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Der britische Thronfolger als blinder Passagier im All SF-Fans beherrschen die Welt Schwerverbrecher werden eingefroren Ungeheuer von fremden Sternen wünschen terranische Frauen Keine Schlagzeilen von heute. Sie könnten aber Schlagzeilen der Weltpresse von übermorgen werden. Hans Stefan Santesson bringt neun erregende SFGeschichten aus dem 21. und dem 22. Jahrhundert. Die Autoren sind Arthur C. Clarke, Fritz Leiber, Robert Bloch, Harry Harrison und andere. EIN HEYNE-BUCH
HANS STEFAN SANTESSON
DIE MÄCHTIGEN DES UNIVERSUMS Science Fiction-Stories
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3142 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe RULERS OF MEN Deutsche Übersetzung von Birgit Reß-Bohusch
Alle Stories sind deutsche Erstveröffentlichungen bis auf ›Seine Majestät der König‹ von Arthur C. Clarke
2. Auflage Copyright ©1965 by Pyiamid Publications, Inc. Printed in Germany 1970 Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei Freisinger Tagblatt, Dr. Franz Paul Datterer oHG., Freising Gescannt von Brrazo 08/2004
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INHALT ROBERT BLOCH Die Welt der Fans (A WAY OF LIFE) FRITZ LEIBER Der Weltuntergangsbrief (BE OF GOOD CHEER) L. SPRAGUE DE CAMP Die Fremden kommen (A THING OF CUSTOM) MIRIAM ALLEN DE FORD Revolte in San Quentin (PRISON BREAK) ARTHUR C. CLARKE Seine Majestät der König (THIS EARTH OF MAJESTY) RANDALL GARRETT Der Augentest (THE EYES HAVE IT) WENZELL BROWN Die Mörderkette (MURDFRER'S CHAIN) 5
HARRY HARRISON Der K-Faktor (THE K-FACTOR) EDWARD D. HOCH Die Wolframjäger (THE WOLFRAM HUNTERS)
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Mit Tränen in den Augen erinnern sich die Menschen an die heldenhafte Geschichte von den frühen Märtyrern des Fantums. John Henderson, der zukünftige Präsident der Vereinigten Staaten, dessen Aufgabe es sein wird, die Texte der geheiligten Schriften weiterzugeben, stößt unerwartet auf die Wahrheit…
Die Welt der Fans ROBERT BLOCH Der zukünftige Präsident der Vereinigten Staaten spielte nervös mit seinem Windrädchen und warf einen Blick durch den Vorhangspalt in die Convention Hall. »Jetzt?« fragte er leise. Das Mädchen neben ihm schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Sollen sie durch die Demonstration erst Dampf ablassen.« Sie lächelte. »Glücklich, John?« John Henderson nickte. »Ja, aber auch aufgeregt.« »Vergiß nicht, du bist der zukünftige Präsident«, ermahnte ihn das Mädchen. »Wenn ich gewählt werde.« Henderson grinste. »Das hier ist schließlich erst die Nominierung gewesen, nicht wahr? Und diese NFFF ist zäh.« »Trotzdem, FAPA gewinnt.« Avis Drake drückte ihm beruhigend den Arm. »Wie hat dir Daddys Nominierungsansprache gefallen?« »Klasse. Damit war die Sache gewonnen.« »Ja, nicht wahr? Hör dir die Sympathiekundgebung an!« Gemeinsam starrten sie durch die Öffnung im Vorhang und beobachteten die Anhänger, die durch den Saal marschierten. Irgendwo im Hintergrund spielte eine Orgel ein verrücktes Durcheinander – von dem Kirchenlied Kyrie Elleison bis zu dem 7
alten Trinklied der FAPA Yes, Sir, That's my Bourbon. Aber es war unmöglich, mehr als Bruchstücke der Melodien zu erkennen, denn die Fans waren losgelassen. Sie verteilten sich in den Seitengängen der Gernsback Hall und riefen Hendersons Namen. Sie schwangen ihre Windrädchen, schossen mit Konfettikanonen und schwenkten Ausgaben ihrer Staatsmagazine. Alle Delegationen hatten sich dem Marsch angeschlossen und drängten sich um die Fahnen, die jeder Klub des Landes mitgebracht hatte. John Henderson warf einen Blick auf die Aufschriften. Das hier waren die Abgesandten von Silverbergh, dort sah man die Flagge der Stumpfler, und im Hintergrund erhob sich das weiße Emblem einer winzigen Gruppe vom Nordpol. Zwischen den Spruchbändern mit der Aufschrift: UNSER PRÄSIDENT IST HENDERSON sah man noch andere Erklärungen: GRENNELL WAR GUT, ABER HENDERSON IST BESSER, und WO EIN WILLE IST, DA IST EIN WEG, und, weil es überall in einer Versammlung Witzbolde gab: BIER IST DAS EINZIG WAHRE! Aber jetzt hatte der Vater von Avis, Lionel Drake, das Rednerpodium noch einmal bestiegen. Er ließ seinen Hammer auf den Tisch sausen und bat um Ruhe. Langsam fanden die berühmten Fans ihre Plätze. Lionel Drake hob das Mikrophon hoch und hielt eine kurze Einführungsrede. »Fertig?« wisperte Avis. John Henderson nickte. Das Mädchen umarmte ihn und drückte ihm die Lippen auf die Wange. »Dann hinaus mit dir! Viel Glück!« Er hörte, wie Lionel Drake seinen Namen nannte, er hörte das Toben der Menge, und dann trat er durch den Vorhangspalt und stellte sich der Versammlung. Sie jubelten ihm zu, und als sie allmählich leiser wurden, begann er zu sprechen. Auf dem Rednerpult vor ihm lag eine Kopie seiner Rede, aber John Henderson merkte, daß er sie gar nicht brauchte.
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Er sprach anfangs langsam und betrachtete die Gesichter in der Menge. Sie waren so jung, so absurd jung! Viele von ihnen schienen kaum fünfzehn, und weniger als ein Drittel hatte die Dreißig überschritten. In der ganzen Versammlung gab es kein Dutzend wirklich alter Leute. Lionel Drakes graues Haar war auffallend. Aber Lionel Drake war auch eine der großen Ausnahmen, einer der wenigen Überlebenden. Man stelle sich vor, er hatte zu Ellisons Zeiten gelebt, in den Tagen eines Rog Phillips, eines Dan Kyle und eines Ackerman! Natürlich, damals war er ein kleines Kind gewesen, und er hatte keine der Größen persönlich gesehen, aber er hatte schon gelebt! So wie Hunderte von Millionen anderer Menschen. Was den alten Lionel Drake so ungewöhnlich machte, war die Tatsache, daß er am Leben geblieben war, als Hunderte von Millionen untergingen. Lionel Drake hatte überlebt, und als Überlebender war er eines der seltenen Bindeglieder zur fernen Vergangenheit. John Henderson merkte, daß er genau über jene Vergangenheit sprach – nicht von seiner vorbereiteten Rede, nicht, wie es sein Verstand gebot, sondern aus freiem Herzen. »Sie möchten meine Pläne kennenlernen, mein Programm«, sagte er. »Aber die Erklärung des Parteiprogramms muß noch warten. Heute habe ich Ihnen nur eines zu sagen – und ich sage es in den Worten des unvergessenen Tucker: Fantum ist auch eine Lebensauffassung!« Er wartete, bis die Hochrufe verstummt waren. »Merkwürdig, nicht wahr, daß dieser Satz in einem zerrissenen Jahrhundert überdauert hat? So unglaublich es uns erscheinen mag, er wurde zum ersten Mal vor weniger als hundert Jahren ausgesprochen. Wir wissen nicht, unter welchen Umständen es geschah. Wir wissen nicht einmal allzu viel über seinen Autor. Dieser Wilson Tucker oder Arthur Tucker oder Bob Tucker ist heute nur noch eine Legende. Wir kennen aus seinem Leben weniger Daten als von Shakespeare oder H. G. Wells oder Aldous Julian Huxley oder einem der anderen großen Science FictionAutoren der fernen Vergangenheit. 9
Doch die Worte haben überlebt. Sie überlebten in den alten Tagen, noch bevor sich die Fans erhoben, um Licht in die Gedanken der Menschen zu bringen. Als unsere Vorfahren eine kleine, verfolgte Minderheit waren, gaben ihnen diese Worte Kraft. Kraft, um den Spott und die Verachtung der ungebildeten Massen zu ertragen, der Fernsehanbeter, der Sportzuschauer, der Cadillac-Schwärmer, die die Welt regierten. Sie alle kennen die Geschichte natürlich: Die Geschichte von den frühen Märtyrern unter den Fans, die sich geheim in kleinen Gruppen trafen und die ersten Fan-Klubs bildeten. Sie hatten damals keine Macht, fanden keine Anerkennung. Man bespöttelte und vorlachte sie, nannte sie verrückte Visionäre und Fanatiker. Und sie hielten durch. Sie saßen über ihren primitiven Vervielfältigungsmaschinen und gaben ihre Magazine heraus. Die Magazine sind längst zu Staub zerfallen, aber wer unter uns könnte je ihre Namen vergessen: Grue und Hyphen, Amazing und Astounding, Galaxy und Quandry und The Magazine of Fantasy and Science Fiction. Fantastic Universe, Startling, Confidential, Infinity, Dimensions – diese Namen werden nie untergehen. Ebensowenig die Namen ihrer Schöpfer. Und doch, damals waren sie nicht berühmt. Es gab einen John W. Campbell, aber keine Campbelliten. Es gab einen Aitchell Gold, aber keine Aitchelliten. Und als St. Anthony Boucher seine herrlichen Bilder schuf, lag jeder Gedanke an seine Heiligsprechung fern. Weshalb gaben jene Männer nicht auf? Ich möchte annehmen, daß es einen Grund hatte: Sie alle folgten einer einzigen Inspiration, der Inspiration, die sich in ihrem und unserem großen Motto ausdrückt: Fantum ist auch eine Lebensauffassung! Gewiß hat dieses Motto die großen Fan-Wissenschaftler jener Epoche angefeuert – Männer wie Asimov, E. E. Smith, Arthur C. Clarke, Dr. Barrett und Willy Ley. Einstein mußte gewußt haben, daß Heinlein unsterblich sein würde, als er die Heinlein-Relativitäts-Theorie aufstellte, mit deren Hilfe Atomwaffen hergestellt wurden.
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Aber damals lachten die Massen nur. Heute wissen wir, daß die gesamte Naturwissenschaft, daß sämtliche Erfindungen dem Werk dieser Männer entsprangen. Wir haben noch ihre gebundenen Schriften, die von ihrem Wissen über Kernspaltung, Raketenbau, Radar und den anderen Wundern des Ersten FantumZeitalters zeugen. Doch die Macht, die sie besaßen, geriet in die falschen Hände. Bomben fielen, und die interkontinentalen Raketen landeten. Und von Moskau – heute Moskowitz genannt – kam der Krieg, der das Erste Fantum-Zeitalter beendete und fast die gesamte Fanheit ausrottete. Wir alle wissen sehr gut, welch düstere Jahre folgten. Jahre, in denen Menschen guten Willens – die wenigen, die überlebt hatten – unterirdisch weitermachten. Die Jahre der Pest und Strahlung und des endlosen Kieges. Die Jahre, in denen Zerstörung und Auflösung drohten. Die politische, religiöse, soziale und wirtschaftliche Struktur der Fanheit verschwand. Selbst die militärische Struktur konnte sich nicht lange aufrechterhalten. Und was blieb? Nur der Glaube an das Fantum. Als sie die Universitäten verbrannten, die Bibliotheken, die Bücher, was blieb? Die sorgsam verwahrten Schätze einer Handvoll Fans. Unter den Ruinen der Städte, in ländlichen Schlupfwinkeln wie dem verborgenen Bloomington und dem weit entfernten Weyauwega wurden die letzten Vervielfältigungsapparate gedreht, die man noch besaß. Als die Überlebenden wieder ans Tageslicht traten, als die paar Millionen aus einer Zahl von vielen hundert Millionen wieder das Antlitz der Erde vor sich sahen, erlitten viele von ihnen ein schlimmes Geschick. Sie erblickten die Trümmer der Zivilisation und wurden wahnsinnig. Andere wandten sich gegen ihre Mitmenschen und versuchten ihnen ihre Herrschaft mit Gewalt aufzuzwingen. Sie bekämpften einander und gingen unter. Es gab einige, die vergeblich versuchten, die alte Ordnung wieder herzustellen. Die Fanheit hatte den Glauben an Industrie und Militär
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verloren, an die sogenannten Politiker und die Religion, die den Schrecken des Krieges gebilligt hatte. Und zu diesem Zeitpunkt kam, wie wir wissen, das Fantum zu seiner Blüte. Fantum International – auf Freundschaft, gegenseitigem Verständnis und Glauben an die wahre Brüderlichkeit begründet. Fans wurden nicht wahnsinnig. Fans griffen nicht zur Gewalt. Fans waren auf eine neue Ordnung, einen neuen Start vorbereitet. Weshalb? Weil sie auch während der Zeit der Zerstörung und Dunkelheit an ihrem Motto festgehalten hatten – Fantum ist auch eine Lebensauffassung. So war es das Fantum, das die Führung übernahm. Die Kinder der Ersten Fans erhielten das sorgfältig gehütete Wissen der Vergangenheit. Sie scharten sich um Organisationen wie die PAPA und – nun ja, die NFFF.« Bei der Erwähnung der gegnerischen Partei brach die Menge in Buhrufe aus. John Henderson hob die Hand und wartete, bis es still war. »Das Gefühl darf die Vernunft nicht überwältigen«, warnte er. »Wir von der FAPA – der Fantasy Amateur Press Association – wissen, daß die NFFF eine irregeleitete Minderheit ist. Die sogenannte National Fantasy Fan Foundation wird nie eine nationale oder gar internationale Wahl gewinnen.« Die Menge applaudierte, aber Henderson winkte ab. »Dennoch, auch die NFFF sind Fans. Falsche Fans vielleicht, aber Fans. Sie glauben wie wir an das Motto: Fantum ist auch eine Lebensauffassung.« Er machte eine Pause und räusperte sich. »Denkt daran, früher arbeiteten wir alle zusammen. Unsere Väter taten das ihre, um die Städte wiederaufzubauen und die Ordnung wiederherzustellen. Mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der Weisheit, die sich in den Science Fiction-Büchern fand, brachten sie Licht in das Chaos. Durch die Anwendung der Fan-Prinzipien wurde die Welt neu aufgebaut. In den vergangenen dreißig Jahren haben wir viel erreicht. Unsere Welt ist immer noch entsetzlich
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unterbevölkert. Große Städte, ganze Nationen liegen darnieder. Aber wir machen Fortschritte. Unter der Führung unserer örtlichen Fan-Klubs, unter der Aufsicht von berühmten Fans, wie wir sie heute in unserer Mitte sehen, blüht die Fanheit wieder auf. Der erste Traum der Fans, die Sterne zu erreichen, ist immer noch ein Traum. Aber schon jagen Düsenflugzeuge über den Himmel. Die großen silbernen Heinliner ziehen ihre Bahn. Wir bauen wieder Fabriken und Labors, bilden unsere künftigen Führer an der Frederic-Brown-Universität heran, betrachten die anderen Planeten vom Mount-Richard-Wilsons-Observatorium und machen neue Erfindungen wie die Bradbury-Strahlen. Er wird keinen Krieg mehr geben. Dafür hat das Fantum gesorgt. Jetzt, da alle echten, ernsthaften, schöpferisch begabten Fans sich vereinigt haben, spielen unsere rassischen und politischen Unterschiede keine Rolle mehr. Auch die Religion kann uns nicht trennen. Ob wir Ghu oder Foofoo anbeten, Poo oder Yobber, wir sind in einem Glauben vereint. Und diesen Glauben möchte ich hochhalten. Dieser Glaube wird zum Schlüssel der kommenden Wahlkampagne werden: Fantum ist auch eine Lebensauffassung.« John Henderson verbeugte sich und trat hinter den Vorhang. Er wartete den donnernden Applaus der Menge nicht ab. Er sah Avis Drake und ihren Vater mit einem lausbubenhaften Grinsen an. »Das wäre geschafft«, seufzte er. »Und wie steht es nun mit dem kleinen Urlaub, den ihr mir versprochen habt?« Das Farmhaus stand in den Außenbezirken der ehemaligen Stadt Reading in Pennsylvania. Es war Lionel Drakes privates Hauptquartier, und hier fand John Henderson die Ruhe, die er brauchte, um sich auf die Wahlkampagne vorzubereiten. Natürlich gab es auch genug Arbeit. Die großen Fan-Klubs schickten Delegationen, um ihre Pläne zu erklären und sich Hendersons Zustimmung dafür zu sichern – der Midwestcon, der Oklacon, der Westercon und all die anderen. Und abends stellte
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Henderson zusammen mit dem alten Lionel Drake die strategischen Schachzüge zusammen. Aber es gab auch lange, goldene Nachmittage, in denen er Hand in Hand mit Avis durch die zauberhafte Landschaft wanderte. Denn sie waren in Pennsylvania, auf ehrwürdigem Grund. Es war das Land von Bill Danner, Harry Warner, Madie und Rothman und manch anderer legendären Gestalt aus der fernen Vergangenheit. Die Geister von Damon Knight und Judith Merrill schienen im Dunstschleier über den Wäldern zu schweben. Henderson wußte, daß solche Gedanken kindisch waren, aber in gewisser Weise suchten er und Avis hier draußen ihre Kindheit. Sie hatten nie gewußt, was es hieß, Kind zu sein. Eines Tages unterhielten sie sich darüber. »Ich hatte nie Spielkameraden«, gestand Avis. »Als ich auf die Welt kam, war so ungefähr jeder aus Daddys Generation steril – wegen der Strahlung. Außerdem wurde das Fantum gerade organisiert, und manchmal mußten wir uns verstecken. Ein Teil der alten Streitkräfte existierte immer noch, und ihre Anführer versuchten, sich die Herrschaft anzueignen. Und die GeneralPartei war am Zug – du weißt schon, General Motors und General Electrics und all die übrigen. Daddy sagt, daß das Fantum siegte, weil wir die besten Verständigungsmöglichkeiten hatten – mit unseren Tonbändern und Kurzwellensendern und Vervielfältigungsapparaten – aber vor allem, weil die Fans einander vertrauten. Die Militär- und Industriegruppen bekamen dauernd untereinander Streit. Du weißt sicher noch, daß wir alle Monate einen neuen Präsidenten hatten, als wir noch klein waren. Und die vielen Attentate!« Henderson nickte. »Deshalb gingen meine Leute auch eine Zeitlang in einen unterirdischen Bunker. In der Nähe von Peoria. Es heißt, daß Philip Jose Farmer dort gelebt hat.« »Dann wirst du wissen, was ich meine«, sagte Avis. »Daddy war Psychologe, und er war ein Mitbegründer des neuen Fantums. Natürlich waren alle hinter ihm her. Sogar einige der 14
ersten Fan-Klubs stellten sich gegen ihn – diese Shaveriten und Palmeriten und die anderen religiösen Sekten. Wir zogen dauernd um und blieben nie länger als ein paar Jahre an einem Ort. So kannte ich nie gleichaltrige Mädchen, und ich hatte auch nie Spielzeug. Als ich sieben oder acht war, setzte mich Daddy vor eine Vervielfältigungsmaschine und ließ mich Blätter für die FanMagazine abziehen. Wir schickten an die Millionen umher, bis wir endlich eine feste Organisation hatten und die Zeitungen in die Hände bekamen. Aber allmählich setzten sich seine Pläne durch, und wir konnten unsere Leute in die Rundfunkanstalten und großen Verlage einschleusen. Mit ihrer Hilfe haben wir die erste richtige Wahl gewonnen.« »Kaum glaublich, daß das erst sechzehn Jahre her ist«, meinte Henderson nachdenklich. »Ich war noch in Peoria, als es geschah. Machte gerade mein letztes Jahr in einer Privatschule, die von einem alten Fan namens Shaw geleitet wurde. Behauptete, er sei der Enkel des berühmten Shaw, aber konnte es natürlich nicht beweisen. Sagte, sein Vater sei ein Mitglied des alten HydraKlubs gewesen. Der Kerl verstand was von Psychologie. Redete dauernd von Hubbard und seinem Schüler Freud. Ich begann mich dafür zu interessieren – und so traf ich mit deinem Vater zusammen. Und mit dir.« »Es hat sich doch wunderbar ergeben, nicht wahr, Darling?« Das Mädchen drückte ihm die Hand. »Und von jetzt an wird alles noch schöner. Du gewinnst die Wahl, und wir bleiben zusammen und…« John Henderson schüttelte den Kopf. »Du darfst die Dinge nicht vereinfachen«, sagte er. »Das ist eines unserer größten Probleme von heute. Alles wird vereinfacht. Wußtest du, daß es zu Beginn des Krieges mehr als zwei Milliarden Menschen auf der Welt gab, einhundertachtzig Millionen allein in diesem Land? Und wie steht es heute mit der Bevölkerung? Zwanzig Millionen höchstens. Niemand kann eine genaue Zahl nennen, da wir nie eine Volkszählung durchführten. Es gibt so viele Dinge, die wir einfach haben müssen, öffentliche Schulen, zum Beispiel. Wir 15
können unsere Kinder nicht ewig in Fan-Gruppen erziehen lassen. Und wir müssen ihnen mehr Tatsachen und weniger Legenden beibringen. Wir müssen mehr Ingenieure und Wissenschaftler und Techniker ausbilden, dafür weniger Künstler und Schriftsteller und Drucker. Es ist schön und gut, daß die Hälfte der Menschen den Boden bebaut und uns mit Nahrungsmitteln versorgt, daß wir ein paar Eisenbahnen und ein paar Straßen haben, und daß wir sogar eine Flotte von Heinlinern besitzen. Aber wir brauchen soviel mehr! Es dauert bestimmt noch fünfzig Jahre, bis wir nur die Ruinen der Städte beiseite geschafft haben, Und dann…‹ »Bitte, das klingt ja wie eine Propagandarede«, protestierte Avis. »Du sprichst wie Daddy.« »Dein Vater ist ein großartiger Mann«, meinte Henderson. »Ich weiß nicht, ob ich ihm je zurückzahlen kann, was er alles für mich getan hat. Er hat mich Schritt für Schritt ausgebildet, seit ich ein Neuling in der Fähnchenschwinger-Brigade war. Er sagt, daß er mich als zukünftigen Präsidenten ausgewählt hat. Manchmal glaube ich allerdings, daß er mich als deinen zukünftigen Ehemann ausgewählt hat.« »Das kommt zufällig auf mein Konto«, murmelte Avis. »Und jetzt vergiß die Politik für eine Weile.« Er folgte ihrem Rat, und sie hatten einen herrlichen Nachmittag und ein herrliches Wochenende. Es war der darauffolgende Montag, als alles einstürzte. Lionel Drake erhielt plötzlich die Nachricht, daß er zum FAPAHauptquartier nach Sturgeon mußte – die neue Stadt, die man am Rande des ehemaligen Philadelphia erbaut hatte. Und Avis begleitete ihn und ließ Henderson allein mit ein paar Angestellten und einer Sekretärin zurück. Henderson ging am Vormittag die Pressenotizen in den gängigen Magazinen durch und bereitete eine Erklärung gegen den neu aufgekommenen Van-Vogt-Kult vor, der Mutantentheorien
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vertrat und sowohl die Wahlkampagne der FAPA als die der NFFF empfindlich gestört hatte. Er verbot die Van-Vogt-Bücher nicht gerade – es war ein Grundprinzip, daß man aus erzieherischen Gründen alles Gedruckte aus der Vergangenheit aufbewahrte – aber er warnte die Fans, das Gelesene nicht zu wörtlich zu nehmen. »Was würde geschehen«, schrieb er, »wenn wir Bester und de Camp und Kornbluth als Historiker anerkennen würden? Wir dürfen nicht vergessen, daß viele der Meister mit Parabeln und Allegorien arbeiteten. Einige von ihnen hielten es in ihrer tiefen Weisheit für angebracht, die Zeitgenossen durch Satiren zu kritisieren. Andere, wie der gelehrte Poul oder Hans Christian Andersen schrieben richtige Fabeln. Van Vogts Extrapolationen dürfen nicht als Bibelwort genommen werden.« Stimmte das wirklich? Am frühen Nachmittag ließ Henderson die Arbeit liegen und machte einen Spaziergang. Er wählte nicht den Weg, den er sonst mit Avis ging, sondern schlenderte über die Felder zu einer Gruppe verlassener Farmhäuser in der Nähe einer ehemaligen Straßenkreuzung. Henderson wollte nachdenken. Da stand er nun, ein Präsidentschaftskandidat, der berühmteste Fan, eine Autorität, wenn es um die Bedeutung wissenschaftlicher Schriften ging. Aber was wußte er wirklich? Oh, er hatte natürlich all die Bücher gelesen – alles, was man aus dem Schutt gerettet hatte. Die zerrissenen und zerfledderten Gnome-Presse-Ausgaben, die Doubleday-Überreste mit ihren Eselsohren, die nun schon längst neu gedruckt waren und den Schülern als Lehrtexte dienten. Er hatte sie durchgearbeitet – nach Hinweisen auf die Vergangenheit, nach Wissen und Lehrsätzen. Henderson hatte ihre Glaubwürdigkeit nie in Frage gestellt. Als Bagger in den Archiven von Universitäten echte Unterrichtstexte zutage gefördert hatten, waren sie mit dem Werk der großen Fan-Autoren verglichen worden, und man hatte festgestellt, daß diese Männer ihre Bücher auf gesunden, wissenschaftlichen 17
Prinzipien aufgebaut hatten. Das war der Beweis, daß sie den Boden der Tatsachen nicht verließen. Aber einige ihrer höheren Begriffe – Mutantenkräfte beispielsweise, ESPER- und PSIKräfte, Antischwerkraft und Raumfahrt – kamen in den Universitätsbüchern nicht vor. Henderson hatte Drake und einige andere darüber befragt. Drake erklärte ihm, daß Männer wie Heinlein, Margulies und Howard Browne zweifellos im Besitz größerer Geheimnisse gewesen waren, als sie ihren Zeitgenossen mitteilen wollten – dreißig Jahre länger, und sie wären zur Regierung gegangen und hätten Formeln angeboten, mit denen man die Menschen in den Raum schicken konnte. Doch die Regierungen hatten Heinleins Theorie falsch angewandt und die atomare Zerstörung gewählt. Das hatte Drake gesagt. Aber stimmte es? Verschiedene Dinge wollten Henderson nicht recht einleuchten. Er war kein Häretiker, kein falscher Fan, aber er hatte doch seine Zweifel. Wenn Fans so verfolgt und machtlos waren, wie kam es dann, daß Heinlein überhaupt zur Regierung gegangen war? Weshalb konnte man Werke der einen Meister immer noch finden, während man von anderen, ebenso berühmten Autoren überhaupt keine Bücher besaß? Weshalb gab es keine Kopien der ersten Fan-Magazine? Zugegeben, in den Kriegsjahren war fast alles vernichtet worden, und Papier brannte schnell – aber es mußte einfach irgendwo ein paar Exemplare geben. Die Wohnungen vieler alter Meister waren bekannt, ebenso ihre Brieffreunde. Weshalb hatte man sich nicht die Mühe gemacht, die Heime von Don Ford, Bea Mahaffey und Redd Boggs auszugraben? So kannte man nichts außer ihren Namen. Henderson mußte zugeben, daß alles sehr vage war. Er wußte nicht, ob Don Ford mit dem Autofabrikanten Henry Ford verwandt war. War Bea Mahaffey eine strenge alte Dame oder eine üppige Blondine?
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Hatte es wirklich ein allwissendes Genie wie Redd Boggs gegeben, oder war er eine Legende der FAPA? Henderson merkte, daß er der ehemaligen Kreuzung näher kam. Zu seiner Überraschung entdeckte er ein paar Farmer und hiesige Bürger, die das Gebiet um die zerstörten Gebäude freiräumten. Ein altertümlicher Bulldozer hatte das Erdreich zur Seite geschoben, so daß man Zutritt zu den zerfallenen Grundmauern von vier oder fünf Häusern hatte. Er trat näher, und seine Neugier bekam plötzlich durch eine Idee einen Stoß. Hier war doch Eshbach-Territorium, oder nicht? Niemand kannte den genauen Wohnort von Lloyd Eshbach, aber hier in der Gegend hatte der berühmte Fan-Autor gelebt und gewirkt. Angenommen, ein Wunder geschah, und eines dieser Häuser stellte sich als sein Wohnsitz heraus? Angenommen, die Suchenden entdeckten ein Versteck mit Fan-Literatur – etwas, das er in der Wahlkampagne verwerten konnte? Es war ein verrückter, unmöglicher Gedanke, gewiß, aber angenommen … Henderson nickte einem der Bauarbeiter zu. »Brauchen Sie Hilfe?« Ein kleiner, untersetzter Mann hob den Kopf und starrte ihn an, ohne ihn zu erkennen. Er trug kein Abzeichen und war offensichtlich nur ein einfacher Farmer. »Sicher, wenn Sie zupacken wollen. Da drüben ist ein Spaten.« Er deutete auf einen Stoß von Werkzeug, das am Straßenrand lag. Henderson holte sich eines der rostigen Dinger und betrat das nächstliegende der freigeräumten Gebäude. »Wonach sucht ihr?« fragte er. »Schreibmaschinen, schätze ich.« Der untersetzte Farmer schnaufte bei der Arbeit. »Das Distrikthauptquartier setzte sich in den Kopf, daß wir hier ein paar Büromaschinen finden könnten. Einige von uns graben seit ein paar Jahren einen Nachmittag pro Woche in alten Häusern herum. In Reading haben wir ganz schön 19
was 'rausgeholt. Jetzt geht es an die Dörfer und Straßenknotenpunkte. Sind schon seit einem Monat hier. Aber jetzt sind wir weit genug vorgedrungen. Könnte sein, daß wir heute etwas finden.« »Zufällig eine Ahnung, wer hier gewohnt hat?« »Nein. Im Hauptquartier sagen sie, daß das Haus hier einem Oldtimer namens Polk gehört haben könnte.« Henderson schluckte. Polk. Sollte sein Traum doch wahr werden? Er kannte den Namen, er kannte ihn gut. Ein Polk hatte das frühe Fantum mitgegründet. Chester A. Polk. Offensichtlich sagte der Name dem Farmer und seinen Freunden nichts. Sie taten nur die Arbeit, die man ihnen zugewiesen hatte. Sie gaben ihre Muskeln für eine Routinearbeit her, für das Wegschaufeln von Schutt und das Ausbuddeln verbeulter Maschinen. Aber Henderson schaufelte wie ein Besessener. Er hatte kein Auge für die alten Möbel, die gebrochenen Federn, die Porzellanscherben. Er ging nicht zu der Gruppe, die sich erstaunt um Tapetenüberreste scharte, und er untersuchte nicht einmal das Ding, das eindeutig ein Fernsehapparat gewesen sein mußte. Henderson wußte, daß es heute keine Fernsehgeräte mehr gab, und normalerweise hätte es ihn interessiert, wie so ein Apparat aussah. Aber jetzt nicht. Nicht, wenn die Möglichkeit bestand, etwas Größeres zu finden. Aktenschränke vielleicht, oder ein Schreibtisch mit einer versperrten Schublade … Er schaufelte, und der Schweiß lief ihm von der Stirn. Die Sonne sank tiefer, und der Farmer kletterte aus der Grube. Er ging zu seinen Freunden. »Schätze, wir lassen es für heute«, sagte er. »Vielleicht finden wir nächste Woche was. Sind fast beim Kellergeschoß angelangt. Da – da kann man die Bodendielen hochstemmen. Das Haus scheint abgebrannt und nicht in die Luft gesprengt worden zu sein.« 20
Henderson nickte, aber er sah nicht von der Arbeit auf. »Kommst du nicht, Kumpel?« Er schüttelte den Kopf.» Ich habe noch eine Stunde Zeit«, keuchte er. »Macht es etwas, wenn ich weitergrabe?« »Wie du willst.« Der Farmer zögerte. »Aber denk daran, wenn du Maschinen oder so'n Zeugs findest – das mußt du abgeben, öffentliches Eigentum.« »Ich weiß schon«, versicherte Henderson. »Wenn ich etwas finde, bringe ich es ins Distriktbüro.« Sie gingen, aber er merkte es gar nicht, da er jetzt die Bodendielen erreicht hatte. Er stemmte sie hoch, und dann befand er sich im Keller. Er watete knietief im Schutt, und Staubwolken drohten ihn zu ersticken. Er blinzelte in das Dämmerlicht. Da waren die rostigen Überbleibsel eines alten Ofens, hier stand ein beschädigter Tisch – und auf dem Tisch schimmerte etwas Metallisches. Eine Schreibmaschine? Henderson trat näher und keuchte. Eine Vervielfältigungsmaschine! Die Kurbel war gebrochen und hing herunter. Und unter dem Tisch war ein großer Metallkasten. Er bückte sich, zog ihn aus dem Unrat und staubte ihn ab. Er las die Aufschrift, die mit schwarzer Farbe aufgepinselt war: Chester A. Volk – Privat. Akten? Es war ein tragbarer Aktenkasten mit zwei Schubladen. Und die Schubladen ließen sich öffnen. Henderson zog an den rostigen Griffen, und es war nicht die Anstrengung, die sein Herz schneller schlagen ließ. Die obere Schublade stand offen. Vergilbte Ordner quollen heraus. Henderson griff sich einen heraus. Er war voll von Briefen – getippten Briefen, handgeschriebenen Briefen. Er sah sich das Datum des obersten Bogens an – 1. April 1956! Er las den Brief flüchtig durch, dann wandte er das Blatt hastig um und suchte nach der Unterschrift. Jim Harmon!
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Jim Harmon, einer der früheren Meister – der Mann, der als erster die Vereinigung der Fans vorgeschlagen hatte, damals, in dem alten Peon-Magazin. Was war, wenn er ein paar Kopien des Magazins selbst fand? Henderson zog hastig die zweite Schublade auf. Er fand Peon. Er fand Peon und Hyphen und Inside und einen vollständigen Schriftwechsel von FAPA. Das war die FanMagazin-Sammlung, die sagenhafte Sammlung des Chester A. Polk. Henderson dachte jetzt keinen Augenblick daran, den Distriktmanager zu verständigen oder sein Material abzuliefern. Er war völlig damit beschäftigt, die Magazine einzusammeln, dazu die paar Bücher, die sich weiter hinten in der Schublade befanden, und sie an einen sicheren Ort zu bringen, wo er sie lesen konnte. Es würde noch eine Stunde dauern, bis die Sonne unterging. Wenn er alles zu dem Fleck unter den Bäumen schleppte, an dem er immer mit Avis saß, konnte er seinen Fund in aller Ruhe durchblättern. Und dann, wenn er zurück zum Farmhaus kam, konnte er Avis und Lionel Drake seinen Schatz zeigen. Er brauchte nur eine Stunde. Diese und eine Stunde, und … Es war fast drei Stunden später, als John Henderson in das Farmhaus wankte. Lionel Drake und seine Tochter hörten die schweren Schritte, und Avis rannte hinaus und sah Henderson, der sich an den Türstock lehnte. »John, wo warst du?« fragte sie leise. »Daddy und ich sind schon seit Stunden zurück – keiner wußte, was mit dir war.« Sie unterbrach sich und sah ihn an. »Was ist los?« Henderson gab keine Antwort. Er schob sich an ihr vorbei, stolperte zum Sofa, setzte sich und vergrub das Gesicht in den zitternden Händen. »Beim großen Leiber, was ist denn?« keuchte das Mädchen. Lionel Drake stand auf und ging zu dem jungen Mann hinüber.
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»Ja, was gibt es?« fragte er. Beinahe hätte er hinzugefügt: »Sie sehen aus, als wären Sie einem Gespenst begegnet.« Doch das war nicht nötig. Denn Henderson zauberte das Gespenst selbst hervor – in Form eines zerfledderten Buches. Drake nahm es und las den Titel: »Der ewige Sturm«, flüsterte er. »Eine Science Fiction-Erzählung von Sam Moskowitz.« Schweigen, dann tiefes Luftholen. »Wo hast du das gefunden?« »Wo ich auch die übrigen Sachen fand«, sagte Henderson finster. »Ausgaben von Oopsla und Inside und Skybook und à Bas und all den anderen. In Chester Polks Keller.« Er nickte. »Jawohl, der Chester Polk. Der Mann, der Briefe von Nancy Share und Joe Gibson und Earl Kemp und sogar von William Rotsler bekam. Er ging zu Versammlungen. Er spielte Poker mit Tucker. Es steht alles da. Alles.« »Erzähle«, sagte Avis besänftigend. »Von Anfang an. Daddy, ist das nicht großartig!« In Lionel Drakes Miene war nichts, das eine Zustimmung erkennen ließ. Er stand eine Zeitlang da und hielt den Ewigen Sturm in den abgearbeiteten Händen. Dann legte er das Buch auf den Tisch. »Wie wäre es mit einem Drink?« schlug er vor. »Danach können wir uns unterhalten.« Henderson nahm den Drink an und kippte einen zweiten, ohne die Aufforderung abzuwarten. Dann saß er da und starrte vor sich hin. »Los«, drängte Avis. »Erzähle jetzt!« Er sah das Mädchen nicht an, als er antwortete. Er heftete seinen Blick auf Lionel Drake. »Was gibt es da schon viel zu erzählen?« flüsterte er. »Sie sind nicht überrascht, Drake, was? Sie wußten, was die Magazine enthielten?« Der Ältere nickte schweigend.
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»Wahrscheinlich hat man früher schon solche Bücher gefunden. Und Sie und ein paar berühmte Fans haben die Entdeckungen vor uns geheimgehalten – vor Narren, wie ich einer war.« Avis Drake sah die beiden Männer bestürzt an. »Was soll das alles?« fragte sie. Lionel Drake machte eine Handbewegung, aber Henderson schüttelte den Kopf. »Sie kann die Wahrheit ruhig erfahren«, sagte er. »Es wird Zeit, daß jemand die Tatsachen ebenso wie ich kennenlernt.« Er wandte sich direkt dem Mädchen zu. »Ich habe die alten Fan-Magazine gefunden«, sagte er. »Und ich habe sie gelesen. Oh, ich konnte sie nicht gründlich durchgehen, und es sind auch noch eine Menge Briefe da, die ich nicht gelesen habe. Aber ich habe genug gesehen. Ich weiß, was ich sage. Alles, was man mir beigebracht hat, alles, was ich dem Volk als Präsidentschaftskandidat übermitteln wollte, ist – eine Lüge. Nein, unterbrich mich nicht. Dein Vater weiß es. Er und ein paar andere haben es immer schon gewußt. Sie haben das Wissen absichtlich zurückgehalten und verzerrt wiedergegeben. Sie haben absichtlich Lügen erzählt. Erstens war das Fantum nie eine unterdrückte Minderheit. Es gab keine Märtyrer und keine idealistischen Wissenschaftler, die eine Lösung der Zukunftsprobleme suchten. Es waren einfach Männer, die ihre Geschichten in Büchern und Zeitschriften veröffentlichten. Die meisten davon sind vernichtet. Vielleicht wurden einige wiedergefunden, aber von deinem Vater und seinen Freunden versteckt. Die Männer, die die Geschichten schrieben, waren Profis, wie man sie damals nannte, oft sogar als »dreckige Profis‹ beschimpft. Es waren talentierte Autoren darunter, einige sogar mit einem soliden wissenschaftlichen Hintergrund – aber sie hatten die Dinge nicht erfunden, die sie beschrieben. Sie waren nicht einmal die berühmtesten Schriftsteller ihrer Zeit.
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Und die Fans selbst waren eine andere Gruppe. Die Legende hat die Science Fiction-Magazine mit den Fan-Zeitungen vermischt. Fan-Zeitschriften waren Amateur-Veröffentlichungen, die privat abgezogen und in einem kleinen Kreis verteilt wurden. Die meisten Fans waren ziemlich jung. Einige meinten es ernst, gewiß, aber nicht alle. Und sie sahen es keineswegs als ihre Aufgabe an, die Welt zu retten. Die meiste Zeit trieben sie in ihren Gruppen Unsinn. Weißt du, was ich in einem Magazin gelesen habe, Fanklubs sind ein prima Hobby!« Henderson machte eine Pause und warf einen Blick auf das Exemplar des Ewigen Sturms. »In dem Buch steht noch mehr. Es handelt von den allerersten Fan-Organisationen – wie sie einander bekämpften und sogar untereinander stritten. Die berühmten Fans waren keine Supermenschen. Tucker arbeitete als Filmvorführer. Wollheim wurde Verleger. Ebenso Lowndes – er war nie Doktor. ›Doc‹ war nur sein Spitzname. Du siehst, es ist nichts als ein Märchen – dieser Mythos, daß das Fantum die Flamme des Wissens in der Dunkelheit hochhielt. Sie waren keine Heiligen, keine Idealisten – einfach ein paar Gruppen, die an ihrem Hobby Freude hatten. Ja, es gab Klubs, und sie hielten sogar Versammlungen ab, und die Mitglieder waren eng befreundet. Manchmal heiratete sogar ein Fan einen anderen Fan. Aber alles andere ist Betrug. Lügen und Propaganda, um die einfältigen Massen zu beeinflussen – um Männer wie deinen Vater mit Hilfe von Dummköpfen, wie ich einer war, an die Macht zu bringen.« Henderson goß sich das Glas noch einmal voll. Avis begann leise zu schluchzen. Lionel Drake seufzte tief und nahm dem jungen Mann gegenüber in einem Lehnstuhl Platz. »Was Sie sagen, stimmt natürlich. Es war tatsächlich so, und eine kleine Gruppe unter uns weiß es auch. Wir fanden von Zeit zu Zeit Magazine, und wir haben sie gut versteckt. Wir haben auch absichtlich den Mythos um die Fans gebildet. Aber nicht, weil wir an die Macht wollten.«
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»Was können Sie sonst gewollt haben?« fragte John Henderson. »Sie haben die Geschichte verfälscht, Tatsachen unterdrückt und einen beinahe religiösen Kult aus dem Fantum gemacht.« »Wir hatten einen Grund«, erwiderte Lionel Drake. »Wir mußten die Welt wieder zur Vernunft bringen.« »Das nennen Sie Vernunft? Sie erheben jugendliche Wirrköpfe zu Helden und winden Schreiberlingen Lorbeerkränze. Sie schütteln ein goldenes Zeitalter einfach aus dem Ärmel.« »Das stimmt.« Drake sah ihn an. »Sie dürfen nicht vergessen, daß ich Psychologe bin. Oh, keiner jener alten Psychotherapeuten, von denen Sie gelesen haben. Mein Spezialgebiet war Massenpsychologie, vielleicht sogar Soziologie. Was ich getan habe, und was die anderen getan haben, war notwendig. Es stimmt, daß wir einen Teil der Geschichte erfunden haben – den Teil, der das Leben vor dem Atomkrieg betraf. Aber das übrige, mein Junge, ist wahr. Sie müssen es wissen. Das Fantum bildete in der Tat den einzigen verläßlichen Kern, nachdem die Welt in Trümmern und Ruinen dalag. Das Fantum war eine kleine Streitmacht, die dazu beitragen konnte, die Ordnung wiederherzustellen. Damals konnten ein paar Leute, die wußten, wie man einen Handvervielfältigungsapparat bedient, zu unersätzlichen Stützen werden. Und vergessen Sie nicht, die Fans vertrauten einander, in einer Zeit, als jeder von Feinden umringt zu sein schien. Selbstverständlich genügte das allein nicht. Als Historiker und Soziologen wußten wir das. Jede bedeutende Gruppe, jede bedeutende politische und religiöse Gruppe erhält ihre Kraft aus anderen Quellen – aus der Legende. Der Glaube an die Legende machte die früheren großen Bewegungen erst stark. In der Nazipartei war es die Geschichte, daß Hitler im Gefängnis schmachtete. Ich brauche Sie weder an die frühchristlichen Märtyrer erinnern, noch an die jungen Republikaner mit ihren unzähligen Geschichten über Lincoln. Von diesen Legenden kommen Lieder und Erzählungen, die den Männern Glauben verleihen. Glaube an ihr Geschick, Glaube an die Zukunft. Das 26
Fantum mußte sich seine Legenden erfinden, um stark zu werden und Erfolg zu haben. Ein früherer Psychiater namens Jung stellte die Gemeinsamkeit aller Mythologien heraus. Er bewies, daß Menschen Helden und Sagen brauchten, um in einem zivilisierten Staat leben zu können.« »Aber Sie können eine feste Zukunft nicht auf Lügen aufbauen«, sagte Henderson leise. »Wer sagt das?« entgegnete Drake. »Unser Land baute auf den Mythen auf, die sich um die Gründerväter rankten – Washington und der Kirschbaum zum Beispiel. Seit der Romulus-und-RemusSage im alten Rom haben Mythen ihre Rolle beim Fortschritt eines Volkes gespielt. Sie haben den Menschen etwas Größeres als sich selbst gegeben, das sie erhalten und hüten können. Das Fantum hat tatsächlich dazu beigetragen, unsere Welt neu aufzubauen. Und, was in diesem Fall noch wichtiger ist, die Legende hat ihre Schuldigkeit getan. Wir brauchen keine Armeen in den Staaten, die sich auf das Fantum gründen. Wir haben eine gesunde Wirtschaft, gewiß, aber Geld ist nicht mehr die erste Macht. Zum erstenmal seit Perikles sind schöpferische Berufe bei uns angesehen und geachtet. Handel und Industrie werden allmählich wieder aufgebaut – unter gesünderen Aspekten als früher. Die Bildungsstätten werden immer zahlreicher.« »Sie wollen sagen, daß Sie Schulen bauen, um noch mehr Lügen zu verbreiten«, warf Henderson bitter ein. »Sie haben keine richtigen Zeitungen, keine Filme, kein Fernsehen …« »Mit der Zeit wird alles wieder eingeführt«, sagte Drake ruhig. »Und wir werden auch das Wissen verbreiten, das wir bis jetzt für uns behalten haben. Glauben Sie nicht, daß wir mehr wissen, als wir weitergeben? Wir haben Aufzeichnungen, mit denen wir wieder Reaktoren bauen können, mit denen wir Raketenexperimente machen können. Vielleicht sind wir sogar in der Lage, noch in dieser Generation eine Mondrakete zu bauen. Aber unsere erste Sorge ist es, eine Grundlage für die Welt der Zukunft zu scharfen. Ja, wir haben sie auf einem Mythos aufgebaut – aber er ist besser als diejenigen der vergangenen Zivilisationen. 27
Möchten Sie, daß wir zu den alten Zeiten und alten Mythen zurückkehren – zum göttlichen Recht der Könige, dem Mythos des Kommunismus, oder zu unserem eigenen geisttötenden Mythos, daß der Verbraucher immer recht hat? Sollen wir militärische Massenmörder zu unseren neuen Leitbildern machen oder die Leute verehren, die die Erkenntnisse der Naturwissenschaft für Vernichtungswaffen ausnützten? Die Legende der großen Fans hat die Menschen der vergangenen Generation vor dem Wahnsinn bewahrt. Wir können sie jetzt nicht abschieben. Ich weiß, was Sie denken, mein Junge. Sie möchten aus dem Wahlkampf aussteigen oder vor die FAPA treten und die Wahrheit heraussprudeln. Aber was können Sie damit gewinnen? Ist es nicht besser, für die Sache zu arbeiten – in dem Wissen, daß die nachfolgende Generation mehr erreicht und der Wahrheit näherkommt? Eines Tages können wir die Legenden fallenlassen – in dem Augenblick, in dem wir stolz auf die Erfolge der Gegenwart sein können. Und von diesem Zeitpunkt an werden wir von der Zukunft und nicht von der Vergangenheit träumen. Doch im Augenblick braucht die Menschheit einen Traum der Vergangenheit, um gegen den Alptraum der Wirklichkeit anzukämpfen. Das ist der Zweck des Fantums – der einzige und wahre Zweck: die Menschheit vor dem Wahnsinn zu bewahren.« Henderson warf Avis einen Blick zu. Das Mädchen weinte nicht mehr. Sie sah ihn an und schien auf seine Antwort zu warten. In ihren Blicken entdeckte er ein merkwürdiges Gemisch aus Liebe und Treue, aus Scham und Furcht. Er wußte, daß sich die gleichen Gefühle in seinen Augen spiegelten. »Wenn ich mitmache«, murmelte er, »wähle ich den leichtesten Weg.« Drake wollte antworten, aber das Mädchen kam ihm zuvor. »Nein, Darling«, sagte sie leise. »Es wird der schwerste Weg sein. Du kennst die Wahrheit und darfst sie nicht sagen. Du trägst die Last des Schuldbewußtseins und des Betrugs, weil es
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notwendig ist. Du lebst in der Lüge, damit die anderen Menschen zur Wahrheit zurückfinden.« »Zu einem Teil der Wahrheit«, sagte Henderson. »Ja, zu einem Teil. Aber ihre Kinder – unsere Kinder – können die ganze Wahrheit erfahren.« Henderson stand auf und ging zu ihr hinüber. »Vielleicht«, flüsterte er. »Wir können es auf alle Fälle versuchen. Wir müssen es wohl versuchen.« Sie gingen zusammen hinaus und sahen sich die Sterne an. Weit oben donnerte ein Heinliner über den Himmel. Henderson dachte an die Träume, die er für Wirklichkeit gehalten hatte – an die für immer zerstörten Träume, die er für seine Mitmenschen aufrechterhalten mußte. Lionel Drake würde ihm helfen, Avis würde ihm helfen. Vielleicht konnte er die kommenden Jahre ertragen. Das Fantum war immer noch eine Lebensauffassung. Ganz plötzlich kam John Henderson ein anderer Satz ins Gedächtnis – ein Satz, den er erst heute nachmittag wieder in einem Magazin gefunden hatte: Zum erstenmal verstand er seine Ironie. Er sah zum Himmel hinauf und sagte langsam: »Ein Fan ist immer allein!«
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Bürokraten wird es immer geben. Jede Gesellschaft – und sollte es die letzte sein – braucht diese Menschen, die die Regierungsmaschinerie in Gang halten …
Der Weltuntergangsbrief von FRITZ LEIBER Josh B. Smiley Büro für öffentliche Moral Manhattan, D.C Weißes Pentagramm Stockwerk 77 10011100011110 An Hermione Fennerghast 10001377 Sunset Boulevard Santa Barbara, Big Angeles 1010001001001111 Liebe Senior-Bürgerin! Ich las soeben Ihren Brief betreffs Ihrer angstvollen Vermutungen über einen drohenden Weltuntergang: die entmutigende Leere auf Straßen und Rolltreppen und in den Nachbarhäusern (die Sie verständlicherweise deprimiert!); das Verschwinden von Freunden und Verwandten, das Ausbleiben jeglicher Privatpost (dieser Brief zumindest ist eine Ausnahme!); die spärlichen Nachrichten Ihres Zeit-im-Bild-Roboters, der, wie Sie sich ausdrücken, nur technisches Gefasel und Roblabla von sich gibt; die mürrischen Antworten der Roboter, wenn Sie ihnen eine Frage stellen; die dauernde Anwesenheit von Dienstrobotern (die, wie ich gerechterweise feststellen muß, Ihren täglichen Bedarf an Weizenkeim, Joghurt, u. ä. liefern); die Stromersparnisse bei der
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Wohnungs- und Straßenbeleuchtung (allerdings nicht bei den Robo-Stromkreisen und anderen lebenswichtigen Einrichtungen); die Schwerarbeit, die Sie leisten mußten, als Sie im Garten eine Klosettgrube aushoben; Ihr unerklärlicher Drang, laut loszulachen und sinnlos vor sich hinzuplappern (bravo, daß Sie diesen Impuls so tapfer unterdrücken!); die düsteren und übelriechenden grauen Nebel, die sich durch die Straßen wälzen und oft den größten Teil der Stadt verhüllen; die feinen Metallfäden, die sich in letzter Zeit wie Spinnenfäden oder Efeu um und in Ihre Wohnung ranken; die häßlichen Gedanken vor dem Einschlafen, daß das All nicht mehr von einem warmen, persönlichen Gott, sondern von einer kalten, unbeseelten Maschine regiert wird; die Dunkelheit und die Feuchte; das Verblassen der Sterne; der Modergeruch; die für immer entschwundenen Kinderstimmen; das unverständliche Gekrächze, das jede Nacht näher kommt; das Rascheln vertrockneter Blätter auf dem Boden längst ausgetrockneter Swimmingpools. All diese Zeichen und Vorahnungen, dazu die anderen, auf die Sie sich beziehen, sind von unseren Angstforschern und dem Buhmann-Team sorgfältig untersucht worden. Glauben Sie mir, ich habe Ihren Brief immer wieder gelesen, bevor ich dieses Antwortschreiben diktierte. Lassen Sie mich gestehen, daß ich zu manchen Zeiten selbst von Ängsten heimgesucht werde. Und so kann ich Ihre Zeilen besonders gut nachfühlen. Doch zuerst muß ich Ihnen sagen, daß Ihr Brief bis jetzt einmalig ist. Seit Entstehung unseres Büros in der Zeit des Dunklen Präludiums haben wir noch nie etwas von einer Weltuntergangsahnung gehört. Um es ehrlich zu sagen, Ihr Brief hat hier eine ziemliche Erregung verursacht. Erstaunte Ausrufe, der schwache Geruch nach verbrannter Isolierung und ein bläuliches Aufleuchten der Robo-Sex (Abkürzung für Robotersekretärinnen, nichts für ungut!). Sie sind der einzige Mensch auf der Erde (außer mir) – ich wiederhole, Sie sind das einzige menschliche Wesen auf der ganzen Erde, das von den kalten Schwingen solcher Ängste 31
gestreift wurde. Überall sonst ist die Welt fröhlich und strebt schwindelerregende Fortschritte an. Wir müssen annehmen, daß Ihre Erfahrung einer unglücklichen Verkettung von Umständen zuzuschreiben ist, die höchstwahrscheinlich zu einer Assoziationsumkehrung geführt haben. Sie wissen, wie so etwas entsteht: ein paar Wochen oder Monate vollkommener Einsamkeit, ein nächtliches Geräusch an der Tür, ein Knarren in der Diele, ein schmaler Schatten, den die Flamme des Kerzenstummels auf die Türschwelle des Schlafzimmers wirft – und da haben wir schon unser Gespenst! Auch müssen wir annehmen, daß Sie außergewöhnlich sensibel sind. Sie sind, bildlich oder wörtlich, die Prinzessin auf der Erbse. Oder auf dem Kugellager, vielleicht. Bitte, ich will Sie durch diesen Vergleich nicht kränken. Ganz im Gegenteil. Ihr sensibles Gemüt ist ein großes Geschenk, das Ihre Einsamkeit erleichtern und bereichern kann, bis Sie sie nicht mehr spüren und den grauen Nebel vergessen, der jede Nacht ein Stück näher an Ihr Fenster kommt. Versuchen Sie die subtilen Aussagen zu erkennen, die hinter dem Roblabla Ihres Zeit-imBild-Roboters stecken. (Ich versuche es manchmal selbst, muß aber zugeben, daß ich über rein zufällige Assoziationen noch nicht hinausgekommen bin. Aber zum Einschlafen ist es eine gute Übung – natürlich kann man nebenbei noch Schlafmittel nehmen!) Beschäftigen Sie sich mit Haustieren! Natürlich gibt es keine Hunde, Katzen, Ratten oder Schlangen mehr, ganz zu schweigen von den putzigen Mäuschen mit ihren zarten Trippelfüßchen. Aber einige unserer Korrespondenten berichten von zunehmenden Erfolgen mit Küchenschaben, Fliegen, Silberfischchen und Totengräberkäfern. Oder verschließen Sie Ihre Ohren vor dem Rascheln der toten Blätter und horchen Sie auf den freudigen Gesang der Grashalme, die sich tapfer ihren Weg durch die Ritzen des bedrückenden
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Betons bahnen. Man hört, daß berühmte Dichter darin eine große Befriedigung fanden. Und nun zu den wichtigeren Ihrer Beobachtungen, die ich im ersten Abschnitt meines Briefes noch einmal aufgeführt habe: Die Menschen sind in unterirdische Bunkerstädte gezogen oder auf andere Planeten ausgewandert. Einige haben sich mit Aqualungen versorgt oder sich auf chirurgischem Wege Kehllappen einpflanzen lassen. Diese Leute haben sich in die mystischen Tiefen des Ozeans zurückgezogen, weil es, wie sich die Schwärmer unter ihnen ausdrücken, ›das einzig Wahre‹ sei. Andere sind zu den Satelliten-Vororten hinaufgeflogen, die Sie manchmal an den Fixsternen vorbeiziehen sehen, wenn der graue Nebel nachläßt und Ihnen eine klare Nacht beschert. Wieder andere haben dauernden Frieden in der Euthanasiezelle ihres Stadtviertels gefunden. Einige wenige harten das Glück und durften ihr Gehirn den Speicherzellen von Computern oder gar beweglichen Robotern zur Verfügung stellen, wodurch sie ihren Gesichtskreis erweiterten und sogar eine Art Unsterblichkeit – wenn auch in untergeordneter Funktion – erreichten. Wir wollen Sie zu keiner dieser Möglichkeiten drängen, da Sie das großartige Talent zu besitzen scheinen, auch ohne andere Menschen auszukommen. Oder sogar ohne Roboter! (Sie merken, ich scherze!) Die meisten Roboter, die Ihre Fragen nicht beantworten, sind keineswegs unhöflich. Sie sind nur leider nicht in der Lage, Englisch zu verstehen. Diese Sprachfähigkeit wurde in frühen Modellen installiert, aber man kam allmählich dahinter, daß sie andere Fähigkeiten nur behinderte, und so schaffte man sie wieder ab. Aber stumm wurden die Roboter nicht, seien Sie also guten Mutes! Die meisten sprechen einen melodischen Dialekt, manchmal Robotisch genannt, den wir Menschen nicht verstehen können. Das erklärt auch das Krächzen, das Sie in den Nächten immer näher kommen hören und das Sie bestimmt nicht mehr ängstigen wird, wenn Sie seinen Ursprung kennen.
