Die neue Steinzeit
(LORDS OF CREATION) von Eando Binder
1. Erst im Jahre 5000 n. Chr. öffnen! Wir bitten euch, die ihr...
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Die neue Steinzeit
(LORDS OF CREATION) von Eando Binder
1. Erst im Jahre 5000 n. Chr. öffnen! Wir bitten euch, die ihr früher lebt und diese Zeilen lest, unseren Wunsch zu achten. Der Inhalt der Krypta aus dem Jahre 1950 n. Chr. ist nicht für eure Augen bestimmt. Diese Worte waren tief in den glatten Marmorblock eingraviert, welcher den bogenförmigen Eingang verschloß. Den Stürmen von dreitausend Jahren war es nicht gelungen, die Schrift auszulöschen. Die Krypta war etwa zehn Meter lang und halb so breit. Sie bestand aus wetterfestem Kalkstein. Außer dem Eingang besaß sie keine Öffnungen. Hunderte von Menschen waren hergekommen und sahen zu, wie die Meißel angesetzt wurden. Aber keiner außer dem alten Sem Onger konnte die alte Botschaft lesen oder gar verstehen. Sem Onger hatte, sich sein Leben lang mit der Vergangenheit beschäftigt. Neben ihm stand der Herrscher des Volkes, Jon Darm — groß, gebieterisch, aber mit freundlichen Augen und silbernen Fäden an den Schläfen. In seiner Begleitung befanden sich die drei Häuptlinge, und sie teilten seine Nervosität. „Dreitausend Jahre Vergangenheit!“ sagte einer von ihnen ehrfurchtsvoll. „Vielleicht ist alles zu Staub zerfallen“, meinte der zweite pessimistisch. „Wie lange brauchen die Kerle noch?“ Sem Onger lachte und entblößte seine zahnlosen Kiefer. „Ungeduldig, Mal Radnor?“ fragte er mit einem trockenen Kichern. „Denke an die unzähligen Menschen, die im Laufe der Zeit vor dieser Krypta standen und sie nicht betreten durften. Wahrlich, es muß sie große Beherrschung gekostet haben. Wir sind ihnen Dank schuldig.“ Jon Darm drehte sich um. „Bist du sicher, Sem Onger, daß die Zeit richtig ist? Leben wir tatsächlich im Jahre 5000 ihrer Zeitrechnung?“ Der gelehrte Mann nickte entschieden. „Es kann gar kein Zweifel bestehen. Ich habe alles nachgeprüft.“ Der letzte Stein war entfernt, und der Eingang der Höhle lag dunkel vor ihnen. Die Arbeiter traten zur Seite. Einen Moment lang sahen die fünf Anführer einander an, als müßten sie Mut fassen. Schließlich sagte Jon Darm heiser: „Zündet die Kerzen an. Wir gehen hinein.“ Langsam traten sie auf den Eingang zu. Die Menge hielt den Atem an. Es war ein großer Augenblick — das Zusammentreffen von Vergangenheit und Zukunft. Jon Darm mußte sich bücken, weil der Torbogen so niedrig war. Die anderen folgten ihm dicht auf den Fersen. Ihre Kerzen vertrieben die Dunkelheit. Es roch nach Staub. Das Innere war sorgfältig mit Steinsäulen abgestützt worden, so daß die Krypta ganzen Zeitaltern trotzen konnte. Und dann sahen die Männer den Inhalt an. Gemauerte Regale, Reihe um Reihe, angefüllt mit den seltsamsten Gegenständen. Nur in einer Ecke hatte eine Säule nachgegeben, und der Inhalt des Regals war zu Boden gerutscht. Das einzige Anzeichen, daß auch hier die Zeit nicht stillgestanden hatte. Jon Darms Schritte hallten von den Wänden wider, als er auf ein Regal zuging. Eine Staubwolke wirbelte auf und nahm ihm einen Moment lang die Sicht. Dann blickte er verständnislos auf den kleinen Glaszylinder, unter dem ein kompliziertes kleines Ding mit vier winzigen Rädern ruhte. Das Modell eines Autos aus dem Jahre 1950 — aber das konnte
er nicht wissen. Die anderen kamen näher und sahen ihm über die Schulter. Wieder blies Jon Darm Staub von einem Glasbehälter. Dieser enthielt ein Buch, dessen Aufschrift der Führer nicht entziffern konnte. Von einem Gegenstand zum anderen wanderten die Männer, verständnislos, aber ehrfürchtig. Sie spürten, welch tiefe Kluft zwischen den beiden Zeitaltern lag. Erst nach einiger Zeit fiel ihnen auf, daß auch auf dem Boden Behälter standen. Sie waren größer und nicht aus Glas. Der Name des Materials — Bakelit — hätte ihnen nichts bedeutet. Als sie von einem der Behälter die Wachsschicht entfernt hatten, ließ sich der Deckel leicht aufschieben. Sie entdeckten Dutzende von Büchern. „Da, Sem Onger!“ rief Jon Darm. „Schriften für dich. Vielleicht die Geschichte jener Zeit, die uns verlorenging.“ Aber Sem Onger hatte sich mit dem Eigensinn der Alten selbständig gemacht und untersuchte bereits die anderen Behälter. Die Männer waren an einer Wand entlang gegangen und wandten sich nun dem Hintergrund des rechteckigen Raumes zu. Ihre flackernden Lichter enthüllten einen großen, komplizierten Gegenstand. Er stand auf vier Spreizen, und aus der Vorderseite ragte ein zylindrisches Rohr mit einer Glaskappe. Weiter hinten befanden sich ein paar große, gekrümmte Platten. „Ist das — eine‘ Maschine?“ flüsterte Jon Darm. Sie alle zuckten zusammen. Dann trat Mal Radnor näher und ergriff kühn eine Kurbel, die sich an einer Seite des Apparates befand. Er zog daran, aber sie bewegte sich nicht. Als er sie jedoch nach innen schob, hörte man ein leichtes Klicken. Dann drehte sie sich von selbst. Aus dem Innern des Gerätes drang ein gleichmäßiges Schnurren. Die anderen traten zurück, während Mal Radnor stolz an der Kurbel drehte. Die Maschine schien zum Leben zu erwachen. „Da!“ flüsterte einer der Häuptlinge und deutete auf die Wand, die dem Glasrohr gegenüberlag. Ein sonderbares Bild zeigte sich dort. Mal Radnor zitterte, aber er drehte verbissen weiter an der Kurbel. Die anderen starrten das Bild an. „Es bewegt sich!“ stieß einer hervor. „Ein Mann, der sich bewegt!“ „Und was wir hören, ist seine Stimme“, sagte Jon Darm in plötzlicher Erkenntnis. Er hatte recht. Das Bild an der Wand war schwach und voll von Flecken, aber sie konnten deutlich sehen, wie der Mann, die Lippen bewegte. Er lächelte sie an, und seine Stimme klang freundlich. Obwohl sie die Worte nicht verstanden, spürten sie, daß er sie begrüßte. Mal Radnor, stolz über seine sensationelle Entdeckung, drehte schwitzend an der Kurbel. Die Bewegungen des Bildes waren zitterig, da Mal Radnor nicht gleichmäßig genug drehte. Auch die Stimme hatte einen verzerrten Klang. Aber für die Männer des 5. Jahrtausends war ein Wunder geschehen. Plötzlich veränderte sich die Szene. Man sah viele geometrische Formen und darüber den Himmel. Im Vordergrund befand sich Wasser, auf dem kleine Boote tanzten. In der Luft summte eine merkwürdige mechanische Biene. Mitten im Wasser stand eine winzige Statue mit einer Fackel aus Stein. Man hatte den Eindruck, als beschriebe der Mann die Szene. Und dann verschwand das Bild, und sie sahen einen vergrößerten Ausschnitt davon. Die Männer keuchten. Wieder verschwand das Bild, und sie sahen den Mann. In seiner Miene spiegelten sich Stolz und zugleich Verlegenheit. Sie konnten nicht verstehen, daß er folgendes sagte: „Das, ihr Menschen aus dem Jahre 5000, ist unsere modernste Großstadt, New York City. Aber vielleicht wirkt sie in euren Augen klein und veraltet.“ Sem Onger hatte sich zu Jon Darm gesellt und betrachtete die Bilder mit Kennermiene. „Sie nannten das ,laufende Bilder‘ “, erklärte er ruhig. „Ein beliebter Zeitvertreib von damals. Aber höre jetzt einmal zu drehen auf, Mal Radnor. Ich möchte euch etwas Erstaunliches zei gen.“
Mal Radnor gehorchte erleichtert. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Sem Onger führte sie an die vierte Wand, an der sich keine Regale befanden. Das Licht seiner
Kerze enthüllte Fugen im Stein, die ein Rechteck bildeten.
„Noch ein Eingang“, erklärte Sem Onger. „Ich vermutete es, denn der Außenraum war weit
größer als der Innenraum.“ Er leuchtete mit der Kerze zu einer Botschaft hinauf, die in den
Stein graviert war.
„In diesem Raum“, übersetzte er zögernd, „liegt einer — der schläft. Dreht den Griff und
tretet ein, ihr aus dem Jahre 5000!“
„Einer, der schläft“, flüsterte Jon Darm. „Was heißt das?“
Sem Onger berührte bereits den Griff, und Mal Radnor kam ihm zu Hilfe. Der große
Steinblock schwenkte nach innen.
Das Licht ihrer Kerzen erhellte einen winzigen Raum, der noch sorgfältiger als die vordere
Kammer abgestützt war. Man sah den Molybdän-Kern der Säulen nicht, aber die Männer
spürten, daß besondere Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden waren. Was konnte der Raum
Kostbares enthalten?
Über dem länglichen Kasten in der Mitte der Kammer lag dicker Staub. Einen Moment lang
rührten sie sich nicht. Dann wischten sie die Staubschicht fort. Sem Onger hielt die Kerze
dicht an die nächste Steinsäule, in die. wieder eine Botschaft eingemeißelt war.
Jon Darm stöhnte, als er erkannte, was in dem Kasten lag. Ein toter — oder schlafender —
junger Mann!
2. „Einer, der schläft“, murmelte Jon Darm. „Aber seht doch, er schläft nicht. Er ist tot. Er atmet
nicht. Sie haben seinen Körper konserviert, damit wir ihn betrachten können. Vor dreitausend
Jahren hat dieser Mann gelebt und sich bewegt. Ein sonderbarer Gedanke!“
Sie starrten den Körper an. Es hatte den Anschein, als sei der junge Mann in der Haltung des
Schlafes erstarrt.
„Der Schläfer!“ murmelte Jon Darm wieder. „Dreitausend Jahre lag er in seinem Glassarg.
Nun ist er bereit für die ewige Nacht.“
In der ehrfürchtigen Stille hörte man Sem Ongers brüchige Stimme. „Er ist bereit zum
Erwachen.“
„Was?“ rief Jon Darm. „Soll er etwa von den Toten auferstehen?“
„Vom Schlaf.“
Der alte Seher deutete auf die Säuleninschrift.
„Hier steht: ,Wenn dieser Mann beim Öffnen der Krypta noch vorhanden ist, so haltet ihn
nicht für tot.‘ “ Sem Ongers Stimme klang zweifelnd. “ ,Er ist im — Schwebezustand.
Menschen aus dem Jahre 5000, zieht den Hebel seitlich des Glaskastens heraus.‘ “
Sie hatten bisher nur den jungen Mann betrachtet. Jetzt erst bemerkten sie den komplizierten
Mechanismus neben dem Sarg. Seltsame Maschinenteile waren an den Glaskasten ange
schlossen.
Auf ein Zeichen des Führers hin packte Mal Radnor den langen, deutlich sichtbaren Hebel
und zog daran. Knirschend bewegte sich das Ding.
Und dann geschahen erschreckende Dinge.
Wie durch ein Wunder bewegten sich die Maschinenteile. Aber es war kein Wunder. Es war
nur die korrekte Anwendung des Hebelgesetzes. Ein Gewicht war mit dem Ziehen des Hebels
von seiner Halterung gerutscht und auf einen kleinen Gelenkhammer gefallen. Der Hammer
zerbrach zwei Behälter mit farblosen Flüssigkeiten. Die Flüssigkeiten vermischten sich,
schäumten auf und wurden blutrot. Und Tropfen für Tropfen fiel in eine schmale Glasröhre.
Inzwischen hatte der Hammer ein zweites Gewicht aus seiner Halterung; geschoben. Ein Glasstößel bewegte sich in der Röhre mit der roten Flüssigkeit. Es handelte sich um eine Spritzennadel. Sie fuhr dem Schläfer mit voller Wucht in die linke Brust. Die Betrachter zuckten zusammen. Dann wichen sie zurück, als ein greller Blitz von einer kegelförmigen Spirale ausging und den Schläfer ein paar Sekunden lang badete. Die Elektrizität war durch ein viertes fallendes Gewicht ausgelöst worden. Ein letztes Gewicht versetzte den mit einer Diamantnadel versehenen Hebel in eine Kreisbewegung. Die Nadel fuhr am Rand des Glassarges entlang, bis sich eine Deckplatte löste und zu Boden fiel, wo sie klirrend zerbrach. Die fünf Männer, die das alles miterlebten, standen verwirrt und ängstlich da. Als das letzte Gewicht gefallen war und wieder Stille herrschte, traten sie näher und starrten den Schläfer an. Die geheimnisvolle rote Flüssigkeit war in seinem Körper verschwunden. Da, wo der Blitz ihn umspielt hatte, wirkte ‚ seine Haut fleckig rot. Würde er erwachen oder nicht? Fünf atemlose Minuten vergingen, und nichts geschah. Sie warfen einander sorgenvolle Blicke zu. Offensichtlich hatten sie zuviel erhofft. Der Mann aus der Vergangenheit erwachte nicht. Aber der letzte Teil des Prozesses lief unsichtbar ab, und das wußten sie nicht. Die Atmosphäre sterilen, gereinigten Heliums, in welcher der Körper existiert hatte, verflüchtigte sich langsam und wurde von sauerstoffhaltiger Luft ersetzt. Und während die starke Adrenalinlösung sich vom Herzen aus in die Zellen vorarbeitete, sammelten sich die Lebenskräfte. Augen aus dem zwanzigsten Jahrhundert sahen in Augen des fünfzigsten Jahrhunderts. Homer Ellory aus dem Jahre 1970 konnte zuerst nicht glauben, daß er sich in der fernen Zukunft befand. Er hätte schwören mögen, daß er erst ein paar Minuten zuvor eingeschlafen war. Es lag Staub herum, also waren vielleicht doch ein paar Jahre vergangen. Aber er wurde das Gefühl nicht los, daß er sich im zwanzigsten Jahrhundert befand. Erst als er sich zu bewegen versuchte, merkte er, daß er dreitausend Jahre lang gelegen hatte. Ein Keuchen entrang sich seinen Lippen. Unendlicher Schmerz zuckte durch jede Zelle. Muskeln, die jahrhundertelang gegen Glas gepreßt worden waren, protestierten nun. Nach dem ersten Schmerz gelang es Ellory, sich zu beherrschen, obwohl er am liebsten laut aufgeschrien hätte. Die Organe, die so lange geruht hatten und nun wieder arbeiten mußten, quälten ihn. Aber er dachte an andere Dinge. Er mußte hinaus — in die Zukunft! Mit einem leisen Stöhnen schob er sich hoch und packte die beiden Handgriffe zu beiden Seiten des Sarges. Hände griffen ihm unter die Schultern und stützten ihn. Die Leute aus der Zukunft waren aus ihrer Trance erwacht Sie hoben den Mann aus seinem engen Behälter und trugen ihn über die Glassplitter hinweg zu einer Säule, wo sie ihn absetzten. Im nächsten Moment erfaßte Ellory ein heftiger Schwindel. Sein Gleichgewichtssinn mußte sich erst wieder umgewöhnen. Dann jedoch streckte Ellory sich und lächelte die Männer aus der Zukunft an. Bis dahin hatte noch keiner ein Wort gesagt. Ellory merkte, daß sie ihn erwartungsvoll ansahen. Es war ein einzigartiger Augenblick. Würden sie seine Sprache verstehen oder nicht? Ellory erinnerte sich noch deutlich, daß er kurz vor dem Einschlafen eine Begrüßungsrede einstudiert hatte. Er räusperte sich. „Könnt ihr Englisch verstehen?“ fragte er langsam und mit deutlicher Aussprache. Er merkte sofort an ihren verwirrten Mienen, daß sie ihn nicht verstanden, aber er wiederholte seine Worte immer wieder. Schließlich trat ein weißhaariger Mann, der ihm intensiv zugehört hatte, vor ihn hin. Er nickte
zögernd. „Etwas“, nuschelte er mit zahnlosem Mund. „Deine Sprache lernt. Kann Bücher
lesen und Steinschriften.“
Ellory zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich fürchte, anfangs wird es mit der Verständigung
hapern“, sagte er vor sich hin. „Nun, egal...“ Er deutete auf sich selbst und sagte langsam
seinen Namen.
Der Alte verstand rasch. „Humrelly?“ wiederholte er. Dann deutete er auf sich. „Sem Onger.“
Der Reihe nach stellte er nun seine Begleiter vor.
Ellory versuchte die Namen zu wiederholen, aber es gelang ihm nicht, die schwierige
Verschleifung der Vokale nachzuahmen.
„Simon Owlinghair! Shef John D. Harem! Mad-Earl Rather Noman...“
Er mußte lächeln. Aber er verstand nicht, was sie so komisch fanden, als sie grinsend
wiederholten: „Humrelly? Humrelly?“
Nachdem die Vorstellung vorbei war, kam Ellory ein angstvoller Gedanke. „Ist das hier das
Jahr 5000? Oder eine frühere Epoche?“ Er hielt den Atem an. „Oder gar später?“
Sem Onger runzelte verständnislos die Stirn. Schließlich deutete Ellory auf die Zahl 5000, die
in die Säule eingraviert war. Er sah den Alten fragend an.
Sem Onger nickte heftig. „Fünftaund Jaha!“
Homer Ellory mußte sich an die Säule lehnen, so kalt sie auch war. Er schlug die Hände vor
das Gesicht. Fünftausend Jahre! Es bestand kein Zweifel daran, daß er die Kluft der
Jahrtausende übersprungen hatte. Tränen traten ihm in die Augen. Tränen der unaussprech
lichen Erregung. Es war weder Heimweh noch Stolz über das erreichte Ziel. Es war ein
Gemisch aus all diesen Gefühlen. Ellory versuchte gar nicht, sie zu analysieren. Er wußte nur,
daß er an der Säule lehnte und wie eine Frau weinte.
Er spürte, daß jemand seinen Arm berührte.
Er sah in die Augen des großen, kraftvollen Mannes, der offensichtlich die Gruppe anführte.
Jon Darm nahm Ellorys Hand in einer zeitlosen Geste und redete auf ihn ein. Ellory wußte,
daß es sich um eine Begrüßung handelte.
„Danke, Freund“, sagte er herzlich.
Plötzlich war seine Nervosität überwunden, und er stieß aufgeregt hervor: „Ich bin wirklich
hier! Eine Chance von zehn, und ich habe es geschafft! 5000 nach Christus! Eine neue Welt!
Und vermutlich eine glorreiche Welt! Dreitausend Jahre Zivilisation, Wissenschaft,
Kultur!“
Er lächelte, als er die erstaunten Blicke der Fremden sah. „Vermutlich wundern sie sich, daß
ein Steinzeitmensch wie ich überhaupt sprechen kann. Aber so primitiv bin ich auch wieder
nicht, meine Lieben. Ihr seht, ich habe mich gründlich auf eure Wunderwelt vorbereitet. Als
begabter junger Wissenschaftler meiner Zeit — ich hoffe, ihr nehmt mir die Prahlerei nicht
übel — werde ich eure Künste schon durchschauen.“
Ellory gab durch ungeduldige Zeichen zu verstehen, daß er die Krypta verlassen wollte. Der
Anführer schüttelte lächelnd den Kopf. Jetzt erst bemerkte Ellory, daß einer der fünf fehlte. Er
kam nach einiger Zeit mit Kleidern zurück. Der Anführer reichte sie Ellory.
„Ach ja, richtig“, sagte Ellory grinsend. „Ein Botschafter aus dem zwanzigsten Jahrhundert
kann sich vor den Damen des fünfzigsten Jahrhunderts nicht gut als Nudist zeigen.“
Er zog sich an.
Die Kleider bestanden aus einem groben, braunen Gewebe. Die weite Hose wurde an den
Hüften mit Lederriemen festgehalten. Schnallen aus Elfenbein verschlossen die kurze Jacke.
Die Sandalen besaßen lange Riemen, die man über Kreuz zusammenband. Das war alles.
„Eigentlich hatte ich Seide und Goldstickereien erwartet“, meinte Ellory etwas wehmütig.
„Dazu Metallgewebe und gesponnene Glasfäden. Macht nichts. Die Moderichtung tendiert
vielleicht gerade zum Rustikalen hin.“
Mit einem tiefen Atemzug ging er zum Ausgang. Die anderen folgten ihm, bliesen die Kerzen
aus und steckten sie sorgfältig in die Taschen.
Ellory blinzelte in das helle Licht. Er sollte die Sonne wiedersehen, nach dreitausend Jahren. Und eine neue Zivilisation...
3. Die Krypta war ursprünglich in einem geschützten Tal nicht weit von New York City gebaut
worden. Ellory sah sich eifrig um. Das Tal hatte sich kaum verändert.
Hier und da Buschwerk, wo früher Felsen gewesen waren, aber die Hügel und der Horizont
hatten noch das gleiche Aussehen. Die Krypta stand unverändert auf den Felsen. Nein, das
stimmte nicht.
Als Ellory sie im Jahre 1970 betreten hatte, war sie neu und schneeweiß gewesen. Jetzt wirkte
sie stumpf, an den Rändern bröckelig und schmutzigbraun. Regen und Wind hatten sie an
gegriffen.
Ein Murmeln erfüllte die Luft. Es kam von den Menschen, die in einem dichten Halbkreis die
Krypta umstanden.
Die Männer aus der Zukunft waren zur Seite getreten und deuteten auf Ellory.
Ellory drückte unwillkürlich die Schultern durch und strahlte. Diese Leute ließen ihn
hochleben! Er kam sich ein wenig wie John Glenn nach seinem ersten Raumflug vor.
Die Herren einer großen Zivilisation verbeugten sich vor dem Wilden aus der primitiven
Vergangenheit!
Dann sah er sich um. Er suchte nach ihren Luftschiffen oder Antischwerkraftfahrzeugen, aber
er entdeckte nichts. Offensichtlich alles gut versteckt.
Aber dann erblickte er etwas, das ihn erstarren ließ.
Ein Mädchen löste sich aus der Menge. Sie war groß und schlank, und selbst das einfache
Kleid verriet ihre graziösen Formen. Als sie näher kam, sah er sie geradezu hilflos an. Sie war
schöner als jedes Mädchen, das er gekannt hatte.
Der junge Häuptling Mal Radnor trat ihr entgegen und nahm besitzergreifend ihre Hände. Er
sprach rasch auf sie ein.
Offensichtlich erzählte er ihr, wie sie Homer Ellory gefunden hatten.
Schließlich ging das Mädchen zu Jon Darm und stellte ihm eine Frage. Ellory schloß aus der
Ähnlichkeit, daß es sich um Vater und Tochter handelte.
Das Mädchen wandte sich Ellory zu. Sie sprach mit klarer, warmer Stimme, die weit durch
das Tal drang. Ganz offensichtlich war es eine Willkommensrede. Die Menschen aus der Zu
kunft sahen ihn lächelnd an. Auch Ellory lächelte. Er fand die Sitten dieses Volkes
faszinierend.
Als das Mädchen schwieg, begann die Menge wieder zu jubeln. Ellory hatte das Gefühl, daß
man von ihm ebenfalls eine Rede erwartete.
„Nun, ich nehme an, daß ihr mir hiermit die Schlüssel zu eurer Stadt überreicht habt. Vielen
Dank! Und da ohnehin kein Mensch versteht, was ich sage, kann ich euch folgendes verraten:
Das Mädchen hier ist wunderschön!“
Die Tochter des Anführers hatte ihm verwirrt zugehört, aber sie erwiderte freundlich sein
Lächeln.
„Warte!“ sagte Ellory, als sie sich wieder abwenden wollte. „Wie heißt du?“ Dann fügte er
hastig hinzu: „Aber das verstößt vielleicht gegen die gute Sitte...“
„Sharina!“ flüsterte ihm jemand ins Ohr.
Ellory sah das Gesicht des alten Sem Onger dicht neben sich. Der Gelehrte grinste.
„Sharina!“ wiederholte Ellory. Der Name gefiel ihm sofort. Das Mädchen wurde rot und lief
zu Mal Radnor, der leicht die Stirn runzelte.
Sem Onger drückte Ellory etwas in die Hand. Es war ein Stück glatte Rinde, auf die er mit
Holzkohle geschrieben hatte: „Chef Jon Darm lädt ein, Palast mit seiner Familie teilen. Gast,
solange du willst. Kommst du jetzt mit?“
„Gern, und herzlichen Dank“, schrieb Ellory darunter.
Sem Onger studierte die Antwort genau, nickte und übersetzte die Botschaft seinem Anführer.
Er freute sich offensichtlich, daß er eine Methode gefunden hatte, sich mit dem Mann aus der
Vergangenheit zu verständigen.
Jon Darm ging voraus.
Ein schmaler Weg führte aus dem Tal. Der gleiche Pfad, den die Arbeiter angelegt hatten, als
sie vor dreitausend Jahren die Krypta erbaut hatten. Ein Pfad, über den im Laufe der Zeit
sicher Millionen gegangen waren. Ellory fand es sonderbar, daß die wenigen Worte über der
Krypta genügt hatten, um Neugierige abzuhalten. Vielleicht war sie eine Art Heiligtum
geworden, ein Erbe der Vergangenheit.
Ellory war neugierig, wie New York City jetzt aussehen mochte. Er erwartete Alabastertürme,
glitzernde Kuppeln. Statt dessen sah er nur ein paar. Dutzend Wagen, die von Pferden oder
Ochsen gezogen wurden. Er schüttelte verwirrt den Kopf.
Die Männer aus der Zukunft gingen auf den größten Wagen zu, ohne etwas merkwürdig daran
zu finden.
Jon Darm sprang höchst unköniglich auf und winkte Ellory. Nach ein paar Minuten saßen sie
alle auf den harten Holzplanken, und der Kutscher trieb das Pferdegespann an. Der Wagen
fuhr quietschend dahin, über die breiten Ebenen, die sich den Hudson entlang erstreckten.
Der Fluß und die Ebenen waren immer noch da. Die Zeit hatte sie nicht verändert. Ellory
fühlte sich ein wenig erleichtert.
Im zweiten Wagen befand sich Sharina mit einigen anderen Frauen. Noch einige Gefährten
folgten, aber der größte Teil der Menge ging zu Fuß.
„Angeber sind diese Leute jedenfalls nicht“, sagte Ellory vor sich hin. „Vermutlich ein fein
ausgeklügeltes Programm, um den Wilden aus der Vergangenheit nicht in Verlegenheit zu
bringen...“
Er schnipte mit den Fingern.
„Natürlich! Das ist es! Wahrscheinlich verwechselten sie das zwanzigste Jahrhundert mit der
Pionierszeit. Bei dreitausend Jahren kein großer Unterschied!
Sie wollen mir ihre SuperZivilisation Schritt für Schritt zeigen. Homer, das ist ein Zeichen
überragender Intelligenz. Und es zeugt von Taktgefühl.“
Die Fahrt erstreckte sich über Stunden. Ellory genoß sie. Das Wetter war mild und
freundlich,.und überall roch es nach Frühling. Ein Glück, daß sie die Krypta nicht im Januar
geöffnet hatten!
EUory drehte sich des öfteren um und sah Sharina an. Ihr Haar schimmerte golden in der
Sonne. Ihre Blicke waren auf ihn gerichtet. Moment, bremste er seine romantischen Impulse,
sie kann auch Mal Radnor meinen. Der junge Häuptling saß neben ihm und hatte offenbar
ähnliche Gedanken. Seine Miene wirkte finster.
Ellory grinste. Zwanzigstes oder fünfzigstes Jahrhundert — diese Dinge änderten sich nicht.
Es gab immer noch Liebe und Eifersucht und den Instinkt des Mannes, die Auserwählte ganz
für sich besitzen zu wollen.
