch auf die Naturerscheinungen. Der Verwertungszusammenhang ist so universal geworden, dass es nur dem artistischen Eingriff gelingt, ihn zu durchbrechen. Auf diesem Hintergrund sind die Arbeiten von Francis Ponge zu sehen, die als Beispiel für diese Möglichkeit der Kontemplation dienen können. Über die Seife hat er geschrieben, über den Telefonapparat, über den Flieder und eben auch über den Schlamm. Daraus ist die folgende Passage: 36 Robert Walser, Ein 1achmittag, Das Gesamtwerk in 12 Bänden, Bd. II, Zürich – Frankfurt/M. 1978, S. 89. 37 Peter Handke, Der kurze Brief zum langen Abschied, Frankfurt/M. 1972, S. 95.
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Wenn, mehr als die Ferne, das Nächste sich verdüstert und nach langem, finstrem Brüten der Regen, der plötzlich den Boden grün und blau prügelt, schon bald den Schlamm gründet, betet ein reiner Blick ihn an: der des Azurs, der schon wieder auf diesem schlammigen Körper kniet, den feindselige Karren allzu sehr gerädert haben…38
Nun hat die Kunst insgesamt kontemplative Züge. Sie entrückt die Erscheinungen, hebt sie heraus aus dem geschäftigen Betrieb. Und was bei Ponge als besonderer methodischer Zugriff erscheint, ist noch in jeder Landschaftsdarstellung angelegt. Solchen Ansichten mögen Erlebnisse der Begeisterung und der Ekstase zugrunde liegen, es kommt aber schließlich doch darauf an, dass diese gestaltet werden, und dazu müssen bestimmte Verfahrensweisen angewendet werden. Oben wurde darauf verwiesen, z.B. auf das Mittel der Selektion. Gleichwohl bringt die Kunst nur eine allgemeine Möglichkeit des Naturverhältnisses zum Ausdruck. Sie zeigt, wie sich die Erscheinungen geben, wenn man sie ohne Rücksicht auf eine eventuelle Besitznahme wahrnimmt. Sie erhalten dann eine bestimmte Qualität, nämlich die der Schönheit. Nach dieser Seite hin betrachtet erregen sie ein „Wohlgefallen“, das „uninteressiert und frei“ ist. So sagt es Kant, und er meint damit, dass es beim Schönen gar nicht darum geht, sich das Objekt der Zuneigung anzueignen, so wie es die „Begierde“ oder die triebhafte „Neigung“ will. Das Gefallen ist rein „kontemplativ“, worunter Kant versteht, dass sich dieses nur auf die Beschaffenheit eines Gegenstandes richtet, nicht auf seine tatsächliche, reale Gegebenheit.39 Die Erscheinungen bewahren so ihre Selbständigkeit. Sie stehen jenseits praktischer Absichten und ziehen weder die Leidenschaften auf sich noch sind sie Objekte technischer Indienstnahme. Das Gefallen an der Natur hat also drei Gründe. Sie wirkt anziehend, weil sie in der Darstellung der Kunst als schön erscheint – weil in ihr die Verheißung eines geglückten Lebens zu finden ist – weil sie einen Zustand kontemplativer Entrücktheit ermöglicht – Selbstverständlich überschneiden sich diese Motive. Die kontemplative Einstellung zur Welt gehört zu den Voraussetzungen der Kunst und der Schönheit. Und wenn eine Gegend schön, reizvoll und verlockend dargestellt wird, entsteht wie von selbst der Wunsch, darin zu wohnen. Und sicher wird ein Stück Natur, welches das Verlangen weckt, in ihm sich niederzulassen, als schön wahrgenommen. 38 Francis Ponge, Unvollendete Ode auf den Schlamm, Ausgewählte Werke – Stücke, Methoden, Frankfurt/M. 1968, S. 77. 39 Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Kritik der Urteilskraft, Bd. V, S. 209 ff (§ 5).
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Die Behauptung jedoch, die aufgeführten Attraktionen kämen allein der Natur zu, lässt sich nicht ohne weiteres halten. Auch anderes, Nichtnatürliches ist schön, es lädt gleichfalls zum Bleiben ein, und es kann ebenso die kontemplative Versenkung fördern. Zudem war für Generationen von Menschen das Leben in der Natur alles andere als begehrenswert. Es war verbunden mit schwerer Arbeit in knechtischer Abhängigkeit. Und vielen jungen Leuten, die auf dem Lande zu versauern glaubten, ist es so ergangen wie dem Studenten bei Ernst Bloch, der „hingerissen“ die „große Stadt betritt“ und „im Café, an einem stolzen kleinen Tisch“, sich im Kreis „der Auserwählten“ wähnt, „welche Verse schreiben“. Und er selbst träumt von Ruhm und Erfolg.40 Hier ist die Fülle des Lebens, hier gibt es Chancen und Möglichkeiten und die Aussicht, aus seiner Person etwas zu machen. Trotz solcher Einwände zeichnet sich die Natur durch einen besonderen Vorzug aus. Sie wird als ein Bereich wahrgenommen, der noch nicht von der Gesellschaft vereinnahmt wurde. Sie hat sich, so will es zumindest scheinen, der Okkupation durch menschliche Zwecke entzogen; und weil sie frei davon ist, kann derjenige, der sie aufsucht, sich auch frei fühlen. Der Vergleich macht das deutlich. Im gesellschaftlichen Raum, man denke an ein städtisches Umfeld, sind die einzelnen Orte hergerichtet für bestimmte Tätigkeiten, sie sind Stätten des Wohnens und der Produktion, sie dienen schulischen und kirchlichen Zwecken; und selbst die freie Zeit, die Muße und das Amüsement haben ihre Plätze, dafür sind Theater, Gasthäuser, Parks und Sportfelder da. Dann gibt es Straßen, die den Wagenverkehr und die Wege der Menschen lenken und dirigieren. Diese Einrichtungen fordern auf zu bestimmten Tätigkeiten und Verhaltensweisen, sind verbunden mit den passenden Einstellungen und Empfindungen. Was für den Raum gilt, das trifft auch für die einzelnen Dinge zu. Sie sind Gebrauchsgegenstände, angefertigt für eine bestimmte Verwendung; sie gehen auf in ihrem Nutzen und verlangen eine ihnen angemessene Handlungsweise. Und schließlich unterliegt das Zusammensein und der direkte Austausch der Menschen Vorschriften und Gesetzen, die es zu befolgen gilt. So verläuft das Leben in vorgezeichneten Bahnen, es ist umfassend reglementiert. Der Einzelne hat das alles nicht gemacht; nicht er hat die Vorschriften erlassen, die er einzuhalten hat; nicht er hat die Dinge, die er gebraucht, hergestellt; nicht er hat die Verrichtungen, die er ausführt, festgelegt. Und selbst die Vergnügungen hat er sich nicht ausgesucht. Sein Bewusstsein ist demnach besetzt von den anderen. Und so beglückend und anregend das Gesellige auch sein mag, es kommt immer auch das Gefühl auf, eingeengt zu sein. Unter diesen Umständen wird 40 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959, S. 29.
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die Natur als Befreiung empfunden. In ihr sind keine Anordnungen vorhanden, die immerzu sagen, was einer zu tun, zu denken und zu fühlen hat. Er kann deshalb bei sich sein. Die Natur ist so gesehen ein offenes Feld von Möglichkeiten. Die allenthalben anzutreffende Sehnsucht nach der ‚unberührten Natur‘ hängt offensichtlich damit zusammen. Aus der Auffassung der Natur als einem Bereich der Freiheit lassen sich die Gründe für ihre Anziehung ohne weiteres herleiten. Das Individuum bewegt sich in einem Terrain, das für es nicht geprägt ist von den Absichten und Aktivitäten der anderen, was hier nur bedeuten kann, dass es sich jenseits des Gewohnten bewegt. Es unterliegt nicht dem Zwang der ihm sonst zugemuteten Verhaltensmuster und Denkschablonen. Es kann sich entfalten und den eigenen Eingebungen, Empfindungen und Handlungsimpulsen folgen. Lange Unterdrücktes vermag in der Natur entbunden zu werden. Das Leben wird neu und entwickelt einen ungeahnten Glanz. Und das ist der Grund, warum die Natur ein Versprechen auf ein geglücktes Dasein enthält. Gleicherweise wird die Kontemplation und die Wahrnehmung des Schönen dadurch ermöglicht, dass die Naturräume und die Naturdinge frei sind, frei von Verwertungszusammenhängen. Sie sind ihrem Wesen nach herausgelöst aus der Routine, sie widersetzen sich dem bloßen Gebrauch, lassen Eigenschaften erkennen, die nicht zusammenfallen mit ihrer Nützlichkeit für den Alltag. Als solche sind sie immer mehr als etwas, das nur der Daseinsvorsorge dient. Darin liegen der Zauber und die Faszination, die von ihnen ausgehen. Und weil sie ein interesseloses Wohlgefallen erwecken, weil sie schön sind, sind sie von sich aus Objekte der Kunst, womit das dritte Motiv bezeichnet ist. Bisher wurde mehr oder weniger ein Verständnis dessen, was Natur ist, vorausgesetzt. Dass darunter Unterschiedliches gefasst ist, deutete sich bereits an. Es muss also eine Klärung dieses Begriffes erfolgen, vor allem in der Absicht herauszustellen, auf welchen Aspekt von Natur sich Literatur bezieht. Das soll im nächsten Kapitel geschehen.
Jakob Philipp Hackert, Rotbuche, Radierung, aus dem Radierzyklus der Baumbilder.
2. Über Naturbegriffe und deren Widerschein in der Literatur Sie glauben in der Natur zu sein, sind es aber nicht. Denn das, was sie umgibt, wenn sie sich hinausbegeben, ist doch nur wieder vom Menschen gemacht. Das gilt nicht nur für Gärten und Parks, sondern auch für großräumige Formationen wie Wälder oder ganze Landschaften. Der Fluss ist eingedämmt, der Berghang terrassiert, der Wald wurde zur Plantage und der Talgrund zum Acker. Die Landschaft schließlich ist zur ,Kulturlandschaft‘ umgeschaffen worden; und in dem, was als typisches Landschaftsbild wahrgenommen wird, steckt die Arbeit von Generationen, jedenfalls verhält es sich so in vielen Teilen der Welt. Und am Ende säße die emphatische Naturverehrung nur einem Irrtum auf. Zunächst ist zu konstatieren, dass eine Trennung zwischen künstlich und natürlich zu Recht vollzogen wird. Und der Begriff der Natur bestimmt sich seit der Antike durch eine Reihe von Entgegensetzungen zum Menschlichen.1 Als weniger vollkommen erscheinen uns die vom Menschen gefertigten Dinge, als bloße Machwerke. Anders als diese sind die Naturerscheinungen, sind Pflanzen und Tiere von selbst entstanden, sie wachsen und führen ein eigenes Leben. Diese Opposition zweier Bereiche, des physischen und des artifiziellen, ist grundlegend. Die übrigen Gegenstellungen sind ihr nachgeordnet. Von diesen ist als erste eine anzuführen, die sich auf die Lebensweise bezieht; einer verderbten und gekünstelten wurde immer eine natürliche entgegengehalten. Das wäre eine, die dem Wesen und der Bestimmung des Menschen angemessen ist. Vieles, von der Diätetik bis zu den Morallehren, fällt darunter. Einfache Kost, bekömmliche Speisen und Getränke, maßvoll genossen, der Aufenthalt in frischer Luft und reichlich Bewegung, darauf belaufen sich Empfehlungen, wie sie zu allen Zeiten zu finden sind, bei Platon und den Stoikern ebenso wie bei den Lebensreform- und Ökologiebewegungen der neueren Geschichte. Als natürlich gilt ferner ein Benehmen, das nichts Geziertes hat, das geradezu, offen und ehrlich ist, das in seiner Ungezwungenheit absticht vom Gestelzten, Steifen und Affektierten. Unzählige Male variiert die Literatur das Motiv vom unverfälschten Menschen, dessen 1
Das hat insbesondere Gernot Böhme näher ausgeführt. Vgl. 1atürlich 1atur, Frankfurt/M. 1992, S. 11–15.
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Reinheit, Spontaneität und Herzenswärme gegen die Gefühlskälte, die berechnende Schläue und den Standesdünkel des Gesellschaftsmenschen ausgespielt wird. Rousseau hat es in der 1euen Héloise verarbeitet, Goethe im Werther, und Jean Paul macht es zu einem der großen Themen seiner Romane. Was nun die Moral im engeren Sinne betrifft, so hat diese Lehren entwickelt, welche gegen die tatsächliche oder vermeintliche Zügellosigkeit die Ordnung der Natur geltend machen, eine Verfassung, die das Christentum als Schöpfungsordnung auslegt. Diese hat es so eingerichtet, dass jedes Lebewesen mit besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten ausgestattet ist, und diese geben ihm auch vor, wie es sich aufzuführen hat. Beispielsweise ist es nach Aristoteles dem Menschen beschieden, in einem staatlichen Verband zu leben; das ergebe sich aus seiner Anlage zum ‚Zoon politikon‘, zum gesellschaftlichen Wesen. Und ein „Tier“ nennt er den, der dazu nicht in der Lage ist. Auch die Sklaverei findet er in dem Wesen der Dinge begründet, denn es gebe nun einmal Menschen, die zum Dienen geschaffen seien, einfach deswegen, weil ihre Verstandesgaben zum Herrschen nicht ausreichten.2 Was als unmenschlich, pervers oder anormal anzusehen ist, hat man noch immer an dem bemessen, was als natürlich ausgegeben wurde. Mit dieser Argumentation verurteilt die katholische Moraltheologie Schwangerschaftsverhütung ebenso wie Homosexualität. Eng verknüpft mit dem Bereich der Moral ist der des Rechts. In beiden geht es um Regeln des Zusammenlebens, und hier wie da stellt sich die Frage, woher diese ihre Gültigkeit beziehen und was deren Bestand garantiert, gleichgültig, ob es sich um Moralvorschriften oder rechtliche Verfügungen handelt. Darauf antworten bereits die Sophisten mit der Unterscheidung zwischen Gesetzen, die von Natur aus (IXVHL bestehen und solchen, die auf menschlicher Setzung (THVHL) beruhen.3 Letztere sind willkürlich, es handelt sich um bloße Konventionen, auf die sich eine bestimmte Gemeinschaft verständigt hat. Nur in ihr müssen sie respektiert werden, anderswo herrschen andere Satzungen. Ihre Gültigkeit ist also beschränkt, was den Bereich ihrer Akzeptanz und die Dauer ihres Bestehens betrifft. Beispielsweise ist die Regelung, im Straßenverkehr rechts zu fahren, eine ganz beliebige Vereinbarung. Die Gesetze dagegen, die sich von der Natur herleiten, haben den Status der Notwendigkeit, sie sind allgemein gültig und liegen nicht in dem Ermessen einzelner Menschen oder Gesellschaften. Sie wurden erlassen von einer Macht, die über dem Menschen und seiner Gesellschaft steht. Und um auch hierfür ein Beispiel anzuführen, so 2 3
Aristoteles, Politik I, 2–4. So beispielsweise beim Sophisten Antiphon; vgl. Walther Kranz (Hg.), Vorsokratische Denker, Berlin 1959, S. 218 bzw. 219. Weiteres bei Ernst Bloch, 1aturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1980, S. 20ff.
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folgert Antiphon aus der Ordnung der Natur, dass „wir alle in allen Beziehungen gleich geschaffen sind, Barbaren wie Hellenen“.4 Die Trennung zwischen gesetzten und natürlichen Geboten hat weitreichende Auswirkungen. Sie begründet das Naturrecht, aus dem sich wiederum die Menschenrechte ableiten, wie sie in der UN-Charta von 1948 festgeschrieben sind. Sie beanspruchen Verbindlichkeit über alle staatlichen und kulturellen Grenzen hinweg. Sie wirken wie kleine Erwachsene, die Kinder auf den Gemälden des 18. Jahrhunderts; die Mädchen im Reifrock und die Jungen mit gepuderter Perücke, das Jabot vor der Brust; und so wurden sie auch gehalten. Das heißt, ab dem 17. Jahrhundert setzt sich zwar die Einsicht durch, dass die Kindheit ein besonderes Lebensalter sei, sehr im Unterschied zu früheren Zeiten, die keinen Unterschied zwischen einer infantilen und einer adulten Phase machen.5 Aber die Aufklärung behandelt die Kinder doch als Vernunftwesen, die nur dazu angehalten werden müssen, sich vernünftig, und das bedeutet verständig und tugendhaft, zu benehmen. Dazu bringen sollte sie die Erziehung, und das Zeitalter der Aufklärung versteht sich selbst vor allem als eines der Erziehung. Verfahren wurde dabei mit einer für unsere Begriffe unnachsichtigen Härte. So berichtet Christoph Martin Wieland von sich, dass er ab dem Alter von drei Jahren ein volles Schulpensum zu absolvieren hatte. Ganz selbstverständlich scheint ihm das, denn er spricht darüber, ohne sich zu beklagen.6 Eine Änderung in der Einstellung zum Kind bewirkte Rousseau. In seinem groß angelegten Roman Emile oder Über die Erziehung lehnt er den herkömmlichen Umgang mit Kindern als schädlich ab und tritt für eine „natürliche Erziehung“ ein. Sie müsse die kindliche Wesensart sich entfalten lassen, habe alles zu vermeiden, was diesen Prozess störe. Falsch sei es, dem Heranwachsenden Kenntnisse beibringen zu wollen, für die es nach seinem Entwicklungsstand noch gar nicht empfänglich sei. Der Erzieher habe hauptsächlich alle unzeitigen und verderblichen Einflüsse von seinen Zöglingen fernzuhalten. Seine Aufgabe bestünde im Wesentlichen darin, günstige Umstände herbeizuführen, die den Werdegang der ihm Anvertrauten beförderten. Und darunter versteht Rousseau vor allem ein intaktes Umfeld, wie es auf dem Lande zu finden sei. Rousseaus Vorstellungen fanden großen Anklang. Und davon haben sich auch die Schriftsteller inspirieren lassen. Wenn Wieland in seinem Staatsroman Der goldne Spiegel einen jungen Fürsten in ländlicher Abgeschiedenheit von einem weisen Ratgeber erziehen lässt, so ist das ganz Rousseauistisch gedacht. Und Jean 4 5 6
Walther Kranz, a.a.O., S. 221. Nach Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München 1978, insbesondere S. 69–221. Vgl. dazu J.G. Gruber, C.M. Wielands Leben, Hamburg 1984 (Hamburger Reprintausgabe von Wielands Werken), S. 11ff.
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Pauls Helden wachsen selbstverständlich in einer dörflichen Umgebung auf, betreut von Erziehern, die auf ihre Veranlagung eingehen. „Jede Naturkraft ist heilig“, heißt es mit Blick auf die Ausbildung der menschlichen Fähigkeiten in dessen theoretischen Werk Levana oder Erziehlehre.7 In der Pädagogik steht also eine natürliche Entwicklung gegen eine bloße Abrichtung oder Dressur, eine Konzeption, die auch für das moderne Denken prägend wurde. Jean Piaget etwa sieht in „Reifeprozessen“, körperliche wie geistige Vorgänge sind darunter gefasst, das Grundgeschehen der Ontogenese. Dieses gehorcht einer feststehenden Abfolge und kann nicht beliebig umgestellt, verändert oder beschleunigt werden. Nach Piagets Forschungsergebnissen kann ein Kind nicht vor dem Erreichen einer bestimmten Altersstufe gewisse mathematische und logische Operationen durchführen. Um herauszubekommen, was der Mensch sei, muss man ihn aus allen mehr oder weniger zufälligen Bindungen lösen; man muss ihn unabhängig von dem betrachten, was soziale Verhältnisse oder historische Konstellationen aus ihm gemacht haben. Mit diesem Gedanken setzt die neuzeitliche Staatsphilosophie ein, und er bestimmt sie dazu, einen Naturzustand anzunehmen, der den konkreten, geschichtlichen Ausprägungen menschlichen Lebens vorgelagert ist. Der Naturzustand ist nur ein theoretisches Konstrukt, eine heuristische Annahme, mit deren Hilfe man Aufschluss über das wahre Wesen des Menschen erlangen kann. Das Ziel besteht also nicht darin, eine anfängliche Epoche der Geschichte zu rekonstruieren; nicht um Historiografie, sondern um Philosophie geht es. Gleichwohl wird hier eine Voraussetzung gemacht, die völlig ungeprüft ist und auch nicht weiter diskutiert wird, die nämlich, dass die eigentliche Bestimmung des Menschen in einer ursprünglichen Verfassung zu finden ist, nicht in dem, was er im Laufe der Geschichte aus sich gemacht hat. Die Staatstheoretiker, zuerst Thomas Hobbes, dann John Locke, entwickeln die Konzeption eines Naturzustandes in der Absicht, daraus eine staatliche Ordnung abzuleiten, die den eigentümlichen Anlagen des Menschen gerecht wird. Allerdings kommen Hobbes und Locke zu unterschiedlichen Ergebnissen. Während der erste die Überzeugung gewinnt, der aggressive Charakter des Menschen verlange nach einem starken, absolutistischen Staat, der in der Lage ist, die zerstörerischen Neigungen niederzuhalten, kommt der zweite zu dem Schluss, dass die allen zuteil gewordenen Freiheit und Gleichheit nur in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen ihre angemessene Entsprechung fände.8 Bei gedanklichen Abstraktionen ist es aber nicht 7 8
Werke, a.a.O., Bd. 5, S. 694. Das bezieht sich auf Thomas Hobbes, Der Leviathan und auf John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung.
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geblieben, denn es schien Menschen zu geben, bei denen sich die ursprüngliche Wesenart erhalten hatte. Auf sie trafen die Europäer bei ihren überseeischen Reisen und Kolonisationszügen. Von kindlicher Unschuld waren diese Menschen und Völker, sie lebten im Einklang mit der Natur, sorglos und frei, nicht selten in paradiesischer Nacktheit. Schön waren nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Umgangsformen und Sitten. Die Einfachheit ihres Lebens, ihre Bedürfnislosigkeit und unverdorbene Vitalität, ihre Unbekümmertheit machten sie in den Augen der Weißen zu Bewohnern einer glücklichen Welt. Sie schienen etwas zu besitzen, das der europäischen Zivilisation verloren gegangen war. Und es entstand die Fabelfigur vom ‚edlen Wilden‘. Dieser hat allerdings auch sein Gegenstück im Wilden als grausame Bestie. Jedenfalls haben die Berichte über die ‚Naturvölker‘, wie sie bald hießen, die Phantasie der Europäer, der Philosophen und Literaten, mächtig angeregt.9 Der Auszug zu den ‚glücklichen Inseln‘ wurde zur Vorlage unzähliger Werke. Stolbergs Roman Die Insel ist ein deutsches Beispiel dafür. Und Karl Mays Winnetou ist ein später Abkömmling der Spezies ‚edler Wilder‘. Die Auffassung, dass die Kultivierung eine Entfernung vom Ursprung sei, was auf den Verlust humaner Qualitäten hinausliefe, hat am wirkungsvollsten Rousseau vertreten.10 Gegenüber dem Naturmenschen ist der Kulturmensch unfrei und sittlich korrumpiert. Eingesperrt ist er in ein System, das seine angeborenen Regungen unterdrückt und pervertiert. Anders als der Wilde, der das, was er benötigt, sich selbst beschaffen kann, hat der Zivilisierte Bedürfnisse entwickelt, zu deren Befriedigung er auf die anderen und die Produkte der anderen angewiesen ist. Aus dieser Abhängigkeit resultieren der Zwang und die Deformationen, denen er ausgesetzt ist. Und in der zunehmenden Abhängigkeit erkennt Rousseau das Bewegungsgesetz des Zivilisationsprozesses, man kann einfach sagen: der Geschichte. Auch er führt den Naturzustand zunächst nur aus methodischen Gründen ein, das betont er ausdrücklich. Er braucht ihn als Maßstab, um abschätzen zu können, wie weit sich der Mensch in den verschiedenen Phasen seiner Geschichte von seinen Anfängen fortentwickelt hat. Aber er stattet ihn doch mit Zügen aus, die den Reiseberichten über eingeborene Ethnien entnommen sind, so dass unklar bleibt, ob er nicht doch tatsächliche Gegebenheiten meint. Bei der Geschichtsbetrachtung und der Gesellschaftstheorie steht also Natur für das Ursprüngliche und Urwüchsige, von dem das Zivilisierte, das Raffinierte und Dekadente abgesetzt wird. 9
Näheres über die Auseinandersetzung zwischen den Europäern und den überseeischen Völkern findet sich bei Urs Bitterli, Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘, München 1982; vgl. insbes. S. 207ff. 10 So vor allem in seinen Discours, vor allem in dem zweiten: Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen.
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Was unter Natur zu verstehen ist, das haben in der Neuzeit vor allem die Wissenschaften festgelegt. Entscheidend für sie wurde eine Aufteilung, nach der auf die eine Seite das Ich, auf die andere die Natur rückt. Es war Descartes, der diese Dichotomie bündig formuliert hat, und sie bestimmt bis in die Gegenwart das europäische Denken über die Natur. Descartes nimmt seinen Ausgang davon, dass er nach einer „klaren und gesicherten Erkenntnis“, das ist eine, die unzweifelhaft gewiss ist, sucht.11 Und er spricht damit das Erkenntnisideal der neuzeitlichen Wissenschaft aus. Dem Vorbild der Mathematik entnimmt er, dass man dahin nur durch ein methodisch gelenktes Vorgehen gelangen kann. Der Titel seiner Schrift Regulae ad directionem ingenii, Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, ist Programm. Und darin drückt sich das Methodenideal der neuzeitlichen Wissenschaft aus. Das erste Verfahren, das er einsetzt, ist der Zweifel, mit dessen Hilfe er überprüfen will, was überhaupt als gesichert angesehen werden kann. Nachdem er gezeigt hat, dass das Zeugnis der Sinne und das logische Schließen, dass selbst die Annahme einer Existenz der Außenwelt und des eigenen Körpers diesem Anspruch nicht genügen, gelangt er an eine erste, unumstößliche Gewissheit. Die besteht darin, dass er an der Tatsache, dass er denkt, nicht zweifeln kann. Daraus ergibt sich für ihn der „erste Grundsatz der Philosophie“, und der lautet: „Ich denke, also bin ich“ – „cogito, ergo sum“. Für Descartes bedeutet das, dass alles Wissen, welches Bestand haben soll, ebenso sicher wie diese erste Gewissheit sein muss. Und er folgert weiter, dass nur das wirklich existiert, was so klar wie das ‚Ich denke‘ begriffen werden kann. Den sich daran anschließenden Denkschritten braucht hier im einzelnen nicht gefolgt zu werden. Festzuhalten ist lediglich, dass Descartes weitere Gegebenheiten findet, von denen sich Aussagen machen lassen, die an Zuverlässigkeit der ersten Gewissheit gleichkommen. Es sind dies die numerisch oder quantitativ erfassbaren Verhältnisse in der Außenwelt. Wie den Kern des Ichs der reine Vollzug des Denkens ausmacht, so liegt der Grundbestand der außersubjektiven Wirklichkeit in der reinen Körperlichkeit; er beschränkt sich auf das Ausgedehnte. Die gesamte Wirklichkeit spaltet sich in zwei wesensmäßig unterschiedliche Sphären, in die des Denkens, der res cogitans und in die des Ausgedehnten, der res extensa. Alle materiellen Gebilde, gleichgültig, ob es sich um Mineralien, Pflanzen, Tiere oder den menschlichen Körper handelt, gehören zu dem zweiten Bereich. Und ihn setzt Descartes mit der Natur gleich. Wenn das vorneuzeitliche Denken, wenn insbesondere die lange Zeit maßgebliche aristotelische Physik in ihr zwecksetzende und formge11 Discours de la Méthode, I, 6. Descartes’ grundlegende Gedanken lassen sich am besten in dieser Schrift verfolgen.
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bende Kräfte annahmen, so verwirft das cartesianische Alternativprinzip solche Vorstellungen. In der Natur gibt es nichts Geistiges, nichts, das an seelische Regungen oder willentliche Setzungen erinnerte. Ihre Erscheinungen können auch nicht begriffen werden als Ausdruck eines Inneren. Alle Gegebenheiten und Vorgänge dieser Art sind allein dem Bereich der denkenden Substanz zuzuschlagen. Die Welt des Geistes und die der Dinge sind radikal voneinander geschieden. Und in ihnen herrschen jeweils andere Bedingungen. Die Bedeutung Descartes‘ liegt weniger in seinen Einzelergebnissen, als vielmehr darin, dass er die Grundsätze der wissenschaftlichen Erforschung der Natur formuliert hat.12 Danach weist sie keine hierarchische Ordnung unterschiedlicher Wesen auf, die ihren jeweils eigenen Regeln, denen des Organischen und des Anorganischen beispielsweise, unterworfen wären. Sie bildet ein homogenes Feld, auf dem ausnahmslos die gleichen Gesetze, physikalische und chemische nach heutigem Verständnis, gelten. Als gesicherter Tatbestand kann ausschließlich das angesehen werden, was zahlenmäßig ausgedrückt oder als messbare Größe ausgewiesen werden kann. Um das zu erreichen, müssen universal einsetzbare Methoden angewendet werden, ein für die Erkenntnisgewinnung bereit gestelltes Instrumentarium, das nicht an bestimmte Gegenstandsbereiche geknüpft ist. Zu ihm zählt vor allem das Experiment. Es beginnt die exakte oder mathematisierte Naturwissenschaft. Durch ihren Wahrheitsanspruch und selbstverständlich auch durch ihren Erfolg wurden nicht nur andere Forschungsansätze beinahe verdrängt, daraus resultierten auch weitreichende Konsequenzen für die Kunst und die Literatur. Diese verlieren weitgehend ihre Erkenntnisfunktion. Das bedeutet, dass die Darstellungen der Maler und Schriftsteller nicht das erfassen, was in der Natur selbst liegt. Sie geben allenfalls subjektive Eindrücke wieder. Dass die Gestalten der Natur einen Ausdruck haben, dass sie beredt sind, dass sie Stimmungen und Gefühle mitteilen, das sei nur an sie herangetragen. Die verschiedenen Erscheinungsweisen des Physischen, die Heiterkeit oder die Schwermut einer Landschaft, die Bilder der Verlassenheit und der Lebensfülle, die Vorstellungen vom übermächtig Erhabenen wie die vom berückend Schönen, diese ganze Formensprache hätten die Künstler der Natur nur angedichtet. Und es setzt sich die Meinung durch, die Naturdarstellungen seien lediglich Spiegelungen von Gemütszuständen, sie dienten allein zur Illustration oder Vergegenständlichung innerer Regungen; über die Beschaffenheit der objektiven Gegebenheiten sagten sie aber nichts. Wie eben, wenn die Liebenden auseinandergehen, der Dichter es regnen lässt; und wenn sie 12 Zur Bedeutung Descartes’ für die Wissenschaft vgl. S.F. Mason, Geschichte der 1aturwissenschaft, Stuttgart 1974, S. 200ff.
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sich wieder finden, er gleich den Sonnenschein bereit hält. Eine Auffassung, die in der Natur Seelisches zu erkennen glaubt, erliegt dem Verdacht, sie zu vermenschlichen, sie unter anthropomorphe Kategorien zu bringen. Solche Annahmen verbieten sich selbst von Tieren, denn diese sind auch nur ein Stück Natur, sie sind, so sah es Descartes, bloße Maschinen. Der neuzeitliche Dualismus cartesianischer Prägung vollzieht also einen essentiellen Bruch zwischen dem Ich und der Welt. Der Natur setzt er den Geist, dem Physischen das Psychische entgegen. Und in beiden Sphären herrschen andere Prinzipien.13 Aus den Entgegensetzungen geht zunächst hervor, dass ‚Natur‘ nicht nur ein beschreibender, sondern auch ein wertender Begriff ist. Er bezeichnet einen Bereich der Wirklichkeit, der sich abhebt von anderen, insbesondere von dem der menschlichen Hervorbringungen materieller und geistiger Art, und er enthält zudem Anleitungen, die das menschliche Leben und Verhalten regulieren sollen. Eine normative Funktion hat er vor allem auf dem Gebiet der Moral und des Rechts, aber auch auf dem der Geschichte und der Erziehung. Richtungsweisend kann die Natur für den Menschen aber allein unter einer Bedingung sein, und das ist die zweite Folgerung aus den Gegenüberstellungen, unter der nämlich, dass er nicht nur im Gegensatz zu ihr steht, sondern zugleich auf sie bezogen ist. Und das Verhältnis des Menschen zur Natur war seit jeher prekär. Einerseits ist er Teil von ihr, er ist ein Organismus unter Organismen, und wie diese untersteht er gewissen Gesetzmäßigkeiten, Stoffwechselprozessen zum Beispiel und der Steuerung durch Hormone, und wie diese ist er das Produkt einer evolutionären Entwicklung. Andererseits ist es aber auch berechtigt zu sagen, dass er sich im Widerspruch zu ihr befindet, und das ergibt sich aus der Möglichkeit, dass er sie zum Gegenstand machen, ihr also gegenübertreten kann; er kann gewissermaßen auf Distanz zu ihr gehen. Es ist in dieser Möglichkeit beschlossen, dass der Mensch in die Natur eingreift, dass er auf ihre Beherrschung aus ist, dass er natürliche Prozesse lenkt, fördert oder unterbindet. Und er kann zerstörerisch wirken, wohl nicht für die ganze Natur, so viel Macht hat er wieder nicht, aber er bringt es doch fertig, ganze Arten auszurotten und ökologische Systeme, auch solche großen Ausmaßes, zu vernichten; die Veränderung der klimatischen Bedingungen ist dafür nur ein Beispiel. Die Möglichkeit des Eingriffs ist nicht nur bezogen auf die umgebende Natur, sondern auch auf die des Menschen selbst. Seinen Körper kann er modellieren, ihn kräftigen, schmücken oder verstümmeln. Zudem vermag er seine natürlichen Verhal13 Die Konsequenzen von Descartes’ Zwei-Substanzen-Lehre für Naturtheorien, insbesondere für eine Theorie des Lebendigen hat sehr eindringlich Helmuth Plessner dargestellt; in: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin – New York 1975, S. 38ff.
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tensweisen zu verändern, zu disziplinieren oder zu verfeinern. Und es gelingt ihm auch, bestimmte Regungen völlig zu unterdrücken. Schließlich ist es ihm sogar gegeben, sich den Anforderungen des Organischen ganz zu verweigern; sich das Leben zu nehmen, bleibt ihm als eine letzte Option. Was den Menschen aber vollends zu einem Gegenpart der Natur macht, das ist das kollektive Unternehmen, mit dem er seine eigene Welt errichten will, das ist die Kultur. Sie, verstanden als Inbegriff aller menschlichen Schöpfungen, der technischen Entwicklungen und der rechtlichen und sittlichen Ordnungen ebenso wie der künstlerischen Leistungen und der wissenschaftlichen und religiösen Lehren, die Kultur also stellt das Leben auf eine andere Basis, in der Weise, dass sie einen besonderen Bezirk schafft, der für die Zwecke des Menschen und seine Bedürfnisse eingerichtet ist. Dieses Bestreben erfasst gleichermaßen den Einzelmenschen und die Naturerscheinungen. Beide sollen umgestaltet werden, so dass sie sich einfügen in die Zielsetzungen eines allgemeinen Willens. Das Individuum bekommt neben der natürlichen eine gesellschaftliche Existenz. Es erlebt eine zweite Geburt, durch die es zum vollen Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft wird, was den Sinn der Initiationsriten für Jugendliche bei vielen Völkern ausmacht. Um überhaupt existieren zu können, ist es für ihn unabdingbar, den Anforderungen der Kultur, in welche er hineingeboren wurde, zu genügen. Vor allem ist der Einzelne gehalten, sich die geltenden Verhaltensmuster anzueignen und Fähigkeiten im Umgang mit den Gebrauchsdingen zu erwerben.14 Dazu gebracht wird er durch die Erziehung. Um die notwendige Anpassung zu vollbringen, muss er geformt oder abgerichtet werden. Und als Endgeltung dafür wird ihm das gesellschaftliche Wissen vermittelt, erhält er Schutz und Geborgenheit. Wie sich der Wille zur Gestaltung auf den Einzelnen legt, so ergreift er auch seine Umgebung. Die Kultur zieht die Natur hinein in ihren Kreis, formt sie und macht sie sich kommensurabel. Diese verliert dadurch ihre Wildheit, ihre Spröde und ihr abweisendes Wesen und wird dienstbar, angenehm und gefällig. Und gerade so wie der Mensch abstreift, was an ihm ungeschliffen, grob und rau ist, so verliert die Natur ihr unbändiges Wesen, das Erschreckende und Verstörende. Sie wird selbst kultiviert. Die Bearbeitung der Natur im Interesse der Menschen folgt zunächst nicht einem luxurierenden Bedürfnis nach Verschönerung des Daseins. Sie gehorcht dem Zwang, die Lebensgrundlagen zu sichern, also für Nahrung, Kleidung und Wohnung zu sorgen. Wie sich aber der 14 Damit werden natürlich Sozialisationsprozesse angesprochen, auf die hier nicht ausführlicher eingegangen werden soll. Aus der Fülle der Literatur sei hier nur angegeben: Agnes Heller, Das Alttagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion, Frankfurt/M. 1981; vgl. insbesondere S. 24ff.
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Austausch einer Zivilisation mit der Natur im einzelnen vollzieht, hängt von verschiedenen Umständen ab. Zunächst von den äußeren Bedingungen, von den geologischen, klimatischen und vegetativen Gegebenheiten. Hinzu kommen rein kulturelle Faktoren wie der Stand der Technik und das Niveau des Wissens um physische Prozesse und Gesetzmäßigkeiten. Einfluss darauf nehmen zudem philosophische Ideen und religiöse Überzeugungen. Was eine Kultur denkt über die Stellung des Menschen in der Natur, das kommt auch darin zum Ausdruck, wie sie sich in der Gegend, die sie bewohnt, einrichtet. Daran zeigt sich zum Beispiel, ob sie einen Herrschaftsanspruch erhebt und die Natur nur sich unterwerfen will oder ob sie den natürlichen Erscheinungen ein Eigenrecht einräumt und diese hineinzieht in ihr Leben. Sie kann die umgebende Natur fördern und verbessern, sodass sie sich zeigt in ihrer Anmut und Schönheit. Sie kann aber auch destruktiv wirken und eine Region verschandeln, zersiedeln und zur Öde werden lassen. Es ist noch nicht ausgemacht, was überhaupt als Natur angesprochen werden kann, und die eingangs dieses Kapitels wiedergegebene Behauptung, dass nicht Natur sein kann, was menschlicher Gestaltung unterzogen wurde, bedarf der Überprüfung. Dagegen stehen Beobachtungen und Erfahrungen, die zu der Ansicht kommen, dass die vom Menschen kultivierte Natur ein Stück Natur bleibt. Sie ist nicht total in die Verfügungsgewalt des Menschen übergegangen, sie ist nicht sein Machwerk, und sie weist alle wesentlichen Merkmale des Physischen auf. Marcel Proust merkt dazu an: Aber auch noch in seinen künstlichsten Schöpfungen hat es eben der Mensch doch stets mit der Natur zu tun; gewisse Stätten stellen immer wieder ihre Eigenherrschaft her und richten inmitten eines Parks ihre Hoheitszeichen genauso auf, wie sie es fern von jedem menschlichen Eingriff getan hätten, in einer Einsamkeit, die sich von allen Seiten her wieder lautlos um sie schließt und ihren Bedingungen gemäß alles Menschenwerk von neuem überdeckt.15
Der Glaube, der Gewachsenes für beliebig disponierbar hält, der in ihm nur seine eigene Kreation sieht und es wie einen Besitz behandelt, erweist sich als pure Anmaßung. Wie absurd und lächerlich diese Haltung ist, demonstriert Turgenjew in einem seiner Gedichte in Prosa. Da redet ein betagter, gebrechlicher Gutsbesitzer, zu dessen Anwesen ein alter Park gehört, von „seinen Bäumen“. Der Verfasser kommentiert das mit einer Anrede an einen Baum: „Hörst du es, tausendjähriger Riese? Ein halbtoter Wurm, der dir zu Füßen kriecht, nennt dich ‚seinen‘ Baum.“16
15 A.a.O., I, S. 182f. 16 Iwan S. Turgenjew; Erzählungen 1857 –1883. Gedichte in Prosa, München o.J., S. 934.
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Anzuführen sind hier aber nicht nur solche Beobachtungen. Auch die sehr konkreten Erfahrungen derer, die das Land bearbeiten, der Bauern und Gärtner, verweisen auf bestimmte Strukturen. Hegel, der ihre Produktionsweise von der handwerklichen und fabrikmäßigen absetzt, sagt, dass ihnen keine „unbestimmte Abnutzung“ des Bodens abverlangt werde, „sondern eine objektive Formierung“.17 Das bedeutet, dass sie sich an die ‚objektiven‘ Gegebenheiten anzupassen haben. Sie müssen sich also nach den vorgefundenen Verhältnissen richten, nach Bedingungen, die sie nicht in der Hand haben. Der Acker, den sie bestellen, hat eine bestimmte Bodenqualität; seine Erträge sind nicht nur davon abhängig, sondern auch vom Klima, vom Wetter und von den Jahreszeiten. Und die Pflanzen, die sie anbauen, folgen dem Gesetz ihres Werdens. Der Landmann hat es mit einem Gegenüber zu tun, das von sich aus schöpferisch ist, das lebt und wächst. Diese Vorgänge vermag er nur begrenzt zu beeinflussen. Seine Erzeugnisse sind also nicht allein auf das eigene Können, Wissen und den eigenen Fleiß zurückzuführen, sondern immer auch auf das Wirken einer anderen Macht. „Was er erwirbt, ist Gabe eines Fremden, der Natur“, resümiert Hegel, ein Urteil, das allerdings relativiert werden muss, da es den Faktor der menschlichen Arbeit zu wenig berücksichtigt. Im Gegensatz dazu hat der Handwerker das, was er hervorbringt, „vornehmlich sich selbst, seiner eigenen Tätigkeit zu danken“. Sein Produkt ist nahezu ausschließlich das Ergebnis seiner Vorstellungen und seiner Geschicklichkeit. Er ist nicht gebunden an äußere Konditionen: Das Material hat er ausgewählt, und wie das Werk aussieht und wozu es nützen soll, das liegt ganz an ihm, und insofern ist er frei. Dagegen arbeitet der agrarische Produzent im Gefühl seiner Gebundenheit an die Mächte der Erde und des Wachstums. Hegel leitet aus den Unterschieden der Produktionsweise zwei gegensätzliche Konstellationen des menschlichen Bewusstseins ab, eines der Stadt, das sich im Prozess des Herstellens als unabhängig erfährt und sich deshalb frei fühlt und eines des Landes, dem aus seiner Arbeit das Wissen um seine Begrenztheit entsteht und dessen Dasein deshalb vom Empfinden der Unfreiheit geprägt ist. Was durch Bearbeitung der Natur entsteht, ist also keine freie Schöpfung des Menschen. Seinen Absichten und Wünschen, seinem Gestaltungswillen setzt sie die in ihr liegenden Kräfte entgegen, die von sich aus die mannigfaltigsten Erscheinungen hervorbringen. Selbst die nach den Zwecken ihrer Bewohner modellierte Landschaft weist immer noch ursprüngliche Züge auf. Da sind die geologischen Formationen, das Klima, das Licht und der Himmel über dem Land. Und Pflanzen, 17 Vgl. dazu: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 203, 204, (Werke in 20 Bänden, Frankfurt/M. 1971, Bd. 7).
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auch wenn sie importiert sind, entfalten sich nur, soweit es diese Gegend zulässt. Und so künstlerisch ein Park auch angelegt sein mag, Bäume und Blumen treiben aus sich heraus und empfangen von dem Landsstrich, in dem sie wachsen, ihr Gepräge. Sogar das Blümchen auf der Fensterbank bleibt ein Stück Natur. Das Gefühl, in der Natur zu sein, sie zu genießen auch in einer Kulturlandschaft, auch in einem Garten, trügt also nicht. Wohl ist ein Unterschied zu machen, der aber noch in den Naturbegriff selbst fällt. Einmal wäre da die unberührte Natur; man kann sie auch wild, frei und ungezähmt nennen, womit nur jeweils andere Akzente gesetzt werden. Und zweitens gibt es die kultivierte Natur, eine, die sich auch als gezähmt und gestaltet bezeichnen lässt. Selbstverständlich kann der Eingriff des Menschen zerstörerisch wirken. Aber das vermag er auch, er kann der Natur aufhelfen und das, was in ihr liegt, zum Aufblühen bringen. Es käme dann zu einem geglückten Zusammenspiel von Natur und Mensch, über dem die ungebundene, die vom Menschen unverdorbene Natur ihre Anziehungskraft verliert. Die Welt würde unter diesen Umständen tatsächlich zum Paradies, was bekanntlich nichts anderes als Garten heißt. Über die italienische Landschaft schreibt Victor Hehn, einer der vergessenen ProsaAutoren von Rang aus dem 19. Jahrhundert: Auch das Verlangen nach freier, nicht umgewandelter Natur wird Dir allmählig als eine ungebildete Forderung erscheinen; Gärten, Villen, Pflanzen, starre, dunkelschwarze Bäume, weisse Ochsen und graue Esel, Wege, Pfade und Hecken, Verrichtungen sich mühender oder müssiger Menschen, gradwinkelige Wände, mit einfachem Verhältniss tragender Kraft und ruhender Last – Alles zusammen wird sich Dir, wenn Du Geduld hast, als eine zweite veredelte Natur offenbaren, als Natur und Kunst, Natur und Kultur, Beides in Eins verschmolzen und wieder zu unmittelbarem, absichts- und bewusstlosem Dasein, d.h. zu Natur geworden.18
In Adalbert Stifters Werk verschränken sich beide Aspekte. Die Sehnsucht nach der unberührten Natur, die den Nimbus des Reinen, des Unschuldigen hat, die fern ab von dem liegt, was die menschliche Gesellschaft mit ihren Verwüstungen angerichtet hat, wird in der Schilderung vom großen Wald beschworen, der das bayerisch-böhmische Bergland, Stifters Heimat, bedeckt. So vor allem in der Erzählung Der Hochwald. Vom Glück in einer Gegend zu wohnen, die durch menschliche Kunstfertigkeit in einen gedeihlichen und für das Auge gefälligen Zustand versetzt wurde, redet der Roman Der 1achsommer. Dieses Glück wird komplettiert durch die überwältigende Erfahrung der ganz ursprünglich gebliebenen Hochgebirgsnatur. Zuweilen ist auch die 18 Victor Hehn, Italien. Ansichten und Streiflichter, Nachdruck der 2., stark vermehrten Aufl. Berlin 1879, Darmstadt 1992, S. 268f.
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Wahrnehmung von Natur eingenommen von dem Wunsch, auf einen Landstrich zu treffen, der unbelastet ist vom menschlichen Eingriff. Ausgerechnet in der Lüneburger Heide will Arno Schmidt so etwas gefunden haben, in einer Gegend, deren Charakter geprägt wurde durch den Raubbau des Waldes, der in der Salzgewinnung seine Ursache hat. Das Beispiel lehrt, wie täuschend der Augenschein sein kann, und mitunter hinterlässt das angeblich Verfälschte einen ebenso starken Eindruck wie das Originale. Man kann das auch so sehen, dass die Natur der Brache ein neues Aussehen von eigentümlichem Reiz gegeben hat. Ganz fraglos gilt den Autoren der klassischen Epoche das bestellte und gepflegte Terrain als Natur. Mehr noch, sie lassen sich von der Vorstellung leiten, dass diese erst darin zur ihrer eigentlichen Bestimmung kommt. In Bezug auf die Natur müsse es das Bestreben des Menschen sein, „ihren Schritt“ zu fördern, „das Schöne“ an ihr „allenthalben zu erhöhen“, fordert Herder. Das sei Aufgabe einer der frühesten Künste, der des Gartens, des Gartens in dem großen Sinne nämlich, dass eine Gegend mit allen ihren Erzeugnissen ein Garten werde. Ein Bezirk, wo jedes Land und Beet das Seine, in seiner Art das Beste trägt und keine kahle Höhe, kein Sumpf und Moor, keine verfallene Hütte, keine unwegsame Wüstenei von der Trägheit ihrer Bewohner zeuge.
Das Ziel liegt darin, dass „die Kunst…zur Natur, die Natur zur Kunst“ wird.19 Für Wieland ist es Teil der Staatskunst, dass die Regierenden alles tun, um die Fruchtbarkeit und das Gedeihen des Landes zu fördern und zu erhalten. Scharfe Kritik übt er an einem Despoten, der alle Kräfte darauf konzentriert, ein Gelände, das von sich aus einen solchen Ausbau gar nicht erlaubt, in einen exotischen und mit deplazierten Zierereien ausgestatteten Garten zu verwandeln und der es obendrein zulässt, dass darüber die anderen Teile des Landes in eine Wüstenei versinken. Der Hauptfehler habe darin bestanden, „einen Plan auszuführen, wobey die Natur nicht zu Rathe gezogen worden war.“ Das erinnert an historische Ereignisse, an die Anlage des Parks von Versailles zum Beispiel, der auf Befehl Ludwigs XIV. unter ungeheuren Anstrengungen einem denkbar ungeeigneten Terrain abgewonnen wurde.20 Dem setzt Wieland eine gelungene Kultivierung entgegen, durch die nicht nur das Auskommen der Bewohner gesichert, sondern auch deren Wohlbefinden gesteigert wird. „Wilde Gegenden wurden angebaut; künstliche Wiesen und Gärten voll fruchtbarer Bäume blühten in Gegenden hervor, die mit Disteln und Heidekraut bedeckt gewesen waren; und Felsen 19 So Herder in der Schrift Kalligone, Herders Sämmtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, 22. Bd., Leipzig 1800, S. 128, 132f. 20 Nachzulesen bei Derek Clifford, Geschichte der Gartenkunst, München 1966, S. 136ff.
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wurden mit neu gepflanzten Weinreben beschattet.“21 Die Gestaltung eines Naturraumes thematisiert Goethe vor allem in zwei Werken, in den Wahlverwandtschaften und – fast schon didaktisch – in der 1ovelle. Es geht immer darum, dass ein Ausgleich geschaffen wird zwischen Mensch und Natur, dass sich die Tätigkeit des Menschen harmonisch mit dem Gewachsenen verbindet. Angestrebt ist ein Zustand, von dem „niemand zu sagen wüsste, wo die Natur aufhört, Kunst und Handwerk aber anfangen“, heißt es in der 1ovelle.22 Und in der Topographie von Jean Pauls Romanen steht der englische Landschaftspark für eine geläuterte und verklärte Natur. Dass nicht Natur sein kann, was unter die Hände der Menschen geraten ist, steht ganz unter dem Eindruck eines absoluten Bruchs zwischen Mensch und Natur, wie ihn die cartesianisch inspirierte Wissenschaft annimmt. Die Klassiker halten dem entgegen, dass der Mensch eingefügt ist in die Natur, er ist „ihr eigenes Werk“, sagt Wieland, und Herder ergänzt, dass er selbst dem Kreatürlichen angehört, er ist der „Letztgebohrene der Schöpfung“.23 Diesen Vorstellungen liegt eine Konzeption zu Grunde, der bereits Aristoteles eine theoretische Fassung gab, die aber vor allem bestätigt wird durch die oben mitgeteilten Beobachtungen und Erfahrungen im Umgang mit dem Physischen. Auch Aristoteles hält zwei Bereiche auseinander, den der Natur, griechisch IXVLVPhysis) und den der menschlichen Hervorbringungen, griechisch WHFQK(Technik).24 Entsprechend gibt es zwei Arten von Gegenständen, die in ihrer Beschaffenheit wesentlich voneinander abweichen. Die Naturdinge entstehen aus eigener Kraft, und sie entwickeln sich nach einer ihnen innewohnenden Gesetzmäßigkeit, ganz so, wie eine Blume aus dem Samen aufgeht und die einzelnen Stadien ihres Werdens bis hin zur Blüte und Frucht durchläuft. Das ohne fremdes Zutun aus sich Entstehende ist also die Grundbedeutung von Natur. Hinzu kommt noch ein Charakteristikum, das der Reproduktion. Aus der Blume entsteht wieder eine Blume, sie pflanzt sich fort wie alles Natürliche. Das technisch hergestellte Ding verdankt demgegenüber seine Existenz, seine Form und seine Funktionsweise einer fremden Instanz. Bei einem Handwerksstück, eine Bronzestatue führt Aristoteles an, hat ein Produzent das Material ausgesucht, und er hat in es hineingelegt, welche Eigenschaften es hat und wozu es taugt. Und noch ein wesentlicher Unterschied ist hervorzuheben. Das Artefakt kann nichts Neues seiner Art generieren, es besitzt nicht die Fähigkeit der Repro21 Christoph Martin Wieland, Der goldene Spiegel, Sämmtliche Werke II, Bd. 6, (Hamburger Reprintausgabe) Hamburg 1984, S. 22, 101. 22 Werke, a.a.O., Bd. VI, S. 493. 23 Wieland, ebd., S. 110; Herder, a.a.O., S. 128. 24 Die entsprechenden Ausführungen finden sich bei Aristoteles, Physik Vorlesung II, 1.
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duktion. Zudem bedarf es zu seiner Erhaltung der Wartung des Menschen. Wie der Unterschied zwischen einem technischen und einem natürlichen Ding aufgefasst werden muss, hat Aristoteles an einem Beispiel erläutert, das er beim Sophisten Antiphon fand.25 Würde man ein Bett aus Holz in der Erde vergraben und könnte aus dem faulenden Bett ein Schössling hervortreiben, so würde kein Bett, sondern wieder Holz entstehen. Dabei ist der griechische Begriff ‚Technik‘ der Inbegriff für alle Fertigkeiten des Menschen, werksetzend und gestaltend tätig zu werden. Er umfasst das Künstliche wie das Künstlerische, bezeichnet demnach gleichermaßen Kunst und Handwerk; und Platon kennt sogar eine soziale Technik (SROLWLNKWHFKQK , durch die es gelingt, eine Gemeinschaft zu organisieren.26 Eine ähnliche Bedeutungsbreite hat das lateinische ‚Ars‘. Und noch das 18. Jahrhundert verwendet das Wort ‚Kunst‘ in diesem weiten Sinne. Trotz der wesentlichen Differenz zwischen den beiden Bereichen gibt es doch auch wieder Übereinstimmungen. Und das führt ins Zentrum der aristotelischen Naturphilosophie. Natur bedeutet Bewegung; ihr sind alle Naturerscheinungen unterworfen. Die „einfachen Körper“ – Erde, Feuer, Luft und Wasser – machen Ortsveränderungen durch; Pflanzen und Tiere „wachsen“ und „schwinden“, und sie wandeln sich in ihren Eigenschaften; das gilt selbstverständlich auch für den Menschen, müsste man hinzufügen.27 So unterschiedlich diese Vorgänge auch sind, sie haben eines gemeinsam: Ihre Bahn ist vorgezeichnet. Wonach sie sich richten, das ist das „Zugrundeliegende“, das ist ihr „Wesen“. Die Naturdinge entwickeln sich nach der Form, die in ihnen angelegt ist; diese müssen sie aus sich heraustreiben und zur Vollendung bringen. Das Feuer will seiner Bestimmung gemäß nach oben, und die Umschwünge der Gestirne nehmen den ihnen eingegebenen Lauf. Am plausibelsten lässt sich aber die Lehre des Aristoteles am Gedeihen einer Pflanze demonstrieren. Ihre Endgestalt ist der Möglichkeit nach schon im Samen enthalten, und indem sie ihre Eigenschaften ausbildet, entfaltet sie nur, was in ihr steckt. Heute würde man von Steuerungsprozessen durch die genetische Information reden. Angetrieben wird also die Bewegung von der jeweiligen Zielsetzung; und die Verfassung der Physis ist durchgängig teleologisch. Aristoteles gebraucht dafür den Begriff ‚Entelechie‘, und das bedeutet: das Ziel in sich selbst habend. Die Natur insgesamt ist eine Ordnung, in der jedes seinen festgesetzten Ort hat und einen ihm zugedachten Zweck erfüllt. Sie kommt nie zur Ruhe. Aber diese Bewegung beschreibt die Figur 25 Vgl. Kranz, a.a.O., S. 216 bzw. 217. 26 Vgl. Protagoras, 322a. 27 Physikvorlesung II, 1–192b 1–19.
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eines Kreises. Das, was war, kommt wieder; die Pflanze stirbt, und ihr Samen entlässt eine Pflanze derselben Art. Und eigentlich entsteht nichts Neues. Das kosmische Geschehen ist ein Rotieren, bei dem immer das Gleiche wiederkehrt. Was nun die Technik oder Kunst betrifft, so folgt diese nur dem natürlichen Schaffensprozess. Dessen „Struktur“ kehre in ihr wieder, sagt Aristoteles. Damit ist gemeint, dass die nicht-humane und die humane Produktion einander darin gleichen, dass die einzelnen Schritte aufeinander aufgebaut sind; über deren Abfolge entscheidet das angestrebte Ziel. Aber nicht allein in der Weise des Hervorbringens gibt es Übereinstimmung, diese überträgt sich auch auf die Produkte selbst, denn die artifiziell gefertigten Dinge haben ihr Vorbild in den Naturdingen. „Das menschliche Handeln bringt Gebilde der Natur teils zum Abschluss, nämlich dort, wo sie die Natur selbst nicht zu einem Abschluß zu bringen vermag, teils bildet es Gebilde der Natur nach.“28 „Mimeitai“ (PLPHLWDL steht im griechischen Text, und das ist der entscheidende Begriff: Alles vom Menschen Geschaffene ist nichts anderes als Mimesis, ist Nachahmung der Natur. Er kann nur so zu Werke gehen, dass er sich in dem von ihr vorgegebenen Rahmen hält. Mit seinem Tun ist er demnach eingespannt in die kosmische Ordnung, weil er selbst nichts wirklich Neues entstehen lässt; seine Schaffenskraft erprobt sich an dem, was er vorfindet. Es versteht sich, dass solche Unternehmen auch missraten, scheitern oder dem eigentlichen Zweck zuwiderlaufen können. Die Nachahmung der Natur ist kein Automatismus, und sie ist immer als Anleitung und Auftrag verstanden worden. So haben das die Autoren der Goethezeit aufgefasst. Sie wollten sich als Mitschöpfer einsetzen, die das fördern und zu Ende bringen, was in der Natur angelegt ist. Voraussetzung dafür ist aber, dass man diese, wie Aristoteles, finalistisch betrachtet. Sie ist selbst gestaltend und formbildend. Und es kommt darauf an, dass man ihr ansieht, welche Zwecke und Absichten sie verfolgt. Man verfährt dabei wie der Bauer, der schließlich weiß, was aus seiner Saat werden soll und der die Prozesse unterstützt, die dahin führen. Aus den Beispielen geht schon hervor, dass der Aristotelische Naturbegriff am Organischen gewonnen wurde. Die Natur ist ihrem inneren Wesen nach Leben; sie ist Subjekt, Autor ihres eigenen Bildungsprozesses. ‚Natura naturans‘ hieß das in der älteren Philosophie und von dieser, von der schaffenden wurde die ‚natura naturata‘ die geschaffene Natur unterschieden. Die Natur ist gleichwohl beides in einem: „Produktivität“ und „Produkt“, so formulierte Schelling diesen
28 Ebd.; II, 2–194a 21–23; II, 8 199a 17–20.
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Sachverhalt.29 Das Programm einer Nachahmung der Natur hält sich an diese Vorstellungen. Die Natur ist selbst „poietisch“,30 formbildend, und weil sie sich sichtbare Gestalt gibt, beruht ihre Erkenntnis auf einem anschauenden Begreifen. Das menschliche Gestalten in Kunst und Technik ist Nachvollzug dessen, was im Außermenschlichen präfiguriert wurde. Aber auch das moralische Handeln kann sich als imitatio naturae verstehen. Denn wenn im Kosmos alles auf einen Zweck hin geordnet ist, ist es Aufgabe des Menschen herauszufinden, was über ihn verfügt ist, um dieser Bestimmung gemäß sein Dasein einzurichten. Dass beide Komplexe zusammengehören, der werkpraktische und der ethisch-praktische, ist aus den Romanen Wielands herauszulesen. Wie er seinen weisen Danischmend ausführen lässt, müsse sich der Mensch der Natur als Führerin anvertrauen. Diese habe ihm Sinne und Verstand verliehen, und es sei an ihm, seine Anlagen voll zu entwickeln. Die Ausstattung mit Sinnen weise darauf hin, dass Sinnengenuss in der Absicht der Natur liege. Begierden und Lüste müssten aber vom Verstand, auch eine natürliche Mitgift, gezügelt werden. Die Mäßigung, zu der er den Menschen anhalte, sei deshalb nötig, weil alles, was im Übermaß genossen werde, „zu Überdruss und Erschlaffung“ führe, also gerade nicht Lust verschaffe. Und wenn man sich einmal Auge und Ohr vornimmt, von denen Wieland annimmt, sie seien „die vollkommensten unserer Sinne“, so können sich diese nur in einer Umgebung delektieren, welche dergleichen auch zulässt. Das Auge ist wie geschaffen dafür, sich „an der Schönheit der Natur, ihren mannigfaltigen schönen Formen, ihren reichen Zusammensetzungen, an ihrer reitzenden Farbgebung“ zu erfreuen. Man kann Wieland dahingehend ergänzen, dass in einer ruinierten Gegend, die verdreckt und verqualmt ist, keine Augenlust zu finden ist, ebenso wenig, wie betäubender Krach und kakophonischer Lärm das Ohr entzücken. Daraus drängt sich der Schluss auf, dass der Mensch für eine Welt zu sorgen hat, die wohltuend für die Sinne ist, die diese nicht überreizt oder verkümmern lässt. Seine Arbeit muss so angelegt sein, dass er ihre Wohlgestalt, dass er ihre Anziehung erhält und fördert. Nur so kommt er in den Genuss seines Daseins und zu dessen Erfüllung. Wieland sagt dazu „Glück“, und er denkt sich dieses in einer Gegend, aus der mit Hilfe des Menschen ein blühender und schöner Garten wurde. Das ist nur ein Idealzustand, Wieland weiß das, aber er versucht doch deutlich zu machen, welche Impulse von diesem Leitbild auf das konkrete, gesellschaftliche Han29 In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Einleitung zu dem Entwurf einer 1aturphilosophie, Schriften von 1799–1801, Darmstadt 1975; vgl. insbesondere S. 269ff. 30 Mir dem Begriff ‚poietisch‘ charakterisiert Jürgen Mittelstraß die Aristotelische Naturphilosophie insgesamt; vgl. Leben mit der 1atur, in: Oswald Schwemmer (Hg.), Über 1atur, Frankfurt/M. 1987, S. 37ff.
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deln ausgehen können. Dieses Leitbild enthält auch eine weitere moralische Forderung, die, dass es niemandem erlaubt ist, einem anderen seine Glücksmöglichkeiten zu nehmen, denn die Natur hat alle Menschen gleichermaßen mit Sinnen und Verstand bedacht, und sie hat damit allen das Verlangen nach Genuss und Glück eingegeben. Hier verschränken sich also werkpraktische, moralische und ästhetische Aspekte.31 In der künstlerischen und literarischen Naturdarstellung hat das Prinzip der Mimesis sehr unterschiedliche Ausprägungen erfahren. Darauf berufen haben sich sowohl Idealisten wie auch Realisten und Naturalisten. Jean Paul hat ebenso von sich behauptet, er hielte sich an die Natur, wie Stifter und Arno Schmidt. Es ist dabei kaum Vergleichbares herausgekommen, so dass jeweils zu prüfen ist, was denn mit der Formel von der Nachahmung der Natur im Einzelnen gemeint ist. Und um das wenigstens anzudeuten, so haben die Idealisten, zu denen Jean Paul zu zählen ist, in der Landschaft den Ausdruck für das Wesentliche finden wollen, was zu dem Verfahren führte, vorgefundene Formen zu einer neuen Einheit, zu sogenannten ‚Kompositlandschaften‘, zu verbinden; Realisten wie Stifter suchten bestimmte Ansichten in ihren Eigenheiten und in ihrer Einzigartigkeit abzubilden, Ansichten, die sich geographisch lokalisieren lassen; eine moderniste Spielart des Realismus, die im Werk Arno Schmidts vorliegt, versteht unter Wirklichkeitstreue die Wiedergabe einzelner, individueller Eindrücke, auch divergierender, auch einander abstoßender, die sie kaleidoskopartig zusammensetzt. Aber solche Schilderungen sind nicht nur Ausdruck einer bestimmten Epoche, Manifestationen einer ‚klassizistischen‘ oder ‚realistischen‘ Auffassung. Sie sind immer auch der Reflex objektiver Gegebenheiten im Medium individueller Imagination. Darin sind eingegangen das Temperament, die Beobachtungsgabe und die technischen Fertigkeiten eines Künstlers. Diesbezüglich kennt Goethe drei Kategorien: die „einfache Nachahmung der Natur“, die sich bei aller Tüchtigkeit eng und sklavisch ans Gegebene hält; die „Manier“, welche die Einzelheiten vernachlässigt, um einen Begriff des Ganzen zu geben; den „Stil“, der zum Wesentlichen einer Sache vordringt und das Charakteristische herauszustellen vermag.32 Obwohl immer wieder behauptet, ist es ein Irrtum anzunehmen, Nachahmung sei unverstellte Widerspiegelung der Wirklichkeit. Sie ist in jedem Fall nicht passive Hinnahme, sondern aktive Aneignung des Gegebenen. Und obwohl ursprünglich in einem Aristotelisch inspirierten Naturbegriff begründet, 31 Ähnliche Überlegungen finden sich an verschiedenen Stellen bei Wieland; hier wird nur verwiesen auf Der goldne Spiegel, insbesondere auf a.a.O., S. 98–114. 32 Werke, a.a.O., Bd.XII, S. 30–34.
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ist sie in neuerer Zeit auch anders motiviert, bei Arno Schmidt zum Beispiel. Das Verständnis der Kunst als Mimesis behauptet sich bis ins 20. Jahrhundert. Es wurde universal ausgelegt und auf die physische und die soziale Welt bezogen, wobei hier vor allem der Aspekt der Naturdarstellung interessiert. Dieses Kunstverständnis ist schon im 19. Jahrhundert in Frage gestellt worden. Es wird nicht einfach abgelöst, aber es bekommt doch Konkurrenz, und diese geht bis zur Naturfeindlichkeit. Der erste und wohl auch prominenteste Propagandist dieser Auffassung ist Baudelaire. Mit dem großstädtischen Boulevard errichtet sie sich eine Gegenwelt zur natürlichen. Ihre Vertreter, die Boulevardiers und Dandys, Menschen einer überspannten Kultiviertheit, lassen sich so vernehmen: „Das schönste Naturschauspiel wird niemals den Anblick einer Plakatwand aufwiegen.“33 Das Dokument dieser bis ins Extrem getriebenen Künstlichkeit ist der Roman Gegen den Strich (A rebours) von Joris-Karl Huysmans. Der Hauptfigur zufolge hat die Natur ihre Zeit gehabt. Durch die abstoßende Einförmigkeit ihrer Landschaften und Himmel hat sie die Aufmerksamkeit und Geduld der Menschen mit verfeinertem Geschmack endgültig erschöpft. Wie ist sie im Grunde doch platt, diese Spezialistin, die sich auf ein einziges Gebiet beschränkt, was ist sie doch für eine kleinliche Krämerin, die unter Ausschluß aller anderen Artikel nur einen einzigen führt, welch eintöniger Baum- und Wiesenladen, welch banale Meeres- und Gebirgsagentur wird hier betrieben! Es gibt im übrigen keine als subtil oder grandios gelobte Erfindung, die das menschliche Genie nicht ebenfalls hervorbringen könnte… Kein Zweifel, diese ewige Schwätzerin hat die gutmütige Bewunderung der wahren Künstler nun abgenutzt, und der Augenblick ist gekommen, da man sie, wo irgend möglich, durch Künstlichkeit ersetzen muß.
Und weiter heißt es: Wo gibt es hienieden ein in der Freude des Fleisches gezeugtes und unter Schmerzen dem Mutterleib entsprungenes Wesen, dessen Modell, dessen Typus betörender und herrlicher wäre als jener der beiden Lokomotiven, die auf der Strecke der Nordeisenbahn verkehren?34
Dass dies mehr ist als modische Pose und die Lust an der Provokation, lassen andere Äußerungen erkennen. So sagt Apollinaire über den ‚Kubismus‘:
33 Zitiert nach Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt/M 1976, S. 186. 34 Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, München 1995, S. 33f.
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Was diesen „von der alten Malerei unterscheidet, ist die Tatsache, dass er nicht mehr eine Kunst der Nachahmung ist, sondern eine Kunst der Vorstellung, die sich zu erheben trachtet bis zur Neuschöpfung.35
Die Bezugnahme auf Maschinen in diesem Zusammenhang kommt nicht von ungefähr. Sie verweist darauf, worum es hier eigentlich geht, es geht um die Selbstvergewisserung des menschlichen Produzierens überhaupt, des künstlerischen und des technischen. Und da setzt sich die Überzeugung durch, dass die menschliche Kreativität Werke hervorbringen kann, die ganz ohne Beispiel sind. Sich ans Vorgefundene zu halten, zieht den Macher herab, es fesselt seine Schaffenskraft und schränkt seinen Erfindergeist ein. Diese gilt es gerade freizusetzen, und das gelingt nur, wenn sich der Geist löst aus der Bindung ans Faktische, wenn er sich besinnt auf seine eigene Gestaltungskraft. Die Vorbilder für sein Tun kann er nur aus sich selbst gewinnen. Verächtlich redet 1ietzsche von den Schriftstellern, die am „Tatsächlichen“ kleben; er hält sie für Kleinlichkeitskrämer. Das sei geradezu unkünstlerisch, „antiartistisch“, denn das „Studium >nach der Natur< scheint mir ein schlechtes Zeichen: es verrät Unterwerfung, Schwäche, Fatalismus…“ Der schöpferische Mensch verfährt souverän, und die Kunst – das Theater führt 1ietzsche an, die Oper – hat sich nie so verhalten wie die Wirklichkeit. Wer fängt schon an zu deklamieren oder gar zu singen, wenn er von Schmerzen gepeinigt wird! Die Kunst hat ganz andere Intentionen als die, eine Kopie dessen, was ist, zu liefern. In ihr feiert der Mensch sich selbst. Sie ist Steigerung des Lebens, ist dessen Bejahung, auch in seinen tragischen Momenten. Diese Einschätzung ist nicht zu lesen als Akzentuierung einer der in der Kunst angelegten Möglichkeiten. In ihr reflektiert sich die geistige Situation, die 1ietzsches Philosophie als ‚Nihilismus‘ diagnostiziert. Die Kunst ist deshalb ein freies Schaffen, weil nichts existiert, woran sich der Mensch halten könnte. Es gibt keine umgreifende Ordnung, in die er eingebunden wäre; weder die Religion noch die Naturerkenntnis ist imstande, dergleichen zu vermitteln. Die Naturwissenschaft hat selbst einen „nihilistischen Zug“, denn ihr zeigt sich die Welt als unendliches Kontinuum, als ein von der Notwendigkeit beherrschter „Mechanismus“, in dessen Abläufen weder „Absichten“ noch „Begrenzungen“ und schon gar nicht ein „Sinn“ zu erkennen sind. Die Natur ist völlig „indifferent“, sie verhält sich „gleichgültig“ gegenüber dem Menschen und seinem Tun. Er ist demnach nicht Teil eines Wirkungsgefüges, in dessen Zwecke er eingespannt wäre. Er ist ortlos. „Seit Kopernikus rollt 35 Zitiert nach Walter Hess (Hg.), Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Reinbek bei Hamburg 1956, S. 55. Dass die Auseinandersetzung mit dem mimetischen Prinzip zu den Hauptfragen der modernen Kunst gehört, sei hier nur angemerkt; vgl. dazu Werner Hofmann, Grundfragen der modernen Kunst, Stuttgart 1978, S. 81ff.
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der Mensch aus dem Zentrum ins x“, urteilt 1ietzsche, und darin sieht er „die nihilistischen Konsequenzen der Naturwissenschaft“. Und was nun die Religion betrifft, so gilt das Diktum der Fröhlichen Wissenschaft: „Gott ist tot!“ Und das bedeutet, dass auch kein Schöpfungsplan existiert, der den Menschen in seinen Eigenschaften festgelegt und ihm eine Aufgabe zugewiesen hätte. Unter diesen Bedingungen ist der Mensch auf sich gestellt. Und weil er keine Anleihen bei vorgegebenen Strukturen machen kann, muss er sich und seine Welt nach seinem eigenen Entwurf fertigen. Damit ist seine Schöpferkraft entbunden, sie hat alle Fesseln abgeworfen. Aber diese Freiheit ist zugleich eine ungeheure Belastung, gerade 1ietzsche hat das mit großem Nachdruck ausgesprochen. Denn nun trägt der Mensch die volle Verantwortung für sein Tun. Er kann sich nicht mehr berufen auf angebliche Weisungen, die im Gang der Natur oder im Willen Gottes beschlossen wären.36 Das Abrücken vom Prinzip der Nachahmung war nicht allein Sache der Kunst. Ungleich wirkungsvoller war dieses Vorgehen auf anderem Gebiet, und man kann sagen, dass dadurch das Aussehen der modernen Welt zu einem guten Teil geprägt wurde. Dafür gesorgt haben die Techniker. Anders als die Künstler kommentieren die Ingenieure ihr Handeln nicht, und deshalb ist weniger klar ins Bewusstsein gelangt, worauf denn deren Erfindungen basieren. Ein Vorgang aus der Technikgeschichte vermag das zu beleuchten. Bei der Konstruktion einer Flugmaschine hat man in den Anfängen versucht, den Vogelflug zu imitieren. Otto Lilienthal und andere haben solche Experimente durchgeführt, kamen damit aber nicht so recht weiter. Der Durchbruch gelang den Brüdern Wright, die davon abgingen, den Flügelschlag als Muster zu nehmen. Sie führten etwas gänzlich Neues ein, um sich in die Luft zu erheben, etwas, das kein Vorbild in der Natur hatte. Das war der von einem Verbrennungsmotor betriebene Propeller. Exemplarisch daran ist, dass man unter Ausnutzung der Naturgesetze zu Lösungen kam, die die Natur nicht hervorgebracht hat, und darauf beruhen große Erfolge der modernen Technik.37 Eine frühe Vorwegnahme findet diese Haltung im ausgehenden Mittelalter bei 1ikolaus von Kues. Zwei prinzipielle Möglichkeiten des Herstellens von Artefakten werden dort aufgezeigt, von denen sich die zweite erst im Verlauf der Neuzeit durchsetzen kann. Im Dialog Idiota de mente (Der Laie über den Geist) lässt Cusanus einen Handwerker, einen „Löffelschnitzer“ auftreten, der von sich behauptet, dass er anders 36 Die Nietzsche-Auslegung bezieht sich auf folgende Stellen, denen auch die Zitate entnommen sind: Friedrich Nietzsche, Werke, ed. Karl Schlechta, München 1966, I, S. 130; II, S. 89f; II, S. 995f; III, S. 491; II, S. 572; III, S. 882; II, S. 126f. 37 Materialien dazu im Katalog der Ausstellung Die Kunst zu fliegen, NRW-Forum Düsseldorf 2004.
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vorgehe als „ein Bildhauer oder Maler“, welcher „seine Urbilder von den Dingen“ nehme, „die nachzubilden er sich beschäftigt“. Sein Löffel dagegen habe „außer der Idee unseres Geistes kein Urbild“ eben so wenig wie die anderen von ihm fabrizierten Gebrauchgegenstände. Bei dieser Tätigkeit „bilde er nicht die Gestalt irgend eines natürlichen Dinges nach.“ Und er fügt hinzu: „Demzufolge ist meine Kunst vollkommener als diejenige, welche geschaffene Figuren nachahmt; darin ist sie der unendlichen Kunst ähnlicher.“38 Mit „unendlicher Kunst“ ist die göttliche gemeint und der Mensch kann in seinem Tun dieser nur folgen. Sich dabei ans Bestehende zu halten, an die vorgeformten Dinge ist aber lediglich eine minderwertige Art, den Schöpfungsprozess Gottes nachzuvollziehen. Denn dieser ist unendlich, ist eine „ars infinita“. Als solcher ist er aber über bestimmte Formen immer schon hinaus, und kann deswegen in den endlichen Dingen, in den begrenzten Gestalten auch nicht ergriffen werden. Zu seiner höchsten Bestimmung kommt das menschliche Schaffen dann, wenn es sich nicht ans Vorgefertigte hält, sondern selbst etwas Neues hervorbringt, etwas das kein Vorbild in der Natur hat; erst dann ist es Nachahmung des göttlichen Schöpfungsaktes. Endscheidend und vorausweisend an diesen Gedanken ist die Spekulation über das Unendliche. Damit wird der Kosmos der antiken Philosophie, die Welt der ewigen Formen und Urbilder, der Ideen, verlassen, und es tut sich ein unendliches Feld auf, das immer neue Figurationen und Kombinationen zulässt. Verknüpft damit ist ein völlig verändertes Naturverständnis. Aristoteles zufolge sei „Verstand“ in der Natur, sagt Hegel. Allerdings dürfe man diesen nicht gleichsetzen mit Bewusstheit. Gemeint sei damit lediglich Zweckgerichtetheit, und die könne sich auch ohne Reflexion vollziehen, wofür das instinktive Verhalten der Tiere ein Beispiel abgebe. Und nun sagt Hegel, dass darin der „ganze, wahrhafte, tiefe Begriff der Natur“ liege, und der sei der der „Lebendigkeit“. „Dieser wahre Begriff der Natur ist verlorengegangen“, fährt er fort, und als einen Grund dafür gibt er das Aufkommen der „mechanischen Philosophie“ an, „die immer äußere Ursachen (und äußere Notwendigkeit) hat, die selbst wieder Dinge sind.“39 Hegel hält also zwei Begriffe von Natur auseinander, die mit ‚Leben‘ einerseits und ‚Mechanik‘ andererseits gekennzeichnet sind. Ob der erste tatsächlich überholt ist, wird noch zu besprechen sein. Man muss aber Hegel darin zustimmen, dass er schon 38 Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Schriften, Wien 1967, Bd. III, S. 493. Zum Problem der Mimesis vgl. Hans Blumenberg, 1achahmung der 1atur, in: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt/M. 2001, S. 9ff; bei der Besprechung von Cusanus setzt Blumenberg andere Akzente. 39 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a.a.O., Bd. 19, S. 179.
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zu seiner Zeit in den Hintergrund getreten ist. Jedenfalls zeigen die beiden Begriffe zwei große Richtungen im Denken über die Natur an, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Wenn diese jetzt behandelt werden, so ist das nicht so zu verstehen, dass man es mit kontinuierlichen Entwicklungen zu tun habe. Es verhält sich nur so, dass zu den verschiedenen Zeiten Gedanken aufkommen, die der einen oder der anderen Linie zuzuordnen sind. Und es kann hier auch nicht auf subtile Einzelheiten etwa der antiken Naturphilosophie eingegangen werden. Für Demokrit ist die Welt aus kleinsten Bausteinen der Materie zusammengesetzt, denen er den Namen DWRPRVAtom, das Unteilbare gegeben hat. Aus der Bezeichnung geht schon hervor, von welcher Grundvorstellung sich diese Theorie leiten lässt. Wenn man die komplexen und kompakten Dinge zerkleinert, kommt man schließlich an Teile, die sich nicht weiter zerlegen lassen, und diese Substanzen machen den Grundbestand der Wirklichkeit aus. Sie denkt sich Demokrit so, dass sie von unterschiedlicher Beschaffenheit und Größe sind, sich im Raum bewegen, sich abstoßen und anziehen. Alles, was entsteht, ob Belebtes oder Unbelebtes, lässt sich nun so erklären, dass sich solche ‚Urkörper‘ zeitweise zusammenfinden. Sie haften aneinander und verklammern sich, denn die einen sind hakenförmig, andere schief und wieder andere gewölbt, und sie haben noch weitere Formen. Der Tod oder das Vergehen, Tiere, Pflanzen und ganzen Welten sind davon betroffen, beruht dann darauf, dass die Atome ihre Verbindung wieder aufgeben und sich voneinander lösen. Die kleinsten Bestandteile der Wirklichkeit selbst, die Atome eben, sind nicht wahrnehmbar. Hinter der sichtbaren Welt befindet sich also eine unsichtbare, aus der gleichwohl die Welt der Sinne aufgebaut ist. Der Kern dieser Lehre besteht vor allem darin, dass es für alles, was ist, stoffliche ‚Urgründe‘ gibt. Diesen Standpunkt hatte vor Demokrit schon Thales vertreten, und sie begründen damit den Materialismus, die Theorie, nach der alle Erscheinungen und Vorgänge aus stofflichen Ursachen und Prozessen zu erklären sind. Zu den entscheidenden Zügen dieser Position gehört ferner, dass die Realität, wie sie sich den Sinnen zeigt, dekomponiert, aufgelöst werden muss, um an die Elemente zu gelangen, aus denen die Welt zusammengesetzt ist. Und schließlich kommt hinzu, dass die letzten Bausteine der Materie der Anschauung nicht zugänglich sind.40 Bekanntlich sind diese Überzeugungen in neuerer Zeit wieder vertreten worden. Selbstverständlich nicht so, dass die Wissenschaft in Einzelheiten sich an Demokrits Lehre gehalten hätte. Übereinstimmung besteht nur in der Modellvorstellung, die sich darauf beläuft, dass man zu 40 Die Demokrit-Darstellung bezieht sich vor allem auf den Bericht des Simplicius, in: Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, S. 396ff; vgl. dazu auch Aristoteles, Metaphysik, I, 3. 983bff u. I, 4. 985bff.
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den Bestandteilen der Materie vordringen müsse, um eine Erkenntnis der Natur zu gewinnen. Man kann hier auf die Atomphysik und auf solche Vorstellungen wie das periodische System der Elemente verweisen. Auch Descartes sah in der Natur einen Bereich des Körperhaften. Dass er diesen gegen die Sphäre des Geistes absetzte, wurde schon erwähnt, und auch, dass ihm zufolge kein Verstand in der Natur sei. Als er die Regeln aufstellte, die für den Erwerb eines sicheren Wissens zu befolgen seien, kam er auf Erwägungen, welche an die des Demokrit erinnern. Die wichtigste dieser Regeln fordert, das Kompakte in seine Teile zu zerlegen, um eine klare Einsicht in seine Zusammensetzung zu ermöglichen. Nach einer weiteren Regel wird das Komplexe dadurch erfasst, dass man untersucht, wie dieses aus der Zusammenfügung seiner Bestandstücke hervorgeht. Der Weg der Erkenntnis verläuft demnach vom Vielschichtigen zum Einfachen und von diesem wieder zum Mehrgliedrigen; man kann auch vom Analysieren und Synthetisieren sprechen.41 Hier findet sich also ebenfalls der Gedanke, dass man durch Dekomposition Aufschluss über die Natur erhält. Soll sie offen legen, was sie im Innersten ausmacht und bewegt, müssen Eingriffe vorgenommen werden, darf man sie nicht so belassen, wie sie vorgefunden wird. Rigoroser formuliert Francis Bacon, einer der Wegbereiter der neuzeitlichen Naturwissenschaften, diese Forderung. Bei ihm ist zu lesen, dass sich „die durch Kunst gereizte und geplagte Natur deutlicher“ offenbart, „als wenn sie frei sich selbst überlassen wäre“. „Irritare“ und „vexare“ steht im lateinischen Text, und ‚vexare‘ hat auch die Bedeutungen ‚quälen‘, ‚misshandeln‘. Bei Bacon kommt die Vorstellung auf, dass es neben einer freien Natur, der ,natura libera‘, eine vom Menschen unter Zwang gestellte gibt, ‚natura vexata‘ könnte man sie nennen.42 Kant ist ebenfalls der Auffassung, dass man die Natur „nötigen“ müsse. Nichts anderes vollziehe das Experiment, und es sei dieses Verfahren, das Forschern wie Galilei zu wahren Einsichten verholfen habe. Was eigentlich im Experiment geschieht, das erläutert Kant im Bilde einer Gerichtsverhandlung. Wie der Richter will auch die forschende Vernunft Aufklärung über einen bestimmten Sachverhalt erlangen, und wie dieser vernimmt sie dazu Zeugen. Der Richter ist Herr des Verfahrens; welche Zeugen er anhört und welche Fragen er stellt, ist ihm überlassen. Und sein Geschick ist ausschlaggebend dafür, ob der Schuldige ermittelt wird. Einen Schuldigen sucht auch die experimentierende 41 Vgl. z.B. Discours de la méthode, II, 7–13. 42 Francis Bacon, Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften, zitiert nach Wolf von Engelhardt, Was heißt und zu welchem Ende treibt man 1aturforschung?, Frankfurt/M. 1969, S. 24.
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Vernunft, nämlich die Ursachen für bestimmte Tatbestände und Vorgänge. Und sie übernimmt, darin dem Richter gleich, die Führung in diesem Verfahren, auf die Weise, dass sie Vorkehrungen trifft, durch die sie Antworten auf ihre Fragen erwirkt. Als Zeuge lädt sie die Natur vor, und der Erfolg der Untersuchung ist abhängig von der Tauglichkeit ihrer Arrangements. Kant drückt das so aus, dass „die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“. Und das Experiment gehöre in der Physik zu einer „vorteilhaften Revolution ihrer Denkungsart“, die sich „lediglich dem Einfalle zu verdanken“ habe, „demjenigen, was sie selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muss und worüber sie sonst nichts wissen würde.“ Diese Sätze sind selbstverständlich nicht so zu verstehen, als würde die Vernunft in der Natur nur sich selbst, ihre eigenen Vorstellungen wiederfinden. Es handelt sich um eine wirkliche Untersuchung, bei der die Natur die Gegenseite bildet und deren Ausgang ungewiss ist. Der Anteil der Vernunft besteht darin, dass sie Fragen an die Natur heranträgt, nicht beliebige, sondern solche, die zur Auffindung gesetzmäßiger Zusammenhänge und allgemeiner Bestimmungen dienen. Sie steckt damit einen Horizont ab, der vorgibt, wonach und was überhaupt gesucht wird. Das Verfahren soll ausschließen, dass „zufällige Beobachtungen“ verallgemeinert werden, was eben dann geschieht, wenn man sich von der Natur „allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse.“43 Die Natur selbst stellt keine Fragen und sie legt keine Theorien zurecht; die muss die Vernunft aus ihr herausholen. Carl Friedrich von Weizsäcker, der in seinen Ausführungen über das Experiment den ganzen Passus aus der Kritik der reinen Vernunft zustimmend zitiert, möchte Kant in einem Punkt korrigieren. „Statt Vernunft will er lieber einfach Mensch sagen“, mit der Begründung, dass in Kants Ausdrucksweise zu einseitig die rationale Komponente betont werde. Wie von Weizsäcker darlegt, basiert das Experiment eben nicht allein auf theoretischen Operationen; die Anordnung von Dingen und das Beobachten gehören ebenfalls dazu. Gefordert ist der Einsatz der Vernunft, der Hände und der Sinne, denn „erst die Dreiheit Denken, Handeln und Wahrnehmen macht das Experiment möglich.“ Mit gescheiten Überlegungen allein ist es also nicht getan. Der Forscher muss auch immer Vorrichtungen und Geräte bereitstellen, mit deren Hilfe er seine Vermutungen überprüfen kann. Und er muss zugucken, was sich im Versuch abspielt. Naturerkenntnis gründet sich in der sinnlichen Erfahrung, erklärt von Weizsäcker, aber es genüge nicht, dass zu ihr „nur Denken oder nur Handeln“ hinzukomme. „Im ersten Fall entsteht 43 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XII–B XIV.
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Philosophie, im zweiten Handwerk. Die neuzeitliche Naturwissenschaft ist das Kind einer Ehe zwischen Philosophie und Handwerk.“44 Diese sehr allgemeinen Angaben konkretisieren sich in einer Abfolge von Verfahrensschritten, welche sich zwingend aus der Zielsetzung ergeben. Sie sind deshalb in jedem Experiment auffindbar, auch in dem, das in der Wissenschaftsgeschichte als erstes wirkliches Experiment gilt, das des Galilei zum ‚freien Fall‘. Unzählige Male ist es nachgestellt worden, und die meisten werden es aus dem Physikunterricht kennen. Und da sich die einzelnen Verfahrensschritte am besten am Beispiel aufweisen lassen, wird eine Beschreibung des berühmten Versuchs vorausgeschickt. Man wusste… wohl, dass die Geschwindigkeit des fallenden Körpers zunimmt. Aber es war mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht möglich, festzustellen, ob diese Zunahme proportional zum Fallweg oder zur Fallzeit erfolgt. Galilei nahm den Fallvorgang selbst in die Hand. Er zwang den natürlichen Prozess, in einer Form abzulaufen, die den Zugriff einer messenden Beobachtung erlaubte. Er beobachtete nämlich statt frei fallender Steine Kugeln, die auf schrägen Ebenen mit verschiedenen Neigungswinkeln hinabrollten. Ihre Geschwindigkeit war so gering, dass man Zeiten und Wege messen konnte. Das Verständnis des freien Falls ergab sich, indem man ihn als den Grenzfall des Rollens auf einer schrägen Ebene auffasste, als Herabrollen nämlich auf einer Ebene mit dem maximalen Neigungswinkel von 90°. Da eine Variation des Neigungswinkels wohl die Geschwindigkeit, nicht aber die allgemeine Form des Zusammenhanges zwischen Zeit, Weg und Geschwindigkeit veränderte, erwies sich die festgestellte quantitative Beziehung zwischen diesen Größen auch für den freien Fall als gültig. So war das Ergebnis dieses Experiments, dass die Geschwindigkeit des fallenden Körpers proportional zur Fallzeit und nicht proportional zum durchfallenen Weg zunimmt.45
Am Beginn eines jeden Versuchs steht eine Fragestellung. Diese kann auch die Form einer Hypothese annehmen. Jedenfalls muss erst einmal Klarheit darüber hergestellt werden, was untersucht werden soll. Das kann mehr oder minder scharf umrissen sein. Es kommt sogar vor, dass die Ausgangsvermutung ziemlich vage ist. Bei Galilei war die Sache klar. Er wollte wissen, von welchen Faktoren die Zunahme der Geschwindigkeit abhängt. Eine weitere Maßnahme ist die, einen Vorgang oder ein Ding zu isolieren. Sie werden herausgenommen aus ihren natürlichen Zusam44 Carl Friedrich von Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, Stuttgart, 10. Aufl. 1963, S. 196–171. 45 Engelhardt, a.a.O., S. 21f. Die Darstellung des Experiments knüpft an die Ausführungen von Engelhardt an. Galileo Galilei selbst hat seine Experimente zum ‚freien Fall‘ beschrieben in: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neuere Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend, hrsg. v. A. von Oettingen, Darmstadt 1973, vgl. insbesondere S. 162f.
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menhang und Bedingungen ausgesetzt, die in ihrer angestammten Umgebung so nicht vorkommen. Man kann auch sagen, dass sie unter idealen oder Laborbedingungen untersucht werden. Der ganze Versuchsaufbau ist darauf eingerichtet. Der freie Fall, wie ihn Galilei analysierte, findet in der Natur nie statt. Beim Versuch wurden alle Störeinflüsse wie Reibung, Wind und dergleichen ausgeschaltet oder vernachlässigt. Kugeln als Körper und polierte Flächen sorgten für einen glatten Ablauf. Man muss hinzufügen, dass nur unter solchen idealen Bedingungen Gesetzmäßigkeiten überhaupt erst in den Blick kommen, andernfalls hat man es mit Verhältnissen zu tun, die ganz zufällig sind und sich mit dem Ort und der Gelegenheit ändern. Galilei musste die ins Auge gefassten drei Faktoren möglichst rein herauspräparieren, um ihre Relationen erkennen zu können. Eng verknüpft damit ist der nächste Schritt. Er besteht darin, einen Vorgang selbst auszulösen oder ein Ding selbst hervorzubringen. Es handelt sich dann um einen experimentell erzeugten Prozess bzw. um eine künstlich hergestellte Erscheinung. Auch das betrifft wieder den Versuchsaufbau, also das Arrangement von Geräten und Instrumenten, das bestimmte Abläufe und Ereignisse ermöglicht. Hierbei muss auch über den Einsatz von Messinstrumenten entschieden werden. Galilei brachte seine Kugeln selbst in Gang und er variierte die Umstände, unter denen sie hinunterrollten. Ein entscheidender Bestandteil des Experiments ist die Messung. Es ist überhaupt so angelegt, dass ein quantitativ erfassbares Ergebnis festgehalten werden kann. Es geht also nicht nur darum, etwas zu beobachten; das ist möglicherweise ungenau und zudem nicht sicher gegen Täuschung. Die wahren Verhältnisse schlagen sich in den eruierten Zahlen nieder. Dieser Zug wurde im Laufe der wissenschaftlichen Entwicklung immer weiter perfektioniert. Und in einem Großteil der heutigen Experimente macht die Erfahrung das aus, was an den Messinstrumenten abzulesen ist. Erst durch die Messung bekommt man einen Tatbestand in den Griff; durch sie wird er beherrschbar. Nicht quantifizierbare Aussagen verbieten sich und verbürgen keine gesicherte Erkenntnis. Sätze wie der, dass das Wetter schön sei, sind ziemlich vage und auf jeden Fall unwissenschaftlich. Einen präzisen Sinn bekommen sie erst, wenn angegeben wird, welche Messwerte damit verbunden sind, was Robert Musil zu Beginn des Mannes ohne Eigenschaften gründlich ironisiert hat. Galilei sagt über seine eigenen Erhebungen: Häufig wiederholten wir den einzelnen Versuch zur Ermittlung der Zeit…Darauf ließen wird die Kugel nur durch ein Viertel der Strecke laufen und fanden stets genau die halbe Fallzeit gegen früher. Dann wählten wir andere Strecken und verglichen die gemessene Fallzeit mit der zuletzt erhalte-
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nen…; bei wohl hundertfacher Wiederholung fanden wir stets, dass die Strecken sich verhielten wie die Quadrate der Zeiten.
Dass man durch die numerische Erfassung Gewalt über einen Vorgang bekommt, zeigt schon das Beispiel Galileis. Der nämlich konnte seine Erkenntnisse einsetzen bei der Berechnung der Flugbahnen von Geschützkugeln.46 Zu einem Wesensmerkmal des Experiments gehört schließlich das, was man gewöhnlich mit dem Begriff ‚Objektivität‘ bezeichnet. Allerdings gibt diese Ausdrucksweise den wahren Sachverhalt nur unzulänglich wieder, denn das Experiment erfasst die Objekte eben nicht wie sie an sich sind. Das untersuchende Subjekt manipuliert diese ja gerade, und man könnte genauso gut von subjektiv reden. Richtiger und der Sache angemessener ist es, von ‚intersubjektiver Überprüfbarkeit‘ zu sprechen. Damit ist gemeint, dass unter denselben Bedingungen dieselben Ergebnisse erzielt werden müssten, ganz unabhängig davon, wer den Versuch durchführt. Und in der Disziplin wissenschaftlichen Arbeitens hätte der Papst Urban VIII. nichts anderes herausfinden können als Galilei. Die experimentelle Forschung hat sich demnach unabhängig gemacht von individuellen Einschätzungen und von der Wahrnehmungsfähigkeit Einzelner. Demokrit hat nicht experimentiert und die übrigen antiken Naturkundigen auch nicht, ein historisches Faktum, über dessen Motive hier keine Mutmaßungen angestellt werden brauchen. Was aber bei den Griechen noch im Bereich theoretischer Erwägungen blieb, der Gedanke, dass man durch Zergliederung oder Dekomposition an die Wirklichkeit herankommen kann, das wurde von der neuzeitlichen Wissenschaft in die Tat umgesetzt. Sie ließ die Dinge nicht, wie sie sich zeigen. Sie handelt, sie nimmt Eingriffe vor und verändert das Vorgefundene. Sie löst die Erscheinungen aus ihren ursprünglichen Verbindungen und Relationen, sie separiert sie, um dann zu prüfen, wie sie sich verhalten, wenn man sie bestimmten Einflüssen aussetzt, über deren Art und Stärke der Experimentator entscheidet. Das Experiment ist ein Geschehen, das unter kontrollierten Bedingungen abläuft. Indem präzise ermittelt wird, wie sich der Untersuchungsgegenstand unter genau festgehaltenen Konstellationen verhält, wozu die Messungen dienen, bekommt man ihn in seine Gewalt. Und das bedeutet, dass man die Sache oder den Vorgang selbst erzeugen kann. Genau hierauf beruht die enge Verbindung zwischen experimenteller Wissenschaft und Technik. Machbarkeit ist nicht etwa bloßer Zusatz, eine technische Verwertung theoretischen Wissens, sie steckt vielmehr schon in der 46 Näheres bei John Desmond Bernal, Sozialgeschichte der Wissenschaften, Reinbek b. Hamburg 1970, Bd. 2, S. 399–403.
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Forschung selbst. Und die experimentelle Wissenschaft und die Technik bilden eine Einheit. Die Möglichkeit der industriellen Produktion ist übrigens davon nicht berührt; sie ist eher eine ökonomische als eine technische oder wissenschaftliche Frage. Die Herausbildung eines einheitlichen technisch-wissenschaftlichen Komplexes zeigen vor allem neuere Entwicklungen. In Bezug auf die Genforschung kann man nicht mehr ausmachen, wo die reine Erkenntnisgewinnung aufhört und die technische Anwendung anfängt. In der Wissenschaft geht es also nicht allein um Erkenntnis der Natur, sondern immer auch um deren Beherrschung, eine Intention, die nicht immer klar ausgesprochen wird. Von Weizsäcker geht sogar soweit, von einer „Vergewaltigung der Natur“ zu reden.47 Das Prinzip des Teilens und Isolierens führt zu einem Verlust der Anschauung. Vor dem wissenschaftlichen Zugriff hat die Welt, wie sie sich der unmittelbaren Wahrnehmung darbietet, keinen Bestand. Die sinnlichen Figuren, die Formen und Farben, die Klangebilde werden aufgelöst. Sonst waren die Dinge eingebettet in einen größeren Zusammenhang, sie waren Teil eines Ganzen, von dem her sie ihre Gestalt und ihre Funktion empfingen. Jetzt bekommen sie ein anderes Ansehen, weil sie herausgenommen sind aus ihren ursprünglichen Verbindungen und Relationen. Und die experimentelle Methode ist Aufgabe einer ganzheitlichen Betrachtung, die nur dem Anschauen gegeben ist. Zwar ist es richtig, dass sie auf Beobachtung setzt, und die neuzeitliche Forschung begreift sich als empirisch. Damit hat es aber eine besondere Bewandtnis, und das wurde schon bei Galilei offenkundig. Das Experiment macht nämlich sichtbar. Es verwendet und erfindet Prozeduren, die Sachverhalte aufdecken, die den Sinnen verborgen sind. Es ist Aufbruch in eine unbekannte Welt, und die eingesetzten Instrumente verhelfen zu ungeahnten Entdeckungen. Zu Recht hat man immer wieder hervorgehoben, dass der wissenschaftliche Fortschritt eng verknüpft ist mit technischen Erfindungen. Auch von dieser Seite her ist also Wissenschaft und Technik eine Verbindung eingegangen. Man denke an die unsichtbare Welt, die sich erst in der Vergrößerung durch das Mikroskop erschließt und an die Erforschung des Makrokosmos, die dann möglich wurde, als Fernrohre eingesetzt werden konnten. Bekanntlich ist Galilei einer der ersten, der mit Hilfe von Teleskopen den Himmel erkundete. Und was sein Experiment zum ‚freien Fall‘ betrifft, so machte er wahrnehmbar, was dem bloßen Auge gar nicht zugänglich ist, indem er nämlich das Geschehen aus der Vertikalen in die schiefe Ebene verlagerte. Die Tendenz zur Unanschaulichkeit, die ja bereits bei Demokrit vorhanden war, hat sich in der Wissenschaftsgeschichte zu47 A.a.O., S. 31.
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nehmend verstärkt, und vollends die subatomare Welt der modernen Physik entzieht sich vollkommen den Sinnen.48 Die Sensorien, die da überhaupt etwas in Erfahrung bringen können, wenn man das so bezeichnen darf, sind die Messinstrumente. Die Wissenschaft hat geradezu ein Misstrauen gegenüber der Wahrnehmung, denn deren Angaben ersetzt sie durch Messdaten. Nicht die sinnlichen Qualitäten zählen für sie; nur was quantitativ erfassbar ist, lässt sie gelten. Aus einem Gegenstand der Sinne macht sie ein Erkenntnisobjekt. Von einer „Revolution der Denkungsart“ hatte Kant gesprochen, und damit wird die tragende Rolle, die das Experiment für die neuzeitliche Wissenschaft hat, herausgestellt. Dass sie experimentelle Forschung ist, charakterisiert sie mehr als alle anderen Prädikate. Die Natur des Experiments ist eine vom Menschen hervorgebrachte, eine künstlich erzeugte Natur, sie ist die Natur der Labors und der Versuchsanstalten, eben die natura irritata et vexata des Francis Bacon, auf den sich auch Kant beruft. Das wird wiederum am Beispiel deutlich. Die von der Chemie angewendete Verfahren sind vor allem die der ‚Analyse‘ und ‚Synthese‘. Durch die Analyse gelang es, die vorgefundenen komplexen Stoffe immer weiter zu zerlegen, sodass man genötigt war, die Auffassung von den Grundstoffen oder Elementen fortwährend zu revidieren. In der Synthese nun konnte man die so aufgespürten Stoffe wieder zusammensetzen, auch in Verbindungen, die in der sich selbst überlassenen Natur gar nicht vorkommen. Dabei wurde auf Vorgänge zurückgegriffen, die als Polymerisation bekannt sind. Was so entstand, waren ‚Kunststoffe‘, Erzeugnisse, die aus unserer Welt gar nicht mehr wegzudenken sind. Erneut zeigt sich die Einheit des wissenschaftlich-technischen Komplexes. Die experimentelle Methode hat das Wissen über die Natur ungeheuer erweitert. Ohne sie wüsste man nichts über Elektrizität, molekulare Strukturen oder den Aufbau der Zelle, und das sind nur willkürlich herausgegriffene Beispiele. Und weil sie mit der Herrschaft und der Macht über die Natur verknüpft ist, verlangt sie ein hohes Maß an Verantwortung. Dabei sollte aber Klarheit darüber bestehen, dass sie nur ein möglicher Zugang zur Natur ist; und schon gar nicht legt sie frei, was die Dinge an sich sind. Ihre Vorgehensweise deckt nur bestimmte Seiten an der Natur auf. Und wenn man anders an sie herangeht, werden sich andere Ansichten zeigen. In jüngerer Zeit hat sich das Bewusstsein dafür verstärkt, dass die Wissenschaft nicht an die Objekte selbst reicht, sondern nur daran, was das von ihr eingesetzte Instrumentarium an ihnen offen legt. So schrieb schon Werner Heisenberg: „Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung 48 Vgl. dazu von Weizsäcker, ebd., S. 27ff.
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nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst.“49 Jedenfalls muss man mit verschiedenen Naturbegriffen rechnen: mit der ‚kultivierten‘ Natur, das wäre die des Gärtners und des Bauern; mit der ‚genötigten‘ Natur, der der experimentellen Wissenschaft; und mit der ‚freien‘ Natur, der natura libera, und das ist eine, die unbehelligt ist vom Menschen. Demokrits Lehre hat etwas unmittelbar Einleuchtendes, nicht nur, weil andere nach ihm auf ähnliche Erklärungsmodelle gekommen sind; sie wird beglaubigt durch die Erfahrung, dass sich das Bestehende zerlegen lässt und man dadurch an die es aufbauenden Glieder gelangt. Die Atomtheorie versagt jedoch an einer Stelle. Sie bietet keine Antwort an auf die Frage, wie sich die Elementarteilchen zusammenfinden, zumindest ist davon nichts überliefert. Ebenso fundamental wie die Erfahrung, dass alles Seiende zusammengesetzt ist, ist nämlich eine andere, die, dass wir in einer Welt der Ordnung leben. Die Natur wirkt nicht so, dass sie immer andere, nie da gewesene Gestalten hervorbrächte. Zwar ist sie in einem steten Wandel begriffen; alle ihre Erscheinungen vergehen, aber sie werden ersetzt durch solche, die den untergegangenen gleichen. Pflanzen und Tiere sterben, und es entstehen neue von derselben Art, und Ähnliches trifft auch für die Sphäre des Unbelebten zu. Offensichtlich ist das Werdende keinem Zufallsprinzip unterworfen, sodass immer neue, phantastische Gebilde entstünden. Es folgt bestimmten Entwürfen. Und wenn man von der Annahme kleinster Bausteine der Materie ausgeht, stellt sich die Frage, nach welchen Prinzipien diese sich zusammenschließen. Woher also wissen die Atome, dass sie sich zu einem Stein, einem Baum oder zu einem Menschen vereinigen sollen? Es gibt offensichtlich ein Prinzip, das der unaufhörlichen Fluktuation entgegenwirkt, und das nennt Platon eine ‚Idee‘. ‚Idein‘, ‚Sehen‘ steckt darin, und eine Idee ist mehr als ein abstrakter Verstandesbegriff. Mit ihr ist auch immer das Aussehen, die Gestalt gemeint, und sie hat selbst etwas Anschauliches. Sie ist die Form, die das Wesen eines Dinges ausmacht. Platon verwendet diesen Terminus im Sinne von ‚Urbild‘, und er setzt zwei Sphären an, die der sinnlichen, der materiellen Dinge und die der Ideen, der immateriellen Formen. Die beiden Bereiche stehen im Verhältnis von Vorbild und Abbild zueinander. Und diese Unterscheidung prägt Platons Philosophie insgesamt, auch seine Naturlehre, die er im späten Dialog Timaios vorträgt. Allerdings redet er nicht von der Natur, sondern vom „Kosmos“, metaphorisch von „Uranos“ oder von „dem Gott“. 49 Werner Heisenberg, Das 1aturbild der heutigen Physik, Hamburg 1955, S. 18.
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Erst einmal umfasst die Natur die sinnlichen Erscheinungen. Die Gesteine, die Pflanzen, die Tiere und auch der Mensch in seiner leiblichen Existenz gehören zu einer Welt des Werdens. Die materiellkörperhaften Gestalten befinden sich in einem fortwährenden Wandel, sie entstehen und vergehen. Unermesslich sind sie in ihrer Anzahl und Vielfalt, jede von ihnen stellt etwas Besonderes dar und ist einmalig. Trotz der individuellen Eigenart einer jeden weisen sie doch wieder Gemeinsamkeiten auf. Sie schließen sich zusammen zu Gruppen mit gleichen Merkmalen, fallen also unter die allgemeinen Bestimmungen einer Gattung oder Art. Ein Baum ist zunächst ein Einzelgewächs. Er steht an einem bestimmten Platz, hat ein besonderes Aussehen und Eigenschaften, die nur an ihm zu finden sind. Zugleich weist er aber alle Merkmale des Baumseins auf; die teilt er mit den übrigen Bäumen. Es muss also so etwas geben wie ein Muster, nach dem alle Bäume gebildet sind und das in jedem einzelnen mehr oder weniger stark ausgeprägt ist. Zwar ist es in jeder singulären Erscheinung anwesend, geht aber darin nicht auf. Die Idee, um nun den Ausdruck Platons zu verwenden, steht über den individuellen Bildungen. In diesen hat sie sich nur materialisiert. Und weil sie dadurch den zufälligen Bedingungen individueller Existenz ausgesetzt ist, wird sie verfälscht und entstellt. Jedes Einzelwesen bringt demnach das es leitende Urbild nur unvollkommen zum Ausdruck. Es verkörpert die Idee auf die ihm eigene Weise, und diese Verkörperung hat nur ein befristetes Dasein; sie verschwindet mit dem Ende der Besonderung. So drückt jeder Mensch das Menschsein auf seine Art aus, als Dunkel- oder Hellhäutiger, als Mann oder Frau, als Schwacher oder Starker. Mit ihm wird jedoch diese Ausprägung, die einzig ist und unwiederholbar, aufhören zu existieren. Die Idee des Menschen aber, das Menschsein hat Bestand; sie erhält sich über den Tod des Individuums hinaus. Die Ideen sind unvergänglich, sie sind ewig. Sie sind die reinen Formen, die nicht hineingezogen sind in das unaufhörliche Fließen, das der Makel alles Stofflichen ist. An ihnen als dem unwandelbar Beständigen ist das Veränderliche ausgerichtet. Weil sie sich zwar der Materie mitteilen, in diese aber nicht eingehen, sind sie mit den Sinnen nicht wahrzunehmen, sind also nicht sichtbar oder hörbar. Sie erschließen sich allein dem intellektuellen Vermögen. Und Platon unterscheidet drei Stufen der Erkenntnis, denen entsprechende Seelenteile zugeordnet sind: die sinnliche, die empirische und die vernünftige. In der reinen Vernunfttätigkeit, in der ‚Noesis‘ gipfelt der Weg der Erkenntnis; sie strebt nach einem Erfassen der Ideen als der Grundlage alles Seien-
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den.50 Die sinnliche Wahrnehmung kann zu den Urbildern hinführen, sofern sie sich nicht im Einzelnen verliert, sondern an ihm das Typische sucht, das Modell, nach dem es gemacht ist. Ganz so, wie man nach dem Symposion durch den Anblick schöner Gegenstände und schöner Menschen schließlich an das Schöne selbst gerät, welches allen die Wohlgestalt verliehen hat, dessen man aber in der Konkretion nicht habhaft wird. Die Ideen sind jedoch keine bloßen empirischen Begriffe, sind also nicht durch Vergleich der sinnlichen Daten und durch Abstraktion davon gewonnen. Sie gehen vielmehr den sinnlichen Erscheinungen voraus, bringen diese erst ins Dasein. Und das Denken folgt nur den äußerlich vorgegebenen Strukturen. Was der Sache nach das erste ist, das ist für die Erkenntnis das letzte. Sie geht also den umgekehrten Weg, geht vom Bedingten, den materiellen Dingen, zum Bedingenden, den reinen Formen. Man darf die Ideen auch nicht verwechseln mit Kants Verstandeskategorien. Zwar liegen sie aller Erfahrung voraus, sie stellen aber kein Ordnungsgefüge dar, das allein in der Subjektivität gründete. Sie sind objektive Gegebenheiten, sie bilden einen intelligiblen, ideellen Kosmos, dem die sinnliche Welt des Werdens gegenübersteht. Die Ideen haben einen sehr unterschiedlichen begrifflichen Status; das betrifft den Grad der Allgemeinheit und den Bezug auf konkrete Gegenstände. Rein formal logisch sind solche wie die der ‚Gleichheit‘. Sie sind noch am ehesten zu vergleichen mit Kants transzendentalen Verstandeskategorien. Andere sind Abstrakta, die den Charakter von Normen haben. Zu ihnen gehört die Idee der ‚Gerechtigkeit‘. Insgesamt aber haben die Ideen eine ordnende und das heißt eine Form gebende und eine Zwecke setzende Funktion. Ein System der Ideen hat Platon nicht ausgearbeitet. Dass sie aber hierarchisch gegliedert sind, hat er deutlich gemacht. An oberster Stelle stehen die Prinzipien des ‚Wahren‘, ‚Guten‘ und ‚Schönen‘, auf die hin die anderen orientiert sind. Für die Natur im Sinne des Materiellen und des Werdens machen die Ideen die Bestimmungsgründe aus. Sie geben den sinnlichen Erscheinungen die Gestalt und die Ausrichtung, sie wirken als Form- und Zweckursachen und sind das, was die spätere antike Philosophie als ‚causa formalis‘ und als ‚causa finalis‘ bezeichnet.51 Um den Aufbau des Kosmos insgesamt zu erklären, bedient sich Platon teilweise einer mythologischen Darstellungsweise. Er führt einen Demiurgen ein, der die Welt geschaffen hat. Dieser ist jedoch kein freier Weltenschöpfer wie der Gott der Genesis, der das Universum aus 50 Seine Erkenntnislehre legt Platon im Höhlengleichnis dar; Politeia, 512a–518b; über die Seelenteile handelt er 435bff. 51 Das stellt Karen Gloy in ihrer Darstellung von Platons Naturphilosophie heraus; vgl. Das Verständnis der 1atur, München 1995/96, erster Bd., S. 92–94.
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dem Nichts hervorbringt. Eine Schöpfung aus dem Nichts, eine ‚creatio ex nihilo‘, ist dem griechischen Denken fremd. Platons Weltenbaumeister entwirft den Kosmos im Blick auf das Unvergängliche, auf die ewigen Urbilder oder Ideen.52 Was Platon als Ideen bezeichnet, ist in der Natur darin wiederzufinden, dass sie gegliedert ist, nach dergleichen wie Arten und Gattungen. Das gilt nicht nur für die belebte, sondern ebenso für die unbelebte Natur. Auch Mineralien beispielsweise zeigen typische Bildungen. Hier vor allem wird deutlich, dass die Ideen mehr sind als vom menschlichen Geist entwickelte Begriffe. Sie sind objektive, die Wirklichkeit gestaltende Kräfte. Obwohl sie nicht ins Sichtbare treten, haben sie doch das, was in ihrem Namen steckt, nämlich eine gewisse Bildhaftigkeit. Wie das aufzufassen ist, eröffnet sich am Beispiel einer biologischen Art. Darunter wird die Struktur, der Bauplan, das abstrakte Muster verstanden, das bei allen ihr zugehörigen Individuen wiederkehrt, obwohl es in keinem vollkommen ausgebildet ist. Es selbst zeigt sich nur dem geistigen Auge, dem, was bei den Platons Idealismus fortführenden Denkern ‚intellektuelle Anschauung‘ heißt. Obwohl Platon zwei Sphären unterscheidet, die sinnlich-materielle und die intelligibel-ideelle, ist der Kosmos doch ein einheitliches Ganzes. Ein Zusammenhang ist schon dadurch gegeben, dass die singulären Gestalten auf das Urbild verweisen. Sie können in unendlichen Variationen auftreten, sie bleiben aber immer gebunden an ihre Vorlage. Und eigentliche entsteht nichts Neues. Es gibt gewissermaßen einen Fundus an Formen, welche immer wieder, mehr oder weniger gut, reproduziert werden. Eine Weiterentwicklung, eine Evolution ist damit ausgeschlossen. Die Ideen sind die stets sich gleich bleibenden Urformen. Was wechselt, sind lediglich ihre Verkörperungen. Und weil sie Dauer haben, weil sie in der Flucht der Erscheinungen ihre Identität bewahren, sind sie für Platon das wahrhaft Seiende. Bei ihm kehrt sich die übliche Sichtweise also um. Nicht die Dinge in ihrer Materialität machen die Wirklichkeit aus; das Reale ist das, was unveränderlich beharrt, und das ist das Geistige, ist die Idee. Gleichwohl muss eine Instanz vorhanden sein, die die Einheit der beiden Bereiche garantiert. Und es ist die Seele, die diese Verbindung stiftet und erhält. Für die Griechen ist die Psyche das Prinzip des Lebens. Sie wirkt dahin, dass die Glieder eines Organismus aufeinander abgestimmt sind und so ein Ganzes bilden. Als ein alles umfassendes 53 ‚Lebewesen‘, Zoon steht im Urtext, begreift Platon das Universum. Und wie beim einzelnen Organismus, so werden auch beim Gesamtor52 Timaios, 29 a, b. 53 Ebd., 33 b.
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ganismus die Teile zu einer Einheit vermittelt durch das vitale Prinzip. Als Weltseele kann es „das Ganze durchdringen und auch noch von außen her den Körper umgeben.“54 Im Einzelwesen wirkt die Seele in der Weise, dass sie zur Form drängt. Sie ruft überhaupt erst etwas ins Dasein, dadurch, dass sie diffuse Materieteile zu einer Gestalt verbindet, dass sie dem Ungeformten eine Struktur verleiht. Das wiederum ist nicht anders zu denken als so, dass sie einer der Urformen, also einer Idee nachstrebt. Jede Gestaltwerdung kann sich nur als ‚Teilhabe‘ an der Idee vollziehen, ein Vorgang, den Platon unter dem Titel „Methexis“ erörtert.55 Etwas hält sich allein im Dasein, indem es das ihm vorgegebene Formprinzip ausfüllt. Eben das heißt Beseelung, darunter ist also nicht eine unzulässige Vermenschlichung der Natur zu verstehen, sondern ein Prozess der Formgebung. Es ergibt sich daraus eine Gesamtschau, nach der das Ganze das Einzelne trägt, und das Einzelne dem Ganzen zustrebt. Intendiert ist ein Verständnis dafür, wie sich die Natur zu einem einheitlichen Gefüge zusammenschließt. Die diese Theorie leitenden Begriffe sind Form, Leben, Seele. Gegenüber der analytischen Wissenschaft hat sich die Fragerichtung geradezu umgekehrt. Nicht darum geht, woraus etwas besteht, sondern darum, worauf es mit etwas hinauswill. Was das Ziel und der Zweck des Einzelnen und des Ganzen ist, das ist das Interesse, das diese Wissenschaft antreibt. Ein solches Unternehmen kann nur so vorgehen, dass es in das natürliche Geschehen nicht eingreift. Es muss sich darauf verlegen, zuzuschauen, wie die Dinge sich entfalten. Jede Art der Dekomposition würde ihren Absichten gerade entgegenstehen. Platons Timaios endet mit einem Lobpreis auf den Kosmos: Und so wollen wir nun sagen, dass unsere Untersuchung über das All nun schon ihr Ziel erreicht hat. Denn indem diese unsere Welt sterbliche und unsterbliche Lebewesen erhielt und derart mit ihnen erfüllt ward, ist sie ein sichtbares Lebewesen, das die sichtbaren Lebewesen umgibt, als Abbild des nur denkbaren Lebewesens, ein wahrnehmbarer Gott, der größte und beste, schönste und vollkommenste geworden – dieser unser einziger einzigartiger Himmel.56
Als Goethe den botanischen Garten in Padua besichtigte, verfestigte sich bei ihm der Gedanke, dass es dergleichen geben müsse wie eine „Urpflanze“. Darunter ist ein Gewächs zu verstehen, das archetypisch alle Züge der Pflanze in sich vereinigt. Er erhoffte sich davon, „dass man sich alle Pflanzengestalten vielleicht aus einer entwickeln könne. Hierdurch würde es allein möglich werden, Geschlechter und Arten 54 Ebd., 34 b. 55 Vgl. Phaidon, 100 c–e. 56 Timaios, 92 c.
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wahrhaft zu bestimmen, welches, wie mich dünkt, bisher sehr willkürlich geschieht.“57 Darin ist ein Vorwurf gegen einen damals führenden Naturwissenschaftler enthalten, gegen Linné. Diesem war es gelungen, Ordnung in die Natur zu bringen, dadurch, dass er eine Methode entwickelt hatte, mit welcher sich alle Erscheinungen, insbesondere die botanischen, bestimmen ließen. Er verfuhr dabei rein äußerlich, nahm also auf verwandtschaftlichen Beziehungen überhaupt keine Rücksicht. Er benutzte eine der Logik entliehene binäre Nomenklatur, die er gewissermaßen der Vegetation überstülpte. Als Bestimmungsgrund dienten ihm allein die Beschaffenheit der pflanzlichen Geschlechtsmerkmale, der Bau von Griffeln und Staubfäden sowie die Anzahl der Staubfäden, was letztlich auf eine simple Abzählerei hinausläuft.58 Immerhin hat sich dieses System der Benennung bewährt, so dass die Biologie daran festgehalten hat. Auch Goethe will zu einer Ordnung kommen, aber zu einer, die sich aus den natürlichen Gegebenheiten selbst ergibt. Die stellt sich ein, wenn man alle Pflanzen als Variation einer einzigen begreift und von daher die für eine Gruppe von Gewächsen charakteristischen Abweichungen und deren Verhältnis zu anderen Gruppen erkennt. Anfänglich glaubte Goethe wohl, dass eine solche exemplarische Gestalt tatsächlich, das heißt wahrnehmbar existiere. Im öffentlichen Garten von Palermo notiert er: „Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes fiel mir die alte Grille wieder ein, ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte.“ Dass es sie geben müsse, erscheint ihm völlig offenkundig, denn sie hat eine unentbehrliche Erkenntnisfunktion. „Woran“, fährt er fort, „würde ich sonst erkennen, dass dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären.“ Rückblickend sagt er, ihm habe „die sinnliche Form einer übersinnlichen Urpflanze“ vorgeschwebt. Diese paradoxale Ausdrucksweise ist nicht etwa eine Nachlässigkeit, sondern sie trifft genau Goethes Meinung. Zunächst aber hat er seine Auffassung revidiert. Dieses Muster ist später für ihn nur noch ein gedankliches Konstrukt. An Herder schreibt er, wieder aus Italien: Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben.
57 Italienische Reise, a.a.O., XI, S. 60. 58 Niedergelegt ist das in Linnés Systema 1aturae.
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Und schließlich spricht er aus, worum es sich dabei eigentlich handelt, um einen Typus oder, noch prägnanter, um eine Idee, um eine Idee durchaus im Sinne Platons, obwohl Goethe den Namen nicht erwähnt.59 Diese Betrachtungsweise dehnt er auf die ganze Natur aus; er redet nicht nur von einer „Urpflanze“, sondern auch von einem „Urtier“, von „Urphänomenen“ allgemein. Ein solches „Urphänomen“ ist ihm die Farbe, und Goethes Naturwissenschaft insgesamt, seine botanischen, morphologischen, geologischen, physiologischen, physikalischen und meteorologischen Untersuchungen verstehen sich als Suche nach den Urbildern, sind aus auf eine Erkenntnis der Ideen.60 Dass mit der Bestimmung der Urpflanze die Natur übertroffen werden soll, wie der Brief an Herder nahe legt, beruht nicht etwa auf Anmaßung; dazu hatte Goethe zu viel Ehrfurcht vor der Natur. Kenntlich gemacht wird damit, dass das Urphänomen über den einzelnen Erscheinungen steht. In der Realität kann es sich nicht rein verwirklichen, da unterliegt es Einschränkungen und Zwängen. Es selbst zeigt sich nur dem Geist. Dennoch ist es keine blutleere Abstraktion; es steht immer in Korrespondenz zum Sinnlichen. Goethes Urphänomene bilden auch kein intelligibles Reich, das für sich gesetzt wäre, ein Eindruck, der sich leicht bei Platon einstellt. Sie sind in jeder konkreten Gestalt anwesend. Man erfasst sie nicht dadurch, dass man sich von der wahrnehmbaren Realität abwendet, sondern gerade dadurch, dass man bei ihr verweilt. Die Operation, die zu ihrer Erkenntnis führt, könnte man geradezu als ein Hineinsehen bezeichnen. Durch intensive Versenkung in die besondere Erscheinung zeigen sich die Konturen der reinen Gestalt; diese zeichnen sich überhaupt erst ab auf der Folie des Wahrnehmungsbildes. Darauf sind die Verse gemünzt: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis.“61 Und die Ineinsbildung von Reellem und Ideellem hält der eben zitierte Ausdruck von der „sinnlichen Form einer übersinnlichen Urpflanze“ fest. Diese Zusammenhänge spiegeln sich wider in aphoristisch gehaltenen Reflexionen über das Verhältnis des Einzelfalles zum Generellen: „…deswegen denn auch das Besondere, das sich ereignet, immer als Bild und Gleichnis des Allgemeinsten auftritt.“ Und weiter: „Das Allgemeine und Besondere fallen zusammen; das Besondere ist das Allgemeine, unter verschiedenen Bedingungen erschei-
59 Die zitierten Stellen finden sich: XI, S. 266; XIII, S. 164; XI, S. 324; XIII, S. 63. Auch C.F. von Weizsäcker stellt die Verbindung zu Platon her; vgl. dessen Essay zu Goethes Naturwissenschaft, XIII, S. 545. 60 Wenigsten einen Eindruck von Goethes Forschungsarbeit vermittelt der Aufsatz Goethes naturwissenschaftliche Studien von Manfred Wenzel, in: G. Böhme/G. Schiemann (Hg.), Phänomenologie der Natur, Frankfurt/M. 1997, S. 44ff. 61 Faust II, 5. Akt.
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nend.“62 Was so erfasst werden soll, sind reelle Vorgänge. In ihnen manifestiert sich das Wirken der Natur; und dessen Grundzug ist, dass sich das Universelle zum Speziellen herabstimmt, dass das Urbild sich in der Besonderung materialisiert. Darin offenbart sich das Wesen der Natur, das nichts anderes ist als „Leben“.63 Wenn die Idee im Einzelnen gegenwärtig ist, dann hat sie teil am Wandel der Erscheinung. Sie ist demnach nicht statisch gedacht, vielmehr ist sie selbst hineingezogen in die Prozessualität der Natur, die sich als Leben auslegt. Die Vorstellung vom „Urphänomen“ wird deshalb ergänzt durch die der „Metamorphose“. Bestand hat danach das Ordnungsmuster, der Bauplan z.B. mit konstanten Lagebeziehungen der Glieder. Und dieses Schema wird nun mannigfaltig variiert. Goethe legt das dar an der Metamorphose der Pflanzen.64 Ihr Wachstum ist eine Folge unterschiedlicher Ausprägungen des Grundmusters ‚Blatt‘. Vom Keimblatt bis in die Blüten hinein lässt sich verfolgen, welche Modifikationen das Blattmuster in den verschiedenen Entwicklungsphasen erfährt. Der Gestaltenwandel selbst wird angetrieben durch eine Bewegungsgesetzlichkeit, die Goethe auf den Begriff „Polarität“ bringt. Allgemein gesprochen sind darunter zwei gegenläufige Bewegungen gefasst, die an jeder Formwerdung beteiligt sind. Einmal besteht die Tendenz der Ausdehnung und Ausweitung, dann die der ersten entgegengesetzte der Hemmung und Rückbindung. Um das wiederum an der Pflanze zu demonstrieren: Das Wachstum muss gebremst werden, damit überhaupt so etwas entstehen kann wie ein proportioniertes Gebilde. Die Gegensätzlichkeit findet sich auch darin wieder, dass das Werden der Pflanze eingespannt ist zwischen den Extremen der Dunkelheit und des Lichts, des Feuchten und des Trockenen, dass sie also zu ihrem Gedeihen Erde und Luft benötigt. „Polarität“ ist ein produktives Prinzip der Natur, und es ist überall in ihr wirksam, im Organischen und im Anorganischen. So kontrastieren und ergänzen sich der Plus- und der Minuspol beim Magnetismus, Licht und Dunkel bei der Farbwerdung, das Männliche und das Weibliche im Pflanzen- und Tierreich. Noch ein weiterer Zug ist in dem Gestalten-wandel angelegt, und das ist der der „Steigerung“. Die Intensivierung des Daseins und die Ausrichtung auf ein Ziel sind den natürlichen Entwicklungen inhärent, so wie bei der Pflanze alles zur Blüte drängt und die Farben ihre volle Leuchtkraft
62 Wilhelm Meisters Wanderjahre, VIII, S. 302f. 63 So ausdrücklich XIII, S. 35 u.ö. 64 Vgl das gleichnamige Gedicht und Goethes theoretische Ausführungen zu diesem Thema; I, S. 199ff; XIII, S. 64ff. Eine Auslegung des Gedichts gibt Gernot Böhme, in: Für eine ökologische 1aturästhetik, Frankfurt/M. 1989, S. 102ff. Die zentralen Begriffe von Goethes Naturlehre erläutert der schon zitierte Essay von Weizsäckers.
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entfalten wollen. Im Gedanken der „Steigerung“ erkennt man unschwer das Aristotelische Prinzip der Finalität oder Entelechie wieder. Dass Goethes Leitvorstellungen nicht nur ein dichterisch inspiriertes Gedankengebäude errichten, sondern auch zu konkreten Ergebnissen führen, zeigt die Entdeckung des ‚Os intermaxillare‘, des menschlichen Zwischenkieferknochens. Dabei handelt es sich um eine Knochennaht am Oberkiefer, die bei allen Tieren eine deutliche Ausprägung erfahren hat, beim Knochenbau des erwachsenen Menschen jedoch nahezu verschwunden ist. Nur an kindlichen Skeletten ist sie noch erkennbar. Goethe gelang der Nachweis, weil er daran festhielt, dass der Bauplan der Tiere, genauer: der Wirbeltiere, durch Abänderungen hindurch über konstante Merkmale verfügt, die sich folglich in einer Reihe verwandter Gestalten wiederfinden müssen. Er orientierte sich also an seinen Ordnungsbegriffen der ‚Idee‘ und der ‚Metamorphose‘. Gegen alle ideologischen Widerstände, die die Aufgabe der Sonderstellung des Menschen in der göttlichen Schöpfung betrafen, ordnete Goethe damit den Menschen ins Tierreich ein. Das bedeutete einen Schritt in Richtung Evolutionstheorie, wovon ihn freilich noch einiges trennte. Er hatte allerdings Pech damit, dass ein französischer Forscher ihm zuvorgekommen war, sodass er nicht das Verdienst der Erstentdeckung für sich reklamieren konnte. Die Voraussetzung, auf der Goethes Wissenschaft basiert, ist die, dass das Wesen in die Erscheinung tritt. Das Wahre liegt vor Augen, und es ist die Geduld und die Anstrengung des Sehens, die herausbringen, was es mit den Dingen auf sich hat. Goethes Untersuchungen sind Phänomenologie, nämlich Lehre von den Erscheinungen. Dass er sich ganz auf das Zeugnis der Sinne verlässt, demonstriert seine Farbenlehre, sein ambitioniertestes und aufwendigstes Forschungsunternehmen. Daran wird beides klar, die Berechtigung, aber auch die Grenzen seines Ansatzes. Die Farben entstünden durch die Brechung des Lichts, hatte 1ewton erklärt. Den experimentellen Nachweis erbrachte er dadurch, dass er durch ein Loch im Fensterladen einen dünnen Lichtstrahl in ein dunkles Zimmer leitete und diesen durch ein Glasspektrum schickte. Auf einem dahinter gestellten Schirm zeigte sich ein Farbmuster, das eben die Farben enthielt, die wir als Spektralfarben kennen, also rot, orange, gelb, grün, blau, violett. Farben waren demnach nichts anderes als Fraktionen des Lichts, und ihre Unterschiede ergaben sich aus der messbaren Größe des Brechungswinkels. Am kleinsten war der für das Rote, am größten der für das Violette. Goethe reagierte auf diese Theorie nicht nur mit Ablehnung, sondern sogar mit Empörung. Er hielt sie für eine geradezu skandalöse Simplifizierung dessen, was er immer aufs Neue als überaus reich, bezaubernd und das menschliche Gemüt
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einnehmend erlebte. 1ewtons experimentelle Beweisführung erkannte er nicht an, mit dem Argument, sie berücksichtige nur Belegmaterial, das in die abgehobene Doktrin passe.65 Dagegen führte er eine Fülle genau und sorgfältig beobachteter Fakten an. Darunter waren optische Effekte, die bis dahin weitgehend unbeachtet geblieben waren, wie die der farbigen Schatten, der Komplementärfarben und der enoptischen Farbfiguren.66 Es schien ihm am plausibelsten, wenn er die unerschöpfliche Vielfalt der Farben, ihre Nuancen, Mischungen und Intensitätsgrade auf das Zusammenspiel von Licht und Finsternis zurückführte. Aus den unterschiedlichen Möglichkeiten der Eintrübung ergäben sich die Farberscheinungen, wofür das Rot der durch eine abendliche Dunstschicht scheinenden Sonne oder das Blau ferner, verschleierter Berge einfache Beispiele sind. Als „Taten und Leiden des Lichts“ hat Goethe die Farben definiert, des Lichts im Streit mit der Finsternis, muss man hinzufügen.67 Hier kehren Goethes Grundbegriffe wieder: Farbigkeit ist ein „Urphänomen“, das seine „Metamorphosen“ erfährt in der „Polarität“ von Licht und Finsternis. Die viel beredete Frage, wessen Meinung die richtige sei, die 1ewtons oder die Goethes, muss so beschieden werden, dass beide recht und unrecht haben. Das ergibt sich zunächst aus einem einfachen Grund. Vom heutigen Standpunkt aus bewegten sich beide auf unterschiedlichen Gebieten. 1ewton beschäftigte sich mit physikalischer Optik, Goethe mit der Physiologie und der Psychologie des Sehens. 1ewton muss man entgegenhalten, dass Farben nicht nur eine physikalische Gegebenheit sind, sondern auch eine Leistung des menschlichen Wahrnehmungsapparates. Gegen Goethe ist vorzubringen, dass die Farben nicht nur das sind, als was sie sich dem menschlichen Auge zeigen, sondern auch eine Wirklichkeit unabhängig davon haben. Farben sind ein physikalisches und ein physiologisches Phänomen; und darüber hinaus haben sie Einfluss auf die Psyche. Es geht aber um mehr als um fächerbezogene Zuordnungen. Hier stoßen zwei entgegengesetzte Auffassungen aufeinander, die unter völlig anderen Voraussetzungen, mit unterschiedlichen Absichten und nicht mit dem gleichen methodischen Rüstzeug an die Natur herangehen. 1ewton hält sich an die gesicherte Ordnung des Experimentierens. Alle Schritte, die oben ausführlich dargestellt wurden, finden sich bei 65 Die zitierte Hamburger Ausgabe enthält Goethes Zur Farbenlehre nicht vollständig; sie dokumentiert und kommentiert aber deren Werdegang (Bd. XIII, XIV). Die Auseinandersetzung zwischen Newton und Goethe nimmt Rudolf Carnap auf; vgl. Einführung in die Philosophie der 1aturwissenschaft, München 1969, S. 114ff. 66 Genaueres auch bei John Neubauer, Der Schatten als Vermittler von Subjekt und Objekt, in: Böhme/Schiemann, a.a.O., S. 64ff. 67 XIII, S. 315.
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ihm wieder. Zur Erinnerung: Ein Vorgang wird isoliert; er läuft unter künstlichen Bedingungen ab; das Verfahren ist auf Messung angelegt; die Ergebnisse sind völlig unabhängig vom jeweiligen Experimentator. Für Goethe ist diese Vorgehensweise – und er meint damit nicht nur 1ewton, sondern die ganze Richtung, also die experimentelle Wissenschaft – eine Vergewaltigung und Verstümmelung der Wirklichkeit. Diese wird reduziert auf vereinzelte Fakten, auf mathematisierbare Restbestände. Darüber geht etwas Entscheidendes verloren, nämlich die sinnlichen Qualitäten der Dinge. Diese sind mehr als das, was sich in nackten Zahlen ausdrücken lässt. Selbstverständlich weiß das auch die rechnende Wissenschaft, aber für sie sind die sonstigen Eigenschaften, die charakteristische Form oder das anschaulich Gegebene beispielsweise, bloße Zusätze, die nicht zum objektiven Bestand der Gegenstände gehören. Sie sind bloß subjektiv, vom Menschen an die Realität herangetragen. Die philosophische Erkenntnislehre hat das aufgenommen in der Lehre von den ‚primären‘ und ‚sekundären Qualitäten‘. Erstere sind die Merkmale, die mit der Hilfe analytischer und messender Verfahren zu ermitteln sind, die zweiten sind der subjektiven Sichtweise zuzuschlagen. Damit aber werden rigoros der Mensch und die Dinge voneinander getrennt, Mensch und Welt werden einander fremd. Und das liegt in der Konsequenz des Cartesianischen Alternativprinzips, das für die neuzeitliche Wissenschaft maßgebend ist.68 Für Goethe dagegen bilden Mensch und Welt eine Einheit. Er will Einsicht gewinnen in die lebendigen Beziehungen zwischen den beiden. Und deswegen dürfen beide Seiten nicht reduziert werden, die Dinge nicht auf reine Zahlenverhältnisse, das Bewusstsein nicht auf den bloß registrierenden Intellekt. Die erzwungenen Umstände des Versuchs enthüllen nicht die wahren Verhältnisse. Sich in der freien Natur umzutun, die Dinge eben nicht herauszulösen aus ihrer angestammten Umgebung, sie im Zusammenhang zu sehen, sie zu sehen in der Fülle ihrer Eigenschaften und Bezüge, ist seine erste Forderung. Über seine „chromatischen Arbeiten“ sagt er, mit deutlicher Anspielung auf 1ewton, dass ihn dazu „die schönsten Erfahrungen in freier Welt aufregten, wie sie keine dunkle Kammer, kein Löchlein im Laden geben kann.“ Die zweite Forderung ist die, dass bei allen Forschungen der Bezug zum Menschen gewahrt sein müsse. Das, was die Wissenschaft will, unbeteiligte Neutralität und subjektunabhängige Sachbezogenheit macht Goethe ihr gerade zum Vorwurf. Er konstatiert: „Das größte Unheil der neueren Physik“ sei, „dass man die Experimente vom Menschen abgesondert hat“.69 68 Dieses wurde oben dargestellt. Sehr klar und eindringlich erklärt Theodor Litt Goethes Verhältnis zur experimentellen Wissenschaft und dessen eigenen Forschungsansatz; vgl. 1aturwissenschaft und Menschenbildung, Heidelberg/Wiesbaden 1959, S. 133ff. 69 Ebd., S. 614; XII, S. 458.
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Das ist jedoch nicht so zu verstehen, dass Goethe einen relativistischen Standpunkt vertritt, der die Möglichkeit allgemein gültiger Erkenntnisse bestreitet. Was die Dinge sind, enthüllt sich der Wahrnehmung des Menschen, des Menschen nicht als Individuum, sondern als Gattungswesen. Ein solcher Forschungsansatz ist subjektbezogen, aber deshalb nicht subjektiv. Wie es einen allen Menschen gemeinsamen Körperbau gibt, so verfügen auch alle Menschen über bestimmte Aufnahmeorgane für die Dinge. Beispielsweise sind die Farbempfindungen bei allen Menschen annähernd gleich. Goethes Erkenntnislehre fußt nun auf der Annahme eines Entsprechungsverhältnisses zwischen der äußeren Wirklichkeit und dem Wahrnehmungsapparat. Subjekt und Objekt, Inneres und Äußeres sind gewissermaßen füreinander bestimmt, die Sensibilität korrespondiert mit der Beschaffenheit der Gegenstände. Das bringt der Spruch der weltanschaulichen Gedichte, den Goethe in der Farbenlehre wieder aufnimmt, zum Ausdruck: „Wäre nicht das Auge sonnenhaft / wie könnten wir das Licht erblicken?“ Dieses Aufeinanderbezogensein erklärt sich Goethe naturgeschichtlich. „Aus gleichgültigen tierischen Hülfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde, und so bildet sich das Auge am Licht fürs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete.“70 Diese Überzeugung spricht sich auch darin aus, dass der Teil über die Geschichte der Farbenlehre die Autoren kritisiert, die außergewöhnliche Farbeindrücke als bloße Sinnestäuschung abtun wollen. Und kategorisch heißt es in einer Notiz: „Es ist eine Gotteslästerung zu sagen, dass es einen optischen Betrug gebe.“ Es hat also etwas zu sagen, dass der Mensch auf das Licht und die Farben anspricht, etwas über diese selbst, und das sind Qualitäten, die nur im Reflex des Auges offenkundig werden. Deswegen behandelt das Werk nicht das Licht und nicht das Auge, sondern die lebendige Beziehung beider.71 Folgerichtig setzt es mit „physiologischen“ Beobachtungen ein und kommt erst dann zu den „chemischen“ und „physikalischen“ Eigenschaften der Farben. Was Letzteres betrifft, so ist Goethe zweifellos Irrtümern erlegen. Seine Verdienste liegen aber auf dem Gebiet der Farbwahrnehmungen, auf dem der Physiologie also. Und da gelingen ihm richtungsweisende Einsichten. Vieles davon ist kaum gewürdigt worden, so die Entdeckung der farbigen Schatten. Nicht erst die Impressionisten haben die gesehen, sensationell neu war das also nicht. Allerdings wussten die modernen Maler nichts mehr von Goethes genauen Beschreibungen dieser Effekte. Vom heutigen Erkenntnisstand wird Goethe darin bestätigt, dass das Farbsehen von der Beschaffenheit 70 XIII, S. 323f. 71 XIII, S. 627 Anm. 1; vgl. XIII, 324f.
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des visuellen Wahrnehmungssystems abhängt. Um es einfach zu sagen: es ist das menschliche Auge, das die Welt einfärbt. Das hat zu tun mit zapfenförmigen Sinneszellen auf der Netzhaut und der Weiterverarbeitung eingehender neuronaler Reize im Gehirn. Ohne diese Ausstattung hätten wir keine Farbempfindungen, was Defekte wie die totale Farbenblindheit, die sogenannte Achromatopsie oder die Fälle partieller Farbenblindheit, Ausfall der Rotgrün- oder der Blaugelbunterscheidung, belegen. Andere Lebewesen mit einer anderen physiologischen Ausstattung sehen die Dinge anders als der Mensch. Unsere Haushunde zum Beispiel können nur Grautöne unterscheiden; ihre Welt ist eben nicht bunt. Goethe will also die Reaktionen des Subjekts auf die Spiele des Lichts untersuchen, und da ist es nur konsequent, dass er nicht allein die physiologischen, sondern auch die psychologischen berücksichtigt. Er fügt also ein Kapitel über die Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe hinzu. Das Gelbe etwa rufe „einen durchaus warmen behaglichen Eindruck“ hervor, während „das Blaue…uns ein Gefühl von Kälte“ gebe.72 Auch solche Betrachtungen sind später wieder aufgenommen, nicht nur von Wissenschaftlern, sondern auch von den Künstlern, von Kandinsky zum Beispiel. Wie schon im Teil über die Physiologischen Farben geht es auch hier nicht um individuelle Empfindungen, und es geht auch nicht um etwas Nebensächliches, sondern um etwas Wesentliches, nämlich darum, welche Bedeutung die Farberscheinungen für den Menschen haben. Wenn Goethe als eigentliches Medium der Erkenntnis die Wahrnehmung bezeichnet, so ist damit nicht einfach die Übermittlung von Sinnesdaten gemeint. Was andere Theorien auseinanderreißen, das stellt sich für ihn als ein einheitlicher Vollzug dar, in dem sich ein Sinneseindruck mit ähnlichen Erlebnissen verbindet, was schließlich zu einer geistigen Verarbeitung führt. Das Sehen ist schon ein geistiger Akt, vorausgesetzt, wir haben die Fähigkeit erlangt, richtig hinzugucken, aber dann gilt, „dass wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren“. Es entsteht das, was Goethe als wahre Annäherung an die Natur begreift und was er immer wieder als deren „lebendiges Anschauen“ herausstellt.73 Goethe ist einer Forschungsrichtung zuzuzählen, die auf der ‚Reinen Beobachtung‘ aufbaut.74 Anders als die experimentelle Wissenschaft will sie die Verhältnisse untersuchen, ohne Eingriffe vorzunehmen. Ihr Gegenstand ist demnach die ‚freie Natur‘, das heißt die, die 72 Ebd., S. 496; S. 498. 73 XIII, S. 317; vgl. z.B. XIII, S. 56. 74 Vgl. dazu W. v. Engelhardt, a.a.O., S. 17ff.