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Mir ist völlig klar, daß ich Ihnen das alles nicht so deutlich und überzeugend erkläre, wie ich sollte. Ich programmiere Sie nicht gründlich genug. Wenn ich es recht bedenke, fürchte ich manchmal, daß ich selbst ein wenig doppeldeutig programmiert bin. Das kommt daher, daß die Menschen die Höhere Programmierung nicht empfangen können, und so haben sich auf der glänzenden Oberfläche der perfektionierten Zivilisation diese winzigen, teuflischen Fliegenkleckse – Rostflecke, meine ich – gebildet. Doch ich schweife ab. Die künstliche Beleuchtung im Innern und außerhalb der Häuser wurde aus ästhetischen und moralischen Gründen abgeschafft. Früh zu Bett hat nie gereut! Um gegenteiligen Gerüchten vorzubeugen – diese weise Einsparung hat keineswegs etwas mit der Tatsache zu tun, daß Roboter ihren eigenen Radar besitzen und daher kein Licht im Sichtbarkeitsbereich brauchen. Auch stammen die dichten grauen Nebel keineswegs daher, daß die Roboter den Wesen aus Fleisch und Blut ihre Sehfähigkeit neiden. Glauben Sie solchen Verleumdungen nicht! Und sehen Sie bitte keine böse Absicht im Schmelzen von Schiffen, Brücken, Kanonen und landwirtschaftlichen Geräten oder im Abbrennen von Wäldern zur Gewinnung der wertvollen Asche. Nein, diese Schwaden, wie ich sie manchmal nenne, enthalten lediglich ein heilendes, besänftigendes Rostschutzöl – in kleinen Mengen für den Menschen unschädlich – das die Roboter zur reibungslosen Operation brauchen. (Aber ich rate Ihnen, Ihre Fenster gegen den Nebel abzudichten. Jeder nach seinem Geschmack!) Sie fragen: »Soll ich nachts meine Tür verschließen?« Ich meine, ja, damit Sie sich sicherer fühlen, und nein, um ein gewaltsames Aufbrechen des Schlosses zu vermeiden. Erklären Sie sich zu einem Kompromiß bereit, indem Sie Ihre Schlafzimmertür abschließen ! Und was Ihren Drang betrifft, laut loszulachen und sinnlos vor sich hinzuplappern, so seien Sie getrost, ich teile ihn – wie Sie vielleicht hin und wieder aus diesen Zeilen erkennen können. 34
Liebe Senior-Bürgerin, und nun zu Ihrer schlimmsten Furcht: Ich kann Ihnen versichern, daß Gott tatsächlich existiert – hier auf diesem Planeten. Ich habe beobachtet, wie sein Gehirn Stockwerk um Stockwerk in die Wolken wächst. Er ist warm – eine Klimaanlage wie für eine tropische Großstadt ist nötig, um ihn zu kühlen. Und er kennt Ihre Nöte – seine Sensoren und Effektoren erstrecken sich überall hin. Sie sind der Efeu, den Sie in Ihrem Haus entdeckt haben. Seien Sie ohne Furcht. Herzlichst Josh. B. Smiley (stell vertr. Direktor) Mit einem Metalltropfen an die Unterkante des letzten Aluminiumbogens geklebt war der Umschlag mit Miß Fennerghasts Adresse. Jemand hatte mit dünnen schlampigen Buchstaben folgende Notiz darunter gekritzelt: Liebe Minnie, ich gehe hinauf zum Himmelsdeck und beobachte den grauen Nebel. Überlaß den Kram für eine Weile Binnie oder Tinnie, zieh deine Schaumgummihandschuhe an und komm zu mir. Hand in Hand ist der Landschaftgenuß größer. Aber schicke der unverwüstlichen alten Tante zuerst noch unseren Weltuntergangsbrief.
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Man denke sich in die nicht zu weit entfernte Zukunft, in der UNDelegierte und Ministerrats-Mitglieder keine Inder, Pakistani oder Ghanaer mehr sind, sondern Koslowier oder Oshidani. Diese Leute sehen möglicherweise etwas seltsam aus, aber auch sie werden voll Interesse unsere merkwürdige – und fremdartige – Lebensweise studieren, so gut sich das eben an einem kurzen Wochenende machen läßt.
Die Fremden kommen … L. SPRAGUE DE CAMP Rajendra Jaipal, Verbindungsoffizier der Terranischen Delegation bei den Vereinigten Planeten, meldete sich in fließendem Englisch, aber mit einem starken Hindustani-Akzent: »Persönliches Gespräch bitte… Verbinden Sie mich mit Milan Reid, Parthia 6-0711, Parthia, Pennsylvania … richtig.« Während er wartete, sah Jaipal das Telefon an, als sei es eine Giftpflanze, die in seinen Garten eingedrungen war. Als unverbesserlicher Technikgegner betrachtete er die meisten Errungenschaften der westlichen Welt mit säuerlicher, düsterer und mißtrauischer Miene. »Ihr Teilnehmer ist am Apparat«, meldete sich die Vermittlung. »Hallo, Milan!« rief Jaipal. »Hier spricht R. J. Was machst du? … Oh, so das Übliche. X Anrufe zu erledigen, dazu die vielen Briefe und das ewige Händeschütteln. Puh! Und jetzt hör gut zu. Die Eisenbahn hat uns zwei Spezialschlafwagen und einen Gepäckwagen zur Verfügung gestellt. Wir nehmen die Delegierten am Freitagabend auf, und ein Zug bringt die Sonderwagen bis Samstag um halb acht Uhr früh in die Dreizehnte Straße. Hast du das behalten? Halb acht vormittags! Damit wir mehr vom Tag haben. Schreib es bitte auf. Du bringst deine Leute hin, damit sie 36
die Delegierten abholen. Die Forellier sind im Gepäckwagen, sie passen nicht in die Schlafwagen. Für sie muß ein Lastwagen am Bahnhof bereitstehen. Wie läuft die Sache bei euch?« Eine vorwurfsvolle Stimme sagte: »Mrs. Kress ist krank geworden, und so muß ich als Vizepräsident des GastfreundschaftsKomitees alles selbst machen – herumlaufen, alles nachprüfen, Hände schütteln. Wenn ich nur früher gewußt hätte, was ich mir da aufgeladen habe!« »Das sagst du! Du solltest erst mal meine Arbeit sehen. Hast du den Brief mit der Liste der Delegierten?« »Ja – äh – da ist er schon!« »Also, du kannst die Moorier und die Koslowier abstreichen, aber ein Oshidani kommt noch hinzu.« »Wie heißt er?« »Zla-bzam Ksan-rdup.« »Buchstabiere!« Jaipal buchstabierte. »Verstanden?« »M-hm. Du – du kommst natürlich mit?« »Tut mir leid, aber ich kann nicht.« Jaipals Is wurden noch um eine Nuance schriller. »Ach Gott! Louise und ich hatten fest damit gerechnet.« Die Stimme klang schmerzlich. Jaipal hatte die Reids vor einem Jahr kennengelernt, als man einen ähnlichen Wochenendbesuch bei Familien in Ardmore arrangiert hatte. Jaipal und Reid waren einander durch ihre gründliche Verachtung der übrigen Welt nähergekommen. »Ich auch«, sagte Jaipal. »Aber am Samstag ist ein Schiff von Sirius fällig. Und jetzt hör gut zu, ein Paar ist dabei, das du am besten selbst übernimmst.« »Wer?« »Die Osmanier.« Papiergeraschel, als Reid seine Liste zu Rate zog. »Mr. und Mrs. Sterga?« 37
»Jawohl, oder Sterga und Thvi. Keine Kinder.« »Wie sind sie?« »Krakenähnlich. Nur mehr Arme.« »Hm. Scheinen keine Schönheiten zu sein. Können sie sprechen?« »Besser als wir. Sie haben eine – wie nennt ihr es? – Begabung für Sprachen.« »Warum soll ich sie übernehmen?« »Weil ihr Planet eine Menge transuranischer Vorkommen hat«, erklärte Jaipal. »Und wir haben einen Antrag gestellt, daß wir die Schürfrechte bekommen. Es ist sehr wichtig, und ich möchte nicht, daß die Stergas in falsche Hände geraten. Wie dieser – wie hieß denn nur der gräßliche Witzbold, den ich bei den Kresses traf?« »Charlie Ziegler?« »Genau.« Jaipal stöhnte bei der Erinnerung an Ziegler, der sich eine Serviette um den Kopf gebunden und einen Brahmanen nachgeäfft hatte. Da Jaipal keinen Sinn für Humor besaß, war das brüllende Gelächter der anderen Gäste nur Salz in seinen Wunden gewesen. Er fuhr fort: »Diesen Leuten darf man überhaupt keine Gäste geben. Du bist wenigstens taktvoll, keiner dieser dummen Ethnozentriker, die sich entsetzt oder überlegen zeigen. So, und nun zur Essensliste.« Murmelmurmel. »Ja, hier ist die Liste derer, die jedes menschliche Essen vertragen, dann die Leute, die nur gewisse Speisen zu sich nehmen, und schließlich die, die ihre Diät brauchen.« »Die Sondernahrung für die letzte Gruppe wird im Zug mitgeliefert. Aber sorge dafür, daß sie zu den richtigen Gastgebern kommt.« »Ich lasse ein paar Lastwagen zum Bahnhof kommen. Sieh zu, daß die Kisten deutlich markiert sind. Aber noch einmal zu den Osmaniern – wie sind sie? Ich meine, abgesehen von ihrem Aussehen …« 38
»Oh, ganz nett und gesellig. Immer gut gelaunt. Sie essen alles. Du wirst kaum Schwierigkeiten haben.« Jaipal hätte noch mehr von den Osmaniern erzählen können, aber er wollte Reid nicht erschrecken. »Denke daran, daß die Chavantier nicht zu Leuten kommen, die Angst vor Schlangen haben. Und die Steinianer essen hinter verschlossenen Türen. Es ist obszön, das Wort Essen auch nur zu erwähnen. Sorge dafür, daß die Forellier zu jemandem kommen, der eine große Garage oder Scheune hat, damit sie ordentlich schlafen können …« »Louise!« rief Milan Reid. »R. J. hat eben angerufen. Könntest du mir bei den Listen helfen?« Reid war ein schmaler Mann, der eine Vorliebe für aggressiv modische Kleidung mit einer nervösen, schüchternen, geistesabwesenden Art verband, was ihn selbstverständlich zum Gespött sämtlicher Halbstarkengruppen machte. Er war Ingenieur bei der Hunter-Bioresonator-Corporation. Es war ganz von selbst so gekommen, daß er sich um die extraterrestrischen Besucher kümmerte, da er mit Fremden sehr viel leichter als mit seinen eigenen Landsleuten umgehen konnte. Seine Frau kam herein, ein schlankes Wesen mit einem Charakter, der seinem eigenen entsprach. Sie bearbeiteten gemeinsam die Listen mit den Besuchern der Vereinigten Planeten, die Parthia besuchen wollten, und verglichen sie mit den Listen der Gastfamilien. Man veranstaltete nun schon im dritten Jahr diese Wochenendbesuche von VP-Angehörigen. Bisher waren alle Reisen in die Vereinigten Staaten erfolgt, da sich das Hauptquartier der VP in New Haven befand. Der Erfolg des Unternehmens hatte allerdings dazu geführt, daß sich nun auch andere Nationen darum bewarben, den Fremden zu zeigen, was für nette Leute sie waren. Milan Reid sagte: »… die Robertsonier haben kein Zeitgefühl, also geben wir sie den Hobarts, die haben auch keines.« »Dann wird keiner von ihnen rechtzeitig zu irgendeiner Veranstaltung auftauchen«, stellte Louise Reid fest. 39
»Na und? Was machen wir mit den Mendeziern? Jaipal sagt, daß sie es nicht leiden können, wenn sie jemand anrührt.« »Komisch, bei Rajendra ist es das gleiche, wenn er auch zu höflich ist, um es zuzugeben. Irgendein Hindu-Tabu.« »Hm. Mal sehen, sind nicht die Goldthorpes Reinlichkeitsfanatiker?« »Genau! Sie würden die Mendezier nicht anrühren. Ihre Kinder müssen sich die Hände waschen, sobald sie Geld anrühren, und Beatrice Goldthorpe zieht Gummihandschuhe an, wenn sie ein Buch aus der Leihbibliothek liest. Sie hat Angst vor Bazillen.« »Was machen wir mit den Oshidani?« »Wie sind sie, Liebling?« »R. J. sagt, daß sie die steifste Rasse der ganzen Galaxis sind und daß sie eine fein ausgeklügelte Etikette besitzen. Wenn sogar Jaipal sie als aufgeblasen bezeichnet…« »Wie wäre es mit Dr. McClintock?« schlug Louise Reid vor. »Der scheint auch einen Ladestock verschluckt zu haben.« »Darling, du bist großartig. Reverend John R. McClintock soll sie haben.« »Was sollen wir bloß mit den Zieglers tun? Connie Ziegler rief an und erinnerte mich daran, daß sie sich schon ganz am Anfang beworben hatten.« Reid runzelte die Stirn. »Und wenn ich mit der Reihenfolge schwindeln muß, die Zieglers bekommen keine Extraterrestrier.« »Das kannst du nicht machen, Liebling. Ich weiß, daß du sie nicht magst, aber schließlich sind sie unsere Nachbarn, und wir müssen mit ihnen auskommen.« »Aber R. J. sagte, daß er die Zieglers als Gastgeber nicht brauchen könnte.« »Du liebe Güte! Wenn sie merken, daß wir sie um ihre Gäste bemogelt haben …«
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»Ich kann es auch nicht ändern. Außerdem hat R. ]. recht. Sie – sie sind typische Ethnozentriker. Ich habe mich vor Verlegenheit gewunden, als Charlie schlechte Witze über unsere eigenen Minoritätsgruppen erzählte, aber ich wußte nicht, wie ich ihn unauffällig unterbrechen sollte. Wenn ich mir vorstelle, daß Charlie in seinem lauten Chicago-Dialekt einen sensiblen Extraterrestrier Mistkäfer nennt…« »Aber sie haben alles getan, um auf die Liste zu kommen.« »Ach, es geht ihnen gar nicht um die Extraterrestrier. Sie wollen nur nicht übergangen werden.« »Na schön, wenn es nicht anders geht… wer ist der nächste?« »Das ist alles, wenn uns R. J. nicht noch einmal anruft. Was machen wir mit Sterga und Thvi?« »Wir können sie in Georges Zimmer unterbringen. Wie sollen wir sie beschäftigen?« »Da steht, daß sie Parties lieben, gerne bummeln und viel schwimmen.« »Gut, dann nehmen wir sie zum Swimmingpool mit.« »In Ordnung. Und da sie so früh ankommen, können wir anschließend bei uns frühstücken und nach Gettysburg zum Picknick hinausfahren.« Während der nächsten paar Tage war ganz Parthia aufgescheucht. Man traf Vorbereitungen für den Besuch der exotischen Gäste. Kaufleute dekorierten ihre Schaufenster mit interplanetarischen Waren: Kunsthandwerk von Robertsonia, ein ausgestopfter fhe: gb von Schlemmeria, eine Fotomontage von Landschaften auf Flahertia. An der Lower Siddim High School probten die Schüler Theaterstücke, während Freiwillige alles für das Erdbeerfest vorbereiteten. Mrs. Carmichael, die Vorsitzende des Leitungsausschusses, segelte durch die Menge und beaufsichtigte alles.
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»… Wo ist der verdammte Techniker, der die Lautsprecheranlage richten wollte? … Nein, die Ehrengarde präsentiert keine Gewehre. Wir wollen diesen Geschöpfen zeigen, wie friedfertig wir sind ..".« Der Zug rollte in die Dreißigste Straße. Am Nordende des Bahnsteigs, wo die drei hinteren Wagen gewöhnlich anhielten, drängten sich die Gastgeber von Parthia. Während das Zugpersonal diese drei Waggons loskuppelte, öffneten sich die Türen, und ein paar Terraner stiegen aus. Hinter ihnen kamen die Extraterrestrier. Milan Reid trat vor und begrüßte den größeren der Terraner. »Mein Name ist Reid.« »Freut mich. Ich bin Grove-Sparrow, und das hier ist Ming, beide vom Austausch-Sekretariat. Sind Ihre Leute bereit?« »Da stehen sie.« »Hm.« Grove-Sparrow warf einen Blick auf die dichte Menge der Gastgeber, hauptsächlich spießige Hausfrauen. In diesem Moment glitten die Chavantier aus dem Zug. Mrs. Ross stieß einen dünnen Schrei aus und sank in Ohnmacht. Mr. Nagle erwischte sie gerade noch, bevor sie mit dem Kopf auf dem Straßenpflaster aufschlug. »Keine Aufregung«, sagte Reid und wünschte insgeheim, daß Mrs. Ross auf die Schienen gefallen und vom Zug überrollt worden wäre. »Wer von unseren Gästen ist wer?« »Die mit den Kamelgesichtern sind die Oshidani.« »Dr. McClintock!« rief Reid. »Hier sind Ihre Leute.« »Übernehmen Sie das, Ming«, sagte Grove-Sparrow. Ming begann eine gewundene, formelle Vorstellung, während der sich die Oshidani und der Reverend abwechselnd tief verbeugten, als seien sie Kasperlepuppen, die jemand an einem Faden zog. Grove-Sparrow deutete auf drei umfangreiche Dinger, die sich aus dem Packwagen schoben. Sie wirkten wie Walrosse und ein
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wenig wie Schaufelbagger, und zwei von ihnen hatten die Größe von mittleren Elefanten. Das dritte war kleiner. »Die Forellier.« »Mrs. Meyer!« rief Reid. »Ist der Lastwagen da?« »Die Robertsonier.« Grove-Sparrow deutete auf vier dachsartige Geschöpfe, die Atemgeräte auf die langen Nasen geklemmt hatten. Reid hob die Stimme. »Hobart! Nein, ihre Gastgeber sind noch nicht da.« »Dann sollen sie sich auf ihre Koffer setzen. Es wird ihnen nichts ausmachen«, sagte Grove-Sparrow. »Hier kommen die Osmanier.« »Äh – die kommen zu mir«, meinte Reid, und seine Stimme klang schrill vor Entsetzen. Schon vorher hatte sich eine Gruppe von Gaffern auf dem Bahnsteig angesammelt. Sie waren nicht nähergekommen. Die Osmanier (so genannt, weil ihr Planet von einem gewissen Dr. Mahmud Osman entdeckt worden war) hatten Ähnlichkeit mit Sägeböcken. Statt der vier Beine besaßen sie zwölf gummiartige Tentakel, je sechs in einer Reihe nebeneinander, auf denen sie flink dahinwetzten. Sie sahen hinten und vorne ziemlich gleich aus, und man erkannte das Vorderende nur an zwei großen Froschaugen und einer zwischen dem ersten Tentakelpaar gelegenen Mundöffnung. »Sie sind unser Gastgeber?« fragte der erste Osmanier mit dröhnender Stimme. »Mein lieber, guter Mr. Reid, ich bin ja so froh, Sie kennenzulernen.« Der Osmanier warf sich auf Reid, stützte sich auf die sechs hinteren Tentakel und umwickelte ihn mit den sechs vorderen. Er drückte ihm einen feuchten Kuß auf die Wange. Bevor sich Reid aus der ekligen Umarmung lösen konnte, war der zweite Osmanier über ihn hergefallen und küßte ihn auf die andere Wange. Da die beiden Geschöpfe pro Stück über zweihundert Pfund wogen, schwankte Reid und sank, von Tentakeln eingehüllt, auf das Pflaster. 43
Die Osmanier ließen ihren Gastgeber los. Grove-Sparrow half Reid auf die Beine und sagte leise: »Sehen Sie doch nicht so verdammt schockiert drein, Junge! Sie wollen doch nur freundlich sein.« »Oh, ich habe mich vergessen«, dröhnte der größere Osmanier. »Bei euch begrüßt man sich ja, indem man das rechte Vorderglied schüttelt, nicht wahr?« Reid streckte behutsam die Hand aus. Der Osmanier packte sie mit drei seiner Tentakel und schwenkte sie wie einen Pumpenschwengel auf und ab, so daß er beinahe das Gleichgewicht verlor. »Tanzen wir!« rief der Osmanier und drehte einen Kreis, bevor er sich wieder vor Reid aufbaute. »Guk-guk-guk!« Das letztere war ein scheußlich rauhes, kratzendes Geräusch, das ein Lachen bedeuten sollte. »Nein, nein, Sterga!« sagte Grove-Sparrow. »Laß ihn in Ruhe! Er muß die Delegationen verteilen.« »Oh, macht nichts«, meinte Sterga. »Vielleicht ringt inzwischen jemand mit mir. Sie vielleicht, Madam?« Der Osmanier wandte sich an Mrs. Meyer, eine reife, beleibte Dame. »Bitte nein«, sagte Mrs. Meyer erbleichend und duckte sich hinter Grove-Sparrow. »Ich – ich muß mich um die Forellier kümmern.« »Jetzt haltet euch still, ihr beiden«, sagte Grove-Sparrow. »Ihr kommt schon noch auf eure Rechnung.« »Hoffentlich«, sagte Sterga. »Vielleicht kann Mr. Reid bei sich daheim mit uns ringen, guk-guk. Es ist der Landessport auf Nohp.« Das war der Name Osmanias in der Sprache Stergas. Der Osmanier unterhielt sich leise mit seiner Frau, während Reid Gäste und Gastgeber vereinte. Die drei Wagen waren am Gleis stehengeblieben, und der Zug rollte weiter. Als alle Gäste mit einem Gastgeber versorgt waren und die Forellier in ihrem Lastwagen verstaut waren, saßen nur noch die vier kleinen Robertsonier auf dem Bahnsteig. Von den Hobarts 44
war immer noch nichts zu sehen. Die Eisenbahnangestellten rollten Kisten aus dem Gepäckwagen. FORELLIERNAHRUNG, STEINIANERNAHRUNG und so fort stand in großen Buchstaben darauf. Reid wandte sich an Grove-Sparrow: »Moment, ich – ich muß die Lastwagenfahrer suchen und ihnen diese Adressen hier geben. Können Sie die Osmanier und die Robertsonier im Auge behalten, bis ich zurückkomme?« »Klar.« Reid rannte los, gefolgt von zwei Gepäckträgern, die einen Karren vor sich herschoben. Als er zurückkam, saßen die Robertsonier immer noch wie in Erz gegossen da. Von Grove-Sparrow, Ming, den Hobarts und den Osmaniern war nichts zu sehen. Auf dem Pflaster lagen Glasscherben, und die kleine Pfütze daneben roch nach Alkohol. Als er verzweifelt um sich starrte, spürte Reid ein Zupfen an seinem Hosenbein. Ein Robertsonier fragte: »Bitte, ift unf er Gaft-geber noch nicht da?« »Nein, aber er muß jeden Moment kommen. Wo sind die anderen?« »Ach fo. Fie lagen auf dem Bahnfteig und warteten, und da kam ein Terraner, der ging einmal fo und dann wieder fo, alf fei er krank. Er fah Mifter Ming und fagte etwaf von dreckigen Aufländern. Mr. Ming tat fo, alf hätte er nicht gehört, und der Mann fagte, wir könnten ihn alle. Ich glaube, er meinte die terranife Fitte des Küffenf, aber er fah nicht fo auf, alf würde er jemanden lieben.« »Und dann?« »Oh, die Ofmanier ftanden. auf, und Fterga fagte: ›Diefer nette Mann will mit unf ringen! Komm, Thvi!‹ Er ging auf den Mann zu, der ihn zum erftenmal fah, und der Mann zog eine Flafe auf der Tafe und warf fie nach Fterga. Er fagte: ›Geh wieder in die Hölle zurück!‹ Die Flafe zerbrach. Der Mann lief weg. Fterga und Thvi rannten hinter ihm her und riefen, er folle ftehenbleiben und ringen. Mr. Grove-Fparrow und 45
Mr. Ming liefen hinter allen her. Daf ift allef. Und wo find bitte die Leute, die unf aufnehmen?« Reid seufzte. »Ich muß zuerst die anderen finden. Wartet einstweilen.« Er ging den Mitgliedern der Expedition entgegen, als sie auf den Bahnsteig zurückkehrten. »Der Betrunkene wird zur Polizeistation gebracht«, sagte Grove-Sparrow. »Immer noch nichts von Ihren Hobarts zu sehen?« »Nein, aber das ist nichts Ungewöhnliches.« »Warum fahren Sie die Robertsonier nicht einfach hin?« »Wir würden wahrscheinlich die Hobarts verfehlen, wenn sie nach hierher unterwegs sind. Aber ich kann ja mal anrufen und nachsehen, ob sie schon fort sind.« Bei Hobarts wurde der Hörer abgenommen. Clara Hobart sagte: »Oh, Milan! Wir wollten eben losfahren. Tut mir leid, daß wir zu spät kommen, aber du weißt ja, wie es so ist.« Reid unterdrückte die Anwandlung, mit den Zähnen zu knirschen, da er tatsächlich wußte, wie es bei den Hobarts so war. Sie kamen grundsätzlich erst zu Parties, wenn die anderen schon wieder im Aufbruch waren. »Bleibt daheim, dann liefere ich euch die Gäste ab.« Er ging zurück und verabschiedete sich von Grove-Sparrow und Ming, die nach New Haven zurückkehrten. Dann trieb er die beiden Gruppen über die Rampe zu seinem Wagen. Für einen Mann, der jedes Aufsehen haßte, ließ die Fahrt nach Parthia einiges zu wünschen übrig. Die Robertsonier rollten sich auf dem Frontsitz zu einem Pelzknäuel zusammen und schliefen, aber die Osmanier hopsten auf dem Rücksitz auf und ab, aufgeregt und geschwätzig, und winkten mit ihren Tentakeln den Vorübergehenden zu. Die meisten Leute hatten schon von Extraterrestriern gelesen und sie auch oft genug im Fernsehen betrachtet, um nicht allzu überrascht zu sein, aber wenn man an einer Ampel auf Grün wartet und plötzlich einen Krakenarm aus einem Autofenster kommen sieht, ist es doch etwas Besonderes. 46
Nachdem die Osmanier fast einen Zusammenstoß verursacht hatten, befahl ihnen Reid streng, ihre Tentakel nicht mehr aus dem Fenster zu strecken. Er beneidete Nagle und Kress, die ihre Gäste vom Dach des Postamts mit Privathubschraubern heimgebracht hatten. Westlich von Susquehanna macht die Piedmont-Schnellstraße eine Wendung nach Süden, auf Westminster zu. Von dort aus führt sie an Baltimore und Washington vorbei. Milan Reid bog ab und wandte eich nach Westen. Auf seine Bitten hin hatten sich die Osmanier bis dahin verhältnismäßig ruhig verhalten. In der Nähe von York mußte er wegen eines Amisch bremsen, da er bei dem starken Gegenverkehr nicht überholen konnte. »Was ist das?« fragte Thvi. »Ein Pferdewagen«, erklärte Louise Reid. »Was, das Ding mit den Rädern oder das Tier, das es zieht?« »Das Ding mit den Rädern. Das Tier heißt Pferd.« »Ist das nicht eine primitive Fortbewegungsart?« wollte Sterga wissen. »Ja«, erwiderte Louise. »Der Mann hat sie wegen seiner Religion gewählt.« »Hat er deshalb auch diesen runden schwarzen Hut auf?« »Ja.« »Ich will den Hut«, sagte Sterga. »Ich glaube, er würde mir gut stehen, guk-guk-guk.« Reid warf einen Blick nach hinten. »Wenn Sie einen terranischen Hut wollen, müssen Sie ihn kaufen. Der Hut da gehört dem Mann.« »Ich will ihn aber. Wenn Terra den Bergwerksvertrag will, wird es sich wohl den einzigen kleinen Hut für mich leisten können.« Der Gegenverkehr ließ einen Augenblick nach. Reid überholte das Gespann. Als der Wagen auf gleiche Höhe mit dem Gespann
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kam, beugte Sterga sein Vorderende aus dem Fenster. Ein Tentakel holte blitzschnell den Hut vom Kopf des Amisch. Das breite rote Gesicht des Sektierers mit dem Backenbart wandte sich dem Auto zu. Seine blauen Augen schienen vor Entsetzen überzuquellen. Er stieß einen heiseren Schrei aus, sprang von seinem Wagen, überkletterte einen Abgrenzungszaun und lief aufs freie Feld hinaus. Als das Auto weiterfuhr, sah auch das Pferd Sterga. Es wieherte schrill auf und rannte in der entgegengesetzten Richtung davon. Der Wagen schaukelte wild hinter ihm drein. Reid bremste und blieb stehen. »Verflucht!« zischte er. Auf dem Rücksitz versuchte Sterga, den Hut des Amisch auf dem Kopf zu balancieren, wenn man das Ding einen Kopf nennen konnte. Reid entriß ihm den Hut. »Was machen Sie denn für Schwierigkeiten!« »Keine Schwierigkeiten!« dröhnte Sterga. »Nur ein kleiner Spaß.« Reid knurrte und stieg aus. Der Amisch war verschwunden. Sein Pferd hatte es sich am Rande eines Ackers bequem gemacht und fraß Gras. Der Wagen war ganz geblieben. Reid hielt den Hut in der Hand und überquerte den Acker. Seine Füße sanken in den weichen Boden ein, und die Krümel fielen ihm hinten in die Schuhe. Das Pferd hörte ihn kommen, sah sich um und lief weiter. Nach mehreren Versuchen stapfte Reid zum Wagen zurück. Er hing den Hut an einen Zaunpfahl, schüttelte sich die Erde aus den Schuhen und fuhr weiter. Wütend überlegte er, was er Jaipal alles sagen würde. Die Osmanier waren für eine Weile manierlich. In Gettysburg gingen sie in das Ausstellungsgebäude. Von der Galerie aus betrachteten sie eine Reliefkarte des Gebietes um Gettysburg. Es war mit roten Lämpchen versehen. Eine Tonbandstimme schilderte den Hergang der berühmten Schlacht, während ein junger Mann auf eine Tastatur drückte, durch die die Lichter 48
aufblinkten. So erkannte man sofort, wo sich die Nord- und Südstaatler jeweils befanden. »Zu Beginn des zweiten Tages verteilte Longstreet am Vormittag seine Artillerie um die Frontausbuchtung, wo das Dritte Korps den Pfirsichgarten besetzt hielt.« (Lichter blinkten auf.) »Mittags begannen die Konföderierten mit dem Bombardement, und McLaws Division marschierte vorwärts …« Unter den Besuchern entstand eine Bewegung, als sich die Osmanier durch die Menge drängelten, bis sie ganz vorn waren. Sie ließen ihre Tentakel über das Geländer baumeln. Der junge Mann an den Schaltern vergaß seine Tasten und riß den Mund auf, während das Tonband weiterlief. Dann versuchte er wieder aufzuholen, verhaspelte sich und zeigte Meades Truppen im vollen Rückzug. Reid führte seine Gäste hinaus. Sie kletterten zum Beobachtungsturm hinauf, wo sie die Round Tops und das EisenhowerDenkmal sahen, das sich über der früheren Farm des Präsidenten erhob. Als Reid und seine Frau sich wieder an den Abstieg machten, flüsterte Sterga Thvi etwas zu. Als nächstes kletterten die Osmanier an der Außenseite der Stahlkonstruktion nach unten. »Zurück! Ihr fallt herunter!« schrie Reid, der ohnehin nicht schwindelfrei war. »Keine Angst!« rief Sterga zurück. »So macht es mehr Spaß!« Die Reids rasten die Treppe nach unten. Reid wartete angstvoll auf das Aufklatschen eines Körpers. Er gelangte eine Sekunde vor den Osmaniern am Boden an. Die beiden rutschten elegant von Träger zu Träger. Milan Reid setzte sich auf die unterste Stufe und preßte die Fäuste gegen die Schläfen. Dann sagte er mit hohler Stimme: »Höchste Zeit für das Mittagessen.« Im Rose-Hill-Swimmingpool zeigte Wallace Richards, der Rettungsschwimmer, seine Künste. Er war ein junger Mann mit
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starken Muskeln und einer noch stärkeren Eitelkeit. Mädchen saßen am Beckenrand und sahen ihm zu, während sich die anderen jungen Männer düster im Hintergrund hielten. Sie waren im Vergleich zu dem Idol etweder zu dünn oder zu rundlich. Die Forellier hatten schon am Vormittag ein Bad genommen und waren dann gegangen. Während ihrer Anwesenheit hatten keine anderen Besucher Platz im Becken gefunden. Nun waren keine Extraterrestrier da, bis Milan und Louise mit Badeanzügen auftauchten, gefolgt von Sterga und Thvi. Reid breitete eine Decke aus und richtete alles für ein Sonnenbad her. Die Osmanier erregten die übliche Aufmerksamkeit. Wallace Richards bemerkte sie gar nicht. Er stand angespannt da, von den breiten Schultern bis zu den federnden Zehenspitzen ein umgekehrtes gleichschenkeliges Dreieck. Er sammelte Kraft für einen dreifachen Überschlag. Thvi ließ sich in das Becken gleiten und schoß mit wirbelnden Tentakeln vorwärts. Richards federte vom Brett ab, zog die Knie an, machte eine dreifache Rolle und streckte sich wieder. Er landete auf Thvi. Sterga rief etwas in seiner eigenen Sprache, aber zu spät. Dann glitt auch er ins Wasser. Die Menge schrie auf. Die ruhige Wasserfläche des Beckens wurde von Tentakeln aufgewirbelt. Richards Kopf erschien. Man hörte ihn rufen: »Gebt mir meine Badehose wieder!« Die Osmanier kletterten aus dem Wasser, und Thvi schwenkte Richards' Badehose (kaum breiter als eine Schleife um den Bauch) in einem Tentakel. Sie rief: »Ich werde dich lehren, mir auf den Kopf zu springen!« »Ich habe es doch nicht mit Absicht getan!« kreischte Richards. Die Zuschauer begannen zu lachen. »Hat mir die ganze Luft genommen, guk-guk-guk«, prustete Thvi und versuchte mit ein paar Tentakeln durch die Hosenbeine zu schlüpfen.
