Oskar Niedermayer (Hrsg.) Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009
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Die Parteien nach der ...
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Oskar Niedermayer (Hrsg.) Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009
Oskar Niedermayer (Hrsg.)
Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Schindler | Verena Metzger VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17935-3
Inhalt
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Inhalt
Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009 Oskar Niedermayer Regierungswechsel statt Machtverlust – die CDU nach der Bundestagswahl 2009 Udo Zolleis und Josef Schmid Erholung in der Opposition? Die SPD nach der Bundestagswahl 2009 Ulrich von Alemann und Tim Spier Auf dem Weg zu einer normalen Partei? Die CSU nach der Bundestagswahl 2009 Michael Weigl Als Phönix zurück in die Asche? Die FDP nach der Bundestagswahl 2009 Hans Vorländer Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur „Volkspartei“? Eine Analyse der Entwicklung der Grünen seit der Bundestagswahl 2005 Lothar Probst „Quo vadis? Wie die LINKE versucht, sich als Partei und für sich eine Position im Parteiensystem zu finden.“ Interne Konsolidierungsprozesse und Orientierungssuche im Fünf-Parteien-System Gero Neugebauer
7
37
57
79
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131
157
Das Abschneiden der kleinen Parteien bei der Bundestagswahl 2009 und ihre Perspektiven Eckhard Jesse
179
Absturz der Volksparteien. Eine Analyse der loyalen und ehemaligen Wählerschaft von CDU und SPD im Vergleich Manuela S. Kulick
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Volksparteien ohne Volk: Der Niedergang von Union und SPD auf dem Wählermarkt Peter Matuschek und Manfred Güllner Wer entscheidet unter welchen Bedingungen über die Nominierung von Kandidaten? Die innerparteilichen Selektionsprozesse zur Aufstellung in den Wahlkreisen Marion Reiser
Inhalt
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Selbstreflexivität, Sachlichkeit, Entpolitisierung. Strategien der Bundestagswahlkämpfe 1998 – 2009 Yvonne Kuhn
261
Parteienwettbewerb, Regierungsbildung und Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2009 Marc Debus
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Im Schatten der Großen Koalition? Bundespolitik und Landtagswahlen unter Merkel I und Merkel II Florian Grotz und Silvia Bolgherini
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Nach der Wahl ist vor der Wahl? Themenschwerpunkte und Verständlichkeit der Parteien vor und nach der Bundestagswahl 2009 Jan Kercher und Frank Brettschneider
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Kurzbiographien der Autoren
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Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009
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Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009 Oskar Niedermayer
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Einleitung
Das bundesrepublikanische Parteiensystem hat mit der Bundestagswahl 2009 erstmals seit seinem Bestehen einen Typwechsel vollzogen: Aus einem System mit Zweiparteiendominanz wurde ein pluralistisches System. Im Folgenden wird zunächst die zugrundeliegende Typologie von Parteiensystemen erläutert, danach wird analysiert, warum es zu diesem Typwechsel kam, und schließlich wird die Entwicklung des Parteiensystems nach der Bundestagswahl in den Blick genommen.
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Typen von Parteiensystemen
Unter einem Parteiensystem versteht man „das durch die Anzahl und die Größenverhältnisse der Parteien sowie den Grad der Regionalisierung ihres Wettbewerbs strukturierte und durch die ideologischen Distanzen und prinzipiellen Koalitionsoptionen zwischen den Parteien inhaltlich bestimmte Muster der Parteienkoexistenz auf der elektoralen und parlamentarischen Ebene“ (Niedermayer 2007: 118). Die Definition verweist darauf, dass Parteiensysteme durch eine Reihe von relationalen, auf die Koexistenz von mehreren Parteien bezogenen Eigenschaften struktureller und inhaltlicher Art charakterisiert werden. Anhand dieser Systemeigenschaften lässt sich die Vielzahl der existierenden Parteiensysteme in Gruppen einteilen. Zu finden sind in der Literatur zum einen Klassifikationen, d.h. die Einteilung von Parteiensystemen in sich gegenseitig ausschließende Klassen mit Hilfe einer einzigen Systemeigenschaft, und zum anderen Typologien, die mehrere Eigenschaften kombinieren. Die folgende Typologie (vgl. Niedermayer 2010a) kombiniert die Struktureigenschaften auf der parlamentarischen Ebene, d.h. die Parteiensysteme werden nach ihrer Wettbewerbsstruktur im Parlament typologisiert. O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Oskar Niedermayer
Unterschieden werden Parteiensysteme mit einer prädominanten Partei, Parteiensysteme mit Zweiparteiendominanz1, pluralistische Parteiensysteme und hoch fragmentierte Parteiensysteme. Zur Abgrenzung der ersten beiden Typen ist es notwendig, die Größenrelationen der zwei bzw. drei größten Parteien zu definieren. Um willkürliche bzw. rein empirisch gewonnene Abgrenzungen weitgehend zu vermeiden, wird als zentrales Kriterium die qualitative Veränderung der Machtposition von Parteien in Parlamenten beim Überschreiten zweier Grenzen des Mandatsanteils herangezogen: zum einen der absoluten Mehrheit, die einer Partei die Alleinregierung erlaubt, und zum anderen der 2/3-Mehrheit, die in vielen Staaten die Grenze für Verfassungsänderungen darstellt. Als Hilfskriterium zur Abgrenzung gegenüber kleineren Parteien wird argumentiert, dass eine Partei A dann wesentlich kleiner ist als eine Partei B, wenn sie über weniger als die Hälfte des Mandatsanteils der Partei B verfügt. Unter einem Parteiensystem mit einer prädominanten Partei wird ein System verstanden, bei dem eine Partei im Parlament über die absolute Mehrheit und die nächst kleinere Partei höchstens über ein Viertel der Mandate verfügt, so dass ihr Mandatsanteil weniger als die Hälfte des Mandatsanteils der prädominanten Partei beträgt. Beim zweiten Strukturtyp, der Zweiparteiendominanz, verfügen die beiden dominierenden Parteien im Parlament je über mehr als ein Viertel und zusammen über mindestens zwei Drittel der Sitze und die nächst kleinere Partei erreicht weniger als die Hälfte der Sitze der kleineren der beiden Großparteien.2 Zur Abgrenzung der anderen beiden – stärker fragmentierten – Typen wird die effektive Anzahl der Parlamentsparteien3 verwendet. Basierend auf einer aus Erfahrenswerten der westeuropäischen Parteiensystemforschung abgeleiteten Konvention wird hier ein Parteiensystem mit einer effektiven Parteienanzahl von über 5 als hoch fragmentiertes Parteiensystem eingestuft. Liegt der Wert höchstens bei 5 und handelt es sich nicht um einen der beiden erstgenannten Strukturtypen, so sprechen wir von einem pluralistischen Parteiensystem.
1
Dieser Strukturtyp wird häufig als „Zweiparteiensystem“ gekennzeichnet. Da jedoch ein System mit nur zwei parlamentarisch repräsentierten Parteien außer in Malta in ganz Europa nicht existiert, ist die hier gewählte Bezeichnung sinnvoller. 2 Diese Operationalisierung hat sich in vergleichenden Analysen der europäischen Parteiensysteme empirisch bewährt. 3 Vgl. hierzu Laakso/Taagepera 1979. Die effektive Anzahl der Parteien entspricht der realen Anzahl, wenn alle Parteien den gleichen Mandatsanteil aufweisen. Je ungleicher das Mandatsverhältnis ist, desto geringer ist die effektive im Vergleich zur realen Anzahl, und bei Dominanz nur einer Partei nähert sich der Index dem Wert 1.
Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009
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Der Typwechsel des bundesrepublikanischen Parteiensystems
Wie Abbildung 1 zeigt, wurde das bundesrepublikanische Parteiensystem von Anfang an von CDU/CSU4 und SPD geprägt, auch wenn deren Dominanz bei der ersten Bundestagswahl 1949 noch nicht so stark ausgeprägt war (zum Folgenden vgl. Niedermayer 2010b): Der gemeinsame Mandatsanteil von Union und SPD betrug über 67 Prozent, beide Parteien errangen jeweils etwa ein Drittel der Mandate und die FDP als drittstärkste Partei hatte einen Mandatsanteil von nur 13 Prozent. In den nächsten beiden Jahrzehnten konnten die Volksparteien ihre Vormachtstellung immer stärker ausbauen. Auf dem Höhepunkt ihrer Dominanz, in den Siebzigerjahren, stellten sie über 90 Prozent der Bundestagsabgeordneten. Danach baute sich ihre Dominanz jedoch kontinuierlich wieder ab. Abbildung 1:
Mandatsanteile von CDU/CSU und SPD 1949 bis 2009 (in Prozent)
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10
CDU/CSU+SPD
CDU/CSU
SPD
0 49 53 57 61 65 69 72 76 80 83 87 90 94 98 02 05 09 Quelle: eigene Berechnungen auf der Grundlage der amtlichen Wahlstatistik. 4 In Analysen demokratischer, d.h. kompetitiver Parteiensysteme werden Parteien nur dann als getrennte Analyseeinheiten betrachtet, wenn sie miteinander im Wettbewerb stehen. Da dies für die CDU und die CSU weder auf der elektoralen noch auf der parlamentarischen Ebene der Fall ist, bilden sie hier eine Analyseeinheit.
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Oskar Niedermayer
Im Verhältnis zwischen Union und SPD bildete sich im Verlauf der Fünfzigerjahre eine strukturelle Asymmetrie zugunsten der Union heraus. Ursachen hierfür waren: (1) die ‚nachholende Volksparteiwerdung‘ der SPD: Sowohl die SPD als auch die Union waren ihren bis zur Entstehung des deutschen Parteiensystems im Gründungsjahrzehnt des Kaiserreichs zurückreichenden historischen Wurzeln verhaftet, nämlich dem Klassenkonflikt und der konfessionell-religiösen Konfliktlinie, die sich in der neu entstandenen Bundesrepublik in dem ökonomischen Gegensatz zwischen einer mittelständisch-freiberuflichen Orientierung und einer Arbeitnehmer-/Gewerkschaftsorientierung und dem gesellschaftspolitischen Konflikt zwischen religiös-konfessioneller Bindung und Säkularisierung äußerten. Ihre traditionelle, in sozialen Milieus verankerte Kernwählerschaft bestand daher aus der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft auf der einen und den religiösen, kirchengebundenen Katholiken auf der anderen Seite. CDU und CSU verstanden sich im Gegensatz zur katholischen Zentrumspartei des Kaiserreichs und der Weimarer Republik jedoch von Anfang an als konfessionsübergreifendchristliche Parteien und schufen so die Voraussetzungen für eine über das katholische Milieu hinausreichende ‚Union‘ unterschiedlicher Strömungen innerhalb der Wählerschaft, während sich bei der SPD erst im Laufe der Fünfzigerjahre ein Wandel von der allein im Arbeitermilieu verhafteten ‚Klassenpartei‘ zur – linken – Volkspartei vollzog, der auf der ideologisch-programmatischen Ebene durch die Annahme des Godesberger Programms dokumentiert wurde; (2) der Antikommunismus als einigende Klammer von ansonsten durchaus unterschiedliche Interessen vertretenden bürgerlich-konservativen Wählerschichten, der von der Union stets zur Mobilisierung genutzte wurde; (3) die von der CDU und CSU aktiv betriebene Integrationsstrategie, durch die es gelang, das bürgerlich-konservative Kleinparteienspektrum nach und nach weitgehend zu absorbieren; (4) die Tatsache, dass die Union als Regierungspartei den raschen ökonomischen Aufschwung sehr viel stärker für sich nutzen konnte als die SPD, wodurch sich im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung eine einseitige Zuschreibung von Wirtschaftskompetenz an die Union verankerte. Sowohl die gesellschaftlichen Bedingungen auf der Nachfrageseite als auch die Aktivitäten der Union auf der Angebotsseite des politischen Wettbewerbs führten somit dazu, dass die Union im Vergleich zur SPD auf ein durch die sozialstrukturelle Zusammensetzung und die längerfristigen Grundüberzeugungen der Bevölkerung abgestütztes, strukturell größeres Wählerpotenzial zurückgreifen konnte. Diese nachfragebedingte strukturelle Asymmetrie zugunsten der Union blieb – mit Ausnahme der Wahl von 19725 – in den nächsten drei Jahrzehnten bis 5
Bei dieser Wahl wirkten die kurzfristigen personellen und inhaltlichen Einflussfaktoren auf das Wahlverhalten optimal zugunsten der SPD: Die nach einem gescheiterten konstruktiven Misstrauensvotum der Union gegen Willy Brandt vorgezogene Bundestagswahl wurde zum Vertrauensvotum
Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009
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zur Vereinigung erhalten, auch wenn die SPD bis Ende der Sechzigerjahre den Abstand zur Union verringern konnte.6 Allerdings nahm die Mobilisierungsfähigkeit der Union schon ab Mitte der Siebzigerjahre – mit Ausnahme von 1983 – kontinuierlich ab.7 Die längerfristigen Gründe für diese Entwicklung waren: (1) Der traditionelle Milieu-Kern der CDU/CSU-Wählerschaft, die Gruppe der kirchengebundenen Katholiken, schmolz aufgrund des gesellschaftlichen Säkularisierungsprozesses langsam aber kontinuierlich ab; (2) durch die Parteireformen der Siebzigerjahre entfremdete sich die CDU/CSU zum Teil von den sie tragenden lokalen Honoratiorenschichten; (3) die unionsnahe politische Sozialisation der Nachkriegszeit, die bei vielen Wählern zu einer starken lebenslangen Unionsprägung geführt hatte, wurde spätestens in der Phase der ‚68er‘durch neue Prägungen abgelöst. Die SPD konnte bis zum Ende der Achtzigerjahre von der zunehmenden Mobilisierungsschwäche der Union jedoch nicht profitieren, im Gegenteil: Auch sie war vom gesellschaftlichen Wandel betroffen8 und zudem blieben die in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren sich verschärfenden innerparteilichen Spannungen nicht ohne Auswirkungen auf ihre Wählerschaft. Ein wesentlicher weiterer Grund für die Schwächung der SPD war die Veränderung der Konfliktstruktur des Parteiensystems. Durch die Veränderung der Erwerbsstruktur, den Wertewandel, die Säkularisierung, die Bildungsexpansion, die Mobilitätssteigerung und die Individualisierung der Gesellschaft hatten sich die beiden traditionellen Konfliktlinien seit Ende der Sechzigerjahre einerseits immer mehr zu reinen Wertekonflikten entwickelt9 und andererseits an Bedeutung verloren. Seit Ende der Siebzigerjahre begann sich jedoch eine neue gesellschaftspolitische Konfliktlinie herauszubilden, die als Konflikt zwischen libertären und autoritären Wertesystemen bezeichnet werden kann.10 Teilaspekte des traditionellen der Wähler für den beliebten Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger stilisiert, und die thematische Ausrichtung des Wahlkampfes auf die neue Ostpolitik führte zu einer starken Mobilisierung der Bevölkerung mit der höchsten Wahlbeteiligung der bundesdeutschen Geschichte. 6 Vor allem wegen des wirtschaftspolitischen Positionswandels der SPD, der sie auch für Wähler der neuen Mittelschicht salonfähig machte, und wegen der von Willy Brandt propagierten Reformpolitik, welche die 68er-Generation und die Intellektuellen an die Seite der SPD brachte. 7 Auf die Mandatsverteilung schlug diese Entwicklung bis Mitte der Neunzigerjahre wegen der einseitigen Verteilung der Überhangmandate zugunsten der CDU nicht voll durch. 8 Sie hatte sich zwar teilweise neue Wählerschichten erschlossen, aber ihre traditionelle Kernwählerschaft verringerte sich durch den Wandel der Berufsstruktur und die Ende der Sechzigerjahre einsetzende Erosion der traditionellen Milieus. 9 Die sozio-ökonomische Konfliktlinie äußerte sich jetzt in Form eines Sozialstaatskonflikts, der als Wertekonflikt um die Rolle des Staates in der Ökonomie zwischen marktliberalen und an sozialer Gerechtigkeit orientierten, staatsinterventionistischen Positionen ausgetragen wurde, durch die in der Regel positive Wirtschaftsentwicklung aber an Schärfe verloren hatte. 10 Die Pole dieser Konfliktlinie werden gebildet durch libertäre Werthaltungen wie ein modernes Erziehungs-, Frauen- und Familienbild, Betonung von Selbstverwirklichung, Toleranz gegenüber
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Oskar Niedermayer
konfessionell-religiösen Konflikts wurden in diese neue Konfliktlinie einbezogen und sie wurde parteipolitisch organisiert: Der libertäre Pol wurde durch die Grünen repräsentiert, die sich 1980 erstmals an Bundestagswahlen beteiligten und 1983 in den Bundestag einzogen. Für die SPD erwiesen sich die Grünen als Konkurrenzpartei, die ihr einen Teil der durch ihre gesellschaftspolitische Öffnung in der Willy-Brandt-Ära gewonnenen Wähler wieder abspenstig machte. 11 Nach der Vereinigung verstärkten sich die langfristigen Probleme der Union: (1) Die traditionelle Kernwählerschaft wurde durch das Hinzukommen der ostdeutschen katholischen Diaspora noch deutlich kleiner und der Säkularisierungsprozess setzte sich fort. (2) Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes entfiel der Antikommunismus als verbindende Klammer der verschiedenen bürgerlichen Wählerschichten. (3) In Ostdeutschland hatte die CDU deutliche Organisationsprobleme und wurde von vielen Wählern für die Nichterfüllung der mit der Vereinigung geweckten hohen Erwartungen verantwortlich gemacht. Diese Entwicklungen ließen die nachfragebedingte Asymmetrie zugunsten der Union bis Ende der Neunzigerjahre weitgehend zerfallen und schufen so die Voraussetzungen für eine offene Wettbewerbssituation zwischen den beiden Volksparteien. Dass die SPD bei der Bundestagswahl von 1998 diese Ausgangslage optimal nutzen und die Union nach einem Vierteljahrhundert erstmals wieder überflügeln konnte, lag primär an ihrem spezifischen Politikangebot bei dieser Wahl. Hinsichtlich ihres inhaltlichen Politikangebots braucht jede Partei einen Markenkern, d.h. eine politische Kernkompetenz, mit der sie verbunden wird, aus der sie ihre Identität schöpft und derentwegen sie primär gewählt wird. Volksparteien brauchen zum einen in ihrem Markenkern die Kompetenzführerschaft in der Bevölkerung und zum anderen muss ein breites Profil an so genannten Sekundärkompetenzen in anderen Politikbereichen hinzukommen, um ihre immer heterogener werdende Wählerklientel optimal anzusprechen. Eine optimale Wähleransprache gelingt somit nur, wenn die Kernkompetenz durch die Sekundärkompetenz flankiert wird. Die Verbindung von Kern- und Sekundärkompetenz definiert sozusagen einen Akzeptanzkorridor seitens ihrer Wählerschaft, innerhalb dessen sich die Partei mit ihrem Politikangebot halten muss und den sie nur verlassen kann, wenn sie ihren Wählern sehr gute und von diesen nachvollziehbare Gründe für ihre Neupositionierung liefert, was hohe Anforderungen an die politische Kommunikationsstrategie stellt. Minderheiten, Bejahung von Multikulturalität und Unterstützung nonkonformistischer Lebensstile und autoritäre Werte wie ein traditionelles Erziehungs-, Frauen- und Familienbild, Unterordnung unter Autoritäten, Intoleranz gegenüber Minoritäten, kulturelle Abschottung, Fremdenfeindlichkeit und Unterstützung konformistischer Lebensstile. 11 Mitte der Achtzigerjahre wurde der bisher allein durch die NPD repräsentierte autoritäre Pol durch die Republikaner und die Deutsche Volksunion (DVU) verstärkt. Bis heute ist der autoritäre Pol im Parteiensystem auf der Bundesebene jedoch nicht parlamentarisch repräsentiert.
Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009
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Der Markenkern der beiden Volksparteien wird durch ihre Positionierung im Sozialstaatskonflikt gebildet, der seit den Neunzigerjahren immer mehr an Bedeutung gewann, da die Verstärkung des Globalisierungsprozesses, der demographische Wandel in Gestalt der zunehmenden Alterung der Gesellschaft und die vereinigungsbedingten finanziellen Lasten den deutschen Wohlfahrtsstaat zunehmend an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit gelangen ließen. Der Markenkern der SPD liegt in ihrer Sozialkompetenz, die Kernkompetenz der Union ist ihre Wirtschaftskompetenz. Um ihren Volksparteicharakter zu erhalten, ist es für die SPD jedoch notwendig, im ökonomischen Bereich ihre Sozialkompetenz durch Wirtschaftskompetenz zu ergänzen. Mit dem durch das Duo Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine verkörperten Slogan „Innovation und soziale Gerechtigkeit“ suggerierte die SPD eine optimale Verbindung von sozialer Kern- und wirtschaftlicher Sekundärkompetenz. Den Wählern wurde der Eindruck vermittelt, es gäbe ein sozialdemokratisches Konzept eines innovativen und sozialverträglichen Umbaus des Sozialstaates unter Vermeidung sozialer Einschnitte für weite Kreise der Bevölkerung. Die damit geweckten hohen Erwartungen konnten nach der Regierungsübernahme jedoch nicht eingelöst werden, da hinter dem Wahlversprechen keine ausgearbeitete und unstrittige Politikkonzeption stand, die man jetzt in Regierungshandeln hätte umsetzen können. Dies führte zu deutlichen Verlusten sowohl an Sozialals auch an Wirtschaftskompetenz und damit zu einer Akzeptanzkrise der SPD. Dieser Glaubwürdigkeitsverlust wurde durch die erneute Erwartungsenttäuschung nach der Wiederwahl 2002 und die bei vielen Wählern mit der Zeit immer stärker zum Synonym für soziale Ungerechtigkeit werdende Agenda 2010 noch verstärkt und führte einerseits zu einer Erosion ihres Markenkerns und andererseits zu einer Erosion ihrer wirtschaftspolitischen Sekundärkompetenz (vgl. Abbildung 2). Mit Ausnahme der Mobilisierungszeiten kurz vor den jeweiligen Bundestagswahlen konnte sich die SPD bis heute von ihrem Glaubwürdigkeitsproblem nicht wirklich erholen, obwohl sie seit längerer Zeit versucht, die Trümmer ihrer Regierungszeit abzuräumen und bei den Wählern durch eine vorsichtige sozio-ökonomische Neupositionierung wieder Vertrauen aufzubauen. Dass ihr das nur unzureichend gelingt, liegt vor allem an der Tatsache, dass ihre frühere Politik eine Repräsentationslücke erzeugte, die 2007 durch eine Strukturveränderung des Parteiensystems in Gestalt einer SPD-Westabspaltung – der WASG – und deren Zusammenschluss mit der PDS zur Linkspartei geschlossen wurde. Damit wurde die bisherige ostdeutsche Regionalpartei PDS zur relevanten gesamtdeutschen Konkurrenzpartei zur SPD, die ihr einen Teil ihres Wählerpotenzials streitig machte und wesentlich zu dem regelrechten Absturz der SPD bei der Bundestagswahl 2009 beitrug. Existierte Ende der Neunzigerjahre eine prinzipiell offene Wettbewerbssituation zwischen den beiden Volks-
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Oskar Niedermayer
parteien, so hat die durch das Politikangebot der SPD bewirkte Strukturveränderung des Parteiensystems die Wahrscheinlichkeit einer erneuten – nun angebotsbedingten – strukturellen Asymmetrie zugunsten der Union deutlich erhöht. Abbildung 2:
Kompetenzzuweisung an die SPD im Bereich soziale Gerechtigkeit und Wirtschaft (in Prozent)
70 Soziale Gerechtigkeit
Wirtschaft
60 50 40 30 20 10 0 11/97
5/99
11/00
5/02
11/03
5/05
11/06
5/08
11/09
Quelle: Infratest dimap: DeutschlandTREND.
Mit der Bildung der Linkspartei existieren im deutschen Parteiensystem hinsichtlich des Sozialstaatskonflikts zwischen sozialer Gerechtigkeit und Marktfreiheit zwei gesamtdeutsch relevante Parteien, die die beiden Pole des Konflikts repräsentieren. Durch die Politik der beiden Volksparteien enttäuschte sozialstaatsaffine oder wirtschaftsliberale Wähler haben daher neben der Wahlenthaltung auch die Wahl der Linkspartei bzw. der FDP als Handlungsoption. Eine solche Akteurskonstellation mit einer relevanten Wahlalternative auf beiden Seiten gibt es in keinem anderen westeuropäischen Parteiensystem und die hierdurch bestehenden Probleme betreffen nicht nur die SPD, sondern auch die Union. Auch die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hatte – durch die „Leipziger Grundsätze“ des CDU-Parteitages von 2003 – die Positionierung ihrer Partei im Sozialstaatskonflikt in Richtung Marktfreiheitspol verschoben. Die Umsetzung der Neupositionierung im Wahlprogramm der CDU/CSU zur Bundestagswahl 2005 schadete ihr – unter tätiger Mithilfe der negative-campaigning-Strategie der
Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009
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SPD – bei der Wahl, was in der Folgezeit zu einer Rücknahme der wirtschaftsliberalen Agenda führte. Hatte die Union 2005 leidvoll erfahren müssen, was eine zu starke Betonung ihres wirtschaftspolitischen Markenkerns bei Vernachlässigung ihrer sozialpolitischen Sekundärkompetenz bedeutet, so sah sich in den ersten Monaten des Jahres 2009 eine unionsgeführte Bundesregierung durch die weltweite Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise gezwungen, den Akzeptanzkorridor ihrer Wählerklientel in die Gegenrichtung zu verlassen. Die zur Rettung des Bankensektors als notwendig erachtete (Teil-)Verstaatlichung von Banken und die Diskussionen um eine Staatsbeteiligung an Konzernen wie Opel und Arcandor interpretierte ein Teil der wirtschaftsliberal orientierten Unionsanhänger als Abkehr vom Markenkern der Union und verlieh ihrem Widerspruch durch die Wahl der FDP Ausdruck, die ihre klare marktliberale ordnungspolitische Orientierung nicht aufgegeben hatte. Auch im Rahmen der zweiten Konfliktlinie des deutschen Parteiensystems – des Libertarismus-Autoritarismus-Konflikts – hat sich die CDU unter der Ägide von Angela Merkel neu positioniert. In der Ära Kohl hatte sich der soziokulturelle Mainstream zunehmend von der CDU-Position entfernt: „Von der Modernisierung ihres Familienbilds über die Enttabuisierung der durch die Einwanderung geschaffenen kulturellen Pluralität bis hin zur Anerkennung zuvor verfemter Lebensformen (etwa der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft) hat die CDU der veränderten gesellschaftlichen Realität seither schneller Rechnung getragen, als man das mit Blick auf ihre konservative Kernklientel vermutet hätte“ (Decker 2008: 13). Auch bei dieser Konfliktlinie gibt es jedoch für die Volksparteien innerhalb der Partei wie auch bei ihrer Wählerklientel einen Akzeptanzkorridor, dessen Überschreitung zu Problemen führt. So gingen manche Beobachter schon 2008 davon aus, dass „sich auch bei der kulturellen Konfliktdimension eine Repräsentationslücke“ (Korte 2008: 8) im Hinblick auf den konservativen Teil der Unionsklientel abzeichnete. Anfang 2009 kamen mit der Diskussion um den Sitz der Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach im Stiftungsrat des geplanten Zentrums gegen Vertreibungen und vor allem mit der Kritik Angela Merkels an Papst Benedikt XVI in der Debatte um die Aufhebung der Exkommunikation des Holocaust-Leugners Richard Williamson zwei Themen auf, die konservative Stammwähler noch mehr verprellten. Die Positionsveränderungen der CDU auf den beiden zentralen Konfliktlinien – vor allem im Bereich des Sozialstaatskonflikts – trugen wesentlich dazu bei, dass die Union bei der Bundestagswahl 2009 mit einer Mobilisierung von 23,6 Prozent der Wahlberechtigten auf das Niveau von 1949 zurückfiel. Auf der parlamentarischen Ebene sorgten nur die 24 von CDU und CSU errungenen Überhangmandate dafür, dass der Mandatsanteil der Union sich gegenüber 2005 nicht verringerte, sondern leicht auf 38,4 Prozent erhöhte. Da die SPD jedoch nur
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Oskar Niedermayer
noch 23,5 Prozent und die FDP als drittstärkste Partei 15 Prozent der Mandate erhielt, erfüllt das bundesdeutsche Parteiensystem zum ersten Mal nicht mehr die Kriterien für ein System mit Zweiparteiendominanz. Neben der Strukturveränderung des Parteiensystems mit der Herausbildung einer relevanten Wahlalternative zu den Volksparteien auf beiden Seiten des den Parteienwettbewerb dominierenden Sozialstaatskonflikts gibt es noch eine Reihe von anderen Gründen, die für den Typwechsel des Parteiensystems durch die Erosion der Volksparteien verantwortlich sind: Veränderungen der Rahmenbedingungen des politischen Wettbewerbs durch langfristige Prozesse des ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandels12 führten zu einer Aufweichung der engen Beziehung zwischen sozialer Gruppenzugehörigkeit und Wertorientierungen, zu einer Erosion der traditionellen sozialen Milieus und damit einer Schrumpfung der Kernwählergruppen der Parteien sowie generell zu einer Abnahme der langfristigen Parteibindungen13 und einer damit einhergehenden Flexibilisierung des Wahlverhaltens. Vor allem die Volksparteien mit ihrer immer heterogener werdenden Wählerklientel können immer weniger auf einen längerfristig stabilen Wählerstamm setzen und müssen ihre Wähler bei jeder Wahl aufs Neue durch ein optimales personelles und inhaltliches Angebot überzeugen. Bei den Inhalten fällt ihnen dies immer schwerer, da die zunehmende Komplexität von Politik einfache, deutlich differierende und zu schnellen Problemlösungen führende Politikalternativen immer weniger zulässt und die beiden Volksparteien daher mit ihrer geringen Unterscheidbarkeit und ihrer abnehmenden Problemlösungskompetenz zu kämpfen haben. Zudem tragen die Parteien, wie gezeigt, natürlich auch durch eigene Fehler dazu bei, Glaubwürdigkeitsdefizite zu erzeugen und zu verstärken. Dies alles bedeutet jedoch nicht, dass damit schon das „Ende der Volksparteien“ (Lösche 2009: 6) eingeläutet wäre. Betrachtet man die Entwicklung im ersten Jahr nach der Bundestagswahl, so zeigt sich, dass der Erosionsprozess von Union und SPD nicht weiter fortgeschritten ist.
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Vor allem die Veränderung der Berufsstruktur, die zunehmende Globalisierung, der Säkularisierungsprozess, der Wertewandel, die Bildungsexpansion, die Mobilitätssteigerung und die Individualisierung der Gesellschaft. 13 Der Anteil der Wahlberechtigten mit einer starken Parteibindung fiel von 45 % im Jahre 1976 auf 27 % im Jahre 2008, der Anteil ohne Bindung an eine Partei stieg in diesem Zeitraum von 15 auf 38 % (vgl. Roth 2009).
Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009
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Die Volksparteien nach der Bundestagswahl
Anlass dafür, die Zukunft der Volksparteien nicht völlig schwarz zu malen, gibt zunächst die Tatsache, dass 2009 fast jeder zweite ehemalige Wähler der SPD und über drei Fünftel der ehemaligen CDU-Wähler zu den kurzfristig abgewanderten Wählern zu zählen sind, die weiterhin über eine langfristige Bindung an die jeweilige Partei verfügen und bei denen die Partei in der allgemeinen Bewertung weiterhin sehr gut abschneidet, so dass diese Wähler prinzipiell wieder für die Volksparteien mobilisierbar erscheinen.14 Lässt man die politischen Ereignisse nach der Bundestagswahl und deren Kommentierung durch die Medien Revue passieren, so gewinnt man allerdings den Eindruck, dass zumindest die Union in der Anfangsphase nicht gerade viel dafür getan hat, ihre prinzipiell wieder gewinnbaren Wähler auch tatsächlich zu mobilisieren, denn die von ihr geführte Regierung wurde als extrem zerstritten wahrgenommen, was sich in der Bewertung durch die Bevölkerung deutlich niederschlug. Kurz vor der Bundestagswahl 2009 schnitt die amtierende Große Koalition in der Bevölkerungsbewertung verhalten positiv ab (vgl. Abbildung 3). Schon die erste Messung der Zufriedenheit mit der Arbeit der neuen Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP zwei Monate nach der Wahl zeigte einen Rückgang, und in den Folgemonaten stürzte sie deutlich ab und erreichte im Juni 2010 den schlechtesten Wert. Zur Erklärung dieses deutlichen Unterstützungsrückgangs lässt sich zunächst anführen, dass die drei vermeintlichen ‚Traumpartner‘ von Anfang an weit weniger inhaltliche Gemeinsamkeiten aufwiesen als gemeinhin angenommen wurde. Man kann sogar die These aufstellen, dass Schwarz-Gelb eine ‚historisch verspätete‘ Koalition darstellte. Wie im vorherigen Abschnitt deutlich wurde, hatten CDU, CSU und FDP zur Bundestagswahl 2005 ein klares gemeinsames Projekt, nämlich eine an marktfreiheitlichen Prinzipien ausgerichtete Reform, während die drei Parteien 2009 im wirtschafts- und finanzpolitischen Bereich deutlich unterschiedliche Positionen vertraten. Insbesondere stand die CDU den weit gehenden Steuersenkungsforderungen der FDP (aber auch der CSU) sehr skeptisch gegenüber und legte angesichts der noch nicht ausgestandenen Wirtschaftskrise mehr Wert auf Haushaltskonsolidierung. Im Koalitionsvertrag wurde dann der FDP/CSU-Forderung nach Steuersenkungen in Milliardenhöhe entsprochen aber gleichzeitig ein Finanzierungsvorbehalt im Sinne der CDU aufgenommen. Damit war die Grundlage für einen Dauerstreit der Koalitionspartner gelegt. Zudem waren die ersten Wochen der neuen Regierung vom Krisenmanagement der Afghanistan-Affäre mit dem Streit um das Bombardement 14
Vgl. hierzu den Beitrag von Manuela S. Kulick in diesem Band.
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Oskar Niedermayer
von Kunduz und dem Rücktritt des früheren Verteidigungs- und neuen Arbeitsministers Franz Josef Jung am 27. November 2009 geprägt. Abbildung 3:
Zufriedenheit mit der Arbeit der Bundesregierung (Mittelwert, Skala von -5 = sehr unzufrieden bis +5 = sehr zufrieden)
1,0
CDU/CSU
0,6
Reg.
FDP
0,2 -0,2 -0,6 -1,0 -1,4 BTW
-1,8
Monat
-2,2 9
10 11 12
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10 11 12
1
Quelle: FGW-Politbarometer.
Zogen CSU und FDP am Jahresende 2009 noch an einem Strang, indem sie im Rahmen des ersten größeren Gesetzesvorhabens (Wachstumsbeschleunigungsgesetz) die CDU zur Absenkung des Mehrwertsteuersatzes für das Hotelgewerbe drängten, so bekriegten sich die Partner ab dem Frühjahr 2010 auch aber nicht nur wegen der anstehenden Gesundheitsreform zunehmend in der Öffentlichkeit, wobei vor allem auch der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer versuchte, sich mit Angriffen auf die FDP zu profilieren. In der 100-Tage-Bilanz der Medien ist daher von einem „verkorksten Erscheinungsbild“ der Koalition die Rede, die einen „Fehlstart“15 hingelegt habe und den Eindruck erwecke, „die können es nicht“16. Zum größten Problem der Regierung wurde, dass man einerseits mit Rücksicht auf die Anfang Mai anstehende Landtagswahl in Deutschlands bevölke15 16
Blechschmidt, Peter: Eine verhagelte Partei. In: Süddeutsche Zeitung vom 2.Februar 2010. Gauland, Alexander: Die können es nicht. In: Der Tagesspiegel vom 8. Februar 2010.
Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009
19
rungsreichstem Bundesland Nordrhein-Westfalen – wo bei einer Niederlage der amtierenden schwarz-gelben Regierung der Verlust der Bundesratsmehrheit drohte – keine unpopulären bundespolitischen Entscheidungen fällen wollte und daher die Reformvorhaben im Steuer-, Gesundheits- und Energiebereich hinausschob, andererseits aber nicht in der Lage war, die inner- und zwischenparteilichen Streitigkeiten über diese Politikbereiche zu unterbinden bzw. wenigstens nicht öffentlich werden zu lassen. Trotz alledem verblieb die Bewertung der Regierungsarbeit der Union durch die Bürger im Positiven (vgl. Abbildung 3) und in der politischen Stimmung hielt sich die CDU/CSU immer mehr oder weniger deutlich über ihrem Wahlergebnis bei der Bundestagswahl (vgl. Abbildung 4). Dies änderte sich erst, als ab Mai in schneller Folge mehrere für die Union problematische Ereignisse eintraten. Der schwerste Schlag war, dass die Wähler aus Nordrhein-Westfalen bei der Landtagswahl am 9. Mai der Landes-CDU unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers – mehrheitlich aus landespolitischen Gründen, aber auch unter dem Eindruck des von den Bürgern abgelehnten Hilfspakets für das bankrotte Griechenland – eine dramatische Niederlage mit 10 Prozentpunkten Verlust und dem schlechtesten Ergebnis aller Zeiten bescherten. Nachdem die Strategie des bundespolitischen Nichtentscheidens sich bei der NRW-Wahl nicht ausgezahlt hatte, wurde die „wankende Kanzlerin“17 nun „umso heftiger von den eigenen Leuten kritisiert“18. Kurz darauf sorgte die Ankündigung des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, sich aus der Politik zurückzuziehen, für weitere Verunsicherung der CDU. Wenige Tage später, am 31. Mai, folgte der überraschende Rücktritt des Bundespräsidenten Horst Köhler. Eine Woche später präsentierte die Regierung ihr Sparpaket zur Sanierung des Bundeshaushalts, das vom FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle als „fair, gerecht und ausgewogen“19 bezeichnet wurde, von Experten, Medien und sogar führenden Christdemokraten jedoch das Etikett der sozialen Schieflage verpasst bekam. Im Umfeld der Sparklausur geriet der Dauerstreit innerhalb der Koalition zur „Beschimpfungsorgie“, man bezeichnet sich gegenseitig als „Wildsäue“, „Gurken“ und „Rumpelstilzchen“.20 In den Medien wurde Endzeitstimmung verbreitet: Angela Merkel stehe „vor den Scherben ihrer Kanzlerschaft“, von Anfang an habe sich „Schwarz-Gelb als unfähig erwiesen, Deutschland zu regieren“, und nun stehe ihre „Regierung in Trümmern“.21 Hatte sich die allgemeine 17 Schumacher, Hajo: Es wird einsam um die wankende Kanzlerin. In: Berliner Morgenpost vom 12. Mai 2010. 18 Kinkel, Lutz/Schütz, Hans Peter: Die Krise der Krisenkanzlerin. In: stern.de vom 17. Mai 2010 (http://stern.de/politik/deutschland/kritik-der-cdu-ministerpraesidenten-die-krise-der-krisenkanz lerin-1567098.html.; 25.5.2010). 19 Zit. n. Rudzio, Kolja: „Harte Arbeit“. In: Die Zeit vom 10. Juni 2010. 20 Hildebrandt, Tina: Es war einmal …In: Die Zeit vom 17. Juni 2010. 21 Bartsch, Matthias et al.: Die Trümmerfrau. In: Der Spiegel vom 21. Juni 2010.
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Beurteilung von Angela Merkel durch die Bevölkerung bisher nur moderat verschlechtert, so gingen die Werte jetzt steil nach unten (vgl. Abbildung 5). Abbildung 4: 75 70 65 60 55 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0
Politische Stimmung seit der Bundestagswahl 2009: CDU/CSU und SPD (in Prozent)
Union+SPD
CDU/CSU
BTW 9
10 11 12
SPD
LTW NRW 1
2
3
4
5
6
7
8
9
10 11 12
1
2
Quelle: FGW-Politbarometer.
Mit der Wahl des Unions-/FDP-Kandidaten, des bisherigen niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff, zum neuen Bundespräsidenten am 30. Juni wollte die Regierung ein Signal der Geschlossenheit und des Aufbruchs setzen. Der Neustart missglückte jedoch, da Wulff sich trotz einer schwarz-gelben Mehrheit in der Bundesversammlung erst im dritten Wahlgang gegen den Kandidaten von SPD und Grünen, Joachim Gauck, durchsetzen konnte. Knapp drei Wochen später, am 18. Juli erklärte Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust seinen Rücktritt.22.
22 Damit hatte die CDU binnen eines knappen Jahres den sechsten Ministerpräsidenten verloren: Neben von Beust, Koch, Wulff und Rüttgers auch Dieter Althaus (Thüringen), der im September 2009 zurücktrat, und Günther Oettinger (Baden-Württemberg), der einen Monat später von Kanzlerin Merkel als EU-Kommissar benannt wurde.
Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009
Abbildung 5:
3,0 2,6
21
Allgemeine Beurteilung von Merkel, Gabriel, zu Guttenberg und Steinmeier nach der Bundestagswahl 2009 (Mittelwerte, Skala: 5 = halte überhaupt nichts bis +5 halte sehr viel von …) Merkel Steinmeier
Gabriel zu Guttenberg
2,2 1,8 1,4 1,0 0,6 0,2 -0,2 10 11 12 1 2 3 Quelle: FGW-Politbarometer.