4. Als.Homer Ellory am nächsten Morgen erwachte, war er ziemlich verwirrt. Einen Moment lang wähnte er sich im zwanzigsten Jahrhundert und wollte aufstehen, um seiner normalen Tagesbeschäftigung nachzugehen. Dann erinnerte er sich, daß inzwischen dreitausend Jahre vergangen waren. Er mußte diese
Tatsache langsam, Stück für Stück, aufnehmen. Wie war er auf dieses Bett mit den einfachen Decken gekommen? Was war geschehen? Er konnte sich nur noch entsinnen, daß er mit den Männern aus der Zukunft in einem Pferdewagen gefahren war. Entweder war er eingeschlafen oder ohnmächtig geworden. Vermutlich das letztere, denn er hatte eine sonderbare Schwäche gespürt. Ellory tat die Frage als relativ unwichtig ab und sah sich im Zimmer um. Er war nicht allein. Sem Onger saß auf einem Stuhl am Fußende des Bettes und betrachtete ihn mit stiller Verwunderung. Er grinste, als er Ellorys Blick bemerkte, und nickte ihm zur Begrüßung zu. „Morgen“, murmelte Ellory — und dann sah er das Fenster. Er sprang auf und stolperte darauf zu. Offensichtlich hatten sie ihn in ihre Stadt gebracht. Was würde er sehen? Eine schwindelerregende Supermetropole? Ellory hielt sich immer noch für einen Dschungelbewohner, der plötzlich in eine atemberaubende Zivilisation gebracht wurde. Er starrte hinaus. Er befand sich höchstens dreißig Meter über dem Boden. Hinter den Baumwipfeln sah er eine Ansammlung kleiner Häuser aus Holz oder Stein mit breiten, grünen Rasenflächen. Die ungepflasterten Straßen waren Von unzähligen bunten Blumen gesäumt. Die Szene erinnerte so sehr an die schläfrigen Landstädtchen des zwanzigsten Jahrhunderts, daß Ellory einen Moment lang die Hand vor die Augen hielt. Was bedeutete das? „Natürlich — das Landhaus des Anführers“, murmelte er vor sich hin. Er versuchte seine Enttäuschung zu überwinden. „Sie bringen mich eine Zeitlang hier unter, damit ich mich langsam an die neue Welt gewöhne. Sehr gut gemeint, aber...“ Eine Hand berührte seinen Arm. Ellory drehte sich um und nahm das große Rindenstück, das Sem Onger ihm entgegenstreckte. „Müßt ihr mich denn wie einen Schwachsinnigen behandeln?“ sagte Ellory halb verärgert. „Rinde anstatt Papier! Ihr glaubt wohl, ich würde mit einem Füllfederhalter spielen und Papier essen.“ Er las die gekritzelte Botschaft: „Gestern du bist ohnmachtig. Wir bringen dich her, geben starke Trank, du schläfst ganze Nacht. Fragen?“ „Danke. Ich fühle mich jetzt wieder wohl“. schrieb Ellory. „Gehen wir zum Palast des Anführers. Er bot mir gestern sein Haus an.“ Sem Onger steckte die Rinde sorgfältig ein und holte ein neues Stück aus der Tasche. „Ist Palast. Du bist hungrig?“ „Ja, sehr hungrig“, schrieb Ellory. Ich mache dir einen Vorschlag: Warum bringst du mir nicht deine Sprache bei? Es ist sicher nur eine Abwandlung meiner eigenen. In ein paar Tagen verstehe ich deinen Dialekt sicher.“ Sem Onger nickte lächelnd, als er die Worte gelesen hatte, und verließ das Zimmer. Ellory setzte sich nachdenklich auf das Bett. „Das hier ist der Palast, sagt er. Aber ich glaube immer noch, daß es sich um eine Art Landsitz oder um eine Jagdhütte handelt. Als Chef, König, Präsident, oder wie er sich sonst nennen mag, muß Jon Darm doch etwas Vornehmeres als diese Bude besitzen.“ Er sah sich noch einmal im Zimmer um. Die Holzmöbel wirkten trotz Schnitzereien sehr einfach. Winzige Rindenbilder mit Waldszenen hingen an den Wänden. Aber nirgends entdeckte er elektrisches Licht oder eine Zentralheizung. Auf einem kleinen Brett befanden sich ein paar Kerzen und eine Schale, die sich bei näherem Hinsehen als Öllampe entpuppte. Hatten sie ein ganzes Museum geplündert, um ihn mit vertrauten Dingen zu umgeben? Er ging mit gerunzelter Stirn auf und ab. Etwas stimmte hier nicht. Das Öffnen der Tür unterbrach seine Gedankengänge. Sharina trat ein, gefolgt von einem Mann, der ein großes Tablett mit dampfenden Speisen trug. Er“ stellte es auf einem kleinen Tisch ab und ging
wieder hinaus.
Sharina reichte Ellory lächelnd ein Stück Rinde.
„Hoffe, es schmeckt“, las er. Die krakeligen Buchstaben stammten von Sem Onger. „Chef Jon
Darm entschuldigte sich. Muß sich um Staat kümmern. Ich gehe zu Krypta, sehe Inhalt an.
Sharina kann Sprache beibringen. Gut?“
Ellory lachte. „Sem Onger, du bist ein schlauer Fuchs. Aber du hast recht.“
Dann stieg ihm der Duft des Essens in die Nase, und er nahm mit einem Seufzer Platz.
Sharina stand am Fenster und sah hinaus, während er aß.
Das Besteck bestand aus Holz. Offenbar verabscheute Jon Darm in seinem Haus Metalle aller
Art. Aber das war unwichtig. Das Essen jedenfalls entsprach dem Geschmack des 20.
Jahrhunderts.
„Wunderbar“, seufte er, als alle Schüsseln leer waren. „Ich konnte nie daran glauben, daß die
Menschen der Zukunft von Vitaminpillen und ähnlichem Zeug leben würden. Es gibt sicher
auch so eine Möglichkeit, genaue Diätpläne aufzustellen.“
Sharina räumte das Tablett zur Seite und nahm am Tisch Platz.
„Und nun zu den Sprachlektionen dieses irdischen Engels“, fuhr Ellory fort. „Hoffentlich
dauern sie lange.“ Er überlegte, ob er sich absichtlich dumm stellen sollte. Das war bestimmt
nicht schwer, da sie ihn ohnehin für einen halben Neandertaler zu halten schienen.
Sharina deutete auf die Gegenstände in ihrer unmittelbaren Umgebung und benannte sie. Die
Vokale waren stärker betont als die Konsonanten und schienen oft ganze Silben zu bedeuten.
Immer wieder stolperte seine ungeübte Zunge darüber. Ellory mußte an seinen
Deutschunterricht denken, bei dem Worte wie „Schlechtwetterperiode“ unüberwindliche
Hindernisse dargestellt halten, obwohl sein Lehrer sie sanft und ohne Stockung
herunterschnurrte.
Aber er gab sich Mühe und machte im Laufe des Tages große Fortschritte.
Später wurden sie unterbrochen. Mal Radnor, der junge Häuptling, trat ein, und sofort wurde
die Atmosphäre gezwungen. Er begrüßte Ellory mit einem etwas steifen Lächeln. Eine
Zeitlang blieb er da und hörte zu, aber Ellory fühlte sich nicht wohl dabei. Er spürte daß dem
jungen Mann die Bemühungen Sharinas nicht gefielen.
Als er ging, warf er Ellory einen düsteren Bück zu. Ellory fühlte sich ein wenig schuldig.
Während der nächsten Tage dehnte Sharina seinen Wortschatz aus, indem sie ihn zu
Spaziergängen abholte und ihm unterwegs alles erklärte.
Anfangs wurde er immer wieder bestaunt, aber die Leute waren nicht aufdringlich. Das
überraschte ihn. Er dachte an den Presserummel, den es zu seiner Zeit beim Auftauchen eines
Menschen aus der Vergangenheit gegeben hätte. Hier schien man nicht sensationslüstern zu
sein. Er begegnete keinem einzigen Fotografen oder Reporter.
Ellory war zugleich erleichtert und enttäuscht. Und verwirrt.
Die Stadt war ziemlich groß. Sie erstreckte sich über mehrere Meilen den Hudson entlang.
Aber sie trug einen ausgesprochen ländlichen Charakter. Es gab weder Autos noch öffentliche
Verkehrsmittel. Die Hauptstraße war mit Holzblöcken gepflastert, und Karren, von Pferden
gezogen, ratterten darüber hinweg. Die meisten Menschen gingen zu Fuß. Sie trugen die
gleichen unförmigen Kleider wie Ellory.
Hielten sie ihn in ihrer rückständigsten Region fest? Die Stadt konnte einfach nicht typisch für
das fünfte Jahrtausend sein. Nirgends sah er Radioempfänger, Dampfmaschinen, Elektrizität,
Automaten - oder Flugzeuge. Es schien sich um eine Gemeinschaft ohne jede Technik zu
handeln. War er durch Zufall in irgendeinem isolierten Hinterland aufgewacht?
Aber Ellory spürte selbst, daß diese Theorien unsinnig waren. Die Erklärung mußte anderswo
liegen. So sehr er sich auch anstrengte, sie entschlüpfte ihm...
Als Ellory eines Tages aus einem niedrigen, fabrikartigen Gebäude Arbeitslärm hörte, ließ er
sich von Sharina hineinführen. Im Innern hielt er den Atem an. Hunderte von Arbeitern saßen
an ihren Werkbänken und stellten verschiedene Geräte aus Knochen, Haut und Holz her.
Ellory beobachtete einen Mann, der die Krümmung eines Pfluges glättete.
Der Pflug war aus hartem Holz, und der Mann arbeitete mit einem Schaber aus Feuerstein.
„Weshalb benutzt er denn kein — Eisenwerkzeug?“ fragte Ellory.
„Eisen?“ wiederholte Sharina. „Was ist ,Eisen‘?“
„Eisen — Metall“, sagte Ellory, aber er merkte, daß Sharina auch dieses Wort nicht verstand.
Er sah sich nach einem geeigneten Werkzeug um, damit er ihr zeigen konnte, was er meinte.
Seine Augen suchten den ganzen Saal ab, aber nirgends entdeckte er ein Stückchen Metall.
„Du liebe Güte!“ flüsterte Ellory. Jetzt erst merkte er, daß er seit seinem Erwachen kein
Metall gesehen hatte.
Und das war es! Unterbewußt hatte er versucht, sich diese Tatsache zu erklären.
Jon Darm und sein Volk kannten keine Metalle!
„Du scheinst beunruhigt, Humrelly“, sagte Sharina. „Was ist dieses Metall, das du suchst?
Oh, warte — mir fällt etwas ein. Komm mit!“
Sie führte ihn aus der Werkhalle und in ein großes Gebäude, das sich als eine Art Museum
entpuppte. In einer Ecke befand sich eine Ansammlung der merkwürdigsten Gegenstände.
Ellory starrte eine von Grünspan bedeckte Rolle an und las den Text: Bekannt unter dem
Namen „Kupferdraht“; Datum unbekannt; Verwendung unbekannt, vermutlich Teil einer
Maschine. Fundort: Norak.
Sharina deutete triumphierend auf eine rostige Klinge, die in einem Lehmblock steckte. „Da
ist das, was du suchst“, sagte sie stolz.
Das Schild besagte: Eisenmetall. Herkunft und Verwendung unbekannt.
Es war ein Bajonett...
Ellory wandte sich von den armseligen Überresten ab und starrte Sharina an.
„Ist es auf der ganzen Erde so wie hier?'‘ fragte er atemlos. Er hatte Angst vor der Antwort.
Sharina erwiderte seinen Blick verständnislos. „Auf der ganzen Erde“, bestätigte sie.
Sie wollte noch mehr sagen, aber Ellory hatte sich abgewandt.
Auf dem Rückweg zum „Palast“ beachtete er sie kaum. Sein Inneres war zwar zu aufgewühlt.
Das bedeutete, daß die gesamte Zivilisation ausgelöscht war. Es gab keine Metalle! Sogar die
frühesten Dynastien der Ägypter und Sumerer hatten Metalle gekannt.
Das fünfte Jahrtausend kannte keine. Es befand sich wieder auf der Steinzeitebene.
Er lachte schrill und konnte nicht mehr aufhören. „Das Steinzeitalter, genau das ist es. Hörst
du, Sharina? Ihr lebt im Zweiten Steinzeitalter!“
5. Wieder verging eine Woche. Jon Darm und der alte Sem Onger hatten es offenbar nicht eilig,
ihn auszufragen. Und sie zeigten auch keinen gesteigerten Drang, ihn aufzuklären.
Ellory erkannte, daß er als erstes gründlich die neue Sprache lernen mußte. Sharina half ihm
bereitwillig, und sie tröstete ihn über die erste Verzweiflung hinweg. Allmählich gewöhnte er
sich so an den neuen Dialekt, daß ihm die Sprache des 20. Jahrhunderts im Vergleich
gespreizt vorkam.
Und dann erklärte ihm Sharina eines Tages, daß John Darm und Sem Onger sich mit ihm
unterhalten wollten.
„Du verstehst unsere Sprache nun 8ut genug“, sagte das Mädchen lächelnd. „Du warst ein
gelehriger Schüler.“
„Danke, Engel“, erwiderte Ellory. Er hatte ihr den Begriff nicht erklärt, und sie hielt ihn für
eine Art Titel.
Der Unterricht hat mir Spaß gemacht“, erwiderte er leise. „Dir auch, Sharina?“ Er sah sie
von der Seite her an. Sharina wurde rot und wandte sich verlegen ab.
„Es tut mir leid, Humrelly, ich hätte es dir gleich sagen sollen. Mal Radnor und ich sind
verlobt.“
Sie warf ihm einen hilflosen Blick zu und verließ wortlos das Zimmer.
Ellory starrte seine Fingernägel an.
„So ist das also!“ sagte er schließlich seufzend. „Nun, das haben schon mehr Leute als ich
durchgemacht.“
Er wußte es selbst nicht, ob er sich bedauern sollte oder nicht. Er wußte gar nichts — nur, daß
er in letzter Zeit oft an Sharina gedacht hatte.
Am nächsten Tag ging Ellory zur Krypta. Ein Teil des Inhalts war auf Sem Ongers Befehl hin
zum Palast gebracht worden, damit er die Dinge in aller Ruhe studieren konnte. Ellory konnte
sich noch ganz genau erinnern, wie die Gegenstände eingesiegelt und in die Krypta gebracht
worden waren.
Und doch lagen dreitausend Jahre dazwischen. Seine Hände zitterten, als er sich das vorsagte.
Jon Darm wartete mit Sharina und Mal Radnor. Ihre Gesichter „wurden vom Kerzenschimmer
erhellt. Vier Menschen aus dem Zweiten Steinzeitalter!
Ellory wandte sich an Sem Onger. „Was wißt ihr eigentlich von der Vergangenheit?“ fragte
er. „Von meiner Zeit beispielsweise?“
„Viel“, brüstete sich der alte Gelehrte. „Ich habe alle Aufzeichnungen gelesen, die noch
existieren. Von deinem zwanzigsten Jahrhundert kennen wir natürlich wenig Einzelheiten,
weil es nur ein Bruchteil von dreitausend Jahren ist, aber es muß eine merkwürdige Zeit
gewesen sein.“
„Merkwürdig?“
„Wir kennen euer beliebtestes Spiel — Kapitel'n Arbeit. Diejenigen, die am längsten im
Sitzen ausharrten, waren die Sieger.“
„Kapital und Arbeit!“ murmelte Ellory, als er endlich verstand. „Ein Spiel — ich verstehe!
Was sonst noch, Sem Onger? Hat ein Name aus unseren Zeiten überlebt?“
„Supreme“, erwiderte der Alte prompt. „Er muß ein herrlicher Mann gewesen sein. Er konnte
durch die Luft fliegen und ein Haus mit zwei Händen hochheben. Es heißt, daß er zahllosen
Menschen das Leben rettete und das Verbrechen nahezu ausschaltete. Bei eurer großen
Wissenschaft war das natürlich leicht möglich.“
„Ja, ja“, murmelte Ellory. „Aber was ist mit Namen wie Kennedy, Edison, Einstein — kennt
man sie noch?“
Sem Onger wiederholte die Namen. Dann leuchteten seine wässerigen alten Augen. „O ja —
Einstein. Der Philosoph im Lande der Fsik. Er behauptete, daß Dinge, die sich bewegen,
manchmal doch im Ruhezustand sind. Ich habe persönlich bewiesen, daß er sich täuschte. Er
und seine Anhänger müssen ziemlich verrückt gewesen sein.“
Ellory wandte sich ab und starrte zum Ausgang.
Dreitausend Jahre! Alles verloren. Diese Leute wußten wenig oder gar nichts von der
Zivilisation. Die Jahrhunderte senkten sich wie ein Vorhang zwischen Vergangenheit und
Zukunft.
Sharina zupfte ihn am Ärmel. „Wir wollen erfahren, wie die Krypta gebaut wurde, Humrelly,
und durch welches Wunder du uns erhalten bliebst.“
Ellory sah sie an. „Es ist eine simple Geschichte“, begann er. „Ein sogenannter.exzentrischer
Millionär‘ meiner Zeit beschloß, diese Krypta bauen zu lassen und sie mit allerlei
Gegenständen seiner Epoche zu füllen, damit die Nachwelt sich ein Bild von unserem Leben
machen könnte.
Man beschloß, das Jahr 5000 als Zeitpunkt des Öffnens zu wählen. Dabei ging man von der
Voraussetzung aus, daß etwa alle dreitausend Jahre eine Hochblüte der Kultur geherrscht
hatte...“
Er unterbrach sich, schnitt eine Grimasse und deutete auf die Regale.
„Der Mann ließ Modelle fast aller bedeutsamen Maschinen nachbauen und schützte sie mit
Hilfe von Helium und Glas vor der Korrosion. Von den Büchern wählte er nur die lehrreichsten und allgemeinsten — auf dem Gebiet der Wissenschaft, Kultur und Romankunst. Dazu Geschichtsbände, falls man in der Zukunft ein verzerrtes Bild von unserem Leben haben sollte. In einer der Bakelitkisten befinden sich illustrierte Magazine aus festem Pergament. Sie sollen Bilder unserer Zeit vermitteln.“ Ellory deutete auf die Maschine, die Jon Darm beim Betreten der Krypta so sehr erschreckt hatte. „Das hier ist ein sogenannter Filmprojektor. In einem dieser großen Kästen befinden sich Hunderte von besonders widerstandsfähigen Filmrollen. Die meisten sind Dokumente unserer Zeit. Sie zeigen Weltereignisse wie Kriege, Hungersnöte, Paraden, dazu typische Städte und Landschaften. Auch Reden unserer Präsidenten sind aufgezeichnet.“. Er seufzte. Einen Moment lang war er versucht, den Projektor einzustellen, aber er fürchtete sich davor. „Aber nun zu mir. Ich war der Assistent eines berühmten Wissenschaftlers — eines Mannes, der die Dinge der Natur studierte. Er hatte damals eine Methode erfunden, mit deren Hilfe man das Leben aufhalten konnte, ohne es zu zerstören. Als er von dem Bau der Krypta hörte, ließ er eine kleine Kammer anfügen, in der ein Mensch untergebracht werden sollte. Ein Mensch, dessen Leben bis zur Öffnung der Krypta stillstehen würde. Ich hatte mich freiwillig für das Projekt gemeldet. Und ich stand zu meinem Wort.“ Ellory versuchte ihnen nicht zu erklären, weshalb er es getan hatte. Man hatte ihm freimütig gestanden, daß er nur eine von zehn Chancen besäße, lebend in der Zukunft zu landen. Die Entscheidung hatte Mut erfordert. Doch das Abenteuer hatte ihn gelockt. Die Zukunft... Es war eine Zeit der Hexerei“, sagte Ton Darm ehrfürchtig und sah den Phonographen an. „Wie ist es möglich, daß wir die Stimme eines Mannes hören, der seit dreitausend Jahren tot ist?“ Das ist nicht Hexerei, sondern Naturwissenschaft“, erwiderte Ellory. Wenn ihr mir die nötigen Metalle verschafft, baue ich euch viele solcher Maschinen.“ Er seufzte. „Aber ihr habt kein Metall! Ihr seid in ein Zweites Steinzeitalter abgerutscht. Wie konnte das nur geschehen?“ „Metalle?“ Sem Onger sah ihn an. „Nein, wir haben keine Metalle.“ ..Aber man kann sie schürfen, schmelzen und zu Maschinen formen“, fuhr Ellory ungeduldig fort. „Ich werde euch Dinge zeigen, daß ihr den Atem anhaltet.“ „Aber wir können keine Metalle machen“, sagte Sem Onger mit trockener Stimme. „Es gibt keine — keine...“ Er suchte vergeblich nach dem richtigen Wort. „Natürlich nicht“, sagte Ellory. Der Gedanke, diesen Menschen die Metalle wiederzubringen, hatte ihn plötzlich gepackt. „Metalle liegen nicht einfach so herum. Man muß sie aus Erzen schmelzen und...“ „Erze!“ rief der alte Seher. „Das ist das richtige Wort. Es gibt keine Erze mehr, Humrelly. Sie sind alle verbraucht.“ „Verbraucht!“ Ellory spürte, wie sein Herz sank. Sem Onger blinzelte ihn kurzsichtig an. „Ich habe viel vom Zeitalter der Metalle gelesen, das vor eurer Epoche begann und tausend Jahre nach euch zu Ende ging. Oh, ich könnte auch Metalle schmelzen, wenn ich die nötigen Erze hätte. Aber wir besitzen keine mehr.“ Er holte aus seiner Tasche ein paar Rindenstücke, die mit seiner krakeligen Handschrift bedeckt waren. „Ich habe das Werk eines Mannes übersetzt, der tausend Jahre nach dir lebte.“ Er hielt die Rinde dicht an die Kerze und las: „Die Menschheit hat zu sehr gepraßt. Sie hat die einst so reiche Erde ausgeraubt. Sie erkannte nicht rechtzeitig die Grenzen, die ihr gesetzt waren. Heute, im Jahre 3000, werden die letzten Kohlebrocken aus der Tiefe der Bergwerke geholt, öl ist seit Jahrhunderten unbekannt. Viele der Metalle sind verbraucht, darunter vor allem Zinn, das schon vor fünfhundert Jahren zu Ende ging.
Eisen und Aluminium sind noch in großen Mengen vorhanden, aber nur in Formen, die sich nicht technisch verwenden lassen. Umwandlungsexperimente lohnten sich vom wirtschaftlichen Standpunkt nicht. Einige Prozesse erforderten zuviel Energie, so daß das Endprodukt teurer als Gold wurde. Bei anderen Prozessen wurde gefährlich hohe Energie frei, und mehr als einmal kam es zu gewaltigen Detonationen, die eine Menge Menschenleben kosteten. Unsere Zivilisation bricht zusammen, weil es uns an Metallen fehlt. Der Hauptgrund für diese Situation ist in den nicht endenwollenden Kriegen zu sehen. Das Zeitalter der Diktatoren, das seine Anfänge im zwanzigsten Jahrhundert hatte, trieb die Menschheit zu immer neuen Kämpfen. Heute ist ein Flugzeug über der Stadt gekreist und hat eine Bombe abgeworfen. Es dürfte eine der letzten Maschinen sein, und ihr Treibstoff besteht aus Pflanzenalkohol. Dennoch geht der Krieg weiter. Wenn wir keine Waffen mehr besitzen, werden wir mit bloßen Händen aufeinander losgehen. Ich behalte mein Geheimnis für mich. Vielleicht hätte es die Zivilisation vor tausend Jahren gerettet, aber heute würde es den Krieg nur verschärfen. Wir befinden uns in der Dämmerung der Zivilisation, und wenn ich nach vorne sehe, erblicke ich Nacht. Eine Nacht des Elends für die Menschheit.“ Ellory stand wie eine Statue da. Die Menschen aus der Zukunft beobachteten ihn, ohne zu ahnen, was in seinem Innern vorging. „Und es geschah wirklich so“, murmelte der Alte. „Wenn meine Aufzeichnungen stimmen, kam bald danach der große Zusammenbruch. Horden von Wilden streiften durch die Welt. Mit dem Niedergang der Metalle und der Energie waren Millionen und Abermillionen Menschen auf sich selbst angewiesen. Es gab nicht mehr Platz für alle. Hungersnöte und Kämpfe ließen die Bevölkerung schrumpfen. Neunhundert Jahre lang lebten die Menschen praktisch wie Barbaren. Die großen Städte zerfielen. Dein Zeitalter gehörte der Vergessenheit an, Humrelly.“ „Eine Wiederholung der Geschichte“, sagte Ellory leise. „Je höher man aufsteigt, desto tiefer fällt man.“ Er sah auf. „Aber wie sind die Lebensbedingungen heute?“ „Wir sind dem Barbarentum entwachsen“, sagte Sem Onger ruhig. „Ein gewisses Gleichgewicht hat sich eingestellt. Die Menschheit ist in Stammesstaaten eingeteilt — so jedenfalls würdest du es nennen. Jon Darm ist Herr über ein Gebiet, das sich nach Norden, Süden und Westen so weit erstreckt, wie ein Pferd in drei Tagen laufen kann. Fünf andere Herrscher regieren in der Umgebung unseres Gebietes, das wir Norak nennen. Dahinter kommen wieder andere Stämme. Unsere Segelschiffe waren schon in allen Teilen der Erde, auch jenseits der Meere. Überall bietet sich das gleiche Bild. Manchmal haben wir Grenzstreitigkeiten und Kämpfe. Sonst leben wir von der Landwirtschaft.“ Einen Moment lang herrschte Stille in der Krypta. Sharina sah Ellory an. „Bist du mit diesem Leben nicht zufrieden, Humrelly?“ „Doch, Engel“, erwiderte Ellory hastig. „Ich überlegte nur, welchen Platz ich in deiner Welt finden könnte. Der einzige Wissenschaftler in einer Epoche ohne Metalle und Maschinen — ohne ein Labor.“ Ein Surren erfüllte den Himmel, und als Ellory vor die Krypta trat, blieb er wie erstarrt stehen. Eben hatte er noch sagen wollen: „Das Zweite Steinzeitalter!“ Und nun sah er ein Flugzeug am Himmel.
6.
Die Maschine war sonderbar, anders als jedes Flugzeug, das Ellory je gesehen hatte. Zwei breite Dreiecksflügel trugen eine torpedoförmige Kabine. Die Konstruktion bestand aus einem hellen, glänzenden Metall. Man sah weder Antriebe noch einen Propeller, aber von den hinteren Flügelkanten gingen kleine orange Flammen aus. Es handelte sich eindeutig um ein Raketenflugzeug, um das Produkt einer technischen Zivilisation. Irgendwo auf der Erde gab es die Zivilisation! Ellory hätte am liebsten vor Freude geschrien. Er befand sich also doch nicht ganz im Steinzeitalter. Er beobachtete das Schiff, bis es am westlichen Horizont verschwand. Dann wirbelte er herum. Die Gesichter seiner Begleiter waren merkwürdig niedergeschlagen, und er hatte den Eindruck, daß das Flugzeug für sie etwas Unangenehmes darstellte. „Welches Volk besitzt diese Maschinen, Sem Onger?“ fragte er. „Wolltest du sie mir verheimlichen? Sagtest du nicht, daß es auf der Erde kein Metall gäbe?“ „Ich wollte dir von ihnen erzählen“, erwiderte der Alte ruhig. „Ja, es gibt eine Zivilisation des zwanzigsten Jahrhunderts, in einem Land voll Eis und Schnee, das völlig von Wasser umgeben ist. Wir nennen das Volk die Herren von Antarka.“ „Antarka?“ wiederholte Ellory. „Ist es südlich von hier — sehr weit südlich?“ Sem Onger nickte. „Die Antarktis! Die Herren von Antarktis!“ Ellory packte den alten Mann hart an der Schulter. „Erzähle mir von ihnen.“ Sem Onger schüttelte den Kopf. „Wir wissen wenig von ihnen, nur daß sie die fliegenden Maschinen besitzen und in der Kälte leben. Es ist ein Volk, das sich von den übrigen Menschen absondert.“ Ellorys Erwachen in einer Steinzeitwelt war sonderbar genug gewesen. Aber das hier grenzta ans Groteske. Ein Volk, das Metalle besaß und etwas von Naturwissenschaften verstand! Ein Volk, das nichts von seinem Reichtum und Wissen an die anderen Menschen abgeben wollte. Ellory wurde ärgerlich. Aber er wußte, daß er die Fremden nicht vorschnell verurteilen durfte. Selbst im zwanzigsten Jahrhundert hatte man gewußt, daß es in der Antarktis reiche Vorkommen an Kohle und Erzen gab. Aber die Funde reichten sicher nicht aus, um die ganze Welt zu versorgen. Ellory beschloß, die sogenannten Herren von Antarka aufzusuchen. Sein Puls ging schneller, als er daran dachte, daß er sich wieder der Zivilisation gegenübersehen würde. Aber er fühlte auch eine starke Bindung zu den Menschen, die ihn aus seinem Totenschlaf geweckt hatten. Vielleicht konnte innerhalb gewisser Grenzen etwas für sie getan werden. Im Laufe des nächsten Monats verbrachte Ellory einen großen Teil seiner Zeit bei Sem Onger. Der alte Seher geriet immer wieder in Verzückung über die Gegenstände aus der Vergangenheit. Ellory redete sich heiser, um seine unersättliche Neugier zu stillen. Oft kam Sharina zu ihnen und hörte sich die Erklärungen an. Sie bewunderte mit großen Augen die Schätze des 20. Jahrhunderts. Vor allem die Filme schienen es den beiden angetan zu haben. Ellory drehte stundenlang an der Kurbel. „Einen winzigen Elektromotor!“ stöhnte er einmal und mußte gleich darauf über seinen unmöglichen Wunsch lachen. Und doch — in der Antarktis besaß man Maschinen, Metalle, eine Zivilisation. Im 20. Jahrhundert war die Antarktis eine öde Wildnis gewesen — nun befanden sich Amerika, Europa und Asien in dieser Rolle. Ein merkwürdiger Streich des Schicksals. „Oh, es gab so viele große Dinge in der Vergangenheit“, sagte Sem Onger mit einem Seufzer. „So viele Rätsel, die wir niemals lösen werden. Worin bestand beispielsweise das Geheimnis jenes Mannes, der seine sonderbaren Zeilen im Jahre 3000 schrieb?“ Ellory ließ plötzlich die Kurbel los. „Sem Onger, wo hast du die Schrift eigentlich gefunden?“ „In den Ruinen des alten Norak. Wie nennst du es? Nuu York? Ich war oft dort und versuchte mir vorzustellen, wie die Stadt vor ihrem Untergang im Jahre 3090 ausgesehen hatte. Die
Papiere befanden sich in einem Umschlag aus Goldfolie und waren gut erhalten. Ich entdeckte sie in einer Steingrotte.“ Ellory sah im Geiste ein Labor vor sich. Ein Wissenschaftler des 30. Jahrhunderts hatte dort gearbeitet. Er hatte etwas Großes entdeckt und war zusammen mit dieser Entdeckung gestorben. Aber er hatte rätselhafte Aufzeichnungen hinterlassen. Es konnte etwas bedeuten — oder nicht. „Glaubst du, daß du die Grotte wieder findest?“ „Vielleicht.“ „Dann machen wir eine Reise nach Norak“, erklärte Ellory. „Ich möchte ohnehin die Ruinen sehen.“ „Ich komme mit“, sagte Sharina zu seiner Überraschung. „Was?“ Ellory sah sie zweifelnd an. „Lieber nicht, Engel. Mal Radnor wird es nicht gefallen...“ „Ich komme mit“, wiederholte sie und lächelte ihn trotzig an. „Außerdem wird es hier langweilig. Mal Radnor bricht bald zu den Grenzgarnisonen im Süden auf. Er ist Kriegshäuptling. Man spricht von Schwierigkeiten mit den Quoise.“ „Und dein Vater hat nichts dagegen?“ „Er hat mir befohlen, den Gast aus der Vergangenheit mit höchster Auf merksamkeit zu behandeln.“ „Aber...“ Sem Onger hielt die Hand hoch und grinste. „Du kannst mit einer Frau unserer Tage vermutlich ebensowenig streiten wie mit einer Frau aus deiner Zeit, Humrelly. Außerdem kocht sie gut, und unterwegs wird man hungrig.“ Sein Tonfall veränderte sich. „Wir werden jedoch erst nach dem Besuch der Herren von Antarka aufbrechen. Sie kommen morgen.“ Ellory versteifte sich. „Die Herren von Antarka — kommen her? Wozu? Ich dachte, sie hätten mit der übrigen Welt nichts zu tun?“ „Du wirst sehen — morgen.“ Es schien ein heikles Thema zu sein, und Ellory wollte nicht in den Alten dringen.