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Sterga kletterte auf die Leiter zum hohen Sprungbrett. »Terraner!« rief er nach unten. »Wie hast du diesen Sprung gemacht?« »Gib mir meine Badehose zurück!« »So?« Sterga sprang vom Brett. Aber anstatt sich elegant in die Fluten zu senken, breitete er alle zwölf Tentakel aus und landete wie eine Riesenspinne auf Richards. Richards tauchte, bevor das schreckliche Monstrum ihn erreicht hatte, und schwamm weg. Aber seine Schnelligkeit im Wasser war gleich Null, wenn man sie mit der der Osmanier verglich. Sterga packte ihn und begann ihn zu kitzeln. Reid wandte sich an Thvi: »Um Himmels willen, Ihr Mann muß diesen Terraner loslassen. Er wird ihn ertränken.« »Meinetwegen. Ihr Terraner versteht doch keinen Spaß.« Thvi schwamm zu den Kämpfenden hinüber. Ein regloser Richards wurde ans Ufer geholt und auf den Beton gelegt. Jemand massierte ihn zehn Minuten lang, bis er zu sich kam, keuchend und spuckend. Als er wieder voll bei Sinnen war, richtete er sich auf und stieß hervor: »Wo sind diese gottverdammten Tintenfische? Ich …« Aber Reid und seine Schützlinge hatten das Bad verlassen. Zum Cocktail hatten die Reids ein älteres Ehepaar eingeladen – Professor Hamilton Beach und seine Frau, vom Bryn Mawr College. Beach war Soziologe und wollte sich über ernsthafte Dinge wie die Beziehungen zwischen verschiedenen Rassen unterhalten, aber Sterga und Thvi hatten andere Dinge vor. Sie schluckten ihre Cocktails so schnell, daß Reid nichts anderes übrigblieb, als neue zu mixen. Sie gaben grausige Geräusche von sich und behaupeten, das seien osmanische Lieder. Reid machte sich Sorgen, daß sie sich betrinken und noch schwieriger werden könnten, aber Sterga beruhigte ihn: »Das ist nichts gegen das Zeug, das wir auf Nohp trinken. Alles, was
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weniger als vier Fünftel Alkohol hat, ist ein leichtes Gemisch aus Bier und Wein.« Die Reids komplimentierten die Beaches gegen sieben hinaus, damit sie noch Zeit zum Essen hatten. Anschließend wollten sie zum Erdbeerfest. Reid ging zurück ins Wohnzimmer und entdeckte, daß Sterga und Thvi abwechselnd aus dem Mixbecher tranken. Sterga sagte: »Mr. Reid, soviel ich weiß, hat Ihr Volk die gleichen Fortpflanzungsmethoden wie das unsere.« »Äh – das kommt auf Ihre Methode an«, sagte Reid, entsetzt über die Wendung, die das Gespräch genommen hatte. »Sie pflanzen sich zweigeschlechtlich fort, nicht wahr? Der Mann…« »Ja, ja.« »Warum haben Sie und Mrs. Reid das nicht getan?« Mr. Reid biß sich auf die Lippen. »Oh, wir haben, wir haben. Unser Sohn ist zur Zeit beim Militär.« »Ah, das ist fein. Dann können Sie die Sitte der Hliht auch mitmachen.« »Welche Sitte?« »Wir tauschen mit unseren Gästen immer die Frauen aus. Es ist ungastlich, wenn man es nicht tut.« »Was?« Sterga wiederholte. Reid machte große Augen. »Sie – Sie meinen das doch nicht im Ernst?« »Aber sicher. Es wird …« »Das geht doch nicht. Selbst wenn es der Brauch ist, es ist physikalisch unmöglich …« »Nein, wir sind gar nicht so verschieden gebaut, wie Sie vielleicht denken. Ich habe die Angelegenheit nachgeprüft. Außer-
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dem macht es Spaß, ein bißchen zu experimentieren, guk-gukguk.« »Kommt nicht in Frage!« fauchte Reid. »Unsere Sitten verbieten es.« »Ihr Terraner wollt doch den Bergwerksvertrag, oder? Na also!« »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte Reid und ging in die Küche. Dort half Louise dem Mädchen bei den letzten Handgriffen für das Abendessen. Er zog sie auf die Seite und erzählte ihr von den neuesten Wünschen ihrer Gäste. Louise Reid machte ebenfalls große Augen. Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer und warf einen Blick auf Sterga. Der entdeckte sie und blinzelte ihr zu. Es war kein hübsches Bild, da die Osmanier beim Blinzeln ein Auge einzogen und wieder vorschnellen ließen. Sie wandte sich ab und preßte die Hände vor das Gesicht. »Was sollen wir nur tun?« »Ich – ich sage dir das eine: Ich werfe diese sogenannten Gäste hinaus. Und wenn ich je R. J. erwische …« »Aber die Schürfrechte!« »Zum Teufel mit den Schürfrechten! Und wenn es zu einem interplanetarischen Krieg kommt, ist es mir auch egal. Ich halte es mit diesen Gummi-Hanswursten nicht mehr aus. Ich kann sie nicht sehen!« »Aber was machen wir? Du kannst sie nicht einfach vor die Tür setzen und sich selbst überlassen.« »Laß mich nachdenken.« Reid warf einen Blick aus dem Fenster und vergewisserte sich, daß bei den Zieglers das Licht brannte. »Ich weiß es. Wir geben sie den Zieglers. Das geschieht beiden Parteien recht.« »Liebling, glaubst du wirklich, daß wir das sollen? Schließlich …«
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»Es ist mir egal, was wir sollen und was nicht. Zuerst bekommst du ein Telegramm, daß deine Mutter krank geworden ist und du sofort nach Washington mußt. Fange inzwischen schon mit dem Auftragen an. Ich leite alles in die Wege.« Reid ging ans Telefon und rief seinen Freund Joe Farris an. »Joe?« sagte er leise. »Könntest du mich in einer Viertelstunde anrufen? Aber wundere dich nicht über meine Worte – ich stecke in einer Klemme.« Eine Viertelstunde später klingelte das Telefon. Reid hob ab und tat so, als müßte er eine Telegrammbotschaft wiederholen. Dann ging er ins Wohnzimmer zurück und sagte traurig: »Eine schlechte Nachricht, Liebling. Deine Mutter ist wieder krank, und es wäre gut, wenn du noch heute nach Washington reisen könntest.« Er wandte sich an Sterga. »Es tut mir leid, aber Mrs. Reid muß fort.« »Oh!« sagte Thvi. »Und wir hatten uns so gefreut…« »Nun bin ich natürlich kein perfekter Gastgeber mehr«, fuhr Reid fort. »Aber ich werde mich um Ersatz kümmern.« »Aber Sie sind so ein netter Kerl!« protestierte Sterga. »Vielen Dank, aber ohne meine Frau bin ich hilflos. Essen Sie jetzt fertig, ich höre mich inzwischen um. Und dann gehen wir gemeinsam zum Fest.« Er schlich sich hinaus und ging zu den Zieglers nebenan. Charles Ziegler kam an die Tür und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Er war dick und glatzköpfig und hatte schwere, behaarte Arme. Er nahm Reids Hand in einen eisernen Griff und sagte dröhnend: »Hallo, Milan, alter Knabe! Was machst du denn immer? Wir müßten uns mal wieder zusammensetzen, was? Na, komm doch herein!« Reid zwang sich ein Lächeln ab. »Also, Charlie, es ist folgendermaßen. Ich – ich bin in einer schwierigen Lage, aber wenn du mir ein wenig hilfst, könnte es vielleicht noch gutgehen. Du wolltest doch Extraterrestrier haben, nicht wahr?«
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Ziegler zuckte mit den Schultern. »Connie meinte, sie müßte unbedingt mitmachen, und da hätte ich mir eben das Haus voll Eidechsen geladen, damit das Herz seinen Frieden hat. Warum, was gibt es?« Reid erzählte ihm von der plötzlichen Erkrankung seiner Schwiegermutter. »Und da dachte ich, du könntest vielleicht zum Fest kommen und mir die Osmanier abnehmen …« Ziegler drosch Reid auf die Schulter. »Klar, Milan, alter Knabe, ich nehme deine Tintenfische. Sie können sich mit GBomben vollaufen lassen.« Das war ein tödliches Gingemisch, das Ziegler selbst mixte. »He, Connie, komm mal her!« Beim Erdbeerfest standen Terraner und Extraterrestier in einer langen Reihe um eine Theke. Dort servierte man Erdbeereis, Erdbeerkuchen, Kaffee, alles im Cafeteria-Stil. Bunte Papierstreifen hingen von der Decke. Flaggen von allen möglichen Planeten zierten die Wände. Einige Gäste standen abseits. Sie konnten entweder das terranische Essen nicht vertragen oder waren nicht dafür konstruiert, sich mit Tabletten anzustellen. Die Forellier nahmen eine ganze Ecke des Erdgeschosses ein und wurden von ihren Gastgebern mit Schaufeln gefüttert. Die Extraterrestier wurden durch Namensschilder identifiziert. Diejenigen, die Kleider trugen, steckten sie eich an, andere hingen sie sich um den Hals. Da die Osmanier weder Kleider noch einen Hals hatten, hing man ihnen Plaketten in Form von Hundesteuermarken an einem Band um den Bauch. Reid stand plötzlich einem Chavantier gegenüber, der sich auf einem Stuhl zusammengeringelt hatte. Der Chavantier hatte den ersten Meter seines Körpers aufgerichtet und schob sich das Essen zierlich mit den vier Rudimentärgliedern in den Mund. »Ich bin von den Werken Ihres Shakespeare fasziniert«, lispelte er. »Dieser tiefe Blick! Dieses Gefühl! Sie müssen wissen, ich war Professor für terranische Literatur, bevor ich in den diplomatischen Dienst trat.«
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»So?« meinte Reid. »Ich war früher auch Lehrer.« Er war unter der falschen Voraussetzung Mathematiklehrer geworden, daß dieser Beruf eine ideale Beschäftigung für schüchterne, zurückhaltende Menschen sei, die Angst vor der Welt hatten. Er merkte bald, daß er einen Kampfgeist und eine Brutalität brauchte, die alles übertraf, was die Geschäftswelt forderte. »Hat man Sie bis jetzt gut behandelt?« »Oh, manchmal bekommen wir zu spüren, daß wir einer terranischen Tierrasse ähnlich sehen, die hier nicht sehr geschätzt ist.« (Reid wußte, daß der Chavantier von Schlangen sprach.) »Aber wir übersehen so etwas.« »Und die anderen Gäste?« Reid sah sich um. Die Hobarts und ihre Robertsonier waren noch nicht aufgetaucht. »Es gefällt allen sehr gut. Die Steinianer sind natürlich nicht hier, da das Fest ein widerliches Schauspiel für sie wäre. Nun ja, andere Rassen, andere Sitten.« Die Reids und ihre Gäste aßen fertig und gingen dann zu den Zuschauerbänken, die bereits zur Hälfte besetzt waren. Die Kinder der verschiedenen Rassen hatten bunte Luftballons, die sanft nach oben zogen. Sie hingen in so dichten Trauben da, daß die Leute auf den hinteren Plätzen kaum noch die Bühne erkennen konnten. Das Programm wurde mit einem Konzert der High SchoolBand eröffnet. Dann paradierte der hiesige Pfadfinderklub. Reverend McClintock hieß die Gäste offiziell willkommen und stellte sie einzeln vor. Diejenigen, die dazu gebaut waren, standen auf und klatschten. Es folgten Lieder eines Männergesangvereins, Volkstänze, wieder Lieder, Indianertänze von einer Pfadfindergruppe. Verlesung der Gewinner eines Aufsatzwettbewerbs … Es war nicht so, daß bei diesen Amateuraufführungen das Dargebotene schlecht war. Manchmal sah man sogar recht gute Sachen. Lästig war nur, daß jede Gruppe ihr Letztes geben wollte. Das hieß, daß sie alle Stücke ihres Repertoires bringen 56
wollte. Also wurde jede Darbietung doppelt so lang als vorgesehen. Und, da die Künstler ohne Gage auftraten, konnte der Manager keine allzu drastischen Kürzungen vornehmen. Damit hätte er sie gekränkt und die ganze Aufführung in Frage gestellt. Um halb elf war die Show immer noch nicht zu Ende. Ballons, die ihren Besitzern entwischt waren, schwebten sanft schaukelnd an der Decke. Das Forellier-Junge schnarchte wie ein mittlerer Gewittersturm im Hintergrund des Saals. Die Kinder der verschiedenen anderen Rassen, einschließlich Homo sapiens, wurden quängelig und mußten weggebracht werden. Die Osmanier rutschten nervös auf den Stühlen hin und her, die für ihre Körperform völlig ungeeignet waren, und drehten gelangweilt ihre Tentakel. Milan Reid warf einen ostentativen Blick auf die Uhr und sagte: »Ich muß jetzt meine Frau zum Zug bringen. Gute Nacht. Gute Nacht, Thvi.« Er schüttelte ihre Tentakel, brachte Louise hinaus und fuhr los. Er steuerte jedoch weder den Bahnhof noch den Flughafen an. Er glaubte nicht, daß die Situation tatsächlich ihre Abreise nach Washington erforderte. Statt dessen ließ er sie bei einer Freundin in Merion. Dann fuhr er heim. Zuerst ging er an die Eingangstür der Zieglers. Er streckte schon den Daumen nach dem Klingelknopf aus, um sich zu vergewissern, daß seine Pläne richtig liefen. Dann aber zog er sich zurück. Von drinnen erklang schallendes Gelächter: Connies schrilles Gequietsche, Charlies Dröhnen und das schreckliche Guk-guk der Osmanier. Seine Gäste hatten offensichtlich Freundschaft mit ihren neuen Gastgebern geschlossen. Er brauchte nicht hineinzugehen. Wie er Charlie kannte, würde der darauf bestehen, daß er an der Party teilnahm. Und er haßte lärmende Parties. Reid ging in seine eigene Wohnung und machte sich für das Bett fertig. Obwohl er nicht der Typ war, der vor dem Einschla-
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fen noch ein paar Drinks kippte, mixte er sich etwas Kräftiges, holte sich eine gute Musiksendung und zündete seine Pfeife an. Er entspannte sich. Von nebenan hörte man ab und zu lärmende Heiterkeitsausbrüche, vermischt mit merkwürdig bumsenden Geräuschen und dem Klirren von Glas. Reid lächelte still vor sich hin. Das Telefon klingelte. Reid runzelte die Stirn und nahm den Hörer ab. »Gespräch aus New Haven«, meldete die Telefonistin. Und dann hörte er die nasale Stimme von Rajendra Jaipal. »Hallo, Milan. Hier spricht R. J. Ich wußte nicht, ob du von der Feier schon daheim sein würdest. Was machen deine Gäste?« »Ich habe sie 'rausgeworfen«, sagte Reid. »Was hast du?« »Sie 'rausgeworfen. Ich habe sie weitergegeben. Sie gingen mir auf die Nerven.« »Wo sind sie jetzt?« fragte Jaipal schrill und streng. »Nebenan, bei den Zieglers. Sie scheinen …« »Oh, wie konntest du!« »Und wie ich konnte! Sie scheinen sich köstlich zu amüsieren.« »Ai ram ram! Ich dachte, ich könnte mich auf dich verlassen. Du hast die interplanetarischen Beziehungen für die nächsten Jahrhunderte durcheinandergebracht. Mein Gott, weshalb hast du das getan? Und ausgerechnet die Zieglers …« »Die Zieglers waren gerade frei, und diese widerlichen Tintenfische sind eine ganz und gar ungebildete und ungezogene Brut! Wie unvernünftige, impulsive Kinder ohne Manieren und ohne Moral, ohne alles. Wenn…« »Das ist egal. Du hast deine Verpflichtungen der Menschheit gegenüber.« »Meine Verpflichtungen gehen nicht so weit, daß ich meine Frau einem galaktischen Tintenfisch zur Verfügung stelle!« 58
»Oh, das hätte sich irgendwie vermeiden lassen.« »Und weshalb – sage mir, weshalb hast du mich nicht vor ihren boshaften kleinen Extratouren gewarnt. Ich habe heute in der Hölle geschmort!« Jaipals Stimme steigerte sich in ungeahnte Höhen. »Du egoistischer, treuloser Materialist…« »Ach, laß mich in Ruhe! Du bist der Treulose, denn du hast mir diese interstellaren Flegel angedreht. Ich nehme an, du hast mich nicht gewarnt, weil du Angst hattest, ich könnte aussteigen. Na, habe ich recht?« Am anderen Ende der Leitung war es still. Dann sagte Jaipal etwas leiser: »Mein lieber Freund, ich gestehe ein, daß auch ich ein sündiger, unvollkommener Sterblicher bin. Bitte, vergib mir meine hastigen Worte. Aber jetzt müssen wir gemeinsam sehen, wie wir den Schaden wiedergutmachen. Es ist äußerst wichtig. Die wirtschaftliche Zukunft unseres Planeten hängt von diesem Bergwerksvertrag ab. Ich fliege sofort zu dir.« »Es hat keinen Sinn, wenn du vor sieben kommst. Ich gehe jetzt ins Bett, und ich mache keinem Menschen mehr auf.« »Dann bin ich um sieben an deiner Türschwelle. Lebwohl!« Als Reid am nächsten Morgen hinaussah, saß Rajendra in einem grauen Flanellanzug auf seiner Türschwelle. Jaipal erhob eich und stand hager und düster vor ihm. »Nun, bist du bereit, mir die Trümmer unserer Hoffnungen zu zeigen?« Reid warf einen Blick auf das Haus der Zieglers, wo noch alles still war. »Ich glaube, daß sie noch schlafen. Äh – hast du schon gefrühstückt?« »Nein, aber …« »Dann komm herein.« Sie aßen in bedrückter Stille. Seit dem Erwachen hatte sich auch Reid seine Sorgen gemacht. Im kühlen Morgenlicht kam ihm sein kühner Streich längst nicht mehr so glänzend vor. Vielleicht stellte er sich sogar als kolossaler Irrtum heraus. 59
Natürlich konnte man einem Extraterrestier nicht die eigene Frau zu Experimentierzwecken überlassen. (Oder konnte man, wenn die Wirtschaft des Volkes auf dem Spiel stand?) Auf alle Fälle hätte er das irgendwie vermeiden können. Er hätte Louise wegschicken können, sich selbst über seinen Gästen noch ein paar Stunden opfern können. Es war wieder einmal sein verdammter Mangel an Geselligkeitsgefühl gewesen. Warum mußte aber auch das Geschick des Planeten von einer so jämmerlichen Kreatur wie ihm hängen? Es war nach neun und heller Sonnenschein, als Reid und Jaipal auf das Haus der Zieglers zugingen. Reid klingelte. Erst nach einer Weile öffnete sich die Tür. Charles Ziegler stand auf der Schwelle. Er trug rotweiß-karierte Shorts. Einen Moment lang blinzelte er sie durch verquollene Augen an. Dann grinste er. »Hallo!« rief er. »Kommt herein.« Reid stellte Jaipal vor und trat ein. Im Wohnzimmer herrschte Chaos. Hier lag eine umgekippte Stehlampe, dort stand ein dreibeiniger Kartentisch wie betrunken da. Karten und Pokersteine waren gleichmäßig auf dem Boden verteilt. Aus der Küche drangen Geräusche. Jemand richtete das Frühstück her. Sterga glitt herein. Er balancierte mit zwei Tentakeln einen Eisbeutel auf dem Kopf und sagte: »Diese Nacht! Mein lieber Mr. Reid, wie kann ich Ihnen dafür danken, daß Sie so einen großartigen Gastgeber gefunden haben? Ich dachte nicht, daß mich ein Lebewesen in der Galaxis unter den Tisch trinken könnte, guk-guk-guk.« Reid sah Ziegler fragend an. Der nickte. »Jawohl, wir haben einen gestemmt.« »Wir konnten natürlich unser Experiment nicht so durchführen, wie ich gehofft hatte«, sagte Sterga. »Aber das macht nichts. Nächstes Jahr kommen Thvi und ich wieder zu den Zieglers, auch wenn die anderen nach Athen reisen.« Der Osmanier richtete sich auf und packte Ziegler am Hals. Der Dicke tätschelte ihm die Gummitentakel. »Wir mögen sie schrecklich gern. Und er ist ein
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guter Ringer. Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Konzession, R. J. Es wird keine Schwierigkeiten geben.« Reid und Jaipal verabschiedeten sich. Draußen sahen sie einander an. Beide zuckten mit den Schultern und breiteten hilflos die Hände aus. Ihre Gesichter drückten völlige Verständnislosigkeit aus. Dann winkten sie einander zu, und während Reid zu seinem Haus zurückging, eilte Rajendra Jaipal zum Flughafen.
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Man wird Gefängnisse brauchen. Man wird Männer brauchen, die diese Gefängnisse leiten. Und so fortschrittlich die Gesellschaft sein mag, die Gefängnisse werden ihre Probleme haben …
Revolte in San Quentin von MIRIAM ALLEN DE FORD Gefängnisdirektor Miles Morgan sah die fünf Männer an, die er in sein Büro hatte rufen lassen. Er konnte sich auf alle fünf verlassen. Vielleicht starben sie alle, und er mit ihnen, aber solange sie am Leben waren, würde kein Gefangener entkommen. Das Leben eines Gefängnisdirektors in den Vereinigten Staaten von 2033 war einerseits ein ruhiger Job. Andererseits war die Last der Verantwortung fast zu groß für einen einzigen Menschen. Durch das Bates-Watson-Gesetz, das im Jahre 2014 verabschiedet und 2017 endlich in die Verfassung aufgenommen worden war – man hatte sich mit sieben zu zwei Stimmen dafür ausgesprochen, keine grausamen oder ungewöhnlichen Strafen zu verhängen –, waren die Gefängnisse, was neue Insassen betraf, ziemlich leer geworden. (Die früher Verurteilten saßen in besonderen Anstalten ihre Strafen ab.) Einmal sprachen die Geschworenen einen Angeklagten nur bei unwiderlegbaren Beweisen schuldig. Zum anderen hatte man endlich das veraltete Mc-Naghten-Gesetz abgeschafft und untersuchte jeden Angeklagten psychiatrisch, wodurch eine große Anzahl von Psychopathen und Geistesgestörten, die früher in Gefängnissen gesessen hatten, in die Nervenkrankenhäuser abwanderten. Und schließlich wirkte das neue Strafrecht wirklich als Abschreckung, was man mit der Todesstrafe nie erreicht hatte. Ein Mann zögerte lange, bevor er ein Verbrechen beging, wenn er damit rechnen mußte, nicht die üblichen fünf oder zehn Jahre in einem modernen, aufgeklärten Gefängnis zu verbringen und dann 62
wieder in die alte Welt entlassen zu werden, sondern daß er nach Absitzen der Strafe (Bewährung gab es nicht mehr) als völlig Fremder auftauchen würde, während seine Zeitgenossen um fünf bis zehn Jahre gealtert waren. Die Lingelbach-Yamasuto-Methode des induzierten Komas hatte das Bates-Watson-Gesetz ermöglicht. Gewisse wichtige Gehirn-Neuronen, so hatten der schweizerische und der japanische Wissenschaftler bewiesen, konnten desaktiviert werden, solange man die Versuchsperson in einer Umgebungstemperatur knapp über dem Gefrierpunkt ließ. Es war keine völlig neue Idee – schon 1958 hatte ein Science Fiction-Autor namens Clarke in einer jener verblüffenden Extrapolationen jener Zeit diese Möglichkeit vorgeschlagen, und sogar ihre Anwendung für das Strafrecht. Neu war, daß man es nun tatsächlich erreichen konnte, ohne dem Häftling einen gesundheitlichen Schaden zuzufügen. Ja, man konnte ihn sogar jederzeit aus dem Koma wecken. Als Folge davon besaß jeder Bundesstaat nur noch ein Gefängnis – in manchen Fällen hatten sich sogar ein paar schwach bevölkerte Staaten zusammengetan und ein Sträflingszentrum gebaut. Man brauchte sich nicht mehr um das Essen, die Kleidung, die Beschäftigung, Ausbildung, Unterhaltung oder Erziehung der Sträflinge zu kümmern. Das Personal bestand nur noch aus Wärtern und Technikern, und ein Gebäude, in dem früher tausend Gefangene Platz gefunden hatten, konnte nun an die dreifache Menge aufnehmen, da sie in langen Reihen nebeneinanderlagen. Die paar Handgriffe bei der Nährlösungseinspritzung beim Säubern und Massieren (um Wundliegen und steife Muskeln zu vermeiden) konnten mit Leichtigkeit von ein paar Leuten erledigt werden. So hatte Miles Morgan, als er im Jahre 2028 Gefängnisdirektor in San Quentin wurde, die Oberaufsicht über sämtliche Verbrecher Kaliforniens. Er war ein großer, grobknochiger Mann, der mit seinen zweiundfünfzig Jahren immer noch jung aussah. Jahre intensiven Studiums und praktischer Erfahrung hatten seinen Verstand unheimlich geschärft. Fünf Jahre lang leitete er 63
nun die Anstalt mit der Pünktlichkeit eines Uhrwerks. Alles lief den gewohnten Gang. Und wenn man ihm trotzdem ein enorm hohes Gehalt zahlte, wenn er einstimmig vom Ausschuß der Strafanstalten und dem Gouverneur gewählt worden war und man sein Rücktrittsgesuch nach einem Jahr nicht annahm, so geschah das, weil man wußte, daß man sich im Notfall auf ihn verlassen konnte. Er war Witwer und ging in seinem Beruf auf. Er verließ das Gefängnis selten. Nach dem Tod seiner Frau hatte er die Direktorwohnung mit einem kleinen Junggesellen-Appartement im Hauptgebäude vertauscht. Es stand direkt mit den Büroräumen in Verbindung. In diesen Büroräumen befand er sich auch am 18. März 2033 und diktierte seiner Sekretärin Mavis Brock, einer gutaussehenden blonden Dreißigerin, einen Brief. Man muß hinzufügen, daß er das Mädchen nicht wegen ihres Aussehens, sondern einzig und allein wegen ihres Könnens angestellt hatte. Seine Ehe war sehr glücklich gewesen, und nach dem plötzlichen Tod seiner Frau hatte er seine Gefühle in sich verschlossen. Nicht einmal enge Freunde wagten es, in ihn zu dringen. Er war keineswegs kühl, eher freundlich und umgänglich, aber durch Lauras Tod war etwas in ihm zusammengebrochen, und es hatte sich nie wieder heilen lassen. »Nehmen Sie den Brief für Brown und Stacey auf«, sagte er gerade zu Miß Brock. »Was ist mit der Termiten-Schutzlösung, die wir am 10. Februar dieses Jahres bestellten? Wir brauchen das Material dringend. Falls Sie nicht bis spätestens Ende dieser Woche liefern können …« In diesem Moment rutschten die Papiere vom Schreibtisch, er und seine Sekretärin wurden zu Boden geworfen, und das gesamte Ziegelgebäude geriet ein paar Sekunden ins Schwanken. Ihm wurde ganz übel bei dem Anblick. Ein Erdbeben von der Stärke 6,2 der Richter-Skala hatte den alten Graben zwischen Point Arena und dem Mojave wieder aufgeworfen.
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Der Gefängnisdirektor brachte sich und Miß Brock wieder auf die Beine. Es war typisch, daß er zuerst an sie und dann an das Gefängnis dachte. Für sich selbst verschwendete er keinen Gedanken, nachdem feststand, daß er nichts gebrochen hatte. »Versuchen Sie lieber gleich heimzukommen, Miß Brock«, sagte er. »In Ihrem Wagen sind Sie sicherer als hier im Haus, und Ihre Familie wird sich Sorgen um Sie machen.« »Aber kann ich Ihnen nicht irgendwie helfen?« fragte sie. Sie wohnte im nahen San Rafael und kam täglich von dort zur Arbeit. »Nein, nein. Ich kümmere mich um die Anstalt. Sie gehen. Und achten Sie auf heruntergerissene Leitungen. Rufen Sie mich an, wenn Sie daheim sind.« Er wandte sich ans Visiphon, um sich nach dem Schaden zu erkundigen. Aber bevor er den Hörer in die Hand nehmen konnte, stürzte sein Chefingenieur, Harry Monghetti, ins Büro. Er hatte nicht einmal angeklopft. Sein Gesicht war bleich. »Alles in Ordnung, Direktor? Gut, Hören Sie zu – es ist etwas passiert.« »Schlimm?« »Der Gebäudeschaden ist vernachlässigbar. Aber durch den Stoß ist die Hauptzuleitung zu den Kühlräumen gebrochen.« »Funktioniert die Notleitung?« »Ich habe gerade nachgesehen. Sie wird alles übernehmen – bis auf Zelle H.« Zelle H. Sie wußten beide, was das bedeutete. Die Langjährigen – sie hatten von zwanzig bis zu fünfzig Jahren. (Heutzutage wurde keiner mehr zu lebenslänglich verurteilt.) Die Schlimmsten und Härtesten. Und Nr. 30718, der seit vier Jahren saß und noch sechsundvierzig vor sich hatte. Der Direktor erwachte aus seinem Nachdenken. »Die Zelle muß sofort abgeriegelt werden«, befahl er. »Das Auftauen dauert nicht lange. Es sind zweiundachtzig Mann in der Abteilung, und ich möchte, daß sie dort bleiben, bis wir genügend 65
Leute haben, um sie in Schach zu halten und wieder einzufrieren.« Während Monghetti hinauslief, ging er ans Telefon und verlangte den Oberaufseher. »Larson? Lassen Sie Ihre Männer alle Zellen außer H sofort überprüfen. Mrs. Carpentier soll dafür sorgen, daß die Frauenabteilung abgeriegelt wird. Dann kommen Sie zu mir.« Der Interkom funktionierte. Nun mußte er noch die Verbindung nach draußen überprüfen. Er überdachte kurz die Lage. Er hatte insgesamt dreiundsechzig Männer und Frauen. Keiner von ihnen war grob oder häßlich – diese Tage waren für die Gefängnisse vorbei. Alle Raufbolde befanden sich in ihren Kojen – oder waren im Begriff, sie zu verlassen. Waffen? Nichts, soviel er wußte, außer einer Pistole, die er in der eigenen Schublade hatte. Die Absperrung von Zelle H konnte nicht lange aufrechterhalten werden. Einer der zweiundachtzig war ein Mann namens Farmer, ein Safeknacker, der in seiner langen und unschönen Karriere den Ruf erlangt hatte, mit den einfachsten Hilfsmitteln (zum Beispiel einer Matratzenfeder) jedes Schloß öffnen zu können. Morgan mußte sehen, daß er sofort Hilfe bekam. Die Staatspolizei hatte vermutlich alle Hände voll zu tun, um die Folgen des Erdstoßes zu beseitigen. Er mußte seine Sache als äußerst dringend hinstellen, um von dort Hilfe zu bekommen. Er wählte die Privatnummer des Gouverneurs in Sacramento. Das Telefon klingelte zweimal, als der zweite Stoß kam. Er war nicht so heftig wie der erste – alles schwankte und schaukelte, doch nichts fiel zu Boden, und Morgan kippte nicht vom Stuhl. Aber er reichte aus, um den Visiphonschirm finster werden zu lassen. Der Direktor ging in Gedanken alle Leute durch, die ihn unterstützen konnten. Monghetti, Larson, ein kräftiger Aufseher namens Groutschmidt, der früher Meister im Weltergewicht 66
gewesen war, dann einer namens Smith, der Judo beherrschte, und der Techniker Salisbury, der in seiner Freizeit Segelwettfahrten bestritt. Alle anderen waren mehr oder weniger Stubenhocker, die bei einer Krise wie dieser nur im Wege standen. Sie konnten am besten helfen, indem sie heimfuhren und die Außenwelt von der Situation benachrichtigten. Mrs. Carpentier und ihre drei Helferinnen mußten sofort gehen. Sobald sie und das übrige Personal weg waren, mußte man die Außenmauern und Tore unter Strom setzen. Es blieb nicht mehr viel Zeit für eine detaillierte Planung, dachte Morgan, als er den Hörer abnahm und die fünf Männer bat, in sein Büro zu kommen. Die übrigen verständigte er über die Lautsprecheranlage, daß sie heimgehen sollten. Nun war also der Notfall eingetreten, der das hohe Gehalt und die sonst so geruhsame Stelle rechtfertigte. Die Hilfe von draußen kam wahrscheinlich nicht rechtzeitig. Inzwischen waren sie sechs gegen zweiundachtzig. Und er wußte, wer der Anführer der zweiundachtzig sein würde, sobald die Männer ihre Kräfte gesammelt hatten: Nr. 30718. Der Direktor wollte nicht daran denken. Die fünf Verläßlichen kamen ins Büro gelaufen. »Zelle H abgeblockt«, berichtete Monghetti. Auch für alles andere war wortlos gesorgt worden. In dem gleichen Sinne, in dem ein Schiff mit einem guten Kapitän ein glückliches Schiff war, war San Quentin ein glückliches Gefängnis. Das Personal respektierte den Direktor und vertraute ihm. Noch mehr – es hatte ihn gern. »Ich muß euch nicht erst ein Bild der Lage zeichnen«, sagte er, als sie sich in seinem großen Büro versammelt hatten. Er wandte sich an Monghetti. »Harry, wie lange wird es dauern, bis sie aus der Zelle ausgebrochen sind?« »Ich würde sagen, zwanzig Minuten bis eine halbe Stunde.« »Gut. Das gibt uns eine Atempause. Versetzen wir uns einmal in ihre Lage. Das Auftauen geht schnell und automatisch vor sich – ganz anders als der Einfrierprozeß. Sie werden während der
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ersten paar Minuten etwas schwach sein, aber nicht lange – wir haben sie gut gepflegt. Farmer wird sie in Kürze befreien. Ihr erster Gedanke wird natürlich die Flucht sein. Wir können sie von den Fenstern hier sehen. Ein Glück, daß die Scheiben unzerbrechlich und nur nach einer Seite hin durchsichtig sind. Sie werden merken, daß die Mauern und Tore unter Strom stehen. Was werden sie dann tun?« »Sie wissen, daß der Stromschalter hier ist – oder sie werden es erraten, wenn sie ihn sonst nirgends finden. Also werden sie sich sammeln und uns angreifen«, sagte Larson. »Einen Augenblick«, unterbrach Salisbury. »Könnte es nicht sein, daß sie zuerst versuchen werden, die Kameraden in den anderen Zellen aufzutauen?« »Nicht aus Mitleid, das steht fest«, sagte der Direktor. »Und sie sind genug – sie brauchen keine Helfer mehr. Außerdem würden sie schnell aufgeben, wenn sie merken, daß sie nicht wissen, wie man die Leute auftaut. Es sind keine Techniker unter ihnen.« »Farmer könnte sie in die Frauenzelle bringen«, meinte Larson. »Er könnte. Aber sie werden ihre Zeit nicht damit verschwenden. Sie werden hinauswollen. Dort gibt es genug Frauen, die nicht steif gefroren sind.« Morgan holte tief Atem. »Schließlich, haben sie einen klugen Anführer«, fügte er ruhig hinzu. »Er wird an solche Dinge denken.« »Ja – 30718«, murmelte Smith. Die anderen schwiegen. »Also müssen wir in der nächsten halben oder dreiviertel Stunde das Büro verbarrikadieren«, fuhr der Direktor hart fort. »Einige von euch werden sich fragen, weshalb wir nicht einfach zu Zelle H gehen und sie unterdrücken, bevor sie sich auf den Weg machen. Wir würden es nicht schaffen, das ist es. Sie hatten uns überwältigt, bevor wir etwas tun könnten. Wieder einfrieren können wir sie ohnehin nicht, da die Leitung gebrochen ist. Mit der Außenwelt können wir keine Verbindung aufnehmen, dafür hat das Erdbeben gesorgt. Aber siebenundfünfzig Leute 68
vom Personal – achtundfünfzig, wenn wir Miß Brock mitzählen – sind bereits unterwegs, und die meisten wissen, wie es um uns steht. Sie werden sich selbstverständlich zuerst um ihre Familien kümmern. Etwas anderes können wir nicht erwarten. Aber dann werden sie etwas unternehmen. Wenn der Schaden in der ganzen Gegend nicht schlimmer war als hier und wenn die weiteren Schocks harmlos bleiben, können wir bald mit Hilfe rechnen. Staatspolizei, Polizei und die Feuerwehr von San Rafael und den anderen Städten des Küsten-Counties werden herkommen, vielleicht sogar die Bürgerwehr oder Bundestruppen von Hamilton Feld. Zum Teufel, vielleicht kommen auch Zivilisten, die noch einen Funken Verantwortungsgefühl besitzen. Sie werden die Belagerung aufheben. Wenn wir sie sehen, können wir den Strom ausschalten.« »Eine Menge Wenns«, sagte Groutschmidt leise. »Es kann Stunden dauern. Oder sogar Tage.« »Richtig«, sagte der Direktor ruhig. »Bis Hilfe kommt, liegt es also an uns, die Festung zu halten. Wir können alle umkommen, Aber bis dahin kommt niemand an den atomaren Aktivator, der die Wände und Tore kontrolliert. Wir sind die letzte Mauer. Es ist jetzt zu spät, das Gelände zu verlassen, aber wenn jemand von euch nicht hierbleiben will, kann er sich irgendwo einsperren, wo es sicherer ist.« »Es geht keiner«, sagte Larson. »Ich wollte doch damit nicht sagen …«, begann Groutschmidt mit rotem Kopf. »Ich weiß, Bill. Und jetzt die Taktik. Hat jemand eine Waffe?« »Ich habe ein Taschenmesser«, sagte Monghetti mit verlegener Miene. »Ich weiß, es ist verboten, eines herumzutragen, aber als der Erdstoß kam, spitzte ich gerade einen Bleistift und vergaß, es wegzulegen.« »Schon verziehen, Harry.« Der Direktor lächelte. »Ich habe eine Pistole – mit Lizenz. Aber nur sechs Patronen. Und ich bin nicht der beste Schütze. Was haben Sie da in der Hand, Smith?« 69
»Eine Schlauchdüse, Sir. Es ist wie bei Mr. Monghetti – ich wollte gerade den Schlauch anschließen, um den Boden von Zelle E zu waschen, als das Erdbeben begann. Und da nahm ich das Ding gedankenlos mit.« »Es könnte einen guten Totschläger abgeben.« »Nichts für mich«, sagte Smith ruhig. »Hier, Mr. Larson, nehmen Sie ihn. Ich verlasse mich lieber auf Judo.« Der Direktor sah sich um. Die Stühle waren wenigstens zum Teil aus Metall und ziemlich schwer. »Das Wichtigste ist, daß wir sie nicht ins Büro lassen dürfen, wenn wir es irgendwie vermeiden können. Sie sind zweiundachtzig und wir nur sechs. Auf so engem Raum würden sie uns einfach erdrücken. Sie werden Farmer wahrscheinlich den Auftrag geben, die Tür zu öffnen. Wir müssen sie also hier am Eingang einen nach dem anderen fertigmachen.« »Wie die Schlacht an den Thermopylen«, sagte Salisbury. Niemand außer dem Direktor wußte, was er meinte. Er fand den Vergleich ziemlich unglücklich, wenn man bedachte, daß Leonidas und seine Soldaten umgekommen waren. Er holte aus einer Schublade des Schreibtisches eine kleine Schachtel hervor. »Ich glaube, das hier ist das Schlimmste«, sagte er. »Das Warten. Hier, nehmt jeder eine.« »Was ist das?« wollte Larson wissen. »Beruhigungspillen. Sie haben keine Nebenwirkungen und sind ausgezeichnet für schlechte Nerven. Der Arzt gab sie mir, als …« Er sah, wie die anderen sich bedeutsame Blicke zuwarfen. Larson und Groutschmidt schüttelten den Kopf. Die anderen nahmen eine Pille. Morgan zögerte einen Moment, dann schloß er die Schachtel und legte sie weg. Er fühlte sich vollkommen ruhig. »Wenn wir nur eine Lähmgasausrüstung hätten«, schimpfte Monghetti. »Oder wenigstens etwas von dem altmodischen Tränengas.« 70
»Nun, leider haben wir nichts dergleichen. Das Zeug verschwand mit dem alten Strafgesetz. Wir sind auf die älteste Kampfmethode angewiesen – Mann gegen Mann. Sechs Mann gegen zweiundachtzig.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Als sie das Bates-Watson-Gesetz verabschiedeten, dachten sie wahrscheinlich nicht daran, daß in Kalifornien oft Erdbeben sind. Für diesen Fall haben sie keine Regeln vorgesehen.« Er überlegte einen Augenblick. Was war besser? Weiterreden, den Dampf ablassen oder die letzten Augenblicke schweigend zu verbringen, damit sie sich sammeln konnten? Würden sie dann Angst um ihre Frauen und Kinder bekommen und nervös werden? Er sah sie an. Sie waren feine, verläßliche Kerle. »Sprechen wir jetzt nicht mehr darüber«, sagte er ruhig. »Nehmen wir die Position für den ersten Angriff ein. Groutschmidt und Salisbury – Sie beide sind körperlich am stärksten. Was halten Sie davon, wenn Sie die Stühle hier als Rammböcke benutzen?« »Könnte gehen«, meinte Salisbury. Groutschmidt nickte. »Dann bildet ihr beide die erste Reihe, direkt im Eingang. Haltet die Stühle griffbereit. Smith, Sie stellen sich dahinter und werfen jeden hinaus, der an ihnen vorbeikommt. Harry und Ole Larson und ich haben die Waffen, wir bilden die letzte Verteidigungslinie.« Er überprüfte die Pistole und legte sie an den Schreibtischrand, von wo er sie gut erreichen konnte. Dann begann das Warten. Groutschmidt übte seine Muskeln. Salisbury setzte sich auf seinen Stuhl, bereit, sofort aufzuspringen, wenn er von draußen ein Geräusch hörte. Monghetti betete. Smith holte ein Bild aus der Brieftasche, sah es lange an und steckte es dann wieder ein. Larson wandte sich um, starrte aus dem Fenster und wartete mit eiserner Ruhe auf das erste Lebenszeichen vom Hof. Und Miles Morgan konnte nachdenken. Er dachte – wann tat er es nicht? – an Laura, an ihre gemeinsamen Jahre, an den Schmerz und das Entsetzen bei ihrem Tode. 71
Er dachte an seine Zustimmung, als man ihn bat, den Posten nicht zu verlassen – damals, vor vier Jahren. Er dachte an das Verständnis und die Sympathie seiner Mitarbeiter, die alle seine Schwierigkeiten kannten. Er dachte daran, was sich jetzt in Zelle H abspielte wenn sie sie nicht schon verlassen hatten. Und er dachte an den brillanten Führer, an den jungen, starken, unheilbaren Verbrecher, dem das Böse angeboren war, den ein ganzes Heer von Psychiatern als völlig normal erklärt hatte, als einen Atavismus aus den Tagen der Kondottieri, der Korsaren, der Freibeuter: Nr. 30718. Er war einundzwanzig, als er sein letztes Verbrechen beging und seine fünfzig Jahre in San Quentin abzusitzen begann. Wenn alles normal verlief, dachte der Direktor, war er selbst längst tot, wenn Nr. 30718 freigelassen wurde – ein junger Mann im Gegensatz zu seinen Altersgefährten. Zweifellos würde es nicht lange dauern, bis sie ihn wieder verurteilten. Er hatte nie zu einer Bande gehört oder bei seinen Raubzügen einen Partner gehabt, obwohl er in seinem nicht-kriminellen Leben immer der Anführer jeder Gruppe war. Er nahm es einfach als selbstverständlich, daß er alles bekam, was er wollte. Und wenn ihm jemand dabei im Wege stand, räumte er ihn beiseite. Er hatte nie einen Unterschied zwischen dein und mein gemacht – seit seiner Kindheit hatte er ebenso leicht gestohlen wie geatmet. Es wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen, als Taschendieb, heimlicher Einbrecher oder Ladendieb zu arbeiten. Er nahm sich einfach, was ihm gefiel – offen und ohne Umstände. Er plünderte bewohnte Häuser aus, hielt Fußgänger auf und fuhr in geparkten Wagen davon, und seine Kühnheit und Offenheit bewahrten ihn bis zum Ende vor der Entdeckung. Er war nicht unersättlich – Betrug oder Fälschung hätte er verabscheut, und er hätte auch nicht gewußt, was er mit großen Summen gestohlenen Geldes anfangen sollte. Er hätte einen herrlichen Wikingerhäuptling abgegeben, den Anführer einer Vandalenschar oder einen Konquistador. Leider war er in eine Welt des Friedens, der Gesetze und der Ordnung 72
hineingeboren worden, Begriffe, die ihm völlig fremd waren. Er war ein reiner Atavismus. Als seine Mutter – eine sanfte, aber furchtlose Frau – durch Zufall auf seinem Schreibtisch einen seltsam gefaßten Ring entdeckte, den sie als eines der Stücke erkannte, die bei einem Raubüberfall am hellichten Tag gestohlen worden waren, sagte sie ihm die Tat auf den Kopf zu. Sein Handeln und seine Lebensweise waren für ihn so selbstverständlich, daß er es ohne weiteres zugab. »So bin ich nun mal, Mutter«, sagte er. »Was wirst du tun?« Er war damals in seinem letzten Studienjahr, ein hervorragender Schüler. Sein Leben daheim hätte nicht besser sein können. Er kam aus einer ruhigen, kultivierten Familie mit hohen Idealen, die ihn über alles liebte. Seine schmale, schüchterne Mutter sah ihn mit Schmerz in den Augen an, aber sie hatte keine Angst. »Ich kann nur eines tun, Sohn«, sagte sie leise. »Ich muß es deinem Vater sagen, und er wird dich zur Polizei bringen.« All das kam bei der Verhandlung heraus, denn ein neugieriges Hausmädchen hatte am Schlüsselloch gehorcht und war einen Augenblick später ins Zimmer gelaufen, zu spät. »Wirklich schade, Mutter«, murmelte der Junge. Und sprang vorwärts. Bevor die schreiende Angestellte sie erreichen konnte, hatte er mit seinen starken Händen die Mutter umgebracht – wie ein Metzger ein Huhn umbrachte. Sie war eine hübsche Frau gewesen. Danach konnte man sie nicht mehr ansehen. Die Schreie des Hausmädchens brachten sofort Hilfe herbei, sonst wäre sie die nächste gewesen. Der Laufbursche des Gemüsehändlers wollte gerade etwas an der Hintertür abliefern, der Nachbar war in seinem Garten, ganz in der Nähe des offenen Fensters, eine Passantin hörte sie und lief zum nächsten Alarmmelder, um einen Polizeihubschrauber herbeizudirigieren. Der Laufbursche konnte nicht mehr entkommen. 73
Acht Monate später, nach einer langen Verhandlung und einer Unmenge von Einsprüchen, wurde er Nr. 30718. Und es bestand nicht der leiseste Zweifel daran, daß er nun jeden Moment die anderen zum Büro des Direktors führen würde, das in eine belagerte Festung verwandelt war. Larson drehte sich um. »Da kommen sie«, kündigte er an. »Behalten Sie sie im Auge, bis sie das Tor erreicht haben«, befahl der Direktor. »Sobald sie merken, daß sie nicht durchkommen, werden sie zum Gebäude zurückkehren. Dann müßt ihr eure Stellungen einnehmen und euch bereithalten. Ist 30718 an der Spitze?« »Schwer zu sagen. Moment – o ja, jetzt sehe ich ihn. Er steht rechts. Er läßt die Männer in militärischer Ordnung antreten. Mit einem spricht er jetzt – es ist Farmer, 29847. Farmer soll wohl das Tor öffnen. Besser, wenn er nicht zu nahe 'rangeht. Hoppla, da hat er es schon gemerkt. Er läuft zurück. Jetzt beraten sie wieder. Achtung, Direktor. Die Konferenz ist vorbei. Sie kommen zurück, je zwei und zwei. 30718 ist nicht an der Spitze – oh, oh, er bildet die Nachhut. Das ist Strategie – die Stoßtrupps voran.« »Der Kerl hätte General werden sollen«, knurrte Salisbury. Er war noch nicht lange beim Personal und wußte am wenigsten von den anderen. »Wahrscheinlich wäre es besser gewesen«, murmelte Morgan, »So, es geht los. Achtet auf den Moment, in dem sich die Tür bewegt.« Aber 30718 hatte noch eine Überraschung für sie. Sie hörten die Schritte im Korridor draußen. Aber niemand versuchte sich am Schloß. Statt dessen rief jemand zu ihnen herein. Miles Morgan kannte diese Stimme. Er hatte sie zuletzt bei der Verhandlung gehört. Harry Monghetti kannte sie auch. Er hatte sie gehört, als
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er bereitstand, um die Gefrieranlage einzuschalten, während der Chirurg die Neuronen im Gehirn von Nr. 30718 desaktivierte. »Wir kommen herein«, sagte die Stimme. »Und alle, die drinnen sind, werden umgebracht. Wir geben euch eine Chance. Schaltet den Saft aus, damit wir fliehen können, und wir verschwinden.« »Ihr kommt hier nicht heraus«, rief Miles Morgan zurück. Er hatte den absurden Impuls, hinzuzufügen: »Das ist eine Chance mehr, als deine eigene Mutter bekam.« »Okay, wenn ihr nicht anders wollt. An die Arbeit, Farmer.« Der Direktor sah auf die Uhr. Farmer brauchte genau elf Sekunden. Wenigstens war der Eingang so schmal, daß nur zwei Leute zugleich herein konnten. Sie standen plötzlich zu viert da. Die Verteidiger hatten keine Zeit, sich ihre Gegner anzusehen, aber die Schläger waren an der Spitze, die Raufbolde, die Boxer, die gefährlichen Jungen, die aus Kraftprotzerei getötet hatten. Offensichtlich hatten sie nicht mit Widerstand gerechnet. 30718 hatte ihnen wohl gesagt, daß es ein leichtes Spiel sein würde. Die Kerle werden nicht kämpfen, hatte er sicher gesagt. Vielleicht hatte er auch erwartet, daß der Direktor allein in seinem Büro warten würde. Salisbury und Groutschmidt schwangen systematisch die schweren Stühle, und mit jedem Schwung ging ein Mann zu Boden. Die Verteidiger hatten einen Vorteil – sie waren nicht eben erst aus dem Koma erwacht. Die Angreifer änderten ihre Taktik. Auf ein Wort ihres Anführers lockerten sie ihre Reihen und griffen en masse an. Ein weiterer Erdstoß ließ die Wände erzittern, aber in der Aufregung des Kampfgewühls bemerkte ihn keine der beiden Parteien. Salisbury verlor plötzlich gegen einen bulligen Riesen, der den Stuhl packte und ihn geradewegs auf Larson schleuderte. Der schwere Metallrahmen erwischte den Oberaufseher direkt an der Stirn. Larson stürzte zu Boden und rührte sich nicht mehr. 75
Smith duckte sich, packte den ersten Gegner an den Knöcheln und warf ihn auf seine Gefährten. Er schaffte zwei weitere auf die gleiche Weise, doch bevor er sich den nächsten schnappen konnte, traf ihn eine Faust an den Lippen und ein Knie am Solarplexus. Er brach stöhnend zusammen. Groutschmidt schwang seinen Stuhl wie ein Roboter. Monghetti zog den anderen Stuhl weg und sprang an Salisburys Platz, doch er war bei weitem nicht so stark wie Groutschmidt. Auf ein Wort des unsichtbaren Anführers packten ihn vier Männer und reichten ihn nach hinten weiter. Einmal hörte man ihn aufschreien. Morgan zielte sorgfältig. Er hielt die Waffe weit weg von Groutschmidt, der nun als einziger den Eingang verteidigte. Er hatte nur sechs Schuß. Larson hatte nie eine Chance gehabt, das Schlauchende zu benutzen. Monghettis Taschenmesser war mit ihm verschwunden. Der Direktor versuchte abzuschätzen, wie viele der Häftlinge noch aktionsfähig waren, aber er gab es auf. Er schoß, ohne ein bestimmtes Ziel zu wählen. Die Kugel traf. Jemand schrie gurgelnd, dann war einen Moment lang alles still. Eine Stimme im Hintergrund sagte kühl: »Das ist der Direktor – er ist der einzige, der eine Waffe haben könnte. Packt ihn.« Smith kam allmählich zu sich, aber er konnte noch nicht aufstehen. Monghetti war verschwunden. Salisbury lag wie tot da. Larson war tot. Morgan schoß noch zweimal. Er hörte keinen Aufschrei. Beide Male verfehlt. Groutschmidts Kräfte ließen nach. Sein Stuhl war zerbrochen, und er schwenkte den schweren Rahmen wie einen Knüppel. Ein Kopf, der hereinsah, verschwand wieder. Aber dann sah man eine blitzschnelle Armbewegung. Metall blitzte auf. Der ehemalige Preisboxer würgte und gurgelte. Jemand hatte Monghettis Messer gefunden. Smith kroch mit schmerzverzerrtem Gesicht über den Boden. Er fand Larsons Schlauchende. Groutschmidt lag quer im
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Eingang. Smith richtete sich auf und schlug zu. Irgendwo mußte ein Bein gebrochen sein. Mit letzter Kraft warf Smith die Waffe aus dem Fenster. Dann wurde er überrannt. Nur noch drei Kugeln waren übrig. »Sie haben mir den Halswirbel gebrochen, Direktor«, stöhnte Salisbury. Er hatte eben erst die Augen geöffnet. »Ich kann mich nicht rühren. Um Himmels willen, sie dürfen mich nicht zu Tode trampeln.« Morgans Blick fiel auf die merkwürdig verrenkte Gestalt des Technikers. Er nickte. »Gott segne Sie«, flüsterte Salisbury, bevor er starb. Noch zwei Kugeln. Er hatte geglaubt, sie würden nun alle hereinströmen. Aber der Stratege im Hintergrund verschwendete nicht mehr Leute als unbedingt nötig. Morgan hörte seine Kommandos. »Antreten!« befahl er. »Alle Verletzten und Toten aus dem Weg räumen. Du da ganz vorn, zieh die beiden heraus, die den Eingang blockieren. Gut so. Und jetzt geht herein und holt ihn.« Miles Morgan stand ganz ruhig vor seinem Schreibtisch. Seine Stimme dröhnte in den Gang hinaus. »Der erste, der hereinkommt, wird erschossen«, sagte er. »Wer will der erste sein?« Man hörte eine unbestimmte Bewegung. Ein Sturmangriff war eine Sache – der gewisse Tod eine andere. »Laßt euch nicht bluffen!« sagte die Stimme im Hintergrund spöttisch. »Sie wissen, daß ich nicht bluffe«, sagte der Direktor. »Nr. 30718?« »Ja?« »Du hast doch Verstand, weshalb benutzt du ihn nicht? Du weißt, daß ich den Strom für dich nicht ausschalten werde. Du hast fünf meiner Leute umgebracht. Ich weiß nicht, wie viele wir von euch erwischt haben. Jede Minute kann jetzt Verstärkung von außen kommen. Du kannst mich umbringen, aber dann weißt du 77
immer noch nicht, wo sich der Atomschalter befindet oder wie du ihn benutzen mußt. Bis die Leute von draußen hereingedrungen sind, sterben eure Verwundeten.« Er hob die Stimme, damit die anderen jedes Wort verstehen konnten. »Einige von euch Langjährigen haben das Ende der Strafe sehr bald erreicht. Ihr wißt, daß auf euren Überfall weitere fünfzig Jahre stehen. In anderen Worten, ihr bleibt alle gefroren, bis ihr an Altersschwäche sterbt. Jeder von euch weiß, daß ich meine Versprechen halte. Ich gebe euch mein Wort, daß jeder, der ruhig zur Zelle H zurückkehrt, für diesen Ausbruchsversuch nicht bestraft wird. Ihr habt zwei Minuten Zeit. Dann, wie gesagt, erschieße ich den ersten, der hereinkommt.« Morgan hörte seinen eigenen Herzschlag. Eine Sekunde lang hörte man auf der anderen Seite keinen Laut. Dann scharrten Füße über den Boden. »Seid keine Dummköpfe«, fauchte 30718. »Er möchte nur Zeit gewinnen.« Nur einer, betete Morgan leise, ein einziger, der die Stampede auslöste! Er erfuhr nie, wer der eine gewesen war. Als es sehr lange Zeit still gewesen war – bis auf das Stöhnen eines Schwerverwundeten – ging er an die Tür und sah hinaus. Er hatte die Pistole fest in der Hand. Er wußte, daß einer draußen sein würde, der nicht verletzt war. Er hatte sich nicht getäuscht. »Komm her«, sagte er. »Du warst niemals ein Feigling, oder?« »Nein«, sagte 30718. Er kam näher und warf einen Blick auf die Pistole. »Du weißt, daß ich es tun muß«, sagte der Direktor. Der Gefangene lächelte.