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nicht verändert oder manipuliert wurde. Diese Methode muss nicht nur als Gegenzug zum Experimentieren verstanden werden. Mitunter verhält es sich einfach so, dass mit den Untersuchungsgegenständen keine Versuche durchgeführt werden können. So im Fall der Astronomie, und Johannes Kepler verdankt seine Einsicht in die Regelmäßigkeit der Sternenbahnen der ‚Reinen Beobachtung‘. Wieder anders ist es da, wo es das erklärte Ziel ist, die Naturerscheinungen im Zusammenhang zu sehen. Die ausgreifenden Studien Alexander von Humboldts sind so angelegt. Mit ihnen soll die eigentümliche Beschaffenheit eines ganzen Landes, die Verbindung der geologischen Formationen mit der Vegetation und der Fauna erfasst werden. Beide Richtungen können also gut nebeneinander bestehen. Klar ist indessen, dass die Verschiedenartigkeit des Zugangs auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Und derselbe Gegenstand kann eine jeweils andere Beleuchtung erfahren. Die ‚Reine Beobachtung‘ hat eine lange Tradition. Ihrem Geist ist die Physik des Aristoteles verpflichtet. Sie will aufnehmen, wie sich etwas von sich her zeigt. Sie abstrahiert nicht von den vorgefundenen Bedingungen, sondern fertigt Beschreibungen von den konkreten Umständen an. Das Bestreben der ‚Reinen Beobachtung‘ ist demnach auf eine Deskription der tatsächlichen Verhältnisse gerichtet, und Aristoteles wäre es nicht eingefallen, die Dinge in künstlichen Arrangements zu erproben. Diese Vorgehensweise hat sich bis in die Gegenwart erhalten und neben der experimentellen gibt es eine deskriptive Wissenschaft. Die Geographie führt den Begriff der Beschreibung schon in ihrem Namen, und auch die Biologie hat sich bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein hauptsächlich als deskriptive Wissenschaft verstanden, vor allem die Botanik, und Linné ist dafür ein gutes Beispiel. Diese Einstellung findet bei Goethe eine besondere Ausprägung. Was er begründet, ist eine lebensweltlich orientierte Wissenschaft. Ihr ist nicht darum zu tun, was die Dinge an sich sind, vielmehr will sie herausfinden, welche Qualitäten sie für den Menschen haben. Und programmatisch zu verstehen ist der Satz: „Wir wissen von keiner Welt als in Bezug auf den Menschen.“75 Man kann diesen Gedanken auch so fassen, dass Goethe den Menschen als „Geschöpf der Natur“ begreift, und das heißt, sie hat ihn mit den Organen ausgestattet, die ihn dazu befähigen, sich in ihr zurechtzufinden, mehr noch, sie zu erkennen. „Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, / Nachzudenken…,“ wie es in der Metamorphose der Tiere heißt. In der Wahrnehmung verfügt der Mensch über das geeignete Instrumentarium, durch das sich ihm die Dinge zu erkennen geben. Das ist gemeint, wenn Goethe davon redet, dass „der Mensch an sich selbst, insofern er 75 XII, S. 467.
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sich seiner gesunden Sinne bedient, … der größte und genaueste physikalische Apparat ist.“76 Fast schon verstiegen hört sich an, was er über „Mikroskope und Fernröhre“ schreibt: Diese „verwirren eigentlich den reinen Menschensinn.“77 In seiner Konzeption ist das aber durchaus folgerichtig. Der Blick durch das Glas hat einen Effekt der Verfremdung. Er präsentiert nur einen Ausschnitt, er löst einen Gegenstand auf und zeigt ihn nicht in seinen natürlichen Proportionen. Dadurch aber wird die Einsicht in das verwehrt, was er ist. Er steht nämlich nicht für sich, sondern ist eingefügt in eine Ordnung, in die der Idee. Er ist Repräsentant eines allgemeinen Formprinzips; in ihm ist die Idee in die Erscheinung getreten, und sich dafür empfänglich zu halten, ist Aufgabe der Wahrnehmung. Und wie sich das Muster in der singulären Gestalt konkretisiert, so geht umgekehrt die Wahrnehmung von der einzelnen Perzeption weiter zur Schau des Vorbildes. Nur dem unverstellten Blick eröffnet sich dieser Zusammenhang. Anders als es sich der experimentellen Forschung darstellt, ist die Natur für das menschliche Auge keine bloße Faktenverschränkung. Als Verkörperung von Ideen haben die Dinge einen geistigen Gehalt. Deshalb sprechen sie den Menschen an, sie wecken in ihm Gefühle, und sie wenden sich an seinen Verstand. Eben darin sind sie auf ihn bezogen. In ihnen kommt etwas zum Ausdruck, sie haben eine Bedeutung. Die Seite, nach der die Natur Expression ist, bleibt der analytischen Wissenschaft verborgen. Mit ihren Mitteln kann sie diese auch nicht offen legen. Daran ist nichts verkehrt, solange man nicht die so gewonnenen Ergebnisse als die Wahrheit schlechthin ausgibt. Goethes Naturerkundung ist keine messende, sondern eine schauende Wissenschaft, als eine „scientia intuitiva“ hat er sie einmal bezeichnet.78 Für diese Betrachtungsweise haben die Naturgegenstände einen Zeichencharakter. Sie verweisen auf das Wesen, und wenn die Erscheinung eines geistigen Gehalts in einem, singulärem sinnlichem Gebilde ein Symbol zu nennen ist, so hat die Natur symbolische Züge. Und wenn es ferner die Eigentümlichkeit der künstlerischen Weltsicht ist, in der einzelnen Begebenheit, in dem einzelnen Gegenstand das Bedeutungsvolle zu erkennen, so ist die kontemplative Behandlung der Natur der künstlerischen verwandt. Wer auf diese Weise sich ihr nähert, „der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.“79 Die Übereinstimmung zwischen Natur und Kunst geht aber noch weiter. Die Natur ist selbst eine Künstlerin, sie ist eine Bildnerin 76 Ebd., S. 458. 77 VIII, S. 293. 78 So in einem Brief an Jacobi; vgl. H.A. Korff, Geist der Goethezeit, 10., unveränderte Aufl., Darmstadt 1977, II, S. 31. 79 XII, S. 467.
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und Schöpferin.80 Und so kann Goethe schreiben, dass „die höchste und einzige Operation der Natur und der Kunst die Gestaltung sei, und in der Gestalt die Spezifikation, damit jedes ein Besonderes, Bedeutendes werde, sei und bleibe.“ Wenn im Physischen schon die Formen angelegt sind, so kann die Kunst sich darauf beziehen, sie bildet diese nach und lässt sie in ihrem Medium neu erstehen. Auf diese Weise eignet sie sich das Unbekannte an. Daraus ergibt sich eine neuerliche Begründung für den Aristotelischen Gedanken der Mimesis. Aber die Kunst leistet noch mehr. Sie ist Darstellung, sie präsentiert einen Gegenstand. Und dieser ist selbst im Werk anwesend und wird darin vergegenwärtigt. Wenn man eine Landschaft nimmt, so kann die Wissenschaft sie in ihren Fachausdrücken beschreiben, was meistens auf eine nüchterne Bestandsaufnahme hinausläuft. Die Dichtung aber rückt diese ins Bild, von ihr ist etwas eingegangen in den Text, von den ihr eigentümlichen Farben, von den Rhythmen ihrer Linien, von ihren Stimmungen, von dem Eindruck, den sie auf das menschliche Gemüt macht. Das Gespür für Formen ist nicht etwa eine Besonderheit der ästhetischen Betrachtungsweise. Der Grundgedanke Platons, den Goethe produktiv aufnimmt, der, dass die Natur nach Mustern geordnet sei, findet sich in der neueren Biologie wieder. Sie sieht darin die Basis allen Lebens. Sich in der Welt zu orientieren heißt, Muster zu erkennen. Das gilt für alle Lebewesen, nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Tiere. Damit diese überhaupt existieren können, ist es notwendig, dass sie auf die Gegebenheiten ihres Umfeldes angemessen reagieren. Die Voraussetzung dafür ist, dass sie die Fähigkeit besitzen, das, was ihnen begegnet, zu taxieren, danach, welche Relevanz es für ihr Dasein hat. Nahrung, Feinde, Kumpanen, Sexualpartner müssen nach ihren Erkennungsmarken identifiziert werden, und dazu verfügen sie über die entsprechenden Sensoren. Wissen ist deshalb ein essentieller Zug des Lebens. Dieses sei „mit einer konstitutiven Seite seines Wesens ein Erkenntnisvorgang“, sagt Konrad Lorenz. Kürzer formuliert es der Neurobiologe Umberto Maturana: „Leben ist Erkennen.“81 Worauf die Aufnahmeorgane ansprechen, sind Vorgänge oder Gegenstände, die eine prägnante Gestalt aufweisen: auffällige Farben, geometrische Formen, rhythmisierte Lautgebungen. Tiere bringen es dabei zu erstaunlichen Abstraktionsleistungen. Auch die Reduktion einer natürlichen Erscheinung auf ein bloßes Schema löst einen Effekt des Wiedererkennens aus. Besonders auffällig ist diese Leistung bei der 80 Diesen Aspekt des Naturbegriffs, den Goethe mit Herder und anderen Vertretern seiner Zeit teilt, hebt Korff hauptsächlich hervor; vgl. a.a.O., S. 14ff. Goethe selbst macht das vor allem im Fragment Die 1atur deutlich. Das nächste Zitat bei Litt, a.a.O., S. 152. 81 Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, München 1977, S. 216; Maturana/Varela, Der Baum der Erkenntnis, Bern-München-Wien 1987, S. 191.
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Kommunikation zwischen Artgenossen. Es sind die Ausdrucksgebärden, durch die sich Tiere verständigen, und nicht nur sie, auch der Mensch verfügt neben der Verbalsprache über dieses naturgeschichtlich alte System des Austausches. Eine beliebige Verrichtung kann zum Zeichen werden, dadurch, dass sie stilisiert und betont wird, ein Vorgang, den die Verhaltensbiologie als „Ritualisation“82 bezeichnet. Ein einfaches Beispiel wäre die Geste des Heranwinkens. Worauf die Symbolhandlungen, so nennt sie Lorenz, hinweisen ist, dass Expressivität ein fundamentales Prinzip der Natur ist. Der Leib ist nicht von der Art der Dinge. Er ist zudem kein bloßes Instrument, zum Schlagen, zum Greifen oder zur Nahrungsaufnahme. Er ist immer auch ein Mittel des Ausdrucks, in Stellung und Haltung, in Gestik und Mimik. Und was für die belebten Körper gilt, das gilt auch für die unbelebten. Diese sind mehr als nur Ausgedehntes. In einer lebensweltlichen Sicht haben die Steine und das Wasser, die Berge und die Wolken eine Physiognomie, sie haben eine Bedeutung für die Lebewesen. Und deshalb spricht Goethe von einer „Sprache der Natur“. Diese zu verstehen, hat zunächst eine lebensdienliche Funktion. Für den Menschen, der in der Natur lebt, ist es eine Existenzfrage, ob er ihre Zeichen deuten kann. Der Bauer oder der Fischer muss danach sein Handeln ausrichten. Erst in zweiter Linie ist das ein Gegenstand der Theorie. Der Unterschied zwischen einer wissenschaftlich objektivierenden und einer lebensweltlichen Erfassung lässt sich an einem einfachen Beispiel erläutern. Die chemische Bestimmung von Wasser ist H2O. In dieser Formel ist nichts über die Beziehung zu einem Subjekt enthalten; über die Bedeutung des Wassers wird nichts ausgesagt. Dass es lebensspendend und lebenserhaltend ist, dass es den Durst stillt, dass es reinigend wirkt, dass es das Ungeformte, Fließende ist, alles das, woran bei den Riten der Taufe, der Wiedergeburt und der Quellenverehrung gedacht wird, eröffnet sich nur in einem lebensweltlichen Zusammenhang. Das Lebewesen ist nicht isoliert, es ist schon immer eingebunden in eine ‚Umwelt‘. Diesem Begriff hat der Biologe Jakob von Uexküll einen prägnanten Sinn gegeben.83 Damit ist nicht einfach nur ein Bereich gemeint, in dem ein Organismus das findet, was er für Daseinsfristung braucht, also Nahrung, Schutz und dergleichen. Die Umwelt ist keine objektive Gegebenheit, etwas, das sich unabhängig von der Aufnahmefähigkeit eines Lebewesens beschreiben ließe. Sie ist abhängig von den Rezeptororganen, also von den Leistungen der Sinnessysteme und beschränkt sich auf das, was diese aufschließen. Anderes, was gleichwohl 82 S. dazu K. Lorenz, Stammes- und Kulturgeschichtliche Ritenbildung, in: Das Wirkungsgefüge der 1atur, München 1983, S. 153ff. 83 Das bezieht sich auf Jakob von Uexküll / Georg Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Frankfurt/M. 1983.
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vorhanden ist, wird ausgeblendet, oder richtiger: ist für dieses Lebewesen gar nicht existent. Die Umwelt ist demnach immer nur ein Ausschnitt aus der vollen Wirklichkeit. Und je nach der Organausstattung der Arten gibt es die unterschiedlichsten Umwelten, die des Hundes, die der Biene oder die der Amsel. Die Umwelt kann überaus reich, sie kann aber auch auf wenige Merkmale zusammengeschrumpft sein. So hat die Welt der Zecke keine Töne, Farben und Formen und keinen Geschmack, sie besteht fast ausschließlich aus wenigen Geruchs- und Tastempfindungen, während anderer Tiere in einer Fülle von Tönen, Gerüchen und Bildern leben. Der ganze Körperbau eines Tieres ist nun auf das Segment berechnet, in dem es lebt. Das ist der Ausschnitt der realen Welt, den es wahrnehmend und handelnd, sensorisch und motorisch bewältigt. Zwischen ihm und den äußeren Bedingungen besteht demnach ein Entsprechungsverhältnis; es ist in seinen natürlichen Lebensraum eingepasst. Der Organismus und seine Umwelt bilden eine Einheit, sie sind ein „höherer Organismus“, wie Uexküll sagt. Wie die Tiere, so hat auch der Mensch seinen spezifischen Bereich, einen Bereich, der abgesteckt ist durch die Leistungen seiner Sinne. Auch er lebt in einer ‚Wahrnehmungswelt‘ oder in einem besonderen ‚kognitiven Bereich‘. Die Sinne einschließlich der cerebralen Verarbeitung haben eine selektive und konstruktive Funktion; sie bauen die Welt des Menschen auf, sind also nicht bloß passiv hinnehmend, sondern sie sind selbst aktiv. Was sie eröffnen, ist der Teil der Wirklichkeit, für den der Mensch bestimmt ist; auf ihn ist er in seinen seelischen und körperlichen Reaktionen eingestellt. Zwischen den äußeren Gegebenheiten und den menschlichen Anlagen, zwischen Welt und Mensch besteht eine Einheit, und das ist die Welt von der Goethe redet, die Welt für deren Formen und Farben, für deren Klänge und Rhythmen, für deren Gerüche und Geschmacksempfindungen der Mensch empfänglich ist. Die neuere Biologie erklärt diese Einheit damit, dass der Mensch sich in seiner stammesgeschichtlichen Entwicklung an bestimmte Bedingungen angepasst habe, sie sei also ein Ergebnis der Evolution. Als einen „Mesokosmos“, als einen Bereich mittlerer Reichweiten beschreibt die evolutionäre Erkenntnistheorie das spezifisch menschliche Umfeld. So ist das Hören beschränkt auf einen bestimmten Frequenzbereich; Töne, die höher oder tiefer liegen, werden nicht wahrgenommen. Und physikalisch ist das für uns sichtbare Licht nur einer kleiner Ausschnitt aus dem elektromagnetischen Spektrum.84 Das Wissen um die Beschränktheit seiner Wahrnehmungswelt verweist aber schon drauf, dass der Mensch über sie hinauskommen kann. Das 84 Näheres dazu bei Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 3. Aufl., Stuttgart 1983; über die auch in Bezug auf Goethe interessante Frage nach dem Farbsehen vgl. das Kapitel Wahrnehmungsstrukturen S. 45ff.
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gelingt ihm durch die Technik. Fernrohre und Mikroskope, spezifische Messinstrumente und Sensoren ermöglichen den Zugang zu Welten, die ihm sonst verschlossen blieben. Da der Mensch nicht auf ein Milieu festgelegt ist, hat er statt einer ‚Umwelt‘ die ‚Welt‘, so drückt diesen Sachverhalt die moderne Anthropologie aus.85 Die Biologie des 20. Jahrhunderts hat Aspekte der Natur wiederentdeckt, die seit Goethe nahezu vergessen waren oder wenigstens nicht als Gegenstand seriöser Forschung galten. Was beide vor allem verbindet, ist der subjektbezogene Ansatz. Trotz aller Gemeinsamkeiten gibt es doch wesentliche Unterschiede. Für Goethe und seine Zeitgenossen ist die Natur eine in sich beständige Ordnung. Ihre Abläufe werden bestimmt durch unwandelbare, eherne Gesetze und Gestaltungsprinzipien. Und in der Natur gibt es keine Fortentwicklung. Auch die Arten und Klassen des Organischen haben sich nicht im Laufe der Zeit herausgebildet, sondern bestehen seit der Entstehung der Welt und sind Teile der göttlichen Schöpfung. Platonisch formuliert: es gibt die ewigen, unverrückbaren Ideen, und von diesen sind die konkreten Erscheinungen nur Abdrücke. Das unaufhörliche Werden in der Natur beruht lediglich auf Wiederholungen. Darauf bezieht sich der Satz aus dem Fragment Die 1atur: „Alles ist neu und doch immer das Alte.“86 Zwar hatte man erkannt, dass im Bereich der Tiere und Pflanzen Veränderungen vonstatten gegangen waren, aber diese erklärte man als bloße Variation von Urtypen. Der Gedanke an eine Naturgeschichte, in der sich die komplexen Formen des Lebens aus primitiven entwickelt hätten, konnte sich noch nicht durchsetzen. Erst Darwins Evolutionstheorie sorgte dafür, dass die Zeit als ein entscheidender Faktor in das wissenschaftliche Kalkül aufgenommen wurde.87 Goethe jedenfalls konnte seine Forschungen in der Überzeugung betreiben, dass diese an den wesentlichen, unverbrüchlichen Bestand der Welt heranreichten, an die Strukturen der kosmischen Ordnung, in die der Mensch eingefügt ist und für die seine Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit geschaffen wurde. Die Kunst wendet sich der Seite der Natur zu, nach der sie Ausdruck ist; ein weiterer Aspekt muss also hinzugefügt werden, der einer ‚expressiven Natur‘. Und wie es eine instrumentelle Vernunft gibt, so gibt es auch eine expressive. Das instrumentelle Denken lässt die Dinge nicht, wie sie sind. Es benutzt sie für beliebige Zwecken. Sein Verfahren ist eines der Dekomposition und der Rekombination. Es entdeckt im Vorgefundenen Möglichkeiten, die dessen ursprünglicher Verfassung 85 Das geht zurück auf Max Schelers Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos. 86 XIII, S. 45. 87 Vgl. dazu Stephen Toulmin/June Goodfield, Die Entdeckung der Zeit, Frankfurt/M. 1985, insbesondere S. 201ff.
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nicht zu entnehmen sind und löst es auf, um es neu zusammenzusetzen. Ihm ist der ragende Fels nicht das Majestätische oder Bedrohliche, sondern dieser wird zum Untersuchungsgegenstand oder zum Material, das sich zum Bauen verwenden lässt. Sachlich, experimentell, analytisch, berechnend sind Attribute, die diesen Denktypus charakterisieren, und diese Eigenschaften sind eingegangen in den technisch-wissenschaftlichen Komplex. Die instrumentelle Vernunft löst sich von den Bindungen ans Vorgefundene und schafft sich eine eigene Welt. Man braucht sie nicht gleich als gewalttätig zu denunzieren, sie ist eine genuin menschliche Möglichkeit. Die expressive Vernunft dagegen sieht im Gegenüber einen Selbstwert, den sie andenkend umkreist und dem sie sich in der Abbildung zu nähern trachtet. Ihr ist der Gegenstand nicht Mittel, und sie verbraucht und zerstört ihn nicht. Sie sieht in ihm eine sinnhafte Gestalt. Den Dingen sucht sie eine Bedeutung abzugewinnen, fragt also danach, was sie zu sagen haben. Dieser Denktypus ist kontemplativ und deskriptiv, form- und umweltbezogen. Nun bleibt die künstlerische Auseinandersetzung mit der Natur nicht unberührt von den gesellschaftlichen und zivilisatorischen Entwicklungen. Schon zu Goethes Lebzeiten deuteten sich völlig neue Möglichkeiten an. 1783 hatten sich die ersten Menschen in die Luft erhoben. Das gelang den Brüdern Montgolfier in einer nach ihnen benannten ‚Montgolfiere‘, einem Heißluftballon. Diese Tat fand bald Nacheiferer. Einer dieser Flugpioniere, Francois Blanchard, führte seine effektvoll inszenierten Aufstiege auch in Deutschland durch, und Jean Paul inspirierten sie zu seiner Erzählung Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch. Darin werden Erfahrungen antizipiert, die erst die Flieger und Flugreisenden des 20. Jahrhunderts machen konnten. Der Aeronaut genießt über der Erde nicht nur eine nie gekannte Freiheit, die Höhe und die Geschwindigkeit bewirken auch, dass sich die bis dahin gültigen Koordinaten von Raum und Zeit verschieben. Das Fliegen verschafft nahezu die Gabe der Omnipräsenz, da die Entfernungen zusammenschrumpfen. Und was vormals als getrennt erschien, das verschmilzt zu einer Einheit. Da „wachsen hundert Berge zu einer Riesenschlange zusammen“. Es ist dies ein Effekt der Nivellierung; unterschiedslos werden Häuser, Wälder, Tiere und Menschen durcheinander geworfen. Giannozzo ist nicht nur selig im „hohen Blau“, er fühlt sich auch „einsam“ und „leer“, denn er hat die vertraute Welt verlassen.88 Was das bedeutet, hat Adalbert Stifter sich vorzustellen versucht. In der Erzählung Der Condor machen die Ballonfahrer, die bis in den „höchsten Äther“ emporschweben, die Erfahrung, dass das „wohnliche 88 Die Erzählung findet sich im Komischen Anhang zum Titan; Zitate a.a.O., 3. Bd., S. 927, 1007.
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Vaterhaus der Erde“ ihnen entgleitet und die „schöne blaue Glocke des Himmels“ sich in einen „schwarzen Abgrund“ verwandelt.89 Ihnen schwinden förmlich die Sinne, sie werden orientierungslos, weil ihre natürlichen Ortungssysteme versagen. Sie haben für diese fremde Welt keine Sensorien. Um sich überhaupt zurechtzufinden, können sie sich nur an die Anzeigen ihrer Instrumente halten. Zwischen den Menschen und die Welt schiebt sich das technische Gerät, und das mit zunehmender Tendenz. Daraus ergeben sich völlig neue Sichtweisen. Die Natur zeigt Seiten und Eigenschaften, die man vorher nicht wahrgenommen hatte. Entscheidenden Anteil daran hat die die Geschwindigkeit produzierende Maschine. Der Blick aus dem Zugfenster eröffnet sensationelle, ungewohnte Perspektiven. Fontane nimmt sie auf in seine Landschaftsschilderungen. Auf diese Bedingungen muss sich die Wahrnehmung einstellen, und es entstehen gänzlich veränderte Sehgewohnheiten. Auch der fotografische Apparat erschließt Teile der Wirklichkeit, die bis dahin verborgen blieben. Eingegangen ist die Sicht der Kamera in Arno Schmidts Naturdarstellungen. Das Verweilen vor der Natur, die meditative Versenkung und die Wesensschau der klassisch-romantischen Epoche werden teilweise abgelöst durch das Vorübergleiten flüchtiger Anblicke. Überhaupt ist es die Hektik und die Dynamisierung des Lebens, welche die moderne städtische Zivilisation hervorbringt, die zunehmend das Verhältnis zur Natur bestimmen.90 Auch noch in anderer Weise macht sich das Vordringen des naturwissenschaftlich-technischen Denkens bemerkbar. Mit der Überzeugung, es sei die analytisch-experimentelle Forschung, die eigentlich die Natur erfasse, wird die künstlerische Darstellung gewissermaßen privatisiert. Ihr wird die Fähigkeit abgesprochen, allgemein Gültiges vorzubringen. Sie nimmt den Charakter bloßer Gefühlsäußerungen einzelner Naturliebhaber an. Dabei gerät die Literatur teilweise selbst in den Bann wissenschaftlicher Erklärungsmodelle. Die Vorstellung, alle Vorgänge seien festgelegt durch einen unaufhebbaren, lückenlosen Kausalnexus, führt geradewegs zu einer fatalistischen Weltanschauung. Sie findet sich bei Georg Büchner, aber auch bei Stifter. Nicht nur die physischen Erscheinungen, sondern auch der Mensch unterliegen den allgemeinen Naturgesetzen. Noch auf einen Zusammenhang muss wenigstens hingewiesen werden. Platons Vorstellung, der Kosmos sei der sichtbare Gott, wurde schon zitiert. Und während für die Antike das Göttliche und das Natürliche keinen Gegensatz darstellen, ist im christlichen Denken das Ver89 Werke, Frankfurt/M. 1978, Bd. 1, S. 16f. 90 Näheres darüber in den Kapiteln über Theodor Fontane und Arno Schmidt.
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hältnis beider problematisch. Zwar ist die Welt die Schöpfung Gottes, und er hat sie nach seinem Willen eingerichtet, aber er geht in sie nicht ein. Er steht über ihr, so wie ein Handwerker mehr ist als sein Produkt und mit ihm nicht verschmilzt. Es kommt nun darauf an, wie diese Beziehung ausgelegt wird. Der Protestantismus vollzieht eine radikale Trennung. Gott ist der Jenseitige und kann in der Natur nicht aufgefunden werden. Der Pfarrerssohn Jean Paul bezieht sich ausdrücklich auf diese Tradition. Sein Preis der Natur enthält immer den Hinweis, dass man sie transzendieren müsse, um sich Gott anzunähern. Anders steht es im Fall des gläubigen Katholiken Stifter. Seine Naturverehrung weiß sich im Einklang mit seiner Kirche. Diese kennt eine ‚Theologia naturalis‘, in der die mittelalterliche Lehre von der ‚Analogia entis‘ fortlebt. Zwar übertrifft das göttliche alles irdische Sein, aber beide weisen doch wieder Ähnlichkeiten auf, und die natürliche Ordnung führt hin zu ihrem Schöpfer. Als Zusammenfassung kann festgehalten werden, dass der Begriff Natur eine Reihe von Aspekten enthält, die sich verbinden mit bestimmten menschlichen Bestrebungen. Zu unterscheiden sind: die genötigte und bezwungene Natur des Wissenschaftlers und Technikers, die kultivierte und gepflegte Natur des Bauern und Gärtners, die expressive und beredte Natur des Malers und Dichters; schließlich gibt es eine freie und unberührte Natur, die sich jenseits menschlicher Zielsetzungen entfaltet. Zwei große Linien des Denkens über die Natur lassen sich ausmachen, und die aufgeführten Hinsichten können ihnen zugeordnet werden. Die erste ist mit dem Namen Demokrits, Galileis und Descartes’ verknüpft. Sie zergliedert die Wirklichkeit, sie analysiert, experimentiert und stellt Berechnungen an. Die zweite Linie markieren die Namen Platon, Aristoteles und Goethe. Sie sieht die Dinge im Zusammenhang, setzt auf die Anschauung und sucht die Formen der Natur zu erfassen. Die eine ist atomistisch und mechanistisch ausgerichtet, die andere organismisch und vitalistisch. Das trifft sich mit einer Unterscheidung, auf die schon in der ‚Einführung‘ verwiesen wurde, mit der Ruskins zwischen einer ‚Wissenschaft von den Fakten‘ und einer ‚Wissenschaft von den Erscheinungen‘. Die Kunst hat es mit den Erscheinungen zu tun, sie richtet sich darauf, wie sich die Natur den Sinnen präsentiert. Aber auf welche Weise sie das tut, darüber wurde noch nichts gesagt. Wenn also in diesem Kapitel gefragt wurde, welchen Aspekt der physischen Welt die Kunst zu erfassen sucht, so muss nun untersucht werden, welche Mittel sie dazu einsetzt. Dabei hat die Malerei offensichtlich ganz andere Möglichkeiten als die Literatur, wenngleich auch wieder Gemeinsamkeiten zwischen den beiden bestehen, was schon daraus hervorgeht, dass von der Naturbeschreibung erwartet wird, dass auch sie ‚bildhaft‘ sei, wobei
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fraglich ist, ob von ‚Bildern‘ in der Literatur überhaupt geredet werden kann. Nur der Vergleich der Künste führt zu einer Einsicht in deren Eigenheit und damit auch dazu, was jede zu leisten imstande ist.
3. Die Bilder und die Worte oder die Kunst der Beschreibung Darüber, was die Birken tun, ist Kurt Tucholsky ins Sinnieren geraten. Dass die Birkenblätter „sirren, flirren oder flimmern“, scheint ihm nicht treffend zu sein. Auch dass sie „schauern“, verwirft er. „Ähnlicher“ kommt ihm Liliencrons Ausdruck vor, der vom „Zischellaub“ einer Birke redet. Zu bemängeln daran sei jedoch, dass nur ein Höreindruck wiedergeben werde. Wie aber müsste es heißen, „wenn man nun weitab steht und es nicht hören kann?“1 Tucholskys Feuilleton enthält einige Hinweise auf die Schwierigkeiten der Naturbeschreibung. „Ähnlich“ soll sie sein, und diese Forderung bewegt sich in einem bestimmten ästhetischen Vorstellungskreis, in dem einer Nachahmung der Natur. Es gilt also, den passenden Ausdruck zu finden, gewiss. Aber das bleibt viel zu allgemein. Näher betrachtet, fragt sich, wie ein Naturphänomen überhaupt gegeben ist, das heißt, welchem der Sinne es präsent ist, dem Auge oder dem Ohr; oder vielleicht, so könnte man Tucholsky ergänzen, dem Geruch, dem Geschmack oder dem Tastsinn. Und dann ist die Frage, ob es sich um einen festen Gegenstand oder um einen Vorgang handelt. Eine Bewegung will Tucholsky erfassen. Etwas Dinghaftes abzubilden, verlangt offensichtlich andere Mittel. Die Beschreibung bekommt es demnach mit der bewegten und der unbewegten Natur zu tun, mit Regen und Wind, mit den Jahreszeiten, mit Bäumen, mit Gebirgsformationen und den bleibenden Charakterzügen einer Landschaft. Das Naturerlebnis ist nicht aufs Visuelle beschränkt. Mitunter sind es gerade die Töne oder die Gerüche, die typisch sind für eine Umgebung. Die Sprache nun bringt Eindrücke aus allen Sinnesbezirken zur Darstellung. Sie ist so gesehen ein universales Medium, darin anderen medialen Formen überlegen, die sich damit begnügen müssen, nur das wiederzugeben, was ausschließlich einem Sinn gegeben ist. Die Farben beispielsweise sprechen allein das Sehen an. Die Literatur macht sich bei der Naturdarstellung die Vielseitigkeit und Plastizität ihres Mediums zunutze, in der Weise, dass sie Sichtbares und Hörbares ineinander komponiert, bisweilen werden auch Gerüche aufgenommen, seltener schon sind geschmackliche oder fühlbare Elemente. Es ist das Empfin1
Kurt Tucholsky, Was tun die Birken?, Gesammelte Werke, Reinbek b. Hamburg 1975, Bd. 7, S. 232.
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den der Hitze, der Anblick weiter, sommerlicher Felder, der Duft des Heus, und es sind die Stimmen der Vögel, die sich bei Johannes Bobrowski zum Erlebnis einer Landschaft verbinden. Wir lagen auf dem hochbeladenen Heuwagen … eingesunken in das abgehauene und schnell getrocknete Heu, das nach den Wiesenkräutern und Blumen roch und nach dem strengen, scharfblättrigen Gras … Aber es war noch immer heiß über den Feldern. Und so still, dass man die Stille hörte: als ein leises, ununterbrochenes Summen. Aber eigentlich doch unhörbar … Und jetzt war da eine Stimme, eine sehr hübsche und anmutige, gar nicht so leise Stimme. Aber doch so, wie aus dem Summen der Stille hervorgewachsen, wie aufgetaucht, wie ein Seehundskopf aus dem Wasser, man wundert sich nicht, dass er plötzlich da ist, unversehens. Weil er zum Wasser gehört. Wie der Wachtelruf zur Stille und zu dem warmen Nachmittag Ende Juni.2
Es ist der Ruf der Wachtel, der dieser sommerlich hellen Landschaft einen melancholischen Zug verleiht; sie ist ein Ort der Vergangenheit und unwiederbringlich verloren, wie die Stimme des Vogels, die flüchtig ist und verklingt. Nicht unerheblich beteiligt an der Erschließung der Welt sind der Geschmacks- und der Geruchssinn. Das Besondere an ihnen ist, dass sie aneinander gekoppelt sind, was allein schon die Erfahrung belegt, dass wir bei einem Schnupfen nichts mehr zu schmecken glauben. Wie suggestiv diese Sinne sind, weiß man erst richtig seit Marcel Proust. Sein Schlüsselerlebnis ist, dass es der Geschmack eines in eine Tasse Tee getauchten Törtchens vermag, Bilder und Vorgänge aus der Vergangenheit aufsteigen zu lassen.3 Wie hoch der Anteil der olfaktorischen und der geschmacklichen Empfindungen an der Wahrnehmung der Realität auch sein mag, gegenüber den Seh- und Hörerlebnissen treten sie doch zurück. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass vieles davon gar nicht ins Bewusstsein tritt, also unbewusst bleibt. Und es rührt wohl daher, dass die Sprache für diesen Bereich eine eher dürftige Nomenklatur entwickelt hat, so dass dessen verbale Erfassung nur mangelhaft gelingt, wenn sie überhaupt versucht wird. Gegenüber den klassischen fünf kommt die neuere Wahrnehmungstheorie sogar auf zehn Sinne. Diese unterteilt sie wieder und hält z.B. Interorezeptoren, die Organempfindungen vermitteln und Exterorezeptoren, die Informationen über die Umwelt aufnehmen, auseinander. Relevant ist hier nur die Trennung der letzteren in Kontaktrezeptoren (Tast-, Geschmacks-, Temperatur- und Schmerzsinn) und Distanzrezeptoren (Gesichts-, Ge-
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Johannes Bobrowski, Stiller Sommer; zugleich etwas über Wachteln; in: Der Mahner, Berlin 1968, S. 36–38. Proust, a.a.O., Bd. 1, S. 63–66.
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hör- und Geruchssinn).4 Für die Beschreibung der Natur sind die Daten der Distanzrezeptoren entscheidend. Daran hat das Sehen den größten Anteil, weit geringer ist der des Hörens und noch weniger fällt auf das Riechen. Die Tradition redet vom Gesicht und Gehör als von den „theoretischen Sinnen“ und billigt allein ihnen eine tragende Rolle bei der geistigen Erschließung der Welt zu.5 Von den akustischen Wahrnehmungen sind ganz bestimmte einfach ein Teil der natürlichen Umgebung, wie zum Meer das Klatschen der Wellen an den Strand gehört und zum Hochgebirge das Toben der herabstürzenden Wasser. Töne können der sichtbaren Welt eine gewisse, emotionale Einfärbung geben, was im Film durch die Musik erreicht wird. Oft entscheidet sie darüber, in welcher Weise etwas aufgenommen wird; derselbe Anblick kann durch ihre Einwirkung düster oder heiter wirken. Sehr genau kalkuliert ist der Einsatz von Klängen bei Jean Paul und Fontane. Dabei kann es sich um Naturlaute handeln oder auch um solche, die von Menschen hervorgebracht werden. Festlichen Glanz bekommt die Pastorale, die Walt in den Flegeljahren durchstreift, durch die ihn begleitenden, wehenden und ziehenden Flötentöne. Die Musik ist nicht nur in seinem Gemüt, wie er annimmt, sondern sie erklingt tatsächlich und wird produziert von seinem Bruder Vult, der ihm heimlich hinterherläuft. Und entfernte Axtschläge machen eine landschaftlich reizende Partie am Seeufer zu einem Ort der Abgeschiedenheit, an dem der alte Stechlin über sein vergangenes Dasein nachdenkt. Das Leben, an dem er kaum noch Anteil hat, meldet sich nur aus der Distanz. Seit jeher ist die Verwendung von akustischen Reizen ein Mittel des Schauerromans gewesen. Ganz vorzüglich versteht sich E.T.A. Hoffmann darauf. Wir fuhren durch das Dorf, es war gerade Sonntag, im Kruge Tanzmusik und fröhlicher Jubel…; desto schauerlicher wurde die Öde, in die wir hineinfuhren. Der Seewind heulte in schneidenden Jammertönen herüber und, als habe er sie aus tiefem Zauberschlafe geweckt, stöhnten die düstern Föhren ihm nach in dumpfer Klage.6
Der Gruseleffekt wird häufig dadurch erzielt, dass die Quelle eines Geräusches nicht immer auszumachen ist; eben deshalb wirkt es unheimlich. Diese Eigentümlichkeit der akustischen Wahrnehmung, die, dass ihre Ursache verborgen bleiben kann, lässt sich auch noch anders 4
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Näheres bei Rainer Guski, Wahrnehmung, Stuttgart 1989, S 9ff. Es ist nicht nötig in diesem Zusammenhang auf die umfangreiche Literatur über Wahrnehmung weiter einzugehen. So Hegel, vgl. Ästhetik, ed. F. Bassenge, Frankfurt/M. o.J., Bd. I, S. 48f, 141. Eine Hierarchie der Sinne gibt es schon in der Antike z.B. bei Aristoteles; vgl. Über die Seele, II, 7–11. Die Passage findet sich auf den ersten Seiten der Erzählung Das Majorat.
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einsetzen, etwa so, dass dadurch eine Atmosphäre freudiger Erwartung erzeugt wird, durch Vogelgezwitscher oder durch fernes Glockenläuten beispielsweise. Was den Einsatz akustischer Mittel anlangt, so nimmt Eichendorff eine besondere Stellung ein. Der erste Eindruck, der sich beim Lesen seiner Naturschilderungen einstellt, ist der, dass man nichts Bestimmtes zu fassen bekommt. Anders als bei Stifter oder Fontane wird der Leser nicht vor eine Aussicht gestellt, deren Teile dann mehr oder weniger ausführlich beschrieben werden. Es werden nur recht vage Angaben gemacht, zudem solche, die immer wiederkehren und Versatzstücke der Eichendorffschen Landschaft darstellen. Eichendorffs Leser ist damit vertraut wie mit einem bekannten, liebgewordenen Anblick. Da rauschen unter einem die Wälder, blaue Ströme blitzen aus der Ferne, und man kann in tiefe, stille Täler hinaussehen. Oder noch summarischer tut sich einfach „eine glänzende Landschaft“ oder „eine prächtige Gegend“ auf.7 Für sich genommen sind diese Wendungen ziemlich nichtssagend, und man ist versucht von Klischees zu reden. Zuweilen ist es sogar so, dass Eichendorff gegen die Anschauung verstößt, weil er sich ausschließende Bilder zusammenbringt. Der Taugenichts kommt auf seiner Reise von seinem Heimatort nach Wien zuerst durch „Saaten“, da ist es also Frühjahr, was auch der erzählerischen Ordnung entspricht. Gleich darauf, im selben Absatz, fährt er durch „wogende Kornfelder“, also durch sommerliche Fluren.8 Und doch geht von Eichendorffs Naturdarstellung eine eigentümliche Suggestion aus. Was sich zunächst ausnimmt wie hohle Formeln, die allenfalls einen gewissen Gefühlswert haben, erweist sich in der Reflexion als Bestandteil eines gekonnten Arrangements. Die erste Beobachtung ist die, dass Eichendorffs Schilderungen nicht ausladend sind, sondern kurz, nur wenige Zeilen umfassend. Sie sind zudem zahlreich, und die Erzählung ist gewissermaßen mit ihnen durchwirkt. Bei ihm gibt es also keine ausführlichen Beschreibungen von Orten oder Gegenden, die dann den Schauplatz einer Handlung bildeten. Nur diese knappen, aus wenigen Motiven bestehenden Naturaufnahmen finden sich. Sie lassen ein bestimmtes kompositorisches Schema erkennen, und die nun folgende steht nicht allein in Eichendorffs Werk.
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Vgl z. B. Joseph von Eichendorff, Werke, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1966, S. 611, 761, 1089, 1197; die Stellen ließen sich beliebig vermehren. Aus dem Leben eines Taugenichts, ebd., S. 1063.
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Draußen aber ging der herrlichste Sommermorgen funkelnd an allen Fenstern des Palastes vorüber, alle Vögel sangen in der schönen Einsamkeit, während von fern aus den Tälern die Morgenglocken über den Garten herauf klangen.9
Es geht etwas Frisches, Freudiges, auch Feierliches von dieser Landschaft aus. Das rührt schon daher, dass die einzelnen Elemente – der Sommermorgen, das Vögelgezwitscher, die Glocken – einen evokativen Wert haben. Aber die Aneinanderreihung stimmungshaltiger Ausdrücke allein macht noch nicht den Zauber dieses Bildes aus, das spürt man. Und ein Vergleich zeigt, dass Eichendorff an anderer Stelle auch Vorstellungen einsetzt, die nichts Harmonisches haben. So hört man in einem schönen, waldigen Revier einen „Eisenhammer“ und wiederholt ist „Hundgebell“ zu vernehmen, Klänge, die doch eher kakophonisch sind. Trotzdem bleibt der Reiz erhalten.10 Gesagt ist damit schon, dass Eichendorff vermehrt akustische Eindrücke aufnimmt. Gleich zwei sind es hier, nämlich der Vogelgesang und das Glockenläuten. Bemerkenswert daran ist, dass deren Quelle unsichtbar bleibt. Mit den Tönen verbindet sich demnach keine klar umrissene optische Vorstellung. Auffallend ist ein weiteres Merkmal; das ist der sehr eigenwillige Umgang mit dem Begriff „Sommermorgen“. Es handelt sich hierbei nicht um eine schlichte Personifizierung, denn die temporäre Bestimmung verwandelt sich nicht in ein körperliches Wesen, etwa in eine jungendlichen Gestalt. Aber die Tageszeit legt sich auch nicht auf die Landschaft, die als das Bleibende nur eine momentane Veränderung erführe. Der Morgen wird vielmehr in sie hineingezogen, und die Zeitbestimmung ist ein Teil von ihr. Ebenso ungewöhnlich ist die Verwendung des Wortes „Einsamkeit“. Wie das Adjektiv „schön“ deutlich macht, ist mit ihm kein Zustand gemeint, auch nicht der Aufenthaltsort von einem, der für sich lebt. Die Angabe, die sonst immer nur gebraucht wird in Bezug auf die Verfassung von Menschen, hat sich davon gelöst. Sie wird absolut gesetzt und ist eine Ortsangabe. Wie schon im Fall des Sommermorgens wird auch dieses Abstraktum, und das heißt: etwas Ungreifbares, ein Teil der Landschaft. Und wenn man sich nun andere Substantive anguckt, die doch als Dingwörter ein beharrendes Element sind, so verflüchtigten sich auch die. Das bewirkt der Gebrauch des Plurals, von den „Vögeln“ und den „Tälern“ tritt keines sichtbar in Erscheinung, und die „Morgenglocken“ gehören zu keiner bestimmten Kirche. Vol9 Genommen aus der Erzählung Viel Lärm um nichts, ebd., S. 1191. 10 Richard Alewyn hat die aufgeführte Landschaft sehr eingehend untersucht; vgl. Eine Landschaft Eichendorffs, in: Jost Schillemeit (Hg.), Interpretationen Bd. IV, Frankfurt/M. 1966, S. 196ff; die Eichendorff- Darstellung referiert Alewyns Ergebnisse, aber nur, was den rein philologischen Teil betrifft. Den darüber hinausgehenden Schlussfolgerungen kann man sich nicht anschließen. Das liegt daran, dass Alewyn mit einem geradezu abenteuerlichen Raumbegriff operiert.
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lends die Verben geben zu erkennen, worauf die Komposition überhaupt hinauswill: es funkelt, singt und tönt. Und die ganze Gegend löst sich auf in Licht, Klang, Bewegung. Aber diese Bewegung hat nichts Gewaltsames, nichts Hastiges und Plötzliches. Sie ist leicht und schwebend, ein körperloses Dahingleiten. Und daher rührt das Zauberische. Anders als etwa die Landschaft Stifters ist die Eichendorffs nicht aus Dauerhaftem und Festem gefügt. Sie ist auch nicht angelegt auf Anschaulichkeit. Das jedoch ist nicht als Mangel zu begreifen. Die Aufhebung der Konturen, der materiellen Schwere wird hier gerade zum Prinzip gemacht. Die Zeit, das zeigt schon das Verhältniswort „während“ an, ist das eigentliche Element dieser Schilderung. Sie rückt nicht in sich ruhende landschaftliche Komponenten nebeneinander, sondern setzt Verläufe in Beziehung. Das Sichtbare tritt zurück, und angesprochen ist eher das Ohr als das Auge. Das kehrt auch darin wieder, dass Eichendorff die nächtlichen Szenerien liebt; sie finden sich bei ihm in einer Häufigkeit wie sonst bei keinem: eine vom Mond nur wenig erhellte Gegend, in der sich die Geräusche der Nacht – das Rauschen und Wispern und ferner Hörner- oder Gitarrenklang – vernehmen lassen. „Der Mond schien prächtig, von den Bergen rauschten die Wälder durch die stille Nacht herüber, manchmal schlugen im Dorfe die Hunde an, das weiter im Tale unter Bäumen und Mondschein wie begraben lag.“11 Und wenn der Gesichtssinn den Menschen abzieht von sich und ihn hinlenkt auf das Äußere, auf seine Umgebung, die die Aufmerksamkeit fesselt, so sprechen die Töne das Innere an. Es ist der Gegensatz von Raum und Zeit, der hier zum Tragen kommt. Und in Anlehnung an Kant könnte man sagen, dass die Wahrnehmung des Raumes der „äußere Sinn“, die der Zeit der „innere Sinn“ ist. Das Seelenvolle von Eichendorffs Landschaft kommt daher, dass sie sich an das Innere wendet. Anders gesagt: sie ist Musik. Das wird unterstützt durch den ausgeprägten Rhythmus dieser Prosastücke. Und wer sich einmal die Mühe macht, sie zu skandieren, wird das leicht nachvollziehen können. Natürlich ergeben sich dabei keine gleichmäßigen Metren wie in der Lyrik. Aber ein Gespür für den Fluss der Sprache, für Pausen und Tempi lässt sich überall heraushören. Und Eichendorff spricht selbst das Losungswort aus, wenn er von der „leisen Musik“ in einer Gegend redet.12 Sie begleitet seine Helden auf ihren Wanderungen und bildet den Hintergrund der Erzählungen. Sie wird immer wieder angeschlagen. Und die kurzen über das Werk verstreuten Landschaftsstücke geben nicht, wie häufig üblich, die in die Natur projektierte Gemütslage einer Person wieder. Sie wirken 11 A.a.O., S. 1087. 12 Ebd., S. 1027.
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wie Impromptus, die eine große Melodie immer wieder aufnehmen. Und die ist das stets gegenwärtige Walten der Natur. So sehr auch die Welt tönt, es ist doch vornehmlich das Auge, das sie erschließt, ein Sachverhalt der durch die Anthropologie der Sinne beglaubigt wird. Orientierung verschafft vor allem der Gesichtssinn.13 Diese in der Biologie des Menschen verhaftete Disposition hat selbstverständlich Auswirkungen auf die Beschreibung. Sie gibt hauptsächlich optische Eindrücke wieder. Dergleichen ist seit jeher Bestandteil der Dichtung, etwa in der Form, dass ein Schauplatz vorgestellt wird. Aber nicht nur da erfüllt die Beschreibung eine wichtige Funktion. Sie ist auch ein Stück Gebrauchsliteratur. Die Wissenschaft greift auf sie zurück zur Identifizierung und Registrierung eines Tatbestandes. Und in der Antike gehört sie auch zur Rhetorik. Das ergibt sich schon aus der Notwendigkeit, einen Sachverhalt oder einen Fall darzulegen, wie das vor allem in der Gerichtsrede, aber auch in den anderen beiden Formen, die die Antike kennt, in der politische Rede und in der Lobrede (epideiktische Rede) erforderlich ist. Natürlich kann sich der Orator nicht mit einer nüchternen Bestandsaufnahme begnügen. Er will seine Zuhörer beeindrucken und überzeugen. Deshalb muss er sich an gewisse Regeln halten, wie sie die Schulen und Lehrbücher der Rhetorik explizieren. Verständlich muss er eine Sache darbieten, klar und anschaulich. Was das letzte betrifft, so soll der Vortragende dem Auditorium etwas „vor Augen rücken“, verlangt Aristoteles in seiner Rhetorik. Und er lässt sich in diesem Zusammenhang eingehend über die Arten der Metapher und deren Einsatz aus.14 Hier wird offenkundig, dass es Überschneidungen zwischen der Rede- und der Dichtkunst gibt, wie sie ja auch zwischen der Literatur und der Wissenschaft bestehen. Die Beschreibung, in der spätantiken Rhetorik, griechisch Ekphrasis oder seltener Hypotyposis, lateinisch Descriptio oder Evidentia genannt, findet sich also in allen drei Gebieten und selbstverständlich auch in der Alltagssprache. Bei allen Gemeinsamkeiten existieren doch gravierende Unterschiede, was sich aus den unterschiedlichen Funktionen und Zielsetzungen der Deskription erklärt.15 Für sie kann vieles zum Gegenstand werden: Waffen, Geräte, Menschen, Ereignisse, Abläufe, Lokalitäten und Naturansichten. Ein Sonderfall ist die Bildbeschreibung, die 13 Vgl. dazu z.B. Konrad Lorenz, Das Wirkungsgefüge der 1atur, a.a.O., S. 228ff; ähnlich Helmuth Plessner, Philosophische Anthropologie, Frankfurt/M. 1970, S. 200ff. 14 Rhetorik, Buch III, Kp. 10–11. 15 Eine erste Orientierung zum Thema Beschreibung (Wortbedeutung, Beschreibung in Wissenschaft, Rhetorik und Literatur) gibt Hans Christoph Buch, Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács, München 1972. In neuerer Zeit hat man sich wieder Fragen der Beschreibungskunst zugewendet; vgl. den Sammelband Gottfried Böhm/Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995.
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in der Kunstgeschichte nach eigens entwickelten Methoden vorgenommen wird. Die Literatur hat nun Formen der Ekphrasis herausgebildet, indem sie sich an bestimmten Mustern orientierte. Diese fand sie bei Homer. Vorbildlich wurde die Darstellung des Achillesschildes im 18. Gesang der Ilias; Lessing erörtert daran im Laokoon die Möglichkeiten einer sprachlichen Erfassung der gegenständlichen Welt. Und Schule hat weiter die Homerische Landschaft gemacht, wie sie vor allem die Odyssee als locus amoenus entwirft. Das wurde immer wieder aufgenommen, noch Goethe und Jean Paul variieren dieses Thema; und seit Homer hat die Naturschilderung einen festen Platz in der erzählenden Literatur. Die Beschreibung hat keine eigenständige literarische Gattung begründet. Naturgemäß ist sie ein wesentliches Element der Epik. Aber auch Gedichte können mehr oder weniger umfangreiche deskriptive Passagen aufweisen. Gleichwohl spricht man von einer ‚Beschreibungsliteratur‘. Sie definiert sich durch eher äußerliche Merkmale. In den narrativen Formen tritt die Handlung zurück gegenüber ausgiebigen Schilderungen, worunter vor allem Naturdarstellungen zu verstehen sind. Diese Dichtung ist also ausgesprochen ‚handlungsarm‘, wie man gesagt hat. Die Bukolik und Anakreontik zählt dazu, die Idylle und der Hirtenroman, in ihrer antiken Ausprägung durch Autoren wie Theokrit und Vergil und in ihrer neuzeitlichen Weiterentwicklung bei Tasso, Guarini bis hin zu Opitz oder Gleim.16 Mit der Etablierung des Romans als anerkannte Form der Dichtung gegen Ende des 18. Jahrhunderts bildet sich eine besondere Erzählweise heraus, bei der die Deskription nicht ein untergeordnetes Element ist, eines, das lediglich der Handlung dient, sondern das selbst einen Eigenwert beansprucht. Arno Schmidt kommt sogar zu der Auffassung, dass das Verhältnis von Fabel und Beschreibung ein Trennungsmerkmal für „zwei große Schulen“ der Literatur abgebe. Die eine setzt auf Dramatik, auf die Erzählung einer Geschichte, die möglichst turbulent und ereignisreich sein soll, die andere wendet sich eher unspektakulären Themen zu und bildet Zustände und Alltagserscheinungen, Orte und Dinge ab. Die großen Schilderer der Natur gehören selbstverständlich zur zweiten Richtung, Jean Paul und Adalbert Stifter und Arno Schmidt selbst.17 Dabei handelt es sich aber keineswegs um eine deutsche Eigenheit. Schriftsteller wie etwa James Fenimore Cooper oder Gustave Flaubert ließen sich hier einordnen. Zur Beschreibungsliteratur zählt insbesondere die sogenannte ‚malende Poesie‘ des 18. Jahrhunderts. Vom Genre her ist sie dem Lehrge16 Zur antiken Naturdarstellung vgl. die Bemerkungen über Homer, Theokrit, Vergil und Plinius im ersten Kapitel; auch über Thomson ist da etwas zu finden. 17 Näheres im Kapitel über Arno Schmidt.
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dicht zuzuschlagen, und sie enthält mehr epische als lyrische Elemente. Thomson spielt bei dieser Richtung eine führende Rolle; im Deutschen sind vor allem Brockes, Haller und Ewald von Kleist zu nennen. Die Beschreibung muss bestimmten Anforderungen wie der der sachlichen Richtigkeit genügen. Was von ihr aber vor allem erwartet wird, ist Anschaulichkeit. Sie rückt damit in die Nähe des Bildes oder hat sogar selbst bildhafte Qualitäten. Ihr Synonym ‚schildern‘ heißt ursprünglich ‚ein Schild bemalen‘, dann ‚etwas mit Wörtern ausmalen‘. Das Barock versteht in Anlehnung an das Niederländische unter ‚Schilderei‘ ein Gemälde. Und in der Poetik der Zeit dient der Begriff zur Kennzeichnung der dichterischen Beschreibung im Unterschied zur wissenschaftlichen.18 Dahinter steckt offensichtliche die Überzeugung, dass man mit Worten Ähnliches ausrichten kann wie mit bildnerischen Darstellungen. Diese Auffassung vertrat schon die Antike. Plutarch überliefert einen Spruch des griechischen Dichters Simonides von Keos, nach dem „die Malerei eine stumme Poesie und die Poesie eine redende Malerei sei.“ Allgemeingut wurde die Forderung des Horaz, dass die Dichtung der Malerei nacheifern solle: „ut pictura poesis“. Ob damit tatsächlich die Gleichsetzung von Literatur und bildender Kunst gemeint ist, ist zumindest fraglich. Jedenfalls hat man Horaz so verstanden. In einem Gedicht von Opitz, das an den Maler Strobel gerichtet ist, heißt es: „…der Pinsel macht der Feder, / Die Feder wiederum dem Pinsel alles nach. / …daß euer edles Mahlen / Poeterey, die schweig’, und die Poeterey / Ein redendes Gemähld’ und Bild, das lebe sei.“ Allerdings soll nach Opitz nicht nur die Literatur der Malerei folgen, sondern es gilt auch, was man meist übersehen hat, die umgekehrte Forderung, die nämlich, dass das Bild dichterisch angelegt sein müsse. Gemeint ist damit, dass es darauf ankommt, den geistigen Gehalt einer Vorlage herauszuarbeiten. Gegenstand eines Bildes können überhaupt nur Sujets werden, die eine Botschaft enthalten. Über die Güte eines Bildes entscheidet, ob es die seinem Gegenstand innewohnende Bedeutung äußerlich sichtbar zu machen vermag. Ganz im Sinne traditioneller Ästhetik urteilt Georg Forster, wenn er von der „dichterischen Ausführung“ eines Gemäldes redet.19 So ohne weiteres will die Überführung des einen Mediums in das andere indessen nicht einleuchten. Schon für das unmittelbare Empfinden erscheint das Bild näher an der Wirklichkeit, es ist realitätsgesättigter als der sprachliche Ausdruck, und seinen Reichtum können dürre Worte kaum ausschöpfen. Anderseits ist es gewissermaßen primitiver 18 Nachweise bei Buch, a.a.O., S. 21. 19 Georg Forster, Ansichten vom 1iederrhein, Leipzig 1979, S. 92; die Stelle findet sich im Kp. VII, das Ausführungen über die Düsseldorfer Kunstgalerie enthält; in diesem und den folgenden Kapiteln legt Forster seine ästhetische Theorie dar.
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als Worte. Es mutet weniger intellektuell an, weil es auf der Ebene der Wahrnehmung bleibt und so nicht imstande ist, das Vorgefundene geistig zu durchdringen. Offensichtlich haben beide eine völlig andere Verfassung. Und allenfalls metaphorisch wäre von einer Sprache des Bildes und von einer bildhaften Sprache zu reden. Unausgemacht ist dabei, ob sich die zwei Bereiche strikt trennen lassen. Eher scheint es so zu sein, dass sie aufeinander bezogen sind, dass also das Bild nach Verbalisierung verlangt, wie umgekehrt die Sprache auf Plastizität dringt. Die Gleichsetzung der Künste kann denn auch nur unter bestimmten Bedingungen erfolgen, und erst von daher wird sie verständlich. Diese Bedingungen sind dann gegeben, wenn die Malerei und die Dichtung einen gemeinsamen Bezugsrahmen haben, und das ist bis ins 18. Jahrhundert hinein der Fall. Sie befassen sich mit denselben Gegenständen. Es sind die Inhalte des christlichen Glaubens, der antike Mythologie oder die großen Ereignisse der Geschichte, die ihnen als Themen vorgegeben sind. Die Kunst ist eingebunden in eine umfassende Weltdeutung, die ihr lediglich eine dienende Funktion zuweist. Sie ist demnach nicht frei oder autonom. Für diese Auffassung gibt es keine genuine künstlerische Wahrheit, eine Wahrheit, die sich nur mit artifiziellen Mitteln aufzeigen ließe. Das Kunstwerk ist Ausdruck eines übergeordneten Sinns, dem es eine materielle Gestalt verleiht. Sein Rang bemisst sich daran, in welchem Maße es ihm gelingt, die Mächte und Ereignisse, die die Welt und das menschliche Dasein beherrschen und formen, die Fundamente der kosmischen und moralischen Ordnung beispielsweise oder, christlich gewendet, die Begebenheiten der Heilsgeschichte, darzustellen. Damit ist nicht gesagt, dass nicht auch die niedrige Wirklichkeit, alltägliche Vorkommnisse, gewöhnliche Menschen und triviale Erscheinungen Eingang in die Kunst finden könnten. Aber solche Darstellungen sind doch Genres minderen Ranges vorbehalten. Das ist auch immer eine Frage der Stilhöhe, und nicht nur die Literatur kennt einen hohen und einen niedrigen Stil. Der Schwank und die Posse sind Formen, die die Alltagswelt und die Umgangssprache aufnehmen. Ähnliches leistet auf dem Gebiet der bildenden Kunst die Genremalerei. Ganz so sauber lässt sich freilich das ‚ErhabenTragische‘ vom ‚Alltäglich-Realistischen‘ nicht trennen. Wie Erich Auerbach gezeigt hat, gibt es auch die Erscheinung der „Stilmischung“. Sie ist ein charakteristisches Merkmal christlicher Kunst, für welche die „Inkarnation Gottes in einen Menschen niedrigsten gesellschaftlichen Ranges, sein Wandel auf Erden zwischen niedrig alltäglichen Men-
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schen und Verhältnissen und seine nach irdischen Begriffen schmachvolle Passion“ zu einem wesentlichen Inhalt wird.20 Auch die Naturdarstellung kann sich nicht aus der Bindung an vorgegebene Inhalte lösen. Die Natur ist eben kein Raum unvoreingenommener Beobachtung, wie es das heutige Bewusstsein glauben machen will. Sie ist besetzt mit Bedeutungen; nichts zeigt das deutlicher als ein Blick auf die Geschichte der Landschaftskunst. Die Landschaftsmalerei sei die „entscheidende künstlerische Leistung des neunzehnten Jahrhunderts“, behauptet Kenneth Clark. Er beruft sich dabei auf einen der besten Kenner dieser Materie, auf John Ruskin.21 Nun hat es solche Bilder schon vorher gegeben und obendrein überaus eindrucksvolle; man braucht nur an Claude Lorrain zu denken. Aber es handelt sich hierbei nicht um die Darstellung eines Naturausschnitts um seiner selbst willen. Eine reine Landschaft, das heißt eine ohne jede Staffage, erscheint nur vereinzelt und dann relativ spät in der Kunstgeschichte. Als erstes Bild dieser Art wird ein kleines Gemälde von Albrecht Altdorfer mit dem Titel Donaulandschaft angesehen, das auf 1520 datiert ist. Und als erste topographisch richtige Landschaftsdarstellung gilt Der wunderbare Fischzug des Konrad Witz aus dem Jahre 1444. Die biblischen Erzählungen von Jesu Wandeln auf dem Wasser (Matth. 14, 27–31) und dem erfolgreichen Fischfang der Jünger (Luk. 5, 1–11) fasst der Maler zu einer Szene zusammen und verlegt sie an den Genfer See. Zwar wird die Gegend detailgenau wiedergeben, aber sie ist doch nur ein Rahmen und so angelegt, dass dadurch die hoheitsvolle Gestalt des Heilandes, die im Bildzentrum steht, betont wird.22 Auf Bildern der Renaissance lässt sich verfolgen, wie die Landschaft immer mehr an Platz gewinnt. Zunächst ist sie ganz in den Hintergrund gerückt. Häufig sieht man sie nur durch Fenster wie auf dem Gemälde Madonna des Kanzlers 1. Rolin von Jan van Eyck. Auch hier wird die Aufmerksamkeit ganz auf die heilige Gestalt gelenkt und auf den Vertreter der weltlichen Obrigkeit, der sie anbetet. Aber eigentlich hat man den Eindruck, dass der Maler ganz neugierig ist auf das, was dahinter ist, auf die Umgebung, die hineinschaut durch die hohen Fenster und die sehr sorgfältig ausgeleuchtet ist. Und diese Neugier teilt sich auch dem Betrachter mit. Bei Tizian wird man dann ins Freie geführt; aber die Natur gibt doch nur den Schauplatz ab für den Auftritt von Personen als den eigentlichen Bedeutungsträgern. Sicher, Maler wie Dürer haben wunder20 Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 9. Aufl., Tübingen – Basel 1994, S. 44. 21 Kenneth Clark, Landschaft wird Kunst, London 1962, S. 1. 22 Einen kurzen, sehr instruktiven Überblick vermittelt der Aufsatz von Werner Hofmann, Zur Geschichte und Theorie der Landschaftsmalerei, in: Caspar David Friedrich. Katalog zu Ausstellung in Hamburg, München 1974, S. 9ff.
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bare, topographisch genaue Landschaften angefertigt. Aber das sind Aquarelle und nur Studien, noch nicht Werke, die den Anspruch erheben, Kunst zu sein. Und was nun einen der größten Landschafter betrifft, nämlich Claude Lorrain, so gibt es auch bei ihm keine reine Landschaft. Es sind biblische oder mythologische Szenen, die auf seinen Bildern zu sehen sind. Zwar verschwinden die Menschen fast in der großen Natur, aber sie darf nicht für sich selbst sprechen. Ihre Majestät betont nur die großen Gesten der Gestalten aus der Bibel oder aus der klassischen Antike. Es ist auch nicht die römische Campagna, die abgebildet wird. Zwar sind Züge von ihr identifizierbar. Aber was Lorrain schließlich daraus macht, ist eine freie Komposition, die Versatzstücke der Wirklichkeit neu zusammenfügt. Die ‚ideale Landschaft‘, die daraus entsteht, will die Botschaft von einem ursprünglichen, geglückten Dasein verkünden. Solche Ansichten sind angeregt durch die Schriftsteller des Altertums, insbesondere durch Vergil. Was in ihnen aufleuchtet, enthält Züge von Arkadien. Noch beim Romantiker Joseph Anton Koch finden sich vergleichbare Szenen. Zwar kann man nachvollziehen, wie die Natur immer mehr das Interesse auf sich zieht. Aber noch hat sie etwas von dem Zug, Beiwerk, Begleitstimme oder Kommentar zum göttlichen oder menschlichen Geschehen zu sein. Immer noch muss ihr ein Sinn unterlegt werden, der in oder hinter ihren Formen aufscheint. Es ist also noch nicht so weit, dass man sie selbst auf den Betrachter wirken lässt in der unermesslichen Vielheit ihrer Erscheinungen, ihrer Expressionen und Stimmungen. Erst das 19. Jahrhundert kommt dahin, Turner oder Corot beispielsweise. Im Wertesystem der Kunst rangiert die Landschaft lange hinter der uns heute so öde vorkommenden Historienmalerei. Es ist dafür bezeichnend, dass die Ernennung von Caspar David Friedrich zum Mitglied der Dresdener Akademie als etwas Besonderes galt, weil er ‚nur‘ ein Landschaftsmaler war. Nach dem über Jahrhunderte herrschenden Kunstverständnis hat ein Naturgegenstand für sich genommen keinen Sinn. Dieser Auffassung folgt auch die Literatur. Und die ‚emblematische Dichtung‘ des Barock ist als letzte Ausgestaltung einer langen Tradition anzusehen. Sie versteht alles, was in der Natur begegnet, sinnbildlich oder allegorisch. Die Natur ist weder ein geheimnisvoller, dunkler Bezirk wie für das romantische Naturgefühl noch ein offenes, zu enträtselndes Forschungsfeld wie für die empirische Wissenschaft. In ihr ist im Gegenteil alles vorgezeichnet, und sie kann in der Art einer Schrift, die eine feste Semantik aufweist, entziffert werden. Die geläufige Vokabel vom ‚Buch der Natur‘ (liber naturae) fasst die Zeit so auf, dass die physischen Erschei-
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nungen einen literalen Sinn haben.23 Jedes Einzelne hat eine bestimmte Bedeutung. Welcher Text da niedergelegt ist und wer ihn verfasst hat, geht nach Grimmelshausen aus der „Meinung jenes heiligen Mannes hervor, welcher dafür hielt, die ganze weite Welt sei ihm Buchs genug, die Wunder seines Schöpfers zu betrachten und die göttliche Allmacht daraus zu erkennen.“24 Die weltlichen Dinge sind nur Zeichen, die über sich hinausweisen. Sie müssen auf ihren überweltlichen Sinn hin durchsichtig gemacht werden. Und der Weg geht vom Sichtbaren zum Unsichtbaren. Der sinnliche Eindruck tritt ganz zurück zugunsten des geistigen Gehalts, auf den das Interesse gelenkt wird. Was die Poesie leistet, ist die Umwandlung der bloßen Gegenständlichkeit in Bedeutung. So wird in allem und jedem ein Sinnbild gesehen. Das Verfahren der Allegorisierung führt wiederum der Simplicissimus vor: Sah ich ein stachelicht Gewächs, so erinnerte ich mich der Dornenkron Christi, sah ich einen Apfel oder Granat, so gedachte ich an den Fall unserer ersten Eltern und bejammert denselbigen; gewann ich Palmwein aus einem Baum, so bildet ich mir vor, wie mildiglich mein Erlöser am Stammen des hl. Kreuzes sein Blut für mich vergossen; sah ich Meer oder Berg’, so erinnerte ich mich des einen oder andern Wunderzeichens und Geschichten, so unser Heiland an dergleichen Orten begangen.25
Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Tradition und einer für alle weitgehend verbindlichen Weltsicht ergänzen und kommentieren sich Dichtung und Malerei gegenseitig. Wie sich der Austausch zwischen Text und Bild konkret vollzieht, lässt sich am Beispiel demonstrieren. Das folgende Sonett des Andreas Gryphius ist mit dem Titel Einsamkeit überschrieben. In diser Einsamkeit / der mehr denn öden Wüsten / Gestreckt auff wildes Kraut / an die bemoßte See: / Beschau’ ich jenes Thal und diser Felsen Höh’ / Auff welchem Eulen nur und stille Vögel nisten. / Hir / fern von dem Pallast; weit von des Pövels Lüsten / Betracht ich: wie der Mensch in Eitelkeit vergeh’ Wie / auff nicht festem Grund’ all unser Hoffen steh’ Wie die vor Abend schmähn / die vor dem Tag uns grüßten. Die Höl’ / der rauhe Wald / der Totenkopff / der Stein / Den auch die Zeit auffrist / die abgezehrten Bein / Entwerffen in dem Mutt unzehlige Gedancken. 23 Die Metapher vom ‚Buch der Natur‘ hat eine überaus lange Geschichte. Sie war aber nicht nur in Gelehrtenkreisen verbreitet. Näheres bei Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1986. 24 Der abenteuerliche Simplicissimus, 2. Buch, 10. Kp. (hrsg. v. Alfred Kelletat, Darmstadt 1978, S. 128). 25 Continuatio 23. Kp.(a.a.O., S. 586.); vgl. dazu Urs Herzog, Der deutsche Roman des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1976, S. 93ff.
114 Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung Der Mauren alter Grauß / diß ungebau’te Land Ist schön und fruchtbar mir / der eigentlich erkant / Daß alles / ohn ein Geist / den Gott selbst hält / muß wancken.
Man darf diese Verse nicht als Wiedergabe eines Naturerlebnisses lesen. Es geht in ihnen gar nicht um die Ansicht einer bestimmten Landschaft, auch nicht um deren Stimmungsgehalt. Und das Ich, das hier redet, ist nicht biographisch, sondern exemplarisch zu verstehen. Aufgebaut wird eine Naturszenerie, die alle Merkmale des ‚locus desertus‘ oder ‚locus terribilis‘ aufweist. Wie der ‚locus amoenus‘, die anmutige Natur, zitiert wird, um einen bestimmten Gedanken zu illustrieren, den von der Herrlichkeit der göttlichen Schöpfung, so wird der ‚wüste Ort‘ herangezogen, um die Überzeugung von der Eitelkeit alles Irdischen zu veranschaulichen. Die einzelnen Naturelemente passen nicht einmal zueinander, Wüste nicht zu See und auch nicht zu Wald. Sie sind nur wie Eule, Tal, Höhle, geborstene Mauern und brachliegendes Feld Requisiten, die eben zum locus terribilis gehören. Der Dichter hat sie sich nicht ausgedacht. Sie finden sich, enzyklopädisch aufgelistet, in den allegorischen Handbüchern, Florilegien und Rhetorikanleitungen der Zeit. Ihnen sind festliegende Bedeutungszuordnungen zu entnehmen.26 Die ‚Poeterei‘ ist eine Art gelehrtes Handwerk, dessen Qualität sich danach bestimmt, ob die einzelnen Versatzstücke gekonnt arrangiert sind. Im vorliegenden Fall geht es darum, den christlichen Gedanken von der Nichtigkeit der Welt überzeugend und lebendig auszudrücken. Was es konkret heißt, dass nach der Bibel (Koh. 1,2; 12,8) alles eitel sei, demonstrieren die Beispiele des Verfalls und der Vergänglichkeit. Der abstrakte Begriff wird gewissermaßen körperlich, er wird sinnlich fassbar, dadurch, dass zum Allgemeinen das Besondere assoziiert wird. Eben das ist das Verfahren der Allegorie. Und die Szenerie des Sonetts bietet eine topisch-anschauliche Entsprechung zu der Auffassung von der Erde als einem Jammertal. Die Dichtung macht aus der Landschaft eine allegorische Ansicht oder sie entwirft mit landschaftlichen Versatzstücken eine Allegorie Das Vanitas-Motiv ist auch Gegenstand zahlreiche Gemälde der Barockzeit, die als Radierungen eine weite Verbreitung fanden. Alles, was im Gedicht angeführt wurde, begegnet hier wieder: die Wüste, der verödete Acker, das zerborstene Mauerwerk, selbst die Eule und der 26 Näheres, eine Interpretation des Gedichts sowie weitere bibliographische Verweise finden sich bei Wolfgang Mauser, in: Volker Meid (Hg.), Gedichte und Interpretationen Bd.1. Renaissance und Barock, Stuttgart 1982, S. 231ff. Über die Behandlung der Natur in der emblematischen Barockdichtung vgl. Eckhard Lobsien, a.a.o., S. 21; was Lobsien für die englische Literatur herausarbeitet, lässt sich ohne weiteres auf die deutsche übertragen.
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Salvator Rosa, Democritus in Meditation, Radierung nach einem Gemälde Rosas.
Totenkopf haben sich eingestellt. Im Mittelpunkt sitzt eine männliche Gestalt, die, den Kopf in die Hand gestützt, eine Pose grüblerischer Versunkenheit einnimmt. Sie trägt ein langes, antikes Gewand, eine Art Büßer-Bekleidung. Wen sie vorstellen soll, steht auch fest; es ist dies der Philosoph Demokrit.27 Der zeitgenössische Betrachter, der mit dieser Ikonographie vertraut war, wusste um die Bedeutung solcher Darstellungen; er konnte deren Sinn entziffern und erkennen, was sie ihm mitteilen wollten. Er wäre nicht auf den Einfall gekommen, darin einen Landschaftsprospekt oder eine historisierende Charakterstudie zu sehen. Das Verständnis wurde ihm auch noch dadurch nahegebracht, dass 27 Mauser druckt zwei Radierungen mit diesem Motiv ab. Eine ist nach dem Gemälde Democritus in Meditation des bedeutenden Malers Salvatore Rosa gefertigt; a.a.O., S. 236f.
116 Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung
sich teilweise unter den Radierungen eine Inschrift befand; vanitas vanitatum et omnia vanitas ist da zu lesen. Natürlich hatte der Betrachter die entsprechenden Worte – aus der Bibel, aus Predigten, aus der Dichtung – im Ohr, während umgekehrt der Leser das, was die Texte ansprachen, mit den bildnerischen Versionen des Themas verbinden konnte. Die Frage nach der Beziehung von Wort und Bild ist aber nicht allein die, wie sich das Verhältnis von Dichtung und Malerei in der Geschichte entwickelt hat. Sie rührt an die Verfassung des Kunstwerks selbst. Die Begriffe ‚dichterisch‘ und ‚bildnerisch‘ verweisen auf die zwei Bestandteile, die wesentlich zu ihm gehören. Es sind die beiden Pole des Sinnlichen und des Geistigen, welche sich im Kunstwerk verschränken. Nichts anderes drücken die Formeln aus, nach denen die Dichtung bildhaft und die Bilder dichterisch sein sollen. Ebenso wenig wie ein Gemälde ein bloßes Objekt der Wahrnehmung ist, hat eine Dichtung ihr Genügen im reinen Denken. Der sprechende Gehalt und die anschauliche Gestalt gehören wesensmäßig zu beiden. Jedes Kunstwerk, das verbale wie das piktorale, stellt etwas vor die Sinne, aber es geht darin nicht auf. Im realen Gegenstand, im Sichtbaren und Hörbaren, meldet sich etwas, das der Wahrnehmung entgeht, ein Sinn, eine Bedeutung, eine Aussage, eine Gegebenheit also, die nur für den Intellekt fassbar ist. Deshalb ist aber die äußere Gestalt nichts Zufälliges oder gar Überflüssiges. Sie ist nicht nur das Vehikel, um einen geistigen Gehalt zu transportieren, vielmehr ist dieser unlöslich an sie gebunden. Das eine kann nicht ohne das andere sein, und so ist jedes Kunstwerk ein Zweifaches, das aber in eins gesetzt ist. Aus dieser Komplexität, die in der Sache selbst liegt, resultiert der „Rätselcharakter“ aller Kunst.28 Die immanente Spannung, die unaufhebbar in ihrem Wesen begriffen ist, kommt mit unterschiedlicher Akzentuierung in den Bestimmungen der Kunst zum Ausdruck. So sagt Hegel: „Das Sinnliche“ ist in ihr „vergeistigt, da das Geistige in ihr als versinnlicht erscheint“. Oder kurz: sie ist „das sinnliche Scheinen der Idee“.29 Weniger idealistisch, aber auf denselben Sachverhalt zielend, formuliert Adorno: „Schein sind“ die Kunstwerke, „indem sie ihr Inneres, Geist, nach außen setzen.“30 Auch wenn bestimmte Richtungen der modernen Kunst alles Bedeutungsvolle von sich weisen und nur Kombinationen von Materialien sein wollen, so ist zumindest die Konzeption, die hinter dieser An28 So Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt/M. 1970, S. 182. 29 Ästhetik, a.a.O., Bd. I, S. 49, 117. 30 Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 166.
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ordnung steht, ein geistiges Moment und hebt die Objekte über die Sphäre des rein Dinghaften hinaus. Nun leuchtet es ohne weiteres ein, dass die Sprachkunst sich mehr der geistigen Seite zuneigt. Wörter sind nicht bloß artikulierte Laute. Ihre Körperlichkeit tritt nahezu ganz zurück hinter ihre Bedeutungshaltigkeit. Und die Versuche, die Dichtung der Musik anzunähern, sie also als reines Klanggebilde auszugeben, sind Episode geblieben. Sprache wurde seit jeher als „Organ der Vernunft, als die Bildnerin menschlicher Gedanken“ aufgefasst.31 In der bildenden Kunst dagegen überwiegt der sinnliche Anteil. Sie wendet sich vornehmlich an die Wahrnehmung. Sie ist so sehr ins Sichtbare getreten, dass es gewöhnlich eines besonderen Aktes bedarf, um den geistigen Gehalt herauszustellen. Welche Formen die Kunst ausbildet, entscheidet sich an ihrer Stellung zur Wirklichkeit. Seit der Antike wird dieses Verhältnis als ‚Mimesis‘ bestimmt. Die Kunst habe danach die Wirklichkeit nachzuahmen. Höchst unterschiedlich war aber, was darunter verstanden wurde. Prinzipiell genommen bestand immer die Frage, ob die sichtbare Welt in ihrer ganzen Fülle, wozu auch das Zufällige, Flüchtige und angeblich Geringfügige gehört, die Wirklichkeit ausmache, oder ob diese nicht dahinter zu suchen sei, im Bereich des Geistigen, in dem, worin das Wesen der Dinge begriffen sei. Gegenüber der Vergänglichkeit der Erscheinungen sei allein das Geistige in sich beständig und müsse deshalb als das wahrhaft Wirkliche angenommen werden; diese Auffassung vertrat das platonisch-christliche Wirklichkeitsverständnis. Unter dessen Zeichen stand die abendländische Kunst über Jahrhunderte. Wenn sich aber die eigentliche Wirklichkeit nicht den leiblichen, sondern nur den geistigen Augen öffnet, gelangt die Kunst in eine prekäre Situation. Sie gerät in den Verdacht, den Menschen von der Wahrheit abzuziehen und ihn in der Sphäre des Scheins und der Täuschung festzuhalten. Andererseits wird ihr aber auch die Fähigkeit zugesprochen, den Menschen hinzuleiten auf die transzendente Wahrheit. Schon bei Platon ist diese Zweideutigkeit der Kunst und des Schönen angelegt. Nur die Vernunfterkenntnis, man könnte dafür sagen: das begriffliche Denken, reicht an die Ideen, an die Urbilder und Muster alles Seienden, während die Sinne allenfalls deren mehr oder weniger schlechte Abbilder zu fassen bekommen. Die Kunst nun als Wiedergabe des Sinnenscheins erstellt Abbilder der Abbilder und ist deshalb in sich nichtig. Zugleich ist aber das sinnlich Schöne auch wieder ein Abglanz des Wahren, und es kann deshalb auf dieses hinführen. Denn die Ideen 31 Johann Gottfried Herder, a.a.O., 22.Bd., S. 167; Herder legt seine Theorie über das Verhältnis der Künste in seiner Schrift Kalligone dar, der die Zitate entnommen sind.
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teilen sich der sichtbaren Welt mit. Sie sind die formalen Prinzipien, nach denen die Materie gestaltet ist. Und gerade die Kunst hat das Vermögen, sie aufzudecken und in ihren Verkörperungen zu ergreifen. Wie das Beispiel Goethes zeigt, kann man mit dem Instrumentarium der Platonischen Philosophie auch zu einer Rechtfertigung der Kunst gelangen.32 Platons Stellung zur Kunst beruht also auf dem Gegensatz zwischen der Sphäre der ‚Noesis‘ (Denken) und der der ‚Aisthesis‘ (Wahrnehmung). Eine ähnliche Konstellation kehrt im Christentum wieder, worin sich natürlich Platonischer Einfluss bemerkbar macht. Das Irdische tritt dem Göttlichen gegenüber, das Diesseits dem Jenseits. Und die Welt gilt als Ort der Sünde und der Gottesferne. Die Kunst ist mit dem Makel behaftet, dass sie den Menschen daran hindert, sich Gott zuzuwenden. Sie befördert die Freude an den weltlichen Dingen. Unter die „Versuchungen des Fleisches“ („concupiscentiae carnis“) zählt Augustinus „die Lust der Augen und der Ohren“ („voluptas oculorum et aurium“). Diese Gelüste werden gerade durch die Künste geweckt und gesteigert, durch „lieblichen, kunstreichen Gesang, Gemälde und verschiedenartige Gebilde des Meißels.“ Aber auch im Christentum kehrt die Zweideutigkeit in der Bewertung der Kunst wieder, die schon bei Platon zu finden war. Die Erde ist auch als göttliche Schöpfung zu begreifen, und in ihrer Schönheit offenbart sich die Güte des Schöpfers. Für Augustinus sind infolgedessen die Kunst, der Wohllaut und die gefällige Gestalt nicht an sich verwerflich, sie sind sogar nützlich, dann, wenn sie die religiöse Verkündigung unterstützten und die Seele zu Gott führen. Verderblich ist die Kunst nur, wenn sie sich verselbständigt und allein der Sinnenlust dient. Augustinus gibt diesen Überlegungen eine charakteristische Wendung. Er sagt nämlich, dass die „heil’gen Worte, wenn sie gesungen werden, unsere Seelen andächtiger und glühender zur Flamme der Frommheit entfachen“.33 Es ist demnach die Botschaft, das ‚Wort‘, das im Zentrum steht, und die ästhetische Gestaltung ist ihm untergeordnet und soll zu seinem Verständnis beitragen. Unter den Bedingungen einer idealistisch orientierten Epistemologie behauptet das Wort einen Vorrang gegenüber dem Bild. Man könnte auch sagen, im Gefüge der Kunst bekommt das Geistige ein Über32 Platons Ablehnung der Kunst findet sich in der Politeia; vgl.10, 605a–605e; 3, 398a– 398b u. 401b–402a; eine positive Bewertung steht im Phaidros 2, 249b. Platons ästhetische Position stellt Hans Robert Jauß dar, in: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1997, S. 90ff. Zu Platon und Goethe vgl. auch die obige Darstellung. 33 Die Zitate stammen aus den Confessiones, liber X, Caput XXXIII, XXXIV. Vgl. zu Augustinus auch Jauß, a.a.O., S. 73f.
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gewicht gegenüber dem sinnlichen Stoff. Das hat Folgen für die künstlerische Praxis. Es reicht nicht, die vorgefundene Realität wiederzugeben. Diese muss ins Ideale überhöht werden. Das künstlerische Vorgehen wird geleitet von dem Bestreben einer umformenden Vergeistigung. Davon geprägt ist selbstverständlich auch die Darstellung der Natur. In ihr wird der Ausdruck hoher, würdiger Denkinhalte gesucht. In der Malerei ist die ‚ideale Landschaft‘ ein Beispiel für solche Bestrebungen. Eine reale Gegend abzubilden ist also gar nicht intendiert. In gleicher Weise will die Literatur nicht eine tatsächlich existierende Szenerie abschildern; auch sie ist dem Ziel einer Transformierung des Wahrnehmbaren ins Sinnbildliche verpflichtet, wie der Hinweis auf die emblematische Dichtung des Barock gezeigt hat. Da nun aber Dichtung wie Malerei ausgerichtet sind auf die metaphysische Wahrheit, fallen ihre Unterschiede nicht ins Gewicht. Sie haben jeweils ihren Teil am Ausdruck vorgegebener Inhalte und können deshalb als Einheit aufgefasst werden. Diese Einheit zerbricht in dem Moment, in dem sich die Künste von weltanschaulichen Prämissen lösen und sich auf ihre eigenen Möglichkeiten besinnen. Damit verbunden ist eine Veränderung dessen, was unter Wirklichkeit zu begreifen sei. Den Wendepunkt markiert Lessings Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie von 1766. Freilich, solche Umbrüche sind keine plötzlichen Ereignisse, sondern Ausdruck längerer Entwicklungen. Und Untersuchungen wie die Lessings finden lediglich einsichtige Formulierungen für Erscheinungen, die sich über größere Zeiträume vorbereitet haben, ohne dass sich davon immer ein klares Bewusstsein herausgebildet hätte. Schon in der Renaissance wird die Sinnenwelt als das eigentlich Seiende ausgelegt. Wirklich ist das, was sich der Erfahrung zeigt. Und im Erkenntnisprozess übernimmt die Wahrnehmung die Führung. Eine ungeahnte Fülle tut sich nun auf, denn auch das Flüchtige, das Alltägliche, das Unscheinbare zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Prinzipiell enthält die Empirie eine unbegrenzte Vielfalt an Gestalten, Phänomenen und Vorgängen. Die Öffnung des Wahrnehmungsfeldes wird in Gang gesetzt durch die Entbindung der ‚theoretischen Neugierde‘. Während die mittelalterliche Theologie die „curiositas“, die Wissbegierde als sündhafte Fesselung ans Irdische unterdrückt, kann sie sich in der Renaissance von dieser Bevormundung lösen.34 Das vollzieht sich in der Abkehr von der christlichen Innenschau, die die Seele auf das Irdische und Göttliche richtet und in der Hinwendung zur äußeren Welt. Und die Schau der Ideen wird ersetzt durch die Beobachtung der einzelnen Erschei34 Hans Blumenberg hat diesen Prozess eingehend untersucht; vgl. Der Prozeß der theoretischen 1eugierde, Frankfurt/M. 1973.
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nungen. Die Ausrichtung an der Erfahrung ist verbunden mit der Entdeckerfreude und der Lust am Schauen. Die sichtbare Welt erschließt sich in ihrer Schönheit, in ihrem Reichtum an Farben und Formen. Unter diesen Voraussetzungen vollzieht sich eine Umstellung in der Rangordnung der Künste, die unter dem Titel „Paragone“, womit der Wettstreit der Künste gemeint ist, vor allem im Italien des 15. und 16. Jahrhunderts diskutiert wird. Und während vordem die Poesie als künstlerisch höchster Ausdruck des Geistigen einen gewissen Vorrang behauptete, beansprucht nun die bildende Kunst eine Führungsrolle. Sie erhält einen Modellcharakter und die anderen Künste sollen ihr nachstreben. Man könnte auch sagen, von den beiden Seiten der Kunst wird jetzt die der Sinnlichkeit betont. Selbstverständlich ist es nicht so, dass auf einmal christliche, mythologische oder philosophische Motive von den Bildern verschwänden. Wie schon angedeutet, halten sich die traditionellen Themen lange. Das hat zunächst einen sehr banalen Grund. Auch in der Renaissance und in den nachfolgenden Epochen bleibt die Kunst weitgehend abhängig von Auftraggebern. Die kommen vor allem aus der Kirche und aus dem Kreis der Machthaber. Und was die letzteren betrifft, so zeigen sich solche Herrschaften gern im Bunde mit Gott oder den Göttern. Entscheidend aber ist, dass die offizielle Thematik oft nur wie ein Vorwand wirkt, um sich ausgiebig mit den Erscheinungen der sichtbaren Welt auseinandersetzen zu können. So werden an den biblischen Gestalten die Gesetze der Anatomie und der Perspektive erprobt. Und neben der religiösen Szenerie zieht eine andere die Aufmerksamkeit auf sich, die der Natur. Bereits im 15. Jahrhundert erweitert ein Maler wie Mantegna die Möglichkeiten der Perspektive, indem er Heiligenfiguren mit extremer Auf- und Untersicht von einer verblüffenden Virtuosität schafft. Das bedeutet nicht, dass die Künstler als Gegner des Glaubens oder der Kirche aufgetreten wären. Auch diese Werke können Zeugnisse einer innigen Frömmigkeit sein. Nur eben, die Einstellung hat sich gewissermaßen umgedreht. Es wird nicht ein vorgefasster Inhalt illustriert, sondern der Ausgangspunkt ist die Empirie, und ihr muss sich die Thematik anbequemen. Die antike Bestimmung, nach der Kunst ‚Mimesis‘ sei, hat weiterhin Gültigkeit. Sie bekommt nun aber eine andere Bedeutung. Verstanden wird darunter die Nachahmung der empirischen, nicht der ideellen Wirklichkeit. Im weiteren Verlauf dieser Entwicklung wird es darum gehen, den Daten der Wahrnehmung einen Sinn abzugewinnen. Auch der Künstler, der sich ans Sichtbare hält, wird das Vorgefundene verändern, er wird Verfahren der Steigerung, der Selektion, selbst der Idealisierung einsetzen. Denn auch die an der Empirie ausgerichtete Darstellung ist Kunst, und das heißt, sie will
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nicht die kruden Fakten widerspiegeln, sondern sie will eine Vergeistigung des Sinnlichen bewirken. Die Überlegenheit der bildenden Kunst, das heißt die Tatsache, dass es ihr weit früher als der Literatur gelingt, die natürliche Welt nuanciert wiederzugeben, ist durchaus bemerkt worden, ohne dafür zureichende Gründe angeben zu können.35 Während die illusionistische Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts bereits eine große Meisterschaft in der Erfassung landschaftlicher Gegebenheiten entwickelt, das betrifft vor allem die Behandlung der räumlichen Dimensionen, des Lichts und der Farben, fallen solche Darstellungen noch in der Literatur des 18. Jahrhunderts undifferenziert und schablonenhaft aus, selbst bei einem so glänzenden Prosaisten wie Christoph Martin Wieland. Der übliche Hinweis auf Lessings Laokoon und die Grenzen der Dichtung und der Malerei reicht zur Erklärung nicht aus. Was im übrigen die Beziehung der Künste im Allgemeinen anlangt, so beeinflussen sie sich selbstverständlich gegenseitig; das belegen schon die zahlreichen Bilder mit literarischen Motiven. Und selbstverständlich sind Dichtung wie Malerei immer auch ein Ausdruck ihrer Zeit. Daraus folgt aber noch nicht zwangsläufig eine Gleichheit hinsichtlich der Aussagen und der künstlerischen Intentionen. Es ist durchaus möglich, dass sich in einem bestimmten Zeitraum die Künste unterschiedlich entwickeln, worüber umfassende Epochenbezeichnungen meist hinwegtäuschen. Jedenfalls ist immer zu überprüfen, inwiefern charakteristische Merkmale der einen auf die andere übertragbar sind. Ein Werk wie etwa Wellen von Eduard von Keyserling mit dem malerischen ‚Impressionismus‘ in Verbindung zu bringen, ist nur dann sinnvoll, wenn sich das im einzelnen nachweisen lässt. Vage Parallelen haben keinen Erkenntniswert. Richtig verstanden kann es indessen überaus förderlich sein, das eine mit dem anderen zu vergleichen. Wie es zur vollen Erschließung eines Bildes gehört, dessen etwaige poetische und religiöse Bezüge aufzudecken, so kann das Wissen um kunstgeschichtliche Sachverhalte zur Erklärung von Werken der Dichtung einen wesentlichen Beitrag liefern. Und in Bezug auf die Adaption der landschaftlichen Natur ist es sogar unerlässlich, dass man zum Verständnis der Literatur auf die bildende Kunst zurückgreift. Es muss noch hinzugefügt werden, dass es hier immer um erzählende Literatur und verwandte Formen geht, denn selbst bei den dichterischen Gattungen gibt es Unterschiede. Das Naturgedicht hat eine ganz andere Geschichte als die Naturbeschreibung. Schon früh, schon im Mittelalter ist es entwickelt. In ihm spricht sich ein Naturgefühl aus, für das es im Epos nichts Vergleichbares gibt. Der 35 So z.B. Ernst Bertram, Studien zu Adalbert Stifters 1ovellentechnik, Dortmund, 2.Aufl., 1966, S. 56f.
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Unterschied, um das wenigstens anzudeuten, hat damit zu tun, dass das Naturgedicht im Mittelalter wesentlich Preis der göttlichen Schöpfung ist, wofür in späterer Zeit ‚Natur‘ eingesetzt wird. Die hymnischen Formen, in denen sich das kundtut, haben ihr Vorbild in den biblischen Psalmen und Lobpreisungen. So ist diese Poesie vor allem Ausdruck der Empfindungen, die die Größe und die wunderbare Ordnung der Schöpfung oder der Natur dem Menschen eingeben. Das ist aber etwas ganz anderes als die Erfassung des Raumes, die Schulung des Blicks für die Ferne und die Entwicklung des panoramatischen Sehens. Dergleichen setzt erst spät ein, erst in der Renaissance, und seinen literarischen Niederschlag findet es, was sehr bezeichnend ist, nicht in den eigentlich dichterischen Genres, nicht in der Novelle und nicht im Epos, sondern im Brief und in eigens hervorgebrachten Formen der Beschreibung, worüber noch zu reden sein wird.36 Es war Leonardo da Vinci, der den Vorrang der Malerei in der Hierarchie der Künste begründet hat. Seine Ausführungen sind nicht nur von historischem Interesse. Sie haben darüber hinaus ihre Bedeutung für die Bestimmung des Verhältnisses von Wort und Bild bewahrt.37 Das Auge ist nach Leonardo das Organ, welches die Welt aufschließt. Geradezu hymnisch feiert er seine Leistungen. Sie sind das Fundament aller Wissenschaften und Künste. Das Auge ist das „Fenster des menschlichen Körpers“. Es ist ihm zu verdanken, dass der Geist Kontakt aufnehmen kann mit der ganzen Welt. Schon die Form des Augapfels, die eine Analogie zum Kosmos darstellt, deutet darauf hin. „Das Wissen“ des Auges „ist unumstößlich“, und das Sehvermögen wird mit dem Intellekt nahezu gleichgesetzt.38 Die Bilder, die die Augen vermitteln, begründen die Erfahrung, aus der alle Erkenntnis stammt. Sie, die Erfahrung, bezeichnet Leonardo als „gemeinsame Mutter aller Wissenschaften und Künste.“39 Das prinzipiell Neue dieser Auffassung, tritt erst hervor, wenn man berücksichtigt, wogegen Leonardo damit Front macht. Er richtet sich gegen die Buchgelehrsamkeit, nicht etwa nur gegen die ältere, die Scholastik, sondern auch gegen die 36 Vgl dazu das Kapitel Die Entdeckung der landschaftlichen Schönheit aus Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart 1976, S. 274ff. 37 Die folgenden Erörterungen beziehen sich auf die unter dem Titel Das Buch von der Malerei (Trattato della pittura) bekannten Aufzeichnungen und Fragmente Leonardos. Eine von ihm selbst geplante Veröffentlichung kam nicht zustande; spätere Herausgeber haben daraus Sammlungen zusammengestellt. Vieles ist unvollständig geblieben, manches verdorben und auch der ursprüngliche Zusammenhang lässt sich oft nur vermuten. Leonardos Gedanken sind vor allem als Anregungen zu lesen. Eine neuere Edition hat André Chastel besorgt und kommentiert, Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, München 1990. 38 So vor allem ebd., S. 137f. 39 Ebd., S. 205.
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der eigenen Zeit, den Humanismus. Er selbst hebt ausdrücklich hervor, dass er kein „Humanist“ sei.40 Und er schreibt auch nicht lateinisch, sondern in seiner Muttersprache, in Italienisch. Das ist keineswegs lediglich eine biographische Notiz, sondern gehört zur Sache, die er vertritt. Es sind nicht die Schriftkundigen, die die Wahrheit ergründen, sondern Leute wie er: Techniker und Künstler. Darin bekundet sich das epochale Bewusstsein einer neuen Wissenschaft. Und Leonardo berührt sich hier mit 1ikolaus von Kues, bei dem auch ein Handwerker, nicht ein Schulphilosoph den richtigen Weg zur Erkenntnis darlegt.41 Die Erfahrung beschränkt sich nicht auf die Hinnahme dessen, was sich dem Auge zeigt. Sie besteht vielmehr aus verschiedenen Teilen, und die Autopsie ist nur der Ausgangspunkt. Das Gesehene wird weitervermittelt an den ‚sensus communis‘ („Sammel- und Urteilsvermögen“), um dort mit anderen Wahrnehmungen abgeglichen zu werden. Wie das geschieht, darüber finden sich keine Angaben. Gemeint ist aber offensichtlich die geistige Verarbeitung der Sinnesdaten. Die entscheidende Neuerung bringt aber der Teil, der den Prozess der Empirie zum Abschluss bringt. Er beruht auf einem Tun. Die bis dahin gewonnene Einsicht muss umgesetzt werden, entweder in eine technische Hervorbringung, Leonardo redet von „Mechanik“, oder in eine Zeichnung. Man könnte sagen, wirklich erkannt ist ein Sachverhalt erst dann, wenn es gelingt, ihn zu rekonstruieren. „Hand und Geist“ müssen also zusammenwirken, um zu einer gültigen Erkenntnis zu kommen. Und seine Beglaubigung findet ein auf diese Weise erlangtes Wissen nicht durch die Berufung auf Autoritäten, also auf irgendwelche Autoren oder Bücher, sondern allein dadurch, dass seine Richtigkeit vor Augen geführt werden kann. Bei der Lektüre Leonardos lässt sich unmittelbar nachvollziehen, wie sich das die neuzeitliche Wissenschaft beherrschende Prinzip einer methodisch geleiteten Erfahrung allmählich herausbildet. Was er formuliert, ist nämlich nichts anderes als eine besondere Version des Experiments.42 Die Vermutungen über einen bestimmten Sachverhalt werden überprüft und verifiziert, indem man diesen selbst herzustellen versucht. Die Erkenntnis ist also verknüpft mit der Rekonstruktion eines fraglichen Zusammenhanges. Das kann auf zweierlei Weise geschehen, durch eine technische Realisation oder durch eine künstle40 So z.B. ebd., S. 126. 41 Das deutet schon der Titel eines seiner Werke an: Idiota de mente (Der Laie über den Geist). 42 Zur Erfahrung vgl. Leonardo, a.a.O., S. 140, 135, 62, 284. Die Formel Geist und Hand erinnern an die Bestimmung des Experiments von K.F. v. Weizsäcker, nach der dieses eine Synthese von Philosophie und Handwerk ist; vgl. die Ausführungen im vorigen Kp.
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rische Abbildung. Was die erste Möglichkeit betrifft, so kommt dafür z.B. der Bau eines Modells in Frage, und man muss sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass Leonardo ein genialer Konstrukteur war. Höher schätzt er aber die zweite Möglichkeit ein, schon deshalb, weil sie universaler ist. Sie beruht darauf, dass die gesamte Wirklichkeit mit artistischen Mitteln erkundet wird. Es ist die Kunst, die die wahren Verhältnisse herausstellt. Sie erfasst nicht nur isolierte Tatsachen, wie sie im Modell oder im Experiment erprobt werden, sondern auch noch die Nuancen, die Übergänge und den Einzelfall. Ihre Aufgabe besteht in der Sichtbarmachung. Erst in der Tätigkeit des Abbildens, erst dadurch, dass das Reale noch einmal erschaffen wird, können die Bedingungen seiner Existenz einsichtig gemacht werden. Eine besondere Stellung wird dabei der Zeichnung zugewiesen. Sie ist das „Grundprinzip“ der Malerei, und darüber hinaus gibt sie auch die Basis ab für die übrigen Künste, Wissenschaften und Handwerke; für sie alle liefert sie die Entwürfe und die Anleitung für die Durchführung eines Werks. In Leonardos Verständnis ist die Malerei eine „Wissenschaft“. Und mit ihr untersucht er Fragen wie beispielsweise die nach der Struktur des Raumes, nach dem Wesen der Farbe, nach dem Verhältnis von Licht und Schatten, nach der Beziehung von Anatomie und Ausdrucksgebärde; und es sind zwei große Aufgabenfelder, die die Malerei zu bearbeiten hat: den natürlichen und den menschlichen Kosmos.43 Die mimetische Angleichung ans natürlich Gegebene, die das Bild vollbringt, darf aber nicht auf ein unverstandenes Imitat hinauslaufen. Gefordert ist vielmehr eine geistige Durchdringung der Vorlagen. Wobei zunächst generell zu sagen ist, dass die Nachahmung ein Verfahren des Lernens und der Erkenntnisgewinnung ist. Derjenige, der einen Menschen nachmachen will, muss sich in ihn hineinversetzen können; dadurch begreift er etwas von seinem Wesen. Noch jede gelungene Parodie ist eine Erfassung der Eigenart des Parodierten. Und selbst eine Abbildung, die sich sklavisch an das Original hält, vermittelt eine Einsicht in einen Sachverhalt. Das mimetische Vorgehen ist zudem eine Methode der Exploration, es legt Eigenschaften, Bezüge und Verhältnisse des Realen offen. Und weiter hat es die Funktion, Eindrücke festzuhalten und zu konservieren. Bei Leonardo ist aber noch mehr damit gemeint, nämlich die Freilegung der konstitutiven Bedingungen der sichtbaren Welt. Was ihr zugrunde liegt, sind mathematische Bestimmungen. Es sind Zahlenverhältnisse und Maße, die den Kosmos durchwalten. Leonardo gebraucht dafür den Begriff der „Proportionalität“ („proportionalità“), der für ihn eine zentrale Bedeutung hat.44 Die 43 Vgl. Leonardo, a.a.O., S. 135f, 173. 44 Ebd., S. 142.
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Ordnung der Welt fußt auf dem Zusammenstimmen genau bemessener Größen, ganz so wie der menschliche Körper dadurch eine Einheit bildet, dass seine Glieder in einer zahlenmäßig angebbaren Relation zueinander stehen. Die wohl bekannteste Zeichnung Leonardos gibt dafür das Grundbeispiel ab: ein Mann, dessen ausgestreckte Arme und Beine sich in einen Kreis und in ein Quadrat einfügen, die übereinandergelegt sind. Die mathematischen Beziehungsgrößen machen jedoch nur einen Teil der Wirklichkeit aus; sie sind nur eine Abstraktion, so etwas wie eine formale Struktur, ein Gerüst oder Skelett. Das Erscheinungsbild der Dinge muss hinzukommen, um die volle Wirklichkeit zu erreichen. Sie ergibt sich aus dem Zusammenwirken der beiden Aspekte, des inneren und des äußeren. Beide bestehen nicht unabhängig voneinander. Was sich unter der Oberfläche abspielt, zeichnet sich auf ihr ab, und im Äußeren spiegeln sich die internen Verhältnisse wider. Die Malerei muss sich auf der Kenntnis beider Bereiche gründen. Sie kann die sichtbare Erscheinung nur richtig wiedergeben, wenn sie über das, was sich dahinter verbirgt Bescheid weiß. So kann man die Haltungen und Bewegungen, den Ausdruck und die Mimik von Menschen nur dann wahrhaft erfassen, wenn man sich auf den inneren Aufbau des menschlichen Körpers versteht. Leonardo selbst hat Leichen seziert und seine anatomischen Blätter sind ein imposantes Zeugnis dieser Studien. Ein anderes Beispiel wäre die Darstellung der Landschaft. Sie basiert auf einer Konstruktion des Raumes. Das ist eine Sache der Geometrie, von Operationen nach den Gesetzen der Perspektive. Zu einem Anblick der natürlichen Welt ist man damit noch nicht gelangt. Aber ohne diese Konstruktion wären die Beziehungen und die Stellungen der Erscheinungen im Raum allenfalls mangelhaft aufgefasst. Daraus zu schließen, die Essenz der Dinge liege in rein quantitativen Bestimmungen, verbietet sich aber nach Leonardo. Das liefe auf einen Reduktionismus hinaus, der die eine Seite der Wirklichkeit überhaupt nicht gewahrt, die nach der sie den Menschen anspricht, ihn anzieht und seine Gefühle erweckt. Es ist das, was die Fülle des Lebens ausmacht und was die Malerei festhalten will. Leonardo sagt dazu einfach „Schönheit“. Das Lächeln ist noch etwas anderes als die Kontraktion von Gesichtsmuskeln, es ist unendlich viel mehr; es ist geheimnisvoll, betörend und beglückend wie das der Mona Lisa. In ihrem Aussehen, in ihren Posen und Stellungen bekunden die Gestalten der Wirklichkeit ihren Daseinszweck. Das heißt, sie sind beseelt, und das gilt nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Naturerscheinungen. Und dies ist die Seite der Wirklichkeit, nach der sie Ausdruck, Expression ist. Das Sezieren und Analysieren, die mathematischen Berechnungen, so notwendig sie sind, reichen nicht an diese Dimension. Die Strukturen, die dadurch
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aufgedeckt werden, sind eigentlich tot. Ins Dasein treten sie erst in der individuellen Verkörperung, in den unendlichen Gestaltwerdungen, die das Spiel des Lebens darstellen. Leonardo ist die Verwunderung darüber anzumerken, dass sich das menschliche Skelett bei Dicken wie bei Dünnen in nichts unterscheidet. Leonardos Wissenschaft der Malerei ist ausgespannt zwischen den Polen der Abstraktion und Konkretion, der Zergliederung und der Gestaltwahrnehmung. Ihr Rang besteht darin, dass sie die beiden Hinsichten der Wirklichkeit verbindet. In der weiteren Entwicklung der neuzeitlichen Epistemologie fallen diese auseinander. Es etabliert sich eine analytische, mathematisierte Wissenschaft, die über die Bedeutung der sichtbaren Welt nichts zu sagen weiß. Die Außenansicht der Dinge überlässt sie der Kunst, die ihre Erkenntnisfunktion verliert und nur noch emotionale und dekorative Bedürfnisse befriedigt. Gegenüber dieser generellen Tendenz haben sich die Versuche, eine an der Anschauung und an der lebensweltlichen Sicht ausgerichtete Wissenschaft zu begründen, nicht behaupten können. Gleichwohl gehören beide Seiten, der Innenaspekt und der Außenaspekt, zur Wirklichkeit. Eine Besinnung darauf hat in der Biologie des 20. Jahrhunderts stattgefunden. Einer ihrer Vertreter, Adolf Portmann, gebraucht das Bild des Theaters, um die Lage des Forschers kenntlich zu machen. Einmal kann er sich als Betrachter vor der Bühne aufhalten und den Sinn des Geschehens zu ergründen suchen. Er ist dann mit den mannigfaltigen Formen befasst, mit den Expressionen, Posen, Figurationen und Rhythmen des Lebendigen. Von dieser Warte aus versteht sich die Wissenschaft, gemeint sind vor allem die Zoologie und die Botanik, als „Formenkunde“ oder „Morphologie“. Sie erfordert eine dem künstlerischen Blick verwandte Sichtweise. Die andere Möglichkeit liegt darin, hinter die Bühne zu gucken und die Mechanismen, die die Schaustellung benötigt, freizulegen. Dann werden die vitalen Gestalten aufgelöst, und die Lehre vom Lebendigen wird als Biochemie, Biophysik oder Molekularbiologie betrieben.45 Die Kunst ist nach Leonardo integrierender Bestandteil der auf der Erfahrung sich gründenden Wissenschaft. Wie sich dem Auge die Wirklichkeit öffnet, so wird das Gesehene begriffen in der künstlerischen Rekonstruktion und durch sie. Die Kunst ist eine zweite Schöpfung, aber eine, die vom menschlichen Geist hervorgebracht wurde. Dieser ist „ein Abbild des göttlichen Geistes“ und wie er begabt mit der Kraft der Erfindung. Auch hierin begegnen sich Leonardo und Cusanus, und man sieht, wie zwei führende Vertreter einer Epoche unabhängig voneinander ähnliche Gedanken entwickeln. Diese Bestimmun45 Adolf Portmann, An den Grenzen des Wissens, Frankfurt/M. 1976, S. 29ff.
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gen sind indessen hauptsächlich bezogen auf die Malerei. Sie steht an der Spitze der Künste. Und im Paragone, im Wettstreit der Künste, rangiert sie noch vor der Bildhauerei, schon deshalb, weil letztere die Vielfalt der verschiedenartigen Farben nicht ausdrücken kann und Licht und Schatten nicht selbst hervorbringt. Sie generiert zudem von sich aus keine perspektivische Sicht der Welt. Diese Argumentation lässt etwas von den Maßstäben erkennen, die Leonardo anlegt. Gemessen wird eine menschliche Kunstfertigkeit an dem kreativen und investigativen Potential, das in ihr steckt. Und was das betrifft, so steht die Dichtung weit unter der Malerei, denn von den beiden ist nur die zweite daran beteiligt, die wahren Zusammenhänge der Wirklichkeit aufzudecken. Sie verfügt dazu über die operativen Mittel und Techniken, man braucht nur an die konstruktive Kraft des Zeichnens zu denken; sie nennt Leonardo eine „universale Enthüllerin“. Die Dichtung dagegen ist selbst nicht produktiv, sie kann nur wiedergeben, was die anderen Wissenschaften herausgefunden haben, sie „stiehlt“, sagt Leonardo geringschätzig. Diese Insuffizienz hängt damit zusammen, dass sie nicht wie die Malerei in der Lage ist, ein naturgetreues Abbild der Dinge vor Augen zu führen. Sie erreicht nur das Ohr und appelliert damit lediglich an die „Einbildung“. Was die Worte an jemanden herantragen, muss dieser von sich aus zur anschaulichen Gegebenheit bringen. Er muss selbst eine Vorstellung des Gesagten erzeugen. Anders das Bild, nur dieses verbürgt Authentizität. Es wendet sich gleich an das Auge und gibt die Realität direkt wieder, während der sprachliche Ausdruck diese nur indirekt erfasst und erst über das Ohr zum Auge gelangt. Hinter dieser Argumentation steckt Leonardos Überzeugung, dass die Wirklichkeit mit der sichtbaren Welt gleichzusetzen ist. Entsprechend nehmen die „sichtbaren Künste“ eine Vorrangstellung ein und das gesamte Wissensgebäude wird von daher neu aufgebaut. Worauf aber Leonardos Überlegungen hinauslaufen, ist etwas, wofür ihm noch die Begriffe fehlen. Der Unterschied zwischen der Malerei und der Literatur beruht darauf, dass es sich beim Bild und beim Wort um völlig andere Arten der zeichenhaften Vermittlung von Sachverhalten handelt. Darüber später mehr. Jedenfalls legt Leonardo die Gründe klar dar, warum bei der Naturdarstellung die Malerei gegenüber der Literatur einen Vorsprung gewinnen konnte. Sie ist erstens der Erfahrung und der Beobachtung verpflichtet. Sie vermag sich damit zweitens aus geistigen und religiösen Traditionen zu befreien. Sie ist drittens das Medium, das die Seheindrücke, welche die Welt des Menschen aufbauen, am besten erfassen kann. Im praktischen Teil seiner Ausführungen, also in dem, der einzelnen Fragen der Malerei gewidmet ist, gibt Leonardo Anleitungen für die Landschaftsmalerei, die ohne jeden allegorischen oder sinnbildlichen Bezug auskommen und die dem reinen Sehen ab-
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gewonnen wurden. Er beschäftigt sich da mit den Farben der Berge in der Ferne oder mit dem Aussehen der Bäume und der Wolken.46 Neben den drei genannten Gründen gibt es einen vierten, der eine Sonderstellung einnimmt, schon deshalb, weil er immer wieder angeführt wurde, nicht zuletzt von Lessing. Er bezieht sich auf ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal der Künste, darauf, dass die Dichtung die Zeit, die Malerei den Raum zu ihrem Element hat. Auch hierin liegt für Leonardo ein Vorzug der letzteren. Es ist die Eigenart der Literatur, dass sie ihre Gegenstände in einem Nacheinander entfalten muss. Sie reißt damit auseinander, was eigentlich zusammengehört. Und während sie bei einem Teil ist, ist der vorhergehende schon nicht mehr vorhanden und, so muss man hinzufügen, der nachfolgende noch nicht. Das betrifft sowohl die Herstellung als auch die Aufnahme von Literatur. Wer sie verstehen will, muss das bereits Gesagte behalten und muss zudem vorauseilen an das vermutliche Ende, um die Passage, bei der er gerade ist, einordnen zu können. Es entsteht ein Zirkel des Verstehens. Aber das sind Fragen einer literarischen Hermeneutik, die hier nicht zu erörtern sind. Imgleichen muss der Autor sich darüber Gedanken machen, wie er eine Einheit aus aneinandergereihten Elementen hervorbringen kann. Das wird besonders deutlich bei einer Beschreibung, zum Beispiel bei der einer Landschaft, und solche Beispiele hat wohl auch Leonardo im Sinn. Wie kann es gelingen einen Gesamteindruck zu erzeugen, wo doch immer nur das eine nach dem anderen ausgeführt werden kann? Im Unterschied dazu stellt der Maler einen Betrachter vor eine Ansicht, die alle Teile auf einmal darbietet. Er zeigt seinen Gegenstand „ganz“ und „gleichzeitig“. Die Ganzheit erreicht er in zweierlei Hinsicht. Einmal so, dass er nicht separierte Aspekte präsentiert, sondern ein fertiges, in sich geschlossenes Gebilde. Immer kommt also das Werk als Ganzes in den Blick. Und sodann lässt er sehen, wie sich die Glieder zu diesem Ganzen verhalten. In einem Zug werden also der Sinn der Gesamtkomposition und der Sinn der einzelnen Teile, aus denen diese besteht, herausgestellt. Ihre ontologische Grundlage hat diese Konzeption in der Annahme, dass die Gestalten der Wirklichkeit eine ihnen eingepflanzte Ordnung haben. Die gibt vor, wie die Teile aufeinander bezogen sein müssen, damit sie ins Dasein treten und sich im Dasein halten können. Es verhält sich damit so wie bei einem Organismus, wie beim menschlichen Körper zum Beispiel. Die Zuordnung der Glieder und der verschiedenen Organe muss stimmen, damit er lebensfähig ist. Die Dinge streben also einer bestimmten Form zu, und erkannt sind sie, auch die in statu nascendi, wenn sie vom Stadium ihrer Vollendung her begriffen werden. Sie finden ihre Erfüllung in dem 46 Vgl. Leonardo, a.a.O., S. 271–280.
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Ziel, das in ihnen angelegt ist. Das erinnert natürlich an den EntelechieGedanken des Aristoteles. Für Leonardo ist es aber der Künstler, vor allem der Maler, der die Proportionen der Dinge und damit ihr Wesen erfasst und sichtbar macht.47 Die Darlegungen Leonardos nehmen eine überraschende Wendung. Er, der der Literatur kaum zutraut, die natürliche Welt adäquat wiederzugeben, beginnt selbst zu schriftstellern. Gemeint sind nicht die Sonette, von denen wir nur Berichte kennen und die er wohl für bestimmte Gelegenheiten gedichtet hat; auch nicht die Fabeln und kleinen Humoresken, von denen eine Anzahl überliefert ist.48 Was hier in Betracht kommt, ist der Umstand, dass sich Leonardo mit philologischen Fragen auseinandergesetzt hat. Erkennbar ist in diesen Studien das Bemühen, sich Rechenschaft zu geben über die Ausdrucksfähigkeit der Sprache, insbesondere über die der italienischen. Er lässt sich dabei von dem Grundsatz leiten, den auch seine übrigen Untersuchungen bestimmen: Auch das Wort muss an die sichtbare Erfahrung gebunden sein, und er überprüft, inwiefern das vorhandene sprachliche Material geeignet ist, Sachverhalte zu erfassen. Die Philologie ist für ihn also mehr als die Exegese überlieferter Texte, auf die sich der humanistische Literaturbetrieb weitgehend beschränkt hatte.49 Schließlich nimmt er ins Buch über die Malerei Prosastücke auf, die sich wie Szenarien lesen. Zu nennen wären vor allem Die Insel der Venus, Wie eine Schlacht darzustellen ist und Die Beschreibung der Sintflut. Skizzen und Zeichnungen sind in sie eingefügt, so dass die Wörter durch bildnerische Elemente ergänzt werden. Konzipiert sind diese Arbeiten wohl auch als Vorlagen für Gemälde. Deren „in gewissem Sinne filmisches Wesen“ überstiege allerdings die Möglichkeiten der Malerei, wie der Herausgeber André Chastel zu Recht bemerkt. Tatsächlich hat Leonardo die Übertragung einer dieser Schilderungen in ein Gemälde in Angriff genommen; es ist das nicht zu Ende gebrachte über die Schlacht von Anghiari.50 Was Leonardo entwickelt, ist eine völlig neuartige Kunst der Beschreibung, die über das hinausgeht, was man in seiner Zeit unter Dichtung verstand. Sie besticht durch die minutiöse, nuancierte Wiedergabe von Bewegungen und Abläufen. Einen „hohen, literarischen Rang“ billigt ihr Chastel zu. Aber von einer „amüsanten Rache des Geschriebenen über das Bild“ zu
47 Vgl. ebd., S. 140–146. 48 In dem Sammelband Leonardo da Vinci. Das Leben eines Genies, Wiesbaden/ Wien 1955, der Beiträge von italienischen Experten vereinigt, sind diese kleinen Stücke abgedruckt; s. S. 215ff. 49 Vgl. dazu den Beitrag von Luigi Sorrento, Die Philologie Vincis, ebd., S. 215ff. 50 Die Stücke und die entsprechenden Zeichnungen sind zu finden a.a.O., S. 185ff.
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sprechen, nimmt diesen Arbeiten ihr bestes, nämlich Erkundungen über das Verhältnis von Wort und Bild zu sein.51 Wenn, was die vormoderne Ästhetik behauptet und was Leonardo immer wieder hervorhebt, wahre Kunst ‚Nachahmung der Natur‘ ist52, dann bedeutet für sie die Darstellung der Bewegung eine Herausforderung. Prozesse sind nun einmal für die Natur konstitutiv. Dem muss auch eine Weltsicht Rechnung tragen, die im Grunde genommen einen statischen Naturbegriff hat. Sie nimmt an, dass nichts Neues generiert wird. Es sind die ewigen Verlaufsgesetze und Formen, die das kosmische Geschehen bestimmen. Die der Natur innewohnende ungeheure Dynamik, dies, dass sie in ständiger Veränderung begriffen ist, spricht nicht gegen diese Annahme. Die Formel Goethes dafür lautete: „Alles ist neu und doch immer das Alte.“53 Erst im 19. Jahrhundert beginnt sich eine andere Überzeugung durchzusetzen. Sie ist verbunden mit der Evolutionstheorie und dem Namen Darwin. Nun gewinnt der Faktor Zeit eine zentrale Bedeutung. Diese fundamentale Umstellung des Weltbildes wirkt sich auch auf die Kunst aus. Sie wird gewissermaßen verzeitlicht, mit einer sich steigernden Tendenz. Die Bilder Claude Lorrains wirken zeitlos. Ein Abendhimmel steht über der Landschaft, wie er immer über ihr gestanden hat. Dagegen wollen die Maler der naturalistischen Richtungen Ort und Zeit genau registrieren. Der Blick auf den Jardin du Luxembourg des Jacques Louis David hält nur diese bestimmte Stunde fest. Und John Constable sucht die wechselnden atmosphärischen Bedingungen einer sich ständig verändernden Natur einzufangen. Im Impressionismus verschwimmen die Ansichten vollends zu relativen, flüchtigen Momenten.54 Die vordarwinistische Epoche richtet dagegen ihr Augenmerk auf das, was Bestand hat, auf die bleibende Form. Dafür steht bei Leonardo der Begriff der Proportion. Aber das ergibt noch keine Antwort auf die Frage, was es mit den fließenden Teilen der Natur auf sich hat, mit dem Wasser, dem Wind, den Wolken, mit den unsteten Spielen des Lichts, den Launen des Wetters, dem Wechsel der Jahres- und Tageszeiten und mit der Fortbewegung der Körper. Gerade diesen inkonstanten, oszillierenden Erscheinungen, die sich einem Zugriff immer wieder entziehen, wendet sich Leonardo zu. Als Naturforscher und Ingenieur beschäftigt er sich mit der Luft und dem Wasser. Er gewinnt Erkenntnisse über den 51 52 53 54
Vgl. ebd., S. 173f. So ebd., S. 139, 161, 164, 169, 206, 213f, 223. Aus dem Fragment Die 1atur, a.a.O., Bd. XIII, S. 45. Einzelheiten bei Erich Steingräber, Zweitausend Jahre europäische Landschaftsmalerei, München 1985, S. 327ff, S. 343ff. Über die Hintergründe der Dynamisierung des Lebensgefühls äußert sich Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1975, S. 928ff.
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Luftdruck und den Auftrieb, und er ergründet, auch experimentell, die Strömungsgeschwindigkeiten in Fließgewässern sowie die Bildung von Strudeln und Wellen.55 Die Ergebnisse dieser Forschungen gehen ein in die künstlerische Arbeit oder richtiger: sie sind von ihr gar nicht zu trennen, denn die beobachteten Phänomene sind nur zu erfassen durch artifizielle Mittel. Und nun ergibt es sich aus der Sache, dass Leonardo gezwungen ist, zur Beschreibung überzugehen, denn nur diese vermag eine Folge darzustellen, ist aufnahmefähig für das Nacheinander, etwas, das die bildnerische Wiedergabe nicht zuwege bringt. In ihr erstarren die Bewegungen, die das Auge registriert. Und es ist nur ein Moment, den sie fähig ist festzuhalten. Allerdings kann das der entscheidende Moment sein, also der, in dem ein Geschehen kulminiert. Ein Beispiel wäre die Zeichnung einer Welle. Sie zeigt das Wasser in einem Zustand, in dem es sich zu einer bestimmten Form aufgetürmt hat. Gewiss, das ist nur ein Durchgangsstadium. Wie die Welle sich vorher formiert hat, so wird sie ein wenig später umschlagen. Aber sie strebt doch einer charakteristischen Gestalt zu, und es ist genau diese, welche die Zeichnung festhält. Das erlaubt, sie von anderen Wellen zu unterscheiden, und der Erkenntnisgewinn wäre der, dass man auf diese Weise zu einer Typologie von Wellen kommt. In der Beschreibung liest sich das folgendermaßen: „Wenn aber die Wellen an verschiedene Gegenstände stoßen, dann schnellen sie zurück über die herannahenden nächsten Wellen, wobei ihre gekrümmte Bewegung auf dieselbe Weise zunimmt, wie wenn sie ihre bereits begonnene Bewegung zu Ende geführt hätte.“56 Das Bild hält den Prozess an, darin verfehlt es die Wirklichkeit. Allenfalls kann es andeuten, dass die Dinge im Fluss sind. Es muss dann so angelegt sein, dass der Betrachter in die Lage versetzt wird, sich vorzustellen, was vorangegangen ist und was folgen wird. Er muss sich also das Regungslose zurück übersetzen in die Verlaufsform. Und das Bild kann nur an sein Vorstellungsvermögen appellieren. Die sprachliche Wiedergabe ist dem Bild darin überlegen, dass sie fähig ist, ein Geschehen zu dokumentieren. Aber wie dieses hat auch sie einen entscheidenden Mangel. Der optische Eindruck ist in ihr nämlich nur indirekt präsent. Auch sie muss an das Vorstellungsvermögen des Rezipienten appellieren. Der Text kann nur auf Visuelles verweisen. Zwar lenkt er bis zu einem gewissen Grad die Einbildungskraft des Lesers oder Hörers, aber die Bilder muss dieser sich doch selbst aus55 Der angeführte Sammelband bringt Beiträge zu diesen Thema; vgl. Sebastiano Timpanaro, Die Physik Vincis, a.a.O., S. 209ff; Carlo Zammattio, Hydraulische und nautische Studien, ebd., S. 467ff. 56 Buch von der Malerei, a.a.O., S. 192; vgl. die Zeichnungen S. 191, 322; Sammelband, S. 460–466, S. 471ff.
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staffieren. Nur annähernd entsprechen sie dem, was dem Verfasser vor Augen stand, sie sind also nicht authentisch, und sie variieren nach der individuellen Aufnahme. Das Vorgehen Leonardos besteht nun darin, dass sich Schilderung und Zeichnung gegenseitig erläutern. Das bildgebende Verfahren überlässt es nicht der Phantasie des Rezipienten, sich einen optischen Eindruck der tatsächlichen Gegebenheiten zu verschaffen, ebenso wenig wie die verbale Notierung es ihm überträgt, sich die Phasen eines Prozesses auszudenken. Um eine Einsicht ins Tatsächliche zu vermitteln, bedarf es der Ergänzung von Bild und Wort, und die deskriptiven Wissenschaften wie die Geografie, wohl wissend um die Schwächen des einen wie des anderen, bedienen sich beider Verfahren. Wobei unter ‚bildgebend‘ auch Landkarten und dergleichen zu verstehen sind.
Leonardo da Vinci, Die Schlacht von Anghiari, Kopie von Peter Paul Rubens, Louvre, Paris.
Es gibt in der bildenden Kunst verschiedene Möglichkeiten der Bewegung und damit der Zeit beizukommen. Angefangen damit, dass die Sukzession in die Simultaneität aufgehoben wird. Man sieht dergleichen auf mittelalterlichen Fresken. Da werden die sich ablösenden Phasen einer Geschichte einfach nebeneinandergestellt und in einem Bild vereinigt. ‚Erzählende Bilder‘ nennt das die Kunstgeschichte, und viel-
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leicht sind sie weniger naiv, als sie uns heute anmuten. Wieder anders erscheint die Zeit, wenn auf sie durch Symbole wie Sanduhren oder Totenschädel hingewiesen wird. Das welke Blatt und die faule Frucht im Stillleben haben die gleiche Funktion. Diese traditionelle Ikonographie der Vergänglichkeit setzt aber ein erhebliches Vorverständnis beim Betrachter voraus, und sie ist auch deshalb unbefriedigend, weil die gezeigten Gegenstände in der Bewegungslosigkeit verharren. Die Frage ist, ob die Zeit nicht mit rein malerischen Mitteln dargestellt werden kann. Das ist allerdings ein paradoxes Unterfangen, denn dass das Bild statisch ist, ist überhaupt nicht in Abrede zu stellen. Wie alle Künste des Disegno, wie die Architektur, die Bildhauerei und die Graphik gehört auch die Malerei zu einer Kunst des Raumes, im Unterschied zu einer der Zeit, welche die Dichtung, die Musik und den Film umfasst. Die scheinbar unmögliche Aufgabe ist demnach die, Bewegung in das seinem Wesen nach Statuarische zu bringen. Von einer Zeitstruktur des Bildes kann indessen durchaus gesprochen werden, allerdings nur unter der Bedingung, dass man den Betrachter einbezieht. Nun steht das Kunstwerk nie für sich; es ist immer berechnet auf einen Rezipienten. Aber dessen Aktivität wird doch unterschiedlich gefordert. Die Darstellung des Wandels nun muss verstärkt auf seinen Beistand setzen. Wie die Aufgabe gelöst werden kann, wurde bereits mit dem Hinweis auf Leonardos zeichnerische Behandlung der Welle angedeutet. Eine größere Herausforderung ist die Darstellung eines Ereignisses, bei dem mehrere Abläufe, Intentionen und Reaktionen ineinander greifen. Ihr stellt sich Leonardo mit dem Gemälde der Schlacht von Anghiari.57 Die unterschiedlichen Handlungen, die Körperbewegungen und Haltungen von Menschen und Pferden, den aufwirbelnden Staub und die Lichtreflexe komponiert Leonardo zu einem überaus dynamisch wirkenden Tableau. Es zeigt den entscheidenden Moment des Kampfes, den, in welchem die eine Partei die Oberhand gewinnt und der Ausgang sich abzuzeichnen beginnt. Die Besiegten schicken sich an zu fliehen, und die Sieger drängen nach, nun schon ihres Triumphes gewiss. Der Zeitpunkt wird festgehalten, in dem sich das Geschehen gewissermaßen zusammenzieht. Er lässt Rückschlüsse darauf zu, was ihm vorausliegt und was folgen wird. Es ist dies kein beliebiger Zeitpunkt, kein bloßes Durchgangsmoment. Vielmehr ist er herausgehoben aus der Folge gleicher Zeitatome; diese überragt er an Bedeutung. Er ist der Wendepunkt, die kurze Zeitspanne, in der ein Prozess den ihn bestimmenden Impuls 57 Dieses ist, wie schon gesagt, nicht fertig gestellt worden. Zahlreichen Vorstudien dazu und die Kopie von Rubens finden sich in dem zitierten Sammelband, a.a.O., 129–137, 508. Ergänzt werden sie durch die Beschreibung einer Schlacht, Buch von der Malerei, a.a.O., S. 185ff.
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bekommt. Im Unterschied zum verschwindenden, vorübergehenden temporären Bruchstück hat man ihn als ‚Augenblick‘ bezeichnet, als Augenblick der Wahrheit oder der Entscheidung, als Fülle der Zeit. Er ist das, wofür das Griechische das Wort NDLURV(Kairos) geprägt hat. In dieser exklusiven, nichtalltäglichen Bedeutung hat der Terminus eine lange Tradition. Im religiösen Sprachgebrauch bezeichnet er den besonderen Moment der Bekehrung oder der göttlichen Erleuchtung, in dem alles neu wird. Und in der Philosophie markiert er das Element der Dauer im kontinuierlichen Fluss der Zeit. Kierkegaard definiert ihn folgendermaßen: Der Augenblick ist jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit einander berühren, und damit ist der Begriff Zeitlichkeit gesetzt, allwo die Zeit fort und fort die Ewigkeit abriegelt und die Ewigkeit fort und fort die Zeit durchdringt. Erst jetzt erhält jene besprochene Einteilung ihre Bedeutung: die gegenwärtige Zeit, die vergangene Zeit, die zukünftige Zeit.58
Abgesehen davon, dass den Formulierungen die religiöse Abkunft anzumerken ist, enthalten sie eine fundamentale Aussage über das Wesen der Zeit. Diese kann man nicht begreifen als stetige Abfolge von Jetztpunkten. Man muss aus dem unaufhörlichen Vergehen herausgehoben sein und Phasen des Wandels überblicken, um überhaupt von Zeit reden zu können. Eben das leistet der Augenblick, und durch ihn konstituieren sich erst die zeitlichen Ekstasen, erst durch ihn gibt es eine Gegenwart, von der aus sich die Vergangenheit und die Zukunft öffnen. Diesen Zusammenhang wird auch von den Theoretikern der Zeit in unterschiedlicher Weise ausgedrückt. So sagt Aristoteles: Erleben wir… nur ein einziges Jetzt und entweder keine Abfolge von Bewegungsphasen oder auch den Jetztpunkt nicht als identischen Punkt zwischen einer früheren und einer späteren Prozessphase, dann haben wir nicht den Eindruck, es sei Zeit verstrichen, weil wir auch nicht den Eindruck haben können, es sei ein Prozess vor sich gegangen.59
In der bildenden Kunst erscheint der Augenblick als das Stadium eines Geschehens, in dem eine Gestalt erkennbar wird. In dieser verdichtet sich ein Prozess. Sie ist das, was bleibt, die Fluktuation gewinnt Dauer, ganz so wie die Welle eine typische Form annahm. Von diesem Schnittpunkt aus lässt sich eine Entwicklung ausmachen. In ihm ereignet sich die simultane Präsenz eines Vorher und Nachher oder die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.60 Dadurch gewinnt die Zeit Ein58 Der Begriff Angst, Gesammelte Werke, 11. u. 12. Abt., Düsseldorf 1958, S. 90f. 59 Physikvorlesung, IV, 10. 60 So der Kunsthistoriker Hans Holländer. Er redet von ‚Augenblicksbildern‘ und findet sie bei Leonardo, aber auch bei Rembrandt und anderen. Vgl. Augenblicksbilder. Zur Zeit-Perspektive in der Malerei, in: Christian W. Thomsen/Hans Holländer (Hg.), Au-
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gang in die Kunst. Aber es ist der Betrachter, der die Sukzession herstellen muss. Er verlängert gewissermaßen den Augenblick, zurück in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft. Erst in seinem Bewusstsein entsteht eine Entwicklungslinie. Diese anzuregen, ist die Leistung des Bildes. Es löst beim Betrachter der Schlacht von Anghiari eine Vorstellung vom ganzen Verlauf des Treffens aus. Und natürlich wird dabei auch sein Wissen über die historischen Umstände abgerufen. Obwohl also die bildende Kunst Darstellungsweisen entwickelt, durch die sie aufnahmefähig wird für die Zeit, so bleibt sie darin doch sehr beschränkt, und was die Auseinandersetzung mit Leonardo gerade zeigt ist, dass sich die bildhafte und die sprachliche Erfassung ergänzen müssen, dass die eine auf die andere verweist. Lessing nimmt die Vorstellung einer aus dem gleichmäßigen Dahinfließen herausgehobenen Zeitspanne auf. In der Form des „fruchtbaren Augenblicks“ dient sie ihm als wichtiges Kriterium, um die bildende Kunst von der Dichtung abzuheben. Erstere kann das „Transitorische“, wie er es nennt, also das bloß Vorübergehende nicht verwenden, deshalb nicht, weil ihr alles zur Dauer gerinnt. Ein Durchgangsstadium, etwas, das nur das Stück eines Weges ist, bekäme eine ihm nicht gebührende Bedeutung. Und eine flüchtige Erscheinung gewinnt den Status des Endgültigen. Ein Lachen beispielsweise erstarrt zur Grimasse, es wirkt dann völlig unangemessen und widernatürlich, ja abstoßend. Das Transitorische ist etwas für die Dichtung, denn sie begreift es als das, was es ist, als Teil einer Entwicklung, von der her es seinen Sinn empfängt. Der bildende Künstler unterliegt ganz anderen Bedingungen, er kann „von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick …brauchen“. Und dieser darf nicht zufällig oder nur nebensächlich sein. Er muss den Extrakt eines Vorgangs enthalten. Deshalb kann er „nicht fruchtbar genug gewählet werden“. Der „prägnanteste“ Moment ist zu finden, und das ist der, „aus dem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.“61 Die LaokoonGruppe dient Lessing zur Demonstration seiner Auffassung. Aber Lessing bewertet den Augenblick anders als die neuere Kunstgeschichte. Nicht wie diese sieht er darin die Möglichkeit, das Problem der Zeit mit artistischen Mitteln anzugehen, sondern er nimmt dies als Beleg dafür, dass die bildende Kunst nur darzustellen vermag, was die Dignität der Dauer hat. Ihr ist es nicht gegeben, den Wandel auszudrücken. Und daraus folgt, dass sie allein das Räumliche und das Nebeneinander adäquat wiedergeben kann, während das Zeitliche und genblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaft, Darmstadt 1984, S. 175ff. 61 Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke, 6. Bd., München 1974, S. 25, 103.
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das Nacheinander das Gebiet der Dichtung ist. Diese Aufteilung wird gestützt durch eine Erörterung über die Beschaffenheit der Zeichen, deren sich beide Künste bedienen. Die Malerei verwendet „Figuren und Farben im Raume“, und ist deshalb befähigt, „Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren“ zu erfassen. Die Zeichen der Poesie dagegen bestehen aus „artikulierten Tönen in der Zeit“ und gehen auf Gegenstände, „die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen“. Die Unterscheidung fällt zusammen mit der zwischen „natürlichen“ und „willkürlichen Zeichen“. Als ‚natürlich‘ kann das Bild deshalb gelten, weil es in einem Verhältnis der Ähnlichkeit zum Dargestellten steht. Der Baum auf dem Gemälde entspricht dem in der Landschaft. Anders liegen die Dinge in der Sprache. Das Wort hat nichts von dem bezeichneten Gegenstand an sich; ebenso gut hätte man eine andere Lautkombination wählen können; es muss deswegen ‚willkürlich‘ heißen.62 So sehr auch Lessings Trennung, nach der „die Zeitfolge … das Gebiet des Dichters, … der Raum das Gebiet des Malers“ ist,63 einleuchtet, so sind doch seine Ausführungen über die Zeichen weniger überzeugend, denn über die Qualität der sprachlichen scheint er sich im Unklaren zu sein. Im veröffentlichten Text des Laokoon werden sie durchweg als „willkürlich“ ausgegeben. In späteren Erläuterungen zu seiner Schrift, welche ein Brief an 1icolai enthält, soll die Dichtung hingegen auch über „natürliche Zeichen“ verfügen. Damit sind nicht nur die onomatopoetischen oder lautmalerischen Wörter gemeint. Nach Lessing gibt es vielmehr eine Staffelung der Symbole, die der Literatur zu Gebote stehen, bis sie schließlich dahin gelangt, natürliche Zeichen zu gebrauchen. Daraus ergeben sich Kriterien für die Bewertung der Kunst. Wie die Malerei ihr Bestes gibt, wenn sie sich auf das beschränkt, was sich mit optischen und räumlichen Mitteln, also mit den für sie ‚natürlichen Zeichen‘ darstellen lässt, so gelangt auch die Dichtung zu ihrer höchsten Bestimmung, wenn sie sich an das hält, was einzig durch Worte ausgedrückt werden kann, wofür diese also die ‚natürlichen Zeichen‘ abgeben. Die entscheidende Passage lautet: Die Poesie muss schlechterdings ihre willkürlichen Zeichen zu natürlichen zu erheben suchen; und nur dadurch unterscheidet sie sich von der Prose, und wird Poesie. Die Mittel, wodurch sie dieses tut, sind der Ton, die Worte, die Stellung der Worte, das Silbenmaß, Figuren und Tropen, Gleichnisse usw. Alle diese Dinge bringen die willkürlichen Zeichen den natürlichen näher; aber sie machen sie nicht zu natürlichen Zeichen: folglich sind alle Gattungen, die sich dieser Mittel bedienen, als die niedern Gattungen der Poesie zu betrachten; und die höchste Gattung der Poesie ist die, welche die willkürlichen Zei62 Ebd., S. 102f; zu den Begriffen natürlich bzw. willkürlich s. S. 52, 56, 96, 109. 63 Ebd., S. 116.
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chen gänzlich zu natürlichen Zeichen macht. Das ist aber die dramatische; denn in ihr hören die Worte auf, willkürliche Zeichen zu sein, und werden natürliche Zeichen willkürlicher Dinge.64
Lessing gibt dazu keine weiteren Erklärungen ab, und so bleibt offen, wie das genau zu verstehen ist. Man kann sich aber in Fortführung von Lessings Gedanken fragen, was denn die Reden, die Dialoge und Monologe im Drama ausdrücken. Und das sind die Gedanken und Gefühle der agierenden Personen, ihre Absichten und Motive. Sie erklären, begründen, rechtfertigen und entschuldigen ihre Handlungen und Haltungen. Die dramatische Rede ist Expression eines Innerseelischen, und die Worte wären die natürlichen Zeichen, und das heißt die adäquaten Repräsentanten psychischer Vorgänge. Der Laokoon hat durchaus seine polemischen Passagen. Wogegen sich Lessing wendet, sind die Übergriffe der einen Kunst auf das Gebiet der anderen. So ist die Dichtung nur in eingeschränktem Maße fähig, eine Ansicht wiederzugeben, einfach deswegen, weil das Medium der Sprache das nicht hergibt. Hierin ist das Gemälde nicht zu überbieten. Es den Malern gleichtun zu wollen, verurteilt Lessing als „Schilderungssucht“. Der Vorwurf richtet sich vor allem gegen die sogenannte „malende Poesie“. Die ausgiebigen Naturschilderungen eines Haller, die die Zeitgenossen so begeisterten, hält er für nicht sonderlich geglückt. An ihnen moniert er, dass sich keine Vorstellung des Ganzen einstellen will. Denn weil die Literatur genötigt ist, einen Teil nach dem anderen vorzuführen, sei beim letzten Zug der erste schon vergessen, während beim Bild auch die schon betrachteten Teile ständig präsent seien. Obendrein bezweifelt er, dass bei einem Leser die zitierten Naturdinge zur anschaulichen Gegebenheit kämen, wenn er sie nicht schon aus eigener Erfahrung kenne. Besser kommt ein anderer Vertreter dieser Richtung, Ewald von Kleist, weg. Bei ihm lobt Lessing das Bemühen, weniger Bilder, als vielmehr die Empfindungen, die mit den Bildern verbunden sind, wiederzugeben. Hierin bekundet sich abermals Lessings Auffassung, die er allerdings nirgendwo klar formuliert: Nicht die äußeren Objekte sind Gegenstand der Dichtung, sondern deren Wirkung auf die Seele. Der Beschreibungsliteratur will er ihre Berechtigung nicht absprechen, sie kann durchaus Nützliches leisten, aber sie zählt doch zu den niedrigen Gattungen der Poesie, zur „Prosa“ und zur „dogmatischen“ oder Lehrdichtung, und ist Dichtung nicht im höchsten Sinne.65 Generell empfiehlt er, die Schilderungen auf nötige Angaben zu beschränken. Er beruft sich dabei auf das Vorbild Homers. Den Einwand, dass es doch bei diesem eine berühmte, äußerst umfangreiche 64 Anm. zu S. 104, ebd., S. 897f. 65 Das findet sich in Kp. XVII, a.a.O., S. 109–115.
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Darstellung vom Schild des Achilles gebe, eine Beschreibung, die der gesamten epischen Literatur als Muster diente, lässt er nicht gelten. Mit folgender Begründung: Homer malet nämlich das Schild nicht als ein fertiges vollendetes, sondern als ein werdendes Schild. Er hat also auch hier sich des gepriesenen Kunstgriffs bedienet, das Koexistierende seines Vorwurfs in ein Konsekutives zu verwandeln, und dadurch aus der langweiligen Malerei eines Körpers, das lebendige Gemälde einer Handlung zu machen.66
Lessings Urteil hatte Gewicht; Wieland und Goethe, und nicht nur die, sind von ihm beeinflusst. Richtig ist, dass die Aufnahme der sichtbaren Welt ins sprachliche Kunstwerk problematisch ist. Und richtig ist auch, dass die Transformation der einen Kunst in die andere, wie es die einschlägige Devise ‚ut pictura poiesis‘ und ähnliche Empfehlungen nahelegen, sich so einfach nicht bewerkstelligen lässt. Eine Besinnung auf die Möglichkeiten der bildenden Kunst einerseits, der Dichtung andererseits, die Lessing anstrengt, ist also angebracht. Ebenso ist ihm darin zu folgen, dass diese Untersuchung bei den Mitteln oder Zeichen, die den Künsten jeweils zur Verfügung stehen, anzusetzen hat. Die pikturalen unterscheiden sich von den linguistischen Zeichen darin, dass die ersten ‚natürlich‘ die zweiten ‚willkürlich‘ oder ‚arbiträr‘ sind; so fassen Lessing und seine Zeitgenossen diese Differenz. Etwas aussagekräftiger ist die Terminologie, deren sich die neuere Linguistik und Kommunikationsforschung bedient. Sie bringen denselben Gegensatz auf die Begriffe ‚analog‘ und ‚digital‘. Was unter ‚analog‘ zu verstehen ist, gibt schon der Name an. Es besteht ein Verhältnis der Ähnlichkeit zwischen dem Zeichen und dem Bezeichnetem. Analogisch sind beispielsweise die Ausdrucksgebärden der Menschen und Tiere. In der geballten Faust, die jemand hochreckt, um anderen zu drohen, steckt schon etwas von der Tat, die damit angekündigt werden soll. So verhält es sich auch mit den bildnerischen Zeichen. Das Aussehen des Baumes in der Natur nimmt der Baum auf dem Gemälde auf. Den Charakter eines Zeichens hat er dadurch, dass er eine Abbreviatur ist; er ist keine Verdoppelung der tatsächlichen Gegebenheit, sondern eine Vereinfachung, eine Stilisierung oder auch eine Reduzierung auf besondere Merkmale. Er verweist auf diese Weise auf eine bestimmte Sache oder auf bestimmte Sachverhalte. Und noch eins: Wie der bezeichnete Gegenstand ist auch das Symbol selbst eine sinnliche Gegebenheit. Der reale und der abgebildete Baum gehören zur Welt des Sichtbaren.