7. Am nächsten Morgen spürte Ellory, wie sehr sich die Stimmung geändert hatte. Die Arbeit in der Gemeinde ruhte. Schweigend und niedergedrückt gingen die Menschen ihrer Wege. Unterbewußt bemerkte er das alles. Aber er freute sich doch auf das Zusammentreffen mit einer zivilisierten Menschengruppe. Vielleicht gelang es ihm, mit den Leuten zu reden. Pünktlich um zwölf Uhr erschien ein schimmerndes Flugzeug über der Stadt und senkte sich majestätisch. Nach unten gerichtete Düsen bremsten den Fall. Die Maschine hielt auf dem Stadtplatz an. Ellory starrte sie an. Neben ihrer schlanken, aerodynamischen Form wurden die Häuser der Stadt zu unscheinbaren Schuppen. Er versuchte loyal zu sein, aber unwillkürlich fühlte er sich zur Zivilisation der Fremden hingezogen. Zusammen mit Jon Darm und Sem Onger trat er ins Freie. Mal Radnor und Sharina gingen ein Stück hinter ihnen. An den Fenstern erschienen ängstliche Gesichter, und in den Seitenstraßen tauchten allmählich die Leute auf, die den Stadtplatz bei der Landung des Flugzeugs fluchtartig verlassen hatten. „Ist das eine der Maschinen, wie du sie gekannt hast. Humrelly?“ fragte Sem Onger. „Ein wenig fortschrittlicher als unsere Flugzeuge“, erwiderte Ellory. „Woraus wohl der Treibstoff besteht?“ „Treibstoff?“ wiederholte der Alte. „Muß eine Maschine Treibstoff haben? Ach ja — ich hatte es vergessen.“ Er zuckte mit den Schultern. Noch bevor sie die Maschine erreicht hatten, öffnete sich eine Luke, und die Insassen traten ins Freie — drei Männer und eine Frau. Sie waren alle groß und hochgewachsen, und ihre Kleider ließen die einfachen
Kombinationen der Einheimischen wie Säcke erscheinen. Die Männer trugen enganliegende Seidenhosen, knappe Jacken aus blauem Samt, helmartige Kopfbedeckungen und Stiefel aus Lackleder. Die Kleidung der Frau war ähnlich geschnitten, nur schien sie leuchtendere Farben zu bevorzugen. Ziviüsation! Ellory trat einen Schritt nach vorn. Die Blicke der Fremden strahlten Hochmut aus. Herren von Antarka — sie trugen ihren Namen zu Recht. Sem Onger legte ihm die knochige Hand auf die Schulter. „Langsam, Humrelly. Jon Darm ist der Anführer.“ Er schnitt eine Grimasse. „Du wirst noch früh genug mit der Art dieser Leute Bekanntschaft machen.“ Jon Darm blieb drei Meter vor den Besuchern stehen und verbeugte sich tief. Sie nickten ihm nur ein wenig zu. Ellory spürte, daß alles Teil einer Zeremonie war. Die Fremden hatten blondes Haar und eine sehr helle Haut. Wahrscheinlich gab es in der Antarktis wenig Sonne. Ihrer Haltung merkte man an, daß sie ihr Leben in Müßigkeit ver brachten. Sie hatten die Eleganz von chinesischen Puppen. Im Gegensatz dazu wirkten die Leute aus dem Steinzeitalter bäuerlich, abgearbeitet, muskulös. Und dann sah Ellory die Frau an und spürte einen Schock. Sie war schön, unirdisch schön. Zart nachgezeichnete Augenbrauen über großen Augen, ein voller Mund und silberblonde Locken, dazu die reine, weiße Haut. Sie war schön, auch nach dem Standard seiner Zeit. Sharina verblaßte neben ihr. Unwillkürlich fuhr sich Ellory über die kratzige Haut. Er konnte sich nicht an die Steinmesser gewöhnen und hatte deshalb ständig Bartstoppeln. Die Fremde sah die Bewegung, blickte aber unpersönlich über ihn hinweg. Für sie war er natürlich nur ein Wilder aus dem Steinzeitalter. Ellory biß sich auf die Lippen. „Willkommen, Herren von Antarka!“ sagte Jon Darm. Er verbeugte sich noch einmal vor der Frau. „Willkommen, Lady Ermaine von Lillamra!“ Ellory, der nun die Sprache besser kannte, übersetzte sofort: Lillamra — Little America. Früher einmal hatte Amerika eine Station dieses Namens im Polgebiet besessen. „Du gefällst mir, Jon Darm“, sagte die Frau mit glockenreiner Stimme. Ihr Akzent klang sehr gewählt. „Du besitzt einen gewissen Anstand, der den meisten anderen Anführern fehlt.“ Ihre Stimme wurde unpersönlich...Hast du die Auserwählten bereit? Bringe sie her. Wir wollen den Aufenthalt nicht unnötig verzögern.“ Jon Darm winkte. Aus einer der Nebenstraßen kamen zehn junge Männer. Sie marschierten hintereinander durch die schweigende Menge und blieben vor den Antarkern stehen. Ellory konnte erkennen, daß es tatsächlich „Auserwählte“ waren — die kräftigsten, schönsten jungen Männer der Stadt. Ellory runzelte die Stirn. Hier ging etwas Merkwürdiges vor. Die Autarker beobachteten die jungen Männer genau. Auf ein Kommando hin drehten sie sich um wie Mannequins. Ihre Gesichter waren ausdruckslos. Sie schienen die Vorgänge genau zu kennen. Ermaine beriet sich leise mit den drei Männern. Dann deutete sie auf zwei der Auserwählten. „Ersatz!“ sagte sie kurz. Einer der beiden hatte eine Narbe am Bein. Der andere ließ die Schultern ein wenig hängen“. Jon Darm winkte wieder, und zwei andere junge Männer traten vor. Die Antarker nickten. „Sie entsprechen uns, Jon Darm“ sagte Lady Ermaine. Auf ein Zeichen hin führten ihre drei Begleiter die jungen Männer ins Schiff. Ellory umklammerte Sem Ongers Arm. „Was soll das?“ flüsterte er heiser. „Jeden neunten Monat kommen die Herren von Antarka her und wählen zehn kräftige junge Männer aus, die ihnen dienen sollen. Sie kehren nie zurück. Außerdem verlangen sie Lebensmittelvorräte, die wir in unseren Segelschiffen zur Küste bringen.“ Sem Onger sagte das so ausdruckslos, daß Ellory unwillkürlich von Zorn erfaßt wurde. Er sah die anderen an. Jon Darm starrte mit verbitterter Miene zu Boden. Mal Radnors Augen
verrieten ebenfalls einen leichten Zorn, aber seine Resignation überwog. Nur Sharina schien
sich nicht mit dem Schicksal abfinden zu wollen.
„So ist es seit tausend Jahren“, flüsterte Sem Onger. „Die Herren von Antarka besitzen Macht.
Sie haben Metalle, Naturwissenschaften, Waffen.“ Seine Stimme war ruhig, als spräche er
von unabänderlichen Dingen wie dem Regen oder dem Tod.
„Sonst haben die Herren von Antarka nichts mit uns und den übrigen Völkern der Erde zu tun.
Sie mischen sich nicht in unsere Angelegenheiten.“
„Mischen sich nicht ein!“ Ellory war immer noch entsetzt. In seiner Stimme klangen
Entrüstung und Verwirrung mit. Wie konnte sich Jon Darms Volk diese Tyrannei so ohne
weiteres gefallen lassen?
Seine Gefühle schwankten. Beinahe wäre er vorgetreten und hätte protestiert, aber Lady
Ermaine von Lillamra sprach weiter:
„Diesmal brauche ich auch drei junge Mädchen.“
Jon Darm wirkte enttäuscht, aber er winkte. Gehorsam traten drei Mädchen vor. Lady
Ermaine winkte lächelnd ihren drei Begleitern zu und üeß sie die Wahl treffen. Ellory merkte
ihren Mienen an, zu welchem Zweck die Mädchen dienen sollten.
Er ballte die Fäuste. Das war Sklavenhandel!
Lady Ermaine bemerkte kühl: „Die Auswahl war diesmal nicht so gut, Jon Darm. Sorge dafür,
daß sich das bis zum nächsten Mal ändert.“ Ihre Blicke fielen auf Ellory, der die anderen
Männer ein Stück überragte. Sie deutete auf ihn. „Da! Das ist der Typ, der uns am will
kommensten erscheint.“
Wie auf ein Stichwort hin trat Ellory einen Schritt vor und blickte in die hochmütigen Augen
des schönen Geschöpfes. „Tatsächlich? Bin ich das? Und wenn ich nun nicht mitkommen
möchte?“
Seine Stimme klang schneidend. Die anderen hielten den Atem an. Sem Onger versuchte ihn
zurückzuziehen, aber er schüttelte den Alten ab.
„Angenommen, Lady Ermaine, wir wollen Ihnen überhaupt keine jungen Männer und
Mädchen mitgeben?“ , Mit dem Wörtchen „wir“ hatte sich Ellory automatisch auf die Seite
der Steinzeitmenschen gestellt.
Die Frau starrte ihn aus kalten, ruhigen Augen an.
„Oh?“ sagte sie ein wenig amüsiert. „Das sind kühne Worte...“
„Ich bin noch nicht fertig“, unterbrach Ellory sie grob. „Mit welchem Recht macht ihr andere
Menschen zu Sklaven? Und diese Mädchen...“ Er schluckte.
„Sklaven? Das ist ein harter Ausdruck. Sie sind Diener. Wir behandeln sie gut. Und die
Mädchen haben mit der Zeit Spaß an ihrer Aufgabe.“ Lady Ermaine von Lillamra sagte es
lässig und ganz nebenbei.
„Und die Frage nach dem Recht ist sonderbar. Seit Jahrtausenden benutzen wir einige eurer
jungen Leute als Helfer in unseren Städten. Und ihr versorgt uns mit Lebensmitteln. Wir
kümmern uns nicht um eure Angelegenheiten. Wir mischen uns weder in eure Grenzkriege
noch in eure Verwaltung ein. Weshalb möchtest du das ändern?“
Ellory war empört. Die Argumente der Frau sollten einen primitiven Wilden aus dem
Steinzeitalter beschwichtigen. Aber er bemerkte an ihren Blicken, daß sie sich über den
Tatbestand der Tyrannei sehr wohl im klaren war.
Sie wartete auf seine Reaktion. Einer der Männer griff in die Tasche, als umklammerte er eine
Waffe.
„Gefahr, Humrelly!“ flüsterte Sem Onger.
Ellory beherrschte sich mühsam. Er spürte selbst, daß er sich auf gefährlichem Grund
bewegte. Wenn sie merkte, daß er kein Steinzeitmensch war, änderte sie vielleicht ihre Taktik.
Sie konnte ihn ohne weiteres zum Tode verurteilen.
Ellory trat ein paar Schritte zurück. „Verzeiht, Lady Ermaine von Little America“, murmelte
er.
„Warte!“ Sie sah ihn mißtrauisch an. „Wie hast du mich genannt? Wer bist du?“
In seiner Erregung hatte er „Little America“ gesagt. Er biß sich auf die Lippen. „Humrelly
heiße ich“, sagte er undeutlich. „Ich bin ein Hirte, und ich leide an einem Sprachfehler.“
„Einen Moment lang glaubte ich den Akzent der Alten zu hören“, sagte sie mit
zusammengekniffenen Augen. „Aber nein.“ Sie lachte. „Ein verrückter Gedanke. Humrelly,
kümmere dich in Zukunft um deine Herden und nicht um Dinge, die du nicht verstehst.“
Er war entlassen. Mit gesenktem Kopf zog er sich zurück. Innerlich kochte er.
„Die übliche Sendung an Nahrungsmitteln ist unterwegs, Jon Darm?“ Es war eine
Routinefrage.
„Ja, Lady Ermaine. Die Schiffe werden im Laufe des Monats eintreffen.“
„Dann können wir gehen.“
Sie warf Ellory noch einmal einen neugierigen Blick zu und wandte sich dann ab.
Die vier Bewohner von Antarka betraten ihr Schiff. Aus dem Torbogen des Palastes
beobachtete Ellory den Start. Dröhnend verschwand das Schiff in den Wolken und mit ihm
zehn junge Männer und drei Mädchen.
8. Das Leben in der Stadt ging weiter, als sei nichts geschehen. Karren ratterten durch die
Straßen! Kinder spielten im Schatten der Bäume. Frauen unterhielten sich an den Ecken. Die
Herren von Antarka waren für die nächsten neun Monate vergessen.
„Vergiß du sie auch, Humrelly“, riet Sem Onger. „Wenn ich gewußt hätte, daß sie dein Gemüt
so erregen, hätte ich dich vorher gewarnt. Alle neun Monate fliegen ihre Schiffe zu jedem
Stamm der Welt.
Die Antarker nehmen immer einen festen Prozentsatz der Bevölkerung mit. Lady Ermaine
von Lillamra — Lillamra ist eine Stadt — besucht außer uns noch die Quoise und ein paar
Nachbarstämme. Die vielen anderen Stämme werden unter den übrigen neun Städten von
Antarka verteilt. Unsere Aufgabe ist es, neben den jungen Leuten alle neun Monate eine
Schiffsladung Getreide, Gemüse und Fleisch zu liefern.“
„Und die Inlandstaaten, die keine Schiffe besitzen?“
„Sie bringen ihren Anteil zur Küste oder zu anderen Stämmen, welche die Verschiffung für
sie übernehmen. Wir beispielsweise helfen den Jendra und erhalten dafür Häute. Die Herren
von Antarka dürfen nicht warten.“
Sem Onger sagte das, als sei es ein Naturgesetz.
„Wenn ein Stamm seinen Tribut nicht rechtzeitig abliefert oder sich weigert,
ihn zu zahlen, werden seine Städte zerstört und die Bewohner in die Berge gejagt. Bisher ist
es selten vorgekommen.“
Immer noch diese Resignation, die Ellory zur Verzweiflung brachte. Er schüttelte den Kopf.
„Findest du das gerecht?“
„Es wird seit tausend Jahren so gemacht“, erwiderte der Alte vorsichtig.
„Sonst tun sie uns nichts.“ Mal Radnor zuckte mit den Schultern.
„Sie überlassen mir die Führung des Landes“, sagte Jon Darm verbissen.
Platituden, die ihnen die Herren von Antarka eingebleut hatten.
„Aber es ist Tyrannei, nackte Diktatur!“ rief Ellory. „Eine Ausbeutung, die der einen Seite nur
Gewinne und der anderen nur Verluste bringt! Versteht ihr das nicht? Es...“
Er unterbrach sich. Die Menschen aus der Zukunft standen verständnislos da. Die Ausdrücke
des zwanzigsten Jahrhunderts bedeuteten ihnen nichts. Er hätte sich ebensogut an
Taubstumme wenden können. Hilflos sah er sie an.
„Nein, Humrelly, es ist nicht gerecht.“
Es war Sharinas leise Stimme. Sie allein hatte bisher geschwiegen. Jetzt kam sie näher und berührte seinen Arm. Ihre Augen leuchteten. „Im Innern wissen wir das alle. Du hast es für uns ausgesprochen. Aber, Humrelly“ — der Glanz in ihren Augen erlosch —, „was kann man dagegen tun?“ Die anderen beobachteten ihn. Die Blicke wiederholten die Frage: „Was kann man dagegen tun?“ „Nichts“, stellte Sem Onger ruhig fest. „Aber, Humrelly, wir gehen jetzt zu den Ruinen, wie es vereinbart war. Vielleicht können wir dort andere Dinge vollbringen.“ Am folgenden Tag brachte sie ein Wagen mit einem vorgespannten Ochsenpaar nach Süden. Der Fahrer, ein Diener von Jon Darm, folgte einem staubigen Weg, der neben einer ehema ligen Schnellstraße verlief. Jetzt erkannte man nur noch vereinzelte Teerflecken. Vor ihnen lag das alte New York. Ellory hatte eine schlaflose Nacht verbracht. Die Enthüllungen des Vortages hatten ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Es war schlimm genug gewesen, in dieser primitiven Welt anzukommen. Aber noch schlimmer war die Erkenntnis, daß die Antarker diese Welt unter drückten. Und doch — was konnte man tun? Die Antarker besaßen Metalle und Macht. Ellory sah sich um. In den Mulden und Tälern standen Hütten. Männer und Frauen bestellten die Felder. Hier und da hielt ein Halbwüchsiger eine Schafherde zusammen. Ein ländliches Bild. Sein Herz klopfte schneller, als sie am Nachmittag die Ausläufer von New York erreichten. Zahlreiche Ruinen ragten auf. zum Teil überwachsen von Gras und Bäumen. In Bronx brachte sie ein Fährmann mit einem riesigen Floß über den Hudson. Manhattan war offenbar seit Jahrhunderten ein Weideplatz für Ziegen. Die Tiere ließen sich durch die Ruinen nicht stören; sie benutzten das Mauerwerk sogar zu Kletterübungen. Ellory spürte einen Stich, als er die Stützpfeiler der George-Washington-Brücke sah. Die Brücke selbst war eingesunken. Ein Stück weiter unten legten mächtige Betonklötze Zeugnis ab von einer zweiten, jüngeren Brücke. Auch sie war verschwunden. Der Wagen konnte sich nur mühsam einen Weg durch die hoch aufgetürmten Ruinen bahnen. Krater zeigten die Reste einer U-Bahnstation — und Knochen. Offenbar hatte eine Bombe eingeschlagen. „Wir besitzen Aufzeichnungen, daß die Stadt gegen Ende des Krieges durch drei Atomraketen vernichtet wurde. Nur ein paar tausend Menschen entkamen dem Tod.“ Sem Onger sagte das ganz beiläufig. Ellory schauderte. Der Erste und der Zweite Weltkrieg waren der Beginn der nuklearen Kampfmethoden gewesen. Aber er verstand‘ eines nicht. Wie konnte jemand überleben, wenn die Stadt von Atomwaffen getroffen wurde? Irgend etwas stimmte hier nicht. „Wohin fahren wir?“ fragte er. „Auf welchem Teil der Insel befindet sich das Labor des unbekannten Wissenschaftlers?“ „Im Osten, ein Stück vom Fluß entfernt“, erwiderte Sem Onger und warf einen prüfenden Blick zum Himmel. „Aber es ist besser, wenn wir bis morgen hierbleiben. Die Sonne geht bald unter, und im Zwielicht sind meine Augen zu schwach.“ Sie hielten an einem freien Platz an und errichteten ein Zelt für Sharina. Die drei Männer wollten unter dem breiten Wagen schlafen. Ellory sah zu, wie der Bedienstete Feuerholz zusammentrug und es durch Funkenschlagen zum Brennen brachte. Als die Flammen niedriger wurden, legte Sharina mit Blättern umwickeltes Fleisch in die heiße Asche, dazu ungeschälte Kartoffeln. Es war ein herzhaftes, wohlschmeckendes Essen. Aber Ellory konnte es hier im Herzen der Großstadt nicht so recht genießen. Ein Schalterknipsen hatte früher für Licht, Wärme und Musik gesorgt. Millionen Menschen hatten müßig gelebt, wo man jetzt Holz zusammentragen und mühsam anzünden mußte. Ellory konnte keinen Schlaf finden. Die Sterne schienen auf die Trümmer von New York herab. Hier und da ragte immer noch trotzig ein Wolkenkratzer in den Himmel. Der Wind
fuhr durch die leeren Fensteröffnungen.
Aber dann schüttelte er gewaltsam seine melancholische Stimmung ab.
Jeder Mensch fand einen Platz in der Gesellschaft, wenn er nur danach suchte. Vielleicht
gelang es auch ihm. Vielleicht konnte er diesem Volk die Naturwissenschaften zurückgeben.
Vielleicht...
Seine Augen wurden schmal.
Wenn man die Stahlskelette der Türme schmolz und neues Metall daraus gewann? Wenn man
daraus Waffen schmiedete und die hochmütigen Herren von Antarka bekämpfte? Er lächelte
selbst über seine Träume.
9. Sem Ongers Gedächtnis war lückenhaft, und die Ruinen ähnelten einander. So dauerte es zwei
Tage, bis sie die Steinkammer gefunden hatten, die der alte Gelehrte suchte.
Erdhaufen lagen daneben. Ein Teil des Daches war eingestürzt. Ellory kroch in das feuchte,
moderige Dunkel. Er hielt einen Kerzenstummel hoch. Sharina folgte ihm geschickt. Sie
lachte nur, als er ihr helfen wollte.
„Da wären wir“, erklärte der alte Seher. „Damals waren fast alle Behausungen gas- und
bombensicher. Deshalb ist die Kammer so gut erhalten.“
Es war ein Bunkerlabor gewesen.
Ellory spürte das sofort, obwohl ihm die schimmeligen Überreste kaum einen Hinweis darauf
gaben. Er begann sofort in den Ruinen zu wühlen.
Sharina keuchte, als er einen schneeweißen Schädel in die Hand nahm.
„Unser Freund ist bei seiner Arbeit gestorben“, murmelte Ellory. „ich möchte wissen, welche
Besessenheit... He, was ist denn das?“
Er bückte sich. „Folie“, sagte er verwundert. „Bleifolie, um einen Gegenstand gewickelt...“
Ein paar Minuten später hatte er Dutzende von Bleifolieschichten abgewickelt. Darunter
entdeckte er einen wachsartigen Klumpen.
Der Klumpen begann plötzlich in seiner Hand zu leuchten.
Eine Warnung durchzuckte sein Gehirn, als er sah, wie die Feuchtigkeit an den Wänden
blitzschnell trocknete. Mit einem erstickten Schrei wickelte er die Bleischicht über den
Klumpen.
„Gerade noch rechtzeitig“, murmelte er.
Die Temperatur im Raum war um einige Grad gestiegen. Sie schwitzten.
„Was war das?“ keuchte Sharina.
Sem Onger sah Ellory an. „War das sein — Geheimnis?“
Ellory nickte. Er war immer noch entsetzt.
„Wir müssen versuchen, noch mehr seiner Aufzeichnungen zu finden“, sagte er.
Aber Stunden später kamen sie zu dem Ergebnis, daß die Aufzeichnungen entweder von
Naturkräften oder von dem geheimnisvollen Wissenschaftler selbst zerstört worden waren.
Offenbar war es ihnen nicht vergönnt, das Rätsel des Wachsklumpens zu lösen.
Ellory warf einen Blick auf die anderen Dinge, die sie freigelegt hatten. Die Sachen, die am
tiefsten gelegen hatten, waren am besten erhalten. Drähte, Wicklungen, Kondensatorplatten,
Glasprismen und Linsen, Teile von komplizierten Mechanismen — daraus konnte man
einiges herstellen. Ellory war begeistert. Hier entstand vielleicht einmal sein Labor.
Und wenn er sich nicht täuschte, dann war die seltsame Materie in den Bleifolien der Beginn
zu einer neuen Epoche.
„Gehen wir“, sagte Sem Onger ungeduldig. „Überlassen wir den Raum wieder den Ratten.“
„Einen Augenblick!“ sagte Ellory. „Ich möchte etwas ausprobieren. Blast die Kerzen aus.“
Sie kamen seiner Aufforderung verwundert nach. Ellory nahm den Klumpen in die dunkelste
Ecke und wickelte ihn vorsichtig wieder aus. Das Wachs begann zu glühen, aber weit weniger
intensiv als beim ersten Mal. Ellory schabte ein Stückchen davon ab und hüllte den Rest
wieder in die Folie.
Dann legte er das winzige Stück auf einen Bleistreifen und trug es zu einem Schlitz in der
Decke, wo das Tageslicht ungehindert eindrang. Sofort glühte das Material auf. Die
Flüssigkeit in der Umgebung verdampfte, und der Bleistreifen in Ellorys Fingern wurde heiß.
Ellory begann zu zittern. Sein wissenschaftlicher Instinkt war erwacht. Radioaktivität!
„Langsame“ Atomenergie! Und ihre Stärke war proportional zur Lichtstärke.
Als die Wärme im Bunker unerträglich wurde, trat Ellory ins Freie. Er legte den kleinen
Klumpen auf einen Stein und sah zu, wie er verpuffte. Dann ging er gedankenverloren zum
Wagen zurück.
„Ist das eine Wissenschaft?“ erkundigte sich Sem Onger. Offensichtlich hielt er die
Wissenschaft für etwas Greifbares. „Was kann sie tun?“
„Eine ganze Menge, wenn ich mich nicht täusche“, erwiderte Ellory. „Ich werde hierher
zurückkommen und im Labor arbeiten. Vielleicht löse ich das Geheimnis des
Leuchtwachses.“
„Ich werde dich begleiten“, erklärte Sem Onger sofort. „Abes zuerst müssen wir Jon Darm
um Erlaubnis bitten.“
„Wie lange wirst du hier sein?“ fragte Sharina mit verschleiertem Blick.
„Ich weiß nicht“, entgegnete Ellory langsam. „Vielleicht sehr lange. Wirst du mich hin und
wieder besuchen, Engel?“
„Jam, Humrelly.“
Als sie den Rückweg zur Hälfte hinter sich hatten, sahen sie eine Staubwolke vom Horizont
näher kommen. Es war Mal Radnor mit einer Reitergruppe.
Der junge Häuptling hielt neben dem Wagen an. Einen Moment lang warf er Ellory und
Sharina einen düsteren Blick zu. Ellory spürte, daß es von Sharina falsch gewesen war, ihn zu
begleiten.
Aber Mal Radnor hatte andere Dinge im Kopf als eine Szene. „Krieg!“ sagte er heiser.
Sem Onger und Sharina versteiften sich, aber sie schienen nicht sonderlich überrascht.
„Mit den Quoise?“ fragte Sharina rasch.
Mal Radnor nickte. „Sie griffen unsere Grenzpatrouille an und vertrieben uns in die Berge.
Sie stoßen zu Tausenden vor. Wie sie seit einem Jahr drohen, versuchen sie unsere Grenze bis
zum Hussan zurückzudrängen. Ich muß unsere Reserven sammeln und eine Armee ausrüsten.
Tod den Quoise!“
„Damit ist der zehnte Grenzkrieg mit den Quoise, seit ich lebe“, meinte Sem Onger. „Sie
besitzen das Land im Süden und Westen bis zum Ozean. Die fruchtbaren Ebenen den Hussan
entlang sind seit langem Anlaß zu Neid.“
Ellory stellte weitere Fragen. Bei dem „Krieg“ ging es um ein paar Quadratmeilen Land.
Tausende von Soldaten sollten im Nahkampf eingesetzt werden, teils zu Fuß und teils zu
Pferde. Sie waren mit Pfeil und Bogen, Holzspeeren und Steinkeulen bewaffnet.
„Wie lange wird der Krieg dauern?“ fragte Ellory.
„Vermutlich ein Jahr. Zumindest ein paar Monate.“ Sem Onger seufzte. „Ganz gleich, welche
Seite siegt, das Blut der jungen Leute wird den Boden tränken. Wenn wir den Krieg nur rasch
beenden könnten...“ Er sah Ellory an. „Kann uns deine Wissenschaft dabei helfen?“
Ellory schüttelte langsam den Kopf. „Nein, das nicht.“ Er überlegte krampfhaft. Das
Leuchtwachs erforderte sicher eine lange Forschung. Aber Metalle — mit Metallen würde
seinen Freunden der Sieg gewiß sein.
Und dann hatte er eine Eingebung.
„Ich glaube, ich kann euch helfen!“ rief er.
„Du willst dich unseren Truppen anschließen, Humrelly?“
„Wiederum nein, Engel. Aber ich werde eure Truppen mit Metallwaffen ausrüsten!“
Metallwaffen von den Oxyd-Haufen in den Ruinen New Yorks! Ellorys Gedanken schwirrten.
Holzkohle zur Reduktion des Oxyds, Lehmpfannen, die das geschmolzene Metall auffingen,
Bälge für die Luftzufuhr; aber diese Einzelheiten konnte er sich später überlegen. Würde es
ihm gelingen, Eisen zu produzieren?
Selbst die primitivsten Eisenwaffen würden den Noraks Überlegenheit sichern. Ellory warf
den Kopf zurück. Er wollte für den Sieg sorgen.
Jon Darm, der eben Kriegsrat mit seinen Häuptlingen abgehalten hatte, bat Ellory, Sem Onger
und Sharina herein.
Ellory erklärte in knappen Worten, was er beabsichtigte.