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»Sicher«, meinte er. »Gesetz und Ordnung. Sie wären geblieben, wo sie waren, wenn ich sie nicht angetrieben hätte. Sie hatten die Hosen voll. Na ja, wir haben ein paar von euch erwischt, nicht wahr? Wir hätten dich auch erwischt, wenn sie meinen Mut gehabt hätten. Na los, mach schon. Ich schätze, der Staatsanwalt bei meiner Verhandlung hatte recht. Ich bin in die falsche Welt und in die falsche Zeit hineingeboren. Ich bin, was ich bin, und in dieser Welt kann keiner wie ich leben, ohne sich zu ändern. Schieß doch.« »Ist das dein letztes Wort?« fragte der Direktor. »Tut dir überhaupt nichts leid?« »Leid? – Nein – weshalb? Wenn sich mir jemand in den Weg stellt, räume ich ihn weg, wenn ich kann. Ich bin nicht so sentimental wie ihr anderen. Wenn ich deine Pistole erwischen könnte, würde ich sie benutzen. Ich kann es nicht, also mach ein Ende.« Miles Morgan sah seinem Sohn in die Augen und schoß.
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Der Mann, der vermutlich eines Tages als Heinrich der Neunte auf dem englischen Thron sitzen wird, war erst knapp zwanzig Jahre alt. Seine Augen waren die Augen eines Mannes, der nie zu weit von den sorgfältig geplanten offiziellen Wegen abweichen durfte. Als Saunders in dieses stolze, aber müde Gesicht sah, spürte er die grenzenlose und uralte Einsamkeit der Herrschenden …
Seine Majestät der König von ARTHUR C. CLARKE Der Königsthron hier, das gekrönte Eiland, Dies Land der Majestät, der Sitz des Mars … Dies Volk des Segens, diese kleine Welt… Der segensvolle Fleck, dies Reich, dies England. König Richard II., II, I »Wie, zum Teufel, soll ich ihn anreden, wenn er an Bord kommt?« fragte Kapitän Saunders, während er darauf wartete, bis sich die Landerampe ausgefahren hatte. Es entstand ein nachdenkliches Schweigen, als der Kopilot und der Navigationsoffizier diese Frage der Etikette überdachten. Dann blockierte Mitchell die Hauptsteuerung, und die zahllosen Mechanismen des Schiffes verfielen in einen Zustand der Ruhe, als ihnen die Energie genommen wurde. »Die korrekte Anrede ist ›Eure Königliche Hoheit‹«, sagte er schleppend. »Hah!« machte der Kapitän grimmig. »Ich will verdammt sein, wenn ich irgend jemand so anrede!« »Ich glaube, daß in unserem fortschrittlichen Zeitalter ›Sir‹ vollkommen genügt«, kam ihm Chambers zu Hilfe. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Es wurde schon eine Ewigkeit 80
niemand mehr in den Tower gesteckt. Außerdem ist dieser Heinrich ein kleinerer Fisch als der mit den vielen Frauen.« »Was man so hört«, fügte Mitchell hinzu, »ist er ein netter junger Mann. Sogar ziemlich intelligent. Man sagt, daß er den Leuten oft technische Fragen stellt, die sie nicht beantworten können.« Kapitän Saunders dachte nicht über die Konsequenzen dieser Bemerkung nach, da es feststand, daß Mitchell die Erklärung übernehmen würde, wenn der Prinz wissen wollte, wie ein Feldkompensatortrieb-Generator funktionierte. Er erhob sich behutsam – während des Flugs hatten sie mit einem halben g gelebt, und nun, da sie auf der Erde waren, kam er sich wie eine Tonne Ziegelsteine vor – und machte sich auf den Weg durch die Korridore, die zur unteren Luftschleuse führten. Mit einem geölten Schnurren schob sich die gewölbte Tür bei seinem Eintreten zur Seite. Er korrigierte sein Lächeln und ging nach draußen, den Fernsehkameras und dem Erben des englischen Throns entgegen. Der Mann, der vermutlich eines Tages als Heinrich der Neunte auf dem englischen Thron sitzen würde, war erst knappe zwanzig Jahre alt. Er war etwas kleiner als der Durchschnitt und hatte feingeschnittene, regelmäßige Gesichtszüge, die tatsächlich den Klischees des Erbadels entsprachen. Kapitän Saunders, der aus Dallas kam und nicht die Absicht hatte, sich von irgendeinem Prinzen beeindrucken zu lassen, entdeckte zu seiner Überraschung, daß ihn die großen, traurigen Augen rührten. Es waren Augen, die zu viele Empfänge und Paraden gesehen hatten, die unzählige, völlig uninteressante Dinge hatten betrachten müssen, die nie zu weit von den sorgfältig geplanten offiziellen Wegen abweichen durften. Als Kapitän Saunders in dieses stolze, aber müde Gesicht sah, spürte er die grenzenlose und uralte Einsamkeit des Herrschens … Seine ganze Abneigung vor dieser Institution wurde plötzlich belanglos neben ihrem wirklichen Fehler: Es war unfair, die Last der Krone irgendeinem menschlichen Wesen aufzubürden … 81
Die Korridore der Centaurus waren zu eng für eine allgemeine Besichtigung, und es zeigte sich bald, daß Prinz Heinrich gar nichts dagegen hatte, sein Gefolge hinter sich zu lassen. Sobald sie sich durch das Schiff bewegten, verlor Saunders seine Steifheit und Zurückhaltung, und nach ein paar Minuten behandelte er den Prinzen genau wie jeden anderen Besucher. Er merkte nicht, daß es eine der ersten Lektionen eines zukünftigen Königs war, den Leuten die Befangenheit zu nehmen. »Wissen Sie, Kapitän«, sagte der Prinz wehmütig, »es ist ein großer Tag für uns. Ich hatte schon immer gehofft, daß es eines Tages möglich sein würde, Raumschiffe von England aus zu starten. Aber ich kann es immer noch nicht glauben, daß wir nach all den Jahren nun doch einen eigenen Raumhafen haben. Sagen Sie – hatten Sie viel mit Raketen zu tun?« »Nun, ich machte zwar ein paar Übungsflüge mit ihnen, aber sie waren bereits veraltet, bevor ich meine Ausbildung beendete. Ich hatte Glück. Ein paar der älteren Leute mußten noch einmal die Schulbank drücken und von vorne anfangen – oder den Raum ganz aufgeben, wenn sie sich nicht an die neuen Schiffe gewöhnen konnten.« »War der Unterschied so groß?« »O ja – als die Raketen verschwanden, war es wie der Wechsel von Segel- zu Dampfschiffen. Das ist übrigens ein Vergleich, den Sie oft hören werden. Den alten Raketen hing die gleiche Romantik an wie den alten Klippern. Bei diesen modernen Schiffen ist es anders. Wenn die Centaurus startet, geht sie so leise wie ein Ballon hoch – und ebenso langsam, wenn sie will. Aber bei einem Raketenabschuß zitterte der Boden im ganzen Umkreis, und man war tagelang taub, wenn man der Startrampe zu nahe kam. Aber das werden Sie ja von den alten Berichtbändern wissen.« Der Prinz lächelte. »Ja«, sagte er. »Ich habe sie im Palast oft ablaufen lassen. Ich glaube, ich habe mir jedes einzelne Vorkommnis jener Pionier-
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Unternehmungen angesehen. Es tat mir auch leid, als das Raketenzeitalter zu Ende ging. Aber wir hätten hier auf der SalisburyEbene nie einen Raumhafen haben können – die Vibration hätte Stonehenge zum Einsturz gebracht.« »Stonehenge?« erkundigte sich Saunders, als er eine Lukentür aufhielt und den Prinzen in den Laderaum Nummer Drei vorangehen ließ. »Ein altes Monument – einer der berühmtesten Steinzirkel auf der ganzen Welt. Wirklich sehr eindrucksvoll und über dreitausend Jahre alt. Sehen Sie es sich an, wenn Sie können – es ist nur zehn Meilen von hier entfernt.« Kapitän Saunders hatte einige Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Was für ein komisches Land das doch war! Wo sonst, fragte er sich, würde man solche Gegensätze finden? Er kam sich sehr jung und unkultiviert vor, daß bei ihm daheim Alamo zur alten Geschichte gehörte und es in ganz Texas kaum etwas gab, das älter als fünfhundert Jahre war. Zum erstenmal begann er zu spüren, was Tradition bedeutete: Sie gab Prinz Heinrich etwas, das er selbst nie erlangen konnte. Haltung und Selbstvertrauen, jawohl, das war es. Und einen Stolz, der irgendwie frei von Arroganz war, weil er sich selbst für so selbstverständlich nahm, daß er sich nicht erst zu bestätigen brauchte. Es war überraschend, daß Prinz Heinrich es in der halben Stunde, die für die Besichtigung des Frachters vorgesehen war, fertigbrachte, so viele Fragen zu stellen. Es waren nicht die Routinefragen, die die Leute aus Höflichkeit stellten, ohne recht auf die Antworten zu achten. Seine Königliche Hoheit verstand eine Menge von Raumschiffen, und Kapitän Saunders fühlte sich völlig erschöpft, als er seinen hohen Gast an das Empfangskomitee zurückreichte, das mit gut vorgetäuschter Geduld vor der Centaurus gewartet hatte. »Vielen Dank, Kapitän«, sagte der Prinz, als sie sich an der Luftschleuse die Hand gaben. »Ich habe mich schon ewig lange nicht mehr so gut amüsiert. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen 83
Aufenthalt in England und eine erfolgreiche Reise.« Dann brachte ihn sein Gefolge schnell weg, und die Hafenbeamten, die bis dahin nichts hatten tun können, kamen an Bord, um die Schiffspapiere zu prüfen. »Nun«, sagte Mitchell, als alles vorbei war, »was hielten Sie vom Prince of Wales?« »Er hat mich überrascht«, erwiderte Saunders offen. »Ich hätte nie geglaubt, daß er ein Prinz ist. Ich dachte immer, die seien ein wenig dämlich. Aber, verdammich, der kannte die Prinzipien des Feldtriebs! War er schon mal im Raum?« »Einmal, glaube ich. Nur ein kleiner Sprung über die Atmosphäre in einem Schiff der Raumwaffe. Es erreichte nicht einmal eine Umlaufbahn und kam sofort wieder zurück – aber der Premierminister erlitt beinahe einen Schlaganfall. Es gab Anfragen im Unterhaus und Leitartikel in der Times. Jeder war der Meinung, daß der Thronerbe zu wertvoll sei, als daß er Reisen in diesen neumodischen Erfindungen riskieren dürfte. Und obwohl er in der Königlichen Raumflotte den Rang eines Kommodore hat, war er noch nicht einmal auf dem Mond.« »Der arme Kerl«, sagte Kapitän Saunders. Er hatte drei Tage frei, da es nicht die Aufgabe des Kapitäns war, die Beladung und Wartung des Schiffes zu überwachen. Saundens kannte Kapitäne, die ihren Ingenieuren dauernd im Nacken saßen, aber er war nicht der Typ. Außerdem wollte er London sehen. Er war auf Mars und Venus und auf dem Mond gewesen, aber das hier war sein erster Englandbesuch. Mitchell und Chambers gaben ihm eine Menge nützliche Tips und setzten ihn in die Einwegbahn nach London, bevor sie zu ihren Familien flogen. Sie würden einen Tag vor ihm zum Hafen zurückkehren und nachprüfen, ob alles in Ordnung war. Es war eine große Erleichterung, wenn man Offiziere hatte, auf die man sich so unbedingt verlassen konnte; sie waren phantasielos und übervorsichtig, aber so gründlich, daß es schon fast eine Untugend war. Wenn sie sagten, daß alles tadellos war, dann wußte Saunders, daß er ohne Skrupel starten konnte. 84
Der schlanke, stromlinienförmige Wagen fuhr durch die sorgfältig aufgeteilte Landschaft. Er war so nahe am Boden und raste so schnell dahin, daß man nur flüchtige Eindrücke von den Städten und Feldern bekam, die vorbeihuschten. Alles, dachte Saunders, war so zusammengepreßt und hatte solche Zwergenmaßstäbe. Es gab keine offenen Räume, keine Felder, die in irgendeiner Richtung länger als eine Meile waren. Es konnte in einem Texaner Klaustrophobie erzeugen – besonders in einem Texaner, der obendrein Raumpilot war. Die scharf umrissene Silhouette Londons tauchte wie ein Bollwerk am Horizont auf. Mit wenigen Ausnahmen waren die Gebäude niedrig – höchstens fünfzehn oder zwanzig Stockwerke. Die Einwegbahn regte durch einen engen Einschnitt, über einen sehr hübschen Park hinweg, über einen Fluß, der vermutlich die Themse war, bis sie schließlich nach einer gleichmäßigen, starken Bremsung zum Stillstand kam. Ein Lautsprecher kündigte an: »Hier ist Paddington. Reisende nach dem Norden bitte sitzenbleiben.« Saunders holte sein Gepäck aus dem Netz und ging auf den Bahnhof zu. Als er die Untergrundbahn betrat, kam er an einem Bücherstand vorbei und warf einen Blick auf die ausgelegten Zeitschriften. Es schien, daß fast die Hälfte mit Bildern Prinz Heinrichs oder der königlichen Familie geschmückt waren. Das war zuviel, fand Saunders. Er bemerkte auch, daß alle Abendzeitungen Prinz Heinrich beim Betreten oder Verlassen der Centaurus zeigten. Er kaufte sich ein paar Exemplare, um sie in der U-Bahn zu lesen. Die Leitartikel waren von einer monotonen Ähnlichkeit. Endlich, jubilierte man, brauchte sich England nicht mehr als Hinterwäldler unter den raumfahrenden Nationen zu betrachten. Nun sei es möglich, auch eine Raumflotte zu steuern, ohne eine Wüste von einer Million Quadratmeilen zu besitzen. Die leisen, der Schwerkraft trotzenden neuen Schiffe könnten, wenn nötig, auch im Hyde Park landen, ohne auch nur die Enten in ›Serpentine‹ zu beunruhigen. Saunders fand es komisch, daß diese Art des Patriotismus bis in das Raumzeitalter überlebt hatte, 85
aber er konnte sich vorstellen, daß es für die Engländer hart gewesen war, Startrampen bei den Australiern, Amerikanern und Russen benutzen zu müssen. Die Londoner U-Bahn war nach anderthalb Jahrhunderten immer noch das beste Verkehrsmittel der Welt, und sie setzte Saunders zehn Minuten nach seiner Ankunft in Paddington sicher an seinem Ziel ab. Die Centaurus hätte in zehn Minuten fünfzigtausend Meilen zurückgelegt. Aber schließlich war der Raum nicht so übervölkert wie dieses Land hier. Und die Umkreisungsbahnen des Raumschiffes waren bei weitem nicht so mühsam wie die Straßen, durch die Saunders mußte, um sein Hotel zu erreichen. Alle Versuche, London geradezubiegen, waren kläglich fehlgeschlagen, und es dauerte eine Viertelstunde, bis er die letzten hundert Meter seiner Reise zurückgelegt hatte. Er zog die Jacke aus und ließ sich dankbar auf sein Bett sinken. Drei ruhige, sorglose Tage, die ganz ihm gehörten: zu schön, um wahr zu sein. Leider. Er hatte kaum tief Atem geholt, als das Telefon klingelte. »Kapitän Saunders? Ich bin so froh, daß wir Sie gefunden haben. Hier ist B.B.C. Wir haben eine Sendung mit dem Titel ›Abends in London‹ und es wäre sehr nett von Ihnen …« Das Schließen der Luftschleusentür war das süßeste Geräusch, das Saunders seit Tagen gehört hatte. Jetzt befand er sich in Sicherheit. Niemand konnte ihn in seiner gepanzerten Festung erreichen, die sich bald weit draußen in der Freiheit des Raumes befinden würde. Nicht, daß man ihn schlecht behandelt hatte. Ganz im Gegenteil, er war zu gut behandelt worden. Er war viermal (oder waren es fünfmal?) in verschiedenen Fernsehprogrammen aufgetreten. Er war auf mehr Parties gewesen, als er sich merken konnte. Er hatte ein paar hundert neue Freunde gewonnen und (wenigstens hatte er das Gefühl) sämtliche alten vergessen.
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»Wer hat das Gerücht verbreitet, daß die Engländer reserviert und unnahbar sind?« fragte er Mitchell, als sie sich am Hafen trafen. »Der Himmel sei mir gnädig, wenn ich je einem Bilderbuch-Engländer begegne.« »Ich nehme an, daß Sie Ihre Zeit schön verbracht haben«, erwiderte Mitchell. »Fragen Sie mich morgen«, erklärte Saunders. »Dann bin ich wieder normal.« »Ich sah Sie gestern abend bei dem Quiz-Programm«, bemerkte Chambers. »Sie wirkten ziemlich verkrampft.« »Vielen Dank. Das ist genau die Aufmunterung, die ich jetzt brauche. Suchen Sie mal ein Synonym für arid, wenn Sie bis drei Uhr morgens wach werden!« »Trocken«, erwiderte Chambers prompt. »Dürr«, sagte Mitchell, um auch seinen Beitrag zu liefern. »Ich gebe auf. Machen wir die Checks und sehen wir nach, was die Ingenieure alles geleistet haben.« Als Kapitän Saunders am Schaltpult saß, wurde er schnell wieder der Alte. Er war wieder daheim, und die Routine ergriff Besitz von ihm. Er wußte, was er tun mußte, und er würde es mit der Genauigkeit eines Automaten tun. Rechts und links von ihm saßen Mitchell und Chambers, überprüften ihre Instrumente und unterhielten sich mit dem Kontrollturm. Es dauerte eine Stunde, bis sie die umständlichen Tests durchgeführt hatten. Als die letzte Unterschrift unter das letzte Instruktionsblatt gesetzt war und das letzte rote Licht auf dem Monitorpaneel grün geworden war, lehnte sich Saunders in seinem Sitz zurück und zündete sich eine Zigarette an. Sie hatten noch zehn Minuten bis zum Start. »Eines Tages«, sagte er, »komme ich inkognito nach England zurück und versuche herauszufinden, wie der Laden läuft. Ich verstehe nicht, wie ihr so viele Menschen auf eine winzige Insel packen könnt, ohne daß sie sinkt.«
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»Pah!« sagte Chambers verächtlich. »Sie sollten erst mal Holland sehen! Dagegen sieht England wie Texas aus.« »Und dann die Sache mit der königlichen Familie. Denkt mal, wohin ich kam, jeder fragte mich, wie ich mit Prinz Heinrich ausgekommen sei, ob ich nicht auch fände, daß er ein netter Junge sei und so fort. Ehrlich gesagt, ich bekam es allmählich satt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ihr das tausend Jahre ausgehalten habt.« »Glauben Sie nicht, daß die königliche Familie immer so populär war«, erwiderte Mitchell. »Wissen Sie noch, was mit Karl dem Ersten passierte? Und manches, was man sich von den ersten Georges erzählte, war ebenso hart wie die Bemerkungen, die Ihr Volk später machte.« »Wir haben nun mal was für Tradition übrig«, sagte Chambers. »Wir haben durchaus keine Angst, uns umzustellen, wenn die Zeit gekommen ist, aber was die königliche Familie betrifft… na ja, sie ist einmalig, und wir mögen sie gern. Es ist etwas Ähnliches wie bei eurer Freiheitsstatue.« »Kein sehr faires Beispiel. Ich finde es nicht richtig, menschliche Wesen auf ein Podest zu stellen und sie zu behandeln, als wären sie – nun, kleinere Götter. Seht euch nur Prinz Heinrich an. Glaubt ihr, daß er je die Möglichkeit bekommen wird, das zu tun, was ihm gefällt? Als ich in London war, sah ich ihn dreimal im Fernsehen. Das erstemal eröffnete er irgendwo eine Schule. Dann hielt er in der Guildhall eine Ansprache vor der FischhändlerGesellschaft, und dann empfing er die Grußadresse des Bürgermeisters von Buxtehude oder so. Ich möchte lieber im Gefängnis sein, als so ein Leben führen zu müssen. Warum könnt ihr den armen Kerl nicht in Ruhe lassen?« Zum erstenmal widersprach ihm weder Mitchell noch Chambers. Im Gegenteil, es entstand eine etwas frostige Stille. Da hast du es, dachte Saunders. Du hättest dein großes Maul halten sollen. Jetzt hast du ihre Gefühle verletzt. Hättest du dich lieber an den Rat gehalten, den du irgendwo gelesen hast: »Die Eng-
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länder haben zwei Religionen: Cricket und die königliche Familie. Versuchen Sie nie, eine der beiden zu kritisieren.« Die peinliche Stille wurde vom Sprecher des Kontrollturms unterbrochen. »Tower an Centaurus. Flugweg frei. Ihr könnt starten.« »Start erfolgt – jetzt«, erwiderte Saunders und legte den Haupthebel herum. Dann lehnte er sich zurück, die Blicke auf das Instrumentenbrett gerichtet, die Finger zum Schalten bereit Er war angespannt, aber vollkommen zuversichtlich. Bessere Gehirne als das seine – Gehirne aus Metall und Kristallen und Elektronenströmen – kümmerten sich jetzt um die Centaurus. Wenn nötig, konnte er das Kommando übernehmen, aber er hatte bis jetzt noch nie ein Schiff durch Handbedienung gestartet und hoffte auch, daß das nie der Fall sein würde. Wenn die Automatik versagte, würde er den Start rückgängig machen und auf der Erde warten, bis der Schaden behoben war. Das Hauptfeld wurde eingeschaltet, und die Centaurus hatte keine Schwerkraft mehr. Vom Rumpf und den Verstrebungen kamen ächzende Protestgeräusche, als sich die Belastung verteilte. Die geschwungenen Hebearme der Startvorrichtung trugen nun keine Last mehr. Der leiseste Windhauch würde den Frachter in den Himmel tragen. Vom Kontrollturm kam der Befehl: »Instrumente überprüfen. Euer Gewicht ist gleich Null.« Saunders warf einen Blick auf seine Meßgeräte. Der Aufwärtsschub des Feldes mußte jetzt das gleiche Gewicht wie das Schiff haben, und die Ablesungen sollten mit den Zahlen der Ladelisten übereinstimmen. In einem Fall hatte diese Überprüfung sogar die Anwesenheit eines blinden Passagiers an Bord verraten – so empfindlich waren die Meßgeräte. »Eine Million fünfhundertsechzigtausendvierhundertzwanzig Kilogramm«, las Saunders von den Schubinstrumenten ab. »Ziemlich genau. Stimmt bis auf fünfzehn Kilo. Aber es kommt zum erstenmal vor, daß wir Untergewicht haben. Sie hätten Ihrem 89
Pummelchen von Port Lowell ruhig noch ein paar Pfund Süßigkeiten mitnehmen können, Mitch.« Der Kopilot grinste schwach. Seit jenem unbesonnenen Rendezvous auf dem Mars wurde er den Ruf nicht mehr los, eine Schwäche für dralle Blondinen zu haben. Man spürte nichts, doch die Centaurus erhob sich nun in den Sommerhimmel. Ihr Gewicht war nicht nur aufgehoben, sondern wirkte jetzt in entgegengesetzter Richtung. Für die Beobachter auf der Erde war sie ein schnell aufsteigender Beobachter, eine Silberkapsel, die durch die Wolken drang. Das Blau um sie wurde immer tiefer, bis es die ewige Dunkelheit des Raumes erreicht hatte. Wie eine Perle auf einer unsichtbaren Schnur folgte der Frachter dem Schema der Radiowellen, die ihn von Welt zu Welt dirigieren würden. Es war sein sechsundzwanzigster Start von der Erde, dachte Kapitän Saunders. Aber das Wunder war immer wieder neu, und er erlebte immer wieder das Machtgefühl, hier am Steuer zu sitzen, Herr über Kräfte, von denen die alten Götter der Menschheit nicht einmal zu träumen gewagt hatten. Keine zwei Starts waren sich gleich. Einige erfolgten in die Dämmerung, einige in den Sonnenuntergang, einige durch die Wolkenvorhänge der Erde, einige in klare, sternglänzende Firmamente. Der Raum selbst blieb vielleicht unverändert, aber die Erde war nie gleich, und kein Mensch sah je die gleiche Landschaft oder den gleichen Himmel. Da unten wanderten die Wellen des Atlantiks ewig auf Europa zu, und hoch über ihnen – aber so weit unter der Centaurus – liefen die schimmernden Wolkenbänder vor den gleichen Winden her. England begann mit dem Kontinent zu verschmelzen, und die europäische Küstenlinie wirkte verkürzt und verschwommen, als sie über den Horizont hinunterrutschte. Ganz im Westen deutete ein flüchtiger Klecks auf das Näherkommen Amerikas hin. Mit einem einzigen Blick erfaßte Kapitän Saunders all die Meilen, durch die sich vor mehr als fünfhundert Jahren Kolumbus gequält hatte.
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Das Schiff schüttelte die letzten Fesseln der Erde ab. Ein Außenbeobachter hätte als Zeichen des Energieverbrauchs lediglich das rötliche Glühen der Kühlerrippen um den Mittelteil des Schiffes bemerkt. Hier trat die freiwerdende Wärme der Materiekonverter aus und wurde in den Raum abgestahlt. »14,03,45«, schrieb Kapitän Saunders säuberlich in das Logbuch. »Beschleunigung zur Überwindung der Erdanziehung erreicht. Kursabweichung kann vernachlässigt werden.« Es war eigentlich ziemlich bedeutungslos, das niederzuschreiben. Die bescheidenen fünfundzwanzigtausend Meilen pro Stunde, die das beinahe unerreichte Ziel der ersten Astronauten gewesen waren, hatten jetzt keinerlei praktische Bedeutung, da die Centaurus immer noch beschleunigte und es auch während der nächsten Stunden tun würde. Aber die psychologische Bedeutung war groß. Wenn bis hierher die Energie ausgesetzt hätte, wären sie auf die Erde zurückgefallen. Aber nun konnte sie die Schwerkraft nicht mehr zurückholen. Sie hatten die Freiheit des Raumes erreicht und konnten sich aussuchen, auf welchem Planeten sie landen wollten. In der Praxis hätten sie sich natürlich auf einiges gefaßt machen können, wenn sie nicht auf Mars gelandet und dort planmäßig ihre Fracht abgeladen hätten. Aber Kapitän Saunders war wie alle Raumfahrer im Grunde seines Herzens ein Romantiker. Selbst bei einem Routineeinsatz wie diesem träumte er manchmal von den prachtvollen Ringen des Saturn oder den düsteren Wüsten Neptuns, die von den fernen Strahlen der zusammengeschrumpften Sonne erhellt wurden. Eine Stunde nach dem Start überließ Saunders den Kurscomputer sich selbst und holte die drei Gläser hervor, die ihren Platz unter dem Kartentisch hatten. Als er den traditionellen Toast auf Newton, Oberth und Einstein aussprach, überlegte Saunders, wie dieses kleine Ritual entstanden war. Sämtliche Raummannschaften der letzten sechzig Jahre taten das gleiche. Vielleicht konnte man es von jenem legendären Raketeningenieur ableiten, der die Bemerkung gemacht hatte: »Ich habe in sechzig
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Sekunden mehr Alkohol verbrannt, als Sie je in Ihrer lausigen Bar verkauft haben!« Zwei Stunden später waren die letzten Kurskorrekturen, die die Erdstation ihnen melden konnten, in den Computer gespeist. Von jetzt an waren sie auf sich selbst angewiesen, bis Mars in Sicht kam. Es war ein erhebender Gedanke. Saunders ließ ihn sich durch den Kopf gehen. Nur sie drei waren hier – und sonst niemand im Umkreis von einer Million Meilen. Unter diesen Umständen hätte die Detonation einer Atombombe kaum niederschmetternder sein können als das bescheidene Klopfen an der Kabinentür. Kapitän Saunders war noch nie im Leben so verwirrt gewesen. Mit einem Aufschrei schoß er aus seinem Sitz hoch. Er schwebte einen Meter über dem Boden, bis ihn das Restmagnetfeld des Schiffes zurückholte. Chambers und Mitchell hingegen reagierten mit dem üblichen englischen Phlegma. Sie drehten sich in ihren Schalensitzen herum, sahen zur Tür und warteten darauf, daß der Kapitän etwas unternahm. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich Saunders erholt hatte. Wenn man ihn mit einer normalen Notsituation konfrontiert hätte, hätte er jetzt schon halb in einem Raumanzug gesteckt. Aber ein schüchternes Klopfen an der Tür des Steuerraums, wenn sich alle Anwesenden in eben diesem Raum befanden, war kein fairer Test. Ein blinder Passagier war einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Die Gefahr war von den Anfängen der Handelsraumfahrt an so offensichtlich gewesen, daß man einschneidende Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatte. Saunders wußte, daß einer seiner Offiziere während des Ladevorgangs immer anwesend war. Niemand konnte sich unbemerkt eingeschlichen haben. Dann war noch die gründliche Inspektion vor dem Start da, die Mitchell und Chambers gemeinsam durchführten. Und schließlich hatte er noch einen Moment vor dem Start die Gewichtskontrolle durchgeführt. Das war entscheidend. Nein, ein blinder Passagier war ein Ding der Unmöglichkeit… 92
Das Klopfen an der Tür wiederholte sich. Kapitän Saunders ballte die Fäuste und schob das Kinn vor. In ein paar Minuten, dachte er, würde irgendein romantischer Idiot seine Tat schwer bereuen. »Machen Sie auf, Mr. Mitchell«, knurrte Saunders. Mit einem einzigen langen Schritt durchquerte der Kopilot die Kabine und riß die Luke auf. Eine ganze Ewigkeit, so schien es, sprach niemand ein Wort. Dann kam der blinde Passagier in die Kabine. Er schwankte leicht in der niedrigen Schwerkraft. Er war vollkommen selbstbeherrscht und schien sehr zufrieden mit sich selbst. »Guten Tag, Kapitän Saunders«, sagte er. »Ich muß mich für mein Eindringen entschuldigen.« Saunders schluckte schwer. Dann, als sich die Bruchstücke zu einem Bild formten, sah er erst Mitchell und dann Chambers an. Beide Offiziere erwiderten seinen Blick mit dem Ausdruck treuherziger Offenheit und völliger Unschuld. »So ist das also«, sagte er bitter. Er brauchte keine Erklärungen. Alles war vollkommen klar. Es war leicht, sich die komplizierten Verhandlungen vorzustellen, die Mitternachtszusammenkünfte, das Fälschen der Aufzeichnungen, das Abladen unwichtiger Dinge, das seine Vertrauten hinter seinem Rücken besorgt hatten. Er war überzeugt davon, daß es eine interessante Geschichte war, aber er wollte sie jetzt nicht hören. Er war zu sehr mit der Überlegung beschäftigt, was das Handbuch des Raumgesetzes zu einer Situation wie dieser sagen würde, obwohl er schon zu dem düsteren Schluß gekommen war, daß es ihm überhaupt nichts nützen würde. Zum Umkehren war es natürlich zu spät. Die Verschwörer hatten keinen elementaren Rechenfehler begangen. Er würde eben das beste aus dieser Reise machen müssen, die zugleich seine schwierigste zu werden versprach.
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Er überlegte immer noch, was er sagen könnte, als das DRINGEND-Signal an der Funkanlage aufleuchtete. Der blinde Passagier warf einen Blick auf seine Uhr. »Das hatte ich erwartet«, sagte er. »Es ist wahrscheinlich der Premierminister. Ich glaube, ich spreche am besten mit dem Armen.« Saunders war ganz seiner Meinung. »Bitte, Königliche Hoheit«, sagte er gereizt. Es war natürlich der Premierminister, und seine Stimme klang sehr aufgeregt. Ein paarmal benutzte er den Satz »Ihre Pflicht dem Volk gegenüber«, und einmal war ein deutliches Stocken zu vernehmen, als er etwas von der ›Liebe Eurer Untertanen zur Krone‹ sagte. Während dieser Gefühltiraden beugte sich Mitchell zu Saunders und flüsterte ihm ins Ohr: »Der alte Knabe ist in einer heiklen Lage, und er weiß es. Das Volk wird sich hinter den Prinzen stellen, wenn es hört, was geschehen ist. Jeder weiß, daß er schon seit Jahren in den Raum will.« »Pst!« machte Chambers. Der Prinz sprach, und seine Worte flogen über den Abgrund, der ihn jetzt von der Insel, seinem zukünftigen Reich, trennte. »Es tut mir leid, Herr Premierminister, wenn ich Sie beunruhigt habe«, sagte er. »Ich komme zurück, sobald ich es für richtig halte. Jemand muß etwas zum erstenmal tun, und ich hatte das Gefühl, daß es für ein Mitglied unserer Familie höchste Zeit wurde, die Erde zu verlassen. Meine Urgroßväter waren Seeleute, bevor sie Könige eines Seefahrervolkes wurden. Es wird ein wertvoller Beitrag zu meiner Ausbildung sein und wird mich auf meine Pflichten vorbereiten. Leben Sie wohl.« Er legte das Mikrophon hin und ging zur Beobachtungsluke – der einzigen Luke im ganzen Schiff, durch die man in den Raum hinaussah. Saunders beobachtete ihn, wie er so dastand – stolz und einsam, aber zufrieden. 94
Lange Zeit sprach niemand ein Wort. Dann riß Prinz Heinrich seinen Blick von der blendenden Pracht jenseits des Fensters los, sah Kapitän Saunders an und lächelte. »Wo ist die Kombüse, Kapitän?« fragte er. »Ich habe vielleicht keine Übung mehr, aber als Pfadfinder war ich der beste Koch meiner Gruppe.« Saunders erwiderte das Lächeln. Die Spannung im Kontrollraum schien nachzulassen. Mars war immer noch weit weg, aber er wußte jetzt, daß die Reise gar nicht so schlimm werden konnte.
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Das ist eine Geschichte unserer Zeiten und doch nicht ganz unserer Zeiten. Irgendwo – irgendwie – machte die Geschichte einen Schnitzer, und nun gibt es Herrscher – Herrscher über Menschen mit dem Verstand von Menschen – die sich auf ältere Kräfte verlassen, als wir sie kennen …
Der Augentest RANDALL GARRETT Sir Pierre Morlaix, Kavalier des Angevin-Reiches, Ritter des Goldenen Leoparden und Privatsekretär von Mylord Comte d' Evreux, schlug die Spitzenmanschette zurück, um einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen – drei Minuten vor sieben. Der Angelus war um sechs geläutet worden, wie immer, und Mylord Comte d'Evreux war davon wach geworden, wie immer. Einmal, fiel ihm ein, hatte der Sakristan vergessen, die Glocke zu läuten, und der Comte war eine Woche lang wütend gewesen. Nur die Fürbitte Pater Brights, unterstützt vom Bischof selbst, hatte den Sakristan davor bewahrt, in die Kerker des Schlosses von Evreux zu wandern. Sir Pierre trat auf den Korridor hinaus, ging über die mit Teppichen bedeckten Fliesen und sah sich mit geübtem Auge um, während er voranschritt. Diese alten Schlösser waren nicht leicht sauberzuhalten, und Mylord Comte d'Evreux war kleinlich, wenn er Salpeteransammlungen in den Ritzen der Wände entdeckte. Alles schien in Ordnung zu sein, und das war gut. Mylord hatte den letzten Abend reichlich ausgedehnt, und da war er am nächsten Morgen dann umso grämlicher. Obwohl er immer beim Angelusläuten aufwachte, wachte er nicht immer nüchtern auf. Sir Pierre blieb vor einer schweren, abgeschliffenen Tür mit Eichenschnitzereien stehen, wählte einen der vielen Schlüssel an seinem Gürtel und drehte ihn im Schlüsselloch herum. Dann 96
betrat er den Aufzug, und die Tür schloß sich von selbst hinter ihm. Er drückte auf den Schalter und wartete mit geduldigem Schweigen, während er vier Stockwerke zur persönlichen Suite des Comte hinaufgetragen wurde. Nun würde Mylord bereits gebadet, rasiert und angekleidet sein. Er würde auch schon seinen Erfrischungstrunk, ein halbes Glas delikaten Champagne-Brandys, gekippt haben. Sein Frühstück aß er nicht vor acht. Der Comte hatte keinen Kammerdiener im eigentlichen Sinn des Wortes. Sir Reginald Beauvay hatte diesen Titel inne, aber er war noch nie aufgefordert worden, die intimeren Pflichten seines Amtes auszuüben. Der Comte ließ sich nicht gern sehen, wenn er nicht ordentlich hergerichtet war. Der Aufzug hielt an. Sir Pierre trat in den Korridor hinaus und ging bis zur Tür am anderen Ende. Um genau sieben Uhr klopfte er scharf an der großen Tür, die das bunte, mit Gold verzierte Wappen des Hauses Evreux trug. Zum erstenmal seit siebzehn Jahren kam keine Antwort. Sir Pierre wartete eine volle Minute auf die geknurrte Aufforderung zum Eintreten. Er glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Dann, beinahe schüchtern, klopfte er wieder. Es kam immer noch keine Antwort. Sir Pierre machte sich auf den Hagel von Schimpfworten gefaßt, die ihn erwarteten, falls er sich getäuscht hatte, drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür, als habe ihn der Comte zum Eintreten aufgefordert. »Guten Morgen, Herr«, sagte er wie immer seit siebzehn Jahren. Aber das Zimmer war leer, und es kam keine Antwort. Er sah sich in dem großen Zimmer um. Die Morgensonne strömte durch die hohen, vielfach unterteilten Fenster und warf ein Karomuster an den Gobelin der gegenüberliegenden Wand. Die herrliche Jagdszene leuchtete in vollen Farben. »Herr?«
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Nichts. Kein Laut. Die Tür zum Schlafzimmer war offen. Sir Pierre ging hinein und sah sich um. Er erkannte sofort, weshalb der Comte nicht geantwortet hatte, und daß er, um die Wahrheit zu sagen, nie wieder antworten würde. Mylord, der Comte, lag flach auf dem Rücken, die Arme weit ausgebreitet, die Augen starr zur Decke gerichtet. Er trug noch seine gold- und scharlachroten Gewänder vom Abend zuvor. Aber der große Fleck auf der Vorderseite seines Rocks hatte nicht die gleiche rote Farbe wie das übrige Tuch, und im Zentrum des Flecks war das Loch einer Kugel. Sir Pierre sah ihn lange an, ohne sich zu rühren. Dann trat er näher, kniete nieder und berührte eine der Hände des Comte mit seinem Handrücken. Sie war ganz kalt. Er mußte schon seit Stunden tot sein. »Ich wußte, daß Sie jemand früher oder später beseitigen würde, Herr«, sagte Sir Pierre, fast bedauernd. Dann erhob er sich aus seiner knienden Stellung und ging hinaus, ohne noch einen Blick auf den toten Herrn zu werfen. Er versperrte die Tür zur Suite, steckte den Schlüssel ein und ging zurück zum Aufzug. Mary, Lady Duncan, starrte durch das Fenster in die Morgensonne und überlegte, was sie tun sollte. Die Angelus-Glocke hatte sie aus einem unruhigen Schlaf in ihrem Sessel geweckt, und sie wußte, daß sie als Gast des Schlosses Evreux heute morgen wieder in der Messe erscheinen mußte. Man erwartete es von ihr. Aber wie konnte sie? Wie konnte sie in das Antlitz des Heiligen Herrn am Altar sehen – oder gar Sein Sakrament nehmen? Dennoch, es wäre zu auffällig, wenn sie sich an diesem Morgen nicht zeigte, nachdem sie während der ersten vier Tage ihres Besuches jeden Morgen mit Lady Alice in der Kirche erschienen war. 98
Sie drehte sich um und warf einen Blick auf die versperrte und verriegelte Tür des Schlafzimmers. Von ihm erwartete keiner, daß er kam. Laird Duncan benutzte den Rollstuhl als Ausrede, aber seit er die Schwarze Magie als Hobby betrieb, hatte sie den Verdacht, daß er sich fürchtete, in die Nähe einer Kirche zu kommen. Wenn sie ihn nur nicht belogen hätte! Aber wie konnte sie ihm die Wahrheit sagen? Das wäre schlimmer gewesen – ungleich schlimmer. Und jetzt hatte er sich wegen dieser Lüge ins Schlafzimmer eingeschlossen und tat weiß Gott – oder weiß der Teufel – was. Wenn er nur herauskommen wollte! Wenn er nur endlich zum Ende käme! Er hatte nun schon seit Stunden gearbeitet. Einmal mußte er doch fertig sein. Dann konnten sie Evreux verlassen – eine Ausrede, irgendeine Ausrede, erfinden und verschwinden. Einer von ihnen könnte sich krank stellen. Etwas, irgend etwas, um sie von Frankreich wegzubringen, über den Kanal, zurück nach Schottland, wo sie in Sicherheit waren. Sie sah wieder aus dem Fenster, über den Hof, zu dem mächtigen Steinwall des Großen Bergfrieds und zum hohen Fenster, das zur Suite Edouards, Comte d'Evreux gehörte. Letzte Nacht hatte sie ihn gehaßt, aber jetzt nicht mehr. Jetzt war in ihrem Innern nur noch Raum für die Angst. Sie vergrub das Gesicht in den Händen und verfluchte ihren Wahnsinn. Weinen konnte sie nicht mehr – nicht nach der langen Nacht. Plötzlich hörte sie, daß hinter ihr ein Schlüssel herumgedreht wurde, und sie wandte sich um. Laird Duncan von Duncan öffnete die Tür und schob sich auf seinem Rollstuhl herein. Aus dem Raum, den er soeben verlassen hatte, drangen übelriechende Dampfschwaden. Lady Duncan starrte ihn an. Er sah älter aus als letzten Abend, hagerer und müder, und in seinen Augen war etwas, das ihr nicht gefiel. Einen Moment lang 99
schwieg er. Dann befeuchtete er seine Lippen mit der Zungenspitze. Als er sprach, klang seine Stimme wie aus weiter Ferne. »Du brauchst nichts mehr zu befürchten«, sagte er. »Überhaupt nichts mehr.« Pater James Valois Bright, Vikar der Kapelle von Saint-Esprit, war der Hirte der paar hundert Bewohner des Schlosses Evreux. Als solcher war er der erste Priester – in der gesellschaftlichen, nicht der hierarchischen Ordnung – des ganzen Landstrichs. Abgesehen natürlich vom Bischof und dem Domkapitel. Aber dieses Wissen gab dem Pater keinen Seelenfrieden. Seine Herde war nur kläglich vertreten – besonders bei den Werktagsmessen. Die Sonntagsmessen waren natürlich gut besucht. Comte d'Evreux tauchte jeden Sonntag um Punkt neun Uhr auf, und er hatte die Gewohnheit, die Besucher zu zählen. Aber an Werktagen zeigte er sich nie, und seine Bequemlichkeit hatte dazu geführt, daß auch die unteren Schichten bequem wurden. Der große Trost war Lady Alice d'Evreux. Sie war ein schlichtes, einfaches Mädchen, fast zwanzig Jahre jünger als ihr Bruder, der Comte, und in allem ganz das Gegenteil von ihm. Sie blieb ruhig, wenn er loswetterte, sie kleidete sich bescheiden, wo er den Prunk liebte, sie blieb gemäßigt, wenn er zuviel trank, keusch, wo er… Pater Bright unterbrach seine Gedanken gewaltsam. Er ermahnte sich, daß er nicht das Recht hatte, irgendjemand zu verurteilen. Schließlich war er nicht der Beichtvater des Comte. Das war der Bischof. Außerdem hätte er sich auf sein Gebet konzentrieren sollen. Er machte eine Pause und stellte ziemlich überrascht fest, daß er bereits die Albe, das Schultertuch und den Gürtel trug. Er merkte, daß seine Lippen dabei die Begleitgebete gemurmelt hatten. Gewohnheit, dachte er, kann die innere Einkehr zerstören.
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Er sah sich in der Sakristei um. Sein Ministrant, der jugendliche Sohn des Comte von Saint-Brieuc, der hierhergekommen war, um seine Erziehung als Edelmann zu vervollständigen und der eines Tages der Gouverneur des Königs in einem der wichtigsten Landstriche der Bretagne sein würde, zog sein Meßgewand über den Kopf. Die Uhr zeigte elf Minuten nach sieben an. Pater Bright zwang seine Gedanken himmelwärts und wiederholte im stillen die Gebete, die seine Lippen während der Ankleidungszeremonie gedankenlos geformt hatten. Diesmal konzentrierte er sich. Dann bat er in einem kurzen Gebet Gott um Verzeihung, daß seine Gedanken so abgeschweift waren. Er öffnete die Augen und griff nach dem Meßgewand, als sich die Sakristeitür öffnete und Sir Pierre, der Privatsekretär des Comte, hereinkam. »Ich muß Sie sprechen, Pater«, sagte er leise, und nach einem Blick auf den jungen Saint-Brieuc fügte er hinzu: »Unter vier Augen.« Normalerweise hätte Pater Bright jeden getadelt, der es wagte, in die Sakristei einzudringen, während er sich für die Messe kleidete, aber er wußte, daß ihn Sir Pierre nicht ohne wichtigen Grund stören würde. So nickte er und trat in den Korridor, der zum Altar führte. »Was gibt es, Pierre?« fragte er. »Mylord, der Comte, ist tot. Ermordet.« Nach dem ersten Schock merkte Pater Bright, daß die Nachricht nicht völlig unerwartet für ihn kam. Irgendwie hatte er im Innern anscheinend immer gewußt, daß der Comte eines gewaltsamen Todes sterben würde, lange bevor sein ausschweifendes Leben seine Gesundheit ruinierte. »Erzählen Sie«, sagte er ruhig. Sir Pierre berichtete in allen Einzelheiten, was er getan und was er gesehen hatte. »Dann versperrte ich die Tür und kam direkt hierher«, erklärte er dem Priester. 101
»Wer sonst hat einen Schlüssel zur Suite des Comte?« fragte Pater Bright. »Niemand, außer mein Herr selbst«, erwiderte Sir Pierre. »Zumindest, soviel ich weiß.« »Wo ist sein Schlüssel?« »Noch am Schlüsselring an seinem Gürtel. Ich habe das besonders bemerkt.« »Sehr gut. Wir lassen die Tür verschlossen. Sind Sie sicher, daß der Körper erkaltet war?« »Kalt und wächsern, Pater.« »Dann ist er seit vielen Stunden tot.« »Wir müssen es Lady Alice sagen«, meinte Sir Pierre. Pater Bright nickte. »Ja. Komteß d'Evreux muß von ihrer Nachfolge benachrichtigt werden.« Er konnte an dem kurzen, verständnislosen Blick Sir Pierres erkennen, daß der Privatsekretär die Folgen des Todes noch nicht ganz begriffen hatte. »Ich sage es ihr, Pierre. Sie müßte bereits in ihrem Kirchenstuhl sein. Gehen Sie einfach in die Kirche und sagen Sie ihr leise, daß ich sie sprechen möchte. Sagen Sie ihr sonst nichts.« Es waren fünfundzwanzig oder höchstens dreißig Leute im Kirchengestühl – hauptsächlich Frauen –, aber Komteß Alice d'Evreux war nicht unter ihnen. Sir Pierre ging leise und unauffällig durch das Seitenschiff und zur Vorhalle. Sie stand dort, direkt innerhalb des Hauptportals und richtete die schwarze Spitzenmantille, die sie um den Kopf geschlagen hatte. Plötzlich war Sir Pierre sehr froh, daß er ihr nicht die Nachricht übermitteln mußte. Sie sah ziemlich traurig aus, wie gewöhnlich. Ihr unscheinbares Gesicht lächelte selten. Die vorspringende Nase und das eckigt Kinn, die ihrem Bruder, dem Comte, ein herausforderndes Aussehen gegeben hatten, ließen sie ziemlich unweiblich aussehen, obwohl sie eine hervorragende Figur hatte.