66 Ebd., S. 120; Buch stellt Lessings Stellung zur ‚beschreibenden Literatur‘ ausführlich dar. Er geht auch näher auf die 1achwirkungen des Laokoon ein; a.a.O. S. 26–63.
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Mit ‚digital‘ ist gemeint, dass die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten, zwischen der Benennung und dem benannten Gegenstand keiner in der Sache liegenden Notwendigkeit unterliegt, sondern willkürlich hergestellt wurde. Zwischen den Wörtern und den gemeinten Objekten besteht eben kein Entsprechungsverhältnis. Bestimmte Laute und Lautkombinationen mit realen Dingen zu verknüpfen, beruht auf einer Übereinkunft zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft. Die Bezeichnungen Haus, casa, maison, oikos, bet, ev gehen ungefähr auf denselben Tatbestand, haben aber nichts Hausähnliches an sich. Selbst ihre sinnliche Qualität, dies, dass sie akustische Signale sind, ist keine notwendige Voraussetzung für ihre Bildung. Man kann sie durch optische Zeichen ersetzen, wie sich an den verschiedenen Taubstummenalphabeten und visuellen Zeichensystemen demonstrieren lässt. Der ‚Konventionalismus‘, also der Umstand, dass Lauten Bedeutungen durch Übereinkunft zugeordnet werden, ist auch nie ernsthaft bestritten worden. Das ist auch keine neue Erkenntnis. Schon Platon vertritt sie. Er weist auch ausdrücklich den ‚Naturalismus‘ ab, also die Theorie, die glaubt, es gebe eine Affinität zwischen der Lautgestalt eines Wortes und der bezeichneten Sache.67 In der Sprache tauschen sich Menschen über Sachzusammenhänge aus. Aber das ist keineswegs das einzige, was sie leistet. Karl Bühler hat das am sogenannten Organon-Modell erläutert. Er nimmt dabei eine ebenfalls bereits von Platon vertretene Ansicht auf, nach der die Sprache ein ‚Organon‘, also ein Werkzeug sei. Es ermöglicht, dass „einer dem anderen etwas“ mitteilt „über die Dinge“.68 Wir haben demnach drei Bezugspunkte: den ‚einen‘, das ist der Sender, den ‚anderen‘, das ist der Empfänger, und die ‚Dinge‘, das sind die Sachen oder Sachverhalte. Das Sprachzeichen, das „konkrete Schallphänomen“ bezieht sich auf alle drei Punkte. Es ist zugleich „Darstellung“ von Gegenständen, „Ausdruck“ des Senders und „Appell“ an den Empfänger. Mit diesen Begriffen, wofür er auch „Symbol“, „Symptom“, „Signal“ einsetzt, kennzeichnet Bühler die drei Funktionen der Sprache.69 Sie finden sich in jeder Rede und auch in der schriftlichen Äußerung wieder, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung. Einmal kann der Sachbezug im Vordergrund stehen und das andere Mal die Gefühlsbekundung des Sprechenden; oder die Betonung liegt darauf, was beim Hörer bewirkt werden soll. Der Satz ‚Das Wetter ist schön‘ ist erstens „Darstellung“ eines Sachverhalts, es wird eine meteorologische Aussage gemacht. Er 67 Kratylos, 423 b–e; 426c–427b: vgl. dazu auch Franz von Kutschera, Sprachphilosophie, München 1975, S. 32ff. 68 Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, 2. unveränderte Aufl., Stgt. 1965, S. 24. 69 Ebd., S. 28f; zur Erläuterung S. 31f.
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ist zweitens „Ausdruck“ der Gefühlslage des Sprechers; er kann freudig, überrascht oder sogar vorwurfsvoll klingen. Und er ist drittens ein „Appell“ an den Hörer; er will bei ihm eine Reaktion auslösen. Durch den Einsatz der ihr zu Gebote stehenden artistischen Mittel erreicht die Dichtung besondere Effekte nach allen drei Seiten hin. Der Rhythmus, der Wohllaut der Reime, die Wortwahl, die Anschaulichkeit der Vergleiche, das alles kann zur genauen Erfassung objektiver Gegebenheiten wie auch zur Expression von Gefühlen und Leidenschaften dienen. Und die Dichtung verfügt auch über die Kraft, einen Leser mitzureißen; sie kann suggestiv auf ihn wirken. Im Rahmen dieser Arbeit interessiert indessen nur ein Aspekt, der, nach dem die Sprache „Darstellung“ von Dingen sei. Allerdings ist der Terminus ‚Darstellung‘, um das mindeste zu sagen, missverständlich. Die linguistischen Symbole stellen nichts dar, sie bilden nichts ab, und schon gar nicht spiegeln sie äußere Objekte wider.70 Dazu sind sie nicht in der Lage, schon deswegen, weil sie nicht in einer Relation der Analogie zu den intendierten Dingen stehen. Anders verhält es sich mit den pikturalen Zeichen. Der gezeichnete Baum führt Eigenschaften seines Vorbildes in der Realität unmittelbar vor Augen, etwa, ob es eine runde Krone oder gezackte Blätter hat. Das Wort hat dagegen einen völlig anderen Sachbezug. Es stellt nichts vor die Sinne, ist nicht der sinnliche Abdruck einer sinnlichen Gegebenheit. Es ist wahr, auch das Wort ist eine Erscheinung der Wahrnehmungswelt, als gesprochenes ist es ein akustisches, als geschriebenes ist es ein visuelles Phänomen. Aber seine sinnliche Gestalt tritt doch ganz hinter dem zurück, was sein eigentliches Wesen ausmacht, und das ist sein geistiger Gehalt oder seine Bedeutung. Darüber werden die Klänge und die optischen Signale zur Nebensache. Die sprachlichen Zeichen richten sich auch nicht primär an die Sinnlichkeit. Diese kann sie gar nicht fassen. Woran sie sich wenden, ist der Verstand als dem, nach Kant, Vermögen der Begriffe. Denn das sind die Worte, sie sind Begriffe und nur die Eigennamen bilden eine Ausnahme. Die lateinischen Definitionen, wie sie in der Philosophie gebräuchlich waren, machen deutlich, worum es sich bei einem Begriff handelt: er ist eine repraesentatio generalis, also eine Allgemeinvorstellung, im Gegensatz zur sinnlichen Wahrnehmung, die eine repraesentatio singularis, also eine Einzelvorstellung ist. Der Begriff umfasst eine Klasse von Objekten, während die Wahrnehmung immer nur ein Einzelnes und Besonderes ergreift. Die Allgemeinvorstellungen sind – sofern es sich um empirische Begriffe handelt, es gibt daneben auch solche a priori – gewonnen durch das Verfahren der Ab70 Die These von der Widerspiegelung der Wirklichkeit durch die Sprache vertritt insbesondere die marxistisch orientierte Sprachphilosophie; vgl. Adam Schaff, Sprache und Erkenntnis, Reinbek b. Hamburg 1974, S. 137ff.
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straktion. Sie sind demnach abgezogen von der sinnlichen Wirklichkeit und bilden rein geistige Wesenheiten. Das Wort ‚Baum‘ umfasst eine große Gruppe von Dingen; es umschließt so unterschiedlichen Gestalten wie Eichen, Fichten und Pinien und gibt keinen singulären Seheindruck wieder. Nicht ein äußeres Objekt stellt es demnach dar, was es allenfalls darstellt, ist ein Gedankending oder ein Bewusstseinszustand oder eine kognitive Einheit. Begriffe, woran an dieser Stelle nur erinnert werden soll, können sehr verschiedenartig sein; so sind die Abstrakta wie Freiheit oder Politik von den Konkreta, zu denen Baum, Haus und Wolke gehören, zu trennen. Mittels der kategorialen Bestimmungen bilden die Sprachen Klassifikationssysteme, die sie über die Welt legen. Diese Maßnahme läuft auf eine Vereinfachung hinaus, denn durch sie gelingt es, die ungeheure Vielfalt der Erscheinungen zu bändigen und Orientierung zu geben. Das Singuläre kann einer Klasse von Objekten zugeordnet werden. Man weiß dadurch, wie man es aufzufassen und wie man sich ihm gegenüber zu verhalten hat. Die Beziehung muss nicht jedes Mal neu eingestellt werden. Dieses aufragende Gebilde ist ein ‚Baum‘ und nicht etwa ein ‚Felsen‘ oder ein ‚Turm‘. Die Worte oder Begriffe sind also Sammelbezeichnungen, die durch kognitive Operationen gebildet worden sind. Wenn sie aber frei erfunden wurden, wenn ihr Verhältnis zu den Gruppen von Gegenständen, die sie benennen, digital und eben nicht analogisch ist, dann fragt sich, wie diese Verknüpfung überhaupt zustande gekommen ist. Beim Bild gibt es wenigstens insoweit Klarheit darüber, dass es sich, als Zeichen für ein reales Objekt, seine Beschaffenheit vom Original vorgeben lassen muss. So einfach, wie es zunächst den Anschein hat, ist das wieder nicht, denn da herrscht eine große Spannweite von Möglichkeiten, von der extremen Reduzierung auf wenige charakteristische Merkmale bis zur penibelsten Ausmalung der Einzelheiten. Jedenfalls kann der Betrachter das Dargestellte identifizieren, was allerdings mitunter auch nicht leicht ist und große Schwierigkeiten bereiten kann. Diese Zusammenhänge gestalten sich bei der Sprache weit problematischer. Denn es geht ja nicht allein darum, dass Laute Bestandteilen der Wirklichkeit willkürlich zugeordnet werden. Diese Zuordnung muss auch die Bedingung erfüllen, dass sie nicht nur für einen, sondern für eine Gruppe von Menschen Gültigkeit hat. Denn die Sprache ist eine kollektive Einrichtung und soll die Verständigung zwischen Menschen über Gegenstände, also Kommunikation ermöglichen. Die Theorien, welche die sprachlichen Zeichen als Darstellung oder Denotation begreifen wie die Bühlers, setzen den Vereinigungspunkt in eine Wirklichkeit, die völlig unabhängig von ihrer Beziehung zu den Menschen existiert. Darstellung oder Abbildung, auf Sprache angewendet, bedeutet dann so viel, dass Worte objektive Tatbestände widerspie-
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geln, die für alle in der gleichen Weise gegeben, die sowohl für einen Sprecher wie für einen Zuhörer evident sind. Informationen können so ausgetauscht werden. Und wie das geschieht, denkt man sich als einen Prozess der ‚Kodierung‘ und ‚Dekodierung‘. Darunter verstehen wir die Umsetzung von Vorstellungen des Sprechers in sprachliche Zeichen und die Rückübersetzung sprachlicher Zeichen in Vorstellungen des Hörers. Wir nehmen dabei vorläufig an, dass diese Vorstellungen >vorsprachlich< also von der Sprachstruktur unabhängig im Gehirn gespeichert sind.71
Die Grundannahmen, von denen diese Auffassung ausgeht, werden hier klar ausgesprochen: Es gibt eine objektive Wirklichkeit, diese ist für die Kommunikationspartner, für Sender wie Empfänger gleichermaßen bestimmend, und das sprachliche Zeichen steht nur stellvertretend für die objektive Gegebenheit. Wie dann das konkrete Zeichen, das Wort gebildet wird, wäre eine sekundäre Frage. Dieser Vorgang muss sich jedenfalls aus dem Zusammenleben einer Gemeinschaft erklären lassen. Dieses auf einem naiven Realismus basierende Konstrukt ist gleich aus mehreren Gründen nicht haltbar. Um nicht allzu weitschweifig zu werden, sei nur auf ein paar einfache Wahrheiten hingewiesen. Der Ethnologe Bronislaw Malinowski berichtet von einer für ihn zunächst befremdlichen Erfahrung. Er musste einsehen, dass alle Bemühungen, die Sprache der Eingeborenen auf Trobriand – einer Inselgruppe in Melanesien – lexikalisch zu erfassen, zum Scheitern verurteilt waren. Bei dem Versuch, für die Wörter der Insulaner Äquivalente aus dem Englischen oder anderen europäischen Sprachen einzusetzen, wollte sich kein Sinn einstellen. Ein Verständnis erschloss sich erst, als Malinowski am Leben der Trobriander teilnahm, ihre Arbeiten verrichtete, sie auf ihren überseeischen Handelsfahrten begleitete, mit ihnen ihre Feste feierte. Er folgert daraus, „dass die Sprache wesentlich in der Wirklichkeit der Kultur, des Stammeslebens und der Sitten und Gebräuche eines Volkes wurzelt und dass sie nicht ohne fortwährende Bezugnahme auf diese umfassenderen Kontexte verbaler Äußerung erklärt werden kann.“72 Was die Wörter demnach bezeichnen, sind nicht objektive Tatbestände, Fakten, die für alle Menschen gleichermaßen gegeben sind. In der Sprache kommt zum Ausdruck, in welcher Weise sich Menschen auf die Wirklichkeit beziehen, und das manifestiert sich vor allem in ihren Handlungen und in ihrem Verhalten. Nicht um die objektive Beschaffenheit der Dinge geht es, sondern darum, wie sie aufgefasst werden, wie sich Menschen von ihnen angehen lassen, 71 So W. Herrlitz, in: Funk-Kolleg Sprache, Bd. 1, Frankfurt/M. 1973, S. 47. 72 Bronislaw Malinowski, Das Problem der Bedeutung in primitiven Sprachen, in: G.K. Ogden/J.A. Richards, Die Bedeutung der Bedeutung, Frankfurt/M. 1974, S. 336.
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was sie in ihnen bewirken. Die Einstellungen der Menschen auf ihre Umgebung, das dokumentiert sich demnach in der Sprache. Von einer Gruppe von Menschen muss man reden. Es ist das gemeinsame Tun, es sind die gemeinsamen Erfahrungen, aus denen eine Sprache erwächst und deren Niederschlag sie ist. Und im Spracherwerb eignet sich der Einzelne die Einstellungen, das Wissen und die Werte der Gesellschaft an, in der er lebt. Aber er wird dadurch nicht endgültig festgelegt. Er seinerseits ist hineingezogen in den Prozess ständiger Umwandlungen, dem die Sprache unterliegt. Für den Menschen ist die Wirklichkeit überaus vielschichtig und facettenreich. Sie enthält eine Fülle möglicher Hinsichten. Welcher Aspekt für eine Sozietät herausgehoben wird, das hält das Wort fest. Dieses spiegelt daher die Wirklichkeit nicht wider, sondern es ist für diese konstitutiv, in dem Sinne, dass es eine Hinsichtnahme auf die Realität vorgibt. Und das bedeutet nicht weniger, als dass es wirklichkeitssetzend ist. Diesen Standpunkt hat Wilhelm von Humboldt begründet. Bei ihm steht: In die Bildung und in den Gebrauch der Sprache geht aber nothwendig die ganze Art der subjectiven Wahrnehmung der Gegenstände über. Denn das Wort entsteht eben aus dieser Wahrnehmung, ist nicht ein Abdruck des Gegenstandes an sich, sondern des von diesem in der Seele erzeugten Bildes.73
Mit ‚subjektiv‘ ist hier nicht ‚individuell‘ gemeint, gemeint ist vielmehr die spezifische Adaption der Wirklichkeit durch ein generalisiertes Erkenntnissubjekt oder den menschlichen Geist. Und die vollzieht sich in der Weise, dass sich der Geist die Welt gewissermaßen zurechtlegt. In der Sprache nimmt diese standpunktbezogene Wahrnehmung eine feste Form an. Hervorgebracht wird sie aber durch ein Kollektiv, und in der Sprache bildet sich die „eigenthümliche Weltansicht“ eines Volkes oder einer Gesellschaft aus. „Weltansicht“ ist denn auch ein zentraler Begriff Humboldts und diese ist gebunden an die Sprache. Man kann…als allgemein anerkannt annehmen, dass die verschieden Sprachen die Organe der eigenthümlichen Denk- und Empfindungsarten der Nationen ausmachen, dass eine große Anzahl von Gegenständen durch die sie bezeichnenden Wörter geschaffen werden, und nur in ihnen ihr Daseyn haben.74
Gestützt wird Humboldts Theorie durch grundsätzliche, anthropologische Einsichten. Danach ist der Mensch nicht eingepasst in ein bestimmtes Ausschnittsmilieu wie die meisten Tiere. Diese verfügen über 73 Wilhelm von Humboldt, Schriften zur Sprachphilosophie, Werke in fünf Bänden III, Darmstadt 1963, S. 433. 74 Ebd., S. 26; der Begriff Weltansicht findet sich z.B. S. 434. In neurer Zeit hat Benjamin Lee Whorf eine ähnliche Ansicht vertreten, ohne auf Humboldt Bezug zu nehmen. Hier sei nur darauf verwiesen; s. Sprache. Denken. Wirklichkeit, Reinbek b. Hamburg 1963.
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angeborene Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen, die ihr Überleben in dem Habitat, für das sie organisch ausgerüstet sind, sichern. Im Gegensatz dazu ist der Mensch ‚weltoffen‘. Er ist eben nicht für eine spezifische Umwelt geschaffen; anders gesagt: er ist ein Lebewesen, das ‚unspezialisiert‘ ist und sich in den verschiedensten Umgebungen zurecht findet. Es ist nur die Kehrseite derselben Sache, dass ungeheuer vieles auf ihn einwirkt; er ist einer ‚Reizüberflutung‘ ausgesetzt. Unter diesen Bedingungen muss er wählen zwischen dem, was er für seine Lebensfristung gebrauchen will, und dem, was er als ihm nicht nützlich aussondert. Er schafft sich auf diese Weise seine eigene Welt. „Der Inbegriff der von ihm ins Lebensdienliche umgearbeiteten Natur heißt >Kultur<, und die Kulturwelt ist die menschliche Welt.“75 Der Sprache kommt dabei eine entscheidende Funktion zu. Sie nämlich entwickelt Interpretationsmuster, durch die der Blick einer Gesellschaft auf die Welt gelenkt wird. Sie hebt bestimmte Aspekte hervor, andere wiederum blendet sie aus. In der Sprache bildet sich also nicht die objektive Wirklichkeit ab. Was sie wiedergibt ist, wie Menschen äußere Tatbestände aufnehmen. Man könnte auch sagen, sie sei das Medium, durch welches Bewusstseinszustände bezeichnet werden. Ähnliches meinte wohl auch Lessing, als er behauptete, die Wörter nähmen die Qualität ‚natürlicher Zeichen‘ an, wenn sie seelische Regungen ausdrückten. Vom Standpunkt der Humboldtschen Sprachauffassung aus bekommt der Umstand, dass die linguistischen Zeichen digitalisiert sind, einen tieferen Sinn. Damit löst sich die Sprache von der Wahrnehmung. Sie ist nicht gebunden an das äußere Aussehen, an die sinnliche Präsentation des Bezeichneten wie das analoge pikturale Zeichen. Sie erhebt sich über den sinnlichen Eindruck und kann den Gegenständen völlig andere Qualitäten abgewinnen, solche, die jenseits des Wahrnehmbaren liegen. Sprache ermöglicht so eine freie Stellungnahme zur Welt. Wenn aber die sprachlichen Symbole auf ein Inneres verweisen oder genauer: auf Einstellungen zur Wirklichkeit, dann fragt sich, wie eine Verständigung überhaupt erzielt werden kann. Die analoge Kommunikation, die Bildhaftigkeit ist anders gelagert, sie ist etwas Äußeres, das auf Äußeres hindeutet, und darauf können sich Sender wie Empfänger in gleicher Weise beziehen. Bei der Sprache bleibt nur die Möglichkeit, dass der Hörer in sich einen Bewusstseinszustand erzeugt, der dem gleichkommt oder doch zumindest dem sich annähert, den der Sprecher übermitteln will. Diesen Zusammenhang fasst Humboldt folgendermaßen: 75 Arnold Gehlen, Der Mensch, 11. Aufl., Wiesbaden 1976, S. 38; die aufgeführten anthropologischen Termini erläutert Gehlen S. 32–37.
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Die Menschen verstehen einander nicht dadurch, dass sie sich Zeichen der Dinge wirklich hingeben, auch nicht dadurch, dass sie sich gegenseitig bestimmen, genau und vollständig denselben Begriff hervorzubringen, sondern dadurch, dass sie gegenseitig in einander dasselbe Glied der Kette ihrer sinnlichen Vorstellungen und inneren Bergriffserzeugungen berühren, dieselbe Taste ihres geistigen Instruments anschlagen, worauf alsdann in jedem entsprechende, nicht aber dieselben Begriffe hervorspringen.76
Dass aber ein solcher Gleichklang hergestellt werden kann, dafür liegt der Grund in einem gemeinsamen Erfahrungs- und Lebensraum, den die Sprache konstituiert. Wenn zwei Deutsche das Wort ‚Wald‘ gebrauchen, dann stellen sich bei ihnen bestimmte Bilder, Gefühle und Wertungen ein, die zwar individuell differieren, aber doch ein großes Maß an Übereinstimmung haben. Die Entsprechungen im Italienischen oder Französischen sind mit anderen Vorstellungen und Empfindungswerten besetzt. Ganz unabhängig von der geisteswissenschaftlichen Tradition sind die modernen Neurowissenschaften zu Ergebnissen gekommen, die Humboldts Konzeption stützen. Die Grundvoraussetzung ist die, dass Menschen, wie alle Lebewesen, „strukturdeterminierte Systeme“ sind. Das Verhalten solcher Einheiten wird nicht diktiert durch äußere Bedingungen. Gelenkt werden sie von spezifischen Systemeigenschaften. Was sie aufnehmen und wie sie sich verhalten, bestimmt ihre innere Verfassung, der Zustand der Sinnessysteme oder des Zentralnervensystems beispielsweise. Natürlich müssen sie, um existieren zu können, im Austausch mit der Umwelt stehen. Aber aus der Beschaffenheit äußerer Faktoren lässt sich ihr Verhalten eben nicht erklären. Dieses resultiert aus den Strukturveränderungen, mit denen sie auf Umwelteinflüsse reagieren. So ist durch unser visuelles System vorgeben, in welcher Farbigkeit uns die Dinge erscheinen, sie ist also keine Eigenschaft der Dinge an sich. Die Konsequenzen, die sich aus diesen grundsätzlichen Erkenntnissen für die Sprache ergeben, hat der Neurobiologe Umberto R. Maturana gezogen. Für strukturdeterminierte Systeme gibt es keine objektive, das heißt: subjektunabhängige Wirklichkeit und damit auch keinen Bezugspunkt, der intersubjektive Gültigkeit hätte. Unter diesen Bedingungen wird Verständigung nur möglich durch „Kon-Versation“: „ein sich Sich-Miteinander-Wenden-und-Drehen, und zwar auf solche Weise, dass alle Beteiligten nicht-triviale Strukturveränderungen solange erfahren, bis Verhaltenshomomorphie erreicht ist.“ Was auf diese Weise entsteht, ist ein „konsensueller“ oder „sprachlicher“ Bereich. Nur unter dieser Voraussetzung kann Kommunikation überhaupt stattfinden. Sie besteht darin, „dass jeder Zustand des Senders einen eindeu76 A.a.O., S. 559.
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tigen Zustand des Empfängers auslöst.“ Und das wird eben möglich durch die Angleichung der individuellen Systeme, durch „Homomorphie“.77 Noch einmal anders formuliert: Es sind die gemeinsame Unternehmungen und die gemeinsamen Erfahrungen, die einen Gleichklang unter Menschen schaffen. Aus dieser Gemeinsamkeit geht Sprache hervor. Und die Worte, mit denen sich die Menschen ins Benehmen setzen, bilden keine objektiven Gegebenheiten ab, sie sind nicht ‚denotativ‘, sondern ‚konnotativ‘, sie zielen darauf ab, dass der Angesprochene in sich bestimmte Vorstellungen aktiviert. Selbstverständlich hat diese Einsicht eine Abzweckung auf die Dichtung. Was diese, was insbesondere die Beschreibungsliteratur zu leisten imstande ist, lässt sich nur einschätzen, wenn Klarheit über die Beschaffenheit der sprachlichen Zeichen besteht. Indem man ikonische und linguale Zeichen auseinanderhält, gelangt man an das Fundament der Künste. Aber damit ist nur unzureichend bestimmt, worin sie sich unterscheiden. Denn ebenso wenig wie sich die Betrachtung eines Gemäldes in einem Akt der Wahrnehmung erschöpft, beschränkt sich die Rezeption einer Dichtung auf das Vernehmen von Bedeutungen. Es ist durchaus berechtigt, vom ‚Lesen‘ eines Bildes zu reden, und nicht weniger davon, dass eine Beschreibung ‚anschaulich‘ sei. Darin liegt, dass die Bilder zur Versprachlichung, die Texte zur Verbildlichung auffordern. Wie das zu verstehen ist, muss geklärt werden. Es ist schon mehrmals vermerkt worden, dass das Bild zunächst ein Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung ist. Diese ist ein höchst komplexer Vorgang, und wird gleich von mehreren Wissenschaften wie der Physiologie, der Psychologie, der Philosophie und der Kunstgeschichte untersucht. Völlig abgerückt ist man von der Vorstellung, sie sei ein passives Hinnehmen, etwa in der Weise, dass das Bild auf der Netzhaut des Auges lediglich ein Abdruck einer äußeren Gegebenheit sei. Wahrnehmung beruht auf einem aktiven Tun, nicht eines einzelnen Organs, sondern eines ‚Sinnessystems‘. Im Fall des Sehens sind daran beteiligt das Auge als Rezeptorgan, das Reize aufnimmt, sensorische Nervenbahnen, die diese weiterleiten und die Sehrinde auf dem Neokortex des Gehirns, die sie verarbeitet. Die umfangreichen Verarbeitungsprozesse, die schon bei der Übertragung einsetzen, bestehen darin, die einlaufenden Impulse zu selektieren, zu strukturieren und sie mit gespeicherten Erfahrungen zu verbinden. Die Wahrnehmung richtet die Wirklichkeit gewissermaßen ein, sie interpretiert sie. Das wird im Bereich des Visuellen besonders deutlich an dort herrschenden Gesetzmäßigkeiten. Die 77 Die Zitate finden sich: Humberto R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1982, S. 262f; zur Sprache vgl. besonders S. 47–80, S. 236–257.
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‚Größenkonstanz‘ gehört dazu, also der Umstand, dass ein bekannter Gegenstand in der Ferne und in der Nähe als gleich groß wahrgenommen wird, obwohl die Netzhautbilder unterschiedlich sind. Andere Konstanzleistungen sind die der Farbe und der Form. Ein Gesetz der Gestaltung ist das der ‚Figur-Grund-Gliederung‘. Das Wahrnehmungsfeld wird auf die Art strukturiert, dass sich Gestalten vor einem Hintergrund abheben. Das bekannteste Beispiel dafür ist, dass man bei einem Text die Buchstaben für die Figuren nimmt und das weiße Papier für die Unterlage, auf der diese sich abzeichnen. Treffen einfach nur Kleckse auf das Auge, so geht das Wahrnehmungssystem von der Annahme aus, dass sie zusammengehören und sich zu einer Gestalt verbinden lassen. Es handelt sich dabei um das ‚Gesetz der Geschlossenheit‘. So sind wir geneigt, in beliebige Tintenkleckse uns bekannte Formen hineinzusehen.78 Noch andere, im eigentlichen Sinne psychische Faktoren beeinflussen die Wahrnehmung, so die Richtung und die Stärke der Aufmerksamkeit und die Gefühlslage, in der sich ein Beobachter befindet. Diese knappen Hinweise mögen genügen, um einen Eindruck von der Arbeitsweise der Wahrnehmung zu vermitteln. Sie operiert mit Interpretationsmustern und trägt Hypothesen und Erwartungen an die Wirklichkeit heran. Natürlich steht sie immer in der Gefahr, Täuschungen aufzusitzen. Aber sie kann sich korrigieren. Schon allein dadurch, dass der erste Augenschein von einer anderen Warte aus aufgehoben wird; oder dadurch, dass die Daten des einen Sinnessystems von denen eines anderen dementiert werden, etwa wenn etwas, das wie eine Wasserfläche aussieht, sich unter der Berührung als fest erweist. Insgesamt ist die Wahrnehmung aber erfolgreich, eben weil sie Vereinfachungen und Deutungsschemata anbietet. Dadurch kann das Vielschichtige überschaut, das Fremde eingeordnet werden. Wenngleich sie nicht darin aufgeht, ist es doch ihre vordringlichste Aufgabe, für Orientierung in der Lebenswelt zu sorgen. Das Sehen, das sich auf ein Gemälde richtet, verfährt zunächst nicht anders als sonst auch. Die in Blautönen gehaltene Fläche wird es als Hintergrund auslegen, und vor ihr wird es die übrigen Bildgegenstände postieren. Und die verschiedenen Gruppen farbiger Flecken wird es zu Figuren zusammenfügen, eine Leistung der Wahrnehmung, auf die die impressionistischen Gemälde bauen. Denn diese offerierten einem irritierten Publikum tatsächlich nur farbige Kleckse, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass diese sich bei gehörigem Abstand zu identifizierbaren Figuren zusammenschlossen. Entscheidend ist aber, dass der 78 Hier braucht keine besondere Literatur angeführt zu werden. Diese Zusammenhänge, mit Beispielen und bildlichen Darstellungen, werden in den neueren psychologischen Lehr- und Handbüchern im Kapitel ‚Wahrnehmung‘ entfaltet.
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Blick auf das Bild, wie der auf die Realität, das vor ihm liegende Feld absucht. Das Bild ist nämlich keine Gegebenheit, die sich mehr oder minder in einem Zug erfassen ließe.79 Zwar empfängt der Betrachter in der Regel zunächst einen vagen Gesamteindruck. Dann aber tastet sein Blick die Bildfläche ab; er geht hin und her und sucht nach Anhaltspunkten und Informationen. Er lässt sich dabei von Erwartungen und Annahmen leiten, die sich bestätigen oder widerlegt werden, bis sich schließlich ein zusammenhängendes Bild ergibt. Weiter geht die Übereinstimmung mit der Alltagswahrnehmung allerdings nicht. Und die Betrachtung eines Kunstwerkes muss als deren Modifikation begriffen werden. Ein Unterscheidungsmerkmal beruht darauf, dass die lebensweltliche Erfahrung ständig an den tatsächlichen Gegebenheiten überprüft und entsprechend revidiert wird. Bei der Bildbetrachtung kann es Vergleichbares nicht geben. Hier entscheidet allein das Kriterium der Stimmigkeit, also das Sich-Einfügen in die Gesamtkomposition, ob eine Annahme haltbar ist. Der wesentliche Unterschied besteht aber darin, dass das Bild ein besonderer Gegenstand ist, der sich erhebt über die Sphäre des alltäglichen Bedarfs und des pragmatischen Umgangs mit den Dingen. Das beruht nicht etwa auf einer willkürlichen Setzung des Betrachters, sondern wird diesem vom Gegenstand selbst eingegeben. Dieser hat nämlich die Haupteigenschaft, etwas sehen zu lassen. Er bietet dem Betrachter eine bestimmte Sicht auf die Wirklichkeit, oft sogar eine, die neu, überraschend und erhellend ist. Darin eingeschlossen ist, dass das Sichtbare einen Sinn bekommt und eine Bedeutung. Das Bild ist ein materielles Substrat, dessen Wesen darin besteht, Expression eines Inneren zu sein, es ist, anders formuliert, Symbol. Und hier ist an die Bestimmung zu erinnern, nach der das Kunstwerk eine Verschränkung von Sinnlichem und Geistigen ist. Das Bild zeigt, wie eine äußere Gegebenheit das Bewusstsein affizieren kann. Dieses Affiziertsein will es einem Betrachter mitteilen. Und dieser nimmt eine entsprechende Haltung ein; es ist die der ästhetischen Einstellung. Das Bild geht demnach nicht darin auf, ein Objekt der Wahrnehmung sein, es verweist auf eine zweite, in ihm angelegte geistige Ebene. Die an Edmund Husserl anknüpfende phänomenologische Kunsttheorie macht daher einen Unterschied zwischen „Wahrnehmungsgegenstand“ und „Vorstellungsgegenstand“, wobei der erste nur Medium und Durchgangspunkt für den zweiten sein soll. Husserl selbst
79 Davon geht Ernst H. Gombrich aus. Er wendet die Ergebnisse der Wahrnehmungstheorie auf die Rezeption von Kunstwerken an; die obigen Ausführungen folgen ihm darin. Vgl. Vom Bilderlesen, in: Meditationen über ein Steckenpferd, Frankfurt/M. 1978, S. 263ff; Das forschende Auge. Kunstbetrachtung und 1aturwahrnehmung, Frankfurt/M. 1994, S. 8ff.
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vollzieht sogar eine scharfe Trennung zwischen zwei Auffassungsweisen, über deren Berechtigung man streiten kann: Zwischen ‚Wahrnehmung‘ einerseits und ‚bildlich-symbolischer‘ oder ‚signitiv-symbolischer Vorstellung‘ andererseits ist ein unüberbrückbarer Wesensunterschied. Bei diesen Vorstellungsarten schauen wir etwas an im Bewusstsein, dass es ein anderes abbilde oder signitiv andeute; das eine im Anschauungsfeld habend, sind wir nicht darauf, sondern durch das Medium eines fundierten Auffassens auf das andere, das Abgebildete, Bezeichnete gerichtet.80
In Anlehnung an Roland Barthes lässt sich die Rezeption eines Bildes, etwas schematisch, in zwei Prozesse aufteilen.81 Der erste beläuft sich aufs Sichten und Identifizieren. Wie das vonstatten geht, wurde schon angedeutet. Zunächst einmal sucht ein Betrachter die Bildfläche ab und macht sich mit dem vertraut, was auf ihr überhaupt zu sehen ist. Damit zusammen geht die Operation des Bestimmens. Also: die Figur, die an einem Baum lehnt, ist ein Flöte blasender Hirte; bei den Tieren handelt es sich um Ziegen; der Baum ist vermutlich eine Eiche usw. Das wären Akte der „Identifikation“ und diese sind, nach Barthes, über die reine Wahrnehmung hinausgehende Leistungen des „Intelligiblen“, wenn auch auf einem niedrigen Niveau. Wie er weiter betont, sind schon diese einfachen Operationen geleitet von der Sprache, denn sie stellt das Vokabular bereit, um die Dinge einzuordnen. Ob die Aufteilung nach Wahrnehmung und Intellekt richtig angesetzt ist, sei einmal dahingestellt. Zumindest eins ist sicher: beide Instanzen arbeiten ineinander, und nur zu Zwecken der Analyse können sie auseinander gehalten werden. Das wird auch durch hirnphysiologische Untersuchungen bestätigt. Mit bildgebenden Verfahren konnte man zeigen, dass bei Probanden, denen man Gegenstände wie einen Apfel vorhielt, nicht nur das Sehzentrum, sondern auch die für die Sprache zuständigen Hirnareale aktiviert wurden. Der die Bestandsaufnahme ergänzenden, über sie hinausgehende Prozess ist der der „Interpretation“. Man braucht dabei nicht an eine Deutung zu denken, die unter Aufbietung gehöriger Fachkenntnisse vollzogen wird. Eine Auslegung stellt sich bei jedem Betrachter bereits während der Sichtung, gewissermaßen automatisch, ein, schon dann, wenn er sich, wie vage auch immer, Gedanken darüber macht, was das 80 Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch, Den Haag 1955, S. 99. Hier ist nicht der Platz, um sich ausführlich damit auseinanderzusetzen. Mit Husserl, Sartre und Ingarden setzen sich Lobsien (a.a.O., Kp. 5, S. 82 ff) und Manfred Smuda (Der Gegenstand in der bildenden Kunst und Literatur, München 1979, I, S. 10ff) auseinander. Hier sei auf diese Arbeiten verwiesen. 81 Nach Rhetorik des Bildes, in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt/M. 1990, S. 28ff.
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Bild bei ihm auslöst. Erst recht dieser Vorgang wird von der Sprache gesteuert. Das Bild vermittelt Botschaften, und Barthes unterscheidet eine „buchstäbliche“ oder „perzeptive“ und eine „kulturelle Botschaft“. Die erste wird durch den Akt der Identifizierung aufgenommen. Die zweite kann breit gefächert sein, und hier vor allem kommt das Wissen des Rezipienten ins Spiel. Ein Apfel kann für Frische und Gesundheit stehen, kann aber auch auf der Folie der biblischen Paradieserzählung
Jacob von Ruysdael, Eichwald am Wasser, Ölgemälde, Gemäldegalerie Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin.
als Sinnbild für Sünde und Verführung aufgefasst werden. Ein Bild ist vielschichtig und will in mehreren Durchgängen entschlüsselt werden. Nehmen wir das Landschaftsgemälde Eichwald am Wasser des Jakob van Ruysdael. Ein abgestorbener Baumstamm ist zu sehen, der sich vor das dunkle Grün eines Waldes schiebt; die Bäume spiegeln sich auf einer blanken Wasserfläche; und darüber türmen sich Wolken auf, dunkel und weiß, die Flecken blauen Himmels freilassen. Ein Anblick, der gefällt, obwohl er melancholisch wirkt. Vielleicht macht das die Abwesenheit allen menschlichen Lebens; sicher aber hat das etwas mit dem abgestorbenen, bleichen Baumstamm zu tun. Man wird auch einem
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Ausleger zustimmen, der von „ernster Feierlichkeit und Pracht“ spricht.82 Das mag reichen und soviel kann auch ein nicht vorgebildeter Beschauer ausmachen. Aber in dem Gemälde steckt noch mehr. Es enthält Bezüge zum Tod, zum Leben und zum Himmel. Und wenn man erwägt, dass es aus den calvinistisch geprägten Niederlanden des 17. Jahrhunderts stammt, wird man auf noch andere Zusammenhänge stoßen. Gleich sieben Bibelstellen führt Matthias Eberle an, die zum Verständnis des Bildes herangezogen werden könnten.83 Ein Bild bietet mehrere durchaus legitime Lesarten an, und diese sind auch abhängig vom Geist einer Epoche. Nur darf man nicht meinen, sie seien völlig beliebig und jeder könne ganz nach Gutdünken verfahren. Ein Kunstwerk gibt einen Rahmen vor, innerhalb dessen sich eine Auslegung bewegen muss. Vom „Bilderlesen“ zu sprechen, wie es der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich tut, bekommt also einen präzisen Sinn. Wir lesen Bilder, wie wir eine gedruckte Zeile lesen, das heißt, wir fassen erst einzelne hervorstehende Buchstaben und Zeichen auf, die wir dann aneinanderfügen, bis wir das Gefühl haben, dass wir durch die Zeichen hindurch den hinter ihnen liegenden Sinn sehen. Und ebenso wie beim Lesen unser Auge nicht gleichmäßig fortschreitet und den Sinn nicht Buchstabe für Buchstabe oder Wort für Wort zusammenbuchstabiert, gleitet es auch über die ganze Bildfläche hin und her auf der Suche nach Information.84
Die Rezeption eines Bildes erfolgt demnach zeitlich. Sein In-sichRuhen und seine Simultaneität werden aufgelöst in sukzessive Akte der Aneignung. Von daher bekommt das Bild einen Bezug zur Zeit, und es bestätigt sich, was oben schon bei der Behandlung des Augenblicks gesagt wurde. Dabei beschreibt dieser Prozess eine eigentümliche Figur. Er geht aus von einer unveränderlichen, in sich verharrenden Gestalt, entfaltet eine Folge einzelner Schritte, um dann zu seinem Anfang zurückzukehren. Er ist ein Kreisen um einen Mittelpunkt, der selbst unverrückt bleibt. Lesen von Bildern hat aber zudem einen wörtlichen Sinn. Deren Entzifferung ist gelenkt von Sprache und zwar auf beiden Ebenen, auf der der Identifikation und auf der der Interpretation. Das Bild existiert gar nicht anders als so, dass es in einen Sinnhorizont hineingestellt ist, den Sprache eröffnet. Und das gilt nicht nur für den Rezipienten, sondern auch für den Produzenten, denn der Künstler legt ja etwas hinein in sein Werk, einen Sinn, eine Mitteilung. Man muss aber hinzufügen, dass sich das Bild auch wieder dagegen sträubt, völlig in Sprache aufgelöst zu werden. Es behält ein Mehr, etwas Unfassliches, 82 Wolfgang Braunfels, Drei Jahrtausende Weltmalerei, Berlin 1961, S. 253. 83 Individuum und Landschaft, Gießen 1984, S. 192–196. 84 Vom Bilderlesen, a.a.O., S. 270.
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einen unaussprechlichen Reiz, was natürlich damit zusammenhängt, dass es gebannt ist ins Sinnliche. Im Unterschied zur bildnerischen Darstellung rückt die sprachliche nichts vor die Sinne, jedenfalls nicht unmittelbar. Der Klang, der an das Ohr kommt, verschwindet hinter der Bedeutung des Wortes. Die Sprache, um eine Bestimmung wieder aufzunehmen, bildet nichts ab. Gleichwohl will sie in den Beschreibungen Anschaulichkeit erreichen. Sie kann das nur auf ihre eigene Art tun, auf die Art, dass sie bildhafte Vorstellungen im Hörer oder Leser aufruft, das heißt, dass dieser die Bilder in sich erzeugen muss. Die Sprache wendet sich demnach nicht an die ‚Wahrnehmung‘, sondern an die ‚Vorstellung‘. Und während sich jene auf tatsächlich Vorhandenes richtet, ist diese die Fähigkeit, sich Dinge ohne deren Anwesenheit zu vergegenwärtigen. Selbstverständlich ist sie dabei auf vorangegangene Wahrnehmungen und Erfahrungen angewiesen, die sie zurückrufen muss. Die Sprache aktiviert also die Vorstellungskraft. Ihre Gegenstände sind nicht materiell präsent, sondern lediglich imaginiert. Was sich wie ein Mangel ausnimmt, ist auch wieder ein Vorzug. Der besteht darin, dass die Sprache Abwesendes herbeizuholen vermag, sie kann damit in Gedanken operieren, es unterschiedlich anordnen und verschieben. Sie hat deshalb die Möglichkeit, verschiedene Ansichten einer Sache miteinander zu verknüpfen, darin dem Bild überlegen, das immer nur eine Ansicht präsentieren kann. Sie verbindet Vergangenes mit Gegenwärtigem, Fernes mit Nahem. Es ist darin auch die Fähigkeit beschlossen, Bewegungen und Abläufe darzustellen. Was die Sprache herbeiführt, sind Bewusstseinszustände, Bilder, die im Inneren eines Hörers oder Lesers entstehen. Sie ist dabei nicht auf das Visuelle beschränkt, auch darin liegt ein Vorzug; sie kann sich auch auf andere Sinneseindrücke beziehen, auf Töne und Gerüche, und tatsächlich ist ja das Akustische ein wesentlicher Bestandteil der Naturbeschreibung, wie es das Beispiel Eichendorffs am Anfang des Kapitels deutlich gemacht hat. Weil die Sprache nicht mit verähnlichten Zeichen umgeht, nicht mit tatsächlichen optischen oder anderen wahrnehmbaren Reizen, weil sie diese nur evoziert und weil der Angesprochene das Gemeinte aus sich schöpfen muss, aus seinem Wissen und Erleben, bleibt ihm ein mehr oder weniger großer Spielraum, die Worte in die eigenen Vorstellungen umzusetzen. Das liegt aber nicht allein in seinem Ermessen, dafür sind noch andere Faktoren verantwortlich, zu denen der Begriffsumfang der verwendeten Wörter und die Sprachebene zählen. So legt ein Fachidiom die Vorstellung genau fest, während andere Vokabeln mit eher verschwommenen Bildern und Gefühlen besetzt sind. Überhaupt muss man damit rechnen, dass die Wörter oft unklare Anschauungen auslösen und mit diffusen Emotionen assoziiert sind.
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Es sind diese allgemeinen Merkmale der Sprache, die die literarische Beschreibung bestimmen. Sie verknüpft Vorstellungen, um vor dem inneren Auge eines Lesers ein Bild entstehen zu lassen. Dessen Bestandteile kann sie nicht nebeneinander setzen wie die Malerei, sie muss sie nacheinander aufführen. Daraus ergibt sich ihr Verhältnis zur Zeit. Das Gemälde stellt ein fertiges Tableau vor den Betrachter, der sich dieses in einzelnen, aufeinander folgenden Schritten aneignet. Bei der Deskription verhält es sich umgekehrt. Hier ist der Rezipient gehalten, nachzuvollziehen, wie aus einzelnen, sich ablösenden Setzungen ein Ganzes hervorgeht. Er gewinnt den Eindruck eines sich ständig mit weiteren Merkmalen anreichernden Prospektes, ein Vorgang, der Parallelen zu den Etappen eines Wahrnehmungsprozesses aufweist. Entsprechend unterschiedlich gelagert sind die Kompositionsprobleme der Künste. Bei der Malerei geht es darum, eine Einheit im Raum zu erlangen. Sie erreicht das beispielsweise dadurch, dass sie Vorder-, Mittelund Hintergrund durch farbliche Übergänge oder durch die Linienführung aneinander bindet. Für die Literatur besteht die Forderung, ein in sich geschlossenes Ganzes, man muss immer an eine Landschaftsdarstellung denken, in der Zeit zu erreichen; und die Kunst der Beschreibung beruht zu einem wesentlichen Teil darauf, dass sie beim Leser eine geordnete Folge plastischer Vorstellungen entstehen lässt. Der Text leitet gewissermaßen die Imaginationen des Lesers. Er muss dahin gebracht werden, dass sich die einzelnen Elemente zu einem Bild fügen. Dazu muss ihm eine klare Gliederung vorgeben werden, etwa so, dass ein Rahmen abgesteckt wird, in den die verschiedenen Bestandteile eingetragen werden. Nach Jean Paul hat die Literatur dazu zwei Verfahren entwickelt. Das eine bezeichnet er als „eher plastisch“, das andere als „eher musikalisch“.85 Proben von beiden Möglichkeiten finden sich bei allen im zweiten Teil behandelten Autoren, so dass es hier genügt, sie allgemein zu charakterisieren. Das erste ist dem Bildaufbau der Malerei nachempfunden. Geschildert wird eine Ansicht von einem festen Standpunkt aus. Die optischen Eindrücke sind nach Gründen gestaffelt und der Zusammenhang zwischen den Teilen wird aufgezeigt. Durch die geordnete, zuweilen etwas schematisch wirkende Anlage des Bildes wird es dem Leser möglich, sich den dargestellten Ausblick zu vergegenwärtigen. Eine Variante dieser Auffassung besteht darin, dass das Bild durch ein bewegliches Element belebt wird. Vor der festen Architektonik landschaftlicher Formationen werden beispielsweise Veränderungen des Lichts und der Farben dargestellt, so wie in Stifters grandioser Schilderung eines Son85 Im § 80 der Vorschule der Ästhetik, der über „Poetische Landschaftsmalerei“ geht; a.a.O., 5. Bd., S. 288ff.
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nenaufgangs im Hochgebirge. Umschwünge des Wetters sucht die Darstellung zu erfassen, Regen, Wind und Wolkenbildungen. Beim zweiten Typ der Prosadeskription ist der feste Standpunkt aufgegeben. Nun werden die wechselnden Ansichten dargestellt, die sich einstellen, wenn jemand durch eine Gegend geht oder fährt. Und hier ist die Literatur in ihrem eigentlichen Element, denn hier leistet sie eben das, was die bildende Kunst nicht vermag. Sie zeigt ein Stück Natur aus den verschiedensten Perspektiven, die Bilder lösen einander ab, manchmal in überstürzender Fülle. Diese Naturerfahrung ist ganz bestimmt vom Rhythmus und vom Tempo der Fortbewegung, daher der Ausdruck ‚musikalisch‘. Die Fortbewegung kann sehr unterschiedlich ausfallen, langsam und beschaulich beim Wandern, schneller und distanzierter in der Kutsche, und im Zugabteil fliegt die Gegend draußen vorbei. Die angestrebte Einheit wird dadurch erreicht, dass die Einzelbilder hineingenommen werden in die Fortbewegung, nicht in der Form, dass sie zusammenhangslos einander folgten, sondern in einem Prozess ständiger Anreicherung. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass er dabei ist, wenn eine Gegend erkundet wird, wenn sie sich vor den Augen ausbreitet. Jetzt erst kommt der Unterschied zur Malerei ganz zur Geltung, denn anders als das fertige Gemälde zeigt die Schilderung etwas von den Bedingungen möglicher Gegenstandserfahrung. Sie gibt den geistigen Prozess wieder, in dem eine Landschaft entsteht, und das heißt, dass der Text den Blicken und den verschiedenen Hinsichtnahmen folgt, durch die sich ein Bild verfertigt. Er bildet demnach nicht wie das Gemälde die Natur zuständlich ab; er gibt die Handlungen wieder, durch die sie sich erschließt, und das sind vor allem Akte des konstruktiven Sehens. Überraschend bestätigt die Landschaftsschilderung, dass Lessing schon das richtige Gespür für Literatur hatte, als er die Formel aufstellte, nach der man vom „Maler erwarten muss, uns entstanden zu zeigen, was wir beim Dichter entstehen sehen.“86 Wie schon angedeutet, kann die Wahrnehmung gelenkt werden durch die Wahl der Fortbewegungsmittel. So eröffnete die Geschwindigkeit produzierende Eisenbahn völlig neue, bis dahin unbekannte Sichtweisen, was bei Fontane vorgeführt wird. Und da die Literatur nicht gebunden ist an einen Standpunkt, ist sie auch nicht auf einen Anblick fixiert. Sie ist daher in der Lage, das Panorama einer ganzen Gegend zu entwerfen, einer Bergregion, eines Küstenstriches oder eines Tieflandes. Eine besondere Technik der Beschreibung hat Stifter entwickelt. Sie besteht, kurz gesagt, in einem zweimaligen Durchgang durch eine Landschaft, was er selbst eine „fortschreitende Enthüllung“ nennt.87 86 A.a.O., S. 105. 87 Mehr dazu im Kp. über Stifter.
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Eine Gefahr besteht bei jeder Beschreibung, die, dass sie ausufert. Über unzähligen Details kann der Zusammenhang verloren gehen. Zumindest die „dichterische Landschaft“ verfehlt dann, was doch ihr eigentliches Ziel ist; sie muss, Jean Paul zufolge, „ein malerisches Ganzes machen“. Und er gibt auch das Mittel an, wie das zu bewerkstelligen sei, nämlich „auszulassen“.88 Darin sieht er den Unterschied zur Reisebeschreibung. Und man muss ergänzen, dass ja gerade im Kürzen, im Beschränken auf das Wesentliche und Charakteristische die eigentliche künstlerische Leistung liegt. Eine Reiseführer und eine wissenschaftliche Erhebung verfolgen noch andere Zwecke und da mögen akribische Detailangaben durchaus angebracht sein. Ähnlich gelagert ist der Unterschied zwischen „indirekter“ und „direkter“ Beschreibung.89 Die erste ist kurz gehalten und reduziert auf wenige, typische Eigenheiten. Sie überlässt es der Phantasie des Lesers, sich das weitere auszumalen. Bei der zweiten handelt es sich um eine genaue Erfassung aller Einzelheiten, was zu langen, mitunter umständlichen Explikationen führt. Über die literarische Qualität lässt sich im Vorhinein nichts ausmachen, darüber entscheidet der Einzelfall. Stifter beispielsweise gelingen sehr ausführlich wiedergegebene Naturbeobachtungen. Neben dem Auslassen führt Jean Paul ein zweites Mittel an, durch das sich die angestrebte Einheit herstellen lässt. Einen Gesamteindruck bekommt der Leser, wenn eine Landschaft „ihren eigenen einzigen Ton der Empfindung“ hat, „welchen der Held oder die Heldin angibt. Wir sehen die ganze Natur mit den Augen der epischen Spieler.“90 Für einen Trauernden oder für einen Verzweifelten sind alle Dinge in ein bestimmtes Licht getaucht, in das des einen Gefühls, und die ganze Welt erscheint abweisend und düster. Fröhlich und licht ist sie dagegen für den Glücklichen. Damit wird ein weiterer Punkt berührt. Das Material der Dichtung geben die Wörter ab, und diese sind Träger von Bedeutungen. Bei der literarischen Deskription geht es daher nicht allein um das Aussehen der Dinge. Mit den Wörtern vermittelt sie, welchen Gehalt, welchen Sinn und Wert, also welche Bedeutung sie für den Menschen haben. Informationen über die äußere Erscheinung, wie sie die Wahrnehmung erbringt, diese einmal für sich gesetzt, sind neutral. Ihnen ist nicht zu entnehmen, in welcher Beziehung die Erscheinungen zu den Menschen stehen, mit welchen Reaktionen, mit welchen Gefühlen und Gedanken sie verbunden sind. Eben das zu erfassen, gehört zu den vornehmsten Aufgaben der Literatur. Und gerade darin behauptet sie 88 5. Bd., S. 289. 89 Vgl. dazu Smuda, a.a.O., S. 52 f; Lobsien, a.a.O., S. 89. 90 Ebd., S. 289.
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eine Überlegenheit gegenüber der bildenden Kunst. Um daran zu erinnern: die geistige Seite des Kunstwerks tritt bei ihr stärker hervor als die sinnliche. Das wird an der Naturdarstellung besonders deutlich. Denn die Dichtung bringt die Natur zum Sprechen. Sie gibt wieder, wie ihre Erscheinungen, wie eine ganze Landschaft auf den Menschen wirken, in ihr kommt zum Ausdruck, mit welchen seelischen Regungen der Anblick der physischen Welt verknüpft ist. Und gerade darin liegt das Interesse, das sie auf sich zieht. Die Heiterkeit eines lieblichen Tales, das Unheimliche großer Waldungen, die Melancholie einer weiten Ebene, das berührt den Leser. Hinzuzufügen ist, dass diese Wirkung nur eintritt, wenn der Autor über das Können verfügt, einen plastischen Eindruck von den Gegebenheiten zu vermitteln, die diese Empfindungen hervorrufen. Es bei äußeren Angaben zu belassen, ist ebenso verfehlt wie die bloße Deklamation von Gefühlen. Nur beides zusammen erzielt Wirkung. Georg Forster spielt auf diesen Zusammenhang an, wenn er zwei Wege der Beschreibung herausstellt. Er bezieht sich zwar auf die Besprechung von Werken der bildenden Kunst, seine Unterscheidung lässt sich aber auf die Naturschilderung übertragen. Das eine Mal wird „erzählt, was man bei einem Anblick empfand und dachte, wie und was er bewirkte“. Das andere Mal wird eine „kalte, umständliche Beschreibung“ geboten. Forster favorisiert die erste Manier, denn nur eine Wiedergabe, welche Gedanken und Gefühle mobilisiere, teile etwas mit vom wahren Gehalt ihres Gegenstandes. Die andere zwinge dazu, „das fremde Machwerk nachzubilden“, ohne es dahin zu bringen, dass sich beim Leser das gleiche Bild einstellt, welches der Verfasser vor sich hatte, denn schließlich sei der Rezipient doch wieder auf seine eigene Vorstellungskraft angewiesen.91 Die erste Forderung an die Prosadeskription ist die nach Anschaulichkeit. Und die Frage ist, wie diese zu erreichen ist. Darauf ist zunächst zu antworten, dass die Literatur nichts anderes tut als die Kunst überhaupt: Sie individualisiert. Die Wissenschaft geht weg vom Einzelfall, sie hebt ihn auf ins Allgemeine von Gesetzen und generalisierenden Aussagen. Die Kunst schlägt die andere Richtung ein. Sie hält sich an das Besondere, setzt aber darauf, dass sich an ihm das Typische zeigen lässt, dass also im Singulären etwas aufscheint von dem, was repräsentativ ist für eine größere Einheit. Nicht mit Erhebungen über die Grafschaft Ruppin wartet Fontane auf, nicht mit Statistiken darüber, wie viel Prozent der Fläche mit Wald bedeckt ist und wie viel mit Gewässern oder wie die Einkommensverhältnisse der Bewohner beschaffen sind. Er berichtet, wie einer lebt am Stechlin-See, was er sieht und 91 A.a.O., S. 74.
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erfährt und was er und seine Nachbarn betreiben. Daraus entstehen Bilder einer Gegend, die konkret und atmosphärisch dicht sind. Wovon die Beschreibung aber eigentlich lebt, ist der Vergleich. Denn wie soll man jemandem etwas nahe bringen, das der nicht gesehen hat? Wie also soll man mit jemand, der noch nie am Meer war, über das Meer reden und wie über eine südliche Vegetation, deren Pracht alles überbietet, was er kennt? Doch nur so, dass man an Vertrautes anknüpft, dass man also Vergleiche zieht, um die Einbildungskraft zu bewegen, vom Bekannten auf das Unbekannte zu schließen. Darauf muss vor allem die Reiseliteratur bauen, die dem Leser fremde, teilweise exotische Länder vorstellen will. Diese Aufgabe war natürlich erheblich schwieriger zu Zeiten, als es noch keine Bilder von fernen Gegenden gab, wie sie die Fotografie und der Film liefern. Die Möglichkeiten des Vergleichs sind nahezu unbegrenzt. Und die Qualität einer Beschreibung entscheidet sich auch daran, wie gekonnt und treffend er gewählt wurde. Vorzüglich gemacht ist das bei Heinrich 1oé. Um ein Beispiel zu geben: „Am meisten aber erfreut der späte Sonnenaufgang in Schluchten und Klammen: wie auf dem gegenüberliegenden Gebirge sich der scharfe Grat zu entzünden scheint, über dem die Sonne heraufdringen will – in einem Licht und in einer farbigen Dunsthülle gleich dem Aufflackern von Löschpapier unter dem Brennglas.“92 Das sieht auch einer vor sich, der so etwas noch nicht erlebt hat. Diesbezüglich sind das Wissen und der Erfindungsreichtum eines Autors gefragt. Aber das ist auch eine Sache des Handwerks, und um stets gute Vergleiche zur Verfügung zu haben, kann man sie auch in Zettelkästen sammeln wie Arno Schmidt. Eine plastische, bildhafte Sprache hängt nicht allein von der Güte der Komparation ab, sondern auch davon, wie anschaulich die Worte sind. Je umfassender ein einzelner Begriff ist, je mehr Sachverhalte er unter sich vereinigt, umso weiter entfernt er sich vom sinnlich Konkreten. Mit der Bezeichnung ‚Berg‘ verbindet sich nur eine vage, kaum fassbare Vorstellung. Konturierter sind dagegen Kopf, Spitze, Horn, Pyramide, Wall, Rücken, Grat, Pass, Buckel, Lehne; da werden Gestalten greifbar. Ähnliches gilt für die Tätigkeit, also für die Verben. Was beispielsweise machen Pflanzen? Wachsen sie bloß oder ranken, klettern sie, steigen sie empor, winden, schlängeln, schlingen, recken sie sich? Und was tun die Blätter der Birke, um an die eingangs zitierte Frage Tucholskys zu erinnern. Dabei ist es eine in der Sprachwissenschaft allgemein anerkannte Tatsache, dass sich die Begriffe immer weiter von der Anschauung entfernen. Einen frühen Zustand gibt Ernst Cassirer folgendermaßen wieder: „Die Sprache lehnt sich hier noch so 92 Heinrich Noé, Ein Jahr im Gebirg, Rosenheim 1982, S. 115.
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eng an den konkreten Einzelvorgang und sein sinnliches Bild an, dass sie ihn mit dem Laut gleichsam auszuschöpfen versucht, dass sie sich nicht an einer allgemeinen Bezeichnung genügen lässt.“93 Diese Erfahrung macht auch die etymologische Forschung. So konstatiert Jost Trier: … das Innerliche und Unsichtbare, das rein Geistige und Seelische, von allen äußeren begleitenden, situationsbestimmenden Umständen Unabhängige, steht nicht am Anfang der Bedeutungsgeschichte, sondern an ihrem Ende. Das Sinnliche, Sicht- und Hörbare, in eine mannigfaltig verklammerte, gestaltenreiche Lage Eingebaute ist in aller Regel das bedeutungsgeschichtlich ältere.94
Viele Dinge sind aus unserer Lebenswelt verschwunden und mit ihnen die bildhafte Assoziation, die die Bezeichnung hervorruft; so ist es beispielsweise mit dem Wort ‚Joch‘ gegangen. Diesen Entwicklungen muss sich die Deskription natürlich anpassen. Und wenn die Worte selbst blass und unanschaulich geworden sind, so muss sie Umschreibungen einsetzen. Für die dichterische Beschreibung ist die Natur erst einmal Schauplatz der erzählten Begebenheiten. Dann aber sucht sie den physischen Erscheinungen symbolische und expressive Werte abzugewinnen, und entsprechend frei geht sie mit ihnen um. Die wissenschaftliche Beschreibung ist anderen Gesichtspunkten verpflichtet. Sie muss sich streng ans Vorgefundene halten, und sie hat besondere Methoden entwickelt, um der Realität beizukommen. Die eine Betrachtungsweise braucht die andere nicht auszuschließen, sei es so, dass die Dichtung die Faktengenauigkeit der Wissenschaft erlangt oder so, dass diese sich literarische Darstellungsweisen zu eigen macht. Die Beschreibung ist Bestandteil aller Wissenschaften. Allerdings ist sehr unterschiedlich, was darunter gefasst wird; das geht von der simplen Registrierung bis hin zu Erzeugungsregeln in der Mathematik und in den experimentellen Wissenschaften. Die ‚Beschreibung einer Kurve‘ gibt vor, wie diese zu konstruieren ist, und ein Versuch wird beschrieben, indem man angibt, unter welchen Bedingungen ein Vorgang ablaufen soll. ‚Beschreibung‘ steht aber auch für eine ganze Richtung der Naturerkenntnis, für eine, deren Ziel es ist, die Erscheinungen aus ihrem Zusammenhang zu begreifen. Sie setzt auf die Anschauung und versteht sich als Gegenzug oder, weniger polemisch, als Ergänzung zur experimentellen Forschung. Mit Bezug auf Goethe wurde dieser Typ der Naturerkundung im vorangegangenen Kapitel vorgestellt. Deskriptiv, und 93 Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil. Die Sprache, Darmstadt 1964, S. 139. 94 Jost Trier, Wortgeschichten aus alten Gemeinden, Köln – Opladen 1965, Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NRW, Geisteswissenschaften, Heft 126, S. 12f.
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das heißt jetzt, zu erfassen, was sich der ‚reinen Beobachtung‘ darbietet, sind große Teile der Botanik und anderer Disziplinen, vor allem aber ist das eine Wissenschaft, die Beschreibung schon im Namen führt: die Geographie. Auf diesem Gebiet hat Alexander von Humboldt Überragendes geleistet. Sein Begriff des „Naturgemäldes“ deutet an, dass Naturerkenntnis noch mehr sein kann als reine Faktenerhebung. Darüber findet sich einiges im Kapitel über Stifter, denn der sah in Humboldt sein großes Vorbild. Die Erdkunde nimmt eine Mittlerstellung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ein. Schon ihre Anfänge bestimmten sie dazu, denn die Ende des 18. Jahrhunderts sich etablierende Wissenschaft ist eine Verbindung von physischer Erdbeschreibung und Geschichte, aus guten Gründen; einer ist der, dass die Kenntnis des Globus verknüpft ist mit der Geschichte der Entdeckungen, mit der Beobachtungsgabe, mit den Ansichten und Absichten derer, die neugierig waren auf die Gesichter unseres Planeten. Wichtiger ist aber ein anderer Grund, nämlich die Einsicht, dass der Mensch einer der Faktoren ist, die die Gestalt der Erde prägen. Zwar ist er selbst aus ihr hervorgegangen, und dass der Landstrich, aus dem jemand kommt, sein Wesen beeinflusst, war lange eine allgemein geteilte Überzeugung. Erst die moderne, hochtechnisierte Zivilisation will die Abhängigkeit des Menschen von seiner natürlichen Umgebung nicht mehr wahrhaben. Noch der jeder Naturideologie unverdächtige Heinrich Heine bemerkt: „Die umgebende Natur wirkt auf den Menschen … In Italien ist sie leidenschaftlich wie das Volk, das dort lebt; bei uns in Deutschland ist sie ernster, sinniger und geduldiger.“95 Andererseits verfügt der Mensch aber auch über die Freiheit, die natürlichen Bedingungen, die er vorfindet, nach seinen Bedürfnissen zu verändern. Wie die Natur den Menschen prägt, so prägt er umgekehrt auch sie. Und es ist diese Wechselwirkung, die für einen der Begründer der Geographie als Wissenschaft, die für Carl Ritter zu den Grundlagen seines Faches zählt.96 Wie also ein Himmelsstrich auf den Menschen wirkt und zu welchen Aktivitäten er ihn veranlasst, ist ein Gegenstand der Geographie. Aber noch für eine andere Disziplin hat diese Beziehung eine Bedeutung, nämlich für die Historiographie. Denn wenn der Geograph bei seiner Arbeit immer auch geschichtliche Entwicklungen berücksichtigen muss, so muss der Historiker einen Blick für die natürliche Umgebung der Menschen haben, über deren Schicksale und Taten er berichten will. Unter den Historikern finden sich denn auch vorzügliche Naturschilderer, von denen hier nur zwei erwähnt werden sollen: Jakob Philipp Fallmerayer und Ferdinand 95 Reisebilder4. Teil, Sämtliche Schriften, Bd. 2, München – Wien 1976, S. 477. 96 Vgl. dazu: Hanno Beck, Carl Ritter. Genius der Geographie, Berlin 1979, S. 108f.
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Gregorovius. Das Verhältnis von Mensch und Natur ist also mit unterschiedlicher Akzentuierung ein Thema beider Wissenschaften, und einige ihrer Vertreter haben es dabei zu einer künstlerischen Ausdrucksweise gebracht, die das übersteigt, was ihnen durch die Anforderungen ihres Fachs abverlangt wurde. Reflexionen über die Mittel, Voraussetzungen und Intentionen einer Deskription der Natur hat Friedrich Ratzel, einer der großen Geographen des 19. Jahrhunderts, angestellt. Mit dem, was er als „Büchlein“ bezeichnet, besitzt die deutsche Literatur ein grandioses, über 300 Seiten starkes Kompendium der Beschreibungskunst. Allein das Kapitel über Das 1aturschöne enthält eine eindrucksvolle Fülle an Einzelbeobachtungen und Hinsichtnahmen und ist, wie die ganze Abhandlung, eine Anleitung zum Sehen. Ratzel behandelt unter anderem „Die Bogenlinie“, „Vereinigungen und Gruppierungen“, „Wiederholung“, „Rhythmus der Landschaft“, „Die Symmetrie des Tales“, „Die Mannigfaltigkeit der Bewegung“.97 Er kann dabei auf seine eigene Forschungsund Reisetätigkeit wie auf ein reiches Material wissenschaftlicher und schöner Literatur zurückgreifen. Drei Arten der Deskription unterscheidet Ratzel. Die erste besteht in einer Bestandsaufnahme. Aufgezählt und zusammengetragen wird, was sich an einer Erdstelle befindet. Die Fakten werden bloß nebeneinandergestellt. Dafür reserviert ist der Titel „Beschreibung“. Für eine wissenschaftliche Erhebung ist dieses nüchterne Registrieren aber unerlässlich. Die zweite Art heißt „Schilderung“. Bei ihr geht es darum zu erfassen, wie sich die Einzeldinge zu natürlichen Gruppierungen zusammenfinden, zu einem Gebirge beispielsweise oder zu einem Wald oder zu einer Flussaue. Wir würden heute wohl von einem ökologischen System reden. Überboten werden diese Darstellungsweisen von der dritten Art, von der „Landschaftsschilderung“. Etwas verkürzt redet Ratzel auch von der „Wiedergabe der Stimmung“, was aber angibt, worin diese Darstellung kulminiert. Zu zeigen ist, wie sich alle Erscheinungen einer Erdstelle oder eines Gebietes, große und kleine, wie sich die Mannigfaltigkeit und Verschiedenartigkeit geologischer, mineralogischer, botanischer, klimatologischer Gegebenheiten beim Beobachter zu einer Gesamtanschauung verbinden. Die „geographische Auffassung“ führe auf die „Erfassung des Landschaftlichen“, sagt Ratzel. Sie schreitet von der Einzelbeschreibung fort zu einer Wiedergabe des Ganzen. Die Erstellung eines Mosaiks, also die Aneinanderreihung von Bestandstücken ist nur eine „unvollständige Beschreibung“, eine „vollständige“ dagegen besteht in der Wiedergabe der Einheit in der Viel97 Friedrich Ratzel, Über 1aturschilderung, München u. Berlin 1906, S. 59ff. Über Leben und Werk Ratzels vgl. Günther Buttmann, Friedrich Ratzel, Stuttgart 1977.
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heit. Ohne Kunst sei das nicht zu lösen, schreibt Ratzel weiter, denn dazu gehöre der Blick für das, was über und unter den Einzelheiten liege, ein Sinn für Formgebung und Färbung, eine Empfänglichkeit dafür, dass die Natur „auf unser ästhetisches Gefühl als Ganzes und Harmonisches wirkt“.98 Ähnlich wie die Darstellungsformen sind auch die Akte der Aufnahme gestuft. An unterster Stelle steht das „Sehen“. Dieses ist eher zufällig, es bleibt flüchtig und fragmentarisch, angewiesen auf das, was gerade begegnet. Mehr leistet das „Beobachten“. Es besteht in einem Suchen, ist kein passives Hinnehmen, sondern ein aktives Erkunden, das sich von Fragestellungen und Hypothesen leiten lässt. Dabei sucht es Zusammenhänge zu erkennen und hat den Charakter eines „vergleichenden Sehens“. Der oberste Rang kommt dem „Schauen“ zu. Dieses geht eigentlich über die Wahrnehmung hinaus. Es dringt vor in den Kern der Phänomene und erkennt deren Seele oder geistigen Gehalt. Es hält sich nicht bei den Einzelheiten auf, sondern läuft hinaus auf ein „großes, einfaches Umfassen des Ganzen“. Daher hat es auch die Fähigkeit unter den Einzelzügen den zu wählen, in welchem sich das Wesen einer Sache ausspricht. Das Schauen basiert eigentlich darauf, „die Erscheinungswelt für einen den Sinnen zugänglichen Ausdruck von Gedanken zu halten“. In ihm vereinigen sich Kunst und Wissenschaft, so dass Ratzel von „wissenschaftlich-künstlerisch“ spricht.99 Wenn sich auch insbesondere im Schauen Kunst und Wissenschaft berühren, so darf man doch die Unterschiede nicht aufheben. Die Wissenschaft muss sich strikt ans Reale halten. Um das zu erfassen, setzt sie bestimmte Methoden ein; sie zerlegt, misst, zählt, sammelt, vergleicht, und erst am Schluss eröffnet sich ein Blick darauf, wie die Versatzstücke zusammenhängen. Aber Ratzel insistiert darauf, dass vor allem seine Wissenschaft, dass vor allem die Geographie einem Bedürfnis genügen müsse, nämlich „dem Sehnen nach dem Bild“. Wie die singulären Erscheinungen zusammenstimmen, das ist doch das, was man letzten Endes erfahren möchte. Freier kann die Kunst mit den Dingen umgehen, sie kann selektieren, ihr ist es erlaubt, die Gegenstände nach dem packenden Eindruck und nach dem Stimmungsgehalt auszusuchen. Sie darf kürzen und stilisieren. Nicht Wirklichkeitstreue ist ihr oberstes Ziel; sie überhöht die Wirklichkeit, um das Typische zu ergreifen.100 Auch Ratzel zieht in Erwägung, was die „zeichnende“ und die „sprechende Schilderung“ zu leisten imstande ist. Obwohl er der ersten 98 Ebd., S. 1–16, S. 316f. 99 Ebd.., S. 217–246. 100 Ebd. S. 9; S. 27–50.
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einen wichtigen Beitrag zur Erfassung der Natur zubilligt, er bezieht in seine Überlegungen auch die Fotografie ein, hält er doch die zweite für überlegen. Die Vorteile einer bildlichen Darstellung sind die, dass sie ummittelbar anspricht und allgemein verständlich ist. Sie gibt Linien und Farben so, wie sie sind, wieder. Dem stehen Nachteile gegenüber. Da Ratzel diesbezüglich nur anführt, was auch anderswo herausgestellt wird, mögen hier einige Hinweise genügen. Das Bild ist beschränkt auf einen Ort, es gibt nur einen Auszug oder Ausschnitt wieder, ihm ist also ein enger Rahmen gesetzt. Zudem ist es fixiert auf einen Standort. Hinzukommt die Gebundenheit an die Fläche. Obwohl Ratzel dem Gemälde nicht abspricht, dass ihm auch Andeutungen eines zeitlichen Verlaufs möglich sind, bleibt es doch ein „Augenblicksbild“. „Selbst das Beweglichste ist festgebannt“. Und Ausblicke und Rückblicke, also die Darstellung der Zeit, sind ihm weitgehend versagt. Mit Bildern kann man eben keine naturgeschichtlichen Zusammenhänger darstellen, etwa die Entwicklung eines Gebirgsstockes. Ihre Begrenztheit machen sie ungeeignet, bestimmte geographische Gegebenheiten wiederzugeben, so die grenzenlos erscheinenden Weiten des Meeres und des Himmels; ebenso wenig kann ein Gemälde einen Überblick über die Natur einer ganzen Region verschaffen. Wenn auch weniger unmittelbar, ist doch das Wort weitaus flexibler. Für den Wissenschaftler ist es das unentbehrliche Instrument, in Raum und Zeit Entferntes zusammenzubringen, um so Entwicklungen und Gesetzmäßigkeiten sichtbar zu machen. Aber es ist auch das Medium, das den Eindruck auf die Seele, den die Erscheinungen erwecken, auszudrücken vermag, eben weil es ihm gegeben ist, die Bewegung festzuhalten. Denn die Bewegung ist das Merkmal des Lebendigen. Es drückt sich in ihm eine Absicht aus, auf die unser Inneres reagiert.101 Eine Probe soll die theoretischen Ausführungen untermauern. Sie stammt nicht von Ratzel, der selbst ein exzellenter Prosaschreiber war, sondern vom Historiker Jakob Philipp Fallmerayer. Dieser ist einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden durch die so bezeichnete „Slawenthese“. Danach sind die Neugriechen nicht Abkömmlinge der antiken Hellenen, sondern oberflächlich gräzisierte Nachfahren der im frühen Mittelalter in das Gebiet des heutigen Griechenlands eingewanderten Slawen. Das hat für einigen Wirbel gesorgt in einer Zeit, da ganz Europa philhellenisch empfand und in der Befreiung der Griechen von türkischer Herrschaft die Wiedererstehung des alten Hellas feierte. Byzanz und das Verhältnis von Okzident und Orient waren Schwerpunkte von Fallmerayers wissenschaftlicher Arbeit. Zum Quellenstudium und um sich mit den Verhältnissen vertraut zu machen, hat er zwischen 101 Ebd., S. 250–340.
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1830 und 1845 mehrere Forschungsreisen in den Osten unternommen. Sie führten ihn auch auf den Berg Athos. Die Mönchsrepublik auf der schmalen, lang hingezogenen Halbinsel in der nördlichen Ägäis erregte sein besonderes Interesse, denn er hielt sie für das Zentrum der Orthodoxie oder, wie er sich ausdrückt, für den „Vatikan der Ostkirche“.102 Welches Leben den erwartet, der sich in den Bezirk der Klöster zurückzieht, steht am Anfang seiner Berichte. Verlockend sind der verheißene Seelenfrieden und die Aussicht auf ein Dasein, das sich wohltuend abhebt von der Betriebsamkeit und der Ruhelosigkeit Europas. Aber das allein macht nicht die Anziehung aus. Das Glück und die Beseligungen, die dieses Refugium gewährt, verdanken sich zu einem guten Teil der üppigen südlichen Natur zwischen Fels und Meer. Aber nicht der Autor rühmt dieses Leben; das tun die Mönche, die den Fremden einladen, es mit ihnen zu teilen. Er leiht ihnen nur seine Beredsamkeit, darin besteht der literarischen Kunstgriff. Noch bevor Fallmerayer sich an das eigentliche Geschäft des Historikers macht, sich verbreitet über die Verfassung dieser Gemeinschaft, über deren Ursprünge und wechselnde Schicksale, beschreibt er die Lokalität, die ein Bestandteil dieser Geschichte ist. Es sind Naturbilder, die etwas begreiflich machen vom Geist des Athos. Das erste ist ganz persönlich gehalten, ganz aus der Sicht eines, der aus einer Eremitenklause die Sonne aufgehen sieht. Die Einheit des Bildes wird bewerkstelligt durch eine Bewegung, durch die des Lichts. Es legt sich nacheinander auf die verschiedenen Gegenstände und zieht sie hinein in seinen Kreis; und das ist einfach meisterlich gemacht: Indessen senkte sich über Steilwände und Felsengewirre im feiertäglichen Schimmer das Sonnengold vom einsamen Athos-Gipfel langsam zum Tannenwald herab, legte sich nacheinander auf das helle Kastanienlaub, auf das Platanendickicht, auf die Klause und ihre Gärten mit Herbstflor und Rebgelände, und erreichte endlich die Nußbäume, die Limonien und das dichtverschlungene, laubichte Geranke der waldichten Schlucht, fiel auf das Burgverließ, auf den bleigedeckten Dom und die byzantinischen Kuppeln, auf die Mauerzinnen und Söller von St. Dionys: unten lag spiegelglatt der weite Golf und von innen tönte Glockenschlag, süße heimathlich melancholische Seelenmusik des Christenthums.103
Das zweite Bild wirkt wie ein Monumentalgemälde; es rückt mit einigen großen Zügen den ganzen Chersones, so heißen diese Halbinseln, vor die Augen; es zeigt ihn in seinen geographischen Formationen, 102 Fallmerayers Essays über den Athos sind aufgenommen worden in die Fragmente aus dem Orient. Wieder zugänglich gemacht worden sind sie in: Der heilige Berg Athos (mit Zeichnungen von Paul Flora und Fotos von Wolfgang Pfaundler), Bozen 2002; über Leben und Werk Fallmerayers unterrichtet das Nachwort von Elen Hastaba. 103 Ebd., S. 8.
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spielt an auf seine spirituelle Bedeutung und fängt etwas ein von der eigentümlichen Stimmung dieses Reviers: Athos ist der Walddom der anatolischen Christenheit. Ein mehr als zwölf Stunden langes, zwei bis drei Stunden breites und durch eine schmale Landzunge an den Continent gebundenes Bergeiland erhebt sich in isolierter Majestät über die tiefe Fluth des Strymonischen Golfes. Das ist der Berg Athos. Langgestreckt ist diese Halbinsel, nicht flach, auch nicht wellenförmig hingegossen, noch als schiefe Ebene auf einer Seite aufsteigend, auch nicht ein mit Hügel- und Felsengewirre unregelmäßig ausgefülltes Conglomerat: haldig und sanft steigt es von beiden Strandseiten gegen die Mitte empor und läuft sattelförmig mit wachsender Höhe und Steile in langen Windungen fort wie ein Tempeldach, und am Ende strotzt leibig und wohlgenährt, von drei Seiten rund aus dem Wasserspiegel heraussteigend und auf der vierten bis zur halben Höhe mit dem Waldgebirge verwachsen, einsam und frei die riesige Athos-Kuppel in die Lüfte, auf der Plattform ein weithin sichtbares Kirchlein, das höchste und luftigste Gotteshaus der morgenländischen Christen, zugleich Sitz der Sommerlust, der Andacht und der Windsbraut für die Athoniten. Man denke sich eine Augustnacht in Purpurflor und mit allen Reizen des Südhimmels angethan, den glatten Spiegel bodenloser Tiefe, mildhauchende Seelüfte über die Gärten und Söller fächelnd, Nachtigallen im Rosenbusch, das lange Walddunkel und die Wachtfeuer auf der Bergspitze; oder wie das Morgenroth und der erste Sonnenstrahl goldfunkelnd auf die Felsenkrone fällt und weit unten auf dem Kastanienwalde noch schweigsame Nacht oder kaum das erste zweifelhafte Dämmerlicht über den Klosterzinnen am Strand liegt.104
Die Naturbilder verweisen auf den geistigen Habitus der Ostkirche. Er besteht in einer Abkehr von aller Weltläufigkeit, die selbst gegen die eigene Geschichte gleichgültig ist. Nicht das Studium und das Wissen zählen für die Mönche. Sie leben in „seliger Ignoranz“, denn am letzten Gerichtstage fragt Gott den Menschen nicht, was er gelernt, sondern wie er gehandelt hat, sagen sie. Der heilige Berg Athos ist ein Gegenentwurf zur Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit Europas, ein „Antivatikan“. Sein Ort ist daher die Abgeschiedenheit der Felseninsel, nicht die Zivilisation der Metropolen.105 Die Naturschilderung, und das leitet über zu einem Resümee, die Naturschilderung also macht die sinnlichen Qualitäten bewusst, die eine Umgebung hat, zeigt auf, worin ihre Reize liegen. Aber sie leistet noch mehr, sie spricht die Gefühle und Gedanken aus, die der Anblick der physischen Erscheinungen hervorruft. Und was bei einem Gemälde jeder Betrachter für sich vornehmen muss, Klarheit zu erlangen über die Bedeutung des Gesehenen, das legt ihm die Beschreibung nahe. Sie ist immer auch Deutung, Interpretation der sichtbaren Welt, und dem nur dunkel Empfundenen gibt sie einen Ausdruck. Sicher, ihre Gestal104 A.a.O., S. 9f. 105 Vgl. ebd., S. 32, 54, 56, 72f.
Die Bilder und die Worte oder die Kunst der Beschreibung 165
ten sind nur imaginiert, aber die Imagination bleibt nicht körperlos, sie materialisiert sich im Wort. Und in ihm verschmilzt das Phantasiebild mit Klängen. Es entsteht so eine besondere Form der Präsentation. Das Bild verbindet sich mit Tönen und Rhythmen, es nähert sich der Musik und bekommt eine ganz eigene Suggestion. In den besten Schilderungen vereinigen sich diese drei Momente: das Sensitive mit dem Bedeutungsvollen und dem Musikalischen. Über die Grenzen ihrer Kunst wissen die Schriftsteller nur allzu gut Bescheid. Ihnen ist bewusst, dass sie das Schöne und Grandiose, das sie fasziniert, nicht vor die Augen rücken können wie die Maler, sie können davon nur reden, und so wird es zu einer literarischen Übung, Gemälde zu zitieren, um den Reiz einer Naturszenerie wiederzugeben, zu deren Darstellung die Worte nicht reichen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die bildende Kunst ihrerseits der Ergänzung bedarf. Sie ist sogar auf Sprache angewiesen, spätestens bei der Rezeption eines Bildes, wie der Hinweis auf Roland Barthes zeigte. Und das Bild ist der Sprache unterlegen, wenn es gilt, eine entscheidende Dimension der Wirklichkeit zu erfassen, die der Zeit. Eindringlich führt das Leonardo da Vinci vor, der bei der Erfassung der Bewegung an die Grenzen seiner Kunst gelangt und sich genötigt sieht, zur Beschreibung überzugehen. Dass beide aufeinander verweisen, das Wort auf das Bild und das Bild auf das Wort, das ist eines der Ergebnisse dieser Untersuchung. Um aber zu bestimmen, wie dieses Verhältnis beschaffen ist, muss man zunächst, darin Leonardo und Lessing folgend, die Einheit der Künste aufheben. Erst dann kann man erkennen, was jede von ihnen zu leisten imstande ist, und nur dann erhält die Rede davon, dass die Sprache bildhaft und das Bild sprechend sein soll, einen präzisen Sinn. Nicht im Sezieren, sondern in der Zusammenschau bewährt sich die Kunst der Deskription. Aber auch sie bedarf der Anleitung. Das geschieht durch einen geistigen Entwurf, der es ermöglicht, die Dinge im Raum zu ordnen. Eine solche Konzeption liegt vor in der ‚Landschaft‘, und davon handelt das nächste Kapitel.
Joachim Patinir, Landschaft mit dem heiligen Hieronymus, Ölgemälde, Prado, Madrid.
Claude Lorrain, Landschaft mit Wassermühle, Ölgemälde, Galleria Doria Pamphili, Rom.
4. Vom Wesen der Landschaft Die Wahrnehmung der Natur als Landschaft ist alles andere als selbstverständlich. Ein Indiz dafür ist, dass sie erst spät Gegenstand künstlerischer Darstellung wird. Sie ist eine historisch vermittelte Sichtweise, keine angestammte, also keine, die sich aus der Biologie des Menschen erklären ließe. Auch die Sprachgeschichte verweist auf diesen Sachverhalt. In mittelalterlichen Texten steht der Begriff ‚Landschaft‘ (mhd. lantschaft) für das lateinische regio oder provincia. Er umfasst ein Gebiet und seine Bewohner, eine Bedeutung, die sich in dem noch gebräuchlichen Kompositum ‚Landschaftsverband‘ erhalten hat. Der Begriff meint anfänglich also etwas anderes als das, was heute darunter verstanden wird, nämlich ein Stück Natur, das sich einem Betrachter darbietet. Exemplarisch dafür wäre der Blick von einem Berg auf ein sich öffnendes Tal. In dieser Bedeutung wird er erst seit der Renaissance verwendet und bezeichnet zunächst die künstlerische Darstellung einer Gegend. Als Fachterminus der Malerei gelangt er in die Gelehrten- und von da in die Umgangssprache. Zwischen dem kunstgeschichtlichen und dem umgangssprachlichen Gebrauch besteht also eine enge Verbindung. Das zeigt an, dass der Terminus immer gebunden ist an einen bestimmten Erfahrungsbereich, an den einer ästhetischen Aneignung der Natur. Die Bezeichnung ‚Landschaft‘ bezieht sich in der heutigen Verwendung auf beides, auf die Wahrnehmung eines Ausschnitts der Erdoberfläche und auf die künstlerische Repräsentation einer solchen Wahrnehmung, sei diese nun fiktiv oder realistisch.1 Das Erlebnis der Landschaft hat ein besonderes Gepräge und ist nicht einfach gleichzusetzen, was oft genug geschieht, mit dem ‚Naturgefühl‘. Das Naturgefühl ist unbestimmter und zugleich umfassender. Es beruht auf einer unmittelbaren Berührung durch die Natur. Sie ergreift einen, man spürt sie auf der Haut, riecht, ertastet und hört sie. Das Sehen ist nur ein Element im Akkord der Sinne und nicht einmal das dominierende. Dieses Empfinden für die Natur entsteht aus der Nähe und ist verbunden mit dem Nahraum.2 Es ist in diesem Zusammenhang 1 2
Nachweise zur Begriffsgeschichte in: Trübners Deutsches Wörterbuch; ausführlich setzt sich Eberle damit auseinander; a.a.O., S. 15ff. Zur Unterscheidung Naturgefühl – Landschaftserlebnis vgl. Herbert Lehmann, Die Physiognomie der Landschaft, in: Studium Generale, 3. Jg., Heft 4/5, Heidelberg 1950, S. 183f; diese Differenzierung nimmt auch schon Georg Simmel vor; vgl. Philosophie
168 Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung
aufschlussreich, dass derjenige, der den Verlust des Naturgefühls in einer vom Verstand beherrschten Kultur beklagt, dass Jean-Jacques Rousseau eine haptisch-olfaktorische Erfahrung der Natur gegen eine visuelle ausspielt. Der Blick hält auf Distanz; er steht im Dienst des Intellekts. Mit ihm etabliert sich ein Beobachter, der sich die Dinge entgegensetzt. Erst wenn der Mensch wieder das Sinnenwesen wird, das er ursprünglich war, gewinnt er erneut ein Gespür für die Schöpfung. Als ein Mittel, dahin zurückzufinden, besinnt sich der alte Rousseau auf das ihm von früher her vertraute Botanisieren.3 Beim Berühren der Pflanzen, beim Riechen, Tasten, Greifen erfasst ihn ein ungemeines Behagen, eine Wonne und ein Entzücken, die daher rühren, dass er ganz eins wird mit seiner Umgebung. Diese Erfahrung stellt sich allerdings nicht ein, wenn man sich leiten lässt von Erkenntnisinteressen, also davon, das Vegetabile zu bestimmen und zu rubrizieren; auch nicht, wenn man bloß aus ist auf den Nutzen und in den Pflanzen nur Heilmittel sucht. Bezeichnenderweise hat der Autor, dessen Name verbunden ist mit einer schwelgerischen Naturfrömmigkeit, die ganz Europa erfasste, keine wirklichen Landschaftsbeschreibungen vorgelegt. In den für ihre Naturschilderungen berühmten Werken wie Julie oder Die neue Héloise oder Die Bekenntnisse gibt es allenfalls Andeutungen davon. Was sich findet, ist eine Fülle von einzelnen Eindrücken und Empfindungen, die auf den Verfasser einstürmen und ihn überwältigen.4 Das Naturgefühl ist eine unmittelbare, seelische Resonanz auf Vorgänge und Erscheinungen in der Natur, das an keine Zeit und an keine Gesellschaftsschicht gebunden ist. Es bricht, trotz aller Stilisierung, hervor aus dem Mailied von Walther von der Vogelweide ebenso wie aus dem von Goethe: „Muget ihr schouwen waz dem meien wunders ist beschert?“; und: „Wie herrlich leuchtet mir die Natur!“. Und man darf annehmen, dass auch irgendwelche Troglodyten die Wiederkehr der Wärme und des Lichts, der Farben und der Gerüche überschwänglich begrüßt haben. Und da es hier um den Ausdruck des Inneren geht, weniger um die Beschaffenheit der äußeren Welt, ist dies vor allem eine Sache der Lyrik. Ein Einzelnes, ein Baum oder selbst eine Wiese, macht noch keine Landschaft aus. Zu ihr gehört die Vereinigung des Mannigfaltigen. Es
3
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der Landschaft, in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, Frankfurt/M. 2001, S. 472f. Diese Ausführungen beziehen sich auf den Siebten Spaziergang der Träumereien des einsamen Spaziergängers; vgl. dazu Alexandre Métraux, Ansichten und Aisthesis. Einige kritische Bemerkungen zum Landschaftsbegriff, in: Smuda (Hg.), Landschaft, Frankfurt/M. 1986, S. 218–222. Zu denken wäre etwa an die im 23. Brief des ersten Teils der Julie beschriebene Wanderung ins Wallis.
Vom Wesen der Landschaft 169
gibt Ausnahmen. In der chinesischen und japanischen Kunst kann ein Detail – beispielsweise die Andeutung eines Baumes an einem Berghang, festgehalten auf einer Tuschzeichnung – die Ausmalung des Gesamtzusammenhangs ersetzen, ähnlich wie der ostasiatische Garten die Welt in der Miniatur enthält. Selbstverständlich setzen solche Darstellungen auf die Imaginationskraft des Betrachters. Der muss das Bruchstück in die gedachte größere Ordnung hineinstellen. Aber für gewöhnlich führt die Aufmerksamkeit auf einen singulären Gegenstand nicht zur Landschaft. Dazu gelangt auch nicht das Verweilen beim Nahen, Engen. Eine Umgebung, die wie ein Interieur wirkt, eine Waldlichtung z.B., weist nicht die typischen Merkmale der Landschaft auf. Es gehört dazu die Weite des Raums, die Aussicht auf den Horizont. Das Bewusstsein, umstellt zu sein von den Dingen, fügt sich dem nicht ein. Die große Natur vor sich zu bringen, ist Teil des Landschaftserlebnisses. Wobei Natur wieder zu viel gesagt ist. Der Ausblick mag in die Ferne gehen und die verschiedensten tellurischen, vegetabilen und uranischen Gestaltungen umfassen, er enthält doch nur einen Ausschnitt. Die Natur hat aber nichts Ausschnitthaftes; sie ist etwas Ganzen, Ungeteiltes, eine Einheit, die das Auseinanderfallende, Mannigfaltige, Verschiedenartige zusammenhält. Aber dieser Zusammenhang übersteigt den Gesichtskreis, er ist der sinnlichen Wahrnehmung nicht zugänglich. Wenigstens aber lässt sich davon eine Vorstellung geben, und eben dies gewährt die Landschaft. Sie macht die Ganzheit der Natur sichtbar, in der Weise, dass sie die verschiedenen Erscheinungen zu einer einheitlichen Anschauung verbindet. Sie ist demnach mehr als ein Segment, in ihr ist das Ganze der Natur anwesend. Nicht nur in der Form, dass sie exemplarisch das Singuläre zur Einheit vermittelt, sie weist auch über sich hinaus, verweist auf die Totalität der Natur, von der sie nur ein Bruchstück ist. Immer ist diese mitgegeben; der Betrachter stellt das, was vor ihm liegt, in einen größeren Zusammenhang, der über den Horizont hinaus ins Unermessliche geht und dessen Wirkungskraft er spürt in der Bezogenheit der Dinge aufeinander. Die Natur bildet so den Hintergrund, vor dem sich die einzelne Landschaft als prägnante Gestalt abhebt. Es gibt unzählige Landschaften, und dass sich das Disparate zu einer bestimmten Einheit zusammenschließt, liegt nicht an den Dingen, das liegt am Betrachter. Es ist sein Standort und seine Sichtweise, die einer beliebigen Naturszenerie eine ganzheitliche Struktur verleihen. Allein der Wechsel des Standpunktes würde eine andere Ordnung ergeben. Das schon beweist, dass die Landschaft aus einer individuellen Sicht auf die Natur hervorgeht.5 Es ist der Blick des Beobachters, der 5
Das betont vor allem Eberle; vgl z.B. a.a.O., S. 51.
170 Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung
die Landschaft einrichtet. Einmütig erklären die Theoretiker, die sich damit befasst haben, sie werde durch einen „geistigen Prozess“ erzeugt.6 Die Erörterung, welchen Anteil daran die objektiven Gegebenheiten haben, muss vorerst noch zurückgestellt werden. Jedenfalls ist das Landschaftserlebnis eine bestimmte Weise, sich von der Natur angehen zu lassen. Das Bewusstsein darf sich nicht einlassen auf Sonderbedeutungen, es darf nicht hingegeben sein an die Beschaffenheit des Solitären. Es muss über die Komponenten hinweg sie erfassen in ihrem Zusammenstimmen. Damit ist ein wesentliches Charakteristikum der Landschaft angesprochen. Sie ist ein übersummenhaftes Gebilde, also keine Aneinanderreihung von Dingen, kein Nebeneinander, sondern ein Miteinander, bei dem das eine nicht ohne das andere bestehen kann. Dass die Naturerscheinungen in ihrem natürlichen Zusammenhang andere Eigenschaften aufweisen, ein anderes Aussehen, andere Formen und Farben, als dann, wenn sie isoliert gesehen werden, ist gerade ein Ertrag der landschaftlichen Erfahrung.7 Sie beeinflussen sich gegenseitig und stehen in Wechselwirkung zueinander, und eben das erschließt sich dem landschaftlichen Blick. Aufgabe der Darstellung muss es sein zu zeigen, wie die Gegenstände zueinander stehen, wie das Nahe und das Ferne, wie Erde und Himmel, wie Wasser und Bewuchs miteinander verknüpft sind. Eine bloße Aufreihung und, in der Literatur, eine bloße Aufzählung ergeben noch keine Landschaft. Die Kennzeichen der Landschaft sind also diese: Erstens umfasst sie nicht ein Einzelnes, sondern eine Vielzahl von Erscheinungen. Zweitens hat sie eine bestimmte räumliche Dimension; sie geht ins Weite, umspannt den Gesichtskreis. Drittens bildet sie ein Ganzes, eine geschlossene Formation, die sich von ihrer Umgebung abhebt. Viertens weisen ihre Bestandteile eine durchgehende Beziehung zueinander auf; ihr Platz und ihr Stellenwert werden ihnen von der übergeordneten Einheit vorgegeben. Fünftens gehört der Blick des Betrachters zu ihren konstitutiven Bedingungen. Sie entsteht aus der Distanz, daraus, dass ein Betrachter einen Standpunkt gegenüber einem Stück Natur einnimmt und den sich bietenden Ausblick auf eine gewisse Weise anordnet. Die Landschaft verdankt sich einer Ästhetik des Blicks. Zum letzten Punkt bedarf es noch einer Ergänzung. Der Abstand, der nötig ist, um eine Aussicht aufzubauen, kann auch wieder aufgehoben werden. Das geschieht dann, wenn der Schauende ganz versenkt ist in einen Anblick und ihn das Gefühl überkommt, dass er ein Teil wird von seiner Umgebung. So verhält es sich in manchen Schilderungen von Jean Paul; in ihnen entwickelt die Landschaft geradezu einen Sog, 6 7
So Simmel, a.a.O. S. 471; vgl. auch Lehmann, a.a.O., S. 185. Sehr eindrücklich hat das Stifter dargestellt; auf dieses Kapitel sei hier verwiesen.
Vom Wesen der Landschaft 171
durch den sie den Betrachter in sich hineinzieht, was im Erlebnis der Einheit von Mensch und Natur gipfelt. Wenn es eine Voraussetzung des Landschaftserlebnisses ist, einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus die Natur als ein Gegenüber angeschaut wird, so braucht das in der Literatur, anders als in der bildenden Kunst, kein fixer Ort zu sein. Wie im vorigen Kapitel gezeigt, entsteht die Beschreibung einer Gegend oft gerade aus der Bewegung. Um zur Landschaft zu werden, ist es erforderlich, dass sich die daraus hervorgehenden, wechselnden Ansichten zu einem einheitlichen Bild verbinden. Und noch etwas: Vorhin wurde gesagt, dass sich das Naturgefühl vom Landschaftserlebnis unterscheidet. Das heißt aber nicht, dass dieses jenes ausschließt; im Gegenteil, wer kein Empfinden für die Natur entwickelt, hat auch kein Auge für die Landschaft. Gerade das unmittelbare Berührtsein von Klängen und Düften, von der Temperatur und der Witterung beeinflusst die Sichtweise auf eine Naturszenerie. Diese Eindrücke gehen ein in das Erlebnis der Landschaft. Und es ist, worauf auch schon hingewiesen wurde, der Vorzug der literarischen gegenüber der bildnerischen Darstellung, die verschiedenen sinnlichen Wahrnehmungen einzubeziehen. Die Landschaft als ein Naturraum, der sehr unterschiedliche Gegebenheiten enthält, zieht nicht nur ein erlebnishaft-ästhetisches Interesse auf sich, er ist auch Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung. So kann dieselbe Gegend unter verschiedenen Aspekten angesehen werden. Eine Moorlandschaft beispielsweise ist sowohl das objektive Gebilde des Geographen wie auch der optisch-seelische Eindruck, den sie bei einem Wanderer hinterlässt. Im ersten Fall geht es um die sachbezogene, im zweiten Fall um die erlebnishafte Seite derselben Sache. Zur Landschaft gehört demnach beides, dies, dass sie eine Faktenverschränkung darstellt und dies, dass sie eine Physiognomie oder einen stimmungsmäßigen Ausdruck aufweist. Inwiefern sich beide Aspekte auseinanderdividieren lassen, ist noch die Frage. Wenigstens kann hier schon gesagt werden, dass anfänglich die künstlerische und die wissenschaftliche Erkundung der Landschaft zusammengehen. Und so ist es noch bei Alexander von Humboldt. ‚Landschaft‘ ist ein Grundbegriff der Geographie. Lehmann definiert ihn als „Summe der natürlichen Gegebenheiten eines Raumes“.8 Nun steht diese Auffassung in Konkurrenz zu einer anderen, die auch die menschlichen Werke mit einbeziehen, also der Tatsache Rechnung tragen will, dass die Natur in vielen Teilen der Erde vom Menschen mitgestaltet wurde. Der Begriff ‚Kulturlandschaft‘ ist auf diesen Sachverhalt gemünzt. Hier begegnet also wieder der schon einmal behandel8
A.a.O., S. 182.
172 Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung
te Unterschied zwischen freier und gezähmter Natur. Nun kann man den Menschen bei der Untersuchung der Landschaft gar nicht ausschließen. Ihn muss man als Faktor, der neben anderen prägend auf die Erdoberfläche einwirkt, begreifen. So verfährt Friedrich Ratzel, wenn er zu den Gegenständen, die eine Landschaft ausmachen, ganz selbstverständlich die „menschlichen Werke“ hinzuzählt. Und Martin Schwind, auch ein Geograph, meint dazu: „Die Interpretation der Landschaft muss das Reich der Natur und des Geistes umschließen.“9 Das allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sich die kulturellen Hervorbringungen als integrativer Teil der Natur auffassen lassen. Eine Stadt oder ein Industriegebiet ist nun mal keine Landschaft, auch wenn man, mit einem gewissen Recht, von ‚Stadtlandschaft‘ redet. Dieser Konflikt ist nicht neu. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts versuchte Carl Gustav Carus ihn beizulegen, und seine Lösung ist auch heute noch brauchbar. Der Mensch ist ja das schönste Erzeugnis der Erde, und die Erde ohne den Menschen ist so wenig vollkommen, als der Mensch als Mensch vollkommen gedacht werden kann ohne die Erde. Zeugnisse des Menschheitslebens vervollständigen also erst das Erdenleben und seine künstlerische Darstellung, und somit können Menschen und Menschenwerke gar wohl in einem echten Erdlebenbilde [Carus’ Begriff für Landschaftsbild] erscheinen, nur dass die Schilderung des Erdlebens vorherrsche.10
Was Carus im Hinblick auf die Kunst sagt, lässt sich auf die Wissenschaft übertragen. Selbstverständlich darf sich der Geograph nicht von stimmungshaften Eindrücken oder vom bloßen Erscheinungsbild leiten lassen. Für ihn tritt der physiognomische Aspekt in den Hintergrund. Seine Aufgabe besteht darin, ein Terrain zu sondieren. Und dazu erhebt er Daten, er misst, zählt und ordnet ein. Er setzt zu diesem Zweck das von seiner Wissenschaft entwickelte Instrumentarium ein. Er verfügt über gewisse Methoden, über kategoriale Bestimmungen und Gerätschaften. Und sein Fach zerfällt ihm wieder in besondere Disziplinen wie die Pedologie, die Bodenkunde und die Hydrologie, die Wasserkunde. Wenn aber der eigentliche Forschungsgegenstand eine größere räumliche Einheit, eben die Landschaft, ist, dann fragt sich, wie dieser überhaupt bestimmt werden kann. Denn der Geograph kann ja nicht beliebige, unzusammenhängende Fakten sammeln. Er muss sie von vorneherein beziehen auf ein einheitliches, wenn auch vielschichtiges Gebilde. Dieses, sein 9
Ratzel, a.a.O., S. 273; Schwind, Studium Generale, a.a.O., S. 196. Der Botaniker Hansjörg Küster hat sehr eindrücklich gezeigt, wie sehr die Landschaften Europas vom Menschen geformt wurden; vgl. Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa, München 1995. 10 Carl Gustav Carus, 1eun Briefe über Landschaftsmalerei; ed. Kurt Gerstenbarg, Dresden o.J., S. 135f.
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Gegenstand, muss ihm also schon gegeben sein, bevor er sich an die Einzeluntersuchungen macht, und die diversen Daten müssen eruiert werden im ständigen Hinblick auf das übergeordnete Forschungsobjekt. Ein Beispiel erklärt die Schwierigkeit. Nehmen wir eine Flusslandschaft. Gehören dazu nur die Marschen an beiden Ufern oder auch noch die angrenzenden Geestrücken? Und wie steht es mit den Gebirgszügen, die den Flusslauf in einiger Entfernung säumen? Zählen sie nicht auch noch zu dem zu erforschenden Naturraum ‚Flusslandschaft‘? Nun ist die Wissenschaft in neuerer Zeit dazu übergegangen den Begriff ‚Landschaft‘ durch ‚ökologisches System‘ zu ersetzen.11 Dabei handelt es sich keineswegs lediglich um eine Umettikettierung, es zeigt an, worum es geht, nämlich um die Erfassung äußerst komplexer Gefüge, die aus einem Geflecht ineinander wirkender Faktoren bestehen. Eigens dazu wurden neue Verfahren entwickelt, und die Geographie kann dabei Anleihen bei der Biologie und der Systemtheorie machen. Um anzudeuten, was gemeint ist: So rechnet man beispielsweise mit einer zirkulären Kausalität, also damit, dass jeder Teil in dem System nicht nur Einwirkungen von anderen Teilen empfängt, sondern selbst wieder auf andere einwirkt. Jedes Glied ist sowohl aktiv wie passiv, ist zugleich Grund und Folge. So sorgt der Boden nicht nur für ein bestimmtes Wachstum der Pflanzen, sondern diese ihrerseits sind auch wieder mitverantwortlich für dessen Beschaffenheit. Aber auch wenn die Landschaft als Ökosystem verstanden wird, bleibt das Problem bestehen, denn wie wird festgelegt, was überhaupt zum System gehört? Das ist insofern von entscheidender Bedeutung, weil je nach dem, wie eine solche Definition ausfällt, man andere Ergebnisse erhält. So ist das Ökosystem ‚Teich‘ eine Größe, die eine bestimmte Anzahl von Gegebenheiten umfasst, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Begreift man den Teich als Bestandteil einer größeren Einheit, muss man mit zusätzlichen Determinanten rechnen. Die Begrenzung eines Systems sei willkürlich, sagt die Wissenschaft, eine Auskunft, die nicht sonderlich befriedigend ausfällt.12 Aber schon die gewöhnliche Erfahrung belehrt einen darüber, dass solche Grenzziehungen so willkürlich gar nicht sind. Die Naturerscheinungen bieten sich nicht als isolierte Gegenstände dar, sondern in Gruppierungen, sie schließen sich zu Massen zusammen und bilden eigentümliche Konfigurationen. Vorgegeben wird der Wahrnehmung ein gegliedertes Feld, eine strukturierte Organisation. Und die Geographen, nicht nur die der Vergangenheit, beschäftigen sich mit charakte11 Zu dieser Entwicklung vgl. den Aufsatz von Hartmut Leser, Der ökologische 1aturund Landschaftsbegriff, in Jörg Zimmermann (Hg.), Das 1aturbild des Menschen, München 1982, S. 74ff. 12 Vgl. dazu Leser, ebd., S. 89, 93.
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ristischen Formationen, etwa mit einer Wüste oder einer Savanne, mit Regionen des Tieflandes und des Hochgebirges. Die Erfassung von vielschichtigen Naturgebieten gelingt nicht mit einem empiristischen Instrumentarium allein, also mit rein quantitativen Methoden und dem Registrieren von Tatsachen. Ohne auf ein bewährtes Mittel der Naturforschung zurückzugreifen, kommt man in dieser Frage nicht weiter, und dieses Mittel ist die Anschauung. Heute beginnt man sich wieder darauf zu besinnen, wobei Alexander von Humboldt vielfach als Vorbild dient. Sein Begriff des „Naturgemäldes“ zeigt modellhaft, dass holistische Vorstellungen und die Arbeit am Detail ineinander greifen müssen. Die Wahrnehmung von Gestalten, also eine morphologische Betrachtungsweise nimmt dabei eine entscheidende Stellung ein. Jede Landschaft hat ein Gesicht. Es gebe eine „Naturphysiognomie“, die jedem Himmelsstrich zukäme, sagt Humboldt. Das ist das erste, was sich einem Beobachter mitteilt. Die weiteren Untersuchungsschritte, die auf der Analyse und dem Zergliedern beruhen, zeigen, aus welchen unterschiedlichen Bildungen das Aussehen eines Landes zusammengesetzt ist. Die Gesteinsarten, die Vegetation, die Fauna, sie alle tragen dazu bei. Aber damit ist die Erfassung eines Terrains noch nicht abgeschlossen. Die Einzelergebnisse müssen auch wieder verknüpft werden, so dass der „Totaleindruck“ einer Gegend entsteht. Hier kommt es darauf an, die verwirrende Vielfalt wieder zu einer kohärenten Figuration zu vereinigen. Dies geschieht durch Verfahren wie dem „Zusammendrängen“ und der „Abstraktion“. Das 1aturgemälde fungiert zunächst wie ein Rahmen, in den die Daten der gesonderten Erhebungen eingetragen werden. Und am Schluss wird es zu einem Bild, das mehr ist als eine erste Kenntnisnahme, das angereichert ist durch Wissen und das die Aufgabe hat, deutlich zu machen, wie die Teilerkenntnisse zusammenstimmen.13 Was so erfasst wird, ist ein Ganzes, ist das, was die Natur ihrem Wesen nach ist, nämlich ein Zusammenwirken der Kräfte. Und die Landschaft ist ein Teil, in dem sich das Ganze der Natur spiegelt. Dabei geht es aber nicht allein um eine sachbezogene Erkenntnis. Zur Wissenschaft gehört auch ein Nachdenken darüber, wie die natürlichen Bildungen auf die Seele wirken. Physiognomisch heißt auch, dass eine Pflanze, ein Berg, dass eine ganze Landschaft einen Ausdruck hat. So sagt Humboldt über die Nadelbäume: „Ihr ewig frisches Grün erheitert die öde Winterlandschaft.“
13 Einen guten Einblick in Humboldts Arbeitsweise verschafft die Abhandlung Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse aus Ansichten der 1atur; daraus sind auch die Zitate. Studienausgabe in sieben Bänden, ed. H. Beck, Darmstadt 1987 – 93, Bd. V. Zur Einschätzung Humboldts aus der Sicht der neueren Geographie vgl. Métraux, a.a.O., S. 230–232.
Vom Wesen der Landschaft 175
Die Beschäftigung mit dem erdkundlichen Begriff der Landschaft führt zu dem Schluss, dass sie nicht allein aus einem Akt individuellen Sehens hervorgeht. Dieser hat vielmehr eine sachliche Entsprechung. Die Wirklichkeit selbst präsentiert sich als strukturiertes Erscheinungsfeld. Das bedeutet aber nicht, dass dem Subjekt nur eine passive, bloß aufnehmende Rolle zukäme. Es ist im Gegenteil höchst aktiv, und nur durch seine Vorkehrungen nimmt die Landschaft Gestalt an. Die vorhin getroffene Feststellung, dass der individuelle Blick sie einrichte, hat schon seine Richtigkeit. Nur ist das so zu verstehen, dass erst durch die Anordnungen des Betrachters sichtbar wird, was in der Wirklichkeit angelegt ist. Er muss sich die Seheindrücke zurechtlegen, damit daraus ein einheitliches Tableau entsteht. Das geschieht nicht willkürlich, sondern so, dass die Proportionen und die Verteilung der Massen, die Linien, Konturen und Rhythmen eines Naturraumes erfasst werden. Dazu bedarf es einer Schulung des Sehens, denn die Zusammenhänge erschließen sich nur dem geübten Auge. Am Anfang, beim Absuchen des Gesichtskreises stellen sich noch unsortierte, oftmals konfuse Wahrnehmungen ein. Diese beginnen sich zu einer Ordnung zu formieren, sobald bestimmte Operationen durchgeführt werden. Eine der wichtigsten ist die, einen Standort zu finden, der den nötigen Abstand gewährt, um einen Begriff vom Aufbau einer Gegend zu gewinnen. Ein solcher Punkt kann bewusst gesucht werden, zuweilen stellt er sich auch zufällig ein, und dann ist das wie ein Aha-Erlebnis; plötzlich geht einem der besondere Charakter eines Landstrichs auf, und die bislang unverbundenen Perzeptionen fügen sich wie von selbst zu einem Gesamteindruck. Unerlässlich dafür ist die Errichtung eines Rahmens. Auch der wird vom Betrachter erstellt und ist eng verbunden mit der Wahl des Standortes. Häufig ergibt es sich, dass das Vorliegende von sich aus eine Umgrenzung aufweist; das ist der Fall bei einem Tal, das von Bergen flankiert ist oder bei Bäumen, die, wie die Sichtachse eines Parks, einen Ausblick freigeben. Wenn solche natürlichen Umrandungen fehlen, können Hilfsmittel ihre Funktion ersetzen. So waren im 18.Jahrhundert englische Touristen bei ihren Ausflügen in Italien mit sogenannten ‚Claude-Gläsern‘ ausgerüstet. Es handelte sich dabei um getönte Spiegel, benannt nach Claude Lorrain, die man so lange hin und her bewegte, bis man den Eindruck eines Landschaftsbildes erhielt.14 Das nimmt sich aus wie eine Marotte spleeniger Briten, rührt aber an die Bedingungen der Landschaftswahrnehmung, und heute übernimmt der Sucher des Fotoapparates diese Aufgabe. Gefordert ist 14 Dazu Bernd Kortländer, Die Landschaft in Literatur und Kunst, in: Alfred Hartlieb von Walther/Heinz Quirin (Hg.), Landschaft als interdisziplinäres Forschungsproblem, Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volksforschung des Landesverbandes Westfalen-Lippe, Reihe 1/Heft 1, Münster 1977, S. 37.
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ein in sich geschlossener Anblick und dafür sorgt die Einrahmung. Gebe es sie nicht, würde die Einheitlichkeit nicht erreicht, weil keine feste Verknüpfung der Teile entstünde; das Bild würde gewissermaßen ausfransen, denn insbesondere an den Rändern könnten die Gegenstände ganz andere Verbindungen eingehen. Noch vor jeder künstlerischen oder wissenschaftlichen Darstellung muss sich eine Sichtweise herausgebildet haben, welche die Landschaft als besonderen Aspekt der Realität konstituiert. Diese Sichtweise hat vor allem Züge der ästhetischen Wahrnehmung. „Wo wir wirklich Landschaft und nicht mehr eine Summe einzelner Naturgegenstände sehen, haben wir ein Kunstwerk in statu nascendi“, bemerkt Simmel.15 Jeder Betrachter muss, um das Gesicht einer Gegend zu erfassen, seine Eindrücke arrangieren. Er macht sich sozusagen selbst ans Komponieren. Mitunter ist das nicht einfach, dann, wenn ein Gebiet völlig unvertraut ist und nur fremd und bizarr wirkt. Kunstwerken kommt dabei oftmals die Funktion zu, das Sehen anzuleiten. Sie entfalten eine normierende Kraft, und es sind gerade die Künstler gewesen, die die Reize eines Landes entdeckt und zu Bewusstsein gebracht haben. Das Flachland, den hohen, weiten Himmel und die tiefliegende Horizontlinie sieht man mit den Augen der niederländischen Maler, und die Schönheit der römischen Campagna kennt man seit Claude Lorrain. Natürlich spielt dabei der Geschmack eine Rolle. Das, was man als reizvoll empfindet, ist regelrechten Moden unterworfen. Und gewiss, eine solche Voreingenommenheit hat Einfluss auf die Wahrnehmung. Wie Wilhelm Heinrich Riehl nachweist, hat man die weite Ebene des Oberrheintales im 18. Jahrhundert besonders geschätzt, während man dem Hochgebirge noch nichts abgewinnen konnte. Und weiter stellt er fest, dass auf Gemälden je nach Zeitgeschmack dieselbe Berge einmal abgeflacht und dann wieder steil und spitz erscheinen. Was das Prinzipielle betrifft, so sagt er, dass sich ein Gefühl für die „Gesamtstimmung, das Zusammenfassen großer Gruppen, der Blick für die ‚Landschaft‘ als organische Totalität“ erst mit Lorrain und Ruisdael entwickelt habe. Die Unterschiede in der Sichtweise begründet Riehl folgendermaßen: Eine Landschaft, wie sie sich draußen unserem Blicke zeigt, ist nicht schön an sich, sie hat nur möglicherweise die Fähigkeit in dem Auge des Beschauers zur Schönheit vergeistigt und geläutert zu werden. Sie ist nur insofern ein Kunstwerk, als die Natur den rohen Stoff zu einem solchen gegeben, während jeder einzelne Betrachter denselben erst in dem Spiegel seines Auges kunstmäßig gestaltet und beseelt.16
15 A.a.O., S. 477. 16 Wilhelm Heinrich Riehl, Das landschaftliche Auge, in W.H.R: Cultustudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1862, S. 57 ff; die Zitate finden sich S. 69, S. 67.
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Alle drei müssen bestimmte, mentale Operationen durchführen: zuerst derjenige, der nur einen Ausblick genießen will; dann der Maler oder Literat, der sich vornimmt, einen Prospekt abzubilden; und schließlich der Geograph, der sich daran macht, ein Terrain zu erkunden. Weil es um dieselbe Sache geht, ergibt sich ein hohes Maß an Übereinstimmung. Deshalb darf man aber das, was die drei tun, nicht umstandslos gleichsetzen. Abgesehen von technischen Fragen, die den bloß Schauenden gar nicht berühren und die sich für die Künstler jeweils anders stellen als für den Wissenschaftler, bestehen tiefer liegende Unterschiede. Die Wahrheit eines Bildes liegt noch woanders als darin, das Vorgefundene genau zu treffen; hier spielen die künstlerische Absicht und der Wille zur Expression eine entscheidende Rolle. Das setzt andere Maßstäbe als die einfache Aufnahme eines Stücks Natur. Der Wissenschaftler wieder muss sich ans Tatsächliche halten; er darf dieses, jedenfalls nicht bewusst, verfälschen. Freilich kann man die ästhetische Schau und die Erlangung von Erkenntnis auch nicht rigoros trennen. Gerade die künstlerische Aneignung der Landschaft setzt Wissen über die natürlichen Gegebenheiten voraus, und sie führt selbst zu Erkenntnissen. Das ist vielfach bezeugt. Beispielsweise fordert Jakob Philipp Hackert: Es ist dem Landschafter nicht genug anzuraten, viele Bäume zu zeichnen, und man muß schon bloß im Contour, welche Art des Baumes es ist, erkennen…Ich verlange, dass ein jeder Botanicus den Baum sogleich erkenne, sowie auch Pflanzen und andere Blätter im Vordergrund.17
Wie sehr Hackert selbst sich schulte, belegen seine umfangreichen Studien vor der Natur. Und Jean Paul ist nicht nur der Schilderer empfindsamer Naturszenerien, er besaß auch beträchtliche Kenntnisse. Die demonstriert er am Beginn der Selberlebensbeschreibung, wenn er schnell einmal aufzählt, welche Pflanzen an seinem Geburtstag im März gewöhnlich blühen. Wie Maler und Schriftsteller nicht ohne Wissen auskommen, so benötigt der Wissenschaftler ein künstlerisches Vermögen, um eine Landschaft vorzustellen. Für Friedrich Ratzel kulminiert darin die Arbeit des Geographen. Er müsse von der Untersuchung der Einzelheiten „zu ihrer Vereinigung zu Landschaftsbildern fortschreiten, in denen von den Wolken bis zum Sand und zum Moos alles sich zu einer Gesamtwirkung verbindet.“ Und von der Malerei und der Dichtung könne man lernen, „wie man die geographischen Erscheinungen einer Erdstelle oder eines größeren Gebietes zu geschlossenen Bildern vereinigt.“18 Die großen Geographen wie Leopold von Buch oder Friedrich 17 In seinem Traktat Über Landschaftsmalerei, zitiert nach Wolfgang Krönig/Reinhard Wegner, Jakob Philipp Hackert. Der Landschaftsmaler der Goethezeit, Köln-WeimarWien 1994, S. 99. 18 A.a.O., S. 14.
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Ratzel selbst verfügten über ein erhebliches schriftstellerisches Potential. Einige waren begabte Zeichner, so der Geograph und Abenteurer Sven Hedin, der Zeichnungen von frappierender Brillanz angefertigt hat. Selbstverständlich ist hier Alexander von Humboldt zu nennen, der von einer „ästhetischen Behandlung naturhistorischer Gegenstände“ redet und von der „Verbindung eines literarischen und eines rein szientifischen Zweckes“.19 Diese Verbindung ist aber von der Sache her gefordert, denn anders würde der Forschungsobjekt ‚Landschaft‘ gar nicht erfasst. Allerdings geht es der Erdkunde nicht vornehmlich um die Beschreibung von bestimmten Gegenden. Sie will zu Generalisierungen kommen und fahndet nach dem Typus. Sie fragt danach, was die allgemeinen Züge des tropischen Regenwaldes oder die der Steppe sind, ist also nicht primär an spezifischen, lokalen Erscheinungen interessiert. Um das zu erreichen geht sie, wie alle Wissenschaft, vom Besonderen fort zum Allgemeinen und setzt dazu die Methode des Vergleichs ein. Der Naturliebhaber und der Künstler können sich dagegen an den unendlich vielen Gesichtern, die die Natur bietet, erfreuen, an ihren Ausdruck und an ihrer Schönheit. Nur unter der Voraussetzung, dass die Natur als Gegenüber erfahren wird, entsteht das Bild der Landschaft. Nicht empfänglich dafür ist derjenige, der sich als Teil der Natur fühlt, der, wie der bäuerliche Mensch, eingelassen ist in ihre Abläufe und Rhythmen. Er sieht vor allem auf die Nützlichkeit. Die Erde ist Ackerboden, die Wiese Viehfutter und der Wald Holz. Das heißt aber nicht, dass er unempfindlich wäre für die Schönheit der Dinge. Er kann sich sehr wohl freuen an den Blumen auf der Wiese und an der Pracht des Waldes, an den Farben der Flur und am Glanz der Sonne; die Lieder der Bauern, Hirten und Holzfäller sind voll davon. Überhaupt umschreibt die Kategorie der Nützlichkeit nur unzureichend, was sie bewegt. Sicher, es geht ihnen in erster Linie um den Ertrag. Aber die Naturdinge sind für sie nicht einfach Sachen. Sie haben ein Eigenleben; sie sind Wesen, die sich dem Menschen zuneigen oder auch sich von ihm abwenden können. Die Natur wird als eine Macht erfahren, von welcher der Mensch abhängig ist. Wer von ihr profitieren will, muss sich darauf verstehen, ihre Bekundungen zu deuten, muss etwas wissen vom Wetter, vom Wachstum und von den Jahreszeiten. Und den Pflanzen und Tieren ist anzusehen, wie es um sie steht. Um die Natur zu nutzen, muss sie gepflegt und bearbeitet werden. Das kultivierte Land, die „umruhende Natur“, wie es in Schillers Elegie Der Spaziergang heißt, ist der Bezirk, in dem sich der Landmann aufhält. Dahinter beginnt die Wildnis, das Fremde und Un19 Ansichten der 1atur, a.a.O., S. IX, XI; Zeichnungen Hedins von Gebirgsgegenden Zentralasiens finden sich z.B. in: S.H., Durch Asiens Wüsten, o.O., o.J.
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heimliche, das aufzusuchen, es keinen Grund gibt. Die starke Bindung und die Abhängigkeit finden ihren Ausdruck in der Religion. Verehrt werden die Mächte des Lebens und der Fruchtbarkeit. Die Erde ist die große Gebärerin, die ‚magna mater‘; mit den Brunnen- und Quellgottheiten betet man die lebensspendende und reinigende Kraft des Wassers an; und Gestalten wie die griechische ‚Demeter‘ sind verantwortlich für das Wachstum des Getreides.20 Christlich werden diese Zusammenhänge als Schöpfungsordnung ausgelegt, in der alles nach dem Wille Gottes eingerichtet ist, so, wie es die Bibel verkündet. Dass darin alter heidnischer Glaube fortbesteht, wird greifbar in der Heiligung des Wassers bei der Taufe. Die Religion ist nicht der Beleg für die von einer platten Religionskritik behaupteten schieren Unwissenheit der Landbewohner, in ihr manifestiert sich im Gegenteil ein Wissen davon, was der Mensch von der Natur zu gewärtigen hat. Nur ist das ein ganz praktisches Wissen, eines, bei dem es um das Überleben geht. Die Natur ist Teil der Wirk- und Arbeitswelt, sie ist einbezogen in die alltägliche Daseinssorge. Die Dinge bekommen ein anderes Aussehen, wenn der Bann gebrochen ist. Erst jenseits der bäuerlichen Sphäre nehmen sie Züge an, durch die sie sich zur Landschaft gruppieren können. Die nötige Distanz bringt der Stadtbewohner auf. Er kann die natürlichen Gegebenheiten in eine Ordnung bringen, welche verschieden ist von der, die von den Notwendigkeiten des Landlebens diktiert wird. Die Landschaft ist demnach eine Schöpfung der Urbanität. Das beweist schon die Tatsache, dass alle großen Vertreter der Landschaftsmalerei, von der Renaissance bis zur Moderne, aus einem städtischen Umfeld kommen. „Ihr Ort ist die Stadt …, nicht das abgelegene Land“, konstatiert Heinrich Lützeler.21 Nur erklärt das noch nicht ihre Entstehung. Die wird erst offen gelegt, wenn man sich auf die Motive für eine Zuwendung zur Natur einlässt. ‚Stadt‘ ist nicht nur eine Siedlungsform oder eine Ortsbezeichnung. Sie ist vor allem ein soziologischer Begriff. Er bezeichnet eine Form des Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens. Mit ihm verbinden sich bestimmte Verhaltens- und Denkmuster, eine ganze Weltorientierung. So kann das scheinbar Paradoxe eintreten, dass einer auf dem Land lebt und doch in seinem Habitus und in seiner Art zu denken und zu urteilen Städter ist. Jean Paul ist in einer ländlichen Umgebung aufgewachsen, 20 Nähere Ausführungen dazu bei Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane, Hamburg 1957. 21 Bedingungen für die Entstehung der Landschaftsmalerei, in: Studium Generale, a.a.O., S. 217. Bei Lützeler bleibt es weitgehend bei der Feststellung; eine nähere Analyse, worin diese Distanz begründet ist, vermisst man. Die liefert Eberle, a.a.O., S. 44ff. Die Einsicht, dass nicht der Bauer der Schöpfer der Landschaft ist, ist allerdings nicht neu; die findet sich schon bei Riehl, a.a.O., S. 65.
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und Städte mochte er nicht. Aber er war der Sohn des Dorfpfarrers und teilte nicht das Leben seiner bäuerlichen Nachbarn. Seine Herkunft machte ihn zum Angehörigen einer bürgerlichen Schicht, die ihren Lebensunterhalt nicht der Erde abgewinnen musste. Ähnliches lässt sich von Stifter sagen, der auch vom Dorf kam, aber als k.u.k. Schulrat das Dasein eines Bürgers führte. Urbanität beruht weniger auf einer individuellen Haltung, auf der Beachtung feiner Manieren z.B., als vielmehr auf objektiven, sozialen Bedingungen. Ein Hauptmerkmal städtischer Existenz ist dies, dass sie sich unabhängig gemacht hat von der Natur; das heißt, dass sie ihre Lebensgrundlage nicht mehr unmittelbar von ihr bezieht. Wie Hegel darlegt, bestimmt im gewerblichen Produktionsprozess der Produzent über das Produkt.22 Es sind seine Pläne, es sind seine Fähigkeiten und Ziele, die in das Erzeugnis eingehen, nicht die fremder Kräfte wie in der bäuerlichen Produktionsweise. Natur begegnet ihm als bloßes Material, als Rohstoff, mit dem er nach seinen Vorstellungen verfahren kann. Er erfährt sie nicht als Macht, die ihm entgegentritt und der er sich fügen muss. Von ihr hat er sich losgesagt, und seine Selbständigkeit behauptet er darin, dass er sie unter seine Herrschaft bringt. Schon in der handwerklichen Herstellung ist dieses Verhältnis angelegt, wie etwa bei einem Schreiner, für den die Bäume Bretter sind, aus denen er ein Möbelstück ganz nach seinen Entwürfen fertigt. Noch aus anderen Umständen ergibt sich eine Erfahrung der Unabhängigkeit. Mit der Entwicklung des städtischen Gewerbes ist eine zunehmende Arbeitsteilung verknüpft. Produktion und Handel, Verwaltung, Religion und Wissenschaft treten auseinander und werden von Spezialisten übernommen. Diesem Prozess entspricht eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Ganz neue Bedürfnisse, Aufgaben und Interessen und die damit verbundenen Tätigkeiten und Berufe entstehen. Das Leben wird vielfältiger und reicher. Für den Einzelnen hat das weitreichende Folgen. Er beginnt, aus dem Sozialverband herauszutreten und sich auf seine eigenen Fähigkeiten zu besinnen. Er erfasst sich in seiner Eigenheit, als einen, der von den anderen verschieden ist. Was da vor sich geht, ist „die Individualisierung der inneren und äußeren Daseinsformen, die Auflösung der ursprünglichen Gebundenheiten und Verbundenheiten zu differenzierten Eigenbeständen.“23 Unter den Bedingungen der Urbanität erlangt der Mensch ein Bewusstsein seiner Individualität und Freiheit. Historisch greifbar wird dieser Prozess in der Ablösung des mittelalterlichen Feudalsystems durch eine neue Ge22 Im Kp. über Naturbegriffe wurden die entsprechenden Stellen schon herangezogen; sie finden sich in der Rechtphilosophie §§ 203, 204. 23 Simmel, a.a.O., S. 473.
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sellschaftsordnung, die sich in den aufblühenden Städten der Renaissance etabliert. Vormals lebte der Mensch hauptsächlich in kleinen dörflichen Gemeinschaften. Ihre Basis war die Subsistenzwirtschaft, also ein System der Selbstversorgung. Nur wenige Kontakte gab es nach draußen. Sein Leben lang gehörte der Einzelnen zu einem solchen Kollektiv, und in seinen Verrichtungen und Arbeiten unterschied er sich kaum von seinen Mitmenschen. Auch die wenigen Spezialisten, Handwerker zumeist wie die Schmiede, waren ganz hineingenommen in die Abläufe dieser agrarischen Welt. Und selbst der ritterliche Grundherr war nur ein Teil von ihr. In den städtischen Zentren gliedert sich die Gesellschaft auf. Die verschiedensten Handwerke und Techniken bilden sich heraus, und der Einzelne muss Beziehungen unterhalten zu Menschen aus ganz anderen Berufen und Schichten. Dadurch entstehen natürlich auch neue Abhängigkeiten. Der Spezialist ist angewiesen auf Kaufleute, die seine Erzeugnisse vertreiben, auf Käufer, die sie abnehmen, auf wieder andere, die ihm die Nahrungsmittel liefern und so fort. Daraus ergibt sich ein Geflecht von Relationen, das die Tendenz hat, sich immer weiter auszudehnen. Gleichwohl ist in diesen Verhältnissen der Einzelne auf sich gestellt; er macht die Erfahrung der Freiheit, und sei es auch nur so, dass er um die Möglichkeit weiß, sich aus sozialen Bindungen zu lösen. Vorausschauendes Denken, Rationalität und Selbstdisziplin sind die hervorstechenden Eigenschaften des Bürgers.24 Unbekanntes zu erproben, den Horizont zu erweitern, neue Wege zu beschreiten im gesellschaftlichen Zusammenleben, in Technik und Wissenschaft, in der Kunst, das geht von der urbanen Zivilisation aus. Es gründet sich auf dem Selbstbewusstsein und der Freiheit des Individuums. Davon erfasst wird auch das Verhältnis zur Natur. Ein Aspekt dabei ist der, dass sich dieses versachlicht; die Natur wird unter einem technischen Gesichtspunkt angegangen, und darin meldet sich der Wille, sie unter die Botmäßigkeit des Menschen zu bringen. Daneben gibt es ein anderes Motiv, sich ihr zuzuwenden. Wo viele sich in den Mauern der Stadt drängen, kommt der Wunsch auf, der Enge zu entfliehen, sich zu befreien von den Zwängen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Die Natur wird zum Refugium, zum Ort, an dem der Mensch zu sich finden kann. Sie bildet den Kontrast zu einer betrieb24 Hierbei handelt es sich um langwierige, sehr komplexe historische und gesellschaftliche Prozesse, die selbstverständlich nur gestreift werden können. Aus der umfangreichen Literatur sei hier nur auf einiges verwiesen. Über den Unterschied Stadt – Land handelt Karl Marx in der Deutschen Ideologie, MEW Bd. 3, S. 50ff.; dazu auch Leo Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, 7. Aufl., Darmstadt-Neuwied 1979, S. 22 ff; besonders hervorzuheben ist Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt/M. 1976 f, Bd. 2, S. 123ff.
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samen Welt mit ihren Belastungen, Verirrungen und Deformationen. Von daher erscheint das Land als ein Hort der Ruhe, der Schönheit und des Glücks. Seit der Antike ist das ein Bestandteil städtischen Lebensgefühls. Der Syrakusaner Theokrit und der Römer Vergil wussten davon ebenso wie der Pariser Maupassant und der Berliner Fontane. Noch anderes ist angelegt in einem weiteren Motiv, und das endlich führt zur Landschaft. Wie alles Neue muss sich auch die damit verbundene Konzeption gegen die Widerstände des Hergebrachten durchsetzen. Ihre Losung hat Petrarca ausgegeben. Er sei „allein vom Drang beseelt“ gewesen „zu sehen“, sagt er von einem Unternehmen, das auf den 26. April 1336 datiert ist. An diesem Tag besteigt er in Begleitung seines jüngeren Bruders den höchsten Berg der Provence, den ‚Mont Ventoux‘. Sein Bericht darüber gewährt einen einzigartigen Einblick in die Seelenlage des spätmittelalterlichen Menschen. Man wird Zeuge davon, wie sich eine neue Welt- und Natursicht ankündigt und wie diese von der alten, von der christlich-mittelalterlichen durchkreuzt wird. Es handelt sich um einen Schlüsseltext, der den Umbruch des europäischen Denkens auf der Schwelle zur Renaissance dokumentiert.25 Was uns wie ein harmloser Ausflug erscheinen will – heute ist der Mont Ventoux eine Attraktion des Massentourismus und Ziel einer Etappe der ‚Tour de France‘ – war in der damaligen Zeit etwas ganz Ungewöhnliches. Die abgelegenen, unwirtlichen Bergregionen galten als Wüsteneien, als Ort der Dämonen, in die sich niemand vorwagte, es sei denn, er hatte gewichtige Gründe.26 Bewegt, dorthin aufzubrechen, wird Petrarca, der einige Zeit in der Gegend von Avignon ansässig war, dadurch, dass er den Mont Ventoux immer vor Augen hat. Hinzu kommt eine weitere Anregung. Beim römischen Historiker Livius liest er, König Philipp von Makedonien habe den Berg ‚Haemus‘ nur auf das Gerücht hin bestiegen, dass man vom Gipfel zwei Meere, das Adriatische und Schwarze, sehen könne. Uneins seien sich die Schriftsteller darüber, ob das zutreffe. Petrarca kommentiert diese Stelle mit der Bemerkung, dass nur der Augenschein diese Frage klären könne. Damit wird ausgesprochen, was mit der Exkursion auch intendiert ist. Es geht um ein Prinzip, um das der Autopsie, es geht darum zu erproben, wohin dieses führt. Von Anfang an ist sich Petrarca im Klaren darüber, dass er mit seinem Vorhaben eine Grenze überschreitet, dass das, was er im Begriffe ist zu tun, einer Selbstüberhebung gleichkommt. Das wird noch unter25 Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 1995; das Zitat S. 5. Die Bedeutung dieses Textes ist auch immer gesehen worden, und er hat zahlreiche Kommentare gefunden. 26 Bei Jauß sind die wenigen Bergbesteigungen des Mittelalters und der Renaissance, von denen es Nachricht gibt, aufgeführt; s. a.a.O., S. 145.
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strichen durch die Schilderung einer Begegnung. Die Brüder treffen auf einen alten Hirten, der sie ausdrücklich warnt. Er selbst habe einst aus jugendlichem Übermut den Gipfel erklommen. „Außer Reue und Mühsal und…einen zerfetzten Leib und Mantel“ habe er nichts zurückgebracht.27 Petrarcas Schreiben ist als Brief an seinen geistlichen Beistand konzipiert. Allerdings hat er nichts Spontanes, er weist im Gegenteil Züge einer starken Stilisierung auf, wozu vermutlich auch die Episode mit dem Hirten zu rechnen ist. Das ist aber nicht der mangelnden Ehrlichkeit Petrarcas zuzuschreiben, sondern der Gepflogenheit, den antiken Vorbildern zu folgen. Durchweg allegorisch gehalten ist der eigentliche Weg den Berg hinauf, er ist eine „Pilgerreise“. Dem körperlichen Aufstieg entspricht einer der Seele. Das zeigt an, dass nicht nur ein Gelände erkundet werden soll, es steht mehr auf dem Spiel, nämlich die Stellung des Menschen in der Welt und das Heil der Seele. Als sie oben auf dem Gipfel anlangen, tut sich eine „freie Rundsicht“ auf. Wer nun eine ausführliche Beschreibung dessen, was zu sehen ist, erwartet, wird enttäuscht. Petrarca steht da „einem Betäubten gleich“. Offensichtlich fehlen ihm die Mittel, das auf ihn Einstürmende zu ordnen und zu verarbeiten. Wie eine Ausflucht wirkt, dass ihn der Blick in die Richtung seiner Heimat Italien veranlasst, über sein vergangenes Leben nachzudenken. Er wendet sich vom Raum zur Zeit, vom Äußeren zum Inneren. Nur mit Mühe kann er sich davon losreißen, um das zu tun, wozu er diesen Ort aufgesucht hat, nämlich um zu schauen. Und als er das alles ausmacht, was doch weit entfernt von ihm liegt und was sich vor ihm aufrollt wie eine Landkarte, die Pyrenäen und die Berge der Provinz Lyon und der Golf von Marseille, da gerät er ins „Staunen“ und findet „am Irdischen Geschmack“. Doch dann kommt es zu einer erneuten Wende. Wohl um sich Rat zu holen, schlägt er die Bekenntnisse des Augustin auf, die er im Taschenformat immer bei sich trägt. Zufällig, wie er behauptet, stößt er auf diese Stelle: „Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und die Kreisbahnen der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst.“ Petrarca ist erschüttert. Er muss erkennen, dass er sich auf einem Irrweg befindet. Das Heil findet der Mensch nur in sich, nur in seiner Seele, nicht im Äußeren, nicht in der Erforschung der Welt. Petrarca nimmt seinen Versuch zurück und beugt sich dem Augustinischen Diktum.28
27 A.a.O., S. 9. 28 Ebd., S. 17, 23, 25; Augustin 10, 8.
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Noch einmal gefragt: Was eigentlich treibt Petrarca dazu, den vertrauten Bereich des kultivierten Landes zu verlassen und sich in die Wildnis vorzuwagen? Sicher nicht praktische Zwecke; ihm ist nicht um einen technischen oder agronomischen Nutzen zu tun. Er tritt auch nicht vor die Stadt, um sich an der Natur zu erfreuen. Das fand der Mensch seiner Zeit in den Gärten. Im umhegten Bezirk des ‚hortus conclusus‘ genoss er das Grün der Bäume, den Gesang der Vögel und den Duft und die Farben der Blumen, wie bei Boccaccio nachzulesen ist. Petrarcas Aufbruch ist auch nicht wissenschaftlich im heutigen Sinne zu nennen, denn er betätigt sich nicht als Geograph und Kartograph, der er, nach einer Mitteilung Jacob Burckhardts, auch war.29 Petrarca will sehen, gewiss, aber dieses Sehen ist von besonderer Art. Es verliert sich nicht ans Einzelne. Es will darüber hinaus, es ist bemüht, sich einen Überblick zu verschaffen. Dahin gelangt es nur, wenn es sich löst aus der Befangenheit ins Beschränkte und Zufällige. Es muss hinausgehen aus der gewohnten Daseinssphäre und einen Standpunkt gewinnen, von dem aus es die Zusammenhänge gewahrt. Dieses Vorhaben ist nicht nur eine körperliche Distanznahme, es ist vor allem eine geistige. Es kann nur dem gelingen, der sich frei macht von allen praktischen Zwecken, von Erwägungen, wie man die Dinge brauchen und für sich nutzen kann. Erst dann entsteht ein Sinn für das Ganze. Dann öffnet sich der Blick dafür, wie alles zusammenstimmt, das Nahe und das Ferne, das Kleine und das Große, Land und Meer, die Berge und die Ebene. Das Sehen wird zum Schauen. Und ‚Schau‘ heißt griechisch ‚Theorie‘. Im Unterschied zum heutigen Gebrauch, in dem sie nur die gedankliche Verbindung zwischen Einzelbeobachtungen ist, hat sie in der antiken Philosophie die Bedeutung einer Zuwendung zur kosmischen Ordnung. Diese wiederum ist gleichzusetzen mit der Natur. Theorie ist anschauende Betrachtung der ganzen Natur. Sie vollzieht sich in der Weise, dass eine Vorstellung entsteht, von dem, was alles Seiende umspannt, was ihm Ordnung gibt und ihm zugrunde liegt. Dieses kann deshalb auch als das Göttliche angesprochen werden. Das Sehen beschränkt sich demnach nicht auf ein wahrnehmungsmäßiges Erfassen, es erhebt sich zur intellektuellen Anschauung. Theorie bedeutet Transzendenz, ein Überschreiten des vielen im Hinblick auf die Einheit, in der es ruht. In ihr schwingt sich die Seele auf zum Göttlichen. Petrarca steht demnach in der Tradition der philosophischen Theorie.30 Dabei schlägt er einen Weg ein, der vorausweisend ist. Er ist 29 A.a.O., S. 277. 30 Das hat Joachim Ritter nachgewiesen. Er zeigt ferner, welche Bedeutung Petrarca für das Entstehen der Landschaftswahrnehmung hat. Für die Theorie der Landschaft sind Ritters Ausführungen grundlegend. Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Äs-
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ungemein neugierig auf die Welt, und die sinnliche Wirklichkeit wird gerade nicht beiseite gelassen. Sie soll in die Schau des Ganzen einbezogen sein. Im Gang durch die Welt will Petrarca zur Einheit gelangen, so jedenfalls ist sein Versuch angelegt. Die Frage stellt sich, warum für Petrarca die christliche Abkehr von der Welt und die augustinische Heilsformel einer Konversion ins Innere nicht mehr unbedingte Gültigkeit haben, wie es also überhaupt dazu kommt, dass er das Bedürfnis nach Neuorientierung verspürt. Hans Blumenberg nennt dafür zwei Gründe. Der erste beläuft sich darauf, dass die Theologie dazu übergegangen war, die Rechtfertigung des sündigen Menschen ausschließlich in den unergründlichen Ratschluss Gottes zu setzen. Nicht aus sich heraus, nicht durch seine Werke könne der Mensch die göttliche Gnade erlangen. Darin klingt bereits das ‚sola gratia‘, allein durch die Gnade, der Rechtfertigungslehre Luthers an. Unter dieser Bedingung sind eigene Bemühungen um das Seelenheil vergeblich. Durch sein Handeln kann der Mensch das Heil nicht gewinnen, das steht allein bei Gott. Die Kehrtwendung, die Petrarca vollzieht, erscheint nur sinnvoll unter der Voraussetzung, dass er zur alten Auffassung von der Werkgerechtigkeit zurückfindet. Wichtiger ist ein zweiter Grund, der aber mit dem ersten eng verknüpft ist. Wie sich unter dem Aspekt der Heilssorge Gott entzogen hatte, so auch in Bezug auf die äußere Welt. Vordem konnte die Welt verstanden werden als erste und natürliche Offenbarung Gottes. Als seine Schöpfung war sie Ausdruck seiner Fürsorge für den Menschen. Alles weltliche Geschehen empfing von daher einen Sinn, war Bekundung dessen, was Gott mit dem Menschen vorhatte. Erkenntnis bestand einfach darin, die göttlichen Botschaften in den natürlichen Gegebenheiten zu vernehmen. Dieses Deutungsmuster zerbricht, wenn, wie in der nominalistischen Theologie, die Vorstellung eines unergründlichen Gottes die des offenbaren ersetzt. Die Bestimmung der Dinge ist nun ungewiss geworden. Sie fügen sich nicht einem objektiv gültigen Rahmen ein und geben nicht von sich her zu verstehen, was es mit ihnen auf sich hat. Es liegt damit beim Menschen, sich zurecht zu legen, welchen Sinn sie haben. Die Neuzeit begann zwar nicht als Epoche des toten Gottes, aber als Epoche des verborgenen Gottes, des ‚deus absconditus‘ – und ein verborgener Gott ist pragmatisch so gut wie ein toter. Die nominalistische Theologie alarmierte ein Weltverhältnis des Menschen, dessen Implikation in dem Postulat hätte formuliert werden können, der Mensch habe sich so zu verhalten, als ob Gott tot wä-
thetischen in der modernen Gesellschaft, in: Ders., Subjektivität, Frankfurt/M. 1974, S. 141ff.