„Ich werde in den Ruinen des alten Norak Metallwaffen für euch anfertigen. Das Metall
gewinne ich aus dem roten Staub, der überall umherliegt. Ich brauche dazu ein Dutzend Leute
und einige Wagenladungen voll Holzkohle.“
Jon Darm war skeptisch. „Wie lange würde das dauern?“
„Nicht länger als einen Monat.“
Mal Radnor meldete sich zu Wort. „Metallwaffen? Welchen Sinn hätten sie?“ Seine Stimme
wurde spöttisch. „Humrelly, ich glaube, dein starker rechter Arm würde uns mehr nützen.“
Es war eine Herausforderung an seine Männlichkeit. Ellory merkte es an den Blicken der
anderen. Er ballte die Fäuste und trat auf den jungen Häuptling zu.
Aber dann blieb er stehen. Die Männer des Steinzeitalters kannten den Wert des Metalls nicht.
Jon Darm sagte hastig: „Ich habe keine Autorität über dich, Humrelly, denn du warst in deiner
Zeit ein Freier. Aber zu Kriegszeiten können wir Männer und Wagen nicht so leicht entbeh
ren. Ich gebe dir eine Wagenladung, und Sem Onger kann dir helfen.“
Ellory lächelte hart. Er wußte, was das bedeutete. Der Mann aus der Vergangenheit mußte den
Wert seiner Idee erst beweisen.
Am folgenden Tag brachen Ellory und Sem Onger wieder zu den Ruinen von New York auf.
Ein Wagen mit den nötigsten Vorräten begleitete sie. Immer wieder kamen Soldaten an ihnen
vorbei, und sie hörten wiederholt den Schlachtruf: „Tod den Quoise!“
Ellory betrachtete ihre Waffen und dachte an zweischneidige Schwerter, Metallspitzen für
Pfeile und eiserne Lanzen. Aber immer wieder drängte sich der Gedanke an das Leuchtwachs
in den Vordergrund. Kontrollierte Atomenergie! Damit konnte man ganze Städte
wiederaufbauen.
„Humrelly, träumst du von der Vergangenheit?“
Ellory zuckte zusammen. Der alte Seher betrachtete ihn forschend.
„Nein, Freund, ich träume von der Zukunft“, sagte Ellory leise. „Aber wahrscheinlich bin ich
ein Narr. Im besten Fall kann ich deinen Stamm bewaffnen, bevor die Eisenvorräte zu Ende
sind. Es wird mir wohl nicht gelingen, das Rätsel des Leuchtwachses zu lösen.“
Nachdem sie am ersten Tag alles ausgepackt und ein Lager in der Nähe eines ehemaligen
Hochhauses aufgeschlagen hatten, begann Ellory mit dem Bau eines kreisförmigen
Brennofens.
Nach drei Tagen hatte er über der Feuerstelle eine breite, flache Pfanne aus Lehm geformt, die
in der heißen Sonne rasch trocknete. An der Öffnung befanden sich die Griffe eines primiti
ven Balges aus Tierhaut.
Ellory trug mit einem Steinguttrog den roten Staub zu seiner Pfanne und verteilte ihn
gleichmäßig. Dann stapelte er Holzkohle an der Feuerstelle und zündete sie an.
Sem Onger hatte mit bewundernswertem Eifer geholfen. Er stellte unzählige Fragen und ließ
sich jeden Handgriff genau erklären. Trotz seines Alters lernte er rasch.
Während das Feuer stärker wurde und die Lehmpfanne sich erhitzte, las Ellory in dem
Handbuch, das er aus der Krypta mitgebracht hatte.
Konnte er übeiiiaupt hoffen, ohne Bessemer-Birnen und ähnliche Vorrichtungen das Metall
zum Schmelzen zu bringen? Er betätigte selbst stundenlang den Balg. Hin und wieder warf
Sem Onger Holzkohleblöcke ins Feuer. Die Hitze machte müde. Mit schmerzenden Muskeln
pumpte Ellory weiter. Wollte das Oxyd überhaupt nicht schmelzen?
Schließlich hatte er es doch geschafft. Pfützen bildeten sich im Mittelpunkt der Pfanne. Mit
neuer Kraft bearbeitete er den Balg.
„4541 Grad, Sem Onger!“ rief er. „Heißer als jedes Feuerchen, an dem du dich gewärmt hast.
Und nun wirf Holzkohle und grünes Holz zu gleichen Teilen in die Schmelzflüssigkeit.“
Sem Onger kam seinem Befehl nach.
Die Holzkohle ging in Flammen auf und holte den Sauerstoff aus dem Oxyd. Das grüne Holz
_qualmte und entwickelte eine dicke Rauchschicht, die verhinderte, daß der Sauerstoff der
Luft den Prozeß wieder umkehrte.
Hustend bediente Ellory den Balg.
Und dann sah er eine wässerige, helle Flüssigkeit am Rand der Pfanne. Er verließ schwankend
seinen Platz und stieß mit einem langen Stock den Pfropfen aus der Pfanne. Die Flüssigkeit
sickerte in eine Mulde aus feuchtem Sand, die sie bereits vorbereitet hatten.
Nach einer Weile, als der Wind den Rauch vertrieben hatte, fand Ellory einen formlosen
Eisenklumpen in der Mulde. Er hatte etwa die Größe seiner Faust.
Im zwanzigsten Jahrhundert wäre er kaum einen Pfennig wert gewesen. Aber Ellorys
Enttäuschung verflog rasch.
„Schließlich war es der erste Versuch“, sagte er laut. „Und seit mehr als tausend Jahren wurde
hier kein Eisen mehr gewonnen.“
Sem Onger betrachtete verwundert den Eisenklumpen und wollte ihn berühren, doch Ellory
zog ihn gerade noch rechtzeitig zurück.
„Das ist ein Wunder!“ sagte der Alte.
Er sah zu Ellory auf wie zu einem übernatürlichen Wesen. Und das entschädigte Ellory für die
Mühe.
»Als ich jung war, versuchte ich es auch einmal“, gestand der alte Wissenschaftler. „Ich
schaffte es nicht. Aber mir hatte auch kein Mensch gesagt, daß ich grünes Holz benutzen
mußte.“
10. Eine Woche später drang das helle Hämmern von Stahl durch die stillen Ruinen von New
York. Der Laut schien sich über die ganze Welt zu verbreiten. Ellory besaß einen
Metallhammer und klopfte eine lange, flache Schneide zurecht. Sie ruhte auf einem Amboß.
Nachdem Ellory noch einen halben Tag lang die Schneide gewetzt hatte, hielt er das erste
Schwert in der Hand. Es reflektierte die Sonne — blankes Metall.
Eine herrliche Waffe!“ sagte Sem Onger ehrfurchtsvoll. „Du hast den Krieg in ein neues
Stadium gebracht, Humrelly.“
Den Krieg —
Ellory wurde nachdenklich. War das seine Aufgabe in der neuen Welt? Sollte mit seiner
Waffe noch.mehr Blut als bisher vergossen werden? Er senkte das Schwert.
„Ich weiß, was du denkst, Humrelly“, sagte Sem Onger ruhig. „Aber wir werden den Sieg
rascher erringen. Das macht das Gemetzel kürzer.“
Ellory nickte zögernd.
„Komm. Wir werden Jon Darm die Waffe zeigen.“
Doch bevor sie sich auf den Rückweg machten, suchte Sharina das Lager auf. Sie kam mit
einer Botschaft ihres Vaters. „Unsere Truppen werden ständig zurückgetrieben. Der Feind ist
stark. Mein Vater läßt fragen, ob ihr Fortschritte erzielt habt.“
„O ja“, sagte Ellory mit glänzenden Augen. „Wir werden diesen, Krieg verkürzen.“ Er hielt
das Schwert hoch und erklärte Sharina dessen Wirkung. Merkwürdigerweise zeigte sie sich
nicht sonderlich begeistert.
Sem Onger flüsterte Ellory zu: „Wenn der Krieg vorbei ist. heiratet sie Mal Radnor. Es ist die
Sitte des Stammes, daß die Häuptlingstochter sofort nach dem Kampf mit dem — Sieger
vermählt wird.“
Das war es also. Ellory betrachtete nachdenklich das Schwert. Am liebsten hätte er Sharina in
die Arme genommen und getröstet. Aber das war vermutlich im 50. Jahrhundert ebenso ver
boten wie im 20. Jahrhundert.
Das Mädchen warf den Kopf zurück und wendete das Pferd. „Ich werde meinem Vater
erzählen, was ihr geleistet habt“, sagte sie und ritt davon.
Die beiden Männer machten sich ebenfalls auf den Weg. Ellory war sehr nachdenklich.
Plötzlich, als sie an einem alten Farmerhaus vorbeikamen, hielt er das Ochsengespann an.
„Siehst du das Pferd dort drüben, Sem Onger?“ fragte er. „Besorge es mir. Ich möchte in den
Krieg ziehen.“
„Was?“
„Ich möchte persönlich die Überlegenheit der neuen Waffe beweisen“, erklärte Ellory. „Mal
Radnor... Ach was, lassen wir das. Jedenfalls möchte ich das Pferd.“
Sem Onger zuckte mit den Schultern, als er die entschlossene Miene des jungen Mannes sah.
Er stieg ab und unterhielt sich mit dem Farmer. Nachdem er ihm versprochen hatte, das Pferd
bei seiner Rückkehr zu bezahlen, übergab der Mann es Ellory.
Sem Onger starrte ihm kopfschüttelnd nach. „Die Jugend ändert sich im Laufe der
Jahrtausende kaum“, meinte er lächelnd. „Mal Radnor soll auf seinen Ruhm und seine Braut
achten.“
11. Ellory ritt nach Westen, bis er den Hudson erreichte. Dort setzte ihn ein schläfriger
Bootsmann an einer Furt über. Das Pferd erreichte schwimmend das andere Ufer. Danach
ritten sie eine Zeitlang durch die Wälder.
Ellory war kein schlechter Reiter, aber nach einiger Zeit spürte er sämtliche Knochen. Der
Weg hatte nichts mit den gepflegten Parkanlagen seiner Zeit gemeinsam, und das Pferd war
eher einen Pflug als einen Reiter gewöhnt.
Allmählich bereute er seinen Entschluß. So primitiv der Kampf vermutlich war — er, Ellory,
besaß keinerlei Kriegserfahrung. Auch das Schwert konnte ihm dabei kaum helfen. Weshalb
hatte er das alles getan? Er wußte es selbst nicht.
In dieser Nacht schlief er im Freien, nachdem er einen Streifen getrocknetes Fleisch
verschlungen hatte. Am Abend des nächsten Tages erblickte er die ersten Lagerfeuer. Er
befand sich im Kampfgebiet.
Mal Radnor stand verwirrt auf, als ein Wachtposten Ellory zu ihm brachte.
„Humrelly!“ sagte er unwirsch. „Was suchst du hier?“
„Ich möchte dir meinen rechten Arm anbieten. So hast du es doch ausgedrückt, nicht wahr?“
Er hob das Schwert hoch. „Und das hier — ist eine Metallwaffe!“
Mal Radnor lächelte spöttisch. „Wir werden sehen, ob der Mann aus der Vergangenheit
ebenso gut kämpft, wie er Spielzeug herstellt.“
Im Morgengrauen stand Ellory ein wenig steif neben Mal Radnor auf einem Hügel. Sie
betrachteten das Territorium, auf dem bald der Kampf stattfinden sollte. Zur Rechten und zur
Linken hatten sich die Männer in einer langen Linie verteilt. Sie erwarteten angespannt den
Feind.
„Wir werden ständig zurückgetrieben“, sagte Mal Radnor leise. „Wenn es so weitergeht,
befinden wir uns in einem Monat am Ufer des Hudson. Wir müssen sie aufhalten.“ Er warf Ellory einen verächtlichen Blick zu. „Vielleicht kannst du die Sache mit deinem Metallstock noch wenden.“ Ellory schwieg. Das Schwert sah neben den Keulen und Speeren wirklich unscheinbar aus. Da die Männer keine Ahnung von Metallen hatten, ließen sie sich von der Waffe auch nicht beeindrucken. Und dann erschien der Feind, und Mal Radnor gab das Zeichen zum Angriff. Schulter an Schulter galoppierten sie den Hang hinunter. Ellory dachte einen Augenblick, daß es sich um ein gut einstudiertes Schauspiel handelte, in dem er eine Komparsenrolle hatte. Doch dann floß das erste Blut, und er kam zu sich. Die Zeit stand still. Ellorys Schwert blitzte immer wieder auf, wenn er seine Gegner abwehrte. Die‘ Waffe war den plumpen Steinzeitknüppeln weit überlegen. Der Kampf dauerte den ganzen Tag. Ellory erinnerte sich nur verschwommen, daß er hin und wieder ein Stück hinten blieb, um Atem zu schöpfen. Dann ging es wieder in die vorderste Front, an die Seite von Mal Radnor. Aber auch er merkte, daß die Noraks langsam zurückgedrängt wurden. Als die Dunkelheit die Kämpfer zu einem Waffenstillstand zwang, hatten die Quoise neues Gebiet gewonnen. Ellory lag neben einem Feuer. Er hatte an diesem Tag zuviel Blut gesehen, und ihm war übel. Mal Radnor beugte sich über ihn. Der junge Häuptling trug einen Arm in der Schlinge. „Ich sehe, du hast den Kampf mit deinem Zauber nicht gewinnen können, Humrelly“, sagte er. ..Immerhin habe ich eine Wunde weniger als du“, erwiderte Ellory wütend. Er stand auf und sah dem jungen Krieger ins Gesicht. „Ich werde Tag für Tag an deiner Seite kämpfen und dir beweisen, daß das kein Zufall war.“ Er wußte, daß er nur so die Menschen der Steinzeit beeindrucken konnte. Mal Radnor überlegte einen Augenblick. „Ich habe dich heute beobachtet, so oft ich konnte“, sagte er schließlich langsam. Dann legte er Ellory die Hand auf die Schulter. „Du bist ein echter Mann, Humrelly. Ich hatte dich falsch eingeschätzt.“ Er bückte sich und nahm Ellorys Schwert auf. Schwungvoll hieb er damit in einen Holzklotz und betrachtete den klaffenden Schnitt. “ Humrelly!“ Plötzlich wirkte seine stimme geradezu begeistert. „Kannst du noch mehr solche Metallstöcke ‚ machen? Sie könnten uns zum Sieg verhelfen.“ Die Männer scharten sich um das Schwert und begutachteten es. Ellory erkannte, daß er an diesem Tag Ruhm gewonnen hatte. Auch im feindlichen Lager sprach man von dem seltsamen Mann, der einen glänzenden Zauberstab besaß und deshalb nicht getötet werden konnte. „In einem Monat kann ich deine ganze Armee ausrüsten“, versprach Ellory. „Dann reite zurück. Ich werde dir eine Botschaft für Jon Darm mitgeben, damit du alle nötigen Vorräte erhältst.“
12. Im Laufe des nächsten Monats erwachten die Ruinen von New York zum Leben. Ellory beaufsichtigte die Errichtung eines Eisenwerkes. Eine Gruppe von älteren Männern, die nicht mehr in den Krieg zogen, bauten riach seiner Anleitung Lehmpfannen und Schmelzöfen. Die Feuer loderten hoch auf. Neben den Schwertern stellte Ellory auch Spieße mit langen Holzschäften her. Damit konnte
man die schwersten Keulen zertrümmern.
Ein paar Tage, bevor der Monat zu Ende ging, stand die erste Wagenladung Waffen bereit.
Ellory überbrachte sie Mal Radnor persönlich.
Und zum erstenmal seit Beginn des Kampfes wurden die Noraks nicht zurückgedrängt.
Die nächsten Wagenladungen folgten, und die Kraft des Metalls machte sich bemerkbar. Die
Quoise wichen langsam, aber stetig zurück.
Als man endlich Frieden schloß, hatten die Noraks ihre Grenze fünfzig Meilen in das Gebiet
der Quoise verschoben.
Nebeneinander ritten Mal Radnor und Ellory in die Stadt, wo sie von den begeisterten
Bewohnern gefeiert wurden. Jon Darm hielt eine Lobrede.
Aber Ellorys Gedanken schweiften ab. Der Kampf war nur eine unbedeutende Phase seiner
Pläne gewesen. Während der letzten Schlacht hatte ein Flugzeug der Antarker über ihnen ge
kreist. Er mußte mehr über diese seltsame Zivilisation in Erfahrung bringen. Und er mußte
das Rätsel des Leuchtwachses lösen.
Ellory zuckte zusammen. Mal Radnor war ein Stück zurückgetreten und hatte die Waffe
gehoben. Die Soldaten folgten seinem Beispiel. Es schien alles Teil einer Zeremonie zu sein.
In diesem Augenblick sagte Jon Darm:
„Für deinen großen Anteil an diesem Sieg, Humrelly, ernenne ich dich zum Kriegshäuptling
von Norak. Du erhältst den Oberbefehl über alle Truppen.“
Am Abend, während der Siegesfeier, sah ihn Sharina von der Seite her an. „Du bist erst seit
vier Monaten bei uns, Humrelly“, sagte sie leise. „Und nun hast du bereits einen der höchsten
Ränge unseres Volkes erlangt.“
„Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, was die Ehre bedeutet.“
„Oh, in Friedenszeiten nichts — nur im Krieg.“
„Wunderbar. Dann kann ich mich jetzt mit dem Leuchtwachs beschäftigen?“
„Mal Radnor hat mir erzählt, wie tapfer du gekämpft hast“, beharrte das Mädchen.
Ellory errötete. Während der Schlacht hatten die beiden jungen Männer Achtung voreinander
gewonnen. „Er selbst stand immer in der ersten Reihe“, erwiderte er. „Du wirst einen guten
Mann bekommen, Sharina.“ Er gab seiner Stimme einen beiläufigen Klang. „Wann findet die
Hochzeit statt?“
„In einem Monat.“ Sie sah ihn nicht an. Ellory wußte nicht, was er sagen sollte, doch in
diesem Augenblick wurden sie von anderer Seite unterbrochen. Man hörte ein dumpfes
Dröhnen.
Sharinas Augen wurden groß. „Ein Schiff der Antarker landet“, flüsterte sie.
Sie traten ins Freie.
Es war noch nicht völlig dunkel. Das große Flugzeug kreiste einmal über dem Stadtplatz und
landete dann. Jon Darm ging auf die Maschine zu, gefolgt von seinen Leuten.
Die Luke öffnete sich, und Lady Ermaine von Lillamra trat ins Freie.
Ellory hielt den Atem an. In der Dämmerung war sie schön wie eine Mondgöttin. Lady
Ermaine warf einen kurzen Blick auf die geschmückten Häuser und den Festplatz. „Was feiert
ihr, Jon Darm?“ fragte sie.
„Wir haben einen Grenzkrieg gegen die Quoise gewonnen.“
„Eure kleinen Streitereien!“ sagte Lady Ermaine ein wenig amüsiert. „Immer wieder flackern
sie auf. Wahrscheinlich wärt ihr nicht glücklich, wenn ihr nicht kämpfen könntet.“ Ihre
Stimme wurde hart. „Aber höre zu, Jon Darm! Ihr hattet Metallwaffen. Wir beobachteten
zufällig einen der Kämpfe. Wo stellt ihr das Metall her — in den Ruinen? Ich dachte es mir,
Jon Darm, ihr dürft diese Waffen nicht mehr benutzen, verstehst du mich? Wir erlauben es
nicht.“
Feudalherrscher, die ihren Untertanen verboten, sich das Leben bequemer zu machen. Wieder
war Ellory von Zorn erfüllt.
Das Mädchen von Antarka sah sich neugierig um. „Welches Genie hat diese Waffen
erfunden?“
Ellory spürte die Drohung, die in dieser Frage lag, vor allem, als die Männer um ihn eisern
schwiegen. Aber die Fremde erkannte rasch, daß die furchtsamen Blicke der Einwohner auf
ihn gerichtet waren.
„Du?“
Ellory rührte sich nicht.
„Ich erinnere mich an dich. Letztes Mal bist du durch deine Unverschämtheit aufgefallen.
Moment — du bist Humrelly, der Hirte. Und nun hast du Metallwaffen hergestellt?“
Ellory wurde unter ihren forschenden Blicken rot. Aber er schwieg.
„Antworte!“ sagte sie kalt. „Wenn nicht...“
Sie holte eine röhrenförmige Waffe aus der Jacke und richtete sie auf ihn.
Die anderen wichen entsetzt zurück. Ellory blieb stehen, ohne mit einem Muskel zu zucken.
Er war wütend. Ganz gleich, aus welcher Zivilisation sie kam, von einem Mädchen ließ er
sich nicht bedrohen. Er sah ihr in die Augen.
Langsam steckte sie die Waffe wieder ein. Einen Moment lang spürte er ihre Bewunderung —
und Ratlosigkeit.
„Es wäre sinnlos, dich zu töten“, erklärte sie ruhig. „Ich gebe dir noch eine Chance. Entweder
du antwortest, oder du begleitest mich als Gefangener nach Antarka.“
Sem Onger gab ihm einen warnenden Rippenstoß.
„Ja, ich habe die Waffen hergestellt, Lady Ermaine“, sagte er.
„Wie?“
„Indem ich den roten Staub in den Ruinen mit Hilfe von Holzkohle und grünem Holz
verbrannte. Einmal geschah es durch Zufall, als ich ein Feuer am Fuß eines Turmes
entzündete. Ich sah geschmolzene Tropfen, die nach dem Abkühlen sehr hart wurden. Ich
dachte, dieses Material müßte sich zu Waffen verarbeiten lassen.“ Er zuckte mit den
Schultern.
„Für einen Hirten bist du erstaunlich klug“, sagte sie spöttisch. „Komisch, daß du ganz
plötzlich auf einen Prozeß kommst, der sich normalerweise erst im Laufe von Generationen
entwickelt. Bist du ein Genie oder...“
Sie zögerte. Ihre Blicke waren so durchdringend, daß er einen Moment lang befürchtete, sie
könnte ihn durchschauen. „Aber das wäre unmöglich!“ Sie schüttelte den Kopf. „Einer der
heute noch am Leben? Die Nacht bringt mich auf merkwürdige Gedanken. Ich gehe jetzt
lieber.“
Sie schüttelte den Kopf, daß die hellen Locken flogen. Dann wandte sie sich noch einmal an
Jon Darm.
Jon Darm, diesen Mann solltest du an deinen Beratungstisch holen. Er ist zu schade für deine
Herden. Aber vergiß nicht, daß ich dir die Benutzung der Metallwaffen verboten habe!“
Ein paar Minuten später dröhnte das Flugzeug durch die Nacht und verschwand.
13. „Beinahe hätte sie deine Herkunft erraten“, sagte Jon Darm beunruhigt. „Wenn sie die
Wahrheit erfährt, wird sie dich wegholen. Das nächste Mal mußt du dich verstecken.“
„Verstecken?“ Jetzt erst spürte Ellory, wie sehr ihn die Frau gedemütigt hatte. Er holte tief
Atem. „Merkt ihr nicht, wie entsetzlich ihr lebt? Jon Darm? Mal Radnor? Sem Onger?
Sharina...“
Sie sähen ihn resigniert und traurig an. Sem Onger klopfte ihm besänftigend auf die Schulter.
Ellory schob die Hand weg. Am liebsten hätte er du “ Männer geohrfeigt, um sie aus ihrer
Apathie zu reißen.
Dann sah er den feuchten Schimmel in Sharinas Augen. „Natürlich merken wir es, Humrelly, aber was sollen wir tun?“ Ellory streckte sich. „Das werde ich euch sagen. Ihr müßt euch gegen die Herrschaft auflehnen! Ihr müßt kämpfen!“ Er beobachtete ihre Reaktion. Kampf — das verstanden sie. Sie hatten eben erst um ihr Land gekämpft. Aber würden sie auch um Prinzipien kämpfen? „Ihr müßt um die Freiheit kämpfen!“ fügte er hinzu. Jon Darm räusperte sich nervös. „Das ist unmöglich, Humrelly. Die Herren von Antarka sind mächtig. Du hast von dem Schicksal der Stämme gehört, die sich ihnen widersetzten.“ „Das waren einzelne Stämme“, sagte Ellory ruhig. „Aber was würde geschehen, wenn sich viele Stämme zur Wehr setzten? Ihr, die Quoise, die Jendra und alle anderen...“ „Die Quoise!“ rief Mal Radnor. „Aber das sind unsere Feinde!“ Ellory fuhr geduldig fort: „Eure Feinde? Wer sind die größeren Feinde, sie oder die Antarker? Tausend Jahre lang haben nun die kleinen Stämme gegeneinander gekämpft, und die Antarker haben die Situation der Schwäche zu ihren Gunsten ausgenutzt. Wo ein Funke der Revolte aufflammte, wurde er mit Gewalt erstickt. Aber könnten sie auch ein großes Feuer löschen? Könnten sie sich gegen Dutzende von vereinten Stämmen zur Wehr setzen? Könnten sie das?“ Er ließ nicht locker. „Mal Radnor, du bist Soldat. Wenn du eine Million Krieger an deiner Seite hättest, könnten die Antarker dich dann besiegen?“ Mal Radnor keuchte bei dem Gedanken. „Mit so einer Armee könnte ich viel erreichen“, sagte er aufgeregt. „Ich...“ Er unterbrach sich verwirrt. „Und woher willst du diese Armee bekommen?“ Sem Onger schüttelte den Kopf. „Du bist neu hier, Humrelly. Du weißt nichts von den uralten Fehden zwischen den Stämmen. Wenn du die Quoise zu einem Bündnis überreden wolltest, würden sie dich auf der Stelle erschlagen — schon wegen der Beleidigung, die du ihnen zugefügt hast. Und selbst wenn du gegen den Tod gefeit wärst, müßtest du Jahre reden, bis du sie überzeugt hättest.“ Mal Radnor seufzte, als sei ein schöner Traum zu Ende gegangen. „Eine Million Männer! Oh, Humrelly, das schaffst nicht einmal du.“ Ellory senkte den Kopf. Natürlich, Mal Radnor hatte recht. In seiner Zeit hätte er mit ein paar Rundfunkreden im Nu Anhänger um sich geschart. Hier aber mußte er wie ein verrückter Prediger von Stamm zu Stamm pilgern. Sharina legte ihm die Hand auf den Arm. „Du gibst doch nicht auf, Humrelly?“ Ihre Augen waren bittend auf ihn gerichtet. „Es muß einen Weg geben. Du hast in so kurzer Zeit bereits so viel für uns getan. Du hast einen Kampf gewonnen. Vielleicht gelingt es uns eines Tages auch, die Antarker zu besiegen.“ Und dann kam ihm der erleuchtende Gedanke. Er sah Mal Radnor an. „Ist die Armee schon aufgelöst?“ „Wir wollen morgen damit beginnen. Die Männer reiten zurück zu ihren Höfen und...“ „Nein“, unterbrach ihn Ellory. „Du versammelst sie morgen am Stadtplatz, und ich werde vor ihnen eine Rede halten.“ Jon Darm sah ihn ein wenig verärgert an. „Was heißt das, Humrelly? Ich bin der Anführer.“ „Aber ich bin der Kriegshäuptling der Norak. Dazu hast du mich selbst ernannt“, entgegnete Ellory ruhig. „Vertraue mir, Jon Darm. Ich werde dir morgen alles erklären.“ Diese Nacht verbrachte Ellory in der verlassenen Krypta. Er mußte nachdenken, und dazu wollte er allein sein. Als der erste Streifen der Morgendämmerung am Himmel stand, war sein Entschluß gefaßt. Er mußte es wagen. Das war er all den Menschen schuldig, die in Unterdrückung lebten. Aber er würde es nur schaffen, wenn es ihm gelang, in Jon Darm und seinem Volk den Funken der Begeisterung zu wecken. Mittags trat Homer Ellory auf den Balkon des Palastes und sah hinunter auf die dicht
gedrängte Menge. Jon Darm hob die Hand, und alle schwiegen.
„Unser Gast aus der Vergangenheit möchte eine Rede halten“, sagte er schlicht. Er trat zurück
und warf Ellory einen forschenden Blick zu.
„Leute des fünfzigsten Jahrhunderts!“ rief Ellory mit klarer Stimme. „Ich stamme aus einer
Zeit, die das Gute und das Böse kannte. Die Menschheit hatte immer ihre Probleme. Und das
Problem, dem ihr euch heute gegenüberseht, ist ebenso schwerwiegend wie alle anderen. Es
geht um die Tyrannei der Antarker.“
Er wußte, daß er sie mit einem geschraubten Redestil nur verwirren würde. Schlichte Worte
beeindruckten sie am meisten.
„Tausend Jahre lang haben die Antarker eure jungen Männer und Mädchen geraubt, tausend
Jahre lang mußtet ihr sie mit Nahrungsmitteln versorgen. Vielen wurden die Söhne und
Töchter entrissen, und ihr habt sie nie wiedergesehen. Ihr wißt nur, daß sie den Fremden
dienen müssen. Ihr schleppt euer Leben lang an einer unsichtbaren Last.“
Seine Stimme wurde lauter. „Weshalb? Habt ihr euch je diese Frage gestellt?“
Das Murmeln der Menge schwoll an.
„Soll es auch die nächsten tausend Jahre so weitergehen?“ fragte Ellory. „Eure Söhne in die
Sklaverei, eure Töchter zu einem noch schlimmeren Los? Der Ertrag eurer Felder geht an
Menschen, die euch wie Würmer behandeln. Das muß ein Ende haben — und zwar bald. Aber
wir können uns nur zur Wehr setzen, wenn wir alle Stämme vereinen — die Quoise, die
Jendra und alle übrigen.“
Rasch fügte er hinzu: „Wer sind die schlimmeren Feinde — die Quoise oder die Antarker?“
„Die Antarker!“ brüllte die Menge aufgebracht.