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»Mylady«, sagte Sir Pierre und trat auf sie zu, »der Pater würde Sie gern noch vor der Messe sprechen. Er erwartet Sie an der Sakristeitür.« Sie hielt ihren Rosenkranz gegen die Brust gepreßt und zuckte leicht zusammen. Dann sagte sie: »Oh, Sir Pierre, verzeihen Sie. Sie haben mich erschreckt. Ich sah Sie gar nicht kommen.« »Entschuldigen Sie, Mylady.« »Schon gut. Meine Gedanken waren anderswo. Könnten Sie mich zum Pater bringen?« Pater Bright hörte ihre Schritte im Gang, bevor er sie sah. Er war ein wenig nervös, weil die Messe schon vor einer Minut« hätte beginnen sollen. Er fing immer pünktlich um Viertel nach sieben an. Komteß d'Evreux nahm die Nachricht ruhig auf, wie er ei erwartet hatte. Nach einer Pause bekreuzigte sie sich und sagte: »Seine Seele ruhe in Frieden! Ich überlasse alles Ihnen, Pater, und Sir Pierre. Was sollen wir tun?« »Pierre muß sich per Telefon sofort mit Rouen in Verbindung setzen und die Sache Seiner Hoheit berichten. Ich werde den Tod Ihres Bruders verkünden und um Gebete für sein Seelenheil bitten – aber ich glaube, ich brauche nichts von der Art seines Todes bekanntgeben. Warum sollen wir mehr Gerüchten als nötig Nahrung geben?« »Sehr gut«, sagte die Komteß. »Kommen Sie, Sir Pierre. Ich möchte selbst mit meinem Vetter, dem Herzog, sprechen.« »Natürlich, Mylady.« Pater Bright kehrte in die Sakristei zurück, öffnete das Meßbuch und merkte andere Stellen als zuvor mit den farbigen Bändern ein. Heute war ein gewöhnlicher Wochentag. Eine Seelenmesse war nicht verboten. Die Uhr zeigte sieben Uhr siebzehn. Er wandte sich dem jungen Saint-Brieuc zu, der respektvoll wartete. »Schnell, mein Sohn – hol die ungebleichten Bienenwachskerzen und stelle sie auf den Altar. Und zünde sie an, bevor du die weißen ausmachst. Beeil dich. Bis du 103
zurückkommst, bin ich auch fertig. Ach ja – du mußt auch das Altartuch wechseln. Nimm das schwarze.« »Ja, Pater.« Und der Junge ging. Pater Bright faltete das grüne Meßgewand zusammen und legte es wieder in die Schublade, dann holte er das schwarze heraus. Er würde ein Requiem für die Seelen aller gläubig Verstorbenen abhalten – und hoffen, daß der Comte unter ihnen war. Seine Königliche Hoheit, der Herzog der Normandie, betrachtete den offiziellen Brief, den sein Sekretär soeben geschrieben hatte. Er war gerichtet an den Serenissimus Dominus Noster Iohannes Quartus, Dei Gratia, Angliae, Franciae, Scotiae, Hiberniae, Novae Tranciae, et Novae Angliae, Rex, Imperator, Fidei Defensor… An ›Unseren allerdurchlauchtigsten Herrn, Johann IV., König und Herrscher durch Gottes Gnaden von England, Frankreich, Schottland, Irland, Neufrankreich und Neuengland, Verteidiger des Glaubens …‹ Es war eine Routineangelegenheit. Die einfache Nachricht an seinen Bruder, den König, daß sein treuester Diener, Edouard Comte d'Evreux verschieden war, und die Bitte um die Bestätigung Seiner Majestät, daß die gesetzliche Erbin des Comte, Alice Komteß d'Evreux, seine Nachfolgerin war. Seine Hoheit las zu Ende, nickte und kritzelte seine Unterschrift darunter: Ricardus Dux Normaniae. Dann schrieb er auf ein gesondertes Blatt: »Lieber John, darf ich Dir den Vorschlag machen, das alles ein wenig zu verzögern? Edouard war ein Wüstling und ein Dreckskerl, und er hat zweifellos bekommen, was er verdient hat, aber wir haben noch keine Ahnung, wer ihn umbrachte. Bis jetzt könnte sogar Alice es getan haben. Ich schreibe Dir Näheres, sobald ich etwas erfahre. Dein Bruder und Diener, Richard.« Er steckte beide Briefe in einen vorbereiteten Umschlag und versiegelte ihn. Er hätte den König am liebsten per Telefon ver-
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ständigt, aber bisher war noch niemand dahintergekommen, wie man die Drähte über den Kanal verlegen könnte. Er starrte geistesabwesend den Umschlag an. Seine hübschen Gesichtszüge wirkten nachdenklich. Das Haus Plantagenet hatte achthundert Jahre durchgehalten, und das Blut Heinrichs von Anjou lief dünn in seinen Adern, aber der normannische Zug war so stark wie js zuvor, da man im Laufe der Jahrhunderte Blutauffrischungen von dänischen und norwegischen Prinzessinnen erhalten hatte. Königin Helga, die Frau des verstorbenen Heinrich X., sprach nur wenige Worte Anglofranzösisch und diese mit einem starken norwegischen Akzent. Dennoch war nichts Skandinavisches in der Sprache oder Haltung Richards, des Herzogs der Normandie. Er war nicht nur ein Mitglied der ältesten und mächtigsten Herrscherfamilie Europas, sondern trug obendrein einen Vornamen, der auch in dieser Familie etwas bedeutete. Sieben Könige des Reiches hatten diesen Namen getragen, und die meisten von ihnen waren gute Herrscher gewesen – wenn man gut auch nicht als nett und freundlich verstehen durfte. Selbst der alte Richard I., der während seiner ersten vierzig Lebensjahre ein ziemlich wilder Bursche gewesen war, hatte in den nächsten zwanzig Jahren das Königtum ordentlich verwaltet. Die lange und schmerzhafte Heilung der Wunde, die er bei der Belagerung von Chaluz erlitten hatte, war maßgeblich an seiner Besserung beteiligt gewesen. Es bestand die Möglichkeit, daß Herzog Richard seinem Namen als König Ehre machen durfte. Es war gesetzlich verankert, daß das Parlament einen Plantagenet als Nachfolger des verstorbenen Königs wählen mußte, und obwohl es wahrscheinlicher war, daß einer der beiden Königssöhne, der Prinz von Wales oder der Herzog von Lancaster, auf den Thron kamen, so war er doch von der Nachfolge nicht ausgeschlossen. Inzwischen wollte er die Ehre seines Namens als Herzog der Normandie hochhalten. Es war ein Mord geschehen. Er mußte für Gerechtigkeit sorgen. Der Comte d'Evreux war für seine strenge, aber gerechte 105
Justiz fast ebenso berühmt gewesen wie für sein Lasterleben. Und ebenso wenig, wie er sich in seinen Vergnügungen gemäßigt hatte, ebenso wenig hatte er in seiner Rechtsprechung Gnade gekannt. Wer ihn getötet hatte, sollte Gerechtigkeit und Gnade bekommen – soweit es in der Macht Richards stand. Obwohl Richard es nicht ausdrücklich sagte und nicht einmal bis zu Ende dachte, war er der Meinung, daß eine verführte Frau oder ein betrogener Ehemann den tödlichen Schuß abgefeuert hatte. So war er dem Täter milde gesinnt, bevor er ihn überhaupt kannte. Richard ließ den Brief, den er immer noch in der Hand hielt, in die vorbereitete Posttasche fallen, die zu dem Abendpaket über den Kanal gelegt werden sollte. Dann drehte er sich in seinem Stuhl um und sah den hageren Mann an, der an einem Schreibtisch am anderen Ende des Raumes arbeitete. »Marquis?« sagte er nachdenklich. »Ja, Hoheit?« Der Marquis von Rouen sah auf. »Inwieweit stimmen die Geschichten, die man über den verstorbenen Comte hört?« Der Marquis überlegte genau, bevor er antwortete. »Ich möchte mich nicht in Prozentzahlen ausdrücken. Sobald ein Mann in diesen Ruf kommt, übersteigt die Zahl der ihm angelasteten Sünden schnell die der tatsächlich begangenen. Zweifellos sind viele der Geschichten, von denen man hört, wahr. Andere hingegen haben keine feste Basis. Doch gibt es sehr wahrscheinlich eine Menge Dinge, die uns nie zu Ohren gekommen sind. Es ist auf alle Fälle absolut sicher, daß er sieben uneheliche Söhne anerkannt hat, und ich wage zu behaupten, daß er dabei ein paar Töchter übersehen hat – und diese von unverheirateten Frauen, wohlgemerkt. Seine ehebrecherischen Beziehungen sind weit schwerer festzustellen, aber ich glaube, daß Eure Hoheit diese Eskapaden als etwas völlig Normales bei ihm betrachten kann.«
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Er räusperte sich und fügte dann hinzu: »Wenn Eure Hoheit nach einem Tatgrund suchen – ich fürchte, es gibt eine Unzahl von Personen, die einen Tatgrund haben.« »Ich verstehe«, sagte der Herzog. »Nun, wir müssen eben abwarten, was uns Lord Darcy bringen wird.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Sie müßten jetzt schon dort sein.« Dann, als wollte er weitere Gedanken zu diesem Thema abwehren, ging er wieder an die Arbeit und holte sich ein neues Bündel Staatspapiere vom Schreibtisch. Der Marquis beobachtete ihn einen Moment und lächelte ein wenig vor sich hin. Der junge Herzog nahm seine Arbeit ernst, aber er übertrieb nicht. Fast ein wenig romantisch – aber wer war das mit neunzehn nicht? Man konnte weder an seinen Fähigkeiten noch an seinem Adel zweifeln. Das königlich englische Blut kam eben immer durch. »Mylady«, sagte Sir Pierre vorsichtig, »die Untersuchungsbeamten des Herzogs sind angekommen.« Mylady, Komteß Alice d'Evreux saß in einem Polsterstuhl mit Goldbrokatbezug in dem kleinen Empfangszimmer neben dem großen Saal. In ihrer Nähe stand mit sehr ernstem Gesicht Pater Bright. Gegen die leuchtenden Farben an den Wänden wirkten die beiden wie zwei Tuschekleckse. Pater Bright trug seinen normalen schwarzen Priesterhabit, nur durch den weißen Kragen und die weißen Manschetten aufgelockert. Die Komteß trug ein einfaches schwarzes Samtkleid, das ihre Näherin in aller Eile geändert hatte. Sie hatte Schwarz immer gehaßt und besaß nur das eine Kleid, das sie zur Beerdigung ihrer Mutter vor acht Jahren getragen hatte. Der düstere Ausdruck auf ihren Gesichtern schien das Schwarz noch dunkler zu machen. »Bringen Sie sie herein, Sir Pierre«, sagte die Komteß ruhig. Sir Pierre machte die Tür weiter auf, und drei Männer traten ein. Einer trug das Gewand des Adeligen. Die beiden anderen steckten in der Unifonn des normannischen Herzogs.
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Der Edelmann verbeugte sich. »Ich bin Lord Darcy, oberster Untersuchungsbeamter Seiner Hoheit, des Herzogs, und Ihr ergebener Diener, Mylady.« Er war ein großer, dunkelhaariger Mann mit einem angenehmen, schmalen Gesicht. Sein Anglofranzösisch hatte einen deutlichen englischen Akzent. »Freut mich, Lord Darcy«, sagte die Komteß. »Das hier ist unser Vikar, Pater Bright.« »Ihr Diener, Sir Reverend.« Dann stellte er seine beiden Begleiter vor. Der erste war ein grauhaariger, gelehrt aussehender Mann, der einen Zwicker mit Goldfassung trug – der Arzt Dr. Pateley. Der zweite, ein rundlicher, rotgesichtiger, lächelnder Mann war Meister Sean O Lochlainn, der Hexer. Als Meister Sean vorgestellt wurde, holte er aus seiner Gürteltasche einen kleinen, ledernen Umschlag und reichte ihn dem Priester. »Meine Lizenz, Pater.« Pater Bright nahm sie und warf einen Blick darauf. Es war das übliche Schreiben, gesiegelt und unterzeichnet vom Erzbischof von Rouen. Das Gesetz war in diesem Punkt ziemlich streng. Kein Hexenmeister konnte ohne die Erlaubnis der Kirche sein Amt ausüben, und eine Lizenz wurde nur ausgestellt, wenn man sich davon überzeugt hatte, daß die üblichen Methoden angewandt wurden. »Er scheint in Ordnung zu sein, Meister Sean«, sagte der Priester und gab den Umschlag zurück. Der dicke kleine Hexenmeister bedankte sich mit einer Verbeugung und steckte das Ding wieder in die Gürteltasche. Lord Darcy hatte ein Notizbuch in der Hand. »Und nun, so ungern ich es tue, muß ich ein paar Tatsachen nachprüfen.« Er überblickte seine Notizen, dann sah er Sir Pierre an. »Ich glaube, Sie haben den Toten entdeckt?« »Das ist richtig, Eure Lordschaft.« »Wie lange ist das her?« Sir Pierre warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war fünf vor zehn. »Noch nicht ganz drei Stunden, Eure Lordschaft.« 108
»Wann genau?« »Ich klopfte pünktlich um sieben Uhr an der Tür und betrat den Raum eine oder zwei Minuten später – sagen wir sieben Uhr eins oder zwei.« »Woher wissen Sie die Uhrzeit so genau?« »Mein Herr, der Comte, legte äußersten Wert auf Pünktlichkeit«, erwiderte Sir Pierre ein wenig steif. »Ich habe es mir angewöhnt, meine Uhr regelmäßig zu Rate zu ziehen.« »Ich verstehe. Sehr gut. Und was haben Sie dann getan?« Sir Pierre beschrieb kurz, wie sich die Dinge abgespielt hatten. »Die Tür zu seiner Suite war also nicht versperrt?« fragte Lord Darcy. »Nein, Sir.« »Sie hatten es auch nicht erwartet?« »Nein, Sir. Sie war seit siebzehn Jahren nicht versperrt.« Lord Darcy hob fragend eine Augenbraue. »Nie?« »Nicht um sieben Uhr, Eure Lordschaft. Mylord, der Comte stand pünktlich um sechs auf und öffnete die Tür vor sieben.« »Nachts versperrte er sie also?« »Ja, Sir.« Lord Darcy sah nachdenklich drein und machte sich eine Notiz, aber er sagte nichts mehr zu diesem Thema. »Haben Sie die Tür verschlossen, als Sie gingen?« »Jawohl, Sir.« »Und sie blieb seitdem verschlossen?« Sir Pierre zögerte und warf Pater Bright einen Blick zu. Der Priester sagte: »Um acht Uhr fünfzehn gingen Sir Pierre und ich hinein. Ich wollte den Toten sehen. Wir haben nichts berührt. Wir gingen um acht Uhr zwanzig.« Meister Sean O Lochlainn sah erregt drein. »Äh – entschuldigen Sie, Sir Reverend. Sie haben ihm doch hoffentlich keine Ölung gegeben?« 109
»Nein«, sagte Pater Bright. »Ich dachte, es sei besser, das zu verschieben, bis die Behörden die – die Stätte des Verbrechens gesehen hatten. Ich wollte das Auffinden von Beweisen nicht schwieriger als nötig machen.« »Ganz recht«, murmelte Lord Darcy. »Kein Segen, Sir Reverend?« beharrte Meister Sean. »Keine Geisteraustreibungen oder …?« »Nichts«, unterbrach ihn Pater Bright etwas gereizt. »Ich glaube, ich habe mich bekreuzigt, als ich den Toten sah, aber weiter nichts.« »Nur sich selbst bekreuzigt, Sir? Nichts sonst?« »Nein.« »Dann ist ja alles gut. Es tut mir leid, daß ich so aufdringlich sein muß, Sir Reverend, aber jeder Keim des Bösen, der zurückgelassen worden ist, kann ein wichtiger Fingerzeig für uns sein, und er sollte nicht zerstört werden, bevor wir ihn geprüft haben.« »Keim des Bösen?« Die Komteß sah schockiert drein. »Es tut mir leid, Mylady«, begann Meister Sean zerknirscht. »Aber…« Aber Pater Bright unterbrach ihn, indem er sich an die Komteß wandte: »Machen Sie sich keine Sorgen, meine Tochter, diese Männer tun nur ihre Pflicht.« »Natürlich. Ich verstehe. Es ist nur so…« Sie zitterte leicht. Lord Darcy warf Meister Sean einen warnenden Blick zu, dann fragte er höflich: »Haben Mylady den Verstorbenen gesehen?« »Nein«, sagte sie. »Aber ich kann es tun, wenn Sie es wünschen.« »Wir werden sehen«, meinte Lord Darcy. »Vielleicht ist es nicht nötig. Können wir jetzt zu seinen Räumen hinaufgehen?« »Natürlich«, sagte die Komteß. »Sir Pierre, würden Sie die Herren begleiten?« 110
»Jawohl, Mylady.« Als Sir Pierre die wappengeschmückte Tür aufschloß, fragte Lord Darcy: »Wer schläft sonst noch in diesem Stock?« »Niemand, Eure Lordschaft«, erwiderte Sir Pierre. »Das gesamte Stockwerk ist – war für meinen Herrn, den Comte, reserviert.« »Gibt es noch einen anderen Zugang außer diesem Aufzug?« Sir Pierre drehte sich um und deutete auf das andere Ende des kurzen Korridors. »Diese Tür hier«, sagte er und warf einen Blick auf die schwere Eichentür, »führt zum Treppenhaus, aber sie ist immer abgeschlossen. Und, wie Sie sehen, liegt noch ein schwerer Riegel vor. Sie wird höchstens zum Transport von Möbeln oder ähnlichen Dingen benutzt.« »Sonst gibt es also keinen Weg nach unten oder oben?« Sir Pierre zögerte. »Nun, eigentlich schon. Eure Lordschaft. Ich bringe Sie hin.« »Eine Geheimtreppe?« »Ja, Eure Lordschaft.« »Sehr schön. Wir sehen sie uns an, nachdem wir den Toten untersucht haben.« Lord Darcy, der von Rouen bis hierher eine Stunde im Zug gesessen hatte, wollte endlich die Ursache des ganzen Aufruhrs sehen. Er lag im Schlafzimmer, so wie ihn Sir Pierre und Pater Bright zurückgelassen hatten. »Bitte, Dr. Pateley«, sagte Seine Lordschaft. Er kniete auf einer Seite des Toten nieder und betrachtete ihn genau, während Pateley sich auf die andere Seite begab und dem Toten ins Gesicht sah. Dann berührte er eine der Hände und versuchte den Arm zu bewegen. »Totenstarre hat eingesetzt – schon bis zu den Fingerspitzen. Ein einziger Einschuß. Ziemlich kleines Kaliber, 0,7 oder 0,8 – aber schwer zu sagen, solange ich die Kugel noch nicht herausgeholt habe. Sieht auf alle Fälle so 111
aus, als sei sie mitten durch das Herz gegangen. Pulverspuren kann man kaum erkennen. Das Blut hat sich in die Kleider gesogen und ist getrocknet. Aber diese Flecke – hm-m. Tja. Hmm-m.« Lord Darcys Augen nahmen alles auf, aber an dem Toten selbst gab es wenig zu sehen. Dann wurde sein Blick von einem goldenen Schimmer gefesselt. Er stand auf und ging zu dem großen Himmelbett hinüber, dann ließ er sich wieder auf die Knie nieder und sah unter das Bett. Eine Münze? Nein. Er nahm das Ding sorgfältig auf und sah es an. Ein Knopf. Gold, mit einem verschlungenen Muster versehen, in dessen Zentrum sich ein kleiner Diamant befand. Wie lange hatte er schon hier gelegen? Woher stammte er? Nicht von den Kleidern des Comte, denn seine Knöpfe waren kleiner, mit seinem Wappen versehen und ohne Steine. Hatte ein Mann oder eine Frau ihn verloren? Man konnte es in diesem Stadium noch nicht sagen. Darcy wandte sich an Sir Pierre. »Wann wurde dieses Zimmer zum letztenmal saubergemacht?« »Gestern abend, Eure Lordschaft«, erwiderte der Sekretär sofort. »Mein Herr war in dieser Beziehung sehr penibel. Die Suite wurde während des Abendessens gekehrt und gesäubert.« »Dann muß dieses Ding irgendwann nach dem Abendessen unter das Bett gerollt sein. Erkennen Sie den Knopf? Das Muster ist ziemlich auffällig.« Der Privatsekretär warf dem Knopf in der Hand Lord Darcys einen prüfenden Blick zu, ohne ihn zu berühren. »Ich – ich bin nicht ganz sicher«, sagte er schließlich. »Er sieht so aus, als … aber ich kann es wirklich nicht genau sagen.« »Kommen Sie, kommen Sie, Sir! Wo glauben Sie ihn oder einen ähnlichen gesehen zu haben?« In seiner Stimme klang ein scharfer Ton mit. »Ich versuche nichts zu verbergen, Eure Lordschaft«, erwiderte Sir Pierre mit gleicher Schärfe. »Ich sagte nur, daß ich 112
nicht ganz sicher wäre. Wenn Eure Lordschaft gestatten…« Er drehte sich um und wandte sich Dr. Pateley zu, der immer noch den Toten untersuchte. »Darf ich die Schlüssel des Comte haben, Doktor?« Pateley warf Lord Darcey einen Blick zu, und der nickte schweigend. Der Arzt löste den Schlüsselbund vom Gürtel und reichte ihn Sir Pierre. Der Privatsekretär sah ihn einen Moment an, dann wählte er einen kleinen Goldschlüssel. »Der hier ist es«, sagte er und holte ihn aus dem Schlüsselbund. »Kommen Sie mit, Eure Lordschaft.« Darcy folgte ihm durch den Raum zu einer breiten Wand. Sie war mit einem großen Gobelin bedeckt, der sicher noch aus dem sechzehnten Jahrhundert stammte. Sir Pierre griff dahinter und zog an einer Schnur. Der ganze Gobelin glitt zur Seite und man sah, daß er auf Rollen lief. Dahinter kam eine harmlose Eichenvertäfelung zum Vorschein, aber Sir Pierre steckte den Schlüssel in ein unauffälliges Loch und drehte ihn herum. Das hieß, er versuchte es. »Komisch«, sagte Sir Pierre. »Es ist nicht abgeschlossen.« Er zog den Schlüssel heraus und preßte die Hand gegen die Vertäfelung. Sie glitt zur Seite und gab den Blick auf einen Schrank frei. Er war angefüllt mit Damenkleidern aller Art und aller Schnitte Lord Darcy pfiff lautlos vor sich hin. »Versuchen Sie das blaue Kleid, Eure Lordschaft«, sagte der Frivatsekretär. »Das mit den – ja, das ist es.« Lord Darcy nahm es vom Bügel. Die gleichen Knöpfe. Sie paßten genau. Und vorn fehlte einer. Abgerissen! »Meister Sean!« rief er, ohne sich umzudrehen. Meister Sean kam mit wiegendem Gang. Er hielt ein merkwürdig geformtes Bronzeding in der Hand, das Sir Pierre nicht erkannte. Der Hexenmeister murmelte vor sich hin. »Böses, das da ist! Glaube, und die Vibrationen sind überall. Ja, Mylord?« 113
»Untersuchen Sie auch dieses Kleid und den Knopf. Ich möchte wissen, wann sich die beiden trennten.« »Jawohl, Mylord.« Er nahm das Kleid über einen Arm und ließ den Knopf in die Gürteltasche fallen. »Ich kann Ihnen eines sagen, Mylord. Wenn es einen Keim des Bösen gibt, dann in diesem Raum!« Er hielt den merkwürdigen Gegenstand hoch. »Das Ganze hat einen Hintergrund, der schon Jahre zurückliegt. Aber erst jetzt ist die böse Tat ausgelöst worden. Sie ist ganz frisch, und ich spüre sie in voller Stärke.« »Das überrascht mich nicht, nachdem letzte Nacht oder heute morgen hier ein Mord geschah«, sagte Lord Darcy. »Hm, ja. Ja, Mylord, der Tod ist da – aber es ist noch etwas anderes. Etwas, das ich nicht fassen kann.« »Und das sagt Ihnen das Bronzekreuz in Ihrer Hand?« fragte Sir Pierre interessiert. Meister Sean warf ihm einen freundlichen, aber überlegenen Blick zu. »Es ist nicht einfach ein Kreuz, Sir. Man kennt es unter dem Namen crux ansata. Die alten Ägypter nannten es ankh. Sehen Sie die Schleife an der Spitze anstelle des normalen, geraden Stückes. Ihr echtes Kreuz – wenn es richtig angeregt, das heißt, gesegnet wird – würde das Böse zu zerstreuen versuchen. Durch die Schleife beim ankh entsteht ein Rückstrom, und das Böse vibriert nur in dem Kreuz. Außerdem ist es nicht gesegnet, sondern mit einem anderen – äh Bann belegt.« »Das ist jetzt nicht so wichtig«, meinte Lord Darcy. Der Hexenmeister kannte den Tonfall und nickte schnell. »Ja, Mylord.« Er ging wiegend weg. »Wo ist nun diese Geheimtreppe, die Sie erwähnten?« fragte Lord Darcy. »Hier entlang, Eure Lordschaft.« Er führte Lord Darcy zu einer Wand, die im rechten Winkel zur Außenwand stand, und schob wieder ein Stück Tapete zur Seite.
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»Du liebe Güte«, murmelte Darcy. »Hat er denn hinter jedem Gobelin hier etwas verborgen?« Aber er sagte es nicht so laut, daß es der Privatsekretär hörte. Diesmal kamen sie an eine solide aussehende Steinmauer. Aber Sir Pierre drückte gegen einen kleinen Stein, und ein Teil der Wand schwang zurück und gab eine Treppe frei. »Ah, ich verstehe«, sagte Darcy. »Das ist die alte Wendeltreppe, die im Innern des Bergfrieds verläuft. Unten sind zwei Eingänge. Einer führt in den Hof, der andere zu einer Nebentür an der Außenwand. Aber da diese Tür seit dem sechzehnten Jahrhundert geschlossen ist, bliebt nur der Ausgang in den Hof.« »Dann kennt Eure Lordschaft das Schloß von Evreux?« fragte Sir Pierre. Der Ritter war schon fast fünfzig, während Darcy erst um die dreißig sein konnte. Und Sir Pierre erinnerte sich nicht, daß er Darcy schon zuvor im Schloß gesehen hatte. »Nur nach den Plänen des Königlichen Archivs. Aber ich habe mich genau …« Er unterbrach sich. »Du liebe Güte, was ist denn das?« fragte er leise. ›Das‹ war vom Gobelin verdeckt gewesen, bis Sir Pierre ihn beiseite geschoben hatte. Auch jetzt sah man es nur zum Teil. Es lag etwa einen Schritt von der Geheimtür entfernt auf dem Boden. Darcy bückte sich und schob den Gobelin ganz zur Seite. »So, so. Eine zweischüssige Taschenpistole. Kaliber 0,7. Goldziseliert mit herrlichen Eingravierungen, Perlmuttgriff. Ein richtiges Schmuckstück.« Er nahm das Ding auf und untersuchte es näher. »Ein Schuß wurde abgefeuert.« Er stand auf und zeigte die Waffe Sir Pierre. »Haben Sie das schon mal gesehen?« Der Privatsekretär sah sich die Waffe genau an. Dann schüttelte er den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte, Eure Lordschaft. Zu der Waffensammlung des Comte gehört sie bestimmt nicht.« »Sie sind sicher?«
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»Ganz sicher, Eure Lordschaft. Ich zeige Ihnen die Sammlung, wenn Sie wollen. Mylord, der Comte konnte so winzige Waffen nicht leiden. Er zog ein größeres Kaliber vor. Dieses Ding hatte er als Spielzeug bezeichnet.« »Nun, wir werden uns die Waffe näher ansehen.« Er rief wieder Meister Sean und gab ihm die Pistole zur Verwahrung. »Halten Sie Ihre Augen offen, Meister Sean. Bis jetzt hat sich alles Wichtige außer dem verstorbenen Comte selbst unter dem Bett oder hinter Gobelins verborgen. Durchsuchen Sie alles. Sir Pierre und ich sehen uns diese Treppe an.« Die Treppe war düster, aber es fiel genügend Licht durch die Schlitze herein, die in regelmäßigen Abständen an der Außenwand angebracht waren. Sie verlief in einer Spirale zwischen der Innen- und Außenmauer des Großen Bergfrieds und machte vier volle Umdrehungen, bis sie das Erdgeschoß erreichten. Lord Darcy sah sich während des Hinuntergehens alles genau an – die Stufen, die Wände und sogar die niedrige gewölbte Decke. Nach der ersten Spirale, einen Stock unterhalb der Suite des Comte, blieb er stehen. »Hier war eine Tür«, sagte er und deutete auf das Viereck in der inneren Wand. »Ja, Eure Lordschaft. Früher war in jedem Stockwerk ein Zugang, aber man hat sie zugemauert. Wie Sie sehen können, recht solide.« »Wohin würden sie führen, wenn sie offen wären?« »Zu den County-Büros. Zu meinem eigenen Büro, dem Büro der Schreiber und der Polizeiwache im ersten Stock. Weiter unten sind die Verliese. Der Comte war der einzige, der im Bergfried wohnte. Der übrige Haushalt gruppierte sich um den Großen Saal.« »Und Gäste?« »Sie werden im allgemeinen im Ostflügel untergebracht. Wir haben im Augenblick nur zwei Gäste im Haus. Laird Duncan und Lady Duncan sind seit vier Tagen hier.«
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»Aha.« Sie gingen vier Stufen weiter, als der Lord plötzlich ruhig fragte: »Sagen Sie, Sir Pierre, waren Sie in alle Geschäfte des Comte d'Evreux eingeweiht?« Weitere vier Stufen, bis Sir Pierre antwortete. »Ich verstehe, was Eure Lordschaft meint«, sagte er. »Nein, ich war es nicht. Ich wußte, daß mein Herr, der Comte, verschiedene – äh, sagen wir – Bindungen zum anderen Geschlecht hatte. Aber …« Er machte eine Pause, und Lord Darcy konnte trotz der Düsterkeit sehen, wie sich seine Lippen zusammenpreßten. »Aber«, fuhr er fort, »ich habe für meinen Herrn nichts vermittelt, wenn Sie das meinen. Ich war und bin kein Kuppler.« »Das wollte ich auch keineswegs behaupten, Ritter«, sagte Lord Darcy in einem Ton, der deutlich bewies, daß ihm dieser Gedanke fern gelegen hatte. »Ganz und gar nicht. Aber es gibt doch einen Unterschied zwischen helfen und mitwissen.« »O ja. Ja, natürlich. Nun, man kann nicht siebzehn Jahre Privatsekretär des Comte sein, ohne zu merken, was vorgeht, da haben Sie recht. Ja, ja.« Lord Darcy lächelte vor sich hin. Bis zu diesem Moment wußte Sir Pierre noch nicht einmal, wieviel er wußte. In seiner Treue dem Comte gegenüber hatte er siebzehn Jahre lang die Augen geschlossen. »Ich weiß, daß ein Gentleman nie den Ruf einer Dame oder eines anderen Gentleman beschmutzen würde, ohne sich die Sache gründlich zu überlegen. Aber…« Wie der Sekretär machte er eine Pause, bevor er fortfuhr: »Aber wenn wir schon wissen, daß er keine Zurückhaltung kannte, war er wenigstens in seiner Auswahl besonnen?« »Ich verstehe. Das erklärt den Schrank voller Kleider.« »Wie bitte, Eure Lordschaft?« »Ich meine, wenn ein Mädchen oder eine Frau der niederen Klassen hierherkam, hatte er wahrscheinlich die richtigen Kleider für sie da – trotz der Gesetze, die Bürgerlichen das Tragen von Luxusgewändern verbieten.« 117
»Höchstwahrscheinlich, Eure Lordschaft. Er nahm es mit der Kleidung sehr genau. Konnte Frauen nicht ausstehen, die nachlässig oder ärmlich gekleidet waren.« »Wie meinen Sie das?« »Hm. Nun, ich kann mich zum Beispiel erinnern, daß er einmal ein sehr hübsches Bauernmädchen sah. Sie trug natürlich die üblichen Gewänder, aber sie war nett und geschmackvoll gekleidet. Meinem Herrn gefiel sie sofort. Er sagte: ›Also, das ist ein Mädchen, das es versteht, sich anzuziehen. Stecke sie in ordentliche Kleider, und sie könnte wie eine Prinzessin aussehend Aber ein Mädchen, das eine gute Figur und ein schönes Gesicht hatte, machte keinerlei Eindruck auf ihn, wenn sie geschmacklos gekleidet war. Verstehen Sie, was ich meine, Eure Lordschaft?« »Und er hat Ihres Wissens nach nie schlampig gekleidete Frauen verehrt?« fragte Lord Darcy. »Nur unter den Adeligen, Eure Lordschaft. Er sagte oft: ›Sehen Sie sich Lady Sowieso an! Hübsche Krabbe, wenn ich ihr beibringen könnte, wie man sich kleidet.‹ Man könnte sagen, daß eine Frau einfach oder schlampig gekleidet sein durfte, aber niemals beides.« »Dem Zeug im Schrank nach zu urteilen«, meinte Lord Darcy, »schien der verstorbene Comte einen ausgezeichneten Geschmack zu besitzen.« Sir Pierre überlegte. »Hmmm. Also, das würde ich nun wieder nicht sagen, Eure Lordschaft. Er wußte, wie man Kleider tragen mußte, das schon. Aber er wählte die Gewänder nicht nach seinem eigenen Geschmack aus. Seine eigene Kleidung war immer tadellos, aber bei Frauen wußte er nicht so recht, was in Mode war. Sie verstehen, was ich meine. Auch von Schnitten hatte er keine Ahnung.« »Wie kam er dann zu diesem Schrank voller Kleider?« fragte Lord Darcy verwirrt. Sir Pierre lachte. »Ganz einfach, Eure Lordschaft. Er wußte, daß Lady Alice einen guten Geschmack hatte, und so gab er 118
heimlich den Befehl, daß von jedem ihrer Kleider ein Duplikat angefertigt werden sollte. Mit kleinen Abänderungen natürlich. Ich bin sicher, meiner Herrin wäre es nicht recht, wenn sie es wüßte.« »Das kann ich mir vorstellen«, meinte Lord Darcy nachdenklich. »Hier ist die Tür zum Hof«, sagte Sir Pierre. »Ich bezweifle, daß sie in den letzten Jahren einmal am hellichten Tag geöffnet wurde.« Er wählte einen Schlüssel aus dem Bund des verstorbenen Comte und steckte ihn in das Schlüsselloch. Die Tür schwang zurück und gab den Blick auf ein großes Kruzifix frei, das an ihrer Rückseite befestigt war. Lord Darcy bekreuzigte sich. »Herr im Himmel«, sagte er leise. »Was soll das?« Er sah auf einen kleinen Altar. Er war vom Hof abgegrenzt und hatte einen einzigen schmalen Eingang. Vier Predieus, kleine Betschemel, standen vor dem Eingang. »Wenn ich erklären darf, Eure Lordschaft…«, begann Sir Pierre. »Nicht nötig«, sagte Lord Darcy mit harter Stimme. »Es ist ziemlich offensichtlich. Der Comte war recht einfallsreich. Es ist eine relativ neue Kapelle. Vier Wände und ein Kruzifix an der Schloßmauer. Jeder kann hier zum Beten hereinkommen, Tag und Nacht. Und keiner kommt in Verdacht.« Er trat durch den schmalen Eingang und sah sich die Tür an. »Und wenn diese Tür hier geschlossen ist, kann man nicht sehen, daß sich hinter dem Kruzifix ein Eingang befindet. Wenn eine Frau hierherkam, nahm man an, daß sie beten wollte. Aber wenn sie die Tür kannte…« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Ja, Eure Lordschaft«, sagte Sir Pierre. »Mir gefiel die Sache nicht, aber ich konnte es mir nicht leisten, meinem Mißfallen Ausdruck zu verleihen.« »Ich verstehe.« Lord Darcy trat in die Kapelle und sah sich rasch um. »Dann konnte jeder hierherkommen, der sich innerhalb der Schloßmauern befand«, sagte er. 119
»Jawohl, Eure Lordschaft.« »Schön. Gehen wir wieder nach oben.« In dem kleinen Büro, das man Lord Darcy und seinen Mitarbeitern für die Untersuchungen zur Verfügung gestellt hatte, sahen drei Leute gespannt der Vorführung des vierten zu. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch. Meister Sean O Lochlainn hielt einen kunstvoll verzierten Goldknopf mit einem Arabeskenmuster und einem Diamanten in der Mitte hoch. Er sah die anderen drei an. »Jetzt, Mylord, Sir Reverend und Sie, Doktor, sehen Sie sich genau den Knopf an.« Dr. Pateley lächelte, während Pater Bright ernst blieb. Lord Darcy stopfte lediglich Tabak – aus den südlichen NeuenglandCounties jenseits des Golfes importiert – in eine aus Deutschland stammende Meerschaumpfeife. Er sah Meister Sean ein gewisses Pathos nach. Gute Hexenmeister waren schwer zu bekommen »Könnten Sie das Gewand halten, Dr. Pateley? Vielen Dank. Jetzt treten Sie zurück. So. Danke. Ich lege nun den Knopf auf den Tisch, gut drei Meter vom Kleid entfernt.« Er murmelte etwas vor sich hin und streute ein paar Körnchen Pulver über den Knopf. Er strich ein paarmal mit der Hand darüber, machte eine Pause und sah Pater Bright an. »Sir Reverend, dürfte ich bitten?« Pater Bright hob feierlich die rechte Hand und sagte, während er Jas Zeichen des Kreuzes machte: »Möge diese Demonstration, o Gott, die reine Wahrheit zeigen. Hilf uns, daß der Böse nicht unsere Sinne verblendet, auf daß wir gerechtes Zeugnis ablegen können. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« «Amen«, sprachen die anderen drei nach. Meister Sean bekreuzigte sich und murmelte etwas vor sich hin. Der Knopf sprang vom Tisch, wurde mit starker Wucht gegen das Kleid geworfen und saß fest, als sei er von einem Experten angenäht worden. 120
»Da!« rief Meister Sean. »Dachte ich es mir doch!« Er sah die drei anderen mit einem strahlenden Lächeln an. »Die beiden gehörten ohne Zweifel zusammen.« Lord Darcy sah gelangweilt drein. »Die Zeit?« fragte er. »Sofort, Mylord«, sagte Meister Sean entschuldigend. »Sofort.« Während die anderen drei zusahen, murmelte der Hexenmeister noch mehr Bannsprüche über den Knopf und die Robe, von denen allerdings keiner so spektakulär wie die vorige Demonstration war. Schließlich sagte Meister Sean: »Sie wurden gestern gegen elf Uhr dreißig voneinander getrennt, Mylord. Aber ich möchte mich nicht zu genau festlegen und sage lieber zwischen elf Uhr und Mitternacht. Die Geschwindigkeit, mit der der Knopf zurückkehrte, läßt darauf schließen, daß er mit einem heftigen Ruck abgerissen wurde.« »Sehr gut«, sagte Lord Darcy. »Und nun die Kugel.« »Jawohl, Mylord. Hier müssen wir ein wenig anders vorgehen.« Er holte noch mehr Utensilien aus seiner großen, mit Symbolen bestickten Reisetasche. »Das Gesetz der Ansteckung, werte Herren, ist gar nicht so leicht zu nehmen. Wir hatten einen Lehrling bei der Gilde in Cork, der später bestimmt ein guter Hexenmeister geworden wäre. Er hatte das Talent dazu – leider nützte er es zu wenig aus. Gemäß dem Ansteckungsgesetz haben zwei Gegenstände, die je miteinander in Berührung waren, eine Affinität zueinander, die direkt proportional ist zum Produkt der Kontaktstärke und der Zeit, während der die Berührung stattgefunden hat, aber umgekehrt proportional zu der Zeitdauer, in der die Berührung nicht mehr vorhanden war.« Er warf dem Priester einen lächelnden Blick zu. »Das gilt nicht ganz für die Reliquien der Heiligen, Sir Reverend. Hier kommt, wie Sie wissen, noch ein anderer Faktor mit ins Spiel.« Während er sprach, klemmte der Hexenmeister vorsichtig die kleine Pistole in einen gefütterten Schraubstock, so daß der Lauf Parallel zur Tischfläche stand.
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»Auf jeden Fall«, fuhr er fort, »versuchte dieser Lehrling, die Küchenschaben in seinem Haus loszuwerden – ganz einfach, wenn man weiß, wie man es anstellt. So sammelte er Staub von verschiedenen Ritzen und Vorsprüngen im Haus, die natürlich den Kot dieser Biester enthielten. Dem Staub mischte er noch andere Substanzen bei und kochte sie unter Bannsprüchen. Es klappte wunderbar. Die Schaben bekamen alle Fieber und verendeten. Unglücklicherweise hatte der dumme Junge nur eine armselige Laborausrüstung. So gelangten drei Schweißtropfen von seiner Stirn in den Topf, an dem er arbeitete, und das Fieber brachte auch ihn um.« Nun legte er die Kugel, die Dr. Pateley aus dem Körper des Toten geholt hatte, auf ein kleines Podest, so daß es genau in einer Linie mit der Pistolenöffnung lag. »Jetzt«, sagte er leise. Er wiederholte die Bannsprüche und bestreute die Kugel mit dem gleichen Pulver wie den Knopf. Als er die letzte Silbe aussprach, verschwand die Kugel mit einem leichten Bing! Die kleine Pistole vibrierte in ihrer Halterung. »Ah!« sagte Meister Sean. »Keine Frage, was? Das ist die Mordwaffe, Mylord, ganz bestimmt. Ja. Die Zeit ist fast die gleiche wie das Abreißen des Knopfes. Nur ein paar Sekunden später. Gibt doch ein klares Bild ab, Mylord, nicht wahr? Der Gomte reißt einem Mädchen den Knopf vom Kleid, sie zielt mit der Pistole und tötet ihn.« Lord Darcys ebenmäßiges Gesicht wirkte sorgenvoll. »Nur keine voreiligen Schlüsse, mein lieber Sean. Wir haben noch überhaupt keinen Beweis, daß er von einer Frau getötet wurde.« »Würde ein Mann dieses Gewand tragen, Mylord?« »Vermutlich nicht«, sagte Lord Darcy. »Aber wer sagt denn, daß es jemand trug, als der Knopf abgerissen wurde?« »Oh.« Meister Sean verfiel in Schweigen. Mit einem kleinen Stößel holte er die Kugel aus der Kammer. »Pater Bright«, sagte Lord Darcy, »läßt die Komteß am Nachmittag zum Tee bitten?« 122
Der Priester sah plötzlich schuldbewußt drein. »Du liebe Güte! Keiner von ihnen hat bisher gegessen. Ich sorge dafür, daß Ihnen sofort etwas nach oben geschickt wird. In der Verwirrung …« Lord Darcy winkte ab. »Entschuldigen Sie, Pater, das hatte ich nicht gemeint. Vielleicht möchten Meister Sean und Dr. Paterney eine Kleinigkeit zu sich nehmen, aber ich kann schon noch bis zum Tee warten. Ich dachte nur, ob es vielleicht möglich wäre, daß die Komteß ihre Gäste einlädt. Kennt sie Laird und Lady Duncan gut genug, um sie an einem Nachmittag wie diesem zu Tisch bitten zu können?« Pater Brights Augen verengten sich ein wenig. »Ich glaube, es ließe sich machen, Lord Darcy. Werden Sie anwesend sein?« »Ja – aber ich möchte ein wenig zu spät kommen. Das macht bei einer zwanglosen kleinen Teestunde nichts.« Der Priester warf einen Blick auf seine Uhr. »Um vier?« »Das könnte gehen«, sagte Lord Dracy. Pater Bright nickte wortlos und verließ das Zimmer. Dr. Pateley nahm seinen Zwicker ab und polierte sorgfältig die Gläser mit einem seidenen Taschentuch. »Wie lange wird Ihr Bann den Körper konservieren, Meister Sean?« fragte er. »Solange es nötig ist. Sobald der Fall gelöst ist oder wir genug Hinweise haben, ihn zu lösen. Ich bin kein Heiliger, müssen Sie wissen. Man braucht schon starke Gründe, um einen Körper jahrelang konservieren zu können.« Sir Pierre betrachtete das Kleid, das Pateley auf den Tisch gelegt hatte. Der Knopf saß noch immer an der gleichen Stelle, wie durch einen Magneten festgehalten. Er berührte ihn nicht. »Meister Sean«, sagte er, »ich verstehe zwar nicht viel von Magie, aber könnten Sie auch herausfinden, wer das Kleid getragen hat?« Meister Sean schüttelte den Kopf. »Nein, Sir, die Beziehung ist zu belanglos. Die Beziehung eines Kleides als Ganzes ist ziemlich stark. Ebenso die der Näherin, die das Kleid angefertigt 123
hat, oder die des Tuchwebers. Aber, von bestimmten Ausnahmen abgesehen, hat der Träger des Kleides kaum eine wirkliche Beziehung zu dem Kleidungsstück selbst.« »Das verstehe ich leider nicht«, sagte Sir Pierre verwirrt. »Sehen Sie es folgendermaßen an, Sir: Das Kleid wäre nicht, was es ist, wenn der Weber es nicht auf diese besondere Art hergestellt hätte. Können Sie mir folgen, Sir? Ja. Also, die Verbindungen Weber–Tuch und Näherin–Kleid sind wesentlich. Aber das Kleid selbst wäre auch noch hübsch, wenn man es im Schrank ließe, anstatt es zu tragen. Also – kaum eine Beziehung. Nun, bei einem häufig getragenen Kleid wäre es etwas anderes – das heißt, wenn es immer von der gleichen Person getragen worden wäre. Dann, sehen Sie, Sir, liegt die Bedeutung des Kleides im Tragen, und deshalb wird die Trägerin wichtig.« Er deutete auf die kleine Schußwaffe, die er immer noch in der Hand hielt. »Und nun zu unserer Pistole, Sir…« »Es ist nicht unsere Pistole«, unterbrach Sir Pierre fest. »Ich meinte es nur rhetorisch, Sir«, sagte Meister Sean mit unendlicher Geduld. »Es ist noch schwerer, den Besitzer der Pistole festzustellen. Meist geschieht das Mitnehmen der Pistole rein automatisch. Es ist gleichgültig, wer den Hebel drückt, die Explosion der Gase in der Kammer bleibt die gleiche, ebenso die Abnützung des Laufes, wenn ihn die Kugel verläßt. Sehen Sie, Sir, es ist für die Pistole nicht wichtig, wer den Abzug betätigt oder wem die Kugel gilt. Für die Kugel hingegen ist es von Bedeutung, aus was für einer Pistole sie kam und wen sie traf. Alle diese Dinge müssen in Betracht gezogen werden, Sir Pierre.« »Ich verstehe«, sagte der Sekretär. »Sehr interessant, Meister Sean.« Dann wandte er sich an Lord Darcy: »Gibt es noch etwas, Eure Lordschaft? Ich muß mich jetzt um die Countygeschäfte kümmern.«
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Lord Darcy winkte ab. »Im Augenblick nicht, Sir Pierre. Ich weiß, was Regierungsdruck bedeutet. Gehen Sie ruhig an Ihre Arbeit.« »Vielen Dank, Eure Lordschaft. Wenn Sie noch etwas brauchen, ich bin in meinem Büro.« Sobald Sir Pierre die Tür hinter sich geschlossen hatte, streckte Lord Darcy die Hand dem Hexenmeister entgegen. »Meister Sean, die Pistole!« Meister Sean überreichte sie ihm. »Haben Sie schon je zuvor so eine Waffe gesehen«, fragte der Lord. »Nicht genau die gleiche, Mylord.« »Kommen Sie, Sean, seien Sie nicht übervorsichtig. Ich bin kein Hexenmeister, aber ich brauche die Gesetze der Ähnlichkeit nicht, um etwas so Offensichtliches zu erkennen.« »Edinburgh«, sagte Meister Sean knapp. »Genau. Schottische Arbeit. Die typische schottische Goldschmiedearbeit. Und sehen Sie sich das Schloß an – unverkennbar schottisch. Es könnte geradezu den Stempel ›Edinburgh‹ tragen.« Dr. Pateley, der seine Brille vorsichtig wieder aufgesetzt hatte, beugte sich nun über die Waffe in Lord Darcys Hand. »Könnte sie nicht auch aus Italien sein, Mylord? Oder maurisch? Die Mauren in Spanien liefern ähnliche Arbeiten.« »Kein maurischer Waffenschmied würde eine Jagdszene auf den Kolben setzen«, erklärte Lord Darcy ruhig. »Und die Italiener hätten das Feld hinter dem Jäger nicht mit Heidekraut und Disteln geschmückt.« »Aber das FdM, das auf dem Lauf eingraviert ist«, sagte Dr. Pateley. »Ferrari di Milano«, sagte Lord Darcy. »Genau. Aber der Lauf ist viel neuer als das übrige. Ebenso die Kammern. Es ist eine ziemlich alte Pistole – ich würde sagen, über fünfzig Jahre alt. Das Schloß und der Lauf sind immer noch in sehr guter Verfas125
sung, was darauf hindeutet, daß sie gut gepflegt worden ist, aber häufige Benutzung – oder auch ein Unfall – könnte den Lauf beschädigt haben und den Besitzer dazu veranlassen, einen neuen einsetzen zu lassen. Von Ferrari.« »Ich verstehe«, meinte Dr. Pateley. »Wenn wir das Schloß öffnen – Meister Sean, könnten Sie mir den kleinen Schraubenzieher reichen? Danke. Wenn wir das Schloß öffnen, werden wir den Namen eines der berühmtesten Waffenschmiede finden, die es vor fünfzig Jahren gab – ein Mann, dessen Name noch nicht vergessen ist: Hamish Graw von Edinburgh! Ah – da! Sehen Sie?« Sie sahen es. Befriedigt verschraubte Lord Darcy das Schloß wieder. »Nun, wir kennen die Pistole. Wir wissen auch, daß in diesem Hause ein Gast namens Laird Duncan von Duncan ist. Der Duncan von Duncan selbst. Ein schottischer Laird, der vor fünfzehn Jahren der Botschafter Seiner Majestät im freien Herzogtum Milano war. Mir käme es komisch vor, wenn nicht irgendein Zusammenhang zwischen Laird Duncan und dieser Pistole bestände. Na?« »Schneller, schneller, Meister Sean«, sagte Lord Darcy ziemlich ungeduldig. »Wir haben keine Zeit zu verbummeln.« »Geduld, Mylord, Geduld«, sagte der kleine Hexenmeister ruhig. »Diese Dinge kann man nicht übereilen, das wissen Sie.« Er kniete vor einer großen, schweren Reisetasche im Schlafzimmer der Gästesuite von Laird und Lady Duncan. Und er hantierte mit einem Schlüssel. »Eine Stellung des Schlosses hat die gleiche Bedeutung wie die andere. Deshalb kann man nicht mit dem Riegel arbeiten. Aber mit dem Federbolzen ist das eine andere Sache. Sie berühren die Metallfläche des Schlosses nur, wenn der Schlüssel steckt. Von dieser Beziehung wollen wir Gebrauch machen – ah!« Das Schloß schnappte auf. Lord Darcy hob vorsichtig den Deckel.