186 Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung re. Das erzwingt die ruhelose Weltinventur, die sich als Antrieb des Zeitalters der Wissenschaft bezeichnen lässt.31
Man darf vermuten, dass die Verwirrung, in die Petrarca gerät, als er auf dem Mont Ventoux der Natur gegenübersteht, daher rührt, dass er über kein Muster verfügt, nach dem sich seine Eindrücke hätten ordnen können. Fast hilflos wirkt der Versuch, auf geographische Lagebestimmungen zurückzugreifen. Ihm gelingt es nicht, die verschiedenen Hinsichten zur Konvergenz zu bringen; es reicht nur zu einer eher dürftigen Aufzählung. Die Aufstellung einer ‚Theorie‘ als Einsicht in die kosmische Ordnung schlägt nicht nur deshalb fehl, weil sich das christliche Curiositas-Verbot als stärker erweist, sondern auch deshalb, weil das Sehen eines Schemas ermangelt, das die diffuse Masse der Wahrnehmungen gliedert. Der Naturraum formiert sich nicht von selbst zu einer einheitlichen Vorstellung, die dann den Namen ‚Landschaft‘ erhält. Diese, und das wurde schon deutlich gemacht, geht hervor aus bestimmten Operationen des Betrachters; sie ist das Ergebnis geistiger Akte. Allerdings musste der panoramatische Blick erst entwickelt werden. Es bedurfte dazu einer grundlegenden Umstellung der Sehgewohnheiten und in eins damit einer völlig neuen Vorstellung vom Raum. Die Wahrnehmung der Natur als Landschaft beginnt mit dem Heraustreten des Einzelnen aus hergebrachten Ordnungen. Dieser historische Prozess hat seine soziologische und seine religiösweltanschauliche Seite. Soziologisch betrachtet ist der Städter nicht mehr, wie der Landbewohner, eingebunden in die Abläufe der Natur. Sie ist ihm fremd geworden, und er tritt ihr gegenüber, ohne sich altbewährten Haltungen überlassen zu können. Fraglich geworden sind unter der Annahme eines verborgenen Gottes auch die religiösen Deutungsmuster. Das Weltbild des Mittelalters hat eine klare hierarchische Gliederung. Ganz oben, im Feuerhimmel, thront Gott, und dann geht es hinab über die Orte der engelhaften Wesen zur Erde, und darunter ist die Hölle. Dieser Stufenkosmos ist räumlich begrenzt, er ist endlich; unendlich ist allein Gott. Jede Sphäre hat ihre eigene Qualität, und auf der Erde herrschen andere Gesetzmäßigkeiten als in den himmlischen Regionen. In diesem Gefüge haben alle Wesen ihren festen Platz, der ihnen zugewiesen wird aus ihrem Verhältnis zu Gott. Der Mensch steht zwischen Himmel und Hölle, zwischen Erlösung und Verdammung, und in Bezug darauf empfängt alles, was ihm begegnet, einen Sinn. Es wird allegorisch aufgefasst und damit in Bezug gesetzt zur Heilsordnung. Wenn also die Bestimmungen, die dem Individuum Halt gaben, ihre Gültigkeit eingebüßt haben, ist eine umfassende Neuorientierung erforderlich. Der auf sich gestellte Mensch wird auf den Weg der Empi31 Der Prozess der theoretischen 1eugierde, a.a.O., S. 145 ff, hier: S. 149.
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rie verwiesen. Was ihm bleibt, ist die eigene Wahrnehmung; er setzt auf das Zeugnis der Sinne, auf das Beobachten und Prüfen. Und aus den Daten, die ihm die Erfahrung liefert, muss er sich eine Vorstellung bilden von den kosmischen Zusammenhängen, von Gott und von seiner Stellung in der Welt. Das große Projekt der Welterkundung, das die geistigen Bestrebungen der Neuzeit beherrscht, steht also ganz unter dem Zeichen der Empirie, wobei dieser Begriff eigentlich kein konkretes Vorgehen meint, sondern nur die Richtung für sehr unterschiedliche Verfahren und Zielsetzungen vorgibt. Empirie wird zum Leitbegriff vor allem für die sich etablierende Wissenschaft, die alle Bereiche der Wirklichkeit zu ergründen sucht. Sie entwickelt eine Reihe von Methoden, die sämtlich der erfahrungsmäßigen Erschließung der Welt dienen sollen, wie das Beobachten, Beschreiben, Zählen, Messen, Sammeln, Vergleichen, Sezieren und ganz besonders das Experimentieren. So erhält Empirie einen klar definierten Sinn; sie ist kein beliebiges Aufnehmen von Tatbeständen, sondern ein methodisch gelenkter Wissenserwerb. Das unterscheidet sie von der Erfahrung, die im alltäglichen Umgang mit den Dingen erworben wird. Der Erfahrung verschrieben haben sich in der Renaissance beide, die Wissenschaft und die Kunst. Und sie sind hervorgegangen aus demselben Geist. Dass sie zunächst als Einheit begriffen wurden, sehr im Unterschied zum heutigen Bewusstsein, welches eine strikte Trennung vollzieht, zeigt exemplarisch die alles überragende Gestalt des Leonardo da Vinci. Von dem, was über ihn im vorigen Kapitel ausgeführt wurde, sei nur an das jetzt Relevante erinnert. „Die Erfahrung“, sagt er, sei „die gemeinsame Mutter aller Wissenschaften und Künste.“ Und die Malerei begreift er als „Wissenschaft“, denn auch sie steht im Dienst der Erkenntnis.32 Beider Bestrebungen ergänzen sich. Sie decken nur jeweils andere Seiten der Wirklichkeit auf. Die Wissenschaft zergliedert das Vorgefundene, sie verfährt nach dem Prinzip der Vereinzelung. Die Wirklichkeit löst sie auf in ihre Bestandteile und registriert die bloßen Fakten. Bemerkbar macht sich darin die Distanz des Städters zu den Naturerscheinungen, der ihnen eine sachliche, keine quasipersonenhafte Haltung entgegenbringt. Die Methoden der Wissenschaft sind darauf angelegt, das zu erheben, was sich messen und zählen lässt und was die Analyse ergibt. Hier kann auf das Experiment verwiesen werden oder, etwas spektakulärer, auf das Sezieren von Leichen. Das, was der sichtbaren Wirklichkeit zugrunde liegt, will die Wissenschaft eruieren. Aber indem sie die Dinge zergliedert und sie aus ihren natürlichen Zusammenhängen löst, geht sie gerade weg von der Anschau32 Buch v. d. Malerei, a.a.O., S. 205.
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ung. Was es mit den lebendigen Gestalten auf sich hat, welchen Ausdruck sie haben und welche Bedeutung, das wird durch den szientistischen Zugriff gerade nicht erfasst. Auch nicht erfasst wird, wie sie sich einfügen in ihr Umfeld und wie das Ganze beschaffen ist, von dem sie nur ein Teil sind. Dringlich geboten ist zudem eine Antwort auf die Frage, und das zeigt das Beispiel Petrarcas, wo in diesem den Sinnen sich öffnenden Universum der Mensch steht. Bei der Erschließung der Erfahrungswelt ist es an der Kunst, aufzuzeigen, welche Bedeutung die lebendigen Gestalten haben. So entdecken die Maler und Bildhauer der Renaissance den menschlichen Körper neu. Sie studieren seine Haltungen und Posen, und begreifen diese als Ausdruck eines bewegten Inneren. Und wie der Körper und das Gesicht des Menschen beredt sind, so haben auch die Naturerscheinungen etwas mitzuteilen. Vor allem aber fällt der Kunst die Aufgabe zu, eine Vorstellung zu vermitteln von der Ordnung der sichtbaren Welt. Und das leistet die Landschaftsdarstellung. Sie errichtet ein Weltbild im buchstäblichen Sinne.33 Das wird konkret fassbar an den sogenannten ‚Weltlandschaften‘ des 16. und 17. Jahrhunderts, eines Patinir, eines Altdorfer und Pieter Bruegel. So versammelt Patinir auf dem Gemälde Landschaft mit dem heiligen Hieronymus die großen geographischen Formationen der Erde, das Hochgebirge, das Meer und die Ebene; weiter sind abgebildet Waldungen, Felder und Wiesen, Burgen und Städte; zu sehen ist also ein ganzes Panorama der Welt. Und was sich bei Petrarca erstmals ankündigt, tritt hier klar hervor: „Natur als Landschaft ist Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes.“34 Dass die Weltentwürfe, die Spekulationen über Gott und das Universum nicht als Widerspruch zum empirischen Ansatz empfunden wurden, lässt sich an Wissenschaftlern wie Johannes Kepler abnehmen, der seine auf Beobachtungen fußende Kosmologie als Nachvollzug des Gedanken Gottes verstand. Die Kunst ihrerseits leistet ihren Beitrag bei der Ausbildung der neuen Weltsicht. Eine Landschaft als einheitliches, räumlich gegliedertes Bild kann erst hervorgebracht werden, wenn der Betrachter über ein Mittel verfügt, die verschiedenen Hinsichten aufeinander zu beziehen. Dieses Mittel ist die Perspektive. Sie reiht sich ein in die Verfahren, die die Neuzeit entwickelt, um die Erfahrung zu leiten. Auch sie verdankt sich einer veränderten Wirklichkeitsauffassung, nach der die Dinge nicht von sich aus eine Ordnung bilden. Dazu formieren sie sich erst unter den vom Menschen zu setzenden Bedingungen. Nicht dass das Subjekt 33 Vgl. dazu den Aufsatz von Hans Holländer, Weltentwürfe neuzeitlicher Landschaftsmalerei, in: Zimmermann, a.a.O., S. 183ff. 34 J. Ritter, a.a.O., S. 146.
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die Wirklichkeit schafft, aber gewisse Tatbestände zeigen sich nur einer bestimmten Sichtweise; das ist gemeint, wenn von der Landschaft als einem geistigen Akt geredet wird. Mit der Perspektive, genauer der Zentral- oder Planperspektive, erfinden die Künstler, Techniker und Mathematiker der Renaissance ein Instrument, das es ermöglicht, die Beziehungen der Gegenstände im Raum zu erfassen. Die Perspektive ist eine Konstruktion, durch die die Dinge in ein vorgefertigtes Schema gezwängt werden. Dagegen erhebt sich sogleich Widerspruch, der geltend macht, dass doch eigentlich nichts anderes geschieht, als dass das, was sich dem Auge zeigt, auf eine Fläche projiziert wird. Das perspektivische Bild wäre demnach nur ein getreues Abbild des Gesehenen. Aber das ist es nicht oder doch nur mit erheblichen Abänderungen. Über die Finessen der Perspektive braucht hier nicht geredet zu werden. Um gleich zum Entscheidenden zu kommen: Die von einem Augenpunkt ausgehenden Sehstrahlen, welche auf die Dinge zulaufen und sich in einem Fluchtpunkt am Horizont treffen, lassen einen gleichförmigen, geometrischen Raum entstehen. Das Gitter von Linien, das über die Gegenstände gebreitet wird, erlaubt es, den Ort eines jeden festzulegen. Daraus ergibt sich, in welchem Verhältnis er zu den anderen steht. Aber dieses Verhältnis beruht allein auf Positionsbestimmungen, darauf dass das Vor-, Hinter- und Nebeneinander fixiert wird, nicht darauf, in welchen inhaltlichen Beziehungen die Dinge zueinander stehen. Davon wird gerade abstrahiert. Die Bedeutung der Dinge, ihr Wert bleibt unberücksichtigt. Die perspektivische Sicht entkleidet alle Körper im Gesichtsfeld ihrer konkreten Eigenschaften und behandelt sie absolut gleich. Was sie so aus sich hervorgehen lässt, ist eine gleichmäßige Verwobenheit aller Dinge im Raum. Die Homogeneität des geometrischen Raumes beruht letzten Endes darauf, dass alle seine Elemente, dass die ‚Punkte‘, die sich in ihm zusammenschließen, nichts als einfache Lagebestimmungen sind, die aber außerhalb dieser Relation, dieser ‚Lage‘, in welcher sie sich zueinander befinden, nicht noch einen eigenen selbständigen Inhalt besitzen. Ihr Sein geht in ihrem wechselseitigen Verhältnis auf: es ist ein rein funktionales, kein substantielles Sein. Weil diese Punkte überhaupt von allem Inhalt leer, weil sie zu bloßen Ausdrücken ideeller Beziehungen geworden sind, – darum kommt für sie auch keinerlei Verschiedenheit des Inhalts in Frage. Ihre Homogeneität besagt nichts anderes, als jene Gleichartigkeit ihrer Struktur, die in der Gemeinsamkeit ihrer logischen Aufgabe, ihrer ideellen Bestimmung und Bedeutung gegründet ist. Der homogene Raum ist daher niemals der gegebene, sondern der konstruktiv-erzeugte Raum.35
Richtig ist, dass die Dimension der Tiefe, die die Perspektive eröffnet, der natürlichen Optik entspricht. Das menschliche Sehen ist dreidimen35 Ernst Cassirer, a.a.O., 2. Teil, S. 104f.
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sional; es erfasst alle Körper nach Höhe, Breite und Tiefe. Kant zufolge ist der Raum neben der Zeit eine apriorische Form der Wahrnehmung. Er ist demnach nicht Bestandteil der Wirklichkeit, sondern ein Ordnungsprinzip, das wir an die Wirklichkeit herantragen. Das Gesehene erscheint in unseren Augen in der Dreidimensionalität, für die Augen anderer Lebewesen stellt sich das anders dar. Das heißt nun aber nicht, dass wir zuerst einen isotropen, geometrischen Raum konstruieren, um dann Dinge in diesen hineinzustellen. Der „gegebene“ Raum, von dem das Cassirer-Zitat spricht, baut sich nicht aus reinen Raumgebilden auf. Das rührt daher, dass das Sehen ein äußerst komplexer Vorgang ist, bei dem physiologische und psychische Prozesse ineinander greifen. Was wir wahrnehmen, lässt sich nicht reduzieren auf das Netzhautbild, es wird ebenso bestimmt durch die Bedeutung, die die Dinge für uns haben. Seelische Faktoren wie Aufmerksamkeit, Stimmungslage und Interesse spielen eine entscheidende Rolle. Sie gehen ein in unser Bild von der Wirklichkeit und entsprechend ist der Raum gegliedert. Wie insbesondere Martin Heideggers Analysen der Alltagswelt gezeigt haben, registrieren wir die Dinge nicht in ihrem „puren Vorkommen an einer beliebigen Raumstelle“.36 Sie sind Teil eines Verweisungszusammenhangs, der aus dem Umgang mit ihnen entsteht, und sie empfangen von daher eine Wertigkeit. Entsprechend ‚springen sie ins Auge‘ oder treten zurück, besetzen die Wahrnehmung oder werden ausgeblendet. Wenn wir etwa ein Zimmer betreten, so nicht in der Haltung betrachtender Raumausmessung, um dann die Möbel zu platzieren. Den Blicken drängen sich gewisse Gegebenheiten auf, beispielsweise, dass der Tisch ans Sofa gerückt ist oder dass der Schrank gleich neben der Tür steht. Und wenn man sich jetzt der Kunstgeschichte zuwendet, so muss man konstatieren, dass die flächigen Bilder des Mittelalters realitätskonformer sind, als sie uns erscheinen wollen. Sie fassen die Gegenstände in der ‚Bedeutungsperspektive‘ auf. Und danach muss eine Heiligenfigur, gemäß ihrem Bedeutungsgehalt, einen gewöhnlichen Menschen an Größe überragen, gleichgültig, ob sie nun im Vorder- oder Hintergrund steht. Wie in der Antike werden auch hier die Dinge nicht gleich behandelt, sondern sie werden dargestellt in ihrem Eigenwert.37 Dass die Zentralperspektive den Seheindruck nicht genau wiedergibt, hat noch andere Gründe. Unter anderem macht sie die Voraussetzung, dass wir mit einem unbewegten Auge sehen und dass der ebene Durchschnitt durch die Sehpyramide eine adäquate Wiedergabe des Wahrnehmungsbildes ist. Wir sehen aber nicht mit einem fixierten, 36 Das bezieht sich auf Sein und Zeit, §§ 22, 23, 24. 37 Zur Perspektive und ihrer Geschichte ist der Aufsatz Die Perspektive als „symbolische Form“ von Erwin Panofsky grundlegend; in: Ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. 2. erweiterte u. verbesserte Aufl., Berlin 1974, S. 99ff.
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sondern mit zwei ständig bewegten Augen, wodurch, neben anderen Effekten, das Gesichtsfeld eine sphäroide Gestalt bekommt.38 Also, es bleibt festzuhalten, dass die Zentralperspektive etwas Künstliches ist, eben eine Konstruktion. Ob sie tatsächlich Brunelleschi erfunden hat, lässt sich nicht sagen. Jedenfalls haben sie die Maler schon weit vor ihm angewendet, und erst viel später, nachweislich bei Alberti, gelingt ihre exakte, mathematische Konstruktion. An der allmählichen Ablösung des mittelalterlichen Stufenkosmos durch die Konzeption eines homogenen Raumes, eine Entwicklung, die im 14. Jahrhundert einsetzt, hat die Ausbildung der Perspektive mitgewirkt, und sie ist zugleich eine Antwort auf die damit entstehende Problematik. Die Vorstellung der Gleichförmigkeit enthält nämlich schon eine andere in sich und zwar die der Unendlichkeit. Denn wo sich etwas unterschiedslos ausbreitet wie der Raum, lässt sich nicht gut eine Grenze denken. Es entsteht die homogene, unendliche Welt der neuzeitlichen Wissenschaft, in der alle Erscheinungen, ob am Himmel oder auf der Erde, denselben Gesetzen unterworfen sind. Den Gedanken der Unendlichkeit der Welt formuliert ausdrücklich allerdings erst Giordano Bruno. Wenn nun alles in der Welt derselben Realität angehört, ohne dass qualitative Unterschiede bestünden, wenn es hineingestellt ist in den einen Raum, der zudem unendlich ist, dann fehlen die Bezugspunkte, die eine Ordnung ermöglichten. In diesem grenzenlosen Kontinuum gibt es kein Zentrum, kein oben und unten, kein vorne und hinten. Die Antwort, die die Perspektive darauf gibt, ist die, dass der Bezugspunkt das Auge des Betrachters ist. In Relation darauf erscheinen alle Dinge im Gesichtsfeld als strukturiert. Sie gruppieren sich zu solchen, die den Vordergrund bilden und zu anderen, die den Hintergrund einnehmen, die neben- oder übereinander platziert sind. Die Perspektive ist eine durchweg zweideutige Angelegenheit. Sie ist subjektiv, weil sie alles auf den Betrachter zustellt, und sie ist es wieder nicht, weil sie die Optik einem objektiven Muster unterwirft. Schon eine Veränderung des Standpunktes ergibt ein anderes Bild, das ist das Subjektive. Aber das, was vor Augen steht, kann auch nicht willkürlich zurechtgelegt werden; es fügt sich einem, sogar mathematisch konstruierbaren, Schema, das ist das Objektive. Auf eine Formel gebracht: Die Perspektive ist „die Objektivierung des Subjektiven“.39 Darin erweist sie sich als eine Ausprägung der neuzeitlichen Subjektivität. Das Ich – man denke an das ‚Ego‘ der cartesianischen Philosophie – untersucht die Wirklichkeit nach den von ihm erdachten Methoden und nötigt ihr so die eigene Sichtweise auf. Andererseits bedeutet das aber 38 Vgl. Panofsky, a.a.O., S. 101f. 39 Panofsky, a.a.O., S. 123.
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eine Versachlichung, denn das Ich ist selbst an die einmal gemachten Vorgaben gebunden. Beispielsweise sind die Zahlen aus einer der Natur an sich fremden Messung objektiv feststehende Größen. In der Polarität der Perspektive liegt beides, Distanz und Nähe. Wiederholt wurde der Abstand angesprochen, der konstitutiv für die Landschaft ist. Er erklärt sich aus der bewussten Arrangierung der Seheindrücke nach dem stereometrischen Kalkül. Die Nähe dagegen, das Gefühl, von den Landschaft ganz unmittelbar berührt zu sein, das bis zum Aufgehen in ihr führen kann, rührt daher, dass der Betrachter das, was vor ihm liegt, auf sich bezieht, sich gewissermaßen einverleibt. Trotz ihrer Künstlichkeit bleibt die Perspektive orientiert am empirischen Sehraum. Sie ist auch nur eine Hilfskonstruktion, und in Bezug auf die Landschaft lässt sie sich nicht einmal konsequent durchführen. Jedenfalls schafft sie so etwas wie einen Schauplatz, auf dem die Naturdinge in Szene gesetzt werden. Für deren Einheit sorgen noch andere Elemente der Komposition, etwa das Licht, in das alles getaucht ist; ferner der Kontrast von Hell-Dunkel und die Nuancierung der Farben, die Übergänge schafft; schließlich die Linienführung, die disparate Teile verbindet. Bestimmte Erscheinungen können hervorgehoben werden, durch eine auffällige Kolorierung, durch ihre Platzierung oder dadurch, das Licht auf sie fällt. Es liegt in den Möglichkeiten der Perspektive, dass sie für eine Plastizität der Körper sorgt, die ihr Gewicht und ihre Bedeutung unterstreichen können. Und in diesem Zusammenhang muss auch die Farb- und die Luftperspektive, die schon Leonardo untersuchte, erwähnt werden. Danach ändern sich in der Entfernung die Farben und die Konturen verschwimmen. Zudem gibt es eine Ausbalancierung der Massen, die ebenfalls dazu beiträgt, dass ein Gesamteindruck entsteht. Immer aber wird die Natur gesehen aus dem Blickwinkel eines Betrachters. Daher lässt sich sagen, dass die „Landschaftsmalerei mit der Entstehung der neuzeitlichen Perspektive begonnen hat.“40 Was die Wissenschaft auseinanderlegt, das hält die Kunst zusammen. Die Landschaft bildet ein Korrektiv zu einer Untersuchungsrichtung, die zunehmend nach dem Prinzip der Isolation verfährt und zur experimentellen Forschung wird. Die Einheit zwischen analytischem Begriff und anschaulicher Vergegenwärtigung, die man in der Renaissance als Ideal eines umfassenden Erfahrungswissens ausmachen kann,
40 Holländer, Landschaftsmalerei, a.a.O., S. 187. Über die drei Arten der Perspektive spricht Leonardo im Buch von der Malerei, a.a.O., S. 245ff. Über die Bedeutung des Lichts und der Lichtregie für die Landschaftsmalerei vgl. Clark, a.a.O., S. 15.
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zerbricht.41 Und die Erkenntnis nimmt die Form einer quantifizierenden Faktenerhebung an. Das kommt einer fortschreitenden Verdinglichung der Natur gleich. Ihre Erscheinungen werden zu bloßen Sachen, die beliebig benutzt werden können und schließlich einer technischen Verwendung und Beherrschung zugeführt werden. Darin liegt aber eine Entfremdung des Menschen von der Natur. Die Tatsachen, die die Wissenschaft aufdeckt, sind neutral; sie sind objektiv in dem Sinne, dass sie keine Hinweise enthalten, in welcher Beziehung sie zum Menschen stehen. Welche Bedeutung sie für ihn haben, welche Gefühle, Gedanken und Haltungen sie bei ihm anregen, wird gerade beiseite gelassen. Das ist jedoch nicht nur der Stoff für erbauliche Betrachtungen. Die Natur teilt sich dem Menschen auch mit als eine Macht, die nicht nur schön und anziehend, sondern auch bedrohlich, furchterregend und erbarmungslos ist. Den ganzen lebensweltlichen Aspekt, der für Goethe ein wesentlicher Bestandteil der Naturwissenschaft war, klammert die experimentelle Forschung aus. Gegen die Zergliederung macht das Bild der Landschaft die Einheit der Natur geltend. Es rückt damit dem Menschen vor Augen, dass alle Erscheinungen nur Teil eines Ganzen sind, aus dem sie leben und von dem sie ihre Bestimmung empfangen, wie auch, dass der Mensch nur ein Glied der umfassenden Natur ist, auf die er immer bezogen bleibt und von der er abhängig ist. Die Notwendigkeit einer ästhetischen Vermittlung der Natur ergibt sich also aus dem Prozess der Verwissenschaftlichung, die die Verdinglichung der physischen Welt zur Folge hat. Andererseits bildet dieser Prozess auch wieder die Voraussetzung für die Wahrnehmung der Natur als Landschaft, denn sie kann nur erfolgen, wenn der Mensch frei ist, frei von den Zwängen der Natur, und dazu verhelfen ihm Wissenschaft und Technik, worauf schon hingewiesen wurde. Wie Joachim Ritter gezeigt hat, will der Bürger, der in Schillers Elegie Der Spaziergang sich nach draußen sehnt und die Stadt verlässt, nicht zurück in irgendeine ländliche Idylle.42 Während die bäuerliche Bevölkerung einem „engen Gesetz“ unterworfen ist, ist allein der Angehörige einer urbanen Gesellschaft mit ihren entwickelten zivilisatorischen Potentialen frei, sich der landschaftlichen Natur zu öffnen. Allerdings sind heute Zweifel angebracht, ob die von Schiller gepriesene Koexistenz von industrialisierter Naturbeherrschung und ästhetischem Naturgenuss überhaupt möglich ist. Die sinnliche Wahrnehmung wie auch das Bild sind begrenzt. Aber die Landschaft soll mehr sein als nur ein Ausschnitt, in ihr soll sich 41 Den Aspekt des Auseinanderbrechens von Erkenntnis und Anschauung betont vor allem Rolf Wedewer, Landschaftsmalerei zwischen Traum und Wirklichkeit, Köln 1978; zum Ansatz vgl. die Einführung S. 9ff. 42 A.a.O., S. 158ff.
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auch immer das Ganze der Natur abbilden. Diese für sie konstitutive Bedingung hat verschiedene Auslegungen erfahren. Die erste, fast schon naiv zu nennende ist die bereits erwähnte der ‚Welt- oder Überschaulandschaft‘. Auf einem Bild werden die typischen Erdgegenden zusammengedrängt. Eine weitere Möglichkeit liegt in dem Teil eines Naturraums, der von sich aus ins Weite zeigt: der Himmel. Von ihm sagt Carus, er sei „als Inbegriff von Luft und Licht das eigentliche Bild der Unendlichkeit“.43 Vor anderen Schriftstellern hat Jean Paul den Blick immer wieder auf das Firmament gelenkt, und die Einbeziehung der Himmelskörper – des Mondes vor allem, aber auch der Sonne und der siderischen Gestalten – ist geradezu ein Kennzeichen seiner Naturszenen. Nach ihm hat Arno Schmidt diese Gegebenheiten sehr sorgfältig und ausführlich geschildert. Das, was fundamental ist für die Landschaft, nämlich die perspektivische Sicht, enthält von sich aus schon die Richtung auf das Unendliche; es ist deshalb auch in jeder ihrer Realisierungen anzutreffen. Wie gezeigt wurde, bringt die Perspektive das Kunststück fertig, den unendlichen Raum in den endlichen hineinzuholen; man könnte auch, etwas übertrieben, sagen, sie mache das an sich Unsichtbare sichtbar. „Denn die Entdeckung des Fluchtpunkts, als des Bildes der unendlich fernen Punkte sämtlicher Tiefenlinien, ist gleichsam das konkrete Symbol für die Entdeckung des Unendlichen selbst.“44 Weil das Bild in seiner Tiefendimension gewissermaßen auf den Horizont zuläuft, weisen auch realistische Darstellungen, die sich wie die Stifters streng ans Sichtbare halten, über sich hinaus; sie verweisen auf den Punkt außerhalb des Gesichtsfeldes, wo sich die Parallelen im Unendlichen treffen. Es gibt ferner unermesslich viele Landschaften. Jede einzelne lässt sich begreifen als begrenzte Manifestation eines unendlichen Wesens; dieses Wesen ist die Natur; sie ist unerschöpflich und bringt immer neue Figurationen hervor. Sie muss deshalb als ein großer Organismus angesprochen werden, und die Idealisten, Herder und Goethe bezeichnen sie mit dem Terminus „Alleben“, Carus prägt dafür den Begriff „Erdenleben“. Diesen Zusammenhang legt Schellings Philosophie mit der Lehre von der „Duplicität“ der Natur dar. Sie vereinigt in sich beides, sie ist Subjekt, Produktivität; darin erweist sie sich als natura naturans oder hervorbringende Natur. Und sie ist Objekt, Produkt; und nach dieser Seite zeigt sie sich als natura naturata als hervorgebrachte Natur.45 Die Landschaften wären dann die gleichsam geronnenen Gestalten, natura naturata, die diese Schöpferkraft unermüdlich aus sich 43 A.a.O., S. 58. 44 Panofsky, a.a.O., S. 117. 45 Vgl. z. B. Einleitung zu dem Entwurf einer Naturphilosophie, a.a.O., S. 269ff.
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heraussetzte. So reiht sie Bild an Bild in immer wieder anderen Konstellationen, ohne je an ein Ende zu kommen. Die Lust an der Variation liegt darin, der Reiz der nie versiegenden Fülle. Die verspürt man noch in Fontanes Zugfahrten, bei denen eine Aussicht die andere in rascher Folge ablöst. Die Natur lässt sich nicht auf ein materielles Substrat reduzieren. Sie ist auch ein formgebendes Prinzip. Und in Bezug darauf, dass sie bildnerisch ist, kann sie zu Recht als geistig bezeichnet werden. Diese gestalterische Kraft bekundet sich auch in den landschaftlichen Formationen. Diese sind Ausdruck von Ideen oder, mit dem Begriff Goethes, von Urformen. Die Idee selbst steht über den einzelnen Konkretionen, darin liegt ihre wesensmäßige Unendlichkeit. Zur sichtbaren Gestalt wird sie dadurch, dass sie sich selbst beschränkt, und von der idealen Form kann es unzählige Ausprägungen geben. Das, was als Physiognomie einer Landschaft, als deren Ausdruck und Stimmungsgehalt wahrgenommen wird, ist die Materialisation von geistigen Gehalten, eben von Ideen. Und auf die Art ist im Endlichen das Unendliche anwesend. Freilich, das ist idealistisch gedacht und bedient sich des entsprechenden Vokabulars.46 Nur liegt darin eine bleibende Möglichkeit der Naturbetrachtung – sofern man die Natur in dem versteht, was sie auch ist, nämlich Form, Gestaltung, Expression. Die Landschaft folgt einem bestimmten Darstellungsmuster, dem der perspektivischen Weltsicht. Dessen Preisgabe bedeutet das Ende der Landschaftskunst, jedenfalls der im traditionellen Sinne.47 Den Umbruch vollziehen die Impressionisten. Ihre Bilder werden flächig, und das ist nur ein erster Anhaltspunkt dafür, dass die Bildkonzeption sich völlig gewandelt hat. Es gibt nicht mehr das feste Gerüst des Raumes. Das, was das herkömmliche Landschaftsbild ausmachte, die Staffelung in die Tiefe, die klare räumliche Gliederung, die den Blick vom Vorder- über den Mittelgrund zum Hindergrund leitete, wird aufgegeben. In eins damit verlieren die Gegenstände ihre festen Umrisse. Sie lösen sich auf in farbige Flecke und gehen ineinander über. Anfangs kann sich die Gegenständlichkeit noch durchaus halten, aber schließlich, und das ist nur die Konsequenz dieser Auffassung, hat sie sich ganz verflüchtigt. Exemplarisch für diese Entwicklung ist das Werk Monets, dessen späte Bilder sich der Abstraktion nähern. Sicher lassen sich dafür Gründe angeben, die in der Weiterentwicklung der Malerei selbst liegen. Zu erkennen ist darin aber auch die Reaktion der Kunst 46 Dazu liegt die umfassende Untersuchung von Helmut Rehder vor: Die Philosophie der unendlichen Landschaft, Halle 1932. 47 Zum Ende der Landschaftskunst vgl. die Aufsätze von Gottfried Böhm (Das neue Bild der Natur nach dem Ende der Landschaftskunst) und von Rolf Wedewer (Landschaft als vermittelte Theorie), in: Smuda (Hg.), a.a.O., S. 87 ff; S. 111ff.
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auf ein verändertes Naturbild, das sich in den Wissenschaften durchsetzt. Dieses verabschiedet sich von der Vorstellung, dass die Natur aus festen Substanzen besteht. Der Titel einer Schrift von Ernst Cassirer gibt die generelle Richtung an: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Die Natur ist nicht das Reich der stabilen Dinge. Was sie ausmacht, ist ein Geflecht von Beziehungen, von Kräften und Energien. Das Aussehen der Dinge, ihre klare Konturiertheit ist nur die Oberfläche. Dahinter verbirgt sich die eigentliche Realität, in der es keine dauerhaften Entitäten gibt, sondern nur fluktuierende Relationen. ‚Prozessualität‘, auf diesen Nenner lässt sich die Moderne bringen, und der „Prozessbegriff“ rückt „an die Stelle, die vormals der Seinsbegriff innehatte“.48 Darauf antworten die Künstler damit, dass sie „das Bild als Feld von Impulsen und Intensitäten“ konzipieren.49 Die Natur erscheint nun nicht mehr in mimetischer Wiedergabe der sichtbaren Welt, sondern in der Dynamik von Linien und Farben. Der Gedanke, der in der Renaissance aufkam, dass eine Verwandtschaft bestünde zwischen dem Wirken der Natur und dem Schaffen des Künstlers, wird in abgewandelter Form wieder aufgenommen. So fordert Paul Klee, der Künstler solle nicht „nach“ der Natur, sondern „wie“ die Natur arbeiten.50 In dieser Situation bieten sich jedoch verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten an, auch solche, die noch gegenständlich orientiert sind. Eines ist ihnen aber gemeinsam, dies, dass sie vom traditionellen Schema der Landschaft abgehen. In der Literatur hat das Arno Schmidt getan. Er entwickelt neue Verfahren der Beschreibung. An die Stelle des herkömmlichen Bildaufbaus mit seiner stereometrischen Gegenständlichkeit setzt er komplexe Muster, eine Kombination aus Wirklichkeitssplittern, der er den Namen „musivisches Dasein“ gegeben hat. Festzuhalten ist, dass die Landschaft keine objektive Gegebenheit ist. Sichtbar wird sie erst durch das Arrangement des Betrachters. Damit sie in Erscheinung tritt, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Die gesellschaftliche Konstellation zählt dazu, also der Umstand, dass die Landschaft ein Produkt des städtischen Intellekts ist. Hinzu kommen religiöse und weltanschauliche Faktoren. Die auf Empirie setzende Neuorientierung am Ende des Mittelalters verlangt nach Schemata, mit deren Hilfe die Fülle der Beobachtungen und Erfahrungen in eine Ordnung gebracht werden kann. Daraus resultieren ganz neue Sehgewohnheiten und Sehmuster, eine Entwicklung, die zur Erfindung der Perspektive führt. Nach Vorläufern in der Antike entsteht 48 Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München 2002, S. 377; wie auch andere Autoren zeigt Arendt, das dies schon in den konstitutiven Bedingungen der Neuzeit angelegt ist. 49 Böhm, ebd., S. 104. 50 Zitiert nach Holländer, a.a.O., S. 183.
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die große Landschaftskunst in der historischen Stunde, in der sich der europäische Geist dem Diesseits öffnet. Aber gegen die Zerstückelung der Natur durch die analytische Forschung bildet die Landschaft ein Korrektiv. Sie demonstriert, wie sich die in singuläre Fakten zu zerrinnen drohende Wirklichkeit zu einer Einheit zusammenschließt. Aber das nicht durch abgehobene, spekulative Gedankengebäude, sondern dadurch, dass sie den Zusammenhalt im Sichtbaren aufweist; darauf beruht ihre eigentliche Leistung. Die Landschaft hält sich, darin der Forderung der neuzeitlichen Erkenntnislehre folgend, an die Erfahrung, aber indem sie eine Ahnung aufscheinen lässt von der im Unendlichen liegenden kosmischen Einheit, geht sie doch darüber hinaus. Dadurch erhält sie einen Zug ins Metaphysische, und bei einigen ihrer besten Vertreter, bei Jean Paul und Casper David Friedrich beispielsweise, wird sie zu einer Art säkularem Andachtsbild. Das Bild der Landschaft ist immer auch Preis der Natur und Ausdruck einer pantheistischen Naturverehrung. Dass die landschaftliche Natur überaus anziehend wirkt, dass ihr Anblick die Menschen fesselt und entzückt, liegt, wie bemerkt, zu einem guten Teil daran, dass sie als schön empfunden wird. Warum aber der Natur mit dem Prädikat ‚schön‘ versehen wird, was es mit dem Begriff des Naturschönen auf sich hat, darüber wurde noch wenig gesagt, und davon soll das nächste Kapitel handeln.
Gottfried Keller, Am Mondsee, Bleistift mit Aquarell, Zentralbibliothek Zürich
5. Das Naturschöne und das Erhabene Was die Menschen an der Natur entzückt, ist ihre Schönheit. Nirgends wird das stärker empfunden als im Erlebnis der Landschaft. Sie ist geradezu der Inbegriff des Naturschönen. Nur fragt sich, was überhaupt als Schönes, näherhin als Naturschönes angesprochen werden kann. Gerade das Beispiel der Landschaft zeigt, dass ganz unterschiedliche Gegenden im Laufe der Zeit favorisiert wurden. Es sei nur an die Urteile über die Alpen erinnert, die gegensätzlicher nicht sein können. Die neuere Zeit ist von der Vorstellung abgerückt, es könne gelingen, eine objektive Bestimmung des Schönen zu geben. Sie verlagert die Frage auf die subjektive Seite und sucht nach einem Organ für das Schöne im Menschen. Der erste, der das tat, war Alexander Gottlieb Baumgarten. Er begründete damit eine neue Wissenschaft, der er den Namen ‚Ästhetik‘ gab. Seine Gedanken dazu trug er in einer mit Aesthetica überschriebenen, lateinisch verfassten Abhandlung (1750) vor. Schon der vom griechischen ‚aisthesis‘ abgeleitete Titel verkündet, worum es geht, um die Wahrnehmung. Der § 1 nennt als Gegenstand der Untersuchung die „cognitio sensitiva“. Der Tradition der Schulphilosophie folgend, unterscheidet Baumgarten zwischen ‚rationalen‘ und ‚sensitiven‘ Vorstellungen. Er differenziert also zwischen einer verstandesmäßigen Erkenntnis und einer, die auf dem Zeugnis der Sinne beruht. Letztere wird auch als „gnoseologia inferior“, also als niedrige Erkenntnis apostrophiert. Zu dieser Kategorie zählen neben den eigentlich sinnlichen Wahrnehmungen auch die Vergegenwärtigungen des Abwesenden, die ‚Phantasmata‘ und die Erfahrungen, die bloß erdichtet oder ‚fiktional‘ sind. Nicht nur das abstrakte Denken gelangt zu Einsichten, dazu verhelfen auch die konkreten, lebhaften Eindrücke der Sinne. Allerdings sind diese zunächst nur dunkel und verworren. Zur Klarheit gebracht werden sie nach Baumgarten durch die Poesie; man kann verallgemeinert sagen durch die Kunst. In der anschaulichen Rede und in den Bildern findet die sensitive Wahrheit ihren adäquaten Ausdruck. Die Bestimmung der Eigenart und der Leistungen des unteren Erkenntnisvermögens führt also zu einer Betrachtung der Kunst, die schön deshalb zu nennen ist, weil sie sich leiten lässt von der Maßgabe der Ordnung. Die divergierenden und diffusen Empfindungen bringt sie
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in einen schlüssigen Zusammenhang. Schönheit besteht in der Übereinstimmung der Teile mit dem Ganzen. Neben der Klarheit (claritas) und der Gewissheit (certitudo) ist es die Harmonie, die kunstgerechte Verbindung (concinnitas) und der Zusammenklang (consonantia), die das Schöne ausmachen. Obwohl Baumgarten die überlieferten Begriffe verwendet, enthält seine Untersuchung einen Neuansatz, der vorausweisend ist. Danach ist das Schöne keine objektive Qualität der Wirklichkeit, sondern es ist vom Menschen hervorgebracht. Die Instanz, die das leistet ist die Kunst. Und schließlich ist die Schönheit etwas Sinnliches, sie ist die Wahrheit, die das sensitive Erkenntnisvermögen enthüllt. Die sich an Baumgarten anschließende Entwicklung führt dahin, dass die Ästhetik oder die Lehre vom Schönen sich auslegt als Theorie der Kunst. Das Naturschöne kommt darin kaum vor oder es wird doch nur am Rande behandelt.1 Frühere Epochen kannten keine Ästhetik. Selbstverständlich hatten auch sie einen Begriff vom Schönen. Die griechische Philosophie erörtert ihn im Rahmen eines Nachdenkens über den Kosmos. Kosmos heißt ‚Welt‘, dann aber auch ‚Ordnung‘ und ‚Schmuck‘. Die Schönheit ist demnach ein Aspekt des universalen Zusammenhalts. Und im Timaios entwickelt Platon den Gedanken einer Sphärenharmonie.2 Unter den unvergänglichen Mustern und Vorbildern, unter den Ideen, nach denen die Welt geordnet ist, nimmt das Schöne neben dem Guten und Wahren den höchsten Platz ein. Die Wohlgestalt, die das Auge wahrnimmt, hat Teil am übersinnlich Schönen. Und entsprechend unterscheidet Platon zwischen den „schönen Dingen“ und dem „Schönen an sich“.3 Eine wahre Vorstellung davon erlangt nur, wer über die gefällige, äußere Gestalt hinausgeht und sich zur Schau der Idee erhebt. Das Schöne selbst ist also, sehr im Unterschied zur neueren Auffassung, nichts Sinnliches, sondern eine objektive, geistige Potenz. Näher gefasst zeichnet es sich aus durch ‚Maß‘, ‚Symmetrie‘ und ‚Harmonie‘.4 Diese Attribute kehren bei Aristoteles wieder.5 Und auch bei ihm existiert das Schöne ganz unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung und der artifiziellen Gestaltung. Eine Lehre des Aristoteles ist bis in die Gegenwart wirksam geblieben. Sie stellt eine enge Verbindung her zwischen der Natur, der Kunst und dem Schönen. Wie bereits im 1
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Eine knappe Zusammenfassung von Baumgartens Schrift bietet Norbert Schneider, Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne, Stuttgart 1996, S. 21ff. Vgl. 29d–40d. Politeia 476aff. Zu Platons Lehre vom Schönen und von der Kunst vgl. die Darstellung von Alfred Baeumler, Ästhetik, Darmstadt 1972, S. 3ff. S. Met. XII, 3.
Das Naturschöne und das Erhabene 201
zweiten Kapitel ausgeführt, bestimmt Aristoteles Kunst als Nachahmung der Natur. Das bedeutet nicht, dass sie das Vorgegebene nur imitiert. Das liefe auf eine bloße Kopie hinaus. Sie kann mehr als das, sie setzt ins Werk, was die Natur nicht auszuführen vermag, sie vollendet, was in ihr nur angelegt ist und sich noch nicht zur gültigen Gestaltung herausgebildet hat. Hier kommt also der Gedanke der Vollkommenheit ins Spiel; und diese wird seit jeher als Wesenszug des Schönen angesehen. Nun muss nach Aristoteles aber innerhalb der Künste wieder differenziert werden. Es gibt solche, die notwendig sind und einen Nutzen haben, andere, die zweckfrei sind und der Unterhaltung dienen. Das menschliche Herstellen – griechisch: ‚techne‘, lateinisch: ‚ars‘ – verteilt sich auf die Arbeit des Handwerkers (‚demiurgos‘) und auf die des Künstlers (‚architektonikos‘). Bei Kant heißt dann das freie Tun, das nicht der Notdurft gehorcht, „schöne Kunst“, im Gegensatz zu einer Kunst, die an Zwecke gebunden und für den unmittelbaren Gebrauch bestimmt ist, womit Handwerk und Technik gemeint sind.6 Für die antike Philosophie ist die Schönheit nicht eine Auszeichnung des Raren und Exquisiten, des Besonderen. Sie ist kein bloßes Dekor, keine Beigabe, die auch fehlen könnte. Ebenso wenig ist sie eine Frage des Geschmacks oder des ästhetischen Empfindens. Dass sie als Qualität betrachtet wird, die den Dingen selbst innewohnt, dass sie ein Grundzug der Einzelwesen und der Welt als Ganzem ist, erklärt sich daraus, dass sich nur im Dasein halten kann, dass nur Bestand hat, was das rechte Maß aufweist, also schön ist. Schön ist das Geordnete, das Ausgewogene, das Abgerundete, das Vollendete, ist das, was die richtigen Proportionen besitzt. Das Geglückte, Erfüllte, Passende ist schön und kann deshalb auch ‚gut‘ genannt werden. Schönheit, das ist Form, Ordnung, Rhythmus, Zusammenklang. Was in sich zerfallen ist, das Ungestalte, Unförmige, Amorphe, Chaotische, also kurz das Hässliche kann sich nicht dauerhaft behaupten, es ist dem Verfall überantwortet. Das beste Beispiel dafür ist der Organismus. Lebensfähig ist er nur, wenn seine Teile zusammenstimmen und zusammenarbeiten; heute würde man wohl von Homöostase reden. Wenn dieser Einklang gestört ist, ist das Lebewesen nicht mehr existenzfähig, es stirbt. Die Schönheit der Welt wird ekstatisch gepriesen im Symposion von Platon. Die Verehrung des Formvollen, der plastischen Gestalt, die Bezauberung durch das, was bei 1ietzsche das ‚Apollinische‘ heißt, findet darin seinen Ausdruck. Der Eros wird gefeiert, die Liebe, die sich am schönen Leib
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Vgl. Kritik der Urteilskraft, a.a.O., Bd. V, S.303 ff (§§ 43, 44). Zu Aristoteles vgl. Baeumler, a.a.O., S. 43ff.
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zuerst entzündet, dann an der schönen Lebensweise und endlich in der schönen Erkenntnis ihre Bestimmung findet.7 Wie schon das Altertum setzt auch das Mittelalter das Schöne und das Gute gleich. Für die Scholastik sind sie Prädikate des Seins und werden daher in der Ontologie behandelt. Nach Thomas von Aquin stellen sie nur zwei Seiten derselben Sache dar. Der Unterschied ergibt sich daraus, dass das Gute das ‚Strebevermögen‘ des Menschen anspricht, das Schöne dagegen sein ‚Erkenntnisvermögen‘, aber eigentlich nicht dieses selbst, sondern die Sinne, die eine Erkenntnisfunktion haben und der Vernunft dienen. Es sind nur die höheren Sinne, das Gesicht und das Gehör, die das leisten; nur sie sind für die schönen Gegenstände empfänglich. Wohl könne man von einem schönen Anblick oder von einem schönen Klang reden, nicht aber von einem schönen Geruch oder von einem schönen Geschmack, sagt Thomas. Anders als bei Platon ist hier also die Schönheit an die Sinne gebunden, wie es für die Folgezeit ganz selbstverständlich wird. Drei Kennzeichen des Schönen führt Thomas an: ‚die Unversehrtheit oder die Vollendung‘, ‚das gebührende Maßverhältnis oder die Übereinstimmung der Teile‘ und schließlich ‚die Klarheit‘. Das Verstümmelte, das Disharmonische und das Diffuse erfüllen nicht die Bedingungen der Schönheit, sie sind hässlich.8 Für die christliche Theologie ist die Welt als göttliche Schöpfung ein Abglanz der Herrlichkeit Gottes und schon deshalb schön. Vorneuzeitlich ist das Schöne metaphysisch fundiert, für die Antike in der kosmischen Ordnung, für das Mittelalter in der göttlichen Schöpfung. Die Grundvorstellung ist die, dass die Welt ein endliches, geschlossenes, in sich ausgewogenes Ganzes ist. In ihr hat jedes seinen Platz und ist eingegliedert in ein umfassendes Gefüge. Nach Platon muss auch das menschliche Leben nach Maßgabe der kosmischen Harmonie gestaltet werden. Was in der außermenschlichen Welt, was in der Natur zu finden ist, das Zusammenstimmen der Teile zu einer Einheit, ist Vorbild für die Organisation des Staates und für die Ausrichtung des Einzelmenschen. Wie die drei Teile, aus denen der Mensch besteht, wie Leib, Wille und Vernunft im rechten Verhältnis zueinander stehen sollen, so müssen auch die gesellschaftlichen Gruppierungen sich ergänzen und zum Wohl der Gemeinschaft zusammenwirken. Die harmonikale Weltsicht, in der dem Schönen eine tragende Funktion zukommt, zerbricht in der Neuzeit. Ein Grund dafür ist der, dass sich die endliche Welt öffnet zum unendlichen Universum. Die Vorstellung der schönen Ordnung, des Kosmos, der ein Schmuckstück ist, eine 7 8
Symposion 210aff. Die entsprechenden Stellen finden sich in der Summa theologica I, 5,4; II, 127,1; I, 39,8.
Das Naturschöne und das Erhabene 203
vollendete, harmonische Einheit kann nicht länger gehalten werden. Die neu entdeckten Tatsachen sprechen dagegen. Daraus resultiert eine Umstellung; der Mensch kann sich nicht mehr an der äußeren Natur orientieren. Was schön ist, wird ihm nicht von außen vorgegeben, das muss er in sich finden. Baumgarten hatte, wie gezeigt, diese Wende vollzogen. Auch Kants Ausführungen über das Schöne setzen an beim Subjekt. Immer noch liefern sie einen unverzichtbaren Beitrag zur Bestimmung des Naturschönen. Nur darum geht es im Folgenden, nicht um eine Auslegung der Kantischen Ästhetik. Wenn wir etwas schön nennen, sprechen wir ein Urteil aus, ein ästhetisches Urteil oder ein Geschmacksurteil. Damit sagen wir – immer nach Kant – nichts über die Beschaffenheit eines Gegenstandes, sondern lediglich etwas darüber, wie dieser auf uns wirkt. Wir achten also darauf, wie wir auf ihn reagieren. Das Schöne zieht uns an, es sagt uns zu, kurz: es löst ein Gefühl der „Lust“ in uns aus. Was dagegen „Unlust“ verursacht, kann nicht schön sein. Nun ist der Ausdruck ‚Lust‘ heute schon besetzt; wir assoziieren damit irgendwelche libidinösen Strebungen. Ein anderer Begriff Kants trifft die Sache besser, der des „Wohlgefallens“. Das ästhetische Urteil betrifft also nur den Zustand des Betrachters, es ist „subjektiv“, was so viel heißen soll, dass das Schöne nicht dem Gegenstand zuzuschlagen ist, sondern auf die Seite des Betrachters fällt. Nicht allein das Schöne ist mit Wohlgefallen verbunden. Es gibt noch anderes, das dieses Gefühl hervorruft. Nun aber hängt es ab von bestimmten Gegenständen oder Ereignissen. Beim „Angenehmen“, so bezeichnet es Kant, entsteht ein Behagen, das durch die Sinne vermittelt wird. Der Bratenduft verspricht einen Genuss, natürlich nur demjenigen, der so etwas mag. Und während der eine über ein Stück Fleisch ins Schwelgen gerät, verlangt es den anderen nach einem Stück Kuchen. Das „Vergnügen“ ist bloß individuell oder „privat“. Aber es ist immer abhängig von der tatsächlichen Vorhandenheit des begehrten Objektes. Ein nur erdachter Braten bringt keine Gaumenfreuden und er macht auch nicht satt. Und weil die Zuneigung zu einem real existierenden Ding „Interesse“ heißt, handelt es sich beim „Angenehmen“ um ein „interessiertes Wohlgefallen“. Das Gefühl des Angenehmen weist also drei Merkmale auf: (1.) Es geht aus von einem real existierenden Gegenstand; (2.) dessen sinnliche Qualitäten verschaffen ein Ergötzen; und (3.) dieses kann jeder nur für sich realisieren. Wieder von anderer Art ist das Wohlgefallen am „Guten“. Auch dieses ist interessiert. Es erfreut uns, wenn wir das moralisch Gebotene verwirklicht sehen, wenn etwa Bedürftigen geholfen wird. Die gute Tat, die Vorsatz bleibt, nötigt uns kaum Beifall ab. In moralischen Fragen
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entscheidet aber die „Vernunft“, nicht das Empfinden. Befände dieses darüber, was zu tun sei, würde die Moral ins Belieben des Einzelnen gesetzt. Der eine bringt nun einmal mehr Mitgefühl auf als der andere, und das Verantwortungsgefühl ist bei Menschen sehr unterschiedlich entwickelt. Sittliche Gebote müssen allgemein verbindlich sein, sie müssen für alle gelten. Und das kann nur die Vernunft garantieren. Sie allein gewährt Einsicht in das, was richtig und was verwerflich ist. Das Gefühl der Freude entsteht dann, wenn man verfolgen kann, dass die Vorschriften der Vernunft auch eingelöst werden. Vom „Angenehmen“ ist das „Gute“ darin unterschieden, dass es erstens durch die Vernunft vermittelt wird und dass es zweitens allgemein ist. Gemeinsam ist beiden, dass das Gefallen von tatsächlichen Gegebenheiten initiiert wird. Man müsste einen weiteren Fall des Wohlgefallens anfügen, den des „Nützlichen“, welchen Kant nur erwähnt. Auch dabei geht es um real existierende Gegenstände, also um ein Interesse. Wie etwas beschaffen sein muss, damit es mir von Vorteil ist, darüber klärt mich der „Verstand“ als das Vermögen der sachlichen Erkenntnis auf. Zwar ist es so, dass jeder Verständige den Nutzen einer Sache einsehen kann, deswegen braucht sie aber nicht für ihn günstig zu sein. Die Allgemeinheit ist hier nur bedingt gegeben. Das „Nützliche“ ist eher eine Privatangelegenheit. Von den aufgeführten Arten der Lust ist die am Schönen unterschieden. Dabei handelt es sich, und jetzt kommt Kants berühmte Formel, um ein „uninteressiertes und freies Wohlgefallen“.9 „Ohne alles Interesse“, wie eine andere Formulierung lautet, heißt zunächst, dass das Schöne nicht am Gegenstand festgemacht werden kann; es bezeichnet keine sachliche Qualität. Weiter bedeutet das aber auch, dass ein Gegenstand nicht einmal realiter vorhanden sein muss. Es kann sich auch um ein Gebilde der Phantasie oder um eine Illusion handeln. Und so verhält es sich ja bei einem großen Teil des Schönen. Kunstwerke sind keine Wirklichkeit, sie sind imaginierte Wirklichkeit, allenfalls Repräsentanten der Realität. Aber wenn man zunächst die Artefakte beiseite lässt und bei den realen Dingen bleibt, so ist klar, dass das Schöne eine sinnliche Präsenz haben muss. „Man will das Object seinen eigenen Augen unterwerfen, gleich als ob sein Wohlgefallen von der Empfindung [sinnlichen Gegebenheit] abhinge“, bemerkt Kant.10 9
Seltsamerweise wird immer behauptet, auch von seinen Exegeten, Kant habe von einem ‚interesselosen Wohlgefallen‘ gesprochen. Diese Formulierung findet sich aber bei ihm nicht. Die Unterscheidungen in Bezug auf das Wohlgefallen sind grundlegend für Kants Bestimmung des Schönen. Er nimmt sie vor in der Kritik der Urteilskraft (abgekürzt: K.d.U.) auf den Seiten a.a.O., Bd. V, 203–211 (§§ 1–5), kommt aber auch an anderen Stellen darauf zurück. 10 Ebd., S. 216 (§ 8).
Das Naturschöne und das Erhabene 205
Nur, wenn ich es auf das Sensitive reduziere, verschwindet es. Dann wäre ich beim Angenehmen. Der Braten ist vielleicht schmackhaft, aber gewiss nicht schön. Nun kann man es anders versuchen und den Verstand bemühen. Dann erkenne ich eventuell etwas von der Wesenart des Objektes, aber ich sehe dann von mir ab; ich verstehe nicht, warum es mir gefallen soll. Auch in dieser Operation wird das Schöne eliminiert. Nun deckt der Verstand auch Eigenschaften einer Sache auf, von denen ich profitieren kann. Aber dann bin ich beim Nutzen, nicht beim Schönen. Und ähnlich geht es, wenn mir die Vernunft sagt, etwas diene einem moralischen Zweck. Das mag edel und großmütig sein, es fällt unter das Gute, aber schön ist es deswegen nicht. In Summa: Das Schöne liegt nicht in einem Gegenstand, es beruht weder auf der Rezeptivität der Sinne noch auf Operationen des Verstandes oder der Vernunft. Und, um es gleich herauszusagen, es geht hervor aus einem „freien Spiel der Erkenntnisvermögen“.11 Das klingt reichlich abgehoben. Die Bestimmungen lassen sich aber an einem Beispiel verdeutlichen. Man stelle sich einen See vor, so einen, wie ihn Stifter geschildert hat. Er liegt im Gebirge, eingerahmt von dunklem Nadelwald und überragt von einer mächtigen Felswand.12 Man denke sich weiter, dass man an einem Sommerabend nach einer Wanderung plötzlich vor dem See steht und sogleich eingenommen wird von dessen Schönheit. Sicher, man mag angetan sein vom Wasser. Es lädt ein zum Baden, und man spürt schon dessen wunderbare Frische auf der Haut. Aber körperliche Erquickung ist bloß angenehm, nicht schön. Es könnte auch einer kommen, der den See geschäftsmäßig taxiert. Er ließe sich touristisch vermarkten, und der Wald brächte so und soviel Festmeter Holz. Aber der Geschäftemacher erfasst den Nutzen, nicht das Schöne. Ein Wissenschaftler wird den See einordnen und das Gestein untersuchen. Er gelangt zu Erkenntnissen; die geben ihm aber keinen Aufschluss darüber, was an dem Untersuchungsobjekt anziehend sein soll. Noch ein anderer könnte finden, dass die Ruhe und das Klima für Kranke heilsam seien. Seine Erwägungen betreffen das Gute, das Schöne ist dabei allenfalls ein untergeordnetes Moment. Man kann aber auch bei dem Anblick verweilen, bei der glatten Wasserfläche, bei dem roten Schimmer der Abendsonne, bei dem dunklen Saum des Waldes. Eine sanfte Melancholie liegt über der Szenerie. Oder ist es Trauer oder Wehmut? Vielleicht teilt sich einem auch ein feierlicher Ernst mit. Wir fühlen uns angezogen und sagen, dass der sich darbietende Prospekt schön sei. Um dahin zu gelangen, muss aber mehreres 11 A.a.O., S. 217 (§ 9) 12 Das nimmt Bezug auf den See am Blockenstein, dessen Beschreibung sich im Hochwald findet.
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zusammenkommen. Die wechselnden Hinsichten – der Blick auf die Wasserfläche, auf den Wald, auf die Berge, auf den Abendhimmel – müssen präsent gehalten werden, damit sie sich zu einem einheitlichen Bild verbinden. Das leistet die „Einbildungskraft“ als das Vermögen, auch zurückliegende Sinneseindrücke zu vergegenwärtigen. Sie sorgt so für die „Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung“. Aber bei der Anschauung bleibt es nicht. Zu ihr stellen sich, man ist versucht zu sagen: automatisch, Begriffe ein, etwa Melancholie, Einsamkeit, Stille, Wehmut. Die steuert der „Verstand“ bei. Aber, und das ist hier wichtig, diese sind nicht eindeutig, sie changieren. Das Schöne gründet demnach in den Operationen des Subjekts, in der Weise, dass das Sinnliche und das Geistige, dass die „Einbildungskraft“ und der „Verstand“ eine „Harmonie“ bilden. Und das ist gemeint mit dem „freien Spiel der Erkenntnisvermögen“.13 Dabei ergänzen sich die beiden Vermögen, und sie binden sich gegenseitig. Wenn der Verstand die Anschauung aufheben will in eine abstrakte Begrifflichkeit, hält diese dagegen. Eine Probe macht das deutlich. Man sieht leicht ein, dass ein Satz wie: ‚Der Bergsee stellt die Einsamkeit dar‘, verfehlt ist. Will umgekehrt die Sinnlichkeit nur genießen, löst sich der Zauber auf. Der Anblick verliert, was er doch auch hat, einen geistigen Gehalt. Es zeugt von einer ziemlich öden Gemütsverfassung, in dem Bergsee nur eine Badegelegenheit auszumachen. Gleichwohl wird hier ein Geschmacksurteil gefällt. Und das ist bekanntlich ganz persönlich. Dass sich über Geschmack nicht streiten lässt, weiß selbstverständlich auch Kant. Der See, könnte jemand einwenden, sei nicht seine Landschaft. Er habe nichts übrig für Gebirgsgegenden. Er liebe das offene Gelände, das weite Ausblicke gewährt. Für ihn sei das Tal eben nicht schön. In Angelegenheiten des Geschmacks kann man nicht argumentieren, man kann nicht wie bei moralischen oder wissenschaftlichen Fragen rational einsichtige Belege für die Richtigkeit der eigenen Sache vorbringen. Ob etwas schön sei, „dazu lässt man sich sein Urteil durch keine Gründe oder Grundsätze aufschwatzen“. Das liegt natürlich daran, dass es hier um ein persönliches Berührtsein geht, um ein Gefühl, darum, dass die Sinne angesprochen sind, und das lässt sich eben nicht durch verallgemeinernde Begriffe, also durch die verständige Rede vermitteln. Schön ist immer nur das Einzelne, das, was in die Sinne fällt. Das Schöne bliebe demnach rein privat, und es ließe sich darüber nichts ausmachen, das für die Allgemeinheit verbindlich wäre. Aber es geht beim ästhetischen Urteil nicht darum, dass jemand eine persönliche Affinität zu einer Sache hat. Es geht auch nicht darum, dass man durch rationale Erwägungen zu einem 13 Das entwickelt Kant vor allem im § 9, a.a.O., S. 216–219.
Das Naturschöne und das Erhabene 207
Ergebnis kommt, dem unmöglich die Zustimmung verweigert werden kann. Was allein bleibt, ist dies, dass man das Urteil nachzuvollziehen vermag. „Es sinnt nur jedermann diese Einstimmung an, als einen Fall der Regel, in Ansehung dessen es die Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet.“ Es handelt sich hier um einen Befund des „Reflexionsgeschmacks“, den Kant gegen den „Sinnengeschmack“ abhebt. Während der zweite nur entscheidet, ob etwas den Sinnen angenehm ist, ob jemand Schweinebraten oder Sahnetorte mag, basiert der zweite auf dem Zusammenspiel der Erkenntnisvermögen, auf dem Zusammenwirken von Einbildungskraft und Verstand. Und weil jeder Mensch mit diesen Vermögen ausgestattet ist, kann ihm auch zugemutet werden, dass er ein ästhetisches Urteil für sich realisieren kann. Bei dem Beispiel hätte er nur darauf zu achten, ob sich auf einem Bild des Bergsees die verschiedenen visuellen Eindrücke zu einem seelischen Ausdruck verbinden, mag ihm auch sonst diese Gegend nicht sonderlich zusagen. Drei Merkmale sind es also, die das ästhetische oder das Geschmacksurteil aufweist. Es ist erstens nicht abhängig von einem tatsächlich vorhandenen Gegenstand, es ist „ohne alles Interesse“, es beruht zweitens auf der „Harmonie von Einbildungskraft und Verstand“ und es ist drittens im Sinne eines jedermann möglichen Nachvollzugs „allgemein“.14 Nun stellt sich erst heraus, was ‚uninteressiert‘ heißt. Das bedeutet eben nicht, keinen Anteil zu nehmen. Im Gegenteil: Das Schöne berührt uns, vielleicht begeistert und beglückt es uns sogar. Aber das liegt jenseits von aufbrauchen und ausnutzen, von leiblichem Behagen und bloßem Erkenntnisgewinn. Für Kant ist die Zuwendung zum Schönen auch ein Akt der „Kontemplation“. Das ist die Haltung, in der die Dinge heraustreten aus ihren gewöhnlichen Zusammenhang. Sie sind nicht länger Gegenstand des alltäglichen Besorgens, für das sie aufgehen in einer bestimmten Funktion. Davon befreit, erscheinen sie in einem neuem Licht und zeigen Eigenschaften, die zuvor nicht an ihnen bemerkt wurden. Die „Lust am Schönen“ sei „bloß contemplativ und ohne ein Interesse am Object zu bewirken“, schreibt Kant.15 Gegen Kants erklärte Absicht könnte man hier auch von Erkenntnis reden, denn der Kontemplation zeigen sich ja Seiten an einem Ding, die sonst nicht in Erscheinung treten. Das Schöne geht also hervor aus dem Geschmacksurteil, und das schreibt Kant einem besonderen Vermögen zu, der Urteilskraft. Was diese ist, wird erst deutlich, wenn man sie absetzt von anderen Leistungen des Geistes. Da ist zuerst die Erkenntnis zu nennen; sie ist allein 14 Die soeben neu angeführten Zitate finden sich a.a.O., V, S. 213–216, (§ 8). 15 Ebd., S. 222 (§ 12)
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dem Verstand vorbehalten, der die Sinnesdaten unter die in ihm bereitliegenden Kategorien bringt. In Fragen der Moral entscheidet die Vernunft; sie erlässt die sittlichen Gebote. Und schließlich gibt es ein drittes Prinzip, die Urteilskraft; unter sie fällt auch das Schöne. Es sind demnach drei Grundvermögen – Verstand, Vernunft und Urteilskraft –, nach denen sich das menschliche Weltverhalten richtet.16 Dabei handelt es sich um ‚Prinzipien a priori‘, um Prinzipien also, die vor aller Erfahrung liegen und die der Mensch an die Realität heranträgt. Wie der Mensch mit Augen ausgestattet ist, die seine Sicht auf die Wirklichkeit festlegen, so verfügt er auch über geistige Vermögen, die seine Erfahrungen prägen, strukturieren und lenken. Über das Schöne befindet jedoch nur eine besondere Ausprägung der Urteilskraft, denn diese scheidet sich wieder in „bestimmende“ und „reflektierende“.17 Die erste ist gar kein eigenes Vermögen. Sie beschränkt sich darauf, die Vorschriften des theoretischen Verstandes und der praktischen Vernunft anzuwenden. Was sie leistet ist dies, dass sie das Besondere unter ein gegebenes Allgemeines, unter ein Gesetz, eine Regel, einen Begriff subsumiert. Das geschieht beispielsweise dann, wenn ein Richter bei der widerrechtlichen Aneignung eines Gutes auf Diebstahl oder Raub erkennt. Entsprechend verfahren wir, wenn uns der Begriff ‚Rose‘ bekannt ist und wir ein bestimmtes Gewächs unter diesen Allgemeinbegriff bringen. Anders verhält es sich bei der reflektierenden Urteilskraft. Sie ist eine eigenständige Instanz. Ihrer Untersuchung ist die Kritik der Urteilskraft gewidmet, die vollständig eigentlich ‚Kritik der reflektierenden Urteilskraft‘ heißen müsste. Gerade umgekehrt zur ‚bestimmenden‘ ist der ‚reflektierenden Urteilskraft‘ „das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll“. Wenn wir etwas als schön bezeichnen, reden wir von der Wirkung, die es auf uns ausübt. Wir unterstellen ihm damit einen Zweck, den, zu gefallen. Aber der Zweck kann nicht der sein, die Sinne zu erregen, wie etwa der Bratenduft Appetit macht. Die Lust am schönen Gegenstand ist überhaupt „nicht praktisch“, wie Kant sich ausdrückt. Sie fordert kein Tun heraus. Sie will sich also nicht eines Dinges bemächtigen, es sich nicht einverleiben, es nicht besitzen oder über es verfügen. Die „Zweckmäßigkeit“ des Schönen beruht nicht auf der „äußeren Nützlichkeit“, sie ist auch nicht an die Materialität eines Gegenstandes gebunden, sie bezieht sich auf die immanente Struktur einer Erscheinung; was sie ausmacht ist deren „innere Vollkommenheit“. Und weil es gar nicht um äußere Nützlichkeit geht, liegt hier eine „Zweckmäßigkeit 16 Vgl. Kants schematische Übersicht der gesamten Philosophie in der K.d.U., a.a.O., V, S. 198 (Einleitung IX.). 17 Diese Unterscheidung wird erläutert Kant im IV. Abschn. der Einl. S. 179ff.
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ohne Zweck“ vor.18 Diese scheinbar paradoxe Formulierung beschreibt den Tatbestand, dass das Schöne allein in der formalen Beschaffenheit gründet. Zweckmäßig ist der schöne Gegenstand insofern, als alle Teile zusammenstimmen. Sie beruht darauf, dass jedes Glied dem Zweck unterstellt wird, sich in ein Ganzes zu fügen. Form ist „Einheit des Mannigfaltigen“, ist die Verbindung des vielen zu einer Harmonie. Aber diese Qualität kommt dem Ding nicht an sich zu. Sie geht nur dem betrachtenden Subjekt auf. Bei einer äußerlichen Zwecksetzung ist die Sache einfach. Man kann feststellen, ob etwas für etwas geeignet oder für etwas dienlich ist. Anders steht es beim inneren Zweck. Was dieser ist, muss erst ausfindig gemacht werden, um dann daraus die formale Einheit hervorgehen zu lassen. Das kann nicht anders geschehen, als dass die einzelnen, sinnlichen Details auf ein gedankliches Substrat bezogen werden. Im Beispiel des Bergsees: Die zerstreuten Impressionen des Wassers, des Waldes, des Felsens, des Abendhimmels schließen sich erst zusammen, wenn sie als Teile einer Gestalt gesehen oder wenn sie in Relation gesetzt werden zu reflexiven Bestimmungen wie Melancholie, Ernst oder Abgeschiedenheit. Zu dem, was sich unmittelbar den Sinnen darbietet, einen Bezugpunkt zu finden, das ist eben die Leistung der ‚reflektierenden Urteilskraft. Der Begriff ‚Reflexion‘ ist hier mit Bedacht gewählt, denn es handelt sich um eine gedankliche Bewegung, die bei der Hinwendung zum Schönen immer in Gang gehalten wird. Die sinnlichen Eindrücke werden nicht einfach unter die Allgemeinheit eines Begriffs subsumiert. In diesem Fall vollzöge man nur einen Akt der theoretischen Erfassung, keinen der ästhetischen Adaption. Diese bleibt gerade beim Einzelnen, bleibt bei der sinnenfälligen Erscheinung und hebt diese nicht auf in die Abstraktheit des Denkens. Was da vonstatten geht, erläutert wiederum der Begriff der Kontemplation. Die meditative Versenkung in eine Sache wird nicht mit ihr fertig, indem sie diese in ein kognitives Schema einordnet. Sie verweilt bei ihr, kommt immer wieder auf sie zurück; die Gedanken kreisen um sie und finden in dem konkreten Anblick immer neue Anregungen. Und die Freude am Schönen, das Wohlgefallen liegt eben in diesem Spiel, in dem die Sinne wie der Verstand gleichermaßen animiert sind. Bei der Betrachtung des Schönen ist es also so, dass das eine Element das andere daran hindert, zur alleinigen Herrschaft zu gelangen; das Sinnliche hält den Verstand davon ab, sich zum reinen Gedanken zu erheben, während umgekehrt das Rationale sich gegen eine Bemächtigung durch die pure Sinnlichkeit wendet. Hier kehrt also etwas davon wieder, was schon bei der Definition des Kunstwerks angeführt wurde, dass nämlich in ihm eine Einheit des Sinnlichen und Geistigen 18 Vgl. a.a.O., S. 226f (§ 15).
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vorliegt. Nun aber vollzieht sich diese Einheit im Subjekt, das das Schöne aufnimmt. Worüber die Urteilskraft – immer ist die „reflektierende“, nicht die „bestimmende“ gemeint – eigentlich entscheidet, ist demnach die Zweckmäßigkeit einer Sache und das in zweifacher Hinsicht. Zuerst ist es an ihr festzustellen, ob eine Gegebenheit geeignet ist, ein Gefühl uninteressierten Wohlgefallens hervorzurufen, ob also bei ihrer Aufnahme sich ein freies Zusammenspiel von Verstand und Sinnlichkeit einstellt. In Bezug darauf befindet sie über die Schönheit eines Gegenstandes. Etwas anderes liegt vor, wenn es weniger um die Wirkung auf ein Subjekt geht, als vielmehr um die Beschaffenheit eines Objektes. Dann ist die Frage, inwiefern dieses zweckmäßig angelegt ist. Es geht dabei um das Zusammenpassen der Teile, darum, ob und wie sich diese ergänzen, so dass sie sich zu einem Ganzen verbinden. In dem Fall unterstellt die Urteilskraft einer Erscheinung einen bestimmten Zweck und nun lässt sich angeben, wie die einzelnen Teile auf diesen hin angeordnet sind. Es ist vor allem das Lebendige, das nach solch einer Betrachtungsweise verlangt, und am Organismus lässt sie sich am besten exemplifizieren. Jedes Glied erklärt sich aus der Leistung, die es für den Gesamtorganismus erbringt. Für sich genommen, ist es nur ein sinnloses, totes Faktum. So lässt die Untersuchung eines isolierten Auges oder Armes nicht erkennen, was sie sind und welche Funktion sie haben. Das ergibt sich erst aus dem Kontext des lebendigen Organismus. Auf diesen hin sind sie ausgerichtet, von ihm werden sie getragen; er schreibt ihnen ihr Lage und ihre Aufgabe zu. Das bedeutet aber, dass das Ganze oder der Zweck vor dem einzelnen Teil existieren muss, anders lässt sich gar nicht verstehen, wie sich die Bestandstücke zu dieser bestimmten Gestalt zusammenfinden. Bei einem diesbezüglichen Urteil ist das Empfinden des Beobachters nicht gefragt, es geht einzig um die Struktur und die Funktionsweise des untersuchten Gegenstandes. Entsprechend der unterschiedlichen Ausrichtung der Urteilskraft, das war einmal die Bezogenheit auf das Subjekt, das andere Mal die auf das Objekt, zerfällt sie für Kant in eine „ästhetische“ und eine „teleologische“: indem unter der ersteren das Vermögen, die formale Zweckmäßigkeit (sonst auch subjective genannt) durch das Gefühl der Lust oder Unlust, unter der zweiten das Vermögen, die reale Zweckmäßigkeit (objective) der Natur durch Verstand und Vernunft zu beurtheilen, verstanden wird.19
Wenn eben gesagt wurde, dass sich die objektive Zweckmäßigkeit am besten am Organischen demonstrieren ließe, so steckt darin bereits ein Hinweis, worauf Kant eigentlich aus ist. Er will prüfen, ob man davon 19 A.a.O., S. 193 (Einleitung VIII.).
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reden kann, dass es Zwecke in der Natur gibt oder dass die Natur zwecksetzend ist. Das geht schon aus der Gliederung der Kritik der Urteilskraft hervor, deren ‚erster Teil‘ Kritik der ästhetischen Urteilskraft, deren ‚zweiter Teil‘ Kritik der teleologischen Urteilskraft überschrieben ist. Die Untersuchung des Schönen dient nur der Vorbereitung auf das eigentliche, auf das naturphilosophische Thema, das einer Teleologie der Natur. Ihre Absicht besteht also nicht darin, eine ästhetische Theorie oder eine Begründung der Kunst vorzulegen, jedenfalls nicht primär.20 Kants Bestimmung des Schönen liegt noch vor dessen Auseinandertreten in Kunstschönes und Naturschönes, wobei eindeutig das zweite den Vorzug erhält. Das hat zunächst seinen Grund darin, dass in der Natur das Schöne am reinsten hervortritt. Nehmen wir eines von Kants Beispielen, nehmen wir eine Lilie. Sie gefällt nicht, weil sie neben ihrer Schönheit noch zu etwas anderem nutzte ist, man kann sie nicht essen und sie verbreitet keine moralischen Lehren. Dass man ihre weiße Farbe mit ‚Unschuld‘ assoziieren kann, gehört zu dem freien Spiel der Geisteskräfte, das der reizvolle Gegenstand anregt. Systematisch gesehen, beruht die Vorrangstellung des Naturschönen darauf, dass an ihm die Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen offenkundig wird. Das leitet über zu einer Auseinandersetzung mit einer Teleologie der Natur. Und hierin liegt die Bedeutung von Kants Abhandlung für eine Begründung des Naturschönen. Soll dieses mehr sein als eine bloße Analogie zu einem Kunstwerk, soll es mehr sein als eine Erinnerung an die Formvollendung eines Artefakts, mehr als ein vages, zufälliges Imitat des vom Menschen Gemachten, dann muss es sich in der Natur selbst aufweisen lassen. Und eben das leistet Kants Erörterung. Man kann ihr entnehmen, dass nur unter der Voraussetzung einer Zweckmäßigkeit der Natur das Schöne in ihr Bestand hat. Die Untersuchung setzt ein bei einem ganz unmittelbaren Eindruck. Wem ein Naturgegenstand als schön erscheint, ein Baum etwa oder eine ganze Landschaft, der hat das Empfinden, dass er sich ihm zuwendet, dass er ihn anspricht, er meint sogar, dass er es darauf abgesehen hat, in der menschlichen Seele eine Resonanz auszulösen. Dieses Bewusstsein stellt sich mit dem Wahrnehmen der Schönheit ein, es gehört zu dem Wohlgefallen, dass sie hervorruft. Man kann sich dem Eindruck gar nicht entziehen, dass die Natur mit dem Schönen ein Ziel verfolgt, das, die menschliche Seele zu affizieren. Sie bewegt den Menschen, fordert seine Gedanken und Gefühle heraus. Noch vor aller Reflexion begegnet einem hier das Absichtsvolle in der Natur. Es legt den Gedan20 Auf diese Anlage der Kritik der Urteilskraft verweist völlig zu Recht Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960; vgl. vor allem a.a.O., S. 51.
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ken nahe, dass es ein Verhältnis der Entsprechung zwischen der Natur und dem menschlichen Geist gibt. Und seine Fähigkeit, sich Ziele zu setzen, findet er in der Natur wieder. Es handelt sich dabei um eine bestimmte Form der Zweckmäßigkeit, einer „Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen“.21 Diese Beziehung des schönen, natürlichen Gegenstandes auf das Subjekt hat aber zur Voraussetzung, dass dieser in sich selbst teleologisch ist, dass er eine Analogie aufweist zu einem Produkt des menschlichen Herstellens. Dass sich aber die Natur zu Gestalten organisiert, die einen bestimmten Ausdruck haben, dass sie eine „Chiffreschrift“ hervorbringt, „wodurch sie in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht“,22 das zeigt sich vor allem am Lebendigen. Aber nicht nur an ihm, auch im Anorganischen beweist sich die formbildende Kraft der Natur. Kants Kardinalbeispiel ist die Kristallisation. Auch solchen Erscheinungen muss man eine Finalität unterstellen, also den Plan einer strukturellen Geschlossenheit, der auf die Lage, die Beschaffenheit und die Funktion einzelner Elemente einwirkt, so wie es vorhin schon beschrieben wurde. Die Einsicht in die Zweckmäßigkeit, in die Bezogenheit der Teile auf ein Ganzes, kann bei der ästhetischen Betrachtung auf verschiedenen Integrationsniveaus erfolgen. Am Beispiel des Gebirgssees: Es können zunächst die sinnlichen Elemente zu einer einheitlichen Gestalt verbunden werden. Die Auffassung, dass sie sich zusammenschließen, um einer Stimmung Ausdruck zu verleihen, wäre eine Zweckmäßigkeit auf einer höheren Ebene. Wer von Absichten in der Natur redet, von Zielsetzungen und Plänen, der gerät in den Verdacht, dass er die Natur vermenschlicht. Er unterstellt ihr seelische Regungen, die aus der Sphäre des menschlichen Handelns auf sie übertragen werden. Deswegen hatte Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Teleologie eliminiert. Sie tauge nicht dazu, Naturprozesse zu erklären. Er stellt sich damit auf den Standpunkt der exakten Wissenschaft 1ewtonscher Prägung. Diese versteht sich als Ursachenforschung. Naturerkenntnis bedeutet, die Kräfte und Faktoren, die einen Zustand herbeiführen, zu isolieren und numerisch zu erfassen. Der Begriff ‚Ursache‘ beschränkt sich hier aber auf einen bestimmten Typus, auf den der ‚causa efficiens‘, der ‚Wirkursache‘. Als Grund kann nur ein Agens akzeptiert werden, das einen Ablauf initiiert, bei dem auf einen früheren Zustand notwendig ein späterer folgt, ganz so, wie ein Stoß ursächlich ist für die Ortsveränderung eines Körpers. Bei dieser Erklärungsweise sind alle anderen Arten von Ursachen ausgeschlossen, von denen die Philosophie unter Berufung auf Aristoteles 21 K.d.U., V, S. 182 (Einl. V.). 22 Ebd., V, S. 301 (§42).
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mindestens vier kannte. Neben der ‚causa efficiens‘ ist das die ‚causa materialis‘ oder die stoffliche Ursache, die ‚causa formalis‘ oder die Ursache für die Gestalt und schließlich die ‚causa finalis‘, die Endursache, der Zweck. Letztere ist neben der Wirkursache die bei weitem wichtigste Kategorie. Sie stellt allerdings für die neuzeitliche Wissenschaft eine Zumutung dar, denn sie behauptet nichts Geringeres als dies, dass eine vorauslaufende Vorstellung einer Sache, ursächlich sei für deren Realisation, dass, mit den Worten Kants, ‚Zweck‘ definiert ist als „der Begriff von einem Object, sofern er zugleich den Grund für die Wirklichkeit dieses Objects enthält“.23 Die Finalität zu rehabilitieren, nötigten Kant gleich mehrere Probleme. Dazu zählt die Frage nach der Erkenntnis des Besonderen und Einzelnen, nach der unaufhebbaren „Mannigfaltigkeit“ der Natur, die sich nicht aus den allgemeinen Gesetzen der Materie, die die Physik herausstellt, ableiten lässt. Die Natur gliedert sich auf in unzählige Gattungen und Arten, von einem „Gesetz der Specification“ redet Kant.24 Beizukommen ist der Diversifizierung nur unter der Annahme eines ‚sytema naturae‘, unter der Voraussetzung, dass die Natur eine Einheit bildet, in der jedes seinen Platz und seine Aufgabe erfüllt. Der Blick auf das Ganze eröffnet die Einsicht in die Beschaffenheit des Besonderen. Eine weitere Frage ist die nach dem Wesen des einzelnen Organismus. Auch was ihn betrifft, kommt man ohne den Gedanken der Finalität nicht weiter. Dessen Teile sind, wie gezeigt, immer auf ein Ganzes bezogen. Dieses muss daher schon vor den einzelnen Bestandstücken da sein. Andererseits ist aber die Ganzheit nicht ohne die Glieder. Diese sind konstitutiv für sie. Und nur deren spezifische Beschaffenheit, ihre Besonderheit garantiert, dass sie ihren Beitrag für den Aufbau und den Erhalt des Lebewesens leisten können. Was am Organischen so klar hervortritt, ist dessen Zweckmäßigkeit. Unabweislich erweckt es den Eindruck, es richte sich nach einem vorgebenen Muster. Ohne diese Annahme bleiben die Vorgänge in der organischen Welt unverstanden. Sie erklären sich nur von ihrem Ende her, daher, dass das Lebewesen einer Bestimmung zustrebt, die seine Form und Entwicklung, die Ausbildung der Teile und deren Zusammenwirken festlegt. Zur Veranschaulichung braucht man sich nur das Austreiben einer Pflanze vorzustellen. Wurzeln, Blätter, Blüten stehen im genauen Rapport zueinander, und was aus der Pflanze wird, folgt einem ihr eingegebenen Ziel. Kant sieht sich also gezwungen, die kausalmechanische Auffassung durch eine teleologische zu ergänzen. Er reduziert den Naturbegriff nicht, wie das oft behauptet wird, auf die Gesetze einer transzen23 A.a.O. V, S. 180 (Einl. IV.). 24 Ebd., S. 186 (Einl. V.).
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dental begründeten, mechanistischen Physik, sondern erweitert ihn um den Aspekt des Lebendigen.25 Und die Kritik der Urteilskraft behandelt eine Seite der Natur, die in der Kritik der reinen Vernunft nicht berücksichtigt worden war. Die Bedeutung dieses Unternehmens liegt darin, dass Kant nicht in irgendwelche Mystizismen und haltlose Spekulationen verfällt. Ihm ist allein darum zu tun, den Phänomenen gerecht zu werden. Im Verfolg dieser Absicht kommt er auf mehrere Formen der Zweckmäßigkeit, von denen eine die ‚ästhetische‘ ist.26 Die Zielgerichtetheit der Natur gibt es nur unter einer Bedingung, unter der, dass sie selbst als Subjekt begriffen wird.27 Sie wäre dann mehr als ein materielles Substrat, sie wäre selbst ein handelndes, das heißt geistiges Wesen. Soll das nicht nur eine metaphorische Rede sein, so muss man zumindest angeben können, wie das zu denken ist, und dieser Aufgabe hat sich Kant gestellt. Dass der Organismus zweckhaft ist, berechtigt noch nicht, ihn nach dem Vorbild des menschlichen Handelns aufzufassen. Denn es ist keine geistige Instanz auszumachen, nach deren Plan er gefertigt wäre, es sei denn, man rechnet mit einer göttlichen Urheberschaft. Der Organismus wird nicht von außen gelenkt, nicht von einem besonderen Prinzip. Er muss aus der Natur erklärbar sein. Und es gilt, zwei Eigenschaften zusammenzudenken, die sich nach der herkömmlichen Meinung ausschließen: Naturhaftes und Geistiges, Kausalität und Finalität. Dafür gebraucht Kant den Begriff „Naturzweck“. Er definiert ihn als ein „Ding“, das „von sich selbst Ursache und Wirkung ist“. Eine zweite Formulierung lautet, dass dieses Ding „sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und Wirkung verhalten muss“.28 Um die Ausdrücke zu erläutern, muss noch einmal auf den Begriff der ‚causa efficiens‘ rekurriert werden. Wenn A Wirkursache von B ist, ist dieses Verhältnis streng linear ausgelegt. Die Reihenfolge von A zu B lässt sich nicht umkehren. So will es aber der zweite Ausdruck. Das Spätere, die Wirkung, wird Grund für das ihm Vorausliegende. Dabei kann es sich nur um die finale Kausalität handeln. Es greifen also zwei Ursachen ineinander. Wie der Prozess vom Ende her ausgerichtet ist, so wird er vom Anfang her, Stück für Stück aufgebaut. ‚Wechselseitig‘, das heißt, dass B Ursache, nämlich Endursache, von A, und A Ursache, nämlich Wirkursache, von B ist. 25 Das betonen besonders Robert Spaemann und Reinhard Löw; vgl. Die Frage wozu ? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, 3. Aufl., München – Zürich 1985, S. 124f. 26 Spaemann/Löw kommen auf fünf Formen der Zweckmäßigkeit (vgl. ebd., S 126 ff), Jens Kulenkampf nur auf vier (vgl. Kants Logik des ästhetischen Urteils, Frankfurt/M. 1978, S. 41ff); darauf braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden. 27 Das ist verschiedentlich behauptet worden, ohne allerdings nähere Ausführungen dazu zu machen; so auch Zimmermann; in: Zimmermann, a.a.O., S. 136. 28 A.a.O., V, S. 370, S. 372 (§ 64).
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Die erste Definition des Naturzwecks sagt Ähnliches, verweist aber auf einen anderen Aspekt. Hier liegt die Betonung auf „sich selbst“. Der Naturgegenstand bringt sich selbst hervor, er ist sein eigener Entwurf. Die Formulierung richtet sich also darauf, Vorstellungen abzuweisen, die Ursprung und Zweck des Organismus außerhalb seiner selbst suchen. Wobei ‚von außen‘ einmal heißen kann, dass man versucht, die Entstehung eines komplexen Gebildes aus dem Zusammentreffen von Materieteilen zu beschreiben und das andere Mal, dass man eine geistige Instanz hypostasiert, die den Aufbauprozess steuert. Ein planvoll angelegtes Wesen kann aber nicht aus dem zufälligen Zusammentreffen irgendwelcher Stoffe hervorgehen, ebenso wenig wie es als Produkt der Natur das Werk einer supranaturalen Intelligenz sein kann. Um seine abstrakten, begrifflichen Bestimmungen zu erläutern, vergleicht Kant den Organismus mit einer Maschine, mit einem „Produkt der Kunst“. Sein Beispiel ist eine Uhr. In ihrem Inneren befinden sich ineinandergreifende Zahnräder, Federn und Wellen. Für sich genommen ist jedes Stück sinnlos, es ist nur etwas im Verein mit den anderen. Alle Einzelteile fügen sich in einen Rahmen, und sie passen zueinander. Position, Form und Wirkweise eines jeden wird bestimmt durch die vorgegebene Einheit und durch die anderen Teile, wie es selbst umgekehrt auf das Ganze und die übrigen Elemente einwirkt. Bei Kant heißt es: „In einem solchen Producte…wird ein jeder Theil so, wie er nur durch alle übrigen da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend gedacht.“29 Über den Ähnlichkeiten eines Organismus mit einer Maschine dürfen aber die entscheidenden Unterschiede nicht übersehen werden. Bei ihm ist man genötigt, nicht von Organisation, sondern von Selbstorganisation im Sinne einer Selbsterschaffung zu sprechen. Ein ‚Naturzweck‘, ein lebendiges Individuum ist ein „sich selbst organisierendes Wesen“.30 In einer Maschine sind zwar alle Komponenten füreinander und für das Ganze da, aber sie bringen sich nicht selbst hervor. Das technische Gerät hat nur „bewegende“, nicht dagegen „bildende“ Kraft, erklärt Kant. Das Artefakt existiert nur aus zweiter Hand. Seine Existenz und seine Funktionstüchtigkeit verdankt es einem fremden „Künstler“. Wie es sich nicht selbst geschaffen hat, so kann es auch nicht Fehler ausgleichen und schadhafte Teile ersetzen. Über diese Leistungen verfügt aber das lebende System, und der Vergleich mit einer Maschine ist nur dann hilfreich, wenn man dadurch erkennt, worin sich die biotischen Organisationen von allen noch so komplexen künstlichen Systemen unterscheiden. 29 Ebd., V, S. 373 (§ 65). 30 Ebd., V, S. 374 (§ 65).
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Neben der wechselseitigen Bezogenheit der Teile und des Ganzen aufeinander besitzt demnach das lebendige Individuum ein zweites Wesenmerkmal, das der ‚Selbstorganisation‘ oder der ‚Selbsterschaffung‘. Davon kann man in dreifacher Hinsicht reden, was Kant am Beispiel eines Baumes erläutert. Ein Baum stammt wieder von einem Baum ab. Er kann demnach Wesen seinesgleichen generieren. Fortpflanzung ist die erste Erscheinungsweise der Selbsterzeugung. Der Baum macht eine bestimmte Entwicklung vom Samen zum ausgereiften Exemplar durch. Wachstum wäre die zweite Ausprägung der Selbsterzeugung. Der Baum vermag Verletzungen, Verstümmelungen und den Verlust von Teilen auszugleichen. In der Erneuerung liegt die dritte Betätigung der Selbsterzeugung. Mit den biologischen Fachtermini sind es die Reproduktion, die Ontogenese und die Regeneration, in denen sich das realisiert, was unter den Begriff der Autopoiese (Selbsterschaffung) Gegenstand heutiger Wissenschaft geworden ist.31 Das Schöne, das auf dem Gleichklang von Verstand und Sinnlichkeit basiert, findet ein objektives Korrelat in der Natur. Das zeigt sich aber nur einem Naturbegriff, der eine Theorie des Organischen, der die Seite der Natur, nach der sie Leben, Zweck, Form ist, in sich aufgenommen hat; eben das belegt Kants dritte Kritik in so eindringlicher Weise. Allerdings behauptet Kant nicht, dass die Wirklichkeit selbst eine teleologische Struktur aufwiese. Er spricht diesbezüglich nur von einem „regulativen Prinzip“, worunter er eine Annahme versteht, die uns von der Erfahrung aufgenötigt wird. Ohne die Vorstellung einer durchgängigen Zweckmäßigkeit bleibt die Welt des Lebendigen ganz unverständlich. Was nun die Behandlung des Schönen selbst anlangt, so muss noch einmal darauf Bezug genommen werden, dass Kant dem Naturschönen den Vorzug vor dem Kunstschönen gibt Er begründet das damit, dass sich das ‚uninteressierte Wohlgefallen‘ bei einer Naturerscheinung eher einstellt als bei einem Kunstwerk. Denn dieses will zumeist mehr als nur ästhetischen Erfordernissen Genüge tun. Es nimmt auch einen moralischen Standpunkt ein, propagiert politische, soziale und religiöse Überzeugungen, oder es will einfach nur „rühren“ oder es richtet sich auch nach praktischen Erwägungen wie ein Bauwerk. Nun kann sich dergleichen mit dem Schönen durchaus verbinden, aber in den Fällen, in denen dass Kunstwerk hauptsächlich das Nachdenken herausfordert 31 Bloß hingewiesen werden soll hier auf die Arbeiten von Humberto R. Maturana, in denen ‚Autopoiese‘ eine zentrale Kategorie ist (vgl. z.B. Erkennen, a.a.O.); in der Philosophie hat zuvor Helmuth Plessner ähnliche Vorstellungen entwickelt (vgl. Die Stufen des Organischen, a.a.O., S. 105 ff); in der heutigen Biologie wird längst wieder mit teleologische Vorstellungen operiert (vgl. z.B. Rupert Riedl, Biologie der Erkenntnis, Berlin/Hamburg 1981).
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oder eine gefühlsmäßige Erschütterung bewirkt oder auch einem Bedürfnis des Dasein nachkommt, erscheint die Schönheit nicht „rein“, sie ist nur „anhängend“. Um sie selbst zu erfassen, muss man alle anderen Hinsichten beiseite setzen. Es verhält sich damit so, wie mit der Beurteilung eines Gebrauchsgegenstandes. Auch dessen ästhetische Qualitäten erkennt man erst, wenn man von seinem Nutzen und seiner gewöhnlichen Verwendung absieht. Kants Lehre von der „freien und anhängenden Schönheit“ birgt jedoch eine Gefahr für die Kunst in sich, denn sie scheint für einen inhaltsleeren Formalismus zu plädieren. Die reine Schönheit, die gleichgültig ist gegen das, was die Menschen beschäftigt, die losgelöst ist von den Fragen des Lebens, ist nichts als ein unverbindliches Spiel mit formalen Möglichkeiten. Die pure Wohlgestalt ohne Bezug auf die die Menschen bewegenden Gedanken und Gefühle ist eben deshalb auch hohl und vermag nicht, für sich einzunehmen. Zwar versteht man Kants Bestreben, das Geschmacksurteil abzugrenzen von Urteilen, die ganz andere Motive haben. Aber es kommt eben doch zu Formulierungen wie diesen, dass das Schöne „eigentlich bloß die Form betreffen sollte“ oder dass das Geschmacksurteil „bloß die Zweckmäßigkeit der Form zum Bestimmungsgrund hat“.32 Mag auch die Lehre von der „freien und anhängenden Schönheit“ für die Kunst fatal sein, am Naturschönen trifft sie etwas, das zu seinem Wesen gehört. Es ist gerade die inhaltliche Unbestimmtheit der Naturerscheinungen, dies, dass sie nicht okkupiert sind von menschlichen Zwecken und Nutzbarkeitserwägungen, was ihre Attraktion ausmacht. Sie bleiben geheimnisvoll und entziehen sich dem direkten Zugriff, und das trägt nicht unbeträchtlich zu ihrem Reiz bei. In einer von Zwecken beherrschten Welt, in der Dinge wie Menschen kategorisiert und eingeordnet sind, entziehen sich allein die Naturgestalten der Vereinnahmung. Eine Blume oder eine Landschaft sagen einem nicht, was man fühlen und denken soll. Sie wenden sich einem zu, aber was sie mitzuteilen haben, bleibt doch rätselhaft. So laden sie ein zur Meditation, zur Reflexion, um Kants Ausdruck zu gebrauchen. Das Naturschöne berührt ganz unmittelbar und fordert doch auch das Nachdenken heraus. An ihm nimmt der ganze Mensch, nehmen Herz und Verstand Anteil. Und weil es nicht fremde Eingebungen sind, weil es nicht geliehene seelische Regungen sind, die uns bewegen, sind wir ganz bei uns. Die Natur führt uns zu uns selbst. Eben darin besteht das Naturerlebnis, das Jean Paul in so grandioser Weise schildert. Und weil die Naturschön32 A.a.O., V, S. 223 ( § 13). Vgl. zur Problematik der Lehre von der freien und anhängenden Schönheit Gadamer, a.a.O., S. 42 f; Kant selbst handelt darüber insbesondere im § 16, S. 229 ff; den Vorzug des Naturschönen stellt insbesondere der § 42, S. 298 ff heraus. Auf die Gefahr des Formalismus weist Norbert Schneider hin, Geschichte der Ästhetik, a.a.O., S. 53f.
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heit nicht einseitig die Sinne erregt oder gar die Begierden aufstachelt, sondern sich auch an den Geist richtet, fördert sie nach Kants Meinung auch die Sittlichkeit. In der „Unbestimmtheit“ liegt für Hegel gerade die Inferiorität des Naturschönen gegenüber dem Kunstschönen. Denn das Schöne besteht in der Durchdringung des Geistigen und des Stofflichen, ist „das sinnliche Scheinen der Idee“, und das ist im Naturgebilde nur unzulänglich erreicht. Allenfalls die Ahnung eines geistigen Gehalts, eines Gedankens oder eines Sinnes ist in ihm vorhanden. Es hat sich nicht zu einer bestimmten Aussage verdichtet und bleibt daher „abstrakt“. „Denn die Kunstschönheit ist die aus dem Geiste geborene und wiedergeborene Schönheit, und um soviel der Geist und seine Produktionen höher steht als die Natur und ihre Erscheinungen, um soviel ist auch das Kunstschöne höher als das Naturschöne.“33 Hegels Diktum war mit ein Grund dafür, dass die Ästhetik sich nahezu ausschließlich als Theorie der Kunst verstand. Das Naturschöne wurde darin, wenn überhaupt, nur am Rande behandelt. Auch Adorno nimmt die „Unbestimmtheit“ auf. Aber sie veranlasst ihn dazu, dem Naturschönen wieder einen Platz in der Ästhetik einzuräumen. In einer scharfen Polemik wendet er sich dabei gegen Hegel. Das Naturschöne hat den Charakter des „Enigmatischen“, und das verleiht ihm eine Überlegenheit über das bloß „Gemachte“. Letzteres ist festgelegt und hat eine eindeutige Bestimmung. Es bindet damit auch den, der sich damit befasst. Im Unterschied dazu sperrt sich das Naturschöne gegen die herrschenden Tendenzen der Rationalisierung und Instrumentalisierung. Wie das Schöne überhaupt entzieht es sich der Verfügbarkeit und stellt so ein Korrektiv zur gesellschaftlichen Praxis dar. Es enthält ein Versprechen auf Freiheit und Selbstbestimmtheit.34 Kaum erwähnt zu werden braucht, dass auf dem Hintergrund der Umweltdebatte die Wiederentdeckung des Naturschönen höchst aktuell ist. In der Poesie spricht und singt die Natur. Das ist aber nicht allein der Phantasie der Dichter zuzuschreiben, auch nicht Resten eines animistischen Aberglaubens. Der ästhetischen Erfahrung zeigt sich, dass die Natur noch anderes ist als das Material menschlichen Tuns und das Objekt theoretischer Erkenntnis. Sie muss ebenso als Subjekt begriffen werden, und neben die wissenschaftliche Natur der neutralen Fakten rückt die lebensweltliche der subjektbezogenen Bedeutungen. Danach redet die Natur, sie ergreift einen und versetzt einen in eine Stimmung. Das ist schon in Kants teleologischen Ansatz angelegt, und diesen ent33 Zitate in Ästhetik, a.a.O., I, S. 135, 117, 14. 34 Vgl. Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 112. Zur Bedeutung Adornos für eine gegenwärtige Naturästhetik vgl. Gernot Böhme, Für eine ökologische 1aturästhetik, a.a.O., S. 14ff.
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wickelt das Denken der klassisch-romantischen Epoche weiter. Natur, das heißt nach Schelling „Subjekt“, heißt „Produktivität“ und „Selbstorganisation“. Er formuliert nur eine Auffassung, die auch die Zeitgenossen, die Herder, Goethe, Hegel und 1ovalis teilen. Mit Begriffen wie „System“, „unendliche Tätigkeit“, „Prozessualität“, „Leben“ wollen sie das Wesen der Natur wiedergeben. Dafür, dass diese selbsttätig ist, dass sie formgebend wirkt und gestaltende Kraft hat, gibt es genügend Anhaltspunkte, nicht nur im Bereich des Organischen. Auch das Abiotische ist keine amorphe Masse; es ist strukturiert und weist figurative Muster auf. Schelling führt die „Regelmäßigkeit“, das „Geometrische“ an, das schon in den Gesteinsbildungen zu finden ist. Für ihn ein Beleg dafür, dass die Trennung zwischen Anorganischem und Organischem aufgehoben werden muss, wie auch die zwischen Form und Materie.35 Die Naturerscheinungen sind nicht zu begreifen nach dem Modell eines Dinges, an dem Eigenschaften haften oder eines materiellen Substrats, dem eine Form aufgeprägt wurde. Vielmehr entfaltet sich die Erscheinung aus sich heraus und gibt sich selbst ein differenziertes Dasein. Man kann also sagen, dass die Naturdinge sich auslegen, dass sie sich zeigen. Sie sind Artikulationen eines Inneren. Und damit teilen sie sich ihrer Umgebung mit. Allerdings in sehr unterschiedlicher Weise, im Bereich des Biologischen anders als in dem der geologischen Formationen. Hegel leitet aus der Grundvorstellung, dass die Gestalt eine Äußerung, das Hervortreten eines Inneren – Geist sagt er dazu – ist, eine Stufenordnung des Naturschönen ab. Er unterscheidet drei „Naturreiche“: das „Mineral-, Pflanzen- und Tierreich“. Im modernen Sprachgebrauch könnte man sagen, dass diese Bereiche sich nach ihrer Organisationshöhe voneinander unterscheiden. Im ersten, bei den Kristallen z.B., ist die Einheit des Gebildes nur eine äußerliche. Sie wird erreicht durch die einfache Aneinanderreihung der gleichen Elemente. Das Gebilde besitzt eine abstrakte Regelmäßigkeit, wie sie bei der Wiederholung identischer geometrischer Figuren entsteht. Anders tritt die Einheit beim Organismus in Erscheinung. Hier sind es sehr unterschiedliche Glieder, in die sich dieser auseinanderlegt. Und doch stimmen sie auch wieder zusammen, sie greifen ineinander und ergänzen sich. Es bildet sich eine Harmonie in der Vielfalt, die getragen wird von einem Inneren, von einem gemeinschaftlichen Willen gewissermaßen. In der Anordnung der Glieder und in ihrem Zusammenspiel kommt der Lebenszweck des Organismus zu einem komplexen Ausdruck. Gegenüber der Pflanze ist das beim Tier noch gesteigert, denn nicht nur sein Aussehen, 35 Schelling entwickelt diese Gedanken schon in den frühen Konzeptionen der Naturphilosophie. Zitate aus: Schriften von 1799 – 1801, Darmstadt 1975, S. 268 ff, 91; Schriften von 1794–1798, Darmstadt 1975, S. 368.
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auch seine Bewegungen sind Bekundungen eines Inneren. Sie sind Expressionen des Seelischen, in ihnen drücken sich Empfindungen aus. Schon allein das Gewahren des Zweckmäßigen und des Harmonischen einer Gestalt erweckt den Eindruck der Schönheit. Dieser ist aber ungleich stärker, wenn „die Naturschönheit durch Erregen der Stimmungen des Gemüts und durch Zusammenstimmen mit denselben“ auf uns wirkt. So sind für uns Tiere schön, „die einen Seelenausdruck zeigen, der mit menschlichen Eigenschaften einen Zusammenklang hat, wie Mut, Stärke, List, Gutmütigkeit usf.“36 Naturgestalten, bei denen sich eine Entsprechung zwischen ihnen und unserem Empfinden nicht einstellen will, erscheinen uns hässlich oder bizarr. Hegel führt dazu eine Reihe von Beispielen an, unter anderem Kakteen, Kröten und Krokodile. Er fügt aber hinzu, dass solche Urteile auch immer eine Frage der „Gewohnheit“ seien, also der Vertrautheit mit diesen Lebewesen. Das Naturschöne insgesamt wird aber, wie schon gesagt, von ihm geringer eingeschätzt als das Kunstschöne. Man darf nun nicht annehmen, dass solche Vorstellungen einfach überholt sind. Sie bringen nur eine bestimmte Naturerfahrung auf den Begriff. Wohl geschieht das mit den Mitteln des idealistischen Denkens, aber auch eine neuere Ästhetik muss daran anknüpfen. Sie muss die Dimension des „Sich-Präsentierens in den Dingbegriff aufnehmen“.37 Die Eigenschaften der Dinge sind danach als Ekstasen, als Heraustreten aus sich zu verstehen. Sie sind Expressionen, mit denen sich die Dinge in Beziehung setzen zu ihrer Umwelt. Dabei kann auf Ergebnisse der Wissenschaften zurückgegriffen werden. Einmal ist es so, dass Schellings spektakuläre Aufhebung der Trennung zwischen Anorganischem und Organischem von der empirischen Forschung bestätigt wird.38 Und dann hat die biologische Verhaltensforschung etwas entwickelt, das man als Ausdruckslehre der Natur bezeichnen kann. Daraus ergeben sich Erkenntnisse für das Naturschöne. Ausdruck ist ein essentieller Bestandteil des Vitalen. Der Organismus empfängt und versendet Botschaften. Damit setzt er sich ins Benehmen mit seiner Umwelt. Dabei handelt es sich aber nicht um einen luxurierenden Annex. Dergleichen steht im Dienst der Lebenserhaltung. Wie sich der Organismus, um bestehen zu können, gegen das Äußere abgrenzen und sich vor ihm schützen muss, so muss er auch umgekehrt sich diesem wieder öffnen und im Kontakt mit ihm stehen. Die Wahrnehmung verschafft dem Lebewesen eine Orientierung in seiner Welt. Sie sagt ihm, was ihm förderlich und abträglich ist. So bekommt das, 36 A.a.O., I, S. 134, 136. 37 So formuliert es Gernot Böhme, a.a.O., S. 52. 38 Nähere Erläuterungen bei Stephen Toulmin, Voraussicht und Verstehen, Frankfurt/M. 1968, S. 95.
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was ihm begegnet, eine Bedeutung. Aber es seinerseits muss seiner Umgebung zu verstehen geben, wie es um ihn bestellt ist. Das richtet sich sowohl an die Artgenossen wie auch an die außerartliche Umwelt. Wahrnehmung und Selbstpräsentation sind demnach gleichermaßen lebenswichtige Vollzüge. Die Blume hat nicht nur Sensorien entwickelt, die ihr eine Reaktion auf äußere Reize ermöglichen, sie erzeugt auch Farben und Düfte, mit denen sie die sie bestäubenden Insekten anlockt. „Die zwei obersten Kennzeichen des Lebendigen“ seien „Innerlichkeit des Welterlebens und Selbstdarstellung in der Gestalt“, sagt der Biologe Adolf Portmann.39 Unter den Wahrnehmungen der Tiere sind solche, die ein festes Verhaltenprogramm abrufen. Die ‚biologischen Auslöser‘, so der Fachterminus, wirken dahin, dass ein Tier auf eine bestimmte Konstellation in seiner Umwelt angemessen reagieren kann. Diese Reaktionsmuster brauchen nicht erlernt zu werden. Sie sind angeboren und werden als ‚Instinkthandlungen‘ bezeichnet. Hühnerküken beispielsweise brauchen nicht erst aus der Erfahrung zu lernen, was ein Habicht ist. Sie haben dessen Bild im Kopf, wie es ein Forscher formuliert hat. Das haben Versuche mit isoliert aufgezogenen Küken bewiesen. Die für ihre Art typische Fluchtreaktion erfolgte auch dann, wenn man ihnen nur Attrappen vorhielt. Diese mussten nur die markanten Merkmale des Greifvogels aufweisen. Dabei stellte sich heraus, dass auch stark vereinfachte Schemata des Flugbildes von Habichten dieselbe Wirkung hatten. Und hier zeigt sich schon eine bemerkenswerte Leistung auch der tierischen Wahrnehmung. Sie kann auf das Typische reduzierte Muster identifizieren. Sie vollbringt eine Abstraktionsleistung. Die ‚Schlüsselreize‘, wie sie auch genannt werden, sind zu Signalen verdichtete Wahrnehmungsfiguren. Wie Konrad Lorenz extrapoliert hat, müssen sie die Bedingungen der „Prägnanz und Einfachheit“ erfüllen. Und an anderer Stelle spricht er von der „Vereinigung möglichster Einfachheit mit möglichster genereller Unwahrscheinlichkeit“.40 Um als Zeichen erkannt zu werden, muss sich etwas abheben von seiner Umgebung, es muss auffällig, frappant sein; es muss den Kriterien der Prägnanz genügen, zu denen eine klare Gliederung und der Zusammenschluss der Elemente zu einer Gestalt gehört. In allen Funktionskreisen, in dem des Schutzes vor Feinden, des Nahrungserwerbs, der Fortpflanzung, der Brutpflege, der sozialen Rangordnung, stößt das Tier auf Schlüsselreize. Es erkennt Schemata und charakteristische Figurationen und kann sein Verhalten darauf einstellen. Es gewahrt, welche Bedeutung eine Gegebenheit für es hat. 39 Vom Lebendigen, Frankfurt/M. 1979, S. 68f. 40 Wirkungsgefüge, a.a.O., S. 118, 157.
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Und wie sich ihm die Umwelt mitteilt, so teilt auch es sich ihr mit. Es seinerseits gibt den Artgenossen und der außerartlichen Umwelt Zeichen. Das auf zweierlei Weise, durch körperliche Strukturen und durch Verhaltensweisen. Der Federschmuck, das Prachtkleid, die Fellzeichnungen, die vielfältigen Muster, Streifen, Farbflecke, die Gehörne, Kämme, Hautsäcke, Mähnen, sie alle übermitteln Botschaften. Sie sagen etwas über das Geschlecht, das Alter, die Gestimmtheit, den sozialen Rang des Trägers. Im Verhalten tritt die Zeichengebung am deutlichsten bei den Bewegungen hervor, die die Merkmale der ‚Ritualisation‘ aufweisen. Darunter versteht die Verhaltensforschung die Umdeutung bestimmter Handlungen. Diese verlieren ihren ursprünglichen Zweck und werden als Verständigungsmittel eingesetzt. Sie erlangen den Status von ‚Symbolhandlungen‘. Das Flügelputzen der Erpel einiger Entenarten führt Konrad Lorenz als Beispiel an. In einer gewissen Weise vorgenommen, dient es nicht mehr der Pflege des Gefieders, sondern ist Teil der Balz. Damit eine Bewegung als Zeichen erkennbar wird, muss sie, Lorenz zufolge, vier Charakteristika aufweisen: „Mimische Übertreibung“, „Redundanz“, „typische Intensität“ und „Gerichtetheit“. Die Verrichtung muss also überbetont und wiederholt werden, sie darf nicht in Andeutungen stecken bleiben und sie muss sich an einen Empfänger wenden.41 Das ist bei menschlichen Gesten nicht anders. Das Heranwinken einer etwas entfernt stehenden Person besitzt die gleichen Auffälligkeiten. Aber nicht nur optische Signale, auch Laute und Tonfolgen, dann Gerüche und die chemische Übertragung (Chemotaxe) werden für die Kommunikation eingesetzt.42 Auch hierbei ist, wie im Bereich des Sichtbaren, eine klare Formgebung unabdingbar. Man braucht nur an die ‚Melodien‘ unserer Singvögel zu denken. Die wenigen Hinweise auf die Schlüsselreize und auf die Ritualisation belegen zur Genüge, dass die kommunikative Beziehung ein essentieller Bestandteil der Natur ist. Attraktion und Repulsion, Anziehung und Abstoßung werden durch Zeichen und als Zeichen aufgefasste Bildungen vermittelt. Formen und Farben, geometrische Figuren und stereometrische Muster, Töne und Klangfolgen, Gerüche, typisierte Bewegungen, Tänze und Rhythmen stiften Relationen. Und von dieser Seite betrachtet ist die Natur ein sympathetischer Zusammenhang. Die Sache ist also die, dass die Gestaltbildung und die Gestaltwahrnehmung ein fundamentaler Vorgang in der Natur ist. Unter ‚Gestalt‘ ist eine „strukturierte Einheit“ gefasst, die mehr ist als eine „additive Häufung“ 41 Vgl. a.a.O., S. 156–158. 42 Durch viele Beispiele gibt Irenäus Eibl-Eibesfeldt eine Vorstellung von der außerordentlichen Vielfalt der Ausdruckbewegungen; vgl. Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung, 6. Aufl., München 1980, S. 99ff.
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einzelner Elemente; dazu gehört die Geschlossenheit des Gebildes wie auch dessen „gesetzmäßiger Aufbau“, der es als „geordnet“ und „harmonisch“ erscheinen lässt, im Unterschied zu bloßen „Zufallsverteilungen“.43 Erscheinungen, die diese Eigenschaften aufweisen, hinterlassen beim Menschen unabweislich den Eindruck der Schönheit. „Dass dies überhaupt möglich ist, setzt die Wirksamkeit gewisser ästhetischer Prinzipien in der Gestaltung der Dinge und Ereignisse in der außermenschlichen Natur voraus.“44 Ob man bei der Natur von ‚ästhetischen Prinzipien‘ sprechen darf, sei einmal dahingestellt. Eins ist aber gewiss, der Mensch fühlt sich von ihrer Formgebung angezogen. Dies aus einem sehr simplen Grund. Auch er ist ein Naturwesen. Allerdings ist dieser Zusammenhang dadurch verstellt, dass er in einer durch die Zivilisation geprägten Umgebung lebt, so dass die Bezogenheit auf die Natur nicht mehr unmittelbar spürbar ist. Das soll nicht heißen, dass es irgendwelche Unzivilisierte gibt oder gegeben hat, deren Dasein die physischen Gegebenheiten ihres Terrains determiniert hätten. Anders als die meisten Tiere ist der Mensch in seiner Wahrnehmung und in seinem Verhalten nicht an ein begrenztes Habitat angepasst. Sein Lebensraum ist nicht eine begrenzte ‚Umwelt‘, sondern die ‚Welt‘.45 Seine Reaktionen auf die natürlichen Bedingungen erfolgen nicht instinktiv oder erblich programmiert. Er muss sich sein Verhältnis zur Welt zurechtlegen. Man kann auch sagen, dass über die Qualität eines Gegenstandes nicht allein der sinnliche Eindruck und die emotionale Resonanz entscheiden, sondern immer auch das Urteil des Verstandes. Es ist demnach nicht von vorneherein festgelegt, was von einer Naturgestalt zu halten ist und wie man sich ihr gegenüber einzustellen hat. Kein Zweifel, der Mensch fühlt sich von bestimmten Dingen und Ereignissen in der Natur angesprochen, sie ziehen ihn an und sie scheinen ihn zu etwas aufzufordern. Ungewiss bleibt jedoch, was sie ihm bedeuten wollen. Für diese dem Menschen eigentümliche Beziehung zur natürlichen Umgebung hat Arnold Gehlen den Begriff „unbestimmte Verpflichtung“ geprägt.46 Wohlgemerkt, es geht jetzt nicht um den tätigen Zugriff auf die Dinge, um ihre Veränderung und Nutzbarmachung. Das wäre eine Sache der instrumentellen oder technischen Vernunft. Jetzt geht es darum, dass die Dinge sich herzeigen und eine Physiognomie haben. Und da ist die expressive Vernunft gefragt, die deren Bedeutung zu verstehen 43 Nach Wolfgang Metzger, Gestaltpsychologie, Frankfurt/M. 1986, S. 342f. 44 Ebd., S. 344. 45 Diese Unterscheidung geht auf Max Scheler zurück; sie ist aber Allgemeingut der Anthropologie geworden. 46 Vgl dazu das gleichnamige Kapitel in Urmensch und Spätkultur, 4. Aufl., Frankfurt/M. 1977, S. 136ff.
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sucht. Auch für den Menschen geht also von den Naturgestalten ein Appell aus, eben das ist mit „unbestimmter Verpflichtung“ gemeint. Nur kann er diesen nicht wie die Tiere mit einer darauf abgestimmten Bewegung beantworten. Wenigstens aber entstehen daraus der Wunsch und das Bedürfnis zu ergründen, welchen Sinn ein Gegenstand oder ein Ereignis für ihn hat. Das kann nicht durch Zergliedern und durch eine pure Faktenerhebung, also durch Verfahren der exakten Wissenschaft geschehen. Dazu muss eine Auslegung erfolgen, die sich auf die ‚Sprache‘ der Natur einlässt. Versuche, eine Ausdrucklehre der Natur zu entwerfen, sind auch durchgeführt worden. Der bemerkenswerteste ist der der Gartenkunst des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Sie unternahm es, einzelnen Elementen und Gruppierungen von Naturdingen bestimmte Gefühlswerte zuzuordnen, um sie dann in die Komposition eines Parks einzufügen. Lärchen und Trauerweiden wurden eingesetzt zur Erzeugung einer düsteren Stimmung. Durch die Zusammenstellung von bestimmten Baumarten und Gebüschen sollten ‚Haine‘ entstehen, die sich „würdevoll und majestätisch, zierlich und edel, melancholisch, mutig und lustvoll“ ausnahmen. Entsprechend verfuhr man mit dem Wasser, dem Rasen und anderen Versatzstücken.47 Ähnliche Versuche gab es in der Geographie. Da ging es darum, eine „Landschaftsphysiognomik“ oder eine „Ausdruckslehre der Landschaft“ zu entwickeln.48 Weit ist man damit aber nicht gekommen. Am überzeugendsten sind noch die Ausführungen Ratzels dazu, der sich aber weitgehend auf formale Gesichtspunkte beschränkt. Darauf wurde schon im vorigen Kapitel hingewiesen. Diese Unternehmungen sind nicht sonderliche befriedigend. Das liegt daran, dass der geistige Gehalt von Naturphänomenen sich kaum eindeutig angeben lässt. Damit ist man zurückverwiesen auf die Ästhetik Kants. Nach ihr beruht das Schöne nicht auf einem bloßen sinnlichen Reiz oder auf dem Gefühl körperlichen Behagens. Es geht hervor aus dem Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand. Und das, was zunächst nur unmittelbar berührt, muss zu Bewusstsein gebracht werden. Eben das ist die genuin menschliche Weise, sich von der Natur angehen zu lassen. Dabei ist eben nicht endgültig auszumachen, worin die Bedeutung einer Erscheinung besteht. Ihr Sinn bleibt in der Schwebe; sie wird ihre Rätselhaftigkeit nie ganz aufgeben, darin ist Adorno beizupflichten. Das Naturschöne fordert auf zur Kontemplation. Kants Ästhetik hat noch weitere Vorteile. Vor allem ist sie nicht normativ, sie schreibt nicht vor, welchen Kriterien der schöne Gegen47 Näheres bei Siegmar Gerndt, Idealisierte 1atur. Die literarische Kontroverse um den Landschaftsgarten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1981, S. 13ff. 48 Dazu Herbert Lehmann, a.a.O., S. 189ff.
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stand zu genügen hat. Solche Theorien haben zumeist das Missliche, dass sie einen Zirkel beschreiben. Die Maßstäbe, die angeblich vor jeder konkreten Ausprägung des Schönen gültig sind, sind selbst von einer solchen Ausprägung hergeleitet. Das führt dazu, dass bestimmte Gegenstände als exemplarisch und musterhaft ausgegeben werden. Andere hingegen sollen ausgeschlossen sein aus dem Kreis der schönen Dinge. Fontane hat gegen derartige Verfügungen einmal ironisch angemerkt, dass auch Stiefelspitzen im Sonnenschein entzückend sein können. Es lässt sich eben nicht von vorneherein per Dekret festlegen, was als schön aufzufassen ist. Jeder Gegenstand, der im Sinne Kants ein ‚uninteressiertes Wohlgefallen‘ erregt, erweitert den Begriff der Schönheit. Das bestätigt die Praxis. Und auf die Naturästhetik bezogen hat sich gezeigt, dass nicht eine bestimmte Landschaft oder ein Landschaftstyp als Verkörperung des Schönen schlechthin anzusehen ist. Auch andere Gegenden, von denen man es nicht vermutet hatte, haben ihre Attraktivität erwiesen. Indem Kant die Schönheit abhängig macht von der Aktivität des Subjekts, hat er ihr die nötige Freiheit verschafft. Wenn im vorigen Kapitel ausgeführt wurde, dass die Landschaft aus einem geistigen Akt hervorgeht, so trifft sich das mit Kants Bestimmungen. Nur muss man noch etwas hinzufügen. Zwar arrangiert der landschaftliche Blick eine Naturszenerie, aber ihm kommen dabei äußere Gegebenheiten entgegen. Der Blick entdeckt und lässt sehen, was in der Wirklichkeit angelegt ist. Er nimmt Gegenstände auf, die Gestaltqualität haben. Dabei werden durchaus formale Forderungen traditioneller Ästhetik erfüllt. Dazu zählen der Zusammenschluss einzelner Komponenten zu einer Einheit und deren ausgewogene Verteilung. Bei der Rezeption des Naturschönen übernehmen Kunst und Literatur die Aufgabe der Mimesis, so jedenfalls wurde ihre Leistung bis in die Moderne aufgefasst. Nachahmung versteht sich aber nicht als geistloses Kopieren. Sie ist selbst kreativ; sie ist eine schöpferische Anverwandlung des Wahrgenommenen. Die artifizielle Adaption des Naturschönen hat eine vermittelnde Funktion. Sie öffnet die Augen für die Natur, sie schult das Sehen und begründet Sehgewohnheiten. So haben im 19.Jahrhundert die Maler die Schönheiten der Alpen entdeckt und sie einem größeren Publikum zugänglich gemacht. Dass das Flachland mit seiner niedrigen Horizontlinie und dem weiten Himmel besondere Gefühls- und Stimmungswerte hat, weiß man seit der großen niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Und was eigentlich die Anziehung eines bewaldeten Gebirgszuges oder eines Sees in kargen Kiefernforsten ausmacht, wird einem von Stifter und Fontane vorgeführt. Die Kunst will gar nicht das Vorgefundene wiederholen, sie ist darauf aus, das Wesentliche zu erfassen. Mimesis heißt daher auch Typisierung und Vereinfachung, heißt Überhöhung und Idealisierung. Und darin
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liegt die Erkenntnisfunktion, die Goethe der künstlerischen Abbildung der Natur zugedacht hatte. Sie ist Schau, ist Erfassung der Form, der Idee. Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht vom Anblick des Meeres beeindruckt wäre. Aber schön wird man die grenzenlos erscheinende Weite nicht nennen. Und die Natur ist nicht nur gefällig, sie auch bedrohlich, furchteinflößend, zerstörerisch oder einfach nur monströs. Bedrohlich ist sie durch ihre Größe, durch ihre Unmäßigkeit, der gegenüber sich alles Menschliche klein ausnimmt. Aber darin ist sie auch faszinierend, und das ergibt ein durchaus zwiespältiges Gefühl. Das, was einen zurückweichen lässt, zieht einen auch wieder an. Edmund Burke hat dafür den Begriff des ‚Sublimen‘ in die europäische Literatur eingeführt, was im Deutschen mit ‚das Erhabene‘ übersetzt wurde.49 Schon das lateinische ‚sublimis‘, ‚sublimitas‘ hat eine charakteristische Doppeldeutigkeit. Es bezeichnet das Hohe wie auch das Hoheitsvolle. Im römischen Reich war ‚sublimitas‘ eine feierliche Anrede für den Kaiser. Man spürt diese Bedeutungsvarianten auch im deutschen Wort ‚Erhabenheit‘. Nicht nur das Große, das sich über anderes erhebt, ist gemeint, sondern auch das Erhebende, das Würde besitzt und Verehrung erheischt. Der ‚Erhabene‘ ist auch ein Attribut Gottes und der Gottheit. Dass sehr Unterschiedliches unter diesen Begriff gefasst ist, zeigt schon eine Aufzählung erhabener Gegenstände: Das Meer, Gebirgsmassen, Vulkane, Gewitter, tiefe Abgründe, der Sternenhimmel, der Tod, das Schicksal. Ein Vulkanausbruch ruft sicherlich andere Reaktionen hervor als das gestirnte Firmament, und man zögert, beides unter einen Begriff zu bringen. Groß ist jedoch das eine wie das andere. Burke schrieb, dass alles, was geeignet ist, Vorstellungen des Schmerzes und der Gefahr zu erzeugen, das heißt alles, was in irgendeiner Weise schrecklich oder mit schreckenerregenden Dingen verbunden ist, … eine Quelle des Erhabenen sei. ... Aus gewisser Entfernung und unter gewissen Bedingungen können sie [Gefahr und Schmerz] vielleicht – und tatsächlich – lustvoll sein.50
Das Erhabene verbreitet demnach Schrecken und Lust, und diese Ambivalenz ist eines seiner wesentlichen Kennzeichen. Die ästhetische Theorie nach Burke versuchte, sie zu erklären. Zunächst einmal muss aber dargetan werden, warum das Erhabene in eine Theorie des Schönen gehört, denn jenes ist nicht einfach eine 49 Der Begriff taucht schon in der Überschrift der Abhandlung auf: A Philosophical Inquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757). 50 Zitiert nach: Die englische Literatur in Text und Darstellung. 18. Jahrhundert II, Stuttgart 1983, S. 236f.
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Spielart von diesem. Kant, der sich in der Kritik der Urteilskraft auch mit dem Erhabenen beschäftigt, gibt an, dass dessen Übereinstimmung mit dem Schönen darin besteht, dass es auch auf einem „Reflexionsurteil“ beruhe. Es handelt sich demnach nicht um eine einfache Sinnesempfindung, ebenso wenig wie um eine begriffliche Abstraktion. Auch beim Erhabenen kommen Sinnliches und Geistiges zusammen. Man muss hinzusetzen, dass das Schöne und das Erhabene oft ineinander übergehen. Das ist vor allem in der Landschaftsbeschreibung der Fall. Jean Pauls Schilderungen weiten sich ins Kosmische und wollen ein Gefühl vermitteln für die Größe der Schöpfung und des Schöpfers. Und bei Stifter gewinnt das Hochgebirge das Aussehen und den Nimbus des Majestätischen. Überhaupt hat die Landschaftsdarstellung einen Zug ins Erhabene, weil sie, wie schon ausgeführt, zumindest eine Ahnung vom Ganzen der Natur enthält. Die Unterschiede gibt Kant so an, dass dem Schönen als dem „Begrenzten“, „Zweckhaften“, „Harmonischen“, „Formvollen“ im Erhabenen das „Unbegrenzte“, „Zweckwidrige“, das „Chaotische“, „Regellose“, „Verwüstende“, „Formlose“ entgegentritt. Und noch eine weitere Unterscheidung nimmt er vor. Das Schöne bewirke das „Gefühl einer Beförderung des Lebens“, das Erhabne hingegen erzeuge das „Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden stärkeren Ergießung derselben“.51 Hier trifft man wieder auf die schon bemerkte Gegenläufigkeit in der Beziehung auf das Außerordentliche, und diese hat nach Kant ihren Grund in der menschlichen Natur selbst. Sie nämlich ist zusammengesetzt aus Sinnlichkeit und Geistigkeit, wobei mit ersterer nicht nur die Wahrnehmung, sondern die ganze Leiblichkeit gemeint ist. Man braucht diesen Dualismus nicht unbedingt mitzumachen, um einräumen zu können, dass der Mensch über seine Leibgebundenheit hinausgelangen kann. Das in zweierlei Hinsicht. Einmal so, dass er die Wahrnehmung überschreitet und sich in die Sphäre des reinen Denkens begibt; er ist in der Sprache Kants mit „Ideen“ oder „Gedankendingen“ befasst. Und dann so, dass er seine Triebe und Bedürfnisse unterdrückt, ja sich sogar gegen diese wendet. Den zwei Möglichkeiten der Transzendenz des Sinnlichen korrespondieren zwei Arten des Erhabenen. Groß kann etwas sein in Bezug auf seine Ausdehnung. Dann spricht Kant vom „MathematischErhabenen“. Ein Beispiel dafür wäre der „Ozean“. Groß ist aber auch etwas, das eine ungewöhnliche Kraft entfaltet. Dann hat man es mit
51 K.d.U., S. 244 ff (§ 23).
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dem „Dynamisch-Erhabenen“ zu tun. Der „Ozean in Empörung“ und ein „Orkan“ geben dafür Beispiele ab.52 Das Mathematisch-Erhabene ist eine Frage der Erkenntnis. Dazu muss man zunächst konstatieren, dass die Wahrnehmung nur Begrenztes erfassen kann. Die Bilder, die das Sehen liefert, sind Bruchstücke der Wirklichkeit. Auch der Verstand ist eingeschränkt, denn er ist immer auf die Wahrnehmung bezogen und ordnet nur das sinnliche Material. Die Vorstellung eines größeren Ganzen geht über das hinaus, was die Sinne zu leisten imstande sind. Erreicht wird das nur im Denken. Schon das Meer als eine Totalität genommen ist kein Erfahrungsgegenstand. Den Atlantik kann man nicht sehen, allenfalls Teile davon. Solche Totalitäten sind reine Gedankendinge. Nehmen wir eines, bei dem das ganz offenkundig ist: die Natur als Ganzes. Eine solche Vorstellung ist nach Kant eine „Idee“. Darunter versteht er ein „regulatives Prinzip der Vernunft“; und die Vernunft ist das Vermögen, Ideen zu bilden. Wenn auch so etwas wie die Natur als Ganzes nur etwas Ausgedachtes, nur eine Annahme ist, so ist sie deshalb nicht überflüssig oder nutzlos. Sie macht Vorgaben, nach der sich unsere Erkenntnis richtet. Wenn die Natur als Einheit vorgestellt wird, werden die Erfahrungsdaten im Hinblick darauf eruiert, dass sie zusammenstimmen müssen. Sie werden aufgefasst wie Teile eines großen Organismus, nicht als unzusammenhängende Fakten. Beim Mathematisch-Erhabenen geht es also zuallererst um „Größenschätzungen“. Aber diese sind keine bloßen Rechenexempel, sondern kompakte Begriffe in einer Dimension, die die Wahrnehmung überschreitet. Dabei erfährt der Mensch seine Grenze als Sinnenwesen. Die Größe stößt ihn geradezu ab und verweist ihn darauf, dass er noch eine andere Bestimmung hat, die in seiner Vernünftigkeit liegt. Das wird vollends deutlich beim Dynamisch-Erhabenen. Mag auch die Vorstellung einer nicht enden wollenden Weite, man denke an eine Wüste, etwas Entsetzliches haben, so kommen doch Furcht und Schrecken erst dann auf, wenn das Leben bedroht ist, wenn also die „Selbsterhaltung“ in Frage steht. Jetzt ist die Natur nicht Gegenstand einer ruhigen Kalkulation, jetzt wird sie als Macht erfahren. Sie tritt dem Menschen in ihrer Gewalttätigkeit gegenüber. Kühne überhangende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörerischen Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlos Ozean in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall
52 Das Mathematisch-Erhabene, ebd., S. 248 (§§ 25–27), das Dynamisch-Erhabene, S. 260 ff (§§ 28 f).
Das Naturschöne und das Erhabene 229
eines mächtigen Flusses u. dgl. machen unser Vermögen zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht zur unbedeutenden Kleinigkeit.53
Obwohl also der Mensch seine Schwäche eingestehen muss, weiß er sich doch zu behaupten. In seiner physischen Existenz kann ihn die Natur bedrohen, nicht jedoch in seiner geistigen. Auch wenn er um seinen Besitz, seine Gesundheit, selbst sein Leben besorgt sein muss, so erfährt er doch, dass sie ihm in seinem eigentlichen Dasein nichts anhaben kann. Gerade in der Gefahr geht ihm auf, dass er noch eine andere Bestimmung als die eines Sinnenwesens hat. Er erfasst sich als Vernunftwesen, und das heißt, dass er sich über die Naturbedingungen hinwegsetzen kann. Darauf, den sinnlichen Antrieben zu widerstehen, beruht die Sittlichkeit des Menschen. Sie macht ihn frei. Und die Vernunft ist das Vermögen, das ihn zu einer moralischen Person werden lässt. Was sich beim Mathematisch-Erhabenen bereits zeigte, dass nämlich der Mensch der Natur insofern überlegen ist, als er alles, was sie an Großem aufbietet, im Denken übersteigen kann, das bestätigt sich beim Dynamisch-Erhabenen in existentieller Hinsicht. Und nun wird auch einsehbar, woher die Ambivalenz des Erhabenen kommt. Die maßlose Größe und Gewalt verbreitet Angst und Schrecken, wenn es um das leibliche Dasein geht. Wohlgefallen hingegen entsteht dadurch, dass sich der Mensch in seiner überlegenen Vernünftigkeit begreift. In der Gefahr entdeckt er seine Stärke. Und das Gefühl der Anziehung oder der Lust ist indirekt, es ist vermittelt durch einen starken Impuls des Zurückweichens und der Flucht. Kant folgert daraus, dass „die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern in unserem Gemüte enthalten“ sei.54 Kant ist Realist genug, dass er dieses Erlebnis von einer Bedingung abhängig macht. Das Hochgefühl, das mit den gewaltigen Naturerscheinungen verbunden ist, stellt sich nur ein, wenn „wir uns sicher sehen“.55 Derjenige, der sich in einer verzweifelten Lage befindet, in einer Situation, in der er um sein Leben bangen muss, wird kaum Sinn dafür entwickeln, eine grandiose Natur zu bewundern. Kant fügt hinzu, dass diese Voraussetzung dem Erhabenen aber keinen Abbruch tue, weil es ja einzig darum gehe, die sittliche Anlage des Menschen zu entdecken. Schiller, der die Kantischen Bestimmungen aufnimmt, ergänzt das dahingehend, dass man sich zwar in Sicherheit befinden, aber durch die Phantasie die Gefahr auf sich beziehen müsse, um ein Gefühl für das Erhabene zu bekommen.
53 A.a.O., S. 261, (§ 28). 54 Ebd., S. 264, (§ 28). 55 Ebd., S. 262, (§ 28).
230 Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung So erhaben ein Meersturm, vom Ufer aus betrachtet, sein mag, so wenig mögen die, welche sich auf dem Schiff befinden, das von demselben zertrümmert wird, aufgelegt sein, dieses ästhetische Urteil darüber zu fällen. Bei einer ästhetischen Betrachtung versetzen wir uns bloß in der Einbildung in den Fall, wo diese Macht uns selbst treffen könnte und aller Widerstand vergeblich sein würde.56
Kontemplative Gelassenheit und innere Freiheit ist also nötig, um die großen Schauspiele der Natur genießen zu können. Schiller macht noch auf eine weitere Bedingung aufmerksam. Die „gebändigte“ Natur, die Natur, die durch „Geschicklichkeit, List und physische Stärke“ gezähmt wird, man könnte sagen, die technisch beherrschbar ist, verliert die Qualität des Erhabenen. Ein Elektrizitätswerk, das die Gewalt eines Wasserfalls kanalisiert, besitzt keine Größe. Gefordert ist also hier eine „moralische Stärke“, keine „physische“. Nach Schiller beruht das Erhabene auf der „Wirkung dreier aufeinanderfolgenden Vorstellungen: 1. einer objektiven physischen Macht, 2. unsrer subjektiven physischen Ohnmacht, 3. unsrer subjektiven moralischen Übermacht.“57 Nach Art des Gegenstandes und nach der Einstellung des Betrachters gibt es Spielarten des Erhabenen, die über Kants Zweiteilung – sie kehrt bei Schiller als „Theoretischerhabenes“ und „Praktischerhabenes“ wieder – hinausgehen. Es handelt sich um Nuancierungen der generellen Möglichkeiten. So kommt Schiller auf eine Kategorie, die ihn als Dramatiker interessieren muss, auf das „Pathetischerhabene“. Kants Bestimmung des Erhabenen ist sicher in manchem fragwürdig, insbesondere da, wo er von einer „Überlegenheit“ des Menschen „über die Natur“ redet. Das basiert auf einem Bild vom Menschen, das ihn in zwei Hälften trennt, in Sinnlichkeit und Vernünftigkeit. Schiller verschärft diesen Gegensatz noch, zumindest in den Formulierungen. Danach muss die „physische Existenz…von unsrer Persönlichkeit abgesondert“ und „der sinnliche Teil unsres Wesens …als ein auswärtiges Naturding betrachtet“ werden.58 Trotz dieser Einschränkungen wird jedoch eine Möglichkeit der Naturerfahrung beschrieben. Ob man dabei von einer Überlegenheit des Menschen sprechen kann, sei einmal dahingestellt. Zumindest kann er dem Schreckenerregenden, Unbändigen, Zerstörerischen gegenübertreten, auch dann, wenn er dadurch sein Leben gefährdet. Und er kann das, was er fürchten muss, in seiner Größe würdigen, ja sogar bewundern. Und selbstverständlich ist das eine geistige und moralische Stärke, die sich über die unmittelbaren Lebensinte56 Friedrich Schiller, Vom Erhabenen, Sämtliche Werke, 5. Bd., München 1958, S. 489 ff; hier: S. 496f. 57 Ebd., S. 503. 58 Ebd., S. 502.
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ressen hinwegzusetzen vermag. Diese als gering und klein zu erachten und aufzusteigen in eine höhere Sphäre, wird als erhebend erlebt. Von der großen Natur wird der Mensch emporgehoben zu den Mächten, die die Welt bewegen und beherrschen. Solche seelischen Aufschwünge haben eine stark religiöse Prägung. Gott offenbart sich in den Naturgewalten, die beides sind, schöpferisch und zerstörerisch. Und so bekommt diese Erfahrung auch etwas Erbauliches, selbst Tröstliches, denn in allem ist das Wirken eines göttlichen Willens zu spüren. In dieser Weise wird das Erhabene bei Jean Paul erlebt. Plötzlich ging es vom Sterbebette der Sonne kühl wie aus einem Grabe daher. Das hohe Luftmeer wankte, und ein breiter Strom, in dessen Bette Wälder niedergebogen lagen, brauste durch den Himmel die Laufbahn der Sonne zurück. Die Altäre der Natur, die Berge, waren wie bei einer großen Trauer schwarz überhüllt. Der Mensch war vom Nebelgewölbe auf der Erde eingesperrt und geschieden vom Himmel. Am Fuße des Gewölbes leckten durchsichtige Blitze, und der Donner schlug dreimal an das schwarze Gewölbe. Aber der Sturm richtete sich auf und riß es auseinander; er trieb die fliegenden Trümmer des zerbrochenen Gefängnisses durch das Blau und warf die zerstückten Dampfmassen unter den Himmel hinab – und noch lange braust’ er allein über die offne Erde fort, durch die lichte gereinigte Ebene…Aber über ihm, hinter dem weggerissenen Vorhang glänzte das Allerheiligste, die Sternennacht.59
Dass die Vorstellung unendlicher Räume und Energien, die von keinem Gott beseelt sind, ein namenloses Grauen bereitet, hat Jean Paul in einer großartigen kosmischen Vision geschildert. Gemeint ist die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei.60 Von außergewöhnlichen Naturereignissen erzählt auch Adalbert Stifter. Diese Schilderungen haben eine Wucht, die einmalig ist in der deutschen Literatur. Zwei sind hervorzuheben: ein ungeheurer Eissturz in der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters und ein gigantischer Schneefall in der späten Arbeit Aus dem bairischen Walde. In dem zweiten Prosastück wird berichtet, dass es unaufhörlich schneit, es schneit Tage. Und die Gegend, die heimatlich war und vertraut, nimmt völlig andere Züge an. Sie wird fremd und feindselig. Die Schönheit und Anmut, die für sie einnahm, ist völlig verschwunden. Was den Vorgang so unheimlich macht ist, dass er zu einer ungewöhnlichen Zeit kommt, in einer Periode sonnigen, warmen Herbstwetters. Das Monströse des Vorfalls, die Verwandlung vertrauter Naturformen in bedrohliche, furchterregende Ungeheuer verstört die Menschen. Hilflos sind sie diesem Einbruch der Naturgewalt ausgeliefert. Aber von Erhabenheit kann bei Stifter nicht gesprochen werden, aus einem einfachen Grund nicht. Die Personen sind keine Zuschauer, sie haben keinen Abstand zu 59 Aus dem Hesperus; a.a.O., 1. Bd., S. 888f. 60 Erster Blumenstück des Siebenkäs, ebd., 2. Bd., S. 266ff.
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den Ereignissen. Berichtet wird, wie schon in der früheren Erzählung, aus der Perspektive der Betroffenen, und da zeigt sich nur die rohe, alles menschliche Maß übersteigende, unbarmherzige Gewalt der Natur. Um etwas als erhaben genießen zu können, ist also eine ästhetische Distanz die Voraussetzung. Ähnliche Beobachtungen wie bei Stifter kann man auch in der jüngeren deutschen Literatur machen, bei Thomas Bernhard oder Christoph Ransmayr. Vergleichbares gibt es in der englischen Literatur, bei Edgar Allen Poe, in der Erzählung Im Wirbel des Maelström zum Beispiel. Zu konstatieren ist, dass die Natur nicht erst in der künstlerischen Darstellung schön ist, sie ist schön aus sich heraus. Das ist darin begründet, dass sie zwecksetzend, dass sie teleologisch ist; sie organisiert und strukturiert sich. Ihre Schönheit zeigt sich aber erst, wenn sich der Betrachter dafür freigibt. Dazu ist erforderlich, dass er absieht von Nützlichkeitserwägungen, von abstrahierendem Denken und von ungehemmter Sinnenfreude. Die Natur muss begriffen werden in ihrem Ausdruck, darin, dass sie sich präsentiert, dass ihre Erscheinungen sprechenden Gestalten sind. Nach dieser Seite zeigt sie sich nur einer Einstellung, die die einzelnen Wahrnehmungen als integrative Bestandteile einer Form auffasst, einer sinnlich gegebenen Figuration, die einen geistigen Gehalt hat. Eben darin besteht die Leistung des Subjekts. Sein Arrangement lässt die Einheit von Sinnlichem und Geistigem entstehen, die das Wesensmerkmal des Schönen ist. Die kontemplative Hinwendung zur Natur entdeckt in ihr die Elemente der Schönheit: die ungezwungene gebogene Linie der Wellen, die in der Silhouette eine Gebirgszuges wiederkehrt; das Spiel der Farben, ihre Nuancierungen und Übergänge; die Rhythmen der Tages- und Jahreszeiten, das Aufgehen, Verdämmern und Erlöschen des Lichts, das Erklingen, Abschwellen und Verstummen der Laute; die Variationen der Form, bei Blumen oder bei einer Baumreihe, und es ließen sich noch unzählige Momente des Schönen anführen. Dass sie sich mit anderen Erscheinungen zu einer Gruppierung zusammenfindet, erhöht noch den Reiz einer Einzelgestalt. Ein Fels, der sich einem See entgegensetzt und sich in seinem Wasser spiegelt, wäre für sich genommen wenig mehr als ein gewöhnlicher Stein. Und es ist geradezu ein Gesetz der Schönheit, dass sie hervorgeht aus der Einheit des Mannigfaltigen, aus der Harmonie divergierenden Bestandstücke. Darin liegt ein Grund dafür, warum die Naturschönheit in der Landschaft gipfelt. In ihr verbinden sich die verschiedensten Erscheinungen der physischen Welt zu einem Bild. Aber für die Vorrangstellung der Landschaft gibt es noch einen anderen Grund. Mit dem Begriff Natur ist immer der Gedanke an das Große, an Weite, an das Gewaltige verknüpft und davon vermittelt
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allein die Landschaft eine Vorstellung. Sie vereint in sich beides, das Schöne und das Erhabene, und bei ihr geht das eine in das andere über. Wenn auch das Naturschöne vor der Kunst existiert, so führt sie doch den Betrachter darauf hin, sie macht es sichtbar durch Steigerung, Verdichtung, Vereinfachung, Reduzierung, Hervorhebung, Überhöhung, Idealisierung. Mit den geschichtlichen Aspekten dieses Vorgangs beschäftigt sich das nächste Kapitel.