„Es gibt nur eine Möglichkeit, sich mit den Quoise und den anderen Stämmen zu vereinen:
Wir müssen sie besiegen. Die Armee von Norak kann mit ihren neuen Metallwaffen jede
Opposition unterdrücken. Wir werden die anderen Stämme unterwerfen und in unsere Armee
eingliedern. Nur so wird es uns gelingen, die Antarker unschädlich zu machen.“
Seine Worte wurden mit Schweigen aufgenommen. Es war ein schicksalhafter Augenblick.
Jon Darm neben ihm flüsterte erregt: „Humrelly, was hast du gesagt? Du...“
„Vater, er hat recht!“ Das war Sharinas Stimme.
„So verärgert kannst du gar nicht sein, Jon Darm“, sagte Sem Onger mit einem trockenen
Kichern. „Du hast heute nacht das gleiche gedacht. Ich weiß es, denn in unserer Jugend hatten
wir alle diesen Gedanken. Aber wir fürchteten uns, ihn auszusprechen. Humrelly hat keine
Angst.“
Mal Radnor trat einen Schritt vor.
„Befreiung von den Antarkern!“ rief er. „Wer folgt unserem Kriegshäuptling Humrelly bei
dem großen Zug gegen die Unterdrücker?“
Das bedrückte Schweigen der Zuhörer wurde von Hochrufen unterbrochen. Waffen funkelten
in der Sonne. Ellory erkannte, daß er die Barriere durchbrochen hatte...
Zwei Wochen später aßen Ellory und Mal Radnor zum letztenmal mit Jon Darm, Sharina und
Sem Onger. Der alte Gelehrte war in strahlender Laune.
„Los, los“, sagte er. „Eßt und seht nicht so feierlich drein. Unsere Sache ist gerecht, und wir
haben alles sorgsam geplant. Ich werde weiterhin Waffen in den Ruinen herstellen. Humrelly
und Mal Radnor werden unsere Leute zum Sieg führen. Du, Jon Darm, mußt das besiegte
Land verwalten. Und du, Sharina...“
Er machte eine Pause, dann sagte er: „Du mußt noch den zukünftigen Herrn dieses Landes
heiraten.“
Ellory warf Sem Onger einen wütenden Blick zu, aber Mal Radnor winkte ab. „Nach der
großen Kampagne ist noch Zeit genug für diesen Gedanken.“
Mit dieser großmütigen Geste hatte der junge Häuptling die Frage offengelassen.
Die fünf hoben schweigend ihre Gläser und tranken.
14.
Es ging alles sehr schnell. Für Homer Ellory war es wie das Vorbeirauschen geschichtlicher Ereignisse in einem Film. Gefolgt von den Vorratswagen und Helfern überquerte die Norak-Armee den Hudson und marschierte nach Süden. Die Quoise waren das erste Ziel. Wie Ellory erwartet hatte, boten die Grenzwachen kaum Widerstand. Sie hatten die Waffen des Feindes noch zu gut in Erinnerung. Unter Mal Radnors Führung marschierte die Armee in der Hauptstadt ein. Metallschwerter und Spieße glänzten in der Sonne — die gleichen Waffen, die bereits ein Blutbad angerichtet.hatten. Ellory beobachtete die Reaktion des gegnerischen Häuptlings. Der Mann zeigte Respekt, ja sogar Bewunderung. „Dein Land ist jetzt den Norak Untertan“, erklärte Ellory. „Ihr werdet Boten zu Jon Darm schicken und ihm Lehenstreue zusichern. Entweder das —“ seine Stimme nahm einen drohenden Tonfall an —, „oder wir brennen die Stadt nieder und versklaven das Volk.“ Der Häuptling verbarg tapfer seine Furcht. „Ich werde die Boten schicken“, erklärte er nach einem kurzen Zögern. „Zweitens sollen sich fünftausend eurer besten Soldaten unseren Truppen anschließen“, forderte Ellory. Der Mann sah ihn neugierig an. „Wer bist du? Es geht das Gerücht, daß du aus der Vergangenheit kommst. Und daß du magische Kräfte besitzt, die ebenso stark sind wie...“ „Du denkst an die Herren von Antarka?“ fragte Ellory. „Ich komme aus der Vergangenheit, und ich besitze gewisse außergewöhnliche Kräfte. Und ich bin ein Feind der Antarker.“ Er ging und hoffte nur, daß der Häuptling lange über seine Worte nachdenken würde. An der Spitze von fünfundzwanzig-tausend Mann bewegten sich Ellory und Mal Radnor nach Westen, ins Gebiet der Jendra. Nach drei Schlachten waren die Jendra besiegt. Wieder stellte Ellory sein Ultimatum, und, wieder verlangte er fünftausend Mann. Die neuen Leute befanden sich in der Minderheit. Sie konnten sich gegen die Norak nicht auflehnen. Ein strenges Wachsystem verhinderte, daß sie flohen. Dazu kam ein Faktor, den Ellory vorhergesehen hatte. Da sie immer den Staat angriffen, der an den bereits besiegten angrenzte, konnten sie sicher sein, daß die neueingegliederten Rekruten Erbfeinde des Gegners waren und mit Vergnügen mitkämpften. Außerdem vergaßen die Männer in der Hitze des Gefechts oft, weshalb oder für wen sie kämpften. Sie dachten nur daren, den Feind zu besiegen. Nachdem Ellory die Jendra geschlagen hatte, wandte er sich mit seiner Armee nach Süden. Er kam an den Ruinen von Philadelphia vorbei. „Hier können wir roten Staub holen, wenn es in den Ruinen von Norak nichts mehr gibt“, sagte er zu Mal Radnor. Hin und wieder erreichte sie eine Wagenladung mit neuen Waffen, die Sem Onger und seine Helfer geschmiedet hatten. Ellory verteilte sie an die neuen Rekruten. Immer weiter ging der Marsch. Armeen und Staaten wurden auf dem langen Weg nach Süden unterworfen. Je stärker die Truppe wurde, desto schwieriger gestalteten sich die Versorgung und der Nachschub. Nach einiger Zeit bemerkte Ellory, daß Mal Radnor ihn heimlich durch ein paar kräftige Männer beschützen ließ. „Ich brauche keine Leibwache“, erklärte er. „Wir können dich jetzt nicht verlieren, Humrelly“, entgegnete Mal Radnor. „Gewiß, du kannst gut mit dem Schwert umgehen, aber du bist auch nur ein Mensch.“ Ellory nickte nachdenklich. „Du hast recht. Wir müssen etwas in dieser Richtung unternehmen. Ich mache dir einen Vorschlag. Wir bilden einen Generalstab. Wir bleiben
hinter den Linien und leiten die Gefechtszüge.“ Nun zeigte sich Mal Radnor gekränkt. „Nein, Humrelly! Ich muß die Truppe führen.“ „Ach was!“ rief Ellory. „Die Truppe gewinnt jetzt blindlings, und du weißt das genau. Wir haben eine Menge Arbeit. Schließlich ist die größte Armee aller Zeiten zu versorgen.“ Einen Monat später erhielt er durch einen Boten Nachricht von Sem Onger. Der Alte hatte auf Rinde geschrieben: „Grüße, Humrelly! Das letzte Oxyd in den Ruinen von Norak ist verbraucht. Benötigst du noch Waffen? Und wenn ja, was soll ich tun? Jon Darm hat die Gesandten von zwölf unterworfenen Staaten empfangen. Er organisiert ein Nachrichtensystem zwischen den Hauptstädten, wie du es ihm vorgeschlagen hast. Viele Grüße auch von Sharina. Sie wünscht euch Erfolg.“ Sharina! Er hatte in letzter Zeit wenig an sie gedacht. Nun sah er die feinen Züge wieder deutlich vor sich. Aber auch Lady Ermaines hochmütige Augen fielen ihm ein. Wann würde er sie wiedersehen und unter welchen Umständen? Er ließ Sem Onger wissen, daß er die Ruinen von Philadelphia ausbeuten sollte — armselige Überreste einer einst allmächtigen Stahlindustrie. Aber sie genügten, um ein neues Reich aufzubauen.
15. Der Krieg hatte eine Wende genommen. Ellorys Truppen mußten die Stammesstaaten nicht mehr besiegen. Die Anführer waren klug genug, sich von selbst zu ergeben. So wurde unnöti ges Blutvergießen vermieden. In zwei Monaten konnten sie die Ostküste erreichen. Drei weitere Monate — und er war in Chikago. Dann gehörte ihnen ein Drittel des ehemaligen Amerika. In neun Monaten, noch bevor die Herren von Antarka aus der Isolation kamen, um ihren Tribut zu fordern, konnte Amerika bereits vereinigt sein. Lächelnd sagte er vor sich hin: „Ver einigte Staaten von Amerika.“ Sie saßen abends am Feuer, und Mal Radnor sah beunruhigt auf. „Humrelly?“ „Ja? Was gibt es?“ „Die Armee gibt mir zu denken. Ich habe allerlei Gerüchte gehört. Die fremden Truppen sind jetzt weit in der Überzahl. Bis jetzt haben sie sich nicht zur Revolte zusammengerottet, da die meisten Erzfeinde sind. Aber es kann jeden Moment geschehen.“ Ellory überlegte einen Moment. Das Problem wurde tatsächlich akut. „Es wird höchste Zeit, daß wir ihnen erklären, welches Ziel wir vor Augen haben. Ein Kriegsruf wird das übrige tun. Wir weihen unsere Soldaten ein.“ Am nächsten Tag erklang von strategisch klug plazierten Truppen der Ruf: „Befreiung von Antarka!“ Die fremden Soldaten hörten erstaunt und ängstlich zu. Einen Moment lang war Ellory nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte. Würden sie sich gegen die Tyrannei erheben und ihn als Anführer im Kampf gegen die Antarke'r akzeptieren? „Befreiung von Antarka!“ Ellory sah, daß die fremden Truppeji sich zurückhielten. Er hatte Verwirrung geschaffen. Mal Radnor schüttelte den Kopf. „Wenn jetzt nicht ein Wunder geschieht, Humrelly...“ „Befreiung von Antarka!“ In diesem Moment schwebte ein Schiff der Antarker über die Truppen hinweg, als sei es durch den Kriegsruf angelockt worden. Und man konnte spüren, wie die Furcht der Männer in Haß umschlug. Mal Radnor sprang an die Spitze der Truppen und hob das Schwert. „Befreiung von Antarka!“ Die fremden Truppen nahmen den Ruf auf. Aus sechzigtausend Kehlen wurde er wiederholt. Ellory winkte erleichtert zu dem kreisenden Schiff hinauf. „Danke“, sagte er. „Ihr wißt es
nicht, aber mit eurer Hilfe haben wir einen bedeutenden Sieg errungen.“
Mal Radnor gesellte sich wieder zu ihm. Er wirkte beunruhigt. „Hoffentlich verschwinden die
Antarker bald...“
Auch Ellory machte sich Sorgen. Weshalb blieben die Fremden so lange? In ihren Augen
handelte es sich sicher nur um einen Grenzkrieg. Oder hatten sie bemerkt, daß die Armee
inzwischen gewaltig gewachsen war? Nein — die Metallwaffen! Das war es. Ellorys Be
sorgnis wuchs. Wenn sie landeten...
Und sie landeten tatsächlich. Das Schiff strich dicht über die Soldaten hinweg. Einer, der
nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte, wurde überrollt.
Fluchend spornte Ellory sein Pferd an..
Mal Radnor warnte ihn. „Achte auf deine Worte, Humrelly. Jetzt dürfen sie die Wahrheit
nicht erfahren.“
16. Die Luke wurde geöffnet, und Ellory hielt den Atem an. Ermaine von Lillamra war schöner
als je zuvor. Sie rümpfte die Nase beim Anblick der schmutzigen Soldaten.
Dann wandte sie sich an ihre männlichen Begleiter. „Wie häßlich das ist. Manchmal möchte
ich diesen Metzeleien ein Ende bereiten. Aber das wäre wohl eine undankbare Aufgabe.“ Sie
zuckte mit den Schultern und wandte sich an die Truppe. „Wer ist euer Anführer?“
„Ich“, erwiderte Ellory steif.
Sie sah ihn an. „Normalerweise verneigt man sich, wenn man mit den Herren von Antarka
spricht.“
Ellory gehorchte errötend.
„Und steige von deinem Pferd. Ich sehe nicht gern zu dir auf.“ Sie wartete, bis Ellory und Mal
Radnor neben ihren Pferden standen. „Nun ein paar Fragen. Weshalb setzt ihr so viele
Männer in einem Krieg ein?“
„Damit wir rascher gewinnen, Lady Ermaine“, entgegnete Mal Radnor.
„Ah, und schon wieder Metallwaffen! Das Geheimnis hat sich wohl herumgesprochen.“ Ihre
Augen weiteten sich. „Humrelly! Schon wieder du?“
Ellory hatte gehofft, daß sie ihn nicht erkennen würde. Nun ärgerte er sich, daß er das Risiko
eingegangen war.
„Ja, Lady Ermaine“, sagte er leise.
Ihre Augen blitzten wütend. „Ich verbot dir bereits einmal die Benutzung von Metallwaffen“,
sagte sie eisig. „Du hast nicht gehorcht.“
„Aber, Lady Ermaine“, wandte Mal Radnor ein. „Ihr Volk hat versprochen, sich nicht in
unsere Kriege einzumischen.“
„In diesem Falle müssen wir es tun“, erklärte sie hoheitsvoll. Ihre Stimme wurde mißtrauisch.
„Verbergt ihr etwas? Und was tun die Norak-Truppen hier unten? Ihr habt keine Grenzstrei
tigkeiten in diesem Gebiet!“
„Einen Seehandelskrieg“, sagte Mal Radnor vage. „Die Thakal raubten eines unserer Schiffe
aus. Wir kamen auf dem Seeweg her, um uns zu rächen.“
Ellory merkte, daß Mal Radnor zitterte. Aber merkwürdigerweise verfolgte Lady Ermaine die
Sache nicht weiter. Sie wandte sich Ellory zu.
„Du warst ein einfacher Hirte. Das hast du selbst gesagt. Nun führst du eine Armee an. Hast
du mich belogen?“
„Er...“, begann Mal Radnor, aber die Frau brachte ihn mit einer Handbewegung zum
Schweigen.
„Kann er nicht selbst sprechen?“
Ellory hatte rasch nachgedacht. Er bewegte sich auf dünnem Eis, und er wußte es.
„Ja, ich habe gelogen“, sagte er.
„Weshalb?“
„Weil alle Männer erstarrt sind, wenn sie zum erstenmal Ihre Schönheit sehen. Sie haben
meine Zunge verwirrt.“
Ellory bemerkte den freundlichen Blick. „Eine hübsche kleine Rede“, sagte sie spöttisch.
„Das ist man von euch nicht gewöhnt.“
Hatte seine Schmeichelei versagt? Oder nicht? Lady Ermaine sah ihn mit verhülltem Interesse
an. „Es ist etwas Sonderbares an dir“, sagte sie leise. „Deine Manieren, dein Blick, der
Akzent...“
„Ich habe einen Sprachfehler“, murmelte Ellory.
„Auch durch meine Schönheit hervorgerufen?“ Ihr Lachen wirkte geschmeichelt. „Nein,
Humrelly, das würde ich dir nicht abnehmen. Deine Haltung ist zu aufrecht. Unterwerfung
fällt dir nicht leicht, habe ich recht? In gewisser Weise erinnerst du mich an die Alten.“
Ellory dachte, daß sie sein Geheimnis endgültig durchschaut hatte. Aber sie lächelte nur und
sagte: „Diesmal hast du nicht gelogen.“ Sie drehte sich abrupt um und wandte sich an ihre Be
gleiter: „Wir starten.“
Das Schiff erhob sich und flog nach Süden.
„Gut gemacht, Humrelly“, sagte Mal Radnor. „Deine Lügen, gesüßt durch den Honig der
Schmeichelei, haben unserer Lady Ermaine geschmeckt.“
Aber Ellory hatte nicht gelogen. In Lady Ermaines Gegenwart wurde ihm schwindelig.
Sharina verblaßte, und er dachte stundenlang nicht mehr an sie.
Verärgert schüttelte er den Kopf.
„Sollen wir die Metallwaffen aufgeben, wie Lady Ermaine es verlangte?“ fragte Mal Radnor
mit einem wissenden Lachen.
„Bist du wahnsinnig?“ Ellory lachte ebenfalls. „Aber wir werden uns vorsehen müssen.
Sobald ein Schiff der Antarker in die Nähe kommt, sollen die Männer ihre Waffen
verstecken.“
„Befreiung von Antarka!“
Trotzig drang die Armee weiter nach Süden vor.
17. Ellory hatte Chikago erreicht — und Amerika gehörte ihm.
Ein halbes Jahr war seit seinem Aufbruch von New York vergangen. Die Staaten westlich des
Mississippi hatten sich kampflos ergeben, sobald seine Reiter kamen und das Ultimatum
stellten.
Vom Osten hörte man Hufschlag, und eine Reitergruppe kam näher. Es waren Sem Onger,
Jon Darm und Sharina, begleitet von ein paar bewaffneten Soldaten.
Jon Darm sprang ab und packte Ellory an den Schultern. „Ich kann es noch nicht glauben,
Humrelly!“ rief er. „Wir ritten acht Tage lang durch fremde Gebiete. Früher wäre das
Selbstmord gewesen. Nun werden wir überall freundschaftlich begrüßt. Man hat nicht nur
Angst vor dir. Der Ruf: ,Befreiung von Antarka‘ hat alle erfaßt. Du hast das Land vereinigt,
und ich bin sein — Präsident.“
„Präsident?“ fragte Ellory verwirrt. „Woher hast du dieses Wort?“
„Von Sem Onger. Er schilderte mir die Regierung des 20. Jahrhunderts. Wir wollen ein
ähnliches System einführen.“
Einen Moment lang wandte sich Ellory ab. Er wollte nicht zeigen, wie sehr ihn die Worte
bewegt hatten. Dann nickte er zustimmend.
„Du hast das Richtige getan, Jon Darm. Wir müssen weit in die Zukunft blicken. Wenn das
Joch von Antarka abgeschüttelt ist, müssen wir damit beginnen, die Zukunft aufzubauen.
Dazu brauchen wir auf der ganzen Welt eine weise Regierung.“
„Und du, Humrelly, wirst unser Leitstern sein“, sagte Sharina leise.
Ellory wandte sich ihr zu. Bisher war er ihren Blicken ausgewichen. Er hatte gemerkt, daß
Mal Radnor sehr zurückhaltend mit ihr sprach. Aber die Blicke des jungen Häuptlings waren
ernst, fast traurig.
„Danke, Engel“, murmelte Ellory.
Sem Onger kam näher. Er bewegte sich stöhnend. „Acht Tage im Sattel sind mörderisch für
meine alten Knochen.“
„Eines Tages werden wir wieder Autos besitzen“, meinte Ellory strahlend.
„Oh, ich habe einen Teil deines kostbaren Eisens abgezweigt und einen Pflug gebaut“,
erklärte der alte Gelehrte grinsend. „Was sagst du dazu?“
Ellory täuschte Staunen vor. „Donnerwetter!“ Doch dann wurde er ernst. „Du stehst mit
beiden Beinen fest auf der Erde, Sem Onger. Ich träume manchmal zuviel.“
Plötzlich sah er in den hellen, klaren Himmel hinauf. „Eine Frage, Sem Onger. Was ist seit
meiner Zeit mit dem Wetter geschehen? Ich wurde im April aus der Krypta geholt. Jetzt ist es
Januar, und man hat das Gefühl, als befände man sich im Hochsommer. Zehn Monate
Sommer! Wann habt ihr hier eigentlich Winter?“
„Winter?“
„Ja. Kälte. Sturmwinde und Schnee.“
„Schnee?“ Sem Onger schüttelte den Kopf. „Schnee gibt es nur im hohen Norden, Humrelly.
Du müßtest wochenlang reiten, um ihn zu sehen. Und er fällt auch sehr selten.“
Ellory war verwirrt. New York, Chikago, Winnipeg — all diese Städte hatten das Klima von
Florida? Er mußte tiefer in das Geheimnis eindringen, wenn er einmal Zeit dazu fand.
Aber nun wandte er sich wieder den Besuchern zu. „Ich habe eure Ankunft erwartet“, sagte
er. „Heute nachmittag, wenn ihr ausgeruht seid, werde ich zu den Vertretern unserer neuen
Nation sprechen.“
Ellory stand ruhig da. Sein sonnengebräuntes Gesicht strahlte Kraft aus. Im Halbkreis waren
die Vertreter aller Stämme versammelt, und hinter ihnen scharten sich die Soldaten. Offiziere
sorgten dafür, daß Ordnung herrschte.
„Bürger und Abgeordnete der Vereinigten Staaten von Amerika!“ begann er mit etwas
zitternder Stimme. „Obwohl ich unsere Einheit durch die Drohung des Schwertes erreicht
habe, wollte ich etwas ganz anderes als den militärischen Sieg.“
Er kam ohne Umschweife zur Sache.
„Regierungsprobleme können später besprochen werden. Die erste Aufgabe unseres neuen
Staatenbundes wird es sein, die Tyrannei der Antarker abzuschütteln. Befreiung von
Antarka!“
Er hatte die Stimme erhoben. Die Menge wiederholte den Schrei, und es klang wie ein
Schwur.
„Die Antarker werden nächsten Monat kommen, um ihren üblichen Tribut zu fordern. Dann
müssen wir unsere neue Macht zeigen. Es wird nicht genügen, die Freiheit zu erbitten. Wir
werden sie uns mit Gewalt nehmen müssen. Keiner unserer jungen Leute soll in die Sklaverei
geschickt werden, keine Schiffsladung mehr sollen die Antarker erhalten.“
Er sah sich um. „Irgendwelche Fragen?“
Die Gesandten sahen einander an. Schließlich trat einer von ihnen unentschlossen vor.
„Man wird uns angreifen, wenn wir nicht gehorchen. Ihre Schiffe werden unsere Städte
vernichten.“
„Man kann die Städte vorher freimachen“, erwiderte Ellory. Er und Mal Radnor hatten den
Plan lange diskutiert. „Außerdem lassen sich Städte wieder aufbauen. Wie viele Flugzeuge
besitzen die Antarker?“
„Nur ein paar Dutzend“, erklärte Sem Onger. „Seht ihr?“ rief Ellory. „Ihr besitzt viele Städte. Sie haben nur ein paar Flugzeuge. Deshalb können wir sie besiegen, wenn wir vereint kämpfen.“ „Aber sie sind grausam“, wandte ein anderer ein. „Sie werden uns unerbittlich jagen...“ So ging es weiter. Ellory und Mal Radnor hatten auf alle Fragen eine Antwort. Ganz allmählich wich die Skepsis. Als die Dämmerung hereinbrach, erhob sich Ellory schließlich. „Selbstverständlich wird es nicht leicht sein“, faßte er zusammen. „Die Freiheit war schon immer teuer zu erringen. Wenn die ersten Sklavenschiffe landen, müssen in jeder Hauptstadt Truppen bereitstehen, um sie zu erobern. Tötet die Herren von Antarka nicht. Benutzt sie als Geiseln. Wenn die Antarker zu einer Luftverteidigung greifen, wird es Jahre dauern, bis sie ans Ziel kommen. Und in der Zwischenzeit haben sie keine Nahrungsmittel. Wenn sie von den anderen Stämmen der Welt mehr Tribut erzwingen wollen, werden auch diese Leute revoltieren. Mag sein, daß der Kampf Jahre dauert. Aber früher oder später werden die Antarker zu der Erkenntnis kommen, daß sie uns nur in einem Bodenkampf gegenübertreten können, wenn sie die Entscheidung erzwingen wollen. Und bei Bodenschlachten sind wir ihnen überlegen, das steht fest. Sie können gegen unsere zahlenmäßige Übermacht nichts ausrichten. Die Herren von Antarka werden den Kampf verlieren!“ Nur eines beunruhigte Ellory, als er mit Jon Darm und den anderen in ein Dorf ging, wo man ihnen Quartier angeboten hatte. Während der Rede hatte ein Schiff der Antarker seine Kreise am Hammel gezogen. War das ein Zufall? Oder wurde die Versammlung beobachtet? Ellory lächelte grimmig. Viel konnten die Antarker nicht mehr tun...
18. Der große Tag dämmerte klar und kühl herauf. Ellory befand sich wieder in der Hauptstadt
von Norak. Er wartete auf die Ankunft des Sklavenschiffes. In ganz Amerika warteten die
Menschen...
Es war ein düsteres Warten, Jeder wußte, daß sich in ein paar Stunden das Schicksal zweier
Zivilisationen entscheiden konnte.
Und dann kam das Schiff, wie immer zur Mittagszeit. Es landete majestätisch. Mit einem Mal
hatte Ellory ein unbehagliches Gefühl.
Konnten sie gegen diese überlegene Kultur gewinnen?
Er warf einen Blick auf die Kämpfer, die sich in den Hauseingängen und Seitenstraßen
verborgenhielten, und seine Zuversicht wuchs.
Und dann, während er darauf wartete, daß sich die Schiffsluke öffnete, dachte er plötzlich:
„Hoffentlich stößt Lady Ermaine nichts zu.“
Das glänzende Schiff stand ruhig da, und nichts rührte sich. Ellory zitterte wie im Fieber.
Weshalb wurde die Luke nicht geöffnet?
Und dann zuckte er zusammen. Über den Platz hörte man in tausendfacher Verstärkung Lady
Ermaines Stimme:
„Jon Darm, hör mir zu!
Wir haben nicht die Absicht, unser Schiff zu verlassen. Deine Pläne sind uns bekannt. Wir
wissen von den verborgenen Truppen, die uns ergreifen sollen. Wir wissen von der
Revolution gegen unsere Herrschaft.“
Ellory stöhnte. Mal Radnor sah ihn ungläubig an. Die Kämpfer flüsterten erregt.
„Wir bieten dir unsere Nachsicht an, Jon Darm. Laß deine Truppen abziehen und bringe wie
immer zehn junge Männer zum Schiff. Dazu den Hirten Humrelly! Wenn du gehorchst,
wollen wir übersehen, daß du unseren Sturz geplant hast.“
Die Stimme wurde härter.
„Ihr könnt das Schiff auch angreifen. Unsere Waffen werden euch lehren, es kein zweites Mal
zu tun. Und später werden wir die Stadt vernichten.“
Ellory versuchte in diesem furchtbaren Augenblick vernünftig zu denken und die
Möglichkeiten abzuwägen. Aber in seinem Innern war eine schmerzhafte Leere. Jon Darm
wartete auf seine Entscheidung. Er wagte es nicht, ihm eine anzubieten.
Plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß er aufgesprungen und nach vorn gelaufen war.
„Befreiung von Antarka!“ schrie er und lief mit gezücktem Schwert auf das Schiff zu.
Ellory erfuhr nicht, was in den nächsten Minuten geschah. Er bemerkte schwach, daß
Tausende von Noraks auf das Flugzeug zustürmten, und dann wurde ihm schwarz vor den
Augen.
Bevor er das Bewußtsein ganz verlor, sah er zwei Engelsgesichter über sich — das von
Ermaine und das von Sharina.
Als er zu sich kam, lag er unter weichen Decken. Er setzte sich stöhnend auf. Sein rechtes
Bein, seine Brust und der Kopf waren in Bandagen gehüllt. Er spürte darunter kühlende
Salben — und er erinnerte sich an die Brandverletzungen, die er erlitten hatte.
Allmählich wurde sein Blick klarer. Er befand sich in einer winzigen Kabine, deren Wände
mit Plüsch verkleidet waren. Lady Ermaine von Lillamra betrachtete ihn mit kühlen Blicken.
Offensichtlich hatte sie an seinem Bett gewartet, bis er wieder zu sich kam. Dunkelblaue
Augen, silbernes Haar, die helle Haut — sie war von einer perfekten, beinahe unirdischen
Schönheit. Und doch spürte Ellory ihre Weiblichkeit.
„Wo...“, stieß er mit rauher Stimme hervor.
„Auf meinem Schiff. Wir sind unterwegs nach Antarka“, erwiderte sie. „Du kannst dich als
meinen Gast betrachten.“ Ihre Blicke sagten „Gefangener“. „Du warst jetzt zwei Stunden lang
ohne Bewußtsein. Deine Verbrennungen sind jedoch nicht ernsthaft. Nach ein paar Tagen
dürften sie mit Hilfe der Salben geheilt sein.“
„Was ist denn nur geschehen?“ Ellory erinnerte sich wieder, und die Erinnerung brannte
schlimmer als die Wunden.
„Die kleine Revolte wurde niedergeschlagen.“ Ihre Stimme klang unbewegt. „Ihr habt zwar
tapfer, aber ohne Überlegung angegriffen. Unsere Flammer mähten ein gutes Tausend nieder,
bevor die übrigen aufgaben. Du warst der Anführer, Humrelly?“
Ellory gab keine Antwort.
„Wir bemerkten die Versammlung am Meer vor einem Monat. Ein paar Tage später nahmen
wir einen Stammesangehörigen gefangen und fragten ihn aus. Nach einigem Zögern erzählte
er uns die Geschichte. Alle Schiffe wurden gewarnt und bereiteten sich entsprechend vor. Wir
wissen noch nicht, wie es ihnen ergangen ist, aber die Berichte treffen bald in Antarka ein...“
Ein Hoffnungsfunke stieg in Ellory hoch. „Sie haben noch keinen Funkbericht erhalten?“
„Funk? Was ist das?“
Ellory starrte sie an. Keinen Funkverkehr? Die Achtung vor der Wissenschaft der Antarker
sank.