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»Langsam, Mylord«, sagte Meister Sean warnend. »Er hat einen Bann über dem Ding. Lassen Sie mich das machen.« Lord Darcy trat einen Schritt zurück. Der Truhendeckel gähnte auf seinen Scharnieren weit offen. Meister Sean warf dem Deckel und der Truhe einen langen Blick zu. Auf der Truhe lag ein zweiter, dünner Deckel, der offensichtlich nur von einem einfachen Riegel verschlossen war. Meister Sean nahm seinen Hexerstab, eine fünf Fuß lange, schwere Rute aus dem Holz der Eberesche, und berührte den inneren Deckel. Nichts geschah. Er berührte den Riegel. Nichts. »Hm-m«, murmelte Meister Sean nachdenklich. Er sah sich im Zimmer um, und seine Blicke fielen auf einen schweren Türpuffer aus Stein. »Das müßte gehen.« Er ging hinüber, hob ihn auf und trug ihn zur Truhe. Dann hob er ihn so auf den Rand der Kiste, daß der Deckel auf ihn fallen mußte, wenn er zurückschnappte. Er griff mit der Hand nach innen, als wollte er den Riegel lösen. Der schwere Außendeckel schwang von selbst zurück, blitzschnell, und knallte mit voller Wucht auf den Türpuffer. Lord Darcy massierte sich sanft das rechte Handgelenk, dort, wo ihn der Deckel getroffen hätte, wenn er ins Innere der Truhe gegriffen hätte. »War so eingestellt, daß er sofort zuschlug, wenn ein Mensch die Hand dazwischensteckte, nicht wahr?« »Oder den Kopf, Mylord. Nicht sehr wirksam, wenn man weiß, wo man zu suchen hat. Es gibt bessere Bannsprüche, um sein Eigentum zu schützen. Und nun wollten wir doch sehen, was Seine Lordschaft so geheimhalten möchte, daß er es sogar durch einen illegalen Bannspruch schützt.« Er hob den Deckel wieder und öffnete dann auch den inneren Verschluß! »Jetzt ist es sicher, Mylord. Sehen Sie sich das an!« Lord Darcy hatte es bereits entdeckt. Beide Männer starrten schweigend auf das Tablett, das eine ganze Sammlung von Gegenständen enthielt. Meister Sean wickelte sie mit geübten 127
Fingern aus dem Seidenpapier, einen nach dem anderen. »Ein menschlicher Schädel«, sagte er. »Flaschen mit Friedhoferde. Hm – auf der hier steht Jungfrauenblut. Ich möchte wissen, wie er das nachgeprüft hat. Und das hier! Eine brennende Hand.« Es war eine mumifizierte menschliche Hand, steif und braun und vertrocknet, die Finger zum Teil nach oben gekrümmt, als klammerten sie sich um einen unsichtbaren Ball. Auf jeder Fingerspitze klebte ein kurzer Kerzenstummel. Wenn man die Hand auf den Rücken legte, diente sie als Leuchter. »Das macht die Sache ziemlich klar, was, Meister Sean?« fragte Lord Darcy. »Und ob, Mylord. Zumindest können wir ihn wegen Besitzes dieser Gegenstände verklagen. Schwarze Magie ist verboten.« »Sehr gut. Ich möchte eine vollständige Liste mit dem Inhalt dieser Truhe. Passen Sie auf, daß alles wieder an seinen Platz kommt und versperren Sie die Kiste.« Er zupfte sich nachdenklich am Ohrläppchen. »So hat also Laird Duncan die Gabe? Interessant.« »Aye. Aber nicht sehr überraschend, Mylord«, sagte Meister Sean, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. »Es liegt im Blut. Die Gälischen besitzen das Talent seit mehr als dreitausend Jahren. Mein Inneres kocht, wenn ich daran denke, daß es mißbraucht wird.« Während Meister Sean sprach, strich Lord Darcy im Zimmer herum wie ein magerer Kater, der bestimmt wußte, daß irgendwo eine Maus verborgen war. »Es wird Laird Duncan noch umbringen, wenn er so weitermacht«, murmelte Lord Darcy geistesabwesend. »Aye, Mylord«, sagte Meister Sean. »Die geistige Haltung, die nötig ist, um das Talent für verbotene Hexerei auszunützen, bringt dem Zauberer unweigerlich die Vernichtung – aber, wenn er sein Geschäft versteht, kann er vielen Menschen wehtun, bevor er sein Teil bekommt.«
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Lord Darcy öffnete den Schmuckkasten auf der Frisierkommode. Der übliche Reiseschmuck – genug, aber keine erlesenen Stücke. »Wenn ein Mensch voll von Rache- und Haßgedanken ist«, fuhr Meister Sean leiernd fort, »konzentriert sich sein Denken immer mehr auf sein Selbst. Oder, wenn er andere gern leiden sieht oder gar der Typ ist, der um den Gewinn alles tut, dann ist sein Geist bereits schlecht, und die unrechte Anwendung des Talents macht alles nur schlimmer.« Lord Darcy fand das, was er suchte, in einer Schublade, unter einem Stoß sauber gefalteter Wäsche. Einen kleinen Halfter, aus herrlichem Florentinerleder gearbeitet, vergoldet und geprägt. Er brauchte nicht Meisters Seans Hexenkunst, um zu wissen, daß die kleine Pistole haargenau hineinpaßte. Pater Bright hatte ein Gefühl, als befände er sich seit Stunden auf einem gespannten Seil. Laird und Lady Duncan hatten leise und beherrscht gesprochen, was eine innere Nervosität verriet, aber Pater Bright merkte, daß er und die Komteß das gleiche taten. Der Duncan hatte sein Beileid zum Tod des Comte mit dem angemessenen Ausdruck unterdrückten Leids kundgetan, ebenso Lady Mary Duncan. Die Komteß hatte den Trost feierlich und dankbar angenommen. Aber Pater Bright merkte recht gut, daß niemand im Zimmer – vermutlich niemand auf der ganzen Welt – das Dahinscheiden des Comte bedauerte. Laird Duncan saß in seinem Rollstuhl, seine scharfen Gesichtszüge zu einem traurigen Lächeln verzogen, das sein Bemühen zeigte, trotz der ernsten Stunde liebenswürdig zu sein. Pater Bright bemerkte es, und ihm war klar, daß sein Gesicht ähnlich wirken mußte. Niemand machte dem anderen etwas vor, dessen war sich der Priester sicher – aber man konnte es nicht zugeben, ohne die primitivsten Anstandsregeln zu verletzen. Der Priester bemerkte im Ausdruck des Lairds etwas Hageres, Müdes, das ihm nicht gefiel. Seine priesterliche Intuition sagte ihm
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deutlich, daß im Innern des Schotten die Gefühle brodelten – Gefühle, die man nur als schlecht bezeichnen konnte. Lady Duncan sprach kaum ein Wort. Seit sie vor einer Viertelstunde mit ihrem Mann zu der zwanglosen Teestunde erschienen war, saß sie maskenhaft starr da. In ihren Augen lag der gleiche verstörte Ausdruck wie bei ihrem Mann. Aber der Priester merkte deutlich, daß ihre Gefühle nicht so komplizierter Natur waren. Sie hatte Angst, schlicht und einfach Angst. Seine scharfen Augen hatten entdeckt, daß sie etwas zuviel Make-up aufgetragen hatte. Fast war es ihr gelungen, den schwachen Kratzer an der rechten Wange zu verbergen – aber nicht ganz. Komteß d'Evreux war ganz Trauer und Elend, doch von ihr strahlten weder Furcht noch böse Gedanken aue. Sie lächelte höflich und sprach ruhig. Pater Bright hätte wetten können, daß keiner von ihnen wußte, was gerade gesprochen wurde. Pater Bright hatte seinen Platz so gewählt, daß er durch die offene Tür auf den großen Korridor hinaussehen konnte, der vom Bergfried hereinführte. Er hoffte, daß sich Lord Darcy beeilen würde. Man hatte den Gästen nicht gesagt, daß der Untersuchungsbeamte des Herzogs hier war, und Pater Bright sah der Begegnung mit einiger Nervosität entgegen. Man hatte den Duncans nicht einmal mitgeteilt, daß der Comte ermordet worden war, doch er war überzeugt davon, daß sie es wußten. Pater Bright sah Lord Darcy durch die Tür am anderen Ende des Korridors kommen. Er murmelte höflich eine Entschuldigung und erhob sich. Die anderen drei nahmen seine Ausrede mit der gleichen Höflichkeit entgegen und fuhren mit ihrem Gespräch fort. Pater Bright ging Lord Darcy in dem Korridor entgegen. »Haben Sie gefunden, was Sie suchten, Lord Darcy?« fragte der Priester leise. »Ja«, erwiderte Lord Darcy. »Ich fürchte, wir werden Laird Duncan verhaften müssen.« »Wegen Mordes?«
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»Vielleicht. Das weiß ich noch nicht sicher. Die Anklage wird auf Ausübung der Schwarzen Magie lauten. Er hat alle Instrumente, die man dazu braucht, in einer Truhe seines Schlafzimmers. Meister Sean stellte fest, daß gestern ein Experiment in dem Zimmer stattgefunden hat. So etwas untersteht natürlich nicht meiner Gerichtsbarkeit. Sie, als Vertreter der Kirche, werden die Verhaftung vornehmen müssen.« Er machte eine Pause. »Sie scheinen nicht überrascht, Reverend.« »Nein«, gab Pater Bright zu. »Ich habe es gespürt. Sie und Meister Sean werden eine eidesstattliche Erklärung abgeben müssen, bevor ich etwas tun kann.« »Ich verstehe. Können Sie mir einen Gefallen tun?« »Gern.« »Holen Sie die Komteß unter irgendeinem Vorwand aus dem Zimmer. Lassen Sie mich mit ihren Gästen allein. Ich möchte die Dame nicht mehr als nötig aufregen.« »Ich glaube, da kann ich Ihnen helfen. Sollen wir zusammen hineingehen?« »Weshalb nicht? Aber erwähnen Sie nicht, weshalb ich hier bin. Sie sollen denken, daß ich auch ein Gast bin.« »Gut.« Die drei im Zimmer Anwesenden sahen auf, als Lord Darcy mit Pater Bright hereinkam. Er wurde vorgestellt, dann bat er seine Gastgeberin wegen seines Zuspätkommens um Verzeihung. Pater Bright bemerkte auf Lord Darcys Gesicht den gleichen Ausdruck wie bei den anderen. Lord Darcy bediente sich am Büfett und ließ sich von seiner Gastgeberin eine große Tasse heißen Tees einschenken. Er erwähnte nichts von dem Todesfall. Statt dessen brachte er die Unterhaltung auf die wilde Schönheit Schottlands und die herrlichen Möglichkeiten zur Entenjagd. Pater Bright hatte nicht wieder Platz genommen. Er verließ das Zimmer noch einmal. Als er zurückkam, ging er direkt auf die Komteß zu und sagte leise, aber doch deutlich vernehmbar: 131
»Mylady, Sir Pierre Morlaix hat mir gesagt, daß einige Akten da seien, die ihre sofortige Entscheidung erforderten. Es wird nur einen Augenblick dauern.« Die Komteß zögerte nicht, sondern entschuldigte sich sofort bei ihren Gästen. »Trinken Sie Ihren Tee ruhig fertig«, fügte sie hinzu. »Ich glaube, ich bin gleich wieder da.« Lord Darcy wußte, daß der Priester nicht log, und er fragte sich, welche Vereinbarung er mit Sir Pierre getroffen hatte. Es war nicht wichtig, doch wäre es Lord Darcy lieb gewesen, wenn die Komteß mindestens zehn Minuten fernblieb. Die kurz unterbrochene Unterhaltung wandte sich wieder der Entenjagd zu. »Seit meinem Unfall schieße ich nicht mehr«, sagte Laird Duncan, »aber früher machte es mir großen Spaß. Ich habe auch jetzt noch jedes Jahr ein paar Freunde zur Jagdsaison bei mir.« »Welche Waffen verwenden Sie bei der Jagd?« erkundigte sich Lord Darcy. »Flinten mit Würgebohrungen, zweieinhalb Zentimeter Kaliber«, sagte der Schotte. »Ich habe zwei gleiche, die ich besonders schätze. Ausgezeichnete Waffen.« »Schottische Herkunft?« Aber nein. Englisch. Ihre Londoner Waffenschmiede sind bei Flinten unschlagbar.« »Ich dachte, daß Eure Lordschaft vielleicht alles in Schottland arbeiten ließen.« Während er sprach, holte er die kleine Pistole aus der Manteltasche und legte sie vorsichtig auf den Tisch. Es entstand ein plötzliches Schweigen, dann sagte Laird Duncan verärgert: »Was soll das? Woher haben Sie die Waffe?« Lord Darcy warf Lady Duncan, die plötzlich sehr blaß geworden war, einen Blick zu. »Vielleicht«, sagte er kühl, »kann uns das Lady Duncan erklären.« Sie schüttelte den Kopf und schluckte. Einen Moment lang bereitete es ihr Mühe, zu sprechen oder die richtigen Worte zu 132
finden. Schließlich meinte sie: »Nein. Nein, ich weiß nichts. Nichts.« Aber Laird Duncan warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. »Sie leugnen nicht, daß es Ihre Pistole ist, Mylord?« fragte Lord Darcy. »Oder die Ihrer Frau?« »Woher haben Sie die Waffe?« Die Stimme des Schotten klang gefährlich. Er war früher ein kraftvoller Mann gewesen, und Lord Darcy konnte sehen, wie sich seine Schultermuskeln anspannten. »Aus dem Schlafzimmer des verstorbenen Comte d'Evreux.« »Was tat sie dort?« Der Schotte stieß die Frage knurrend hervor, doch Lord Darcy hatte das Gefühl, daß sie ebenso an Lady Duncan wie an ihn gerichtet war. »Unter anderem hat sie den Comte mitten ins Herz geschossen.« Lady Duncan brach zusammen. Ihre Teetasse stürzte um. Laird Duncan kümmerte sich nicht um seine Frau, sondern wollte nach der Waffe greifen. Lord Darcys Hand griff blitzschnell zu und packte die Waffe, noch bevor der Schotte sie erreichte. »Aber nein, Mylord«, sagte er sanft. »Es ist ein Indiz in einem Mordfall. Wir dürfen die Indizien des Königs nicht aus der Hand geben.« Er war nicht auf das vorbereitet, was nun folgte. Laird Duncan fluchte etwas im schottischen Dialekt, stemmte die Hände auf die Lehnen des Rollstuhls und warf sich mit einem mächtigen Stoß seiner kraftvollen Arme und Schultern auf Lord Darcy zu. Seine Hände griffen nach Lord Darcys Kehle. Vielleicht hätte er es geschafft, aber er hatte die Kraft seiner Beine überschätzt. Er schlug mit dem Oberkörper gegen den Rand des massiven Eichentisches, und der größte Teil seines Vorwärtsschwungs ging verloren. Er brach zusammen, die Hände immer noch nach dem Engländer ausgestreckt. Sein Kinn schlug hart gegen die Tischplatte. Dann fiel er zurück. Er riß das Tischtuch mit dem Porzellan und Silber zu Boden. Seine Frau
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rührte sich nicht, sondern stöhnte nur, als das Tischtuch ihren Kopf berührte. Lord Darcy war zurückgesprungen und hatte dabei seinen Stuhl umgeworfen. Dann warf er einen Blick auf die beiden bewußtlosen Gestalten. »Hoffentlich hält mich niemand für Macbeth«, sagte er leise. »Ich glaube nicht, daß einer von ihnen einen dauernden Schaden davontragen wird«, sagte Dr. Pateley eine Stunde später. »Lady Duncan hat einen Schock erlitten, aber Pater Bright brachte sie schnell wieder zu sich. Ich glaube, sie ist zwar eine sündige, aber doch eine fromme Frau.« »Und Laird Duncan?« fragte Lord Darcy. »Nun, das ist etwas anderes. Ich fürchte, daß sich seine Rückenverletzung verschlimmert hat. Ich weiß nicht, ob ihm Pater Bright helfen kann. Das Heilen erfordert die Mitarbeit des Patienten. Ich tat für ihn, was ich konnte, aber ich bin nur Chirurg und kein Ausübender der Heilkunst. Doch Pater Bright hat auf diesem Gebiet einen sehr guten Ruf, und er könnte Seiner Lordschaft vielleicht helfen.« Meister Sean schüttelte schmerzlich den Kopf. »Der Reverend hat die Gabe, daran ist nicht zu zweifeln, aber nun ist er auf einen Mann gestoßen, der sie ebenfalls hat – ein Mann, der auf lange Sicht die Selbstvernichtung anstrebt.« »Nun, das geht mich nichts an«, meinte Dr. Pateley. »Ich bin nichts als ein Techniker. Ich überlasse das Heilen der Kirche, wie es sich gehört.« »Meister Sean«, sagte Lord Darcy. »Das Geheimnis ist immer noch nicht gelöst. Wir brauchen noch mehr Beweise. Wie steht es mit den Augen?« Meister Sean sah ihn groß an. »Sie meinen den Bildtest?« »Ja.« »Er ist bei Gericht nicht zugelassen., Mylord«, erklärte der Hexenmeister. 134
»Das weiß ich auch«, erwiderte Lord Darcy knapp. »Der Augentest?« fragte auch Dr. Pateley erstaunt. »Das verstehe ich nicht.« »Er wird nicht oft angewandt«, sagte Meister Sean. »Es ist ein psychisches Phänomen, das manchmal im Augenblick des Todes auftritt – besonders bei einem gewaltsamen Tod. Die starke Gefühlsbelastung verursacht eine Art Rückschlag der Gedanken, wenn Sie verstehen, was ich damit meine. Das Bild, das sich im Gehirn des Sterbenden eingeprägt hat, wird auf die Retina zurückprojiziert. Wenn man den richtigen Zauber anwendet, läßt sich das Bild entwickeln, und man kann erkennen, was der Tote zuletzt sah. Aber es ist selbst unter den besten Voraussetzungen ein schwieriger Prozeß, und im allgemeinen sind die Voraussetzungen nicht günstig. Erstens kommt es nicht immer vor. Zum Beispiel nie, wenn der Sterbende einen Angriff erwartet hat. Ein Mensch, der im Duell getötet wurde oder der erst stirbt, nachdem die Waffe eine Zeitlang auf ihn gerichtet war, hat Zeit, sich auf die Situation einzustellen. Der Tod muß auch sofort eingetreten sein. Wenn der Angegriffene noch ein oder zwei Minuten am Leben bleibt, verliert sich der Effekt. Und natürlich kann man auch nichts erkennen, wenn die Augen des Toten geschlossen sind.« »Die Augen des Comte d'Evreux waren offen«, sagte Dr. Pateley. »Auch noch, als wir ihn fanden. Wie lange nach dem Tod hält sich das Bild auf der Retina?« »Bis sich die Zellen der Retina auflösen und ihre Eigenart verlieren. In spätestens vierundzwanzig Stunden, meist schon früher.« »Vierundzwanzig Stunden sind noch nicht vorbei«, wandte Lord Darcy ein. »Und es besteht die Möglichkeit, daß der Comte völlig überraschend angegriffen wurde?« »Ich muß zugeben, daß die Voraussetzungen günstig scheinen, Mylord«, sagte Meister Sean nachdenklich. »Ich werde es 135
versuchen. Aber machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen, Mylord.« »Nein. Tun Sie nur Ihr möglichstes, Meister Sean. Wenn es einen Hexenmeister gibt, der diese Aufgabe lösen kann, dann sind Sie es.« »Vielen Dank, Mylord. Ich fange gleich an«, sagte der Hexenmeister. Zwei Stunden später ging Lord Darcy durch den Korridor zum Großen Saal, gefolgt von Meister Sean, der seinen Stab aus Caorihamn-Holz in einer Hand und die Reisetasche in der anderen trug. Er hatte Pater Bright und die Komteß d'Evreux gebeten, sie in einem der kleineren Gästeräume zu empfangen. Aber die Komteß kam ihm schon entgegen. »Mylord Darcy«, sagte sie, und ihr Gesicht war von Sorge und Kummer gezeichnet, »stimmt es, daß Sie Laird und Lady Duncan an diesem Mord verdächtigen? Wenn ja, dann muß ich…» »Nicht mehr, Mylady«, unterbrach Lord Duncan sie schnell. »Ich glaube, wir können beweisen, daß keiner von ihnen etwas mit dem Mord zu tun hat – obwohl natürlich die Anklage wegen Schwarzer Magie bei Laird Duncan bestehen bleibt.« »Ich verstehe Sie«, sagte sie. »Aber…« »Bitte, Mylady«, unterbrach sie Lord Darcy wieder. »Ich werde Ihnen alles erklären. Kommen Sie.« Wortlos drehte sie sich um und führte sie in den Raum, in dem bereits Pater Bright wartete. Der Priester stand im Zimmer, und sein Gesicht drückte Anspannung aus. »Bitte, setzen Sie sich«, sagte Lord Darcy. »Beide. Es wird nicht lange dauern. Mylady, darf Meister Sean den Tisch dort drüben benutzen?« »Natürlich, Mylord«, antwortete die Komteß leise. »Natürlich.«
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»Vielen Dank, Mylady. Bitte, setzen Sie sich doch. Bitte. Es wird nicht lange dauern.« Mit einem deutlichen Zögern nahmen die Komteß und Pater Bright Lord Darcy gegenüber Platz. Sie schenkten dem Treiben Meister Seans keine Aufmerksamkeit. Ihre Blicke waren auf Lord Darcy gerichtet. »Es ist nicht leicht, eine derartige Untersuchung zu führen«, sagte er vorsichtig. »Die meisten Mordfälle könnten schnell von unserem Polizeichef geklärt werden. In der Mehrzahl der Fälle löst unsere Countypolizei das Geheimnis schnell – wenn es überhaupt eines gibt. Aber durch Gesetz Seiner Majestät muß der Polizeichef die Untersuchungsbeamten des Herzogs zu Rate ziehen, wenn das Verbrechen ein Mitglied der Aristokratie betrifft. Aus diesem Grunde harten Sie völlig recht, daß Sie, Seine Hoheit, den Herzog verständigten, sobald der Mord entdeckt worden war.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Und es war von Anfang an klar, daß der verstorbene Comte gewaltsam ums Leben kam.« Pater Bright wollte etwas sagen, aber Lord Darcy unterbrach ihn, bevor er zu Wort kam. »Ich will damit nicht sagen, daß es unbedingt Mord war. Es kann sich auch um Totschlag gehandelt haben. Die Frage, die wir lösen müssen, ist einfach folgende: Wer hat den Mord oder Totschlag begangen?« Der Priester und die Komteß schwiegen und sahen Lord Darcy an, als sei er ein Wunderwesen. »Wie Sie wissen – entschuldigen Sie, Mylady, wenn ich so direkt spreche –, war der verstorbene Comte eine Art Playboy. Nein, ich will mich noch stärker ausdrücken. Er war ein Satyr, ein Wüstling. Er war ein Mensch mit einem sexuellen Wahn. Wenn ein solcher Mann seinen Leidenschaften nachgibt – was der verstorbene Comte ganz gewiß tat –, steht das Ende zumeist fest. Falls er nicht ein Mensch mit einer gewinnenden Persönlichkeit ist – und das kann man von ihm nicht behaupten –, findet 137
sich bestimmt jemand, der ihn so haßt, daß er ihn umbringt. Ein Mann wie er muß gekränkte Frauen oder Männer zum Feind haben. So eine Person könnte ihn getötet haben. Und hat es getan. Wir müssen sie finden und feststellen, wie groß ihre Schuld ist. Das ist meine Aufgabe. Nun zu den Tatsachen. Wir wissen, daß Edouard eine Geheimtreppe hatte, die direkt zu seiner Suite führte. In Wirklichkeit konnte man kaum von einer Geheimtreppe sprechen. Es gab viele Frauen – einfache und adelige –, die von der Existenz der Treppe und ihrem Eingang wußten. Wenn Edouard die untere Tür unverschlossen ließ, konnte jeder über die Treppe nach oben gelangen. Er hatte ein zweites Schloß an der Tür zu seinem Schlafzimmer, so daß nur jemand zu ihm kommen konnte, der eingeladen war. Er war geschützt. Was geschah also letzte Nacht? Ich habe übrigens Beweise, dazu das Geständnis von Laird und Lady Duncan. Ich werde Ihnen gleich erklären, wie ich sie erhielt. Erstens: Lady Duncan hatte letzte Nacht ein Stelldichein mit Comte d'Evreux. Sie gelangte über die Treppe in sein Zimmer. Sie hatte eine kleine Pistole bei sich. Sie hatte schon früher eine Affäre mit Edouard gehabt, und er hatte sie verlassen. Sie war wütend. Aber sie ging zu ihm. Er war betrunken, als sie kam – in einer dieser häßlichen Stimmungen, die Sie ja beide kennen. Sie bat ihn, sie wieder als Geliebte zu nehmen. Er weigerte sich. Nach Lady Duncans Worten sagte er: ›Ich will dich nicht. Du bist nicht gut genug, um den gleichen Raum wie sie zu betreten.‹ Die Betonung stammt von Lady Duncan. Wütend zog sie die Waffe – die kleine Pistole, die ihn tötete.« Die Komteß keuchte. »Aber Mary konnte doch nicht…«
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»Bitte!« Lord Darcy schlug mit der flachen Hand auf seine Stuhllehne. »Mylady, Sie werden jetzt mir zuhören!« Er ging ein großes Risiko ein, das wußte er. Die Komteß war seine Gastgeberin und hatte das Recht, ihn hinauszuwerfen. Aber Lord Darcy glaubte, daß es noch eine Zeitlang dauern würde, bis sie merkte, daß sie ihre freie Herrin war. Bisher hatte sie zweifellos unter der Fuchtel ihres Bruders gestanden. Er täuschte sich nicht. Sie schwieg. Pater Bright wandte sich ihr schnell zu. »Bitte, meine Tochter. Warten Sie.« »Verzeihung, Mylady«, fuhr Lord Darcy geschmeidig fort. »Ich wollte Ihnen gerade erklären, weshalb ich weiß, daß Lady Duncan nicht als Täterin in Frage kommt. Da ist die Sache mit dem Kleid. Wir sind sicher, daß die Mörderin das Kleid trug, das in Edouards Schrank hing. Und dieses Gewand konnte Lady Duncan einfach nicht passen. Sie ist zu – äh – kräftig. Sie erzählte mir ihre Geschichte, und aus Gründen, die ich später erläutern werde, glaube ich ihr. Als sie mit der Pistole nach ihrem Bruder zielte, hatte sie wirklich nicht die Absicht, ihn zu töten. Sie wollte den Abzug nicht betätigen. Ihr Bruder wußte das. Er holte aus und versetzte ihr einen Schlag ins Gesicht. Sie ließ die Pistole fallen und fiel schluchzend zu Boden. Er nahm sie grob am Arm und ›eskortierte‹ sie die Treppe hinunter. Er warf sie hinaus. Lady Duncan lief in ihrer Hysterie zu ihrem Mann. Und dann, als er sie ein wenig beruhigt hatte, merkte sie, in welcher Lage sie war. Sie wußte, daß Laird Duncan ein aufbrausender, verschrobener Mann war – er hatte große Ähnlichkeit mit Edouard, dem Comte d'Evreux. Sie wagte es nicht, ihm die Wahrheit zu sagen, aber irgend etwas mußte sie sagen. So log sie. Sie sagte ihm, daß Edouard sie hinaufgebeten habe, unter dem Vorwand, er müßte ihr etwas Wichtiges mitteilen. Etwas, das ›die Sicherheit von Laird Duncan‹ beträfe. Sie log, daß der Lord ihr gedroht habe, die Kirche von Laird Duncans Hobby, der 139
Schwarzen Magie, zu verständigen, wenn sie sich ihm widersetzte. Sie habe gerade noch fliehen können.« Lord Darcy breitete die Hände aus. Es war natürlich ein Lügengewebe. Aber Laird Duncan glaubte jedes Wort. Sein Ego war so groß, daß er nicht an ihre Untreue glauben konnte, obwohl er schon seit fünf Jahren gelähmt ist. »Woher sind Sie sicher, daß Lady Duncan die Wahrheit sprach?« fragte Pater Bright aufmerksam. »Abgesehen von der Sache mit dem Kleid – Comte d'Evreux hielt die Gewänder übrigens nur für Mädchen des einfachen Standes, nicht aber für Adelige bereit –, haben wir auch ein Zeugnis von Laird Duncan selbst. Das ist Nummer zwei. Laird Duncan hätte den Mord nicht persönlich durchfuhren können. Wie hätte ein Mann, der an den Rollstuhl gefesselt ist, die lange Wendeltreppe geschafft? Sie werden selbst einsehen, daß das unmöglich ist. Die Möglichkeit, daß er all die Jahre hindurch etwas vorgetäuscht hatte und in Wirklichkeit gehen konnte, scheidet aus. Er verletzte sich vor drei Stunden, als er mich anzugreifen versuchte. Seine Beine können ihn keinen Schritt weit tragen.« Lord Darcy faltete die Hände. »Es bleibt die Möglichkeit, daß Laird Duncan den Comte auf psychische, magische Weise getötet hat«, sagte Pater Bright. Lord Darcy nickte. »Das gibt es tatsächlich, wie wir beide wissen, Sir Reverend. Aber nicht in diesem Fall. Meister Sean versichert mir – und ich glaube, daß Sie ihm beipflichten werden –, daß ein durch Hexenkunst Ermordeter an einem inneren Leiden stirbt, aber niemals durch eine Kugel. Der Hexer bringt seinen Feind dazu, sich selbst auf psychosomatischem Wege zu töten. Er stirbt, wie der Fachausdruck lautet, durch psychische Induktion. Nach Meister Seans Worten ist die übliche – und grausamste – Methode die sogenannte Scheinbildmethode. Dabei wird ein Abbild hergestellt, dem man Fingernägel, Haare und Speichel des Opfers beifügt. Dann kann 140
man mit Hilfe der Ähnlichkeits- und Ansteckungsgesetze den Tod des Opfers herbeiführen. Habe ich recht, Pater?« Der Priester nickte. »Ja. Und im Gegensatz zu den häretischen Lügen mancher Materialisten ist es keineswegs nötig, das Opfer vorher zu verständigen – obwohl es zugegebenermaßen den Prozeß manchmal beschleunigt.« »Genau«, sagte Lord Darcy. »Aber es ist allgemein bekannt, daß ein guter Hexer – ob zugelassen oder nicht – Gegenstände bewegen kann. Würden Sie bitte Mylady erklären, weshalb ihr Bruder nicht auf diese Weise getötet werden konnte?« Pater Bright fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wandte sich dann der jungen Frau zu, die neben ihm saß. »Es fehlte die Beziehung. Die Kugel hatte entweder eine Beziehung zum Herzen des Getöteten oder zur Pistole. Und mit einer so großen Geschwindigkeit dahinzufliegen, daß der Körper fast durchdrungen wurde, mußte die Kugel eine größere Beziehung zum Herzen des Comte als zur Pistole haben. Aber die Überprüfung durch Meister Sean, an der ich selbst teilnahm, zeigte, daß die Kugel zur Pistole zurückkehrte und nicht zum Herzen Ihres Bruders. Das beweist, meine Liebe, daß die Kugel auf physikalischem Weg die Pistole verließ und in das Herz des Comte eindrang.« »Was hat dann Laird Duncan getan?« fragte die Komteß. »Damit wären wir beim dritten Punkt«, meinte Lord Darcy. »Laird Duncan glaubte seiner Frau und war natürlich zornentbrannt. Er beschloß, Ihren Bruder zu töten. Er benutzte einen Induktionsbann. Aber der Bann prallte ab und brachte ihn beinahe selbst um. Es gibt Analogien auf materieller Ebene. Wenn man Petroleum oder Luft zu einem brennenden Feuer hinzufügt, wird das Feuer stärker. Streut man Asche darauf, dann geht es aus. Wenn man nun ein Lebewesen psychisch angreift, wird es sterben – aber wenn man einen Toten in der gleichen Weise um
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bringen möchte, wird die psychische Energie absorbiert und wen det sich gegen die Person, die sie benutzt hat. Theoretisch könnten wir Laird Duncan wegen Mordversuchs anklagen, denn es besteht kein Zweifel daran, daß er Ihren Bruder töten wollte, Mylady. Aber Ihr Bruder war zu dieser Zeit schon tot! Dadurch prallte die psychische Energie zurück, und Laird Duncan lag mehrere Stunden lang bewußtlos da. Während dieser Zeit wartete Lady Duncan in angespannter Furcht. Als schließlich Laird Duncan wieder zu Bewußtsein kam, merkte er natürlich, was geschehen war. Er wußte, daß Ihr Bruder bereits tot gewesen war, als er ihn bannen wollte. Er dachte daher, daß Lady Duncan den Comte umgebracht hatte. Lady Duncan andererseits war sich völlig sicher, daß sie Edouard lebend verlassen hatte. So dachte sie, daß ihr Mann ihren früheren Liebhaber umgebracht hatte.« »Jeder versuchte den anderen zu schützen«, meinte Pater Bright. »Also ist keiner von ihnen wirklich schlecht. Vielleicht können wir etwas für Laird Duncan tun.« »Das weiß ich nicht, Pater«, sagte Lord Darcy. »Die Heilkunst ist Sache der Kirche.« Er stellte amüsiert fest, daß er die Worte Dr. Pateleys wiederholte. »Was Laird Duncan nicht gewußt hatte«, fuhr er schnell fort, »war die Tatsache, daß seine Frau eine Pistole zum Comte mitgenommen hatte. Das warf natürlich ein ganz anderes Licht auf ihren Besuch. Und deshalb warf er sich auch so zornentbrannt auf mich – nicht weil ich ihn oder seine Frau wegen Mordes anklagte, sondern weil ich das untadelige Verhalten seiner Frau in Frage gestellt hatte.« Er drehte sich zu dem Tisch um, an dem der irische Hexenmeister arbeitete. »Fertig, Meister Sean?« »Aye, Mylord. Ich muß nur noch die Leinwand aufstellen und den Projektor in Gang bringen.«
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»Also gut, fangen Sie an.« Er wandte sich wieder Pater Bright und der Komteß zu. »Meister Sean hat ein äußerst interessantes Lichtbild, das ich Ihnen gerne zeigen möchte.« »Die stärkste Entwicklung, die ich je gemacht habe, wenn ich das hinzufügen darf, Mylord«, sagte der Hexenmeister. »Fangen Sie an.« Meister Sean öffnete die Blende des Projektionsapparates, und auf dem Schirm erschien ein Bild. Pater Bright und die Komteß stießen einen kleinen Schrei aus. Es war eine Frau. Sie trug das Gewand, das im Schrank des Comte gehangen hatte. Ein Knopf war losgerissen, und das Kleid stand offen. Ihre rechte Hand war fast völlig in Pulverdampf eingehüllt. Offensichtlich hatte sie soeben eine Pistole auf den Zuschauer abgefeuert. Aber nicht deshalb hatten sie aufgeschrien. Das Mädchen war schön. Strahlend, hinreißend schön. Es war keine stille Schönheit. Sie war weder zart noch sanft. Es war eine Schönheit, die auf einen Mann nur eine Wirkung haben konnte. Sie war die begehrenswerteste Frau, die man sich vorstellen konnte. Retro me, Satanas, dachte Pater Bright gequält. Sie ist von einer fast obszönen Schönheit, die jeden Mann in ihren Bann zog. Nur die Komteß war unbeeindruckt von der Begehrlichkeit. Sie sah lediglich die verblüffende Schönheit. »Hat keiner von Ihnen die Frau schon einmal gesehen? Das dachte ich mir«, sagte Lord Darcy. »Laird und Lady Duncan kannten sie auch nicht, ebenso wenig wie Sir Pierre. Wer ist sie? Wir wissen es nicht. Aber wir können einige Schlüsse ziehen. Sie muß mit dem Comte verabredet gewesen sein. Es handelt sich zweifellos um die Frau, die Edouard Lady Duncan gegenüber erwähnte – sie, mit der sich die schottische Adelige nicht vergleichen konnte. Es ist fast sicher, daß es eine Frau aus dem Volke ist. Sonst würde sie kein Kleid aus der 143
Sammlung des Comte tragen. Offenbar hat sie sich im Schlafzimmer umgezogen. Dann bekam sie mit dem Comte Streit – worüber, das wissen wir nicht. Der Comte hatte Lady Duncan vorher die Pistole weggenommen und achtlos auf dem Tisch liegengelassen, den Sie hinter dem Mädchen sehen. Sie nahm sie an sich und erschoß ihn. Dann zog sie sich wieder um, hing das Kleid auf und lief weg. Niemand sah sie kommen oder gehen. Für diesen Zweck hatte der Comte ja die Geheimtreppe bauen lassen. Oh, wir werden sie finden – keine Angst. Jetzt, da wir wissen, wie sie aussieht… Auf alle Fälle«, schloß Lord Darcy, »das Geheimnis ist nun zur Befriedigung aller gelöst, und ich werde einen Bericht an Seine Hoheit abschicken.« Herzog Richard goß freigebig einen ausgezeichneten Brandy in die Kristallkelche. Auf seinem jugendlichen Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln, als er einen der Kelche Lord Darcy reichte. »Gut gemacht, Mylord«, sagte er. »Sehr gut gemacht.« »Es freut mich, daß Eure Hoheit das sagen«, meinte Lord Darcy, als er den Brandy entgegennahm. »Aber wie waren Sie so sicher, daß es niemand von außerhalb des Schlosses war? Jemand könnte durch das Haupttor hereingekommen sein. Das steht immer offen.« »Das stimmt, Eure Hoheit. Aber die Tür am Fuß der Treppe war abgeschlossen. Comte d'Evreux schloß ab, nachdem er Lady Duncan hinauswarf. Es ist unmöglich, sie von außen zu öffnen oder zu verschließen. Mit Gewalt wurde die Tür auch nicht aufgesprengt.. Niemand hätte auf diesem Wege hereinkommen oder fliehen können, nachdem Lady Duncan so unfreiwillig das Feld räumen mußte. Der einzige andere Weg zur Suite des Comte führte durch die andere Tür, und die war unverschlossen.« »Ich verstehe«, sagte Herzog Richard. »Ich möchte nur wissen, weshalb sie überhaupt hinaufging.«
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»Wahrscheinlich, weil er sie rufen ließ. Jede andere Frau hätte gewußt, was ihr bevorstand, wenn sie eine Einladung in die Suite des Comte d'Evreux erhielt.« Das hübsche Gesicht des Herzogs verdüsterte sich. »Nein. Man konnte so etwas kaum von seinem eigenen Bruder erwarten. Sie hatte völlig recht, daß sie ihn erschoß.« »Völlig, Eure Hoheit. Und wenn sie nicht gerade die Erbin gewesen wäre, hätte sie sofort gestanden. Um es ehrlich zu sagen, ich konnte sie gerade noch daran hindern, mir alles zu gestehen, als sie dachte, ich würde die Duncans beschuldigen. Doch sie wußte, daß es nötig war, den Ruf ihres Bruders und ihren eigenen zu erhalten. Nicht als Privatpersonen, sondern als Comte und Komteß, als Regierungsbeamte Seiner Königlichen Majestät. Es ist nicht so schlimm, wenn ein Mann im Ruf eines Wüstlings steht. Die meisten Menschen kümmern sich bei einem Regierungsbeamten nicht darum, solange er seine Pflicht tut – und das tat der Comte, wie Sie wissen, Hoheit. Aber es ist etwas anderes, erschossen zu werden, weil man die eigene Schwester vergewaltigen will. Sie mußte es einfach vertuschen. Und sie wird schweigen, wenn man niemand anders anklagt.« »Was natürlich nicht geschehen wird«, sagte Herzog Richard. Er nahm einen Schluck Brandy und sagte dann: »Sie wird eine gute Herrscherin abgeben. Sie hat ein gutes Urteilsvermögen und kann auch in Bedrängnis kühl bleiben. Als sie ihren eigenen Bruder erschoß, hätte sie in Panik ausbrechen können. Aber sie tat es nicht. Wie viele Frauen hätten daran gedacht, einfach das beschädigte Kleid auszuziehen und dafür das Duplikat aus dem Schrank zu holen?« »Sehr wenige«, gab Lord Darcy zu. »Deshalb habe ich auch nie erwähnt, daß ich wußte, was der Schrank des Comte enthielt. Übrigens, Eure Hoheit, wenn ein guter Heiler wie Pater Bright von diesen Duplikaten gewußt hätte, dann wäre ihm sofort klar gewesen, daß der Comte einen sexuellen Wahn seiner Schwester
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gegenüber hatte. Er hätte gewußt, daß alle Frauen, denen der Comte nachstellte, nur Schwesterersatz waren.« »Ja, natürlich. Und keine von ihnen kam ihr gleich.« Er stellte den Kelch auf den Tisch. »Ich werde meinem Bruder, dem König, mitteilen, daß ich die neue Komteß nur empfehlen kann. Schriftlich wird natürlich nichts niedergelegt. Sie wissen es, ich weiß es, und der König muß es wissen. Sonst niemand.« »Noch einer weiß Bescheid«, sagte Lord Darcy. »Wer?« Der Herzog sah ihn verwirrt an. »Pater Bright.« Herzog Richard wirkte erleichtert. »Er wird ihr nicht sagen, daß wir es wissen, oder?« »Ich glaube, wir können uns auf Pater Brights Diskretion verlassen.« Komteß Alice d'Evreux kniete im Beichtstuhl und lauschte der Stimme Pater Brights. »Ich werde Ihnen keine Buße auferlegen, mein Kind, denn Sie haben keine Sünde begangen – was den Tod Ihres Bruders betrifft. Wegen der übrigen Sünden lernen Sie das dritte Kapitel aus ›Die Welt und die Seele‹ von St. James Huntingdon auswendig.« Er wollte schon die Worte der Absolution sprechen, aber die Komteß unterbrach ihn: »Ich verstehe eines nicht. Dieses Bild. Das war nicht ich. Ich habe noch nie im Leben ein so strahlend schönes Mädchen gesehen. Und ich bin so unansehnlich. Das verstehe ich nicht.« »Hätten Sie näher hingesehen, mein Kind, dann hätten Sie erkannt, daß es Ihr Gesicht war – nur idealisiert. Wenn ein subjektives Bild objektiv gemacht wird, treten unweigerlich Verzerrungen auf. Deshalb kann man solche Dinge auch bei Gericht nicht als objektive Beweismittel anführen.« Er machte eine Pause. »Um es in anderen Worten zu sagen, mein Kind: Schönheit ist subjektiv.« 146
Mrs. Maude Terrain war eine der reichsten Frauen der Erde. Sie war zugleich die Vorsitzende der Liga wider interplanetarische Ehen, und man wußte, daß sie das Erdbürger-Konzil unterstützt hatte. Deshalb und aus anderen Gründen mußte Mrs. Terrain sterben …
Die Mörderkette WENZELL BROWN Wenn Maudie mir wenigstens die zehntausend Dollar zur Investition in die Mars-Entwicklungs-Gesellschaft gegeben hätte, wäre für mich kein Grund vorhanden gewesen, sie umzubringen. Das Geld hätte sich mehr als verdreifacht, und meine finanziellen Sorgen wären vorbei gewesen. Aber Maudie war schon immer so unvernünftig. Obwohl sie zähneknirschend zugeben mußte, daß ich mit dem Mars-Wagnis recht gehabt hatte, vertraute sie meinen Spekulationsfähigkeiten immer noch nicht. Sie war so unerbittlich wie immer, wenn ee darum ging, sich von dem winzigsten Bruchteil ihres Vermögens zu trennen, auch als ich die Chance bekam, in die Balsavius-VI-Bergwerksgesellschaft einzusteigen. Balsavius VI, falls Sie das nicht wissen, ist der neueste Planet, auf dem terranische Raumschiffe gelandet sind. Alles über Balsavius wurde im Flüsterton verhandelt. Nur eine Handvoll Leute hat eine Ahnung von dem Wert der Erzvorkommen auf dem neuentdeckten Planeten. Zufällig war einer dieser Männer mein Freund Sylvester, und er wollte mir auch eine Scheibe seiner neugegründeten Gesellschaft abgeben, wenn ich die lächerliche Summe von fünftausend Dollar hineinsteckte. Die Schwierigkeit war, wie ich an soviel Papier herankommen sollte. Eigentlich hätte die Antwort einfach aussehen müssen. Maudie (Mrs. Maude Terrain) war eine der reichsten Frauen der Erde, und schließlich war Maudie meine Schwiegermutter. Das Schlimme bei Maudie war, daß sie engstirnig und voller Vor147
urteile war. Sie gab gern damit an, daß ihre Familie von Anfang an solider, terranischer Herkunft war. Mit der gesellschaftlichen Creme von Venus verkehrte sie zwar, aber die Marsianer hielt sie für ungebildet, und sie weigerte sich, Gäste von den, wie sie es nannte, ›unbedeutenden Planeten‹ einzuladen. Maudies zweiter Fehler war ihr Geiz. Obwohl ihre Tochter Isabelle und ich nun schon seit acht Jahren verheiratet waren, gab uns Maudie nie mehr als einen bescheidenen Zuschuß. Sie fand immer, ich sollte arbeiten, was ein ziemlicher Blödsinn ist, wenn man bedenkt, daß man mit ein wenig Kapital so viele Möglichkeiten hat, schnell reich zu werden. Isabelle ist nicht so wie Maudie. Sie ist leicht um den Finger zu wickeln, nachgiebig, Schmeicheleien zugänglich – und bei Maudies Tod würde Isabelle das ganze Vermögen erben. Wenn man also weiß, wie die Dinge liegen, ist es nicht schwer, sich auszumalen, daß durch Maudies rasches Ableben das einzige Hindernis entfernt war, das zwischen mir und dem Geld stand. Seit meinem Gespräch mit Sylvester war mir oft der Gedanke gekommen, Maudie umzubringen, aber die brauchbaren Waffen erschienen mir alle zu primitiv. Ich bin ein wählerischer Mensch, und der Gedanke, Maudie zu erschießen oder zu erstechen, war einfach zu vulgär. Eines der sicheren Gifte wäre das Richtige für mich gewesen, aber natürlich nichts so Offensichtliches wie Blausäure oder Arsen. Was Kurare oder Beleston betraf, so muß ich ehrlich gestehen, daß ich nicht den leisesten Schimmer hatte, woher ich sie bekommen konnte. So standen die Dinge, als ich mich durch Zufall vor dem Schaufenster von Melvin Rosys Schmuck-Boutique im Greenwich Village befand. Ich war schon oft genug an dem Laden vorbeigekommen, aber bisher war ich noch nie stehengeblieben, um mir die Sachen anzusehen. In letzter Zeit hat sich im Village ein merkwürdiges Volk angesiedelt, Marsianer, Venusier und die kleinen grünen Männchen aus dem Raum. In einem mußte ich Maudie ja recht geben – sie nannte diese Fremden nicht umsonst
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Gesindel. Einige der Galaktier verdienten diese Bezeichnung wirklich. Vor dem Laden waren ein paar lange rosa Streifen, auf denen Reklame für den Schmuck im Innern gemacht wurde. Ich nahm einen in die Hand, denn es war mir eben eingefallen, daß Maudie am nächsten Tag Geburtstag hatte und daß es vielleicht nicht schlecht war, sie mit einem Geschenk zu erweichen. Ich sah mir die abscheulichen Schmuckstücke im Schaufenster an – Ringe, Armreifen und ähnliches Zeug, geschmückt mit vorquellenden Augen, schwebenden Amöben und vergoldeten Nieren. Maudie hatte eine Schwäche für auffallende Sachen, aber dieses Zeug widersprach sogar ihrem Geschmack. Vielleicht wäre ich weitergegangen, wenn nicht ein paar Zeilen oben an dem rosa Streifen meine Aufmerksamkeit gefesselt hätten. Sie stammten von einem Humoristen namens S. J. Perelman, und er schrieb, daß Schmuck zur Frau gehöre »wie die Schale zum Ei, die Blumen zum Mai, und – wie die Hexe zum Besen«. Der letzte Teil erinnerte mich an Maudie – die Hexe auf dem Besen. Fast instinktiv erklomm ich die ausgetretenen Steinstufen zum Laden. Die Tür war offen, und der Besitzer stand hinter dem Ladentisch. Sonst war niemand anwesend. Ich hatte Melvin Rosy schon öfter in dieser Gegend gesehen. Er war ein Mordskerl von einem Mann mit einem ausgefransten roten Bart, und er gab mit einem Jadering im linken Ohrläppchen an. Ich hatte schon immer den Verdacht gehabt, daß Rosy marsianisches Blut in den Adern hatte, aber ich war nie sicher gewesen, bis ich nun die kleinen Purpurflecken auf seinen Handflächen sah, die ein untrügliches Zeichen sind. Rosy sah auf, und sein Blick schien mitten durch mich durchzugehen. Einige dieser Kumpel vom Mars besitzen die unheimliche Fähigkeit, unsere Gedanken zu lesen. Rosys Stimme war deutlich, aber es schwebte ein Zittern in ihr mit, das an ein Saiteninstrument erinnerte. »Ein Geschenk, vielleicht«, sagte er. »Für eine Frau?« 149
Ich nickte, aber ich fuhr fast aus der Haut, als er hinzufügte: »Für Ihre Schwiegermutter, vermute ich. Ich glaube, ich habe genau das Richtige.« Er zeigte mir ein halbes Dutzend Anhänger und Armreifen, aber ich merkte, daß er nicht bei der Sache war. Er beobachtete mich, er wollte sichergehen, bevor er mir das Stück anbot. Ich spürte, wie die Erregung in mir wuchs, obwohl ich noch keine Ahnung hatte, was er mir zeigen würde. Schließlich ging er nach hinten und verschwand hinter einem Batitvorhang. Als er zurückkam, hielt er ein Schächtelchen in Herzform in der Hand. Es war aus feinem Samt und purpurrot. Er legte die Schachtel auf den Ladentisch, hielt aber die breite Hand so darüber, daß sie fast verdeckt war. Sein Blick sog sich an mir fest, und seine fleischigen Lippen verzogen sich zu einem grimassenhaften Lächeln. Er sagte: »Ich nehme an, daß Sie ein ganz, ganz besonderes Geschenk wollen. Man könnte sagen, ein Abschiedsgeschenk, ein Geschenk zum Dahinscheiden.« Ich schluckte und nickte. Er hob die Schachtel hoch und drückte auf den Verschluß. Der Deckel wurde von Federscharnieren langsam hochgedrückt, und ich starrte die herrlichste Kette an, die ich je gesehen hatte. Sie war lang und dünn, nicht breiter als ein Schuhband, und der Verschluß stellte einen kunstvoll gearbeiteten Schlangenkopf dar. Ich sah das verschlungene Kettenmuster staunend an. Bestimmt kam der Schmuck nicht von der Erde. Wir haben nirgends auf unserm Planeten Goldschmiede, die zu einer so meisterhaften Detailarbeit fähig waren. Aber noch verblüffender als die Ausführung war die Farbe der Kette. Es war nicht Gold, wie ich anfangs geglaubt hatte, sondern ein mir unbekanntes Metall mit einem Orangeschimmer. Rosys leises Kichern ließ mich von der Kette aufsehen. »Sie ist herrlich, nicht wahr?«
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»Ja«, sagte ich, »aber sie übersteigt meine Mittel. Ich dachte eher an eine Kleinigkeit…« Rosy brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen, und ich bemerkte wieder die purpurnen Flecke auf der Innenseite seiner Hand. Er sagte: »Nichts ist zu teuer für die Frau, die Sie hassen.« Ich begann stotternd zu protestieren, aber etwas in Rosys Gesichtsausdruck brachte mich zum Schweigen. Er sprach leise, als wollte er ein Kind besänftigen. »Wir brauchen uns nicht über den Preis zu unterhalten. Die Kette wird Sie zu einem reichen Mann machen. Wir können uns später einigen.« »Ich verstehe nicht.« »Ah, das kommt noch«, sagte er lächelnd. »Sie kennen das Metall nicht. Das ist nicht weiter schlimm. Wahrscheinlich hat kein Terraner es bisher gesehen und überlebt. Auf Mars nannte man es Malutrex, und selbst dort ist es rar und wegen seiner besonderen Eigenschaften unheimlich teuer. Ich glaube, daß insgesamt nicht mehr als ein Dutzend solcher Ketten hergestellt wurden. Man nennt sie –« Hier machte er eine Pause, um das Wort besser zur Geltung kommen zu lassen – »Mörderketten.« Ich glaube, er erwartete, daß ich ihn nach dem Grund frage. Aber komischerweise war meine Kehle so trocken, daß ich es nicht wagen konnte, etwas zu sagen. »Sie werden sich erinnern«, fuhr er langsam fort, »daß die Marsianer, als sie Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zum erstenmal auf die Erde kamen, nicht gerade freundlich empfangen wurden. Unsere ersten Raumschiffe wurden mit Abwehrfeuer vertrieben, und viele unserer Leute kamen um. Unser nächster Schritt war die heimliche Infiltration. Wir landeten unsere Schiffe in Wüsten und an anderen einsamen Stellen und luden ausgewählte Leute ab, die sich unter die Terraner mischen sollten. Da wir eine überlegene Rasse sind, hatten viele unserer Vertreter in kurzer Zeit bedeutende Stellen in der Regierung, vor allem in den Vereinigten Staaten. Diesen Marsianern fiel die Aufgabe zu, die
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alten Vorurteile abzubauen, so daß man mit der Erde uneingeschränkten Handel treiben konnte und Einwanderer nicht mehr verfolgt wurden. Es war nicht leicht. Die Terraner waren uns gegenüber immer noch feindlich eingestellt, und wenn einer von uns als Marsianer entlarvt wurde, sperrte man ihn ein, mißhandelte ihn und brachte ihn oft genug um. Als Ganzes waren die Terraner ein friedliches Volk, aber sie wurden von einzelnen Demagogen aufgehetzt. Diese mußten wir zum Schweigen bringen. Offene Vergeltung hätte mehr geschadet als genutzt. Und damals fanden die Marsianer die perfekte Waffe – Malutrex. Für uns Marsianer ist das Metall völlig unschädlich, da unser Blut eine andere Zusammensetzung hat als das Ihre. Wir können Malutrex ohne weiteres tragen. Sehen Sie …« Er wickelte sich die schmale Kette zweimal um das Handgelenk und ließ den Verschluß einschnappen. Dann löste er den herrlichen Schmuck wieder. Er sah mich eine Zeitlang lächelnd an. Als er wieder sprach, wählte er seine Worte mit Bedacht. »Vielleicht erinnern Sie sich an alte Erzählungen vom ›leisen Tod‹. Gewisse Kongreßmitglieder und Senatoren, die die Opposition zur interplanetarischen Entwicklung anführten, starben auf geheimnisvolle Weise und ohne die Zeichen einer Gewaltanwendung. Ihre Todesursache war Malutrex.« Ich grub halbvergessene Tatsachen aus meinem Gedächtnis, die ich als Schuljunge gelernt hatte. »Aber wie …« Wieder schnitt mir die erhobene, purpurgefleckte Hand das Wort ab. »Terraner sind Warmblüter. Die chemische Analyse ihrer Körper … aber ich will Sie nicht mit technischen Einzelheiten belasten. Kurz gesagt, sobald eine Malutrexkette menschliches Gewebe umschließt, beginnt sie langsam und unmerklich einzuschrumpfen. Sie wird immer enger, bis sie den Träger erwürgt. Und ein Terraner kann nichts, absolut nichts dagegen tun. Sobald der Verschluß zugeschnappt ist, kann er ihn nicht mehr öffnen, egal, was er versucht, und nach ein paar Minuten 152
gelingt es ihm nicht mehr, die Kette von der Haut zu lösen. In den meisten Fällen merkt das Opfer gar nichts von dem schleichenden Tod. Malutrex zieht sich langsam und schmerzlos zusammen – und erst im letzten Moment weiß das Opfer Bescheid.« Meine Knie waren ein wenig schwach, und ich hatte ein flaues Gefühl im Magen. »Weshalb sagen Sie das? Weshalb geben Sie das Geheimnis preis?« Rosys Lächeln wurde vertraulicher. »Mrs. Terrain ist bei uns Marsianern nicht gerade beliebt«, sagte er sanft. »Wenn ich mich recht erinnere, ist sie Vorsitzende der ›Liga wider interplanetarische Ehen‹ und hat das Erdbürger-Konzil finanziert, um nur einige der diskriminierenden Organisationen zu nennen, mit denen sie zu tun hat. Vielleicht würden Sie als ihr Erbe das Vermögen besser anlegen.« »Daran besteht kein Zweifel«, sagte ich. »Also dann …« »Aber ich habe keine Lust, in der Todeskammer wegen Mordes zu sterben.« »Das werden Sie auch nicht. Sehen Sie, wurde ein einziger der Mörder gefaßt?« »Aber man würde die Kette finden, die ihren Hals eingeschnürt hat.« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Das warme Blut, also das Arbeiten des Herzens, bewirkt, daß sich Malutrex zusammenzieht. Sobald also der Tod eintritt, nimmt die Kette wieder ihr normales Ausmaß an. Der Verschluß kann geöffnet werden, die Kette wird abgenommen, und wenn man die beiden Enden nicht zusammenbringt, ist sie völlig harmlos.« Ich schluckte wieder. Mord in der Abstraktion ist einfach. Kaltblütiger, genau vorausgeplanter Mord ist etwas ganz anderes. Aber wenn Maudie starb, gehörte das viele, viele Geld mir! Plötzlich lachte ich, als ich merkte, was ich mir da zusammenträumte. Das Ganze mußte ein Scherz sein. 153
Wie zuvor schien Rosy meine Gedanken zu lesen. Er nahm mein Handgelenk und wand die Kette zweimal herum. Ich starrte das zierliche Schmuckstück fasziniert an. Während ich hinsah, konnte ich erkennen, wie das Metall schrumpfte, kaum merklich zwar, aber für mich doch eindeutig. Ich griff nach dem Verschluß und zerrte daran. Es war völlig hoffnungslos. Eine panische Angst überkam mich. Ich packte die dünne Kette und versuchte sie zu zerreißen. Sie war zäher als gehärteter Stahl. Auf meiner Stirn stand Schweiß, und ich konnte kaum einen Schrei unterdrücken. Mit einem verständnisvollen Kopfnicken beugte sich Rosy vor und hob meine Hand hoch. Er öffnete den Verschluß mit einer lässigen kleinen Fingerbewegung. Ich atmete schwer und war halb von Sinnen vor Angst, aber Rosys Falle war zu verlockend. Maudie tot, ich selbst Millionär, und keine Angst vor dem Erwischtwerden. Diese Möglichkeit konnte ich nicht auslassen. Das wußte auch Rosy. Wir mußten uns nur noch einig werden. Als ich eine halbe Stunde später die Schmuck-Boutique verließ, lag das purpurrote Schächtelchen mit der Mörderkette wunderschön verpackt in meiner Tasche. Ich mußte meine Pläne vorsichtig und unauffällig durchführen. Maudie und Isabelle machten mir die Sache leicht. In Maudies Wohnung sollte zur Feier ein Abendessen stattfinden. Die einzigen Gäste außer uns waren Sylvester und seine Frau. Maudie beklagte sich in letzter Zeit oft über starke Migräne und ging nach dem Dinner nicht mehr gern aus, aber sie hatte vier Karten für das Stück der Saison besorgt und bestand darauf, daß wir vier hingingen. Sie wollte sich ausruhen, während wir fort waren, versprach aber, das Licht brennen zu lassen, damit Isabelle ihr beim Heimkommen noch gute Nacht sagen konnte. Alles lief wie am Schnürchen. Ich kaufte ein kleines Geschenk für Maudie und überreichte es ihr noch vor dem Essen. Beim Dinner ging es fröhlich zu, und gerade, als wir aufbrechen wollten, kündigte ich an, daß ich noch ein zweites Geschenk hätte.