Verkündigung an die Hirten, Buchmalerei aus dem Perikopenbuch Heinrich II., Staatsbibliothek München.
6. Anmerkungen zur Geschichte der Naturbeschreibung In die vorangegangenen Kapitel sind schon einige Hinweise auf historische Entwicklungen eingestreut. Das ergab sich aus der Sache, denn dass die Naturauffassung oder die Landschaftsdarstellung Änderungen erfahren haben, braucht kaum erwähnt zu werden. Jetzt soll versucht werden, die Geschichte der Naturbeschreibung wenigstens in groben Zügen zu skizzieren, in der Weise, dass Anhaltspunkte für eine Übersicht markiert werden. Diese Übersicht beschränkt sich auf die deutsche Literatur. Vorab müssen aber die Voraussetzungen dieser historiographischen Betrachtung geklärt werden. Man hat es nicht mit einem Prozess zu tun, der kontinuierlich verlaufen wäre. Dergleichen ist ohnehin zumeist nur eine Konstruktion, die aus der Retrospektive sich die Dinge zurechtlegt. Die Geschichte der Naturbeschreibung weist Sprünge, Brüche und Neuansätze auf. Man kann also nicht von der Entfaltung eines einheitlichen Prinzips sprechen. Das ist zurückzuführen auf die sehr unterschiedlichen Bedingungen, unter denen die Deskription der physischen Welt unternommen wurde. Geknüpft ist die Entwicklung der Naturdarstellung an eine Geschichte des Sehens. Das ist weniger abwegig, als es zunächst erscheint, denn das Sehen hat tatsächlich eine Geschichte. Die Menschen haben die Realität zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich wahrgenommen. Das liegt aber nicht daran, dass sich die Physiologie der Wahrnehmung geändert hätte. Die ist sich gleich geblieben in der verhältnismäßig kurzen Naturgeschichte der Menschheit, und ein Mensch der Vorzeit sah nicht anders als einer des 21. Jahrhunderts. Aber die Wahrnehmung beruht nicht allein auf physiologischen Vorgängen, daran beteiligt sind auch psychische und soziale Faktoren, und das verleiht ihr eine gewisse Flexibilität. Diese hält sich jedoch in einem von der menschlichen Natur festgesetzten Rahmen, welcher unverrückbar ist. Und die Geschichte des Sehens verläuft in den von der Biologie des Menschen gezogenen Grenzen. Zu den naturhaften Konstanten des Sehens gehört dessen Dreidimensionalität, ferner die Ausdehnung des Sehfeldes sowie der Grad der Deutlichkeit, in dem etwas in der Nähe und in der Ferne erblickt wird. Zudem schneidet die Optik aus dem Gesamtpanorama von 360° einen
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Winkel aus; erfasst wird nur das, was innerhalb dieses Bereiches liegt, alles andere fällt heraus aus dem Wahrnehmungsfeld. Diese Bedingungen lassen sich nicht willkürlich verändern, auch nicht dadurch, dass man um die Begrenzung weiß. Wir können noch so gut begriffen haben, dass nach den Modellen der Physiker die Realität bis zu elf Dimensionen hat, gleichwohl zeigt uns das Sehen unbeirrt eine Welt von drei Dimensionen. Ähnlich steht es mit der Farbigkeit. Auch darin ist der Mensch durch seine physiologische Ausstattung determiniert. Für ihn hat die Welt bestimmte Farben. Abweichungen von diesem Farbenspektrum treten nur auf bei einer Fehlfunktion des ‚Zäpfchensystems‘ der Netzhaut, wie das bei partieller und totaler Farbenblindheit der Fall ist. Ein Vergleich mit anderen Lebewesen belegt die Gebundenheit der Wahrnehmung an die physiologischen Systeme. Es gibt Tiere, für die die Welt nur zwei Dimensionen hat; andere sind in der Lage, Dinge aus großer Entfernung zu erspähen; wieder andere können auch in der Dunkelheit etwas ausmachen. Für Hunde und Bienen ist dieselbe Umgebung weniger bunt als für den Menschen, und es ließen sich unzählige Beispiele für unterschiedliche Wahrnehmungswelten hinzufügen. Ebenfalls zum biologischen Erbe des Menschen gehören die Abstraktionsleistungen der Wahrnehmung, aber bei ihnen zeigen sich schon Möglichkeiten der Modulation. Zu nennen wären hier vor allem die Form- und die Farbkonstanz, die beide auf dem Prinzip der Vereinfachung beruhen. Ganz unabhängig von der Distanz und vom Blickwinkel behält ein Gegenstand in unserer Betrachtung seine Form, obwohl er doch je nach Perspektive immer ein anderes Aussehen annimmt. Eine Simplifikation nehmen wir auch mit den Farben vor. Selten ist ein Ding oder eine Fläche vollkommen monochrom, vielmehr weist die Kolorierung Abstufungen und Schattierungen auf. Wir reduzieren aber in der Regel diese Nuancierungen auf eine Grundfarbe, erkennen beispielsweise auf Grün, wenn es sich in Wahrheit um eine ganze Palette von Farbtönen handelt. Aber diese Vereinfachung der Formen und der Farben hat einen guten Zweck, sie macht die Welt übersichtlich und stabil; sie schafft so Orientierung und hat vor allem einen biologischen Sinn. Sie steht im Dienst des Überlebens. Dass unser visuelles System Extrapolationen vornimmt, kann man sich bewusst machen. Man öffnet sich dann der Fülle der andrängenden Eindrücke und gewahrt die Fluktuation der Farben, der Formen und Konturen. Man erblickt dann eine andere Welt, eine Welt, die vielschichtiger und bunter ist, in der sich die scheinbar festgefügten Gestalten auflösen. Sie fangen an zu gleiten, zu schwingen, geraten in Bewegung. Sie folgen dem, was das Auge zumeist unbewusst tut. Es tastet die Umgebung ab, verweilt, geht weiter. Eben darauf beruhte die Einstellung des Impressionismus. Er machte die Reduktion auf eine Grund-
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farbe gewissermaßen rückgängig und kam so zu einer wahren Explosion der Farben. Nun zeigte sich, dass das Monochrome eigentlich zusammengesetzt ist aus Farbpunkten und Lichtreflexen, aus Übergängen und Kontrasten. Dieses neue Bild der Wirklichkeit verdankt sich einer „Reflexion auf sein eigenes Sehenkönnen“.1 Und das ist alles andere als eine ‚natürliche‘ Wahrnehmungsweise. Entsprechend irritiert reagierte das Publikum, welches zunächst mit diesem farbigen ‚Gekleckse‘ wenig anfangen konnte. Die Impressionisten schrieben aber ein bedeutsames Kapitel in der Geschichte des Sehens. Sie begründeten neue Sehgewohnheiten, mit Erfolg muss man sagen. Denn den Heutigen erscheinen diese Gemälde überhaupt nicht als chaotisch und als willkürliches Abweichen von der Realität. Sie finden sie im Gegenteil schön und den dargestellten Gegenständen durchaus angemessen. Was sich ebenfalls bei den Impressionisten beobachten lässt ist, dass die Bilder flächig werden. Mit der Betonung der Farben, mit der Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die Kolorierung verlieren die Darstellungen an Tiefe. Wie das Farbensehen kann sich auch die Wahrnehmung des Raumes wandeln. Das bedeutet indessen keine Aufhebung der Dreidimensionalität. Aber dass wir die Dinge neben-, überund hintereinander anordnen, heißt nicht, dass das Raumerlebnis gleichzusetzen wäre mit einem geometrischen Begriff von Räumlichkeit. Man muss vielmehr trennen zwischen dem theoretischen Raum der Mathematik und der Wissenschaft und dem Wahrnehmungsraum. Ersterer ist eine reine Konstruktion, ein Geflecht aus Linien und Punkten, das insofern abstrakt ist, als es absieht von allen Qualitäten der Dinge und diese lediglich nach ihrer Positionalität bestimmt. Der geometrische Raum ist einer der Maße und Zahlenverhältnisse. Er ist eine Hervorbringung des neuzeitlichen Denkens und identisch mit dem homogenen Raum der Wissenschaft. Dass dieser Raumbegriff eng mit der Erfindung der Perspektive verbunden ist, wurde im Kapitel über die Landschaft bereits ausgeführt. Davon unterscheidet sich das, was einem unmittelbar vor Augen steht. Der Einfachheit halber kann man das den ‚psychologischen Raum‘ nennen. Dieser hat nicht den Charakter eines formalen Schemas, sondern erhält seine Gliederung durch die Bedeutung der Dinge. Im Umgang mit ihnen erstellen wir nicht zunächst eine leere Raumvorstellung, um dann die Dinge darin zu platzieren.2 Das Verhältnis, das wir zu ihnen haben, ist nicht bestimmt durch einen in Maßeinheiten angebbaren Abstand. Einige drängen sich gewissermaßen vor, diejenigen, die 1 2
Arnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt/M./Bonn 1965, S. 57. Das hat Martin Heidegger in seinen Analysen der Alltagswelt gezeigt; vgl. Sein und Zeit, §§ 22–24.
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wir brauchen, die uns interessieren und mit denen wir beschäftigt sind, Dinge, die unser Leben bestimmen, es beeinträchtigen oder fördern. Andere treten dagegen zurück, sie werden ausgeblendet, ignoriert, beiseite gesetzt oder einfach überhaupt nicht registriert. Entsprechend hat der psychologische Raum keine gleichförmige Ausdehnung. Er ist ein differenziertes Gebilde, dessen Teile sich qualitativ voneinander unterscheiden. In ihnen herrschen jeweils andere Bedingungen, sie sind ungleichartig nach der dort herrschenden Atmosphäre, nach den mit ihnen verbundenen Gefühlen, Anforderungen und Verhaltensweisen. Ähnlich urteilt die antike Physik, gemeint ist die des Aristoteles. Sie kennt voneinander abgesetzte Sphären mit besonderen Gesetzmäßigkeiten, was zeigt, dass der homogene Raum der Wissenschaft keineswegs selbstverständlich ist. Die Dreidimensionalität ist also nur eine Rahmenbedingung, die durchaus voneinander abweichende Konzeptionen des Raumes zulässt. Dass es von ihm keine einheitliche Anschauung gibt, erklärt sich auch daraus, dass das Sehen keine simple Widerspiegelung der äußeren Gegebenheiten liefert. Das wird besonders daran deutlich, dass das Bild der Wirklichkeit nicht allein von physiologischen, sondern auch von psychischen Faktoren abhängt. Die Aufmerksamkeit, die Stimmung, die Gefühlslage, die Bedürfnisspanne, die Erwartung entscheiden mit darüber, was einer von der Realität und wie er sie wahrnimmt. Für den Glücklichen erscheint die Welt heller als für den Traurigen; der Hungrige mustert seine Umgebung anders als der Satte; für einen, der sich auf eine Ansicht konzentriert, schrumpft die Welt zusammen auf diese einzige Gegebenheit. Und das sind nur einige dürftige Hinweise auf das überaus vielschichtige und an Komponenten so reiche Gebiet der Wahrnehmung. Verwickelter wird es noch dadurch, dass dabei nicht allein die Disposition des Einzelnen eine Rolle spielt. Anteil daran haben auch gesellschaftliche vermittelte Hinsichtnahmen und Werte. Eine soziale Schicht gibt ihren Angehörigen eine Optik vor, durch welche sie die Welt betrachten. Noch einmal resümiert: Basis des Sehens ist das physiologische System, ist das Zusammenwirken von Rezeptoren, neuronalen Bahnen der Weiterleitung und den entsprechenden Arealen auf dem Neokortex, also kurz: ist das Zusammenwirken von Augen und Gehirn. Schon auf dieser Ebene werden die eingehenden Reize selektiert, strukturiert und mit gespeicherten Erfahrungen abgeglichen. Hinzukommen psychische und soziale Determinanten. Für die Zwecke dieser Abhandlung genügt es festzuhalten, dass die Dreidimensionalität und die Farbigkeit den unverrückbaren, durch die Biologie des Menschen vorgegebenen Rahmen bilden, innerhalb dessen sich die historischen Wandlungen des Sehens vollzogen haben. Hinzuzufügen ist, dass die Wahrnehmung
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keine passive Hinnahme des objektiv Gegebenen, sondern dessen aktive Aneignung ist, ein Prozess der Auswahl, Ordnung und Auslegung, der schon auf der physiologischen Ebene einsetzt und sich auf der psychischen und sozialen fortsetzt. Was nun die Beschreibung örtlicher Gegebenheiten betrifft, so kann man nicht so vorgehen, dass man ermisst, inwiefern die eine Darstellung den Raum besser erfasst hat als die andere. Das setzt eine einheitliche, die Zeiten überdauernde Raumanschauung voraus und dafür wird von uns fälschlicherweise die der Geometrie genommen. Es gibt aber, wie gesagt, verschiedene Möglichkeiten, Räumlichkeit zu erleben. Dass sich überhaupt die Auffassung von dem einen Raum festsetzen konnte, ist, wie Ernst Cassirer darlegt, auf eine Ontologie zurückzuführen, die den Raum als eine selbständige, vor den Einzeldingen existierende Größe begriff, welche selbst von der Art der Dinge, also etwas Substantielles ist.3 Solche Vorstellungen lassen sich schon bei Parmenides nachweisen. Dagegen macht Cassirer einen Begriff vom Raum geltend, der ihn nicht als vor den Dingen existierend und unabhängig von ihnen versteht, sondern als eine Beziehungsgröße, von der sinnvoll zu sprechen ist nur inmitten der Dinge. Raum geht auf in der Funktion, Ordnung zu stiften, in der Weise, dass er Relationen zwischen den Gegebenheiten herstellt. Er ist die „Möglichkeit des Beisammen“, wie Cassirer, Leibniz zitierend, festhält. Sein Element ist die Vielheit, die Verschiedenartigkeit und die Vielgestaltigkeit. Und während der ontologische, der einheitliche Begriff des Raumes alle Gegenstände gleich behandelt und sie unter eine einzige Perspektive zwingt, lässt der Funktionsbegriff des Raumes Pluralität und Verschiedenheit zu. Nach Cassirer ist es ein übergeordneter Sinn, der die Lokalitäten einrichtet. Der Sinn ist demnach das primäre, aus dem sich die Strukturiertheit des Raumes ergibt. So empfängt unser nächstes Umfeld seine Gliederung aus den Notwendigkeiten des alltäglichen Besorgens. Das schreibt vor, wie die Gebrauchsdinge angeordnet sind. Es gibt Typen von Räumlichkeit, und Cassirer unterscheidet einen „theoretischen“ von einem „mythischen“ und einem „ästhetischen Raum“. Wenn man den ‚mythischen Raum‘ nimmt, so gibt es in ihm herausgehobene Distrikte, heilige Bereiche wie den Tempelbezirk, in dem ungewöhnliche Kräfte herrschen und der ein magischer Ort ist. Weiter haben die Gegenden eine religiöse Bedeutung; aus der einen kommt das Heil, aus der anderen droht Gefahr. Man braucht sich nur daran zu erinnern, welche Werte die Religionen, das Christentum beispielsweise oder die 3
Das bezieht sich auf Cassirers Aufsatz Mythischer, Ästhetischer und theoretischer Raum, in: Alexander Ritter (Hg.), Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975, S. 17 ff; vgl auch Cassirer Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. III, 2.Teil, Kp. III, S. 165ff.
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antiken Götterkulte, mit oben und unten, Himmel und Unterwelt, mit Osten und Westen verbinden. Mit dem „mythischen“ teilt der „ästhetische“ Raum, dass er qualitativ bestimmt ist. Seine Himmelsrichtungen und Regionen haben geistigen Charakter, an ihnen haften Gefühls- und Ausdruckswerte. Nicht selten haben sie Symbolkraft. Der ästhetische Raum ist demnach sinnbezogen. Er ist Teil der künstlerischen Gestaltung und daher ausgezeichnet durch Expressivität. Bei Ludwig Tieck ist der Wald ein ganz besonderes Terrain, von dem ein geheimnisvoller Zauber ausgeht. Und in der Topographie Jean Pauls sind dörfliche Umgebung, offene Landschaft, städtische Residenz und englischer Park verbunden mit Lebensweisen, moralischen Einstellungen und den Entwicklungsstadien der Helden. Mitunter ist die Symbolik der Orte ganz unauffällig, so in Fontanes Poggenpuhls. Wo auf dem Berliner Stadtplan sich die Wohnung der verwitweten Majorin von Poggenpuhl befindet, wird genau angegeben. Sie liegt in der Großgörschenstraße und hat den Vorzug einer „wundervollen Aussicht“, die mit den Vorderfenstern auf die „Grabdenkmäler und Erbbegräbnisse des Matthäikirchhofes“ und mit den Hinterfenstern auf einige zur Kulmstraße gehörige Rückfronten geht, auf denen in großen Buchstaben die Worte „Schulzes Bonbonfabrik“ zu lesen ist. Was sich zunächst nur wie eine exakte Ortsangabe ausnimmt, kennzeichnet aber die Situation der Familie. Sie lebt in der Spannung zwischen bescheidenen, wirtschaftlichen Verhältnissen und feudalem Anspruch. Die Beschreibung des Lokals hat damit vorausweisende Bedeutung auf die seelischen und moralischen Probleme des Romans.4 Aber so einfach ist die Sache wieder nicht, als dass sich die verschiedenen Raumbegriffe eindeutig gegeneinander abgrenzen ließen. Sie berühren und beeinflussen sich, und sie gehen ineinander über. Eine durchweg religiös geprägte Weltsicht, wie die des christlichen Mittelalters, wird auch in der Kunst zu einer Raumauslegung kommen, die sich an der Heilsordnung orientiert. Am höfischen Epos soll das gleich gezeigt werden. In der Neuzeit steht das Konzept des theoretischen Raumes nicht neben dem des ästhetischen. Vielmehr hat die Kunst entscheidenden Anteil an der Herausbildung der homogenen Raumvorstellung. Dass diese ohne die Mitwirkung von Männern wie Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer gar nicht zustande gekommen wäre, ist keine übertriebene Behauptung. Die Erweiterung der Wahrnehmung und die künstlerische Intention gehen hier ineinander. Paradigmatisch dafür ist die Landschaftsdarstellung. Landschaft ist ein Muster, das sich seit der Renaissance entwickelt. Wie dieses Schema dem Sehen ganz 4
Zum Raum in der Literatur vgl. Hermann Meyer, Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst, in: Zarte Empirie, Stgt. 1963, 33ff. Meyer sucht Cassirers Überlegungen auf die Dichtung anzuwenden.
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neue Perspektiven erschließt, so setzt es auch neue Ausdrucksmöglichkeiten frei. Die gestalterische Absicht und die Wahrnehmungsfähigkeit sind also zwei Komponenten, die in die Ausarbeitung einer bildhaften Ansicht eingehen. Folglich darf man bei einer historischen Betrachtung nicht etwas unterstellen, das weder dem künstlerischen Willen noch dem zu der Zeit ausgebildeten Sehpotential entspricht. Untersuchungen, die Titel haben wie etwa ‚Die Darstellung der Landschaft in der deutschen Literatur des Mittelalters‘, suggerieren, es habe dergleichen in dieser Epoche gegeben. Hier muss man auf eine klare Begrifflichkeit dringen, und da ist der Begriff ‚Landschaft‘ reserviert für einen bestimmten Blick auf die Natur, dessen Merkmale in dem betreffenden Kapitel bereits dargetan wurden. Etwas sehr vereinfacht, aber doch der Orientierung dienend, kann man vier große Modifikationen des Sehens auseinanderhalten, die sich auf die Bildauffassung ausgewirkt haben. Nach antiken Vorstellungen, sofern sich das noch erschließen lässt, können die Dinge nicht aus einem Gesichtswinkel betrachtet werden. Dahinter steht eine Ontologie, die, wie die Aristotelische Naturlehre, die Eigenart der Erscheinungen betont. Eine Pflanze ist nun einmal etwas anderes als ein Stein, eine Wolke oder ein Mensch. Entsprechend müssen die substantiellen Eigenschaften der Gegenstände auf einem Bild hervortreten, und sie dürfen nicht unter ein nivellierendes Schema gebracht werden, wie es die Zentralperspektive tut. Das Mittelalter nimmt die Welt in der Bedeutungsperspektive wahr. Das ist vorwiegend religiös motiviert und kommt vor allem in den Figurenkonstellationen zum Ausdruck. Nach der frommen Überzeugung hängt von den göttlichen Personen oder von den Aposteln das Heil der Menschheit ab; sie beanspruchen daher mehr Aufmerksamkeit als ein gewöhnlicher Sterblicher; sie haben ein ungleich größeres Gewicht und müssen dem entsprechend so ins Bild gerückt werden, dass sie ihre Umgebung überragen. Die neuzeitliche Zentralperspektive nimmt, wie schon gezeigt, keine Rücksicht auf das Eigengewicht und die Bedeutung der Bildgegenstände. Sie arbeitet mit horizontalen und vertikalen Standortbestimmungen und ordnet die Dinge nach Größe und Distanz ein. Das Bild wird vom Betrachter aus geometrisch konstruiert. Eine erneute Wende, die das 19. Jahrhundert vollzieht, ist den Gemälden der Impressionisten und zuvor denen Turners abzunehmen. Nun sollen die Bilder nach den Gesetzen des Sehens angelegt werden. Dazu gehört unter anderem, dass das Auge in einem Moment nur einen Punkt scharf erkennen kann und dass das Sehfeld sphärisch angelegt ist, was auf den Darstellungen in der Weise erscheint, dass sich die Dinge an den Bildrändern verflüchtigen und dass die Ansicht flächig anmutet. Darüber, wie sich die neue Manier auf die Behandlung der Farbe auswirkt, wurde schon etwas gesagt. Auch jetzt
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wird das Bild vom betrachtenden Subjekt aus entworfen, aber das stereometrische Schema ist aufgegeben, und das gilt bis in die Gegenwart. Um die aufgeführten Sehweisen mit Begriffen zu belegen, kann man von einer ‚substantiellen‘ (Antike), einer ‚bedeutungsperspektivischen‘ (Mittelalter), einer ‚geometrisch-zentralperspektivischen‘ (Neuzeit) und einer ‚physiologischen‘ (Moderne) Bildauffassung sprechen. Dass die narrative Literatur Lokalitäten beschreiben muss, ergibt sich aus einem einfachen Erfordernis. Sie muss den epischen Personen einen Schauplatz für ihre Handlungen geben. Was das Bühnenbild für das Drama, das leistet die Ortsbeschreibung für die epische Darstellung. Nun ist leicht einzusehen, dass je nach den Absichten des Autors die Schauplätze sehr unterschiedlich ausgestaltet sein können. Das reicht von einer knappen Ortsangabe zu sehr ausschweifenden Schilderungen. Wenn der Akzent auf den sozialen Verhältnissen oder auf den Aktionen liegt, begnügt sich der Autor gewöhnlich mit dem Nötigsten. Ausgreifende Deskriptionen werden naturgemäß dann verfertigt, wenn die Expressivität der Umgebung, deren Symbolhaftigkeit und Sinngehalt ins Spiel gebracht wird. Vollends in den Vordergrund rückt die Beschreibung unter der Bedingung, dass die Örtlichkeit selbst zu einem epischen Spieler wird. Das ist beispielsweise in Stifters Erzählung Bergkristall der Fall. Neben zwei Kindern, die sich verirren, nimmt darin der Berg eine Hauptrolle ein. Entsprechend umfangreich wird er dargestellt. Hinzuweisen wäre noch auf eine Prosa, die nicht dichterisch ist, die aber im hohen Maße künstlerischen Ansprüchen genügt. Wissenschaftliche Abhandlungen und Werke der Reiseschriftstellerei können dieses Niveau erreichen. Hier liegt das Interesse nahezu ausschließlich auf der Wiedergabe der äußeren Gegebenheiten. Also, auch die Frage, worauf der Akzent bei einer Arbeit liegt, verlangt Berücksichtigung. Die historische Übersicht beginnt mit dem höfischen Epos. Dessen Helden, den Ritter, zieht es hinaus. Er sucht das Abenteuer. Und ‚âventuire‘ ist denn auch ein Schlüsselwort. Bezeichnet wird damit die Situation, in der sich der Ritter erproben und bewähren muss. Das Abenteuer ist nicht, wie im heutigen Verständnis, eine bedrohliche Lage, in die einer gerät, weil er eine Mission zu erfüllen, einen Auftrag zu erledigen oder einfach seinen Pflichten nachzukommen hat. Es ist nichts bloß Beiherspielendes, Zufälliges, keine Begebenheit, die sich ohne den Willen der Handelnden einstellt. Der Ritter setzt im Gegenteil alles daran, sich in Gefahr zu begeben. Sie zu bestehen, ist sogar der Sinn seiner Existenz; darin sieht er seinen eigentlichen Beruf. Und das Leben des Ritters setzt sich zusammen aus einer Abfolge von Abenteuern. Das höfische Epos reiht solche Episoden in einer zuweilen ermüdenden Weise aneinander. Schon daran lässt sich ersehen, dass diese Verser-
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zählungen nicht die reale Welt abschildern. Sie stehen sogar im krassen Gegensatz zur Wirklichkeit des Feudaladels.5 Nirgends wird Bezug genommen auf dessen tatsächliche gesellschaftliche Funktion, auf seine Aufgaben und Tätigkeiten. Ritter kann nur sein, wer von Stand ist. Hier zählt demnach die Geburt, das ist schon richtig. Gleichwohl kommt der Erziehung eine entscheidende Bedeutung zu. Zum Ritter wird einer gebildet. Nur dann kann er die damit verbundenen Erwartungen erfüllen. Vor allem muss er sich an die ritterlichen Tugenden halten. Dazu gehören ‚Tapferkeit‘, ‚Ehre‘ und ‚Treue‘.6 Was den Ritter ausmacht, sind aber auch die Umgangsformen, das respektvolle Verhalten gegenüber Frauen, die Befolgung der Kampfesregeln und die Kenntnis der Etikette. Der ganze Komplex der Manieren hat etwas Zierliches, Zeremonielles, nicht selten Gedrechseltes. Für das formvollendete Betragen steht der Begriff ‚höveschheit‘, wovon unser Wort ‚Höflichkeit‘ abgeleitet ist. Gemeint ist damit die gesittete Aufführung, wie sie bei Hofe verlangt wird. Große Sorgfalt verwendet das Epos auf die Beschreibung dieses Verhaltens. Sich in der Gefahr zu bewähren ist also die eigentliche Bestimmung des Ritters. Und der Kampf dient nicht einem übergeordneten politischen, religiösen oder gesellschaftlichen Ziel. Er ist Selbstzweck. Und natürlich handelt es sich dabei um ein Ideal, um das Ideal des Ritters. Dieses versetzt das Epos in eine künstliche Welt. Sie „enthält nichts, was nicht Schauplatz oder Vorbereitung eines Abenteuers wäre; es ist eine eigens für die Bewährung des Ritters geschaffene und präparierte Welt.“7 Ihre Unwirklichkeit wird noch dadurch verstärkt, dass sie Züge des Märchens trägt. Fabelwesen, Zauberer und Dämonen treten in ihr auf. Und es gibt in ihr verwunschene Orte, die über eine geheime Magie verfügen. Aber die Atmosphäre des Irrealen teilt sich eigentlich allen Schauplätzen der Erzählung mit. Der Parzival des Wolfram von Eschenbach ist ebenfalls mit Merkmalen des Fabelhaften ausgestattet. Schon die Hauptfigur, also Parzival, hat Eigenschaften einer Gestalt aus dem Märchen. Er gehört zur Gattung der ‚Dümmlinge‘, jener Figuren, die unerfahren sind, unkundig dessen, wie es in der Welt zugeht. Entsprechend tölpelhaft führt er sich anfänglich auf, und erst allmählich wird er gewitzter. Und der Gral ist ein geheimnisvoller, mit Zauberkraft versehener Gegenstand. Er versammelt auf sich aus verschiedenen Traditionen genommene Motive, das Motiv vom ‚Tischlein deck dich’ ebenso wie das vom ‚Stein der 5 6 7
So Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1986, Bd. 2, S. 430. Zum ritterlichen Tugendsystem, ebd., S. 416ff. Auerbach, a.a.O., S. 132; vgl das Kp. Der Auszug des höfischen Ritters, S. 120ff.
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Weisen‘; zudem sind ‚eucharistischen Legenden‘ in ihn eingegangen.8 Eigentümlich ortlos wie im Märchen sind auch die Schauplätze der Erzählung. Das rührt daher, dass sie mit raumhaltigen Gattungsnamen bezeichnet werden, ohne dass eine nähere Konkretisierung erfolgte. So heißt es einfach der ‚Wald‘ (walt); man erfährt nie, ob das bewaldete Gelände flach oder gebirgig ist, ob es sich um einen Hoch-, Niederoder Auenwald, um Nadel-, Laub- oder Mischwald handelt. Gelegentlich wird angegeben, dass der Wald groß oder wild sei, ein unbebautes Land, durch das kein Weg führe. Man kann diese Beobachtung generalisieren. Sie ist typisch für die Raumwahrnehmung und Raumdarstellung der erzählenden Dichtung des Mittelalters. Die Autoren begnügen sich mit „raumgesättigten Wörtern“ wie ‚walt‘, ‚gebirge‘, ‚wüeste‘, ‚wilde‘, ‚velt‘, ‚wazzer‘.9 Diese Angaben beschreiben nicht eine Lokalität. Sie suggerieren Raumvorstellungen, die nicht weiter ausgemalt werden. Und in der Regel wird allein das Allernötigste aufgeführt, das, was zur Verdeutlichung der Handlung unerlässlich ist. Nur wenn es die epische Situation erforderlich macht, erfolgt eine genauere Auskunft. Das lässt sich an einer Stelle aus dem Parzival demonstrieren. Eine ‚langgestreckte Anhöhe‘ wird da erwähnt, zu der ein Steig hinaufführt. Der junge Parzival, der sich oben befindet, hört zuerst nur Hufgetrappel. Und dann erscheinen plötzlich diejenigen, die den Steig hinaufgezogen kommen: Ritter in voller Ausrüstung. Zum ersten Mal sieht Parzival so etwas, und er ist von dem Anblick derart überwältigt, dass er die Gestalten für Götter hält. Offenbar soll das Moment der Überraschung, das plötzliche, geradezu geisterhafte Auftauchen der Reiter hervorgehoben werden. Und dazu bedarf es einer konkreteren Kennzeichnung des Geländes.10 Die Naturdarstellungen, wenn man davon sprechen darf, sind also streng bezogen auf das Geschehen. Sie sind nicht um ihrer selbst willen da, auch nicht dazu, eine Stimmung oder ein Gefühl des Helden auszudrücken. Die Schönheit einer Szenerie wird kaum beachtet, weder von den epischen Personen noch vom Autor. Im Parzival hat der Wald eine wichtige Funktion, nicht als eine geographische Gegebenheit, sondern als ein Ort, der außerhalb der Gesellschaft liegt. Er wird für Herzeloyde zum Refugium, in das sie sich zurückzieht, um ihren kleinen Sohn Parzival nicht in Berührung zu bringen mit dem Ritterdasein (3. Buch). Für die umherschweifenden Ritter, etwa für Gawan und selbstverständlich auch für Parzival, ist er 8
Eine Zusammenstellung findet sich bei Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, 2. Aufl., Stgt. 1966, S. 61ff. 9 Vgl. Rainer Gruenter. Zum Problem der Landschaftsdarstellung im höfischen Roman, in: A. Ritter, a.a.O., S. 292 ff; hier S. 295. 10 Parz., 120, 11–30.
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das unbekannte Territorium, auf dem sie nach Abenteuern suchen (bezieht sich auf das ganze Epos). Und schließlich hat der Wald eine Bedeutung in der religiösen Ordnung der Welt. Er ist der Ort der Buße und der Einkehr. In einer abgeschiedenen Einsiedelei erhält Parzival Aufschluss über den rechten Glauben (9. Buch). Das gibt, nebenbei bemerkt, der Figur Tiefe. Sie verkörpert nicht nur den abenteuernden Ritter, sondern auch den christlichen Heilssucher. Mehr vom Wald erfährt man nur zu Beginn der Geschichte. Da darf sich der noch kindliche Held an dessen Blumen und Vögeln erfreuen. Nun könnte jemand vermuten, dass die Bedeutung, die das Epos dem Wald einräumt, immerhin etwas von den tatsächlichen Verhältnissen widerspiegelt, denn im Mittelalter seien weite Teile Europas mit dichten Wäldern überzogen gewesen. Das trifft indessen nicht zu. In der Zeit um 1200, also zu Lebzeiten Wolfram von Eschenbachs, waren große Gebiete Deutschlands gerodet. Dafür sorgten ganze Kolonisierungswellen, wovon Ortsnamen mit der Endung –roda oder –rode Zeugnis geben. Für viele Regionen rechnet man damit, dass nur ca. 20 % der Gesamtfläche bewaldet waren; das ist weniger als im heutigen Bundesland Hessen. Von einer wegelosen Wildnis wie in der Dichtung kann man erst recht nicht sprechen. Im Mittelalter wurde der Wald intensiv genutzt. Nicht nur Holz, der bei weitem wichtigste Rohstoff, wurde aus ihm gewonnen. Er diente auch als Viehweide. Und in der sogenannten Niederwaldwirtschaft wurden die jungen Austriebe abgeschnitten und als Futter verwendet. Das und die Beweidung hatten zur Folge, dass die Bäume klein und verkrüppelt blieben. Einen Bestand von hohen Bäumen ließ man nur da wachsen, wo man Stämme für den Haus- und Schiffsbau gewinnen wollte. Man muss also beim Landschaftsbild von einem lichten Bewuchs ausgehen, der vielfach bloß Stangenholz aufwies. Ausnahmen bildeten Gebiete, die durch fürstliches Dekret vor der wirtschaftlichen Ausbeutung geschützt waren. Sie wurden ‚Forste‘ genannt und dienten den Herrschern als Jagdrevier. Sie haben sich teilweise bis auf den heutigen Tag erhalten und sind an ihren Namen zu erkennen. Sie heißen ‚Königsforst‘, ‚Reichswald‘, ‚Reichsforst‘ oder ‚Verbotener Soonwald‘.11 Die kleine Exkursion in die historische Geographie führt zu dem Schluss, dass der Wald in der mittelalterlichen Verserzählung reine Fiktion ist, eine Gegend in einem dichterischen Kosmos, die einen Sinngehalt für das menschliche Dasein besitzt. 11 Zahlen, Belege sowie historische, botanische und geographische Angaben bei Hansjörg Küster, a.a.O., S. 223 ff; und bei Henry Makowski/Bernhard Buderath, Die 1atur dem Menschen untertan. Ökologie im Spiegel der Landschaftsmalerei, München 1983, S. 93ff.
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Wie bemerkt werden die Lokalitäten, auf die sich die Aktionen konzentrieren, mit raumhaltigen, ganz allgemeinen Begriffen gekennzeichnet. Neben dem Wald zählt dazu ein Feld oder Plan (velt, plân), also ein offenes Gelände, auf dem die Ritter ihre Kämpfe ausfechten. Solche Plätze sind Objekte eines militärischen Rekognoszierens. So wird beispielsweise ein Hügel daraufhin betrachtet, wie auf ihm ein Angriff vorgetragen bzw. abgewehrt werden kann. Natürlich gehört so etwas zum ureigensten Stoff einer Rittergeschichte. Die Eigenart mittelalterlicher Naturdarstellung lässt ein weiterer Schauplatz besonders klar erkennen. Es ist dies eine Wiese, eine Stätte, die ein Wohlgefühl hervorruft. Um deren Schönheit und Anmut hervorzuheben, verwendet Wolfram gewisse Kürzel wie „bluomen“, „liehte bluomen“ (‚lichte‘, leuchtende Blumen), „bluomen unde gras“, „gruenes gras“; manchmal wird, wohl um die Frische zu betonen, das Wort ‚Tau‘ oder ‚betaut‘ hinzugefügt. Das ist nicht etwa eine Manier Wolframs; dieselben Versatzstücke finden sich auch bei Gottfried von Straßburg; auch da gibt es die „liehten bluomen“ und das „gruene gras“. Nie sind die Blumen blau oder rot oder einfach bunt. Es gibt nur die genannten Stereotypen, die an den entsprechenden Stellen eingesetzt werden.12 Man hat es hier mit einer bestimmten Stilfigur zu tun, mit der sogenannten ‚Topothesie‘, die mehr noch als in der Dichtung in der Rhetorik im Gebrauch war. Vor allem aber war sie in der bildenden Kunst ein gängiges Darstellungsmittel. Ihr genügt ein Detail, ein Baum, eine stilisierte Pflanze, ein ornamental gestaltetes Geflecht von Blättern, um eine Naturszene zu präsentieren. Dabei handelt es sich selbstverständlich um Andeutungen, um eine Abbildung pars pro toto; die einzelne, charakteristische Figur tritt ein für das Ganze, wie das Dekor von Akanthusranken auf romanischen Portalen auf den Naturzusammenhang verweist.13 Ganz ähnlich verfährt die Literatur. Auch sie setzt schematisierte Versatzstücke ein. Ein Stück Natur wird nicht ausholend beschrieben. Dafür steht stellvertretend eine prägnante, für die Umgebung typische Einzelheit. Die Darstellung versucht also nicht, den Augenschein wiederzugeben. Sie will nicht einen individuellen Ort abschildern. Die Empirie interessiert sie gar nicht. Das Verfahren geht nicht von dem konkreten sinnlichen Eindruck aus, um dann das Erfasste mit einem Allgemeinbegriff wie beispielsweise ‚Wiese‘ zu belegen. Es verhält sich vielmehr umgekehrt; die Vorgehensweise ist sozusagen deduktiv. Zu einem gegebenen Allgemeinen werden einzelne, konkrete Details hinzugefügt. Für unsere Vorstellungen hat diese Manier etwas 12 vgl. z.B. Parz., 129, 144, 455; Tristan und Isolde, 560, 1675, 17150, 17380. 13 Bildbeispiele und Ausführungen zur Topothesie bei Norbert Schneider, Geschichte der Landschaftsmalerei. Vom Spätmittelalter bis zur Romantik, Darmstadt 1999, S. 15ff.
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arg Schablonenhaftes, aber das Mittelalter hatte eben eine andere Auffassung. Zuweilen gelingen der topothetischen Darstellung Bilder von großer Eindringlichkeit. Ein freier Platz und ein Baum reichen Wolfram, um einen Anblick erstehen zu lassen, der archetypische Kraft hat. Unter einer ausladenden, die Gegend beherrschenden Linde sitzt Gurnemanz, der alte weise Ratgeber.14 Allerdings greift Wolfram auch hier auf ein vorgefertigtes Muster zurück. Seit der Antike markiert ein Baum in der erzählenden Literatur einen Schauplatz.15 Zuweilen macht es die Handlung erforderlich, dass ein ganzer Prospekt abgebildet werden muss. Der Ritter Gawan kommt aus einem großen Wald auf eine weite, offene Fläche. In der Ferne kann er eine Burg erspähen. Aber nun wird nicht etwa beschrieben, wie er sich ihr nähert und ihre Konturen allmählich hervortreten. Das würde der heutige Leser erwarten. Die Burg ist vielmehr gleich den Blicken präsent. Die Fernsicht geht unvermittelt über in die Nahsicht, so als würden die Baulichkeiten mit einem Fernrohr herangeholt. Gawan kann gleich Einzelheiten ausmachen, ohne dass er die Distanz überbrückt hätte. So sieht er 400 (!) Frauen an den Fenstern, wovon vier sehr vornehm sind. Aber vielleicht sieht Gawan das gar nicht, sondern nur der Autor. Unklar bleibt jedenfalls, aus wessen Perspektive die Ansicht überhaupt wahrgenommen wird. Ähnliche Unsicherheiten gibt es auch bei anderen Angaben. Vor der Burg zieht sich ein Wasser hin; ein breiter Weg führt zu ihm hinunter. Und dann ist da auch noch ein weiter Platz. Aber in welchem Verhältnis das alles zueinander steht, die Burg, das Wasser, der Platz, der Weg, das bleibt ungewiss. Man kommt zu dem Ergebnis, dass hier kein Raum aufgebaut wird, in dem jedem Ding ein fester Platz zugewiesen wird. Das wäre nur zu erreichen, wenn von einem Standpunkt aus das Sehfeld entworfen wird. Diese einheitliche Perspektive fehlt im Epos.16 Die Horizonte wechseln, und das sorgt beim heutigen Leser für Irritation. Soviel lässt sich indessen sagen: Im Mittelpunkt des Interesses steht die Burg. Entsprechend hervorgehoben erscheint sie im Bild. Die anderen Gegebenheiten sind dagegen nebensächlich. Was nicht vorhanden ist, ist eine perspektivische Konstruktion, nach der die Dinge im Raum geordnet wären, ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung. Der mittelalterliche Autor fasst das anders auf. Er folgt nicht einer Disziplinierung der Wahrnehmung, die nur das aufnimmt, was von einem Standpunkt aus gesehen werden kann. Davon ist er frei. Er schildert nicht, was er sieht, sondern was er weiß. Groß rückt er ins Bild, was wichtig ist, die Burg und die Frauen an den Fenstern. Seine Sicht richtet 14 Parz., 162. 15 Nachweise bei E.R. Curtius, a.a.O., S. 194. 16 Vgl. Parz. 534 f; Gruenter führt noch Beispiele aus anderen Epen an, die ganz ähnlich gelagert sind; vgl. a.a.O., S. S. 300ff.
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sich nach der Bedeutungsperspektive. Eine zentralperspektivische Organisation der Wahrnehmung ist ihm offenkundig fremd. Von Landschaft kann man daher nicht sprechen. Das Muster Landschaft hat sich noch gar nicht herausgebildet. Noch sparsamer als Wolframs Parzival ist in Bezug auf die Anschaulichkeit der Ortsangaben der Tristan des Gottfried von Straßburg. Beispielsweise erfährt man erstaunlich wenig über die Stätten, zu denen Tristan auf seiner ersten Reise nach Tintajel kommt. Geradezu üppig ausgemalt ist dagegen die Umgebung der sogenannten „Minnegrotte“.17 Tristan und Isolde haben sich zurückgezogen aus der Gesellschaft. An einem abgelegenen Ort leben sie ganz ihrer Liebe. Eine paradiesische Natur umfängt die Liebenden. Inmitten einer Wildnis liegt eine Wiese; Blumen blühen da; eine Quelle plätschert, und die Vögel singen; eine Linde spendet Schatten; und als sei das alles noch nicht genug, umfächelt ein kühler Lufthauch das Paar. Wiese, Blumen, Wasser, Baum, Vogelgesang, Lufthauch – damit sind die Kennzeichen des Lustortes, des locus amoenus beisammen, einschließlich derjenigen, die auch einmal fehlen können wie der Lufthauch. Keine reale Situation wird hier geschildert. Gottfried zitiert einen literarischen Topos. Eine Begebenheit, der Rückzug der Liebenden, verlangt nach einer passenden Kulisse, und die wird eben aus dem literarischen Fundus genommen. Wie der ‚wilde Wald‘ ist auch der ‚liebliche Ort‘ eine Chiffre, die hineingehört in ein System festgelegter Bedeutungen. Mit Naturbeobachtung hat das kaum etwas zu tun. Das Tableau ist ebenso wenig eine Schöpfung des Dichters, ist kein Produkt seiner Kreativität und Originalität. Bei der mittelalterlichen Dichtung handelt es sich, nach einer Formel von Ernst Robert Curtius, nicht um „Erfindung“, sondern um „Findung“, um die Aufnahme, Abwandlung, Neubearbeitung typischer Themen, Vorbilder und Wendungen.18 Der Topos vom locus amoenus ist alt. Er geht zurück auf Homer, und selbst die ‚Minnegrotte‘ ist vorgebildet in der Höhle der Kalypso aus der Odyssee. Diese Topik hält sich lange. Curtius sagt dazu, dass der locus amoenus, „von der [römischen] Kaiserzeit bis zum 16. Jahrhundert das Hauptmotiv aller Naturschilderung“ gewesen sei.19 Dass diese Darstellung keine originäre Schöpfung ist, spricht nicht gegen ihre ästhetische Qualität. Die Auffassung, Kunst basiere auf der Wiedergabe von Erlebnissen, bedürfe der Beglaubigung durch eine authentische Erfahrung, geht zurück auf das romantische Kunstverständnis. Älter ist der virtuose Umgang mit dem vorgegebenen künstlerischen Material, mit Themen, Motiven und 17 Tristan und Isolde, 17139ff. 18 Rhetorische 1aturschilderung im Mittelalter, in: Alexander Ritter, a.a.O., S. 71. 19 Lat. Lit. u. europ. Mittelalter, a.a.O., S. 202; über den locus amoenus findet sich auch einiges oben, im 1. Kp.
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Formen. Das schließt nicht aus, dass Persönliches, eigenes Erleben in die Dichtung einfließt; gerade das belebt sie, gibt ihr Spannung und Tiefe. Die Adaption vorgeprägter Stoffe darf nicht zu einer geistlosen, schablonenhaften Wiederholung herabsinken. Das wird deutlich an einer Tradition, von der Gottfrieds Bearbeitung des Lustortes auch abhängig ist. Die Liebeslyrik des Mittelalters, der Minnesang, kennt den sogenannten ‚Natureingang‘. Dieser ist so etwas wie ein Präludium. Die Darstellung der schönen Natur bereitet vor auf die eigentliche Liebesbegegnung. Obwohl es sich dabei um einen festen Topos handelt, gewinnt man doch häufig den Eindruck, dass daraus ein unmittelbares Empfinden spricht, so bei Walther von der Vogelweide. Liebe und eine reizende Naturumgebung, das gehört zusammen, und daran hält sich auch Gottfried von Straßburg. Das Resümee fällt so aus, dass die mittelalterliche Epik keine empirische Naturbeschreibung bietet, daran ist sie gar nicht interessiert. Dazu fehlen ihr auch die Voraussetzungen, denn sie kann nicht auf Sehgewohnheiten zurückgreifen, die sie in die Lage versetzten, eine Szenerie ‚nach der Natur‘, wie es später heißt, wiederzugeben. Hans Sachs muss seine Vaterstadt Nürnberg sehr geliebt haben. Er preist sie in einem langen Gedicht.20 Rühmenswert findet er nicht allein ihre Baulichkeiten, ihre Häuser und Verteidigungsanlagen, sondern auch die Verfassung der Bürgerschaft mit ihren wohl durchdachten Einrichtungen. Das Poem ist, wie andere von Hans Sachs auch, der Gattung der Lehrgedichte zuzurechnen, weist also große beschreibende und gedankliche Anteile auf und gehört deshalb hierher. Es hat den Charakter einer dem Tatsächlichen verpflichteten Bestandsaufnahme. Aus ihm spricht ein ausgeprägter Sinn für Zahlen und Fakten. Dieselbe Haltung bringt der städtische Bürger Hans Sachs auch gegenüber der Natur auf. Bei seinen Ausflügen vor die Stadt sieht er genau hin; er registriert auch das Alltägliche, das scheinbar Banale. Beispielhaft dafür ist ein Gedicht, das sich mit der Frage beschäftigt, an welchen Vorboten man aufziehenden Regen erkennen kann.21 Bemerkenswert ist schon, dass sich die Dichtung überhaupt einem solchen Thema zuwendet. Darin bekundet sich die neue Weltsicht der Renaissance. Geweckt ist das Interesse am Beobachtbaren, an der Erkundung der vor den Sinnen liegenden Gegebenheiten. Und Hans Sachs notiert akribisch, dass sich Regenwetter dadurch ankündigt, dass die Himmelserscheinungen ihr Licht verändern, dass die Pflanzen ein anderes Aussehen, die Tiere 20 Ein lobspruch der statt 1ürnberg, Hans Sachs, Werke, hrsg. v. Adelbert Keller, Stgt. 1870, Bd. IV, S. 189ff. 21 Die zeichen des regenwetters; zitiert nach: Deutsche 1ational-Litteratur, hrsg. v. Joseph Kürschner, 20. Bd., Hans Sachs’ Werke I, Bln. u. Stgt. o.J., S. 70ff.
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ein auffälliges Verhalten annehmen. Eine Fülle von Einzelbeobachtungen trägt er zusammen: Bleich scheint die Sonne bei ihrem Aufgang; dunkler gefärbt sind der Wald und die Hecken; Spinnen verkriechen sich, Bienen bleiben im Korb; das Vieh wird vermehrt gestochen von Bremsen und Stechmücken; und der Rauch bleibt im Haus. Dieselbe Achtsamkeit auf das Einzelne findet sich auch in anderen Gedichten. Und dann hält er bei einem Gewitter fest, wie sich größere Formationen – das Gebirge, die Wälder – verdunkeln und erfasst werden von den Blitzen und dem Regen. Und nun setzt er für das Gefüge von Naturformationen den Begriff „landschafft“ ein. Er gewahrt, dass bei aller Verschiedenheit die Gestalten doch eine Einheit bilden, dass sie in denselben Zusammenhang gehören. Man kann also hier verfolgen, wie sich bei Sachs eine Sicht herausbildet, die das Ganze in den Blick nimmt.22 Dafür gebraucht er den Begriff ‚Landschaft‘. Das zitierte Gedicht ist auf 1534 datiert. Drei Jahre später, also 1537, beschreibt Sachs die für diese Sicht der Dinge typische Situation. Von einem erhöhten Standpunkt aus betrachtet einer die vor ihm sich ausbreitende Gegend. In einer Passage des Gedichts Die ehrentreich fraw Mitltigkeit mit ihrem holdseligen wandel heißt es: „Nach dem wir auff den thurn / Bayde gelassen wurn, / Auff dem wir bayde sahen / Die landschafft ferr und nahen …“23 Hans Sachs ist wohl der erste, der den Ausdruck ‚Landschaft‘ für eine Naturbeschreibung verwendet. Allerdings ist dessen Bedeutung bei ihm noch schwankend. Nur fünf Jahre früher, 1532, scheint er sich an den alten Sprachgebrauch zu halten, der damit eine Provinz als Einheit eines Landes und seiner Bewohner bezeichnete. Im Gedicht Ein klag zu Gott über die grausam wüterey des grausamen Türkgen ob seinen viel kriegen und obsigen stehen die Verse: „Die landschafft allenthalb durchstraifft, / Alle ding verwüst und zerschlaifft, / Flecken, dörffer und merck verheert, / Verbrend und die mannschafft ermört, / Geschendet die jungfrawen …“24 ‚Landschaft‘ im Sinne eines Stückes der Erdoberfläche, wie sie sich den Blicken darstellt, ist jedoch keine Neuprägung des Hans Sachs.25 Diese Bedeutung ist schon vorher belegt für Naturgemälde; interessanterweise auch bei Sachsens Nürnberger Mitbürger und Zeitgenossen Albrecht Dürer.26 Auch hier zeigt sich wieder, dass in der Naturdarstellung die Malerei der Dichtung vorangeht. Hans Sachs jedenfalls führt ‚Landschaft‘ als Bezeichnung 22 Das Gedicht heißt: Bald-anderst so bin ich genandt, Der gantzen welte wol bekandt, Werke, ed. Keller, a.a.O., Bd. V, hier S. 310. 23 Ebd., Bd. III, S. 244. 24 Ebd., Bd. II, S. 436. 25 Das meint Johanne Messerschmidt-Schulz, Zur Darstellung der Landschaft in der deutschen Dichtung des ausgehenden Mittelalters, Breslau 1938, S. 113. 26 Belege bei Eberle, a.a.O., S. 24.
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eines geschauten Naturausschnittes in die Dichtung ein. Wenn diese auch dem Begriff und der Sache nach bei ihm vorhanden ist, so bringt er es jedoch noch nicht dazu, sie überzeugend zu gestalten. Das belegt ein Auszug aus dem Gedicht Die großmütigkeit oder sterck: „Nach dem ließ sie mich sehen / Inn die ferr und die nehen / Berg, tal unnd finstren welder, / stett, dörffer und bawfelder, / Obßgerten unnd weinperg, / Allerley gut mülwerck, / Darundter auch ein stat…“27 Festzustellen ist, dass sich das Gesehene nicht zu einem Bild fügt. Die Teile stehen unverbunden nebeneinander, ihre Anordnung im Raum bleibt unbestimmt. Wir haben hier nicht eine Landschaftsdarstellung vor uns, sondern lediglich eine Aufzählung. Das Interesse an der Naturbeobachtung, das bei Sachs zu bemerken ist, findet sich sonst kaum in der zeitgenössischen Prosa. Sie beschäftigt andere Themen. Vom Menschen wird erzählt, von seltsamen Schicksalen, von Tugenden, Lastern, Verfehlungen, von klugen und törichten Handlungen. In den frühen Romanen, in der Schwankliteratur und in der Novellistik geht es darum, wie man in der Welt leben soll und woran man Halt und Orientierung findet. Die Prosadichtung der Reformationszeit entwickelt wenig Sinn für Naturbetrachtungen. Als Beispiele lassen sich Autoren wie Jörg Wickram anführen, aber auch die Verfasser der sogenannten Volksbücher. Als es den Simplicissimus in den Schwarzwald verschlägt, öffnet sich ihm auf dem Mooskopf nach allen Himmelsrichtungen eine weite Aussicht: gegen Aufgang in das Oppenauer Tal und dessen Nebenzinken, gegen Mittag in das Kinziger Tal und die Grafschaft Geroldseck, allwo dasselbe hohe Schloß zwischen seinen benachbarten Bergen das Ansehen hat wie der König in einem aufgesetzten Kegelspiel; gegen Niedergang konnte ich das Ober- und Unterelsaß übersehen, und gegen Mitternacht der Niedern Markgrafschaft Baden zu den Rheinstrom hinunter, in welcher Gegend die Stadt Straßburg mit ihrem hohen Münsterturm gleichsam wie das Herz mitten in einem Leib hervorpranget.
Aber von einer „Landschaftsschilderung“, das wäre übrigens die einzige im ganzen Roman, kann nicht die Rede sein.28 Allenfalls in Ansätze ist die anschauliche Wiedergabe der Prospekte zu erkennen. Ebenso wenig handelt es sich um den „ersten Fernblick“, der in deutscher Spra-
27 Werke, a.a.O., Bd. III, 268. 28 Das meint der Herausgeber Kelletat in seinem Nachwort; vgl. Grimmelshausen, Simplicissimus, a.a.O., S. 633; die Stelle findet sich im 24.Kp., S. 487.
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che überliefert ist.29 So etwas gab es schon im höfischen Epos, und Hans Sachs wurde ja soeben zitiert. Was Grimmelhausen macht, ist wenig mehr, als dass er geographische Benennungen aufführt. Eine Umsetzung ins Bild leistet er nicht. Dergleichen liegt ihm auch fern. Seinem Helden ist nicht gestattet, bei der Schönheit, von der er sich angezogen fühlt, zu verweilen. Prompt meldet sich sein Gewissen, welches ihm sagt, dass dadurch der Mensch abgezogen werde von einem gottgefälligen Leben. Unter solchen Prämissen entsteht keine Auseinandersetzung mit der natürlichen Umgebung, keine Erkundung und Beschreibung des physischen Bereiches. Dieser hat gar kein eigenes Sein. Seine Erscheinungen sind nur Zeichen, die auf das Überirdische, die auf das Göttliche hinlenken, und was in der Natur begegnet, hat einen festgelegten religiösen Sinn. Davon ist die Weltsicht des Barock durchdrungen. Und seine Dichtung ist durchweg emblematisch. Das wurde im 3. Kp. schon gezeigt und darauf braucht an dieser Stelle nur verwiesen werden. Für eine historische Betrachtung ergibt sich, dass der Barock-Roman retardierende Tendenzen besitzt. Die literarische Behandlung der Natur hat eben eine Geschichte, deren Verlauf nicht linear ist. Gemessen an einer empiristischen Einstellung, wie sie in der Renaissance zu bemerken ist, gemessen auch an der wissenschaftlichen Entwicklung, ist vieles in der Barock-Dichtung eine Rückwendung. Wie man überhaupt den Eindruck gewinnt, dass in dieser Epoche die religiöse Problematik andere geistige Bestrebungen überlagert. Zu spüren sind darin die Auswirkungen der Glaubenskämpfe, des Dreißigjährigen Krieges, der alle irdischen Sicherheiten zunichte machte. Die Reaktion darauf war, in der Religion einen Halt zu suchen. Die allegorische Betrachtung hat ihr Vorbild im Mittelalter. Man braucht nur an ein Werk wie den Physiologus zu erinnern. Unter Hinweis auf die Bibel wird darin jedem Wesen ein Sinn zugesprochen; es wird symbolisch aufgefasst. So steht das Lamm für Christus und die Reinheit; die Schlange, der Drache, der Bär für den Teufel; Hase, Schwein und Hyäne für Unreinheit und Schwelgerei; der Schwan für den Tod. Arno Schmidt hat ihn den „Kirchenvater deutscher Naturbeschreibung“ genannt, und er hatte Recht damit.30 Gemeint ist Barthold Heinrich Brockes (1680 – 1747). Auch bei ihm sind das Veilchen und die Nelke nicht einfach Blumen. Sie sind Sinnbilder. Für die Demut steht das eine, für die Vergänglichkeit die andere. Darin macht sich noch die 29 Das vermutet der Herausgeber Helmut J. Schneider im Vorwort zur Sammlung Deutsche Landschaft, Frankfurt/M. 1981, S. IX; er versieht das allerdings mit einem Fragezeichen. 30 Arno Schmidt, Das essayistische Werk zur deutschen Literatur in vier Bänden, Bd. 1, Zürich 1988, S. 14.
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allegorisierende Art des Barock bemerkbar. Und doch hat sich alles von Grund auf verändert. Nicht mit vorgefassten Meinungen geht Brockes an die Dinge heran, nicht mit einem Sinngehalt, der ihnen von der Tradition unterlegt wurde. Damit bricht er, darin erstaunlich radikal. Welche Bedeutung die Dinge haben, muss sich erst ergeben; das steht am Ende einer eingehenden Untersuchung. Brockes setzt ganz auf die Beobachtung. Es ist das Zeugnis der Sinne, das dem Menschen die Welt erschließt. Das freilich darf nicht für sich allein stehen; nicht ein wie immer gearteter Sinnentaumel wird damit propagiert. Was sich der Wahrnehmung mitteilt, was den Menschen unmittelbar berührt, ihn verlockt und betört, muss eingebunden sein in eine vernünftige Betrachtung. „Vernünftig sehen“, wie es in einem Gedicht heißt, könnte als Motto über dieser Literatur stehen. Die Ratio leitet dazu an, die Sinnendaten einzuordnen; sie lässt erkennen, wie sich das einzelne in einen größeren Zusammenhang einfügt. Alles in der Welt, auch das scheinbar Widersinnige, ist nützlich, es dient einem Zweck und ist Teil einer großen Ordnung. Brockes’ Weltsicht ist durchweg teleologisch. Unerschütterlich glaubt er daran, dass die Welt von Gott zweckvoll eingerichtet sei. Das zeigt sich im Kleinen wie im Großen. Das Geringste ist ebenso der Beachtung wert wie das Erhabenste. Überall ist die göttliche Weisheit und Liebe zu spüren. „O Gott, der Du in Deinen Werken / Dich jedem gibest zu bemerken…“31 Den Schöpfer im Geschöpf wiederzufinden, darin besteht das Irdische Vergnügen in Gott, so der Titel seines Mammutwerkes, das neun Bände umfasst.32 Im Zusatz steht, was es enthält, nämlich Physicalisch-Moralische Gedichte. Die ästhetische Deskription eines Naturphänomens wechselt mit einer moralischen Lehre. Dieses Verfahren wird in allen Stücken beibehalten. Nach einer eingehenden Beschreibung des gewählten Gegenstandes, wobei dessen Schönheit und Zweckmäßigkeit erwogen wird, folgt der Hinweis auf den Urheber. Brockes dreht die christliche Bewertung einer sich der Natur zuwendenden Haltung geradezu um. Galt dies in der Tradition als sündhafte Neugierde und dem Seelenheil abträgliche Sinnenlust, als ‚concupiscentia aurium et oculorum‘, so macht Brockes daraus einen Gottesdienst. Und „Atheisten“ nennt er die, die dem Kreatürlichen nicht die gebotene Achtung entgegenbringen. Immer wieder bemüht er das Bild vom ‚Buch der Natur‘, in dem sich Gott offenbart habe. Mit kirchlichen Lehren, auch mit denen der protestantischen Orthodoxie, hat das 31 Das Werk von Brockes ist schwer zugänglich, weil er nach dem 18. Jahrhundert nicht mehr ediert wurde. Immerhin gibt es ein Reclam-Bändchen. Wenn möglich, wird daraus zitiert (Stgt. 1963, hier: S. 42.) Eine kompakte Darstellung findet sich bei Buch; darauf sei hier ausdrücklich verwiesen; Buch setzt sich auch mit den Urteilen früherer Literaturhistoriker auseinander. 32 Hamburg 1734–1748; im Folgenden nach Bd. und Seitenzahl zitiert.
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wenig gemein. Diese beharren gerade darauf, dass Gott jenseits der Natur zu finden sei. Genaue Beobachtung und religiöse Andacht sind also bei Brockes keine Gegensätze. An der Erkundung der Natur sollen alle Sinne beteiligt sein, so ist es im Schöpfungsplan vorgesehen. Die Welt präsentiert sich nicht nur den Augen, sie tönt, riecht, schmeckt, und sie fühlt sich an. Das kehrt in Brockes’ Dichtung wieder, so wenn er die Klänge und Geräusche eines Frühlingstages aufnimmt. Da „flöten“, „locken“, „singen“, „zwitschern“, „schlagen“, „rufen“, „pfeifen“, „jubilieren“, „gurgeln“, „girren“ die Vögel, das Gras „knirscht“ unter dem Biss des Viehs, und der Bach „klatscht“, „rieselt“ und „rauscht“.33 Den Geruch der Rose sucht Brockes einzufangen. Und die Früchte im Garten sind nicht nur schön anzusehen, sie schmecken auch noch. Allerdings bedarf die Wahrnehmung der Anleitung. Das gilt vor allem für den vornehmsten Sinn, für das Sehen. Darüber stellt Brockes Reflektionen an. Er ist der Auffassung, dass man zumeist nicht richtig hinguckt. Das liegt einmal daran, dass sich die den Blicken darbietende Vielfalt zu einer Zerstreuung der Wahrnehmung führt; dann aber auch daran, dass die Gewohnheit eine eingehendere Prüfung verhindert. Dagegen hilft „Die Kunst, vernünftig sehen zu lernen“. Das erste ist, dass man jedes Ding „mit Achtsamkeit gebührend anblickt“.34 Die Malerei gibt dafür das Vorbild ab. Brockes fordert also ein bewusstes Sehen. Die dazu nötige Konzentration kann durch einfache Techniken erlangt werden. Es genügt schon, wenn man, wie bei einem Teleskop, durch die hohle Hand guckt. Dadurch wird eine Gesamtansicht in Teilaspekte zerlegt. Die Ausgrenzung des Vielen und die Sammlung auf den Ausschnitt lassen das Einzelne schärfer hervortreten. Dessen Absonderung von der Umgebung hat noch einen weiteren Effekt. Es erscheint in einem neuen Licht, und die durch die Routine abgestumpfte Rezeptivität erhält neue Anreize. Um die Wahrnehmung zu optimieren und zu intensivieren, setzt Brockes Instrumente ein, Fernrohre, Mikroskope, und er ist mit der Lupe unterwegs. Damit geht er unbefangener um als Goethe. Er hält diese Mittel nicht für eine Verfälschung der menschlichen Naturrezeption, sondern für deren Erweiterung. Es ist die Schulung des Sehens, durch die er auf bis dahin unbekannte Phänomene stößt. Lange vor den Impressionisten und auch noch vor Goethe entdeckt er die Farbigkeit der Schatten. Er spricht von „roten“ und „grünen Schatten“ und von einer „grünen Nacht“.35 Brockes’ Gegenstand ist die Natur. Er untersucht alle ihre Erscheinungen, die elementaren Formen der Materie wie Wasser und Luft eben33 Reclam S. 6ff. 34 So der Titel eines Gedichts, VI, 330; das zweite Zitat: VI, 15. 35 Reclam S. 45, 47, 51.
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so wie die Regungen pflanzlichen und tierischen Lebens oder das Erscheinungsbild einer Gegend. Seine Beschreibungen sind anfänglich noch in traditionelle Formen der Poesie gefasst. Diese Darbietungsweise gibt er aber zunehmend auf, und in den letzten Bänden des Irdischen Vergnügens in Gott nähern sich seine Reime einer Prosadeskription. Studieren kann man bei ihm verschiedene Verfahren einer Kunst der Beschreibung. Das erste wäre die bloße Nennung und Identifizierung des Gegenstandes, wie sie in den Überschriften zu finden sind, z. B. Die Kaiserkrone. Darauf folgt die Reihung: Dinge werden einfach aufgelistet. Der Reiz liegt hier in der Vergegenwärtigung der dinghaften Fülle der Welt; und zudem hat der oftmals exotische oder absonderliche Klang der Wörter eine ganz eigene Faszination. Seitenlange Kataloge von Blumen oder Steinen hat Brockes angelegt. Das hört sich dann so an: „Iaspis, Adamas, Achates, / Lychius, Autoglyphus, / Bostrychites, Aspilates, /“ usw., usw.36 Eine weitere Methode besteht in der näheren Charakterisierung eines Phänomens durch Adjektive. Dabei beruht die Könnerschaft darauf, Nuancen und Abstufungen zu erfassen. Das ist bei Brockes besonders in der Behandlung der Farben zu bemerken. Im Gedicht über die Rose ist von „kühler roter Glut“ und von „bläulich-weißer und rötlich-klarer Pracht“ die Rede. Eine wichtige Rolle spielt der Vergleich, und die Beschreibung lebt sehr stark von der passend gewählten Aneinanderhaltung zweier Sachverhalte. „Tropfen, die aufs Weiße fallen, / gleichen glänzenden Kristallen, / Die aufs Rötliche Rubin’, / Und Smaragden, die auf Grün.“ Noch ein anderes Verfahren ist die analytische Zergliederung eines kompakten Eindrucks. So wird etwa die auf den ersten Blick nur als Weiß erscheinende Farbe einer Kirschblüte sorgfältig in allen Schattierungen beleuchtet.37 Und schließlich gibt es die Möglichkeit, ein Naturphänomen im Klang und Rhythmus der Sprache nachzuahmen. In der lautmalerischen Darstellung von Vorgängen und Tätigkeiten hat Brockes eine große Kunstfertigkeit entwickelt. Darunter sind artistische Kabinettstückchen wie die Transponierung des Nachtigallengesangs in Sprache, welche die Zeitgenossen sehr bewundert haben. Überhaupt kommt ihm bei seiner Dichtung nicht nur seine Beobachtungsgabe zustatten, sondern auch seine Musikalität, die ihm die Anerkennung von Männern wie Wieland einbrachte, und Händel hat etliche seiner Verse vertont. Mit großer Leichtigkeit wechselt er Tempi, Rhythmen und Tonarten. Im selben Gedicht gelingen ihm Übergänge von einem getragenen, elegischen Ton zu einem lebhaften, heiteren. 36 Zitiert nach Buch, S. 81. Zu den Formen der Beschreibung vgl. ebd., S. 81 ff; die hier gegebene Darstellung folgt nicht in allem Buch. 37 Reclam, S. 45, 48, 13.
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Die teilweise sehr umfangreichen Stücke kann man in drei Gruppen unterteilen. Die erste beschäftigt sich mit einer einzelnen Gestalt, einer pflanzlichen zumeist. Ihr geht Brockes bis in die feinsten Verästelungen nach. Noch die subtilsten Formen und Farbtönungen sucht er zu erfassen. Die filigranen Bildungen von Birnenblüten macht er zum Gegenstand seiner Betrachtung. Und ein langes Poem ist der Rose gewidmet. Darin heißt es: Es sind die Blätter dicht / Und doch so dünn und zart, / Daß selbst das Licht / Durch ihr so angenehm gefärbt Gewebe bricht, / Sich mit den rötlichen gelinden Farben paart / Und, selber rot gefärbt, die innern Blätter färbet. / So dünn ist jedes Blatt, zumalen wenn es naß, / Daß es durchsichtig wie ein Glas. / Man kann in ihnen oft das zärtlichste Gespinste / Der dünnen Adern sehn, / Woran durch der Natur uns unbekannte Künste / Viel kleine klare Bläschen stehn. / Sie sind, da sie mit rotem Saft erfüllt, / Der Adern recht natürlich Bild.38
Solche minutiöse Schilderungen haben Brockes den Ruf eines „Kleinmalers“ eingetragen, von einem, der fixiert ist auf eine enge, überschaubare Welt. Gewiss, seine Betonung der Nützlichkeit der Dinge, seine Zuwendung zum Alltäglichen hat zuweilen etwas Philiströses. Aber damit begnügt er sich nicht. Ein Teil seines Werkes richtet sich aufs Universale, auf das Große und Gewaltige der Schöpfung. Das ist Gegenstand einer zweiten Gruppe von Gedichten. Sie befasst sich mit atmosphärischen Ereignissen und kosmischen Vorgängen. Thema wird beispielsweise ein Gewitter. Nun gibt Brockes aber nicht wieder, was davon von einem bestimmten Standpunkt aus zu sehen und zu hören ist, auch nicht, wie sich eine Gegend unter diesen Bedingungen ausnimmt. Was er tut ist, dass er verschiedene geographische Formationen durchgeht und festhält, was das Gewitter bei ihnen angerichtet, wie es das Meer, das Gebirge, den Wald erfasst und seine Kräfte an ihnen austobt. Das erinnert an die ‚Überblickslandschaften‘ der Malerei, bei denen ja auch verschiedene Weltgegenden auf einem Bild zusammengedrängt werden. In kosmische Weiten geht die Untersuchung über die Sonne und das Licht. Wieder entwirft Brockes zunächst eine Art Weltlandschaft, zeigt, wie die Sonne über hohe Berge kommt und sich über die ungeheuren Weiten des Meeres ausbreitet; dann behandelt er die Jahres- und Tageszeiten; schließlich folgt er dem Licht in den Weltraum. Unendlich sind die Entfernungen, die es durchdringt. Und um das, was das menschliche Fassungsvermögen übersteigt, wenigstens kommensurabel zu machen, führt er gigantische Größen an, die aber allesamt an die Größe des Lichts nicht heranreichen.39 Brockes ist geradezu beses38 Ebd., S. 45. 39 Vgl. die Gedichte Die auf ein starkes Ungewitter erfolgte Stille und Die Sonne, Reclam, S. 14 ff, S. 53ff.
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sen von der Unendlichkeit. Das resultiert daraus, dass er sich als Empiriker versteht. Das Bemühen um Präzision ist eine Bewegung, die nie ans Ziel kommt, sie führt zu immer neuen, bis dahin übersehenen Tatbeständen. Diese Entdeckungen beziehen sich auf Kleines und Großes, auf Nahes und Fernes, sie gehen ins Mikrokosmische wie auch ins Makrokosmische. Die Tendenz zum nicht enden Wollenden reflektiert sich auch in Brockes’ Gedichten; sie haben etwas Uferloses, können immer noch einen weiteren Aspekt zu den schon aufgeführten beibringen. Das ist auch ihre Schwäche. Denn, und das ergibt sich schon aus der Leseerfahrung, über der ausgebreiteten Fülle von Einzelheiten droht der Sinn für das Ganze verloren zu gehen. Aber Brockes ist einer der ersten in der deutschen Literatur, dem die Landschaft glückt. Das erreicht er durch eine sich selbst auferlegte Beschränkung. Die Landschaftsschilderung macht die dritte Gruppe von Gedichten aus. Zu finden ist sie vor allem im Band 7 des Irdischen Vergnügens in Gott, der überschrieben ist Landleben in Ritzebüttel. Ritzebüttel liegt an der Elbmündung und gehört zu Hamburg. Brockes bewohnt da ein stattliches Anwesen, ein „Amtshaus“. Und was ihm daran besonders gefällt ist ein „Türmchen“. Von da hat er eine wundervolle Sicht auf die umliegende Gegend, auf Gärten, Wiesen, Felder, bis dahin, wo die Elbe den Blick begrenzt und Wasser und Himmel ineinander übergehen. Fünf Fenster hat der Turm und jedes bietet eine andere Aussicht. Den Fensterausschnitt nimmt Brockes als Rahmen für sein Landschaftsgemälde.40 Darin liegt die Selbstbeschränkung und damit ist auch die erste Bedingung für eine ganzheitliche Betrachtung erfüllt. Fontane wird mit seinen Blicken aus dem Fenster zu einer ähnlichen Anordnung kommen. Die fünf Landschaftsbilder baut nun Brockes ganz systematisch auf, gegliedert nach „Vordergrund“ und einen darauf folgenden mittleren Bereich; den Schluss bildet „der Augen Horizont“. Die Anschaulichkeit ergibt sich daraus, dass der Leser die sich ablösenden Hinsichten nachvollziehen kann. Um das zu erreichen, darf der Blick nicht umhervagabundieren, er muss sich, ganz diszipliniert, an eine festgelegte Abfolge halten; oder richtiger: die Darstellung muss das tun. Seinen Schilderungen schickt Brockes einige Reflektionen voraus. Sie formulieren, was neben der Umrahmung zu einer Landschaftsdarstellung gehört. Der Turm gewährt eine Abständigkeit, und die ist räumlich und geistig zu verstehen. Von da oben hat der Autor nicht nur Distanz zum Gegenstand der Darstellung, sondern auch zu seinen alltäglichen Sorgen. Er ist frei dafür, die Schönheit des Ausblicks auf sich wirken zu lassen.
40 Sie finden sich: VII, 310ff.
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Seine Kunst versteht Brockes als getreue Nachahmung der göttlichen Schöpfung, als „geistige Copie der Welt“. Aber sie ist deshalb keine simple Verdoppelung; sie will die Natur zum Sprechen bringen, will ihre Pracht und Schönheit sichtbar, will sie bewusst machen. Und wenn sie das erreicht, übertrifft sie sogar das Urbild.41 Wie schon Brockes ist auch Albrecht von Haller (1708 – 1777) der Aufklärung zuzurechnen. Seine Naturdichtung ist beschreibend, nicht mehr emblematisch wie die des Barock. Er selbst bezeichnet seine Intention als „malend“. Und als ‚malende Poesie‘ ist dann auch die ganze Richtung in die Literaturgeschichte eingegangen. Neben Haller gehören Brockes und Ewald von Kleist zu ihren Vertretern. Die Dichtung rangiert für Haller aber erst an zweiter Stelle. Er ist vor allem Arzt und Naturforscher, sogar einer der hervorragendsten seiner Zeit. Das wissenschaftliche Ethos ist auch in seine Verse eingegangen. Er ist bestrebt, strikt bei der Wahrheit zu bleiben, das heißt bei dem, was die Natur ihm zeigt. Wenn etwas gar zu fiktiv erscheint, als eine Erfindung der dichterischen Phantasie, fühlt er sich verpflichtet, in einer Fußnote genaue Angaben über das betreffende Phänomen zu machen.42 Sein Name ist vor allem mit seiner Dichtung Die Alpen verbunden, und man sagt, mit ihr sei die Schönheit des Hochgebirges überhaupt erst erschlossen worden. So ganz stimmt das freilich nicht. Er hatte Vorläufer, die neben dem Furchterregenden und Feindlichen der Berge auch deren Majestät und Schönheit gewahrten.43 Und dann ist es nicht das Grandiose der alpinen Welt, es ist nicht deren Erhabenheit und Unberührtheit, die Haller fesseln. Seine Schweiz ist eine bebaute und von Menschen bewohnte Natur, welche arkadische Züge trägt. Und die hohen, schroffen Felswände sind weniger Gegenstand der Bewunderung als vielmehr eine nützliche Einrichtung, durch die das Land von schädlichen Einflüssen abgeschirmt blieb. Allenfalls andeutungsweise erscheint, was doch die Späteren dort suchten, die Größe und Ursprünglichkeit der Hochgebirgsnatur. Richtig ist, dass bis ins 18. Jahrhundert hinein die Bergregionen als hässlich und bizarr galten. Bedacht wurden sie mit Attributen wie ‚grausenvoll‘, ‚erschröcklich‘, ‚abscheuliche Wildnis‘. Dem Schönheitsideal entsprach eine andere Landschaft, eine sanfte, liebliche, die an einen Garten erinnerte, und nicht nur Brockes gibt solchen Gegenden den Vorzug. Der in Bern gebürtige Haller selbst lobt 41 Vgl. VII, 192, VI, 104. 42 Vgl. die Anmerkung zu Vers 360f von Die Alpen; da fällt auch das Stichwort ‚malend‘. Die Alpen werden zitiert nach der Zählung von Hirzel. 43 Biese führt dafür ein Zeugnis aus dem 17. Jahrhundert an (a.a.O., S. 88); die Ansicht, Haller habe den Reiz der Alpenwelt entdeckt, revidiert auch Peter J. Breuner; vgl. Der Reisebericht in der deutschen Literatur, internationales Archiv für die Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 2. Sonderheft, Tübingen 1990, S. 84f.
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anfänglich noch die Schönheit eines ebenen Geländes, wie er es aus Studienjahren im niederländischen Leyden kannte. Das Gefällige daran können Berge nur stören. Erst später, auf einer Fußreise durch seine Schweizer Heimat fühlt er sich von dem gebirgigen Land angezogen. Und er hat nun einen wesentlichen Anteil daran, dass sich das Schönheitsideal ändert. Noch unsere Klassiker, Wieland oder Goethe, schätzen eine hügelige, kultivierte Parklandschaft. Haller ist aber ein gutes Beispiel für Geschmackswandlungen in Bezug auf die Naturwahrnehmung.44 Und es wirkt wie ein ironischer Kommentar zur früheren Geringschätzung der Alpen, dass im 19. Jahrhundert plötzlich jedes Land seine ‚Schweiz‘ haben wollte; darauf wurde jede Ansammlung von Erderhebungen getauft, wie unansehnlich sie auch sein mochten. Und so haben wir denn eine sächsische, fränkische oder gar holsteinische ‚Schweiz‘. Wer von den Alpen eine Reihe von Schweizer Ansichten erwartet, was doch der Titel zu versprechen scheint, wird enttäuscht. Von den 48 zehnzeiligen Strophen befassen sich gerade mal vier mit der landschaftlichen Natur. Weit ausgiebiger widmet sich der Autor den Bewohnern, dem Leben und der Verfassung des Schweizer Volkes. Und man darf vermuten, dass das Werk seinen Erfolg auch den in ihm vorgetragenen gesellschaftlichen und sittlichen Ideen verdankt, nicht nur seinen Naturschilderungen. Allerdings ist das eine von dem anderen nicht zu trennen. Was oben schon dargelegt wurde, im 2. Kapitel, dass nämlich der Begriff ‚Natur‘ sich nicht allein auf die äußere Umgebung bezieht, sondern auch auf moralische Einstellungen und soziale Einrichtungen, kommt hier zum Tragen. Für Haller ist die Natur eine moralische Instanz. Sie gibt den Maßstab vor für das richtige Leben, des Einzelnen und der Gemeinschaft. Seinem eigentlichen Thema schickt Haller eine allgemein gehaltenen Preisung des einfachen Lebens voraus, dessen Glück den „Schülern der Natur“ zuteil werde. Zu finden ist das in den Alpen. Durch die Berge abgeschieden von der übrigen Welt, führen die Schweizer ein bescheidenes Dasein. Zwar gibt ihnen ihr raues, karges Land alles, was sie zum Leben brauchen, aber das muss ihm durch harte Arbeit abgerungen werden. Diese Bedingungen sind indessen die Grundlage ihres Glücks. Nichts ist im Überfluss vorhanden, und das Streben nach Pracht und Luxus, welches Ursache übler Laster ist, der Habgier, der Missgunst, der Herrschsucht, kommt so erst gar nicht auf. Die Schweizer sind arm und frei, frei von den Verirrungen eines Lebens im Überfluss. Denn da, „wo die Natur allein Gesetze gibet“, sind alle gleich, will nicht der eine den anderen ausbeuten und beherrschen. Das Leben 44 Hallers wechselnde Einstellungen sind dokumentiert bei Biese, a.a.O., S. 116f.
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des Schweizer Volkes besteht aus Arbeit und wenigen gesunden Vergnügungen. Und was es wissen muss, das hat es nicht aus Büchern, sondern aus der lebendigen Erfahrung. Haller nimmt die verschiedenen Seiten des Volkslebens durch, berichtet beispielsweise von sportlichen Wettkämpfen und von der ländlichen Arbeit, wobei er auch das Käsen nicht vergisst. Und über die Sitten weiß er zu sagen, dass die Älpler in aller Unschuld die freie Liebe praktizierten. Wichtig sind aber die politischen Ideen, die er vertritt. Sein Werk hat eine antifeudale Tendenz und stellt die Vorzüge einer auf Gleichheit basierenden demokratischen und republikanischen Verfassung heraus. Von daher ist Haller ein Vertreter des Naturrechtsgedankens der Aufklärung. Die eigentliche Naturschilderung lässt sich in drei Teile gliedern, die jeweils vier Strophen umfassen. Auf eine kurze allgemeine Charakterisierung des Landesnatur (311 – 320) folgen Beschreibungen der Landschaft (311 – 360), der Blumen und Kräuter (361 – 400) und der Mineralien und Erze (401 – 440). Unter Natur, die Gegenstand der dichterischen Darstellung wird, ist also ein Ausschnitt der Erdoberfläche begriffen, sowie das, was auf ihr wächst und das, was sich unter ihr verbirgt. Und die Dichtung stützt sich auf geographische, botanische und mineralogische Kenntnisse. Aufklärerisch ist daran, dass die poetische Form solche Kenntnisse popularisieren und weitertragen soll. Ein Blick über das gesamte Gebiet eröffnet sich von einem Berg, damit setzt die Schilderung der Landschaft ein. Hier wird also zunächst ein Standpunkt angegeben. Und nun versteht es Haller, das, was sich dem Betrachter darbietet, eindrucksvoll hervortreten zu lassen. Das gelingt ihm durch einen geschickten Kunstgriff. Der besteht in der Einführung eines dramatischen Elements in die Gegenstandsbeschreibung. Eine Wolke, die wie ein Vorhang die Szenerie verhüllt, zerreißt, und auf einmal steht die ganze Gegend vor dem Betrachter. Dessen Blicke beginnen nun zu wandern und wenden sich den einzelnen Gegebenheiten zu, erfassen Berge, Wälder und Seen. Die Aussicht wird abgerundet durch eine Horizontlinie: „Die blaue Ferne schließt ein Kranz beglänzter Höhen, / Worauf ein schwarzer Wald die letzten Strahlen bricht“ (333 f). Diese Begrenzung ist geeignet eine einheitliche, bildhafte Vorstellung entstehen zu lassen. Das gelingt freilich nur ansatzweise. Hallers Darstellung weist Unsicherheiten auf. So spricht er von einem „angenehm Gemisch von Bergen, Fels und Seen“, und dem Auge zeigt sich „bald …ein nah Gebirg…, bald …ein breiter See“. Das bleibt vage, ist eher eine Aufreihung und schließt sich nicht zu einem einheitlichen Bild zusammen. Es lässt den Leser im Unklaren darüber, in welcher Beziehung die aufgeführten Gestalten zueinander stehen. Von den beiden anderen Partien ist die über die Flora berühmt geworden, schon deshalb, weil Lessing im Laokoon auf sie eingeht. Er
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nennt sie ein „Meisterstück“, zeigt aber gleichwohl an ihr die Grenzen einer literarischen Dingerfassung auf.45 Er bezweifelt, dass einer, der die dargestellten Blumen noch nie gesehen hat, durch die Dichtung eine klare Vorstellung davon bekäme. Allerdings trifft dieser Tadel jede Beschreibung. Das ist in deren Wesen begründet, darin, dass sie sich sprachlicher Zeichen bedient, und die sind, wie Lessing selbst dartut, willkürlich, d.h. sie haben, anders als die pikturalen, nichts mit dem Bezeichneten zu tun, stehen nicht in einem Verhältnis der Ähnlichkeit zu ihm.46 Diesbezüglich kann die Frage nur sein, inwiefern es ein Autor durch geeignete Mittel, durch den treffenden Vergleich beispielsweise, dahin bringt, dass der Leser eine anschauliche Vorstellung der Sache in sich erzeugen kann. Der zweite Einwand geht darauf, dass in der literarischen Präsentation der Gegenstand gewissermaßen zerfällt. Indem nämlich die Beschreibung die verschiedenen Eigenschaften nacheinander darlegt, zerreißt sie, was doch in der Wahrnehmung auf einmal und ungeteilt gegenwärtig ist. Damit spricht Lessing das Problem der Ganzheit an, das ja, wie bereits bei der Behandlung der Landschaft gezeigt wurde, eine der kardinalen Schwierigkeiten der Deskription ausmacht. Lessing kommt zu dem Schluss, dass die Dichtung „unendlich unter dem“ bleibt, „was Linien und Farben auf der Fläche ausdrücken können“. Hallers Blumen könnten mit denen auf den Stillleben eines Huysum nun einmal nicht wetteifern. Dazu wäre noch anzumerken, dass Blumenstücke im Barock sehr beliebt wurden, eine Mode, die von den Niederlanden ausging, und zuerst die Malerei, dann auch die Dichtung erfasste. Das Besondere an Hallers Bukett ist, dass es die Schönheit von Wildpflanzen hervorhebt. Es ist das bleibende Verdienst Lessings, die Schwächen der Beschreibung aufgedeckt zu haben. Und im Falle Hallers verhält es sich so, dass seine Landschaftsdarstellung einprägsamer ist als das Blumenstück. Das ist wohl darauf zurückzuführen, dass mit der Spezialisiertheit einer Sache, also mit der Abnahme der allgemeinen Bekanntschaft, die Schwierigkeit der Deskription zunimmt. Das ergibt sich ja auch aus Lessings Analyse. Bei der botanischen Beschreibung hat Haller zudem Mühe, die Einheit des Gegenstandes zu wahren. Man kann Lessings Kritik also durchaus zustimmen, sofern man sie begreift als Markierung der Grenzen, die dem Medium Literatur bei der Erfassung der Körperwelt prinzipiell gesetzt sind. Zu einem anderen Urteil kommt man, wenn es um dessen Leistungen geht. Lessing wirft Haller vor, er sei nicht bei dem äußeren Anblick geblieben und habe Bezug genommen auf die „Entwicklung der inneren Vollkommenheiten“. Dem ist zu ent45 Vgl. a.a.O., VI, S. 111f. 46 Nähere Ausführungen dazu oben, im 3. Kp.
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gegnen: Genau das ist es, was die Literatur vermag; sie begnügt sich nicht damit, das Äußere abzubilden. Es ist ihr gegeben, auch das darzustellen, was nicht sichtbar ist, das, was anderen Sinnen als dem Auge präsent ist. Und sie kann darstellen, was sich hinter den nach außen gekehrten Eigenschaften verbirgt. Eben darauf will Hallers Replik auf Lessing hinaus, die er unter einem Pseudonym verfasst hat. Er schreibt: Der Dichter „will bloß einige merkwürdige Eigenschaften des Krautes bekannt machen, und dieses kann er besser als der Mahler, denn er kann die Eigenschaften ausdrücken, die inwendig liegen, die durch übrige Sinne erkannt oder durch Versuche entdeckt werden, und dieses ist dem Mahler verboten.“47 Aber dieser Streit ist leicht zu beheben. Es geht nur darum, wie eng oder weit man den Begriff der Dichtung fasst. Eine Beschreibung, wie Haller sie angefertigt hat, gehört für Lessing in die „dogmatische Dichtung“ – das Lehrgedicht ist damit gemeint – und in die „Prosa“, nicht in die eigentliche Dichtung. Darüber kann man allerdings anderer Meinung sein. Hallers Naturdichtung hat mitunter etwas Gezwungenes. Das liegt daran, dass er sich streng an die Form hält, die er sich teilweise selbst vorgegeben hat. Er setzt zehnzeilige Strophen ein, die einen gedanklichen Höhepunkt in den letzten beiden Versen erreichen sollen. Zudem verwendet er den Alexandriner, der bisweilen doch schwerfällig wirkt. Brockes’ sich der Prosa annähernde Verse sind da flexibler und können sich den Gegenständen besser anpassen. Was aber Haller in die Naturdarstellung einbringt, ist deren Dynamisierung. Bleibt Brockes hauptsächlich bei den festen Eigenschaften der Dinge, ist seine Auffassung eher statisch, so bekommen die Erscheinungen bei Haller Leben und Bewegung. Da „öffnen“ sich grüne Täler; ein kahler Berg „senkt“ glatte Wände „nieder“; und auf dem Wasserspiegel eines Sees „wallt“ ein „zitternd“ Feuer. Die ganze Landschaft gerät in Fluss. Und als bewegte erhält sie einen seelischen Ausdruck. Sie teilt sich so dem Betrachter mit, nimmt verschiedene Züge an und unterliegt verschiedenen Stimmungen. Ewald von Kleist (1715 – 1759) hat nur ein schmales Werk hinterlassen. Bekannt geworden ist er vor allem als Verfasser des Frühlings, und hier kommt es nur darauf an, auf ein bestimmtes Merkmal hinzuweisen. Das längere Gedicht schildert ländliche Szenen, die in lockerer Form aneinander gereiht sind. Sie erinnern bisweilen an Genrebilder. Diese Ansichten wechseln ab mit empfindsamen Reflexionen. Und Kleist verleiht der Naturschilderung einen sentimentalen Ton. Wiedergegeben wird, wie sich das Subjekt in der Natur fühlt. Sie wird ihm 47 Zitiert nach Buch, a.a.O., S. 113; zu der hier gegebenen Darstellung Hallers vgl auch S. 97ff.
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zum Dialogpartner, den es anspricht, von dem es sich anregen und in verschiedene Stimmungen versetzen lässt. Die Wirkungen, die die Naturerscheinungen auf ein empfängliches Gemüt haben, werden also zum Thema der Dichtung. Vor der Natur durchlebt der Einzelne verschiedene Empfindungen, er wird friedvoll, freudig, aber auch melancholisch oder traurig gestimmt. Ach wär auch mir es vergönnt, ihr holden Gefilde, / Gestreckt in wankende Schatten, am Ufer schwatzhafter Bäche / Hinfort mir selbst zu leben, und Leid und niedrige Sorgen / Vorrüberrauschender Luft einst zuzustreuen!48
An den ‚malenden‘ Poeten kann man verfolgen, wie sich bestimmte Aspekte herausbilden, die schließlich den Bestand der Naturschilderung ausmachen. Da ist zuerst die empirische Einstellung zu nennen. Sie findet sich bei allen drei Autoren. Die Darstellung beruht auf der Beobachtung, was nicht heißt, dass diese sich eng an die Wirklichkeit halten muss. Sie kann diese nach den künstlerischen Erfordernissen überhöhen oder verkürzen oder Versatzstücke von ihr neu kombinieren. Wie Brockes lehrt, muss das Auge empfänglich gemacht werden für Farben, Formen und räumliche Gegebenheiten. Eine Schulung der Wahrnehmung ist dazu nötig, die bis dahin geht, dass sich bestimmte Sehmuster entwickeln wie das der Landschaft. Was letztere betrifft, so sind Ansätze dazu bei jedem der genannten Dichter vorhanden. Aber Brockes verfährt allzu schematisch. Haller weist Unklarheiten in der räumlichen Aufteilung auf. Und Kleist kommt nicht zur Geschlossenheit eines Bildes, denn seine Prospekte halten nicht einen Blick fest, sondern gehen zu immer neuen Impressionen über.49 Des Weiteren kann eine Beschreibung gewissermaßen an zwei Enden ansetzen, am Objekt und am Subjekt. Die erste Möglichkeit gibt die Eigenschaften der Dinge wieder, verweilt also bei den objektiven Gegebenheiten. Die zweite Möglichkeit richtet sich darauf, in welcher Weise etwas aufgenommen wird, wie also das Ding in der Spiegelung durch ein Subjekt erscheint, welche Reaktionen es auslöst. Schon Georg Forster hatte darauf verwiesen, dass die Beschreibung beim Objekt oder beim Subjekt ansetzen kann.50 Brockes und Haller sind vor allem an den Gegenständen orientiert. Kleist will auch wiedergeben, welchen Widerhall die Naturerscheinungen in der Seele finden. Seine Dichtung schlägt einen empfindsamen Ton an. Sie spricht ausführlich von den Gefühlen, die die Menschen vor der Natur bewegen. Beide Seiten der Beschreibung, die objektive und die subjektive, können selbstverständ48 Ewald Christian von Kleist, Sämtliche Werke, hrsg. v. J. Stenzel, Stuttgart 1971, S. 33. 49 Das zeigt sich z.B. ebd., S. 17f. 50 S. oben Kp. 3.
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lich zusammenkommen und bei Jean Paul und Stifter vereinigen sie sich zu grandiosen Kompositionen. Und schließlich geht die Naturbeschreibung ab von einer statischen Erfassung ihrer Gegenstände, sie wird dynamisch. Das ist bei Haller zu beobachten, aber auch bei Kleist. Damit deutet sich eine bestimmte Auffassung von Natur an. Sie wird zum Gegenüber, das dem Menschen verwandt ist, von dem er sich deshalb angesprochen fühlt. Um aber diesem neuen Verhältnis zur Natur Ausdruck zu verschaffen, müssen erst die literarischen Formen und die sprachlichen Mittel gefunden werden. 1766 ist ein wichtiges Jahr für die deutsche Literatur. Es erscheint Christoph Martin Wielands Agathon. Lessing war einer der wenigen Zeitgenossen, die dessen Wert sogleich erkannten. „Agathon…ist das Werk von dem ich…sagen will, wie sehr ich es bewundere…Es ist der erste und einzige Roman für den denkenden Kopf, von klassischem Geschmack.“51 Zunächst wird konstatiert, dass mit diesem Werk etwas Neues beginnt. Neu ist allerdings nicht die Form. Den Roman hat Wieland nicht erfunden, den gab es schon seit der Antike. Worauf sich Lessings Urteil bezieht, ist die künstlerische Qualität. Die genügt offensichtlich auch den Maßstäben eines anspruchsvollen Lesers. Und wenn Lessing das Wort ‚klassisch‘ gebraucht, so spricht er dem Agathon Vorbildfunktion zu. Nun gilt der Roman noch im 18. Jahrhundert als minderwertig, zumindest in der sich als normativ verstehenden Poetik. Ihren Anforderungen an ein sprachliches Kunstwerk wird er nicht gerecht, und er wurde deshalb auch nicht in den Kanon der anerkannten Gattungen Epos, Lyrik und Drama aufgenommen. Unbefangener behandelt ihn die Literaturkritik. Sie fasst ihn auf als literarische Form neben anderen.52 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzt aber eine gründliche Neubesinnung ein. Und was der Roman zu leisten imstande ist, das hatte Wieland praktisch vorgeführt. Schon im Titel setzt er sich ab von ähnlichen Unternehmen; er lautet: Geschichte des Agathon. Damit wird angedeutet, dass dieses Buch kein Roman sein will, jedenfalls keiner im damals geläufigen Sinn. Darunter verstand man ein Fabulieren über amouröse Affären, und der Begriff Roman war gleichbedeutend mit Romanze. Angereichert war er zudem mit allerhand wunderbaren Begebenheiten und glückhaften Wendungen. Sein Zweck bestand nahezu ausschließlich darin, ein breites Publikum zu unterhalten. Wer dagegen eine ‚Geschichte‘ vorträgt, beabsichtigt etwas ganz 51 Hamburgische Dramaturgie, 69. Stück. 52 Vgl. dazu Kurt Wölfel, Friedrich Blanckenburgs Versuch über den Roman, in: Reinhold Grimm (Hg.), Deutsche Romantheorien Bd. 1, Frankfurt/M. 1968, S. 29 ff; bei den Ausführungen über Blanckenburg wird auf diesen Aufsatz Bezug genommen.
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anderes. Er erhebt den Anspruch auf Wahrhaftigkeit, er will sich ans tatsächlich Geschehene halten. Nun ist freilich auch eine solche Erzählung nur erfunden, was der Autor nicht ernsthaft bestreiten kann. Aber die Fiktion will doch die Wirklichkeit spiegeln, sie will diese mit den Mitteln der Dichtung darstellen und verarbeiten. Indem Wieland die vorhandene Form des Romans mit neuem Inhalt erfüllt, schließt er sich an Entwicklungen an, die sich vorher schon in Westeuropa vollzogen hatten. Das macht schon der Begriff ‚Geschichte‘ deutlich. Auch Fielding gebraucht ihn. Er nennt seine Romane durchweg „histories“. Der Roman sei die „moderne bürgerliche Epopöe“, steht in Hegels Ästhetik.53 Der gemeine Mann zieht also in die Dichtung ein, mehr noch, er wird zur Hauptfigur des großen Erzählwerks. Das ist nicht so zu verstehen, als hätte die Literatur jetzt die kleinen Leute entdeckt, die Bürger, wenngleich der Roman aufs engste mit dem Aufstieg des Bürgertums verbunden ist. Aber der Vorgang ist doch viel fundamentaler. Dass überhaupt ein einfacher Mensch Gegenstand der poetischen Darstellung werden kann, setzt eine dramatische Wandlung des Weltbildes voraus. Vormals, in der Antike, im Mittelalter, beherrschte den Menschen die Vorstellung, in einem geschlossenen Kosmos zu leben. Oben und unten, Himmlisches und Irdisches galten als ausgemacht. Jede Gestalt hatte darin ihren Platz. Das naturhafte und das menschliche Sein besaßen einen ausgewiesenen Sinn. Die Epoche, die diese Einheit noch einmal heraufbeschwört, ist das Barock. Das zeigt sich in einem Stil, der alle Lebensbereiche zu durchdringen sucht, um so ein letztes Mal das grandiose Bild eines ganzheitlichen Daseins zu entwerfen.54 Die Erscheinungen stehen nicht für sich, sie sind Teil eines umfassenden Zusammenhangs. Und die allegorische Betrachtung, wie sie die emblematische Barockdichtung vornimmt, stellt nur die Bedeutung heraus, die sie darin haben. Repräsentanten einer so konzipierten Ordnung sind die Helden des antiken und des mittelalterlichen Epos, Odysseus ebenso wie Parzival oder Dantes Wanderer. Sie sind keine Individuen, ihr Dasein ist durchweg wesentlich. An ihnen vollzieht sich exemplarisch, was dem Menschen in einer bestimmten Weltordnung zugedacht ist. Sie haben deshalb eine exponierte Stellung. Sie können keine einfachen Menschen sein, deren Leben sich im Zufälligen und Marginalen verliert. Was ihnen begegnet, ist das für alle Gültige. Sie durchleben die typischen Wendungen des menschlichen Schicksals oder sie sind verwickelt in die entscheidenden Ereignisse der Geschichte.
53 A.a.O., II, S. 452. 54 Das hat vor allem Hans Sedlmayer herausgestellt; vgl. Verlust der Mitte, Frankfurt/M. – Berlin – Wien 1977, S. 50–53.
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Im Epos haben die Dinge, wie gesagt, einen fertigen Sinn und einen allgemein anerkannten Wert, und festgelegt ist auch, was der Mensch zu tun hat. Worauf es ankommt ist, in bestimmten Lebenslagen und unter besonderen Umständen den verborgenen Sinn aufzuspüren und das Richtige zu tun. Und dabei sind die Menschen dem Irrtum ausgesetzt. Sie können den objektiven Gehalt dessen, was ihnen begegnet, falsch verstehen, und sie können versäumen, das ihnen Aufgetragene zu tun. Odysseus lebt und leidet in einem von den Göttern regierten Kosmos. Und er ist ein Fürst, also einer, der an den politischen und kriegerischen Auseinandersetzungen seines Volkes in führender Position mitwirkt. Er ist, mit einem heutigen Begriff, eine Person des öffentlichen Lebens. Die Welt Parzivals beruht auf der christlichen Heilsordnung, in die auch das Denken und die Wertvorstellungen der herrschenden Adelskaste eingebunden sind. Das Dasein des Ritters vollzieht sich in dem ihm vorgegebenen Rahmen. Die Helden des Epos leben demnach in einer fest gefügten, transzendent begründeten Welt. „Das Verhalten des Geistes in dieser Heimat ist deshalb das passivvisionäre Hinnehmen eines fertig daseienden Sinnes.“55 Eine ‚Heimat‘ bieten die in sich konsistenten metaphysischen Systeme, welche der Mythos, die Religion und die Philosophie entwerfen insofern, als sich der Mensch in ihnen aufgehoben fühlt. Sie weisen ihm einen Ort und eine Bestimmung zu. Exemplarisch ist auch der einfache Mensch, der im Roman auftritt. Anders könnte er auch nicht Gegenstand der Dichtung werden, denn diese will das Allgemeine, das Typische zeigen. Exemplarisch ist er aber nur für eine bestimmte historische Konstellation. Die überkommene Ordnung hat sich aufgelöst. Die Welt verfügt nicht mehr über die Geschlossenheit von einst. An deren Stelle ist ein unendliches Universum getreten. Unendlichkeit ist horizontal und vertikal zu verstehen. Die Grenzen der bekannten Sphäre werden immer weiter hinausgeschoben, in den Makrokosmos und in den Mikrokosmos. Das Teleskop und das Mikroskop sind die Geräte, die für diese Entwicklung stehen. Mit dem Verlust der Totalität ist der Maßstab abhanden gekommen, mit dem sich die stetig zunehmende Masse an Erkenntnissen und Tatbeständen bändigen ließe. Wenn die Welt sich verliert ins Unermessliche, lässt sich nicht mehr angeben, welchen Rang und welchen Wert die singulären Phänomene haben. Sie können nicht mehr bezogen werden auf eine Mitte, und damit wird fraglich, welchen Sinn sie haben. Es ist dies ein Prozess, der mit dem Beginn der Neuzeit einsetzt. Unter dem Eindruck einer sich ins Grenzenlose weitenden Welt verlieren die traditionellen metaphysischen Interpretationsmuster ihre Überzeugungs55 So Georg Lukács, Die Theorie des Romans, Neuwied – Berlin 1971, S. 24.
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kraft. Problematisch geworden ist damit auch die Stellung des Menschen. Und das ist der Zustand der Welt, von dem der Roman redet. Er sei ein „Ausdruck transzendentaler Obdachlosigkeit“, sagt Lukács.56 Nach der Auffassung von Friedrich von Blanckenburg, des ersten Theoretikers des Romans in Deutschland, sei dessen Held ein Mensch „in seiner bloßen Menschheit“.57 Nicht mit dem Vertreter eines Standes bekommt man es demnach zu tun, nicht mit einem Bürger, wie es Hegels Definition nahe legt, sondern mit einem, der für das Menschsein jenseits aller sozialen Grenzen eintritt. Obwohl an dieser Behauptung begründete Zweifel bestehen, hat sie doch ihre Berechtigung. Denn im Roman ist eine Figur nicht gefragt in ihrer Eigenschaft als Standesperson oder als Amtsinhaber. Nicht der Gesellschaftsmensch, nicht die „öffentlichen Thaten und Begebenheiten“ interessieren, sondern die Gedanken und Empfindungen. Gegenstand ist also nicht, wie jemand exekutiert, was ihm von außen auferlegt ist, durch seinen offiziellen Charakter, durch seine gesellschaftliche Stellung oder dadurch, dass er den göttlichen Willen zu vollstrecken hat. Eben davon handelt das Epos. Der Roman dagegen beschäftigt sich mit seelischen Vorgängen. Sein Gegenstand ist das „Innere“; er ist, so lautet Blanckenburgs Definition in ihrer knappsten Form, „die innere Geschichte eines Menschen“.58 Der Roman betreibt das, was man im 18. Jahrhundert auch als ‚Seelenmalerei‘ bezeichnet hat. Nun bliebe eine solche Bestimmung völlig unergiebig, wenn ihr nichts hinzugesetzt würde. Inhalt und Fülle bekommt das Innere erst, wenn sich jemand mit seiner Umgebung auseinandersetzt. Der Roman erzählt also auch davon, was auf jemand einwirkt, erzählt von den Wechselfällen des Schicksals, von historischen Ereignissen, von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, von den Beziehungen der Menschen untereinander und von ihren Konflikten. Und auf das, was um ihn geschieht, muss der Einzelne reagieren; er ist darin verwickelt und davon betroffen. Er muss die Geschehnisse psychisch verarbeiten und darauf eine Antwort finden. Es wird also nicht behauptet, dass die Herkunft, der Stand und das Milieu unerheblich seien. Aber die Aufmerksamkeit richtet sich darauf, was sie in einem Menschen auslösen, welche Gefühle, Reflexionen und Verhaltensweisen mit ihnen verbunden sind. Und der Unterschied zum Epos besteht darin, dass dem Romanhelden keine Ordnung vorgegeben ist. Er muss sich sein Verhältnis zur Welt erst zurecht legen. Er ist ein „Suchender“, sagt Lukács. Und wie er weiter ausführt, entsteht Innerlichkeit überhaupt nur da, wo es eine Kluft gibt zwischen Seele und 56 Ebd., S. 32. 57 Wölfel, a.a.O., S. 35. 58 Ebd., S. 45.
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Welt. Das kennzeichnet die Situation, in der sich die Romanfigur befindet. Wie sie das Gegebene auffasst, ist nicht durch äußere Bestimmungen festgelegt. Ihr ist aufgegeben, einen Lebensinhalt, einen Platz in der Gesellschaft, eine Einstellung zur Religion, eine Relation zur Natur erst zu finden. Nicht anders als der Held des Epos ist auch der des Romans paradigmatisch, aber paradigmatisch für das Schicksal des Menschen in einer neuen Welt, in einer, die kein geschlossenes Ordnungsgefüge bildet. Und weil es in dieser Welt keine vorgezeichneten Bahnen gibt, die für alle verbindlich wären oder wenigstens für eine Gruppe von Menschen, handelt der Roman von der „Selbstfindung des Individuums“.59 In einem unendlich gewordenen Universum fehlen die absoluten Bezugspunkte, nach denen sich der Stellenwert der einzelnen Erscheinung ermessen ließe. Diese hat von sich aus keine Bedeutung; sie wird zum bloßen Faktum und rückt neben eine prinzipiell nicht limitierte Menge anderer Fakten. Der andrängenden Fülle der Tatbestände, der uferlosen und amorphen Masse des Empirischen setzt der menschliche Geist etwas entgegen. Er begreift, dass die Regeln, nach denen der welthafte Stoff sich ordnen lässt, nirgendwo anders zu finden sind als in ihm selbst. Er kann dazu auf Muster zurückgreifen, die in ihm bereitliegen, wie etwa die Formen der Wahrnehmung oder die Kategorien des Verstandes. Oder aber er entwickelt erst solche Organisationsstrukturen, wie die auf mathematischen Operationen beruhende Zentralperspektive. Diese Akte dürfen nicht mit individueller Willkür verwechselt werden. Sie erstellen verbindliche Regeln, die allerdings von dem Einzelne nachvollzogen und angewendet werden müssen. Nur durch die Aktivität der Individuen treten sie ins Dasein und erweisen ihre Gestaltungskraft. Die Ordnung der Wirklichkeit ist demnach nicht objektiv vorhanden, sie ist keine Eigenschaft der Dinge, sie wird generiert durch das die Neuzeit beherrschende Prinzip der Subjektivität. Die Subjektivität legt sich aus in verschiedenen Gestalten; auf dem Gebiet der Sittlichkeit als ‚autonome moralische Person‘, in der Politik als ‚stimmberechtigter Staatsbürger‘, in der Wissenschaft als methodisch vorgehendes ‚Erkenntnissubjekt‘. In Bezug auf die menschliche Gemeinschaft sind es nicht wie vordem kosmische oder göttliche Gesetze, in denen diese gründet, vielmehr geben sich die Menschen die Gesetze selbst. Und was die Natur angeht, so wird es nicht ihr überlassen, was sie von sich preisgeben will; sie wird befragt nach den von den Forschern erdachten Experimenten und Verfahrensweisen. Auf allen Gebieten ist es das Subjekt, das die Regeln vorschreibt. Den Stoff liefert die Erfahrung, die Form schafft der Geist. Man kann hier auch zur weiteren Er59 Lukács, a.a.O., S. 51, 77, 70.
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läuterung auf Kants Zusammenspiel von „Rezeptivität“ und „Spontaneität“ verweisen. Insbesondere die epische Dichtung muss sich den Herausforderungen eines veränderten Weltverständnisses stellen. Sie antwortet mit dem Roman. Dessen Held ist eine Figuration der neuzeitlichen Subjektivität. Die Grundkonstellation des Romans besteht in dem problematischen Verhältnis von Ich und Welt. Daraus ergeben sich unzählige Möglichkeiten der Bearbeitung. Und je nach dem wie die Akzente gesetzt werden, entstehen die unterschiedlichen Romanformen. Liegt der Schwerpunkt auf der Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft, so erhält man den ‚Gesellschaftsroman‘. Verlagert sich das Interesse auf die innerseelische Problematik eines Menschen, entsteht der ‚psychologische Roman‘. Beschäftigt sich das Werk damit, durch welche Einflüsse der Werdegang einer Person bestimmt wird, so geht daraus der ‚Bildungsroman‘ hervor. Der Roman ist viel breiter angelegt als das Drama. Während dieses nur einige entscheidende Szenen und Momente aus dem Dasein der Helden aufzunehmen vermag, kann jener deren Leben ausführlich schildern, bis hin zu Nebensächlichem. Das Drama ist „intensiv“, der Roman dagegen „extensiv“.60 Auch in Bezug auf die Stilhöhe ist der Roman ganz ungebunden. Eine erhabene Vortragsweise kann mit einer niedrig-komischen wechseln. Im Vergleich zum Epos ist er befreit von den Zwängen des hohen Stils, von den kunstreichen Versen und Reimen, den ornamentalen rhetorischen Figuren. Seine Sprache ist die nüchterne Prosa, die der Realität so nah wie möglich kommen möchte. Er kann dabei auch Formen der theoretischen Erörterung in sich aufnehmen. Der Roman verfügt also über das Vermögen, ein breites Spektrum zu entfalten; das betrifft die Personen, die Darstellungsweisen, die Wirklichkeitsbereiche, die Zeiträume und die Örtlichkeiten. Kurz, der Roman kann eine ganze Welt erschaffen. Dabei ist ‚erschaffen‘ ganz wörtlich zu nehmen. Der Roman bildet eine vorgefundene Welt nicht einfach ab wie das Epos. In einer metaphysisch gedeuteten Welt ist jedes Ding und jedes Ereignis ein Zeichen, eine Chiffre, die auf Geistiges verweisen. Sie können gelesen werden als Ausdruck einer Idee oder als Artikulation des göttlichen Willens; man denke an die platonisch oder christlich inspirierten Kosmologien. Jetzt aber hat sich die Situation vollkommen geändert. Nicht länger besitzen die Dinge Zeichencharakter. Gegenüber dem „ursprünglich poetischen Weltzustand, aus welchem das eigentliche Epos hervorgeht“, trifft der Roman auf eine „bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit“. Was der geistige Gehalt des Gegebenen ist, was an ihm nicht nur 60 So lautet eine Formel, die Lukács wie auch Wölfel vorbringen; vgl. a.a.O., S. 37 bzw. S. 47.
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zufällig und vereinzelt, was an ihm von bleibender Bedeutung ist und fähig, verallgemeinert zu werden, das muss ihm der Romanheld respektive sein Autor erst abgewinnen. Und deshalb besteht ein „Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse sowie dem Zufalle äußerer Umstände“.61 Um aber die dichterische Essenz der Wirklichkeit zu ergründen, muss der Roman sich ihr stellen, auch in ihren banalen und trivialen Ausprägungen. Und er muss demonstrieren, dass auch die Niederungen in den Kontext des menschlichen Daseins gehören und ein wichtiger Aspekt des Lebens sein können. Also, der diffusen Masse des empirischen Stoffes einen geistigen Gehalt, eine Form zu geben, ist die Aufgabe der neuzeitlichen Subjektivität. Der Roman tut das auf seine Weise. Und im Rahmen dieser Vorgaben muss man auch die Naturdarstellung sehen. Erst jetzt wird sie ein Teil eines Weltentwurfs. Sie ist hineingezogen in den Versuch des Individuums, sich in der Welt zu orientieren. Das gibt ihr Gewicht und verleiht ihr eine Größe, die sie bis dahin nicht erreicht hat, nicht erreichen konnte, weil so etwas vorher gar nicht erforderlich war. Für die deutsche Literatur haben dabei die Landschaften aus Goethes Werther eine Vorbildfunktion. Um das ganz begreiflich zu machen, muss vorher noch einmal auf Wieland eingegangen werden. Dass die Örtlichkeit für die Darstellung einer Begebenheit nicht „gleichgültig“ ist, vermerkt Wieland ausdrücklich.62 Er tut das mit der ihm eigenen leisen Ironie. Sie gehört zu dem Spiel, das er mit seinen Figuren und dem Leser treibt. Immer lässt er durchblicken, dass das Dargestellte bloß fiktiv ist. Es liegt ganz auf dieser Linie, wenn er die Umgebung mit einem Begriff aus der Bühnensprache bezeichnet. Er spricht von einer „Scene“. Und in der Tat, seine Orts- und Naturbeschreibungen haben etwas Kulissenhaftes. Sie wirken wie eine Theaterdekoration, vor der die Protagonisten agieren. Und zuweilen haben diese ihren Auftritt selbst inszeniert, indem sie für ihre Absichten, für eine Verführung beispielsweise, die passende Umgebung wählen. Um die äußeren Umstände zu kennzeichnen, werden zumeist nur einige stimmungsvolle Requisiten angegeben: ein Sonnenuntergang zwischen zwei bewaldeten Bergen, die Laubengänge eines Gartens, der Ausblick auf das sonnenbeschienene Meer.63 Es kommt kaum zur Ausgestaltung dessen, was Wieland selbst ein „Gemählde der Natur“ nennt. Dabei ist er sehr empfänglich für solche Eindrücke, und er hat sogar eine Theorie des landschaftlich Schönen und der Möglichkeit seiner Darstellung 61 Die Zitate sind aus Hegels Ästhetik, a.a.O. II, S. 452. 62 Agathon, a.a.O., I, 3.Teil, S. 246f, 330. 63 Vgl. ebd., 1.Teil, S. 27, 243; 3. Teil, S. 379.
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formuliert.64 In den autobiographischen Äußerungen, in den Briefen vor allem, erweist er sich als guter Beobachter, der es versteht, den Eindruck von einer Gegend zu vermitteln. Und wenn er von seinem Landgut Oßmannstedt bei Weimar spricht, das er einige Jahre bewirtschaftete, kommt er geradezu ins Schwärmen: „Das Gut…ist ein ächtes Horazisches Sabinum; vortreffliche Aussichten, reine Luft, große Mannigfaltigkeit des Terrains, viel Grün, viel Bäume, kurz alles, was eine für mich reizende Situazion ausmacht.“ Wieland war ein Mann, der für sein Leben und Arbeiten den Aufenthalt im Freien brauchte. So äußert er sich schon in seiner Biberacher Zeit. Von dem Garten, den er dort besaß, berichtet er: Ich sehe…ein langes angenehmes Thal, das sich mit einem zwischen Bäumen hervorragenden Dorfe mit einem schönen, schneeweißen Kirchthurm endet, und über demselben eine Reihe ferner blauer Berge, aus denen im Abendstrahl Horn, ein uraltes, seit Kurzem von den jetzigen Besitzern neu aufgebautes Schlösschen herausglänzt.65
Weniger als man erwarten sollte, ist davon in die Romane eingegangen. Und mit Wieland liegt der Fall vor, dass alle Voraussetzungen für die Naturschilderung vorhanden sind, ohne dass diese doch einen bedeutenden Platz im literarischen Werk einnähme. Das hat Gründe. Der erste wurde bereits genannt; Wieland hat immer durchscheinen lassen, dass man sich in einer künstlichen Welt befindet, und das betrifft auch die Schauplätze. Wichtiger ist, dass der thematische Schwerpunkt des Romanwerks auf Fragen der Lebensführung liegt und darauf, wie man das menschliche Zusammenleben gestalten solle. In Auseinandersetzung mit den antiken Denkern werden hedonistische und asketische Lebensformen vorgeführt und diskutiert, und einen breiten Raum nehmen Debatten über die Staatsverfassung und die Politik ein. In Aristipp und einige seiner Zeitgenossen findet sich eine sehr ausführliche Auseinandersetzung mit Platons Politeia, die von der philosophischen Literatur kaum zur Kenntnis genommen wurde. Die Handlung der Romane wird entsprechend in das antike Griechenland verlegt. Und natürlich können die epischen Spieler im Kostüm hellenischer Staatsmänner, Lebedamen, Kaufleute und Philosophen freimütig Meinungen vertreten und Daseinweisen vorführen, welche die zu Wielands Zeit herrschenden Moralvorstellungen und politischen Zustände kritisieren. Wieland kannte die Schauplätze der Romane nicht aus eigener Anschauung, und er wertet auch nicht, wie später Jean Paul, Reisebeschreibungen aus, um ein möglichst realistisches Bild der örtlichen Gegebenheiten zu 64 Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, a.a.O., XI, 2. Buch, S. 289 ff; der Begriff Gemählde der 1atur S. 295. 65 Zitiert nach: Gärten in Wielands Welt, Marbacher Magazin, Sonderheft 40/1986, S. 47, 11.
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zeichnen. Es bleibt bei Andeutungen und Literaturhinweisen. So wird das schon in der Antike wegen seiner Schönheit berühmte Tempe-Tal nur lobend erwähnt.66 Auf das Thema Natur geht Wieland hauptsächlich im Rahmen seiner staatsphilosophischen Erörterungen ein. Basis einer guten Verfassung ist eine kultivierte, klug genutzte Umwelt. Sie begründet das Glück eines Gemeinwesens; nicht nur dadurch, dass sie für ausreichende Lebensmittel sorgt, sondern auch dadurch, dass ihre Schönheit die Menschen erfreut. Leitbild ist eine intakte, gepflegte Natur. „Der Mensch“ habe „die Vernunft darum empfangen…, damit er der Natur zu Hülfe komme, sie vor Verwilderung bewahre, gegen die verwüstende Gewalt der Elemente schütze“, heißt es in Agathodämon.67 Wiederholt hat Wieland diese Vision entworfen, so in der Beschreibung des „Tals der glücklichen Menschen“, die sich in der Geschichte des weisen Danischmend findet.68 Bei seinen politischen Konzeptionen rekurriert Wieland auf die Naturrechtslehre der Aufklärung, der zufolge jeder Mensch ein gewisses Maß an Selbstbestimmung besitzt, das ihm von niemand, auch nicht von einer staatlichen Institution genommen werden darf. Als Werther und Lotte nach einem Gewitter am Fenster stehen und hinausblicken auf die wieder friedvolle Natur, da sagt sie sichtlich gerührt: „Klopstock“. Und er versteht sie sofort. Seine Reaktion beschreibt er mit den Worten: „Ich erinnerte mich gleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß.“69 Es war Klopstock, der die Naturbetrachtung auf einen empfindsamen Ton gestimmt hatte. Goethe, wie überhaupt seine Generation, nimmt das begeistert auf. Darin kündigt sich ein besonderes Verhältnis zur Natur an, das allerdings bestimmt ist von Emotionalität, aber darin nicht aufgeht. Man muss richtiger sagen, dass dieser Begriff von Natur auch das Gefühl anspricht, nicht nur den Verstand. Diesen Vorgang geben die bekannten literaturgeschichtlichen Schablonen nur unzureichend wieder. Da ist dann davon die Rede, dass die rationale Haltung der Aufklärung abgelöst worden sei durch die gefühlsbetonte der ‚Empfindsamkeit‘ und des ‚Sturm und Drang‘. Gewiss, die Dichter des ‚Sturm und Drang‘ opponieren gegen eine einseitige Verstandeskultur. Aber ihre Forderung nach Befreiung des Gefühls gehört selbst in die Aufklärung, sofern diese auf die Emanzipation des ganzen Menschen dringt. Und die Aufhebung des Zwanges soll beide betreffen, die Vernünftigkeit und 66 67 68 69
Aristipp, a.a.O., 3. Buch, S. 353f. A.a.O., X, Bd. 32, S. 128. III, Bd. 8, S. 16 ff; vgl. auch die Ausführungen darüber im Kp. 2. Werke, a.a.O., Bd.VI, S. 27.
Anmerkungen zur Geschichte der Naturbeschreibung 273
die Sinnlichkeit. Den Eingebungen des Herzen zu folgen, ist also genau so berechtigt wie denen des Verstandes. Das eine ist nur die Ergänzung des anderen; beide Komponenten ergeben erst die volle Humanität. Jean Jacques Rousseau als die eigentliche Leitfigur der Epoche hatte das vorgemacht. In seinem Werk findet sich das exaltierte Sentiment ebenso wie das rationalen Kalkül.70 Dass also Werther und Lotte so gerührt sind vom Anblick eines abziehenden Gewitters, weist hin auf einen Naturbegriff, der sich nicht erschöpft in verständigen und nutzbringenden Erwägungen. Dieses neue Verhältnis zur Natur verlangt aber nach einem ihm gemäßen Ausdruck. Und die Mittel dazu waren bei Klopstock zu finden. Es geht dabei zunächst darum, innere Erregungszustände sprachlich zu erfassen. Und da konnte Klopstock, der nicht zufällig der Dichter des Messias ist, auf ein religiöses Vokabular zurückgreifen, das er auf die Natur übertrug. Das ist Teil eines Vorgangs, bei dem der Pietismus eine entscheidende Rolle spielt. Dieser hatte eine ganz verinnerlichte Frömmigkeit, auch und gerade gegen ein in Dogmatismus erstarrtes Christentum, ausgebildet. Sein Grundthema ist die ‚Wiedergeburt‘, die in der lebendigen Beziehung der Seele zu Gott erfahren wird.71 Wie August Langen mit einer Untersuchung des sprachlichen Materials gezeigt hat, gibt es eine Entwicklungslinie von der Mystik über den Pietismus hin zur Empfindsamkeit und zum Sturm und Drang. In der Mystik sind Gott und Mensch zwei Pole, zwischen denen eine Bewegung hin und zurück, aufwärts und abwärts stattfindet. Die beiden Pole durchdringen sich gegenseitig: Wie der Mensch in gläubiger Versenkung Gott zu ergreifen sucht, so wird er ergriffen von der Zuwendung Gottes. Diese Prozesse werden sprachlich dargestellt durch verbale Bildungen, die vornehmlich dem Bildkomplex des Wassers entstammen. Da ist viel von ‚ausgießen‘, ‚zerfließen‘, ‚schwimmen‘, ‚versenken‘, aber auch von ‚schweben‘, ‚fliegen‘ und ‚herabstürzen‘ die Rede. Darin spricht sich die Erschütterung der Seele aus, ihre Ergriffenheit, ihre Ekstasen und Aufschwünge, die sie aber begreift als das Wirken Gottes in ihr. Und dieses wird erlebt als ein Ausströmen und Hinüberfließen, als Emanation der göttlichen Gnade und Liebe. Der Pietismus nimmt die verbale Dynamik auf. Und in einem weiteren Schritt wird diese auf weltliche Verhältnisse angewendet. Zunächst auf ein menschliches Gegenüber; der exaltierte Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts gehört in diesen Zusammenhang. Schließlich tritt an die Stelle Gottes die Natur. Dieser Traditionsstrang weist also drei Stufen auf: Die erste Stufe 70 Diese Ansicht vertritt auch Ernst Bloch; vgl. Tübinger Einleitung in die Philosophie I, 8. Aufl., Frankfurt/M. 1973, S. 80f. 71 Einen Überblick über den Pietismus gibt Martin Schmidt; er referiert auch kurz über dessen Einfluss auf die Dichtung. Vgl. ders., Pietismus, 2. Aufl., Stuttgart 1978.
274 Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung
betrifft das Verhältnis von Mensch und Gott, die zweite das von Mensch und Mensch, die dritte das von Mensch und Natur. Die erste Stufe wäre im Pietismus erreicht, die zweite in der Empfindsamkeit, die dritte in den Bewegungen des Sturm und Drang und der Romantik.72 Klopstock stellt die Vermittlung her zwischen der religiösen Sphäre und der säkularen. Nicht nur seine geistliche, auch seine Naturdichtung übernimmt die Sprache des Pietismus, von dem er geprägt ist. Das zeigen schon die ekstatischen Zeilen der Ode Die Frühlingsfeier, an die sich Lotte und Werther erinnern. Sie enthalten Wendungen wie: „in Entzückung vergehen“, „schweben und anbeten“, „ein Strom des Lichts rauscht’“, „ein Wogensturz sich stürzte“. Schon diesen Zitaten ist zu entnehmen, dass beide Seiten in Bewegung sind, die subjektive wie die objektive. Die Natur ist demnach kein statisches Gebilde, sie ist überaus aktiv. Indem sie mit Ausdrücken geschildert wird, die aus dem psychischen Bereich kommen, erscheint sie als belebt. Sie ist demnach kein dinghaftes Gefüge. Sie ist selbst ein Subjekt, das, wie andere Subjekte auch, seiner inneren Bewegtheit in immer neuen Gestalten und Figurationen Ausdruck verleiht. Freilich, sie ist ein universales Subjekt, eines, das den Menschen trägt und umfängt. Sie ist mit einem andere Begriff der Epoche das ‚Alleben‘, in welches das individuelle Leben eingelassen ist. Wir haben es hier nicht mit einer simplen „Übertragung der Seelendynamik auf das Naturbild“ zu tun, mit einer „Widerspiegelung der menschlichen Seele und ihrer Erregung“. Das liefe auf ein Anthropomorphisieren hinaus, auf eine vom Betrachter geleistete „Durchseelung“ und „Subjektivierung“ der Natur. Dieses Vorgehen verband man mit einer bestimmten Epoche, die dann den Namen Subjektivismus oder gar Hochsubjektivismus erhielt.73 Richtig ist, dass die Natur als tätig beschrieben wird, als aus sich heraus prozessierend und sich entfaltend. Das ist nur ein Ausdruck dafür, dass sie nach ihrem innersten Wesen Leben ist. Aber das vitale Prinzip realisiert sich nicht in einem einfachen Fließen, es vollzieht sich als formgebend und entlässt aus sich die unterschiedlichsten Gestalten, so wie das einzelne Lebewesen verschiedene Körperbildungen und physiognomische Züge hervorbringt. Was sich äußerlich manifestiert und zur sichtbaren Form gerinnt, sind Bekundungen der Seele. Und Beseeltheit ist ein Grundzug allen Lebens. Zu erinnern ist hier an das im Kapitel 2 Ausgeführte über den Naturbegriff der Goethezeit. Natur ist, mit den Begriffen Schellings, nach ihrer essentiellen Seite ‚natura naturans‘, ‚hervorbringende Natur‘, sie ist ‚Subjekt‘, 72 August Langen, Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts, in: Alexander Ritter, a.a.O., S. 112 ff, hier vor allem S. 118 f, 152. 73 So Langen, vgl. ebd., S. 119, 152, 155.
Anmerkungen zur Geschichte der Naturbeschreibung 275
‚Produktivität‘, ‚Materialisation des Ideellen‘. In der Natur trifft der Mensch auf ihm Verwandtes. Er begegnet einem Leben, das zwar von dem seinen unterschieden ist, aber doch ihm ähnelt. Und die Verwendung eines Vokabulars, das zunächst Vorgänge in der menschlichen Seele bezeichnet, ist das Bemühen, das Physische adäquat zu erfassen und nicht die Übertragung des Psychischen auf ein ihm fremdes Gebiet. Unter dieser Betrachtungsweise gerät die ganze Landschaft in Bewegung, nicht nur deren flexible Teile wie Wasser, Licht und Luft. Auch die großen Massen und tektonischen Bildungen, die Hügel, Felsen, Gebirge werden davon erfasst. Es entsteht das, was Langen die „Bewegungslandschaft großen Stils“ nennt, die bei Jean Paul und bei anderen Autoren zu finden ist.74 Nur steckt dahinter kein willkürlicher Umgang mit den Phänomenen. Es ist dies vielmehr der Versuch, auch die scheinbar starren Formen als Manifestationen einer inneren Tätigkeit zu begreifen. Auch der Fels und die großen Erdformationen sind schließlich etwas Gewordenes, und sie sind noch im Werden. Nur so aufgefasst, ist es berechtigt, wie Alexander von Humboldt, von der ‚Physiognomie‘ einer Landschaft zu sprechen. Das Sichtbare wird dann eben verstanden als Äußerung eines Innerseelischen, zu dessen Darstellung eine ursprünglich religiöse Sprache die Mittel liefert. Auch Werther öffnet sich der Natur. Auch er ist ergriffen und enthusiasmiert. Aber darin ist mehr angelegt als ein momentaner emotionaler Aufschwung, mehr auch als die Beobachtung einzelner Phänomene. Sein Naturerlebnis steigert sich zur Schau und findet den angemessenen Ausdruck in der Zuwendung zur Landschaft. Dass der junge Goethe von Klopstock beeindruckt war, wurde schon gesagt. In Dichtung und Wahrheit beruft er sich noch auf einen anderen Autor, dessen Vorbild er nachgeeifert habe. Es ist dies Salomon Geßner. Geßner ist hervorgetreten mit Idyllen, die in ganz Europa Beachtung fanden, und zeitweilig war er sogar der am meisten verbreitete deutschsprachige Dichter. Auf die Idylle soll hier nicht weiter eingegangen werden. Sie ist eine eigene Gattung und hat ihre besonderen Gesetzmäßigkeiten.75 Goethe gefallen Geßners Naturbeschreibungen, deren „Anmut“ er hervorhebt. Und er wird durch sie auf ein bestimmtes Darstellungsmittel verwiesen, auf den Einsatz einer „poetischen Prosa“, womit ein reimloser, rhythmisierter Vortrag ohne festes Metrum gemeint ist. In Bezug auf inhaltliche und formale Momente gibt also Geßner das Vorbild ab.76 Zugleich aber setzt sich Goethe von ihm ab. 74 Ebd., S. 151, 157. 75 Eine Übersicht gibt Renate Böschenstein-Schäfer, Idylle, 2. Aufl., Stuttgart 1977. Zu Geßner vgl. das Nachwort von E. Theodor Voss zu Salomon Geßner, Idyllen, Stuttgart 1988, S. 323ff. 76 Äußerungen zu Geßner vgl. a.a.O., Bd. IX, S. 270, 272; 10, S. 121.
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Er bemängelt ein Verfahren, das additiv ist. Die Schilderungen bestehen aus einer bloßen Reihung von Erscheinungen, ohne deren innere Einheit aufzuweisen. Man suche vergebens den „Geist, der die Theile so verwebt, dass jeder ein wesentliches Stück vom Ganzen wird“.77 Den nach der Manier der Addition entworfenen Szenerien fehlt die Konzentration auf einen Blickpunkt, und das ist für Goethe der Ansatz zu einer wahrhaft künstlerischen Erfassung der Natur. Aufschlussreich ist, was er über seine Arbeitsweise berichtet. Sie ist geprägt durch die „Gewohnheit von Jugend auf, die Landschaft als Bild zu sehen“ und ihr „durch Zeichnen und Skizzieren … etwas abzugewinnen“. Nachdem er so in groben Zügen die Konturen einer Gegend festgehalten hat, füllt er die Details mit Wörtern aus, die er in die Umrisse hineinschreibt.78 Es handelt sich also um ein an der bildenden Kunst geschultes Vorgehen, das zu einem in sich konsistenten Bild gelangen will. Und das überträgt sich auf die Landschaften im Werther. Am vollständigsten durchgeführt ist die vom 18. August, die jetzt etwas genauer untersucht werden soll. Wenn ich sonst vom Felsen über den Fluß bis zu jenen Hügeln das fruchtbare Tal überschaute und alles um mich her keimen und quellen sah; wenn ich jene Berge, vom Fuße bis auf zum Gipfel, mit hohen, dichten Bäumen bekleidet, jene Täler in ihren mannigfaltigen Krümmungen von den lieblichsten Wäldern beschattet sah, und der sanfte Fluß zwischen den lispelnden Rohren dahingleitete und die lieben Wolken abspiegelte, die der sanfte Abendwind am Himmel herüberwiegte; wenn ich dann die Vögel um mich den Wald beleben hörte, und die Millionen Mückenschwärme im letzten roten Strahle der Sonne mutig tanzten, und ihr letzter zuckender Blick den summenden Käfer aus seinem Grase befreite, und das Schwirren und Weben um mich her mich auf den Boden aufmerksam machte, und das Moos, das meinem harten Felsen seine Nahrung abzwingt, und das Geniste, das den dürren Sandhügel hinunter wächst, mir das innere, glühende, heilige Leben der Natur eröffnete: wie fasste ich das alles in mein warmes Herz, fühlte mich in der überfließenden Fülle wie vergöttert, und die herrlichen Gestalten der unendlichen Welt bewegten sich allbelebend in meiner Seele.79
Was sich zunächst als ziemlich verschachtelt ausnimmt, hat doch eine sehr klare Struktur. Drei mit wenn beginnende Nebensätze münden in einen mit wie anfangenden Hauptsatz. Durch die Nebensätze wird eine Spannung aufgebaut, die sich dann im Hauptsatz löst. Die Spannung wird noch dadurch erhöht, dass die Gliedsätze an Länge zunehmen. Mit dem Hauptsatz stellt sich der Eindruck der Geschlossenheit ein. Die ganze Periode hat einen vorwärtstreibenden Rhythmus und ist, so be77 Zitiert nach Böschenstein-Schäfer, a.a.O., S. 88. 78 Bd. X, S. 152. 79 Bd. VI, S. 51f. Zu dieser Interpretation vgl. auch Hans Peter Herrmann, Landschaft in Goethes ‚Werther’. Zum Brief vom 18. August, in: Ders. (Hg. ), Goethes ‚Werther’. Kritik und Forschung, Darmstadt 1994, S. 360ff.
Anmerkungen zur Geschichte der Naturbeschreibung 277
trachtet, von einer hohen Musikalität. Noch eine sprachliche Beobachtung ist wichtig. Das Satzsubjekt ist „Ich“. Im dritten ‚Wenn-Satz‘ wird es jedoch abgelöst durch ein anderes Subjekt, und das „Ich“ wird zum Objekt. Es heißt: „… und das Schwirren und Weben um mich her mich auf den Boden aufmerksam machte …“ Dieser Vorgang wiederholt sich im Hauptsatz; auch da wird das „Ich“ durch ein anderes Subjekt ersetzt, diesmal durch „die herrlichen Gestalten der unendlichen Welt“; für sie wird das „Ich“ zum Schauplatz, denn „sie bewegten sich allbelebend in meiner Seele“. Die sprachlichen Beobachtungen werden durch die inhaltliche Analyse bestätigt. Das Ich in der Position des Betrachters hat einen festen Standpunkt eingenommen. Sein Blick geht von da aus zunächst in die Ferne und umfasst das ganze Blickfeld. Vom Horizont kommt er wieder zurück in die unmittelbare Nähe, wobei er bei den einzelnen Partien, die er durchmisst, verweilt, bei den Bergen, den Wäldern, bei dem Fluss. Dieser erfüllt eine bestimmte Funktion; er verbindet die Ferne mit der Nähe, das Oben mit dem Unten. Denn er läuft durch das ganze Bild, und dann spiegeln sich die Wolken in seinem Wasser, wodurch eine Verbindung zwischen Himmel und Erde gestiftet wird. Schließlich weicht die Abständigkeit des Blicks einer unmittelbar gespürten Nähe. Das geschieht an den Stellen, an denen das Ich zum Objekt wird. Der Betrachter verliert seine Distanz zu den Gegenständen, und ihn überkommt ein Gefühl des Einsseins. Aber er ist nicht nur aufgenommen in den Naturzusammenhang; die Natur ist auch in ihm. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist das einer gegenseitigen Durchdringung, einer wechselseitigen Verwiesenheit aufeinander. Anfangs bringt das Ich die Natur als einen objektiven Zusammenhang vor sich und zwar so, dass der landschaftliche Blick diesen Zusammenhang herstellt und garantiert. Darauf schlägt diese Konstellation um. Das Ich steht nicht mehr außerhalb der Einheit, sondern erfährt sich als Teil von ihr, nicht es umfasst, sondern es wird umfasst. Das geschieht nicht so, dass es einfach eliminiert würde. Das Innerste der Natur kommt im Gegenteil erst im menschlichen Geist zu sich, denn in ihm bewegen sich „die herrlichen Gestalten der unendlichen Welt“. Goethe spricht hier einen Gedanken aus, der in der Naturphilosophie des ‚Deutschen Idealismus‘ eine zentrale Stelle einnimmt. So schreibt Schelling in seinen frühen Abhandlungen: „Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn.“ Und er redet von der „absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns.“80 Weniger spekulativ kann man diesen Sachverhalt auch so formulieren, dass die Einheit der Natur empirisch nicht fassbar ist. Sie zeigt sich nicht äußerlich, nicht im Sichtbaren, sondern allein in den Verknüpfungen, die der 80 Schriften von 1794 -1798, a.a.O., S. 380.
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menschliche Geist herstellt. Dass sich das Ich „wie vergöttert“ vorkommt, ist nicht seiner Hybris zuzuschreiben. Es ist dies lediglich Ausdruck dafür, dass es im Bunde ist mit dem Absoluten. Goethe gelingt, was vorher allenfalls in Ansätzen vorhanden war, eine künstlerisch überzeugende Darstellung der Landschaft in Prosa. Das haben auch die Späteren anerkannt, auch diejenigen, die ihm nicht sonderlich gewogen waren. So schreibt Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik: „Goethes beide Landschaften im Werther werden als ein Doppelstern und Doppelchor durch alle Zeiten glänzen und klingen.“81 In Jean Pauls eigenen Darstellungen ist das Vorbild Goethes bis in den Satzbau hinein zu erkennen. Damit wird eine Tradition der literarischen Landschaftskunst begründet, die weiter zu Stifter führt und zu anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Mustergültig ist die Landschaft des Werther aus mehreren Gründen. Da wäre zunächst die Geschlossenheit der Darstellung. Die Phänomene werden in ihrem Zusammenhang erfasst. Sie erscheinen nicht aneinandergereiht, sondern bilden ein Ganzes. Das Bild ist klar nach Gründen gegliedert, nach Hintergrund, Mittel- und Vordergrund. Und für den Leser ergibt sich die Anschaulichkeit daraus, dass er mühelos dem Blick des Betrachters folgen kann. Und weiter ist die Natur mehr als ein Aufenthalt im Freien, mehr als ein Schauplatz, der bloß die passende Örtlichkeit für die Handlungen und Ereignisse abgibt, diese allenfalls kommentierend und spiegelnd. Die Naturbeschreibung gehört zu dem Weltentwurf, den der Roman vornimmt. Mit ihr versichert sich das Romansubjekt des Ganzen der Wirklichkeit und seiner Stellung in ihr. Das geschieht aber nicht so, dass nur objektiv vorhandene Strukturen und Zusammenhänge aufgedeckt würden. Eine Ordnung bekommt die Realität durch die Kategorien und Sichtweisen, die der Mensch an sie heranträgt. Darin bekundet sich das spezifisch neuzeitliche, in der Subjektivität gründende Weltverhältnis. Welche Bedeutung die Natur für den Menschen hat, muss er sich erst zurecht legen. Der Sinn ist nichts Vorgefundenes, er basiert nicht wie im Denken der Antike und des Mittelalters auf einer kosmischen oder göttlichen Ordnung. Er wird hergestellt durch die Operationen des Subjekts. Nicht die in der Neuzeit entwickelte Wissenschaft vermittelt einen Begriff vom Ganzen der Natur und davon, welche Bedeutung die physischen Gestalten für den Menschen haben. Sie seziert, zerstückelt, analysiert die Wirklichkeit und isoliert Teile von ihr im Experiment. Und die Frage nach dem Sinn kann und will sie nicht beantworten, denn sie versteht sich als reine Erhebung neutraler Fakten. Einen Eindruck vom Ganzen der Schöpfung und davon, welche Stellung der 81 A.a.O., 5. Bd., S. 290; das bezieht sich auf den Brief vom 10. Mai und auf den hier behandelten vom 18. August.
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Mensch in ihr einnimmt, entsteht allein in der ästhetischen Betrachtung. Die Darstellung der Landschaft lässt das Ganze der Natur zumindest aufscheinen. Und als Vergewisserung der großen Zusammenhänge übernimmt sie die Funktion der Theorie. Theorie heißt Schau; und diese sollte in der Antike einen Überblick geben über das Sein in seiner Totalität. Und da die philosophische Erkenntnis, welche in der Neuzeit die Form der Wissenschaft angenommen hatte, dies nicht mehr leisten konnte, rückt an ihre Stelle die ästhetische Vermittlung.82 Das Sehmuster‚Landschaft‘ entsteht mit der Entwicklung der Zentralperspektive und dem panoramatischen Blick. Es stellt für den Einzelnen ein Schema bereit, mit dessen Hilfe er seine visuellen Eindrücke in eine Ordnung bringen kann. Die bildende Kunst übernimmt dabei die Führung, und erst relativ spät gelingt es der Literatur, dieses Muster in eine angemessene sprachliche Form umzusetzen. Wie sich am Beispiel Goethes demonstrieren lässt, ist sie noch mehr zu leisten imstande als die Malerei. Sie kann sich vom Sichtbaren lösen und zum rein geistigen und seelischen Gehalt einer Ansicht vordringen. Aber was Werther tut, nämlich sich ein Bild zu machen von einer Gegend und eine Einstellung zu finden zur umliegenden Natur, das ist noch von jedem verlangt, der sich ins Freie aufmacht. Die ästhetische Betrachtung ist eine Ergänzung und ein Korrektiv zu anderen Haltungen gegenüber der Natur, zu ihrer landwirtschaftlichen Nutzung, ihrer industriellen Verwertung und ihrer wissenschaftlichen Erforschung. Die von diesen betriebene Verdinglichung und Instrumentalisierung der Natur sucht der landschaftliche Blick rückgängig zu machen. Der Genuss, den er bereitet erklärt sich nicht allein aus der äußeren Schönheit der Gegenstände. Er hat seine Ursache auch darin, dass sich der ganze Mensch angesprochen fühlt, dass sein Denken, sein Empfinden, seine Phantasie angeregt werden. Er erlangt ein intensives Bewusstsein des eigenen Daseins. Und was ihm die Natur zu bieten hat, das wird ihm in bestimmten historischen Situationen von der Gesellschaft gerade versagt. Das ist der Fall bei Werther. Sein Bild von den sozialen Verhältnissen ist fast ausschließlich negativ besetzt. Er kritisiert das feudale Ständedenken, die bürgerliche Konventionalität, die staatliche Bürokratisierung und die entfremdete Arbeit. Die Gesellschaft verhindert ein erfülltes, glückliches Leben. Zu sich selbst kommen kann das Individuum nur in der Natur. Diese ist somit ein Gegenpol zur Gesellschaft. Und darin liegt ein mächtiger Antrieb für die Zuwendung zur Natur, wie sie im 18. Jahrhundert erfolgte. Sie ist mit Namen verbunden; selbstverständlich mit Rousseau als dem großen Anreger, dann mit Klopstock, mit Haller, Geßner, Goethe. Und auch 82 Nach J. Ritter; dessen Einsichten wurden schon im Kp. über die Landschaft angeführt.