„Du warst der Anführer, Humrelly. Sage — bist du einer der Alten? Man nennt dich Herr der
Vergangenheit.“
Ellory zuckte mit den Schultern. Das Geheimnis ließ sich nicht länger verbergen. „Ja“, sagte
er. „Ich komme aus dem 20. Jahrhundert.“
„Ich ahnte es schon damals, als ich dich zum erstenmal in Norak sah. Deine Haltung, dein
Akzent — alles war anders als bei den Eingeborenen. Dann, in Thakal, war ich beinahe
sicher. Ich ahnte auch, was du vorhattest. Du willst mit Hilfe von Metallwaffen unsere —
Tyrannei brechen?“
„Ihr nennt es also selbst so?“ entgegnete er zornig. „Weshalb habt ihr nicht schon früher
Nachforschungen angestellt, wenn ihr bereits mißtrauisch wart?“
Sie spielte mit einem Diamantanhänger. „Manchmal ist das Leben in Antarka reichlich langweilig. Ein Hauch von Gefahr kann ihm wieder Reiz geben.“ Ellory starrte sie an. Sie betrachtete die Welt des Steinzeitalters als riesigen Rummelplatz, der nur zu ihrem Vergnügen aufgebaut worden war. „Ich nehme an, daß ich als Anführer der Revolte sterben muß?“ „Das wird ein Gericht entscheiden. Wenn du nicht wie ein Verrückter angegriffen hättest, wäre deine Strafe nicht allzu hoch ausgefallen. Ich bat die Schützen, dich zu schonen.“ „Für den Henker!“ erklärte Ellory. „Was ist mit den anderen? Jon Darm...“ „Er bekommt eine Chance. Aber die Stadt wird niedergebrannt. Die übliche Lektion.“ Ihre Stimme klang gelangweilt. „Schade, daß du die Sache nicht ein wenig spannender gemacht hast, Humrelly. Die Chance habe ich dir gegeben. Ich hätte dich schon viel früher dem Rat melden können.“ Zorn schüttelte ihn. „Sie fühlen sich wohl allem sehr überlegen?“ fragte er. „Aber noch ist nicht alles vorüber. Ein paar hundert Stammesstaaten lassen sich nicht ohne weiteres unterdrücken, wenn sie vereinigt sind. Ich habe ihnen die Augen geöffnet. Der Haß von tau send Jahren treibt sie an.“ Das Mädchen lächelte. „Ja, Humrelly, du hast ihnen die Augen geöffnet. Aber sie vergessen schnell, wie Kinder. Eine Zeitlang hast du sie in Bann gehalten. Ohne deine Führung wird der Bund zerfallen.“ Ellory biß sich auf die Lippen. Eine teuflische Logik — und sie war richtig. Der Erfolg der Rebellion war von ihm abhängig gewesen, von seiner Planung und Organisation. Die Steinzeitmenschen hatten ihm gehorcht wie einem Halbgott. Wenn er sie nicht mehr be fehligte, fielen sie rasch in ihre alten Gewohnheiten zurück. Er sah ihr in die Augen. „Hinter der hübschen Larve steckt ein verkommenes Geschöpf. Jetzt wissen Sie, was ich von Ihnen halte.“ Einen Moment lang leuchteten ihre Augen zornig auf. „Hüte deine Zunge, Humrelly!“ „In meiner Zeit war es üblich, das zu sagen, was man dachte“, erwiderte er. „Und ich werde es allen Antarkern entgegenschreien. Sie sind Tyrannen!“ Sie lachte. „Ich glaube, du bist ein Idealist, Humrelly. Wir hingegen denken realistisch. Die Mächtigen freuen sich an den schönen Dingen des Lebens. Sie haben eben Glück gehabt. Sollen sie es hergeben? Was macht es den Stämmen aus, uns mit Nahrungsmitteln und Dienern zu versorgen? Sie haben selbst noch genug zu essen, und die jungen Leute sind bei uns gut aufgehoben.“ „Mein Gott, und das glauben Sie selbst?“ Ellory ging erregt in der Kabine hin und her, obwohl seine Brandwunden schmerzten. „Aber sprechen wir nicht davon. Noch weit schlimmer als die Tributforderung ist die Tatsache, daß ihr nicht einmal den kleinen Finger krümmt, um diesen Leuten zu helfen. Ihr laßt sie in der Primitivität des Steinzeitalters. Das erste Gesetz der Zivilisation ist, daß die Glücklichen den Benachteiligten helfen. Gebt ihnen euer Wissen, eure materiellen Güter...“ „Die Vorräte von Antarka sind beschränkt, Humrelly. Sie reichen kaum für unsere kleine Welt. Wir leben nicht mehr im 20. Jahrhundert, Humrelly. Alles ist dünn und schäbig geworden. Die Schuld trägt deine Zeit. Ihr seid so verschwenderisch mit den Gütern der Erde umgegangen.“ Ellory sah sie nicht an. „Mag sein“, sagte er schließlich. „Aber damit könnt ihr noch nicht eure Tyrannei verteidigen. Außerdem — habt ihr je versucht, neue Metalle zu gewinnen? Die Meere sind voll von Metallen. Dazu die Radioaktivität und die Atomkraft — sie könnten neue Reichtümer schaffen. Habt ihr in die Zukunft gesehen? Habt ihr irgend etwas unternommen?“ Ein schwaches Lächeln spielte um ihre Lippen. „Du bist ein Träumer, nicht wahr, Humrelly?“ „Träume sind die ersten Stufen zum Fortschritt.“ Sie beobachtete ihn immer noch. „Humrelly, du gefällst mir. Ich habe noch nie einen Mann
wie dich kennengelernt. Du sagst beunruhigende Dinge. Du bist unpraktisch, gefühlsbetont,
verrückt optimistisch. Und doch kann man dich nicht als Schwachkopf bezeichnen.“
„Danke“, erwiderte er trocken. „Sind Sie mit der Psychoanalyse fertig? Ich fühle mich
nämlich ziemlich müde.“ Die Frau brachte ihn an den Rand seiner Beherrschung. „Wann
erreichen wir Antarka?“
„In sieben Stunden. Drei Stunden sind wir bereits unterwegs.“
„Tausend Meilen pro Stunde?“ Er pfiff durch die Zähne.
„In der Stratosphäre.“
Sie öffnete eine Tür und sagte: „Hier ist Besuch für dich. Das arme Mädchen befindet sich am
Rande einer Hysterie.“
Sharina trat ein. Ihr Gesicht war tränenverschmiert. Mit einem kleinen Aufschrei warf sie sich
in Ellorys Arme.
„Sharina!“ Ellory sah sie verwirrt an. „Wie...“
„Als du am Boden lagst und das Feuer eingestellt wurde, lief sie auf dich zu. Wir brachten
dich ins Schiff, und sie kämpfte wie eine Löwin gegen meine Männer. Da wir es eilig hatten,
nahmen wir sie gleich mit.“
Sie warf einen Blick auf Sharina, die sich an Ellory klammerte. Wortlos verließ sie die
Kabine.
„Sharina, das hättest du nicht tun dürfen“, sagte Ellory leise. „Weißt du nicht, daß...“
„Mal Radnor!“ flüsterte sie. „Er ist tot. Ich sah, wie seine Kleider brannten...“
„Mal Radnor — mein Gott!“ Jetzt erinnerte sich Ellory, daß der junge Häuptling neben ihm
zusammengebrochen war. Mal Radnor war während der Kämpfe sein bester Freund
geworden. Nicht einmal Sharina hatte zwischen ihnen gestanden.
„Er war ein Märtyrer, Sharina“, sagte er heiser.
Sie löste sich von ihm. „Ich bin mitgekommen, Humrelly, damit ich bis zuletzt bei dir sein
kann.“
„Bis zuletzt? Du weißt also Bescheid?“ fragte er.
Sie nickte. Ellory betrachtete sie und verglich sie unwillkürlich mit Ermaine. Sharina war
sanft, schlicht, von einer herben Schönheit. Ermaine hingegen wirkte zerbrechlich wie
Porzellan.
Mit einem Mal haßte er das arrogante Mädchen von Antarka. Er wollte Sharina in die Arme
nehmen, jetzt, da Mal Radnor nicht mehr zwischen ihnen stand. Aber irgendwie drängte sich
Er-maines Bild dazwischen.
„Engel, ich...“ Er legte die Hände über die Augen. „Es ist alles so furchtbar, Sharina. Ich habe
jämmerlich versagt.“
Er merkte nur noch, daß sie ihm sanft über die Stirn strich. Dann schlief er ein.
19. Sechs Stunden später erwachte er. Er akzeptierte Ermaines Einladung, sich das Schiff
anzusehen. Sharina begleitete ihn^ Sie nahm furchtsam seine Hand, als Ermaine sie zu einer
Sichtluke führte. Unter ihnen war ein gähnendes Nichts.
„Fünfzehn Meilen“, sagte Ermaine beiläufig.
Der Kontrollraum fesselte Ellory ganz besonders. Ein halbes Dutzend Männer saß an den
Schaltpulten und bediente die unzähligen Hebel und Knöpfe. Irgendwie wurde Ellory an ein
Versuchsschiff erinnert, das er in seiner Jugend einmal besichtigt hatte.
„Was für einen Treibstoff benutzt ihr?“
„Benzin und flüssige Luft“, erklärte Ermaine.
Ellory war ein wenig enttäuscht. Er hatte etwas völlig Neuartiges zu sehen erwartet.
„Und die Waffen?“ Er deutete auf die röhrenförmigen Dinger, die man nach außen schwenken konnte. „Winzige Metallkugeln mit hoch-flüchtigem Gasäther werden durch einen Federmechanismus ins Freie geschleudert. Durch die Reibungshitze dehnt sich der Gasäther aus und sprengt die Kapsel. Die Dämpfe entzünden sich sofort in der Luft und bilden einen Feuerkegel.“ „Wahrscheinlich nur für kurze Strecken wirksam?“ Ermaine nickte. „Etwa hundert Meter. Aber es sind die einzigen Waffen; die wir besitzen. Wir brauchen die unförmigen Kanonen eurer Zeit nicht. In Antarka gibt es keine Kriege.“ Sie lächelte. „Auf diesem Gebiet besitzen wir wirklich eine gute Zivilisation, Humrelly.“ Sie winkte ab. „Um es ehrlich zu sagen, wir können uns keine Kriege leisten. Ein einziger längerer Kampf würde uns vernichten. Antarka ist ein Land des Friedens.“ „Und der Tyrannei.“ „Da — das ist Antarka.“ Ellory hatte schon seit einigen Minuten gespürt, daß sich die Maschine senkte. Sie glitten auf die Antarktis zu. Der Südpol! Im 20. Jahrhundert war er eine gefrorene Öde gewesen. Nun sah man bräunliches Land, und nur der Pol selbst besaß eine dünne Eiskappe. „Merkwürdig!“ Ellory schüttelte den Kopf. „Das Klima hat sich seit meiner Zeit radikal verändert.“ Sie nickte. „Die Überwindung der letzten Eiszeit.“ „Natürlich!“ Ellory schnippte mit den Fingern. Die Theorie war auch im 20. Jahrhundert verkündet worden. Langsam aber sicher stieg die Durchschnittstemperatur an. Und nun, dreitausend Jahre später, hatte sich die Antarktis aus ihrem Eisgefängnis befreit. Ellory suchte nach den Städten der Antarker. Wieder wurde er enttäuscht. Außer einem riesigen Metallschild, der etwa eine Meile im Durchmesser betrug, war nichts zu erkennen. „Unsere Stadt ist unterirdisch angelegt“, erklärte Ermaine. „Die Metallkappe schützt uns vor der Kälte. Obwohl das Eis getaut ist, haben wir immer noch sehr niedrige Temperaturen, und es schneit oft. Unter der Erde hingegen ist es warm und gemütlich. Außerdem sind wir näher an den Kohle- und Metalladern.“ Das Schiff landete auf einer breiten Metallplatte und hielt vor einer Kuppel an. Automatische Schlepper holten es herein. Lady Ermaine hüllte sich in einen Pelz und trat ins Freie. Sharina und Ellory folgten ihr. Sie zitterten in der Kälte. Dann betraten sie einen Aufzug, der sie in die Tiefe brachte. Ellory sah sich neugierig um. Die Korridore waren geheizt. Man spürte, daß hier Leben herrschte. Einen Moment lang träumte er von einem Hochhaus in New York oder Chikago. Aber die Illusion verließ ihn bald. Es war eine Stadt, wie sie das 20. Jahrhundert nicht gekannt hatte. Sie betraten eine Metallbrücke, die sich über einen tiefen Schacht spannte. Ermaine führte sie dicht ans Geländer und deutete nach unten. Ellory keuchte. Man hatte das Gefühl, daß der Schacht sich bis zum Erdmittelpunkt erstreckte. In regelmäßigen Abständen zweigten horizontale Gänge ab. Pfeiler, die von unten bis nach oben verliefen, stützten die Metallbrücken ab. Ellory mußte die Konstrukteure bewundern. „Das erstaunt auch dich, Humrelly?“ fragte Ermaine erfreut. „Die Stadt besteht aus zwanzig Stockwerken, die im Fels fest verankert sind. Die Korridore führen nicht weiter als eine halbe Meile vom Mittelschacht weg. Unsere Stadt ist nicht groß. Man könnte sie mit einem Hochhaus deiner Zeit vergleichen, Humrelly — nur daß sie in die Tiefe und nicht in die Höhe gebaut ist.“ Auch Ellory war dieser Vergleich in den Sinn gekommen. Sharina klammerte sich ängstlich an ihn, als sie die Metallbrücke überquerten. Für sie bedeutete die erste Begegnung mit der Zivilisation einen Schock. Sie bewegte sich nur auf Zehenspitzen.
Die Metallbrücke führte zum Korridor des obersten Stockwerks. Von diesem Korridor
wiederum zweigten Treppen und Rampen in Zwischenstockwerke und „Souterrains“ ab.
Wohnanlagen im Bungalow-Stil gruppierten sich um Plätze, auf denen echtes Gras wuchs.
Ellory sah sich bewundernd um. Die Antarker hatten hier ein kleines Dorado geschaffen.
Ermaine lachte. „Man sieht dir an, wie sehr es dir hier gefällt, Humrelly, auch wenn du es
nicht eingestehen willst.“
Ellory runzelte die Stirn. „Ein schönes Äußeres verbirgt oft häßliche Dinge.“
Und dann zeigte sich, daß er mit seiner Antwort recht hatte. In den Gängen bewegten sich die
Antarker, lässig, gemächlich, gelangweilt. Einige von ihnen saßen in Rollstühlen, die von
Dienern mit dunklerer Haut geschoben wurden. Die Sklaven aus der Steinzeit!
Er biß sich auf die Unterlippe. Nicht einmal das prunkvolle Gebäude, das vor ihnen
auftauchte, konnte ihn über den Anblick hinwegtrösten.
„Mein Heim“, erklärte Ermaine. Ellory machte große Augen. Golderker, silberne
Dachrinnen, schimmernder Marmor — eine Pracht, wie er sie noch nie gesehen hatte. Er
wandte sich kopfschüttelnd Ermaine zu. „Das gehört Ihnen?“ „Ja. Ich bin Lady von Lillarma,
wußtest du das nicht? Die erste Dame der Stadt. Moment, wie würdest du es nennen? Königin
vermutlich.“ „Königin?“
Jetzt erst fiel ihm auf, daß die Leute, die ihnen entgegengekommen waren, ehrfürchtig
gegrüßt hatten.
„Und das hier ist mein Palast“, fuhr sie fort. „Kommt, ihr seid meine Gäste. Humrelly, das ist
eine große Ehre für dich. Eigentlich müßte ich dich in eine Gefängniszelle werfen.“
Sie versuchte in seinen Zügen zu lesen, aber seine Miene blieb ausdruckslos.
Später brachte man sie in ein Speisezimmer, wo sie wie bei einem Bankett bewirtet wurden.
Die Henkersmahlzeit, dachte Ellory düster. „Erzähle mir von deinem früheren Leben,
Humrelly“, drängte Ermaine. „Wir wissen nicht viel darüber.“
Ellory aß nur wenig, und seine Sätze klangen mechanisch. Das Zusammenbrechen all seiner
Pläne lastete schwer auf ihm. Er legte die goldene Gabel weg.
„Wann findet der sogenannte Prozeß statt?“ fragte er.
„Prozeß?“ Lady Ermaine von Lillamra lächelte. „Er findet seit deiner Abreise von Norak
statt.“
Ellory starrte sie nur an.
„Ich bin Richter und Jury“, fuhr das Mädchen fort. „Der Rat hat mich gewähren lassen.“ Sie
sah ihn an, und Ellory kam sich wie eine Marionette vor. „Im Moment verschiebe ich die
Entscheidung.“
Sie erhob sich.
„Ihr seid beide müde und verwirrt. Morgen fühlt ihr euch vermutlich besser. Dann zeige ich
euch das Leben in der Stadt.“ Sie machte eine Pause. „Nun, Humrelly? Kein Danke? Die an
deren hätten dich sofort zum Tode verurteilt.“
Ellory winkte ab. „Ändert der Leopard seine Flecken?“
Sie runzelte leicht die Stirn, sagte aber nichts.
Sharina und Ellory wurden in nebeneinanderliegende Räume gebracht. Ein älterer Diener
versorgte geschickt Ellorys Wunden. Offensichtlich hatten ihn die Antarker in der Heilkunst
ausgebildet.
„Seit wann lebst du hier?“ fragte Ellory.
„Seit dreißig Jahren“, entgegnete der Mann ausdruckslos.
„Gefällt es dir hier? Du kannst frei sprechen, ich stamme von draußen wie du. Behandelt man
dich gut?“
„Ja, man behandelt mich gut.“ Er sah sich aufmerksam im Zimmer um. „Aber ich hasse diese
Welt. Wir alle hassen sie. Wir arbeiten nur für sie.“
„Hast du je zu fliehen versucht?“
Der Mann ließ die Schultern hängen. „Es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Nach dreißig Jahren
weiß man das. Die Metallkappe über der Stadt versperrt uns den Weg. Die wenigen Ausgänge sind Tag und Nacht bewacht.“ Er ging mit müden Schritten hinaus.
20. Die Tage vergingen schnell. Ermaine schilderte ihnen den Aufstieg von Antarka.
„Vor mehr als elfhundert Jahren befand sich die Zivilisation auf einem Tiefpunkt. Nichts war
übriggeblieben — keine Kohle, keine Metalle, kein Öl.
Die Menschen verwandelten sich in Barbaren. Sie kannten nur die Legende von einem
sonderbaren Land im Süden, das reich an Bodenschätzen sein sollte.
Und dann strandete ein Segelschiff an der Küste von Antarka. Das Eis war zum größten Teil
geschmolzen. Die Leute fanden schwarze Klumpen, die hervorragend brannten, und andere
Klumpen, die sich schmelzen ließen, um später zu dem mythischen Metall zu erstarren.“
„Ihre Vorfahren waren also Wilde wie alle anderen“, murmelte Ellory. „Sie besaßen lediglich
mehr Glück als Sharinas Ahnen. Mit welchem Recht behaltet ihr also die Bodenschätze von
Antarka für euch?“
„War das in deiner Zeit anders?“ fragte Ermaine mit einem Lächeln. „Ernährten bei euch die
Reichen ihre armen Brüder?“
„Weiter“, sagte Ellory scharf.
„Die Zivilisation in Antarka entwickelte sich ganz natürlich. Aber wir konnten in den kalten
Gebieten keine Nutzpflanzen anbauen. Zwei Wege blieben offen. Die ersten Antarker ent
schieden, daß sie in der Nähe der Bodenschätze bleiben und Nahrungsmittel importieren
wollten. Sie hatten Angst, sich zu weit von den Kostbarkeiten zu entfernen.
Die Städte wurden also im Laufe vieler Jahre angelegt und immer tiefer in die Erde gebaut.
An der Küstenlinie von Antarka entstanden zehn solche Zentren, alle in der Nähe von
bedeutenden Erz- oder Kohlevorkommen.
Wir führten eine strikte Geburtenkontrolle ein. Eine Überbevölkerung konnten wir uns
einfach nicht leisten. Hundert Jahre später besaßen wir wieder eine blühende Zivilisation. Ja,
es war ein rascher Aufstieg, Humrelly, aber die Menschheit hatte das Wissen von früher nicht
ganz vergessen. Bibliotheken und Universitäten lieferten immer neues Material.“
„Und dieser Wandel könnte sich auf der ganzen Erde vollziehen, wenn es Metall und Energie
gäbe.“ Ellorys Augen leuchteten.
Ermaine stand auf. „Ich muß jetzt gehen. Die Regierungsgeschäfte warten. Übrigens — “ sie
sah die beiden ernst an — „die Rebellion ist zusammengebrochen. Wir haben zur Warnung
die Hauptstadt von Norak niederbrennen lassen.“
Sharina hielt den Atem an.
„Mein Vater?“ fragte sie leise.
„Er ist in Sicherheit, Kleine. Die Stadt wurde vor der Vernichtung evakuiert.“
Damit ließ sie Ellory und Sharina allein.
An anderen Tagen zeigte sie ihnen die unteren Stockwerke der Stadt. Hier befanden sich vor
allem die Werkstätten, Raffinerien und Labors. An den Maschinen standen Angehörige der
Stammesstaaten, meist überwacht von makellos gekleideten Antarkern.
Eines überraschte Ellory. Die Luft in der unterirdischen Stadt war weit besser als in einer
Großstadt seiner Zeit. Ventilatoren und Pumpen arbeiteten Tag und Nacht, um frischen
Sauerstoff einzusaugen und die verbrauchte Luft wieder auszustoßen.
„Nun, Humrelly“, sagte Ermaine, als sie alles besichtigt hatten, „beeindrucken dich unsere
Errungenschaften?“
Ellory nickte widerstrebend. Er spürte, daß hier irgend etwas fehlte, aber er wußte nicht
sofort, was es war.
„Wo befinden sich die Generatoren? Wird eure Elektrizität mit Hilfe von Dampfmaschinen
oder Dampfturbinen hergestellt?“
„Elektrizität?“ Ermaine hatte Schwierigkeiten mit dem Wort. „Du meinst Batteriestrom? So
etwas benutzen wir nicht. Unsere Maschinen werden nur von Benzinmotoren betrieben.
Benzin ist unser Energievorrat. Alles Rohöl wird in Benzin und ähnliche Produkte
umgewandelt. Es gibt uns Wärme, Licht und Treibstoff. Wozu braucht man Elektrizität?“
Ellory überlegte, daß ihre Frage berechtigt war. In dieser engen Gemeinschaft benötigte man
wirklich keine Elektrizität. Ohne großen Arbeitsaufwand konnte in jeden Winkel der Stadt
Benzin gepumpt werden.
Aus diesem Grund waren auch Radiogeräte oder Telefone sinnlos. Der Weg von einem Platz
zum nächsten war so kurz, daß man sich mündlich verständigen konnte.
Als sie zum Palast zurückgingen, hörte Ellory, wie ein Mädchen dem anderen zuflüsterte:
„Das ist Ermaines jüngste Eroberung. Vielleicht kommt sie doch noch unter die Haube.“
Ermaine lief rot an, aber sie sagte nichts. Eine Weile später meinte sie beiläufig: „Siehst du,
wie dich die Mädchen anstarren, Humrelly? Selbst die verheirateten Frauen werfen dir
bewundernde Blicke zu. Unsere Mode kleidet dich gut. Sage ehrlich, Humrelly, gefallen dir
die neuen Sachen?“
Er strich mit den Fingern über den weichen Stoff. O ja, das war weit besser als das grobe
Zeug, das er von Jon Darm erhalten hatte. Die leuchtenden Farben wirkten bei schlanken,
kleinen Männern zwar ein wenig geckenhaft, aber wenn man groß und breitschultrig war,
konnte man sich damit sehen lassen.
„Nein“, log Ellory. „Das Zeug ist mir zu weibisch. Die Norak-Gewänder entsprachen mehr
meinem Geschmack.“
Sharina hatte sich geweigert, ein Kleid von Ermaine anzunehmen, obwohl man sah, daß auch
sie von den feinen Seidenstoffen beeindruckt war. Sie trug immer noch das schlichte, glatte
Gewand ihres Stammes.
„Kleider sind wie die Schönheit“, erklärte Ellory. „Sie dringen nicht unter die Haut.“ Er
schwieg, als er das spöttische Glitzern in Ermaines Augen sah.
Sharina blieb noch neben ihm stehen, als Ermaine sie verlassen hatte. „Humrelly, du liebst
diese Kleider“, sagte sie traurig. „Ich glaube, du beginnst sogar Antarka zu lieben...“
„Nein“, erwiderte Ellory, aber er hatte ein schlechtes Gewissen dabei. „Die Kleider vielleicht,
doch die anderen Dinge...“ Er nahm sie an den Schultern.
„Sharina, du glaubst doch nicht, daß ich Norak und meinen Idealen untreu werde?“
Sharina sah ihn nicht an. „Ermaine liebt dich, Humrelly. Ich spüre es, weil ich auch eine Frau
bin.“
Ellory lachte hart. „Verstehst du das Spiel nicht, Engel? Sie will mich ködern. Sie zeigt mir
alle Schönheiten von Antarka. Ich soll leiden. Dann, wenn das Urteil gefällt ist...“
Er lächelte sanft. „Ich bin zum Untergang verurteilt, Sharina. Vergiß das nie. Deshalb tut es
mir auch so leid, daß du hier bist/‘
Sharina lief in ihr Zimmer, aber Ellory hatte die Tränen in ihren Augen noch bemerkt. In
dieser Nacht schlief er sehr schlecht.
21. „Das unterste Stockwerk haben Sie uns nicht gezeigt“, sagte Ellory zu Ermaine. „Befinden
sich die Sklaven dort?“
„Die Diener“, verbesserte sie ruhig. Sie beobachtete seine grimmige Miene. „Komm.“
Das unterste Stockwerk war ein wenig feucht, aber sehr gut beleuchtet. In allen Korridoren
befanden sich kleine Häuschen mit Rasenflächen. Die Luft war ebenso frisch wie weiter oben.
Sauber gekleidete Arbeiter kehrten heim oder gingen an ihre Werkbänke. Sie waren gut genährt. „Eigentlich ganz anständig, nicht wahr, Humrelly?“ sagte Ermaine. Sie zuckte mit den Schultern, als er schwieg. „Gewiß, anfangs hatten sie es schwerer, aber im Laufe der Jahrhun derte wurde viel für sie getan.“ „Darum geht es nicht“, erwiderte Ellory. „Welches moralische Recht haben Sie, diese Leute für Ihre Zwecke auszunutzen?“ „Sie leben hier gut und sicher. Was haben sie denn früher getan? Sinnlose Grenzkriege geführt und sich gegenseitig umgebracht. Oder sie bestellten die Felder, bis sie krumme Rücken hatten. Hier bekommen sie Nahrung und Kleidung, und sie müssen nicht länger als acht Stunden pro Tag arbeiten...“ Ellory winkte ab. „Das habe ich vor dreitausend Jahren auch schon gehört. Im Innern wissen Sie, daß diese Dinge nur ein schwacher Ersatz für die Freiheit sind. Entweder Sie belügen sich selbst, oder Sie reden, wie es Ihnen am besten ins Konzept paßt.“ „Vorsicht, Humrelly“, sagte Ermaine ruhig. „Dein Prozeß ist immer noch nicht abgeschlossen.“ „Wie viele Diener habt ihr in der Stadt?“ Sie‘ warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Nicht genug für eine Revolte, Humrelly. Etwa zweihunderttausend gegen eine Million Antarker in jeder Stadt.“ Ellory warf einen Blick auf die Häuser der Sklaven. Jetzt erst fiel ihm auf, daß er nirgends Kinder sah, obwohl auch Frauen durch die Korridore gingen. Ermaine verstand seine stumme Frage. „Sie haben keine Kinder. Sie sind alle sterilisiert. Ihre Frauen versorgen unsere Babys.“ Sie lächelte. „Ich sehe schon wieder Sturmwolken, Hum relly. Ich will keine Anschuldigungen mehr hören. Wir werden jetzt die oberen zehn Stockwerke besichtigen.“ Ellory gab seufzend nach. Er stellte sich vor, welchen Erfolg er wohl dreitausend Jahre früher gehabt hätte, wenn er seinen Zeitgenossen gepredigt hätte, ihren Wohlstand zugunsten der Armen aufzugeben. „In den oberen zehn Stockwerken befinden sich unsere Wohnhäuser und Vergnügungszentren“, erzählte Ermaine. „Wir haben hier so etwas wie ein Kastensystem. Durch Erbrecht bewohnen die Vornehmsten das oberste Stockwerk und kümmern sich um die Regierungsgeschäfte. Je tiefer das Stockwerk, desto stärker der gesellschaftliche Abstieg. Im zehnten Stock wohnen nur noch Polizisten und Techniker, denen die wissenschaftlichen Routinearbeiten obliegen.“ „Wird eigentlich noch viel Forschung betrieben?“ „Kaum. Die meisten Probleme sind gelöst. Die Hauptaufgabe der Forscher ist es, die Wirtschaftlichkeit zu vergrößern, damit unsere Kohle- und Metallvorräte länger reichen.“ „Und wenn sie schließlich verbraucht sind?“ Ermaine winkte ab. „Sie reichen noch mehr als zweitausend Jahre.“ „Ich war dreitausend Jahre begraben“, sagte Ellory leise. „Als ich erwachte, sah ich nichts mehr von meiner Welt.“ Ermaine achtete nicht auf seine Worte. Sie fuhr fort: „Im fünften Stock treffen sich alle Gesellschaftsschichten. Dort befindet sich auch das Vergnügungszentrum. Ich war seit Monaten nicht mehr da. Sollen wir hingehen?“ Im fünften Stock spielte sich das „Nachtleben“ der Stadt ab. Mittelmäßige Orchester spielten mittelmäßige Melodien. Ein Vierviertelrhythmus dominierte. Die Antarker tanzten geziert und steif. Ellory stellte sich vor, welchen Wirbel hier eine Swingband veranstalten würde. Er saß an einem Tisch und trank Champagner, der kostenlos ausgeschenkt wurde. Auf einer Bühne rollte ein fadenscheiniges, langweiliges Drama ab. Es verriet viel vom muffigen Leben der Antarker. Später tanzte er mit Ermaine. Ihr geschmeidiger Körper übte eine starke Anziehungskraft auf
ihn aus. Ihr Parfüm berauschte ihn.