4
5
6
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10 11 12
1
Nach der Sommerpause brachten Themen die CDU in zusätzliche Bedrängnis, die ihre Positionierung auf der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie betrafen. Angela Merkel hatte ihren gesellschaftspolitischen Modernisierungskurs nach der Bundestagswahl fortgeführt und dafür auch Rückendeckung vom CDUVorstand erhalten. Schon am Jahresanfang wurden jedoch von der Schwesterpartei CSU Befürchtungen laut, die schwindende Anziehungskraft der CDU bei konservativen Wählern könne zu einer „Sammlungsbewegung rechts der Unionsparteien“23 führen. Neue Nahrung erhielt diese Befürchtung Ende August in der Debatte um die Thesen des Bundesbank-Vorstands und früheren Berliner SPD-Finanzsenators Thilo Sarrazin, der in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“24, die Beschreibung von Mängeln bei der Integration vor allem von muslimischen Migranten mit Gedankenspielen verknüpfte, die ins Reich des Biologismus und der Rassenlehre gehören. In einer ersten Welle der Reaktion 23
So der Vorsitzende der CSU-Zukunftskommission, Manfred Weber, zit. n. Braun, Stefan: Christsoziale warnen die CDU. In: Süddeutsche Zeitung vom 22. Januar 2010. 24 Auszugsweiser Vorabdruck: Was tun? In: Der Spiegel vom 23. August 2010.
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dominierte harsche Kritik von Spitzenpolitikern aller Couleur, auch von Angela Merkel.25 Dann wurde deutlich, dass die Mehrheit der Bevölkerung und der CDU-Anhänger die Kritik Sarrazins am mangelnden Integrationswillen eines Teils der Migranten teilte26 und sich auch in Teilen der CDU-Basis Protest gegen den Sarrazin-kritischen Kurs der Führung regte. Mitten in diese Debatte platzte Anfang September die Ankündigung der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, die wegen des Vorwurfs relativierender Äußerungen zur deutschen Kriegsschuld harscher Kritik aus den eigenen Reihen ausgesetzt war, nicht mehr für den CDU-Parteivorstand kandidieren zu wollen, da sie als Konservative dort allein stünde und nur noch eine Alibifunktion habe.27 In der CDU entbrannte daraufhin eine heftige Diskussion über die Vernachlässigung ihres konservativen Profils durch den Modernisierungskurs von Merkel, mit dem neue Anhänger gewonnen werden sollten, der aber nach Ansicht der Kritiker bisher eher zur Abwanderung von konservativen Stammwählern geführt habe. Angeheizt wurde die Diskussion durch Umfragen, wonach es innerhalb der Unionsanhänger durchaus den Wunsch nach einer stärker konservativen Ausrichtung der Partei gab28, und Spekulationen über das Wählerpotenzial für eine neue konservative Partei rechts der Union, das nach Ansicht mancher Meinungsforscher bei 20 Prozent zu verorten sei und hauptsächlich aus frustrierten Unionswählern bestünde.29 Konsequenz dieser Entwicklungen war, dass die Union Ende September bei der politischen Stimmung auf ein Rekordtief von 30 Prozent fiel (vgl. 25
Die Kanzlerin bezeichnete Sarrazins Thesen in einer ersten Reaktion als „äußerst verletzend, diffamierend und sehr polemisch zugespitzt“. Zit. n. Gathmann, Florian: Der Thesenritter. In: SPIEGEL. ONLINE vom 25. August 2010 (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,713730,00 html; 26.8.2010). 26 Anfang September 20110 hielt die absolute Mehrheit sowohl der Deutschen insgesamt als auch der Unionsanhänger die von Sarrazin vorgebrachte Kritik zum Thema Integration für richtig, über zwei Drittel waren der Ansicht, die meisten Zuwanderer würden für ihre Eingliederung nicht genug tun (Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Politbarometer, September I, 2010). Anfang Dezember stimmten 83 Prozent Sarrazins Kernaussagen, dass sich Deutschland durch falsche Zuwanderungs- und Integrationspolitik, durch fremde kulturelle Einflüsse und verbreiteten Missbrauch des deutschen Sozialsystems im Niedergang befinde, zumindest teilweise zu (Umfrage TNS Forschung für den Spiegel; zit. n. Fleischhauer, Jan: „Da sind wieder vier in Kopftüchern“, in: Der Spiegel vom 20. Dezember 2010). 27 Vgl. Alexander, Robin/Herzinger, Richard: Steinbach löst Sturm der Entrüstung aus. In: Berliner Morgenpost vom 10. September 2010. 28 So waren 37 Prozent der Unionsanhänger der Ansicht, dass traditionell-konservative Inhalte in der CDU-Politik zukünftig eine stärkere Rolle spielen sollten (weniger stark 20 Prozent, kein Kurswechsel 36 Prozent; vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Politbarometer, September II/2010). Ein Drittel der Unionsanhänger meinte, die CDU sei politisch zu wenig konservativ aufgestellt (genau richtig: 37 Prozent, zu konservativ 20 Prozent; Infratest dimap Umfrage vom 14./15. September i. A. ARDMorgenmagazin). 29 So der Chef des Meinungsforschungsinstituts emnid, Klaus-Peter Schöppner, vgl.: Die CDU bangt um ihr konservatives Profil. In: SPIEGEL.ONLINE vom 13. September 2010 (http://www.spiegel. de/politik/deutschland/0,1518,717107,00. html; 14.9.2010).
Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009
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Abbildung 4). Gleichzeitig eskalierte in Baden-Württemberg der seit Monaten tobende Streit um das von Merkel öffentlich unterstützte Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“, als sich am 30. September der Staat „von seiner hässlichen Seite“30 zeigte und das Fällen der ersten Bäume gewaltsam durchsetzte. Dies führte zu CDU-internen Spekulationen über einen Kanzlerinnensturz nach einem möglichen Desaster bei der baden-württembergischen Landtagswahl im März 2011. Als Nachfolger wurde der „als Lichtgestalt verehrte“ Verteidigungsminister und „Bürgerkönig“31 Karl Theodor zu Guttenberg gehandelt, der seit Mai die Kanzlerin in der allgemeinen Beurteilung durch die Bevölkerung weit hinter sich gelassen hatte (vgl. Abbildung 5). Gegen ein solches Szenario sprach jedoch, dass es sich die CDU aus Gründen der Selbstachtung selbst bei einer Niederlage in Baden-Württemberg kaum erlauben könnte, gegen die eigene Vorsitzende zu rebellieren, um anschließend einen CSU-Mann zum Kanzler zu machen. Auch die Befürchtung des Entstehens einer konservativen Unionskonkurrenz war nicht allzu realistisch. Zur Etablierung einer relevanten Partei im deutschen Parteiensystem gehört weit mehr als ein diffuses Wählerpotenzial (vgl. Niedermayer 2010c), nämlich u.a. bekanntes und medientaugliches Führungspersonal, organisatorische und finanzielle Ressourcen sowie attraktive inhaltliche Politikangebote, die im Falle einer bürgerlich-konservativen Partei von rechtsextremistischen Geruch frei sein müssen. All dies war nicht in Sicht, und zudem taten die Führungen von CDU und CSU in der Folgezeit alles, um die konservativen Wähler wieder an die Union zu binden: Führende Unionspolitiker wurden nicht müde zu betonen, dass der Konservatismus eine der tragenden Säulen des christdemokratischen Selbstverständnisses sei. In der Integrationsdebatte erklärte Angela Merkel Mitte Oktober den „Multikulti-Ansatz“ für „absolut gescheitert“ und betonte, die Zuwanderer müssten künftig stärker in die Pflicht genommen werden,32 während Horst Seehofer der Ansicht war, dass Deutschland „keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen“ brauche und schärfere Sanktionen für Integrationsverweigerer forderte.33 Auf dem CDU-Parteitag Mitte November in Karlsruhe trat dann die „Modernisiererin Merkel … ab und auf der Bühne … erschien Merkel, die Konservative“.34 Ihre Rede sowie die Parteitagsbeschlüsse zur Stärkung der Familie und zu härterem Vorgehen gegen Integrationsverweigerer waren „Balsam für die 30
Bartsch, Matthias et al.: Merkels Bahnhofs-Mission. In: Der Spiegel vom 4. Oktober 2010. Demmer, Ulrike u.a.: Der Bürgerkönig. In: Der Spiegel vom 18. Oktober 2010. Zit. n. Kanzlerin: „Multikulti ist gescheitert“. In: Berliner Morgenpost vom 17. Oktober 2010. 33 Zit. n.: Kampfansage an Schmarotzer und Zuwanderer, Interview mit Horst Seehofer. In: FOCUS Online vom 9. Oktober 2010 (http://www.focus.de/politik/deutschland/horts-seehofer-kampfansagean-schmarotzer-und-zuwanderer_aid_560 5515.html; 10.10.2010). 34 Horeld, Markus: Kurzsichtig konservativ. In: ZEIT ONLINE vom 16. November 2010 (http:// www.zeit.de/politik/deutschland/2010-11/cdu-parteitag-konservatismus; 28.11.2010). 31 32
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konservative Seele“.35 Zudem ging sie auf Distanz zum libertären Gegenpol konservativer Wertvorstellungen, den Grünen, indem sie schwarz-grünen oder Jamaica-Koalitionen eine schroffe Absage erteilte.36 In der Generaldebatte im Bundestag kurz darauf griff sie die Grünen in ungewöhnlich scharfer Form an und machte sie zum Hauptgegner, während Fraktionschef Volker Kauder mit der Titulierung der Grünen als „Dagegen-Partei gegen alles“37 die Marschrichtung für die zukünftige Auseinandersetzung vorgab. Zudem ließ die Kanzlerin ihrem Mitte September angekündigten „Herbst der Entscheidungen“38 Taten folgen: Auf den Weg gebracht wurden der Umbau der Bundeswehr zu einer Freiwilligenarmee, das Energiekonzept mit einem Programm für erneuerbare Energien und verlängerten Laufzeiten für Atomkraftwerke, die Gesundheitsreform und die Reform der Hartz IV-Gesetze. All diese Entscheidungen waren politisch höchst umstritten39 und sorgten so für eine polarisierende Mobilisierung. Schon ab Ende Oktober 2010 begann sich die Neuorientierung in den Umfragewerten niederzuschlagen: Die Beurteilung der Regierungsarbeit verbesserte sich (vgl. Abbildung 3), die Union legte in der politischen Stimmung deutlich zu (vgl. Abbildung 4) und Angela Merkel wurde wieder besser bewertet (vgl. Abbildung 5). Anfang 2011 scheint die Akzeptanzkrise der Union zunächst einmal überwunden zu sein. Ihre Konkurrentin, die SPD, verharrte nach dem Desaster der Bundestagswahl 2009 zunächst einmal in Schockstarre und rutschte in der politischen Stimmung noch weiter ab (vgl. Abbildung 4). Auf dem Bundesparteitag Mitte November 2009 in Dresden machte man dann die Hartz-IV-Arbeitsmarktreformen, die Rente mit 67, häufige Wechsel an der Führungsspitze und öffentlich ausgetragene Flügelkämpfe als die Hauptgründe für die Niederlage aus, zog personelle Konsequenzen – Sigmar Gabriel löste Franz Müntefering als Partei-
35 Caspari, Lisa: Die CDU entdeckt ihr „C“ wieder. In: ZEIT ONLINE vom 16. November (http://www.zeit. de/politik/deutschland/2010-11/cdu-parteitag-bilanz; 28.11.2010), 36 Gleichzeitig rückten jedoch mit Ursula von der Leyen und Norbert Röttgen die profiliertesten Vertreter des gesellschaftlichen Modernisierungskurses in den engsten Führungszirkel auf und Röttgen wird seither nicht müde zu betonen, dass Schwarz-Grün nicht tot sei („Schwarz-Grün ist nicht tot“. In: sueddeutsche.de vom 23. Januar 2011, http://sueddeutsche. de/politik/cdu-vize-roettgenschwarz-gruen-ist-nicht-tot-1.1049931; 25.1.2011). 37 Zit. n. Merkels Gegner ist grün. In: tagesschau.de vom 24. November 2010 (http://www. tagesschau.de/inland/haushalts debatte140.html; 28.11.2010). 38 Merkel: „Herbst der Entscheidungen“. In: heute.de vom 15. September 2010 (http://www.heute.de/ ZDFheute/inhalt/27/0,3672,8112923,00.html; 18.9.2010). 39 Nach einer zusammenfassenden Bewertung der Beschlüsse gefragt, gaben knapp zwei Drittel der Anhänger der Regierungsparteien an, sie gingen in die richtige Richtung, für etwa vier Fünftel der Anhänger der Oppositionsparteien gingen sie in die falsche Richtung (Infratest dimap: DeutschlandTREND, Oktober 2010).
Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009
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vorsitzender ab, Andrea Nahles wurde neue Generalsekretärin40 – und begann, am neuen inhaltlichen Profil zu feilen. Inhaltlich und strategisch kamen auf den neuen Vorsitzenden die Aufgaben zu, die Partei zu stabilisieren, ihr das Selbstwertgefühl zurückzugeben, die selbstzerstörerischen Flügelkämpfe zu überwinden, eine Balance zwischen dem früheren Regierungshandeln und der neuen Oppositionsrolle zu finden, Rot-Grün wieder als Perspektive zu entwickeln und die SPD gegenüber der Linken wieder in Vorhalteposition zu bringen. Inhaltlich verordnete Gabriel der Partei einen Selbstversöhnungs- und Standortfindungsprozess, der in Form von sechs thematischen „Zukunftswerkstätten“41 strukturiert wurde, organisatorisch wurde eine Reform der Parteiorganisation mit dem Ziel größerer Basispartizipation auf den Weg gebracht. Neben einer Neujustierung der Position zu Afghanistan mit der Betonung einer konkreten Abzugsperspektive der deutschen Truppen wurden nach und nach Veränderungen der arbeitsmarktpolitischen Position vorgenommen. Im Januar 2010 einigte man sich auf einen Vorstoß zur Einschränkung schlechtbezahlter Leiharbeit und im März billigte das Präsidium das von Parteivize Olaf Scholz erarbeitete Konzept „Fairness auf dem Arbeitsmarkt“ mit Korrekturen an den Hartz IV-Reformen (Verlängerung der Zahlung des Arbeitslosengeldes I auf 24 Monate, stärkere Abfederung des Übergangs zum Arbeitslosengeld II und dort Verzicht auf die Vermögensprüfung) sowie der Forderung nach einem Mindestlohn von 8,50 Euro. Insgesamt zeigte sich die Partei im Frühjahr 2010 wieder zuversichtlicher und vor allem weit geschlossener als zuvor. Dies schlug sich auch in der politischen Stimmung nieder, die im Vergleich zum Wahlergebnis auf einem etwas höheren Level stabilisiert werden konnte. Einen deutlichen Aufschwung brachte dann die Landtagswahl Anfang Mai in Nordrhein-Westfalen mit der Niederlage der CDU und der Bildung einer rotgrünen Minderheitsregierung, die – nach gemeinsamen Aktionen im Rahmen des Widerstands gegen längere Laufzeiten der Atomkraftwerke und der Einigung auf einen gemeinsamen Kandidaten bei der Bundespräsidentenwahl – bundespolitisch das Signal aussendete: Rot-Grün ist wieder da. Zu betonen ist allerdings, dass die Führungskräfte beider Parteien die rot-grüne Zusammenarbeit nicht als ‚Projekt‘ ideologisch überhöhen, sondern als pragmatisches Zweckbündnis ansehen, das zudem auch durch eine veränderte Rolle der Grünen geprägt ist, die eine einseitige Festlegung auf rot-grüne Bündnisse vermeiden und ihre neu gewonnene Stärke dazu nutzen, der SPD auf Augenhöhe gegenüberzutreten. Mitte Juni 2010 lag die SPD in der politischen Stimmung erstmals seit September 2002 40 Schon wenige Tage nach der Bundestagwahl war Frank-Walter Steinmeier zum Fraktionsvorsitzenden gewählt worden. 41 „Arbeit – Innovation – Umwelt“, „Gut und sicher leben“, „Demokratie und Freiheit“, „Bildung“, „Familie“ und „Integration“.
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wieder vor der Union und Rot-Grün überrundete Schwarz-Gelb. Die Aussicht auf eine realistische Machtperspektive für SPD und Grüne ohne die Linkspartei befreite zudem beide Parteien von der Notwendigkeit, das nach den gescheiterten Gesprächen in Nordrhein-Westfalen und der Verweigerungshaltung der Linken bei der Bundespräsidentenwahl auf einem neuen Tiefpunkt angelangte Verhältnis zwischen SPD/Grünen und Linken aus machtstrategischen Erwägungen heraus verbessern zu müssen.42 Beim Sonderparteitag der SPD Ende September in Berlin demonstrierte die Partei daher gewachsenes Selbstbewusstsein, nahm weitere Korrekturen ihrer eigenen früheren Regierungspolitik im Steuer- und Arbeitsmarktbereich vor (Wiedereinführung der Vermögenssteuer, Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Verschiebung des schrittweisen Einstiegs in die Erhöhung des Renteneintrittsalters) und machte sich für ein neues Fortschrittsmodell stark. Da jedoch das Glaubwürdigkeitsproblem der Partei hinsichtlich ihrer Positionierung im Sozialstaatskonflikt schon über ein Jahrzehnt andauerte, fiel es ihr schwer, die Positionsveränderung den Bürgern glaubhaft zu vermitteln43, und zudem wurde die öffentliche Auseinandersetzung um die relevanten Themen Atomausstieg, Integrationspolitik und Stuttgart 21 von der Union und den Grünen mit ihren klaren Alternativpositionen dominiert.44 Daher hielt das Umfragehoch nicht allzu lange, und als die Grünen durch ihren Höhenflug zum ernsthaften Konkurrenten um die Rolle als stärkste Oppositionspartei wurden45 und die SPD im November wieder 42
Eine rot-grün-rote Koalitionsperspektive für die Bundestagswahl 2013 wurde daher auch deutlich abgelehnt: Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel: „Ich werde die Partei Kurt Schumachers nicht in ein Bündnis mit einer Partei führen, die ein ungeklärtes Verhältnis zum DDR-Unrecht und zum Parlamentarismus hat“ (zit. n. „Ich bin nicht Kanzlerkandidat“, Interview mit Sigmar Gabriel. In: Der Spiegel vom 5. Juli 2010). Die Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen, Renate Künast: „Mit diesen Linken ist die Perspektive für Rot-Grün-Rot für 2013 nicht existent“ (zit. n. Beste, Ralf/Hickmann, Christoph/Schmid, Barbara: Zwei Köche, kein Kellner. In: Der Spiegel vom 21. Juni 2010). 43 Im Vorfeld des Parteitags fanden es zwei Drittel der Bevölkerung unglaubwürdig, dass die SPD jetzt Entscheidungen rückgängig machen will, die sie in der Regierung selbst getroffen hat (Infratest dimap: DeutschlandTREND, September 2010). 44 In der Integrationsdebatte hatte sich die SPD-Führung schnell darauf festgelegt, den Ausschluss Sarrazins aus der SPD zu betreiben. Dies brachte ihr Kritik von einigen prominenten Sozialdemokraten, u.a. vom Altkanzler Helmut Schmidt, ein. Es wurde befürchtet, dass dadurch bei vielen Bürgern der Eindruck geweckt würde, hier solle jemand, der bei einem die Bürger bewegenden Thema die Finger auf die Wunde legte, mundtot gemacht werden, statt seine Äußerungen zum Anlass einer offenen innerparteilichen Diskussion und kritischen Auseinandersetzung mit seinen Thesen zu nehmen. In Umfragen sprach sich die absolute Mehrheit der SPD-Anhänger für einen Verbleib Sarrazins in der SPD aus (56 Prozent der SPD-Anhänger wollen, dass Sarrazin bleibt, in: Bild.de vom 12. September 2010, http://www.bild.de/BILD/politik/2010/09/12/sigmar-gabriel-interview/umfrage/56prozent-der-spd-anhaenger-wollen-dass-sarrazin-bleibt.html; 15.9.2010). 45 Anfang Oktober lagen die Grünen in einer bundesweiten Umfrage erstmals vor der SPD (Grüne hängen die SPD ab. In: stern.de vom 5 Oktober 2010; http://www.stern.de/politik/deutschland/sternrtl-wahltrend-gruene-haengen-die-spd-ab-16-10-857.html; 6.10.2010).
Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009
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unter 30 Prozent fiel, begannen die Flügelkämpfe in der Partei wieder aufzuflammen.46 Von allen Seiten wurde dem Vorsitzenden vorgeworfen, er habe es noch nicht vermocht, die Partei durch neue Ideen und Themen wieder attraktiv zu machen. In der Tat ist es die wichtigste Aufgabe der Parteiführung, 2011 den Übergang von der internen Selbstvergewisserung zur externen Profilbildung zu schaffen. Dies ist am erfolgversprechendsten, wenn es ihr gelingt, mit einem noch nicht besetzten Konzept einen neuen öffentlichen Diskurs anzustoßen, innerhalb dessen sie die Deutungshoheit besitzt. Auf der Vorstandsklausur im Januar 2011 wurde deutlich, dass ein neuer Fortschrittsbegriff „als politischer Leitbegriff für die Gestaltung der Zukunft“, der „wirtschaftliches Wachstum, soziale Gerechtigkeit und Verantwortung für die Umwelt in Einklang bringt“47, diese Funktion übernehmen soll. Die Medienresonanz auf die Vorstandsklausur zeigte aber auch, dass die inhaltliche Profilierung nicht das einzige Problem der SPD ist. Von einigen Kommentatoren wurde „der unerklärte Zweikampf“48 zwischen dem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel und dem Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier um die spätere Kanzlerkandidatur thematisiert. Betrachtet man die unterschiedlichen Bewertungen der beiden Politiker durch die Bevölkerung (vgl. Abbildung 5), so lässt sich aus heutiger Sicht eine Kanzlerkandidatur des Parteivorsitzenden in der Tat mit einem Fragezeichen versehen. Eine innerparteiliche Diskussion hierüber zu einem so frühen Zeitpunkt würde der Partei jedoch deutlich schaden. Ein weiteres Problem der SPD ist der langfristige elektorale und parlamentarische Negativtrend der Partei auf Länderebene49, der insofern auch bundespolitische Relevanz hat, als er das Selbstverständnis der Partei als führende Kraft unter den drei Oppositionsparteien tangiert und die Frage nach zukünftigen Koalitionen mit der SPD als Juniorpartner aufwirft. Schon im März 2011 könnte sich in Baden-Württemberg die Frage nach einer Koalition unter Führung der Grünen stellen50 und in Sachsen-Anhalt steht die SPD nach der Landtagswahl möglicherweise vor der – bisher von der Landespartei mit einem klaren „nein“ beantworte46
So wurde in einem Papier des im Seeheimer Kreis organisierten rechten Parteiflügels kritisiert, die SPD komme in den politischen Diskussionen „kaum vor“, stecke in einer „schweren Identitätskrise“, und habe keine „schlüssige Antwort auf die Frage vieler Menschen, wofür sie steht“, weil ihr „ein gemeinsames Projekt“ fehle, in dem „die Menschen das Markenzeichen der SPD erkennen“ könnten. 47 Gabriel, Sigmar: Den Fortschritt neu entdecken. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Januar 2011. 48 Hartwig, Gunther: Der unerklärte Zweikampf. In: Südwest Presse online vom 12 Januar 2011 (http://www.swp.de/ulm/nachrichten/politik/Der-unerklaerte-Zweikampf;art4306,795002; 12.1.2011). 49 Vgl. hierzu den Beitrag von Alemann/Spier in diesem Band. 50 Dort erfolgte schon im Oktober 2010 der Tabubruch hinsichtlich des Verhältnisses zu den Grünen: Der Generalsekretär der Landes-SPD erklärte, seine Partei sei bereit, notfalls auch als Juniorpartner in eine Koalition mit den Grünen zu gehen (vgl. Höll, Susanne: SPD würde grünen Ministerpräsidenten wählen. In: Süddeutsche Zeitung vom 14. Oktober 2010).
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ten – Frage, ob sie erstmals einem Ministerpräsidenten der Linken ins Amt verhelfen soll. Die Ausführungen dieses Abschnitts haben gezeigt, dass das erste Jahr nach der Bundestagswahl für die beiden Volksparteien durchaus eine wechselvolle Zeit darstellte. Betrachtet man jedoch den gemeinsamen Stimmenanteil, so kann von einer Fortsetzung der Erosion der Volksparteien keine Rede sein, im Gegenteil: Betrug der gemeinsame Stimmenanteil von Union und SPD bei der Wahl knapp 57 Prozent, so bewegte er sich während des Jahres 2010 zwischen 65 und 70 Prozent.
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Die kleineren Parteien nach der Bundestagswahl
Eine Analyse der langfristigen Entwicklung der Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Arbeit der jeweiligen Bundesregierung zeigt, dass das Schicksal der schwarz-grünen Koalition keine Ausnahmeerscheinung ist. In der Regel unterliegen Regierungen im Laufe der Legislaturperiode einem ‚Popularitätszyklus‘. Sie haben vor der Wahl bei ihren Anhängern hohe Erwartungen geweckt, die sie durch ihre konkrete Politik meist enttäuschen, was in der ersten Hälfte der Legislaturperiode zu deutlichen Popularitätseinbußen führt. So war z.B. der Absturz der rot-grünen Regierung nach der Bundestagswahl 2002 noch viel heftiger und dauerte auch länger an. Einen wesentlichen Unterschied der jetzigen Regierungskoalition zu den Vorgängerregierungen gibt es jedoch: die Bewertung des kleinen Koalitionspartners. Während sich die Verschlechterung der Bewertung der Regierungsarbeit bei der Union noch im Rahmen hielt, sackte die FDP von einem nur leicht negativen Wert von -0,2 kurz nach der Bundestagswahl auf den Minusrekord von -1,9 im Sommer 2010 ab. Schlechter wurde die Arbeit einer Regierungspartei in den mehr als 30 Jahren der Messung von Regierungszufriedenheit noch nie bewertet. Wie Abbildung 6 zeigt, verlor die FDP innerhalb von acht Monaten fast vier Fünftel ihrer Wählerschaft und lag in der politischen Stimmung von Mai 2010 bis Anfang 2011 bei 3-4 Prozent, ein in der deutschen Parteigeschichte einmaliger Absturz einer Regierungspartei.
Das deutsche Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009
Abbildung 6:
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Politische Stimmung nach der Bundestagswahl 2009: Grüne, Linke und FDP (in Prozent)
24 22
GRÜNE
20
LINKE
FDP
18 16 14 12 10 8 6 4 BTW
2 0 9
10 11 12
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10 11 12
1
2
Quelle: FGW-Politbarometer.
Für diese dramatische Entwicklung sind sowohl inhaltliche als auch personelle Faktoren verantwortlich, die dadurch eng verwoben sind, dass der Vorsitzende Guido Westerwelle die „FDP zur Einmannpartei machte“51. Westerwelle legte die FDP vor der Bundestagswahl auf eine fast ausschließliche Profilierung als Steuersenkungspartei fest und weckte damit sehr hohe Erwartungen, die nach der Wahl enttäuscht wurden. Statt des versprochenen „mehr netto vom Brutto“ für die breite Masse der Bevölkerung setzte die FDP nur Verbesserungen für ihre Stammklientel durch. Zum Desaster geriet dabei die – zusammen mit der CSU – der CDU abgerungene Halbierung des Mehrwertsteuersatzes für das Hotelgewerbe, als mehrere im Umfeld der Bundestagswahl erfolgte, großzügige FDPSpenden der Familie Finck, Haupteigentümer der Möwenpick-Hotelgruppe, bekannt wurden, die der FDP wieder das Image einer Klientelpartei der Besserverdienenden anhefteten. Zudem wurde sie zur ‚Nullthemenpartei‘, als Kanzlerin Merkel nach der NRW-Wahl und unter dem Eindruck der Eurokrise Steuersenkungen eine klare Absage erteilte und die Führung es trotz mehrfacher Ankündigungen nicht schaffte, die Partei inhaltlich neu auszurichten und thematisch zu 51
Dittberner, Jürgen: Vom Erfolg betrunken. In: Der Tagesspiegel vom 21. Januar 2010.
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verbreitern. Einen wesentlichen Anteil am FDP-Absturz hatte zudem die Tatsache, dass ihr Vorsitzender durch seine „Weigerung, sich dem Amt des Außenministers auch habituell anzunähern“52, den ‚Amtsbonus‘, den diese Rolle bei der Bewertung durch die Bevölkerung mit sich bringt, nicht für sich nutzen konnte; im Gegenteil: Guido Westerwelle wurde von der Bevölkerung nie sonderlich gut beurteilt. Einen persönlichen Spitzenwert erreichte er kurz nach der Bundestagswahl 2009, stürzte dann aber dramatisch ab und verharrte bisher bei Negativwerten, wie sie in den mehr als 30 Jahren der Messung von Politikerbewertungen noch nie ein Außenminister hinnehmen musste. Abbildung 7 verdeutlicht dies am Vergleich der allgemeinen Bewertungen der letzten vier Außenminister in ihrem ersten Amtsjahr. Ursächlich hierfür ist vor allem die Tatsache, dass die Bevölkerung von einem Außenminister erwartet, staatstragend über den Niederungen der innenpolitischen Konflikte zu schweben, während Westerwelle schon in der ersten Februarhälfte in der Debatte um die Angemessenheit der Hartz IV-Sätze durch seine Äußerung, „wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein“53 aus den staatstragenden Sphären der Diplomatie „mit rauchenden Colts als regierender Oppositionschef54 in die Innenpolitik zurückkehrte und die Republik wieder den „enthemmten Polemiker“55 erlebte. Zudem traf ihn Anfang März eine erneute Kritikwelle mit dem Vorwurf der Verquickung von dienstlichen, parteipolitischen und privaten Verbindungen auf seinen Dienstreisen. Da der FDP das Schicksal drohte, „an einer Überdosis Guido zugrunde zu gehen“56, wurde die innerparteiliche Kritik ab dem Sommer 2010 immer lauter57 und gipfelte schließlich Mitte Dezember, ausgelöst durch ein Interview des schleswig-holsteinischen Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Kubicki, in dem er konstatierte, die Lage der FDP sei „fast aussichtslos“ und erinnere „fatal an die Spätphase der DDR“58, in einer von FDP-Funktionären immer wieder befeuerten Mediendiskussion um die Ablösung des Vorsitzenden. Der Aufruhr versandete jedoch wieder, nachdem Westerwelle zum freiwilligen Verzicht auf den Parteivorsitz nicht bereit war und aufgrund inhaltlicher wie 52 Monath, Hans: Klausur ohne Besinnung. In: Der Tagesspiegel online vom 28. Juni 2010 (http:// www.tagesspiegel.de/meinung/klausur-ohne-besinnung/1870982.html; 30.6.2010). 53 Westerwelle, Guido: An die deutsche Mittelschicht denkt niemand. In: WELT ONLINE vom 11. Februar 2010 (http://www.welt.de/debatte/article6347490/An-die-deutsche-Mittelschicht-denkt-niemand. html.; 12.2.2010). 54 Kister, Kurt: Koalitionspartner in kurzen Hosen. In: Süddeutsche Zeitung vom 15. Februar 2010. 55 Geis, Matthias: Der Hyperventilator. In: Die Zeit vom 18. Februar 2010. 56 Schwennicke, Christoph: Überdosis Guido. In: Der Spiegel vom 31. Mai 2010. 57 Auch die Bevölkerung war zu fast drei Vierteln der Ansicht, Westerwelle habe in der letzten Zeit seiner Partei mehr geschadet als genutzt (Infratest dimap: DeutschlandTREND, Juni 2010). 58 „Wie die späte DDR“, Interview mit Wolfgang Kubicki in: Der Spiegel vom 13. Dezember 2010.
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persönlicher Differenzen in den Reihen des Führungspersonals keine einheitliche gegnerische Front mit einer klaren personellen Alternative gebildet werden konnte. Momentan, d.h. Anfang 2011, deutet jedoch einiges darauf hin, dass ein Desaster bei der Landtagswahl im liberalen Stammland Baden-Württemberg den Druck auf den Vorsitzenden so weit erhöhen würde, dass er entweder am Wahlabend von selbst die politische Verantwortung übernehmen und zurücktreten müsste oder von seinen Parteifreunden dazu gezwungen werden würde. Abbildung 7:
Allgemeine Beurteilung von Westerwelle, Kinkel, Fischer und Steinmeier im ersten Jahr als Außenminister (Mittelwerte, Skala: von -5 = halte überhaupt nichts bis +5 halte sehr viel von …)
2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0,0 Westerwelle Fischer
-0,5 -1,0 -1,5
Kinkel Steinmeier
Hartz IVDebatte
-2,0 Quelle: FGW-Politbarometer.
Im November 2010 wurde die Bevölkerung nach der Beurteilung der verschiedenen Parteivorsitzenden gefragt. Nur 30 Prozent waren der Meinung, mit Guido Westerwelle habe die FDP einen guten Vorsitzenden. Unterboten wurde dies nur noch von der Beurteilung des Spitzenduos der Linkspartei, Gesine Lötzsch und Klaus Ernst, die 20 Prozent für gute Vorsitzende hielten.59 Dieses Ergebnis wirft ein Schlaglicht auf die Führungsprobleme, die in erster Linie dafür verantwortlich waren, dass auch die Linkspartei im ersten Jahr nach ihrem Sieg bei der Bundestagswahl 2009 in der Wählergunst abrutschte (vgl. Abbildung 6). Ausge59
Infratest dimap: DeutschlandTREND, November 2010.
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löst wurden die Probleme durch die Ankündigung Oskar Lafontaines, die Ämter des Fraktions- und des Parteivorsitzenden abzugeben.60 Die folgende Kontroverse zwischen dem politisch auf Fundamentalopposition setzenden Lafontaine und dem für den Realoflügel der Partei stehenden Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch geriet zu „einer ziemlich beispiellosen Selbstzerstörung“ der Partei, als Bartsch vom Co-Fraktionschef Gregor Gysi öffentlich als „illoyal“ 61 attackiert wurde. Die letztlich von Gysi durchgesetzte, einem früheren Parteibeschluss zuwiderlaufende, aber von einem Mitgliederentscheid gebilligte Nachfolgeregelung führte zu einer erneuten Doppelspitze: Auf dem Rostocker Parteitag Mitte Mai wurden Gesine Lötzsch und Klaus Ernst zu neuen Vorsitzenden gewählt. Der neuen Führung fehlte jedoch sowohl die für das Niederhalten parteiinterner Flügelkämpfe notwendige Autorität als auch die mediale Wirkungsmächtigkeit von Lafontaine.62 Anfang Juli 2010, bei der Bundespräsidentenwahl, vergab die Partei durch ihre Unterstützungsverweigerung des rot-grünen Kandidaten Joachim Gauck die Chance, „Bündnisfähigkeit zu beweisen“ und „endgültig mit ihrer Vergangenheit zu brechen“.63 Kurz danach flammten die innerparteilichen Kontroversen erneut auf, als Teile der Partei dem „Champagner-Sozialisten“ Klaus Ernst „Maßlosigkeit bei der Durchsetzung der eigenen Bezüge und barocken Lebensstil“64 vorwarfen. Anfang Januar geriet schließlich die CoVorsitzende Gesine Lötzsch ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik, als sie in einem Beitrag für die marxistische Tageszeitung: „junge Welt“ erklärte, „die Wege zum Kommunismus können wir nur finden, wenn wir uns auf den Weg machen und sie ausprobieren, ob in der Opposition oder in der Regierung“65, was ihr den Vorwurf einbrachte, sie habe „die Errichtung des Kommunismus wieder zum Ziel der Partei erklärt“.66 Insgesamt sorgten die dauernden Personaldebatten dafür, dass sich die Partei primär mit sich selbst beschäftigte und in den relevanten Debatten nach der Bundestagswahl nicht präsent war bzw. durch negative Schlagzeilen auffiel. Sollte die Linke bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg zum ersten Mal wieder aus einem Landtag fliegen und in Baden-Württemberg 60
Den Verzicht auf den Fraktionsvorsitz verkündete Lafontaine schon Anfang Oktober 2009, im November wurde seine Krebserkrankung bekannt und im Januar 2010 verkündete er seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur für den Vorsitz. Der Co-Vorsitzende Lothar Bisky hatte schon vorher deutlich gemacht, nicht mehr zur Verfügung zu stehen. 61 Berg, Stefan et al: Gegenwind von der Westfront. In: Der Spiegel vom 18. Januar 2010. 62 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Gero Neugebauer in diesem Band. 63 Steffen, Tilman: Die dunkelroten Verweigerer. In: ZEIT.ONLINE vom 1. Juli 2010 (http://www. zeit.de/politik/deutsch land/2010-07/wulff-guck-linke; 2.7.2010). 64 Lutz, Martin/Müller, Uwe: „Champagner-Sozialist erbost die Basis. In: Berliner Morgenpost vom 31. Juli 2010. 65 Lötzsch, Gesine: Wege zum Kommunismus. In: junge Welt vom 3. Januar 2011. 66 Berg, Stefan: Linke-Chefin erklärt Kommunismus zum Ziel der Partei. In: SPIEGEL ONLINE vom 4. Januar 2011 (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,737780,00.html; 6.1.2011).
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und Rheinland-Pfalz nicht in den Landtag einziehen, ist es fraglich, ob die beiden Vorsitzenden sich noch lange im Amt halten können. Während die FDP im ersten Jahr nach der Bundestagswahl einen dramatischen Niedergang erlebte und auch die Linke in der Wählergunst abrutschte, konnten die Grünen in dieser Zeit einen noch nie dagewesenen Höhenflug verbuchen (vgl. Abbildung 6) und das „grüne Wunder“67 führte dazu, dass sie in den Medien teilweise schon „im Club der Volksparteien“68 willkommen geheißen wurden. Dieser Aufstieg kann durch eine Kombination von lang- und kurzfristigen Faktoren erklärt werden. Zweifellos haben die Grünen seit der Bundestagswahl 2005, aus der sie erstmals als kleinste Parlamentspartei hervorgingen und mit dem Gang in die Opposition ihre letzte Regierungsbeteiligung auf der Bundes- und Landesebene verloren, personell, organisatorisch, inhaltlich und koalitionsstrategisch die Voraussetzungen für ein besseres künftiges Abschneiden geschaffen69: Personell entstand durch den Rückzug von Joschka Fischer an der Spitze der Partei zunächst ein Machtvakuum und im Kampf um seine Nachfolge brachen die alten Strömungskonflikte und personellen Konkurrenzen wieder auf. Noch vor der Bundestagswahl 2009 gelang jedoch ein Teambildungsprozess, aus dem ein strategisches Zentrum mit den beiden Partei- und den beiden Fraktionsvorsitzenden hervorging, die durch ihre unterschiedlichen Profile verschiedene Wählersegmente optimal abdecken und in neuerer Zeit auch deutlich mehr Medienpräsenz zeigen. Organisatorisch gelang es, die Parteistrukturen stärker zu professionalisieren und die Kampagnenfähigkeit zu verbessern, wobei durch den Parteirat als Clearingstelle auch Strömungskonflikte entschärft werden konnten. Inhaltlich wurde der ökologische Markenkern wieder stärker betont und durch das Konzept des Green New Deal neu definiert, in dem Ökologie und Ökonomie sich nicht mehr entgegenstehen, sondern zum wechselseitigen Nutzen miteinander verbunden sind. Zudem wurden die inhaltlichen Forderungen deutlich moderater als früher. Koalitionsstrategisch begannen sich die Grünen ihrer Schlüsselstellung im Fünf-Parteien-System bewusst zu werden, was zu einer koalitionsstrategischen Emanzipationsstrategie von der SPD führte und auf Landesebene in eine schwarz-grüne (Hamburg) und Jamaica-Koalition (Saarland) mündete. Auch wenn auf der Bundesebene durch die neuesten Entwicklungen eine Koalition mit der Union nur schwer vorstellbar ist, bleiben die Grünen auf der Landesebene bei ihrer Strategie des Offenhaltens klarer Koalitionsaussagen. Betrachtet man die Entwicklung der politischen Stimmung genauer, so wird allerdings deutlich, dass die beiden großen Sprünge im Februar und September 67
Beste, Ralf et al.: Das grüne Wunder. In: Der Spiegel vom 15. November 2010. Beste, Ralf: Die Wohlfühlpartei. In: Der Spiegel vom 28. Juni 2010. 69 Vgl. hierzu den Beitrag von Lothar Probst in diesem Band. 68
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Oskar Niedermayer
2010 auf einen Kurzfristfaktor zurückzuführen sind: die grüne Themenkonjunktur vor allem durch die Diskussion um und die Entscheidung zur Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke durch die Bundesregierung (vgl. Abbildung 6).70 Diese „Kampfansage“71 an die Grünen entfaltete eine starke Mobilisierungswirkung bei ihrer potenziellen Klientel, da der Atomausstieg „ein Kern grüner Identität“72 darstellt. Zudem waren die Grünen die einzige Partei, die sich in der Integrationsdebatte mit ihren Anhängern im Einklang befand. Es ist daher auch verständlich, dass der ‚Grünen-Hype‘ mit dem Verschwinden dieser Themen aus der politischen Agenda Anfang 2011 abgenommen hat. Dies ließ sich auch bei den Umfragen in den Bundesländern beobachten, wo die Grünen zunächst deutlich vom bundespolitischen Rückenwind profitierten, dann aber überall etwas an Unterstützung verloren. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass die Rolle der ‚dritten Kraft‘ im Parteiensystem durch die Entwicklungen nach der Bundestagswahl von der FDP auf die Grünen übergegangen ist. Ob dies so bleibt, wird sich im Verlauf des Jahres 2011 zeigen. Gelingt es den Grünen, die günstige politische Stimmung bei den sieben Landtagswahlen in Stimmen umzusetzen und erstmals in alle 16 Landtage einzuziehen, haben sie das Fundament für eine längerfristige Führungsrolle unter den kleineren Parteien gelegt.