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Maudie war entzückt von der Kette. Ich brauchte sie nicht einmal um ihren Hals zu legen, wie ich es geplant hatte. Sie ließ den Verschluß selbst zuschnappen, ging an den Dielenspiegel und bewunderte stolz ihr Spiegelbild. Die Kette glitzerte und funkelte im Licht. Ich ging als letzter hinaus, und Maudie hielt mich fest, zog meinen Kopf zu sich herunter und küßte mich. Vielleicht war sie jetzt so weich, daß sie mir ein paar Tausend geliehen hätte, aber selbst wenn ich recht hatte, war es jetzt zu spät. Ich konnte nicht gut zu ihr gehen und ihr die Kette wieder herunterreißen – auch wenn es möglich gewesen wäre, sie zu öffnen. An das Stück kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich dachte die ganze Zeit an Maudie und wurde von allerlei Zweifeln und Ängsten hin und her gerissen. Einmal war ich in der tiefsten Hölle, und im nächsten Moment schwebte ich in den Wolken und überlegte, wie ich es mir mit Isabelle und Maudies Millionen schönmachen würde. In Gedanken sah ich Maudie tot vor mir liegen, und dann war ich wieder der Meinung, daß Rosy mich hereingelegt hatte und Maudie so lebendig war wie eh und je vor uns stehen würde, wenn wir heimkamen. Manchmal wünschte ich mir das eine und dann wieder das andere. Ich war ziemlich aufgewühlt und nervös. Das Stück schien zehn Lichtjahre zu dauern, aber in Wirklichkeit war es noch nicht Mitternacht, als wir vor dem Theater ein Taxi herbeiwinkten. Sobald wir um die Ecke kamen und das Markisenvordach des Appartementhauses sahen, wußte ich, daß etwas schiefgegangen war. Zwei rotweiße Polizeiwagen standen quer vor dem Eingang, und eine neugierige Menschenmenge begann sich anzusammeln. Ich hatte gedacht, ich könnte die Kette unauffällig an mich nehmen, bevor die Polizei kam. In der Aufregung beim Auffinden der Toten wäre es kaum jemandem aufgefallen, und wenn, dann hätte es nicht komisch ausgesehen, wenn ich mein letztes Geschenk zum Andenken wieder an mich nahm. Da die Polizei schon auf der Bildfläche war, kam das nicht mehr in Frage. Ich konnte nichts tun, als mich vorsichtig um155
hören. Wir schoben uns durch die Menge der neugierigen Herumstehenden und der Nachbarn, die in die Vorhalle herausgekommen waren. Ein Polizist stand an der Tür, aber sobald wir uns ausgewiesen hatten, brachte er uns in Maudies großen Empfangsraum. Nur zwei Polizisten waren da. Den Namen des Kleineren verstand ich nicht, aber der Kiese in den unauffälligen Kleidern stellte sich als Lieutenant Onsett von der Mordkommission vor. Schon der Name ›Mord‹ reichte, um meine Knie weich werden zu lassen, aber glücklicherweise lenkte Isabelle von mir ab, indem sie einen Hysterieanfall bekam, der die Wände erzittern ließ. Sie beschäftigte die anderen mit ihrem Geschrei so lange, daß ich mich ins Schlafzimmer stehlen und einen Blick auf Maudie werfen konnte. Sie lag ausgestreckt auf dem Bett, mit hochgeworfenen Armen und blauem Gesicht, aber an ihrem Hals war keine Würgespur. Ich wollte zuallererst die Kette wiederhaben, aber als ich näherkam, sah ich, daß sie verschwunden war. Ich stand da, atmete schwer und versuchte mich zu konzentrieren. Konnte die Kette nach dem Tod von selbst aufgegangen sein? Ich warf einen Blick auf die Bettücher, den Teppich neben dem Bett, das Medizintischchen. Nichts. Ich hatte nicht gehört, daß jemand den Raum betrat, aber als ich aufsah, starrte ich direkt in die blaßgrauen Augen Lieutenant Onsetts. Sein Gesicht war die übliche leere Maske, aber er verriet sich durch ein kurzes Zucken der Lippen. Er weiß etwas, dachte ich, zumindest vermutete er etwas. Ich mußte mich fest in die Hand nehmen, damit ich ihn nicht zur Seite stieß und wie ein Irrer aus dem Haus flüchtete. Onsett winkte mir, daß ich ins Empfangezimmer zurückkommen sollte. Isabelle hatte sich etwas beruhigt, aber sie schluchzte immer noch. Sylvester und seine Frau saßen auf dem Diwan, hielten sich an den Händen und sahen geistesabwesend drein. Ich ging zu Isabelle, legte den Arm um sie und wartete, was geschehen würde.
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Das Verhör war sehr höflich und völlig in Ordnung. Die Einzelheiten des Geburtstagsdinners wurden erzählt. Wir erfuhren andererseits, daß eine Freundin Maudies, die einen Schlüssel zum Appartement besaß, bei ihr vorbeigesehen hatte, um sie mit einem Geburtstagsgeschenk zu überraschen. Sie hatte die Tote entdeckt. Einmal wurde auch die Kette erwähnt, aber weder Onsett noch sein Partner verfolgten die Sache. Ich fühlte mich schon wieder obenauf und war sicher, daß man Maudies Tod als Herzversagen bezeichnen würde. Nach etwa vier Stunden sagte man uns, daß wir gehen könnten, aber als wir an der Tür waren, rief Onsett mich zurück und bat mich, noch etwas zu warten. Sylvester erbot sich, Isabelle heimzubringen, und ich wagte es nicht, zu stark zu protestieren. Ich stand mitten im Raum, hörte, wie ihre Schritte in der Diele immer leiser wurden, und dann waren wie beide allein im Raum. Er setzte sich in einen Lehnstuhl und überkreuzte die Beine. Ich konnte nicht viel tun, als mich ebenso lässig wie er zu benehmen. Wir saßen lange Zeit schweigend da. Schließlich kramte Onsett eine Zigarette heraus und bot auch mir eine an. Ich nahm sie und zündete sie an. Der Rauch kratzte mir in der Kehle, aber ich war froh, daß ich irgend etwas zu tun hatte. Ich hatte Angst, doch ich hielt es für das beste, mich indigniert zu zeigen. »Was soll das?« plusterte ich mich auf. »Ich habe Ihnen bereits alles gesagt, was ich weiß.« Er lächelte. »Ich glaube nicht, Mister Duff.« »Es ist mir egal, was Sie glauben. Ich habe nichts mehr zu sagen.« Er drückte seine Zigarette sehr sorgfältig in einem von Maudies kleinen Mosaik-Aschenbechern aus und griff langsam in seine Tasche. Als die Haut wieder zum Vorschein kam, baumelte die Kette von seinen Fingern. Ich spürte, wie mein Herz einen Sprung tat, aber ich versuchte immer noch zu bluffen und beschwerte mich, daß er mich von
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Isabelle getrennt hatte. Onsett sagte kein Wort, sondern ließ nur die Kette pendeln. Nach ein paar Minuten wußte ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Onsett seufzte tief und erhob sich aus seinem Sessel. »Wollen Sie mir nichts von diesem kleinen Geschenk an Ihre Schwiegermutter erzählen?« Ich preßte die Lippen zusammen. »Ich habe alles gesagt. Von mir hören Sie kein Wort mehr.« Das Zucken der Mundwinkel erinnerte mich an Melvin Rosy. Er hob die Kette über meinen Kopf, und dann weiß ich nur noch, daß sie plötzlich um meinen Hals lag. Meine Finger rissen an ihr, aber sie ließ sich nicht losmachen. Ich gab auf und starrte Onsett mit betäubtem Schweigen an. Seine Hände waren immer noch ausgestreckt, und als ich sie ansah, bemerkte ich die winzigen purpurnen Flecke auf dem Handinnern. Ich konnte es nicht glauben. Nicht sofort. Wer hatte je davon gehört, daß ein Marsianer bei der New Yorker Mordkommission war? Aber als er sprach, klang seine Stimme nicht mehr dunkel. Sie war weich und melodisch, die Stimme eines Marsianers. »Ich glaube, Sie werden mir alles sagen, was Sie wissen«, meinte er. »Sie werden alles niederschreiben.« Wie ich schon sagte, es ist unheimlich, wie manche dieser Marsianer unsere Gedanken lesen können. Er hatte vollkommen recht. Ich sagte ihm alles. Ich schrieb alles nieder, so schnell ich konnte, denn mit jeder Sekunde wurde die Kette kleiner und kleiner. Als ich fertig war, unterschrieb ich das Geständnis und schob es ihm hinüber. Hier ist es.
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Die Wissenschaft der Sozietik baut auf Beobachtung auf, Experimenten, Kontrollgruppen und korrigierten Beobachtungen. Sozietik ist die praktische Erforschung des Verhaltens einzelner, oder Gruppen in einer Kultur, die Aufstellung von Gleichungen, die durch die Erforschung gewonnen werden, und die Anwendung dieser Gleichungen, um einen oder mehrere Faktoren dieser Kultur zu steuern. Sozietik ist ein Kontrollelement, das die Aufgabe der Weltregierung leichter macht, aber sie ist auch ein Werkzeug, das von höchsten Regierungsstellen mit Mißtrauen betrachtet wird…
Der K-Faktor HARRY HARRISON »Wir verlieren einen Planeten, Neel. Tut mir leid, aber – ich verstehe es einfach nicht.« Der kahle runzlige Kopf schwankte ein wenig auf dem dünnen Hals, und seine Augen waren feucht. Abravanel war sehr alt. Als Neel ihn ansah, merkte er zum erstenmal, wie alt und wie nahe dem Tod er war. Es war ein erschütternder Gedanke. »Verzeihung, Sir«, unterbrach Neel, »aber ist das möglich? Ich meine – einen Planeten zu verlieren. Wenn die Ablesungen richtig durchgeführt und der K-Faktor bis auf die zehnte Dezimalstelle errechnet wird, dann ist es doch wirklich nur eine Sache der Korrektur. Schließlich ist Sozietik eine exakte Wissenschaft …« »Exakt? Exakt! Ganz im Gegenteil! Habe ich dir so wenig beigebracht, daß du mir das zu sagen wagst?« Der Ärger belebte den Alten und trieb die Todesschatten wieder zurück. Neel zögerte. Er spürte, daß seine Hände ganz leicht zitterten, während er nach den richtigen Worten suchte. Sozietik war sein Glaube, und Abravanel der einzige Prophet dieses Glaubens. Der Mann, der vor ihm stand, durch Drogen verjüngt, war einzigartig 159
in der Galaxis. Ein lebender Anachronismus, ein den Geschichtsbüchern Entflohener. Abravanel hatte allein die Gleichungen aufgestellt und die Wissenschaft der Sozierik proklamiert. Dann hatte er sieben Studentengenerationen die Grundbegriffe beigebracht. Daß nun der Schöpfer der Theorien sie selbst verneinte, brachte Neels Weltbild ins Wanken. »Die Gesetze der Sozietik, die Sie aufgestellt haben, sind ebenso exakt wie alle anderen im Universum der EinheitsfeldTheorie.« »Nein. Und wenn einer meiner Schüler diesen Unsinn glaubt, dann trete ich morgen zurück und sterbe übermorgen. Meine Wissenschaft – und eigentlich ist sie keine echte Wissenschaft – baut auf Beobachtungen auf, Experimenten, Kontrollgruppen und korrigierten Beobachtungen. Und obwohl wir Millionen von Beobachtungen gemacht haben, fehlen uns Milliarden, und die Zwischenbeziehungen dieser Milliarden sind noch ein Vielfaches davon. Und wir dürfen nie vergessen, daß unsere Einheiten Menschen sind, die als Individuen anders reagieren als in der Gruppe. Man kann also meine Theorien nicht mit gutem Gewissen exakt nennen. Sie paseen sich ganz gut den Tatsachen an, und wir erzielen auch praktische Ergebnisse, das können wir empirisch beweisen. Bis jetzt. Ich bin sicher, daß wir eines Tages auf eine Kultur stoßen, die sich nicht meinen Regeln anpaßt. Dann müssen wir die Regeln eben ändern. Vielleicht haben wir diese Situation jetzt auf Himmel. Dort braut sich etwas zusammen. »Sie hatten schon immer eine hohe Aktivitätszahl, Sir«, wandte Neel hoffnungsvoll ein. »Hoch ja, aber immer negativ. Bis jetzt. Jetzt ist sie leicht positiv, und wir können einfach nichts dagegen tun. Deshalb habe ich dich hergerufen. Ich will, daß du eine neue Überprüfung anstellst und dabei die alte vollständig ignorierst Wir müssen unsere Diagramme erneuern. Vielleicht liegt darin der Fehler.« Neel überlegte und formulierte seine Worte sorgfältig: »Wäre das nicht ein wenig – unethisch von mir, Sir? Schließlich ist
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Hengly, der dortige Mann, ein Freund. Sie verstehen, ich möchte nicht hinter seinem Rücken arbeiten.« »Unsinn!« fauchte Abravanel. »Wir spielen schließlich nicht um Pokerchips. Hast du vergessen, was Sozietik ist?« Neel antwortete rein mechanisch: »Die praktische Erforschung des Verhaltens einzelner oder Gruppen in einer Kultur, die Aufstellung von Gleichungen, die durch die Erforschung gewonnen werden, und die Anwendung dieser Gleichungen, um einen oder mehrere Faktoren dieser Kultur zu steuern.« »Und welchen Faktor haben wir zu steuern versucht, um alle anderen Faktoren zu ermöglichen?« »Krieg«, sagte Neel ganz leise. »Schön, dann besteht wenigstens kein Zweifel daran, worüber wir uns unterhalten. Du wirst heimlich auf Himmel landen, so schnell wie möglich ein Gutachten aufstellen und uns die Daten übersenden. Du darfst nicht denken, daß du etwas hinter Henglys Rücken tust, sondern daß du ihm hilfst die Sache in Ordnung zu bringen. Ist das klar?« »Ja, Sir«, sagte Neel diesmal fest. Er streckte sich und ließ seine Rechte auf dem Computer an seinem Gürtel ruhen. »Ausgezeichnet. Dann werde ich dir jetzt deinen Assistenten vorstellen.« Abravanel drückte auf einen Knopf seines Schreibtisches. Es war eine unerwartete Wendung, und Neel wartete mit Spannung, als sich die Tür öffnete. Aber dann wandte er sich schnell ab. Seine Augen wurden schmal, und er war blaß vor Ärger geworden. »Neel Sidorak, das hier ist…« »Costa. Ich kenne ihn. Er war ein halbes Jahr in meiner Klasse.« Aus Neels Stimme war jede Freundlichkeit gewichen. Abravanel ignorierte es oder hörte es wirklich nicht. Er fuhr fort, als seien die beiden jungen Männer die besten Freunde.
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»Klassenkameraden. Sehr gut – dann können wir uns die Vorstellung sparen. Obwohl es gut ist, wenn ich gleich eure Arbeitsgebiete aufteile. Das Projekt ist in deiner Hand, Neel, und Costa wird dein Assistent sein, der deine Befehle ausführt und dir auf jede mögliche Weise behilflich ist. Du weißt, daß er kein akademischer Sozietiker ist, aber er hat schon eine Menge Außenaufträge für uns erledigt und kann dir auf diesem Gebiet weiterhelfen. Und natürlich ist er auch Beobachter der UN und wird in dieser Beziehung seine eigenen Berichte abgeben.« Neels Ärger war jetzt offensichtlich. »Dann ist er also jetzt UN-Beobachter. Ich möchte nur wissen, ob er gleichzeitig noch seinen alten Job hat. Es ist nur zu fair, wenn ich es Ihnen sage, Sir. Er arbeitet für Interpol.« Abravanels alte, müde Augen sahen die beiden Männer an, und er seufzte. »Warten Sie draußen, Costa«, sagte er. »Neel kommt gleich nach.« Costa ging wortlos, und Abravanel deutete wieder auf einen Stuhl. »Hör mir jetzt zu«, sagte er, »und laß das Gefummel an dem schrecklichen Gerät.« Neel nahm die Hand so plötzlich vom Computer, als sei er heiß geworden. Abravanel zündete seine uralte Pfeife an und sah den jungen Mann mit zusammengekniffenen Augen an. »Hör zu«, sagte er. »Du hast hier an der Universität ein sehr beschütztes Leben geführt, und das ist vermutlich meine Schuld. Nein, sieh mich nicht so wütend an, ich meine damit keine Mädchengeschichten. Darin haben sich die Erstsemester seit Jahrhunderten nicht geändert. Ich meine, daß dein Studiengebiet und dein Arbeitsprogramm sorgfältig geplant sind. Wichtig ist, daß du dabei zu einer abstrakten Denkweise kommst, denn es führt zu nichts, wenn du versuchst, Ergebnisse zu schätzen. Es hat sich oft genug erwiesen, daß ein Mann, der ein gewisses Interesse an einer Sache hat, unwillkürlich falsche Beobachtungen macht, die seine Theorie bestätigen. So etwas können wir hier nicht gebrauchen.
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Wir studieren die Menschheit, und das ist nur möglich, wenn wir unsere persönlichen Gefühle an den Rand stellen, wenn wir unsere Perspektive wahren. Wenn du das verstehst, wirst du viele Dinge an dieser Universität verstehen. Weshalb wir nur sehr jungen Studenten Stipendien geben, weshalb wir hier in den Dolomiten leben und weshalb unsere Studenten im Internat wohnen. Du wirst auch verstehen, weshalb es hier kaum Zeitungen gibt. Wir wollen, daß ihr gleich mit einer tüchtigen Portion Weitsicht heranreift. Dann seid ihr später immun gegen kurzfristige politische Stellungnahmen. Die Methode hat zum Teil Erfolg gehabt. Wir bilden Leute heran, die der Arbeit gegenüber die richtige Auffassung haben. Aber wir bringen auch eine beträchtliche Anzahl egozentrischer Ungeheuer hervor.« Neel wurde rot. »Meinen Sie, daß ich …« »Nein, sonst hätte ich es direkt gesagt. Dein schlimmster Fehler – wenn man es einen Fehler nennen kann, da es genau das ist, was wir euch anerzogen haben – ist, daß du eine ziemlich provinzielle Anschauung vom Universum hast. Es wird Zeit, daß ich dich über gewisse Dinge aufkläre. Erstens, was hält deiner Meinung nach die UN von der Sozietik?« Die Antwort war nicht leicht. Neel sah überall Fallen. Seine Worte kamen zögernd. »Ich habe eigentlich noch nie darüber nachgedacht. Ich kann mir vorstellen, daß die UN die Sozietik schätzt, weil sie ihr die Aufgabe der Weltenregierung sehr erleichtert …« »Ganz im Gegenteil«, sagte Abravanel und milderte seine scharfen Worte durch ein kleines Lächeln. »Um es ganz einfach zu sagen – sie können uns nicht riechen. Es wäre ihnen lieb – wenn ich die Sozietik nie formuliert hätte, gleichzeitig brauchen sie sie aber. Sie sind in der gleichen Lage wie der Mann, der den Tiger am Schwanz erwischt hat. Es gefällt ihm, daß der Tiger einen seiner Feinde nach dem anderen frißt, aber mit jedem wird seine Sorge größer. Was geschieht, wenn der letzte Feind verspeist ist? Wird sich dann der Tiger gegen ihn wenden? 163
Nun – wir sind der Tiger der UN. Die Sozietik kam gerade im richtigen Augenblick. Die Erde hatte eine Menge Planeten kolonisiert, die sich schnell selbständig machen wollten. Die UN war nicht sonderlich daran interessiert, ein Riesenreich zu regieren, gleichzeitig mußte sie aber für die Sicherheit der Erde sorgen. Ich glaube, sie hatten sich alles mögliche durch den Kopf gehen lassen – einschließlich militärischer Kontrolle –, bis sie zu mir kamen. In seiner ersten groben Form war die Sozietik eine Hilfe, die ihnen zumindest eine Atempause verschaffte. Man half mir dabei, die ersten Kontrollexperimente auf fremden Planeten durchzuführen. Wir erzielten sehr gute Ergebnisse, und ich war natürlich froh, daß ich meine Theorien in der Praxis erproben konnte. Nach hundert Jahren hatte ich die Arbeitsweise verfeinert, und unsere Arbeit ging glatt voran. Die UN brachte nie ein anderes, brauchbares Konzept, und so sind sie in der unangenehmen Lage, den Tiger am Schwanz festzuhalten. Sie machen sich Sorgen und geben eine Menge Geld aus, um uns zu beobachten.« »Aber weshalb?« unterbrach Neel. »Weshalb?« Abravanel lächelte flüchtig. »Vielen Dank für deine gute Menschenkenntnis. Dir ist es wahrscheinlich unvorstellbar, daß ich der Beherrscher der Welten sein möchte. Ich könnte es sein, das weißt du. Die gleichen Kräfte, die die Planeten in Zaum halten, könnten sie auch sprengen.« Neel war sprachlos, als ihm die schreckliche Bedeutung dieser Worte voll zu Bewußtsein kam. Abravanel erhob sich mühsam von seinem Schreibtisch und legte seinen dünnen, federleichten Arm auf die Schultern des jungen Mannes. »Das ist das Leben, mein Junge. Und da wir ihm nicht entfliehen können, müssen wir es eben leben. Costa tut nur seine Pflicht. Versuche, mit ihm auszukommen – mir zuliebe.« Costa wartete im Zimmer nebenan. Er rauchte schweigend eine lange Zigarette. Sie gingen gemeinsam weg. Neel warf einen Blick auf den drahtigen, dunkelhäutigen Brasilianer und über164
legte, was er sagen könnte, um sein Benehmen von vorhin wiedergutzumachen. Er hatte immer noch seine Vorbehalte Costa gegenüber, doch er würde sie für sich behalten. Abravanel hatte Frieden geboten, und was der alte Mann sagte, war Gesetz. Costa sprach zuerst. »Kannst du mir kurz über Himmel Bescheid sagen? Was erwartet uns dort?« »Wir müssen noch einmal eine grundsätzliche Überprüfung anstellen«, sagte Neel. »Wahrscheinlich genügt das, um die Sache wieder ins Lot zu bringen. Seit letztes Jahr die Verbesserungsgleichungen das Debir-Lehrsatzes angewandt wurden, sind alle Alpha-142- und Sigma-110-Darstellungen anzuzweifeln …« »Bitte noch einmal von vorn«, sagte Costa. »Ich hatte vor sieben Jahren einen halbjährigen Kurs, der mich mit den Grundideen der Sozietik vertraut machen sollte. Ich arbeite seitdem in Überprüfungsteams mit, aber ich habe nur einen schwachen Schimmer von der Theorie. Könntest du alles noch einmal etwas langsamer bringen?« Neel beherrschte sich und fing noch einmal von vorn an – im besten Vortragsstil. »Du weißt doch sicher, daß eine gute Überprüfung das halbe Problem ist. Sie muß unbestechlich und ganz exakt sein. Wenn sie richtig durchgeführt wird, kann man den K-Faktor fast mechanisch anwenden.« »Ich bin schon wieder am Ende. Jeder spricht vom K-Faktor, aber bisher hat mir noch keiner erklärt, was das ist.« Neel erwärmte sich allmählich. »Es ist ein Ausdruck, der aus der Atomphysik stammt. Du weißt, wie ein Atomreaktor funktioniert – grundsätzlich ebenso wie eine Atombombe. Der Unterschied ist eine Sache der Steuerung. In beiden Fällen treffen Neutronen auf Atomkerne und spalten sie, wodurch weitere Neutronen freiwerden, und so fort. Das Ganze geht immer schneller vor sich, und bums! ein paar Millisekunden später hast du eine Atombombe – wenn du die Reaktion nicht kontrollierst. 165
Aber wenn die Neutronen mit Schwerem Wasser oder Graphit verlangsamt oder von Kadmiumstäben absorbiert werden, kann man die Reaktionsgeschwindigkeit ändern. Bei zu viel Dämpfungsmaterial hört die Reaktion ganz auf, bei zu wenig kommt es zu einer Explosion. Man braucht also einen feinen Ausgleich, bei dem man ebenso viele Neutronen abfängt, wie durch die Spaltung entstehen. Die Bildungskonstante ist l. Und der Ausgleich von Neutronenbildung und -absorption ist der K-Faktor des Reaktors. Im Idealfall 1,000000. Leider ist der Idealfall nicht zu erreichen. Denn jedes zusätzliche Neutron kann eine Explosion herbeiführen, während andererseits ein K-Faktor von 0,999 ebenso schlecht ist. Man muß also den K-Faktor beachten und dauernd korrigieren.« »Das verstehe ich schon«, meinte Costa. »Aber was hat es mit Sozietik zu tun?« »Stell dir die menschliche Gesellschaft als einen Atomreaktor vor. An einem Extrem hast du eine sterbende, dekadente Kultur, die Überreste einer hoch technisierten Zivilisation, die ihre Rohstoffe verbraucht, ohne sie zu erneuern, da ihr die Technik verlorengegangen ist. Wenn die letzte Maschine verrostet ist und die letzte synthetische Nahrungsmittelfabrik zusammenbricht, stirbt das Volk. Am anderen Extrem steht die völlige Anarchie. Jeder Mensch denkt nur an sich selbst, tötet und zerstört alles, was sich ihm in den Weg stellt. Zwischen diesen beiden liegt eine vitale, aktive, produktive Gesellschaft. Das ist eine Verallgemeinerung – und du mußt sie auch als solche betrachten. In Wirklichkeit ist die Gesellschaft ungeheuer vielschichtig, und sie kann viel mehr tun als untergehen oder explodieren. Hunger, Not, Druck, Haß, Wünsche und Begierden eines Volkes spiegeln sich in den Beziehungen der einzelnen zueinander wider. Ein Mensch allein verrät uns überhaupt nichts. Aber sobald er nur eine Meinung äußert, eine Information in veränderter Form weitergibt – wird er zum Anhaltspunkt. Man kann ihn auf einem Diagramm eintragen. Sein Handeln kann mit 166
dem anderer Menschen verglichen werden. Der Mensch – und seine Gesellschaft – wird somit einem System oder Schema zugeordnet, das man in einen Computer einspeisen kann.« Sie kamen an einer Bank vorbei, und Neel setzte sich. »Der KFaktor«, sagte er lächelnd, »ist einer der vielen Faktoren, die die Gesellschaft verbinden. Abstrakt gesehen, ist er nicht wichtiger als die vielen anderen, mit denen wir arbeiten. Aber in der Praxis ist er der einzige, den wir zu ändern versuchen.« »Dann ist der K-Faktor also der Kriegsfaktor«, sagte Adao Costa. Sein Blick war sehr ernst geworden. »Das ist kein schlechter Name«, meinte Neel und drückte seine halb gerauchte Zigarette aus. »Wenn eine Gesellschaft einen positiven K-Faktor hat, selbst wenn er klein ist, bedeutet das Krieg. Unsere planetarischen Vertreter haben zwei Aufgaben: Erstens, Daten zu sammeln und auszuwerten. Zweitens, den KFaktor negativ zu halten.« Sie waren beide aufgestanden, von der gleichen Erregung gepackt. »Und Himmel hat einen positiven Faktor, der positiv bleibt«, sagte Costa. Nee Sidorak nickte zustimmend. »Dann fangen wir am besten gleich an«, sagte er. Es war eine schnelle Reise und eine noch schnellere Landung. Der UN-Kreuzer schaltete die Antriebe aus und ließ sich im freien Fall wie ein Stein nach unten sinken. Ein nächtlicher Regen prasselte gegen die Luken, und die starke Abbremsung legte sich auf ihre Brust und schien ihre Knochen in Gummi zu verwandeln. Und dann standen sie. Costa hatte sich losgeschnallt und war an der Tür, bevor Neel sich einigermaßen von dem Schock erholt hatte. Das Abladen erfolgte in einem glatten Rhythmus, und Neel merkte, daß es am besten war, wenn er den anderen nicht im Wege stand. Die Mannschaftsmitglieder hoben schwere Kisten mit Anti-Schwerkraftgeräten aus der Frachtluke und stapelten sie in der Schwärze des regengepeitschten Waldes. Adao Costa über167
wachte das Abladen. Er schien genau zu wissen, was er tat. Ein Funker stand mit einem Kopfhörer neben der Luke und leierte Ziffern herunter, die nach Positionsangaben klangen. Offensichtlich reichte die Zeit gerade zum Abladen. Neel wurde plötzlich in den Regen hinausgeschoben. Die beiden letzten Kisten warf man buchstäblich hinter ihnen her. Er kämpfte sich durch den Schlamm am Rand der Lichtung und konnte gerade noch die Hände vor die Augen halten, als das Schiff mit einem grellen Aufblitzen startete. »Setz dich und mach es dir bequem«, sagte Costa. »Bis jetzt ist alles in Ordnung. Das Schiff wurde während der Landung nicht entdeckt. Wir müssen nur noch darauf warten, daß uns jemand abholt.« Zumindest theoretisch war Adao Costa Neels Assistent. Praktisch übernahm er es, ihre Ausrüstung in die Hauptstadt KitezK zu schaffen und dort unterzubringen. Männer mit Lastwagen tauchten auf und halfen ihnen, und sie verschwanden, sobald die Arbeit getan war. Nach zwanzig Stunden befanden sie sich im oberen Stock eines Lagerhauses, und die Maschinen waren ausgepackt. Neel nahm eine Anti-Schlaftablette und begann die Stromkreise zu überprüfen. Er war froh, daß er auch etwas zu tun hatte. Costa sperrte die Tür hinter dem letzten schweigenden Helfer zu, dann ließ er sich aufatmend auf einen der Schlafsäcke fallen. »Wie haben die Dinger die Reise überstanden?« fragte er. »Ich probiere es gerade aus. Sie sind zwar massiv konstruiert – aber von drei Metern Höhe in eine Schlammsoße geworfen zu werden und dann noch die Rückstrahlen der Raketen zu erwischen, ist doch sehr viel verlangt.« »Heutzutage ist die Verpackung recht ordentlich«, meinte Costa unbesorgt und trank einen Schluck des berühmten HimmelBiers. »Wann fängst du mit der Arbeit an?« »Ich bin schon dabei«, erwiderte Neel und zog einen Aktenstoß aus der Tasche. »Bevor wir losflogen, stellte ich eine Liste 168
der gängigen Zeitschriften und Tageszeitungen zusammen, die ich brauchen würde. Du könntest damit anfangen. Bis du zurückkommst, habe ich sicher schon ein Programm ausgearbeitet.« Costa stöhnte tief und griff nach den Papieren. Sobald die Untersuchung in Gang gekommen war, lief sie ganz von selbst weiter. Beide Männer kamen wenig zum Essen und Schlafen. Die Computer verschlangen Neels Zahlen und spuckten Antwortbänder aus, die neue Zahlen erforderten. Costa und seine unsichtbaren Helfer waren voll und ganz damit beschäftigt, Material herbeizuschaffen. Nur eines unterbrach den regelmäßigen Ablauf der Arbeit. Als Costa eines Abends zurückkam, sah Neel erstaunt auf. In seinem Gehirn hatten nur noch Gleichungen Platz. »Du hast eine Bandage auf der Stirn«, sagte er schließlich. »Sie ist blutig!« »Ein kleiner Zusammenstoß auf der Straße. Mob. Und du hast eine bemerkenswerte Beobachtungsgabe.« Costa sah ihn verwundert an. »Ich hatte schon das Gefühl, daß du es nicht einmal merken würdest, wenn ich splitternackt hier hereinkäme.« »Ich – ich komme immer mehr ins Rechnen«, sagte Neel und legte die Papiere auf den Tisch. Er strich sich müde über die Augen. »Tut mir leid. Ich vergesse ganz, daß ich noch Mitmenschen habe.« »Mach dir um mich keine Sorgen«, meinte Costa. »Du hast schon recht. Die Arbeit geht vor. Schließlich bin ich hier, um dir zu helfen. Wie geht es übrigens voran? Wird es Krieg geben? Es sieht ganz danach aus. Heute wurden zwei Männer gelyncht, nur weil man den Verdacht hatte, sie könnten Terraner sein.« »Dem Anschein darf man nicht trauen«, sagte Neel und machte zwei Bierflaschen auf. »Nur der K-Faktor zählt, nichts anderes. Der Planet darf aussehen wie der Traum eines Diktators – solange der K-Faktor negativ ist, kann nichts schiefgehen.« »Und was macht unser kleiner K-Faktor?«
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»Werden wir gleich wissen«, meinte Neel und deutete auf den summenden Computer. »Ich kann noch nichts sagen. Es wäre sinnlos, nach den Anfangszahlen zu schätzen. Ebenso gut könntest du vorhersagen, welches Pferd gewinnt, nachdem du dir die Teilnehmer des Rennens am Start angesehen hast.« »Manche Leute sagen, daß sie das können.« »Sollen sie. Wir wären Spaßverderber, wenn wir ihnen die Illusion nehmen würden.« Hinter ihnen klickte der Computer. Plötzlich war er still. »Nun werden wir ja sehen«, sagte Neel und holte das Band heraus. Er ließ es schnell durch die Finger laufen und murmelte etwas vor sich hin. Einmal speiste er einige Zahlen in seinen Handcomputer. Das Ergebnis zeigte sich im Schauglas, und er starrte es unbeweglich an. »Positiv. Schlecht. Sehr viel schlechter als vor unserer Reise.« »Wieviel Zeit haben wir noch?« »Ich kann es nicht sicher sagen.« Neel zuckte mit den Schultern. »Ich kann höchstens eine Annäherung berechnen …« »Ich verstehe.« Costa griff nach seiner Pistole. Er ließ sie in die Tasche gleiten. »Jetzt müssen wir handeln. Was soll ich tun?« Neel sah die Waffe mit Abscheu an. »Aber du kannst doch keinen Krieg verhindern, wenn du die Anführer umbringst!« sagte er. »Irgend etwas muß getan werden, um den K-Faktor zu verändern. Die Pistole ist zu meinem eigenen Schutz da. Ich kann nicht stillsitzen. Was soll ich tun?« Das war ein anderer Mann als der ruhige, tüchtige Adao Costa der vergangenen Woche. Seine Muskeln waren angespannt wie bei einem sprungbereiten Raubtier. Neel hatte plötzlich Angst. »Nun?« fragte Costa scharf. »Man könnte vielleicht Umgruppierungen vornehmen …« »Du meinst, eine Menge Leute dazu bringen, Arbeiten in anderen Städten anzunehmen?« 170
Neel nickte. »Zu langsam.« Costa wischte die Idee mit einer Handbewegung zur Seite. »Auf lange Sicht hin schön und gut, aber in einem Notfall wertlos.« Er begann auf und ab zu gehen. Man sah ihm an, daß er nervös war. Neel sah seine Notizen durch. Er prüfte die Beta-13 nach. Es war eine lange Liste, aber durch das Abstreichen von langsamen Entwicklungen hatte er sie schnell gekürzt. Und noch während er arbeitete, begann er ein System zu sehen. Es war unwahrscheinlich, aber es war da. Er isolierte die Gruppe, die dahintersteckte und führte einen Häufigkeitetest durch. Dann lehnte er sich zurück und pfiff leise vor sich hin. »Sieh dir das an«, sagte er und reichte das Blatt über den Tisch. »Wenn man diese Organisation aus der Gleichung nimmt, kann man sogar auf einen negativen Faktor kommen.« »Gesellschaft zum Schutz der Eingeborenen«, las Costa. »Klingt nicht sehr bedeutend. Wer oder was sind sie?« »Du weißt ja, wie es so geht. Ein paar Hohlköpfe gründen aus irgendeinem Anlaß eine Gesellschaft. Wahrscheinlich erzählen sie schon seit Jahren haarsträubende Märchen über die schlechte Behandlung der Einheimischen auf diesem schönen Planeten. Niemand hat sie ernst genommen. Und nun ist die Lage plötzlich gespannt. Die Kerle wittern Morgenluft und bringen ihren Unsinn an die breite Öffentlichkeit. Man nimmt ihn gierig auf, denn die Zeit ist reif für eine Änderung. Eine Endlösung ist es zwar nicht, aber es wäre ein Segen, wenn man diese Gesellschaft ausschalten könnte.« »Wird es keine Untersuchungen geben?« fragte Costa. »Wenn sie sich so wichtig gemacht haben und plötzlich schweigen, könnten die Leute mißtrauisch werden.« »Aber nein. Wenn du das Kriegsministerium in die Luft jagst, wird es freilich Aufruhr geben. Aber wer kümmert sich schon um diese verrückten Fanatiker? Wenn man geschickt vorgeht und
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irgendeinen Unfall oder eine Auflösung der Gruppe vortäuscht, wird kein Hahn nach ihnen krähen.« Costa spielte mit seinem Feuerzeug, während er Neel zuhörte. Jetzt starrte er nachdenklich in die Flamme. »Unfälle sind immer gut. Ich glaube an sie. Und selbst in unserem geschützten Zeitalter kommen noch Brände vor. Wie wäre es, wenn die Büros dieser Gesellschaft abbrennen würden? Dabei würden garantiert alle Akten vernichtet. Ich glaube, daß sich außer der Feuerwehr niemand darum kümmern würde.« »Du bist der geborene Verbrecher«, erklärte Neel. »Ich bin froh, daß wir auf der gleichen Seite stehen. Ich überlasse die Angelegenheit ganz dir. Inzwischen habe ich auch einen kleinen Gang zu erledigen.« Costa, der an die Tür gegangen war, blieb stehen. Er sah Neel an, der Papiere in einen Umschlag steckte. Seine Stimme klang ruhig, als er fragte: »Wohin gehst du?« »Zu Hengly, unserem planetarischen Vertreter. Abravanel sagte, ich sollte keine Verbindung mit ihm aufnehmen und meine Untersuchung völlig unabhängig führen. Das haben wir getan, und wir haben einige Unruheherde ausfindig gemacht. Jetzt kann ich ihm Bescheid sagen. Dann habe ich kein so großes Schuldbewußtsein mehr.« »Nein. Halte dich von Hengly fern«, sagte Costa. »Wir dürfen auf keinen Fall bei ihm gesehen werden.« »Weshalb?« fragte Neel empört. »Er ist ein Freund von mir …« »Aber er kann von Geheimpolizei umgeben sein. Hast du daran schon gedacht?« Neels Ärger schwand. Er hatte tatsächlich nicht daran gedacht. Costa fuhr fort: »Die Sozietik wurde über zweihundert Jahre geheimgehalten. Mag sein, daß sie immer noch ein Geheimnis ist – aber es können auch schon Informationen durchgesickert sein. Und selbst wenn 172
die Himmelianer noch nichts von Sozietik gehört haben, so werden sie doch wissen, was Spionage ist. Sie kennen die UNAgenten auf ihrer Welt, sie könnten auch wissen, daß Hengly zu ihnen gehört. Es ist natürlich alles nur eine Spekulation – aber denke an diese komische Gesellschaft. Es fiel uns überhaupt nicht schwer, sie zu entdecken. Wenn Hengly verläßliche Leute hätte, würde er auch über sie Bescheid wissen. Der einzige Grund, daß er nichts weiß, liegt darin, daß er keine Informationen bekommt. Verstehst du nun, was ich meine?« Neel lief sich in einen Sessel fallen. »Du hast recht – natürlich. Daran hätte ich nicht gedacht.« »Gut«, sagte Costa. »Wir werden etwas tun, um Hengly zu helfen, aber zuerst kommt meine Sache. Ruh dich inzwischen aus. Und lasse niemanden außer mir herein.« Es war eine lange – und ermüdende – Arbeit gewesen, aber jetzt hatte er es fast geschafft. Neel leistete sich den Luxus eines langen Gähnens, dann schlenderte er zu der Kiste mit den Rationen hinüber. Er streifte die Versiegelung von einer Büchse mit der optimistischen Aufschrift HUHN ab – es schmeckte genau nach den Algen, aus denen es hergestellt wurde – und kochte sich frischen Kaffee. Während er diese prosaischen Dinge tat, arbeiteten seine Gedanken unterbewußt weiter. Neel war müde, sonst hätte er schneller reagiert. Aber endlich schälte sich der Gedanke doch klar heraus. Eine Tatsache, die er als gegeben betrachtet hatte, war einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Der Kaffee spritzte zu Boden, und er merkte es nicht. »Es muß falsch sein!« rief er und sprang auf. Er schob die Berechnungen beiseite, und die Diagramme fielen in die Kaffeepfütze. Als er schließlich fand, was er suchte, zitterten seine Finger. Es war Henglys Zusammenfassung der Berichte aus den vergangenen fünf Jahren. Das allmähliche Ansteigen und Abfallen des K-Faktors von Monat zu Monat. Es gab keine
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scharfe Unterbrechung der Kurve oder Lücken in den Begleitrechnungen. Die Sozietik war keine exakte Wissenschaft. Aber sie war so exakt, daß man Bescheid wußte, wenn man mit unvollständigen oder falschen Informationen arbeitete. Wenn man Hengly über die Tätigkeit der Gesellschaft zum Schutz der Eingeborenen im unklaren gelassen hätte, wäre er auch über andere Faktoren falsch informiert gewesen. Und das hätte sich in den Gleichungen gezeigt. Aber es zeigte sich nichts. Die Zeit verging, und Neel mußte handeln. Doch was sollte er tun? Er mußte Adao Costa warnen. Und die Aufzeichnungen hier mußten geschützt werden; oder noch besser, vernichtet. Die Maschinen und Aufzeichnungen stellten eine Macht dar, die nicht in die Hände der Nationalisten fallen durfte. In dem Gewirr von Schachteln und Kisten befand sich ein schwerer, fester Kasten, den er nie geöffnet hatte. Er gehörte Costa, und der UN-Mann hatte ihn nie in seiner Gegenwart aufgemacht. Neel sah sich die schweren Verschlüsse an und fühlte sich niedergeschlagen. Aber als er am Deckel zog, merkte er, daß er gar nicht verschlossen war. Costa war nicht der Mann, der solche Dinge vergaß. Er hatte die Kiste für den Notfall bereitgehalten. Im Innern befand sich genau das, was Neel erwartet hatte. Handgranaten, Pistolen und glatt polierte Dinger, die gefährlich aussahen. Neel hatte sein ganzes Leben dem Frieden gewidmet, und die Waffen verursachten ihm eine Art Schock. Dennoch holte er die stumpfe, dunkle Pistole aus der Kiste. Er fand noch etwas anderes in dem engen Waffenarsenal – eine Zeitbombe. Sie hatten auf der Universität einen Kurs abgehalten, der sich mit solchen Mechanismen befaßte. Denn es war klar, daß es manchmal besser war, Informationen nicht weiterzugeben. Er hatte so ein Ding noch nie in Wirklichkeit gesehen, aber er hatte seine Lektion gut gelernt. Neel schob die offene 174
Kiste näher an die Instrumente heran und stellte die Zündung auf fünfzehn Minuten ein. Dann entsicherte er sie, steckte die Pistole ein und verschloß sorgfältig die Tür hinter sich. Die Brücken waren abgebrochen. Nun mußte er Adao Costa finden. Er hatte keinerlei Erfahrung mit solchen Dingen. Und so konnte er nur eines tun – das Büro der Gesellschaft aufsuchen und hoffen, daß er Adao fand, bevor er Schwierigkeiten bekam. Zwei Blocks von dem Gebäude entfernt hörte er die Sirenen. Er versuchte sich ebenso natürlich wie die anderen Fußgänger zu benehmen. Es waren Panzerwagen, mit bewaffneter Polizei vollgepfropft. Ihre Sirenen und Blinklichter machten ihnen die dunklen Straßen frei. Neel ging weiter. Er folgte jetzt den Wagen. Die Straße, in die er wollte, war abgesperrt. Wenn er mehr als das normale Interesse gezeigt hätte, wäre er verloren gewesen. Er ließ sich weiterschieben und sah nur wie die anderen neugierig die Straße entlang. Vor einem Eingang standen dichtgedrängt Wagen und Menschen. Neel war sicher, daß es sich um Nummer 265 handelte. Etwas war schiefgegangen. War Costa in eine Falle gelaufen – oder hatte er einen Alarm ausgelöst? Es war egal, denn auf alle Fälle war der Ballon geplatzt. Neel ging langsam weiter. Er war sich schmerzhaft bewußt, wie unbeholfen er sich benahm. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo Costa war oder wie er ihm helfen konnte. Und dann sah er neben sich eine dunkle Hintergasse – unbewacht. Ohne nachzudenken, huschte Neel hinein. Von hier aus kam er auf alle Fälle näher an das Gebäude heran. Vielleicht saß Costa irgendwo in der Falle. Vielleicht konnte er ihm heraushelfen. Er gelangte an die Hinterfront von Nr. 265. Hier merkte man nichts von der Aktivität der Polizei. Es war völlig dunkel, doch als Neel sich an der Mauer entlangtastete, entdeckte er eine Nische mit einer Tür. Er drückte sich hinein und probierte den Griff. Abgeschlossen. 175
In diesem Augenblick wurde die Gasse von grellen Scheinwerfern erhellt. Neel schloß die Augen und drückte sich noch enger in die Nische. Doch dann zwang er sich, in das schmerzhaft grelle Licht zu sehen. Die Scheinwerfer standen am Straßeneingang. Er konnte nicht mehr zurück. Und dann sah er die Blutflecken auf dem Boden. Drei große, feuchte Flecke. Sie führten in gerader Linie zu einem Kellereingang. Als die Lichter wieder ausgingen, duckte sich Neel und rannte über die Straße. Die Dunkelheit bedeutete, daß die Polizisten sich anschlichen, um ihn einzukreisen. Und ihm war klar, welches Geschick einem gefangenen Terraner drohte. Neel war es egal. Seine Furcht war nicht vergangen – aber er hatte einfach keine Zeit, an sie zu denken. Er hatte immer noch die Möglichkeit, Costa zu helfen und ihn aus der Falle zu holen. Neel kroch auf allen vieren vorwärts, bis er den ersten nassen Fleck spürte. Er rieb ihn mit dem Ärmel sorgfältig trocken und wischte mit der anderen Hand Staub über die Stelle. Sobald er fertig war, glitt er zu dem zweiten Fleck weiter. Er mußte gegen die Zeit ankämpfen. Er wußte nicht, wie lange er im Staub lag und nach dem letzten Fleck suchte. Schließlich fand er ihn sehr viel weiter weg, als er vermutet hatte. Er wußte, daß er kaum noch Zeit hatte. Dennoch zwang er sich, auch den letzten gründlich zu verreiben. Und dann ging alles zu schnell. Eine Polizeipfeife trillerte, die Scheinwerfer wurden wieder eingeschaltet, und ein Mann lief dicht an Neel vorbei. Er wirkte ungepflegt und hatte zerlumpte Kleider an. Mehr konnte Neel nicht sehen, denn Schüsse peitschten, und der Mann stürzte. Ein Bettler, der auf der Straße geschlafen hatte und mit dem Leben dafür bezahlen mußte, daß er sich die falsche Zeit und den falschen Ort ausgesucht hatte. Neel drehte sich um und sah in einen Pistolenlauf.