„Humrelly“, flüsterte sie ihm zu. „Allmählich tut es mir leid, daß du die Revolte inszeniert
hast. Du verdienst den Tod nicht.“
Er zeigte keinerlei Reaktion. Er hoffte, daß er auf diese Weise ihr kleines Spielchen verderben
konnte. Sie gingen zurück zum Tisch.
Plötzlich begann Ellory zu laufen. Er packte einen Antarker an der Schulter und riß ihn von
Sharina weg.
„Verschwinde!“ sagte er hart. Er sah, daß Sharina bleich war.
„Mann, das ist doch bloß eine von den Sklavinnen...“, begann der Antarker. Im nächsten
Moment hatte Ellory zugeschlagen. Der Fremde ging mit einem glasigen Blick zu Boden.
Im Ballsaal wurde es totenstill.
„Das ist der Rebell, der Mann aus der Vergangenheit“, sagte jemand mit schriller Stimme. Die
Antarker erhoben sich drohend.
„Halt!“ Ermaine sagte es leise, aber die Männer gehorchten. Zwei Uniformierte mit Flammen
kamen näher.
„Weitertanzen!“ befahl Ermaine.
Zu Ellorys Verblüffung gehorchten die Paare und tanzten, als sei nichts geschehen.
„Gehen wir“, sagte Ermaine verärgert. „In den oberen Stockwerken ist es ruhiger.“
Ja, es war ruhiger, aber auch hier hatten die Menschen nichts zu tun und feierten. Eine
verrückte Welt. Da verschleuderte ein ganzes Volk seine Lebensenergie mit sinnlosen Tände
leien, während man den Untergang deutlich am Horizont erkennen konnte.
22. Ermaine tauchte am nächsten Tag nicht zur gewohnten Zeit auf. Statt dessen ließ sie ihm durch einen Diener ausrichten, daß er im Zimmer bleiben solle. Achselzuckend nahm Ellory ein ledergebundenes Buch in die Hand, aber die steifen Phrasen langweilten ihn bald. Ermaine kam am Spätnachmittag. Sharina befand sich in ihrer Begleitung. Das Mädchen von Antarka wirkte ernster als bisher. „Humrelly“, sagte sie langsam. „Du hast Lillamra gesehen. Die anderen Städte sind nach dem gleichen Schema aufgebaut. Was hältst du jetzt von Antarka?“ Ellory stand auf und holte tief Atem. „Einen Augenblick noch“, sagte sie. „Ich möchte dir zuvor etwas mitteilen. Man bietet dir einen Platz in der Zivilisation von Antarka an — einen Platz in den oberen Stockwerken, mit allen Privilegien. Der Rat hat es genehmigt. Verzichte auf deine Verbindung zu Jon Darm und lebe hier als einer von uns. Entweder das — oder lebenslange Haft.“ Ellory sah sie groß an. „Ich soll nicht sterben?“ Seine Theorie, daß Ermaine nur mit ihm gespielt hatte, geriet ins Wanken. „Das glaube ich nicht.“ „Es stimmt.“ In ihrer Stimme klang kein Spott mit. „Wir haben das Gefühl, daß der Tod eine zu harte Strafe für dein Vergehen wäre. Schließlich stammst du aus der Vergangenheit. Allein dein historisches Wissen ist von unermeßlichem Wert für uns. Aber wir können dich natürlich nicht freilassen, denn du würdest deine Kenntnisse gegen uns anwenden. Das ist zu gefähr lich. Nun?“ Ihr Tonfall war völlig unpersönlich. Ellory streckte sich. „Ermaine, hören Sie mir zu“, begann er ruhig. „Ich werde Ihnen sagen, was ich von Antarka halte. Seit tausend Jahren lebt ihr nun im Luxus. Ihr seid dekadent, geistig unbeweglich. Damals, als ihr hier in der Kälte eine Zivilisation aufgebaut habt, da war Kraft in euch. Aber ihr.habt einen verhängnisvollen Fehler begangen — die Unterdrückung und Ausbeutung der
Stammesstaaten.
Das ist Tyrannei von Anfang bis zum Ende. Aber schlimmer als die Sünde gegen die Sklaven
ist die Sünde gegen euch selbst. Ihr habt euch hier vergraben und könnt keine geistigen
Impulse mehr empfangen.
Ich will Ihnen etwas verraten, das Ihnen unterbewußt längst klar ist. Ihr Volk ist bis ins Mark
gelangweilt. Die Menschen haben einander satt, sie hassen die Sicherheit, das Nichtstun, das
leichte Leben. Das merkt man an eurer Musik und an eurer Literatur. Ihr gebt eure billigen
Gesellschaftsspiele nicht auf, weil ihr Angst habt, daß euch dann gar nichts mehr bleibt.
Selbst ein Krieg wäre vorzuziehen, nicht wahr, Ermaine? Selbst eine gesunde Rebellion der
Stammesstaaten, die nicht so leicht zu unterdrücken ist. Ich war ein Narr, daß ich es nicht
schon früher erkannte. Ihr werdet an eurer Langeweile noch zugrunde gehen. Sogar Sharina in
ihrer armseligen kleinen Stadt hat mehr erlebt als Sie, Lady Ermaine.“
Ermaine riß die Augen auf, doch dann lächelte sie amüsiert. „Humrelly, du erstaunst mich.
Solche Redegewandtheit hätte ich bei dir gar nicht vermutet.“
Ellory ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.
„Es gibt eine Lösung für euch, eine einfache Lösung. Verlaßt euer Grab, geht hinaus in die
Sonne! Gebt eure Sklaven frei und arbeitet selbst. Noch mehr — geht zu den Stammesstaaten
und arbeitet für sie! Bringt ihnen die Zivilisation. Es ist eine nahezu unlösbare Aufgabe, aber
gerade das sollte euch anspornen.“
Seine Stimme wurde bittend.
„Verstehen Sie das nicht, Ermaine? Ich kann nicht glauben, daß Sie oder Ihre Mitbürger ganz
verloren sind. Vor allem Sie nicht! Sie müssen arbeiten — etwas tun. Verstehen Sie, Ermaine,
Sie müssen!“
Er sah ihr in die Augen. Glänzten sie wirklich stärker als vorher? „Humrelly, das klingt ja wie
eine Vision — wie eine herrliche neue Welt. Aber was sage ich da?“
Ihr Tonfall wurde wieder unpersönlich. „Einen Moment lang hast du mich mit deiner
Begeisterung angesteckt. Bist du nun fertig, Humrelly? Dann darf ich noch etwas sagen.“ Sie
trat dicht vor ihn. Sharina versteifte sich. Sie spürte, was nun kommen sollte.
Ermaine sah ihm ruhig in die Augen. „Vielleicht schockieren dich meine Worte, denn in der
Vergangenheit herrschten andere Sitten. Aber Lillamra braucht einen König, Humrelly, und
ich habe — dich gewählt.“
Ellory sah ihr verträumtes Lächeln, spürte ihre Weiblichkeit. Er wußte nicht mehr, was er tat.
Im nächsten Moment hatte er Sharina in die Arme genommen und küßte sie.
„Das ist meine Antwort.“
„Du Dummkopf“, sagte Ermaine ruhig. „Du liebst mich. Eine Frau spürt das. Und Sharina
weiß es auch. Sage ihm, daß er mich liebt, Sharina.“
Sharina hatte sich ein wenig gegen den Kuß gewehrt. Nun schob sie Ellory von sich und
nickte, während sie die Lippen fest zusammenpreßte.
„Was hast du mit ihr gemacht, du Hexe!“ zischte Ellory. „Wenn das ein Trick sein soll...“
„Nein, Humrelly.“ Ermaine behandelte ihn wie ein ungezogenes Kind. „Sharina erkennt, daß
du wenig mit ihrem Volk gemein hast. Sie wäre nie glücklich mit dir. Ihr denkt auf ver
schiedenen Ebenen.“
„Liebe kann man nicht rationalisieren“, fuhr Ellory auf. „Ich liebe Sharina und nicht dich.“ Ermaine schien seinen Einwand nicht gehört zu haben. „Außerdem liebt Sharina Mal Radnor.
Eine Zeitlang hast du sie unsicher gemacht — der große Mann aus der Vergangenheit. Jedes
Mädchen hätte wie sie gehandelt.“
Sharinas Lippen zitterten. „Sie hat recht, Humrelly“, flüsterte sie. „Mal Radnor — wenn
er nur am Leben wäre...“
„Er ist am Leben.“
Sharina und Ellory starrten Ermaine sprachlos an.
„Ich ließ Nachforschungen anstellen, als ich die Gerüchte vom Überleben des
Rebellenkommandanten hörte. Er wurde in einem Versteck gefunden. Seine Wunden sind
schwer, aber er wird leben.“
Ellory sah das Leuchten in Sharinas Gesicht und wußte, daß Ermaine die Wahrheit
gesprochen hatte. Und im gleichen Moment wußte er auch, daß ein großes Problem gelöst
war. Ein Taumel erfaßte ihn.
„Moment!“ sagte er hart. „Ermaine, wenn du lügst...“
Sharina faßte sich an den Hals und wurde schneeweiß.
Das Mädchen von Antarka zuckte zusammen. „Nein. Glaube mir, Humrelly, es ist die
Wahrheit. Mal Radnor lebt. Ich schwöre es.“ Sie wandte sich an Sharina. „Man wird dich
sofort nach Norak bringen. Mal Radnor braucht dich. Gehe jetzt in dein Zimmer.“
Sharina küßte Ellory auf die Wange. „Es ist gut so, Humrelly. Du wirst als Herr von Antarka
glücklich sein. Du wirst viel für diese Leute — und vielleicht auch für uns — tun.“
Damit verließ sie das Zimmer.
Ellory und Ermaine standen sich schweigend gegenüber. Dann ging Ellory rasch auf sie zu
und nahm sie in die Arme.
Aber er küßte Ermaine nicht. Er stieß sie wieder von sich und sagte heiser: „Nein! Ich kann
mich nicht selbst verraten.“
Das Mädchen sah ihn verwirrt an.
„Ich wähle lebenslängliches Gefängnis.“
„Wirklich, Humrelly? Es würde dich umbringen.“ Ihre Stimme wurde bittend. „Humrelly, du
kannst die Freiheit doch nicht für ein unerreichbares Ideal wegwerfen. Und meine Liebe
bedeutet dir gar nichts?“
„Ich ziehe Gefängnis vor“, wiederholte Ellory, ohne sie anzusehen.
Ermaine verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse, doch dann lächelte sie
nachdenklich.
„Ich verstehe, Humrelly. Früher war es üblich, daß die Männer die Wahl trafen, während
ich...“ Sie unterbrach sich. „Du wirst deine Meinung noch ändern.“
Ellory blieb allein zurück.
23. Ellory preßte die Hände gegen die schmerzende Stirn. In diesem Augenblick wünschte er, wieder in der Stille der Krypta zu liegen. Sollte er Ermaine heiraten und stillschweigend die Tyrannei mitansehen? Nein, er mußte fliehen! Der Gedanke nistete sich fest in seinem Gehirn ein. Die Flucht war die einzige Lösung. Gegen drei Uhr morgens schlich er geräuschlos aus seinem Zimmer. Die Tür war nicht verschlossen. Am Ende des leeren Korridors entdeckte er einen schlafenden Wachtposten. Der Flammer lag auf dem Tischchen neben ihm. Ellory nahm die Waffe vorsichtig an sich und betrachtete sie. Sie besaß einen Abzugmechanismus wie die alten Pistolen seiner Zeit. Mit grimmiger Entschlossenheit verließ er den Palast. Vielleicht gelang es ihm, zum Metalldach der Stadt zu kommen. Danach war alles einfach. Er mußte etwa fünfzig Meilen bis zur Küste wandern. Dort gab es einen Hafen, in dem die Schiffe der Stammesstaaten einliefen. Vielleicht nahm ihn eines dieser Segelschiffe mit nach Norak. Ellory schlich durch die schlafende Stadt. Er überquerte die Metallbrücke des Mittelschachtes und setzte einem schläfrigen Aufzugtechniker die Waffe auf die Brust. Offensichtlich gab es in Antarka kaum Gewalttaten. Der Mann wurde schneeweiß, als er die Waffe erkannte. „Zum Dach!“ befahl Ellory.
Der Mann nickte, aber er streifte Ellory mit einem bedauernden Blick. Dann trat er an den
Kontrollkasten heran und drückte einen Hebel herunter. Ellory atmete leichter. Gleich würde
der Aufzug kommen.
Doch statt dessen kreischte eine Alarmanlage los. Ellory sah, daß sich im Griff des Hebels ein
Knopf befand.
„Es ist zwecklos, Humrelly“, sagte der Techniker ruhig. „Die Alarmanlage ist mit einer
Schaltstation gekoppelt, so daß der Aufzug nicht mehr betätigt werden kann. Es haben schon
andere Diener zu fliehen versucht.“
Er deutete auf die Wachtposten, die von allen Seiten herbeigelaufen kamen. „Ergib dich“,
sagte er.
Hilfloser Zorn ergriff Ellory. Er hob die Waffe und feuerte. In seiner Nähe befand sich ein
Leitungsrohr. Vermutlich enthielt es Benzin. Ellory zielte auf dieses Rohr.
„Nicht! Ein furchtbarer Brand kann entstehen!“ rief der Techniker.
„Und du verbrennst mit mir, wenn du die Aufzugenergie nicht einschaltest.“
Er achtete nicht auf den Antarker, der von hinten auf ihn zutrat.
Ein harter Schlag traf ihn am Hinterkopf, und dann wurde ihm schwarz vor den Augen...
Als er zu sich kam, sah er in Ermaines violette Augen. Sein Kopf war mit Bandagen
umwickelt.
„Was hat dich zu dieser verrückten Eskapade getrieben?“ fragte sie halb spöttisch, halb
zärtlich.
Offenbar war er nicht lange bewußtlos gewesen. Das Mädchen trug nur ein dünnes
Nachthemd und einen leichten Morgenmantel.
„Du!“ Seine Stimme war bitter.
„Ich?“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Komm mit!“ Sie half ihm beim Aufstehen und
führte ihn zu einem kleinen Privatlift. Erst jetzt merkte er, daß er sich in ihren Wohnräumen
befand. Die Aufzugtür schloß sich, und die Kabine brachte sie nach oben.
Ellory blickte sich verwundert um, als der Lift anhielt und sie ausstiegen. Sie befanden sich in
einem Raum mit transparenter Decke. Ellory sah kristallklare Sterne. Der Raum befand sich
über der Metallkappe der Stadt.
„Ich ließ das Zimmer eigens für mich bauen“, erklärte sie. „Manchmal komme ich her und
betrachte die Sterne.“
Ellory stand reglos da. Er wußte, daß er Ermaines Schönheit nicht mehr lange widerstehen
konnte. „Und?“ fragte er herausfordernd. „Soll ich jetzt zu deinen Füßen dahinschmelzen?“
Sie warf den Kopf zurück. „Im Gegenteil. Ich hoffe, daß du dich anständig benimmst.“
„Weshalb sind wir hierhergekommen?“
„Damit du noch einmal die Sterne sehen kannst, bevor sie dich ins Gefängnis stecken.“ Ihre
Stimme klang leise.
„Sehr nett von dir. Ist Sharina fort?“
Ermaine nickte. „Das Schiff landet in Kürze. Du wirst weder sie noch mich wiedersehen.“
Ellory sah sie verblüfft an. „Bei unserer letzten Unterredung hast du mir noch einen anderen
Vorschlag gemacht. Gilt er nicht mehr?“
Wortlos schüttelte sie den Kopf. In zwei Schritten war er bei ihr und nahm sie in die Arme.
„Dann kann ich es endlich sagen. Ich liebe dich, Ermaine. Was jetzt auch geschieht, das bleibt
bestehen.“
Sie vergrub den Kopf an seiner Schulter und flüsterte: „Ich dachte seit jener ersten Begegnung
immer an dich. Damals in Thakal — das war kein Zufall. Ich beobachtete dich. Beinahe hätte
ich es unterlassen, dich dem Rat zu melden... Ich hoffte...“
Ellory hob ihren Kopf. „Du hofftest, daß ich Erfolg haben würde? Ermaine. du verstehst
mich? Verlasse Antarka mit mir! Wir haben draußen so viel Arbeit vor uns...“
Das Mädchen löste sich keuchend von ihm.
„Humrelly! Wie meinst du das? Ich hatte auf dich gehofft, so sehr gehofft, weil ich dich liebe.
Dann gab ich doch beim Rat meinen Bericht ab, aber nur, um dich zu retten. Ich wußte, daß
du hierher gehörst, zu uns. Wir werden Lillamra gemeinsam regieren...
„Ich verstehe“, sagte er dumpf. „Nein, Ermaine, es tut mir leid. Herrscher von Antarka? Das
ist nichts für mich.“
Das Mädchen drehte sich um. „Ich glaube, du gehörst zu den wenigen Menschen, die ihren
Entschluß niemals ändern...“
Niedergeschlagen ging sie zum Lift. Ellory zögerte.
„Es gibt keine Fluchtmöglichkeit von hier“, sagte sie, als sie seinen Blick bemerkte.
Ellory folgte ihr, als der Lift anhielt. Schweigend trennten sie sich. Und zum erstenmal schloß
sie die Tür hinter ihm ab.
Ellory fand erst spät Schlaf.
Am nächsten Abend wurde zu seiner Überraschung das Schloß geöffnet. Ermaine trat ein. Sie
hatte dunkle Ringe unter den Augen und lehnte sich an die Wand, als benötigte sie eine
Stütze. Zum erstenmal hatte sie die Haltung verloren.
„Humrelly!“ sagte sie mit zitternden Lippen. „Das Todesurteil!“
„Was?“
„Der Rat — verlangt deinen Tod!“ fuhr sie leise fort. „Die Episode im Ballsaal und dein
Fluchtversuch bewegen ihn dazu. Heute morgen wurde abgestimmt — neun gegen eine
Stimme.“
„Danke, Ermaine“, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln. „Die Stimme war sicher von dir.“
Sie lehnte immer noch an der Wand. „Humrelly, es gibt noch eine Chance. Heirate mich
sofort. Dem Herrscher von Lillamra kann keiner etwas antun.“ Sie sah sein Kopf schütteln.
„Humrelly, du mußt! Ich kann dich nicht sterben lassen...“
Als er immer noch den Kopf schüttelte, drehte sie sich müde um. „Komm!“ Er folgte ihr
verwundert. Wieder brachte sie ihn in den Raum über der Metallkappe der Stadt.
„Es gibt eine Tür nach draußen“, flüsterte sie. „In der Nähe wartet ein kleines Schiff. Ich
wußte, daß du dich weigern würdest. Der Pilot ist vertrauenswürdig. Er bringt dich zurück
nach Norak.“
Ellory stand wie erstarrt da. „Aber, du, Ermaine...“
„Ich habe alles geplant. Mein Privatlift wird in die Tiefe stürzen, sobald ich wieder in meinen
Räumen bin. Ein verstümmelter Toter wird darin liegen — ein junger Diener, der heute
morgen an einer unheilbaren Krankheit starb. Ich werde sagen, daß Humrelly wieder zu
fliehen versuchte, als er von seinem Todesurteil erfuhr.“
Ellory nahm ihre Hand. „Ermaine, du läßt mich gehen? Das muß bedeuten, daß du die
Wahrheit erkannt hast. Begleite mich! Das Leben in Antarka ist bedeutungslos. Komm mit in
die freie Welt. Gemeinsam können wir viel erreichen.“
Er sah den Glanz in ihren Augen. „Ermaine, du wirst kommen! Ich sehe es dir an.“
Das Mädchen zuckte zusammen. Traurig schüttelte sie den Kopf. „Immer noch der Träumer,
Humrelly!“ sagte sie leise. „Aber es kann nicht sein, so sehr ich mich danach sehne. Mein
Leben gehört zu Antarka.“
24. Zehn Stunden später hatte das kleine Schiff den Hudson erreicht. Es war Nacht. Ellory konnte nirgends die Umrisse der Stadt erkennen. Und dann erinnerte er sich — Norak war niederge brannt worden. Ellory bat den Piloten, im Tal der Krypta zu landen. Er stieg rasch aus, bedankte sich mit einem kurzen Nicken, und die Maschine startete wieder. Ellory ging langsam den schmalen Pfad entlang. Er vermied es, an Ermaine zu denken. In
seinem Innern war eine schmerzhafte Leere. „Immer noch der Träumer, Humrelly!“ hatte sie
zum Abschied gesagt.
Aber es durfte kein Traum bleiben. Er mußte den Stammesstaaten wieder zur Zivilisation
verhelfen! Diese Nacht blieb er in der Krypta und dachte lange nach, vor allem über das
Labor im ehemaligen New York und das Geheimnis des Leuchtwachses.
Im Morgengrauen brach er auf. Er traf Jon Darm und seine Leute beim Bau eines neuen
Hauses an. Die Arbeiten für die Errichtung der Stadt waren im vollen Gange. Zelte und
primitive Holzhütten boten den Leuten vorübergehend Schutz.
„Humrelly!“ Jon Darm starrte ihn wie ein Gespenst an. „Bist du es wirklich? Sharina! Mal
Radnor! Humrelly ist wieder da!“
Einen Augenblick später erschien Mal Radnor, gestützt von Sharina. Er ging an einer Krücke,
und sein Bein war bandagiert. Auch Sem Onger eilte herbei, so schnell ihn seine alten Füße
trugen.
„Humrelly! Ah, du kannst mir gleich sagen, weshalb mein Pflug zerbricht, sobald ich gegen
einen Stein stoße.“
Ellorys Lippen zitterten. Mit diesem herzlichen Empfang hatte er nicht gerechnet. Sharina sah
ihn ein wenig scheu an. „Du bist allein, Humrelly? Lady Ermaine hat dich nicht begleitet?“
Ellory schüttelte den Kopf und erklärte kurz, was geschehen war. „Ich gehe nie mehr nach
Antarka zurück“, schloß Ellory. „Unter der Oberfläche ist alles faulig.“
„Aber du hast die Frau deiner Wahl zurückgelassen“, sagte Sharina mitfühlend.
Ellory antwortete nicht.
„Ich möchte gern bei euch bleiben, wenn ich darf“, meinte er; schließlich. Er warf einen Blick
auf die geschwärzten Ruinen. „Erst jetzt sehe ich, welches Unheil ich euch gebracht habe.“
Mal Radnor legte ihm die Hand auf die Schulter. „Es war eine großartige Sache, Humrelly.
Und ich würde dir wieder folgen, wenn...“ Er unterbrach sich. „Nein, es hat keinen Zweck.
Die Autarker werden uns jetzt genau beobachten. Und unsere Nachbarstämme hassen uns,
weil wir ihnen Unglück gebracht haben. Die Jendra und Quoise bereiten den nächsten
Grenzkrieg vor.“
Alles zerfallen, dachte Ellory. Keine. Einheit mehr. Sie vergessen wirklich wie die Kinder.
Ermaine hatte recht.
Er streckte sich. „Ich habe andere Pläne. Mit deiner Erlaubnis, Jon Darm, möchte ich zu den
Ruinen gehen und weitere Experimente durchführen.“ Ein Gedanke durchzuckte ihn.
„Wurden die Aufzeichnungen des Labors bei dem Feuer vernichtet?“
„Nein.“ Sem Onger hob begütigend die Hand. „Ich ließ sie mit einem Wagen zu den Ruinen
bringen. Wann fangen wir an, Humrelly?“
Ellory drückte dem alten Gelehrten dankbar die Hand. „Unsere Arbeit kann jahrelang dauern,
Freund. Und ich weiß noch nicht, ob wir zum Ziel kommen. Aber ich möchte keinen anderen
als dich an meiner Seite sehen.“
„Keine Angst, mein Herz ist zwar schwach, aber ein paar Jahre wird es noch mitmachen.
Morgen früh bin ich bereit.“
„Wir schicken euch regelmäßig Vorräte“, versprach Jon Darm.
„Und wir besuchen euch, sobald das Bein geheilt ist und wir geheiratet haben“, rief Mal
Radnor.
Ellory lächelte, aber das Glück der jungen Leute verstärkte nur seinen eigenen Schmerz.
Im Ruinenlabor hatte sich kaum etwas verändert. Nein, das stimmte nicht. An einer Wand
gestapelt waren all die Dinge aus der Krypta. Gegenstände aus dem 20. Jahrhundert in einem
Labor des 30. Jahrhunderts. Würden sie ihm weiterhelfen?
25.
In den nächsten Tagen schmolz Ellory einen Teil seines Metallvorrats und goß ein Rohr.
Dann holte er ein paar Prismen aus dem Labor und baute ein Spektroskop. Als Okular diente
der Teil eines Feldstechers, den sie aus der Krypta gerettet hatten. Lachhaft primitiv — aber
vielleicht gelang es ihm, damit die Natur des Leuchtwachses zu erkennen.
Ellory führte den ersten Versuch in der dunkelsten Ecke des Labors durch. Es handelte sich
um einen Blitztest, bei dem das eigene Licht der Substanz verwendet wurde. Ellory zeichnete
ein paar Linien auf und versuchte sie anhand eines Physikbuches zu identifizieren.
„Silizium!“ rief er triumphierend. „Ein radioaktives Isotop von Silizium! Sem Onger, den
ersten Schritt haben wir geschafft.“
„Und jetzt stellst du mehr von diesem Leuchtwachs her?“
„Immer langsam“, erwiderte Ellory lachend. „Zuerst muß ich seine Eigenschaften bestimmen.
Um welche Art von Radioaktivität handelt es sich? Irgendwie wird der Prozeß durch
Photonen eingeleitet, doch welche Strahlen entwickeln sich?“
Im Laufe der nächsten Tage stellte Ellory mit Hilfe seiner primitiven Apparaturen fest, daß
der Klumpen weder Alphastrahlen noch Elektronen abgab. Es blieb nur noch eine
Möglichkeit: Gammastrahlen.
Er ließ ein Klümpchen des Wachses in eine Schale Wasser fallen. Eine halbe Minute später
kochte das Wasser sprudelnd. Kurz danach war es vollkommen verdampft. Das Klümpchen
Wachs leuchtete immer noch am Boden der Schale.
Gammastrahlung, deren Vibrationen kürzer als die von Röntgenstrahlung waren, brachte so
etwas nicht fertig.
Sem Onger murmelte: „Diese Hitze von einem winzigen Pünktchen! Wenn es wenigstens
brennendes Holz wäre...“
„Hitze!“ rief Ellory. Und dann verstand er. „Der Klumpen strahlt reines Infrarotlicht ab! So
etwas habe ich noch nie gehört. Keine Betastrahlen, keine Alphastrahlen, keine
Gammastrahlen — aber eine unglaublich hohe Wärmeabstrahlung!“
„Humrelly, das ist wunderbar!“ rief Sem Onger.
„Wirklich?“ Ellory war enttäuscht. Gewiß, man konnte ein paar Metalle damit schmelzen,
aber was nützte das, wenn keine Metalle mehr vorhanden waren? Irgend etwas entging ihm
noch. Der unbekannte Wissenschaftler hatte nicht umsonst so viele Schutzmaßnahmen
getroffen. Das Leuchtwachs mußte noch einen anderen Zweck haben.
„Sieh mal!“ Sem Onger strich die Bleifolie glatt, in die der Wachsklumpen eingehüllt war.
„Da sind Zeichen eingeritzt. Vielleicht handelt es sich um eine Beschreibung...“
Ellory beugte sich über die Folie. „Mein Gott, du hast recht!“ rief er. „Hier, setze dich hin und
übersetze alles. Die Symbole da schreibst du einfach nieder, wie du sie siehst. Das sind
mathematische Formeln.“ Ellorys Herz klopfte schneller.
Ein paar Stunden später las Sem Onger vor, was er übersetzt hatte.
„Ich habe meine Entdeckung nicht veröffentlicht, weil sie eine furchtbare Waffe sein kann —
ein Wärmestrahl, der das Menschenleben verbrennt. Vielleicht entdeckt jemand in der
Zukunft diese Zeilen, wenn die blutrünstigen Kriege vorbei sind. Das radioaktive Silizium,
das ich geschaffen habe, gibt seine Masse als infrarote Strahlung ab. Wenn man Wasser in
einem gleichmäßigen Strahl über dieses radioaktive Silizium leitet, verdampft es sofort. Es
besteht also die Möglichkeit, auf diese Weise aus dem Meerwasser Metallsalze zu gewinnen.“
Das genügte Ellory. Natürlich! Die großen Meere der Erde waren eine unermeßliche Quelle
für Metalle. Bisher hatte man das Problem nicht gelöst, weil es keine Möglichkeit gegeben
hatte, Wasser in großen Mengen zu verdampfen. Aber das Leuchtwachs war die Lösung:
Er erklärte, Sem Onger seine Pläne. Der alte Gelehrte hörte begeistert zu, doch dann machte
er eine bedenkliche Miene. „Schön und gut, Humrelly, aber zuerst müssen wir mehr von
diesem Leuchtwachs herstellen. Kannst du das?“
„Ja, aber ich brauche Radium dazu.“
Entweder das oder ein Zyklotron. Ellory hatte sich die Formeln des verstorbenen
Wissenschaftlers genau angesehen. Das Wachs konnte aus gewöhnlichem Siliziumdioxyd
gewonnen werden, also aus Sand. Aber nur, wenn man diesen Sand in einem sorgfältig be
schriebenen Prozeß mit Radium bombardierte.