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Fazit
Nach gut einem Jahr ist es noch zu früh, endgültige Schlussfolgerungen über die Entwicklung des Parteiensystems zu ziehen. Es deutet jedoch einiges darauf hin, dass sich das „fluide Fünfparteiensystem“73 von 2005 durch die Wahl 2009 und 70 In der ersten Februarhälfte geriet die Atompolitik durch den unionsinternen Streit um die Laufzeitfrage in die Schlagzeilen, danach stiegen die Werte der Grünen von 11 auf 16 Prozent. Am 8. September präsentierte die Regierung ihr Energiekonzept, das mit der Botschaft, die Regierung bahnt den Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien, zum Beleg des Willens zur Modernisierung werden sollte, aber zum Kommunikations-GAU geriet, da die Medien fast ausschließlich die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke und das Entgegenkommen gegenüber der Atomindustrie thematisierten. Daraufhin stiegen die Grünen-Werte in der politischen Stimmung von 17 auf den Höchststand von 22 Prozent. 71 So die Grünen-Fraktionschefin Renate Künast, zit. n. „Frau Merkel wird das bereuen“, Interview mit Renate Künast. In: Der Spiegel vom 20. September 2010. 72 So die Grünen-Parteichefin Claudia Roth, zit. n. stern.de vom 10. September 2010 (http://www. stern.de/politik/deutschland/gruenen-chefin-claudia-roth-schwarz-gruen-ist-nicht-denkbar-1602214. html; 11.9.2010). 73 Das fluide Fünfparteiensystem war dadurch charakterisiert, dass sowohl zwischen den beiden Volksparteien als auch zwischen den drei kleineren Parteien im Gegensatz zu der starren früheren Wettbewerbsstruktur mit einer strukturellen Asymmetrie zugunsten der Union und einer klaren ‚dritten Kraft‘ in Form der FDP eine offene, „fluide“ Wettbewerbssituation bestand, die auch neue Koalitionskonstellationen in den Blick geraten ließ (vgl. Niedermayer 2008: 9).
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die nachfolgenden Entwicklungen auf dem Weg zu einer neuen Konsolidierung befinden könnte, die durch eine Stabilisierung der Volksparteien auf niedrigerem Niveau, eine neue, nun angebotsbedingte strukturelle Asymmetrie zugunsten der Union und eine neue dritte Kraft in Gestalt der Grünen gekennzeichnet ist. Literatur Decker, Frank (2008): wo wir sind, ist die Mitte! Zum Standort der CDU im deutschen Parteiensystem, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 55, S. 12-15. Korte, Karl-Rudolf (2008): Neue Formeln zur Macht, in: Die Politische Meinung, 53, S. 5-9. Laakso, Markku/Taagepera, Rein (1979): ‚Effective‘ Number of Parties. A Measure with Application to West Europe, in: Comparative Political Studies, 12, S. 3-27. Lösche, Peter (2009): „Ende der Volksparteien“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 51, S. 6-12. Niedermayer, Oskar (2007): Die Entwicklung des bundesdeutschen Parteiensystems, in: Decker, Frank/Neu, Viola (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 114-135. Niedermayer, Oskar (2008): Das fluide Fünfparteiensystem nach der Bundestagswahl 2005, in: Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 9-35. Niedermayer, Oskar (2010a): Konvergenz oder andauernde Diversität? Die strukturelle Entwicklung der europäischen Parteiensysteme 1990-2010. in: Zeitschrift für Staatsund Europawissenschaften, 8, S. 340-357. Niedermayer, Oskar (2010b): Die Erosion der Volksparteien, in: Zeitschrift für Politik, 57, S. 265-277. Niedermayer, Oskar (2010c): Erfolgsbedingungen neuer Parteien im Parteiensystem am Beispiel der Piratenpartei Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 41, S. 838-854. Roth, Dieter (2009): Bundestagswahl 2009. Angela Merkel regiert (mit Schwarz-Gelb, das ist neu!), Vortragsmanuskript, Tutzing 2009.
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Regierungswechsel statt Machtverlust – die CDU nach der Bundestagswahl 2009 Udo Zolleis und Josef Schmid1
1
Einleitung
Die Bundestagswahl 2009 war für die CDU eine interessante Wiederholung einer kritischen Konstellation: Wie 1949 und 1982 begann sie 2009 zum dritten Mal in ihrer Geschichte nach einer großen eine kleine Koalitionsregierung. Das Wahljahr 2009 war daher aus Sicht des Office-Seeking (Harmel/Janda 1994: 259-287) für die CDU erfolgreich. Musste sie doch nach dem Ende der ersten Großen Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger für 13 Jahre in die Bonner Opposition, erlangte Schwarz-Gelb 2009 nach 11 Jahren wieder eine eigene Mehrheit. Und Angela Merkel blieb Bundeskanzlerin. Auch stellte die Union – die Kanzlerin eingeschlossen – elf Regierungschefs in Deutschland. Die CDU war wieder das, was sie seit ihrer Gründung sein wollte (Walter 2009: 22): Regierungspartei. Im Erlangen von Ämtern übertraf die Merkel-CDU sogar die politischen Erfolge der „goldenen christdemokratischen Ära“ in den späten 1950er Jahren. Aber wie steht es jenseits ihrer Regierungsämter um die CDU? Regierungsämter sind das Ergebnis von Wahlerfolgen, nicht deren Voraussetzung. Die Zukunftsperspektive von Parteien misst sich vielmehr an ihrer Integrationsleistung (Ware 1996). Für Parteien stellt sich damit eher die Frage: Welche Bevölkerungsteile kann sie durch ihre Parteiorganisation politisch einbinden? Und welche Wählergruppen kann sie durch ihre Programmatik erfolgreich ansprechen? In beiden Punkten – programmatisch wie organisatorisch – stellte die erste Große Koalition eine tiefe Zäsur in der Parteigeschichte der CDU dar. Die Christdemokraten überdachten in dieser Zeit ihren programmatischen Kurs und stießen grundlegende Reformen in der Parteiorganisation an. Nicht nur etablierte sich die CDU in der ersten Großen Koalition als kraftvolle Stimme einer unverrückbaren Deutschlandpolitik und grenzte sich von dem SPD-Außenminister Willy Brandt und dem SPD-Minister für gesamtdeutsche Fragen Herbert Wehner 1 Für die Mitarbeit an diesem Artikel bedanken wir uns bei Natalie Pfau und Veronika Schreck ganz herzlich.
O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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ab (Baring 1982: 139f.). Mit diesem für die Christdemokraten neuen politischen Profilierungspotenzial konnte sie in den folgenden Jahren viele national-liberal gesinnte Wähler gewinnen und gerade im Süden und Südwesten der Republik zur absoluten Mehrheitspartei aufsteigen (Wehling 2004: 201ff; Eith 2004: 219ff.). Auch löste sie sich von ihrem konsensualen Entscheidungsprinzip als Sammlungspartei und ersetzte es durch ein bis heute gültiges Delegiertenprinzip. Die Partei verstand sich nicht mehr als Stimme ihrer Milieus und gesellschaftlichen Vereinigungen, sondern bildete eine eigene Identität mit eigenen Rekrutierungsmechanismen (Zolleis 2008: 135ff., s.a Frey 2009). In diesem Sinne ist das Ergebnis der zweiten Großen Koalition für die Christdemokraten nicht vergleichbar. Weder wurde die Parteiorganisation reformiert, noch wurden neue Profilierungsfelder im Parteiensystem geortet. Stattdessen hat die CDU seit 2005 viele ehemals polarisierende Punkte zum linken Lager geschliffen. Die Christdemokraten reagierten mit ihrer veränderten pragmatischen Politikstrategie aber weniger auf ein neu entstandenes innerparteiliches Machtgefüge, auf neue Parteigruppen oder gar auf spezifisch neue gesellschaftliche Konfliktlinien. Vielmehr stand die Überwindung der Minderheitenposition der CDU im deutschen Parteiensystem im Vordergrund. Zudem zementierte sich seit 2005 der Wandel des innerparteilichen Lebens der CDU. Nicht nur die Politik der CDU wurde pragmatischer, auch ihr innerparteiliches Leben unterschied sich von der Amtszeit Helmut Kohls: Man verzichtete weitgehend auf intermediäre Aushandlungsprozesse, wurde elite-orientierter und appellativer. Trotz dieser Tendenzen vollzog die CDU aber keinen Wandel hin zu einer Kartellpartei (Katz/Mair 1995). Dagegen steht ihr föderaler Gesamtaufbau, der eine zentrale Steuerung und Ressourcenballung verhindert (Schmid 2008). Dieser Beitrag will eine Bestandsaufnahme der CDU nach der Bundestagswahl 2009 anhand ihrer programmatischen Identität und ihrer Organisationsfähigkeit leisten. Dabei wird auf das Konzept des politischen Leitbildes zurückgegriffen. Das politische Leitbild ist die Summe aller normativen Wertvorstellungen einer Partei: Es positioniert diese auf dem politischen Markt, zieht den roten Faden für deren politisches Handeln und strukturiert ihr innerparteiliches Leben (Zolleis 2008: 29). Folglich nimmt dieser Beitrag das innerparteiliche Leben und das Handeln der CDU auf dem politischen Markt in den Blick. Zugespitzt formuliert, werden auf die folgenden beiden Fragen Antworten gesucht: Was ist die programmatische Identität der CDU? Wie hat sich das innerparteiliche Leben der CDU verändert?
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Die programmatische Identität der CDU nach der Bundestagswahl
Über eine zu schwach ausgeprägte programmatische Identität der CDU wurde nicht erst seit der Konservatismus-Debatte im Jahr 2010 geklagt (Welt, 14.2. 2009). Der Vorwurf, die CDU könne mit ihrem „C“ nicht mehr viel anfangen (Walter 2008: 148), ist nicht neu. Schon in den 1960er Jahren konstatierte der Jesuit und katholische Sozialwissenschaftler Oswald von Bell- Breuning: „Ihr Christentum hat die CDU restlos ausgeschwitzt und ist zu einer treuen Kapitalistenpartei geworden“ (Bock 1976: 64). Die programmatische Identität der CDU genau festzulegen, ist nicht zuletzt deshalb schwierig, da ein geschlossenes christdemokratisches Theoriekonzept fehlt. Vielmehr ist die christdemokratische Programmatik im Laufe von rund hundert Jahren bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts aus der katholischen Soziallehre sowie der programmatischen Politik und den Öffnungsprozessen der ehemals konfessionellen Parteien entstanden (Nipperdey 1986). Daran anknüpfend hat die CDU sich stets mehr auf Leitprinzipien verständigt und versucht, mit diesen eine Klammer ihrer doch sehr divergierenden Anhängerschaft zu finden (Bösch 2002). Hierbei spielte das „C“ seit ihrer Gründung eine tragende Rolle (Bösch 2001). Und dies gilt auch für die heutige CDU. Ein Blick in die CDU-Grundsatzprogramme von 1978, 1994 und 2007 zeigt, dass das Bekenntnis in allen drei Programmen zum „C“, das heißt zum christlichen Menschenbild und seinen tragenden programmatischen Leitprinzipien der Personalität, der Solidarität und der Subsidiarität (Uertz 2004; Zolleis 2008), jeweils prominent ausgewiesen ist. Ihr Eintreten für den bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaat mit seiner Vielzahl von einflussreichen Wohlfahrtsverbänden grenzte sie von den Liberalen ab, ihr Eintreten für die Europäische Einigung unterschied sie von den Säkularkonservativen und ihre Affinität zur marktwirtschaftlichen Ordnung im Sinne von Ludwig Erhard trennte sie – wenn auch häufig allein sprachlich – von den Sozialdemokraten. Indem sie längere Laufzeiten für Kernkraftwerke und eine repressive Integrationspolitik verfolgte, grenzte sie sich von den Grünen ab. Der textliche Umfang des Wertekapitels im neuen Grundsatzprogramm hat sogar zugenommen. Eine schematische Übersicht über die quantitative Anzahl der „C“-Begriffe in den Wertekapiteln, die sich unter den drei Leitbegriffen subsumieren lassen, hat in den CDU-Grundsatzprogrammen im Laufe der Zeit sogar zu- und nicht abgenommen (vgl. Tabelle 1). Nun ist die rein quantitative Zählung methodisch sicherlich fraglich, um zu belegen, dass die CDU christlicher geworden ist. Die Notwendigkeit der CDU, sich ihrer Werte und ihrer politischen Prämissen in Grundsatzprogrammen zu
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vergewissern, ist sicherlich eine Folge einer zunehmend säkulareren Gesellschaft und einer partei-politisch heterogeneren katholischen Welt (Lappenküper 2001). In der Adenauerzeit war die programmatische Grundsatzarbeit innerhalb der eigenen vier Wände für die CDU nicht so bedeutend, weil die zentralen Werte unstrittig waren (Bösch 2001). Traditionell speiste sich die Christdemokratie aus dem Wertefundus ihres gesellschaftlichen Vorfelds und nicht aus Grundsatzkommissionen (Kleinmann 1992). Die christlichen Milieus waren identitäts- und damit auch wertestiftend (Nipperdey 1986). Deswegen hatte die CDU auch viel später als die liberalen und sozialdemokratischen Parteien in Deutschland an einem eigenen Grundsatzprogramm gefeilt. Tabelle 1: Das „C“ im Grundsatzprogramm Begriffe
1978
1994
2007
Christlich
2
6
17
Christliches Menschenbild
0
0
3
Gott
1
3
4
18
18
15
3
4
6
Freiheit
12
33
37
Gerechtigkeit
14
20
12
1
7
12
12
18
15
2
3
10
Solidarität Subsidiarität
Entfaltung/Persönlichkeit Gemeinschaft Familie
Quelle: eigene Recherchen und Auswertungen
Das Bekenntnis zum „C“ war und ist in dieser Programmarbeit weniger eine reine Marketingaktivität der Parteistrategen, die die programmatische Kontinuität und damit Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen soll. Vielmehr zeigt die Mitgliederstudie, die Viola Neu 1993 und dann wieder 2006 durchgeführt hat, dass christliche Werte dem überwiegenden Anteil der Mitglieder, also der Kernanhängerschaft (Katz 2002), politisch wie persönlich wichtig sind. Letztere sind sogar in der Bedeutung im Vergleich zu 1993 bei den CDU-Mitgliedern 2006 leicht angestiegen. Diese Einstellungsverschiebung lässt sich zum einen durch eine älter werdende Mitgliedschaft erklären (Neu 2007), zum anderen zeigt sie keine schwindende Bedeutung des „C“ in der CDU an (vgl. Tabelle 2).
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Das Bekenntnis zu christlichen Werten bildet aber nicht allein die programmatische Identität. Im Gegensatz zu skandinavischen C-Parteien (Madeley 1994) ist die CDU keine christliche, sondern eine christdemokratische Partei. Nicht der Grad der Kirchgangshäufigkeit ihrer Wähler oder der enge Linkage zum Episkopat sind die entscheidenden Bestimmungsfaktoren ihrer Identität, sondern in welchem Maße sie unter den christdemokratischen Leitprinzipien die divergierenden Interessen ihrer Anhängerschaft löst. Tabelle 2: Einstellung der CDU-Mitglieder zur Religion (%)
Das „C“ in der CDU ist ein Relikt aus alten Zeiten. Darauf könnte die Partei verzichten. Religion ist für mich der tragende Grund meines Lebens.
West
Ost
19
15
70 (1993: 61)
64 (1993: 54)
Quelle: Neu 2007
In der über 50-jährigen Geschichte der CDU sind fünf innerparteiliche Spannungslinien auszumachen:
Katholisch-lebensweltliche Positionierung vs. liberal-konservative Öffnungsstrategie: Seit der Gründung der ersten Ortsverbände der Union im Jahr 1946 existiert diese Spannungslinie (Bösch 2001). Ausgehend von den konfessionellen Skeptikern der Öffnungsstrategie als überkonfessionelle Sammlungsbewegung dreht sich diese sozio-kulturelle Spannungslinie um die Frage, inwieweit sich die Partei von katholischen Positionen entfernen kann. Die konfessionellen Volksschulen fielen als Issue ebenso in diese Konfliktlinie wie die Abtreibungsregelungen oder auch die bioethischen Fragen. Soziale Interessen vs. wirtschaftliche Freiheit: Als Sammlungsbewegung versuchte die CDU stets schichtübergreifend zu agieren und den sozio-ökonomischen Konflikt zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern zu überbrücken. Die Frage nach Miteigentum und Mitbestimmung waren zwischen dem Wirtschafts- und Sozialflügel ebenso heiß umstritten wie die Gesundheits- oder Pflegeversicherung oder auch der Kündigungsschutz (Schröder 1998; Grande 1987). Aktive Wirtschaftspolitik vs. Ordoliberalismus: Die CDU verstand sich seit 1949 als die Partei der Sozialen Marktwirtschaft. Das bedeutet aber nicht, dass sich alle Kräfte für einen Ordoliberalismus eingesetzt hätten. Gegen ein
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zu liberales Wirtschaftsverständnis richteten sich vor allem neben dem Sozialflügel konservative Unternehmer, Landwirte und „technokratische“ Landespolitiker, die die Wirtschaft nicht allein dem freien Spiel des Marktes überlassen wollten. Die Kartellgesetzgebung, allgemeine Subventionen und die Steuerpolitik, aber auch die Innovationspolitik der 1980er und 1990er Jahre sind Themen dieses Konflikts (Zohlnhöfer 2001; Zolleis 2008). Umwelt vs. Wirtschaftsinteressen: Durch das wachsende Umweltbewusstsein in der Bevölkerung stieg auch die Sensibilität innerhalb der CDU für die Bewahrung der Schöpfung gegenüber Wirtschafts-, Wohnungsbau- und Infrastrukturinteressen (Gros 1998). Dieser Konflikt schließt gerade auch energie-politische Fragen, insbesondere den Umgang mit der Kernenergie und erneuerbaren Energien ein. Atlantiker vs. Europäer: In den fünfziger und sechziger Jahren war die außenpolitische Ausrichtung der CDU stark umstritten. Der Konflikt zwischen Atlantikern und Europäern prägte nicht nur zahlreiche Fraktionssitzungen, sondern trennte auch Konrad Adenauer und Ludwig Erhard (Koerfer 1987). Dieser innerparteiliche Konflikt ist aber seit den siebziger Jahren erloschen.
Diese Konfliktlinien bilden sich im innerparteilichen Leben der CDU ab. Die Mitgliederstudie von Viola Neu identifiziert vor allem vier Gruppen: die gesellschaftspolitisch Liberalen, die traditionsbewussten, die marktwirtschaftlich Orientierten und die Christlich-Sozialen (Neu 2007). Sie sieht vor allem die ersten beiden oben dargestellten Konfliktlinien als prägend für das innerparteiliche Leben an. Tabelle 3: Gruppen in der CDU Gesellschaftspolitisch Liberale
17 Prozent
Traditionsbewusste
26 Prozent
Marktwirtschaftsorientierte
32 Prozent
Christlich-Soziale
25 Prozent
Quelle: Neu 2007
Die Programmarbeit kreist nun auch genau um diese beiden Konfliktlinien. Zum einen drehten sich die innerparteilichen Programmdebatten um die Frage, wie viel Marktwirtschaft will die CDU verwirklichen. Zum anderen versuchte die Parteivorsitzende, gesellschaftspolitisch liberale Positionen in der CDU zu stärken (Lau 2009).