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die Generation der Romantiker steht ganz unter diesem Eindruck. Mit dem Aufbruch in die Natur wendet sich das aufstrebende Bürgertum gegen soziale Zwänge und politische Unterdrückung. Aber Natur und Gesellschaft müssen nicht unbedingt Gegensätze sein, auch nicht im bürgerlichen Roman. Das zeigt ein Blick auf Wieland. Bei ihm erscheinen beide als versöhnt. Ein kultiviertes und sorgfältig gepflegtes Land schafft die Voraussetzung für eine freie und glückliche menschliche Gemeinschaft. Aber freilich, eine Harmonie zwischen Natur und Gesellschaft gibt es bei Wieland nur im utopischer Entwurf. Äußerst fragil ist dagegen die Harmonie, die Werther erlebt, ist die Ordnung, in der er sich aufgehoben fühlt. Das rührt daher, dass sie getragen und garantiert wird vom Subjekt. Wenn dieses seine Sichtweise umstellt, erhält die Umgebung ein anderes Aussehen. Und so kann es geschehen, dass die Einheit zerbricht und das nackte Chaos hervortritt. Wie Werther ausdrücklich konstatiert, ist es dasselbe „Herz“, das sowohl „rings umher die Welt zum Paradies“ macht, als auch peinigt mit der Vorstellung einer Natur, die ein „ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer“ ist. Die Naturbeschreibung kulminiert in der Landschaftsdarstellung. Sie ist eine höchst komplexe künstlerische Komposition, bei der sich sprachliche Gestaltungskraft mit dem Sensorium für natürliche Gegebenheiten verbinden müssen. Sie stellt weit höhere Ansprüche als eine bloße Aufzählung von Fakten oder eine Aneinanderreihung einzelner Gestalten. Sie ist auch mehr als die korrekte Wiedergabe eines Sachverhalts, denn sie muss auch den Ausdruck, die Stimmung und den Gefühlsgehalt einer Naturszenerie erfassen. Und nur in der künstlerischen Gestaltung kann sie die Aufgabe übernehmen, die ihr unter den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der Neuzeit zugedacht ist, nämlich ein Bild zu vermitteln von ganzheitlichen Zusammenhängen in der Natur. Der Roman bildet die literarische Form, in der sie sich voll entfalten kann. Diese Wertung ist gleich wieder zu relativieren. Denn die Entwicklung der Landschaftskunst ist gebunden an bestimmte historische Konstellationen und an ein bestimmtes Weltverständnis. Die emblematische Dichtung des Barock oder gar das dichterische Universum des mittelalterlichen Epos sind unter ganz anderen Bedingungen entstanden. Dass sie es nicht zur Erfassung der Landschaft in dem hier definierten Sinn gebracht haben, ist nicht auf künstlerisches Unvermögen zurückzuführen. Das hat zu tun mit einer bestimmten Auffassung von Wirklichkeit und mit den damit verbundenen Anforderungen an die Kunst. Die Höhe der literarischen Landschaftskunst zeigt sich schon in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Goethe, ohne direkt von diesem abhängig zu sein. Angesprochen ist damit der Roman Ardinghello und die
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glücklichen Inseln von Wilhelm Heinse. 1786 erschienen, gilt er als erster Künstlerroman in der deutschen Literatur und als letztes Produkt des ‚Sturm und Drang‘. Er spielt im Italien der Renaissance. Das Land und die Zeit sind so gewählt, dass sie die propagierte Lebensauffassung stützen und illustrieren. Ardinghello, sein Held, wird vorgestellt als typischer Renaissance-Mensch, vielseitig begabt und tätig nicht nur als Maler, sondern auch als Baumeister, Soldat, Landwirt, Staatsmann und Philosoph. Sein Schaffen hat aber keinen äußeren Zweck, es hat sein Ziel in sich. Es ist Auskosten der eigenen Kraft und der eigenen Fähigkeiten. „All mein Wesen ist Genuß und Wirksamkeit“, lautet sein Credo.83 Und diesem Daseinszweck dient die Kunst. Ihr Wesen liegt darin, die Sinne anzusprechen, sie anzustacheln und anzuregen. Dadurch, dass sie die sinnlichen Qualitäten der Erscheinungen, der Formen, Farben, Töne hervorhebt, ja, sie überhaupt erst aufdeckt, vergrößert sie die Lust und fördert damit das Leben. Sie untersteht nicht etwa geistigen Zwecken, sie ist eine Steigerung des Lebens, und dessen Essenz ist eben der Genuss. Die zahlreichen Betrachtungen von Kunstwerken, die sich in dem Roman finden, sind verwoben mit dem Leben seines Helden. Sie verhelfen ihm dazu, allem, was ihm begegnet, Menschen wie Dingen, den höchstmöglichen Reiz abzugewinnen. Bei den ausführliche Beschreibungen von Gemälden eines Tizian, Tintoretto, Rafael, von Skulpturen eines Michelangelo und antiker Meister kann Heinse auf Aufzeichnungen zurückgreifen, die er während eines dreijährigen Italienaufenthaltes angelegt hatte. Aber nicht nur die Beschäftigung mit der Kunst, auch die Hingabe an die Natur, an ihre Schönheit, bedeutet für seinen Protagonisten eine Steigerung des Lebens und die Erhöhung des Daseinsgenusses. Die Naturansichten sind weniger zahlreich als die Besprechungen von Kunstwerken. Auch bei ihnen kann Heinse sich auf das stützen, was er selbst gesehen und notiert hat. Schwelgerisch sind die Bilder vom Gardasee, vom Meer bei Genua, von Umbrien, vom Golf von Neapel. In einem mitreißenden Schwung umfassen sie das Gesehene. Darin zeigt sich ein Auge für die bildhaften Qualitäten einer Gegend und die Souveränität im Umgang mit den darstellerischen Mitteln. Es sind dies groß angelegte Landschaftsporträts, die sich verbinden mit Spekulationen über das Wesen Natur. Diese wird verstanden als „All-Einheit“, als das ganz ins Diesseits getretene Göttliche, welches sich in immer neuen Formen offenbart. Zur Probe ein Prospekt vom Gardasee: Breit lag der See da im Morgenduft und die Hügel im dünnen Nebel; ein leises Wehen in der Mitte kräuselte die Wellen und weckte seine Schönheit wie auf und machte sie lebendig. Die Häuserchen zwischen den Bäumen am Ufer 83 Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glücklichen Inseln, Stuttgart 1975, S. 364.
282 Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung schienen allein zu schlummern mit ihrer Unbeweglichkeit und weil die Menschen noch nicht heraus waren. Unser Nachen wallte leicht mit voll geschwellten Segeln über die nassen Pfade. Es war ein heiter Wetter zu Anfang Oktobers und einer meiner unvergesslichen Tage. Sirmio lag lieblich da in Strahlen und sonnte sich; und die unabsehliche Kette der Felsen dahinter, wie eine neue Welt, als ob sie bestimmt wäre, lauter Titanen zu tragen. Süßer rötlicher Duft bekleidete glänzend den östlichen Himmel, und die wollichten Wölkchen schwebten still um den lichten Raum des Äthers, worin entzückt in hohen Flügen die Alpenadler hingen.84
Zuerst sind nur die weite Fläche des Sees da und die angrenzende Uferregion. Das alles, es verbindend, ist gehüllt in morgendlichen Dunst. Und dann erheben sich darüber hohe Berge. Der Blick geht hinauf zu ihnen, geht bis zum Himmel. Ruhig ist es; aber das Anziehende bekommt das Bild erst durch die Bewegung. Nichts Starres, Totes hat man vor sich, sondern etwas, das lebt; die Wellen kräuseln sich, sanft gleitet das Boot über die Wasserfläche, die Sonne setzt Lichtakzente und am Himmel fliegen Vögel. Und ein besonderer Reiz liegt in dem Kontrast zwischen Ruhe und Bewegung. Kulturgeschichtlich gesehen wird die Hinwendung zur Landschaft getragen von einem breiten Strom der Naturbegeisterung. Sie findet ihren literarischen Ausdruck in verschiedenen Formen, so in der Idylle. Ihre Dichter, der schon erwähnte Salomon Geßner, dann Maler Müller und Johann Heinrich Voss, setzen die Tradition der auf die Antike zurückgehenden Hirtendichtung und Bukolik fort.85 Davon zu unterscheiden ist die ‚Landlebendichtung‘. Hier ist eine Reihe von Romanen zu nennen wie beispielsweise Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim von Sophie La Roche, Geschichte des Herrn Oheim von Johann Heinrich Merck oder Hermann und Ulrike von Johann Karl Wezel. Während die Idylle das freie, umherschweifende Leben der Hirten und Schäfer schildert, sind die Hauptpersonen des ländlichen Romans die Bauern. In früherer Zeit nur als komische Figuren literaturfähig, werden sie nun zu Verkörperungen eines ursprünglichen Menschseins.86 Der Rückzug auf das Land wird zum beliebten Romanmotiv. Exemplarisch dafür ist der Schluss des Fräuleins von Sternheim. Dass dies auch eine außerliterarische Mode war, zeigen die Weimaraner. Wieland erwarb ein Gut in Oßmannstedt und Goethe nicht weit davon in Oberroßla. Besonders gute Bauern waren sie nicht, und sie mussten diese Unternehmungen bald wieder aufgeben. Erbe der Aufklärung ist, dass sich in der Idylle 84 A.a.O., S. 52. 85 Kurz vorgestellt werden die Autoren im schon zitierten Werk von BöschensteinSchäfer. Vgl. dazu auch Gerhard Kaiser, Die Phänomenologie des Idyllischen in der deutschen Literatur, in: Wanderer und Idylle, Göttingen 1977, S. 11ff. 86 Näheres bei Burghard Dedner, Topos, Ideal und Realitätspostulat. Studien zur Darstellung des Landlebenes im Roman des 18. Jahrhunderts, Tübingen 1969.
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wie in der Landlebenliteratur ein bestimmtes Kunst- und Dichtungsverständnis durchsetzt. Es enthält ein Realitätspostulat. Kunst darf kein freies Spiel sein, sie soll sich vielmehr an die Wirklichkeit halten. Dass die Zeitgenossen die Wirklichkeitstreue von Geßners Schäferstückchen rühmten, die zwar genaue Naturbeobachtungen aufweisen, sonst aber ziemlich entrückt sind vom Tatsächlichen, erscheint dem heutigen Leser nur kurios. Ähnlich geht es mit den Bauern aus den Romanen. Wie sehr das ausgehende 18. Jahrhundert fasziniert ist von der Natur, wird nirgends deutlicher als in dem allgemeinen Interesse an der Gärtnerei. War die Gartenbaukunst vordem nur ein Anhängsel der Architektur, so rückt sie nun auf zu einer eigenständigen Kunstform. Das geht zusammen mit einer Veränderung des Stils und es Geschmacks. Der ‚französische Garten‘ mit seinen gleichförmigen Rabatten, geraden Wegen und artifiziell verschnittenen Bäumen und Sträuchern wird abgelöst von der wenig reglementierten Vielfalt des ‚englischen Landschaftsparks‘. Die gewandelte Einstellung drückt sich darin aus, dass sich die Gartengestaltung nicht an der Architektur, sondern an der Landschaftsmalerei orientiert. Diese sei „die vertrauteste Schwester der Gartenkunst“, urteilt der führende Theoretiker Christian Cajus Laurenz Hirschfeld in seinem monumentalen, sehr einflussreichen Werk Theorie der Gartenkunst.87 Für Kant gehört die Gartengestaltung einfach zur „Malerkunst“, welche er unterteilt in „schöne Schilderung der Natur“ und „schöne Zusammenstellung ihrer Producte. Die erste wäre die eigentliche Malerei, die zweite die Lustgärtnerei“. Den Status einer Kunst erlangen beide dadurch, dass sie „den Sinnenschein künstlich mit Ideen verbunden darstellen“.88 Daraus lässt sich der Anspruch der Gartenanlage ableiten. Sie will mehr sein als eine gefällige Gestaltung der Umgebung, mehr auch als eine Zusammenstellung von Nutzpflanzen. Sie ordnet die Naturdinge so an, dass daraus Bilder entstehen, Bilder, die Empfindungen und Ideen beim Besucher erwecken sollen. Die so aufgefasste Gartenkunst ist der denkwürdige, über den engeren Bereich hinausgehende Versuch, eine Bedeutungslehre der Natur zu entwickeln. Die Erscheinungen werden auf ihren expressiven Gehalt taxiert und entsprechend eingesetzt. Das betrifft den Solitärbaum ebenso wie die Baumgruppe. Und schließlich soll eine ganze Partie, also das Ensemble aus Bodenformation, Vegetation und Gewässern eine Physiognomie bekommen. So verbreitet eine Platane eine Stimmung der Stille und Einsamkeit; ein Hain aus hochstämmigen Bäumen verbindet sich mit der Vorstellung von Würde und Majestät. Hirschfeld unterscheidet 87 Zitiert nach Gerndt, a.a.O., S. 64; auf Gerndts Buch über die literarische Kontroverse um den Landschaftsgarten wird hier Bezug genommen. Zur Geschichte des Gartens s. auch Derek Clifford, Gartenkunst, München 1966. 88 Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 322 f (§ 51).
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natürliche und künstliche Elemente, die dem Gartenkünstler zur Verfügung stehen. Zur ersten Gruppe gehören Land, Wasser und Bewuchs, zur zweiten Bauwerke wie Tempel, Einsiedeleien, Ruinen, die in den Park integriert werden. Der Einsatz und die Anordnung dieser Bestandteile dürfen aber nicht willkürlich erfolgen. Der Gärtner muss sich nach dem richten, was er vorfindet. Sein Eingriff soll zu einer Verbesserung und Veredelung der Natur führen. Dazu muss er den Charakter des Geländes erfassen und seine Maßnahmen so treffen, dass sie die vorhandenen Schönheiten sichtbar machen. Der Park ist selbst ein Landschaftsgemälde, aber eines, das nicht mit den illusionistischen Mitteln der Malerei arbeitet, sondern dazu reale Gegenstände verwendet. Der ‚natürliche Garten‘ öffnet sich der angrenzenden Gegend, fast unmerklich sind die Übergänge. Er passt sich ein in sein Umfeld. Das schon unterscheidet den englischen vom französischen Stil. Zu den Kennzeichen des letzteren gehört die Regelmäßigkeit, die mit dem Lineal und dem Zirkel gegliederte Fläche. Und auch die Gewächse sind nach geometrischen Formen zurechtgestutzt. Schiller fasst das Urteil der Zeitgenossen zusammen, wenn er von einem „geistlosen Ebenmaß“ und einem „seltsamen Irrweg“ spricht.89 Zwanglos dagegen gibt sich der Park im englischen Geschmack. Die Pflanzen wachsen nach ihrer angestammten Form, und geschlängelte Wege führen durch Wiesen, Wäldchen und Dickichte. Der Zwang, der der Natur im französischen Garten angetan wird, ist kennzeichnend für die Gesinnung, aus der er entstanden ist. Sie überträgt sich auf die Menschen. Auch sie sollen beherrscht werden. Die Parkgestaltung hat also politische Implikationen. Der ‚regelmäßige Garten‘ ist verbunden mit einem absolutistischen Herrschaftsanspruch, er ist höfisch-aristokratisch. Und in der Praxis waren diese Anlagen einer feudalen Oberschicht vorbehalten. Sie bildeten den festlichen Rahmen für die Vergnügungen des Adels. Nicht zur Erholung Einzelner und für besinnliche Spaziergänge waren sie gemacht, sondern für prunkvolle Defilees, bei denen sich eine herausgeputzte Gesellschaft zur Schau stellte. Anders der ‚natürliche Garten‘. Er ist eine Schöpfung der Freiheit. Hier darf sich die Natur nach ihrem Gesetz entfalten. Und das gilt auch für die Menschen, auch sie sollen sich nach ihren eigenen Eingebungen bewegen. Diese Anlage wird also getragen von freiheitlich-demokratischen Überzeugungen, sie ist ein Manifest bürgerlicher Denkweise. Symptomatisch dafür ist, dass sich der Park jedermann öffnet. Er ist gedacht für Menschen, die vor der schönen Natur zu sich kommen wollen und ist von daher ein Ausdruck bürgerlicher Innerlichkeit.
89 Über den Gartenkalender auf das Jahr 1795, Werke, a.a.O., Bd. 5, S. 885.
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Die Beschäftigung mit dem Garten und die Auseinandersetzungen darüber finden in der Literatur ein vielstimmiges Echo, in der ästhetischen Theorie und in der Essayistik, wie Kant und Schiller bezeugen, aber nicht nur da. In Jean Pauls Erzählwerk hat der Park eine wichtige Funktion, worüber ausführlicher in dem entsprechenden Kapitel gehandelt werden wird. Und weiter sind Fragen der Gartenkunst ein beherrschendes Thema in einem der berühmtesten deutschen Romane, nämlich in Goethes Die Wahlverwandtschaften. Die Bewohner eines herrschaftlichen Landgutes, zwei Männer und zwei Frauen, deren Leben sich schicksalhaft verknüpft, sind intensiv damit befasst, ein Bachtal in einen „natürlichen Garten“ zu verwandeln. Eingegangen ist in die Romanhandlung die ganze Diskussion über die Gartenkunst. So geht es darum, was mit einer älteren, architektonischen Anlage geschehen soll. Häufig wird das Terrain gemeinsam abgeschritten, es werden Verbesserungsvorschläge erörtert und die einzelnen Personen entwickeln von sich aus Pläne. Man sucht die Stellen auf, an denen Aussichtspunkte eingerichtet werden sollen, und man legt die Wegführung fest. Die Eingriffe in das anmutige Mühlenbachtal werden so vorgenommen, dass die vorhandenen Reize hervorgehoben und gesteigert werden. Jede Partie soll auf einen besonderen Seelenton gestimmt werden. Und der empfängliche Besucher, der den neu gebahnten „großen Rundcours“ durchschritten hat, durchlebt eine ganze Skala von Empfindungen. Er hat „eine kleine Welt umgangen“. Das Resultat der Verschönerungsarbeiten wird so angegeben: Die Umgebung war viel schöner, als man sichs hatte denken können. Alles störende Kleinliche war ringsumher entfernt, alles Gute der Landschaft, was die Natur, was die Zeit daran getan hatte, trat reinlich hervor und fiel ins Auge, und schon grünten die jungen Pflanzungen, die bestimmt waren, einige Lücken auszufüllen und die abgesonderten Teile angenehm zu verbinden.90
Goethe war ein Gärtner aus Passion. Bei der Fertigstellung des ‚Parks an der Ilm‘ in Weimar hat er als junger Mann selbst Hand angelegt. Und mit seiner Frau unterhielt er eine rege Korrespondenz über die beiden Haus- und Nutzgärten in ihrem Besitz. Dass er ein Metier, das er gut kannte und das ihm am Herzen lag, literarisch verarbeitete, verwundert nicht. Aber selbstverständlich wollte er kein Kompendium für Gärtner vorlegen. Seine Intention sei gewesen, „sociale Verhältnisse und Konflikte symbolisch darzustellen.“91 Fragt sich nur, warum sich der Roman so ausgiebig und ins Detail gehend mit der Parkgestaltung 90 Werke, Bd. VI, a.a.O., S. 428. 91 Zitiert nach Gerndt, a.a.O., S. 163; zum folgende vgl. das Kp. über die Wahlverwandtschaften, ebd., S. 163ff. Hier wird eine etwas andere Interpretation des Themas Gartenkunst versucht.
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befasst. Von den Interpreten ist diese Frage meist übergangen worden; wohl weil sie damit nichts anzufangen wussten. Soviel ist richtig: Hauptthema des Romans ist etwas anderes, etwas, das schon mit dem Titel Die Wahlverwandtschaften angezeigt wird und Gegenstand einer moralischen Fragestellung ist. Es liegt aber nahe, die Beschäftigung mit der Gärtnerei nicht als zufälliges Beiwerk, sondern als Teil dieser Diskussion zu begreifen. Bekanntlich ist ‚Wahlverwandtschaft‘ ein Begriff aus der Chemie. Damit bezeichnete man die Eigenschaft bestimmter chemischer Elemente, bei der Annäherung anderer Stoffe ihre bestehende Verbindung zu lösen und sich mit den neu hinzugetretenen zu vereinigen. In einer Art Versuchsanordnung überprüft Goethe, ob diese Gesetzmäßigkeit auch für Menschen gilt. Was dagegen spricht, ist die Autonomie des Menschen, ist seine Sittlichkeit, die ihm eine Entscheidung darüber gestattet, ob er eine Verbindung eingehen will oder nicht. Die vier Hauptpersonen des Romans, zwei Eheleute und der Mann und die Frau, zu denen sie sich hingezogen fühlen, müssen sich damit auseinandersetzen. Es geht also um den Konflikt zwischen Leidenschaft und Moral, zwischen naturhaftem Zwang und freier Wahl. Allgemeiner formuliert, steht das Verhältnis von Mensch und Natur zur Diskussion. Und wenn es bei der moralischen Frage um die Beziehung des Menschen zu seiner inneren Natur geht, zu seinen Trieben und Leidenschaften, so geht es bei der Gartengestaltung um die Beziehung des Menschen zur äußeren Natur, zu seiner Umwelt. Obwohl also das Hauptinteresse der ethischen Problematik gilt, so wird diese doch von der Beschäftigung mit dem Gartenbau beleuchtet. Verhandelt wird, inwieweit der Mensch der Natur etwas entgegensetzen kann respektive soll. Fragwürdig wie die Relationen der Romanfiguren zueinander ist auch ihre Beziehung zur Umgebung. Denn auch der natürliche Garten kann keine ungeteilte Zustimmung finden. Wo seine Schwächen liegen, zeigen vor allem die Verirrungen dieser Stilrichtung. Bereits Schiller hat in dem zitierten Kalenderblatt die Kritik vorweggenommen, die später die Romantiker geübt haben. Der „architektonische Geschmack“ tut der Natur Gewalt an, er ahmt sie nicht nach, sondern erzeugt ganz „neue Objekte“, insofern wird sie zum bloßen Mittel. Der „poetische Gartengeschmack“ wendet sich vehement dagegen. Nach ihm soll „die Natur durch sich selbst repräsentiert werden.“ Er übersieht dabei, dass dieses Ziel nur zu erreichen ist, wenn das, was in der Natur ins Große und Weite geht, auf engen Raum zusammengedrängt wird.92 Das Bestreben, die Natur auf schöne Eindrücke zu komprimieren, führt zu ihrer Verkleinerung und Verniedlichung. So ist die Attitüde, besser sein 92 Schiller, a.a.O., S. 886f.
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zu wollen als sie, eine bloße Anmaßung. Und Goethe, ursprünglich ein Bewunderer des natürlichen Stils, erkennt dessen Gefahren. Eine bestimmte Gartenkunst, schreibt er, „verkleinert das Erhabene der Natur und hebt es auf, indem sie es nachahmt“.93 Und die Figuren in den Wahlverwandtschaften, die die Natur veredeln wollen, operieren mit einem fragwürdigen Naturbegriff. Im Blick auf den gärtnerischen Umgang mit der Natur sagt Alexander von Humboldt um1840: „Die Kultur verwischt etwas vom ursprünglichen Naturcharakter, sie stört in der gefesselten Organisation die freie Entwicklung der Teile“.94 Die Begeisterung für den englischen Stil, der im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Deutschland erfasst hatte, ist längst verflogen. Zudem ist in den Wahlverwandtschaften nichts mehr zu spüren vom Alleben der Natur, in dem sich Werther aufgehoben fühlte, von der Schau der großen Zusammenhänge und von der Ergriffenheit durch die Schöpfung. Die zahlreichen Natur- und Landschaftsbeschreibungen sind lediglich schöne Aussichten, eher nüchtern gehalten und verfasst in einer realistischen Manier, die eng beim Sichtbaren bleibt. Die Wahlverwandtschaften sind ein abgründiges Buch, eines, das ratlos macht. Denn Goethe bietet keine Lösungen an, weder für den Umgang mit der inneren, noch für den mit der äußeren Natur. Abgründig ist der Roman auch deshalb, weil die abgeschiedene „kleine Welt“, die sich die Protagonisten schaffen und die zunächst so harmonisch erscheint, brüchig ist. Ihre Einrichtungen kehren sich gegen sie: auf dem See, den sie angelegt haben, geschieht ein verhängnisvolles Unglück. Die historische Übersicht findet im zweiten Teil eine Fortsetzung. An den Werken der ausgewählten Autoren wird die Weiterentwicklung der literarischen Landschaft ausführlich gezeigt. Wie die Maler haben auch die Schriftsteller ihre persönliche Manier. Sie sind darüber hinaus auch Vertreter ihrer Epoche. Und wenn man die üblichen Einteilungen verwenden will, so ist Jean Paul dem Idealismus und der Romantik zuzuordnen; Stifter und Fontane gehören zu zwei unterschiedlichen Ausprägungen des Realismus. Schließlich ist Arno Schmidt repräsentativ für die Moderne, in der sich das Muster Landschaft aufzulösen beginnt. Die Auswahl der Autoren hätte auch anders ausfallen können. Sicher gehören beispielsweise die Landschaften in Kellers Der grüne Heinrich zum Besten, was die deutsche Literatur diesbezüglich zu bieten hat; immerhin wird im ersten Kapitel davon ein Eindruck vermittelt. Aber es kam hier nicht auf Vollständigkeit an, sondern darauf, bestimmte Aspekte abzudecken. Wenn von einem Ende der literarischen Landschaft gesprochen wird, so ist damit nur eine Tendenz gemeint. Auch in 93 Zitiert nach Gerndt, a.a.O., S. 163. 94 Kosmos, a.a.O.., 2. Bd., S. 82.
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der neueren Literatur gibt es wunderbare Naturansichten. Um wenigstens Beispiele zu nennen, so sei auf das Buch Wanderungen im 1orden von Alfred Andersch verwiesen. Welche Möglichkeiten die Naturdarstellung immer noch hat, zeigt die folgende, sich ganz auf die Farben konzentrierende Impression von Hermann Hesse: Ich war nicht weit von Malamocco. Die Lagune war von einem goldüberhauchten, warmen Blattgrün, Venedig lag weiß und rosig in einem transparenten goldenen Dunst, jenseits der Insel lag das freie Meer in schwerem Blau. Ich sah Schiffe und Barken von Süden her meine Blickrichtung schneiden und plötzlich in den goldenen Nebel tauchen, der sie wie eine zarte Gloriole umhüllte. Ich weiß kein Gleichnis dafür als das des Traumes, der Dichtung der Kunst – so als wären die sichtbaren, gewohnten Dinge plötzlich in den Kreis einer schöpferischen Schönheit getreten und zu Poesie und schöner Sage geworden.95
Diese geschichtliche Betrachtung kann jedoch nicht schließen, ohne wenigstens etwas über das Schicksal der wissenschaftlichen Landschaftsbeschreibung angemerkt zu haben. Da ist Alexander von Humboldt zweifellos die herausragende Gestalt. Er verbindet zwei Eigenschaften, die des Reisenden und die des Forschers. Die Interessen des einen sind nicht unbedingt identisch mit denen des anderen. In die Fremde sind die Menschen schon immer aufgebrochen. Was sie dazu trieb, hat sehr unterschiedliche Gründe: Abenteuerlust, der Wunsch nach Abwechslung, Gewinnstreben, Eroberungssucht, Erkenntnisdrang oder einfach die Sehnsucht nach einem besseren, schöneren Dasein. Entsprechend divergent ist die Wahrnehmung des Fremden und sind die Mitteilungen darüber. Die Reiseliteratur ist also eine sehr uneinheitliche Gattung. Und je nach Veranlagung der Verfasser bietet sie Informatives, Unterhaltsames, Sensationelles, nicht selten Furchterregendes und Phantastisches. Sie bedient damit bestimmte Erwartungen der Leser.96 Es ist nicht der persönliches Blickwinkel des Autors allein, der den Reisebericht prägt. In ihn sind auch, mehr oder weniger stark, die Ansichten und Vorurteile seiner Epoche eingegangen. Das gilt auch für die Angaben über die Natur der bereisten Länder, die ein fester Bestandteil dieser Literatur sind. Entscheidend dafür ist, auf welche Hinblicknahmen und Deskriptionsmodelle der auswärtige Beobachter zurückgreifen konnte. Da fügt sich die Reiseliteratur in die großen Linien der geschichtlichen Entwicklung ein, etwa in Bezug auf die Ausbildung des panaromatischen Sehens. Zu beachten ist, dass der Reisebericht andere 95 Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 6, Frankfurt/M. 1970, S. 204. 96 Einen Überblick über die deutschsprachige Reiseliteratur und deren wissenschaftliche Aufarbeitung bietet der Forschungsbericht von Peter J. Breuner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 2. Sonderheft, Tübingen 1990.
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Ambitionen hat als die Dichtung, wenngleich auch er literarische Qualitäten haben kann. Erst relativ spät tritt der Forschungsreisende auf, wie ihn Humboldt verkörpert. Schon vorher, spätestens in der Aufklärung, hat sich das Prinzip der Autopsie in der Reiseschriftstellerei durchgesetzt. Der Berichterstatter verlässt sich nicht auf Hörensagen und auf die Auskunft anderer. Er spricht nur von dem, was er selbst in Augenschein genommen hat. Die Wissenschaft setzt das in der Weise um, dass sie empirische Methoden zur Erfassung der Erdoberfläche entwickelt. Es entsteht die Erdbeschreibung oder Geographie als akademische Disziplin. Daran ist Alexander von Humboldt an führender Stelle beteiligt. Er seinerseits hebt die Leistung eines Mannes hervor, den er als seinen „berühmten Lehrer“ bezeichnet. Er fährt fort: Durch ihn begann eine neue Ära wissenschaftlicher Reisen, deren Zweck vergleichende Länder- und Völkerkunde ist. Mit einem feinen ästhetischen Gefühl begabt, in sich bewahrend die lebensfrischen Bilder, welche auf Tahiti und anderen, damals glücklicheren Eilanden der Südsee seine Phantasie … erfüllt hatten, schildert er zuerst mit Anmut die wechselnden Vegetationsstufen, die klimatischen Verhältnisse, die Nahrungsstoffe in Beziehung auf die Gesittung der Menschen nach Verschiedenheit ihrer Wohnsitze und ihrer Abstammung.97
Die Rede ist von Georg Forster, dem die deutsche Literatur ein einzigartiges, kaum gewürdigtes Werk der beschreibenden Schriftstellerei zu verdanken hat. Wir sind es gewohnt vom ‚Zeitalter der Entdeckungen‘ zu sprechen und meinen damit ungefähr die Jahre zwischen 1450 und 1600. Das suggeriert, danach sei der Globus bekannt gewesen, jedenfalls in seinen äußeren Umrissen. Aber selbst gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren ganze Teile der Erde noch nicht auf den Landkarten verzeichnet. Das aufzuhellen, war das Ziel verschiedener Unternehmungen, von denen die des Captain Cook zu den berühmtesten zählen. Seine zweite Entdeckungsreise (1772 – 1775) hatte unter anderem den Auftrag, nach einer großen Landmasse im Südpazifik zu suchen, nach der sagenhaften „terra australis“. Daran nahm Georg Forster als wissenschaftlicher Begleiter teil. Er fertigte darüber einen umfangreichen Bericht an, und der ist weit mehr als das Tagebuch einer Seefahrt. Ihm gelingt es, eine ungeheure Menge an Eindrücken, Erfahrungsdaten, Messwerten und Materialien aufzunehmen und zu ordnen. Dabei stand er häufig vor Phänomenen, die kaum Vergleiche mit Bekanntem zuließen. So liefert er die erste genaue Deskription des Meeresleuchtens.98 Und wenn der Roman 97 Kosmos, a.a.O., 2.Bd., S. 62. 98 Georg Forster, Reise um die Welt, Frankfurt/M. 1983, S. 81f.
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die dichterische Gestaltung der neuzeitlichen Subjektivität ist, wenn er das Schicksal des Menschen darstellt, der sich nicht an einem festen, vorgegebenen Weltbild orientieren kann, sondern der sich eine Ordnung erst schaffen muss, so befindet sich ein Forschungsreisender wie Forster ganz real in dieser Lage. Forster sichtet, sammelt, zeichnet, bestimmt, misst. Und er geht weiter dazu über, ein konsistentes Bild der Weltgegenden, die er bereist, zu entwerfen. Er stellt Zusammenhänge her zwischen den geologischen Formationen, der Vegetation, der Fauna, dem Klima. Und nicht zuletzt beschäftigen ihn die Menschen, auf die er trifft. Er untersucht ihre Lebensweise und ihre soziale Organisation; er fragt nach der Abhängigkeit dieser Menschen von den natürlichen Bedingungen und danach, wie sie ihrerseits ihre Umwelt gestalten. Äußerlich hat das Werk die Form eines Reisberichts, d.h. es zeichnet den Weg der Entdeckungsfahrt nach. Eingestreut sind aber Reflexionen und kleine, systematische Abhandlungen zu bestimmten Themen, z.B. zu den Südseegesellschaften. Daraus ließe sich eine ganze Methodologie der Völkerkunde gewinnen, denn Forster nimmt vorweg, was als ‚Feldforschung‘ später zum Bestand der Ethnologie gehört. Und hätte die Ethnologie in Deutschland eine ähnliche Bedeutung erlangt wie bei den alten Kolonialmächten, bei den Engländern und Franzosen, so wäre Forster als ein Begründer und herausragender Vertreter dieses Faches gefeiert worden. So blieben seine Einsichten und Methoden weitgehend ungenutzt. Er ist ein verständnisvoller und unvoreingenommener Beobachter, obwohl er, wie könnte es anders sein, nicht ganz frei ist von den Ansichten seiner Zeit. Des Eurozentrischen der eigenen Sichtweise ist er sich aber durchaus bewusst, und er ist hellsichtig genug, um die verhängnisvollen Auswirkungen der europäischen Invasion für die Kulturen der Eingeborenen abschätzen zu können. Sein Buch ist keine trockene Präsentation von Forschungsergebnissen. Es nimmt den Leser mit in eine ferne, unbekannte Welt, die faszinierend ist und schön und die ihre Geheimnisse und Schrecken hat. Dabei stellt sich die Meinung als Irrtum heraus, den zivilisierten Reisenden empfinge nichts anderes als Wildnis. Auch in den entlegenen Teilen der Erde gibt es kultivierte Landstriche, gibt es Felder und Haine, gibt es Gärten, die den ästhetischen Sinn befriedigen. Und Forster versteht sich drauf, das alles zu schildern. Er sammelt eben nicht nur Fakten, sondern stellt diese in einen Horizont. Er entwickelt eine ganzheitliche Betrachtung, die die Einzelbeobachtung als Teil einer Einheit begreift. Immer wieder rückt er dem Leser Bilder der Südseelandschaft vor Augen; gleich mehrere sind es von Tahiti. Sie sind ungefähr um dieselbe Zeit entstanden wie die Landschaften aus dem Werther. Ge-
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konnt sind auch sie, nur weniger bekannt. Als Beispiel folgt eine Ansicht Tahitis von See aus: Ein Morgen war’s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel O-Tahiti, 2 Meilen vor uns sahen. Der Ostwind, unser bisheriger Begleiter hatte sich gelegt; ein vom Lande wehendes Lüftchen führte uns die erfrischendsten und herrlichsten Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Fläche der See. Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherley majestätischen Gestalten und glühten bereits im ersten Morgenstrahl der Sonne. Unterhalb derselben erblickte das Auge Reihen von niedrigern, sanft abhängenden Hügeln, die den Bergen gleich, mit Waldung bedeckt, und mit verschiedenem anmuthigen Grün und herbstlichen Braun schattirt waren. Vor diesen her lag die Ebene, von tragbaren Brodfrucht-Bäumen und unzählbaren Palmen beschattet, deren königliche Wipfel weit über jene empor ragten. Noch erschien alles im tiefsten Schlaf; kaum tagte der Morgen und stille Schatten schwebten noch auf der Landschaft dahin.99
Wer Alexander von Humboldts Kosmos-Werk aufschlägt, wird erstaunt feststellen, dass er nicht das vorfindet, was er unter einem Geographiebuch versteht. Es enthält lange Passagen über die dichterische Naturbeschreibung von der Antike bis in die neuere Zeit und über die Geschichte der Landschaftsmalerei. Humboldt begründet das damit, dass er die „Anregungsmittel zum Naturstudium“ untersuchen wolle. Generell gesprochen findet er diese im „Naturgenuss“, darin, dass sich die Menschen seit jeher von der Natur angezogen fühlten. Beim Naturgenuss unterscheidet Humboldt zwei Stufen. Bei der ersten handelt es sich nur um ein Empfinden, um ein unmittelbares Angesprochensein. Die zweite ist gekennzeichnet durch die Einsicht in die Zusammenhänge des „Weltbaus“. Nun fragt sich allerdings, was die subjektive Disponiertheit mit wissenschaftlicher Tatsachenerhebung zu tun hat. Die Antwort liegt in dem, was der Grundsatz von Humboldts Forschung ist: „Um die Natur in ihrer ganzen Größe zu umfassen, glaubte ich sie nach zweierlei Ansichten, einmal objektiv als tatsächliche Erscheinung und dann in den Gefühlen der Menschheit reflektiert, darstellen zu müssen.“ Die Erkenntnis hat demnach zwei Seiten. Die eine besteht in der Erfassung der äußerlichen Gegebenheiten. Hier werden die empirischen Methoden des Bestimmens, Messens, Vergleichens eingesetzt. Bei der zweiten Seite geht es um die Reaktion des Inneren auf die Daten der Außenwelt. Auch sie, nicht nur die objektiven Tatbestände, sagt etwas über die Natur. Das ist darin begründet, dass der Mensch mit „allem Organischen verwandt“ ist. Und er spürt diese Nähe selbst in fremden, ihm ganz unbekannten Gegenden. Seine seelischen Regungen sind demnach nicht zufällig; vielmehr besteht eine „geheimnisvolle Analogie zwischen den Gemütsbewegungen und den Erscheinungen der Sin99 Ebd., S. 241.
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nenwelt.“ Das wäre Humboldts Fassung der idealistischen Identitätsthese, nach der sich die Strukturen des Geistes in der Natur wiederfinden. Allerdings will Humboldt die Ordnung der Natur nicht aus dem Geist ‚konstruieren‘ wie etwa Schelling. Er setzt auf die Erfahrung, will dabei aber nicht stehen bleiben. Die „physische Weltbeschreibung“ erhebt sich „zur denkenden Betrachtung der durch Empirie gegebenen Erscheinungen als eines Naturganzen“. Die Faktenerhebung ist nur Stückwerk, sie ist nichts als eine Anhäufung von Einzelbeobachtungen. Erst wenn diese nicht mehr für sich stehen, erst wenn sie begriffen werden als Manifestationen eines allgemeinen Wesens, erhalten sie einen Sinn. Die Natur begreifen heißt, „den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen.“ Nun ist die Kunst keine Wissenschaft, ebenso wenig wie die Dichtung, aber ihre Darstellung der Natur geht hervor aus dem „geahnten Zusammenhang des Sinnlichen mit dem Intellektuellen“. Was der Mensch fühlt im Angesicht der Natur, was in seiner Seele anklingt, das bringen sie zum Ausdruck. Sie wissen um das Verhältnis der Entsprechung zwischen der äußeren und der inneren Welt. Um aber das darzustellen, dürfen sie das Vorhandene nicht einfach kopieren. Sie müssen es „idealisieren“, ihr „Beruf“ ist, „die Wirklichkeit zu einem Bild zu erheben“. Alle Kunst bleibt gebunden ans Sinnliche, aber sie ist immer auch eine „Erweiterung des sinnlichen Horizonts“, eine Verdichtung und Überhöhung des Wahrgenommenen. Und weil sie nicht bei der einzelnen Erscheinung bleibt, weil sie diese aufhebt in einen größeren Zusammenhang, kann sie eine Anschauung hervorbringen des „Naturganzen“ oder des „Kosmos“. Für Humboldt gibt es einen „alten Bund des Naturwissens mit der Poesie und dem Kunstgefühl“.100 Nach dieser epistemologischen Konzeption gehört es zur Aufgabe des Naturforschers, auch den seelischen Ausdruck der Erscheinungen zu berücksichtigen. Er ist beiden Seiten verpflichtet, den objektiven Fakten und den ästhetischen Gestalten. Humboldt selbst hat in seinen Expeditionsberichten immer die Physiognomie der untersuchten Regionen beachtet, hat den Eindruck wiedergegeben, den sie auf den Besucher machen. Nicht nur das Aussehen einer bestimmten Gegend, auch die besondere Atmosphäre, die an ihr haftet, die Stimmung, teilt sich aus Humboldts Berichten dem Leser mit. Trotz der üppigen tropischen Vegetation liegt eine eigentümliche Traurigkeit, ein Gefühl der Verlorenheit über den Wasserfällen des Orinoco, was in dem folgenden kurzen Auszug wenigstens andeutungsweise zur Sprache kommt:
100 Die zitierten Stellen finden sich im Kosmos, a.a.O., 1. Bd., S. 10; 2. Bd., S. 45; 1. Bd., S. 17; 2. Bd., S. 58; 1. Bd., S. 36; S. 15; 2. Bd., S. 36, 63, 77.
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Kaum ist die Kuppe erreicht, so wird man durch eine weite Aussicht über die umliegende Gegend überrascht. Aus dem schäumenden Flussbett erheben sich mit Wald geschmückte Hügel. Jenseits des Stromes über das westliche Ufer hinweg ruht der Blick auf der unermesslichen Grasflur der Meta. Am Horizont erscheint wie ein drohend aufziehendes Gewölk das Gebirge Uniama. So die Ferne; nahe umher ist alles öde und eng. Im tief gefurchten Tal schweben einsam die Geier und die krächzenden Caprimulge. An der nackten Felswand schleicht ihr schwindender Schatten hin.101
Auch wenn die nachfolgenden Forscher Humboldts idealistischen Ansatz nicht teilen, so hat sich bei ihnen doch eine Vorstellung davon erhalten, dass die Gegenstände ihrer Untersuchungen auch Gestaltqualitäten haben, die zu erfassen und darzustellen, zu ihren Aufgaben gehört. Bei den Geographen des 19. Jahrhunderts sind wunderbare Landschaftsbilder zu finden, etwa bei Leopold von Buch, um auch Namen zu nennen, und bei Friedrich Ratzel, dessen Kompendium der Naturbeschreibung schon angeführt wurde.102 Der Befund ist der, dass im 19. Jahrhundert der Blick für die Landschaft und die Fertigkeiten zu ihrer Darstellung voll ausgebildet sind. Das Wissen darum, wie man eine Naturszene aufbaut, ist gewissermaßen zum Handwerk des Schreibens geworden. Sicher, es gibt die großen ‚poetischen Landschaftsmaler‘, Jean Paul, Stifter oder auch Keller. Aber auch die Gebrauchsprosa hat Achtbares vorzuweisen. Neben den Geographen sind es die Reiseschriftsteller, die hier erwähnt werden müssen. Die Ansichten aus den Alpen von Heinrich 1oé sind hervorragende Muster der Natur- und Landschaftsdarstellung. Von den Wissenschaftlern sind es auch die Historiker, die Länder und Gegenden beschrieben haben. Sie begründen etwas, das man auch bei Fontane wiederfindet, etwas, das man die ‚historische Landschaft‘ nennen kann. Die Natur begreifen sie als Schauplatz geschichtlicher Ereignisse. Sie sehen in einer bestimmten Umgebung den schicksalhaften Ort, an dem sich Bedeutendes zugetragen hat. Und einige dieser Historiker wurden darüber zu großartigen Naturschilderern, so der bereits zitierte Jakob Philipp Fallmerayer.103 Von ähnlicher Güte sind die Bilder eines anderen Historikers, sind die Prospekte aus Italien von Ferdinand Gregorovius. An dem nachstehenden Beispiel kann man das fast Schulmäßige des Bildaufbaus studieren.
101 Aus: Über die Wasserfälle des Orinoco bei Atures und Maipures, in: Ansichten der Natur, a.a.O., S. 141. 102 Die Anthologie von Rudolf Borchardt Der Deutsche in der Landschaft, Frankfurt/M. 1989, macht einige dieser Texte zugänglich. 103 Immerhin hat Friedrich Sengle ihm, wie auch A. v. Humboldt, in seinem Werk über die Literatur des 19. Jahrhunderts einige Seiten gewidmet. Sie finden sich im einem Kapitel über die Reisebeschreibung; vgl. Biedermeierzeit, Bd. II, Stuttgart 1972, S. 255ff, S. 267ff.
294 Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung Dort überschaut man sie am besten: ein grünumbuschter, großer Vorgrund, hinter ihm das braune, durch eine schwarze Waldpartie unterbrochene meilenlange Tal, von blauem Dunst und sonniger Wärme überzittert, links und rechts prächtige Bergketten. Jene zur linken ist die Serra, ein Gebirgszug, aus welchem als Hauptform die riesige Pyramide des Serrone klar und schön hervortritt, andere Berge in absinkender Linie der Perspektive neben sich, alle zu ihren Füßen einen Teppich von grüner und brauner Farbe hingebreitet, auf welchem die Kastelle stehen, die sich in ihrem Schatten aufgestellt haben. Hügel laufen von der Serra frisch und anmutig in die Ebene hinein, gegen den Fluß sich vorziehend, und sie tragen auf ihren grünen Gipfeln Burgen und schimmernde Städte. Ihnen entgegen kommen von der anderen Seite Hügel, doch minder weit sich vorwagend, Auswanderer des Volskergebirges, welches rechts in stundenweiter und doch nicht allzu langer Ferne der Serra gegenübersteht, mit andern Formen das Gemälde belebend, nicht als Pyramiden, sondern in kühnen Wölbungen gekuppelt.104
Der Ausschluss einer ästhetischen, subjektbezogenen Betrachtungsweise aus der wissenschaftlichen Erkundung der Welt hat sicher dazu beigetragen, dass immer weniger Rücksicht auf den Erhalt einer lebenswerten Umwelt genommen wurde. Schönheit und Vielfalt sind immer auch Indikatoren für eine intakte Biosphäre. In der Rückbesinnung auf Alexander von Humboldt, die in jüngerer Zeit stattgefunden hat, zeichnet sich zumindest ein Umdenken ab.
104 Ferdinand Gregorovius, Wanderjahre in Italien, München 1978, S. 282f.
Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft
Caspar David Friedrich, Abtei im Eichwald, Ölgemälde, Staatliche Schlösser und Gärten – Schloss Charlottenburg, Berlin.
1. Der Tempel der Natur – Jean Paul Da sind zuerst die Namen. „Maienthal“ heißen die Orte und „Lilienbad“ und „Blumenbühl“; oder auch „Pestiz“ und „Haßlau“. Gewiss, das sind nur Phantasieprodukte, aber so ganz wieder nicht. In ihnen hält sich die Erinnerung an eine bestimmte Gegend, die an Jean Pauls Heimat, an Franken. Dort tragen die Orte Namen wie ‚Joditz‘, ‚Baiersgrün‘ oder ‚Rehau‘; und ‚Blumenbühl‘ gibt es wirklich, so nennt sich ein Dorf im Ansbachischen. Zuerst sind die Namen bloß erfunden, später werden gleich die richtigen eingesetzt. Siebenkäs erlebt Tage der Freundschaft und der Liebe in Bayreuth und läuft über Bad Berneck und Gefrees nach Hof, seinem Freund Leibgeber hinterher, von dem er in Töpen gerührt Abschied nimmt. Die Ortsbezeichnungen zitieren also einen geographisch ausmachbaren Landstrich. Und doch gibt es bei Jean Paul keine genauen Beschreibungen tatsächlicher Lokalitäten. Dahinter steckt allerdings mehr als nur ein „Spiel mit der deutschen Geographie“.1 Es kündigt sich darin ein künstlerisches Verfahren an, das weder auf die bloße Abbildung der Realität aus ist noch ein reines Phantasiegebilde errichten will, und dieses Verfahren ist durchgängiges Prinzip in Jean Pauls Landschaftsschilderungen. Zunächst aber bezeichnen die Namen Stätten, die mit dem Leben der Romanhelden verknüpft sind. Keine neutralen Lokalitäten sind das, sondern epische Räume; an ihnen haften besondere Gefühlswerte und Bewusstseinsinhalte, und die Romane weisen eine feste Topographie auf. Diese steht mit dem Erstlingswerk, mit der Unsichtbaren Loge fest, und wird nur im Siebenkäs leicht abgewandelt. Der Komet nimmt eine Sonderstellung ein. Das Geschehen konzentriert sich auf drei Schauplätze, die für die Entwicklungsphasen der Helden stehen. Das bleibt sich gleich: Es gibt immer die ländliche Umgebung, in der der Held seine Kindheit verbringt, sie trägt Namen wie „Auenthal“, „Blumenbühl“ oder „Elterlein“; den Kontrast dazu bildet die Stadt, in der der Held mit der Gesellschaft in Berührung kommt, sie heißt nicht ohne Hintersinn „Pestitz“ oder „Haßlau“; die dritte Lokalität ist eine Parklandschaft, eine Stätte seelischer Verzückung, der schwärmerischen 1
So Wulf Koepke, Jean Pauls innere Landkarte, in: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft, 3. Jahrgang, München 1968, S. 112; der Aufsatz bietet eine Zusammenstellung der von Jean Paul verwendeten geographischen Namen und Begriffe.
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Freundschaft und der Liebe, sie nennt Jean Paul „Lilienbad“, „Marienthal“ oder „Lilar“. Diese Schauplatzkonstellation setzt verschiedene Erlebnisräume einander polar entgegen; so ist etwa die Kindheitsidylle abgesetzt gegen die philiströse Gesellschaftswelt, und dieser wiederum steht die idealische Sphäre des Parks gegenüber.2 Die große Natur öffnet sich Jean Pauls Helden auf ihren Wanderungen, die sie zwischen diesen Schauplätzen zurücklegen. Das Landschaftserlebnis steht also für sich, jedenfalls fügt es sich nicht umstandslos ein in die Topographie der Romane, es ist herausgehoben aus dem gewöhnlichen Kreis des Daseins. Allerdings gehen offene Landschaft und Park ineinander über, so dass sie einen Erlebnisraum bilden können. Es ist immer derselbe Vorgang: Einer von Jean Pauls Jünglingen läuft hinaus ins Freie, und mitgenommen wird er dort von einem umfassenden Strom des Lebens. Aber wenn er so einige Stunden mit schöpfendem Auge und saugendem Herzen gewandelt war durch Perlenschnüre betaueter Gewebe, durch sumsende Täler, über singende Hügel, und wenn der veilchenblaue Himmel sich friedlich an die dampfenden Höhen und die dunkeln, wie Gartenwände übereinander steigenden Wälder anschloß; wenn die Natur alle Röhren des Lebensstroms öffnete, und wenn all ihre Springbrunnen aufstiegen und brennend ineinander spiegelten, von der Sonne übermalt: Dann wurde Viktor, der mit einem steigenden und trinkenden Herzen durch die fliegenden Ströme ging, von ihnen gehoben und erweicht; dann schwamm sein Herz behende wie das Sonnenbild im unendlichen Ozean, wie der schlagende Punkt des Rädertiers im flatternden Wasserkügelchen des Bergstroms schwimmt. - Dann lösete sich in eine dunkle Unermeßlichkeit die Blume auf, die Aue und der Wald; und die Farbkörner der Natur zergingen in eine einzige weite Flut, und ü b e r der dämmernden Flut stand der Unendliche als Sonne, und i n ihr das Menschherz als z u r ü c k g e s p i e g e l t e Sonne. - Alles ward eins – alle Herzen wurden ein größtes – ein einziges Leben schlug - .3
Bewegung ist das auffälligste Merkmal dieser Darstellung. Diese hat beide Seiten erfasst, die äußere Natur, deren Elemente sich regen, und den Menschen, dessen Körper und dessen Seele losstürmen. Der Eindruck des atemlosen, sich überstürzenden Vorwärtsdrängens wird erzeugt durch die mit ‚wenn‘ beginnenden, parallel geschalteten Nebensätze. Aufgefangen und zu einem Gipfelpunkt gebracht werden sie durch den mit ‚dann‘ beginnenden Hauptsatz. Der durch die sich wiederholenden Konjunktionen akzentuierte Rhythmus zwingt die weit 2
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Diese Überlegungen treffen sich mit denen von Gerd Strauß; vgl. dessen Besprechung von Elmar Engels, Die Raumgestaltung bei Jean Paul, in: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft, 5. Jg., München 1970, S. 170–181. 1. Bd., S. 617; zitiert wird nach der sechsbändigen Ausgabe von Norbert Miller, München 1960–63.
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ausschwingende Satzperiode zu einer Einheit zusammen. Die einzelnen Bewegungen, die objektiven der Naturerscheinungen und die subjektiven der Füße und des Gemüts, gehen unvermittelt ineinander über. Und schließlich verbinden sich die wechselnden Anblicke zu einem Akkord. Das Ziel aber, auf das alles hindrängt, ist räumlich nicht auszumachen. Es liegt im Einswerden, liegt in der unio mystica, in der Mensch und Natur sich zusammenschließen. Als „expressive Bewegungslandschaften“ hat August Langen diese Schilderungen bezeichnet. Sie beruhten auf einer „Dynamisierung“ der Natur.4 Wie Langen weiter ausführt, gab es die schon vor Jean Paul. Sie kommen in der ‚Empfindsamkeit‘ auf und werden im ‚Sturm und Drang‘ weiterentwickelt.5 Von denen Jean Pauls unterscheiden sie sich jedoch in einer wesentlichen Hinsicht, darin nämlich, dass bei diesem der Betrachter seinen Standpunkt verlässt und sich selbst in Bewegung setzt. Er hat zunächst die Landschaft sich gegenüber, hat vor sich die Täler, die Höhen und die Wälder, die sein Blick umfasst. Dann aber verliert sich die Distanz, und der Wanderer geht auf in der Umgebung. Damit wird eine Intention aufgenommen, die sich bereits im ‚Sturm und Drang‘ und beim jungen Goethe abzeichnete; es ist die nach Überwindung der Trennung von Subjekt und Objekt, das Begehren nach Verschmelzung und danach, einzutauchen in ein Allgefühl. Die Aufgabe eines fixen Bezugspunktes ist für die damalige Zeit ungewöhnlich. Die von Jean Paul sehr geschätzten Landschaften im Werther geben den Blick eines ruhenden Beobachters wieder, der nur den Wunsch äußert, fliegen zu können. Und wie selbstverständlich ist für Goethe die Übung, eine Fahrt zu unterbrechen oder im Laufen innezuhalten, um eine Naturszene aufzunehmen.6 Bei Jean Paul aber eilen die Menschen durch die Gegenden, oder sie fliegen gar. Und zum Bild gruppieren sich die wechselnden Eindrücke. Daraus entstehen unterschiedliche Bewegungsfiguren. Die eine schlägt ein forciertes Tempo an, ist spannungsreich und strebt einer Auflösung zu, wovon das eben angeführte Zitat eine Probe gab. Die andere ist eher mit einem gleichmäßigen Fließen zu vergleichen. Ihre Form ist die parataktisch aufgereihter Hauptsätze.
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August Langen, Deutsche Sprachgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart, in: Deutsche Philologie im Aufriß, Berlin ²1978, Bd. 1, Sp. 1225; allerdings geht Langen nur auf diesen Landschaftstyp ein. Wie man den Begriff ‚Bewegungslandschaft‘ im Kontext des idealistisch-romantischen Naturbegriffs einzuschätzen hat, wurde oben im Kp. I, 6 besprochen. Vgl. ebd., Sp. 1131–1133. Als Beispiel sei eine Stelle aus der Italienischen Reise angeführt: „Dies war auch ein angenehmes Bild, das wir durch kurzes Stillhalten erwarben.“ A.a.O., Bd. XII, S. 220.
300 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft Er eilte, und sein Eilen zog den wehmütigen Lautenzug seiner Seele. Denn er ging nicht über die Sommergefilde, sondern die Sommergefilde wandelten an ihm vorüber – eine Landschaft nach der andern, Theater mit Wäldern, Theater mit Saaten flogen vorbei – neue Hügel stiegen mit andern Lichtern auf und hoben ihre Wälder empor, und andere sanken mit den ihrigen unter – lange Schattensteppen liefen zurück vor heranfließendem gelben Sonnenlicht – bald strömten Täler voll Blumen um ihn, bald erhoben ihn heiße leere Hügel-Ufer – der Strom rauschte nahe an sein Ohr, und plötzlich blinkten seine Krümmungen entfernt über Mohnfelder herüber – weiße Straßen und grüne Pfade begegneten und entflohen ihm und zogen um die weite Erde – volle Dörfer rückten mit glimmenden Fenstern vorbei und Gärten mit entkleideten Kindern – die gesenkte Sonne wurde bald erhoben, bald vertieft, bald auf Gipfel der Wälder, bald auf Gipfel der Berge gezogen – Dieses V o r ü b e r f l i e h e n der Szenen verdunkelte sein benutztes Auge und erhellte die innere Welt…7
Die vorüberziehenden Ansichten werden also nicht in Einzelbilder zerlegt. Es entsteht so etwas wie ein Panoramabild, und das erinnert an das Rollenpanorama, welches zur damaligen Zeit von umherreisenden Schaustellern vorgeführt wurde. Das auf eine Walze aufgerollte Bild wurde an einem Sehschlitz vorbeigezogen, und vor den Augen der Zuschauer erschienen wechselnde Szenerien. Der Eindruck konnte noch durch besondere Lichteffekte verstärkt werden, wie man sie von der Laterna magica her kannte. Und mit den Bildern einer „Zauberlaterne“ vergleicht Jean Paul eine Reihe von Impressionen, die an Vult in den Flegeljahren auf einem Fußmarsch vorbeigleiten; an derselben Stelle erwähnt er auch den Wandervorführer „mit seiner auf eine Walze gefädelten flatternden Bilder-Bibel und Bilder-Galerie“.8 Es gibt verschiedene Bewegungen – gewaltsame, hastige und tumultuarische oder sanfte, anmutige und leichte. Ihre Eigenart hängt natürlich auch immer davon ab, was denn da mobil ist. Bei Jean Paul können Massen einer Gegend lebendig werden. In den angeführten Beispielen „sumsen“ oder „strömen“ Täler; „Hügel heben Wälder“ und „singen“. Ganze Landschaftsformationen werden also nicht statuarisch behandelt, sie sind nicht starrer Hintergrund und Schauplatz vorübergehender Ereignisse, sondern sie sind selbst in die Bewegung hineingezogen.9 Und auch das unterschiedliche Verhalten der eher körperlosen Erscheinungen gehört zu den Ausdrucksmitteln dieser Bilder. Der stürmische oder säuselnde Wind, die ziehenden oder sich türmenden Wolken teilen sich einem Ausblick als Bedeutungsnuancen mit. Jean Paul bezieht auch momentane, flüchtige Erscheinungen in seine Naturbe7 8 9
1. Bd., S. 672f. 2. Bd., S. 858f. Jean Paul erweist sich darin als „Vollender“ der Landschaftsschilderung des ‚Sturm und Drang‘; so Langen, a.a.O., Sp. 1133.
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trachtung ein wie etwa das Spiel von Licht und Schatten unter den Bäumen eines Parks.10 Von dem Wie und dem Was der Bewegungen empfangen die Landschaften Jean Pauls eine Ausdrucksgebärde. Das ekstatische Naturerlebnis ist keineswegs naiv, es ist keine unreflektierte Hingabe. Viktor im Hesperus, von dem im ersten Zitat berichtet wurde, zögert die Reise hinaus, wenn ihm die Lichtverhältnisse ungünstig erscheinen; mit Bedacht werden Aussichtspunkte ausgesucht, und auch die Zeit der Ankunft am Zielort ist sorgfältig gewählt. Die Natur wird hier betrachtet mit dem Blick des Künstlers, sie ist vor allem ein ästhetisches Phänomen. Allerdings geht sie darin für Jean Paul nicht auf, das muss gleich hinzugefügt werden. Über sich, über sich als Dichter, sagt er, er sei ein „geistiger Landschaftsmaler“.11 Nicht nur, dass er sich immer wieder auf Maler beruft, er verfährt auch teilweise wie sie. Das vor allem bei einem zweiten Landschaftstypus, und wenn der erste einer der Bewegung war, so ist der zweite einer der Sammlung. Der Unterschied liegt aber nicht darin, dass bei diesem die Naturdinge ruhig wären, sondern darin, dass hier der Betrachter der Landschaft gegenübertritt, während er bei jenem durch sie geleitet wird.12 Sorgfältig aufgebaut sind diese Naturschilderungen. Der Standpunkt des Betrachters wird angegeben, eine Vorder-, ein Mittel- und ein Hintergrund ist auszumachen; und auch das wird geleistet: Die Komposition stellt eine bildliche Einheit zwischen den verschiedenen Gründen her. Sie setzten sich ans luftige Morgenfenster, vor welchem die Blumenbühler Berge und Lilars Hügel und Pfade im Sonnenglanz lagen. Um sie war der Abendschatten und alles still … Wie entronnen blickten sie, von dieser Burg beschirmt, hinab in die rauschende, bewegliche Welt; unten blies der Wind die schwere Mohn- und Tulpenlohe breiter und in die schwere gelbe Ernte – die Silberpappeln, ewigen Mai-Schnee tragend, flatterten mit aufgewühltem Glanz – ein Taubenflug rauschte eintauchend ins Blaue hinein – und drüben standen unter fliegenden Wolken die runden Tempel Gottes, die Berge, nebeneinander in Reihen und trugen bald Nächte, bald Tage -13
Die Schauenden stehen erhöht, der Blick geht hinab auf die unter ihnen liegenden Felder, wovon er nur einige Farbtupfer aufnimmt. Er wird dann aber gleichsam hochgerissen zu den Bergen am Horizont; das 10 Auf die unterschiedlichen Bewegungen und deren Effekt für die Landschaftsdarstellung geht auch Richard Alewyn in dem schon zitierten Aufsatz über Eichendorff ein; der Vergleich zwischen Jean Paul und Eichendorff ist höchst aufschlussreich, weil auch Eichendorff, aber in ganz anderer Weise, Bewegung einsetzt. 11 6. Bd., S. 1080. 12 Obwohl Andreas Müller kein Verständnis für Jean Pauls Landschaftsdarstellungen aufbringt, hat er die beiden Bildtypen richtig unterschieden. Vgl. A.M., Landschaftserlebnis und Landschaftsbild, Hechingen 1955, S. 140. 13 3. Bd., S. 390.
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geschieht durch die aufsteigenden Tauben; diese nehmen ungefähr die Mitte des Bildes ein und schaffen eine Verbindung zum Hintergrund, zu den Bergen, die wiederum auf die Unendlichkeit des Himmels verweisen. Auch das Licht zieht die Aufmerksamkeit in die Ferne. Der Vordergrund ist schon abgedunkelt durch die Abendschatten, und in diese hinein glänzt die übrige Gegend, ganz wie eine Verheißung. Ähnlich ist ein anderer Ausblick komponiert .Jetzt jedoch ist es Nacht, und der Ort ist genau angegeben. Es ist die Stadt Hof, die vor den Wanderern liegt. Heinrich zeigte ihm das um den Fuß des Berges aufgeschlagene Lager der Stadt, die wie eingeschlummert zusammengesunken schien, und in der nichts rege war als die flimmenden Lichter. Der Strom ringelte sich unter dem Monde mit einem schillernden Rücken wie eine Riesenschlange um die Stadt und streckte sich durch zwei Brücken aus. Der halbe Schimmer des Mondes und die weißen durchsichtigen Nebel der Nacht hoben die Berge und die Wälder und die Erde in den Himmel, und die Wasser auf der Erde waren gestirnt, wie die blaue Nacht darüber, und die Erde führte, wie der Uranus, einen doppelten Mond, gleichsam an jeder Hand ein Kind.14
Auch hier gibt es Vermittlungen zwischen unten und oben. Das machen die im Fluss sich spiegelnden Gestirne und die an den Bergen gelagerten Nebel. Und auch hier ist wieder die aufsteigende Bewegung zu vermerken, die den Betrachter mitnimmt und ihn erhebt. In Jean Pauls Beschreibungen lassen sich durchaus Züge realer Landschaften wiedererkennen. Es sind die deutscher Mittelgebirgsregionen, die ihm so vertraut waren. Dabei handelt es sich jedoch nicht um wirklichkeitsgetreue Abbilder, allenfalls Details an ihnen sind realistisch. Jean Paul ist ein genauer Beobachter, aber Nachahmung ist ihm nicht Zweck der Dichtung. Die realistische Einzelheit dient nur als Versatzstück, das in die künstlerische Konzeption eingepasst wird. Jean Paul verfährt dabei nach dem Grundsatz: „Die Teile müssen wirklich, aber das Ganze idealisch sein.“15 Er grenzt sich damit ab gegen die Reiseschriftstellerei. Sie gebe lediglich eine chaotische Fülle, könne aber kein „malerisches Ganzes“ machen. Eben dies sei das Werk des Dichters, der das durch „Auslassen“ erreiche.16 Er solle einen Gesamteindruck vermitteln und sich nicht in Einzelheiten verlieren. Diese Einheit entstünde vornehmlich dadurch, dass sich der Landschaft der Ton einer Empfindung mitteile, aber nicht eine des Autors, sondern eine des Helden oder der Heldin.
14 2. Bd., S. 529. 15 4. Bd., S. 202. 16 5. Bd., S. 289.
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Reisebeschreibungen nimmt Jean Paul zum Vorwurf für seine Dichtungen. Er beschreibt Gegenden, in denen er noch nie war, italienische sind das, solche um den Lago Maggiore und um den Golf von Neapel. Sie kommen nur im Titan vor, und akribisch gibt er in Fußnoten die Bücher an, aus denen er seine Kenntnisse hat. Die Unterscheidung zwischen „Reisebeschreibung“ und „poetischer Landschaftsmalerei“ hat eine Entsprechung in der bildenden Kunst der Zeit; sie trennt zwischen „Aussicht“ und „Bild“. Der Kunstschriftsteller Carl Ludwig Fernow – auch Jean Paul erwähnt ihn – grenzt diese so gegeneinander ab, dass die erste „treu der Wirklichkeit nachgebildet“, das zweite aber „dichterisch erfunden“ sei.17 Die wahre Kunst besteht in der Darstellung „idealischer Naturszenen“. Demgegenüber gilt die „Prospekt- oder Vedutenmalerei“ als minderwertig, wenngleich auch sie als Gattung der Landschaftsmalerei angesehen wird. Sie ist jedoch allenfalls Gebrauchskunst und befriedigt das Bedürfnis nach Reiseandenken. Wenn gesagt wurde, wahre Kunst könne nur ‚idealisch‘ sein, so ist damit gemeint, ihre Bestimmung sei der Ausdruck von Ideen. In der Landschaft wird ein geistiger Gehalt gesucht, die Offenbarung des Göttlichen, die Erscheinung des Erhabenen, der Ausdruck einer Stimmung; wenigstens aber sollen die charakteristischen Merkmale einer Landesnatur erfasst werden. Das gibt der zufällige Anblick nicht her. Er muss ins Wesentliche erhöht werden, und das geschieht dadurch, dass er eingefügt wird in den geistigen Entwurf des Künstlers. Nach Jean Paul soll die Kunst keine Kopie des Vorhandenen sein, das liefe auf „Nachäfferei“ hinaus. Sie ist „Nachahmung der Natur“, aber eine, die „poetisch“ ist, wofür „schön oder geistig“ andere Ausdrücke sind. Die Dichtung muss sich demnach an das Wirkliche halten, aber sie wiederholt es nicht, sondern spricht dessen Wahrheit aus.18 Darin ist schon eine Anleitung für den Schaffensprozess enthalten. Die Studie an der Natur ist nur Vorarbeit, der eigentlich künstlerische Akt ist die Komposition, und die erfolgt im Atelier. Das, was Jean Paul macht, dass er die Angaben eines Reisberichts als Vorlage für die künstlerische Gestaltung benutzt, wird so ähnlich auch in der Malerei praktiziert. Ferdinand Olivier beispielsweise, seinerzeit Kunstprofessor in München, malt ein Bild vom italienischen Landleben, ohne je in Italien gewesen zu sein. Einzelheiten entnimmt er einer Zeichnung des mit ihm befreundeten Schnorr von Carolsfeld, der eine dörfliche Szene in Olevano bei Rom festgehalten hatte. 17 Zitiert nach Eberle, a.a.O., S. 207. 18 Das ist nachzulesen in der Vorschule der Ästhetik, 5. Bd., S. 30–43. Zum Prinzip der Naturnachahmung und Jean Pauls Stellung dazu vgl Friedrich Ohly, Das Buch der 1atur bei Jean Paul, in: Beihefte zum Euphorion, 18. Heft Heidelberg 1981, S. 177–232, insbesondere S. 205ff.
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Was Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik über die dichterische Landschaftsdarstellung sagt, dass es nämlich eine „mehr plastische“ und eine „mehr musikalische“ gebe,19 ist auch an seiner eigenen zu beobachten. Das eine Mal wird die Erscheinung der Dinge im Raum akzentuiert, das andere Mal die in der Zeit. Und weil im zweiten Fall die Bewegung das beherrschende Element ist, ist es der Rhythmus, der die Einheit des Bildes trägt, er hält die verschiedenen Ausblicke zusammen und macht, dass sie in der Empfindung einen Akkord bilden. Der einheitsstiftende Takt kann aber von verschiedenen Seiten kommen. Ihn kann das Subjekt vorgeben, mit seinen Gemütsbewegungen oder der Weise seines Fortkommens; ihn vermag aber auch eine Naturerscheinung anzuschlagen. Im Titan ist es beispielsweise der Wind, der gleichermaßen Menschen, Bäume und Wolken hineinzieht in sein „Fluten“.20 Die Wirkung ist in allen Fällen die einer Verflüssigung. Der Widerstand des Festen, Dinglichen ist gebrochen und es fügt sich einer Rundung zum Ganzen.21 Anders steht es mit der ersten Art des Bildes. Da tut sich dem innehaltenden Betrachter eine Ansicht auf, und die Einheit des Bildes beruht auf dem Zusammenstimmen der optischen Eindrücke, der Formen und Farben; da nähert sich die Dichtung der malerischen Behandlung an. Beispiele für beide Möglichkeiten der Gestaltung wurden schon beigebracht. Ganz Rhythmus, ganz Bewegung ist die erste hier wiedereggeben Landschaftsbeschreibung, weitgehend statisch gehalten dagegen ist die dritte. Freilich, auch die plastische Auffassung ist an die Darstellungsmöglichkeiten der Literatur gebunden. Im Unterschied zur bildenden Kunst, die die Gegenstände im Nebeneinander ausbreitet, muss sie das Geschaute im Nacheinander wiedergeben. Die plastische Manier schreibt Jean Paul eher den „Alten“, also der Antike, zu, während die musikalische eher der neueren Zeit angehöre. Für ihn gibt es aber das, „was am besten ist, beides“, und in seinen Landschaften sind meist auch beide Momente enthalten. Immer jedoch soll ein Naturausschnitt zur bestimmten Anschauung gebracht werden. Die muss der Schriftsteller der Geistigkeit seines Materials, muss er dem Wort abgewinnen. Er kann deshalb nicht einfach von Wald und Berg und Tal reden. Das bliebe ganz allgemein und erreichte gar nicht die Ebene der Bildlichkeit. Der abstrakte Begriff muss überführt werden in die bestimmte Gestalt. Das hat zunächst etwas mit der handwerklichen Seite der Dichtkunst zu tun. Jean Paul notiert und sammelt unermüdlich Ähnlichkeiten, auch solche zwischen scheinbar 19 5. Bd., S. 290. 20 Vgl. 3. Bd., S. 333f. 21 Diesen Aspekt betont Christa Sütterlin, Die Wasser der Romantik, Studie zu den RaumZeit-Bezügen bei Jean Paul und J.M.W. Turner, Bern – Frankfurt/M. – New York 1983, S. 16 f; im übrigen redet Jean Paul selbst von „Auflösung“ und „Zergehen“.
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entlegenen Dingen. Dieses Wissen setzt er ein, um die Erscheinungen bis in die Nuancen zu erfassen. Sie werden so dem Leser vor Augen gerückt, und es ist der Vergleich, durch den sie sinnliche Dichte bekommen, sie werden sichtbar und greifbar. Über den Wald lässt sich eben mehr sagen, als dass er der Wald ist, und selbst ein achtbarer Schriftsteller wie Ludwig Tieck bringt es in seinen Naturschilderungen selten zu anschaulicher Konkretion. Immer neue Metaphern findet Jean Paul für die Naturerscheinungen. Besonders zahlreich sind die für den Mond, allein im Titan gibt es ungefähr dreißig davon. Und das sieht man: „Durch Zweige und durch Quellen und über Berge und über Wälder flossen blitzend die zerschmolzenen Silberadern, die der Mond aus den Nachtschlacken ausgeschieden hatte …“22 Die in ihm „aufgestiegenen“ „schönen Landschaften“ seien nur „Inseln und Erdstriche aus der längst vergangenen Kindheit“23, bemerkte Jean Paul einmal. Sie nehmen deshalb in seiner Topographie einen besonderen Platz ein. Und wenn sie herausgehoben sind aus der gewöhnlichen Wirklichkeit, so kommen ihnen darin nur bestimmte Orte gleich, das sind die Gärten und Parks. Gemeint sind aber besondere Gärten, nämlich englische. Was Jean Paul an ihnen fand hat Fürst Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, der den Park in Wörlitz hat anlegen lassen, folgendermaßen ausgedrückt: durch den Garten solle „stark die Einbildungskraft und die Empfindung“ bewegt werden, „stärker als eine natürlich schöne Gegend bewegen kann“.24 Die Anlage von Wörlitz folgte englischen Vorbildern, und sie wurde im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts stilbildend für Deutschland. Goethe war davon begeistert und sein Fürst Karl August ebenfalls. Die beiden haben versucht, Ähnliches zu schaffen. Das Ergebnis ist teilweise noch heute in den Weimarer Ilm-Auen zu besichtigen. „Wühlte still an Felsen und Ufer fort“, schrieb Goethe in sein Tagebuch, und in den Wahlverwandtschaften lässt er sich lange über Gartenkunst aus. Der ‚englische Garten‘ war also in Mode; er ersetzt weitgehend den ‚französischen‘. Gegen dessen Künstlichkeit machen die Briten die Freiheit der Natur geltend, das überzeugte die Epoche. Natur will auch der französische Garten sein, aber eine, die einem bestimmten Bild von ihr entspricht, dem des Rationalismus und der mechanistischen Physik. In den Garten kommt die Mathematik und mit ihr die gerade Linie der Alleen, das auf geometrische Formen zurechtgestutzte Strauchwerk und die abgezirkelten Rabatte – die Natur more geometrico sozusagen. Das Kernstück bildet das ‚Parterre‘, eine offene, mit Ornamenten durchzo22 2. Bd., S. 204. 23 4. Bd., S. 201. 24 Zitiert nach Makowsky/Buderath, a.a.O., S. 40.
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gene Fläche, die wie ein ausgerollter Teppich wirkt .Der englische Garten ist nicht minder künstlich, denn auch er ist ein Produkt der planenden Vernunft. Allerdings soll er sich in die Landschaft einfügen. Er setzt fort, was sie vorgibt, und die Übergänge sind fließend. Das Entscheidende jedoch ist, dass sich die Idee der Natur geändert hat. Wenn der Rationalismus sie sich nach dem Muster der Maschine denkt, so ist nun an dessen Stelle der Gedanke des Organismus getreten. Die gewundene Linie, die gewachsene Form, die unregelmäßige Baumgruppe, das hat Leben und ersetzt die tote Gleichmäßigkeit rechnenden Wesens. Es gibt hier verschlungene Wege, es gibt Wiesen und Waldstücke. Während also der französische Garten die Male eines rigorosen Eingriffs ins Vorgefundene trägt, erweckt der englische den Eindruck natürlicher Ungezwungenheit. Wie die beiden Gartenformen im Aussehen verschieden sind, so sind sie es auch nach den Zwecken, für die sie geschaffen wurden. Derek Clifford schreibt in seiner Geschichte der Gartenkunst, die französische Anlage erinnere an eine Bühne und an Theaterdekorationen.25 Das kommt nicht von ungefähr. Sie ist gedacht als Schauplatz für den Auftritt der höfischen Gesellschaft und dient deren Bedürfnis nach Repräsentation. Vor allem aber ist sie Kulisse für die Macht- und Prachtentfaltung des absolutistischen Fürsten. Mit Ludwig XIV. und Versailles erreicht die französische Gartenkunst ihren Gipfelpunkt. Für ganz andere Leute gemacht ist der englische Park. Was das betrifft, hat Rousseau das Stichwort geliefert, es ist das vom „promeneur solitaire“, vom einsamen Spaziergänger; und einsame Spaziergänger sind auch die Helden Jean Pauls.26 Wer da sich ergeht, ist nicht der Adlige, nicht der Gesellschaftsmensch, der sich bloß zeigen will, sondern der Bürger, der Vertreter einer neuen Geisteshaltung und eines geänderten Wertebewusstseins. Er entfernt sich aus der Gesellschaft und tritt ein in eine größere Gemeinschaft, in die der Natur. In dieser zählen nicht die sozialen Klassen und der gesellschaftliche Rang. Vor der Natur kann sich das deklassierte bürgerliche Individuum als Mensch fühlen und nicht allein als Angehöriger einer sozialen Schicht. Der Spaziergang wird zum Akt einer moralischen Konsolidierung. Er unterscheidet sich darin, wie eine von Jean Paul nicht nur witzig gemeinte Einteilung der „Spaziergeher“ in Kasten aufweist, von der Promenade der feinen Gesellschaft.27 Die 25 A.a.O., S. 139f. 26 Kurt Wölfel hat diesem Thema einen Aufsatz gewidmet; er gibt näheren Aufschluss über die hier angesprochenen Zusammenhänge: Vgl. K.W., Kosmopolitische Einsamkeit. Über den Spaziergang als poetische Handlung, in: Jahrbuch der Jean-PaulGesllschaft, 15. Jg., München 1980, S. 28–54. 27 Die findet sich in der Unsichtbaren Loge, 1. Bd., S. 404 f; zur Auslegung vgl. Wölfel a.a.O.
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will nur sich selbst zeigen, „ihre Kleidung“ und sogar „ihre Gefühle“. Aber gerade das verrät ihre Minderwertigkeit, denn die Person von Stand ist nichts aus sich selbst heraus; was sie ist, wird ihr von anderen zugesprochen. Der Spaziergang dagegen, der keine gesellschaftliche Veranstaltung ist, führt zur Besinnung auf die eigene Person. Die richtige Umgebung dafür bietet der Landschaftspark, dessen Anlage ist berechnet auf den einsamen Spaziergänger. Zu sich selbst kommen will der Einzelne. Das kann er aber nur an einer Stätte, die ihm seine Bewegungen nicht vorschreibt und die nicht selbst wieder gezeichnet ist von Dressur. Das findet der gegen fremde Bevormundung und gegen die Etikette aufbegehrende Bürger in der Zwanglosigkeit der Natur, und der englische Garten ist ihm eine ins Wesentliche verdichtete Natur. Obwohl dieser zunächst auch nur eine Domäne der Aristokratie ist, avanciert er doch zum Träger fortschrittlicher Ideen und wird schließlich einem breiteren Publikum zugänglich. So ist der Englische Garten in München eine der ersten öffentlichen Parkanlagen in Deutschland. Und wenn im 18. Jahrhundert sich eine eigenständige deutsche Nationalliteratur herausbildet durch die Befreiung vom französischen Einfluss und in der Hinwendung zu englischen Vorbildern – Shakespeare wird zum Gegenstand der Verehrung und für Jean Paul der von ihm sehr bewunderte Lawrence Sterne – so ist ein ähnlicher Vorgang in der Landschaftsarchitektur Ausdruck einer Zeitströmung. Was es damit auf sich hat, formuliert bündig Schiller: „Wer verweilt nicht lieber bei der geistreichen Unordnung einer natürlichen Landschaft als bei der geistlosen Regelmäßigkeit eines französischen Gartens?“28 „Die wahre und schöne Natur muß hier das vornehmste Muster geben“, fordert Christian Cajus Laurenz Hirschfeld in seiner Theorie der Gartenkunst, einem damals viel beachteten Werk.29 Jean Paul folgt dem weitgehend. Umstandslos setzt er den Park mit der Natur gleich. Gegen Hirschfeld als Schriftsteller hat er nur einzuwenden, er verzettele sich in Einzelheiten. Er selbst dagegen versteht sich als Künstler. Hier kehrt der Vorwurf wieder, den er schon gegen die Reisebeschreibungen erhoben hatte. Verlangt ist die Einheitlichkeit eines Bildes. Für unseren Geschmack sind Jean Pauls Gärten allerdings überaus künstlich, denn sie sind nicht einfach kultivierte Landschaften. Da gibt es „Gefühlsbretter“, auf denen stehen besinnliche Inschriften; aufgestellt sind Büsten berühmter Leute, welche auf deren Lehren einstimmen 28 Zitiert nach Makowski/Buderath, a.a.O., S. 25; über die beiden Formen des Gartens handelt Schiller in seinem Aufsatz Über den Gartenkalender auf das Jahr 1791, a.a.O., 5. Bd., S. 884 ff; darüber und über die Auseinadersetzung um die Gartenkunst wird mehr im Kp. I, 6 gesagt. 29 Leipzig 1779–1785, S 6.
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wollen; dann finden sich da „Waldklafter“, das sind als Bäume getarnte Gartenhäuschen; Wasserspiele sind installiert, die gekoppelt sind mit einer Harmonika und die aufsteigenden Fontänen sind synchronisiert mit Harmonikaklängen; in eine Höhle, in den „Tartarus“, geht es hinunter, aber der Abstieg ist nur vorgetäuscht, in Wirklichkeit geht es hinauf; und wo eine Unterwelt vorhanden ist, da muss auch ein „Elysium“ existieren. Vieles daran ist Relikt des Barock, geht zurück auf dessen Lust an der Illusion, und der Garten hat immer noch etwas von einer Bühnendekoration. Was jedoch Jean Paul beschreibt, ist eine besondere Spielart des englischen Parks, als „sentimentalisch“ hat sie die Kunstgeschichte bezeichnet; sie wiederum ist nicht trennscharf von der „poetischen“ zu unterscheiden. Das Arrangement soll die Gefühle des Besuchers wecken. Die einzelnen Zurüstungen, ganze Partien sind bewusst darauf angelegt, bestimmte Empfindungen und Stimmungen hervorzurufen. Das trifft sich mit Jean Pauls Intention, bei dem alles auf die Darstellung der Innerlichkeit abgestellt ist, und die Gärten bieten dafür den korrespondierenden äußeren Rahmen. Wenn Jean Paul trotz dieser Vorrichtungen von Natur spricht, so deswegen, weil diese in ein Ensemble eingelassen sind, das Elemente des Natürlichen wie die Vegetation, das Wasser, die Bodenerhebungen zu einem lebendigen Ganzen komponiert. Gegensatz zum Natürlichen ist demnach nicht das Künstliche, d.h. das vom Menschen Geschaffene, der Gegensatz ist ein „toter Landschaftsfigurant“.30 Das Ideal der Natur ist – es sei noch einmal wiederholt – der lebendige Organismus, und an das will die Gestaltung herankommen. Der Grundriss eines Parks, wie er Jean Paul vorschwebte, lässt sich durchaus nachzeichnen. Man muss dazu ‚Maienthal‘ aus dem Hesperus und ‚Lilar‘ aus dem Titan zusammennehmen. Jean Paul macht auch Anleihen bei tatsächlich existierenden Anlagen, da sind vor allem die Eremitage und Fantaisie bei Bayreuth zu nennen. Bei einem Besuch kann man heute noch auf manches treffen, das Jean Paul beschrieben hat.31 Aber das meiste hat er wiederum aus der Lektüre. Jean Pauls Garten umfasst ein von Bergen eingeschlossenes Tal, auf dessen Grund sich ein Wasserlauf schlängelt, der Teiche bildet und Inseln umfließt. Der Übergang des Parks zur angrenzenden Umgebung vollzieht sich kaum merklich, wie das die englische Gartenkunst fordert. In die Ge30 3. Bd., S. 202. 31 Gisela Lindemann übersieht bei ihrer Untersuchung über die Behandlung der Fantaisie im Siebenkäs, dass Jean Paul immer auch reale Gegebenheiten in seine Dichtung einbezieht; vgl. G.L., Fantaisie und Phantasie – Zu einer Szene in Jean Pauls Roman ‚Siebenkäs‘, in: Sonderband Text und Kritik, Jean Paul, dritte erw. Aufl. München 1983, S. 65–76.
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samtanlage kann ein Dorf integriert sein, das mit seinen Tieren den Eindruck einer bukolischen Landschaft hervorruft. Im Tal hin und die Berge hinauf ziehen sich weite Wiesenflächen, die durch Waldstücke und lichte Haine unterbrochen sind. Einige der Berghänge sind terrassiert, und jeder Absatz weist eine andere Bepflanzung auf. Oben auf den Bergen gibt es Aussichtspunkte, die weite Rundblicke gestatten. Unten im Talgrund überspannen schön geschwungene Brücken das Wasser; sie führen zu den Inseln, die mit einem besonderen Baumbestand eine eigene, abgeschiedene Welt bilden. Über das Gelände verstreut gibt es Ruheplätze: Lauben, die nach ihrer Bauweise nur die Morgen- oder die Abendsonne einfallen lassen; überwachsene Lagerstätten, die wie ein „vergrößerter Blumenkelch“ wirken. Daneben finden sich allerlei Sommerhäuser, die damals noch in Mode stehenden ‚Eremitagen‘. Auch Töne sind zu vernehmen, vor allem Wind- und Sphärenmusik von den an geeigneter Stelle aufgehängten Äolsharfen. Jeder dieser Punkte hat eine ihm eigene Atmosphäre, und einmal ist es so eingerichtet, dass sich weite Ausblicke auftun, dann wieder so, dass sich ein abgeschirmter, heimeliger Ort bildet. Selbstverständlich will es etwas bedeuten, dass der Garten ein Tal einnimmt. Er ist abgesondert von der übrigen Welt; das gibt ihm eine nahezu religiöse Weihe. Eine „zweite Welt“ nennt ihn Jean Paul oder gar ein „Eden“ und ein „Paradies“. Er nimmt sich aus wie eine Insel, und das weckt Reminiszenzen an die utopische Literatur. In der Tat, der Park ist so etwas wie eine Insel der Seligen. Daran denkt wohl auch Jean Paul, wenn er eine Verwandtschaft mit „Otaheiti“ – Tahiti ist gemeint – und Arkadien heraufbeschwört.32 Der Zauber ist aber weitgehend einer des Arrangements; das scheint nur vorgetäuschte Gefühle zuzulassen. Der Gefahr des Truges war sich Jean Paul durchaus bewusst. In den Flegeljahren hat er ein Zerrbild dieses Wesens angefertigt und mit der Beschreibung des „Neupeterschen Gartens“ die Empfindelei derb verspottet. Das Arrangement kann aber doch wahre Gefühle wecken. Es schafft die äußeren Voraussetzungen dafür, dass die Seele sich erheben kann. Auch hier gibt es eine Inszenierung des Lebens, aber eines Lebens, das ganz nach innen gekehrt ist. Der Garten ist das in einem, er ist der Ort an dem der inwendige Mensch sich aufrichten kann, er ist der Schauplatz für die Begegnung hochgestimmter Seelen, und er ist Abbild und Abglanz der Empfindungen. Aber er ist mehr noch als das, als „zusammengerücktes Weltgebäude“ bezeichnet ihn Jean Paul.33 In 32 Zum Motiv der Insel vgl. Hans-Michael Speier, Die Ästhetik Jean Pauls in der Dichtung des deutschen Symbolismus, Frankfurt/M. 1979, S. 147–152; Speier geht auch auf „Park und Garten“ ein, vgl. S. 136–147. 33 2. Bd., S. 400.
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ihm, in ihm als Kunstwerk zieht sich die Welt gleichsam zusammen, so dass der Mensch ihrer ansichtig werden kann. Dazu stimmt, dass der Park mit einem „Gemälde“ gleichgesetzt wird.34 Wie im Landschaftsbild scheint in der Überschaubarkeit des Gartens etwas auf vom umfassenden Zusammenhang der Natur. Hier nun die Ansicht von Maienthal: Zu seinen Füßen lagerte sich, wie ein bekränzter Riese, wie eine versetzte Frühlingsinsel, ein englischer Park. Dieser Berg gegen Süden und einer gegen Norden waren zu einer Wiege zusammengerückt, in der das stille Dörfchen ruhte, und über welche die Morgen- und die Abendsonne ihr goldnes Gespinst hindeckte. In fünf blitzenden Teichen schwankten fünf dunklere Abendhimmel, und jede aufhüpfende Welle malte sich im darüberschwebenden Sonnenfeuer zum Rubin. Zwei Bäche wateten in veränderlichen Entfernungen, von Rosen und Weiden verdunkelt, über den langen Wiesengrund, und ein wässerndes Feuerrad trieb wie ein gehendes Herz das vom Abend gerötete Wasser durch alle grünenden Blumengefäße. Überall nickten Blumen, diese Schmetterlinge unter den Gewächsen – auf jedem bemoosten Bachstein, aus jedem mürben Stocke, um jedes Fenster wiegte sich eine Blume in ihrem Duft, und spanische Wicken überzogen mit blauen und roten Adern einen Garten ohne Zaun. Ein durchsichtiges Wäldchen mit goldgrünen Birken stieg in hohem Gras drüben den nördliche Hang hinan, auf dessen Kuppel fünf hohe Tannen als Ruinen einer gestürzten Waldung horsteten.35
Gegenpol zur Natur ist in Jean Pauls Topographie die Stadt. Diese ist verbunden mit Enge und Unfreiheit, und – sie ist hässlich. Seine Helden sehnen sich hinaus „aus den eckigen, spitzigen, verwitterten, unorganisch zusammengeleimten Schutthaufen der getöteten Natur, die eine Stadt heißen“.36 In den Romanen erscheint die Stadt hauptsächlich als Fürstensitz. Damit befasst sich Jean Paul mit einer deutschen Einrichtung, mit der Kleinstaaterei. In ihr hält sich die feudal-absolutistische Ordnung und mit ihr Provinzialität und Rückständigkeit. Repräsentant dieser Ordnung ist der Höfling, glatt, verlogen und gefühlskalt. Ihm setzt Jean Paul den Bürger entgegen, bei dem sich Tugend und wahres Menschentum finden. Und vor der Heillosigkeit städtischgesellschaftlichen Lebens gibt es Rettung nur bei der Natur. Und wenn uns die Menschen verlassen oder verwunden: so breitet ja auch immer der Himmel, die Erde und der kleine blühende Baum seine Arme aus und nimmt den Verletzten darein auf, und die Blumen drücken sich an unsern wunden Busen an und die Quellen mischen sich in unsere Tränen, und die Lüfte fließen kühlend in unsere Seufzer – das Weltmeer von Bethesda erschüttert und beseelet ein hoher Engel, und wir tauchen uns mit allen tausend Sti-
34 3. Bd., S. 215. 35 1. Bd., S. 673f. 36 1. Bd., S. 185.
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chen in seine heißen Quellen ein und steigen zugeheilet und mit abgespannten Krämpfen aus dem Lebenwasser wieder heraus.
Es sind diese Sätze aus dem Siebenkäs, die sich Caspar David Friedrich exzerpiert, und er merkt an, dass er Jean Pauls Ansicht über die Natur vollkommen teile.37 Die Übereinstimmung geht weiter als dahin, die Natur als Refugium zu betrachten und in ihr Trost zu suchen, so wichtig dieser Aspekt auch ist, sie reicht bis in die Bildkonzeption. Zunächst bevorzugen beide deutsche Landschaften, ihnen gewinnen sie bis dahin unbekannte Stimmungswerte ab. Mögen diese auch auf den ersten Blick realistisch erscheinen, sie sind jedoch keine Landschaftsporträts. Sie sind das, was die Kunstgeschichte als Kompositlandschaften bezeichnet, ein übrigens nicht sehr schöner Begriff. Die Einzelheit ist danach Wiedergabe der Natur, Erfindung dagegen ist das Bild, es geht hervor aus der ideellen Anordnung der Teile. Nicht die Fülle der in ihm dargestellten Gegenstände entscheidet über dessen Qualität. Die entsteht aus dem Zusammenstimmen der Bildelemente zu einem Grundton, zu einer Stimmung, zu einem Gedanken. Erreicht wird das durch Reduktion, wie Jean Paul gefordert hatte. Und Friedrich wendet sich gegen die Manie, die verschiedenartigen Erscheinungen im Bild „zusammenzuquetschen“, was dann als „Reichtum in der Komposition“ ausgegeben würde.38 Er verzichtet bewusst auf die malerische Vielgestaltigkeit. Das wirkt sich manchmal so aus, dass einzelne Bilder geradezu leer wirken. Die Landschaft ist auf den Betrachter zugestellt. Ihn nimmt Friedrich häufig hinein ins Bild und stellt ihn in die Mitte des Vordergrundes, so, dass er ganz der sich bietenden Aussicht zugewendet ist. Es sind dies die berühmten ‚Rückenfiguren‘ Friedrichs. Sie ziehen den außenstehenden Betrachter in die Schau hinein, denn er und sie haben dieselbe Blickachse.39 Auch darin berührt sich Friedrich mit Jean Paul, der den Anblick der Landschaft von der Romanfigur her entfaltet. Mit ihren Augen lässt er sie den Leser sehen, und sie schiebt sich gewissermaßen zwischen ihn und die Landschaft. Indem der Schauende ins Bild rückt, wird die Aufnahme der Natur Teil der Darstellung. Die Landschaftsformationen erscheinen nicht als in sich stehende Gebilde, nicht von sich her und nicht unberührt vom Blick des Beobachters. Die Wahrnehmung der Natur wird „subjektiv“, und sie wird „bedeutungssuchend“.40 37 Nachweis bei Karl-Ludwig Hoch, Caspar David Friedrich – unbekannte Dokumente seines Lebens, Dresden 1985, S. 100. Hoch verifiziert das Zitat nicht, es steht 2. Bd., S. 309. 38 Zitat nach Ausstellungskatalog C.D. Friedrich, a.a.O., S. 70. 39 Zum Motiv der Rückenfiguren und deren Bedeutung vgl. Siegmar Holsten, ebd., S. 40– 43. 40 So äußert sich Eberle in Bezug auf C.D. Friedrich, a.a.O., S. 236.
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Die Einstellung, die der Betrachter der Natur gegenüber einnimmt, ist die andächtiger Versenkung; das ist die Haltung, in der ihn Friedrich malt. Die Natur ihrerseits nimmt religiöse Züge an, als „Tempel“, als „Dom“, als „Sprache Gottes“ bezeichnet sie Jean Paul. Aber sie selbst ist nicht göttlich, das Göttliche liegt hinter ihr, und die christliche Trennung von Diesseits und Jenseits besteht fort. Die Natur ist nur Chiffre und Zeichen des Absoluten. Das eben ist das Grundproblem dieser Kunst, die auf das Höchste, die auf das Geistige und Göttliche ausgerichtet ist, es aber nicht finden kann im weltlichen Stoff. Jean Paul und Caspar David Friedrich kommen in dieser Frage auf ganz ähnliche Lösungen, der eine mit sprachlichen, der andere mit bildlichen Mitteln, und daher kommt es, dass sie sich wechselseitig interpretieren. Was beide nicht tun ist, dass sie auf abgelebte religiöse Vorstellungen zurückgreifen. Das haben unter den Malern die ‚Nazarener‘ gemacht und unter den Literaten manche Romantiker. Da bevölkert dann das ganze katholische Personal die Landschaft; die Madonna tritt auf, der gute Hirte und wohl auch ein Märtyrer, nur nicht sonderlich überzeugend, so als wäre ihnen die unerwartete Wiederkehr nicht gut bekommen. Das Festhalten am gemeinsamen protestantischen Erbe hat Jean Paul und Caspar David Friedrich vor solchen Gespreiztheiten bewahrt. Es sind die Naturdinge, die Träger des Göttlichen werden, oder besser: die in ihrer Beschaffenheit auf die Transzendenz verweisen. Es ist zuvörderst das Erlebnis der Ferne, der Unermesslichkeit, das auf die andere Welt hinlenkt. In diesen Landschaften ist angelegt, dass sie den Betrachter erheben und mitnehmen, derart, dass er eine Ahnung bekommt von der Unendlichkeit. Die Sakralisierung der Landschaft beruht weiter darauf, dass die Bestandteile des Bildes Naturdinge sind, ihre Anordnung aber ihnen eine religiöse Bedeutung gibt, sie weisen über sich hinaus. Über C.D. Friedrich sagt Werner Hofmann: „In seinen Bildern stellen die Dinge sich selbst dar und stehen zugleich in einem, die Wahrnehmungsfakten überschreitenden Sinnzusammenhang.“41 Sie spricht, die Natur, sie ist beseelt, das behauptet jedenfalls Jean Paul. Es gibt zwischen den Alltags-Tagen des Lebens – wo der Regenbogen der Natur uns nur zerbrochen und als unförmlicher bunter Klumpen am Horizont erscheint – zuweilen einige Schöpfungstage, wo sie sich in eine schöne Gestalt ründet und zusammenzieht, ja wo sie lebendig wird und wie eine Seele uns anspricht.42
41 Ausstellungskatalog, S. 75; bei Hofmann finden sich weitere Ausführungen zur ‚Sakralisierung‘ der Landschaft. 42 3. Bd., S. 332.
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Nun könnte man glauben, das sei nur an sie herangetragen, das sei eine Mystifikation, der Jean Paul und mit ihm die Romantiker erlegen seien. Seelische Regungen wären ihr nur angedichtet, einmal aus dem Wunsch heraus, die eigenen Gemütsbewegungen wiederzufinden, und dann auch aus der Sehnsucht nach dem Wunderbaren und Ungewöhnlichen, das jenseits des Alltäglichen und Banalen liegt. In der Tat schreibt Jean Paul: „Denn man genießt an der Natur nicht, was man sieht (sonst genössen der Förster und der Dichter draußen einerlei), sondern was man ans Gesehene andichtet, und das Gefühl für die Natur ist im Grunde die Phantasie für dieselbe.“43 Nun ist es sicher so, dass das, was der Förster sieht, anderes ist als das, was dem Dichter aufgeht. Aber deshalb braucht das vom zweiten Wahrgenommene nicht nichts zu sein, dessen ‚Phantasie‘ setzt ebenfalls am draußen Vorgefundenen an. Er erblickt etwas, für das der Förster unter Umständen nicht empfänglich ist, deswegen nicht, weil seine Aufmerksamkeit auf anderes gerichtet ist. Gleichwohl kann wirklich sein, was sich nur dem Künstler eröffnet, etwas, das jenseits von Nützlichkeitserwägen, wie sie der Forstmann anstellt, läge, auch jenseits einer wissenschaftlichen Erforschung. Wenn Jean Paul wiederholt erklärt, die Natur spräche durch die Landschaft, so hält er eine Seite an ihr fest, die durch den wissenschaftlichen Zugriff auf sie verlorengegangen ist. Alexander von Humboldt hatte dafür den Begriff des „Physiognomischen“ verwendet. Wie jedes Lebewesen sich seiner Umgebung mitteilt, sich kundgibt in seinen Bewegungen und Lauten und auf diese Weise sein Inneres ausdrückt, so ist auch Expression in den Formen und Konturen eines Landstrichs. Diese Auffassung beruht auf der Erkenntnis, dass die Dinge nicht isoliert vorkommen. Sie gelangen zu ihrer Bestimmung durch den Zusammenhang, in dem sie stehen. Dem Einzelfaktum ist demnach die Organisation und die in ihr wirkende gestalterische Kraft vorgeordnet. Sie ist das Ursprüngliche, ist das Leben, ist das, was das innerste Wesen der Natur ausmacht. Sie bringt beides hervor, das Ordnungsgefüge und den Stoff, an dem allein sie sich verwirklichen kann. Die tote Materie ist einbezogen in den Bereich des Lebendigen, sodass die physikalische und die biologische Welt ineinander wirken. Solche Überlegungen konkretisieren sich im „Kosmos-Gedanken“ Alexander von Humboldts. Danach bilden geologische Formationen, die Vegetation, die Fauna und das Klima eine Einheit, in der das eine nicht ohne das andere ist. Dieses Zusammenstimmen gibt einer Gegend ihr besonderes Gepräge, wofür Humboldt einen sehr aufschlussreichen Begriff verwendet, den eines „Naturgemäldes“. Und wie selbstverständlich bezieht er Betrachtungen 43 1. Bd., S. 396.
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über Landschaftsmalerei in seine sich wissenschaftlich begreifenden Arbeiten ein. Der Grund liegt in dem, was er als Zweck seiner Forschung ansieht, das „Zusammen- und Ineinander-Weben aller Naturkräfte“ zu untersuchen. Das kann nur die Zusammenschau gewähren, und das gleichwohl auch nötige „Zerlegen“ und „Messen“ sind nur untergeordnete Tätigkeiten.44 Der Terminus „Physiognomisch“ ist mehr als eine metaphorische Wendung. In ihm spricht sich die Ansicht aus, dass die Natur ihrem Wesen nach gleichzusetzen ist mit ‚Leben‘ und dass Ihre Erscheinungen Ausdruck eines bewegten Inneren sind, eine Ansicht, von der die Epoche und mit ihr Jean Paul durchdrungen ist, worauf im Kapitel I, 2 schon näher eingegangen wurde. Das gewahrt jedoch nicht der, der die Naturdinge als tote Objekte behandelt; er vermag sie nicht in ihrem lebendigen Zusammenhang zu erfassen. So verfahren die mechanistischen Wissenschaften, und Schelling, der die Naturauffassung der Zeit bündig artikuliert, setzt der „Mechanik“ die „Dynamik“ entgegen. Nur letztere dringe zum „An-sich“ der Natur vor.45 Sie erkennt, dass zwischen dem Anorganischen und dem Organischen keine absolute Trennung besteht; in diesem erfüllt sich erst die wahre Bestimmung von jenem, das heißt: Die tote Materie ist auf das Leben hin angelegt, und das aus dem Zusammenhang herausgelöste Ding ist nur das „zurückgedrängte Leben“. Da aber das Leben sich äußert in der Verbindung, in der Formgebung, in der Gestaltwerdung, kann es auch als „Geist“ oder als „Bewußtsein“ angesprochen werden. Das führt zu der Lehre, dass die Natur „notwendig und ursprünglich die Gesetze unseres Geistes nicht nur ausdrücke, sondern selbst realisiere“ und zu erinnern ist an die schon zitierte Formel, nach der „die Natur … der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur“ sei.46 Jean Paul bekennt sich zu solchen Überzeugungen, wenn er schreibt, dass „das organische Reich das mechanische aufgreift, umgestaltet und beherrscht und knüpft“.47 Die Natur steht dem Menschen nicht fremd gegenüber. Sie ist Geist von seinem Geist. Es kann deshalb eine Affinität geben zwischen einer seelischen Regung und der besonderen Atmosphäre einer Naturszenerie. Empfindungen werden nicht 44 Im Kosmos-Werk gibt es lange Passagen über den „Naturgenuß“ und über „Anregungsmittel zum Naturstudium“, wozu auch Malerei und Dichtung zählen. Humboldt nimmt die künstlerische Behandlung der Natur auf in seine Methodologie der Naturforschung. Im Teil I wurde wiederholt auf Humboldt eingegangen. 45 Vgl. a.a.O., Schriften von 1806–1813, S. 103. 46 A.a.O., Schriften von 1794–1798, S. 379f. 47 5. Bd., S. 39; Jean Pauls Lektüre von Schellings Schriften ist gut belegt; es braucht sich aber hier nicht um eine direkte Übernahme Schellingscher Gedanken zu handeln, denn diese Ansichten teilen maßgebliche Persönlichkeiten der Zeit, nicht nur A. v. Humboldt, sondern auch Goethe und Hegel.
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einfach ins Äußere hineingelegt, an diesem selbst sind Züge vorfindlich, die eine Verwandtschaft zum menschlichen Inneren aufweisen. Das zu sehen ist aber eine Frage der entsprechenden Einstellung, und die hat der Wissenschaftler nicht, dem die vitale Gestalt in leblose Fragmente zerfällt. Bei Jean Paul ist aber die Natur voller Leben, welches ihm mit der göttlichen Liebe, die das Weltall durchherrscht, zusammenfällt. Die Verflüssigung der Landschaft ist die konsequente Umsetzung dieser Auffassung. Indem sie als bewegt gezeigt wird, wird sie aufnahmefähig für das Seelische, kann sie dessen feinste Regungen ausdrücken. Und in der Landschaft berühren sich der objektive und der subjektive Geist. Das ist das geheime Telos der Landschaftsdarstellung, und darin liegt für Hegel überhaupt erst deren Rechtfertigung als Kunst: Deshalb dürfen nun aber nicht die Naturobjekte als solche in ihrer bloß äußeren Form und Zusammenstellung den eigentlichen Inhalt ausmachen, so daß die Malerei zu einer bloßen Nachahmung wird; sondern die Lebendigkeit der Natur, welche sich durch alles hindurcherstreckt, und die charakteristische Sympathie besonderer Zustände dieser Lebendigkeit mit bestimmten Seelenstimmungen in den dargestellten landschaftlichen Gegenden hervorzuheben und lebhafter herauszukehren – dies innige Eingehen erst ist das geistvolle und gemütreiche Moment, durch welches die Natur nicht nur als Umgebung, sondern auch selbständig zum Inhalt der Malerei werden kann.48
Freilich bei Jean Paul kann die Seele nicht rückhaltlos im Äußeren aufgehen. Das Göttliche, zu dem sie hinstrebt, steht über der Welt, und bei aller Begeisterung für die Natur bleibt Jean Pauls Verhältnis zu ihr doch prekär.49 Zurückzuführen ist das auf das Fortwirken christlicher Vorstellungen in ihm. Er konstatiert: „Das Christentum vertilgte … die ganze Sinnenwelt mit allen ihren Reizen“, und er fragt, was dem „poetischen Geist“ nach dem „Einsturz der äußeren Welt“ noch bliebe. Die Antwort ist: „die, worin sie einstürzte, die i n n e r e.“50 Jean Paul will damit nicht allein die eigene Bewusstseinslage kennzeichnen, sondern auch die der „Romantik“, und Romantik ist für ihn – und das ist der Sprachgebrauch Hegels und der Idealisten – identisch mit der nachantiken christlichen Kunst. In der sichtbaren Welt ist die Wahrheit nicht anzutreffen. Die nach ihr verlangende Seele findet diese nur in sich, ihr allein offenbart sich die göttliche Welt. Die äußeren 48 Ästhetik, a.a.O., Bd. II, S. 207. 49 Angesprochen ist damit ein zentrales Thema von Jean Pauls Dichtung, das der Beziehung von Innen und Außen. Hier soll darauf nicht weiter eingegangen werden. Näher befasst sich damit Kurt Wölfel in seinem Aufsatz ‚Ein Echo, das sich selbst in das Unendliche nachhallt.‘ Eine Betrachtung von Jean Pauls Poetik und Poesie, in: Uwe Schweikert (Hg.), Jean Paul, Darmstadt 1974, S. 277–313. 50 5. Bd., S. 93, Sperrung v. Vf.
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Erscheinungen können dann allenfalls Hinweise auf die andere Welt enthalten. Sie nehmen diese Qualität an, wenn sie in ihrer Schönheit erfasst werden, und das gehört zu den Aufgaben des Künstlers, glaubt Jean Paul. Er unterscheidet zwischen einer „bloß artistischen“ Auffassung und einer, „die ein heiliges Auge auf die Schöpfung fallen lässt – die in diese blühende Welt eine zweite verpflanzt und unter die Geschöpfe den Schöpfer“.51 Die Schönheit der Natur wird dann zum Widerschein des Göttlichen im Irdischen, und dem sinnlichen Menschen wird die zweite Welt näher gerückt. In immer neuen Bildern hat Jean Paul das versucht, eines davon ist der Mond, halb Naturerscheinung, halb überweltlicher Bote; der Mondschein sei „zugleich romantisches Bild und Beispiel“, sagt er.52 Auch die Mondsüchtigkeit teilt Jean Paul mit Caspar David Friedrich. Über diesen berichtet ein Besucher, er habe über sich selbst gelacht, „daß er lauter Mondschein male, und meinte, so käme er sicherlich in den Mond“.53 Verklärung der Welt und deren Verachtung liegen bei Jean Paul dicht beieinander. Beide haben dieselbe Voraussetzung, die der christlichen Doktrin, welche die Welt herabsetzt zum wesenlosen Schein. Die hochgespannten Gefühle sind nicht von Dauer, und sie drohen umzuschlagen in das Empfinden der Schalheit. Jean Pauls Figuren stehen in der Gefahr des Weltverlustes. Den erleiden die Humoristen, die Schoppe und Leibgeber. Ihnen entgleiten die Dinge, in diesen findet der menschliche Geist keinen Widerhall mehr, und die Natur verstummt. Daraus resultiert ein Gefühl der Einsamkeit metaphysischen Ausmaßes. Sie hat Jean Paul verarbeitet zu einer grandiosen Schreckensvision, gemeint ist die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei aus dem Siebenkäs. Und es ist diese grenzenlose Verlassenheit, die Friedrich gemalt hat; auf dem Gemälde „Mönch am Meer“ findet sie sich wieder. Von sich selbst bekundet Friedrich, er könne es nicht allzu lange aushalten allein in der Natur; „unwillkürlich tritt Düsternis in die Seele“, schreibt er.54 Am Beginn des europäischen Landschaftsbildes steht die Forderung, einen Eindruck zu vermitteln von der Ganzheit der Natur.55 Diese Forderung kehrt bei Georg Simmel wieder. Der sieht aber zunächst den Widerspruch, der darin liegt, Natur in einem bestimmten, festumrissenen Anblick, wie es ein Landschaftsbild ist, festhalten zu wollen. Das Bild kann nun einmal nur einen Ausschnitt erfassen, und „ein Stück Natur ist eigentlich ein innerer Widerspruch; die Natur hat keine Stü51 52 53 54 55
1. Bd., S. 404. 5. Bd., S. 88. Zitiert nach Eberle, a.a.O., S. 250. Ebd., S. 237. Vgl dazu das im Kp I, 4 Ausgeführte
Der Tempel der Natur – Jean Paul 317
cke, sie ist die Einheit des Ganzen.“56 Simmel löst diesen Widerspruch so auf, dass er behauptet, die „selbstgenügsame Einheit“ einer Landschaft sei „dennoch verflochten in ein unendlich weit Erstrecktes“. Das Bild greift demnach über sich hinaus, es gibt eine Ahnung von dem, was in der Teilansicht wirkt, und noch jedes Landschaftsbild birgt in sich einen Begriff von Natur. Eine Vorstellung zu vermitteln von der Totalität der Natur, hat Jean Paul auf seine Weise geleistet. Seine Landschaften gehen hinaus über das Sichtbare, immer suchen sie eine Ahnung zu vermitteln von der kosmischen Weite; hinauf geht der Blick ans Firmament wie in dieser Stelle aus dem Hesperus: Da stand die Nacht erhaben mit ihren in ewige Tiefen versunknen Sonnen vor ihnen, die Milchstraße ging als der Ring der Ewigkeit um die Unermesslichkeit, die scharfe Sichel des Erdenmonds rückte schneidend in die kurzen Tage und Freuden der Menschen. -57
Und bei Jean Paul bewahrheitet sich, was Carl Gustav Carus über den Himmel gesagt hat, dass er das „eigentliche Bild des Unendlichen“ sei und der „unerlässlichste und herrlichste Teil der Landschaft“.58 Freilich, die Literatur vermag keine Zusammenschau hervorzubringen, darin ist sie der bildenden Kunst unterlegen. Die Literatur vermag das nicht, denn sie ist dem Zergehen in der Zeit ausgesetzt. Aber man kann das Zerfließen anhalten – durch das retardierende Mittel des Rhythmus. Mit dem wiederkehrenden Moment eines Zeitmaßes werden die auseinander laufenden Glieder zusammengebunden, und es entsteht eine einheitliche Vorstellung. Und das ist der wichtigste Beitrag, den Jean Paul zur dichterischen Landschaftsdarstellung leistet. Indem er eine Beschreibung übersetzt in eine vollkommen rhythmisierte Prosa, indem er sie zur Kunst erhebt, macht er die Epik ausnahmefähig für die Landschaft. Er erfüllt damit das Gesetz der Landschaftsbildnerei, und das ist, einen Begriff zu geben von der in den Teilen wirkenden Ganzheit der Natur.
56 In dem schon zitierten Aufsatz, a.a.O., S. 471f. 57 1. Bd., S. 533. 58 A.a.O., S. 58.
Adalbert Stifter, Königsee mit dem Watzmann, Ölgemälde, Österreichische Galerie, Wien.
2. Der große Wald – Adalbert Stifter Die Westeuropäer lieben den Wald nicht. Das offene Gelände herrscht vor, in Frankreich oder auch in England. Von lichten Baumgruppen sind die freien Flächen bestanden und über sie, über die Höhen und durch die Täler ziehen sich Hecken hin. Gefällig ist diese Landschaft, sie verschließt sich nicht. Ungehindert geht der Blick über sie hin. Aber ihre Heiterkeit verdankt sie dem ordnenden Eingriff des Menschen. Für den Mitteleuropäer jedoch und für den Deutschen zumal fehlt da etwas, und es stimmt, was Joseph Roth geschrieben hat, dass nämlich eine Landschaft ohne Wald eine sei ohne Geheimnis. Über Altdorfer sagt der Brite Kenneth Clark, er sei der „deutscheste aller Maler“. Er bezieht sich dabei auf den üppig wuchernden, „nordischen“ Wald, der auf den Bildern zu sehen sei, eine Wildnis, die die Figuren zu verschlingen drohe.1 Zu denken wäre auch an sich in der Ferne verlierende Waldgebirge, auch sie hat Altdorfer gemalt. Und sie sind wesentlicher Teil der deutschen Geographie. Die Namen sagen es. Waldregionen rufen sie auf: den Schwarzwald und den Thüringer Wald, den Bayerischen und den Pfälzer Wald. Verbunden damit ist ein für Mitteleuropa typisches Landschaftserlebnis, der Blick auf bewaldete Höhenzüge, die sich über einer Ebene erheben und sich bis an den Horizont erstrecken. So hat man, wenn man den Oberrheingraben entlangfährt, sich zur Seite die dunklen Massen des Schwarzwaldes; oder man läuft, aus der Senke um Weimar kommend, geradewegs auf den immer höher aufsteigenden Thüringer Wald zu. Eigentümlich in sich gekehrt sind diese Waldberge, abweisend und verlockend zugleich. Und sie bilden einen Gegensatz zum offenen und bebauten Land. Wie bei keinem sonst ist diese Landschaft bei Adalbert Stifter zur Dichtung geworden. Er kommt nicht los vom Anblick der Wälder.2 Dieser gehört zu seinen frühesten Kindheitserlebnissen, ist ihm Inbegriff von Heimat und Antrieb zur künstlerischen Gestaltung. Wie eine Verheißung leuchtet immer wieder in den Erzählungen und Romanen das „blaue Band der Wälder“ aus der Ferne auf. Es zieht die Helden 1 2
A.a.O., S. 36f. Auf das besondere Verhältnis Stifters zum Wald geht auch Walter Muschg ein. Er bezeichnet ihn als den größten deutschen Erzähler des Waldes. Vgl. Die Landschaft Stifters; in: W.M., Pamphlet und Bekenntnis, Olten 1968, S. 179.
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dorthin; dorthin, wo sie eigentlich zu Hause sind. Ihm nähert sich erwartungsfroh Augustinus aus Die Mappe meines Urgroßvaters, der berichtet, dass er „viele Tage lang sachte durch das Land der Böhmen gegen Mittag gewandert sei, von wo mir die Bläue des Waldes immer deutlicher und näher entgegen schimmerte.“3 Andere schauen gedrückt vom Abschiedsschmerz zurück auf die heimatlichen Berge: „Und wenn wir umblickten, sahen wir nichts mehr, als den immer blauern, dämmernderen zurückschreitenden Wald, der so viele Tage mit seiner lieblichen Färbung auf unsere Fenster und auf uns selber niedergeblickt hatte.“4 Es sind Eindrücke der Kindheit, die Stifter verarbeitet. Der Wald gehöre zu seinen „Urerinnerungen“, sagt er. Er habe ihn zuerst in der Form „dunkler Flecke“ in sich gefunden. Diese vagen frühkindlichen Erinnerungsbilder nehmen bald Konturen an. Das Schulkind weiß die Namen der heimischen Berge und Wälder herzusagen und kann sie nach Umriss und Gestalt auseinanderhalten.5 Der Erwerb solcher Kenntnisse ist zum Inhalt der Erzählung Granit aus den Bunten Steinen geworden, in der ein Großvater seinen Enkel auf die Eigentümlichkeiten der Landschaftsbildung hinweist. Was sich so herstellt, ist der Archetyp einer landschaftlichen Formation, eben der des „fernen blaulichen Waldes“.6 Es sind aber nur die zusammenhängenden Waldgebiete, die einen solchen Anblick gewähren. Sie spricht Stifter an als den „großen“ oder „hohen“ Wald. Ihn unterscheidet er vom „Gehölz“ oder auch vom lediglich „kleinen Wald“. Nur der erste ist Wald im eigentlichen Sinne, und er allein hat die dieser Landschaft eigentümliche Atmosphäre, hat ihre Verschlossenheit und Majestät. Und wenn Stifter davon redet, denkt er an die „größeren düsteren weitgedehnten Wälder“ Böhmens.7 Sie stehen im Mittelpunkt gleich mehrer Erzählungen, nämlich von: Der Hochwald, Die Mappe meines Urgroßvaters, Der beschriebene Tännling, Der Waldgänger, Granit und Katzensilber; obwohl andernorts spielend, kann man den Waldsteig hinzuzählen. Mittelpunkt heißt 3
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Mappe, S. 477. Zitiert wird die von Max Stefl besorgte Ausgabe der Werke Stifters, Augsburg 1955ff. Die einzelnen Titel werden verkürzt wiedergegeben; man wird die betreffenden Stellen unschwer finden. Theoretische Schriften, Briefe und Autobiographisches werden nach dem 4. Bd. nach der von Uwe Jopp und Hans Joachim Pichotta herausgegebenen Stifter-Ausgabe im Insel-Verlag zitiert (Frankfurt/M. 1978). Das wird vermerkt mit „Insel Bd. IV“. Mappe, S. 436f. Nach Auskunft der Biographen; vgl. z.B. Urban Roedl, Stifter, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1965, S. 19. Vgl. in diesem Zusammenhang das autobiographische Fragment Mein Leben, Insel, Bd. IV, S. 7–11. Katzensilber, S. 223.
Der große Wald – Adalbert Stifter 321
hier, dass der Wald nicht bloßer Schauplatz ist. Mitspieler ist er, in dem prägnanten Sinne, dass er den Part eines Akteurs übernimmt. Mit ihm haben sich die Personen auseinanderzusetzen. Er wirkt auf sie ein, und unter seinem Einfluss machen sie eine Entwicklung durch: sie kommen zur Einsicht, werden geläutert oder stellen ihr Leben um. Nicht Bühne ist er also oder bloßer Hintergrund, sondern er ist hineingezogen in die Handlung oder setzt sie erst in Gang. So verhält es sich in der Erzählung Der Waldsteig. In ihr wird einer von Stifters ‚Narren‘ von seinen Absonderlichkeiten geheilt. Der das bewirkt, ist eben der Wald selbst. Um das zu können, muss er etwas bewahrt haben von seinem ursprünglichen Wesen. Allein unter diesen Bedingungen bekommt man etwas zu spüren von der Macht, deren Teil er ist, von der großen Natur. Ein nach menschlichen Bedürfnissen zurechtgestutzter Baumbestand kann eine solche Erfahrung nicht gewähren. Hier begegnet der Mensch weitgehend sich selbst, das heißt einer Erscheinung, die seinen Zwecken angepasst ist und seinem Nützlichkeitsdenken. Der „große Wald“ ist für Stifter dagegen ein Stück ungezähmter Natur. Hier zeigt sich eine Ordnung, die jenseits der menschlichen Setzungen liegt, eine, die dem Menschen überlegen ist, die Ordnung der Natur. Unberührte Natur sind auch die bayerisch-böhmischen Wälder nicht mehr, auch nicht zu Stifters Zeiten. In sie haben sich die Siedlungen geschoben, die Felder und die Viehweiden. Und längst hat die Holzwirtschaft ihre Spuren hinterlassen. Diesen Zustand hält Stifter fest, und er berichtet von den Vorgängen, die dazu geführt haben. Allenfalls Restbestände sind vom Urwald geblieben, zurückgezogen hat er sich „auf die höchsten Höhen und auf die Länderscheide“.8 Stifter sucht diese Gebiete auf, solche wie die „nie besuchte einsame Talkrümme“.9 Aber das ist es nicht allein, was sich von den urtümlichen Verhältnissen gehalten hat. Bis auf den heutigen Tag vermitteln diese Gegenden – beim Blick vom Arber etwa oder vom Dreisesselberg – einen Eindruck, den auch Stifter hatte, den vom „festen, dichten, unerschöpflichen, ergiebigen Wald“, den, dass da „nichts als Wald und lauter Wald“ sei.10 Freilich geht Stifter in seinen Erzählungen in die Vergangenheit zurück, in Zeiten, in denen sich die Wildnis noch uneingeschränkt behauptete. Aber die Orte schildert er doch aus eigener Anschauung und beim Erzählen fällt er unvermutet in die Gegenwart. Er gibt damit offensichtlich einem Gefühl nach, das sich ihm aufdrängte. Und es ist wahr: im Unterschied zu anderen landschaftlichen Prospekten gibt der Wald am ehesten ein Bild ungebändigter Natur ab. Anders als dem 8 Waldgänger, S. 378. 9 Hochwald, S. 196. 10 Tännling; S. 592; Granit, S. 44.
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offenen Land sieht man ihm gewissermaßen nicht an, dass auch ihn menschliches Planen erfasst hat. Mit den Bäumen hat das zu tun, mit deren Mächtigkeit; sie scheinen ihrem eigenen Gesetz zu folgen. Zudem macht ein dichter, ausgedehnter Baumbestand eine Gegend unzugänglich. Er errichtet eine Trennwand gegen den zivilisatorischen Fortschritt. Einsam und abgeschieden ist das Leben inmitten der Wälder, davon erzählt Stifter. Ein Leben ist das, das seine Eigenart und seine Kraft daraus gewinnt, dass es sich an die Natur verwiesen sieht. Diese gewährt auch – wie in den Erzählungen Der Hochwald und Granit – Zuflucht, und sie schützt vor dem verderblichen Einbruch des Fremden. Eine „Wildnis“ ist der Wald, der „große Wald“ ist gemeint, ihn rückt Stifter neben das Hochgebirge, neben das Meer und die Wüste; wie diese ist er Teil der unverstellten Natur.11 Stifters Schilderungen verarbeiten jedoch nicht nur Eindrücke aus der Heimat. Die Biographen zeigen uns ihn als Leser von James F. Cooper. Und man kann sich denken, dass er hier etwas fand, das an die Bilder in seinem Inneren rührte. Greifbar wird dieser Einfluss in der Erzählung Der Hochwald. Das Handlungsgerüst, das vom kundigen Waldbewohner, der zwei junge Frauen, zwei Schwestern, in seine Obhut nimmt, ist in Coopers Der letzte Mohikaner vorgeprägt. Die Übereinstimmungen gehen bis in die Charakterzeichnung: Die Jüngere der Schwestern ist blond und von kindlicher Zartheit, die Ältere dunkel, lebensklüger und von verhaltener Leidenschaftlichkeit.12 Diesen Part muss beim rassenstrengen Cooper ein Halbblut spielen. Berührungen gibt es auch in den Wendungen, mit denen die Wildnis dargestellt wird. Beide sind fasziniert von den grandiosen „Einöden“, allerdings mit unterschiedlichen Erfahrungen darüber. Cooper ist die Wildnis nahe; sie reicht bis in seine Gegenwart. Zwar ist er der Chronist von deren Bezwingung und endlicher Vernichtung, aber die riesigen Wälder um die ‚großen Seen‘, die Schauplätze seiner Lederstrumpfgeschichten, hatte er doch vor sich. Als einer, der zur See gefahren war, erschienen ihm ihre Weiten nur vergleichbar mit der Endlosigkeit der Ozeane. Immer wieder spricht er sie als „Waldmeer“ oder „grünes Waldmeer“ an.13 Derart Gewaltiges kannte Stifter nicht. Dass er das Meer selbst im vorgerückten Alter noch nie zu Gesicht bekommen habe, hat er be-
11 Vgl. Hochwald, S. 250. 12 Auf die Abhängigkeit Stifters von Cooper hat Arno Schmidt aufmerksam gemacht; sie fast sklavisch zu nennen, ist aber eine Schmidtsche Übertreibung. Vgl. 1achrichten von Büchern und Menschen, Bd. 1, Frankfurt/M. u. Hamburg 1971, S. 213. 13 Vgl. Der letzte Mohikaner, Frankfurt/M. – Leipzig 1995, S. 222; Conanchet oder die Beweinte von Wish-Ton-Wish, Deutsch von Arno Schmidt, Frankfurt/M. 1972, S. 28, 218, 336.
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klagt.14 Und was für Cooper noch Realität war, musste er imaginieren. Dazu macht er Anleihen bei dem Amerikaner; das Bild vom „Waldmeer“ erscheint auch bei ihm.15 Aber beide feiern die jungfräuliche Erde, eine Welt, „als ob sie eben erst aus der Hand des Schöpfers gekommen wäre“, wie es bei Cooper heißt16, und bei Stifter steht, dass „seit der Schöpfung noch keine Axt erklungen“ sei.17 Was nun die Güte der Naturbeschreibungen betrifft, so ist Stifter der Vorzug zu geben.18 Wie man von außen auf den Wald blickt, ist zuerst festgehalten. Da zieht er „an die dreißig Meilen lang seinen Dämmerstreifen westwärts“, erscheint als „dunkelprächtiger Waldesbogen“, bildet eine „blaue Wand, von Süden nach Norden streichend, einsam und traurig“. Hier liegt nicht allein die Wiedergabe eines landschaftlichen Prospekts vor mit den von ihm hervorgerufenen Empfindungen. Durch die exakten geographischen Angaben nähert sich die Darstellung einer topographischen Beschreibung, ein für Stifters Manier der Landschaftswiedergabe durchaus charakteristischer Zug. Wenn man nun von einer erhobenen Warte, also aus der Vogelperspektive auf ihn blickt, so zeigen sich „breite“ oder „duftblaue Waldrücken, Wälder, die wie riesenbreite, dunkle, blähende Wogen hinausliegen“. Oder auch „Waldbühel blau an blau“ tun sich auf oder nur „Waldklumpen“. Oder aber der Blick fällt auf „dunkle Waldesbusen“. Wieder anders gibt er sich, wenn man ihn in einer Gebirgsgegend von unten, diesmal also aus der Froschperspektive, anschaut. Da treten „die Waldmassen ... zurück und verschränken sich dem Auge nach und nach zu einer hohen, dichten schwarzgrünen Mauer.“ Wer eintritt in dieses Revier, den nimmt die „Waldesdämmerung“ auf oder – stärker noch – das „Gedämmer schwerer Wälder“. Gewiss, der Eindruck der Düsternis, den der äußere Anblick erweckte, scheint sich fortzusetzen. Und doch hält das Innere ganz neue, ganz ungeahnte Seiten bereit, aber allein für den, der eingeführt ist in diese Welt; und es ist ein Kunstgriff Stifters, dass in seinen Geschichten Personen auftreten, die diese Wirklichkeit für sich entdecken. Die Schwestern im Hochwald sind das und der Tiburius aus dem Waldsteig; letzterer ist eigentlich ein Künstler, der besonders empfänglich ist für das, was sich ihm bietet. Da ist zuerst das Licht, und das ist nicht nur abgedunkelt. Es ist das Spiel von Licht und Schatten, das „Helldunkel“, das die besonderen Akzente setzt. Auf einen Pfad legen sich die „Streifschatten der 14 15 16 17 18
Vgl. Brief an Heckenast, Wien 16/11–1846, Insel, Bd. IV, S. 210. Insel, Bd. IV, S. 163. Der letzte Mohikaner, a.a.O., S. 401, S. 205. Hochwald, S. 205. Dem Urteil A. Schmidts ist zuzustimmen; vgl. dessen Nachwort zu Conanchet, a.a.O., S. 380; vgl. weiter S. 385, S. 395.
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Bäume wie scharfe schwarze Bänder“. Eine dahinwandernde Person wird „von den tanzenden Lichtern des Waldes bald besprengt bald gemieden“. „Herein blickende Lichter und abwechselnde Folgen von sanftem Dunkel“ sind auszumachen und „lichtbetupfte Stämme“. Unter Laubbäumen liegen „sonnenbeglänzte Steine“, und eine Birke erscheint als „Leuchtlinie“. Der Wald ist jedoch kein Einerlei; er gliedert sich in bestimmte Partien und schafft besondere Plätze. Sein Saum sieht anders aus als er in seiner Tiefe. Die Bäume weisen die unterschiedlichsten Gestalten auf wie die „leichte Buche mit den schönfarbigen Schaften“ oder der Ahorn, „der langarmig in die Luft“ greift. Sie finden sich zu Gruppen zusammen; das tun die Tannen, die „erhabene Säulengänge“ bilden. Markante Stellen heben sich ab von ihrer Umgebung. Bezeichnet werden sie zumeist von mächtigen einzelnstehenden Bäumen, deren einzigartige Aura in die Geschichte vom beschriebenen Tännling eingegangen ist. Dem Boden nahe wachsen Büsche, Gräser und Moose; auch sie von den unterschiedlichsten Formen und Farben. Wasser durchqueren das Gelände, werfen Uferbänke auf und ziehen die „vielzweigige Erle“ an sich, die an ihren Lauf „hingeht“. Andere gerinnen zum See, zu einer „weitgedehnten, flimmernden Fläche“.19 Nicht allein die visuellen Eindrücke, auch die auditiven sind stark in den Forsten. Von einem geheimen Leben zeugen sie, das, den Blicken entzogen, sich in der Wildnis rührt. Vögel lassen sich hören und andere Tiere. Und dann ist es der Wind, der durch die Bäume geht. Auch dazu gibt es die unterschiedlichsten Beobachtungen wie etwa die, die „das ganz schwache und wohlstimmende Sausen, das selbst an den windstillen Tagen in Nadelwäldern hörbar ist“, verzeichnet.20 Mit den Jahres- und Tageszeiten wechselt der Wald das Aussehen – und die Stimmung auch. So lässt „die Musik des Morgens den Wald erbrausen. Aus den Tälern nahe und ferne stiegen indessen wie Rauchsäulen die Opfer der Morgennebel empor und zerschnitten die schwarzen breitgelagerten Massen“.21 Furios kündigt sich das Ende des Jahres an, wenn auf dem Waldsee der Nebel liegt, von dem weiter gesagt wird: so wogte und webte er draußen, entweder Spinnenweben über den See und durch die Täler ziehend, oder silberne Inseln und Waldesstücke durcheinander wälzend, ein wunderbar Farbengewühl von Weiß und Grau und der roten Herbstglut der Wälder; dazu mischte sich die Sonne und wob heiße weißge-
19 Alle wörtlichen Übernahmen stehen in den vorhin aufgeführten Erzählungen über den Wald. 20 Waldgänger, S. 400. 21 Hochwald, S. 236.
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schmolzne Blitze und kalte feuchte blaue Schatten hinein, dass ein Schmelz quoll, schöner und inniger, als alle Farben des Frühlings und Sommers.22
Der Wald hat zudem, auch das soll noch erwähnt werden, seine Gerüche wie den Duft des Harzes, der von den Fichten kommt. Schließlich schildert Stifter das „Waldleben“. Darunter versteht er vor allem das Dasein der Menschen, die im und vom Wald leben. Von Holzhauern, Köhlern und Pechbrennern erzählt er. Er stellt den Beruf des Waldhegers vor. Breiten Raum nimmt die Schilderung einer feudalen Jagd, einer „Netzjagd“ ein. Stifter berichtet von Menschen, zu deren kärglicher Existenz es gehört, dass sie Pilze, Beeren und Kräuter sammeln. Und selbst die „Schleichhändler“ haben im Dickicht ihr Fortkommen. Alte Formen des Wirtschaftens kennt Stifter, bei denen aus dem Wald Streu und Viehfutter gewonnen wurde. Zu einem besonderen Menschenschlag gehört das „Waldmädchen“ aus der Erzählung Katzensilber. Sie ist ein völlig rätselhaftes Geschöpf, über dessen Herkunft nichts auszumachen ist. Tief verwoben in das Leben der Natur, weiß sie deren Regungen zu deuten. Es gelingt nicht, sie in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Äußeres Zeichen ihrer Fremdheit ist ihre Sprachlosigkeit: weder spricht noch versteht sie das gebräuchliche Idiom. Ebenso unvermittelt, wie sie gekommen ist, verschwindet sie wieder in den Wäldern. Ihr nahe, aber ohne diese Verstörungen, sind die Figuren Stifters, deren Dasein ganz mit der Natur verbunden ist und die sich auf ihre Sprache verstehen. Zu ihnen gehört der alte Jäger aus dem Hochwald. Auch andere in der deutschen Literatur haben den Wald gerühmt. Zuallererst Eichendorff natürlich; bei ihm ist der Wald ganz aufgegangen in Stimmung, in Jagdhornklang und Waldesrauschen. Wenn man an einen anderen denkt, an Tieck, so ist der Wald bei ihm ein traumhaftmagisches Reich, das durchaus freundliche Züge annehmen kann, aber auch abgründig dämonische Eigenschaften aufweist wie in der Geschichte vom Blonden Eckbert. Tieck verdankt die deutsche Sprache die wunderbare Wendung ‚Waldeinsamkeit‘. Wenig Greifbares findet sich indessen bei ihm, und die Kiefernforste seiner märkischen Heimat erscheinen nicht in seinem Werk. Ungleich konkreter ist Stifter. Was er geschaffen hat, ist eine Phänomenologie des Waldes, ist dessen literarische Erkundung in allen Erscheinungsformen. Sie ist hervorgegangen aus sehr genauen Beobachtungen und wohl auch aus dem beharrlichen Bemühen, alle Facetten dieser Wirklichkeit zu erfassen. Selbst über die besondere Art des Gehens im Wald ist bei ihm etwas zu erfahren. Was sonst nur als undifferenzierte Wesenheit erscheint, tut sich hier auf in ihrem Reichtum an 22 Ebd., S. 278.
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Gestalten und Farben, an Tönen und Düften. Und sie alle finden sich zusammen zu dem vielschichtigen Organismus, der der Wald ist. Um der Fülle sprachlichen Ausdruck zu geben, hat Stifter zahlreiche Komposita mit Wald erfunden, allein an die vierzig davon gibt es im Witiko.23 Einige haben einen besonderen Gefühls- und Stimmungswert wie etwa: Waldesblau, Waldestrauer, Waldduft und Waldlaut. Stifter öffnet den Blick für eine Welt, die sonst unbekannt bliebe, das ist die Leistung seiner Kunst. Schauerlich kann einem auch in Stifters Wald werden, aber vor allem gewährt er „Ruhe und Stille“. Und immer wieder wird die „Pracht und Feier des Waldes“ beschworen. Nahezu unauffällig ist dagegen ein flüchtiger Eindruck, und doch ist in ihm, wird er einmal festgehalten, das Wesen des Waldes begriffen. Da ist es so, dass „kein Ding dastand, als die lichtbeglühten Stämme, zwischen denen ein stummer Falter flatterte“.24 Ein andermal kommen welche in den Wald, „wo es dunkel war, wo die Beeren und Schwämme standen, die Moossteine lagen, und ein Vogel durch die Stämme und Zweige schoss“.25 Das ist etwas, das einen einführt in die Geheimnisse des Waldes, und die liegen nicht allein darin, dass in ihm das Dunkel herrscht. Die sind verbunden mit dem versteckten Leben, das zwischen den Bäumen und unter den Blättern sein Wesen hat. Eine Erscheinung taucht auf, plötzlich, und ebenso rasch hat sie sich wieder dem Blick entzogen. Man sieht nicht, woher sie kommt und wohin sie geht, eine kurze Begegnung, die einen sofort wieder entlässt in die gleichmütige Eintönigkeit des Waldes. Ungerührt schlagen über den flüchtigen Regungen des Daseins die Bäume zusammen. Ein Gefühl des Unheimlichen kommt auf in der sonst traulichen Abgeschiedenheit. Dass diese Erscheinung zum Wald gehört, hat Stifter begriffen und vor ihm Eichendorff. Bei diesem ist das aber ins Metaphysische gesteigert, und es wird daraus ein Sinnbild der Vergänglichkeit: Im Walde „Es zog eine Hochzeit den Berg entlang, ich hörte die Vögel schlagen, Da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang, Das war ein lustiges Jagen! Und eh ichs gedacht, war alles verhallt, Die Nacht bedecket die Runde, 23 Darauf macht Alfred Doppler aufmerksam; vgl. Schrecklich schöne Welt? Stifters fragwürdige Analogie von 1atur- und Sittengesetz, in: Beiträge des internationalen Kolloquiums zur A. Stifter-Ausstellung (Univ. Antwerpen 1993. Acta Austriaca-Belgica 1. Eine Koproduktion von Germanistische Mitteilungen (Brüssel) 40/1994 und Jahrbuch des Stifter-Instituts (Linz) 1/1994, S. 12. 24 Waldgänger, S. 404. 25 Katzensilber, S. 228.
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Nur von den Bergen noch rauschet der Wald und mich schauert im Herzensgrunde.
Die Liebe zum Wald hält Stifter für ein Erbteil germanischen Volkstums. Das und mit ihm der Wald habe sich in seiner Heimat gehalten. In den östlich angrenzenden offenen Landstrichen will er das Wirken slawischer Eigenart erkennen.26 Gewiss, hier machen sich Anzeichen nationaler Ideologie bemerkbar. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn im Witiko die böhmisch-deutschen Krieger, die „Waldleute“, wie die Bäume des Waldes im Kampf zusammenstehen – oder vielmehr regelrecht zu Bäumen werden, aneinandergereiht und zäh wie diese. Wahr daran ist jedenfalls, dass im deutschen Kulturkreis der Wald eine besondere Verehrung genießt. Davon hatte der eingangs zitierte Kenneth Clark gesprochen. Dessen Auffassung trifft sich mit der von Elias Canetti; auch er einer, der aus der Distanz urteilt. „In keinem modernen Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude.“27 Ein weiterer Berührungspunkt mit Stifter ergibt sich daraus, dass auch Canetti eine Beziehung zwischen Wald und Heer herstellt. Stifter ist nicht weit gereist. Einmal war er in der ungarischen Steppe. Erst spät ist er nach Prag gekommen, da waren die meisten seiner Werke schon geschrieben. Dazwischen liegen zwei Aufenthalte in München. Auch wonach er immer verlangte, auch das Meer hat er gesehen. Das ist fast schon alles. Beschränkt blieb er auf einen Kreis, dessen westlichsten Punkt Passau, dessen östlichsten Wien markieren. Darin begriffen sind die drei Landschaften, mit denen er ganz vertraut war: zuerst die böhmisch-bayerischen Waldgebirge natürlich; dann das offene österreichische Hügelland an der Donau, wozu auch das Voralpengebiet gehört; schließlich Hochgebirgsregionen im Salzkammergut, bei Stifter als ‚Land ob der Enns‘ bezeichnet. Sie sind von bestimmten, hoch gelegenen Aussichtspunkten, etwa von der Ruine Wittinghausen bei Friedberg aus, mit den Blicken zu umfassen. Wiederholt hat Stifter diese Aussichten geschildert: im Norden die Wälder, im Süden das Donautal und über ihm, ganz in der Ferne, die Kette der Alpen. Es sind diese Gegenden, die die Helden der Romane und Erzählungen durchstreifen. Einige von ihnen lässt Stifter den Weg gehen, den er selbst zurückgelegt hat; vom Böhmerwald nach Wien und von da nach Oberösterreich. Der Freiherr von Risach aus dem Nachsommer ist einer davon. Ganz inständig ist Stifter bei seinen Helden, und offen spricht er diesen autobiographischen Bezug zu Beginn der Erzählung Der Wald26 So äußert er sich im Waldgänger, S. 378. 27 Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt/M. 1980, S. 190.
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gänger aus. Die Bindung an geographisch fixierbare Gegenden, deren genaue Kenntnis bestimmt auch das Wesen der Stifterschen Landschaftskunst. Traditionell fängt es an, mit den Feldblumen. Schon die Überschrift verweist auf Jean Paul; sie spielt auf den vollen Titel des Romans Siebenkäs an, der nämlich beginnt mit der Zeile: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke. Auch sonst geht es jean-paulisch zu. Der Namenstausch der Freunde beispielsweise ist auch eine Übernahme aus dem Siebenkäs. Das Motiv hat allerdings – anders als bei Jean Paul – bei Stifter keine rechte erzählerische Funktion. Durchaus konventionell sind auch die eigentlichen Naturszenen, sofern es sich dabei um die Wiedergabe von Stimmungen handelt. Gleichwohl tritt auch hier schon die Eigenart Stifters hervor. Ein lichter Schein stand unten an dem bezeichneten Berge – die Mondesaurora war es; ich glaubte, er selber werde jetzt aufsteigen; aber nur der Schein klomm längs der steilen Kante des Felsens, der ordentlich schwarz gegen diesen Schimmer stand, bis der Mond endlich gerade auf dem Gipfel des Steines wie ein großes Freudenfeuer emporschlug zu dem Himmel, an dem schon alle Sterne harrten. Er trennte sich sodann und schwamm wie eine losgebundene blitzende, weißglühende Silberkugel in den dunkeln Äther empor – und Alles war hier unten wieder hell und klar. – Die Berge standen wieder alle da und troffen von dem weißen niederrinnenden Lichte, das Wasser trennte sich und wimmelte von Silberblicken, ein Lichtregen ging in den ganzen Bergkessel nieder, und jedes feuchte Steinchen und jedes tauige Gräschen hatte seinen Funken.28
Die Beschreibung der vom Mondlicht beglänzten Gegend hält sich ganz an das Sichtbare, und eben das ist der Unterschied zu Jean Paul. Bei diesem weitet sich die Darstellung ins Unendliche. Die Betrachtung der Gestirne führt dazu, die Welt der Wahrnehmung zu überschreiten; sie stimmt herauf zu einem das Universum umfassenden Allgefühl. Nichts davon ist bei Stifter zu spüren. Er registriert, wie mit dem Aufgang des Mondes sich das Licht verändert, sich ausbreitet und sich auf die Dinge legt. Und noch etwas ist anders. Diese mondbeschienene Landschaft ist Teil der Beschreibung einer genau angegebenen Örtlichkeit; es handelt sich um den Almsee und die angrenzenden Berge. Aber dann kündigt sich entschieden Neues an in dieser Prosa. Ein Geist herrscht in ihr, der anderes will, als allein das Widerspiel menschlicher Stimmungen der Außenwelt abzugewinnen. Allerdings muss er sich erst seiner Mittel versichern, und er hat durchaus seine Vorbilder. Es ist schon richtig, ungewöhnlich umfangreich sind viele Naturbeschreibungen Stifters, wie die in der Eingangspartie des Hochwaldes. 28 Feldblumen, S. 132.