„Radium?“ wiederholte Sem Onger. „Ich habe das Wort schon einmal gehört — in einer
Legende.“
„Legende?“ Ellorys Mut sank. Weshalb gab es keine Aufzeichnungen mehr über die
Vergangenheit? Weshalb wurden nirgends konkrete Beschreibungen gefunden? Er konnte es
nicht verstehen.
„Einen Augenblick“, murmelte Sem Onger. „Ich glaube, die Antarker benutzen Radium.“
Die Antarker! In Antarka gab es Radium! Sollte er vielleicht hingehen und darum bitten?
Es war ein Teufelskreis, dem er einfach nicht entrinnen konnte.
„Die einzige Chance besteht darin, daß wir hier in den Ruinen etwas Radium finden“, sagte er
vor sich hin. „Vielleicht entdecken wir die Ruinen eines Krankenhauses oder etwas Ähn
liches.“
„Das kann Generationen dauern“, entgegnete Sem Onger. „Und wenn du stirbst, bevor du es
gefunden hast?“
Die Worte hämmerten auf Ellory ein.
Wenn er jetzt starb, war alles verloren. Es ging nicht nur darum, das Radium zu finden.
Maschinen mußten gebaut werden, Maschinen zur Gewinnung der Metallsalze und zur
Reduktion der Salze, Dampfmaschinen, Motoren, Generatoren — alles Dinge des 20.
Jahrhunderts.
Ellory stöhnte hilflos. Und zu seiner Überraschung kam aus der Nähe ein zorniger
Antwortschrei.
26. Mal Radnor humpelte staubüberdeckt auf sie zu. Sein Gesicht war verzerrt.
Der nächste Grenzkrieg, dachte Ellory müde. Aber er sollte sich täuschen.
„Humrelly — flieh!“ keuchte Mal Radnor. „Sie sind hinter dir her — wollen dich töten!“
„Die Antarker?“ fragte Ellory leise.
„Nein, nicht die Antarker! Die Quoise und die Jendra und andere Nachbarstämme! Irgendwie
kam ihnen zu Ohren, daß du wieder im Land bist. Ein Mob hat sich gebildet. Sie drangen in
die Hauptstadt ein und forderten dein Leben. Sie nennen dich einen falschen Propheten. Sie
geben dir alle Schuld an dem Leid, das sie erlitten haben. Da es sich vor allem um den Ab
schaum des Volkes handelt, sind sie sehr gefährlich. Sie lassen nicht mit sich reden. Obwohl
wir sie abzuhalten versuchen, kommen sie den Ruinen immer näher.“ Sein Blick wurde
schmerzerfüllt. „Sogar einige Männer aus unserem Stamm haben sich angeschlossen,
Humrelly!“
Sem Ongers Stimme zitterte. „Er muß gerettet werden, Mal Radnor. Wenn er stirbt, geht eine
ganze Welt mit ihm unter. Die Wälder - über den Fluß. Wir werden uns dort verstecken...“
„Nein!“ Mal Radnor schüttelte den Kopf. „Sie würden ihn tagelang jagen. Und ein Schiff
nützt auch nichts. Die Segelschiffe der Quoise sind schneller als die unsrigen.“
Ellory übernahm selbst die Führung. „Ebensogut können wir uns in den Ruinen verstecken.
Wenn es uns gelingt; einen unterirdischen Tunnel zu entdecken...“ Er dachte an die U-Bahn.
Bestimmt waren nicht alle Strecken verschüttet worden.
Und dann erstarrten die drei Männer. Vom Norden her näherte sich eine Staubwolke.
„Weg!“ keuchte Mal Radnor. „Wenn sie uns erst einmal gesehen haben...“
Sie liefen tiefer in das Ruinenfeld hinein. Überall suchten sie nach einem sicheren Versteck.
Ellory wußte, daß es etwas Außergewöhnliches sein mußte, denn die Meute würde tagelang die Stadt durchkämmen. Ein U-Bahn-Tunnel, halb eingestürzt! Er sprang hinein. Zehn Meter weiter stand er vor einem Schuttberg. „Hinaus. Es ist zwecklos!“ Sie hatten kostbare Zeit Verloren. Wie kleine Ameisen schwärmten die Verfolger am Horizont aus. Ihre Schreie erinnerten an das Kriegsgeheul der Indianer. Immer wieder betraten sie Eingänge, Höhlen — und immer wieder mußten sie sich zurückziehen. Ellory hatte das Gefühl, daß sein Geschick besiegelt war. Sie waren etwa eine Meile nach Süden vorgedrungen und befanden sich nun am schmaleren Ende von Manhattan. Plötzlich stolperte Sem Onger und griff sich an die Brust. Sein Herz war eben doch schon zu schwach für die wilde Jagd. Ellory kniete neben ihm nieder. „Ich bin eine Belastung für euch!“ stieß der alte Gelehrte hervor. „Ich bin alt, nutzlos. Laßt mich hier. Mir tun sie nichts. Eure jungen Beine werden euch weiterhelfen...“ Verzweifelt stützten Mal Radnor und Ellory den Alten und zogen ihn weiter. Sie erreichten einen Keller, der ein Stück in die Tiefe führte. Hier betteten sie Sem Onger auf den Boden. „Nicht atmen, wenn sie kommen“, warnte Ellory. „Das ist unsere letzte Chance.“ Er holte die Bleifolie aus der Tasche, die er vor der Flucht noch an sich gerissen hatte. Jetzt drückte er sie Sem Onger in die Hand. -„Bewahre sie gut auf“, flüsterte er. „Gib sie an die nächsten Generationen weiter. Das ist wichtiger als unser Leben.“ Er stand auf. „Komm, Mal Radnor. Wir führen sie weg von hier.“ Mal Radnor sprang auf, aber der alte Seher umklammerte Ellorys Hand. „Höre zu, Humrelly, ich habe ein sonderbares Bild vor Augen. Ich sehe dich und Mal Radnor in einem Tunnel, der zu anderen Gewölben in die Tiefe führt. Ihr seid dort völlig sicher vor euren Verfolgern. Hörst du mich...“ Seine Augen wurden glasig. Ellory sah Mal Radnor entsetzt an. Sprach der Alte im Delirium? „Mein Verstand ist scharf!“ sagte der Gelehrte ärgerlich. „Und das Bild ist keine Halluzination, sondern eine Erinnerung. Ich kenne diesen Teil der Ruinen genau. In meiner Jugend erforschte ich den Tunnel und kam in die Höhlen darunter. Seltsame Dinge liegen dort. Ich wollte sie untersuchen, aber am nächsten Tag fand ich den alten Platz nicht wieder. Und nun habe ich den Eingang gesehen.“ Er drückte Ellory die Hand. „Du mußt mir glauben. Ich schwöre dir, es bedeutet Sicherheit!“ Und dann tat er etwas Merkwürdiges. Er nahm Erde auf und rieb sie sich ins Haar, bis es schmutzigbraun war. Dann drückte er Ellory die Bleifolie in die Hand und sprang auf wie ein Junger. Bevor sie ihn zurückhalten konnten, war er ins Freie gelaufen und schrie aus vollen Lungen. Die Verfolger entdeckten ihn und stürmten triumphierend hinter ihm her. Einen Moment lang stand Ellory wie erstarrt da. Aber nicht lange. Sem Ongers Opfer sollte nicht umsonst sein. Die beiden Männer liefen gebückt zu dem Tunnel, von dem der Alte gesprochen hatte. Es handelte sich um den Eingang zu einer U-Bahnstation. Der dunkle Korridor führte weit in die Ruinen hinein. Hoffnung stieg in Ellory auf. Seitlich zweigte wieder ein Gang ab, und er führte schräg in die Tiefe. Hundert Meter danach verbreiterte sich der Gang zu einem geräumigen Korridor. Er war dunkel und roch moderig. Ihre Schritte hallten wider, als führte der Gang in endlose Tiefen. Mal Radnor holte eine Kerze aus der Tasche und zündete sie an. Ellory betrachtete seine Umgebung. Der Korridor bestand aus Betonwänden. In der Mitte befand sich ein schmaler Schienenstrang. Das Eisen war zu rotem Staub zerfallen. In gleichmäßigen Abständen unterbrachen Ausgänge die Betonwände. Diese Ausgänge standen in Verbindung zu halbverfallenen Treppen, von denen nur noch Stahlgerippe übrig waren. Ellory runzelte die Stirn. Was stellte dieses unterirdische Gewölbe dar?
Ein Stück weiter vorn entdeckten sie Nischen in den Wänden, die früher einmal mit
Metalltüren verschlossen gewesen waren. In der Decke befanden sich Löcher — für
Ventilatoren?
Alles deutete darauf hin, daß hier, unter der Erde, eine Zeitlang Menschen gelebt hatten.
27. „Mal Radnor?“ fragte Ellory. „Was weißt du von der Geschichte? Von New York vor allem?
Gab es Kriege, bevor die Stadt vernichtet wurde?“
Mal Radnor zuckte mit den Schultern. „Überall in der Welt versuchte man, unterirdische
Schutzbauten anzulegen. Man erwartete einen Angriff von jenseits des Meeres. Und er kam.
New York widerstand lange, aber schließlich fiel es doch. Mehr weiß ich auch nicht.“
Es genügte Ellory. Hier also hatte sich der Rest der Menschheit verkrochen, um das Ende
abzuwarten!
„Niemand folgt uns“, flüsterte Mal Radnor. „Wir können hier tagelang bleiben, bis der Mob
sich wieder verlaufen hat.“
Ellory nickte und ging weiter. Er wollte möglichst viel von diesem Labyrinth sehen.
Die Luft wurde allmählich trockener. Ellory schätzte, daß sie sich vom Fluß entfernten. Die
Metallschienen und -treppen waren besser erhalten. Man konnte zum Teil sogar
Aufzugskabinen erkennen.
Und dann sah Ellory ein Maschinengewehr, das nur mit einer dünnen Rostschicht bedeckt
war. Die Luft war sehr trocken und enthielt wenig Sauerstoff. Die beiden Männer atmeten
schwer.
„Gehen wir zurück“, flüsterte Mal Radnor. „Die Luft ist schlecht.“ Er zog Ellory am Ärmel,
aber der machte sich frei.
Er starrte das Maschinengewehr und den Ladestreifen an, der in einer Kaste verschwand. Mit
zitternden Händen zog Ellory das Gewehr zu sich heran. Es bewegte sich, obwohl die Räder
rostbedeckt waren.
Ellory richtete den Lauf parallel zum Korridor aus und legte den Finger aul den Abzug. Einen
Moment lang lächelte er. Die Munition war vermutlich längst unbrauchbar geworden.
Rat-tat-tat-tat...
Kugeln schlugen gegen Beton. Ellory ließ sofort den Abzug los.
„Es funktioniert!“ rief er Mal Radnor über das dröhnende Echo hinweg zu „Hast du gesehen
— nach all den Jahren funktioniert es noch! Entweder haben die Leute des 30. Jahrhunderts
hervorragende Waffen hergestellt, oder ich bin ein Glückspilz.“
Mal Radnor trat zitternd aus einer Nische. „Was war das für ein entsetzlicher Zauber?“
„Das werden wir dem Mob gleich zeigen. Los, Mal Radnor — faß mit an! Nimm die
Schachtel mit.“
Eine halbe Stunde später waren sie wieder an der Oberfläche. Sie keuchten unter ihrer Last.
Überall in den Ruinen wimmelte es von Verfolgern. Jemand sah in ihre Richtung und stieß
einen Schrei aus. Der Mob kam näher.
Ellory setzte das Maschinengewehr an. Das Rattern klang durch den sonnigen Nachmittag.
Entsetzt flohen die Männer.
Mal Radnor hielt sich die Ohren zu und stöhnte.
„Das war für Sem Ongers Tod!“ rief Ellory. „Und für die sinnlose Verfolgungsjagd! Weißt du
auch, was wir gefunden haben, Mal Radnor? Ein riesiges, unterirdisches Arsenal! Damit sind
unsere Sorgen zu Ende. Warte, ich hole dir auch eine Waffe.“
Als er wieder auftauchte, hatte sich die Szene verändert. Jon Darm war mit seinen Truppen zu
den Ruinen geeilt, um die Eindringlinge zu vertreiben.
Sharina kümmerte sich um die Verwundeten. Mal Radnor kniete neben der reglosen Gestalt.
Es war Sem Onger, und er lebte.
Ellory sah jedoch, daß der alte Gelehrte die Augen bald für immer schließen würde.
„Humrelly!“ Die Stimme war schwach und spröde. „Ich habe auf dich gewartet, vorher
konnte ich nicht gehen. Versprich mir, daß du die neue Welt schaffen wirst!“
„Ich verspreche es“, murmelte. Ellory. „Ich habe Radium gefunden.“ (Oder zumindest das
Mittel, um es zu gewinnen. Aber das sagte er nicht.)
Sem Onger bewegte mühsam die Lippen. „Dann wird unser armes Volk endlich aufsteigen.
Du wirst uns Maschinen und Metall geben und all die anderen Dinge, die man in einer
Zivilisation braucht. Vermeidet die Fehler der Vergangenheit. Die Menschheit wird sich
vereinigen. Ich kann es genau sehen, Humrelly, es ist nicht nur ein Traum. Ich sehe...“
Was er auch in jenem Grenzland zwischen Leben und Tod sehen mochte, es ließ sein Gesicht
glücklich leuchten.
28. Jon Darm unterbrach schließlich das Schweigen. „Was hatte er zuletzt für einen seltsamen
Traum?“
„Es war kein Traum.“ Ellory erhob sich. „Hört mir alle zu. Ich werde das Versprechen halten,
das ich Sem Onger gegeben habe.“ Die Männer sahen ihn verwirrt an. Schon einmal hatte der
Mann aus der Vergangenheit so zu ihnen gesprochen. Und er hatte Unheil gebracht.
»Diesmal besitzen wir Waffen“, fuhr Ellory fort. „In den Arsenalen da unten liegen Hunderte
von Maschinengewehren, Tausende von normalen Gewehren.
Ich habe Munition in Hülle und Fülle gesehen.“
„Ist das wahr, Humrelly?“ fragte Jon Darm skeptisch.
„Ich habe sie gesehen. Und es war nur ein kleiner Teil der unterirdischen Höhlen. Überall
liegen die Waffen, in allen Ecken. In den tieferen Korridoren spürt man noch einen Hauch
von Giftgas. Vermutlich wurde das unterirdische Lager einmal mit diesem Gas ausgeräuchert,
und niemand wagte sich mehr hinein. Die Waffen warten nur auf uns.“
Er packte Mal Radnors Schulter. „Wir werden ein Schützenkorps ausbilden. Wir werden von
einem Sieg zum anderen jagen, bis wir wieder vor Antarka stehen. Und diesmal ist uns der
Erfolg sicher.“
Er sprudelte die Worte hervor, ohne seinen Zuhörern die Möglichkeit zum Einspruch zu
geben.
„Und dann schicken wir eine Segelflotte über das Meer, nach Europa. Auch dort muß es
unterirdische Städte geben. Wir werden noch mehr Waffen finden. Befreiung von Antarka!“
Jon Darm richtete sich hoch auf. „Ich verbiete dir, diesen Satz noch einmal zu gebrauchen,
Humrelly! Wenn du nicht vernünftig wirst, muß ich dich einsperren.“
Mal Radnor trat an Ellorys Seite. „Ich mache mit, Humrelly!“
„Dann wirst auch du eingesperrt. Mal Radnor!“ donnerte der Anführer. „Und ich versage dir
meine Tochter.“
Sharina wollte trotzig auf die beiden zugehen, aber Jon Darm hielt sie mit starker Hand
zurück.
„Die beiden Tollköpfe sind wahnsinnig geworden. Wollen sie noch mehr Leid auf uns
herabbringen?“
Ellory stand hilflos da. Er konnte Jon Darm verstehen. Der Häuptling hatte die Macht der
Waffen noch nicht gesehen. Wenn er ihm nur beweisen könnte...
Ein dumpfes Dröhnen ertönte, Es war wie eine Antwort auf sein Gebet. Das Patrouillenschiff,
das seit der Revolte ständig in der Nähe der Noraks war, kreiste über den Ruinen. Offenbar
waren die Insassen mißtrauisch geworden.
Ellory rannte an das Maschinengewehr. Er kurbelte den Lauf hoch und betätigte den Abzug.
Und da kam ihm ein furchtbarer Gedanke. Wenn nun Ermaine an Bord war?
Zu spät! Der Flügel der Maschine hatte Feuer gefangen. Das Schiff geriet ins Trudeln. Es
gelang dem Piloten, das Flugzeug abzufangen und auf einem freien Platz zu landen. Als die
sechs Männer hastig ins Freie kletterten, brannte bereits der Rumpf.
„Noch jemand im Innern?“ rief Ellory.
„Nein, nur wir sechs“, erwiderte einer der Antarker.
„Gut.“ Ellory winkte Jon Darm. „Deine Gefangenen.“
29. Die folgenden acht Monate vergingen Ellory wie im Traum. Es waren Monate der radikalen Veränderung. Wieder einmal befand er sich auf Eroberungszug. Sein Ziel war paradox: Er wollte mit Hilfe des Krieges der ganzen Menschheit Frieden und Zivilisation bringen. Dieses Mal planten sie sorgfältiger. Sie konnten es sich nicht leisten, durch lange Märsche quer durch das Land aufzufallen. So unterwarfen sie die Nachbarstämme auf dem Seeweg. Ellory hatte fünftausend Mann an den Flinten und Maschinengewehren ausgebildet. Sie setzte er nun ein. In einem knappen Monat waren die Atlantikstaaten wieder verbündet. Man zog ihre Schiffe ein, belud sie mit Vorräten und reihte sie in die Flotte ein. Vor dem Aufbruch der großen Flotte kreiste ein Flugzeug der Antarker über dem Anlegeplatz. Ein halbes Dutzend Maschinengewehre donnerte los, und das Flugzeug stürzte brennend ins Meer. Die Antarker durften von dem bevorstehenden Angriff nichts ahnen. Es war ein grausames, unerbittliches Spiel. Endlich setzte sich die Flotte in Bewegung. Ellory besaß etwa zweitausend Schiffe und beinahe eine halbe Million Krieger. Ungefähr zehntausend waren mit Waffen aus dem unterirdischen Arsenal ausgestattet. Er hoffte, ebenso viele oder noch mehr Waffen aus euro päischen Bunkern zu erbeuten. Die lange Fahrt über das Meer, während der es kaum etwas zu tun gab, zerrte an den Nerven. Hin und wieder kamen Stürme auf, dann wieder herrschte völlige Flaute. Zwei Monate später legten sie an der belgischen Küste an. Die Stämme, die ihre Krieger drohend aufmarschieren ließen, wurden durch Warnschüsse in die Flucht geschlagen. „Wir besetzen sofort die Befestigungen meiner Zeit“, erklärte Ellory. Er zitterte vor Ungeduld. „Dann zwingen wir die Küstenstämme, uns ihre Schiffe zur Verfügung zu stellen. Wahrscheinlich können wir auch die Männer finden Kampf gewinnen. Alles muß sehr schnell geschehen. In drei Monaten werden die Antarker wieder ihren Tribut holen. Die Stämme werden ihn abliefern, um kein Mißtrauen zu erregen Die Nachricht von unserem Angriff aui Antarka wird sie so spät erreichen, daß sie keine Verteidigungsmaßnahmen mehr ergreifen können.“ Mal Radnor nickte. In diesem Augenblick glitt eine Maschine der Antarker über ihnen hinweg. Ellory sprang selbst an ein Maschinengewehr und richtete den Lauf auf das Flugzeug. Es wurde getroffen, trudelte und stürzte ab. Ellory rührte sich nicht von der Stelle, bis ihm ein Soldat den Bericht brachte, daß die fünf Insassen — alles Männer — tot waren. Ellory wagte wieder freier zu atmen. „Du leidest sehr, Humrelly“, sagte Mal Radnor leise. „Du liebst Ermaine mehr, als du selbst ahnst.“ „Aber nicht mehr als die Freiheit und das neue Leben“, erwiderte Ellory ruhig. Die Waffen, die sie in den unterirdischen Lagern vorfanden, reichten aus, um Zehntausende
von Soldaten auszurüsten. Sie entdeckten auch ein paar Dutzend schwere Bordkanonen, die zu den Schiffen geschleppt und aufmontiert wurden. Wieder einmal war Ellory Herr der Welt. Die Stämme ergaben sich freiwillig und lieferten ihm alle Vorräte, die er brauchte. Majestätisch segelte die gewaltige Armada aufs offene Meer hinaus und schwenkte nach Süden, auf die Antarktis zu. Drei Monate später kamen die düsteren Ufer von Antarka in Sicht. Die lange, monotone Reise hatte die Moral der Männer untergraben. In dunklen Nächten hatten sich etwa hundert Schiffe davongemacht. Als das mächtige Antarka nun vor ihnen lag, zögerten auch die Tapfersten. Die instinktive Furcht vor dem Erbfeind wurde wieder wach. Und dann kreisten drei Flugzeuge über der Flotte. Ellory feuerte seine Leute an und trat selbst an ein Maschinengewehr. Zwei Flugzeuge versanken brennend im Meer, das dritte konnte entkommen. Jetzt war das Geheimnis verraten, aber Ellory machte es nichts mehr aus. Die Männer auf den Schiffen jubelten. Sie sahen, daß der Feind nicht unverwundbar war. Aber der erste Angriff kam von den Antarkern. Ein Dutzend große Flugzeuge warf Feuerkugeln ab. Einige der Segelschiffe begannen zu brennen, aber von den Angreiferflugzeugen blieb kein einziges übrig. Hoch in den Wolken befand sich ein Beobachtungsflugzeug der Antarker. Mit Raketenantrieb raste es zurück und meldete, daß die Stammesstaaten eine neue Langstreckenwaffe entwickelt hatten. Bevor die Flotte vor Anker gehen konnte, fand ein zweiter Angriff statt. Fünfzig Flugzeuge der Antarker jagten über die Schiffe hinweg, so rasch, dass die Maschinengewehre nicht ordentlich angelegt werden konnten. Aber auch die Flugzeuge gaben kein gezieltes Feuer ab. So heimsten beide Seiten ein paar Zufallstreffer ein. Beim nächsten Mal fand der Angriff langsamer statt, zwanzig Antarker-Maschinen stürzten ab. Ellory verlor dreißig Schiffe. Zum Glück konnten sich die meisten Männer in die Boote retten. „Los, versucht es noch einmal!“ rief Mal Radnor an Deck des Flaggschiffes. „Das ist gar nicht so leicht, was? Aufs Städteverbrennen versteht ihr euch besser. Los, noch einmal!“ Und die Flugzeuge schwenkten herum und griffen tatsächlich noch einmal an. Ellory empfand beinahe Mitleid mit ihnen. Sie erkannten nicht, daß die Waffen der Gegner ihren eigenen weit überlegen waren. Der Blitzkrieg dauerte ganze zehn Tage. Nach zehn Tagen marschierte eine Armee auf Lillamra zu. Ellory hatte die Stadt ausgewählt, da er sie am besten kannte. Außerdem war es Ermaines Stadt. Er durfte nicht weich werden und Lillamra aus dem Spiel lassen. Das hatte er sich geschworen.
30. Antarka war gebrochen, das wußte Ellory. Die Soldaten seiner Armee wußten es auch. Sie riefen immer wieder: „Befreiung von Antarka!“ Es schneite und war bitterkalt. Antarka hatte versucht, Widerstand zu bieten. Aber die blutlosen, gelangweilten jungen Herren, die seit fast tausend Jahren nichts außer dem Müßiggang kannten, hatten kläglich versagt. Nun warteten die Männer vor der Metallkappe der Stadt. „Die Belagerung ist ihre letzte Hoffnung“, sagte Mal Radnor. „Ihre Lebensmittelvorräte reichen neun Monate.“ Er schüttelte den Kopf. „Vielleicht können sie in dieser Zeit eine neue Waffe bauen...“ „Wir geben ihnen keine Gelegenheit dazu“, erwiderte Ellory rasch. „Wir stürmen Lillamra.“
„Aber die Metallkappe...“
Ellory deutete nur wortlos auf die Kanonen, die sie von den Schiffen abmontiert und auf
Karren hierhergebracht hatten.
„Sind sie stark genug?“ fragte Mal Radnor zweifelnd.
„Warte ab!“
Eine Salve nach der anderen jagte gegen die Metallkappe. Es handelte sich nicht um
Panzermetall, sondern nur um eine dünne Verkleidung.
Kleine schwarze Löcher zeigten sich da, wo die Geschosse eingeschlagen hatten.
Lillamra lag offen vor ihnen.
Ellorys Leute stürmten die Stadt. Nein, das stimmte nicht. Sie drangen bis zum ersten
Stockwerk vor.
Dort sahen sie sich verblüfft und beinahe verzagt um. Antarker starrten die Soldaten an, und
die Soldaten wichen scheu den Blicken ihrer ehemaligen Beherrscher aus.
Und dann, ganz plötzlich, hob Mal Radnor beide Arme und stieß einen Freudenschrei aus. Die
Männer folgten seinem Beispiel. Ein donnernder Ruf ging durch die Korridore von Lillamra.
„Befreiung von Antarka!“
Der Krieg war vorbei.
Endlich sprach Ellory. „Antarka ist gefallen. Nie wieder werden wir Tribut zahlen. Aber ich
bitte euch, nehmt Abstand von sinnlosen Rachehandlungen. Männer der Vereinigten Erde,
besetzt die Stadt möglichst gewaltlos. Zerstört nichts. Laßt die Antarker in Ruhe. In der neuen
Welt werden sie für uns und mit uns arbeiten. Ich, Humrelly, schwöre es!“
Unter Mal Radnors Führung begann die Besetzung der Stadt. Einige der Männer konnten ihre
Siegesfreude nicht ganz unterdrücken, aber sie wurden von den anderen in Zaum gehalten.
Und dann kam der Augenblick, nach dem Ellory sich gesehnt hatte und den er doch so
fürchtete.
Ermaine, Herrscherin von Lillamra kam auf ihn zu. Hoheitsvoll aufgerichtet blieb sie stehen.
Ellory starrte sie an. Ihre Schönheit überstrahlte alles. Am liebsten wäre er wie ein Schuljunge
weggelaufen. Aber dann kam ihm zum Bewußtsein, daß unzählige Augenpaare ihn
beobachteten. Hatten seine Soldaten bemerkt, daß ihm die Knie zitterten?
Er holte tief Atem und sagte tonlos:
„Lady Ermaine von Lillamra, ich übernehme Ihre Stadt im Namen der Vereinigten Erde.
Ihrem Volk soll nichts geschehen, dafür verbürge ich mich. Sie werden als Bürger der Ver
einigten Erde ihren Platz bekommen.“
Sie sah ihn wortlos an. Er suchte in ihren Augen nach einem Zeichen, nach Verständnis. Aber
es hatte keinen Sinn, jetzt an diese Dinge zu denken. Schließlich sprach er nicht für sich,
sondern für ein ganzes Volk.
„Zuallererst brauche ich sämtliches Radium, das in der Stadt existiert“, fuhr er tonlos fort. Er
sah ihre fragend hochgezogenen Augenbrauen. „Ich besitze die Möglichkeit, mit Hilfe von
Radium unbegrenzt Metallvorräte zu gewinnen. Und Energie. Metalle und Energie bedeuten
Zivilisation — für die ganze Welt.“
Jetzt leuchtete Spott in ihren Augen auf. Obwohl sie kein Wort sagte, glaubte Ellory zu hören:
„Immer noch der Träumer, Humrelly?“
Seine Stimme wurde leidenschaftlich. „Ermaine, höre mir zu! Ich kam nicht her, um den
Glanz der Eroberung zu genießen. Ich wollte nicht nur die Tyrannei von Antarka brechen.
Mein Ziel ist, eine höhere Zivilisation zu schaffen.
Weißt du, was ich von Antarka brauche? Techniker, Ingenieure, Wissenschaftler! Wenn ich
allein bleibe, dauert es eine Ewigkeit, bis ich den neuen Prozeß zur Metallgewinnung einleiten
kann. Deshalb kam ich her — ich brauche Hilfe!“
Die Antarker und ihre Besieger hörten verwundert zu. Ermaine stand immer noch
ausdruckslos vor Ellory.
Verstehst du nicht, Ermaine? Einmal konntest du mein Ziel fast erkennen, die Stammesstaaten
müssen vor ihrer Rückständigkeit gerettet werden - und Antarka vor der Dekadenz. Wir
können aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und die wahre Zivilisation aufbauen. Nenne
es eine Ideologie oder einen Traum oder sonst etwas, aber es ist ein Ziel, für das es sich zu
kämpfen lohnt...“
Ellory unterbrach sich. Er hatte alles gesagt, aber es genügte offenbar nicht. Worte und
Träume, sonst nichts. Weshalb sollte er weitermachen? Weder die Antarker noch die
Stammesangehörigen schienen ihn zu verstehen. Sollten sie weiterhin ihre kleinen Streitereien
austragen...
„Immer noch der Träumer, Humrelly!“ Diesmal hatte Ermaine es wirklich gesagt. Aber
ihre Stimme klang seltsam bewegt und weich.
Ellory sah, daß Tränen in ihren Augen standen. Er trat rasch auf sie zu.
Und dann lag sie schluchzend in seinen Armen.
„Ich wünschte mir so sehr, daß du zurückkommen würdest, Humrelly. Und ich wußte, daß du
es tun würdest. Ich haßte Antarka, nachdem du mich verlassen hattest. Beinahe wäre ich
fortgelaufen — aber der dumme Stolz hielt mich zurück. Ich wußte, daß du recht hattest.
Jeder Gegenstand hier schrie es mir entgegen.“
Ungläubig sah er sie an.
Sie löste sich von ihm und wandte sich mit stolz erhobenem Kopf ihrem Volk zu.
„Ich gehe mit Humrelly hinaus in die neue Welt“, sagte sie laut.
ENDE