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Diese Veränderungen fanden aber nicht im luftleeren Raum statt. Programmatische Neuerungen – als soziales Lernen verstanden – sind bewusste Vorgänge in Parteien. Sie dienen als Antwort auf Erfahrungen und den Gewinn neuer Informationen, dem Überdenken von Zielen oder Einstellungen von, in und zu bestimmten Politikbereichen (Demker 1997: 420f.; s.a. Schmid/Zolleis 2005). Angela Merkel entschied sich dabei nicht gerade für den innerparteilich einfachsten Weg; sie hat sich seit ihrer Kanzlerschaft den kleinen der von Viola Neu identifizieren innerparteilichen Gruppierungen angenähert. Der entscheidende Katalysator für diese Bereitschaft zu programmatischen Neuerungen war die Bundestagswahl 2005. Wie Marie Demker anhand des ideologischen Wandels der Gaullisten dargestellt hat, sind Parteien zu grundlegenden ideologischen Veränderungen nur bereit, wenn sie wiederholt ihr vorrangiges Parteiziel nicht erreichen (Demker 1997: 420f.). Das Wahlergebnis war für die Union enttäuschend, aber nicht verheerend. Folglich war in der CDU zwar die Bereitschaft zu Kurskorrekturen, aber nicht zu einem radikalen politischen Wandel vorhanden. Im Sinne der entscheidenden Parteiziele (Harmel/Janda 1994: 259ff.) ist die CDU eine Office-Seeking-Party. Oder, um es auf das Fallbeispiel konkret zu übersetzen: Sie war stets auf das Kanzleramt fixiert. In der Geschichte der CDU wurde die Partei immer in erhebliche Turbulenzen gestürzt, wenn sie das Amt des Kanzlers verlor (Bösch 2005: 172ff.). Die Große Koalition war zwar für viele Parteianhänger keine Wunschvorstellung (Tagesspiegel, 17.11.2005), aber auch keine politische Katastrophe. Schließlich wurde das vorrangige Wahlziel erreicht. Somit löste das Ergebnis der Bundestagswahl innerparteilich Veränderungsbereitschaft aus, setzte die CDU aber nicht unter Veränderungsdruck. Als Bundeskanzlerin verabschiedete sich Angela Merkel zügig von den Beschlüssen des Leipziger Reformparteitags von 2003. Damit war nicht nur das Steuerkonzept des CDU-Finanzpolitikers Friedrich Merz Makulatur geworden. Auch das unter der Federführung des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog erarbeitete marktwirtschaftliche Gesundheitskonzept verfolgten die Christdemokraten nach ihrem Regierungsantritt nicht weiter. Zudem verzichteten sie auf eine grundlegende Reform des Kündigungsschutzes. Diese Entscheidung gegen die programmatische Parteilinie wurde selbst von ehemaligen Wirtschaftsreformern in der CDU akzeptiert (Capital, 20.11. 2007). Schließlich musste die CDU dem politischen Markt Rechnung tragen. Dies stellte eine nicht unwesentliche Veränderung in der programmatischen Positionierung der CDU dar. Seit Mitte der 1990er Jahre hatte die CDU versucht, ihre Wirtschaftskompetenz in erster Linie mit einem Umbau der sozialen Sicherungssysteme, eines deregulierten Kündigungsschutzrechts und vor allem einer umfassenden Steuer-
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reform mit niedrigeren und einfacheren Tarifen auszudrücken. Der Leipziger Parteitag von 2003 war hier nur der parteiinterne Höhepunkt. Alle Wahlprogramme seit 1998 enthielten diese Forderungen, die nur im Detail und in ihrer Konkretisierung variierten (Zolleis 2008: 247ff.). Die grundlegende Richtung hatte bereits der damalige Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble in der Regierungszeit Helmut Kohls erarbeitet. Diese Forderungen gaben der Union nicht nur ein wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Profil, das auf mehr wirtschaftliche Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger setzte, sondern auch die Staatsquote generell senken wollte. Die Forderung nach weniger Staat und mehr wirtschaftlicher Freiheit war das Bindeglied von CDU und FDP gewesen und positionierte sie auf der wahlentscheidenden sozio-ökonomischen Konfliktlinie klar gegenüber SPD und Grünen. Und innerparteilich gewannen die Marktwirtschaftsorientierten die Oberhand, indem sich die neue CDU-Führung klar im Sinne von Ludwig Erhard entschied. Diese Positionierung wurde nun überdacht. Die Abkehr von dieser wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Reformagenda stellte den grundlegenden programmatischen Einschnitt seit 2005 dar, der sich gerade auch im Wahlkampf 2009 zeigte. Die CDU – gedrängt von FDP und CSU – bekannte sich zwar zu Steuersenkungen. Solide Staatsfinanzen waren aber für Merkel das A und O ihrer Finanzpolitik. Ihre Haltung wurde durch die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise noch verstärkt. Sie folgte damit ihrer finanzpolitischen Linie seit 2005, die ihre Priorität auf die Haushaltskonsolidierung mit Hilfe einer hohen Staatsquote legte (Tagesspiegel, 29.5.2008). Damit stellte sie die Schwerpunkte der Wahlprogramme seit 2005 auf den Kopf (FAZ, 9.7.2005). Die Gründe für diesen programmatischen Wandel können jedoch nicht allein im Koalitionszwang gesehen werden. Gerade im Nachgang der Bundestagswahl wurde das Wahlprogramm als zu „kalt“ und als zu „unsozial“ kritisiert (FR, 5.12.2005; WamS, 2.10.2005). Diese eher diffuse Kritik bezog sich weniger auf den Sprachstil des Wahlprogramms als vielmehr auf die Themenschwerpunktsetzung. So begeistert die CDU die Beschlüsse auf dem Reformparteitag 2003 gefeiert hatte, so ernüchternd sahen die Christdemokraten im Herbst 2005, wie wenig „reformfreudig“ die Bevölkerung war und wie leicht seitens der Sozialdemokraten Wahlkampf gegen die marktwirtschaftlichen Reformvorhaben geführt werden konnte. Diese in drei Bundestagswahlkämpfen gesammelten Erfahrungen ließen die Reformfreude der CDU erlahmen. Nicht mehr der Senkung der Staatsquote, sondern den soliden Finanzen galt nun die oberste Priorität. Dies zeigte nicht zuletzt die Grundsatzdebatte, die als Reaktion auf die Bundestagswahl 2005 einsetzte und zu dem CDU-Grundsatzprogramm von Hannover führte. Auch hier galt die Haushaltspolitik als das zentrale Reformthema der CDU. Von dem Ziel, solide Finanzen zu schaffen, ergaben sich für die CDU
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ebenfalls Erneuerungsbedarfe in ihrem Gerechtigkeitsverständniss. Die Generationengerechtigkeit und die Chancengerechtigkeit wurden mit soliden Finanzen begründet. Zudem bekannte sich die CDU zur Bildung als dem zentralen Baustein einer sozial gerechten Gesellschaft und knüpfte damit nicht nur an die Überlegungen zum vorsorgenden Sozialstaat an, sondern auch an die katholische Soziallehre. Die Teilhabe an Arbeit galt nicht nur für das eigene Erwerbseinkommen als wichtig, sondern für die Entfaltung der eigenen Person als bedeutend (Alberti/Leonardi 2004: 21ff.; Durand 1995: 277; van Kersbergen 1994: 31ff.; 2008: 259ff.). Die CDU verabschiedete sich von ihrem sozialpolitischen Leitsatz „Sozial ist, was Arbeit schafft.“ Er wurde abgemildert in „Arbeit für Alle ist ein Kernstück sozialer Gerechtigkeit.“ Diese Abschwächung war nicht nur semantischer Natur. Die CDU verfolgte nicht mehr mit der gleichen politischen Leidenschaft die Senkung der Staatsquote. Der Sozialstaat wurde, anders als auf dem Leipziger Reformparteitag, nicht als einengender Wohlfahrtsstaat betrachtet. Vielmehr wurde beispielsweise der Sicherheitsaspekt der Menschen im Wahlprogramm 2009 wieder stärker in den Vordergrund geschoben. Folglich war diese Akzentverschiebung zwar kein radikaler, aber doch ein beachtlicher Wandel im eigenen Politikverständnis. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die marktwirtschaftliche Positionierung der CDU wurde deutlich zurückgefahren. Dies war aber weniger Ausdruck veränderter innerparteilicher Kräfte, sondern wurde mit der notwendigen Anpassung an den Wählermarkt und mit dem externen Schock der Finanzmarktund Wirtschaftskrise begründet. In einem weiteren Punkt war das Grundsatzprogramm von 2007 zudem neu: in der Familienpolitik. Dieses auf der innerparteilichen sozio-kulturellen Konfliktlinie liegende Thema wurde „modernisiert“. Zwar schrieb das Grundsatzprogramm die Familienpolitik der christdemokratischen Familienministerin Ursula von der Leyen nur programmatisch fest. Aber dies war doch ein erheblicher Wandel zu den bisherigen Grundsätzen der Partei. Die CDU verabschiedete sich vom traditionellen Familienbild. Zwar hatte sie bereits in ihren Wahlprogrammen 2002 und 2005 eine gewisse Öffnung über das traditionelle Familienbild hinaus betrieben, im ersten Entwurf zu ihrem Grundsatzprogramm wurde jedoch ein erheblicher Einschnitt zum bisherigen Familienverständnis erkennbar. Neben der weiteren Förderung der Erwerbsarbeit für Mütter wollte sie das Ehegattensplitting aufheben und in ein Familiengeld umwandeln. Ehe wurde nicht mehr selbstverständlich mit Familie gleichgesetzt. Familie wurde nun über Kinder definiert. Diese geänderte Definition sollte die CDU für neue Familienformen öffnen und verursachte an der eher traditionell ausgerichteten Basis größere Unruhe (WamS, 25.11.2007). Durch den abschließenden Entwurf wurde dieser Reformansatz jedoch wieder relativiert. Sowohl das Betreuungsgeld als
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auch das Ehegattensplitting fanden Eingang in das Parteiprogramm (Saarbrücker Zeitung, 5.12.2007). Die CDU vollzog in der Familienpolitik keinen radikalen Wandel, setzte aber doch einen starken neuen Akzent in einem Politikfeld, das lange von den traditionsbewussten Kräften dominiert wurde. Die programmatische Identität der CDU bleibt auch im Jahr 2009 eine christdemokratische. Aber die innerparteilichen Positionen haben sich verschoben. Gesellschaftspolitisch ist die CDU liberaler und wirtschaftspolitisch sozialer geworden.
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Das innerparteiliche Leben der CDU
Die Parteiidentität wird nicht nur über das Programm, sondern auch über ihr innerparteiliches Leben geprägt. Die CDU hat für sich immer in Anspruch genommen, eine Volkspartei zu sein. Nun lautet die spannende Frage: Welchen Parteitypus verkörpert die CDU nach der Bundestagswahl 2009? Sie selbst versteht sich als „Volkspartei“. Die Politikwissenschaft kennt verschiedene Definitionen von Volksparteien. Gordon Smith definiert sie allein am Wahlergebnis. Eine Partei muss auf über 30 Prozent plus X kommen (Smith 1990). Elmar Wiesendahl hingegen definiert die Volkspartei als Partei mit einer breiten Mitgliedschaft (Wiesendahl, 2006). Beide Kriterien können als erfüllt gelten. Eine der Catch-all party im Sinne von Otto Kirchheimer – als deren Prototyp die CDU gilt -verbindet die unterschiedlichen Wählergruppen im politischen Mitte-RechtsRaum und versteht sich als organisiertes Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft (Kirchheimer 1967). Der fünfte Typus ist von Thomas Nipperdey die schichtübergreifende Volkspartei. Aufgrund ihrer konfessionellen Geschichte (Nipperdey 1961) war die CDU organisatorisch zunächst einmal – neben dem föderalen Aufbau (Schmid 1990) – schichtübergreifend angelegt (Zolleis 2008). Sozio-ökonomische Gegensätze prägten die CDU nicht nur seit der Gründung, sondern auch schon das innerparteiliche Leben ihrer konfessionellen Vorläufer (Nipperdey 1988). Die Heterogenität der Mitgliedschaft sowie die darauf aufbauenden internen Untergliederungen und Vorfeldorganisationen (wie die Junge Union, die FrauenUnion etc.) sind in der Organisationsgeschichte der CDU durch das Mediationsprinzip ausgeglichen worden. Ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Interessen wurden so in die Sammlungsbewegung integriert. Dies gelingt der CDU seit einigen Jahren immer weniger. Dies zeigt die Mitgliederstudie von Viola Neu (vgl. die Tabellen 5 und 6): Die Mitgliederstruktur der CDU hat sich in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten verschoben. Sie ist elitärer geworden. Wohlhabendere Berufe und bessere Bildungsabschlüsse sind nun stärker vertre-
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ten. In Ihrer Mitgliederschaft sind die Arbeiter um 10 Prozentpunkte gefallen und die der Hauptschulabsolventen sind sogar um 22 Prozentpunkte mehr als halbiert worden. Tabelle 4: Definitionen von Volksparteien und die CDU Jahr 1953
30-Prozent plus Wahlverein X (G. Smith) (Fröhlich) 34,8 6
1976
38,3
5
1990
38,3
10
2009
27,3
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Mitgliederpartei Schichtübergreifend (Wiesendahl) (Nipperdey) 300.000 unterschied. Milieus, einigendes Band: Fraktion 620.000 Starke Mitgliedschaft, Delegiertenprinzip 660.000 Starke Mitgliedschaft,Delegiertenpri nzip 520.000 Abnahme der einfacheren Berufe und niedrigeren Bildungsabschlüsse
Catch-All (Kirchheimer) Verbindung untersch. Wählergruppen Mitte-Rechts
Mitte-Rechts
Mitte-Rechts
Quelle: Eigene Darstellung
Dagegen ist ihr schichtübergreifender Charakter in der Wählerschaft noch weiter gegeben. Jedoch klafft nun eine nicht geringe Lücke zwischen Mitgliedschaft und Wählerschaft. Das bedeutet: Der innerparteiliche Willensbildungsprozess über die Mitglieder ist immer weniger geeignet, traditionelle schichtübergreifende Aushandlungsprozesse und entsprechend Repräsentation und Responsivität zu organisieren. Prägt nun dieser Wandel in der Mitgliedschaft nicht gleichzeitig die Programmarbeit in der CDU etwa in Richtung einer stärker marktwirtschaftlichen Ausrichtung? Schaut man sich dazu die Vorarbeiten zum Grundsatzprogramm der CDU von 2007 an, so zeigt sich, dass im Gegensatz zum Willensbildungsprozess für das Grundsatzprogramm 1978 nicht nur die Zeitspanne kürzer, sondern auch die Beteiligungsmöglichkeiten der mittleren Parteieliten und vor allem der gesellschaftlichen Vorfeldorganisationen eingeschränkter waren. Die CDUGrundsatzprogrammdiskussion sollte nicht eine „neue“ christdemokratische Politik formulieren oder definieren, vielmehr sollte sie eine durch die Bundestagswahl verunsicherte Parteibasis beruhigen bzw. beschäftigen (Stuttgarter Zeitung, 1.2.2006; FAZ, 31.1.2006).
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Udo Zolleis und Josef Schmid
Tabelle 5: Mitgliederstruktur berufliche Position (in%) Jahr Auszubildende Arbeiter/Meister Beamte/Angestellte einfach mittel gehoben höher Landwirte Selbständige Sonstige Quelle: Neu 2007
1993 1 16
2007 2 6
5 17 19 10 6 18 9
5 14 28 18 4 14 8
Tabelle 6: Mitgliederstruktur nach Bildung (in%) Jahr Hauptschule Realschule Abitur/Studium Quelle: Neu 2007
1993 43 32 25
2006 19 31 46
So veranstaltete die Parteizentrale mehrere Kongresse, Dialogtouren und Regionalkonferenzen. Dieser Prozess war in erster Linie eine therapeutische Maßnahme für die Mitgliederschaft. Wie bereits vor dem Leipziger Reformparteitag tat sich die CDU schwer, einen offenen Diskussionsprozess zu organisieren. Dies lag nicht an der mangelnden Diskussionskultur oder einer fehlenden Offenheit für Kritik: Die CDU-Führung um Generalsekretär Ronald Pofalla ließ kritische Stimmen durchaus zu und veränderte, gerade wenn Parteimitglieder in den Medien den Entwurf kritisierten, sogar auch ihre Vorlagen. Der CDU bereitete es jedoch Schwierigkeiten, einen konstruktiven und vor allem responsiven Willensbildungsprozess mit ihren gesellschaftlichen Zielgruppen und Anhängern zu organisieren. Die Diskussionsbeiträge wurden exklusiv oder appellativ geführt. Die Debatten wurden kaum genutzt, um kritische Intellektuelle, neue gesellschaftliche Repräsentanten oder mögliche neue Wählergruppen einzubinden. Neben den bekannten Vertretern der großen Verbände setzte der Diskussionsprozess im Gegensatz zum Grundsatzprogramm von 1978 auf die traditionell aktiven Parteimitglieder und war damit sehr geschlossen. Diskussionsoffenheit wurde eher inszeniert, denn wirklich hergestellt. Nicht erst seit der Grundsatzprogrammdiskussion waren die sogenannten Regionalkonferenzen die entscheidenden Formen innerparteilicher Willensbildung. Zentrale
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Politikentscheidungen wurden seit 2000 in diesen Mitgliederversammlungen per Akklamation und diffuser Meinungsbilder vorentschieden, um anschließend in großer Einmütigkeit auf dem Bundesparteitag formal beschlossen zu werden. Damit verabschiedete sich die CDU weitgehend von ihrem bisherigen Proporz- und Moderationstechniken zur Regulierung innerparteilicher Konflikte. So relativierte sich zugleich die Bedeutung der formalen Gremien und des Delegiertensystems. Schon der Wahl von Angela Merkel zur Parteivorsitzenden waren eine Reihe in den Statuten eigentlich nicht vorgesehener Regionalkonferenzen vorausgegangen, die durchaus plebiszitären Charakter angenommen, und die sie in den Machtkämpfen mit der Fraktion und den Landesfürsten gestärkt hatten. So hob sich der innerparteiliche Willensbildungsprozess deutlich von dem der 1970er und 1980er Jahre ab. Die Parteiführung steuerte die Regionalkonferenzen und führte somit den innerparteilichen Entscheidungsprozess nicht mehr über die Delegierten, sondern über die Medien. Die politischen Inhalte wurden weniger in Gremien erarbeitet, sondern dort bereits fertige Konzepte „abgenickt“. Die CDU war jedoch weit entfernt von der alten Kanzlerpartei der Ära Kohl (Schmid/Jox 2002: 71-82) oder der neuen professionellen Wählerpartei (Beyme 1997), aber auch vom Modell der Mitgliederpartei im Sinne Wiesendahls (Wiesendahl 2006). Diese nutzt die Mitglieder als strategische Ressource und verbindet freiwillige Mitarbeit, demokratische Partizipation sowie Programmorientierung und Ideologie zu einer „organisationslogisch(en) Einheit“ (Wiesendahl 2006: 22). Das gelingt zunehmend weniger. Bezogen auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen bewegte sich die CDU weiterhin abwärts und liegt nun (2010) bei rund 520.000 Mitgliedern). Zudem fehlte der CDU auch in den Zeiten der Großen Koalition ein strategisches Zentrum jenseits der Regierungspolitik auf Bundesebene, um eine einheitliche Sprache für die stark föderal organisierte Partei zu entwickeln. Die Bundesgeschäftsstelle beschäftigte nur noch 110-120 Mitarbeiter und fiel damit auf den Stand der 1960er Jahre zurück. Dadurch wurde aber zugleich der Weg zum zentralisierten Kanzlerwahlverein versperrt, denn dieser braucht – gerade um die Schwächen der sozialen Bindungen und schrumpfenden Mitgliederzahlen zu kompensieren – ein starkes professionelles Zentrum (Sickinger 2005: 77ff.; Detterbeck 2005: 63ff.). Daneben belegen die Verteilungsmuster der Parteifinanzen erneut die anhaltend föderative Struktur der CDU (vgl. Tabelle 1). Die Bundesebene verfügte wie seit Jahrzehnten lediglich über ein gutes Viertel der Ressourcen (Schmid 1990; Wiesendahl 2006; Detterbeck 2005: 63ff.).
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Abbildung 1:
Udo Zolleis und Josef Schmid
Parteifinanzen nach der Art der Finanzierung und nach Ebenen
Quelle: eigene Recherchen und Auswertungen
Zudem sind die Parteifinanzen auf den jeweiligen politischen Ebenen ganz unterschiedlich strukturiert. Über die Finanzen ist die Bundespartei so gut wie gar nicht mit ihrem gesellschaftlichen Vorfeld verbunden; allein Verbände und Unternehmen spenden der Bundesebene in relevanter Weise. Aber diese Gelder sind im Vergleich zur staatlichen Parteienfinanzierung nur ein Bruchteil. Die Finanzierung über Mitgliederbeiträge hat auf Bundeseben bei weitem nicht die Bedeutung wie auf Bezirks- Kreis- und Ortsebene. Diese finanzieren sich hauptsächlich über Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Und mittels Mandatsbeiträge natürlich auch im engeren Sinn über die staatliche Parteienfinanzierung. Eine der Ursachen für die parteitypologische Unbestimmtheit der CDU liegt in ihrem innerparteilichen Föderalismus, d. h. einer organisationalen Dimension. Dies äußert sich bei genauer Betrachtung vor allem in der Macht der Ministerpräsidenten und ihrer Staatskanzleien und weniger in der Stärke regionaler Parteiapparate und Gremien. Dies tendiert ferner eher zu unmoderierten Konflikten und der Fortführung der „Politikverflechtungsfalle“ im Sinne von Fritz Scharpf (Scharpf 1995: 239ff.), als zu einem konstruktiven Wettbewerb um Ideen und Lösungen, wie er sich in der Union in den siebziger und achtziger Jahren entwickelt hatte (Schmid 1990: 287ff.).