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Die vielen Schocks hatten ihm jede Angst genommen. Er sah dumpf den Lauf an. Und dann kam ihm die Erkenntnis. »Ich bin es, Adao«, flüsterte er. »Ich helfe dir gleich.« »Ahh…« Der Lauf wurde gesenkt. »Hilf mir bis zu der Tür. Ich kann kaum noch stehen.« Sie standen beide an der Kellertreppe, und Neel faßte Costa unter den Schultern. Der UN-Mann hatte ein merkwürdiges Gerät in der Hand. Es war kein Schlüssel, aber Costa sperrte die Tür damit auf. Neel schleppte ihn ins Leere. Bevor er die Tür wieder schloß, tastete er noch den Steinboden ab. Eine große Blutlache breitete sich aus. Er konnte die Arbeit nicht so gut wie zuerst machen, denn ein paar Meter von ihm entfernt waren schwere Schritte zu hören. Seine Ärmel tropften vor Blut, als er schließlich Staub auf den Fleck warf und sich in den Keller zurückzog. »Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, aber ich bin froh, daß du hier bist«, flüsterte Costa mit schwacher Stimme. »Es war reiner Zufall«, sagte Neel bitter. »Aber daß du in die Falle gelaufen bist, hast du meiner verbrecherischen Dummheit zu verdanken.« »Mach dir keine Vorwürfe, ich wußte, was mich erwartete. Aber ich mußte gehen. Oft ist es nötig, eine Falle auszulösen, damit man den Feind zu Gesicht bekommt.« »Du hast vermutet, daß Hengly …« Neel konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Der Gedanke war unerträglich. Costa kannte in dieser Hinsicht keine Hemmung. »Ja. Der liebe Hengly, Doktor der Sozietik. Ein Verräter. Ein Kriegshetzer, schlimmer als seine Vorfahren, weil er wußte, was er tat und wie er die Leute behandeln mußte. Es ist noch nie dagewesen, aber die Möglichkeit besteht immer … die Verantwortung war zu groß…« Costas Stimme war zu einem Flüstern geworden. Dann klang sie plötzlich wieder so laut, daß Neel zusammenzuckte.
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»Neel!« »Schon gut. Alles ist gut. Du darfst dich nicht anstrengen…« »Nichts ist gut. Ich habe meine Berichte an die UN geschickt, damit sie und deine Sozietikleute die Sache ausbügeln können. Aber Hengly kann diese Welt auf den Kopf stellen, bevor sie herkommen. Ich bin ausgeschaltet, aber ich kann dir sagen, mit wem du dich in Verbindung setzen mußt. Der K-Faktor darf nicht positiv bleiben …« »Ich kann nichts mehr flicken«, sagte Neel ruhig. »Außerdem – ich habe alles in die Luft gesprengt. Meine Maschinen und Berichte, deine …« »Du bist verrückt!« Zum erstenmal merkte man Costae Stimme die Schmerzen an. »Nein. Vorher vielleicht – jetzt nicht mehr. Solange ich es für ein normales Problem hielt, konnte man mich überlisten. Du mußt verstehen, daß einem guten Sozietik-Mann wie Hengly unsere Aktion nicht verborgen bleiben konnte. Irgendwo gab es immer eine Beziehung, die zu unserer Entdeckung führte. Er wußte genau, wo wir uns aufhielten, und wartete ab. Als du ihnen zeigtest, daß wir zu kämpfen bereit sind, war unsere Zeit abgelaufen. Deshalb habe ich unsere Spur verwischt.« »Aber – dann sind wir ohne Verteidigungsmöglichkeiten. Was können wir tun?« N'eel wußte die Antwort, aber er zögerte. Wenn er sie in Worte faßte, war sie endgültig. Plötzlich fiel ihm wieder Costas Wunde ein. »Ich habe ganz vergessen – was ist mit deiner Verletzung? Kann ich etwas für dich tun?« »Nein«, sagte Costa scharf. »Ich habe einen Schnellverband aufgelegt. Beantworte meine Frage! Können wir noch etwas tun?« »Ich muß Hengly töten. Das wird die Sache aufschieben, bis unser Team hier ist.«
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Costa versuchte den Partner in der Dunkelheit des Kellers zu erkennen. »Du hast selbst gesagt, daß ein einzelner nicht viel Unterschied ausmacht. Ein Mord wird nichts nützen.« »Nur unter normalen Umständen«, erklärte Neel. »Du mußt dir den Machtkampf innerhalb des Universums als ein großes Schachspiel vorstellen. Wenn ich vorher von einzelnen sprach, so meinte ich die einzelnen Figuren auf dem Schachbrett. Aber ich werde das Spiel jetzt auf eine ungewöhnliche Weise gewinnen – nicht durch das Verschieben der Figuren, sondern durch das Erschießen des anderen Schachspielers.« Es war still im Kellerraum. Sie hörten nur ihren Atem. Dann bewegte sich Costa, und etwas klirrte metallisch. »Es ist meine Aufgabe«, sagte er. »Aber ich kann sie jetzt nicht ausführen. Du hast recht, du wirst gehen müssen. Aber vielleicht kann ich dir helfen. Es ist sogar möglich, daß du mehr Chancen hast als ich, weil du ein Amateur bist.« Neel wollte nicht diskutieren. Ihm war klar, was er tun mußte, aber Costa konnte ihm am besten sagen, wie er es tun mußte. Die Vorschläge waren leicht zu merken, und er verstaute die Waffen so, wie Costa es ihm sagte. »Sobald du das Gebäude verlassen hast, mußt du dich säubern«, sagte Costa. »Aber sonst darfst du keine Zeit verlieren. Geh zu Hengly, solange er noch nicht darauf gefaßt ist. Dann – wenn du ihn erledigt hast – versteck dich für ein paar Tage. Erst wenn sich die Gemüter beruhigt haben, darfst du dich wieder zeigen.« »Ich lasse dich nicht gern hier zurück«, sagte Neel. »Es ist am besten so, und wir können es auch nicht ändern. Ich habe einen bösen Kratzer, aber meine Medikamente werden ausreichen.« »Wenn ich mich verstecke, komme ich hierher zurück. Dann kann ich mich um dich kümmern.«
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Costa gab keine Antwort. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Schweigend schüttelten sie sich die Hand, und Neel pirschte sich hinaus. Es war einfach, die Fronttür des Gebäudes zu finden, aber Neel zögerte, bevor er sie öffnete. Costa war sicher gewesen, daß man ihn nicht beachten würde, aber er selbst hatte seine Zweifel. Erst als er die Tür aufschob, erkannte er, weshalb Costa so sicher gewesen war. Irgendwo hinter ihm klangen Schüsse auf. Andere Schüsse antworteten. Costa mußte noch eine Pistole gehabt haben. Er hatte es so geplant, und Neel durfte nicht länger nachdenken, sondern mußte weitermachen. Ein Auto jagte vorbei. Als es verschwunden war, überquerte Neel die leere Straße und ging zur nächsten Untergrundstation. An den meisten dieser Stationen befanden sich Säuberungsmaschinen. Eine knappe Stunde später erreichte er Henglys Wohnung. Frisch gewaschen und rasiert und mit sauberen Kleidern fühlte sich Neel sicherer. Niemand hatte ihn bemerkt oder gar aufgehalten. Der Vorraum war leer, und der automatische Aufzug hatte ihn vor der richtigen Tür abgesetzt, als er Henglys Namen nannte. Als er nun die nüchterne Tür ansah, durchfuhr ihn Angst. Es war zu leicht. Er drückte die Klinke herunter. Die Tür war nicht verschlossen. Mit einem tiefen Atemzug öffnete er sie und trat ins Innere. Es war ein großes, unbeleuchtetes Zimmer. Aus einer offenen Tür am anderen Ende schimmerte Licht durch. Neel wollte auf sie zugehen. Plötzlich spürte er den stechenden Schmerz, und dann drehte sich alles um ihn. Er verlor das Bewußtsein nicht ganz, aber seine Erinnerungen waren verwischt. Als er wieder vollkommen zu sich kam, merkte er, daß jemand das Licht angeknipst hatte. Er lag auf dem Rücken und sah die Beine der beiden Männer, die über ihm standen. Einer hielt ein kurzes Metallrohr in der Hand. Der andere war Hengly.
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»Nicht sehr nett von einem alten Klassenkameraden«, sagte er und hielt Neel die eigene Pistole entgegen. »Und jetzt komm herein, ich möchte mit dir sprechen.« Neel kam mühsam auf die Beine. Sein Kopf schmerzte stark, aber er ignorierte es. Die winzige Pistole in seinem Schuh war noch da. Vielleicht war Hengly doch nicht so schlau, wie Costa gedacht hatte. »Ich werde schon mit ihm fertig«, sagte Hengly zu dem Mann mit dem Metallrohr. »Er ist der letzte. Du brauchst erst morgen früh wiederzukommen.« Neel saß zusammengekrümmt auf dem Stuhl und freute sich auf Henglys Tod. Er war verantwortlich dafür, daß Costa gestorben war. Hengly war nicht mehr der Mann, den er gekannt hatte. Nicht einmal äußerlich. Er hatte Fett angesetzt und trug einen Schnurrbart. Seine Miene war jovial und väterlich – bis man ihm in die Augen sah. Neel beugte sich erschöpft vor und berührte dabei seinen Schuh. Hengly konnte seine Hand hinter dem Schreibtisch nicht sehen. Neel brauchte nur zu ziehen und zu schießen. »Die Pistole kannst du herausziehen«, sagte Hengly mit einem grimmigen Lächeln. »Aber versuche nicht, sie abzufeuern.« Er zielte mit seiner eigenen Pistole auf Neel. »So ist es schön«, sagte er, als Neel die Pistole auf den Tisch legte. »Jetzt können wir uns unterhalten.« »Was gibt es viel zu reden, Hengly?« Neel lehnte sich müde zurück. »Du bist ein Verräter.« Hengly schlug mit der Faust auf den Tisch und rief wütend: »Sprich nicht von Verrat, du kleiner Friedensengel. Du willst einen Freund umbringen! Ist das friedlich?« Neel wollte nicht auf seine Worte hören. Er überlegte statt dessen, wie recht Costa gehabt hatte. Er war tot, aber sein Plan lief immer noch. »Geh einfach hinein«, hatte Costa gesagt. »Er wird dich nicht töten. Zumindest nicht gleich. Er ist der einsamste Mensch, weil 181
er eine Heimat aufgegeben hat und sich die andere noch nicht erworben hat. Er kann sich mit niemandem aussprechen. Er wird wissen, daß du gekommen bist, um ihn umzubringen, aber er wird nicht widerstehen können, mit dir zu reden. Besonders, wenn du es ihm leicht machst, dich zu besiegen. Nicht zu leicht – er muß spüren, daß er dir geistig überlegen ist. Es ist zu offensichtlich, wenn er dir nur die eine Pistole wegnimmt. Aber wenn er die andere im Stiefel findet, wird er sich sicher fühlen. Gerade sicher genug, daß du ihn überlisten kannst. Warte nicht. Tu es bei der ersten Gelegenheit« Im Augenwinkel sah Neel das Radiophon, das an seiner Jackentasche fastgeklemmt war. Es war ein wenig angelaufen und sah aus wie Zehntausende andere – wie das, das Hengly selbst trug. Es war ein Symbol des Zeitalters, und niemand achtete darauf. Man hatte es bei sich wie einen Schlüsselbund oder Kleingeld. Er mußte es nur in Henglys Nähe bringen. Der Mechanismus war entsichert. Sobald er einen Meter von Hengly entfernt war, löste er sich aus. »Darf ich dir eine Frage stellen, Hengly?« fragte er fast ein wenig zu laut. Hengly sah ihn stirnrunzelnd an, dann nickte er. »Bitte. Was willst du wissen?« »Du kannst es dir denken. Weshalb hast du es getan – die Partei gewechselt, meine ich. Die gute Sache aufgegeben …?« »Die gute Sache. Wie sich das anhört!« Hengly brüllte jetzt. »Schwarz, weiß. Krieg, Frieden. Das sind nichts als Worte, und ich habe Jahre gebraucht, um es zu erkennen. Was könnte besser sein, als das Beste aus meinem Leben zu machen? Und dabei kann ich dem Planeten zu Ruhm verhelfen. Es stand in meiner Macht, und ich habe es getan.« »Macht, das ist vielleicht das Schlüsselwort«, sagte Neel müde. »Die Sterne gehören uns zwar, aber wir haben unsere kleinen Gefühle nicht überwinden können. Daran ist wohl nichts 182
Schlimmes, solange sie im persönlichen Rahmen bleiben. Nur, wenn wir sie anderen aufzwängen wollen, gibt es Schwierigkeiten. Nun ja, es ist vorbei. Für diesmal wenigstens.« Mit einer einzigen, schnellen Bewegung machte er das Radiophon los und warf es zu Hengly hinüber. »Lebwohl«, sagte er. Der kleine Mechanismus klirrte auf die Schreibtischplatte, und Hengly sprang mit einem heiseren Schrei zurück. Er riß die Pistole hoch und versuchte gleichzeitig auf das Ding und auf Neel zu zielen. Es war für beides zu spät. Aus dem Radiophon kam ein leises Summen. Durch Neel ging ein leichtes Zucken. Er spürte nur einen mikroskopischen Teil der Strahlung. Hengly erwischte alles. Der kleine Apparat hatte sein Nervensystem genau aufgezeichnet und machte sich jetzt systematisch an die Arbeit. Neel schloß die Augen. Als er wieder einigermaßen zu sich kam, merkte er, daß er auf der Straße war und rannte. Er verlangsamte seinen Schritt und sah sich um. Die Morgendämmerung brach herein. Niemand war auf der Straße. Wenn er sich nicht auffällig benahm, konnte nichts mehr passieren. Er blieb stehen und atmete die frische Morgenluft ein. Vor ihm fuhr ein Frühzug in die Station ein. Der Himmel war rot. »Blut«, sagte er. Und dann: »Müssen wir immer wieder töten? Gibt es keinen anderen Weg?« Er zuckte zusammen, als er seine eigene Stimme hörte. Aber niemand war in der Nähe.
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Was geschieht, wenn wir nicht die Sterne erreichen! Und wenn statt dessen ein großer Krieg entsteht und Tod über die Welt kommt, die wir kennen? Was ist mit den Kindern und Kindeskindern der Überlebenden? Wie wird ihr Leben aussehen – und woran werden sie glauben?
Die Wolframjäger von EDWARD D. HOCH Im neunten Jahrzehnt nach der Bombe, als der Krieg, der über der Erde gewütet hatte, schon fast vergessen war, lebte im oberen Tal des Rio Grande ein Indianerstamm. Es war kein großer Stamm, und in dem Dorf Del Norte lebten nicht mehr als zweihundert Seelen. Auch das Kind Läufer wohnte dort, und es spielte und kletterte in den Vorbergen herum, wie es alle Kinder taten. Noch bevor Läufer sieben Jahre alt war, hörte er von dem alten Mann, der in den Bergen wohnte, einem Höhlenungeheuer, das schnell zur Drohung der Erwachsenen und zum Märchen bei den Kindern wurde. »Ich schicke dich zu dem Mann in den Bergen«, sagten Eltern, um ihre Sprößlinge einzuschüchtern, oder: »Sei brav, oder der Mann aus den Bergen holt dich.« Aber als er acht oder neun war, merkte er eines Tages, daß er von den Höhlenmenschen nichts zu fürchten hatte. Die älteren Jungen wollten ihm in einer gewittrigen Sommernacht einen Schrecken einjagen und stießen ihn in die Höhle. Läufer sah, daß sie am Eingang eng und niedrig war, dann aber bald größer wurde, so daß ein Mann aufrecht darin stehen konnte. Und der Mann war alles andere als das bärtige Schreckgespenst, das er in seinen Träumen gesehen hatte. Er war ein ziemlich großer und gutaussehender Indianer von vielleicht vierzig Jahren, der Läufer mit einem Lächeln und ausgestreckter Hand begrüßte. »Du bist tapfer, daß du in dieser Sturmnacht 184
herkommst«, sagte er und, als Läufer unsicher zurücktrat: »Hab' keine Angst. Ich bin wie alle anderen Männer im Tal.« Läufer nahm allen Mut zusammen und fragte: »Wer bist du? Warum lebst du allein hier?« »Ich heiße Legion«, sagte er ruhig. »Pater Legion. Ich bin Priester, und deshalb muß ich hier leben, weit weg von den anderen.« »Ein Priester?« Er hatte den Namen gehört, als etwas Vages, das mit den Städten und Flugzeugen verschwunden war. »Ich wußte nicht, daß es noch welche gibt.« »Ich glaube, ich bin der einzige. Zumindest bin ich der einzige von Del Norte, kleiner Freund. Aber sag mir, wie heißt du?« »Läufer.« »Läufer? Der Name gefällt mir. Er ist stark und schnell. Was weißt du von der großen Welt, kleiner Läufer? Was weißt du von der Vergangenheit?« »Nur das, was sie mir in den Ratsversammlungen erzählen«, sagte Läufer ein wenig unsicher. »Ich bin noch zu jung, um in alle Geheimnisse eingeweiht zu werden.« Der Priester lächelte Läufer wie ein Vater zu. »Ich will dir von unserem Volk erzählen und von dem großen Krieg, der so viele getötet hat. Ich will dir erzählen, weshalb wir allein überlebt haben und weshalb wir dennoch zum Untergang verurteilt sind.« Einige der Worte klangen in den Ohren von Läufer seltsam, da er nur an das Gemurmel des Stammes gewöhnt war. Aber die Stimme des Priesters war sanft, und er meinte, was er sagte. Läufer erfuhr beim ersten Besuch nicht alles, auch nicht beim zweiten und dritten, aber im Laufe der Monate kam er immer wieder in die Berghöhle und erfuhr allmählich die Geschichte seines Volkes. »Vor nahezu hundert Jahren«, erzählte Pater Legion, »lebten die Menschen in großen Städten, und es waren Flugzeuge in der Luft, und sie wagten sich sogar bis zum Mond, den du am Himmel siehst. Es waren gute und schlechte Menschen, und 185
manchmal konnte man sie kaum auseinanderhalten. Auf alle Fälle kam dann der große Krieg, und auf der ganzen Welt schlugen Raketen und Bomben ein. Die Bomben gaben etwas frei, das man Strahlung nennt. Sie tötete die Menschen, alle Menschen, manchmal gleich, manchmal erst Wochen und Monate später. Nur die Indianer blieben am Leben…« »Und weshalb?« fragte Läufer. »Wir wissen es nicht genau«, sagte Pater Legion. »Es muß irgendwie an unserer Haut liegen. Das Pigment ließ die Strahlung nicht durch. Vielleicht war es uns von einer großen Macht vorherbestimmt, daß wir endlich in unser Land zurückkehren durften.« »Aber weshalb leben wir nicht in den großen Städten?« fragt« Läufer eines Tages. »Weil die Städte zum größten Teil in Ruinen liegen, Kleiner, Und wo die Gebäude noch stehen, ist auch für den Indianer die Strahlung zu groß. Wir wissen nur, daß wir seit drei Generationen hier in Del Norte sicher sind, und so bleiben wir hier.« »Aber du? Weshalb lebst du hier oben?« »Nach der Bombe wollten die Menschen den Trost nicht, der ihnen die Religion bot. In den Tagen der blinden Wut wurden Kirchen verbrannt und Priester auf den Straßen umgebracht. Es schien, als sei es das Ende der Welt. Aber, wie gesagt, die Indianer überlebten. Anstatt Gott zu danken, dachten sie über die Sünden des Weißen Mannes nach. Die wenigen Indianerpriester wurden zwar nicht getötet, aber doch in die Berge getrieben.« Er schwieg, als sähe er alles noch einmal vor sich. »Und so leben wir seit Jahren an Orten wie diesem, beten zu Gott und suchen Jungen wie dich, die unseren Platz einnehmen können, wenn die Zeit kommt.« »Das will ich nicht«, sagte Läufer schnell. Angst durchfuhr sein junges Gemüt. »Ich will nicht wie du sein und mein ganzes Leben in einer Höhle verbringen.«
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»Aber, aber. Das will ich doch gar nicht, oder? Ein Junge wie du muß herumtollen und sich am Leben freuen. Ich erzähle dir nur eine Geschichte, weil es etwas ist, das alle wissen sollten.« »Warum kommst du dann nicht herunter und erzählst sie den anderen?« fragte Läufer und spielte geistesabwesend mit einem glatten, kühlen Stein. »Weil sie mich nicht haben wollen. Sie lassen mich am Leben, weil sie abergläubisch sind oder weil sie mich als Drohung für ihre Kinder brauchen. Und anstatt die verlorene Kultur wieder aufzubauen, suchen sie nach Wolfram.« Läufer wußte von der Suche nach dem kostbaren Metall, eine Suche, die nur die Krieger des Stammes unternahmen. Jeden Tag gingen sie in die Berge, nie zu weit vom Tal weg, aber sie suchten und suchten nach den dunklen Steinen. »Weshalb?« fragte Läufer. »Weil Wolfram ein kostbares Metall ist und in ihrer schwachen Erinnerung etwas mit Licht und Elektrizität zu tun hat.« »Licht?« Pater Legion nickte. »Früher waren alle Städte erleuchtet, mein Sohn. Aber das Licht mußte erzeugt werden. An dem Metall Wolfram ist kein Zauber, der es zurückbringen wird.« Und er schüttelte traurig den Kopf und fügte halblaut hinzu: »So weit kann man in neunzig Jahren kommen.« Schließlich kam das alljährliche Osterfest nahe, und Läufer war ebenso wie die anderen mit den Vorbereitungen beschäftigt. Der Stammeshäuptling Volyon war überall zugleich. Man mußte das kostbare Wolfram herrichten. Und, was am wichtigsten war, die Gefangenen mußten gesalbt und für die Hinrichtung vorbereitet werden. Diesen Teil der Zeremonie verdammte Pater Legion am meisten, und Läufer hatte ihn noch nie so wütend gesehen wie an dem Nachmittag, als er ihm davon erzählte. »Eine Gotteslästerung!« erklärte der Priester. »Menschen wie Christus zu kreuzigen?« 187
»Es sind Verbrecher«, wandte Läufer ein, weil er an den Bräuchen nichts Merkwürdiges fand. »Einige von ihnen sind Mörder«, gab Pater Legion zu. »Aber andere sind arme Männer, die betrunken waren oder die falschen Freunde hatten. Sie ein ganzes Jahr gefangenzuhalten und dann an Ostern zu töten – es ist barbarisch!« »Unser Häuptling sagt, es sei ein religiöser Tod«, erwiderte Läufer, aber zum erstenmal kamen ihm Zweifel. Er mußte zugeben, daß es grausam war. Denn die Todesstrafe wurde auch für Wolfram-Diebstahl und das Einschlafen während der Wache verhängt. »Es ist eine Umkehrung der Religion«, beharrte Pater Legion, und er erzählte Läufer die Geschichte von Christus. An diesem Abend kehrte Läufer wie immer ins Dorf zurück, und er erzählte den anderen wieder nichts von seinem Treffen mit dem Priester. Er schwieg über die wundervollen und seltsamen Dinge, die er dort lernte. Seine Mutter und seine Schwestern waren mit den Ostervorbereitungen beschäftigt, und sein Vater war mit den Wolframjägern in den Bergen. Am nächsten Tag sah Läufer die schreckliche Zeremonie, über die er mit Pater Legion gesprochen hatte. Die Gefangenen – es waren neun – wurden vor den Stammeshäuptling gebracht. Langsam verlas er das Urteil, das sie alle bereits kannten. Ein Mann, Krähe, war ein Mörder, und er nahm das Urteil mit gesenkten Blicken an. Ein anderer, Regenwolke, hatte einem Krieger Wolfram gestohlen, und er schrie auf, als er an seinen Verwandten vorbeigebracht wurde. Die Wachen hielten seine Mutter zurück. Zum erstenmal spürte Läufer Entsetzen, als er alles beobachtete. Als der letzte der neun an das Kreuz genagelt wurde, sah Läufer weg, hinunter zu den kleinen Häusern. Aber er hörte die Schreie, als die Verurteilten von den Pfeilen getroffen wurden. Später, als die neun Krieger am Hügel an ihren Kreuzen hingen, ließ Volyon den Krieger Samely als Wache zurück und führte die anderen ins Dorf. 188
Läufer wußte, daß sich auch in einem so kleinen Dorf immer wieder Verbrecher fanden und daß nächstes Jahr die gleiche Zeremonie stattfinden würde. Letztes Jahr war auch eine Frau dabeigewesen. Er hatte nie genau gewußt, was sie getan hatte, aber die anderen hatten flüsternd davon gesprochen. An diesem Abend verkroch er sich in einen Hüttenwinkel und nahm nicht an den Feierlichkeiten teil. Er hielt sich die Ohren zu, als Volyon betete und die Krieger sangen. Sein Vater holte noch mehr Korngeist aus dem Haus, doch Läufer rührte sich nicht. Am nächsten Morgen lief der Junge zum Hügel hinauf, und die neun waren immer noch da. Samely jagte ihn mit seinem Speer weg, als er zu nahe kam. Er spielte eine Zeitlang mit den anderen Jungen, und sie balgten sich herum, um vor den Wachtposten großzutun. Kein Mensch wußte mehr, weshalb das Dorf eigentlich bewacht wurde, denn es kam nie ein Feind. Gegen Mittag bemerkte Läufer im Dorf Unruhe, und als er näherkam, hörte er, wie Airing, die Frau des Kriegers Mantel, zu Volyon sagte: »Mein Mann ist verschwunden. Ich habe schon überall nachgesehen.« Sie war eine hübsche Frau und bei den Männern des Dorfes gern gesehen, und sogar Läufer merkte, daß Mantel sehr auf sie aufpaßte. Volyon legte ihr tröstend den Arm auf die Schulter und sagte: »Ich bin sicher, daß er wieder auftaucht, Kleine. Er war gestern nacht bei mir, und seine Stimme klang laut.« »Aber wo ist er?« »Vielleicht sucht er nach Wolfram.« Airing schüttelte den Kopf. »Das kannst du mir nicht erzählen, Volyon. Am Festtag sucht niemand nach Wolfram.« »Gut, komm mit mir«, sagte er. »Wir werden die Wachen fragen.« Läufer sah ihnen nach und erzählte dann seinen Eltern, was er gehört hatte. Bis jetzt war noch nie jemand aus dem Dorf verschwunden. 189
Gegen Abend war das ganze Dorf in Aufruhr. Volyon durchsuchte persönlich alle Häuser, aber es wurde keine Spur des Vermißten gefunden. Und dann hörte Läufer, wie Baumwipfel sagte: »Was ist mit der Höhle des Priesters? Die haben wir noch nicht durchsucht.« Volyon nickte und hob den Speer hoch in die Luft. Die Gruppe der Suchenden folgte ihm. Läufer kam in der Dunkelheit unbemerkt mit. Pater Legion hatte sie kommen gehört, und er erschien mit einer Fackel im Eingang. »Was wollt ihr?« fragte er kühl. Baumwipfel wollte etwas sagen, aber Volyon winkte ab. »Priester, wir suchen nach Mantel, der verschwunden ist. Seine Frau Airing ist in großer Sorge.« Pater Legion sah Volyon scharf an. »Ihr könnt meine Höhle durchsuchen, wenn ihr wollt.« Während die anderen suchten, kam der alte Baumwipfel näher und sagte: »Ich denke immer daran, wie du noch ein Kind warst.« Der Priester nickte. »Aber ich mußte es tun«, sagte er. »Das kannst du nicht verstehen.« »Deine Mutter konnte es auch nicht verstehen«, sagte der alte Krieger und wandte sich ab. Die Männer fanden nichts und zogen nach einiger Zeit entmutigt ab. Läufer blieb noch eine Weile bei dem Priester. »Wer ist Baumwipfel, Pater Legion? Er scheint dich gut zu kennen.« »Er war mir einmal nahe gestanden«, erwiderte der Priester. »Er ist mein Vater.« Nach einiger Zeit ging auch Läufer. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Am nächsten Morgen sah er zu seiner Überraschung Pater Legion ins Dorf kommen, begleitet von einem der Wächter. Er hatte den Priester noch nie hier gesehen, und er bekam Angst. Aber Pater Legion ging direkt auf das Haus von Volyon zu, 190
welches das größte im Dorf war. Als Läufer sah, daß der Stammeshäuptling nicht daheim war, lief er schnell an die Seite des Paters. Die Steine unter seinen Füßen fühlten sich hart an. »Pater Legion, ich glaube, er sucht immer noch nach dem vermißten Mantel.« »Danke, Läufer«, sagte der Priester und strich dem Jungen mit sanfter Hand über das Haar. »Ich wollte ihn deshalb sprechen.« »Hast du die Männer gesehen, die sie hingerichtet haben, Pater Legion?« Der Priester warf einen Blick auf den fernen Hügel, wo die neun Kreuze von den ersten Strahlen der Morgensonne beleuchtet wurden. »Ja«, sagte er ruhig. »Ich habe sie gesehen.« Von irgendwoher kam Mantels Frau, immer noch den Tränen nahe. Es schien keinen Trost für sie zu geben, außer man brachte ihr ihren Mann wieder. »Wo ist Volyon?« »Ich suche ihn selbst«, erwiderte der Priester. »Ich – ich fürchte, daß Mantel tot ist. Ich habe das schreckliche Gefühl, daß ihn jemand umgebracht hat. Die Männer im Dorf sehen mich so komisch an. So wie man Witwen ansieht.« »Wer hat dich so angesehen?« »Viele. Einer davon war der Bruder von Regenwolke, der dort oben hängt.« Sie deutete zum Hügel, ohne hinzusehen. »Könnte jemand Mantel getötet und in den Fluß geworfen haben?« Ihre Blicke suchten das Wasser, aber jetzt im Frühjahr floß es seicht dahin. »Nein«, sagte Pater Legion sanft. »Aber vielleicht …« In diesem Augenblick kam Volyon, dicht gefolgt von Baumwipfel und einigen anderen. »Der Priester!« rief Volyon bestürzt. Baumwipfel sah weg »Ich kam her, um über viele Dinge zu sprechen«, sagte Pater Legion. Volyon nickte. »Wir können hier auf meiner Veranda sprechen. Die Sonne scheint warm.« 191
»Habt ihr Mantel gefunden?« fragte Airing. »Nein – noch nicht.« »Er ist tot! Ich weiß, er ist tot.« Volyon winkte dem alten Baumwipfel, der seine runzlige Hand tröstend auf die Schulter des Mädchens legte. Pater Legion ergriff die Gelegenheit, um Läufer auf die Seite zu holen. »Junger Läufer, könntest du mir einen großen Gefallen tun?« »Ich tue alles, Pater Legion.« »Siehst du den Mann, der Badewasser aus dem Fluß holt?« »Karlong, der Bruder des toten Regenwolke.« »Richtig. Folge ihm und berichte mir, wohin er geht.« »Aber…« »Keine Fragen jetzt, Kleiner. Beeil dich.« Dann wandte er sich wieder Volyon und den anderen zu, und Läufer mußte sich beeilen. Der lange Karlong, ein Bulle von einem Mann, war mit seinem Badewasser bereits um die Ecke eines Hauses verschwunden, aber merkwürdigerweise schien er nicht ins Dorf zu gehen. Läufer versuchte ihm unauffällig zu folgen. Er hüpfte wie im Spiel dahin und schlängelte sich durch das hohe Gras. Aber der große Mann war auf der Hut. Er sah sich beständig um. Einmal runzelte er die Stirn, als er Läufer erblickte. Aber bald hatte er sein Ziel erreicht, einen Teil Flachland, das vom Dorf aus nicht zu sehen war. Es war ein einsames Gebiet, in das sich Läufer selten wagte, nicht einmal beim Spiel. Hier schienen sogar die Bäume tot, denn es war der Totengrund des Dorfes. Und als Karlong das sorgsam mitgebrachte Wasser auf das Gras eines bestimmten Vierecks schüttete, erkannte Läufer plötzlich die Wahrheit – welchen besseren Platz als den Totengrund es gab, um einen Toten zu verstecken? Karlong hatte Mantel umgebracht und seine Leiche hier vergraben, und nun goß er das Gras … 192
Dann sah Karlong ihn. Er rannte weg, doch der große Mann folgte ihm schnell. Er konnte fast seinen heißen Atem spüren, als er höher lief, immer höher den Hügel hinauf. Wenn er nur einen der Wachtposten erreichen konnte, bevor Karlong ihn erwischte. Wenn … Er hieß nicht umsonst Läufer. Seine Füße waren schnell, und seine Beine arbeiteten gleichmäßig, wie die Kolben, die er auf einem Bild in Volyos großer Bibliothek gesehen hatte. Karlong folgte ihm immer noch keuchend, aber nun wurde der Abstand zwischen ihnen größer, und Läufer wußte, daß ihn der Krieger nicht mehr erwischen konnte. Ober den nächsten Hügel, und er war in Sicherheit. Er erreichte ihn und sah Samely, der an den neun Kreuzen mit ihren Bürden Wache stand. Karlong hatte die Jagd aufgegeben und ging zurück zum Dorf. »Was machst du hier, Junge?« rief Samely hinter ihm her. »Ich spiele nur.« Läufer bückte sich, hob ein paar Kiesel auf und hüpfte den Hügel hinunter. Er tat so, als hielte er nach einem Kaninchen Ausschau. Als er wieder bei Volyons Haus war, merkte er, daß der Häuptling immer noch mit dem Priester sprach. Sie saßen wie alte Freunde zusammen, aber Läufer sah, daß ihre Unterhaltung nicht freundlich war. Er schlich sich näher und horchte. »Du willst, daß wir zum Leben des Weißen Mannes zurückkehren?« fragte Volyon gerade. »Er lebte in seinen großen Städten, während die Indianer in ihren Reservationen fast verhungerten. Er behandelte uns wie Vieh, das man von einer Weide zur anderen trieb, wenn das Land wieder für andere Zwecke gebraucht wurde. Du willst, daß wir so ein Leben aufbauen?« »Wie könnte so etwas bei einer Indianerzivilisation geschehen?« fragte Pater Legion mit ruhiger Stimme. »Oh, wir würden jemanden finden, den wir dominieren könnten. Vielleicht eine versprengte Gruppe von Mexikanern, die wir von ihrem Land verjagen könnten.«
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Pater Legion rutschte in seinem Sessel hin und her. »Du bist ein weiser Mann, Volyon. Weiser, als ich dachte. Du erkennst, daß es Sünden der Zivilisation und nicht des Weißen Mannes waren.« Volyon wurde ruhiger. »Wir wissen beide viel von der Vergangenheit, Pater Legion. Du warst schon als Kind sehr klug, und ich kann irgendwie verstehen, daß du zu Pater Blaming in die Berge gingst. Er war ein guter Mann. Es ist schade, daß er nicht mehr lebt.« »Du könntest mir wenigstens die Chance geben, wieder hier unter meinem Volk zu leben.« »Als Priester?« »Natürlich.« »Es würde mit Blutvergießen enden.« »Ich glaube nicht.« »Könntest du ihnen etwas geben, das sie noch nicht haben? Außer der Zivilisation des Weißen Mannes?« »… das Wissen von Gott.« »Und was würde es nützen?« »Es könnte Dinge wie diese verhindern.« Pater Legion deutete auf den fernen Hügel. »Willst du das verhindern? Willst du die Männer frei stehlen und töten lassen?« »Ist diese Strafe ein Abschreckungsmittel? Sie in der Sonne hängen zu lassen, bis sie von den Geiern geholt werden?« »Ja. Letzte Ostern hatten wir elf Kreuze, und im Jahr zuvor waren es fünfzehn.« »Können wir es uns leisten, so viele Menschen zu verlieren?« fragte Pater Legion. Volyon zuckte mit den Schultern. »Verbrechen muß bestraft werden.«
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»Der Vermißte ist noch nicht gefunden worden. Was ist, wenn ich ihn finde?« »Wir haben das ganze Dorf und die Hügel durchsucht. Das weißt du. Wie willst du ihn da finden?« »Wenn ich ihn finde«, beharrte der Priester, »darf ich dann in Frieden hier im Dorf leben? Und das Volk belehren?« Volyon schwieg lange. Er schien in die fernen Berge zu starren und die Antwort zu überlegen. »Gut«, sagte er schließlich, »wenn du Mantel findest, kannst du ins Dorf zurückkehren. Aber ich warne dich. Die Leute werden nicht auf dich hören.« »Ich will ja nur mit ihnen sprechen dürfen. Die Zivilisation, von der ich sprach, kommt nicht über Nacht. Aber einmal muß ein Anfang gemacht werden.« Volyon seufzte. »Gut«, sagte er und stand auf. Er sah die Wolken an, die sich am Himmel sammelten. »Und wo ist Mantel? Seine Frau sorgt sich um ihn.« Die Augen des Priesters verdunkelten sich. »Ich kann Airing nur den Trost des Gebets geben. Ihr Mann ist tot. Ermordet.« »Ermordet!« Und Pater Legion holte Läufer herauf. »Komm her, Kleiner. Ich habe gesehen, daß du horchst.« »Ich – ich bin eben erst zurückgekommen, Pater.« »Und wohin führte dich der große Karlong?« »Karlong!« keuchte Volyon. »Hat er …?« »Wohin, Kleiner?« »Auf den Friedhof. Er begoß einen frisch ausgehobenen Fleck.« »Am Friedhof!« rief Volyon. »Kommt schnell!« Sie folgten ihm, und die Dorfbewohner spürten die Erregung und liefen hinter ihnen her. In kurzer Zeit lag der Friedhof vor ihnen da, ruhig und friedlich in der Frühlingssonne. »Karlong!« rief der Häuptling. »Komm heraus, Karlong!« 195
Der große Mann erhob sich langsam hinter einem Grabstein, den kurzen Speer in der Hand. »Bleibt, wo ihr seid«, sagte er leise. Und Pater Legion ging an Volyon vorbei und trat vor den erhobenen Speer. »Leg ihn nieder, Karlong«, sagte er. »Wir wissen alles.« »Geh zurück.« »Wir wissen, wer der Tote im Grab ist. Leg deinen Speer weg.« Der große Mann bewegte sich, aber nicht so schnell wie der Priester. Pater Legion hielt ihn fest, und Volyon trat vor ihn hin. »Du Hund!« zischte er. »Du hast einen Mitmenschen ermordet.« Pater Legion schüttelte den Kopf. »Nein, ihr versteht nicht. Er hat nicht Mantel umgebracht. Sein einziges Verbrechen besteht darin, daß er seinen toten Bruder begraben hat. Und wer unter uns kann das ein Verbrechen nennen?« »Seinen Bruder!« Pater Legion nickte. »Der Mann im Grab ist Regenwolke, den ihr vor zwei Tagen hingerichtet habt.« »Aber das ist unmöglich«, sagte Baumwipfel, der immer noch den Arm um Airing gelegt hatte. »Regenwolke hängt noch am Kreuz.« »Wirklich?« fragte der Priester. »Kommt, sehen wir nach. Aber laßt Airing hier. Es wäre kein schöner Anblick für sie.« Sie stiegen schweigend den Hügel hinauf, jeder in Gedanken versunken. Sie sahen das zweite Kreuz in der Reihe an. Mantel hing dort, mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Wer könnte so etwas tun?« fragte Volyon leise. Der Priester beschattete die Augen gegen die helle Sonne. »Das Einschlafen von Wachtposten wird mit dem Tode bestraft«, sagte er. »Als Samely in der ersten Nacht aufwachte und sah, daß ein Kreuz leer war, mußte er etwas tun. Ich glaube, Mantel kam rein zufällig vorbei, und Samely brachte ihn um.« 196
»Da ist er!« rief jemand, und sie wandten sich um. Samely rannte den Hang hinunter. Sie waren sofort hinter ihm her, und die Jäger mit ihren Messern hatten ihn schnell eingeholt. Pater Legion legte sich die feuchte Hand an die Stirn. »Gott gebe, daß er der letzte ist, der durch Gewalt stirbt.« »Woher wußtest du es, Pater Legion?« fragte Volyon, und Läufer kam näher, um sich die Antwort anzuhören. »Ich bin letzte Nacht auf den Hügel gestiegen, um für die Toten zu beten. Und da sah ich Mantel. Ich sah auch Samely unter einem Baum schlafen.« Volyon räusperte sich. »Es wird keine Hinrichtungen mehr geben, Pater Legion. Das habe ich heute gelernt.« »Es ist ein Anfang«, sagte der Priester. Und er wandte sich Läufer zu. »Komm, mein Sohn, wir müssen eine Welt erobern …« ENDE
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