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Nur erfassen Aussagen über die bloße Quantität nicht deren Eigenart.29 Die Länge lässt aber einen Schluss zu, nämlich den, dass es sich hier nicht um Landschaftsbilder handelt, wenn man darunter nur die Wiedergabe eines Ausblicks von einem bestimmten Standpunkt aus versteht. Liest man den Beginn der Erzählung Hochwald, ist es einem, als blicke man auf eine Karte.30 Es werden Angaben zur Lage des betreffenden Gebietes gemacht, zu dessen Ausdehnung und zu seinen Grenzen; Teile von ihm werden aufgeführt; Namen von Bergen und Flüssen erscheinen; vermerkt werden geologische Formationen ebenso wie die Art der Vegetation. Das sind präzise Angaben und sie gehören zu dem, was man eine topographische Beschreibung nennt. Die Mittel der beschreibenden Wissenschaften, die der Geographie in dem Falle, benutzt also Stifter, um das Bild einer Landschaft entstehen zu lassen. Die geographischen Daten sind aber nur das Rahmenwerk. In es eingefügt sind die Bilder einer Gegend, sind wiedergegeben die Eindrücke, die sie in dem hinterlässt, der sie durchwandert. Das Wandern gibt auch den Aufbau dieses Prosastückes vor. Zwei Wege werden beschrieben, der eine führt zum ‚Blockenstein‘, der andere zur Ruine ‚Wittinghausen‘. Am Ende stehen Bilder, stehen mit Mitteln der Literatur ausgeführte Gemälde: der Anblick des Bergsees auf der ersten, die Fernsicht von der Ruine auf der zweiten Wanderung. Die Beschreibung verbindet also szientistische mit ästhetischen Momenten.31 Das wirkte befremdlich, ohne dass man sich darüber im Klaren war, was denn hier vorliegt. Aber für diese Art der Naturdarstellung gibt es literarische Anregungen; Hinweise darauf finden sich bei Stifter selbst. Es gibt eine Stelle im 1achsommer, da wird, seltsam genug, von einer Ähnlichkeit zwischen dem Gebirge und dem Spanischen gesprochen.32 Was österreichische Alpenregionen mit dieser Sprache zu tun haben sollen, bleibt ziemlich unerfindlich. Dass die Zither dahin gehört, auch so ein Einfall, leuchtet schon eher ein. Möglichen Aufschluss über 29 Eines der typischen Urteile lautet, Stifter habe umständliche 1aturschilderungen angefertigt. So Joseph Peter Stern, Adalbert Stifters ontologischer Stil, in: Lothar Stiehm (Hg.), Adalbert Stifter, Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestag, Heidelberg 1968, S. 113. 30 Das sieht Stern durchaus richtig; ebd., S. 113. Eine ins einzelne gehende Interpretation der Eingangspassage des Hochwaldes findet sich bei Roy Pascal, Die Landschaftsschilderung im Hochwald, in: Stiehm, a.a.O., S. 57–68. 31 Das ist der Ansatzpunkt von Martin Selge, Adalbert Stifter, Poesie aus dem Geist der 1aturwissenschaft, Berlin – Köln – Mainz 1976. Bei Stifter sieht Selge die „Integration der poetisch-wissenschaftlichen Anschauung im aktuellen Vollzug verbaler Deskription“ (S. 16). Dem kann man nur zustimmen. Selges Einzelergebnisse sind weniger überzeugend. 32 Vgl. S. 434.
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diese rätselhafte Assoziation können andere Stellen geben. Der Schluss des Condor versetzt die Hauptfigur in die „Urgebirge der Cordilleren“, um dort „neue Himmel“ zu suchen. Auch der Titel deutet dorthin, er nennt das Charaktertier der Anden. Dann, jetzt wieder im 1achsommer, fällt der Name dessen, der die Phantasie der Zeitgenossen mitgenommen hat in das überseeische Spanien, nach Iberoamerika, der Alexander von Humboldts.33 Der ist auf seinen Reisen auf die Berge gestiegen, auch auf den Chimborasso; der galt damals als höchster Berg der Welt. Humboldt ist auf ihm nur zu einem Punkt 400 m unter dem Gipfel gelangt, das ohne spezielle Ausrüstung und ganz zu Beginn der großen Epoche des Alpinismus. Für eine gewisse Zeit hat er den Höhenrekord gehalten, was ihn sehr amüsiert haben soll, denn er war auf anderes aus. Neben tropischen Regionen hat er die Bergwelt Südamerikas erforscht und eigentlich erst entdeckt. Auf seinen Bergexpeditionen gewann er entscheidende Einsichten in die bildenden Kräfte der Erde, die er als Vulkanismus am Werke sah, und er fand ein Prinzip der Pflanzengeographie, das der vertikal geschichteten Vegetationszonen. Stifters Idee, das Spanische gehöre zum Gebirge, ist vermutlich durch Humboldt vermittelt. Die Wertschätzung dieses Mannes macht die erwähnte Stelle im Nachsommer deutlich. Dort legt Heinrich Drendorf die Dichter beiseite und vertieft sich in Humboldts ‚AmerikaWerk‘. Diese Vorliebe wird wenig später gleich noch einmal erwähnt. Das ist keine beiläufige Episode, das ist Programm. Was nämlich Stifter bei Humboldt fand, ist das, was er selbst anstrebte und was im 1achsommer nachhaltig propagiert wird: die Verbindung von wissenschaftlicher und künstlerischer Betrachtung der Natur.34 Schließlich lässt er seinen Helden Heinrich Drendorf Forschungsreisen ins Gebirge unternehmen. Geologischen Formationen geht er nach, legt mineralogische und botanische Sammlungen an; er beschreibt und zeichnet die aufgefundenen Naturobjekte, und er führt Vermessungen durch. Und dann wagt er sich auf einen schneebedeckten Alpengipfel, und die Schilderung dieser Bergbesteigung gehört sicherlich zu Stifters eindrucksvollsten Naturbeschreibungen. Heinrichs Versuche in der Landschaftsmalerei schließlich sind gerichtet auf eine Zusammenschau der Einzelerscheinungen. Man kann also sagen, dass die Romanfigur Alexander von Humboldt nacheifert. 33 S. 53. 34 Das große Interesse, das Stifter für Humboldt aufbrachte, wird auch durch Briefstellen weiter belegt. Daraus geht hervor, dass er das Kosmos-Werk, das 1845 erschienen war, bereits im März 1846 gelesen hatte. Die Nachweise finden sich in den Briefbänden der historisch-kritischen Ausgabe. Das Verhältnis Stifters zu A. v. Humboldt ist übrigens nicht gut untersucht. Zuweilen finden sich knappe Hinweise; z.B. bei Ursula Neumann, Adalbert Stifter, Stuttgart 1979, S. 125.
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Einzelheiten genügen nicht. Gegenstand der Forschung muss auch sein, herauszufinden, wie die Dinge zusammenstimmen. Das ist Humboldts Forderung. Eingelöst wird sie dadurch, dass die wissenschaftliche Beschreibung dem entspricht, was Humboldt ein „Naturgemälde“ nennt, und Stifters längere Naturschilderungen kommen dem ziemlich nahe. Die Erhebung von Fakten ist das erste. Dazu werden spezielle Methoden eingesetzt wie die des Vermessens oder die des Bestimmens. Man gelangt so zu einer genauen Kenntnis der Einzelerscheinungen. Dann aber geht es darum, das Ganze zu erfassen; das gilt Humboldt als vornehmste Aufgabe der Wissenschaft. Das Ganze – darunter ist zunächst die Einheit einer besonderen geographischen Region zu verstehen, die des tropischen Regenwaldes in den Flussniederungen des Orinokos beispielsweise oder die der Steppengebiete der Llanos. Um das zu leisten, hat Humboldt besondere Formen der Darstellung entwickelt. So setzt er Mitteilungen über Details, Messergebnisse und Einzelbeobachtungen zur Botanik, zum Klima und zur Geologie, in den Anmerkungsapparat. Dieser kann die eigentliche Beschreibung um das Fünffache an Umfang übertreffen. Zuweilen sind solche Anmerkungen selbst wieder zu „Naturgemälden“ geworden. Anschauliche Qualität hat dann der Hauptteil, weil dort nur die großen Zusammenhänge dargetan werden und sich die Beschreibung nicht in Einzelheiten verliert. Eine wichtige Funktion hat dabei der Vergleich. Die Charakteristika einer bestimmten Gegend bekommt man dadurch zu fassen, dass man sich an eine hält, die ein ähnliches Erscheinungsbild aufweist. So vergleicht Humboldt den tropischen Wald mit dem der gemäßigten Zonen. Von „Physiognomie“ spricht er in diesem Zusammenhang, und das heißt, dass jedes geographische Gebilde einen besonderen Ausdruck hat. Immer aber ist Humboldt darum zu tun, über den Einzelheiten nicht den Zusammenhang zu verlieren. Er sagt, „die Anhäufung stört die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes“.35 Damit ist ein weiterer Punkt berührt. In Humboldts Begriff von Naturwissenschaft ist ganz selbstverständlich der Mensch einbezogen. Es geht nicht allein um die Erfassung der puren Fakten, es geht immer auch darum, in welcher Relation sie zum Menschen stehen. Die Naturerscheinungen erschöpfen sich nicht in objektiven Daten, sie haben auch etwas zu bedeuten, und das heißt: sie rufen Gefühle hervor und sie fordern Reaktionen heraus. Oder, wie es Humboldt ausdrückt, zu ermitteln ist der Einfluss, „welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale ausübt.“36 Lebensweltliche Bestimmungen gehören ebenso zu den Objekten wie deren rein physikalische oder chemische 35 Ansichten der 1atur, a.a.O., S. IX. 36 Ebd., S. IXf.
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Eigenschaften. Beide Hinsichten sind vereinigt im „Naturgemälde“. Der künstlerische Anspruch, den dieser Begriff anzeigt, erfüllt sich im Willen zur Ganzheit, und die wissenschaftliche Darstellung erlangt die Merkmale einer artifiziellen Komposition. Indem sie über die bloße Aneinanderreihung von Fakten hinausgeht, gelingt es ihr, Eindrücke vor die Seele zu stellen, die sie von einer Naturszenerie empfängt. Daran also schließt Stifter sich an. Seine Landschaftskunst beschreibt eine Bewegung, die die sorgfältige Betrachtung des Einzelnen aufgehen lässt in die Schau übergeordneter Zusammenhänge. Zunächst wendet er sich demnach den schlichten und unscheinbaren Dingen zu. Er ist angetan von ihrer Ausdruckskraft und Schönheit. Das gehört zu seinen Schilderungen, und das hat ihm heftige Angriffe eingetragen; fast schon ausfallend waren die von Hebbel. Die Hinwendung zum „Kleinen“ hat Stifter verteidigt. Sie käme aus dem Geist der Wissenschaft und geschähe aus der Einsicht, dass auch im Kleinen sich die großen Gesetze des Weltgeschehens bekundeten.37 Derjenige, dessen Aufmerksamkeit vom Außergewöhnlichen gefesselt werde, habe nur etwas Vereinzeltes vor sich. Er liefe Gefahr, darüber das Allgemeine, immer Gültige zu übersehen. Das gewahre man aber gerade durch geduldiges, ausdauerndes, ganz unspektakuläres Erforschen der unauffälligen Erscheinungen. Lange Beobachtungs- und Messreihen seien dazu nötig. Und als Beispiel für dieses Tun führt Stifter wiederum Alexander von Humboldt an. Der Name wird zwar nicht genannt, aber die von Stifter zitierte Untersuchung des Erdmagnetismus hat Humboldt auf seiner Amerikareise durchgeführt. Eines ihrer Ziele war eine großangelegte, mit unzähligen Einzelbeobachtungen verbundene, systematische Exploration dieser universalen Kraft.38 In der Berücksichtigung des Geringfügigen, in der Beachtung von Wirklichkeitstreue und Detailgenauigkeit folgt Stifter wissenschaftlichen Zielsetzungen. Damit aber räumt er den Dingen ein Eigenrecht ein und gerät so in einen entschiedenen Gegensatz zur Dichtung der klas37 Das bezieht sich auf die Vorrede zu den Bunten Steinen. Unleugbar ist diese widersprüchlich formuliert, was schon die Zeitgenossen bemerkt haben. Anstoß ist daran zu nehmen, dass Stifter außergewöhnliche Ereignisse, Erdbeben und Vulkanaus-brüche, für die Wirkung höherer Gesetze ausgibt. Dann wären die allgemeinen Naturgesetze aufgehoben oder richtiger: diese gäbe es gar nicht. Gleich darauf sagt er jedoch, die Milch im Töpfchen und die Lava in dem feuerspeienden Berg gehorchten ein und derselben Kraft, also wären die Naturgesetze doch nicht ausgehebelt. Mit einigem Wohlwollen kann man Stifters Gedankengang dadurch retten, dass man, wie er selbst es nahelegt, die großen Naturereignisse auf eine besondere Konstellation von Ursachen zurückführt, das wären die einseitigen Ursachen des Textes. Und diesen Ausdruck kann man gleichbedeutend mit höheren Gesetzen lesen. Dann wäre die Grundaussage eben die, dass dieselben Gesetze und Mächten im Großen und im Kleinen wirkten. 38 Vgl. dazu Adolf Meyer-Abich, Alexander von Humboldt, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 67f.
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sisch-romantischen Epoche. Die nämlich lässt Natur nur zu, sofern sie „in den Kreis der Menschheit gezogen wird“, wie sich Schiller ausdrückt. Sie tauge, sagt er weiter, allein zum „Symbol“ in der Weise, das sie entweder „als Darstellung von Empfindungen oder als Darstellung von Ideen“ erscheint.39 Für Goethe ist das, was sich der Wahrnehmung darbietet, nur „roher Stoff“, ist bloße „Naturwirklichkeit“. Der Natur muss gewissermaßen aufgeholfen werden, das heißt, dass sie in „Kunstwahrheit“ überführt werden muss. Das ihr innewohnende Ideelle sichtbar zu machen, ist Aufgabe des Künstlers; sein Werk soll „natürlich zugleich und übernatürlich erscheinen. Indem der Künstler irgendeinen Gegenstand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur an, ja man kann sagen: dass der Künstler ihn in diesem Augenblick erschaffe, indem er ihm das Bedeutende, Charakteristische, Interessante abgewinnt oder vielmehr erst den höhern Wert hineinlegt.“40 Nicht für sich stehen die Naturdinge, das glauben auch die Romantiker. Sie sehen in ihnen nur Zeichen und Chiffren einer sich dahinter auftuenden geheimnisvollen Welt. Und letztlich führen die äußeren Erscheinungen nur zurück ins eigene Innere. „In Heinrichs Gemüt spiegelte sich das Märchen des Abends. Es war ihm, als ruhte die Welt aufgeschlossen in ihm, und zeigte ihm, wie einem Gastfreunde, alle ihre Schätze und verborgenen Lieblichkeiten.“41 Teil der Dichtung können Naturszenen nur werden, wenn sich in ihnen Geistiges oder Seelisches widerspiegelt – darauf laufen diese Vorstellungen hinaus. Sie beschränken sich aber nicht auf die Literatur. In der bildenden Kunst sind sie eben so gut anzutreffen. „Dichterisch erfunden“ solle das Landschaftsgemälde sein, das ist der Anspruch, dem es genügen muss. Und Wirklichkeitstreue, wie sie etwa die Vedute anstrebt, gilt als minderwertig. Gegenstand der Kunst ist die Darstellung des Ideellen im sinnlichen Stoff.42 Aber dazu muss die Natur empfänglich gemacht werden, und das geschieht im künstlerischen Arrangement. Nicht wirkliche Landschaften sind ins Bild gesetzt, vielmehr sind sie überhöht oder idealisiert, jedenfalls müssen sie sich dem geistigen Gehalt unterordnen, den der Künstler in sie gelegt hat. Selbst da, wo es so aussieht, als würden wirkliche Landschaften wiedergegeben, täuscht der Augenschein. Auch da liegt eine Anordnung des Malers
39 Das führt Schiller in seine Rezension Über Matthissons Gedichte aus; vgl. a.a.O., 5. Bd., S. 998f. 40 A.a.O., Bd. XII, S. 42, S. 46. 41 Die Stelle ist aus Heinrich von Ofterdingen; Novalis, Werke und Briefe, hrsg. v. A. Kelletat, München o.J., S. 205. 42 Näheres dazu wurde schon im vorigen Kp. über Jean Paul ausgeführt.
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vor. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an den Begriff ‚Kompositlandschaft‘, der oben schon erläutert wurde.43 Stifter bricht mit dieser Tradition. Viele seiner Naturbeschreibungen sind, wieder mit einem Begriff der Kunstgeschichte, ‚Landschaftsporträts‘. Sie verweigern sich einem Verständnis, das in ihnen lediglich Reflexe innerer Regungen sehen will. Das analoge Verhältnis von Natur und Landschaft auf der einen und Geist und Seele auf der anderen Seite ist aufgekündigt, und die Natur rückt nun ein in ihr Eigensein.44 Damit hat Stifter eine Wendung zum Realismus vollzogen, dessen Bestrebungen er weitgehend teilt. Das gilt für beide, für seine Malerei wie für seine Schriftstellerei. Die realistische Landschaftsmalerei begreift sich als empirische Naturforschung. Ausdrücklich sagt einer ihrer größten Vertreter John Constable, dass die Malerei eine Wissenschaft sei, die eine „Erforschung von Naturgesetzen“ anstrebe.45 Diese Maßgabe bestimmt die künstlerischen Verfahrensweisen und die Bildinhalte. Der Maler stellt dar, was er sieht, nicht was er über die Dinge weiß oder hinter ihnen erahnt. Aus den Bildern sind alle symbolischen, metaphysischen oder auch nur metaphorischen Bezüge getilgt. Gefordert ist die möglichst genaue Erfassung des Vorhandenen. Entsprechend werden örtliche Gegebenheiten, die Jahres- und Tageszeiten exakt registriert, und im Bild festgehalten sind selbst momentane Licht- und Farbwerte. Dazu muss der Künstler heraustreten aus seinem Atelier. Es beginnt die ‚Plein-Air-Malerei‘. Allerdings hat es künstlerische Arbeiten im Freien auch vorher gegeben. Aber das waren nur vorbereitende Studien vor der Natur. Der eigentliche Malvorgang, d.h. die Bildkomposition vollzog sich im Atelier. Nun aber entsteht das Gemälde vor der Natur. Es ist sie selbst, die Aussehen und Anordnung der Gegenstände bestimmt. Und da man in ihr keine das Sichtbare übersteigende Bedeutung sucht und da sie jedem Ding einen Sinn mitteilt, kann alles Inhalt der Kunst werden, auch das scheinbar Alltägliche und Belanglose. Auch daher rührt Stifters Vorliebe fürs Kleine. Das Nahe, scheinbar Gewohnte gewinnt einen ganz unbekannten Reiz. Und was zur allgemeinen Übung der Maler des Realismus wird, dass sie nämlich die Metropolen verlassen und aufs Land ziehen, um dort die Schönheiten der Heimat zu entdecken, das praktiziert auch Stifter, er und viele seiner Figuren. In den 1achkommenschaften hat er das Porträt eines naturalistischen Malers entworfen. Der sucht eine entlegene Moorgegend auf, die er als „ernst“, „schwierig“ und „unbedeutend“ empfindet. Er wohnt 43 Siehe dazu die Ausführungen zu Caspar David Friedrich im Kp. über Jean Paul. 44 Das sieht Doppler auch so ; vgl. a.a.O., S. 11 45 Nach Erich Steingräber, Zweitausend Jahre europäische Landschaftsmalerei, München 1985, S. 328; zum folgenden S. 326–343.
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unter einfachen Landleuten, die von seiner Kunst nichts verstehen. Nur einen Ausschnitt will er erfassen, vor den setzt er sich und müht sich wie besessen ab, „den unnachahmlichen Duft und die unerreichbare Farbe der Natur“ zu treffen. Den „Dingen ihr Wesen abringen“, das ist das Ziel. Nun ist freilich der Maler Friederich Roderer einer von Stifters ‚Narren‘. Und Teile dieser späten Erzählung sind, ungewöhnlich für Stifter, zur Satire auf die zur Manie gewordene Freiluftmalerei geraten. Gleichwohl ist diese Geschichte eine durchaus ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit der realistischen Kunst und damit auch mit Stifters eigenen Bestrebungen. Am Ende steht das Eingeständnis des Versagens. Woran Roderer scheitert, ist die „Düsterheit, die Einfachheit und die Erhabenheit des Moores.“ Der gewollten Nähe, die ihr Ziel durch penibelste Angleichung ans Vorgegebene zu erreichen sucht, entzieht sich die Natur. Sie tritt dem Menschen als Macht gegenüber, die sich ihm entzieht und unbegreiflich bleibt. Das ist die dunkle Seite von dem, was gewöhnlich als liebevolle Kleinmalerei ausgegeben wird. Sie ist von Anfang an da in Stifters Werk und liegt in der Konsequenz seines künstlerischen Ansatzes. Bei aller Nähe zum Naturalismus hält sich bei Stifter doch die Überzeugung, dass die Kunst eine Anstrengung eigener Art ist. Nicht umstandslos kann sie in Wissenschaft aufgehen. Das Vorbild Humboldts wirkt da nach und trifft sich mit anderen Traditionen, die in Stifters Denken lebendig sind; auch seine religiösen Vorstellungen gehören dazu. Humboldt hatte, was schon vermerkt wurde, darauf insistiert, dass die Naturerkenntnis das Ganze zu erfassen habe, welches letztlich der Kosmos selbst ist. Sein Hauptwerk hat kein geringeres Ziel, als diese Aufgabe in Angriff zu nehmen. Die Forschung bringt es aber nur zur Erkenntnis der Einzelheiten, eine Meinung, die auch Stifter vertritt. Dass sie nur Teile erhält, liegt daran, dass sie empirisch ausgerichtet ist. Um zu sicheren Ergebnissen zu kommen, muss sie methodisch vorgehen. „Man schlägt jetzt mehr die Wege des Beobachtens und der Versuche ein“, heißt es dazu im 1achsommer. Früher dagegen habe man sich „mehr den Vermutungen, Lehrmeinungen, ja Einbildungen hingegeben“.46 Die Beobachtung und erst recht das Experiment gelangen aber nur an isolierte Fakten oder Vorgänge. Sie bedürfen daher der Ergänzung; dadurch soll es möglich sein, die Erscheinungen in ihrem Zusammenhang zu ergreifen. Erst dann geben sie sich in ihrem wahren Sein zu erkennen. Die Kunst soll diese Forderung einlösen. Nicht bloß aus theoretischen Erwägungen resultieren diese Einsichten, hervorgegangen sind sie aus der Annäherung an die Dinge. Stell46 S. 119.
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vertretend für sich lässt Stifter Heinrich Drendorf sprechen. Der kommt hinter die Beschaffenheit der Erscheinungen dadurch, dass er Zeichnungen von ihnen anfertigt. Das sind Wiedergaben, die die Gegenstände bis in die feinsten Verstrebungen erfassen. Sie werden damit wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht. Indessen, Heinrich gerät durch dieses Tun nur an separierte Objekte, die sich im Raum stoßen. Löst sich der Blick von der Fixierung ans Einzelne, gewahrt er, dass die Dinge ein ganz anderes Aussehen annehmen. Sobald man sie nicht getrennt betrachtet, verändern sie sich in Form und Farbe, in den Eigenschaften, deren sich die Einzelbetrachtung gewiss war. Es liegt in ihnen etwas, das sie befähigt, sich mit anderen zusammenzuschließen, wie sie von den anderen eine Wirkung empfangen. Heinrich stößt auf den auch wahrnehmungstheoretisch gesicherten Sachverhalt, dass in der Nachbarschaft von anderen die Dinge ihre „eigentümliche Farbe“ verlieren und sich ihnen das Kolorit der Umgebung mitteilt. Ähnliches gilt für die Formen. Auf diese Weise entsteht ein „Ganzes“. Und da das Einheitsstiftende seit Aristoteles Seele heißt, erfährt Heinrich Drendorf, dass ein Naturausschnitt eine „Seele“ haben kann. Nicht „Gegenstände“ hat er vor sich, sondern „Bilder“. In die starren Erscheinungen kommt Leben, kommt Bewegung. Sie sind getaucht in „Luft, Licht, Dünste und Wolken“; sie werden zu Körpern, „die in einem Mittel und in einer Umgebung von anderen Körpern schwimmen.“ Die singulären Gestalten sind in einen Horizont gestellt, und erst in ihm erreichen sie ihre Bestimmung. Ihre genaue Kenntnis steht am Anfang einer Aneignung der Natur, ihr Ziel liegt darin, herauszufinden, wie sie sich zu einer Einheit verbinden. Letzteres geschieht mit Mitteln der Kunst. „Da geriet ich auch auf das Malen“, sagt Heinrich Drendorf von sich.47 Daraus ergibt sich eine Progression des Sehens und Erkennens. Die Sichtung des Nahen, des Kleinen ist der erste Schritt, die Betrachtung der großen Zusammenhänge der zweite, und eben darin besteht das Ineinander von Wissenschaft und Kunst.48 Das Ganze ist für Stifter zunächst etwas, das der Blick durchaus umfassen kann. Es kommt nicht durch eine besondere Operation zustande, in der der Geist sich abkehrt vom Sichtbaren, sich der inneren Welt zuwendet und dort die Muster findet, unter die er dann das Wirkliche subsumiert. Das wäre die idealistische Möglichkeit. Für Stifter dagegen weisen die Dinge von sich aus einen Zusammenhang auf. Ihre Ordnung offenbart sich dem Blick, der sich auf sie einlässt. Was sich wie eine Anbetung des Faktischen ausnimmt, kommt aus dieser Über47 Diese und die folgenden Erörterungen über die Kunst finden sich auf S. 329–334. 48 Vgl. dazu den Aufsatz von Roland Duhamel, Zum didaktischen Konzept von Stifters 1achsommer, in : Beiträge des internationalen Kolloquiums zur A. Stifter-Ausstellung Antwerpen, a.a.O., S. 151ff.
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zeugung. Sie verbindet sich mit dem Glauben, dass die Dinge so, wie sie vorgefunden werden, von Gott geschaffen wurden. Und Stifter ist der Meinung, dass der Künstler, der meint, von der Realität abweichen zu müssen, sich an der göttlichen Fügung versieht. Religion, Kunst und Wissenschaft sind daher keine Gegensätze. Sie tragen ihren Teil dazu bei, die in der Schöpfung waltende Ordnung herauszustellen. Nun hat die Wirklichkeit eine Dimension, deren sich die bildende Kunst nur bedingt bemächtigen kann; das ist die der Veränderung. Stifter, der sich in der Fortführung der eben referierten kunsttheoretischen Erörterungen mit diesem Problem beschäftigt, belegt das mit dem Begriff der „Bewegbarkeit“. Die Gegenstände der Kunst sind „in der Regel lebende Wesen, Menschen, Tiere, Pflanzen – und selbst die Landschaft trotz der starrenden Berge ist mit ihren beweglichen Wolken und ihrem Pflanzenschmucke dem Künstler ein Atmendes.“ Die Bewegung kann die Malerei nicht wiedergeben. Oder doch nur so, dass sie in der absoluten Regungslosigkeit des Bildes die Illusion des Progresses erzeugt. Die Kunst muss die lebenden Wesen so darstellen, „dass es dem Beschauer erscheint, sie könnten sich im nächsten Augenblicke bewegen“. Stifter, der selbst ein begabter Maler war, rührt hier an ein Kernproblem der Künste, an ein Problem, das Lessing in seinem ‚Laokoon‘ ausgiebig erörtert hatte.49 Danach ist die bildende Kunst bezogen auf das Nebeneinander oder den Raum, die Literatur dagegen auf das Nacheinander oder die Zeit. Über die diesbezüglichen Leistungen der Schriftstellerei finden sich bei Stifter allerdings keine Reflexionen. Das muss dem erzählerischen Werk selbst entnommen werden. Derjenige, der wissen will, wie die Wirklichkeit beschaffen ist, muss sich von vorgefassten Meinungen und Bildideen befreien, er darf kein Schema über die Wirklichkeit stülpen. Für ihn baut sich eine Landschaft auf aus den einmaligen Gegebenheiten, die er antrifft. Diese muss er in Augenschein nehmen. Im Verfolg dieser Absicht wird er von einem zum anderen geleitet. Und es entsteht eine Bewegung des Erkundens und Sichtens. In diesem Tun zeigen sich die Dinge laufend in neuen Ansichten, sie bieten sich von immer wieder verschiedenen Seiten dar, zeigen sich in jeweils anderen Konstellationen. Das ist ein Prozess des Sehens, der vermittelt ist durch die Fortbewegung in einem Gelände. Hier nun beginnt das eigentlich literarische Projekt einer realistischen Naturwiedergabe mit Mitteln der beschreibenden Kunst. Diese nämlich kann der Vorgänglichkeit des Entdeckens folgen. Sie hält sich nicht auf beim singulären Prospekt. Die einzelnen Ansichten setzt sie zusammen und daraus bildet sich die Vorstellung von einer größe49 Vgl. dazu das Kp. I,2, wo dieses Thema ausführlich besprochen wird. Vgl. dazu auch Peter Küpper, Literatur und Langeweile, in: Stiehm, a.a.O., S. 175.
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ren Einheit, von einer Gegend oder von einer Region. Wie die verschiedenen Partien einer Landschaft zusammenstimmen, wie sie sich zusammenschließen zu einer Landesnatur, gelangt so zur Anschauung. Beides will dieses Unternehmen erreichen: die Genauigkeit im Detail und den Blick auf das Ganze. Die Art der Fortbewegung ist nun aber von ausschlaggebender Bedeutung, denn sie entscheidet über das Wie des Sehens, ob die Dinge z.B. plastisch gesehen werden oder ob sie nur die Vorderseite vorweisen. Für Stifters Figuren ist es die Bewegung des Wanderns, in der sich ihnen die Natur erschließt. Das Durchwandern einer Landschaft ist in vielen Erzählungen Stifters wesentlicher Teil der Handlung, so auch im 1achsommer.50 Viele von Stifters Helden werden als Wanderer vorgestellt, beispielsweise Victor im Hagestolz oder Otto Falkhaus in Zwei Schwestern, und als „deutscher Wandersmann“ wird der Erzähler in Brigitta porträtiert, der sich allerdings einigermaßen wunderlich ausnimmt unter den verwegenen Reitern der Pussta. „Ränzlein, Knotenstock und Kappe“ gehören zu seiner Ausstattung.51 Und überhaupt das Ränzlein. Das ist geradezu das Erkennungszeichen des Wanderers. Nie vergisst Stifter, es mit der ihm eigenen Gründlichkeit zu erwähnen. Nun gibt es verschiedene Arten des Wanderns. Die eine ist ein genussvolles Herumvagabundieren. Das Gefühl der Ungebundenheit wird darin ausgekostet, die Lust, sich einfach davonzumachen, sich zu lösen aus den Zwängen des bürgerlichen Lebens. Eichendorffs Taugenichts ist ein solcher Herumtreiber, der ziel- und planlos in die Welt läuft, nur den Eingebungen seines Herzens folgend. Auch Stifter kennt diese Form des Wanderns, aber sie wird gleich abgetan als bloßes „Hinschlendern“.52 Ihr fehlt die Ernsthaftigkeit eines Strebens, das sich selbst Zwecke setzt. Stifter bevorzugt eine andere Art, eine, die sich mit der bürgerlichen Rationalität verträgt. Das Wandern wird in den Dienst der Erkenntnisgewinnung gestellt. Es ist ein methodisches Verfahren zur Entdeckung eines bestimmten Areals, und dem entsprechend wird es systematisch betrieben. Natürlich kennt auch diese Variation ihre Freuden; die bestehen im Entdecken und Finden, auch darin, das Schöne zu entdecken. Dieses Tun unterscheidet sich aber in seinem Wesen vom spontanen Umherschweifen.
50 Die Bedeutung des Wanderns für Stifters Erzählungen ist schon häufiger in der Literatur bemerkt worden; es feht aber eine genauere Analyse. Vgl. z.B. Fritz Novotny, Stifter als Maler, Wien 1941, S. 52. 51 Brigitta, S. 174. 52 Ebd., S. 217.
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Eine Schilderung Stifters richtet sich ausdrücklich an die „Freunde landschaftlicher Natur und Entwicklung“.53 Die Wendung „und Entwicklung“ kommt überraschend, denn sie bleibt zunächst unverständlich. Sicher ist nur, dass die Besichtigung einer Gegend allein nicht genügt. Was gemeint ist, wird an einer Bootsfahrt auf dem Gardasee exemplifiziert. Sie erfolgt langsam, von häufigem Anhalten unterbrochen, und sie führt an den Ufern entlang. Sie beschreibt eine Bewegung, die auch das Wandern vollzieht, und in diesem findet sie auch ihre Fortsetzung. Durch das gemächliche Vorwärtskommen entfaltet sich die Landschaft in ihren Einzelheiten. Da „entwickelt“ sich beim Näherkommen aus einem „mattgrauen oder schwachweißen Punkt“ eine „Hütte, ein Häuschen, ein Landsitz“. Oder eine Felswand, die aus der Ferne als „die glatteste, ritzenloseste Mauer“ erschien, „tut sich auf“ und zeigt in ihren Faltungen „dichtes Buschwerk“ und bei noch geringerem Abstand verwandelt sich „grünes Wucherwerk“ in „riesengroße schöne Bäume“.54 „Entwicklung“ heißt also, dass eine Naturansicht Tiefe und Schärfe bekommt. Nicht „allgemeine Bilder“ werden aufgenommen, die „unentfaltet“ blieben, sondern es entsteht allmählich vor den Augen ein Landschaftsindividuum.55 Derselbe Prozess vollzieht sich beim Wandern. Victor in der Erzählung Der Hagestolz sieht aus dem Hügelland in der Ferne das „fast sehnsuchtsvolle Blau der Berge“. Auf die geht er zu, und sie enthüllen sich in immer neuen Aspekten. Das anfängliche Blau differenziert sich zu unterschiedlichen Farbtönen; der geschlossene Gebirgszug tritt auseinander und gibt die Konturen einzelner Berge frei; die Größenverhältnisse und Distanzen verschieben sich; und selbst die Relation von oben und unten kann sich verkehren: so erscheint das Wasser eines Sees tiefer zu liegen als der eigene Standpunkt, befindet sich aber in Wahrheit an einem höheren Ort.56 Eine Fahrt im Wagen unterscheidet sich grundlegend von der Fußreise. Die raschere Art des Fortkommens lässt nur bestimmte Bewusstseinsakte zu. Die Dinge ziehen nur vorüber, bieten sich allein an der Oberfläche dar. Ihnen fehlt eine Dimension, die der Tiefe. Zudem gelingt es nicht, Einzelheiten festzuhalten. Diese verschmelzen zu einer bloßen Schablone, und der Reisende erhält einen Anblick, in dem die charaktervollen Details überblendet sind. Ohne ihre besondere Physiognomie, ganz allgemein erscheinen die Gestalten außerhalb des Wagens, und der Reisende „rückt ... an Berg um Berg, an Tal um Tal vor53 Zwei Schwestern, S. 448 54 Ebd., S. 448f. 55 Selge hat das ähnlich beschrieben und vor ihm Preisendanz; vgl Selge, a.a.O., 28–45; Preisendanz, Die Erzählfunktion der 1aturdarstellung bei Stifter, in: Alexander Ritter (Hg.), Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975, S. 388–391. 56 Das ist bezogen auf das Kapitel ‚Wanderung‘ im Hagestolz.
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über“.57 Stifters Personen ziehen daher das Laufen der Fahrt im Wagen vor, denn das erscheint ihnen „lieblicher“.58 Die Kutsche benutzen sie nur, um große Entfernungen zu überwinden oder Strecken, die ihnen kaum Interessantes bieten. Das Fahren ist doch nur eine eingeschränkte Form des Reisens. Deswegen verlassen Stifters Reisende zuweilen ihr Gefährt und legen einen Teil des Weges zu Fuß zurück, denn dadurch „wird einem das Land bekannter, als wenn man immer in dem Wagen bleibt. Es tritt näher an uns. Die Distanz ist aufgegeben, und die kleinsten Dinge ... hat man unmittelbar vor Augen.“59 Dass das Vorhandene unmittelbar aufgenommen und erfahren wird, rührt noch von einem anderen Umstand her. Beim Wandern richten sich Tempo und Rhythmus und selbst die Wegstrecke nach den natürlichen Gegebenheiten. Bald geht es einen Berg hinauf, da verlangsamt sich der Schritt, bald ist eine Ebene zu durchqueren, jetzt kann sich der Gang beschleunigen. Dann wieder tut sich ein Ausblick auf, nun wird ein Halt eingelegt. Immer aber muss der Wanderer seinen Weg nach den Eigenheiten des Geländes wählen; ein Hindernis will umgangen, ein steiler Abstieg gesichert werden. Ganz eigentümliche Erfahrungen macht man im Gehen, und die registriert Stifter genau. „Der Weg wickelte sich längs des Hanges fort, der sich immer selber gebar, als rückte der Wald hinaus und schöbe auch den See vor sich her.“60 Es entsteht jedenfalls eine große Vertrautheit mit dem Gelände. Alle Sinne sind daran beteiligt, nicht nur das Sehen, sondern auch das Hören und Riechen.61 Die Wahrnehmung richtet sich aber nicht nur auf die Außenwelt. Ein intensives Gefühl des eigenen Körpers stellt sich ein. Dass er aus eigener Kraft vorankommt und nicht ihm fremden Verkehrsmitteln ausgeliefert ist, das genießt der Wanderer. „Es tat mir wohl, dass ich wieder meine eigenen Schritte schallen hörte“, sagt der Erzähler in Brigitta, nachdem er vom Pferd gestiegen ist.62 Und auch das ist ein Vorteil des Gehens: Man muss nicht den „breiten, herkömmlichen Straßen“ folgen, sondern man kann abgelegene und einsame Pfade einschlagen. Dem Wanderer erschließen sich so auch die verborgenen Seiten eines Landstrichs.63 Im Wandern entsteht ein intensives Erlebnis der Natur. Das ist ganz körpernah. Es gibt zwischen der Natur und dem aufnehmenden Subjekt keine Barriere. Letzteres ist der Fall, wenn es in der Kutsche oder im Eisenbahnabteil sitzt. Dann befindet es sich in 57 58 59 60 61 62 63
Zwei Schwestern, S. 444. Hagstolz, S. 344. 1achsommer, S. 434f. Hagestolz, S, 272. Vgl. ebd., S. 273. S. 176. Vgl. 1achsommer, S. 29f.
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einem separierten Raum, und die Natur ist nur das Draußen. Zwischen sie und den Menschen hat sich ein Medium geschoben, und nur vermittelt durch dieses und dessen Geschwindigkeit hat er die Natur.64 Die Landschaft in ihrer Besonderheit, sie als einmalige und einzigartige erschließt sich sukzessiv. Diese „fortschreitende Enthüllung“65 gibt allein die Literatur adäquat wieder, darin der bildenden Kunst überlegen. Sie tut das, indem sie die Bewegung des Wanderns aufnimmt. In dieser wird die eine Ansicht durch die folgende gewissermaßen dementiert. Die Literatur erreicht so eine gesteigerte Art der Wirklichkeitstreue und wird damit dem gerecht, was alle naturalistische Kunst intendiert. Während die bildende Kunst nur einzelne Momente im Prozess der Realitätsaneignung festzuhalten vermag, erfasst die Literatur diesen Prozess selbst. Das Wandern und dessen Beschreibung zerfallen aber doch wieder in diskrete Akte, und es stellt sich die Frage, wie die Literatur den Anspruch einlösen kann, die Vorstellung eines Ganzen, das Bild einer Landschaft zu vermitteln. Das gelingt Stifter dadurch, dass er die Deskription als zweifachen Durchgang anlegt. Er sorgt zuerst für eine grobe Orientierung, indem er Fixpunkte errichtet, die ein Terrain abstecken. Zu diesem Zweck hat er zwei Verfahren entwickelt. Das eine benutzt im Wesentlichen kartographische Angaben, und es entsteht der Eindruck, eine Landkarte würde vor einem aufgerollt. Die Eingangspassagen des Hochwaldes und des Prosastückes Aus dem bairischen Wald bedienen sich dieser Möglichkeit. Das zweite Verfahren führt Personen ein, die eine Wegbeschreibung geben, nach der sich der landesfremde Wanderer richten kann; gleich drei davon finden sich im Hagestolz.66 Bei beiden Vorgehensweisen entsteht eine erste Vorstellung einer Landschaft, eine, die noch ganz vage ist und allgemein. Angaben fallen darunter, die nur die Himmelsrichtung bezeichnen oder die Länge des Weges oder eine markante Landschaftsformation. „Nach Norden“ wird da gesagt oder auch: ein „Berg ..., der so aussieht, als ob er auf seinem Gipfel rote Steine hätte“.67 Der zweite Durchgang sieht dann so aus, dass die Dinge, die zum Zwecke eines ersten Zurechtfindens notdürftig gekennzeichnet waren, in Augenschein genommen werden. Und nun entfalten sie sich in der ganzen Vielfalt ihrer Erscheinung, sind ganz anschaulich präsent. Was in der Sprache der Bergbewohner und der Geographen nüchtern ein „Hals“ heißt, erweist sich als ein Standpunkt, der für Victor einen überraschenden und überwältigen64 65 66 67
Dieser Zusammenhang wird im Kp. über Fontane ausführlicher erläutert. So drückt sich Preisendanz treffend aus. Vgl. auch die Wanderung in Zwei Schwestern. Zwei Schwestern, S. 459.
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den Ausblick auf den See und die umliegenden Berge bereithält. Wovon also in den Wegbeschreibungen „nur im Allgemeinen geredet wurde“, konkretisiert sich zu den mit mannigfaltigen Eigenschaften ausgestatteten Gestalten. Die werden nun beschrieben, und nicht nur sie, beschrieben werden auch die Empfindungen, die sie im Betrachter hervorrufen. Aus der Kontrastierung der Wegmarkierung mit der unmittelbaren Anschauung erzielt Stifter eine genau kalkulierte Wirkung, die nämlich, dass die Naturerscheinungen in der ganzen Bestimmtheit ihrer Formen und Farben hervortreten. Und das hat seine Resonanz im Betrachter, dessen starke emotionale Reaktionen – „ergriffen“ ist er, „hingerissen“ und „entzückt“ – auch daher rühren, dass die ihm sich bietende Fülle abgesetzt ist gegen die Kargheit der ersten Vorstellung. Ihm geht es wie einem, der nach einer Landkarte läuft und erstaunt die auf ihr verzeichneten Höhenlinien als grandioses Bergmassiv identifiziert. Das Ganze, nach dem gefragt war, entsteht vermittelst der Fixpunkte, die zunächst markiert werden. In den so erstellten Plan können die ausführlich beschriebenen einzelnen Partien eingetragen werden. Die vorausgehende Übersicht weist einer jeden ihre Lage zu. Eine Beziehung zwischen den verschiedenen Teilen kann hergestellt werden; das Gebiet bekommt eine Gliederung und Struktur. Konkret vollzieht sich das in der Weise, dass ein Gang durch die Landschaft verfolgt wird. Der wird aber immer wieder angehalten, dann, wenn eine besondere Szenerie die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, und es sind natürlich die Aussichtspunkte, die zu solchem Verweilen auffordern. Es entsteht so eine Reihe von Ansichten, aber nun nicht so, dass jede einen isolierten Abschnitt darböte, sondern immer herrscht Klarheit darüber, wie er sich in das Ganze einfügt. Der Blick auf den See, die Sicht auf die Berge, der Prospekt einer weiten Ebene – sie stehen in einem Verhältnis zueinander. Und daraus geht das Bild einer Landschaft hervor, das von großer Anschaulichkeit und Geschlossenheit ist. Es entsteht, nun mit dem Ausdruck Humboldts, ein Naturgemälde. Der Böhmerwald oder die Gegend des Traunsees, plastisch steigen sie auf in der Vorstellung. Die einzelnen Ansichten, die in die großangelegten Landschaftsdarstellungen eingelassen sind, bilden selbst wieder Einheiten, die ihre eigenen Aufbauprinzipien haben. Kompositionen in der Komposition sind sie, und es versteht sich, dass solche Bilder auch für sich stehen können in Stifters Prosa. Die Aneinanderreihung von Naturdingen ergibt noch kein Landschaftsbild. Mit der Erschließung des Raums durch die Malerei muss diese die Aufgabe bewältigen, herauszustellen, wie sich die singulären Gestalten verbinden und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Die Landschaft geht aus dem geistigen Akt hervor, der aus separierten Naturerscheinungen ein Ganzes entstehen lässt. Die Dichtung ist der
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bildenden Kunst gefolgt, d.h.: sie muss wie diese sich an gewisse Forderungen des Genres halten. Einfache Aufzählungen gibt es bei Stifter. Diese sind noch keine Landschaften im eigentlichen Sinne, und sie haben ihm Kritik eingetragen.68 Man muss allerdings berücksichtigen, dass diese Reihungen bestimmten Motiven und Funktionen unterstehen. In Katzensilber beispielsweise wird deutlich gemacht, wie Kinder sich einen Naturraum erschließen, und es wird einfach aufgelistet, was sie sehen. Die Aufzählungen im Witiko sind Ausdruck einer historisierenden Stilisierung, über deren Gelingen man streiten kann. Verschiedentlich finden sich bei Stifter Landschaften von einem ganz einfachen Typus. Geradezu schulmäßig sind sie zu nennen, deshalb, weil sie fast schematisch die traditionelle Gliederung in Gründe vornehmen. Die Sonne war schon tief gesunken, fast in die Mitte des letzten Vierteiles ihrer Bahn. Es lagen unter mir die einfärbigen, falben Stoppeln der abgemähten Getreidefelder – jenseits derselben stand der einsame Kirchturm und die Häuser des verlassenen Pirling, und weiter zurück der blaue, duftige Wald, in welchem das Eidun und meine Heimat ist. In dem Tale konnte man die Siller erblicken, aus welcher die schief stehende Sonne dahin rinnendes, geschlängeltes Silber machte.69
Vor sich hat man ein Landschaftsporträt, denn mit ‚Pirling‘ ist ‚Friedberg‘ in Böhmen gemeint. Der Standpunkt des Betrachters ist festgehalten; er liegt in mäßiger Höhe über dem vor den Blicken sich ausbreitenden Tal. Den Vordergrund nimmt ein Stoppelfeld ein. Im Mittelpunkt erheben sich der Kirchturm und die Häuser der Ortschaft. Sie geben einen Blickfang ab, der die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Durch den Kirchturm bekommt das Bild eine Gliederung in der Senkrechten. Diese Szenerie hebt sich ab gegen den Hintergrund; ihn bildet der Wald. Die Gründe werden zusammengehalten durch den Fluss, der sich durch das Bild zieht. Und alles ist in das Licht der untergehenden Sonne getaucht. Das Bild ist von schlichter Gegenständlichkeit. Nur ein Gefühlston mischt sich ein. Das Wort „Heimat“ fällt, aber es bleibt bei einer Andeutung. Aber dann ist es das Licht, das Licht und die Farben, aus denen Stifters Naturdarstellungen gemacht sind.70 Der virtuose Einsatz dieser Mittel bestimmt die Eigenart seiner Landschaftskunst; sie erreicht da68 Noch von Arno Schmidt; vgl. 1achrichten von Büchern und Menschen, a.a.O., Bd. 2, S. 132f. 69 Mappe, S. 618. 70 Einen Überblick über die Möglichkeiten Stifters, eine bildliche Einheit zu schaffen, gibt Herbert Seidler. Vgl. H.S., Die 1atur in der Dichtung Stifters, VASILO 17/3.4., 1968, S. 223ff.
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mit ihre Höhe. Und wenn Kenneth Clark sagt, die „wesentliche Gabe“ des Landschaftsmalers sei „die feinfühlige Empfindsamkeit für das Licht“71, so hat Stifter diese Gabe besessen. Es ist die Behandlung der Farben und des Lichts, die das eminent Malerische seiner Landschaften ausmachen. Ganz anders ist etwa Goethes Manier, wenigstens in den Wahlverwandtschaften. Sie ist eher zeichnerisch. Klar treten die Linien und die Konturen der Landschaftsformationen hervor. Bei Stifter dagegen haben sich die Gegenstände nahezu verflüchtigt, oder sie bestehen nur aus Licht und Farben wie in der folgenden Darstellung: In allen Stufen des matten Grün, Grau und Blau lag das fabelhafte Ding hinaus; schwermütig dämmernde, schwebende, webende Tafeln von Farben stellten sich hin, und die Felsen rissen mattschimmernde Lichtzuckungen hinein; und wo das Land bloß lag, und etwa nur Sand und Gerölle hatte, drangen Flächen fahlen Glanzes oder sanft gebrochene Farbtöne vor. Draußen über allem duftete ruhig und schwach rötlich ein Berg, der die roten Steine enthalten mochte, von denen der Greis gesprochen hatte. Von ihm gingen zwei langgestreckte feurige Wolkenbänke weg, die von der bereits zum Untergang neigenden Sonne angezündet waren, und das schwache trübe Grün des südlichen Himmels neben sich hatten, das so sanft glänzte, und oben in ein flammendes Blau überlief. Alles das hätte schon genügt zu der Größe des Bildes: aber weit links von mir lag noch zwischen den Felsen ein grauer sanfter Strich durch den Himmel, der die Ebene der Lombardie war.72
Nahezu leer wirkt das Bild; eine „Öde“ hält es fest. Stifter ist sich bewusst, wie ungewöhnlich und neu das ist, wenn er anmerkt, dass die Maler „diese Dinge noch nicht gemalt“ hätten; dergleichen abzubilden, könnten sie sich nicht einmal als Aufgabe denken. Gerade aber die Ausgeräumtheit der Landschaft lässt die Farben als solche aufleuchten. Sie erscheinen als losgelöst von den Dingen, sind keine Dingfarben mehr, sondern da in einem freien Spiel. Das kommt dem nahe, was Stifter einmal als „Musik für die Augen“ bezeichnet hat.73 Ganz fasziniert ist er davon, wie das Licht die Farben hervorbringt, wie es sie erglänzen oder auch sie ermatten lässt. Was er anlässlich der Sonnenfinsternis von 1842 so eindringlich beschrieben hat, dass nämlich aus der Heraufkunft des Lichtes die Welt in ihrer Buntheit hervorgeht und dass sie mit seinem Untergang versinkt in die Wesenlosigkeit, das findet sich auch sonst in seinen Naturschilderungen. Sie folgen den Nuancierungen des Kolorits, die die Veränderung der Beleuchtung bewirkt. Der Abend ist daher ein beliebtes Motiv von Stifter, ebenso wie das Vorrücken des Tages. Wie viele Maler liebt er die Hell-DunkelKontraste. Das hat auch mit seinem bevorzugten Gegenstand zu tun, 71 A.a.O., S. 23. 72 Zwei Schwestern, S. 461f. 73 In der Beschreibung der Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842.
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mit dem Wald. An ihm zeigt sich auffällig, was Constable meinte, als er vom „Helldunkel der Natur“ sprach.74 Immer wieder hat Stifter das Entzücken ausgedrückt, das sich einstellt, wenn das Licht aus dem verdämmernden Hintergrund des Waldes einzelne Gegenstände herausholt. Es war „ein plötzlich um die Ecke brechender Sonnenstrahl, der die Büsche vor ihr in seltsames grünes Feuer setzte und aus unsichtbaren Waldwässerchen silberne Funken lockte.“75 Polychrome Effekte entstehen auch dadurch, dass die beleuchteten Gegenstände Schatten werfen. Deren Farbigkeit gewahrt Stifter, sieht also, dass diese nicht einfach nur dunkel sind. Die Farben begreift er als „Klänge“, und viele seiner Bilder sind Kompositionen aus solchen Klängen.76 Die Abstufungen der Farben, die Schattierungen, die Kontraste, sie stimmen zusammen zu einer Einheit, die hervorgegangen ist aus dem Licht.77 Was schon erwähnt wurde ist, dass Stifters Landschaften die Bewegung in sich aufgenommen haben, sie sind also nicht statuarisch. Die bewegte Landschaft ist eigentlich eine Entdeckung des ‚Sturm und Drang‘. Dieser begreift eine Naturszenerie nicht mehr nur als Schauplatz, vor dem als ruhenden Hintergrund Personen agieren. Dadurch, dass die Landschaft mobil wird, wird sie expressiv, d.h.: sie erlangt die Eignung, Gefühle ausdrücken zu können. Diese Möglichkeit der Expression haben die Klassiker und Romantiker übernommen. Man muss nun allerdings zugucken, wie das Prozesshafte in der Natur aufgefasst wird. Die Stürmer und Dränger haben gleich ganze Landmassen verrückt. Da geraten Berge ins Wanken oder Täler schmiegen sich an jemanden an. Das hat schon etwas arg Gewaltsames.78 Derartiges gibt es bei Stifter nicht. Bei aller Kühnheit, die zuweilen, wie gezeigt, die Dinge in den Farben nahezu aufgehen lässt, herrscht doch meistens eine klare Gegenständlichkeit vor. Diese verstärkt sich noch im Laufe der Zeit, so dass Stifter in den späteren Jahren dazu neigt, die Dinge schmucklos und sperrig einfach nur aufzuführen. Das Vorgängige in den Bildern kommt von den beweglichen Teilen der Landschaft, das machen die ziehenden Wolken, das wechselnde Licht, der Wind und der Lufthauch. Auch das Fortschreiten der Jahreszeiten bedingt Veränderungen wie beim Schneeberg in Bergkristall, dessen Zinnen und Wände in den Zeichnungen und Farben des Sommers wie des Winters gezeigt werden. 74 Zitiert nach Clark, a.a.O., S. 40. 75 Hochwald, S. 218. 76 Vgl. dazu Kalkstein, S. 76 f; hier findet sich auch der Beleg für die Farbigkeit der Schatten. 77 Es ist Ernst Bertram gewesen, der Stifters Behandlung der Farben und des Lichts beschrieben und gewürdigt hat. Vgl. E.B., Studien zu Adalbert Stifters 1ovellentechnik, Dortmund ²1966, S. 50–67. 78 Hier sei noch einmal auf die oben zitierten Arbeiten von August Langen verwiesen.
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Stifter folgt darin einer Tendenz zur Verzeitlichung, die der realistischen Kunst insgesamt innewohnt. Diese beginnt überhaupt erst damit, dass Zeit und Ort exakt bestimmt werden.79 Im Unterschied zum ‚Sturm und Drang‘ ist die Zielsetzung aber nicht die, eine Expression des Seelischen zu erreichen. Der Realismus begreift Veränderung als Modus der Gegenständlichkeit und will das darstellen. Diese Entwicklung gipfelt im Impressionismus, der das Augenblickshafte, das bloß Vorübergehende einzufangen sucht. Da nun aber die Bilder eine Folge nicht darstellen können, muss sich der Künstler behelfen, etwa in der Weise, dass er eine Serie von Abbildungen herstellt, die dasselbe Motiv in wechselnden Farben und Stimmungen zeigen, wie es Lovis Corinth mit seinen Walchensee-Bildern gemacht hat. Stifter selbst hat in seinen Gemälden den Zeitbezug so aufgenommen, dass er die Gegenstände in einem tages- und jahreszeitlich bestimmten Licht erscheinen lässt.80 Die Dichtungen aber gehen dem zeitlichen Verlauf nach und stellen ihn dar: Da dieses Geschäft vollendet war, saß der Wanderer, der das Ziel seiner Reise erreicht zu haben glaubte, heute zum ersten Male in der einfachen Herberge des freien Himmels, und schaute die Gegenstände um sich herum an. Die Berge, die schönen Berge, die ihm, da er gegen sie herankam, gar so sehr gefallen hatten, wurden immer schwärzer, und legten drohende dunkle und zersplitterte Flecke auf den See, auf welchem noch das Blassgold des Abendhimmels lag, das selbst in den dunklen Bergspiegelungen zuweilen aufzuckte. Und immer sonderbarer, in die Schatten der Nacht sich hüllend, wurden die Gegenstände um ihn herum. Die Schlacken und das schwache Gold des Sees rührten sich und flossen öfters durcheinander, zum Zeichen, dass ein sanfter Luftzug dort herrschen müsse. Victors Auge, freilich nur an die schönen heiteren Eindrücke des Tages gewöhnt, konnte sich doch auch nicht wegwenden von diesem allmählichen Verfärben der Dinge und von dem Einhüllen zur Ruhe der Nacht.81
Blickt man zurück auf Stifters Landschaften, so bleibt ein genereller Eindruck, der einer in sich ruhenden Landschaftsformation, auf der sich Veränderungen abzeichnen. Die ausgedehnte Fläche eines Sees kann das sein oder ein aufragendes Bergmassiv oder ein weit hinausliegendes Waldgebirge. Sie stehen da in unterschiedlicher Beleuchtung, bald scharf herausgeschnitten aus dem Hintergrund, bald zurücksinkend ins Dunkel. Das Licht geht über sie hin und lässt unterschiedliche Farben und Farbnuancierungen aufscheinen. Und gedrückt sind sie von den auf ihnen lastenden Wolken oder auch erhoben vom Wolkenzug und hineingenommen in ihn. Die Darstellung im Bild und die im Wort geben doch jeweils anderes her, und ein Vergleich ist nicht ohne weiteres möglich. Sinnvoll ist 79 Vgl. dazu Steingräber, a.a.O., S. 327. 80 Vgl. dazu die schon zitierte Untersuchung zu Stifters Bildern von Novotny. 81 Hagestolz, S. 282f.
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der ohnehin nur, wenn er nicht beliebig bleibt, sondern wenn die Eigenart des einen durch den Blick auf das andere Medium klarer hervortritt. Im Falle Stifters ist das einträglich. Der Vergleich eröffnet das Verständnis für den Bildaufbau, die Darstellungsmittel und die spezifische Sichtweise. Und er macht auch die besondere Leistung der Schriftstellerei gegenüber der Malerei deutlich. Stifters Naturschilderungen weisen ihn als Vertreter der realistischen Landschaftskunst aus. Das ist einfach zu begründen. Die Anfertigung von Landschaftsporträts und die Tatsache, dass er sich weitgehend ans Sichtbare gehalten hat, belegen das zur Genüge. Ihn mit der romantischen Malerei in Verbindung zu bringen, etwa mit Caspar David Friedrich, verfehlt die Eigenart der Stifterschen Naturbeschreibungen.82 Insbesondere die Behandlung von Farbe und Licht zeigen Stifter als einen, der auch in manchen seiner schriftstellerischen Arbeiten eine Richtung einschlägt, die 1ovotny in den Gemälden seiner frühen Phase ausgemacht hat, die des „Frühimpressionismus“.83 Im übrigen teilt Stifter die Bestrebungen der zeitgenössischen Landschafter. Mit einigen von ihnen hat er freundschaftlichen Umgang, so mit Johann Fischbach. Einen prominenten Vertreter der ‚Wiener Schule‘ schätzt er, das ist Gauermann. Auch nach München unterhält er Kontakte. Dass Stifters schriftstellerische und malerische Arbeiten nicht aufgehen in der schieren Wirklichkeitstreue, dass in ihnen auch Stimmungshaftes und Symbolisches angelegt ist, soll hier lediglich erwähnt werden. Die Natur ist nicht disponibel, das ist die Lehre des Realismus. Sie tritt dem Menschen gegenüber als eine Wirklichkeit, die ihre eigenen Formen und Gestalten hervorbringt und nur ihren Gesetzen gehorcht. In der künstlerischen Praxis folgt daraus, dass auf den Darstellungen Landschaftsindividualitäten erscheinen, Gegenden mit bestimmten Zügen und ganz eigenen Bedingungen. Das ist die Natur, auf die die epischen Spieler in Stifters Werken treffen. Sie ist also nicht bloß ein mit Lokalkolorit ausgestatteter Schauplatz, auch nicht der Resonanzboden innerer Regungen. Sie ist ein autonomer Bereich, mit dem sich die Helden auseinandersetzen, indem sie ihn erkunden, ihn abbilden, ihn bearbeiten, sich seiner Macht erwehren oder sich seinem Walten anvertrauen.84 Daraus bestimmt sich dessen Funktion im Kontext des Erzäh82 Dergleichen findet sich in der Stifter-Literatur, z.B. bei Werner Thomas, Stifters Landschaftskunst in Sprache und Malerei, in: Der Deutschunterricht, Jg. 8 (1956), Heft 3, S. 12f. 83 Novotny, a.a.O., S. 17. 84 In der Literatur über Stifter hat der schon zitierte Aufsatz von Preisendanz dahin gewirkt, dass sich dieses Verständnis für die Bedeutung der Natur in Stifters Erzählen durchgesetzt hat. Eine ähnliche Sicht findet sich bei Heinrich Mettler, 1atur in Stifters frühen ‚Studien‘. Zu Stifters gegenständlichem Stil, Zürich – Freiburg i.Br. 1968. Dort heißt es: 1ichts Persönliches, nichts Menschliches wird in sie [die 1atur] hineingelegt.
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lens. Die Natur und ihre Erscheinungen sind selbst Mitspieler, zwischen ihnen und den übrigen Figuren entwickelt sich die Handlung. Dieses Verhältnis wird besonders deutlich in der Geschichte Bergkristall aus den Bunten Steinen. Was sich zunächst liest als eine der üblichen Einleitungen in eine Erzählung, wird schon bald mehr als eine gewöhnliche Ortsbeschreibung. Beherrschend erhebt sich über der Ansiedlung der Talbewohner der Berg, dessen mitleidslose Gewalt schon bald das Leben zweier Kinder bedrohen wird, und das ist der Inhalt der Erzählung. Was Stifter über ein Landschaftsgemälde von Fischbach sagt, trifft ebenso gut auf seine Naturbeschreibungen zu. Die Figuren sind so groß und bedeutend, dass das Bild keine Landschaft ist, und doch ist die Landschaft so wenig als unbeachtetes Beiwerk behandelt, dass sie im Gegenteile dem Ganzen erst recht den tiefsten Ernst gibt. Durch diese wechselseitige Durchdringung menschlichen Handelns und Waltens der Natur entsteht gerade die fast großartige Einheit, die diesem Bilde innewohnt. Gewöhnlich ist in sogenannten Genrebildern das Landschaftliche so dürftig erfüllt, oder in Landschaften die Staffage so nichtssagend, dass uns beides nicht in der Seele berührt, während hier sich beide gelten machen, und doch beide sich zu einem Ganzen verbinden.85
Zurückzukommen ist noch einmal darauf, dass Stifters Naturverständnis von der Beschäftigung mit der Wissenschaft geprägt ist. Nach seiner Einschätzung befindet sich diese erst in einer Phase des „Sammelns“; sie sei noch nicht zur eigentlichen Erkenntnis vorgedrungen. Die bestünde im Aufdecken der „Ursachen“. Ungebrochen ist Stifters Glauben an den Fortschritt der Wissenschaften. Den Freiherrn von Risach lässt er sich eine zukünftige Welt vorstellen, die revolutioniert ist durch die Nutzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse.86 Vom Forschergeist beseelt sind viele Figuren Stifters. Unermüdlich sind sie im Zusammentragen und Sichten von Pflanzen und Steinen. Sie tun etwas, das im Biedermeier sehr in Mode kam, sie legen Naturalienkabinette an. Das ist die Gesinnung, aus der im 19. Jahrhundert die naturkundlichen Museen gegründet wurden. Und ganz richtig wird ein solches in der 1arrenburg eingerichtet.87 Dort ist die Welt inventarisiert, um sie sich endlich bekannt zu machen. Das sonst Auseinanderliegende ist hier Diese Aussage wäre allerdings zu relativieren. Jedenfalls ist die Einsicht da, dass Stifter reale Naturpartien wiedergibt. Schon Joachim Müller hatte darauf hingewiesen; vgl. Der Mensch in der Landschaft. Zu A. Stifters dichterischer 1aturdarstellung, Wiss. Z. d. Univ. Jena, Jg. 5 (1955/56), gesellsch.- u. sprachwissenschaftliche Reihe ,Heft 6, S. 641. Dieser Blick auf Stifters Werk weist ein Deutungsmuster zurück, das in Stifters Naturbeschreibungen nur Symbolhaftes sehen will. Die Untersuchungen von Enzinger sind dafür ein Beispiel. 85 Brief an Aurelius Buddeus vom 21. August 1847, Insel, Bd. IV, S. 220. 86 Vgl. dazu 1achsommer, S. S. 520f. 87 Vgl. S. 414.
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versammelt, die große Natur auf Proben gezogen und einsortiert in Archivschränke. Mit penibler Akribie versucht man, der andrängenden, überwältigenden Fülle Herr zu werden. Auf eine Ordnung gebracht, sollen die Dinge verfügbar sein. Und doch hat man die Natur nur als toten Hausrat. Die Erkenntnis der Natur muss aber über die bloße Bestandsaufnahme hinausgehen. Ihr Ziel ist es, an die Gesetze zu gelangen, nach denen das natürliche Geschehen abläuft. Hier nun stellt sich Stifter ganz auf den Standpunkt der empirischen Wissenschaften. Haltlos ist für ihn die philosophische Spekulation, auch die des Idealismus. Worauf es ankommt, ist die Erhebung exakter Daten durch die systematisch betrieben Beobachtung und das Experiment.88 Diese Zurichtungen laufen hinaus auf eine zahlenmäßige Erfassung der Natur. Davon redet Stifter, wenn er meint, dass die „Bewegungsgesetze der Körper leicht rechenbar“ seien. Die Forschung erhält die Natur zurück als nacktes Zahlenwerk. Die Kehrseite davon ist, dass die „wunderbare Magie des Schönen“ aus ihr gewichen, wie Stifter sogleich bedauernd hinzusetzt.89 Es ist das mechanistische Weltbild, das sich auch bei Stifter durchgesetzt hat. Die Natur ist ein Bereich durchgängiger Determiniertheit. Mit eherner Notwendigkeit bewegt sie sich, ganz wie das Uhrwerk, nach dessen Bild man sie sich gedacht hat. Und bezeichnenderweise führt auch Stifter das Beispiel der Uhr an.90 Die Welt regiert das Gesetz von Ursache und Wirkung, das keine Ausnahme duldet und keine Freiheitsgrade zulässt. Diese Auffassung verdüstert aber den sonst herrschenden Fortschrittsglauben. Es entsteht nämlich eine Geisteshaltung, die sich lähmend auf das Denken und Handeln legt, der Fatalismus. Dieser hat seinen Grund in einer Annahme über den gesetzmäßigen Zusammenhang von Zuständen oder Ereignissen. Sie beläuft sich darauf, dass für das Geschehen in der Welt allein die Wirkursachen oder causae efficientes verantwortlich seien. Danach gibt es keine Ziele in der Natur. Radikal revidiert die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts die Vorstellung, naturhaftes Geschehen könne nach Zwecken ausgerichtet sein oder es gehorche Plänen und Absichten. Es wird in seinem Ablauf einzig beherrscht von den am Anfang wirkenden Kräften, ganz so, wie ein Stoß die Bahn und die Geschwindigkeit einer Kugel steuert. Für das mechanistische Erklärungsmodell gibt es demnach keine Teleologie der Natur. Hierin setzt sich nur durch, was in der neuzeitlichen Wissenschaft seit Descartes das Denken bestimmt hatte. Eine andere Auffassung hat nur der Idealismus vertreten. Und wenn für die mechanistische 88 Vgl. 1achsommer, S. 119. 89 Insel, Bd. IV, S. 191. 90 Ebd., S. 149.
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Naturerklärung die Uhr das Grundbeispiel ist, so ist es für den Idealismus das des lebendigen, sich entfaltenden Organismus. Die Finalität, die er in der Natur gewahrt, erlaubt es ihm, auch in diesem Bereich von ‚Freiheit‘ zu reden. Die Naturdinge folgen ihrer Bestimmung, sie setzen sich ein in ihr Wesen. Von Pflanzen und Tieren in Südamerika sagt Humboldt, sie seien „frei“, und das heißt: „nur durch sich selbst beschränkt“.91 Goethe gibt diesem Gedanken den Ausdruck, dass sich die „Lebenskraft“ in der Entfaltung eines Geschöpfes „äußere“.92 Damit ist der Unterschied markiert zu der Wissenschaft, welcher Stifter anhängt. Wo diese nur auf blinden Zwang erkennen kann, gewahrt der Idealismus die Freiheit der Selbstentwicklung. In ihm wirkt der EntelechieGedanke des Aristoteles nach, dem zufolge ein Prozess ein Ziel in sich trägt. Anders will es die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Und sie sieht den Menschen hineingezogen in die unaufhaltsame Folge der Ursachen und Wirkungen. Ohne dass es für ihn einen erkennbaren Sinn gäbe, nimmt die Natur ihren notwendigen Gang. Ihre Gesetzlichkeit fragt nicht nach den Zielen der Menschen, sie kennt weder Glück noch Unglück. Gleichgültig geht sie über die Menschen hin. Ihr ausgeliefert ist der Jude Abdias in der gleichnamigen Erzählung. Die blinde Schicksalhaftigkeit, die sich an ihm vollzieht, gewinnt ein milderes Ansehen allein durch den Gedanken, den Stifter der Geschichte vorausgeschickt hat. Es ist der, dass Gott die erste Ursache ist; von ihm nehmen die Ereignisse ihren Ausgang, sind also letzten Endes seine Fügung. Im Bild der „Blumenkette“, die Glied um Glied auf Gott zurückführt, bekommt der Kausalnexus ein nahezu heiteres Gepräge.93 Dennoch sind es handfeste Naturereignisse, sind es die „Naturgesetze“, die Abdias treffen und ihn niederwerfen.94 Es ist die Objektbezogenheit, die Hingegebenheit an den Gegenstand, die in den Fatalismus führt. Das belegt die ähnliche Entwicklung beim sonst Stifter so wesensfremden Zeitgenossen Georg Büchner. Auch bei ihm ist es die Ausrichtung an der positivistischen Naturwissenschaft, die ihn dazu bringt, den Menschen zu sehen als eingespannt in ein undurchschaubares Getriebe. „Die Natur folgt ruhig und unwi91 Ansichten der 1atur, a.a.O., S. 13. 92 Hier sei auf die Darstellung von Goethes Naturforschung im Kp. I, 2 verwiesen und auf Kants Vorstellung einer Teleologie der Natur im Kp. I,5. 93 Zum Bild der ‚Kette‘ vgl. die Publikation zur Ausstellung im Bezirksmuseum Krumau 1990, in: VASILO (Vierteljahresschrift des Stifter-Instituts Linz), Jg. 39/1990, Folge 1/2, S. 108. 94 Kurt Mautz will in dem, was Stifter als Wirken der Natur beschreibt, partout gesellschaftliche Kräfte am Werke sehen. Wenn man die Bedeutung der Natur bei Stifter berücksichtigt, kann man dem kaum folgen. Vgl. K.M., Das antagonistische 1aturbild in Stifters Studien, in: Stiehm, a.a.O., S. 23–55.
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derstehlich ihren Gesetzen; der Mensch wird vernichtet, wo er mit ihnen in Konflikt kommt“, heißt es in Dantons Tod.95 Und vorher lässt Büchner Danton sagen: „Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!“96 Die entsetzliche Einsamkeit, die Lenz in Büchners Novelle inmitten der Natur empfindet, hat ihren Grund darin, dass sich die Natur dem Menschen entzogen hat. Sie ist von einer schneidenden Kälte gegenüber allen menschlichen Regungen. Das ist ein Gefühl, das Stifter nur zu bekannt war. Die rückhaltlose Anerkennung der als Kausalkette gedachten Naturgesetzlichkeit führt dazu, dass die Vorstellung eines selbstbestimmten Subjekts sich zersetzt – eine Gefahr, vor der die Idealisten gewarnt hatten. Wie Fichte in der Bestimmung des Menschen dartut, kann der Determinismus nur zu dem Schluss kommen, dass das Ich einer fremden Macht unterworfen ist. „Ich selbst mit allem, was ich mein nenne, bin ein Glied in dieser Kette der strengen Naturnotwendigkeit.“97 Stifter entgeht der Konsequenz dieses Denkens nur durch seine Religiosität. Sie musste sich allerdings gegen Widerstände durchsetzen. Die Spuren dieses Prozesses sind in seinen Werken auszumachen. Ganz unverstellt spricht sich der Fatalismus in der Urfassung der Mappe meines Urgroßvaters, in der sogenannten Urmappe aus. Davon gereinigt ist aber schon die erste, die als Studienmappe bezeichnete Überarbeitung. Schließlich gewinnt er die Überzeugung, dass die Natur die Offenbarung Gottes vorstelle, ihre „Gesetze seien sein glänzendes Kleid“.98 Die Wissenschaft sieht er nicht in einem Gegensatz zur Religion; ihre Erkenntnisse verweisen auf die göttliche Ordnung hinter den Erscheinungen. Galileis Rede vom „Buch der Natur“ deutet er um in die vom „Buch Gottes“, dessen Buchstaben „die Steine und die Blumen und die Lüfte und die Sterne darstellen“.99 Und schließlich eröffnet sich ihm die Idee einer großen Symbiose: Kunst und Wissenschaft arbeiten an einem Werk, an dem, die „Wunder Gottes aufzutun“; Kunst und Wissenschaft stehen im Dienste der Religion.100 Mit diesen Überzeugungen steht Stifter in den Traditionen, in denen er erzogen wurde, in denen der katholischen Kirche. Diese kennt eine theologia naturalis. Anders als im Protestantismus ist darin die Entgegensetzung von Diesseits und Jenseits gemildert zu der Lehre, dass Gott sich auch in seiner Schöpfung zeige. Die Natur ist demnach eine Quelle der Offenbarung Gottes; sie stellt eine Manifestation seiner Ordnung 95 96 97 98 99 100
2. Akt, 6. Szene. Ebd. Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen, Hamburg 1962, S. 15. Insel, Bd. IV, 196. 1arrenburg, S. 330. Insel, Bd. IV, S. 14, S. 126f.
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dar. Und für Stifter ergibt sich kein Bruch zwischen seinem religiösen Bekenntnis und seinem naturwissenschaftlichen Denken.101 Was den Menschen betrifft, so ist er in der Lage, die göttlichen Setzungen zu erkennen. Seine Pflicht ist es, sich in sie einzufügen. Was von ihm verlangt wird, kann er aus der Natur herauslesen. Die sittlichen Werte gründen demnach nicht in sich selbst. Sie existieren in der Ordnung des Seins und empfangen daraus ihren Sinn und ihren Inhalt.102 Es liegt im Bereich der menschlichen Freiheit, sie zu realisieren. Der Mensch verfehlt das ihm Aufgetragene, wenn er sich den objektiven Maßgaben widersetzt. Auch hierin schließt sich Stifter der Tradition an. Der Gedanke, die Natur als Norm aufzufassen, hat seine Entsprechung in der von der katholischen Theologie vertretenen Ordnungsethik. Aber ganz so bruchlos geht Stifters Denken nicht auf. Allzu beschwörend wirkt die ständige Hervorkehrung der Ordnung, so als ließe sich das Zerstörerische und Sinnlose nur mühsam niederhalten. Dieser Komplex wird geradezu zur Manie. Über vierzig Mal fällt der Begriff ‚Ordnung‘ im 1achsommer, und an die achtzig Mal wird der Begriff ‚rein‘ oder ‚Reinheit‘ benutzt. Filzpantoffeln, die die kostbaren Fußböden des Freiherrn von Risach schützen sollen, werden zum wichtigen Utensil. Immer, wenn es darum geht, die Kunstwerke im ‚Rosenhaus‘ zu bewundern, tauchen prompt die leidigen Filzpantoffeln auf. Kleinbürgerliche Vorstellungen von Aufgeräumtheit und Wohlanständigkeit spielen da hinein, sicherlich, aber es steckt auch ein Wissen um Gefahren darin, denen Stifter die Ideale des Maßes und der Mäßigung, des Reinen und des Einfachen entgegensetzt. Er weiß sich diesbezüglich einig mit Goethe. Mit ihm teilt er auch das starke Interesse an der Natur. Diese Nähe hat man immer wieder hervorgehoben, auch Stifters Selbststilisierung in späteren Jahren ging dahin.103 Er sei zwar „kein Göthe aber einer aus seiner Verwandtschaft“, sagt er von sich.104 Trotz mancher Übereinstimmungen darf aber der wesentliche Unterschied zwischen den beiden nicht übersehen werden. Dieser bezieht sich vor allem auf den Naturbegriff. Die, mit einem Begriff Stifters, ‚rechnende‘ Wissenschaft neutralisiert die Erkenntnis; sie will Daten erheben, die unabhängig vom unter101 Die Einflüsse der Schule auf Stifters naturwissenschaftliche Bildung werden sehr aufschlussreich dargestellt in der schon zitierten Publikation zur Ausstellung in Krumau. Hier erfährt man auch etwas über die reiche Ausstattung des Stiftes Kremsmünster mit naturkundlichen Sammlungen und wissenschaftlichen Geräten. Offensichtlich hat Stifter davon zahlreiche Anregungen empfangen. 102 Stifter hat sich in der Vorrede zu den Bunten Steinen dahin gehend ausgesprochen; schon im Hochwald finden sich gleichlautende Äußerungen. 103 So sagt Bruno Hillebrand, dass die „Wirklichkeitstreue“ Stifter und Goethe verbinde. Vgl. Mensch und Raum im Roman, München 1971, S. 181. 104 Brief an Heckenast vom 13. Mai 1854, Insel, Bd. IV, S. 273.
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suchenden Subjekt existieren. Goethe hatte gerade das kritisiert, damit, dass dadurch die Beziehung zum Betrachter unterschlagen werde. Seine Argumentation läuft auf eine lebensweltliche Begründung der Naturerkenntnis hinaus. Die Naturerscheinungen müssen gesehen werden in ihrem Verhältnis zum aufnehmenden Subjekt. Erst in dieser Beziehung entfalten sie Eigenschaften, die anders an ihnen nicht hervortreten. Der Mensch ist hineingestellt in ein Beziehungsgefüge; die Dinge zeigen sich in ihrer Bedeutung für ihn nur, wenn die hier herrschenden Proportionen bewahrt werden. Die Aufhebung dieses Zusammenspiels führt zum Sinnverlust, die Gegenstände entziehen sich. Das ist der Fall, wenn Instrumente das Schauen verändern. Jeder Eingriff verfälscht und verzerrt die vorgegebenen Relationen. Aus diesem Grund macht Wilhelm Meister einem Astronomen, der ihn durch sein Teleskop hat blicken lassen, diese Vorhaltungen: Ich weiß nicht, ob ich Ihnen danken soll, dass sie mir dieses Gestirn so über alles Maß näher gerückt. Als ich es vorhin sah, stand es im Verhältnis zu den übrigen Unzähligen des Himmels und zu mir selbst; jetzt aber tritt es in meiner Einbildungskraft unverhältnismäßig hervor, und ich weiß nicht, ob ich die übrigen Scharen gleicherweise herauszuführen wünschen sollte. Sie werden mich einengen, mich beängstigen.105
Stifter dagegen verschreibt sich den Methoden der experimentellen Wissenschaft. Sie setzt Instrumente ein, die die Wahrnehmung bei weitem überbieten an Präzision und an Reichweite. Dadurch ist ein Vorstoß ins Unbekannte möglich, in einen Bereich, in den die Anschauung nicht hineinreicht. Emphatisch feiert Stifter diese Möglichkeiten, und besonders fasziniert ist er von dem Instrument, das wie kein anderes den Fortschritt der Wissenschaft befördert hat, vom Fernrohr. Er redet sogar davon, dass „wir durch Gläser…Weltsysteme... aus ihrem Himmel ziehen“ könnten.106 Das Teleskop ist das Instrument Galileis und der frühen neuzeitlichen Wissenschaft, eines, das Einblicke in die Himmelsmechanik eröffnete und das Weltbild revolutionierte. Mit seiner Verwendung setzte sich eine Einstellung durch, die eine prinzipielle Umstellung der Naturforschung bedeutete. Sie besteht in der Einsicht, dass die Natur nicht von selbst sich dem fragenden Subjekt öffnet. Dieses muss vielmehr Vorkehrungen treffen, damit sie sich ihm offenbart.107 Das geschieht dadurch, dass zwischen den Menschen und die Dinge eine Apparatur geschaltet wird, die entweder den Horizont des
105 Wilhelm Meisters Lehrjahre, a.a.O., Bd. VIII, S. 120. 106 Feldblumen, S. 50. 107 Das hat vor allem Hans Blumenberg herausgestellt; vgl. Die kopernikanische Wende, Frankfurt/M. 1965, S. 122ff.
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Sichtbaren übersteigt oder, wie im Falle des Experiments, einen Vorgang unter kontrollierten Bedingungen ablaufen lässt. Rund dreißig Mal wird in Stifters Prosastücken das Fernrohr erwähnt. Immer figuriert es als Medium, das eine Verbindung herstellt zu entlegenen Welten. Für Tiburius im Waldsteig schließt es das bis dahin unbekannte Terrain des Waldes auf, und die Schwestern im Hochwald sehen durch es zum ersten Mal das Revier, das für sie mit den Schrecken der Wildnis verbunden ist. Im Falle des Hochwaldes bekommt das Fernglas sogar eine tragende poetologische Funktion; es stellt das Verbindungsglied der beiden Bereiche dar, zwischen denen die Erzählung ausgespannt ist, es verknüpft die Welt der Natur mit der der Geschichte. Was es mit ihm auf sich hat, zeigt das Benehmen Gregors. Dieser ist ein Naturkundiger, der sich auf die Sprache der Wildnis versteht. Als er durch das „zaubernde“ Rohr blickt, muss er ums „Begreifen ringen“. Die Knechte, auch solche Naturmenschen, reagieren mit „Erschrecken und Staunen“. Es wird auch gleich klar, woher dieses Verhalten rührt. Das „wunderbare Glas“ macht, dass alles „wildfremd“ erscheint.108 Das nämlich bewirkt jeder instrumentelle Eingriff: die natürlichen Proportionen werden verrückt, gestört ist das austarierte Verhältnis zwischen dem Menschen und den Dingen. Aber dieser Vorgang ist prinzipiell zu werten. Erkenntnis, wie sie die exakte Wissenschaft anstrebt, ist nur dadurch zu haben, dass die Dinge abständig werden. Die Verfremdung gewährt demnach Einblicke, die die lebensweltliche Ordnung gerade nicht hergibt. Der gewöhnliche Anblick der Dinge kann auf verschiedene Weise aufgehoben werden. Einmal, wie vorgeführt, durch den Einsatz von Instrumenten. Dann dadurch, dass ein ungewohnter Standpunkt eingenommen wird. Das schildert Stifter in der frühen Erzählung Der Condor. Die Beobachtungsplattform ist ein Ballon, der bis in den „höchsten Äther“ emporschwebt. Und nun kann man verfolgen, wie mit dessen Steigen der wohnliche Raum zu einer Öde wird, wie die Lebenswelt die Züge eines Totenreiches annimmt. Aus dem „wohlbekannten Vaterhaus“ der Erde werden „unbekannte phantastische Massen“, die „schöne blaue Glocke“ des Himmels verwandelt sich in einen „schwarzen Abgrund“ und die Sonne in „eine scharfgeschnittene Scheibe aus wallendem, blähendem, weißgeschmolzenem Metalle“.109 Die Bedeutung, die eine Erscheinung in der Vitalsphäre hat, fällt von ihr ab und zurückbleibt das harte physikalische Faktum. Die Sonne ist nichts anderes als geschmolzenes Metall, die Erde nur eine Masse.
108 Hochwald, S. 237–239. 109 S. 19.
Der große Wald – Adalbert Stifter 355
In charakteristischer Weise unterschiedlich erleben die Insassen des Ballons die Fahrt. Da ist eine junge Frau. Unvorbereitet schließt sie sich dem Unternehmen an. Schauer und Grauen erfasst sie, als sie in eine Region kommt, in der die Wertungen des menschlichen Sehens ausgesetzt sind. Ihr Fühlen läuft ins Leere, denn es ist nichts da, woran sie sich halten kann. Anders geht es den übrigen Besatzungsmitgliedern. Das sind zwei Wissenschaftler. In ihnen kommt Entsetzen nicht auf. Beschäftigt sind sie mit ihren Instrumenten. Wo die sinnliche Wahrnehmung versagt, gibt einzig die Anzeige der Apparaturen eine Orientierung. Sicher, den Heroismus der Wissenschaftler feiert Stifter, die Tapferkeit derer, die standhalten im Unbekannten und ins Unerforschte vordringen. Aber sie sind Gezeichnete, sie verleugnen ihre natürlichen Regungen und setzen auf die Künstlichkeit der technischen Vorrichtungen. Das kontrastiert mit der Frau, die ihre Menschlichkeit bewahrt hat. Endlich entsteht das Bewusstsein der Entfremdung daraus, dass die Natur selbst sich verwandelt. Es ist wieder der Vorgang, dass sich Vertrautes ins Unvertraute kehrt, nur dass jetzt diese Wendung nicht willentlich, nicht durch die Tat des Menschen herbeigeführt wird. Dergleichen vollzieht sich in den ungewöhnlichen Naturereignissen, deren Schilderungen auch auf Stifters Kritiker nachhaltigen Eindruck gemacht haben.110 Der ‚Eissturz‘ in der Mappe meines Urgroßvaters ist darunter, der ‚Hagelschlag‘ in Katzensilber und der ‚Schneefall‘ in Bergkristall. Unheimlich wird einem dabei, weil eine Gegend alle kenntlichen Züge verloren hat. Was man über die Natur zu wissen glaubt, erweist sich als hinfällig. Ganz „unergründlich“ ist sie. Vor allem aber bestätigt sich darin eine Grunderfahrung Stifters, die mit den schon berührten fatalistischen Tendenzen zusammenhängt. Die Natur kennt keine menschlichen Regungen. Ungerührt folgt sie nur den eigenen Gesetzen. Anziehend kann sie sein und gütig und im nächsten Augenblick schrecklich und zerstörerisch. Vollkommen gleichmütig vollbringt sie ein für den Menschen vernichtendes oder zuträgliches Werk. In den exzeptionellen Ereignissen zeigt sie sich von einer barbarischen Fremdheit. Gleichgültig und unbarmherzig ist sie in einer Weise, die das menschliche Fassungsvermögen übersteigt. Wie in allen Formen der Verfremdung offenbart sie auch in dieser eine bis dahin unbekannte Seite. Die Natur überwältigt den Menschen durch beides, durch ihre verschwenderische Pracht und durch ihre unbegreifliche Macht. Beide Seiten spricht eine Schilderung Stifters an; sie vereinigt die tragenden Elemente seiner Landschaftskunst. Die Darstellung folgt den Veränderungen des Lichts und erfasst die Farbigkeit der Erscheinungen, auch 110 Anerkennend spricht Arno Schmidt von ihnen; er meint allerdings nachweisen zu können, dass Stifter von Leopold Schefer Anregungen empfangen habe. Vgl. 1achrichten von Büchern und Menschen, a.a.O., Bd. 2, S. 79f.
356 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft
die der Schatten, in ihrem Wechsel. Und es kommt noch etwas hinzu, etwas, das nicht geheuer wirkt, eine unvermutete Umstellung der Perspektive, welche die Subjekte zu Objekten werden lässt. In der ersten Einstellung wird das Bild vom Standpunkt der Betrachter her aufgebaut, es ist die subjektive Sichtweise, die es aufbaut. Dann aber entgleitet den Betrachtern der Blick, der die Dinge verfügbar hält. Sie verlieren ihre zentrale Position und sind selbst nur Gegenstände, „winzige“ zudem, die hineingestellt sind in eine größere Perspektive. Sie sind einer Weite ausgesetzt, in der sie sich verlieren. Aus der ersten Person, aus dem „Wir“, wird die dritte Person, wird „zwei Menschen“. Während wir standen und sprachen, fing sich an einer Stelle der Nebel im Osten zu lichten an, die Schneefelder verfärbten sich zu einer schöneren und anmutigeren Farbe, als das Bleigrau war, mit dem sie bisher bedeckt gewesen waren, und in der lichten Stelle des Nebels begann ein Punkt zu glühen, der immer größer wurde, und endlich in der Größe eines Tellers schweben blieb, zwar trübrot aber so innig glimmend wie der feurigste Rubin. Die Sonne war es, die die niederen Berge überwunden hatte, und den Nebel durchbrannte. Immer rötlicher wurde der Schnee, immer deutlicher fast grünlich seine Schatten, die hohen Felsen zu unserer Rechten, die im Westen standen, spürten auch die nähernde Leuchte, und röteten sich. Sonst war nichts zu sehen, als der ungeheure dunkle ganz heitere Himmel über uns, und in der einfachen großen Fläche, die die Natur hieher gelegt hatte, standen nur die zwei Menschen, die da winzig genug sein mussten. Der Nebel fing endlich an seiner äußersten Grenze zu leuchten an wie geschmolzenes Metall, der Himmel lichtete sich, und die Sonne quoll wie blitzendes Erz aus ihrer Umhüllung empor. Die Lichter schossen plötzlich über den Schnee zu unsern Füßen, und fingen sich an den Felsen. Der freudige Tag war da.111
Es gibt die gefällige Natur, Gegenden, die sind offen und anmutig sind. Die Donau und das hügelige Land an ihren Ufern gehört dazu. Als kultiviert und gesegnet hat es Stifter beschrieben, besetzt mit Feldern und Obstwiesen, aus denen wie weiße Punkte die Dörfer und Kirchtürme hervorleuchten, in der Ferne begrenzt durch das Blau der Berge.112 Das „dichte Bewohntsein“ verleihe einem Landstrich „etwas sehr Heiteres“, so hat es Stifter empfunden.113 Der vorherrschende Eindruck einer freundlichen, einer blühenden und gedeihenden Natur ist aber hauptsächlich das Werk des Menschen. Der Gedanke an einen Garten stellt sich ein, in welchem ein Gleichklang hergestellt ist zwischen dem Menschen und seiner Umgebung; und als großen Garten hat Stifter sein „geliebtes“, sein „himmlisches“ Oberösterreich angesehen.114 111 112 113 114
1achsommer, S. 664f. Das ist die Landschaft des 1achsommers. Das ‚Rosenhaus‘ steht darin. 1achsommer, S. 131. Diese Ausdrücke fallen, Insel Bd. IV, S. 378, 230.
Der große Wald – Adalbert Stifter 357
Gleich mehrere Figuren treiben mit Hingabe Landbau. Sie alle sehen in der Bewirtschaftung ihrer Güter und Gartenanlagen eine Lebensaufgabe.115 Stifter nimmt da etwas auf, das unter dem Stichwort ‚Melioration‘ in die Kulturgeschichte eingegangen ist. Nach früheren Anfängen vor allem in Holland setzt um 1750 ein intensives Bemühen ein, die Erträge der Landwirtschaft zu steigern. Der Feudaladel lässt sich davon einnehmen, und auch die europäischen Herrscherhäuser drängen auf Veränderungen in diesem Bereich. Schließlich treibt das zu Landbesitz gekommene Bürgertum diesen Prozess energisch voran. Vor allem aber ist es die Wissenschaft, die sich des Themas annimmt. Gelehrte Abhandlungen erscheinen über die Verbesserung der Böden, über Fruchtwechsel und die Veredelung von Obstsorten, über Tierhaltung und den Einsatz von Maschinen. Einen Durchbruch bedeutet die Entwicklung des Kunstdüngers durch den Chemiker Justus von Liebig um 1840. In der rationalen Durchdringung der Agrikultur und in der Betrachtung des Landes unter Gesichtspunkten der Nützlichkeit macht sich natürlich das Vermächtnis der Aufklärung bemerkbar. Der Gedanke der Profitmaximierung und die beginnende Technisierung weisen voraus auf den kapitalistisch-industriellen Komplex. Überall in Europa entstehen Mustergüter. England gilt dabei als führend; nach dessen Vorbild wird bald auch in Zentraleuropa gewirtschaftet.116 In vielfältiger Weise spiegelt sich diese Entwicklung in Stifters Werken. Unentwegt werden Landstriche kultiviert, Moore trockengelegt und Wälder gerodet. Da geht es um die Verbesserung des Getreideanbaus und um das Setzen von Kartoffeln. Eifrig befassen sich die Personen mit neuen Anbaumethoden. Sie unterrichten sich über den neuesten Stand der Agrikultur aus wissenschaftlichen Werken und studieren dazu auch englische und französische Schriften. Selbst auf recht spezifische Techniken geht Stifter ein. So führt er wiederholt das „Brennen der Erden“ an. Dabei handelt es sich um die Melioration von Lehm- und Tonböden. Lagen von Erde und Reisig werden übereinander geschichtet; beim Abbrennen des letzteren werden die Mineralbestandteile im Boden aufgeschlossen; obendrein verliert dieser die Wasserundurchlässigkeit.117 Zuweilen verwertet Stifter auch Details aus der Agrar115 Breiteren Raum nimmt das Thema Landwirtschaft in folgenden Werken ein: Die Mappe meines Urgroßvaters, Brigitta, Zwei Schwestern, Der Waldsteig, Katzensilber, 1achkommenschaften, Der 1achsommer. 116 Vgl. dazu: Joan Thirsk, Die Landwirtschaft, in: Jerome Blum, Die bäuerliche Welt, München 1982, insbesondere S. 87ff. 117 Stifter ist so beeindruckt davon, dass gleich in drei Erzählungen dieses Verfahren erwähnt wird, nämlich in Brigitta, Zwei Schwestern und Der Waldsteig. Nach einer Mitteilung Enzingers hatte Stifter wohl Kenntnis von solchen Methoden durch ein Buch des Autors Carl Ritter. Näheres bei Moriz Enzinger, Adalbert Stifters Erzählung Brigitta und Ungarn. In: Südostdeutsches Archiv 1 (1958), S. 122–132.
358 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft
geschichte. Der Landvermesser in Kalkstein ist wohl im Regierungsauftrag bei der Flurneuordnung eingesetzt, die zwischen 1830 und 1850 in deutschen und österreichischen Ländern durchgeführt wurde. Die Beseitigung von Hecken, die am Anfang der Erzählung erwähnt wird, deutet darauf hin.118 Das Interesse am Ackerbau ist für Stifter aber mehr als nur die Aufnahme einer Zeitströmung. Sein bäuerliches Erbe ist darin lebendig; zu ihm hat er sich immer bekannt. Wie sehr das nachwirkt, wird daraus deutlich, dass er sich den Blick für das Land bewahrt hat. Gelegentlich merkt er an, dass die Felder „schlecht geeggt“ seien.119 Das sieht nur einer, der vom Dorf kommt. In seinen Werken denkt sich Stifter hinein in eine schöne Ländlichkeit. Anfänglich ist das nur Schwärmerei, von einem „Tusculum“ am Traunsee träumt er in den Feldblumen. Später entwickelt er daraus eine ethische Haltung. Er führt Menschen vor, die sich zu einem tätigen Leben bekehren. Resignative Züge sind daran, die Abwendung von hochfliegenden Plänen in den Künsten, den Wissenschaften und in der Staatsverwaltung und die Bescheidung auf ein Leben als „einfacher Landwirt“.120 Die Personen finden aber ihre Befriedigung in der Regelmäßigkeit des Arbeitens, in der Verantwortung für einen überschaubaren Wirkungskreis und in der Gewissheit der Nützlichkeit ihres Tuns. Vor allem aber wird für sie die Natur zu einer Herausforderung. Sie begreifen sie als Feld ihrer Tätigkeit, überall sehen sie in ihr die Angriffspunkte für eine Umgestaltung nach ihren Plänen. Angetrieben werden sie von der Vorstellung, dass „eine Natur, die man zu Freundlicherem zügeln und zähmen kann, das Schönste ist, das es auf Erden gibt.“121 Stifter erkennt darin die Äußerung eines „menschlichen Triebes“, den, „die Natur zu besiegen und sich zu ihrem Herrn zu machen“.122 Das steht zunächst im Gegensatz zu einer anderen, auch von Stifter vertretenen Ansicht der Natur. Nach ihr soll es die unberührte Natur sein, an der sich der Mensch auszurichten habe; sie sei es, die dem Menschen Gesetze vorgebe. Er darf demnach gerade nicht ihr seinen Willen aufzwingen wollen, er muss sich, umgekehrt, ihr unterordnen.123 Der Widerspruch von Natur und Kultur ist nur zu beheben, 118 119 120 121 122 123
Vgl. dazu: Makowsky / Buderath, a.a.O., S. 73. Katzensilber; S. 248. Zwei Schwestern, S. 471. Mappe, S. 469. 1achsommer, S. 479. Christian Begemann hat darin einen Zirkelschluss gesehen, den man nur schwer auflösen könne; vgl. 1atur und Kultur. Überlegungen zu einem durchkreuzten Gegensatz im Werk Adalbert Stifters, in: internationales Kolloquium Antwerpen, a.a.O., S. 47. Mit dem Thema Landbau befasst sich auch Christine Wolbrandt; sie untersucht das Verhältnis von menschlich geordneten Kulturraum zur ursprünglichen 1atur in Brigitta.
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wenn man beachtet, wie sich Stifter den Einsatz des Menschen denkt. Nach seinen Vorstellungen soll der Mensch nicht gegen die Natur arbeiten, sondern ihre Kräfte fördern und unterstützen. Stifter bringt das auf den Ausdruck, dass der Natur „nachgeholfen“ werden müsse.124 An Ernst Blochs Begriff einer „Allianztechnik“ ist hier zu denken, der eben das ausdrücken will, dass nämlich die Bearbeitung der Natur nicht zu ihrer Zerstörung führen müsse, vielmehr dazu, die in ihr steckenden Möglichkeiten zu entbinden.125 Wie oben dargestellt, haben Wieland und Goethe eine ähnliche Auffassung vertreten. Allerdings bleibt die Frage, ob dieses Konzept bei Stifter tatsächlich aufgeht. Die Handlungen der Protagonisten folgen dann doch nur wieder einer Herrschaftslogik. So, wenn der Freiherr von Risach brutal Singvögel ausmerzt, die angeblich Schädlinge sind.126 Allein menschliche Bedürfnisse setzen sich durch bei einer Gesinnung, die nichts „Zweckloses oder gar Zweckwidriges“ in ihrem Umfeld dulden kann.127 Drei Zugänge zur Natur sind bei Stifter auszumachen; zu ihrem Korrelat haben sie drei unterschiedliche Begriffe von Natur. Da wäre zunächst die umweltliche Natur. Sie erschließt sich einem Sehen, das die Bedeutungen in den Gegebenheiten gewahrt. Wie andere Lebewesen auch steht der Mensch in umweltlichen Bezügen, die Dinge haben für ihn Zeichencharakter, und er muss verstehen, was sie ihm mitzuteilen haben. Das ist die Welt der sinnlichen Qualitäten; die Formen und Farben haben ihre Sprache und der Wissende kann sie deuten. Dieser Komplex ist verbunden mit der Vorstellung einer unberührten Natur, wie sie im Hochwald vorgeführt wird. Der Naturkundige und der Künstler haben Zugang zu ihm. Auf den gesetzmäßigen Zusammenhang hinter den Erscheinungen geht der zweite Begriff von Natur; das ist der der exakten Wissenschaften. Hier werden die Dinge zurückgeführt auf die reinen Quantitäten. Der Bezug auf das menschliche Leben ist neutralisiert. Diese Dimension eröffnet sich dem instrumentalen Zugriff. Das Erkenntnissubjekt tritt heraus aus dem eigenen Wahrnehmungskreis und stößt vor in mikrokosmische und makrokosmische Bereiche. Ein dritter Aspekt ist schließlich der der gezähmten Natur. Das Verhältnis zu ihr bestimmt sich nach dem Eingriff, den der Mensch vornimmt. Er soll so angelegt sein, dass das Wachsen und Gedeihen gefördert wird. Ein pflegender Umgang mit der Natur ist das leitende
124 125 126 127
Vgl. Der Raum in der Dichtung Adalbert Stifters, Zürich – Freiburg i.Br. 1967, S. 53– 55. Vgl. dazu: Zwei Schwestern, S. 484–488; 1achsommer, S. 145, S. 154. Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., S. 802ff. 1achsommer, S. 165. Mappe, S. 569.
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Prinzip. Das Ziel liegt für Stifter darin, einen Einklang von Mensch und Natur zu erreichen. Teilweise trägt das utopische Züge, etwa wenn von einer Gesellschaft der Menschen mit den Pflanzen gesprochen wird.128 Selbstverständlich überschneiden und ergänzen sich die drei Ansichten der Natur. So muss nach Stifters Überzeugung die wissenschaftliche Faktenerhebung durch die künstlerische Betrachtung komplettiert werden, denn andernfalls erhielte die Naturaneignung nur zusammenhangslose Details. Stifter steht diesbezüglich zwischen Goethe und der experimentellen Forschung. Er erachtet beide Richtungen für nötig und strebt deren Synthese an. Darin liegt die Aktualität Stifters. Freilich, die angestrebte Versöhnung bleibt problematisch, auch das ist Stifters Werk zu entnehmen. Untergründig bleibt aber Stifters Zuwendung zur Natur immer mit einem Bewusstsein der Fremdheit behaftet. Wovor Jean Paul zurückschreckte und was in der Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei nur als Traum erscheint, nämlich die Vorstellung einer unermesslichen, ganz kalten, ganz fühl- und lieblosen Natur wird bei Stifter zu einer Grunderfahrung. Bei ihm verschärft sich ein Gefühl, das mit der neuzeitlichen Wissenschaft aufkam und das Blaise Pascal in die Worte fasste: „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.“129 Am Ende ist Stifter noch einmal nach Hause gekommen. Und er beschreibt, wie er heimfährt von Passau aus, wie sich der Wald auftürmt vor seinen Blicken und ihn endlich wieder aufnimmt in seine Schönheit.130 Und er beschreibt, wie die vertraute Gegend ein feindliches, fremdes Aussehen annimmt und er vertrieben wird durch einen ungeheuren, unzeitigen Schneefall. In diesem Prosastück wird noch einmal deutlich, was die Natur für Stifter ist, sie ist gleichgültig, grausam und schön.
128 Zwei Schwestern, S. 549. 129 Gedanken, Aph. 36. 130 Das bezieht sich auf Aus dem bairischen Wald.
3. Der Zauber einer Kiefernheide – Theodor Fontane Nach Hankels Ablage nimmt man den Görlitzer Zug, jedenfalls zu Fontanes Zeiten. Der bringt einen in eine Abgeschiedenheit an der Spree – nichts wie Wasser und Uferdickicht und Wiese und Wald; darin steht ein schilfgedeckter Landgasthof, und das ist Hankels Ablage. Dorthin fahren die Liebenden aus Irrungen, Wirrungen, die sich allerdings beim Aussteigen vergewissern, ob sie nicht die Idylle mit anderen Ausflüglern teilen müssen. Zu den „landschaftlichen Schätzen“ in der Umgebung Berlins, so preist sie van der Straaten einem auswärtigen Besucher an,1 zu den landschaftlichen Schätzen also gelangt man mit der Bahn. Und die fährt selbst in die Stille des Stechlin-Sees, man muss lediglich an der Station Gransee aussteigen und für den Rest der Strecke einen Wagen nehmen, wie das die Personen aus dem Roman tun. Der Zug fährt nicht nur hinein in die landschaftliche Natur, er ist, wie selbstverständlich, Teil von ihr geworden, mitsamt den Schranken, den Wärterhäuschen und den Stellwerken. Gleich einer von der Natur gezogenen Linie durchläuft der Schienenstrang eine Ansicht und gibt dem Blick eine Ordnung vor. Der Abhang, an dem sie saßen, lief, in allmählicher Schrägung, bis an die durch Wärterbuden und Schlagbäume markierte Bahn, an deren anderer Seite die roten Dächer des Dorfes auftauchten, nur hier und da von hohen Pappeln überragt. Aber noch anmutiger war das, was diesseits lag: eine Doppelreihe blühender Hagerosenbüsche, die zwischen einem unmittelbar vor ihnen sich ausdehnenden Kleefeld und zwei nach links und rechts hin gelegenen Kornbreiten die Grenze zogen. Von dem Treiben in der Dorfgasse sah man nichts, aber die Brise trug jeden Ton herüber, und so hörte man denn abwechselnd die Wagen, die die Bodebrücke passierten, und dann wieder das Stampfen einer benachbarten Schneidemühle.2
Ein anderer Ausblick wird folgendermaßen vorbereitet: Die Pferde wollten in gleicher Pace vorwärts, aber ihre Reiter, überrascht von dem Bilde, das sich ihnen auftat, strafften unwillkürlich die Zügel. 1 2
L’Adultera, I, 2, S. 51; Zitiert wird nach der von Walter Keitel u. Helmuth Nürnberger besorgten Ausgabe, München 1970 ff, und zwar nach Abt., Bd. u. Seite. Cécile, I, 2, S. 206.
362 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft
Wer nun, von Jean Paul oder Stifter kommend, glaubt, die Reiter seien gebannt von einem grandiosen Naturschauspiel, sieht sich getäuscht, denn es heißt weiter: Unten im Tal, von Quedlinburg und der Teufelsmauer her, kam im selben Augenblicke klappernd und rasselnd der letzte Zug heran, und das Mondlicht durchleuchtete die weiße Rauchwolke, während vorn zwei Feueraugen blitzten und die Funken der Maschine weithin ins Feld flogen.3
Spürbar ist ein bedrohlicher Unterton in der Schilderung enthalten. Auch an der ersten vorhin wiedergegebenen Stelle durchbricht der „Pfiff der Lokomotive“ und deren „Keuchen und Prusten“ die Stille und reißt die Hauptfigur, Cécile, aus ihren Träumen. Die Bahn ist hier der Bote einer anderen Welt, die in die heitere und gelöste Atmosphäre einer Sommerfrische eindringt, und deren Gesetze die Protagonisten schließlich zerstören werden. Aber Fontane ist weit davon entfernt, die Eisenbahn zu dämonisieren, wie das noch Gerhart Hauptmann tut, in dessen Bahnwärter Thiel sie zu einem Unheil bringenden Ungetüm wird. Mehrschichtig ist das Zugmotiv im Roman Effi Briest. Es ist verbunden mit dem Gefühl der Sehnsucht und des Heimwehs und auch mit dem Wunsch nach Erlösung aus einer bedrückenden schuldbeladenen Existenz. Effi möchte heraus aus der Enge der Pommerschen Kleinstadt. Nicht ohne Erregung verfolgt sie, wie der Zug durch die winterliche Landschaft auf sie zukommt, und wehmütig sieht sie ihm nach, sieht wie der letzte Wagen verschwindet in der Weite. Innstetten, ihr Mann, spricht nur aus, was sie bewegt, wenn er sagt, der Zug sei „sechs Uhr fünfzig“ in Berlin und eine Stunde später käme er an ihrem Heimatort vorbei. Und dann ist Effi verlassen; aus dem Fenster ihrer Wohnung in Berlin hat sie einen Blick auf die Geleise und die vorbeifahrenden Züge, und in diesem Bild wird ihre Verbannung aus der Gesellschaft sinnenfällig. Am Ende ist sie in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Man sieht sie eine ländliche Chaussee heruntergehen. Was sie anzieht, ist der Bahnhof. Dort schaut sie auf die Züge, die kommen und gehen und in eine Welt fahren, die ihr verschlossen ist und der sie entsagen musste. Das Zugmotiv ist in Effi Briest eine Metapher für das Abseitsstehen, das ist dessen Grundbedeutung. Wie viele dieser bildhaften Elemente bei Fontane hat es aber durchaus verschiedene Valenzen.4 Sonst war das kleine Glück verbunden mit einem Ort, der fern vom Getriebe lag. Ruhe und Beschaulichkeit schien allenfalls eine ländliche Umgebung zu gewähren: die Idylle liegt in der Natur, weitgehend unbe3 4
Ebd., S. 239. Zum Zugmotiv vgl. Richard Quabius, Zur Gestaltung des Raums in Theodor Fontanes Effi Briest, in: Acta Germanica, Bd. 5, 1970, S. 142, Anm. 46; S. 147.
Der Zauber einer Kiefernheide – Theodor Fontane 363
rührt von der Hektik der städtischen Zentren. Bei Fontane jedoch kommt eine vor, die umtost ist vom Lärm der Lokomotiven; nur kurz wird die Hast unterbrochen, und einzig die grünen Ranken erinnern noch an das Refugium von ehedem. Davon träumt Hugo Großmann aus Mathilde Möhring: Und wenn er auf der Posener Bahn fuhr ... und an den kleinen Stationen vorüberkam, wo das Bahnhofsgebäude halb in wildem Weine lag und der Bahnhofsinspektor in seiner roten Mütze den Zug abschritt, während eine junge Frau mit einem Blondschopf neben sich halb neugierig und halb gelangweilt aus dem Fenster der kleinen Beletage sah, Gott, da war ihm schon manch liebes Mal der Gedanke gekommen: ja, warum nicht Bahnhofsinspektor.5
In Fontanes Topographie sind die Bahnhöfe markante Bezugspunkte. Sie verbinden mit der Welt, und die Namen der Berliner werden geradezu zu Synonymen für die Himmelsrichtungen, so ist der Anhalter Bahnhof verknüpft mit der barocken Schönheit Dresdens, ist eine Verheißung auf Italien und den Süden. Dahin geht die Hochzeitsreise des jungen Stechlin. Bahnhöfe bedeuten Aufbruch und Ankunft, aber eines Aufbruchs, der in ein neues Leben führen kann, wie für Melanie aus L'Adultera, die aus ihrer Ehe flieht. Und angekommen ist der alte Dubslav von Stechlin, als er, nun schon sein Ende spürend, aussteigt in Gransee und zurückkehrt an seinen See. Der Zug sorgt für Mobilität. Immerzu verreisen Fontanes Figuren. Sie setzen sich auf die Bahn, um ein Ausflugsziel zu erreichen, wie in Frau Jenny Treibel; sie fahren hinein nach Berlin, weil sie sich angezogen fühlen von der Turbulenz großstädtischen Lebens, zu ihnen gehört der Onkel in den Poggenpuhls; sie begeben sich, Erholung suchend, an einen Badeort, das macht die junge Baronin in Irrungen, Wirrungen; Effis Mann besteigt das Coupé mit dem Vorsatz, einen Nebenbuhler zu erschießen und Stine fährt zur Beerdigung ihres Liebsten. Es ist eine durch die Eisenbahn erschlossene und geprägte Welt, die Fontane beschreibt. Und die Eisenbahn ist ja nur die auffallendste Verkörperung des neuen Maschinenzeitalters. Die Orte sind zusammengerückt; was vormals weit ab lag und entlegen war, ist schnell und bequem zu erreichen. Die bis dahin unbekannte Geschwindigkeit und die Zuverlässigkeit des Verkehrs verändern die Vorstellungen von Raum und Zeit. Was letztere betrifft, so wird aus einer ungefähren Angabe eine genaue Bestimmung. Der Zug fährt pünktlich ab und kommt auf die Minute an. Innstettens oben wiedergegebene Bemerkung, die, dass der Zug „6 Uhr fünfzig“ in Berlin sei, ist keineswegs nebensächlich. Sie zeigt, wie das Leben unter das Diktat der Uhr gerät. Die Bahnhofsuhr, wiederholt erwähnt sie Fontane, gibt den Rhythmus der neuen Zeit an. 5
I, 4, S. 639.
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Umgestellt ist auch die Erfahrung des Raumes. Der Maßstab für die Entfernung hat sich verschoben, und die forcierte Geschwindigkeit bringt es mit sich, dass der Raum anders erlebt wird. Es sind diese Bedingungen, unter denen Fontanes Gestalten leben und unter denen sie ihre Umwelt wahrnehmen. Nicht unberührt davon ist auch ihr Verhältnis zur Natur. Fontanes Landschaftsdarstellung muss man unter dieser Voraussetzung sehen, anders versteht man deren Eigenart und deren Wert nicht. Auch das Naturverständnis und das Naturempfinden haben ihre Geschichte. Und die Behauptung ist die, dass Fontane nur eine bestimmte Sicht wiedergibt, nämlich die seiner Epoche.6 Um das Verständnis dafür zu eröffnen, muss erst einmal etwas Generelles über die Bahnreise ausgeführt werden. Das vorindustrielle Zeitalter kannte nur vergleichsweise langsame Arten der Fortbewegung, deren Normalmaß der Fußmarsch war. Das begründete ein enges Verhältnis zum Landschaftsraum. Der Blick konnte verweilen bei den Dingen: die in der Nähe zeigten sich ihm klar konturiert, und sie waren abgehoben gegen einen Hintergrund. Das änderte sich mit der Eisenbahn. Nun gleiten die Gegenstände vorüber; es gelingt nicht mehr, sie festzuhalten. Das Sehen ist dergestalt eingeschränkt, dass das, was in der kurzen Distanz liegt, nur verzerrt oder schemenhaft wahrzunehmen ist. Diese Erfahrung wirkte äußerst verwirrend, wie den Berichten der ersten Zugreisenden zu entnehmen ist. Sie hatten Mühe, überhaupt noch etwas zu erkennen. Die Irritation resultiert aus der Auflösung des Vordergrundes. Die Anschauung versagt, weil sie das Sichtbare nicht mehr in der gewohnten Weise zu arrangieren vermag. Die neuen Erfahrungen beschreibt der Maler Ludwig Richter: ... ich riß mich vom geliebten Nürnberg los und setzte mich um vier Uhr auf den Dampfwagen. Bäume und Felder sausten wie ein Wassersturz vorbei. Nahe Gegenstände konnte man nicht erkennen, der fernere Hintergrund allein verschob sich langsamer, so daß man daran doch die Form ins Auge fassen konnte.7 6
7
Die bisherigen Abhandlungen über Fontanes Landschaftskunst haben diesen Zusammenhang überhaupt nicht berücksichtigt. Max Tau vergleicht Fontane mit früheren Autoren und hält ihm dann erhebliche Mängel vor; vgl. M.T. , Landschafts- und Ortsdarstellung Theodor Fontanes, Epische Gestaltung Bd. 1, Oldenburg 1928. Hubert Ohl bringt an dieser Darstellung berechtigte Korrekturen an, übersieht aber alle Bezüge zum Industriezeitalter; vgl. H.O., Bilder, die die Kunst stellt, Die Landschaftsdarstellung in den Romanen Theodor Fontanes, in: Wolfgang Preisendanz (Hg.), Theodor Fontane, Darmstadt 1973, S. 447–464. Beide Autoren gehen mit keinem Wort auf Fontanes Naturbegriff ein. Zitiert nach Johannes Mahr, „Tausend Eisenbahnen hasten … Um Mich. Ich nur bin die Mitte!“ – Eisenbahngedichte aus der Zeit des Deutschen Kaiserreiches, in: Harro Segeberg (Hg.), Technik in der Literatur, Frankfurt/M. 1987, S. 134f.
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Es kommt zu einem „Verlust der Landschaft“, jedenfalls der im herkömmlichen Sinne.8 Die Zugfahrt ist schnell. Sie verlangt eine Umstellung der Sehgewohnheiten. Diese müssen sich den geänderten Konditionen anpassen. Der Blick aus dem Abteilfenster bekommt nur etwas zu fassen, wenn er sich auf das Entferntere richtet. Das Schwinden des Nahbereichs macht, dass das Aufgenommene flächenhaft wirkt, ihm fehlt eine Dimension, die der Tiefe. Dies im Verein mit der rasch wechselnden Szenenfolge erinnert an eine Blickweise, die eine im 19. Jahrhundert sehr beliebte Einrichtung herausgebildet hatte, nämlich an die des Panoramas. Wie dieses verschafft das Reisen eine Übersicht, freilich eine, die aus völlig verschiedenartigen Eindrücken zusammengesetzt ist. Die Geschwindigkeit erzeugt einen raschen Wechsel immer andersartiger Ausblicke. Diese werden aber zusammengehalten, eben durch das Tempo, und daraus geht eine Synthese hervor. Die Aufmerksamkeit wird nicht von einzelnen Gegenständen gefesselt, sie wird hingelenkt auf das Ganze. Auf diese Weise empfängt der Bahnfahrer eine Vorstellung von der Natur eines Landes. Das ist deutlich abgehoben von der vorindustriellen Aufnahme einer Gegend. Da gehörte das Wahrgenommene und der Reisende zu einem Raum, dieser befand sich in einer Landschaft, war Teil von ihr und musste eine Beziehung herstellen zwischen sich, der näheren Umgebung und dem, was sich im Hintergrund zeigte. Und so ist auch der traditionelle Bildaufbau angelegt. Die forcierte Art der Fortbewegung dagegen legt zwischen den Betrachter und das Angeschaute eine unsichtbare Schranke. Die Geschwindigkeit lässt vor den Augen eine Bilderfolge ablaufen, die sich draußen befindet, sich befindet in einem anderen Raum als in dem, den der Beobachter einnimmt. Dieser sieht durch eine Apparatur, nämlich durch die das Tempo produzierende Maschine. Deren Bewegung ist eingegangen in die Wahrnehmung. Die Eisenbahn vollbringt nicht weniger als die „Inszenierung“ einer neuen Landschaft,9 jedoch nur für denjenigen, der sich auf die veränderten Bedingungen einlässt und deren Möglichkeiten erkennt. Vormals war es die Aufgabe der Landschaftsmalerei, die wesentlichen Eigenheiten und Charakterzüge einer Landesnatur im Bilde zu versammeln. Dafür sorgt jetzt die Geschwindigkeit. Der Reisende früherer Zeiten blieb befangen in einem Hier und Jetzt, und daran, vom ersten abgesetzt, wurde ein anderes Hier und Jetzt gereiht. Die ‚Dampffahrt‘ dagegen reißt unterschiedslos alles hinein in ihr Fortstürmen. Aber daraus 8 9
So Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, Frankfurt/M. 1989, S. 53; aus diesem Buch wurden hier einige Gedanken übernommen; vgl. insbesondere S. 51–66. So äußert sich Schivelbusch, a.a.O., S. 58.
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entsteht die Schau eines Ganzen, das Charakteristische tritt hervor. Allerdings hat sich, wie bemerkt, die Bildqualität geändert: der Prospekt hat die Plastizität eingebüßt. Einem, dessen Kindheit und Jugend ins Zeitalter der Postkutsche fällt, müssen auf der Eisenbahn buchstäblich Hören und Sehen vergangen sein. Wenig davon ist bei Fontane zu spüren. Er registriert genau, was in ihm und um ihn geschieht. Anders als manche seiner Zeitgenossen, Eichendorff gehört zu ihnen und Victor Hugo und Ruskin, verschließt er sich nicht einer durch die Dampfkraft revolutionierten Sicht der Realität. In seinen Reisebüchern berichtet er ausführlich von seinen langen Zugfahrten. Er hält die Schnelligkeit der englischen Eisenbahnen für bemerkenswert; es sind 40 englische Meilen, was bei ungefähr 65 Stundenkilometern liegt; ein nicht unbedenkliches Unternehmen, wie ihm scheint. Die Zugfahrt nennt er einen „Flug“ – eine Erfahrung, die sich zur damaligen Zeit auch anderen aufdrängte. Dabei handelt es sich um mehr als einen Vergleich. Nicht nur das Dahinsausen ist damit gemeint, sondern auch die vom Schienenweg ermöglichte Gleichförmigkeit und Leichtigkeit des Fortkommens, etwas, das sich sehr vom gewohnten Holpern der Pferdewagen unterschied.10 Er empfindet auch das Ausgesperrtsein des modernen Reisenden; er hat keinen Anteil am Leben, das draußen stattfindet. Die Kirchenglocken werden übertönt vom Lärm des Zuges und von der Festtagsstimmung dringt nichts hinein in das Coupé.11 Auch darin liegt ein Unterschied zum früheren Unterwegssein. Daran waren alle Sinne beteiligt, Hören und Riechen ebenso wie das Sehen. Davon bleibt nur das Optische. Ein Apercu wirft ein Schlaglicht auf die neue Wirklichkeit: „Statt des Doms ein Bahnhof“.12 Aber nun die Ausblicke. Vom Abteilfenster aus erschließen sich Fontane ganze Partien Frankreichs: die Mitte, der Westen, der Nordosten. Man kann verfolgen, wie aus der Wiederkehr ganz ähnlicher Bildungen sich die typischen Konturen einer Landschaft ausformen. Weite Prospekte tun sich auf mit klarer Linienführung. Und dann, unvermittelt, ändert sich das Bild. Jetzt gerät die Landschaft selbst in Bewegung. Die Gestalten in ihr, die Berge, die Bäume, die Häuser werden lebendig. Die Eigenbewegung überträgt sich auf die Gegenstände, sodass diese mobil zu werden scheinen. Und das nimmt Fontanes Sprache auf, in der die Objekte zu Subjekten werden. Sie sind es nun, die sich zum Bild formieren – nicht der Blick des Betrachters macht das.
10 Vgl. III, 3/ I, S. 185–187. 11 III, 4, S. 694. 12 III, 3,I, S. 186.
Der Zauber einer Kiefernheide – Theodor Fontane 367
Alle Landschaft, die ich bis dahin in Frankreich gesehen hatte, in Lothringen, Champagne, Franche Comté, war durch wenige Linien wiederzugeben: weite Höhenzüge und weite Täler dazwischen. Eine Landschaft derart entbehrt nicht eines gewissen großen Stils, aber immer wiederkehrend, immer in derselben Weise mit Wein oder Laubholz besetzt, wirkt sie zuletzt monoton und gibt sich – weil alles große Fläche bietet, selbst die Berghänge – um vieles öder, trister als sie in Wahrheit ist. Hier plötzlich nun traten wir in ein Gebiet ein, das sich vorgesetzt zu haben schien, die bisherigen Eindrücke alle auf einen Schlag zu balancieren. Die Hügel schoben und drängten sich so dicht aneinander, als wären sie aus einer Riesenspielzeugschachtel genommen, während sie in Zahl und Form mich beständig an die endlosen Kuppen und Kegel des historischen Dreiecks zwischen Main und Tauber erinnerten. Aber diese Gedrängtheit der Landschaft war nur eine Seite derselben; schöner und charakteristischer noch berührte mich der tiefe, flußdurchschlängelte Wiesengrund, der sich um jeden Hügel sorglich herumlegte und diesen, wie mit Bewußtsein, zu einer kleinen Berginsel gestaltete. Dazu hatte alles einen satten, braungrünen Ton, der mich mehr als einmal an Ruysdael erinnerte.13
Man bemerkt hier, wie der Vordergrund ausgeblendet wird; das Auge stellt sich auf das Entferntere ein. Im Passieren zeigt sich ihm etwas, das dem Wanderer verborgen geblieben wäre, nämlich die Ausgeräumtheit einer Landschaft oder deren Fülle. Es gewahrt die großen Strukturen, Muster kann es erkennen. Der Hinweis auf die Malerei – an anderer Stelle glaubt sich Fontane in eine Gemäldegalerie versetzt – kommt nicht von ungefähr. Diese wollte, jedenfalls in ihrer großen Zeit, nicht eine zufällige Ansicht festhalten. Das Bild ist nicht Wiedergabe eines realen Naturausschnitts, sondern eine Komposition, und das bedeutet, dass es die einzelnen, durchaus wirklichkeitsgetreu festgehaltenen Figuren so zusammenfügt, dass dadurch eine Idee, eine Stimmung oder eben das Typische einer Landesnatur ausgedrückt wird. Hier, auf der Eisenbahn, ist es offensichtlich das Dahineilen selbst, das die Bilder einrichtet. So entstehen die „Panoramen“, denen Fontanes Aufmerksamkeit gilt. Sie festzuhalten, bedarf es allerdings der Kraft des Betrachters. Fontane kennt auch die Zustände der Erschöpfung, die dann eintreten, wenn das Auge die andrängende Fülle nicht mehr zu fassen vermag. In der Bewegung erkennt Fontane eine Verfahrensweise, durch die bis dahin verborgene Seiten der Wirklichkeit offengelegt werden. Diese Einsicht verdankt sich der technischen Entwicklung; sie ist vermittelt durch die die Geschwindigkeit produzierende Maschine. Von ihr lässt sich der Blick anleiten – in der Weise, dass das Dahinziehen in ihn selbst eingegangen ist. Es ist die Technik und ihre Möglichkeiten, die eine neue Sicht der Wirklichkeit begründen. Bezeichnenderweise ist 13 III, 4, S. 598 F 8.
368 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft
Fontane dieses Prinzip an Darstellungen der bildenden Kunst aufgegangen. Er schreibt: Was mir aber zur Zeit jener Ausstellung am meisten gefallen hatte, waren einige farbenblasse, halb hingehauchte Bildchen, langgestreckte Inselprofile, die mit ihrem phantastischen Felsengezack in umschleierter Morgenbeleuchtung vom Bord des Schiffes her, also in ziemlich beträchtlichem Abstand aufgenommen worden waren. Nur vorübergefahren war der Künstler an diesen Inseln, ohne den Boden derselben auch nur einen Augenblick zu berühren, und doch hatten wir in seinen Skizzen das Wesentliche von der Sache, die Gesamtphysiognomie. Das sollte mir jetzt Beispiel, Vorbild sein.14
Ein Roman ist etwas anderes als eine Reisebeschreibung, und eine theoretische Einsicht muss sich nicht notwendig in der künstlerischen Produktion niederschlagen. Die Frage ist also, inwiefern Fontanes Reiseerfahrungen und seine Reflexionen eingegangen sind in sein Romanwerk. Um das beurteilen zu können, muss man zunächst beachten, welchen Stellenwert er selbst Naturschilderungen einräumt. Er meint dazu, dass sie das Erzählen nicht aufhalten sollen, sie haben nur der Menschendarstellung zu dienen. Und spöttisch spricht er über weitschweifige Naturbetrachtungen; die überschlüge der Leser ohnehin.15 Entsprechend sind Fontanes Naturbilder relativ knapp gehalten, und sie haben immer einen Bezug zu den Romanfiguren. Deren Sichtweise geben sie wieder und deren Art, sich auf ihre Umgebung einzulassen.16 Solche Beschreibungen sind demnach nicht Selbstzweck, wie in der Reiseschriftstellerei, sie sind eingefügt ins epische Konzept und nach den daraus sich ergebenden Erfordernissen gestaltet. Eine zweite Frage ist die, ob sich der flüchtige Blick, derjenige, der die Dinge im Passieren fixiert, auch den Helden mitgeteilt hat. Die Antwort ist die, dass er nicht nur immer wiederkehrt in den Romanen, sondern dass er auch einen Typus Fontanescher Ortsbeschreibungen begründet. Da ist zunächst eine der wenigen Stellen in der deutschen Prosa, die die Eindrücke einer Bahnfahrt wiedergibt. Frisch wirkt der Text, weil ihm noch die Verwunderung über die ungewohnte Perspektive anzumerken ist. Es hatte die Nacht vorher geregnet, und der am Fluß hin gelegene Stadtteil, den der Zug eben passierte, lag in einem dünnen Morgennebel, gerade dünn genug, um unseren Reisenden einen Einblick in die Rückfronten der Häuser und ihre meist offenstehenden Schlafstubenfenster zu gönnen. Merkwürdige Dinge wurden da sichtbar, am merkwürdigsten aber waren die hier und da zu Füßen der hohen Bahnbögen gelegenen Sommergärten und Vergnügungslokale. Zwischen rauchgeschwärzten Seitenflügeln erhoben sich etliche Kugelaka14 I, 7, S. 84. 15 Vgl. III, 1, S. 456. 16 Ohl hat diesbezüglich von „Perspektivierung“ gesprochen.; vgl. a.a.O., S. 448, S. 452.
Der Zauber einer Kiefernheide – Theodor Fontane 369
zien, sechs oder acht, um die herum ebensoviel grüngestrichene Tische samt angelehnten Gartenstühlen standen. Ein Handwagen, mit eingeschirrtem Hund, hielt vor einem Kellerhals, und man sah deutlich, wie Körbe und Flaschen hinein- und mit ebensoviel leeren Flaschen wieder hinausgetragen wurden. In einer Ecke stand ein Kellner und gähnte. Bald aber war man aus dieser Straßenenge heraus, und statt ihrer erschienen weite Bassins und Plätze...17
Man gewahrt die von der Öffentlichkeit abgekehrte Seite des Lebens, hinter die Häuser schaut man und in allerlei Intimes. Wichtiger jedoch ist, dass sich nur Fragmente zeigen, vereinzelte Dinge, Personen und Handlungen, die befremdlich wirken, weil sie aus ihrem Zusammenhang herausgerissen sind. Man nimmt nur mit, was der Augenblick darbietet, ohne die Fortsetzung zu sehen, so wie man den Kellner in der Geste des Gähnens erstarren sieht. Und dann wechselt plötzlich die Szenerie, ganz anderes tut sich auf. Häufig sind diese Ansichten, die im Vorüberfahren aufgenommen sind. Die Romangestalten befinden sich an Deck eines Dampfers oder in einer Kutsche, sie sitzen im Schlitten oder eben in der Eisenbahn. Oft sind sie in Begleitung und die sich darbietende Szenerie wird Gegenstand eines Gesprächs; dann wieder ist die Aufmerksamkeit nur kurz auf so etwas gerichtet, denn sie wird in Anspruch genommen von der Unterhaltung oder von einem anderen Eindruck, der sich an die Stelle des ersten schiebt. Holk war entzückt von dem Bilde, das sich ihm darbot; unmittelbar links die Reihe schmucker Landhäuser mit ihren jetzt herbstlichen, aber noch immer in Blumen stehenden Gärten und nach rechts hin die breite wenig bewegte Wasserfläche mit der schwedischen Küste drüben und dazwischen Segel- und Dampfboote, die nach Klampenborg und Skodsborg und bis hinauf nach Helsingör fuhren. Holk würde sich diesem Anblick noch voller hingegeben haben, wenn nicht das Leben auf der Chaussee, drauf sie hinfuhren, ihn von dem Landschaftlichen immer wieder abgezogen hätte.18
Wie eine Momentaufnahme wirkt das: nur ein kurzer Blick ist gestattet, dann drängt sich gleich wieder anderes auf. Überall in den Romanen herrscht das Prinzip des Dahineilens, das schon die Reiseberichte kennzeichnete. Immer ist es prägend auch für die Wahrnehmung der Romanfiguren. Das Verschwinden des Vordergrunds ist zu bemerken, das Flächenhafte ebenso wie der Wechsel der Eindrücke. Der Blick, einmal an die Flüchtigkeit der Erscheinungen gewöhnt, bemerkt überall Veränderungen, erkennt in ihnen einen tragenden Aspekt der Wirklichkeit. Nicht allein der Standpunkt des Betrachters ist hineingezogen ins Vergehen, auch die Dinge halten nicht still. Fühlbar 17 Cécile, I, 2, S. 142. 18 Unwiederbringlich, I, 2, S. 652f.
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wird das aber in einem bestimmten Umfeld, in dem der modernen Großstadt. Sie ist ein Produkt der Industrialisierung, und die Fortschritte der Technik führen zu einer alles ergreifenden Dynamisierung. Darin liegt eine bis dahin unbekannte Qualität, sie macht das eigentliche Wesen der sich rasant entwickelnden urbanen Zentren aus, weniger deren bloße Größe. Diese Dynamisierung setzt sich auf allen Gebieten durch, im Wachstum der Städte selbst, deren Einwohnerzahl schnell zunimmt und die sich immer weiter ins Umland ausdehnen, in den vielen, den Alltag verändernden Erfindungen, in der Mechanisierung der Arbeit, in der Revolutionierung der Verkehrssysteme, im Wechsel der Moden. Dieser Prozess erfasst auch die Psyche des Einzelnen. Es kommt zu einer „Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht“.19 Allein der Gang über eine Straße bedeutet eine Überflutung mit Reizen, auf die unterschiedlichsten Signale muss eingegangen und reagiert werden. Und es entsteht ein Bewusstsein, das adaptiert ist an die unaufhörlichen Übergänge, ans Momentane, an die plötzliche Veränderung, eines, das nichts Ruhendes erträgt, dem die anhaltende Schau unleidlich geworden ist, das Bewusstsein gewissermaßen nervös geworden und ständig begierig aufs Neue. Diese Seelenlage unterscheidet sich gründlich von der des Landbewohners und des Kleinstädters, welche eher aufs Gleichförmige eingestellt ist und angepasst an einen Mangel an Ereignissen. Als Typus des modernen Städters erscheint in der Literatur der Flaneur, der entzückt ist von den immerzu sich verändernden Szenerien der Straße, von der Bewegung der Gestalten, der Farben und Töne – und als Flaneur bezeichnet sich Fontane selbst.20 Städter sind auch seine Figuren, und mit den Augen des Städters betrachten sie die Welt und die Natur, und wie er zeigen sie sich immer wieder entzückt von der Buntheit städtischen Lebens.21 Vorbei ist es mit dem Wandern, das in der idealistisch-romantischen Epoche, selbst noch im Poetischen Realismus eine Form der Weltaneignung war, nicht nur eine Art der Fort19 So Fontanes jüngerer Zeitgenosse Georg Simmel in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. I, Frankfurt/M. 1995, S. 116. 20 Vgl. I, 7, S. 84. 21 So äußert sich auch Richard Brinkmann; vgl. Theodor Fontane, Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen, München 1967, S. 23. Fontane wollte ja auch Großstadtmenschen darstellen, und er hat „Berliner Romane“ geschrieben; vgl. dazu Karl-Gert Kribben, Großstadt- und Vorstadtschauplätze in Theodor Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen, in. Studien zur deutschen Literatur, Festschrift für Adolf Beck zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. v. Ulrich Fülleborn u. Johannes Krogoll, Heidelberg 1979, S. 225–229.
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bewegung. Ihm gemäß war ein meditatives Verhältnis zu den Dingen, die innehaltende Schau. Ganz anders unterwegs sind Fontanes Gestalten. Ihr Blick geht nicht mehr in die Tiefe, er heftet sich an die Oberfläche und fängt das Unstet-Augenblickliche ein. Gewandert wird bei Fontane nicht oder doch nur im übertragenen Sinne, so wie in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg; da nimmt er, wenn es geht, die Kutsche oder den Dampfer; und so beschreibt er das im Roman: Der Dampfer, gleich nachdem er das Brückenjoch passiert hatte, setzte sich in ein rascheres Tempo, dabei die linke Flussseite haltend, so daß immer nur eine geringe Entfernung zwischen dem Schiff und den dicht am Ufer hinziehenden Stadtbahnbögen war. Jeder Bogen schuf den Rahmen für ein dahinter gelegenes Bild, das natürlich die Form einer Lunette hatte. Mauerwerk jeglicher Art, Schuppen, Zäune zogen im bunten Wechsel vorüber, aber in Front aller dieser Alltäglichkeit und der Arbeit dienenden Dinge zeigte sich immer wieder ein Stück Gartenland, darin ein paar verspätete Malven oder Sonnenblumen blühten. Erst als man die zweitfolgende Brücke passiert hatte, traten die Stadtbahnbögen so weit zurück, daß von einer Uferböschung nicht mehr die Rede sein konnte; statt ihrer wurden jetzt Wiesen und pappelbesetzte Wege sichtbar, und wo das Ufer kaiartig abfiel, lagen mit Sand beladene Kähne, große Zillen, aus deren Inneren eine baggerartige Vorrichtung die Kies- und Sandmassen in die dicht am Ufer hin etablierten Kalkgruben schüttete. Es waren die Berliner Mörtelwerke, die hier die Herrschaft behaupteten und das Uferbild bestimmten.22
Die angeführten Tendenzen der Moderne werden aufgenommen von einer Kunstrichtung, von der des Impressionismus. Fontanes Nähe zu ihm hat man durchaus bemerkt.23 Es geht aber nicht darum, Fontane zum Impressionisten zu machen, sondern allein um den Nachweis, dass Gemeinsamkeiten vorliegen. Da sind zunächst die Motive der Bilder. Es ist das Umfeld der Großstadt, das dargestellt wird: die Ausflugslokale und deren sonntägliche Vergnügungen; stadtnahe Ruder- und Segelreviere, belebt mit Booten, Sportlern und Zuschauern; da wird eine Frau in Toilette in eine bunte Wiese gestellt, fast selbst schon eine Blume; eine städtische Silhouette taucht auf im diffusen Licht; der Qualm von Lokomotiven und Fabriken durchzieht die Bilder; und Straßenszenen zeigen das Gewimmel von Passanten und Fahrzeugen, diese ganze Farbigkeit eines hektischen Betriebes. Alles das erregte auch das Interesse Fontanes und kehrt wieder in seinen Schilderungen.
22 Der Stechlin, I, 5, S. 139f. 23 Vgl. z.B. Jost Schillemeit, Theodor Fontane, Geist und Kunst seines Alterswerkes, Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte 19, hrsg. v. Emil Staiger, Zürich 1961, S. 19 f, S. 40f. Die Ausführungen zu diesem Thema sind allerdings eher vage und vordergründig geblieben.
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Was aber auf den Grund der Gemeinsamkeiten führt, ist die Tendenz zur Verzeitlichung. Die Impressionisten versuchen, das Augenblickhafte zu erfassen. Das Einmalige, das Vorübergehende wird Gegenstand der Bilder. So wird ein Motiv unter bestimmten Lichtverhältnissen abgebildet, unter Bedingungen, die nur zu diesem Zeitpunkt herrschten. Wie etwas erscheint im gegenwärtigem Moment, darauf ist die Aufmerksamkeit des Künstlers gerichtet. Nicht das Sein, das Werden ist Inhalt seiner Kunst, das flüchtige und der Wechsel;24 das fasziniert ihn – und Fontane auch. Der registriert aufmerksam das Spiel der Farben und Lichter, und es gelingen ihm nur hingetupfte, zarte Bilder. Dünne Nebel lagen über dem Strom hin, sogen aber den Lichterglanz nicht ganz auf, der von links und rechts her auf die breite Wasserfläche fiel, während die Mondsichel oben im Blauen stand, keine zwei Handbreit von dem etwas schwerfälligen Parochialkirchturm entfernt, dessen Schattenriß am anderen Ufer in aller Klarheit aufragte.25
Wie sehr eine derartige Sicht der Dinge inspiriert ist von der Erfahrung der Geschwindigkeit, die die Technik ermöglicht, kann man bei Fontane verfolgen. Und das auch, wie nämlich aus der Erschütterung der Sehgewohnheiten eine Irritation entsteht, die zu einer Reflexion auf das eigene Sehenkönnen zwingt. Genau das geschieht im Impressionismus: die Reflexion auf das eigene Sehenkönnen.26 Ihm liegt eine Theorie zugrunde, die im Wesentlichen sagt, dass die alltägliche Wahrnehmung auf einer Vereinfachung beruht. Sie reduziert die Objekte auf die Einheitlichkeit einer Farb- und Formkonstanz. Aber es gibt sie nicht, die gleichförmig über ein Ding gebreitete Lokalfarbe. Es gibt nur die changierenden Farbnuancen, und die erscheinen im Bild als farbige Punkte und Tupfer. Und die Dinge sehen sich an, als hätten sie ihre Gestalt aufgegeben und verschwämmen in ihrer Farbigkeit. Dass Derartiges auch hervorgerufen sein kann durch das Tempo, mit dem sich ein Betrachter bewegt, zeigt eine Briefstelle von Victor Hugo. Wie von selbst entsteht beim Blick aus dem Eisenbahnabteil ein „impressionistisches Bild“: Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, sondern Farbflecken, oder vielmehr rote und weiße Streifen, es gibt keinen Punkt mehr, alles wird Streifen; die Getreidefelder werden zu langen gelben Strähnen, die Kleefelder er-
24 Arnold Hauser hat den Impressionismus mit der „Dynamisierung des Lebensgefühls“, das in der Moderne statthat, in Zusammenhang gebracht, einer Auffassung, der man nur zustimmen kann; vgl. Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1975, S. 927ff. 25 Frau Jenny Treibel, I, 4, S. 341. 26 So Arnold Gehlen, der das besonders herausstellt; vgl. Zeit-Bilder, Frankfurt – Bonn ²1965, S. 57.
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scheinen wie grüne Zöpfe; die Städte, die Kirchtürme und die Bäume führen einen Tanz auf und vermischen sich auf verrückte Weise mit dem Horizont.27
Die Beschränkung auf das Sichtbare hat aber zur Folge, dass nicht das Wesen erfasst wird, sondern nur die Erscheinung. Wenn man denkt, dass die ältere Kunst vordringen will zum Kern des Geschauten, dass sie das zeigen will, was in der Flucht der Erscheinungen beharrt, so wird jetzt der geistige Akt der Wesenschau annulliert, und es zählen allein die Notate der Sinne. Bei Fontane, der dem Reiz dieser Manier erlegen ist, hält sich die Erinnerung an das frühere Verfahren. Er gewahrt, dass die Konzentration auf die farbige Oberfläche etwas aufdeckt von den Dingen, aber zugleich wird ihm die Relativität der so gewonnenen Erkenntnisse bewusst; er macht nämlich an der oben wiedergegeben Stelle die Einschränkung, von der Eisenbahn aus gebe sich die Landschaft „um vieles öder, trister als sie in Wahrheit ist“.28 Wenn die Kunst ihre Impulse aus dem Reiz des Augenblicks empfängt, dann erhält sie nur Bruchstücke. In den impressionistischen Landschaften findet sich das wieder; ausschnitthaft erscheint die Natur – in einem Seerosenteich, in einer Uferpartie, in einem vereinzelt aus dem Meer ragenden Fels. Wie willkürlich abgetrennt von seiner Umgebung wirkt der Bildinhalt, so als habe er keine Verbindung zu den ihn umschließenden Elementen. Darin besteht ein weiterer Unterschied zur früheren Landschaftsmalerei. Diese leitete den Betrachter auf etwas, dass das Bild transzendiert, verwies ihn darauf, dass das Dargestellte einer umfassenden Ordnung angehört. Es bekam etwas zu spüren von der Unendlichkeit der Natur, von den in ihr wirkenden gewaltigen Kräften oder gar von der Offenbarung des Göttlichen und Metaphysischen in ihr. Das Sehen wird dann aber über sich hinausgetrieben, es wird zu einem geistigen Akt, in dem sich das Bewusstsein die großen Zusammenhänge vergegenwärtigt. Schon in der Bildanlage wird das erkennbar: Die Übersicht herrscht vor, der Blick von einer hohen Warte, der sich im Unendlichen verliert. Dem gegenüber bedeutet die impressionistische Auffassung den bewussten Verzicht auf alles, was jenseits der gegenwärtigen Wahrnehmung läge. Sie bescheidet sich mit dem Sichtbaren und aus ihm ist der metaphysische oder symbolische Verweis eliminiert. So erscheinen nur Realitätssplitter, berückend in ihrer Farbigkeit und Leuchtkraft, aber nicht dazu gemacht, den Geist zur Kontemplation anzuhalten. Gemessen am Hergebrachten ist es berechtigt zu sagen, dass die Landschaftsdarstellung im Impressionismus an ihr Ende gekommen sei.29 27 Zitiert nach Schivelbusch, a.a.O., S. 54 Anm. 28 Die Stelle wurde oben bereits angeführt. 29 Zu diesem Urteil kommt Rolf Wedewer; vgl. a.a.O., Kp. 5, S. 123ff.