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Abbildung 2:
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Parteifinanzierung nach Art (in %) bezogen auf Gesamteinnahmen
Quelle: eigene Recherchen und Auswertungen
Statt dessen wächst die Bedeutung informeller Gremium; ein gutes Beispiel dafür ist die „Merkel-Runde“, in der sich die Ministerpräsidenten aus den unionsgeführten Bundesländern mit der Bundeskanzlerin, dem CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden, den Generalsekretären von CDU und CSU und dem CSULandesgruppenvorsitzenden treffen. Hier werden die Positionen der Union zu den zentralen bundespolitischen Punkten vereinbart und damit das CDU-Präsidium als koordinierendes Organ für die CDU-Politik verdrängt (Bösch 2005). Ob sich eine Rückverlagerung nach der Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen wieder ergibt, bleibt abzuwarten. Die Dominanz der Politikentscheidungen durch die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten ist jedoch nicht zu verwechseln mit einer Vormacht der Regierung in der Partei. Die Macht der Bezirks- und Kreisverbände ist nach wie vor bei der Rekrutierung des politischen Nachwuchses entscheidend. Zusammenfassend kann für das innerparteiliche Leben festgestellt werden: Die Partei ist medial fixierter, elite-orientierter und in der Mitgliederbeteiligung appellativer geworden. Die Bedeutung institutioneller Moderationsmechanismen
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Udo Zolleis und Josef Schmid
ist erhebliche gesunken. Die Pfadabhängigkeit als föderal strukturierte Partei (samt ihrer Finanzen) limitierte aber stets die Macht der Zentrale und verhindert bis heute, dass die CDU eine Kartellpartei wird. Gelegentlich erscheint das Machtnetzwerk der CDU als „hollow core“ (Heinz u.a. 1993), in der zwar die Position der Kanzlerin gesichert ist, aber sich daraus keine politische Richtung oder parteiorganisatorische Strategie ergibt
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Ausblick auf die CDU in den kommenden Jahren
Zusammenfassend sticht bei der programmatischen Identität wie auch beim Zustand des innerparteilichen Lebens die Kontinuität heraus. Veränderungen in der Programmatik und auch in der Parteiorganisation erfolgen durch kleinere Anpassungen an veränderte Rahmenbedingungen, v.a. unter dem Druck der Wähler und kurzfristig-situativer Ereignisse. Die CDU vollzieht aber keinen grundlegenden Wandel und schon gar keinen geplanten, zentral gesteuerten Veränderungsprozess. Damit ist festzustellen: Die CDU ist auch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts eine christdemokratische Partei geblieben. Die immer wieder kritisierten Unschärfen sind für dieses Parteimodell notorisch. In der Programmatik hat die CDU in den vergangenen fünf Jahren andere Schwerpunkte gesetzt. Damit ist sie wirtschaftspolitisch sozialer und gesellschaftspolitisch liberaler geworden. Diese Änderungen waren aber Annäherungen an den politischen Markt geschuldet. Sie stellen keinen Paradigmenwandel, sondern – wenn überhaupt – eine insgesamt sanfte programmatische Modernisierung dar. Auch die organisatorischen Veränderungen sind behutsame Anpassungen, die den gesellschaftlichen Wandel begleiten sollen. Dabei rücken die jeweiligen Ebenen, aber auch Regionen innerhalb der CDU auseinander. Dieser Wandel überrascht nicht aufgrund der Behutsamkeit, sondern aufgrund des Hin-und Her. Eine wirkliche Richtung, eine politische Strategie ist dabei nicht zu erkennen. Anders als nach der ersten Großen Koalition steht eine ideologisch-programmatische Debatte in der CDU noch aus. Diese wurde weder in der zweiten Großen Koalition noch im Wahlkampf geführt. Auch wurde bis heute keine organisatorische Zukunftsperspektive innerhalb der CDU auf den Weg gebracht. Es bleibt unklar, warum und wie sie im neuen Jahrhundert ihren politischen Willensbildungsprozess organisieren und dabei die Mitglieder einbeziehen will. So hat sie noch keine Antwort auf die Frage, wie sie sich im modernen Medienzeitalter – auch angesichts der digitalen Revolution – als moderne Bürgerpartei definiert. Entsprechend ihrem eher pragmatischen und wenig pointierten Wahlkampf wurde auch eine gewisse inhaltliche Leere der CDU während ihres ersten Regierungsjahres in der schwarz-gelben Koalition deutlich. Diese
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zeigt sich weniger bei Maßnahmen und Einzelforderungen als vielmehr im Fehlen einer gesellschaftspolitischen oder auch wirtschaftspolitischen Zielvorstellung, die sich zu einem christ-demokratischen Leitbild verdichten könnte. Folglich hat auch die neue Bundesregierung kein Leitprojekt. Mangels Kontrapunkten der CDU setzen sich CSU und FDP mit ihren Wahlkampfforderungen nach Steuererleichterungen durch. In der Finanzpolitik stößt die CDU sowohl als föderale Partei als auch aufgrund ihres eigenen Paradigmenwechsel in der 16. Legislaturperiode ebenfalls an ihre Grenzen. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob es der CDU gelingt, ihrer Programmatik eine stärkere Richtung zu geben. In welche Richtung das gehen könnte, zeigen beispielsweise die christdemokratische CVP in Belgien oder die modern-liberal-konservativen Tories in Großbritannien (vgl. auch Frey 2009). Dabei wird es für die CDU entscheidend sein, ob es ihr gelingt, ihre Kernanhängerschaft zu überzeugen. Die Hartz-Gesetze zeigen, was passiert, wenn sich eine Partei von ihrer Kernwählerschaft abkoppelt. Der SPD wurde 2009 der Boden unter den Füßen entzogen, weil sie der Facharbeiterschaft den Rücken gekehrt hatte. Um sich vor einem ähnlichen Schicksal im Jahr 2013 zu bewahren, müsste die CDU ihre Kernklientel weiterhin an sich binden. Ansonsten wird sie den Aderlass an Wählern zu anderen Parteien oder auch in das NichtWählerlager nicht umkehren können. Diese Strategie würde nur dann nachhaltig gelingen, wenn die CDU ihre Politik vermehrt institutionell einbettet. Dies kann auch in einer modernen Mediendemokratie nur über die Parteiorganisation bzw. ihre formalen und informellen Vorfeldorganisationen gelingen. Hierfür muss die CDU bis zur Wahl 2013 eine überzeugende Zukunftsperspektive entwickeln. Literatur Alberti, Paolo/Leonardi, Robert (2004): The consociational construction of Christian democracy, In: Van Hecke, Steven/Gerard, Emmanuel (Hrsg.) Christian democratic parties in Europe since the end of the cold war. Leuven: Leuven University Press, S. 21-41. Baring, Arnulf (1982): Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel. Stuttgart: DVA. Bock, Peter Josef (1976): Die CDU und ihre Arbeitnehmer. In: Clement, Wolfgang/Bock, Peter Josef (1976): Im Prinzip sozial. Die großen Parteien und die Arbeitnehmer. Hannover: Fackelträger-Verlag, S. 51-86. Bösch, Frank (2001): Die Adenauer- CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei. 1945- 1969. Stuttgart: DVA. Bösch, Frank (2002): Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU. Stuttgart: DVA. Bösch, Frank (2005): Oppositionszeiten als Motor der Parteireform? Die CDU nach 1969 und 1998 im Vergleich. In Schmid, Josef/Zolleis, Udo (Hrsg.): Zwischen Strategie und Anarchie. Der Erfolg von Parteiorganisationen. Wiesbaden: VS Verlag, S. 172-185.
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Erholung in der Opposition? Die SPD nach der Bundestagswahl 2009
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Erholung in der Opposition? Die SPD nach der Bundestagswahl 2009 Ulrich von Alemann und Tim Spier
1
Einleitung
Nach einer ununterbrochenen Regierungsbeteiligung von elf Jahren war am Wahlabend des 27. Septembers 2009 klar, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands nun endgültig in die parlamentarische Opposition im Bundestag wechseln muss. Das bereits im Wahlkampf fest geschmiedete Bündnis von CDU, CSU und FDP konnte auf eine sichere Mehrheit zurückgreifen und ließ keinen Zweifel aufkommen, dass es gewillt und fähig sei, die Regierungsverantwortung zu übernehmen. Der von einer fast beispiellosen Serie von Wahlniederlagen im Bund wie in den Ländern gebeutelten SPD bot sich nun, sicher eher unfreiwillig, die Möglichkeit, sich in der Opposition zu regenerieren. Ob eine Erholung in der Opposition erfolgversprechend sein würde, war von vornherein mehr als fraglich. Schließlich war es auch in der Folge des Machtverlusts der SPD 1982 nicht einfach, die Partei in ihrer neuen oppositionellen Rolle zu stabilisieren. Wenn man einmal von der Sondersituation der ersten Wahl im wiedervereinigten Deutschland im Jahre 1990 absieht, die der Bundeskanzler Kohl als „Kanzler der Einheit“ geschickt zu nutzen wusste, konnte die SPD in den Bundestagswahlen 1987 und 1994 jeweils eine prinzipiell günstige Ausgangslage, mit einer hohen Unzufriedenheit der Bevölkerung gegenüber der Regierungsarbeit Kohls, nicht für einen erneuten Machtwechsel nutzen: Die Partei war programmatisch zerrissen zwischen einer postmaterialistischen Neuausrichtung und einer Bedienung traditioneller Sozialstaatlichkeit, konnte sich nicht auf eine Koalitionsoption mit der Grünen einigen und wusste auch personell nicht immer besonders vielversprechende Kandidaten zu präsentieren (Walter 2010: 96f). Sechzehn Jahre Opposition waren die Folge. Eine Erholung sieht anders aus. Nicht zuletzt deswegen versuchte die regierende Sozialdemokratie in den 2000er Jahren den Machtverlust mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern. „Opposition ist Mist“, hatte 2004 der frisch gewählte Parteivorsitzende Müntefering verkündet, um die eigenen Reihen zu schließen. Der Beitrag O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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wird sich daher der Frage widmen, ob es der SPD diesmal schneller gelingt, sich in der Oppositionsrolle zu regenerieren und für die nächste Bundestagswahl neu aufzustellen.
2
Die SPD und die Bundestagswahl 2009
Widmen wir uns zunächst der Analyse des Abschneidens der SPD bei der Bundestagswahl 2009. Dabei soll auf die schwierige Ausgangslage für die Sozialdemokratie in der 16. Legislaturperiode eingegangen werden, um dann auf den Wahlkampf und nicht zuletzt das Ergebnis der Bundestagswahl am 27. September 2009 zu sprechen zu kommen. 2.1 Die Ausgangslage Die Interpretation des Ausgangs der Bundestagswahl 2005 für die SPD fiel in der Zeit nach der Bundestagswahl – je nach parteipolitischer Verortung der Betrachter – unterschiedlich aus: Auf der einen Seite fuhr die Sozialdemokratie mit 34,2 % ihr schlechtestes Ergebnis bei Bundestagswahlen seit 1990 ein, sie musste ihre Position als stärkste Fraktion an die CDU/CSU abgeben und konnte auch nicht mehr auf eine rot-grüne Parlamentsmehrheit zurückgreifen. Anhänger der bürgerlichen Parteien konnte daher mit Fug und Recht behaupten: Rot-Grün ist abgewählt. Für Parteigänger der Sozialdemokratie überwogen aber zunächst die positiven Aspekte des Wahlausgangs: Die SPD hatte nach einem fast die gesamte 15. Legislaturperiode andauernden Tief in den Umfragen im Endspurt des Wahlkampfs 2005 enorm aufgeholt (Schmitt-Beck/Faas 2006: 410f). Ihr gelang vor diesem Hintergrund durchaus ein überraschendes Wahlergebnis. Der scheinbar grenzenlose Jubel im Willy-Brandt-Haus bei Bekanntgabe der ersten Prognoseergebnisse und der vor Selbstbewusstsein strotzende Auftritt Gerhard Schröders in der „Elefantenrunde“ sind gute Beispiele für die Interpretation des Wahlausgangs als „gefühlter Sieg“ (von Alemann/Spier 2008: 58). Zudem konnte auch die im Wahlkampf geschlossen auftretende bürgerliche Opposition aus CDU, CSU und FDP keine parlamentarische Mehrheit erringen. Da die drei rechnerisch möglichen Dreierkoalitionen einer großen mit zwei kleineren Parteien entweder bereits im Vorfeld ausgeschlossen worden waren oder doch zumindest unrealisierbar erschienen, blieb den Hauptgegnern des Wahlkampfs, CDU/CSU und SPD, nichts anderes übrig, als eine Große Koalition zu bilden. Doch die Freude über den vermeintlich glücklichen Wahlausgang und die fortgesetzte Regierungsbeteiligung währte nicht lang. Gerade in Hinblick auf ihr
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Führungspersonal kam die SPD nicht zur Ruhe: Franz Müntefering, der erst 2004 Schröders Nachfolge als Parteivorsitzender angetreten hatte, scheiterte kurz nach der Bundestagswahl bei der Durchsetzung seines Wunschkandidaten für das Amt des Generalsekretärs und trat daraufhin zurück. Sein eilig designierter Nachfolger, der Ministerpräsident von Brandenburg, Matthias Platzeck, wurde vom SPD-Bundesparteitag im November 2005 mit großer Mehrheit zum neuen Parteivorsitzenden gewählt. Schon wenige Monate später, im April 2006, trat jedoch auch Platzeck aufgrund gesundheitlicher Probleme zurück. Schließlich wurde mit Kurt Beck einer der letzten erfolgreichen Landespolitiker der SPD zum Parteivorsitzenden gewählt und blieb es zumindest über zwei Jahre lang. Auch in der Exekutive wechselte die Spitzenposition des Vizekanzlers, die zunächst bei Müntefering als Bundesminister für Arbeit und Soziales gelegen hatte, mit dessen Rücktritt aus familiären Gründen im November 2007 auf FrankWalter Steinmeier, der im Kabinett Merkel I das Außenministerium führte. Abbildung 1:
Wahlabsicht für CDU/CSU und SPD zwischen den Bundestagswahlen 2005 und 2009
50
40
30
20 BTW 2005
LTW Hessen
BTW 2009
10 Rücktritt Platzeck
Rücktritt Beck
06 pr 0 Ju 6 n 06 A ug 0 O 6 kt D 06 ez 0 Fe 6 b 0 Ap 7 r0 Ju 7 n 0 A 7 ug 0 O 7 kt 0 D 7 ez F e 07 b 0 Ap 8 r0 Ju 8 n 0 Au 8 g 0 O 8 kt 0 D 8 ez F 08 eb 0 Ap 9 r 09 Ju n 0 Au 9 g 09 A
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SPD
CDU/CSU
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis des Politbarometers, Forschungsgruppe Wahlen.
Nicht nur die schwierige personelle Situation der Bundespartei wirkte sich negativ auf die Umfrageergebnisse der SPD aus. Der fast kontinuierliche Rückgang der Wahlabsicht in den Umfragen der Meinungsforschungsinstitute von rund 35 % bis hin zu gerade noch 23 % (vgl. Abb. 1) dürfte gerade auch auf strukturelle Probleme der SPD in der Großen Koalition zurückzuführen sein. Zunächst
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ergibt sich in einem bipolaren Parteiensystem wie dem deutschen durch das Zusammengehen der jeweils dominanten Akteure der beiden konkurrierenden Lager das Problem, dass Unzufriedenheit mit der Regierungsarbeit nicht von einer oppositionellen Großpartei aufgefangen werden kann. Mit anderen Worten: Große Koalitionen neigen dazu, die kleineren, nicht in der Regierung vertretenen Parteien zu stärken. Empirisch ist dies anhand der kumulierten PolitbarometerUmfragen der Forschungsgruppe Wahlen in den Jahren 2006 bis 2009 nachgewiesen worden (Hunsicker/Schroth 2010: 350ff): Der Anteil der Wähler, die 2005 CDU/CSU oder SPD gewählt hatten, und „ihrer“ Partei auch in den Folgejahren treu geblieben sind, ging von 2006 bis 2009 stetig zurück. 2009 gaben nur noch rund 45 % der SPD-Wähler von 2005 an, die Sozialdemokratie auch weiterhin wählen zu wollen. Im Fall von CDU/CSU waren es im gleichen Jahr zwar noch 57 %, was nichtsdestotrotz ein katastrophales Ergebnis für eine Volkspartei ist. Profitiert haben vom Schwund des Vertrauens in die beiden Großparteien vor allem jeweils die kleinen Parteien, die sich prinzipiell im Lager der entsprechenden Großpartei verorten: Von den Wählern der Unionsparteien bei der Bundestagswahl 2005, die in ihrer Wahlabsicht 2009 eine andere Partei angaben, konnte die FDP 58 % für sich gewinnen. Die „Parteiwechsler“ unter den SPD-Wählern der Bundestagswahl 2005 präferierten zu 29 % Bündnis 90/Die Grünen und zu 21 % Die Linke. Im Gegensatz zur Situation in der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969 (Hildebrand 2006: 620) konnten dezidiert extremistische Parteien, wie damals die NPD, 2009 nicht vom Vertrauensverlust in die Koalitionsparteien profitieren. Ein anderes strukturelles Problem hatte die SPD unmittelbar selbst zu verantworten: Sie hatte im Rahmen der Koalitionsverhandlungen gerade jene budgetträchtigen Ministerien übernommen, die dem Bürger in absehbarer Weise unliebsame Reformen und zusätzliche Belastungen verkaufen mussten. So musste das Finanzressort unter Peer Steinbrück die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 % durchsetzen, das Ministerium für Arbeit und Soziales unter Franz Müntefering die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre und das Gesundheitsministerium unter Ulla Schmidt die Gesundheitsreform. Besonders problematisch war an den genannten Maßnahmen, dass sie – teilweise explizit – Wahlversprechen und programmatischen Aussagen der SPD widersprachen und insofern besonders bei ihrer Anhängerschaft auf Unverständnis und Widerstand trafen (Butzlaff 2009: 56ff; Jun 2010: 300ff). Eng verwoben mit diesen Fragen ist die Dimension des innerparteilichen Konflikts innerhalb der SPD. Die Auseinandersetzungen zwischen dem „Modernisierer-Flügel“ der Partei, der auf die organisatorischen Zusammenschlüsse „Seeheimer Kreis“ und „Netzwerk Berlin“ zurückgeht, und der Parteilinken, die im „Forum Demokratische Linke 21“ organisiert ist, waren bereits unter der rot-
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grünen Bundesregierung heftig. Der Hauptkonflikt bestand dabei in der Befürwortung bzw. Ablehnung der unter dem Begriff „Agenda 2010“ firmierenden Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Gerhard Schröders. Das konfliktreiche Erbe der „Agenda 2010“ wirkte – gerade auch in Anbetracht der beschriebenen umstrittenen Reformmaßnahmen – während der Großen Koalition fort. Erst der Versuch Kurt Becks, mit einer erneuten Überarbeitung des Entwurfs für ein neues SPDGrundsatzprogramm die Flügel auf Basis eines zumindest sprachlichen Kompromisses zu integrieren (Nachtwey 2009: 232ff), brachte eine gewisse Beruhigung des innerparteilichen Konflikts mit sich. Nichtsdestotrotz blieb die SPD in ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Ausrichtung zerrissen: Der Konflikt zwischen „Modernisierern“ und „Traditionalisten“ wurde nur formelhaft überwundern. Von einer kohärenten wirtschafts- und sozialpolitischen Vision, die in einer von weiten Teilen der Partei geteilten Identität verwurzelt ist, kann bis heute keine Rede sein (Jun 2010: 305). Tabelle 1: Wahlergebnisse der SPD in der 16. Legislaturperiode Wahl Bundestagswahl Baden-Württemberg Rheinland-Pfalz Sachsen-Anhalt Mecklenburg-Vorpommern Bremen Hessen Hamburg Bayern Hessen Europawahl Saarland
Wahltag 18.09.2005 26.03.2006 26.03.2006 26.03.2006 17.09.2006 13.05.2007 27.01.2008 24.02.2008 28.09.2008 18.01.2009 07.06.2009 30.08.2009
SPD in % 34,2 25,2 45,6 21,4 30,2 36,7 36,7 34,1 18,6 23,7 20,8 24,5
Sachsen 30.08.2009 10,4 Thüringen 30.08.2009 18,5 Brandenburg 30.08.2009 33,0 Schleswig-Holstein 27.09.2009 25,4 Bundestagswahl 27.09.2009 23,0 Quelle: Statistisches Bundesamt, statistische Landesämter.