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Ganz ähnlich fällt der Befund in Bezug auf Fontane aus, und es ist wahr, bei ihm gibt es allenfalls „Landschaftsfragmente“.30 Schon früh hat er dafür einen Begriff geprägt, es ist der des „landschaftlichen Apercus“, worunter im Gegensatz zur „breiten Schilderung“ eine „Skizze“ zu verstehen ist.31 Und ein Bekenntnis zu derlei Bestrebungen wird ihm zur ironisch-witzigen Pointe, wenn er eine Romanfigur sagen lässt: „… während meiner italienischen Tage hab’ ich vor so vielen Himmelfahrten gestanden, daß ich jetzt für Stiefeletten im Sonnenschein bin.“32 Um noch einmal zusammenzufassen, das teilt Fontane mit dem Impressionismus: die Vorliebe für bestimmte Motive, die Dynamisierung des Lebensgefühls, die Reflexion auf das eigene Sehenkönnen, die Reduktion aufs Sichtbare und die Beschränkung auf das Detail. Ein direkter Einfluss des Impressionismus auf ihn ist nicht nachweisbar. Aber er nimmt nur auf, was im Impressionismus nach Ausdruck drängte, in ihm und in anderen Richtungen auch, im Realismus und im Naturalismus. Es sind die vom zivilisatorischen Fortschritt geschaffenen Existenzbedingungen, es sind die vom wissenschaftlichen Geist und von der Technisierung hervorgebrachten Seh- und Erlebnisweisen, die in der Kunst Gestalt annehmen. Es ist aber so, als hätte der Impressionismus und Fontane einen geschichtlichen Moment festgehalten, in dem es so aussah, als seien Natur, Technik und Kunst keine Gegensätze. Die Konstruktion des Ingenieurs erschien ebenso malerisch wie ein Naturgebilde und im künstlerischen Blick vereinigten sich beide in einer ganz diesseitig empfundenen Anmut und Schönheit. Fontane empfängt Anregungen von den zeitgenössischen Bestrebungen, davon zeugt seine Auseinandersetzung mit Emile Zola. Was nun die bildende Kunst betrifft, so ist er ein eifriger Ausstellungsbesucher. Über Turner schreibt er, von dem sich bekanntlich Monet inspirieren ließ. Er kennt die Landschaftsmaler seiner Zeit, die der Düsseldorfer Malerschule, Oswald und vor allem Andreas Achenbach, dessen Bild von der ‚Erftmühle‘ er ungewöhnlich emphatisch feiert. An den Berliner Genremalern findet er Gefallen, an Knaus und Skarbina. Er hat angedeutet, was ihn daran anzog, nicht die großen Themen sind es, sondern die Behandlung von „Ton und Farbe“. Man darf schließen, dass die Schulung an den Bildern seine Orts- und Naturdarstellungen beeinflusst haben, dass die Aufmerksamkeit auf Licht und Farben ihm daher kamen und dass er sich für den Bildaufbau einiges davon abmerkte.33 30 31 32 33
Diesen Begriff gebraucht Richard Brinkmann, a.a.O., S. 22. Vor dem Sturm, I, 3, S. 418. Der Stechlin, I, 5, S. 228. In den Romanen finden sich immer wieder Gespräche über Kunst, und ein Bild gibt sogar den Titel eines Werkes ab: L’Adultera. Fontanes Ausstellungsberichte liegen in
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Vom Ausschnitthaften der Bilder Fontanes wurde gesprochen. Das ist nicht allein darauf zurückzuführen, dass sie aus der Bewegung heraus entstanden sind. Auch dann, wenn die Figuren innehalten und sich ganz der Landschaft zuwenden, weisen sie dieses Merkmal auf. Es entstehen dann aber Ansichten eines anderen Typus, als es die waren, die vorher angeführt wurden. Auf diese Mauer setzten sie sich und sahen in die Landschaft hinaus. Zu Füßen hatten sie den breiten Strom und die schmale Tanger, die spitzwinklig in den Strom einmündete, drüben aber, am andern Ufer, dehnten sich die Wiesen, und dahinter lag ein Schattenstrich, aus dessen Lichtungen hier und dort eine vom Abendrot übergoldete Kirchturmspitze hervorblickte. Der Himmel blau, die Luft frisch; Sommerfäden zogen, und in das Geläut der ersten heimwärts ziehenden Herden mischte sich von weit her das Anschlagen der Abendglocke.34
Auffallend zunächst ist der klare Aufbau, die Gliederung nach Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Sie wird betont durch den horizontal das Bild durchlaufenden Strom. Die Darstellung wirkt eigentümlich statisch. Das liegt daran, dass die Gestalten in der Nähe und die in der Ferne nicht von sich aus eine Verbindung eingehen; die organisiert der Betrachter, dessen Standpunkt angegeben wird. Er vermittelt die Gründe durch seine Ortsbestimmungen: „zu Füßen“, „drüben“, „dahinter“. Unterstützt wird dies allein durch das alles überspannende Blau des Himmels. Die Ansicht überschreitet aber nicht das, was im Gesichtsfeld des Betrachters liegt. Auffällig ist ein weiteres Moment, dies, dass die optischen Eindrücke ergänzt werden durch akustische. Letztere erst geben dem Bild das Atmosphärisch-Stimmungshafte. Die Töne evozieren Abendfrieden, Heimkehr, Geborgenheit. Und da ist noch eine Kleinigkeit, nämlich die „Sommerfäden“. In ihnen ist etwas von Herbst und Melancholie. Um die Güte des Bildes richtig zu beurteilen, müsste man berücksichtigen, dass es in einem genau kalkulierten Verhältnis zu den Liebenden steht, denen es sich darbietet. Ihre Lebensumstände kontrastieren scharf mit der hier hervorgerufenen Stimmung; sie werden nicht zur Ruhe kommen – aber darum soll es hier nicht gehen. Cécile ... sprach kein Wort von Ermüdung, weil das Bild, das die Dorfstraße gewährte, sie beständig interessierte. Links hin lagen die Häuser und Hütten in der malerischen Einfassung ihrer Gärten, während nach rechts hin, am jenseider zitierten Ausgabe im Bd. III, 5 vor. Im übrigen ist Fontanes Verhältnis zur bildenden Kunst gut untersucht; angeführt sei hier nur: G.W. Field, Professor Cujacius, Turner und die Präraffaeliten in Fontanes Stechlin, in: Fontane Blätter, Bd. 5, 1982, S. 580ff. Winfried Jung, „Bilder und immer wieder Bilder…“ – Bilder als Merkmale kritischen Erzählens in Theodor Fontanes Cécile, in: Wirkendes Wort, 40 Jg. 1990, Heft II, S. 197 ff; dort wird auch auf weitere Untersuchungen hingewiesen. 34 Grete Minde, I, 1, S. 44.
376 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft tigen Ufer der Bode, der Hochwald anstieg, auf dessen Lichtung das Vieh weidete. Das Geläut der Glocken tönte herüber, und dazwischen klang das Rauschen des über Kieselgeröll hinschäumenden Flusses.35
Nichts zu merken ist von dem Walten der großen Natur. Da ist nur diese begrenzte Ansicht. Was das Interesse der Dame erweckt, ist das Malerische der Szenerie, mehr nicht. Auffälliger noch als im ersten Bild sind hier die Ordnungsbegriffe – „links“, „rechts“, „jenseitig“ -, die dem Subjekt angehören, nicht der Landschaft. Und ebenfalls wiederholt sich das Zugleich optischer und akustischer Wahrnehmungen.36 Nicht als frei erscheint Natur bei Fontane, sie ist immer hergerichtet durch subjektive Schemata; erst dadurch erlangt ihr Anblick die Qualität eines Bildes. So steht es auch mit einem Motiv, das überaus häufig wiederkehrt, es begegnet rund sechzig Mal in den Romanen, das ist der Blick aus dem Fenster. Geschildert werden Momente, in denen die Romanpersonen ganz bei sich sind. Sie sind abgesondert von der Gesellschaft und halten Einkehr; Zeiten der Bewusstwerdung und der Besinnung sind das. Was sich draußen zeigt, spiegelt die Gedanken und Gefühle der Personen wider. So schaut Lene in Irrungen, Wirrungen auf eine mondbeschienene Flusslandschaft, und es ist, als würde der Lauf der Ereignisse für eine Weile innehalten, es ist, als dränge sich in den Anblick der stillen Gegend Lenes kurzes Glück zusammen.37 Als Effi begreift, was der Brief Innstettens, der ihr die Entdeckung ihres Fehltritts mitteilt, für sie bedeutet, sieht sie, wie draußen auf dem Boden sich das Fenstergitter abzeichnet, und sie muss erkennen, dass sie die Gefangene ist, die ist, die ausgeschlossen ist von der Gesellschaft. Und später, als sie wieder in ihrem Elternhaus wohnt, schaut sie hinaus auf die Bäume des Parks und dann hinauf zu den Sternen; und darin drücken sich eine Todesahnung aus und auch der Wunsch nach Erlösung.38 Melanie aus L'Adultera sieht den Schneeflocken vor ihrem Fenster zu, und sie verspürt in sich den Wunsch zu fliegen. Frei sein möchte sie, das beginnt sie zu verstehen.39 In Fontanes Fensterblicken hält sich die Reminiszenz an ein Motiv aus der Romantik. Zu denken ist an Bilder von Carl Gustav Carus und von Caspar David Friedrich: ein mondbeschienener Garten zeigt sich da vor einem geöffneten Fenster oder die Rückenansicht einer Frau, die sich leicht hinausbeugt und man ahnt nur, was sie sieht, an den bruch35 Cécile, I, 2, S. 386. 36 Die Analyse kann hier kurz gefasst werden; Tau und nach ihm Ohl stellen dieselben Bildelemente heraus, bleiben allerdings dabei stehen. Vgl. Tau, a.a.O., S. 8–20; Ohl, a.a.O., S. 449–456. 37 I, 2, S. 386. 38 Zum Fenster-Motiv in Effi Briest vgl. Quabius, a.a.O., S. 146f. 39 I, 2, S. 11.
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stückhaft erscheinenden Schiffsmasten. Sehnsucht spricht aus diesen Bildern – wie auch aus den Versen Eichendorffs: „Es schienen so golden die Sterne, / Am Fenster ich einsam stand / Und hörte aus weiter Ferne / Ein Posthorn im stillen Land.“ Fontane hat eine ähnliche Szene gestaltet, nur, dass an die Stelle des Posthorns „der Pfiff eines Dampfers“ getreten ist.40 Das Fenstermotiv ist eine Figuration der Innerlichkeit. Anders aber als in der Romantik, der damit das schmerzliche Bewusstsein der Trennung von der Natur und der Wunsch nach Vereinigung mit ihr verbunden war, reflektiert sich in diesem Motiv bei Fontane die Lage eines Menschen, der – vielleicht nur zeitweilig – aus der Gesellschaft herausgetreten ist. Der Blick aus dem Fenster hat jedoch auch eine bildkompositorische Funktion. Die Welt erscheint im Rahmen. Zwischen die Natur und den Betrachter schiebt sich eine künstliche Vorrichtung. Ganz bewusst wird dieses Verfahren eingesetzt, um einen bestimmten malerischen Effekt zu erzielen. So hält die Prinzessin in Unwiederbringlich die Besucher ihres Schlosses davon ab, einen anderen als den von ihr angewiesenen Platz einzunehmen, mit der Begründung, sie verstünde sich auf Landschaft und könne versichern, „daß gerade so, wie’s jetzt sei, das Bild am schönsten wäre.“ Was man sieht, ist dies: Die Diener hatten die nach Ost und West hin einander gegenüberliegenden Balkonfenster geöffnet, so daß die ganze landschaftliche Herrlichkeit wie durch zwei große Bildrahmen bewundert werden konnte. Freilich die das Schloß unmittelbar und nach allen Seiten umgebende Wiesenplaine war, weil zu nahe, wie in der Tiefe verschwunden, dafür aber zeigte sich alles Fernergelegene klar und deutlich, und während, nach links hinüber, die Wipfel eines weiten Waldzuges in der niedergehenden Sonne blinkten, sah man nach rechts hin die blauflimmernde Fläche des Meeres.41
Durch die Vorhaltung eines Rahmens werden die Gegenstände arrangiert. Im vorliegenden Fall dadurch, dass der Vordergrund abgeschnitten wird; die entfernteren Partien können so stärker hervortreten. Eine vergleichbare Wirkung hat eine Übung Lewins.42 Der haucht ein Loch in die Eisblumen am Fenster, das „nicht größer als eine Glaslinse“ ist, und sieht nun die Wintersonne prächtig neben der Dorfkirche aufgehen. So wie im Fensterrahmen sieht auch die Welt im Spiegel anders aus als in der gewohnten Sichtweise. In Stine wird ein „Drehund Straßenspiegel“ beschrieben, der draußen am Fenster angebracht 40 Vgl. I, 2, S. 247. 41 I, 2, S. 662. 42 Vor dem Sturm, I, 3, S. 24.
378 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft
ist. Über ihn sagt die Besitzerin: „Un wenn ich in den Spiegel kucke und all die Menschen und Pferde drin sehe, dann denk’ ich, es is doch woll anders als so mit bloßen Augen. Un ein bißchen anders ist es auch. Ich glaube der Spiegel verkleinert, un verkleinern ist fast ebensogut wie verhübschen.“43 Gleiches empfindet Botho von Rienäcker, dem plötzlich aufgeht, wie schön sich eine Straßenszene ausnimmt unter dem Grün der Kastanien, aber das geschieht, weil sich „wie auf einem Camera obscura-Glase, die Menschen und Fuhrwerke geräuschlos hin und her bewegten“.44 Im eben angeführten Zitat wird das Stichwort gegeben: „anders als mit bloßen Augen“, das ist der Blickwinkel, aus dem hier etwas wahrgenommen wird. Zwischen das Auge und die Objekte hat sich eine Apparatur geschoben – oder vielmehr etwas, das einer solchen gleichkommt, etwas wie eine „Linse“, und selbst die simple Einrahmung macht einen ähnlichen Effekt. Was schon bei der Eisenbahnfahrt festgestellt wurde, kehrt hier wieder: die technische Vorrichtung ist in die Sichtweise eingegangen. Ästhetische Qualität erreichen die Gestalten der Wirklichkeit erst durch die Operationen des Betrachters. Das ist ein Zusammenhang, auf den auch die Verwendung von Ordnungsbegriffen verwies. Es handelt sich hierbei um einen Vorgang der Subjektivierung. Damit ist freilich wenig gesagt, denn der setzte schon ein in der Renaissance und zwar mit der Einführung der Zentralperspektive. Es gibt aber in diesem Prozess Stufen und Grade. Im Falle Fontanes zeichnet sich ab, was auch sonst in der Moderne, beispielsweise im Impressionismus, zu beobachten ist. Ein Gegenstand wird aus dem gewohnten Zusammenhang herausgelöst. Er erscheint neu, gewinnt ein überraschendes Ansehen, hat eine vordem unbekannte Attraktion. Es ist nicht etwa so, dass der Gegenstand willkürlich verändert würde; die Realität wird nicht eigentlich überhöht oder verschönert. Die durch den Spiegel oder durch das Fenster aufgenommene Szenerie existiert tatsächlich, von ihr wird nichts weggelassen und ihr wird nichts hinzugefügt. Und doch hat sie sich verwandelt. Das macht die Umstellung der Sichtweise, das ist eine, die sich auf die Optik der Apparate einlässt. Dergleichen läuft auf die – auch von den Impressionisten geteilte – Überzeugung hinaus, dass nicht das Sujet oder der Inhalt als solcher darstellungswürdig ist. Entscheidend ist allein die Art der Wiedergabe. Deshalb kann auch das Banale und Alltägliche Gegenstand der Kunst werden. Nichts ist banaler als das von Fontane angeführte Paar Stiefeletten im Sonnenschein. Für sich genommen haben die Dinge nichts zu sagen, auch die Naturerscheinungen nicht. Diese sind längst hineingenommen in einen 43 I, 2, S. 483. 44 Irrungen, Wirrungen, I, 2, S. 350.
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Benutzungs- und Verwertungszusammenhang, und so sind sie Teil der vollkommen angeeigneten und beherrschten Welt. Nirgends bei Fontane ist der Drang zu spüren, sich einer vom Menschen unberührten oder ihm doch gegenüberstehenden Natur zu nähern. Neben die Naturerscheinungen treten als gleichberechtigt die Einrichtungen der Technik. In eine Uferpartie haben sich Industriebauten geschoben, landschaftliche Attraktionen werden eingenebelt vom Qualm der Fabrikschornsteine und Bahndämme durchziehen das Land. Natur ist eine der Landpartien, die gibt es in Portionen vor dem Rehbraten. Sie ist das Terrain für Turnübungen und Sportveranstaltungen, und dort, wo sie am schönsten ist, hallt sie wider vom Lärm der Ausflügler. Dass es da auch Momente der Einkehr gibt, ändert nichts am grundlegenden Sachverhalt. So stellt es sich nicht nur in den Romanen dar. Fontane selbst teilt diese Auffassung und er ist darin nur Zeitgenosse seiner Figuren. Über eine Lokalität in Jütland schreibt er: Überall bei uns, auch an stillsten Stellen, weiß man sich inmitten der Zivilisation; man glaubt ihr Mühlenrauschen, ihren hämmernden Takt zu hören, und wenn das Ohr nichts vernimmt, so glaubt es doch noch unser Auge der Luft und dem Lichte abzufühlen: sie sind über keine Einsamkeit hingegangen. Anders hier. Alles trägt das Kleid, den Farbenton der Öde.45
Obsolet geworden ist auch der Begriff der Landschaft. Ist diese in der idealistischen Tradition – in der Auffassung Goethes oder Jean Pauls – Ausdruck der unendlichen Natur, die vorgestellt wird als das allumfassende Leben, so ist Landschaft für Fontane nur ein unkultivierter Erdstrich. Er trifft folgende Unterscheidung: „Ich nehme ... ‚Land‘ als Ganzes und ‚Landschaft‘ als Teil. Die ‚reine Gegend‘ ist das, was ich Landschaft nenne, Land hingegen umfasst Landschaft s a m t S t ä d t e n u n d D ö r f e r n.“46 Erstere bleibt ihm fremd, sie sagt ihm nichts. Nur wenn in ihr Spuren menschlichen Lebens und Handelns anzutreffen sind, wird sie für ihn interessant. Aber der Begriff der Landschaft ist im Grunde nicht scharf gefasst. Mit ihm kann einfach ein Stück Natur gemeint sein, ein „Blumenkarree“ z.B., das hinter großstädtischen Häuserzeilen liegt und ausdrücklich als „landschaftliche Schönheit Berlins“ gefeiert wird.47 Dazu passt die nonchalante Bemerkung einer Romanfigur: „au fond sind Bäume besser als Häuser“.48 Bei Fontane hat die Natur kein eigenständiges Wesen. Sie erscheint als zivilisatorisch vereinnahmt. Und auch in der ästhetischen Darstellung untersteht sie menschlicher Verfügbarkeit. Ihre Teile sind ver45 46 47 48
III, 3, I, S. 603. Ebd., S. 612.; Sperrungen vom Vf. I, 2, S. 257. Ebd., S. 250.
380 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft
rückbar und können vom Subjekt unterschiedlich angeordnet werden. Das zeigte sich in den verschiedenen Modalitäten des Sehens und in der Verwendung subjektiver Schemata. Die Ausrichtung nach rechts, links und dergleichen ist weniger selbstverständlich, als man zunächst glaubt. Dahinter steht ein bestimmter Naturbegriff. Das belegt ein Vergleich mit den Landschaftsdarstellungen Stifters, der immerhin auch dem Realismus zugerechnet wird. Bei diesem gehen von den Naturerscheinungen Aktivitäten aus. „Der Wald hatte sich auseinandergerissen“, „die hohen Bergwände schauten herein“, heißt es da.49 Die natürlichen Gegebenheiten selbst gruppieren sich zu einer Einheit. Die sichtbare Natur ist die Offenbarung einer transzendenten Ordnung. Diese spürt die Darstellung auf und zeichnet sie nach. Der Mensch ist eingebunden in diese Ordnung. Die natürlichen Formationen werden deshalb als bedeutungsvoll erfahren. Anders steht es bei Fontane. Hier sind die Erscheinungen bloße Dinge und als solche bilden sie keinen Zusammenhang, den stellt erst der Betrachter her, er richtet die Ordnung der Dinge ein. Das ist auch der Grund für die „bühnenhafte“ Wirkung, die man an Fontanes Landschaften festgestellt hat.50 Die jeweiligen Konstellationen sind nur relativ und ändern sich mit der Betrachtungsweise. Eine Bedeutung, eine Qualität hat das naturhaft Seiende von sich aus nicht; die muss ihm erst zugesprochen werden. Der Naturbegriff, der dieser Auffassung zugrunde liegt, ist der der mechanistischen Wissenschaft. Ihn teilt Fontane, ohne dass dies an irgendeiner Stelle seines Werkes ausdrücklich vermerkt würde. Sinn empfangen die Naturerscheinungen dadurch, dass sie eine Beziehung zum Leben einer Romanfigur eingehen. Das Beiläufige und Unscheinbare bekommt so unvermutet einen Symbolgehalt. Oder besser: es wird förmlich aufgeladen mit Bedeutung. Ein Rondell ist ein Stück eingefasste Natur. Dass dies in Front eines märkischen Herrenhauses erscheint, gehört zu solchen Anlagen. Folglich ist es auch in der Ortsbeschreibung am Anfang von Effi Briest zu finden. Erst am Ende des Romans, wenn man erfährt, dass Effi hier ihr Grab findet, erlangt es seinen vollen Sinngehalt, den, dass ein Kreis sich schließt, ein Schicksal hat sich erfüllt.51 So verfährt Fontane auch mit anderen, ganz gewöhnlichen Gegebenheiten, mit Naturdingen oder mit Gebrauchsgegenständen. Indem sie in Berührung kommen mit den Wendepunkten des Daseins, erhalten der Rhabarber, der Heliotrop, die Schneeflocke 49 Die Zitate sind aus dem Hagestolz; ähnliches ist auch sonst im Werk Stifters zu finden; vgl. das vorige Kp. 50 Vgl. Tau, a.a.O., S. 18; Bruno Hillebrand, a.a.O., S. 229, S. 239, S. 272. 51 Das Symbol des Rondells erscheint auch im Stechlin; vgl. dazu: Gotthart Wunberg, Rondell und Poetensteig, in: Jürgen Brummack (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Festschrift für Richard Brinkmann, Tübingen 1981, S. 458ff.
Der Zauber einer Kiefernheide – Theodor Fontane 381
eine bestimmte Bedeutung.52 Die nicht weiter erwähnenswerte Einrichtung einer Schaukel wird zum vollkommenen Sinnbild. In ihm materialisiert sich das Naturell und das Schicksal Effis, sie „immer Tochter der Luft“ und begierig auf das Wagnis. Öde erscheint Fontane eine vom Menschen unberührte Natur auch deshalb, weil er daran etwas vermisst, was ihm eine Gegend erst anziehend macht, und das sind die Spuren der Geschichte. Dem historisch Bewanderten eröffnet sich in der Betrachtung der Landschaft eine vierte Dimension. Sie wird ihm zum Schauplatz großer Ereignisse, und er sieht mehr als der Unwissende. Er beschaut eine Lokalität mit den Augen eines Feldherrn oder eines Dichters oder mit denen eines Verbannten. Selbst unauffällige Plätze sieht er „plötzlich wie in wunderbarer Beleuchtung“.53 Sie sind verknüpft mit dem Schicksal bekannter Personen oder mit dem von Familien und Völkern. Es sind aber die Namen, die das historische Gedächtnis wachrufen, und es ergibt sich eine Art Wiedererkennungseffekt: Hier war das also. So ist die Landschaft voller Hinweise auf die Geschicke der Bewohner. Und für Fontane wird eine Szenerie zum Anlass, Geschichten und Geschichte zu erzählen. Es entsteht etwas für Fontane sehr Typisches, etwas, das man als ‚historische Landschaft‘ bezeichnen könnte. Man findet ähnliches bei den Historikern seiner Zeit. Da wird eine mit beträchtlichem schriftstellerischem Können angefertigte Naturschilderung bezogen auf Ereignisse der Vergangenheit. Zwei dieser Historiker wurden in den vorstehenden Kapiteln schon angeführt, Fallmerayer und Gregorovius. Es gehört dies zu einer Bewegung, die das ganze 19. Jahrhundert ergriff und im ‚Historismus‘ ihren signifikantesten Ausdruck fand, und das ist die Zuwendung zur Geschichte. Während eines Gesprächs hatten die beiden Freunde den Punkt erreicht, wo der am diesseitigen Abhang sich hinziehende Weg scharf ansteigend nach links hin abzweigte. Sie folgten dieser Abzweigung und standen nach wenigen Minuten an dem Rücken des Hügels, den Fluß zu Füßen, jenseits desselben das neumärkische Flachland. Alles in Schnee begraben, die vereinzelten Terrainwellen in der weißen Fläche verschwindend. Auch das Oderbett hätte sich kaum erkennen lassen, wenn nicht inmitten desselben eine durch den Schnee hin abgestreckte Kiefernallee die Fahrstraße von Frankfurt nach Küstrin und dadurch den Lauf des Flusses bezeichnet hätte. Rechtwinklig auf diese Fahrstraße stießen Queralleen, welche die Kommunikation zwischen den Ufern unterhielten und, in ihrer Verlängerung, auf spärlich verstreute Ortschaften zuführten. Die Freunde freuten sich des Bildes, das trotz seiner Monotonie nicht ohne 52 Hier geht es natürlich um die Symbolik bei Fontane; vgl dazu die Ausführungen von Peter Demetz in dem Kp. Symbolische Motive: Flug und Flocke, in: P.D., Formen des Realismus: Theodor Fontane, Frankfurt/M. – Berlin – Wien 1973, S. 179ff. 53 Wanderungen, II, 1, S. 13.
382 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft Reiz und einen gewissen Anflug von Feierlichem war. ‚Wozu gehört der Kirchturm dort drüben, mit den großen Schallöchern und der goldenen Kugel?‘ fragte Tubal. ‚Zu Dorf Ötscher.‘ ‚Ötscher! Ich habe nie den Namen gehört.‘ ‚Und doch spielt er in unserer Geschichte mit. Zwei Meilen weiter südlich liegt Kunersdorf, wo Kleist fiel und der König in die historischen, besser als alles andere den Moment schildernden Worte ausbrach: ‚Will denn keine verdammte Kugel mich treffen?‘ ...‘ ‚Es ist ein Glück, dich hier als Führer zu haben. Ich hätte dieser Öde jeden historischen Moment abgesprochen.‘54
Für Fontane ergibt sich schließlich eine gewisse Affinität zwischen dem Land und seinen Bewohnern. Und wenn man an seine Landschaft, wenn man an die Mark Brandenburg denkt, so entspricht die Kargheit der Natur dem spröden Charakter der Menschen, wie er immer wieder, nicht ohne Humor, hervorgehoben hat. Die Landschaftsdarstellung eines Romanciers geht nicht auf im Einzelbild. Die über das epische Werk verstreuten Ansichten, Betrachtungen und Schilderungen fügen sich zu einer Topographie, die allmählich vor dem Auge des Lesers entsteht. Und im Stechlin beispielsweise kommen zusammen der See mit den ihn umgebenden Waldungen, die sich durch die Gegend ziehenden Alleen und das mit lichtem Baumbestand besetzte Bruchland. Daraus geht das unverwechselbare Bild einer Landschaft hervor, zu dem auch die Namen, die Orte und die Geschichte ihrer Bewohner gehören. Um das darzustellen, reicht Vertrautheit allein nicht aus. Dazu gehört „bewußtes Sehen“, und das wird nach Fontanes Überzeugung erworben durch die Erfahrung der Fremde. Erst sie führt den Landschaftsschilderer zur Erfassung der „Physiognomie seiner Heimat“. Am Meer und im Gebirge, im Glühen des Gletschers und im Leuchten des Golfs, erobert man sich die Fähigkeit, einen im Dämmer ruhenden, von Mummeln überwachsenen Havelsee und die im roten Gewölk dastehende Kiefernheide in ihrem Zauber zu verstehen.55
Am Schluss soll ein Bild stehen, das alle Elemente der Fontaneschen Landschaftskunst in sich vereinigt. Da ist die herbe Schönheit der Mark, die er so liebte; das Dahingleiten des Dampfers, das ein Panorama entstehen lässt; die an der Malerei geschulte Wahrnehmung, welche das Gesehene in Gründe gliedert und es so zum Bild formiert; die Erinnerung an die Geschichte; und schließlich darüber die Ahnung eines Vogelschreis, der das optisch Aufgenommene atmosphärisch verdichtet. 54 Vor dem Sturm, I, 3, S. 196. 55 III, 1, S. 411.
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Die Ufer, still und einförmig. Nur dann und wann ein Gehöft, das sein Strohdach unter Eichen versteckt; dahinter ein Birkicht, ein zweites und drittes, kulissenartig in die Landschaft gestellt. Am Horizont der schwarze Strich eines Kiefernwaldes. Sonst nichts als Rohr und Wiese und ein schmaler Gerstenstreifen dazwischen; ein Habichtpaar in Lüften, das im Spiel sich jagt; von Zeit zu Zeit ein Angler, der von seinem Boot oder seinem halbverfallenen Steg aus die Schnur ins Wasser wirft. Wenig Menschen, noch weniger Geschichte.56
56 Wanderungen, II, 2, S. 523.
4. Musivisches Dasein – Arno Schmidt Immerzu geht der Wind bei Arno Schmidt. Der weht, wo das Land weit und flach ist, in der großen norddeutschen Tiefebene. Weit ist auch der Himmel und hoch. Das kommt von der niedrig liegenden Horizontlinie. Das Land weicht zurück, und mächtig wölbt sich über ihm der Himmel. Von Landschaft kann man gar nicht reden, eher schon von ‚Luftschaft‘. Das tut auch Arno Schmidt, und dieses Kunstwort gefällt ihm so gut, dass er es gleich mehrfach verwendet.1 Er hat darüber ganz vergessen zu sagen, woher er es hat. Es ist vom romantischen Naturphilosophen Gotthilf Heinrich Schubert, nicht die einzige Anleihe Schmidts bei der Romantik. Der Wind und der Himmel sind nie sich gleich, immer sind sie in Bewegung, und das bringt ein Element des Wechsels und der Unbeständigkeit in diese Landschaft, die sonst eher ruhig ist, einförmig und in sich gekehrt. Abwechslungsreich und mitunter turbulent geht es da zu, vorausgesetzt, man hat einen Blick für die Wolkenbildungen und ein Gespür für die Regungen des Windes. Dann ergibt sich eine unerschöpfliche Fülle an Formen, Farben, Klängen und Rhythmen. Die Beschreibung von Himmelserscheinungen ist wesentlicher Bestandteil von Schmidts Naturdarstellung. Er hat sich eine Ansicht der romantischen Landschaftskunst zu eigen gemacht, nach der der Himmel „der unerlässlichste und herrlichste Teil der Landschaft“ sei.2 Überaus zahlreich sind die Wolkenbilder, die in die Romane und Erzählungen eingestreut sind: Da „schleift ein plumper Wolkensack quer über den Himmel“; „Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes, kriechen langsam auf die Sonnenkirsche zu“; Ein „dunkelroter schwerer Wolkenvorhang streift die Erde, manchmal bauscht es dahinter wie große Gestalten, einmal glitzert unten der Saum golden“; „Wolkenvieh mästet sich“, „Wolken in weißen Burnussen reiten hinter Halbhügeln“; „Der Himmel ist farblos, ein fahler Strom von Kriegsgefangenen“; Und schließlich: „Wolkenschau (wie Urteil des Paris): eine schlanke Schnelle in ganz anliegen1
2
Schmidt wird zitiert in der Bargfelder Ausgabe nach Werkgruppe und Band; die Typoskripte werden in der üblichen Zählweise angeführt; das essayistische Werk zur deutschen Literatur in vier Bänden wird zitiert Zur dt. Lit.; bei den übrigen Werken werden die vollen Titel angegeben. Luftschaft I,1, S. 288; Zur dt. Lit. 1, S. 26, 2, S. 187 Carl Gustav Carus, a.a.O., S. 58.
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dem Weiß; eine vornehme Dicke mit kurfürstlich gebogenem Popo, und erhabenem Busenfett, wie von Römern erbaut. (Später noch die freche Dürre mit rotem Wildererkopf und schmalgehurtetem bläulichem Rücken: also kriegt n Die!)“3 Und was nun den Wind angeht, so „zischelt“ er; er „rennt“, „stampft“, „haspelt“, „redet“, „sprudelt“, „rauscht“ und „tobt“, er „fuhrwerkt“, „schreit“, „krault“, „flüstert“ und „murrt“. Er ist ein „Büffelwind“, ein „Räuberwind“. Er macht „Staubgebärden“, „lehnt lässig herum“, „pendelt unentschlossen hin und her“. Er „bricht lustvoll lachend zusammen“, und er „pfeift einen Blues“. Er ist der „Herr Windstoß, der Pirouetten schlägt“, und ist als „schlacksige Windin ... wie ne halbwüchsige fleglige Geliebte“. Dann macht er sich an den Menschen zu schaffen: Er „streicht Haut und Haare glatt“, „gibt Püffe“ und „fummelt am Mantel“; er „tastet sich durch alle Taschen“ und „zerstückelt einen“. Der Wind „hebt den Rock“ und „wuschelt Anzügliches“ – „O Rock ... Und Bluse.“ Nicht ausgelassen werden darf hier eine Erscheinung, auf deren Beschreibung Schmidt besondere Sorgfalt verwendet hat, die des Mondes. Darin ist er nicht minder erfinderisch als sein großes, heimliches Vorbild Jean Paul. Der Mond sieht immer anders aus. Sein Erscheinungsbild hängt ab von den astronomischen Gegebenheiten und den Witterungsbedingungen. Variabel ist seine Gestalt und seine Farbe, und mit diesen Veränderungen bekommt er auch eine jeweils andere Ausdrucksgebärde. Er zeigt sich bald als „kahler Mongolenschädel“, bald als „Spitzhacke“, dann wieder nimmt er die Form eines „Maleiengesichtes“ an oder die einer „Silbermachete“, oder er ist einfach ein „verbeulter Goldeimer“. Natürlich sind solche Beschreibungen nicht allein die mimetisch korrekte Wiedergabe von Naturphänomenen. Eingegangen ist in sie auch die Auffassung des Betrachters, seine Gemütslage und seine Empfindungen. Ein bestimmtes Aussehen des Mondes vermittelt auch eine besondere Stimmung, die eines fahlen, frühen Herbstmorgens oder die einer vorgerückten Sommernacht: „Das Sonnenfeuer fraß sich höher in den strohigen Morgen; der graue Hagemond verschwand in irgend ein Moor: farewell Niedersachsen“.4 „Der Himmel gepickt mit Sternen; ein lachsrotes Ei stand auf dem Horizont, linke Kante verwaschen, unten drin ein schwarzes Ornamentenband: Mondaufgang hinter Pappeln.“5 Die Protagonisten der Geschichten betrachten den Mond als „Zeichen“, das etwas zu ver-stehen gibt; so scheint er hinein in ihr Leben, es mehr oder weniger mutwillig kommentierend. Er guckt „mo3 4 5
I,1, S. 324f. I,1, S. 270. I,1, S. 438.
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kant“, „mürrisch“, „lakonisch“ oder auch „frech“ oder bloß „traurig“. Neben den irdischen Ereignissen vollziehen sich die himmlischen, jene überlagernd, sie widerspiegelnd und transzendierend. Und mitunter geht es da recht dramatisch zu: „Achillener Kerl, der Mond : schleppte eine steife Wolkenleiche hinter sich um unser irdenes Troja (windiges).“6 Schmidt ist der Magie des nächtlichen Gestirns ganz erlegen. Mit dem Selbstspott, zu dem er fähig war, bezeichnet er sich als „Selenomanen“, und sagt weiter, dass er zur Sonne nie „ein Verhältnis“ gehabt habe.7 Sich Mondsüchtigkeit zu attestieren, ist ein bemerkenswertes Bekenntnis für einen, der sich sonst als konsequenten Realisten ausgibt. Diese Neigung teilt er mit dem romantischen Maler Caspar David Friedrich, auch der hat sich so bezeichnet. Freilich geht es bei Schmidt nicht ab, auch das typisch für ihn, ohne dass er seine Vorliebe rational zu erklären suchte, mit seiner Kurzsichtigkeit nämlich. Die „ausschweifende Mondmetaphorik“, die die Ausleger bei ihm feststellten, hat aber zu tun mit einem generellen Merkmal seiner Dichtung. Es ist in ihr eine unbändige Lust zu spüren, „Naturbilder ... in Worten zu fixieren“; so erklärt einer der Romanfiguren den Drang zu schreiben.8 Die Vielfalt. die sich schon aus der Wandelbarkeit des Atmosphärischen ergibt, potenziert sich für eine Einstellung, die auch das Einzelne und Unscheinbare, das ganz Unspektakuläre zu würdigen weiß: das seltsame Muster einer Hecke bei Frostwetter, die Melancholie eines einzeln stehenden Baumes, die wunderbare Vielgestaltigkeit der pflanzlichen Bildungen, der Blätter, Blüten und Früchte. Und dann gibt es alle die Wiesengrünheiten und Waldschatten, die lauschigen Wasserläufe und stillen Weiher, von denen sich die Helden so unwiderstehlich angezogen fühlen. Das alles hat seine Faszination, die nie aufhört, deshalb, weil es unausschöpflich ist. Stets erneuert sich sein Reiz. Immer gibt es eine Figuration, die bis dahin unbekannt war, gibt es Ansichten, die überraschen, gibt es Erscheinungen, die nur ungenügend erfasst wurden. Und die Natur bietet etwas, das sonst nur das Göttliche geben kann: die Fülle ohnegleichen, die nie sich verausgabt, die stets attraktiv ist und auf die man deshalb immer wieder zurückkommen kann. Es ist dies eine Unendlichkeit, die des Liebhabers, der am Objekt seiner Zuneigung immer neue, reizvolle Seiten entdeckt. Und als Liebhaber bezeichnet sich Schmidt; er ist das, was seine Figuren von sich sagen, ein 6 7 8
I,1, S. 320. Zur dt. Lit. 4, S. 343f. I,1, S. 258. Zum Mond vgl. Werner Eggers, In: Deutsche Literatur der Gegenwart, hrsg v. Dietrich Weber, 3. überarbeitete Aufl., Stgt. 1976, S. 324, S. 332f. Im übrigen gibt es von emsigen Schmidt-Jüngern vollständige Auflistungen zu diesem Thema; vgl. z.B. Josef Huerkamp, Materialien und Kommentar zu Arno Schmidts Das steinerne Herz, München 1979; sämtliche Mondmetaphern S. 69ff.
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Liebhaber der Natur; ein „Blattanbeter“ und „Baumverehrer“, ein „Heidediener“. Und er nennt sich, mit einem etwas angestrengten Wortspiel, „Au-Tor“, „Wiesen=Narr“ also.9 Es ist diese Leidenschaft, die ein Motiv für die überbordenden Naturbeschreibungen abgibt. Naturliebe hält Schmidt für eine unabdingbare Voraussetzung der Dichterexistenz, und es ist deren Ermangelung, die ihn dazu bringt, Balzac das Dichterische abzusprechen.10 Geradezu naiv nimmt sich diese Überzeugung aus; sie vertritt Schmidt ganz rückhaltlos, das heißt, ohne die poetologische Absicherung, die er sonst seinen Arbeiten gibt. Sie hat auch etwas Altmodisches, denn sie knüpft an überlieferte Vorstellungen vom Künstlerberuf an. Und Naturverbundenheit gehört gerade nicht zum Kennzeichen der modernen Kunst, erst recht nicht zu dem der literarischen Moderne. Allerdings war sich Schmidt seiner Unzeitgemäßheit auch wieder bewusst. Von Unendlichkeit wurde gesprochen, ein Begriff, den Schmidt gar nicht mag. Seiner Meinung nach gibt es die gar nicht.11 Einmal abgesehen von der Unbegrenztheit, die der Liebende zu fühlen meint – mit Unendlichkeit ist hier keine metaphysische Kategorie gemeint, die so viel sagte, dass das Wesen der Dinge nicht auszumessen wäre. Die Dinge sind erkennbar, es gelingt aber der Beobachtung nicht, sie sich vollständig anzueignen. Die Unbegreiflichkeit leitet sich her von der großen Anzahl. Gemeint ist also eine empirische, nicht eine wesensmäßige Unendlichkeit. Aus ihr ist alles Metaphysische getilgt, sie ist ganz beschränkt auf das Wahrnehmbare. Dennoch nimmt Schmidt hiermit eine die traditionelle Landschaftskunst leitende Intention auf, die nämlich, einen Begriff zu geben von der Weite und Unermesslichkeit der Natur. Aber Schmidt transponiert das auf eine andere Ebene, auf eine, die sich mit einer diesseitigen, positivistisch-wissenschaftlichen Auffassung im Einvernehmen weiß.12 Noch andere Gründe führen dazu, sich der Natur zuzuwenden. Da ist in dem Roman Aus dem Leben eines Fauns an einem Wintermorgen der kleine Beamte Heinrich Dühring auf dem Weg zur Arbeit. Er sitzt im Zug mitten in dem faden Geschwätz von Arbeitskollegen und den hastig hingeworfenen Schularbeiten säumiger Fahrschüler. Aber draußen, da liegen die Wälder in der frühen Wintersonne. Die Landschaft scheint herein in das Zugabteil, und sie ist verlockend in ihrem stillen Zauber. 9 10 11 12
Vgl. I,1, S. 315, S. 375; Zur dt. Lit. 1, S. 167. Vgl. I,1, S. 375. Vgl. Zur dt. Lit. 1, S. 19. Mit Blick auf Brockes hat Schmidt dazu nähere Ausführungen gemacht; vgl. Zur dt. Lit. 1, S. 13ff.
Musivisches Dasein – Arno Schmidt 389
Vom Abteilfenster aus: ganz erstarrte Wälder! (Und dahinter hellrosa und blau); so still, daß Niemand hindurchgehen konnte (er müßte denn mit geweiteten Augen und gewinkelten Armen auf spitzen Füßen hindurch balancieren; (und vielleicht so einwachsen! Eine unsinnige Lust ergriff mich, Derjenige zu sein: Notbremse ziehen, Tasche liegen lassen, spitze Balancierarme, kristallene Augen, flint & crown)).13
Und in der Mittagspause kommt Dühring vorübergehend los von den ewigen Zoten und den engen Pflichten. Als er auf die Straße tritt, geht sein Blick zum Himmel, und die Wolkenbilder, die er über den Häusern sieht, wirken wie Sendboten einer anderen Welt. Und dann ist auch der Wind wieder da. Mit ihm fühlt sich Dühring besonders verbunden, und er nennt sich sogar einen „Windverehrer“.14 Diese Zuneigung teilt er mit den Helden anderer Geschichten. „Auch Wind kam auf. Wind“, so endet die Erzählung Schwarze Spiegel, und er steht auch am Schluss von Brand’s Haide. Jedes Mal wird ein Abschied geschildert, ein Abschied von der Geliebten. Am Ende, wenn ihn die Andern verlassen haben, bleibt dem Helden nur der Wind, eine Naturerscheinung, die ganz unstet, flüchtig und launisch ist, aber sie ist ungebändigt und frei. Und schließlich ist der Verlassene im Begriff, mit dem Wind zu verschmelzen, nun selbst leicht wie die Luft, losgelöst und fort mit dem Wind. Schön war draußen der leere hellgraue Platz (wie meine Seele: leer und hellgrau!) auf dem der hohe Wind mich mit Staubgebärden umtanzte; wir waren allein, hellgrau und frei, ni Dieu, ni Maitresse. Ich hatte große Lust, die Windschwünge mit den Armen nachzuahmen, unterließ es aber, der Schuljugend wegen.15
Was nahezu alle Helden Schmidts bewegt, ist der Wunsch zu fliehen. Sie sehnen sich nach einem Ort, an dem sie unbehelligt sind von dem, was die Menschen anrichten. Ihn hoffen sie, in der Natur zu finden, und sie erscheint dann als Refugium. Dieses Verlangen kann sich zu einer Art Naturmystik steigern: „ein Geist müßte man sein: schwebend über Herbstwiesen, so sähe mein tauiges Paradies aus.“16 Und noch in Zettels Traum wird eine besondere psychische Instanz imaginiert, mit deren Hilfe eine Vereinigung mit der Natur vollzogen werden kann: „Du mein WindIch – (abgekürzlt WI) -.“17 Hier kehrt also der seit der Antike geläufiger literarischer Topos von der Natur als Zufluchtsort wieder. Man muss allerdings beachten, dass dieser immer bezogen ist auf eine 13 14 15 16 17
I,1, S. 302. I,1, S. 315. I,1, S. 198. I,1, S. 257. ZT 1197 mu, ru.
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bestimmte historische Konstellation. Bei Schmidt reden Menschen, die gezeichnet sind von den Verwüstungen des modernen Vernichtungskrieges und der Barbarei der Naziherrschaft. Der sich mit dem Wind davonmacht, ist immer auch Arno Schmidt selbst. Und wenn das Wetter danach ist, wird man geradezu hineingeweht in den Ort Bargfeld, vorausgesetzt, man kommt über die freien Flächen von Süden oder Westen her, und man ist zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs. Hier, in der Abgeschiedenheit der Celler Ostheide, hat Schmidt von 1958 bis zu seinem Tod 1979 gelebt. Die Einsamkeit hat er gesucht, und diese Gegend mochte er. Sie war seine Landschaft, sie war Teil seines Lebens, und er hat daraus ein Stück Literatur gemacht. Karg ist sie, es gibt keine grandiosen Naturszenerien oder überwältigende Ausblicke, Flachland eben, und nicht einmal eines, das in seiner Leerheit erhaben wirkte wie das Teufelsmoor bei Worpswede. Nüchtern, herb und norddeutsch sieht es aus. Ein Tümpel oder ein Fischteich, einer von denen, wie sie um Bargfeld zu finden sind, ist da schon viel. Sandig ist der Boden und mit ausgedehnten Waldungen bedeckt; das sind zumeist etwas schüttere Kiefern- und Birkenforste.18 Auch Landschaften haben Konjunktur. Selbst die Reize derjenigen, die eine ganze Epoche begeistert haben, sind irgendwann aufgebraucht. Sie vermitteln keine erregenden Wahrnehmungs- und Stimmungswerte mehr. Oder es ist einfach so, dass die Haltungen und Gefühle, die mit ihnen verbunden waren, nicht mehr nachvollzogen werden können; oder, schlimmer noch, diese gelten als falsch und verlogen. Das ist dann der Fall, wenn eine Ideologie sich einer Landschaft bemächtigt, die der heilen Welt zum Beispiel oder die des nordischen Herrenmenschen. Prinzipiell kann jede Landschaft ästhetisch, emotional und ideologisch ausgeplündert werden. Aber einige bieten sich doch dazu an, deshalb, weil sie von sich aus bestimmte Vorstellungen evozieren, und auch, weil sie mit bestimmten Lebensweisen assoziiert werden. So kommt es dazu, dass sie nur noch Klischees bedienen. Das Stück Natur, das sie zeigen, ist verdorben durch dessen weltanschauliche Vereinnahmung. So hat sich der ‚Blut- und Bodenschund‘ auf ganze Regionen gelegt. Schmidt spielt auf diese Zusammenhänge an, wenn in einem Bericht über einen Kinobesuch während des Krieges steht: „Dann der >Kulturfilm<: natürlich Alpen (und auch obligat heroisch instrumentiert...)“19 Und wenn er sich mit etwas grimmigen Humor als „Heide-
18 Vgl. dazu: Jörg Drews, >Großer Kain< & >Bullenkuhle<, Besuch in der Landschaft Arno Schmidts, in: Jörg Drews/Michael Bock (Hg.), Der Solipsist in der Heide, München 1974, S. 62ff. 19 I, 1, S. 377.
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dichter“ tituliert,20 dann zitiert er nur ein anderes Klischee, das der Vorstellungswelt eines Hermann Löns und verwandter Geister. Gegenüber der pompösen Inszenierung der Landschaft, gegenüber dem unerträglichen Schwulst und der verlogenen Heroisierung, die die volkstümelnde und die faschistische Gesinnung hervorgebracht haben, will Schmidt eine Lokalität aufsuchen, die davon unbelastet ist, die ohne falsches Pathos ist und authentisch in ihrem Ausdruck. Er findet sie in der Schlichtheit und Unaufgeregtheit der Heidelandschaft; in ihr spielen nahezu alle seine Geschichten. Er zeigt sich darin als Angehöriger einer Schriftstellergeneration, die durch Faschismus und Militarismus gründlich desillusioniert wurde; ihr sind die großen Gesten nur noch suspekt. Insofern passt Schmidts Landschaft in die Stimmungslage der Nachkriegsliteratur. Wie gebrochen das Verhältnis zur Natur, trotz der Liebe zu ihr, tatsächlich ist, zeigt die Erzählung Caliban über Setebos. Sie liest sich streckenweise wie eine Selbstparodie Schmidts. Da begibt sich ein Literat, einer allerdings, der volksnahe Verse zu verkaufen sucht, aufs Land, natürlich in die Heide. Was er sucht, ist „die naive, intime Einzelbeobachtung, plastisch & elementar in den Grenzen des Schicklichen, rein & wahr“.21 Er muss bald einsehen, dass das nur schwer zu haben ist, aber im Grunde wusste er das schon. Nichtsdestoweniger spricht Schmidt immer wieder davon, wie sehr das Flachland es ihm angetan hat, und davon reden auch seine Gestalten. Dass sie Gebirge nicht leiden können, ist darin eingeschlossen. „Bergländer liebe ich nicht: nicht den breiigen Dialekt ihrer Bewohner, nicht die zahllos gewölbte Erde, Bodenbarock. Meine Landschaft muss eben sein, flach, meilenweit, verheidet, Wald, Wiese, Nebel, schweigsam“.22 Die Behauptung des gebürtigen Hamburgers Schmidt indessen, die Bevorzugung einer spröden Landschaft, die Abkehr vom üblichen Geschmack also, ginge zurück auf seine Kindheit, ist nichts anderes als eine Selbststilisierung. Der Autor Schmidt jedenfalls muss sich erst noch auf die Suche nach „seiner“ Landschaft machen. Am Beginn seiner Schriftstellerkarriere will er noch weg aus Niedersachsen. Bemerkenswert ist die Begründung. In dem Brief, in dem er 1950 um eine ‚Umsiedlungsgenehmigung‘ nachsucht, heißt es: „Uns, als Schlesier vom Gebirge, würden die mittel- und süddeutschen Landschaften wesentlich eher die verlorene Heimat ersetzen können, als die uns einförmig erscheinende norddeutsche Tiefebene; auch bin ich als Schriftsteller stark von Landschaftseindrücken abhängig.“23 Dass er seine 20 Nachweis bei Wolfgang Martynkewicz, Arno Schmidt, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 15.) 21 I, 3, S. 489. 22 I,1, S. 307. 23 Zitiert nach Martynkewicz, a.a.O., S. 50.
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Meinung ändert, hat wohl mit der Einsicht in die Bedingungen seiner schriftstellerischen Produktion zu tun. Was er braucht, sind bestimmte Ausdruckswerte, die er in den Mittelgebirgsgegenden Hessens und des Saarlandes, wo Wohnorte von ihm liegen, nicht finden kann. Es ist so zu verstehen, wenn er sich ironisch gegen Goethe absetzt. Er selbst bringt sich in Zusammenhang mit der „Lüneburger Heide; Freund barometrischer Tiefs; von Wacholdern.“ Goethe „war mehr für’s mittelgebirgig Bucklige, so diese zweideutige Sorte von Landschaften“.24 Schmidt zieht aus seinen Erfahrungen allgemeine Schlüsse. Die Erscheinungsformen einer bestimmten Natur begreift er als Voraussetzung des dichterischen Schaffens. In jedem Dichterleben kommt nun einmal der Zeitpunkt, wo man >seine< Landschaft kennen lernt – jene Kombination von Bodenformen, Pflanzenarten und Wettererscheinungen, die die ideale Anregung für die Produktion ergibt, und in die man später, oft unbewußt, fast jede Fabel verlegen wird ...25
Das Flachland ist aber nicht allein gut für die Herstellung von Literatur, in ihm wohnen auch noch die aufgeweckteren Menschen, denn: „ & <protestiert>, ja <48> sogar , hat im Heilig=Römischen Reich immer noch die Norddeutsche Tiefebene“.26 Das ist eine von Schmidts Verstiegenheiten, die man nicht weiter kommentieren braucht. Von Kindertagen in Hamburg-Hamm hat er aber Erinnerungen mitgenommen und bis ins Alter bewahrt, die er in stille, eigentümlich suggestive Bilder umgesetzt hat: so hell und leer war die Welt mit großen Räumen und reinem kaltem Farbenspiel. Von breiten hölzernen Brücken sah man hinab auf die Bahngeleise, die in erregender Unerbittlichkeit schnurgerade auf den erbleichenden Himmel zu liefen; schollige Felder gingen ins fernste Blau; Mehlbeeren hingen wie traubiges Feuer in drahtstarren Dornenbüschen; vereinzelte Garben wie aus nickendem Golddraht gebündelt auf den Feldern; fliegend überall zauberfarbenes Laub und tönender Wind zwischen roten Zweigen. Weiße ruhige Villen lagen hinter abwehrend umgitterten Gärten, an kahlen Vorstadtstraßen; raschelnd wandelte man im kühlen Abendgold. Und wenn man eins der großen gelben Blätter am weichen kalten Stiele aufnahm, lag eine rote funkelnde Kastanie darunter: der schlanke Geist im roten Seidenmantel hatte ein edles Haus. Dann kam ein kurzer kalter Windstoß, der die schleifenden Blätter drehte, und man wußte, daß er ein Wesen für sich war, deren viele diesen großen rauschenden Vorort bewohnen mußten.27
Bei Schmidt ist die Natur selbst Gegenstand des epischen Interesses. Deren Beschreibung nimmt einen unverhältnismäßig großen Platz ein. 24 25 26 27
I,2, S. 201. Zur dt. Lit., 3, S. 13. Zur dt. Lit. 4, S. 11. I, 1, S. 254; noch in Julia, oder die Gemälde finden sich ähnliche Reminiszenzen.
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Wenig passiert demnach in seinen Geschichten, und die Handlung ist schnell hererzählt. Es gibt im Grund genommen nur zwei Handlungsschemata: Einer aus der Stadt, erste Möglichkeit, wird aufs Land verschlagen oder macht dort einen Besuch; oder, zweite Möglichkeit, einer, der auf dem Land lebt, bekommt Besuch aus der Stadt. Im zweiten Fall geht das etwa so vonstatten: Einen in einem Heidedorf lebenden Büchernarren, einen Sammler literarischer Kuriositäten und Liebhaber entlegener Gelehrsamkeit suchen Freunde auf. Da macht man einen Gang durch die Landschaft und schwatzt über Gott und die Welt, besonders aber über Literatur. Meist ist es so eingerichtet, dass einer der Besucher ein alter Kumpel des Gastgebers ist. Da kann man ein bisschen rumschweineigeln und zwischendrin mal einen nehmen, aber nur wenn die Frauen in gehörigem Abstand sind, denn trotz der ausgiebigen Thematisierung des Sexuellen geht es bei Schmidt kleinbürgerlichwohlanständig zu. Das ist fast schon alles, und sehr viel mehr ereignet sich auch nicht in dem dicken Roman Zettels Traum. Natürlich kommt es zu Verwicklungen zwischen den Personen, aber allzu dramatisch ist das auch nicht. Die Handlungsarmut seiner Prosaarbeiten begreift Schmidt als ‚Realismus‘. Auf diese Weise werde dem Rechnung getragen, dass das Leben aus den „bekannten kleinen Einförmigkeiten“ bestehe. Diejenigen, die das Dasein beschrieben, als sei es eine Folge „pausenlos=aufgeregter Ereignisse“, fertigt er mit dem Begriff „Handlungsreisende“ ab.28 Er greift damit in einen Literaturstreit ein, der bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, eigentlich aber älter ist, denn es geht um grundsätzliche Fragen der Literatur. Die Kontroverse ist verbunden mit zwei Namen, mit dem Stifters und dem Hebbels. Letzterer fand Stifters 1achsommer derart langweilig, dass er dem, der ihn nachweislich ausgelesen habe, gleich die „Krone Polens“ versprach. Auf die Sache gesehen richtet sich der Vorwurf darauf, dass Stifter die Hierarchie zwischen „Groß“ und „Klein“, zwischen dem Bedeutenden und dem Unbedeutenden missachtet habe. Er halte sich bei der Schilderung der banalen und unscheinbaren Details auf, bei den sattsam bekannten Dingen des Alltags. Darüber habe er vergessen, was menschlich wirklich berührend sei, das seien die ewigen großen Konflikte, die Gegensätze von Individuum und Gesellschaft, von Held und Schicksal, von Mann und Frau und so weiter. Noch vor der Rezension des 1achsommers hatte Hebbel die ganze Richtung angegriffen, mit einem Epigramm, das behauptete, den betreffenden Literaten glückten „die Käfer“ und „die Butterblumen“ nur, weil sie nichts von den Regungen des menschlichen 28 So in dem gleichnamigen Essay; Zur dt. Lit. 3, S. 157ff, vgl. auch das Nachtprogramm über Brockes; Zur dt. Lit. 1, S. 7ff; vgl. weiter Hartwig Suhrbier, Zur Prosatheorie Arno Schmidts, München 1980, S. 11–13.
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Herzens verstünden. Wie in dem betreffenden Kapitel bereits ausgeführt, hatte Stifter auf diese Vorwürfe mit der berühmten Vorrede zu den Bunte Steinen geantwortet. Sein Hauptargument war dies, dass die Kräfte, die die Abläufe in der Natur und im menschlichen Leben bestimmten, solche seien, die „still und unaufhörlich“ wirkten. Nicht in den jähen Ausbrüchen der Naturgewalten oder in den heftigen Äußerungen der Leidenschaften zeige sich das eigentlich Bewegende, vielmehr werde im „Kleinen“ offenkundig, was die Welt in Wahrheit antriebe. Seine Vorstellungen brachte Stifter auf die Formel vom „sanften Gesetz“. Schmidt gibt sich nicht mit den Einzelheiten ab. Was er aus der Kontroverse mitnimmt, ist die Unterscheidung zweier „großer Schulen“ der Literatur. Die eine verlege sich auf die Gestaltung von „Taten und Handlungen“, für sie stehe Hebbel, die andere sei aus auf die Darstellung von „Zuständen, Denkweisen, Funktionen und Befindlichkeiten“, für sie trete Stifter ein. Selbstverständlich rechnet sich Schmidt zur zweiten Schule. Er sieht sich in Tradition der „malenden“ Poesie des Barock, eines Brockes, Haller und E. von Kleist. Gegenstand der „Beschreibungsliteratur“, wie man diese Richtung auch nennen kann, ist vor allem die Natur. Den Unterschied zwischen Lyrik und Epik kann man in diesem Zusammenhang vernachlässigen.29 Es war die Autorität Lessings, die der malenden Poesie ein vorläufiges Ende bereitete. Wie dessen Abhandlung Laokoon befand, vollziehe sich die Dichtung in der Zeit; das sei die ihr eigentümliche Dimension, und folglich sei es ihr wesensgemäß, Handlungen darzustellen. Die bildende Kunst dagegen sei bezogen auf den Raum. Abläufe zu erfassen, sei ihr deswegen nicht gegeben; ihrem Wesen entspreche, die Dinge abzubilden. Die Klassiker haben Lessing nachgegeben, etwas zögerlich Goethe, Wieland mit einer ironischen Verbeugung vor Lessing: „Er läßt den Fluß zurück und tritt in den Hain, / Den ich, weil Lessing mich am Ohr zupft, nicht beschreibe“.30 Allerdings hat sich die Dichtung nicht ganz nach den Dekreten der Poetik gerichtet. Auch nach Lessing hat es große beschreibende Literatur gegeben, man braucht nur an Jean Paul zu denken und an dessen Kampaner Tal. Für Lessings Laokoon hat Schmidt nur die Bemerkung übrig, dieser sei „unselig=geschäftig“.31 Dagegen verteidigt er seine eigene Sichtweise, und da ist ihm Stifter das Vorbild für ein realistisches Schreiben, vom „großen Stifter“ spricht er sogar. Das mag zunächst verwundern, 29 Im Kp. I, 3 wurde ausführlicher darauf eingegangen. Hinzuweisen ist hier auch auf die dort zitierte Abhandlung von H. Ch. Buch. Dieser sagt allerdings über Schmidt nichts. 30 Die Stelle findet sich in Wielands Idris. Mehr über Lessings Laokoon ebenfalls im Kp. I, 3. 31 Zur dt. Lit.3, S. 158.
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denn es lässt sich nicht leicht ein größerer Gegensatz denken als den zwischen den beiden. Auf der einen Seite der betulich-pedantische, jeden Anstoß vermeidende Stifter, konservativ und kirchenfromm, auf der anderen Seite Schmidt, ruppig-aggressiv und gegen Tabus angehend, ein militanter Atheist und unorthodoxer Linker. Es gibt aber einiges, das sie verbindet. Zuerst ist das die Form ihrer Prosa. Sie sind keine Fabulierkünstler. Der Vorwurf, sie könnten keine Geschichten erzählen, trifft beide gleichermaßen. Die Handlung ist für sie auch nebensächlich, sie ist nur der Anlass, ausgiebige Beschreibungen anzufertigen. Daraus ergibt sich ein zweiter Punkt, der mit dem ersten zusammenhängt: Ihr gemeinsames großes Thema ist die Natur, sie steht im Mittelpunkt ihrer schriftstellerischen Arbeiten. Es kommt daher, dass sie literarische Vorlieben teilen. Stifter wie Schmidt sehen in James Fenimore Cooper eines ihrer Vorbilder; beide waren vollkommen fasziniert von der Schilderung der großen Wälder in den Lederstrumpfgeschichten. Mit der Erzählung Der Hochwald hat Stifter versucht, Ähnliches zu machen, und es ist diese Erzählung, die Schmidt immer wieder als Beispiel gelungener Beschreibungskunst anführt; er bescheinigt Stifter sogar, er habe, was die Güte der Naturdarstellung betrifft, Cooper übertroffen.32 Und schließlich ist es die Nähe zu wissenschaftlichen Verfahrensweisen, worin beide zusammenfinden. Das Dringen auf Genauigkeit, die Tatsache, dass Stifter in die Erfassung der Naturerscheinungen wissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse einbezog, dass er einer war, für den Mathematik und Literatur keine Gegensätze waren, hat Schmidt Respekt abgenötigt. Jedoch, in späteren Jahren will er das alles nicht mehr wahrhaben, da behauptet er ziemlich genau das Gegenteil von dem, was er früher einmal vertreten hatte. Nun gehört Stifter zu den „pseudorealistischen Schriftstellertypen“, und es wird befunden: ihm „mißlingt die Landschaft“. Und im Streit zwischen Stifter und Hebbel wechselt Schmidt die Fronten, auf einmal gibt er Hebbel Recht gegen Stifter. Das führt schließlich zu ausgesuchten Bosheiten, wie etwa die, dass der Witiko ein „Handbuch für Offiziersanwärter“ sei. Es endet bei einer rigorosen moralischen Aburteilung, von „gemütlicher Verrohung“ wird gesprochen und von „sittlicher Verkommenheit“.33 Was da vorgeht, ist die Demontage eines Idols. Daraus erklärt sich das 32 Im Nachwort zu seiner Übersetzung von Coopers Conanchet oder die Beweinte von Wish-Ton-Wish. 33 Die Verrisse stehen in den beiden Nachtprogrammen Der sanfte Unmensch (Zur dt. Lit.3, S. 162ff) und ...Und dann die Herren Leutnants (Zur dt. Lit.3, S. 186ff). Natürlich hat Schmidts scharfe Kritik selbst wieder einen Literaturstreit provoziert. Vor allem die Stifter-Gemeinde zeigte sich empört. Näheres bei Josef Huerkamp, Später 1achtrag zu Arno Schmidts Angriffen auf Adalbert Stifter, in: Vierteljahresschrift des Adalbert Stifter Instituts des Landes Oberösterreich, 1979, Folge1/2, S. 43ff.
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teilweise Gehässige des Tonfalls, und man kann sagen, manches von dem, was Schmidt vorbringt, fällt auf ihn selbst zurück. Sichtlich peinlich geworden ist ihm die Nähe zu einem, der in den Jugendschriften im Kreis seiner Hausgötter sitzen durfte und mit ihnen, mit Fouqué und Poe, von Gleich zu Gleich parlierte. Dichtergespräche im Elysium heißt das Werk, in dem die ‚Götter‘ gestelzt und weihevoll daherreden: DER FREMDE: Deine Augen leuchten verdächtig – du scheinst mir einer von den Naturschwärmern zu sein. Meiner Ansicht nach hat die Landschaftsschilderung keine Berechtigung in der Literatur! STIFTER: Das betrübt mich. Es geschah mir oft, daß sich meine Menschen mir unter den Händen in der Landschaft verloren, bis nur noch Wald war und sich die Fluren um mich dehnten.- Aber warum? – Oder warst du nur nicht dieses ewigen Gefühls mächtig? Schmälst du aus Unvermögen?34
Was Schmidt zunächst angreift ist, dass Stifter sich um die Nöte seiner Zeit nicht gekümmert habe. Das Leid der Kriege und Revolutionen, das Elend der arbeitenden Klassen, die sozialen Verwerfungen der beginnenden Industrialisierung – das alles käme bei ihm nicht vor. In der geschichtlichen Stunde, in der die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf Veränderung drängten, habe er sich in eine Scheinwelt geflüchtet, in die einer patriarchalisch geordneten Ländlichkeit, und der 1achsommer sei „die Magna Charta des Eskapismus“. Vom Dichter verlangt Schmidt, dass er ein „Bild seiner Zeit“ hinterlasse, und das kann er sich nicht anders denken als „realistisch“, womit gemeint ist, dass die sozialen Zustände, die Denk- und Handlungsweisen einer Epoche ohne „Schönfärberei“ wiedergegeben werden müssen. Die Kritik richtet sich also zunächst auf die Inhalte. Dann aber wendet sie sich gegen die Darstellungsweise. Die Akribie von Stifters Schilderungen, das Versenken ins Detail sei nichts als öde Aufzählung. Es fehle die kompositorische Stringenz. Danach hätte Stifter auf seinem ureigensten Gebiet versagt, er hätte nicht vermocht, was doch jede Naturschilderung anstrebt, nämlich dies, dass sich beim Leser die angeführten Gegenstände zum Bild einer Landschaft zusammenschließen. Die ganzheitliche Anschauung löst sich auf, wenn die einzelnen Gegebenheiten ein Eigenwicht bekommen und ungebunden nebeneinander stehen; das eben ist der Fall bei der bloßen Aneinanderreihung. „Durch Aufzählung fossiliert ein Dichter seine Landschaft“, schreibt Schmidt, und Stifter habe meistenteils nur „katalogisierende Schilderungen“ geboten. Für Schmidt gibt es nur zwei „Techniken“, eine Landschaft sichtbar zu machen. Die eine nennt er „das Verfahren der Expressionisten“, die andere
34 I, 4, S. 259.
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„die Methode Brockes“.35 Beide teilten die Voraussetzung, dass die Dichtung mit ihren Mitteln dem Leser kein Bild vor Augen stellen könne. Ihr bliebe nur die Möglichkeit, an etwas zu appellieren, was der Leser ohnehin schon kenne. Der Dichter zitiere gewissermaßen eine Ansicht, die einer waldgesäumten Wiese zum Beispiel, und der Leser müsse diese in Erinnerung an schon Gesehenes in sich erzeugen. Um das zu bewerkstelligen, genügt nach Schmidt die Anführung von zwei, höchstens drei charakteristischen Merkmalen, von „schärfsten Wortkonzentraten“ spricht er. Das wäre die „expressionistische Methode“. Dieses Vorgehen ähnelt dem des Karikaturisten, der mit wenigen Strichen das Typische eines Gesichtes erfasst. Die „Methode Brockes“ dagegen benötigt umständliche und lange Ausführungen, mit der schon erwähnten Gefahr, dass beim Leser sich der Eindruck des Ganzen verliert. „Zeilenschindend“ nennt Schmidt das mit Blick auf Stifter, und er sagt damit, welcher Technik er den Vorzug gibt. Unabhängig von der Art der Darstellung wird befunden, „daß Landschaftsschilderung etwa der Porträtmalerei entspricht“. Das ist nun aber eine arge Verkürzung, und die Naturdarstellung wird damit auf eine einzige Möglichkeit festgelegt, auf die des Landschaftsporträts. Die Literaturgeschichte hingegen bietet eine Anzahl anderer Möglichkeiten an; die jedoch nimmt Schmidt gar nicht zur Kenntnis. Und wenn man nun einen seiner Favoriten nimmt, nämlich Jean Paul, so sind seine Naturszenerien gerade keine tatsächlichen Ansichten, sondern Kompositionen aus realen Versatzstücken, um dadurch bestimmte Ausdruckswerte zu erreichen. Überhaupt ist die künstlerische Intention nicht primär die, das Konterfei einer bestimmten Gegend anzufertigen. Das Landschaftsporträt kommt erst in der narrativen Dichtung des nachromantischen 19. Jahrhunderts auf, und der Hauptvertreter dieser Richtung ist nun einmal – Adalbert Stifter. Dass Stifter nicht zur „wahren Landschaft“ gefunden habe, dass er nicht verstanden habe, durch Konzentration auf wenige, genau beobachtete Merkmale die Ansicht einer Naturszenerie zu vermitteln, hatte Schmidt moniert und in diesem Zusammenhang beanstandet, dass Stifter für seine Darstellung wenigstens „10 Druckseiten“ benötige. Auch dieser Kritikpunkt ist nicht umstandslos zu akzeptieren. Sicher, die sprachliche Form soll zur Imagination eines kompletten Bildes führen. Aber das ist nicht eine Frage der bloßen Länge. Das beweist wiederum das Beispiel Jean Pauls. Dessen weit ausschwingende Satzperioden werden zusammengehalten durch einen variablen, vorwärtsdrängenden Rhythmus und dadurch, dass die heraufbeschworenen einzelnen Seh35 So im Nachwort zu James F. Cooper, Conanchet oder die Beweinte von Wish-TonWish, a.a.O., S. 380–382, S. 385; hier wird etwas näher ausgeführt, was auch in Der sanfte Unmensch steht; vgl. Zur dt. Lit. 3, S. 180–182.
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eindrücke aufeinander abgestimmt sind. Es entsteht so eine Einheit in der Sukzession.36 Schmidts Überlegungen zur beschreibenden Dichtung sind widersprüchlich. Um sie richtig einzuschätzen, muss man sehen, dass es in ihnen nicht in erster Linie um Literaturgeschichtsschreibung geht, wenngleich sie dazu einige Anregungen bieten. Vielmehr geht es darum, dass ein Schriftsteller Möglichkeiten des Schreibens untersucht, und das tut er in der Auseinandersetzung mit der Literatur der Vergangenheit. Dabei verfährt Schmidt nicht historisch, was so viel heißt, dass er die betreffenden Autoren nicht vor dem Hintergrund ihrer Zeit sieht. Er nimmt sie, ohne große Umstände zu machen, als Zeitgenossen, mit denen er sich in einen leidenschaftlichen Disput einlässt. Sein Credo ist: „Alles, was je schrieb, in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend zu behandeln.“37. Mitunter führt das zu eher humorigen Ergebnissen, so, wenn behauptet wird, Goethe habe sich „in der DDR niedergelassen“.38 In der beschreibenden Dichtung nun findet Schmidt ein Konzept von Literatur, das seine eigenen Anschauungen und Arbeiten bestätigt. Und von Brockes und Stifter lernt er. Wie sehr er gerade Letzterem verpflichtet ist, ergibt sich nicht allein aus den über das Werk verstreuten, wiederholten Anspielungen auf ihn, sondern auch daraus, dass die Erzählung Schwarze Spiegel auf Stifter verweist. In dessen Schilderung der Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 wird dieser Begriff verwendet, um den Eindruck einer Weltuntergangsszenerie wiederzugeben, und thematisch schließt sich Schmidt daran an. Was also mit Schmidts Prosaarbeiten vorliegt, ist eine Weiterentwicklung der beschreibenden Literatur, deren moderne Version, wenn man so will. Kennzeichen von ihr kehren bei ihm wieder: die „Handlungsleere“ und der Naturbezug. Aber diese sind nun anders begründet und werden anders eingesetzt. Zu tun bekommt man es mit einem Bewusstsein, dem Beschaulichkeit nicht vergönnt ist, dem das Gemütvolle eines Verweilens in der Natur vergangen ist, ein malträtiertes Bewusstsein, das nicht loskommt von den Schrecken des 20. Jahrhunderts. Ihm sind besondere Weisen des Erlebens und Sehens eigen, und unter diesen Voraussetzungen ist es vorbei mit dem herkömmlichen Geschichtenerzählen. Ähnlich verhält es sich mit dem Naturerleben. Selbstverständlich ist auch dieses besetzt von den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit. Geprägt ist es zudem von den Wahrnehmungsmöglichkeiten, die das Zeitalter bereit hält, die sich ergeben aus den Techniken 36 Hier kann auf das Kp. über Jean Paul verwiesen werden. 37 Zitiert nach Schardt/Vollmer, (Hg.) Arno Schmidt, Leben – Werk – Wirkung, Reinbek b. Hamburg 1990, S. 260; zur Problematik vgl. den Aufsatz von Friedrich P. Ott, Aufnahme und Verarbeitung literarischer Tradition im Werk Arno Schmidts, ebd., S. 259ff. 38 I,1, S. 397.
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der Fotografie und des Films, die entstehen mit der Beschleunigung durch die modernen Verkehrsmittel, mit der zunehmenden Rasanz des Lebens überhaupt. Wenn Schmidt sagt, eine gelungene Landschaftsschilderung käme mit wenigen, pointiert gesetzten, charakteristischen Kennzeichen aus, sie wende eine „expressionistische Technik“ an, so kann das auch so verstanden werden, dass damit traditionelle Bildvorstellungen abgewiesen werden. Das moderne Bewusstsein verträgt die ausladenden, fein ausgemalten Beschreibungen mit ihren getragenen Rhythmen nicht mehr, wie sie bei Jean Paul oder Stifter vorliegen. Es ist zupackender, nervöser, schneller. Das liefe darauf hinaus, dass die Natur immer unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen wird. Ihr Bild wäre abhängig vom Betrachter, und das, was objektiv der Fall ist, verschwände unter den subjektiven Einstellungen. Dem steht eine Einstellung entgegen, an der Schmidt konsequent festgehalten hat, die des Realismus. Der Literatur, der Kunst überhaupt wird die Aufgabe zugewiesen, die Wirklichkeit „abzubilden“. Das ist für Schmidt die Grundlage der Dichtung, der eigenen und der fremden. Der Gedanke kommt bei ihm gar nicht auf, dass sie auch etwas anderes sein könnte, ein sich selbst genügendes Spiel beispielsweise oder ein reines Phantasieprodukt. Mit dieser vorgefassten Meinung geht er an alles Gedichtete heran und versucht, dessen Realitätsgehalt herauszufinden. Mitunter führt das zu kuriosen Ergebnissen, etwa dann, wenn er Finnegans Wake ganz aus der Biographie von James Joyce erklären will. Nun ist Realismus ein höchst fragwürdiger Begriff. Die daran geknüpfte Forderung, die Wirklichkeit unverfälscht und ungeschönt zu erfassen, sie ‚objektiv‘ „abzubilden“, lässt sich gar nicht einlösen. Schon der Hinweis auf die Arbeitsweise der Wahrnehmung genügt, um einzusehen, dass es ‚objektive‘ Tatbestände gar nicht gibt. Das Bild, das wir uns von der Welt machen, beruht, generell gesprochen, auf den Einstellungen des Subjekts. Und was sich schon an der Wahrnehmung ablesen lässt, dass sie sich nämlich die Realität zurechtlegt, dass sie diese strukturiert und selektiert, das wird noch verstärkt durch den Einsatz von Methoden und Apparaten, welche Wissenschaft und Technik bereitstellen.39 Dadurch werden bis dahin unbekannte Seiten der Wirklichkeit aufgedeckt. Was diese ist oder vielmehr: was von ihr in Erscheinung tritt, das ist immer auch abhängig von den Mitteln, die zu ihrer Exploration eingesetzt werden. Nicht, dass das Subjekt nur an die Ausgeburten seiner Phantasie geriete, das, was es entdeckt, ist durchaus
39 Oben wurde wiederholt auf Wahrnehmungstheorien eingegangen; vgl. z.B. den Eingang von Kp. I, 6.
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real, nur eben, es ist abhängig von seiner Art, sich der Wirklichkeit zu nähern. Die Wirklichkeit wird demnach nicht widergespiegelt, und das gilt erst recht für die Kunst. Diese verfährt ähnlich wie die Wahrnehmung, wie diese bringt sie etwas zur Erscheinung. Das bezieht sich natürlich nur auf die Kunst, die überhaupt eine mimetische Absicht hat. Es ist immer das Arrangement des Künstlers, das etwas sehen lässt, und das kann unterschiedlich ausfallen. Es kann liegen in der Typisierung und Überhöhung, in der Anordnung der Materialien und in der Abstimmung von Tönen, Farben oder Wörtern, in der Verkürzung und in der Zusammenziehung. Selbst die Kunst, die vor anderen dokumentarischen Charakter hat, selbst die Fotografie arrangiert die Gegenstände, allein dadurch, dass der Fotograf einen bestimmten Standort wählt, einmal abgesehen von der Belichtung und anderen Vorkehrungen. An der Fotografie wird ein Kennzeichen der modernen Kunst exemplarisch deutlich. Es setzt sich nämlich die Auffassung durch, dass durch den Einsatz technischer Mittel unbekannte Seiten des Bestehenden aufgedeckt werden. Die Kamera legt offen, was dem menschlichen Sehen verborgen bleibt. Das Kardinalbeispiel dafür ist, dass man vor der Entwicklung der Fotografie nicht wusste, wie ein Pferd galoppiert, deshalb nicht, weil das menschliche Auge die einzelnen Phasen einer mit hoher Geschwindigkeit ablaufenden Bewegung nicht auseinanderhalten kann. Das gelang erst dem fotografischen Apparat, der den Lauf des Pferdes in eine Sequenz einzelner Bilder zerlegte. Viele solcher Techniken wurden entwickelt, und was die Literatur betrifft, so hat sie eine Reihe besonderer Verfahrensweisen hervorgebracht, teilweise in Anlehnung an andere Künste. Zu denken ist dabei an die Schnitttechniken des Films, an Anordnungen wie die der Collage oder auch an fotografische Techniken wie den Schnappschuss oder die Nahaufnahme. Ein anderer Aspekt dieser Sache ist, dass die Literatur eine Wirklichkeit vorfindet, die durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung nachhaltig geprägt ist, durch die modernen Verkehrmittel des Autos und des Flugzeuges, durch die neuen Kommunikationsmittel des Telefons und des Radios, durch die optischen Geräte des fotografischen Apparates und der Filmkamera. Jetzt entstehen bis dahin unbekannte Formen des Erlebens, der Erfahrung von Raum und Zeit, der Weisen, die Welt zu wahrzunehmen. Bereits bei Fontane wurde deutlich, wie die Eisenbahn, wie eine Maschine, die Geschwindigkeit produziert, das Bild der Wirklichkeit veränderte.40 Die Kunst nimmt diese Entwicklungen auf. In sie zieht der Geist des Experiments ein. Auch die neuere Literatur will ihrerseits mit aufspürenden Mittel ans Dasein herangehen und heraus40 S. dazu das vorige Kp.
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bekommen, was man mit diesem Instrumentarium sichtbar machen kann. Schmidt hat sich solchen Vorstellungen ganz verschrieben. Seine Prosaarbeiten versteht er als „Versuchsreihen“. In ihnen will er „präzise und erbarmungslose Techniken“ anwenden, damit die Wirklichkeit sich zu erkennen gebe.41 Das verträgt sich allerdings kaum mit einer simplen Abbildungstheorie. Die von ihm eingeforderte Ausrichtung am objektiv Vorhandenen wird gleich wieder dementiert durch die Beispiele, die er beibringt. So beruht nach seinen Ausführungen die Gegenstandsnähe von Brockes und Stifter gerade darauf, dass sie alles beiseite ließen, was sich den verwendeten Deskriptionsmodi widersetzt. Bei Stifter kämen, behauptet Schmidt, deshalb keine Tiere vor, weil sie zu „rasch“, zu „handelnd“ seien, und das könne er mit seinen Methoden nicht erfassen.42 Der hier propagierte ‚Realismus‘ besteht demnach in einem rigorosen Auswahlverfahren des Autors. Und in Schmidts eigene Schilderungen fließen immer die Gedanken und Assoziationen des Betrachters ein, so dass beim Leser ein Eindruck entsteht, der nach landläufigen Begriffen subjektivistisch ist. Wollte man definieren, was für Schmidt ‚Realismus‘ heißt, so müsste man ungefähr folgendes sagen: Die Darstellung soll sich auf tatsächlich Vorhandenes beziehen, sie muss eine an der wissenschaftlichen Beobachtung geschulte Genauigkeit einhalten und sie darf nicht schönfärberisch über die Gegebenheiten hinwegtäuschen. Mit der Forderung nach einer „Abbildung der Welt“ wird eine zweite erhoben, die nach „Genauigkeit“. Auch dies ist ein Begriff, der unbestimmt bleibt, solange nicht definiert ist, was darunter zu verstehen ist.43 Es gibt unterschiedliche Arten von Genauigkeit. Die von Helmholtz sieht anders aus als die von Proust. Und was die Verlässlichkeit betrifft, so sind die Anforderungen an die Literatur verschieden von denen an die Wissenschaft. Diese begreift unter ‚Genauigkeit‘ ‚Quantifizierbarkeit‘. Die ‚exakten‘ sind die mathematisierten Wissenschaften, und sie haben Verfahren wie das Experiment entwickelt, durch die Sachverhalte und Vorgänge in zahlenmäßige Äquivalente überführt werden.44 Schwieriger ist es zu bestimmen, was Genauigkeit in der Literatur heißen soll. Jedenfalls beruht sie auf der Sorgfalt des Hinsehens, darauf, die Sinnenwelt bis in die Nuancen, Schwebungen und flüchtigen Zustände zu beschreiben. Beschreibungen werden auch in der Wissenschaft angefertigt und die artifizielle und die szientistische 41 42 43 44
So in den Berechnungen; Zur dt. Lit. 4, S. 350f. Zur dt. Lit. 1, S. 21; vgl. die Ausführungen über Brockes in diesem Aufsatz. Vgl. dazu Klaus Podak, Problematische Genauigkeit, in: Drews/Bock, a.a.O., S. 183ff. Näheres dazu in den Ausführungen über das Experiment; oben I, 2.
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können sich überschneiden. Nur muss man beachten, dass es bei der wissenschaftlichen Deskription einzig darum geht, das Erscheinungsbild der Gegenstände adäquat zu erfassen. In der Dichtung können die Dinge auf anderes verweisen, sie bekommen eine symbolische Bedeutung; oder aber sie sind Ausdruck eines Seelisch-Inneren. Die poetische Wahrheit ist eben nicht gleichzusetzen mit der wissenschaftlichen. Für Schmidt müssen die Fakten stimmen. Sie dürfen nicht verbogen werden, um einen poetischen Effekt zu erzielen. So mokiert er sich über ‚Dichter‘, die das Sternbild des Orion am Sommerhimmel aufgehen lassen. Die angestrebte Genauigkeit ist zunächst eine der Beschreibung. Es geht darum, die Sprache geschmeidig zu machen; sie muss aufnahmefähig werden für die Differenziertheit der Erscheinungen. Der Wind weht beileibe nicht nur, er führt eine Unzahl unterschiedlicher Bewegungen aus, die ihren sprachlichen Ausdruck suchen. Die Sprache behindert eher die Erkenntnis, als dass sie sie fördert, und zwar deshalb, weil sie meistens nur Stereotypen anzubieten hat, die der Eigenart des Beobachteten nicht gerecht werden. So muss der Beschreiber sprachschöpferisch werden, er muss die herkömmlichen Möglichkeiten erweitern, auch durch ungewöhnliche Bildungen. Immer wieder beklagt Schmidt die „Armut“ der Sprache. Vor allem bliebe sie hinter der Wahrnehmung zurück. Gerüche etwa könne sie nicht zufrieden stellend benennen, sie hätte nicht einmal ein Wort für den, der nichts riecht, sie kenne nur ‚blind‘ und ‚taub‘.45 „Was not täte“, wäre eine Sprache, die „imstande wäre, z.B. in einer Flüssigkeitsfläche hin= und her=schwappende Lebewesen rasch und bildhaft=überzeugend zu inventarisieren.“46 Als einen, der sich dieser Aufgabe gestellt habe, führt Schmidt den romantischen Naturphilosophen Lorenz Oken an. Der habe zahlreiche Benennungen erfunden, um der Vielgestaltigkeit der Natur beizukommen.47 Schmidts Sprachkritik ist nicht nur Ausdruck eines persönlichen Ungenügens, sie ist vielmehr symptomatisch für die Lage der Literatur seit 1900. Am Anfang steht ein diffuses Gefühl des Unbehagens. Formuliert hat es Hugo von Hofmannsthal in einem fingierten Brief, der einem gewissen Lord Chandos zugeschrieben wird. Berichtet wird darin von einer verstörenden Erfahrung, von der, dass die Wörter die Dinge nicht mehr erreichen. Während diese von der Sprache sonst eine Bedeutung empfingen und hineingestellt wurden in einen vertrauten Zusammenhang, entziehen sie sich jetzt der Benennung. Offensichtlich sind sie noch anderes als das, wofür sie die Begriffe ausgeben. Es ist 45 I, 1, S. 269. 46 I, 3, S. 330. 47 Vgl. ebd., S. 327ff.
Musivisches Dasein – Arno Schmidt 403
die Funktion der Sprache ein Kategoriengefüge bereitzustellen, das sich über die Erscheinungen legt, das sie einordnet und gruppiert, das vorgibt, wie man sich auf sie einzulassen hat: Das hier ist ein Baum, und das daneben ist ein Wagen. Offensichtlich, und das ist die Erfahrung, von der der Brief redet, kann das herkömmliche System der Bezeichnung diese Aufgabe nicht mehr erfüllen. Daraus resultiert das Gefühl, dass sich die Dinge entziehen, sie sind fremd geworden, sie haben einen verborgenen Sinn, an den die Wörter nicht heranreichen. Der Briefschreiber äußert sich auch dazu, wie diese Krise des Weltbezuges zustande gekommen ist. Sie geht hervor aus einem Prozess, in dem die kompakten Gegenstände sich in immer kleinere Partikel auflösen. Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.48
Der Brief richtet sich an einen der Begründer der neuzeitlichen Wissenschaft, an Francis Bacon, und die Adresse enthält einen Hinweis darauf, in welchem Zusammenhang die veränderte Einstellung zur Realität zu sehen ist. Die Dinge lösen sich auf unter einem Zugriff, der ihre Zusammensetzung herausfinden will. Nicht von ungefähr kommt die Reminiszenz an ein Vergrößerungsglas. Der Einsatz des technischen Apparats, der die Einzelheiten scharf umrissen hervortreten lässt, führt dazu, dass sich das Ganze verliert. Ausgesetzt ist die Gewohnheit, die die Dinge aufs Gebrauchdienliche vereinfacht, sie reduziert, auf die bewährten Muster. Vielmehr werden sie zerlegt und dadurch werden an ihnen immer neue, bis dahin unbekannte Eigenschaften bemerkbar. Es ist dieses Vorgehen, das der Wissenschaft eigentümlich ist. Sie hat ein Instrumentarium entwickelt, das die Wirklichkeit seziert und analysiert, das die Gegebenheiten herausnimmt aus ihrem gewöhnlichen Kontext und sie Versuchen und Kontrollverfahren unterzieht. Es kommt zu dem, was als ‚Wirklichkeitszerfall‘ viel beredet wurde. Hofmannsthals ‚Brief‘ ist als Reaktion der Literatur auf diese Entwicklung zu lesen. Er begreift die veränderte Weltsicht indessen nicht nur als einen Verlust, 48 Hugo von Hofmannsthal, Ein Brief, in: Gesammelte Werke in Einzelbänden, Erzählungen – Erfundene Gespräche und Briefe – Reisen, Frankfurt/M. 1979, S. 461 ff; das Prosastück erschien erstmalig 1902.
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vielmehr sieht er darin zugleich neue Gestaltungsmöglichkeiten für die Kunst. Gerade vorher nicht beachtete Gegebenheiten, Wirklichkeitsbestände, die als banal und minderwertig galten, erscheinen plötzlich in einem anderen Licht. Sie sind geheimnisvoll und in Ihrer Vieldeutigkeit von einer versteckten Magie. Die Bemächtigung der Welt durch die Wissenschaft hat für die Literatur noch eine andere Folge. Sie reflektiert Robert Musil in Der Mann ohne Eigenschaften. Seit dem Ende der großen spekulativen Systeme, wie sie etwa der ‚Deutschen Idealismus‘ errichtet hatte, seit deren Aufhebung durch die empirische Forschung, hat es einen enormen Zuwachs an handfesten, technisch verwendbaren Wissen gegeben. Die Erfahrungswissenschaft dringt bis zu den Bestandteilen der Realität vor und weiß diese mit zunehmender Genauigkeit zu bestimmen. Aber diese Anhäufung von Faktenwissen ergibt keine Einsicht in die Zusammenhänge. Nicht ohne Ironie zieht Musil Bilanz. Wir haben in diesen hundert Jahren uns und die Natur und alles sehr viel besser kennen gelernt, aber der Erfolg ist sozusagen, daß man alles, was man an Ordnung im einzelnen gewinnt, am Ganzen wieder verliert, so daß wir immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung haben.49
Woran es mangelt, ist demnach eine Hierarchie, aus der hervorginge, was entscheidend und was nebensächlich wäre, was Bedeutung hätte und was keine Beachtung verdiente. Die Unmöglichkeit einer Gewichtung hat Folgen für das Erzählen. Wo alles als gleich wichtig rangiert, gibt es nichts, was sich heraushebt. Das wäre ein Ereignis, auf das die anderen Vorkommnisse zuliefen oder von dem sie ausgingen. Die Geschehnisse stünden in einem Verhältnis der Folge. Was nichts mit dem herausragenden Ereignis zu tun hat, könnte vernachlässigt werden, wäre eine Größe, die nicht zählt. Die Mannigfaltigkeit würde zurückgeführt auf eine einfache, eindimensionale Ordnung mit einem eindeutigen Richtungssinn, auf A folgt B. Wenn dergleichen nicht möglich ist, dann stehen die Begebenheiten nicht in einem Verhältnis des Nacheinander, sondern in einem des Nebeneinander. Die Ereignisse liefen aneinander vorbei; sie könnten sich auch überlagern oder auch sich berühren und sich beeinflussen. Was sich herausbildete, wäre ein komplexes Muster, eine Geflecht von Gegebenheiten mit einer eher räumlichen Struktur. Dann ist aber die Ordnung des Erzählens aufgehoben, die auf einer „perspektivischen Verkürzung des Verstandes“ beruht. Diese besteht eben darin, dass getilgt wird, was sich dem Hauptstrom der Ereignisse nicht einfügt. Ein Beispiel macht das deutlich. Die Aufklärung eines Verbrechens ist das Ziel einer Kriminalgeschichte. Personen, 49 Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952, S. 379.
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Handlungen und Vorfälle, die damit zu tun haben, sind von Belang, alles andere ist überflüssiges Beiwerk. Dazu schreibt Musil: Die meistem Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig ‚weil‘ und ‚damit‘ hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen ‚Lauf‘ habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitive Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ‚Faden‘ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.50
Zu konstatieren ist also, dass das Vordringen wissenschaftlicher Erklärungen Rückwirkungen auf die Literatur hat. Ihre Befähigung, Tatbestände zu eruieren und zu benennen wird dadurch in Frage gestellt. Hatte die Dichtung vordem das Dasein des Menschen, seine Stellung in der Welt und sein Leben in der Gesellschaft geschildert und interpretiert, so treten an die Stelle dieser Daseindeutungen zunehmend die Erklärungsmodelle der Naturwissenschaften, der Psychologie und der Soziologie. Die Wissenschaft nimmt für sich in Anspruch, die wahren Sachverhalte herauszustellen, und sie hat dazu einen ins Gigantische angewachsenen Forschungsbetrieb errichtet, gegen den sich die Bemühungen des einzelnen Schreibers geradezu dürftig ausnehmen. Der Bereich, in dem sich ein Schriftsteller wirklich auskennt, wird dadurch immer mehr eingeschränkt, und es kommt zu dem, was Dieter Wellershoff, selbst ein Betroffener, den „Kompetenzzweifel der Schriftsteller“ genannt hat.51 Am Ende bleibt dem Schriftsteller nur, über sich zu reden, denn das ist das einzige Gebiet, auf dem er über die nötige Sachkunde verfügt. Auch die sogenannte ‚Rollenprosa‘ ist eine Antwort auf dieses Problem. Der Autor gibt seine Allwissenheit auf und redet nur noch aus der Perspektive einzelner Personen. Was noch die großen Romane des 19. Jahrhunderts, die Balzacs oder Tolstois sich zutrauten, nämlich das Gesamtbild einer Welt und einer Gesellschaft zu entwerfen, das ist obsolet geworden. Und fragwürdig geworden ist auch, das ist der zweite Punkt, die Form des Erzählens. Die Einhaltung eines schlichten Nacheinander erweist sich als undurchführbar angesichts einer komplexen Wirklichkeit, der die Simultaneität und das Nebeneinander eher gerecht werden
50 Ebd., S. 650. 51 Vgl. das gleichnamige Kp., in: Die Auflösung des Kunstbegriffs, Frankfurt/M. 1976, S. 45ff.
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Das ist die Lage der Epik, die Schmidt vorfindet. Aber er lamentiert nicht über angebliche Zerfallserscheinungen, sondern stellt sich den aktuellen Fragen und entwickelt daraus seine Prosaformen. Seine Beschreibungen beschränken sich auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit, den er sehr genau kennt. Was er an Brockes rühmt, dass er es vermocht habe, die „getreuliche Monographie“ einer „in sich geschlossenen kleinen Welt“ anzufertigen, das unternimmt auch er.52 Er konzentriert sich dazu auf einen Bezirk, der begrenzt und übersichtlich ist, der wenig Abwechslung bietet, so dass es gelingen kann, alle Äußerungen des Lebens, auch die alltäglichen, auch die scheinbar geringfügigen und nebensächlichen aufzunehmen. Schmidts Rückzug in einen ländlichen Winkel, in ein Heidedorf, ist auch dadurch motiviert. Er gehört gewissermaßen zur Versuchsanordnung seiner experimentierenden Prosa. Konsequent wird zudem aus der Perspektive der epischen Personen erzählt. Schon immer ist bemerkt worden, dass der in allen Romanen und Erzählungen auftretende Ich-Erzähler kein anderer ist als Arno Schmidt selbst.53 So ganz stimmt das freilich nicht; natürlich handelt es sich um fingierte Personen. Aber sie alle tragen doch Züge ihres Autors, haben seine Vorlieben und Macken. Dass die Protagonisten Spiegelungen von ihm selbst sind, hat Schmidt bewusst so angelegt. Zur Begründung führt er an, dass die eigene Person dem Schriftsteller doch am vertrautesten ist. Er spricht in diesem Zusammenhang von „Vivisektion“ und von der „Aufopferung“ der eigenen Person. Darin besteht für ihn die Gewähr, „sämtliche Menschlichkeiten leichter, ehrlicher & aufschlussreicher“ darzustellen als an „schwächerem Material“.54 Das Bemühen um Genauigkeit hat zunächst etwas mit Schmidts persönlichen Obsessionen zu tun. Er werde umgetrieben von einer „wahnsinnigen Lust am Exakten“, lässt er eines seiner Alter Egos sagen. Das gehöre geradezu zum Prosa-Schreiber, denn: „Wer die Sein=setzende Kraft von Namen, Zahlen, Daten, Tabellen, Karten, nicht empfindet, tut recht daran, Lyriker zu werden; für beste Prosa ist er verloren.“55 Schmidts Liebe zur Mathematik spielt da hinein, die sich in allerhand Rechenkunststückchen niederschlägt. Entscheidend ist aber, dass er für seine Schriftstellerei Vorgehensweisen der empirischen Wissenschaft adaptiert. Der Schriftsteller solle nicht „Metaphysik“ betreiben, sondern „beobachten“, „registrieren“ und „messen“. Sich sieht er als „Topographen“ und „Landmesser“.56 Diese Arbeitsweise hat 52 Zur dt. Lit. 1, S. 31. 53 Vgl. dazu z.B. Hartmut Vollmer, Das vertriebene und das flüchtende Ich. Zu den Protagonisten im Frühwerk Arno Schmidts, in: Schardt/Vollmer, 89ff. 54 S. dazu Hubert Witt, Dädalus im Gehäuse, ebd. S. 190 f; Nachweise da. 55 I, 2, S. 46. 56 Vgl. I, 1, S. 328; I, 2, S. 104.
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ihre handfeste Seite. Für seine Erkundungen benutzt Schmidt Präzisionsinstrumente, vor allem den Fotoapparat und das Fernrohr. Er weiß sich dabei in der Tradition der Naturforschung, deren Erfolg „geradezu schicksalhaft mit einem entscheidenden Fortschritt der >Optik< gepaart“ gewesen sei, mit dem Einsatz von „Mikroskop und Fernrohr“.57 Das mit diesen Mitteln erworbene Bildmaterial bildet zusammen mit Skizzen und schematischen Darstellungen die visuelle Stütze der Prosaarbeiten. Aber eigentlich handelt es sich dabei um mehr; diese Materialien sind Realitätspartikel, die mit anderen Bruchstücken, die mit akustischen Wahrnehmungen, Wortassoziationen und Gedankensplittern verwoben werden zu einer literarischen Komposition. Das Fotografieren ist noch etwas anderes als nur ein Hilfsmittel. Exemplarisch vollzieht sich in ihm, was Schmidts Darstellungsweise überhaupt ausmacht. Das ergibt sich schon daraus, dass er seine Prosastücke über Begriffe wie ‚Fotoalbum‘ und ‚Schnappschuss‘ definiert. Der fotografische Apparat zerlegt die Welt in Ausschnitte. Einzelnes wird herausgehoben, es wird isoliert von seiner Umgebung. Das gilt für den Raum und die Zeit. In der Momentaufnahme erstarrt die Bewegung, die flüchtige Geste erscheint herausgelöst aus ihrem Vollzug. Mit den Objekten geht Ähnliches vor, sie werden separiert von ihrem Umfeld. Damit aber tritt klar und deutlich hervor, was sonst aufgeht in übergeordneten Vollzügen und Bezügen. Was der einzelne Gegenstand aufweist an Strukturen und Eigenschaften, an Formen und Farben, das wird erst jetzt offenkundig. Gemessen daran, wie die Dinge für das unbewaffnete Auge aussehen, liegt hier eine Verfremdung vor. Aber die Zurichtung durch den technischen Apparat ermöglicht auch ihre genaue Erfassung. Generell verfährt Schmidt nach dem Grundsatz, „das Unbegreifliche in einzelne Begreiflichere zu zerlegen.“58 Das ist gut cartesianisch gedacht und findet sich in der ‚Zweiten Regel‘ der Discours de la méthóde wieder, nach der „jedes Problem … in so viele Teile zu teilen“ ist „wie es angeht und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen.“59 Wahr ist dann, was das methodisch vorgehende Denken zu Tage fördert und was für den aufnehmenden Geist zweifelsfrei feststeht. ‚Evidenz‘ sagt dazu die von Descartes inspirierte Philosophie. An das Wesen der Dinge gelangt man, wenn man sie in ihre Bestandteile auflöst, und das kann auch mit Hilfe von Instrumenten, Sensorien und optischen Geräten geschehen. Konstitutiv für das als real Geltende sind demnach die Operationen des Subjekts, und da ist es nur konsequent, wenn man auch 57 Zur dt. Lit. 1, S. 19. 58 I, 1, S. 332. 59 II. Teil, 8.
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der speziellen Sichtweise einer bestimmten Person einen Erkenntniswert einräumt. Einer, der mit Vorkenntnissen an eine Sache herangeht, sieht eben anderes als einer, der darüber nichts weiß. Und einer, der ein Ding benennen kann, hat einen anderen Zugriff darauf als derjenige, dem dafür das Wort fehlt. Dabei können die eingesetzten Methoden und Instrumentarien natürlich verbessert werden. Wenn aber unter Wirklichkeit das zu verstehen ist, was das Subjekt an den Dingen aufdeckt, dann wird gewissermaßen unter der Hand die Aufgabe, die sich Schmidt gestellt hat, verändert. Aus der Abbildung der Realität wird die Abbildung der Akte, durch die diese zugänglich gemacht wird. Festgehalten werden Bewusstseinsakte, werden die Prozeduren, durch die das Aussehen der Gegenstände bestimmt wird. Es handelt sich dabei weniger um eine „Ausweitung“ des Realitätsbegriffes60 als vielmehr um eine folgerichtige Fortsetzung des einmal eingeschlagenen Weges. Denn von Beginn an setzt Schmidt auf Verfahrenstechniken, das belegen schon die relativ frühen Berechnungen, in denen Schmidt seine Theorie der Prosa darlegt. Schmidts Konzeption einer ‚realistischen‘ Erzählweise lässt die Handlung völlig in den Hintergrund treten. Registriert wird vielmehr alles, was einer Figur begegnet und was ihr dabei durch den Kopf geht, auch Ephemeres, Marginales und Banales. Er bemerkt dazu: Es sei noch einmal angesprochen, daß das Problem der heutigen (und künftigen) Prosa weder der feinsinnige noch der originelle noch der >schockierende< Stoff ist – …sondern die übrigens längst fällige, systematische Entwicklung des Gerüstes, also die Anordnung der Prosaelemente, sowie deren Durcharbeitung und Verfeinerung selbst; wodurch in letzter Instanz weiter nichts erreicht werden soll, als eine präzisere Abbildung der Welt und des Menschen als bisher: GRÖSSERE WAHRHEIT!61
Die einzelnen Teile der Erzählung werden nicht im Hinblick darauf, ob sie für die Fabel bedeutungsvoll sind, ausgewählt. Damit entfällt auch ein Kriterium dafür, was wichtig und was unwichtig ist. Der für den Roman des 18. und 19. Jahrhunderts so entscheidende Begriff der ‚Abweichung‘ oder ‚Digression‘ ergibt hier gar keinen Sinn. Und weil es sich Schmidt versagt, zu selektieren, gehen daraus Texte hervor, die das aufweisen, was Musil als Auflösung der erzählerischen Ordnung diagnostiziert hatte. Einzelnes, das ganz heterogen sein kann, wird nebeneinander gesetzt: das lyrische Bild steht neben dem Geplapper aus dem Radio, eine alltägliches Beobachtung neben der Zeitanalyse, eine melancholische Reminiszenz neben der Zote.
60 So Suhrbier, a.a.O., S. 15. 61 Zitiert nach Schardt/Vollmer, a.a.O., S. 184.
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Da Schmidt Bewusstseinsvorgänge schildern, nur das wiedergeben will, was der Ich-Erzähler erkundet, ausmisst, sieht, hört, sich überlegt, woran er sich erinnert, wovon er träumt, wird er zwangsläufig auf eine in der Moderne vielfach variierte Erzählweise gebracht, auf den ‚inneren Monolog‘. Er ist darin aber ganz eigenständig und kopiert nicht, was man zuweilen zu lesen kriegt, James Joyce.62 Nach Schmidt kann man von einem ‚Bewusstseinsstrom‘, von einem unaufhörlichen, ohne Unterbrechung vonstatten gehenden Fließen wie bei Joyce gar nicht reden. Es ist vielmehr so, dass die Bewusstseinsprozesse „springen“. Kleine, unabhängige Erlebniseinheiten lösen einander ab, wobei sich an jede von ihnen andere Bewusstseinselemente anlagern. Etwa in der Weise: Die Sonne verbrannte am unteren Rande des Himmels (zu fester Wolkenasche); aus den Wäldern kam grauer Moorgeist, Gras und Gewelke troffen sehr und schnarchten (neben meinen Schuhen, meinen Hosen). Ich stellte den Kopf auf dem Beinstativ waagrecht und maß um mich: 5 Lichter, 200 Grad Wälder, dann Wasserwiese und Felderwust (und kein Radio, keine Zeitung, kein Volk, kein Führer!). Wind coiffierte mir gefällig im Haar (was ich nicht schätze!), und wischperte waschhaft und figarös: Laß das! Über den Weg …63
Zwischen die erste Einheit und die folgende wird ein Schnitt gelegt, was schon durch das Schriftbild zum Ausdruck kommt. Die Darstellung nimmt die Form eines Mosaiks an, und „musivisches Dasein“ ist ein Grundbegriff, den Arno Schmidt für seine Prosa verwendet.64 Schmidt hält an dieser Struktur weitgehend fest, wenngleich er sie verfeinert und anreichert. Vor allem nimmt er zunehmend Unbewusstes auf, denn er glaubt, dass unbewusste Bezüge in die Textur der Welt verwoben sind, die er in deren sprachliche Abbildung aufzunehmen sucht. Dabei geht die Tendenz dahin, die Texte immer stärker zu zerhacken. Sie werden dadurch mehrdeutiger, anspielungsreicher und durchlässiger für Assoziationen. So schreibt er beispielsweise in Kaff „Ammeerie=Kahner“ für Amerikaner.65 Wie unter dem Zugriff der mikrologischen Methode die äußere Realität zerfasert, so löst sich auch das Subjekt auf. Es zerfällt in einzelne Akte und Erlebnisse: Mein Leben?!: ist kein Kontinuum! (nicht bloß durch Tag und Nacht in weiß und schwarze Stücke zerbrochen! Denn auch bei Tag ist bei mir der ein Ande62 Über das Verhältnis Schmidts zu Joyce vgl. Stefan Gradmann, Das Ungetym: Mythos, Psychoanalyse und Zeichensynthesis in Arno Schmidts Joyce-Rezeption, München 1986. 63 I, 1, S. 312. 64 So schon in den Berechnungen; vgl. Zur dt. Lit. 4, S. 353. 65 I, 3, S. 272.
410 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft rer, der zur Bahn geht; im Amt sitzt; büchert; durch Haine stelzt; begattet; schwatzt; schreibt; Tausendsdenker; auseinanderfallender Fächer; der rennt; raucht; kotet; radiohört; „Herr Landrat“ sagt: that’s me!) : ein Tablett voll glitzernder snapshots.66
Das Individuum muss erkennen, dass es eine durchgehende Ordnung nicht garantieren kann, nicht für sich und nicht für die Dinge. Dem Zerfall der äußeren Welt korrespondiert die der inneren, und was zurückbleibt sind Fragmente, die sich nicht zu einer Einheit zusammenschließen. Zu überwinden wäre dieser Zustand nur, wenn es dem Subjekt gelänge, sich und die Dinge in einen größeren Zusammenhang hineinzustellen, in eine Schau des Ganzen, von der her das Einzelne seine Bedeutung empfinge. Eben dazu waren Brockes und Stifter, für Schmidt Vorbilder in Bezug auf Wirklichkeitstreue und die verlässliche Schilderung des Details, übergegangen. Ihnen offenbarten sich im Kleinen und Unscheinbaren die kosmische Harmonie und das Walten Gottes. Aber das weist Schmidt zurück, solche Konstruktionen hält er für pure Spekulation, schlimmer noch: für Lüge. Der redliche Beobachter ist allein an die Erfahrung verwiesen. Die einzelnen Gegebenheiten fügen sich nicht zu einer höheren Ordnung, sie stehen für sich, und was sich erfassen lässt, sind lediglich Bruchstücke. Für die Naturdarstellung ergibt sich daraus ein Verfahren des Additiven. Eine Wahrnehmung wird neben die andere gesetzt, und daraus entsteht der Eindruck des Flächigen, von Bildern ohne Tiefe. Bei längeren Passagen, bei einen von Schmidts zahlreichen Gängen durch die Natur wird nie ein Gesamtprospekt der Gegend entworfen, vielmehr entsteht ein Mosaik aus singulären Hinsichten, die alle den Charakter des Ausschnitthaften haben. Immer aber handelt es sich, worauf schon hingewiesen wurde, um tatsächliche Örtlichkeiten. „Die einen denken sich ihre Landschaften aus. Die Anderen fahren vorher hin, und sehn sie sich an.“67 Die Gegend um den Dümmer, in der Seelandschaft mit Pocahontas spielt, hat Schmidt sorgfältig inspiziert. Die davon mitgebrachten Notizen und Fotos dienten als Vorlage beim Schreiben. Bei der Abfassung anderer Werke ist er ähnlich vorgegangen. So machte er eine seiner wenigen Reisen an die Eider, um das Terrain für die Schule der Atheisten zu sondieren, wenn er nicht gleich seinen Wohnort Bargfeld als Schauplatz wählte wie für zahlreiche Erzählungen und für Zettels Traum. Die Zweidimensionalität teilen Schmidts Schilderungen mit Bildern der modernen Malerei. Diese öffnen nicht den Raum, sie bleiben in der Fläche und gehen nicht in die Tiefe. Und das bedeutet, dass die Land66 I, 1, S. 301. 67 Zur dt. Lit. 3, S. 159.
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schaftskunst an ein Ende gekommen ist. „Die Landschaft hört im Impressionismus auf, Landschaft zu sein“, befindet Rolf Wedewer.68 Dieses Ende setzt eigentlich schon ein mit der Aufgabe der Zentralperspektive, wie sie sich auf Bildern von Caspar David Friedrich andeutet. Als undurchführbar erscheint ein Unternehmen, das die Natur aus einem einheitlichen Gesichtspunkt betrachten will. Die Bilder selbst bezeugen das. Beim späten Monet kommt es nicht mehr zur Darstellung landschaftlicher Natur. Das verhindert die Konzentration auf bestimmte Phänomene. Die Aufmerksamkeit wendet sich nahezu ausschließlich der Farbe zu wie auf den Gemälden des Seerosenteichs von Giverny. Von der Gegenständlichkeit ist wenig geblieben, es entstehen farbliche Tableaus, die sich bereits der abstrakten Malerei annähern. Die Darstellung gibt nur einen eng begrenzten Ausschnitt wieder, aber diese Beschränkung ermöglicht eben auch die minutiöse und nuancierte Erfassung des Sujets. Aber von der Umgebung, in der sich der Teich befindet, wird keine Vorstellung vermittelt. Und was Arnold Gehlen über den Kubismus sagt, beginnt sich hier schon abzuzeichnen. Jetzt begann die Epoche der ‚absoluten und klar ausgesprochenen Herrschaft (des Malers) über den Gegenstand‘ (Malraux), und damit schwenkte die Kunst in eine Tendenz ein, die zuerst Descartes vorgezeichnet hatte, als er in der Absicht, den Menschen zum ‚maître et possesseur de la nature‘ zu machen, die Wirklichkeit in ihre Elemente zerdachte und sie aus ihnen konstruktiv wieder aufgebaut hatte.69
Bei Arno Schmidt lässt sich verfolgen, wie dieser Prozess auch die Literatur ergreift und wie es zur Auflösung des Sehmusters ‚Landschaft‘ kommt. Dieses hatte zur Voraussetzung den individuellen Blick, der die Landschaft einrichtet. Er stellt die Dinge auf sich zu, und verbindet sie so zu einer Einheit. Das gelingt mit Hilfe einer Konstruktion, mit der der Zentralperspektive.70 Nach den Postulaten der empirischen Wahrheitsfindung und nach dem davon abgeleiteten Prinzip der Dekomposition lässt sich aber eine Einheit nicht mehr herstellen. Das Subjekt, das allein dies bewerkstelligen könnte, verliert sich ans Einzelne und zerfällt selbst in Fragmente. In den frühen Erzählungen unternimmt Schmidt noch den Versuch, etwas aufscheinen zu lassen von Reiz landschaftlicher Natur. Mit wenigen Strichen wird da das Bild der norddeutschen Landschaft gezeichnet.
68 A.a.O., S. S. 137. 69 Zeit-Bilder, a.a.O., S. 75. 70 Hier wird lediglich stichwortartig wiederholt, was im Kp. I, 4 ausführlich dargestellt wurde.
412 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft Ich trat gebückt über den Graben, und sah aufs leere Moor, wilde Weite, süß und eintönig, in der schwarzen Strahlung, bis ich die Schultern in der Jacke rieb. Das ist das Schönste im Leben: Nachttief und Mond, Waldsäume, ein stillglänzendes Gewässer fern in bescheidenen Wieseneinsamkeit – so hockte ich lange und müßig mit rechtsgeneigtem Kopf.71
Die Ansicht der nächtlichen Moorlandschaft ist ganz konventionell gehalten. Der Standpunkt des Betrachters steht fest; eine einheitliche Sicht ist gewahrt; der Waldsaum mit dem Mond darüber bildet den Hintergrund; davor, im Mittelgrund befindet sich ein Gewässer; das liegt in einer Wiese, die bis in den Vordergrund reicht. Völlig hingegeben an die Szenerie ist der Betrachter, und sie geht ganz auf in der Stimmung: lauter Mondschein und in sich gekehrte Stille. Später wird ein einheitlicher Vorstellungsraum, in den die einzelnen Naturdinge und die verschiedenen Landschaftspartien eingefügt wären, nicht mehr aufgebaut. Jetzt stoßen sich die Erscheinungen, sie stehen unvermittelt nebeneinander. Die Eindrücke ergeben keine Kohärenz, sie lösen sich nur ab in einer Art Bilderflucht, wie beim ‚Pibroch‘, bei der schottischen Pfeifenmelodie: Oktoberpibroch (dabei wars Februar) : Und ein ganzer Clan grauer Wolken, ladies from hell, marschierte heran; die Felder begannen heiser zu meutern; Buschgerippe griffen (faßten) sich verzweifelt an. Vor ihrem Schaufenster erschien ein schneidiges Ladenmädchen und rang das Eisengitter nieder.72
Natürlich macht sich darin expressionistischer Einfluss geltend, der im Frühwerk Schmidts überall spürbar ist. Das erinnert an den sogenannten ‚Reihungsstil‘, der Verschiedenes und Disparates einfach aneinander hängt. Auch andere expressionistische Ausdrucksmittel adaptiert Schmidt, so die Gewaltsamkeit des sprachlichen Gestus. Und auch das hat er daher: Die Naturerscheinungen werden personifiziert, die Felder „meutern“ und die Büsche sind „verzweifelt“. ‚Aufstand der Dinge‘ heißt das entsprechende Schlagwort.73 Von der expressionistischen Manier löst sich Schmidt endgültig in seiner mittleren Phase. Er baut aus, was früher begonnen wurde. Da werden unterschiedliche Bruchstücke ineinander montiert: Sinneseindrücke, Assoziationen und Reminiszenzen, Gesprächsfetzen und Kommentare, geographische und kartographische Angaben, Gefühlsregungen und Körperreaktionen, nicht zu vergessen: Wortspiele. Die folgende Passage zeigt etwas davon.
71 I, 1, S. 204. 72 I, 1, S. 326. 73 Schmidts Verhältnis zum Expressionismus ist mehrfach untersucht worden; weitere Angaben bei Suhrbier, a.a.O., S. 21–23.
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und sprach doch erfreut sein >Ach – <, als wir am Bächlein standen. (Diese Städter merken ja wirklich nichts : Unsereins hätte, wenn schon nicht am bloßen Urstromtälchen, so doch mindestens an den begleitenden Büschen, unfehlbar, gleichsam a priori, erkannt, daß hier der Aufenthalt eines dezidierten Gewässerleins sein müsse.) Schön die Erlen, oh ja, schöner der einfältige Steg. Schön das Wasser über’m Sand; schöner die langsam wehenden Flannzn darinn. Und hin und her den Blick; und das gläserne Wesen betrachtet. (>Potz Bach & As=Bach< murmelte er nachdenklich.)74
Von der Anlage her bilden die Bruchstücke aus sich heraus keinen Zusammenhang. Dieser ist mehr oder weniger willkürlich und ergibt sich eher zufällig, er ist vage und unbestimmt. Die Einzelheiten stehen nur nebeneinander. Aus der Nähe, aus den Berührungen ergeben sich aber unterschiedliche Abfärbungen und Beleuchtungen, und es bilden sich Muster. Eine Affinität kann entstehen, die überraschend ist und etwas aufdeckt an den Dingen, einen Aspekt, der ohne diese Nähe unbemerkt bliebe. Durch dieses Verrücken und Aneinanderrücken ergeben sich immer neue Sichtweisen, so dass die Gegenstände im Grund genommen unerschöpflich sind. Der Betrachter braucht sich nicht einmal fortzubewegen, er hat an wenigem genug, und Schmidt hat sich immer wieder auf dieselben Anblicke bezogen, auf einen sandigen Heideweg beispielsweise oder auf einen waldumstandenen Teich. Es ist das Verfahren der Collage, das hier eingesetzt wird. Dieses versucht, die Wirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit wiederzugeben. Der Text lässt unterschiedliche Lesarten zu, er wird vielstimmig und erreicht in Zettels Traum eine kaum zu überbietende Polyvalenz. Da wird probiert, die Diskursivität der Sprache aufzuheben und die Simultaneität unterschiedlicher Vorgänge abzubilden, dadurch, dass drei Kolumnen nebeneinander gesetzt werden. Dass diese aufeinander abgestimmt sind und dass dadurch ein polyphoner Effekt erzielt wird, hat Jan Philipp Reemtsma in einem Leseexperiment gezeigt. Er ließ die drei Kolumnen von drei Sprechern gleichzeitig vortragen.75 Diese tendenziell sich immer weiter ausfächernden Strukturen resultieren natürlich aus der mikrologischen Technik. Und wenn alles wichtig ist, entsteht ein Verlangen nach Vollständigkeit. Um ein konsistentes Bild der Wirklichkeit zu erschaffen, sollen die akribisch erhobenen Bestandteile möglichst lückenlos zusammengetragen werden. Das hat zuweilen etwas von einer Sammelwut, eine Leidenschaft, die Schmidt nicht fremd ist. Alles zu erfassen, ist natürlich unmöglich. Man kommt diesen Ziel aber nahe, wenn man sich auf einen Ausschnitt beschränkt, und das ist, es wurde 74 I, 3, S. 432. 75 In einer Lesung, die vom Fernsehen aufgezeichnet wurde. Zur Konzeption von Zettels Traum vgl. Jörg Drews, Arno Schmidt: „Zettels Traum“, Seite 1(ZT 4). Ein Kommentar, in: Bargfelder Bote, Lfg. 9 / Oktober 1974.
414 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft
schon gesagt, für Schmidt ein Grund eine ländliche Umgebung abzuschildern. Schmidts experimentierende Prosa ist aber immer getragen von einem starken Empfinden für die Natur. Von ihr fühlen sich seine Protagonisten unwiderstehlich angezogen. Nicht anders als in der Naturdichtung vor Schmidt appellieren die Naturerscheinungen an die Seele, sie teilen sich ihr mit, wie der Wind, der die unterschiedlichsten Gebärden ausführt, der lockt und reizt und einen mitnimmt. Und so ist er Geist, einer der Elementargeister, der ‚Sylphen‘ oder ‚Windleutte‘, von denen Paracelsus sprach. Die Romantiker, Fouqué vor allem, haben sich solche Lehren zu eigen gemacht. Und Schmidt lässt sie in der Nachfolge Fouqués wieder aufleben. Das ist aber mehr als eine Reverenz an eine literarische Epoche. Darin bekundet sich die Überzeugung des Künstlers, dass hinter der Welt der Erscheinungen eine andere existiert, eine, die zeitlos ist, die des Mythos. Das, was die Erfahrung aufnimmt, weist auf sie hin, ist eine Manifestation von ihr. Die Wirklichkeit geht demnach nicht auf in den Fakten, die wissenschaftlich erhebbar sind. Sie hat eine Tiefenschicht, und die entdeckt, wer darauf achtet, welchen Ausdruck die Dinge haben, also der Künstler. Er gewahrt, dass auch das scheinbar Vordergründige hineingezogen ist in ein System universaler Sinnbezüge. Ein schmales Rinnsal oder ein bescheidener Tümpel in der Heide, nichts Besonderes, etwas, das sich kartographisch ausmessen lässt, hat doch teil am untergründigen Wesen des Wassers. Es ist die Heimat amphibischer Geister, ‚Wasserleutte‘ nennt sie Paracelsus. Die weiblichen Figuren Schmidts verbinden sich mit ihnen, Pocahontas aus der gleichnamigen Erzählung, Hertha aus Kaff und die Frauen aus Die Wasserstraße. Sie korrespondieren auch mit Gestalten aus der Literatur, sind nicht nur Undine, sondern auch Heines Prinzessin Ilse und die Wäscherin Anna Livia Plurabelle aus Finnigans Wake. Schmidts Texte lassen demnach mehrere Lesarten oder, wie er es nennt, „Lesemodelle“ zu. Sie haben immer auch eine autobiographische Bedeutungsebene, können gelesen werden als Kommentare zur Literatur, und ihnen ist zudem ein mythischer Sinn zu entnehmen. Die topographisch genauen Naturbeschreibungen enthalten eben auch Hinweise auf die Naturmächte.76 Die Natur enthält ein Glücksversprechen, das die Gesellschaft dem Einzelnen gerade versagt. Der Traum vom Häuschen auf dem Land beherrscht Schmidts Figuren wie auch ihren Autor selbst, und „insulares Dasein“ ist für ihn ein geflügeltes Wort. Dennoch verfällt Schmidt 76 Es ist mittlerweile anerkannt, dass schon Schmidts frühe Erzählungen diesen mythischen Bezug haben; bei den späteren tritt der deutlich hervor. Vgl. dazu. Bernhard Sorg, Die frühen Erzählungen und Kurzromane – 1eue Prosaformen, in: Schardt/Vollmer, a.a.O., S. 116ff.
Musivisches Dasein – Arno Schmidt 415
nicht in die Vorstellungen einer heilen Welt. Seine Personen nehmen ihre Blessuren mit aufs Land. Und die Landbevölkerung bedenkt er mit wahren Schimpftiraden. Bei ihm sind die Bauern nicht die besseren Menschen und schon gar keine unverdorbenen Naturkinder. Und so sehr auch Schmidt Phantasien an eine unberührte Natur nachgehangen haben mag, seine Landschaft weist die Eingriffe der Zivilisation auf. Straßen mit Autos durchziehen sie, und zu ihrem Erscheinungsbild gehört wie selbstverständlich das modernen landwirtschaftliche Gerät wie in diesem Bild von einem Mähdrescher: „… da schwankte 1 Riesengerät durch die Felder. Und wendete schnarchend. Kam gefräßig wieder in unsere Richtung her.“77 Noch etwas kommt hinzu. Schmidt verschließt sich nicht der Einsicht, dass es neben der sich dem Menschen zuneigenden Natur auch eine gibt, die abweisend und zerstörerisch ist, die ganz gleichgültig ist gegen alle menschlichen Bestrebungen. Die so erfahrene Natur hat den Charakter eine Ungeheuers, als „Leviathan“ bezeichnet sie Schmidt, und bewundernd zitiert er Stifters grandiose Schilderung einer monströsen Naturkatastrophe, den ungeheuren ‚Eisbruch‘ aus Die Mappe meines Urgroßvaters. Es ist keine kosmische Ordnung, die Schmidt in seinen Naturdarstellungen vorführt, es ist eine fragmentierte, zerstückelte Natur. Und doch enthält auch das Fragment eine Ahnung von einem Aufgehobensein in einem größeren Zusammenhang, ein Glück, das nur noch da ist in einem flüchtigen Augenblick. Sommer ist es, leichte Bewölkung liegt über dem See im flachen Land. Und auf dem See, im Boot, hat der Erzähler um sich die Fülle der Formen und Farben, der Pflanzen und Tiere, die er sich zum Vergnügen mit Namen aufführt; „Wonnen der Aufzählung“ genießt er. Und über sich hat er den Himmel, der ihn wie eine „Riesenmuschel“ umfasst, ihn, den See und die ganze Gegend. Und er hat jemand, den kann er teilhaben lassen an diesem Moment des Glücks: Seelandschaft mit Pocahontas.
77 I, 3, S. 347.
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Verzeichnis der Abbildungen S. 14: Hans Thoma, Taunuslandschaft, Ölgemälde, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Neue Pinakothek, München. S. 46: Jakob Philipp Hackert, Rotbuche, Radierung, aus dem Radierzyklus der Baumbilder. S. 115: Salvator Rosa, Democritus in Meditation, Radierung nach einem Gemälde Rosas. S. 132: Leonardo da Vinci, Die Schlacht von Anghiari, Kopie von Peter Paul Rubens, Louvre, Paris. S. 150: Jacob von Ruysdael, Eichwald am Wasser, Ölgemälde, Gemäldegalerie Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin. S. 166: Joachim Patinir, Landschaft mit dem heiligen Hieronymus, Ölgemälde, Prado, Madrid. S. 166: Claude Lorrain, Landschaft mit Wassermühle, Ölgemälde, Galleria Doria Pamphili, Rom. S. 198: Gottfried Keller, Am Mondsee, Bleistift mit Aquarell, Zentralbibliothek Zürich. S. 234: Verkündigung an die Hirten, Buchmalerei aus dem Perikopenbuch Heinrich IL, Staatsbibliothek München. S. 296: Caspar David Friedrich, Abtei im Eichwald, Ölgemälde, Staatliche Schlösser und Gärten -Schloss Charlottenburg, Berlin. S. 318: Adalbert Stifter, Königssee mit dem Watzmann, Ölgemälde, Österreichische Galerie, Wien.
Namensregister (A steht für Anmerkung) Achenbach, Andreas 374 Achenbach, Oswald 374 Adorno, Theodor W. 116, 218, 224 Alberti, Leon Battista 24, 191 Alewyn, Richard 105A, 301A Altdorfer, Albrecht 111, 188 Andersch, Alfred 288 Anhalt-Dessau, Leopold Friedrich Franz Fürst von 305 Antiphon 48A, 49 Apollinaire, Guillaume 65f Arendt, Hannah 196A Ariès, Philippe 49A Aristoteles 2, 48, 60–62, 64, 68, 85, 90, 92, 98, 103A, 107, 129, 134, 200f, 212, 238, 241, 336, 350 Auerbach, Erich 110f, 243 Augustinus 118, 183 Bacon, Francis 70, 76, 403 Baeumler, Alfred 200A, 201A Balzac, Honoré de 388, 405 Barthes, Roland 149f, 165 Baudelaire, Charles 19, 65 Baumgarten, Alexander Gottlieb 4, 199f, 203 Beck, Hanno 159A, 174A Begemann, Christian 358A Bernal, John Desmond 74 A Bertram, Ernst 121A, 345A Bernhard, Thomas 232 Berry, Herzog von 25 Biese, Alfred 34A, 258A Bitterli, Urs 51A Blanchard, Francois 96 Blanckenburg, Friedrich von 264A, 267 Bloch, Ernst 44, 48A, 273A, 359 Blum, Jerome 357A
Blumenberg, Hans 68A, 113A, 119A, 185, 353A Bobrowski, Johannes 102 Boccaccio, Giovanni 22–24, 25, 184 Bock, Michael 390A Böhm, Gottfried 107A, 195A, 196 Böhme, Gernot 47A, 83A, 84A, 86A, 218A, 220 Böschenstein-Schäfer, Renate 275A, 282A Borchardt, Rudolf 293A Braunfels, Wolfgang 151 Breughel, Pieter 26 Breuner, Peter J. 258A, 288A Brinkmann, Richard 370A, 374A Brockes, Barthold Heinrich 25, 26f, 109, 252–258, 262, 263, 388A, 394, 397, 389, 401, 406, 410 Bronte, Charlotte 6 Brunelleschi, Filippo 191 Bruno, Giordano 191 Buch, Hans Christoph 107A, 109A, 138A, 253A, 255A, 262A Buch, Leopold von 177, 293 Buddeus, Aurelius 348A Buderath, Bernhard 245A, 305A, 358A Büchner, Georg 97, 350f Bühler, Karl 139f, 141 Bulwer-Lytton, Edward 28 Bumke, Joachim 243, 244A Burckhardt, Jacob 122A, 184 Burke, Edmund 226 Busch, Wilhelm 29 Buttmann, Günther 160A Canetti, Elias 327 Capelle, Wilhelm 69A Carracci, Annibale 18
432 Namensregister Carus, Carl Gustav 172, 194, 317, 376, 386 Cassirer, Ernst 157f, 189,196, 239, 240A Chastel, André, 122A, 129f Clark, Kenneth 111, 319, 327, 344 Clifford, Derek 59A, 233A, 306 Coleridge, Samuel Taylor 16 Conrad, Joseph 30f Constable, John 130, 334, 345 Cook, James 289 Cooper, James Fenimore 108, 322f, 395 Corinth, Lovis 346 Corot, Camille 112 Curtius, Ernst Robert 19A, 247A, 248 Dante, Alighieri 265 Darwin, Charles 95, 130 David, Jacques Louis 130 Dedner, Burghard 282A Demetz, Peter 381A Demokrit 69f, 74, 75, 98, 115 Descartes, René 52–54, 70, 87, 98, 407 Doppler, Alfred 326A, 334A Drews, Jörg 390A, 413A Dürer, Albrecht 111, 240, 250 Duhamel, Roland 336A Eberle, Matthias 151, 167A, 169A, 179A, 250A, 311A, 316A Eibl-Eibesfeldt, Irenäus 222f Eichendorff, Joseph Freiherr von 104– 107, 152, 325, 326f, 338, 366, 377 Eggers, Werner 387A Eliade, Mircea 179A Elias, Norbert 181A Engelhardt, Wolf von 70A, 72, 89A Engel, Elmar 298A Engels, Friedrich 181A Enzinger, Moriz 348A, 357A Eyck, Jan van 111 Fallmerayer, Jakob Philipp 159, 162– 164, 293, 381 Fernow, Carl Ludwig 303 Fichte, Johann Gottlieb 351 Field, G.W. 375A Fielding, Henry 27f, 265
Fischbach, Johann 347, 348 Flaubert, Gustave 108 Fontane, Theodor 11, 32f, 97, 103, 104, 154, 182, 195, 225, 240, 257, 287, 293, 361– 383, 400 Forster, Georg 109, 156, 263, 289–291 Fouqué, Friedrich de la Motte 396, 404 Friedrich, Caspar David 26, 112, 197, 311f, 316, 334A, 347, 376, 387, 411 Frühsorge, Gotthardt 21A Gadamer, Hans-Georg 211A, 217A Gainsborough, Thomas 27 Galilei, Galileo 9, 72–74, 75, 98, 351, 353 Garber, Klaus 18A Gauermann, Friedrich 347 Gehlen, Arnold 144, 223, 237, 372A, 411 Gerndt, Siegmar 224A, 283A, 286A Geßner, Salomon 25, 275f, 280, 282, 283 Giono, Jean 16f Giorgione 22 Gleim, Ludwig 25, 108 Gloy, Karen 79A Goethe, Johann Wolfgang 1f, 3, 4, 5, 20, 48, 60, 64, 81–92, 94A, 95, 98, 108, 118, 130, 138, 158, 168, 193, 194, 195, 219, 226, 254, 259, 270, 272, 275–280, 281, 283, 285, 299, 314A, 333, 344, 350, 350A, 352f, 359, 360, 379, 392, 394 Gombrich, Ernst H. 148A, 151 Gontscharow, Iwan Alexandrowitsch 28f Goodfield, June 95A Gottfried von Straßburg 246, 248f Gradmann, Stefan 409A Gregorovius, Ferdinand 159f, 294, 381 Grimm, Reinhold 264A Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 113, 251f Gruber, J.G. 49A Gruenter, Rainer 244A, 247A Gryphius, Andreas 113f, Guarini, Battista 108 Gusky, Rainer 103A
Namensregister 433 Hackert, Jakob Philipp 177 Händel, Georg Friedrich 255 Haller, Albrecht von 34, 109, 137, 258– 262, 263f, 280, 394 Handke, Peter 42 Hardy, Thomas 28 Hauptmann, Gerhart 362 Hauser, Arnold 130A, 372A Haydn, Joseph 26 Hebbel, Friedrich 332, 393f, 395 Heckenast, Gustav 323A, 352A Hedin, Sven 178 Hegel , Georg Wilhelm Friedrich 57, 68,103A, 116, 180, 218, 219f, 265, 267, 269f, 314A, 315 Hehn, Victor 58 Heidegger, Martin 39A, 190, 237A Heine, Heinrich 159, 414 Heinse, Wilhelm 281f Heisenberg, Werner 76f Heller, Agnes 55A Helmholtz. Hermann von 401 Herder, Johann Gottlieb 59, 60, 82, 92A, 117, 194, 219 Herrmann, Hans Peter 276A Herrlitz, Wolfgang 142 Herzog, Urs 113A Hess, Walter 66A Hesse, Hermann 288 Hillebrand, Bruno 352A, 380A Hirschfeld, Christian Cajus Laurenz 283, 284, 307 Hobbes, Thomas 50 Hoch, Karl-Ludwig 311A Hösle, Johannes 18A Hoffmann. E.T.A. 103 Hofmann, Werner 66A, 111A, 312 Hofmannsthal, Hugo von 402–404 Holländer, Hans 134A, 188A, 192, 196A Homer 19f, 108, 137f, 248 Holsten, Siegmar 311A Horaz 109 Huerkamp, Josef 387A, 395A Hugo, Victor 366, 373f Humboldt, Alexander von 3, 4, 90, 159, 171, 174, 178, 275, 287, 288, 289,
291–293, 294, 313f, 314A, 330– 332, 335, 342, 350 Humboldt, Wilhelm von 143–145 Husserl, Edmund 148f Huysmans, Joris-Karl 65 Huysum, Jan van 261 Ingarden, Roman 149A Jacobi, Friedrich Heinrich 91A Jauß, Hans Robert 118A, 182A Jean Paul [Johann Paul Friedrich Richter] 11, 20, 32A, 37f, 40, 41, 48, 49f, 60, 64, 96, 98, 103, 108, 153, 155, 170, 177, 179, 194, 197, 194, 197, 217, 227, 231, 240, 271, 278, 285, 287, 293, 297–317, 328, 333A, 334A, 360, 362, 379, 386, 394, 397, 398A, 399 Jonson, Ben 27 Joyce, James 399, 409, 414 Jung, Winfried 375A Kant, Immanuel 9, 43, 70f, 76, 79, 106, 140, 190, 201, 203–218, 224f, 227– 230, 269, 283, 285, 350A Kandinsky, Wladimir 89 Kaiser, Gerhard 282A Keller, Gottfried 35f, 287, 293 Kemp, Wolfgang 3A, 5A Kepler, Johannes 90 Keyserling, Eduard Graf von 121 Kierkegaard, Sören 134 Klee, Paul 196 Kleist, Ewald von 25, 109, 137, 258, 262–264, 394 Klopstock, Friedrich Gottlieb 272f, 274, 275, 280 Knaus, Ludwig 374 Koch, Joseph Anton 112 Koepke, Klaus 297A Kofler, Leo 181A Kopernikus 66 Korff, H.A 91A, 92A. Kortländer, Bernd 175A Kracauer, Siegfried 65A Kranz, Walther 48A, 61A Kribben, Karl-Gert 370A Krönig, Wolfgang 177A
434 Namensregister Küpper, Peter 337A Kues, Nikolaus von 67f, 123, 126 Küster, Hansjörg 172A, 245A Kulenkampf, Jens 214A Kutschera, Franz von 139A Langen, August 273f, 275, 299, 300A, 345A La Roche, Sophie 282 Lehmann, Herbert 167A, 170A, 171, 224A Leibniz, Gottfried Wilhelm 239 Leonardo [da Vinci] 3, 122–133, 135, 165, 187, 192, 240 Leser, Hartmut 173A Lessing, Gotthold Ephraim 8, 25, 108, 119, 121, 128, 135–138, 154, 165, 260–262, 264, 337, 394 Liebig, Justus von 357 Liliencron, Detlev von 101 Lilienthal, Otto 67 Limburg, Gebr. 25 Lindemann, Gisela 308A Linné, Karl von 82 Litt, Theodor 87A Livius 182 Lobsien, Eckhard 27A, 114A, 149A, 155A Locke, John 50 Löns, Hermann 391 Löw, Reinhard 214A Lorenz, Konrad 92f, 107A, 221f Lorrain, Claude 18, 111, 112, 130, 175, 176 Ludwig XIV. (Französischer König) 59, 306 Lützeler, Heinrich 179 Lukács, Georg 266, 267f, 269A Luther, Martin 185 Machiavelli, Niccolò 23 Mahr, Johannes 364A Makowsky, Henry 245A, 305A, 358A Malinowski, Bronislaw 142 Mantegna, Andrea 120 Martial 24 Martynkewicz, Wolfgang 391A Marx, Karl 181A Mason, Stephen F. 53A
Maturana, Umberto R. 92, 145f, 216A Maupassant, Guy de 15f, 32, 182 Mauser, Wolfgang 114A, 115A Mautz, Kurt 350A May, Karl 51 Meid, Volker 114A Merck, Johann Heinrich 282 Messerschmidt-Schulz, Johanne 250A Métraux, Alexandre 168A Mettler, Heinrich 347A Metzger, Wolfgang 223 Meyer, Hermann 240A Meyer-Abich, Adolf 332A Michelangelo [Buonarroti] 281 Mittelstraß, Jürgen 63A Monet, Claude 195, 374, 411 Montgolfier, Brüder 96 Morandi, Giorgio 22 Müller, Andreas 301A Müller, Friedrich (genannt: Maler Müller) 282 Müller, Joachim 348A Muschg, Walter 319 Musil, Robert 73, 404f, 408 Neumann, Ursula 330A Neubauer, John 86A Newton, Isaac 9, 85f, 87, 212 Nicolai, Friedrich 136 Nietzsche, Friedrich 66f, 201 Noé, Heinrich 157, 293 Novalis [Friedrich von Hardenberg] 219, 333 Novotny, Fritz 338A, 346A, 347 Ohl, Hubert 364A, 368A, 376A Ohly, Friedrich 303A Oken, Lorenz 402 Olivier, Ferdinand 303 Opitz, Martin 30, 108, 109 Ott, Friedrich P. 398A Panofsky, Erwin 190A, 191A, 194 Paracelsus [Theophrastus Bombastus von Hohenheim] 114 Parmenides 239 Pascal, Blaise 360 Pascal, Roy 329A Patinir, Joachim 188
Namensregister 435 Petrarca, Francesco 182–186, 188 Pfotenhauer, Helmut 107A Philipp von Mazedonien 182 Piaget, Jean 50 Platon 6, 19, 41, 47, 77–81, 83, 92, 95, 97, 98, 117f, 139, 200, 201, 202, 271 Plessner, Helmuth 54A, 107A, 216A Plinius der Jüngere 24 Plutarch 109 Podak, Klaus 401A Poe, Edgar Allen 232, 396 Polybios 17 Ponge, Francis 42f Portmann, Adolf 126, 220 Poussin, Nicolas 26 Preisendanz, Wolfgang 339A, 347A, 364A Proust, Marcel 32, 56, 102, 401 Quabius, Richard 362A Raabe, Wilhelm 37 Raffael [Raffaello Santi] 281 Ransmayr, Christoph 232 Ratzel, Friedrich 160–162, 172, 177f, 224, 293 Reemtsma, Jan Philipp 413 Rehder, Helmut 195 Rembrandt [van Rijn] 134A Renoir, Auguste 32 Richter, Ludwig 364 Riedl, Rupert 216A Riehl, Wilhelm Heinrich 176, 179A Rilke, Rainer Maria 34f Ritter, Alexander 239A, 339A Ritter, Carl 159, Ritter, Joachim 184A, 188A, 193, 279A Roedl, Urban 320 Roth, Joseph 319 Rousseau, Jean-Jacques 34, 48, 49, 51, 168, 273, 306 Ruskin, John 2–7, 98, 111, 366 Ruysdael, Salomon van 2, 150, 176 Sachs, Hans 249–251 Sachsen-Weimar, Karl August Herzog von 305 Sartre, Jean-Paul 149A
Schaff, Adam 140A Schardt, Michael M. 298A Schefer, Leopold 355A Scheler, Max 95A, 223A Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 62f, 194, 219, 220, 274f, 277, 292, 314 Schiemann, G. 83A, 86A Schillemeit, Jost 371A Schiller, Friedrich 1, 178, 193, 229f, 284, 285, 286f, 307, 333 Schivelbusch, Wolfgang 365A, 373A Schmidt, Arno 11, 32A, 59, 64, 65, 97, 108, 157, 194, 196, 252, 287, 322A, 323A, 343, 355A, 386–415 Schmidt, Martin 273A Schneider, Helmut J. 252A Schneider, Norbert 200A, 217A, 246A Schnorr von Carolsfeld, Julius 303 Schopenhauer, Arthur 39–41 Schubert, Gotthilf Heinrich 385 Schweikert, Uwe 315A Schwemmer, Oswald 63A Schwind, Martin 172 Sedlmayer, Hans 265A Seel, Martin 31A Seidler, Herbert 343A Selge, Martin 329A, 339A Sengle, Friedrich 293A Shakespeare, William 307 Simonides von Keos 109 Simmel, Georg 167A, 170, 180, 316f, 370A Skarbina, Franz 374 Smuda, Manfred 149A, 155A, 195A Snell, Bruno 17A Sokrates 19 Sorg, Bernhard 114A Spaemann, Robert 214A Speier, Hans-Michael 309A Steingräber, Erich 130A, 334A, 346A Stern, Joseph Peter 329A Sterne, Lawrence 307 Stiehm, Lothar 329A Stifter, Adalbert 3, 11, 32A, 34, 41, 58, 64, 96f, 98, 104, 106, 108, 153, 154, 159, 170A, 180, 194, 205, 225, 227,
436 Namensregister 231f, 242, 293, 319–360, 362, 380, 393–398, 399, 401, 410, 415 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 51 Strauß, Gerd 298A Sütterlin, Christa 304A Suhrbier, Hartwig 393A, 408A, 412A Swieten, Gottfried Freiherr van 26
Vergil 17, 18, 19, 20f, 25, 29, 108, 112, 182 Vivaldi, Antonio 26 Vollmer, Gerhard 94A Vollmer, Hartmut 94A, 398A, 406A Voss, Johann Heinrich 282
Tasso, Torquato 108 Tau, Max 364A, 376A, 380A Thales von Milet 69 Theokrit 18, 19, 20, 108, 182 Thirsk, Joan 357A Thomas, Werner 347A Thomas [von Aquin] 202 Thomsen, Christian W. 134A Thomson, James 25–27, 29 Tieck, Ludwig 240, 305, 325 Timpanaro, Sebastiano 131A Tintoretto [Jacopo Robusti] 281 Tizian [Vecellio] 22, 111, 181 Tolstoi, Leo 405 Toulmin, Stephen 95A, 220A Trier, Jost 158 Tschechow, Anton 15, 32 Tucholsky, Kurt 101, 157 Turgenjew, Iwan S. 56 Turner, William 6, 112, 241, 374
Waldmüller, Ferdinand Georg 34 Walser, Robert 41f Walther von der Vogelweide 168 Wedewer, Rolf !93A, 195A, 373A, 411 Wegner, Reinhard 177A Weizsäcker, Carl Friedrich von 71f, 75, 76A, 83A, 84A, 123A Wellershoff, Dieter 405 Wenzel, Manfred 83A Wezel, Johann Karl 282 Wickram, Jörg 251 Whorf, Benjamin Lee 143A Wieland, Christoph Martin 15, 48, 59 63f, 121, 138, 255, 259, 264, 270– 272, 280, 282, 359, 394 Witt, Hubert 406A Witz, Konrad 111 Wölfel, Kurt 264A, 269A, 306A, 315A Wolbrandt, Christine 358A Wolfram von Eschenbach 243–248 Wright, Brüder 67 Wunberg, Gotthart 380A
Urban VII (Papst) 74 Uexküll, Jakob von 93f Varela, Francisco J. 92A
Zammattio, Carlo 131A Zimmermann, Jörg 173A, 188A, 214A Zola, Emile 374