SPD +/– – 4,3 – 8,1 + 0,9 + 1,4 – 10,4 – 5,6 + 7,6 + 3,6 – 1,0 – 13,0 – 0,7 – 6,3
Koalition vorher SPD, Grüne CDU, FDP SPD, FDP CDU, FDP SPD, PDS SPD, CDU CDU, FDP CDU CSU (CDU) CDU
+ 0,6 + 4,0 + 1,1 – 13,3 – 11,2
CDU, SPD CDU SPD, CDU CDU, SPD CDU, SPD
Koalition nachher CDU, SPD CDU, FDP SPD CDU, SPD SPD, CDU SPD, Grüne (CDU) CDU, Grüne CSU, FDP CDU, FDP CDU, FDP, Grüne CDU, FDP CDU, SPD SPD, Linke CDU, FDP CDU, FDP
Nicht nur in deutschlandweiten Meinungsumfragen hatte die SPD mit Problemen zu kämpfen, auch in den „second order elections“, also den bundespolitisch beeinflussten Landtags- und Europawahlen, wurden die Probleme der SPD in der
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Großen Koalition offensichtlich. In vielen der Landtagswahlen der 16. Legislaturperiode verlor die Sozialdemokratie Stimmanteile, in drei Fällen sogar im zweistelligen Bereich. In der ersten Hälfte der Amtszeit der Großen Koalition konnte die SPD ihre Wahlergebnisse nur in Rheinland-Pfalz und in SachsenAnhalt stabilisieren bzw. leicht ausbauen, in Baden-Württemberg und in Mecklenburg-Vorpommern musste sie hingegen schwere Einbußen hinnehmen. Zu einem Wendepunkt geriet dann die Landtagswahl in Hessen im Januar 2008. Nach einem stark polarisierenden Wahlkampf zwischen dem CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch und der SPD-Herausforderin Andrea Ypsilanti gelang es der hessischen Sozialdemokratie, 7,6 Prozentpunkte hinzuzugewinnen. Mit 36,7 % blieb sie jedoch wenige tausend Stimmen hinter der CDU – in Anbetracht der schweren Verluste der CDU entstand daher bei der SPD der Anspruch auf das Amt des hessischen Ministerpräsidenten. Die Koalitionsoptionen waren von vornherein begrenzt: Wie bei der Bundestagswahl 2005 verfügte weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün über eine parlamentarische Mehrheit. Die erstmals ins hessische Parlament eingezogene Linke machte eine Mehrheitsbildung innerhalb der etablierten Parteienbündnisse unmöglich. Gleichzeitig hatte die SPD im Wahlkampf jede Zusammenarbeit mit der Linken ausgeschlossen. Sowohl FDP wie auch die Grünen weigerten sich, den beiden Parteien des jeweilig anderen Bündnisses zu einer Mehrheit zu verhelfen. Schließlich war wegen des harten und durch persönliche Angriffe geprägten Wahlkampfs eine Große Koalition kaum denkbar. Hierzu hätte entweder Koch zurücktreten oder die SPD auf ihren Führungsanspruch verzichten müssen. Entsprechend lang zogen sich die Gespräche hin, während Koch geschäftsführend im Amt blieb. Begleitet und erschwert wurden die Sondierungen durch ein großes mediales Interesse und innerparteiliche Auseinandersetzungen in der SPD über mögliche Koalitionsoptionen. Während die Parteiführung der BundesSPD lange Zeit noch jede Zusammenarbeit mit der Linken ausschloss, setzte Ypsilanti schließlich auf eine Minderheitsregierung von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen, die faktisch auf eine Tolerierung durch die Linke angewiesen war. Dies wurde von den bürgerlichen Parteien, einem guten Teil der Medien und nicht zuletzt auch vom rechten Parteiflügel der SPD als Wortbruch aufgefasst. Als dann im November 2008 die bereits einmal verschobene Wahl des Ministerpräsidenten anstand, verweigerten einen Tag vor der Entscheidung vier Abgeordnete der SPD – unter ihnen Jürgen Walter, der 2006 bei der innerparteilichen Auswahl des Spitzenkandidaten der Partei gegen Ypsilanti verloren hatte – die Gefolgschaft und kündigten an, Ypsilanti nicht zur Ministerpräsidentin wählen zu wollen. Eine Mehrheit war so auch nicht mehr mit den Stimmen der Linken zu erreichen. Andrea Ypsilanti zog daraufhin ihre Kandidatur zurück, während Koch weiter im Amt blieb.
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Die Auswirkungen dieses Debakels in Hessen wurden unmittelbar für die gesamte SPD spürbar. Vermutlich wäre der Bundes-SPD allein schon aufgrund einer faktischen Tolerierung von Rot-Grün in Hessen durch die Linke ein großes Legitimationsproblem entstanden, doch die gescheiterte Ministerpräsidentenwahl machte zudem deutlich, dass die Sozialdemokratie innerparteilich so zerrissen war, dass sie einmal getroffene Entscheidungen nicht durchsetzen konnte. Am gravierendsten wog der Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust von Ypsilanti. Sie hatte ihr vor der Wahl gegebenes Versprechen, nicht mit der Unterstützung der Linken zu regieren, gebrochen. Ein gefundenes Fressen für die SPD-kritische Presse. Die SPD fiel in den folgenden Monaten in den Umfragen teilweise deutlich unter 30 %. Und auch der Parteivorsitzende Beck hatte seine Position mit der Strategie der verbalen Abgrenzung gegenüber der Linken beim gleichzeitigen Versuch, in Hessen eine Tolerierung durchzusetzen, irreparabel beschädigt. Die mangelnde Popularität des Parteivorsitzenden Beck und sein kritikwürdiges Verhalten in der Frage der Zusammenarbeit mit der Linken kosteten ihn schließlich den Parteivorsitz (Spier 2010a: 53f): Die SPD konnte in bundesweiten Umfragen im Sommer 2008 nur noch knapp 25 % auf sich vereinigen. Die Autorität des Parteivorsitzenden wurde zunehmend auch innerhalb der SPD offen hinterfragt. Beck ließ schließlich dem Außenminister Frank-Walter Steinmeier den Vortritt in der Kanzlerkandidatur, bat sich aber aus, zumindest selbst den neuen Spitzenkandidaten auszurufen. Als dann unmittelbar vor dieser Ausrufung am 7. September 2008 durch gezielte Information der Presse das Vorhaben bekannt wurde, fühlte sich Beck hintergangen und trat als Parteivorsitzender zurück. Nachfolger wurde erneut Franz Müntefering, der zusammen mit dem nun designierten Spitzenkandidaten Steinmeier die Bundestagswahl bestreiten sollte. 2.2 Der Wahlkampf „Wahlkampf können wir“, so lautete ein häufig bemühtes Diktum von Müntefering im Vorfeld der Bundestagswahl 2009. Diese selbstsichere Gewissheit der eigenen Stärke war in der Tat nicht völlig unplausibel, hatte die SPD in den Wahlkämpfen 2002 und 2005 doch trotz jeweils schlechter Ausgangslagen im Verlauf der Auseinandersetzung eine beträchtliche Mobilisierungsfähigkeit an den Tag gelegt. Doch der Wahlkampf 2009 hatte mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen: Die SPD konnte in Bezug auf Personen an der Spitze, Politik und Partei keine überzeugende Imagelinie aufbauen. Die avisierte Angriffslinie im Bereich der sozialen Gerechtigkeit scheiterte an der „Sozialdemokratisie-
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rung“ der Unionsparteien. Schließlich gelang es nicht, dem Wähler eine realistische Koalitionsperspektive zu vermitteln. Zur Analyse von Wahlkämpfen ist es sinnvoll, zwei verschiedenen Dimensionen zu unterscheiden (Niedermayer 2007: 21ff): Eine Imagelinie, die eigene Stärken betont, und eine Angriffslinie, die auf Schwächen des politischen Gegners zielt. Beide Dimensionen können sich sowohl auf Spitzenkandidaten wie auch auf Parteien beziehen. Zunächst zur Imagelinie: Die SPD hatte mit FrankWalter Steinmeier einen Kanzlerkandidaten gewählt, der sich weniger durch Charisma oder eine politische Vision auszeichnete, als durch das Bild eines pragmatischen, flexiblen und nicht zuletzt unideologischen, aber jedenfalls erfolgreichen Administrators (Lütjen 2009: 149ff). Im Grunde waren dies Attribute, die in ähnlicher Weise auch für Angela Merkel zutrafen. Mit einem wichtigen Unterschied: Angela Merkel hatte die Kanzlerschaft bereits inne und konnte eine gewisse inhaltliche Unbestimmtheit im Rahmen einer starken Personalisierungsstrategie durch ihren Amtsbonus wettmachen (Raschke/Tils 2010: 12). So verwundert es dann auch kaum, dass die Kandidatin Merkel gegenüber dem Kandidaten Steinmeier nicht nur in ihrer jeweiligen Anhängerschaft, sondern auch in der Wählerschaft insgesamt besser bewertet wurde (vgl. Tabelle 2). Sie galt zudem in der Bevölkerung als glaubwürdiger, sympathischer, sachverständiger und durchsetzungsfähiger (Forschungsgruppe Wahlen 2009: 40). Die hohen Popularitätswerte, die es Gerhard Schröder noch im Wahlkampf 2005 ermöglicht hatten, die eigenen Anhänger zu mobilisieren, konnte Frank-Walter Steinmeier jedenfalls nicht in die Waagschale werfen. Tabelle 2: Bewertung der Spitzenkandidaten (Skala von +5 bis –5) Kandidat Mittelwert aller Befragten Merkel 1,9 Steinmeier 1,3 Quelle: Forschungsgruppe Wahlen (2009: 39).
Mittelwert der Parteianhänger 3,6 2,8
Auch in der Bewertung der Partei war die Imagelinie der SPD-Kampagne offenbar nicht besonders erfolgreich. Wichtige Themen waren die Kompetenzen der Partei im Gebiet der sozialen Gerechtigkeit, der Wirtschafts- sowie der Bildungspolitik (Geise 2010: 162). Gerade in zentralen Bereichen des Themas „soziale Gerechtigkeit“ hatte die SPD aufgrund der oben bereits angesprochenen und von ihren Fachministern betriebenen Reformmaßnahmen im Bereich der Steuer-, Renten- und Gesundheitspolitik ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem (Jun/Pütz 2010: 203f). In der Tat war die politische Agenda dominiert von den drei Themen, die die SPD in ihrer Imagelinie betonte (Forschungsgruppe Wahlen 2009: 43f): Mit weitem Abstand war die Arbeitslosigkeit als Ausdruck
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von Problemen der sozialen Gerechtigkeit das wichtigste Thema in der Sicht der Wähler. Mit großem Abstand folgten die Themen Wirtschaft und Bildung. In allen drei Themenbereichen wurde der CDU/CSU eine größere Problemlösungskompetenz zugetraut. Der Vorsprung der Unionsparteien war gerade im Bereich der Wirtschaftspolitik enorm, aber auch in der Arbeitsmarkt-Thematik ausgeprägt. Lediglich in der Bildungspolitik waren die Unterschiede in der Problemlösungskompetenz eher gering. Wesentlich für das Verständnis der folgenden Wahlniederlage der SPD ist das Scheitern ihrer Angriffslinie. Gerade im Wahlkampf 2005 hatte Schröder bewiesen, dass er mit aggressiven Angriffen auf Merkel, Kirchhoff und Westerwelle, die er einer Politik der „sozialen Kälte“ bezichtigte, die SPD-Anhänger effektiv mobilisieren konnte (von Alemann/Erbentraut/Walther 2010: 88). Auch 2009 hatte die SPD einen derartigen Angriffswahlkampf geplant. Allein, er konnte nicht verfangen: Neben dem eigenen Glaubwürdigkeitsproblem im Bereich der sozialen Gerechtigkeit hatte die SPD mit dem Problem zu kämpfen, dass Merkel und die CDU/CSU ihr 2009 kaum Angriffsfläche boten. In Anbetracht des großen Vorsprungs der Union in den Wahlumfragen setzten sie auf einen „Wahlkampfvermeidungswahlkampf“ (Spreng 2010): Merkel und die Union wollten eine polarisierende Konfrontation um jeden Preis verhindern, um die demobilisierte SPD-Anhängerschaft nicht als unintendierte Nebenfolge mit zu mobilisieren. Die sozialpolitischen Zumutungen, die sie noch 2005 in ihrem „Wahlkampf der Ehrlichkeit“ offen vertrat, verschwieg Merkel 2009 fast völlig. Ob dies inhaltlich eine „Sozialdemokratisierung“ der Union bedeutet, mag dahingestellt sein. Polarisierungs- und Eskalationsversuche fielen jedenfalls auf die SPD zurück, da sie als einseitige Angriffe und nicht-provozierte Aggression wahrgenommen wurden (Blätte 2010: 291) Schließlich waren die Koalitions-, und damit die Machtperspektiven, die die SPD im Wahlkampf vertrat, entweder unplausibel, unrealistisch oder sogar widersprüchlich (Hilmer 2010: 36ff; Niedermayer 2010: 236). Dass eine rot-grüne Wunschkoalition am Tag der Bundestagswahl eine Mehrheit bekommen würde, war von vornherein fast ausgeschlossen. Die von Steinmeier schon im Wahlkampf ins Spiel gebrachte Ampelkoalition wurde von der FDP umgehend abgelehnt. Eine eventuell rechnerisch mögliche Koalition von SPD, Grünen und Linken hatte die SPD selbst ausgeschlossen. Es blieb also im besten Fall für die SPD eine Fortsetzung einer Koalition mit ausgerechnet der Union, gegen die sie in der Schlussphase einen – zudem noch unprovozierten – Angriffswahlkampf führte. Die SPD bezichtigte CDU/CSU und FDP einer Politik der „sozialen Kälte“, ihre Machtoptionen lagen aber gerade in einer Zusammenarbeit mit den so von ihr verschmähten Parteien. Sie saß also in der Falle.
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2.3 Das Wahlergebnis Man kann es nicht anders bezeichnen: Das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 war für die SPD ein Debakel. Mit 23,0 % der Zweitstimmen erzielte sie mit weitem Abstand das schlechteste Ergebnis bei Bundestagswahlen. Sie verlor ganze 11,3 Prozentpunkte im Vergleich zur Vorwahl. Gleichzeitig fiel die Wahlbeteiligung mit 70,8 % ebenfalls historisch niedrig aus. Insgesamt kam die SPD gerade einmal auf knapp zehn Millionen Wähler – zum Vergleich: 1998 hatte sie noch mehr als zwanzig Millionen Zweitstimmen auf ihren Wahlvorschlag vereinigen können. Der Schlüssel zur Erklärung ihrer Wahlniederlage liegt also in der Nichtausschöpfung eines einstmals existenten Wählerpotentials. Auch wenn der Niedergang der SPD in der Wählergunst eine säkulare Entwicklung darstellt, so ist die Analyse der Wählerströme bei der Bundestagswahl 2009 im Vergleich zur Vorwahl doch ein wichtiges Indiz für die Mobilisierungsprobleme der SPD (vgl. Tabelle 3). Hierbei ergeben sich sowohl Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede zu den bereits für die Bundestagswahl 2005 festgestellten Wählerströmen (von Alemann/Spier 2008: 55). Wie bereits bei der letzten Bundestagswahl verlor die SPD per Saldo rund eine Million Wählerstimmen an die Linke. Im Unterschied zu dieser Vorwahl, bei der sich Ab- und Zuflüsse an die und von den Grünen annähernd die Waage hielten, war nun ein deutlicher Wählerstrom von der SPD hin zu Bündnis 90/Die Grünen auszumachen, der im Tabelle 3: Wählererwanderungen von und zur SPD CDU/CSU FDP Linke Grüne Nichtwähler Quelle: Infratest dimap (2009).
Abfluss zu … 1.330.000 710.000 1.280.000 1.360.000 2.670.000
Zufluss von ... 460.000 190.000 170.000 500.000 540.000
Saldo - 870.000 - 520.000 - 1.110.000 - 860.000 - 2.130.000
Saldo 860.000 Stimmen betrug. In ähnlicher Größenordnung fiel 2009 der saldierte Verlust an die Unionsparteien aus. Entscheidend sind jedoch die Verluste der SPD an die „Partei der Nichtwähler“: Während sich bei der Bundestagswahl 2005 die Abflüsse von der SPD an die Nichtwähler (rund 1,8 Millionen) und die Zuflüsse von den Nichtwählern an die SPD (rund 1,4 Millionen) noch annähernd ausglichen, gab es 2009 nur 540.000 Zuflüsse, die 2.670.000 Abflüssen gegenüberstehen. Mit anderen Worten: Eine beachtliche Zahl von SPD-Wählern bei der Bundestagswahl 2005 flüchtete sich 2009 in die Wahlenthaltung. Dies ist der
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größte einzelne Wählerstrom, den die Analysen von Infratest dimap seit 1994 ergeben haben. Tabelle 4: Wahlentscheidung 2005 und 2009 nach sozialen Gruppen SPD 2005 34,2
Gesamt Geschlecht männlich 33 weiblich 35 Alter 18-29 Jahre 35 30-44 Jahre 33 45-59 Jahre 35 60 Jahre und älter 34 Formale Bildung Hauptschule 38 Mittlere Reife 33 Hochschulreife/Abitur 34 Universitätsabschluss 29 Berufstätigkeit berufstätig 34 Rentner 36 arbeitslos 34 Berufsgruppe Arbeiter 37 Angestellte 35 Beamte 33 Selbständige 22 Landwirte 13 Traditionswählerschaft Gewerkschaftsmitglied 47 Gewerkschaftsmitglied + Arbeiter 50 Quelle: Forschungsgruppe Wahlen (2005, 2009).
2009 23,0
CDU/CSU 2005 2009 35,2 33,8
Übrige 2005 2009 30,6 43,2
23 23
35 35
31 36
32 30
46 41
16 20 24 28
29 31 34 43
27 33 31 42
36 36 31 23
57 47 45 30
28 21 21 20
38 35 31 33
37 34 30 31
24 32 35 38
35 45 49 49
21 29 19
34 41 20
32 41 16
32 23 46
47 30 65
25 24 26 15 12
32 35 38 41 65
31 33 36 36 58
31 30 29 37 22
44 43 38 49 30
34 34
22 21
25 24
31 29
41 42
Diese Wählerströme fanden natürlich ihren Ausdruck in einem veränderten soziodemographischen Profil des SPD-Elektorats. Bereits die Bundestagswahl 2005 hatte eine deutliche Tendenz zur Nivellierung traditioneller Schwerpunkte der Wähleransprache ergeben (von Alemann/Spier 2008: 56ff). Insbesondere waren die Verluste im Bereich der klassischen Kernwählergruppe der manuellen Arbeiter, aber auch im Segment der Arbeitslosen dramatisch. 2009 setzte sich diese
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Ulrich von Alemann und Tim Spier
Tendenz fort, wurde aber ergänzt durch bisher in dieser Form nicht bekannte Entwicklungen (vgl. Tabelle 4). Während die Stimmanteile der SPD nach Geschlecht – ähnlich wie schon 2005 – keine bedeutenden Unterschiede aufwiesen, zeigten sich 2009 starke Veränderungen im altersspezifischen Wahlverhalten: Noch 2005 gab es keine nennenswerten Altersunterschiede. Für die Bundestagswahl 2009 gilt jedoch: Die Wahrscheinlichkeit, die SPD zu wählen, sinkt, je jünger ein Wähler ist. Die Verluste der Sozialdemokratie sind gerade im Segment der Jungwähler von 18 bis 29 Jahren sehr ausgeprägt. Der SPD-Stimmanteil halbierte sich in diesem gerade für zukünftige Wahlen wichtigen Bevölkerungsteil. Die Bindung an die SPD scheint hingegen insbesondere in der Gruppe der über 60jährigen noch einigermaßen stark zu sein, allerdings ergeben sich auch dort im Vergleich zu 2005 Verluste von sechs Prozentpunkten. Weiterhin bestehen bleibt der für Volksparteien typische überproportionale Stimmanteil in Bevölkerungsgruppen mit einer formal niedrigen Bildung. Die Verluste der SPD fallen über alle Bildungsgruppen relativ gleichmäßig aus. Schwerwiegend sind hingegen die Einbußen in den sozialstaatsaffinen Wählersegmenten: Die SPD verlor 12 Prozentpunkte bei den Arbeitern, 13 Prozentpunkte bei den Gewerkschaftsmitgliedern und 15 Prozentpunkte bei den Arbeitslosen. Eine besondere Affinität der manuellen Arbeiter zur SPD ist nicht mehr zu erkennen. Bei den Arbeitslosen ist nun die Linke mit 31 % die erfolgreichste Partei.
3
Die SPD nach der Bundestagswahl 2009
Kommen wir zurück auf die Ausgangsfrage: Vermag es die SPD, sich nach der Niederlage bei der Bundestagswahl 2009 in der Opposition zu stabilisieren und sich in eine gute Ausgangslage für die nächste Bundestagswahl zu bringen? Parteienforschung ist keine Prophetie, aber unseres Erachtens lassen sich Entwicklungen auf der Ebene des Parteienwettbewerbs und des Koalitionsverhaltens ausmachen, die die Zukunftsaussichten zwar nicht allzu rosig erscheinen lassen. Aber es zeigt sich doch ein Silberstreifen am Horizont. 3.1 Entwicklung des Parteienwettbewerbs Zunächst zur aktuellen Entwicklung der Lage der SPD im Parteienwettbewerb (vgl. Abbildung 2). Wenn man von einem kurzen, der Wahlniederlage im Herbst 2009 geschuldeten Tiefststand der SPD-Umfragewerte absieht, hat es bis zum
Erholung in der Opposition? Die SPD nach der Bundestagswahl 2009
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Sommer 2010 einen kontinuierlichen Aufwärtstrend der Sozialdemokratie auf Bundesebene gegeben. Zeitweise lag die SPD im Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen wieder über 30 %. Dies hat sicherlich auch mit der personellen Neuaufstellung der Partei zu tun: Nach der Bundestagswahl kündigte Müntefering an, nicht wieder für das Amt des Parteivorsitzenden zu kandidieren. Mit Sigmar Gabriel wurde im November 2009 ein 19 Jahre jüngerer Politiker zum Parteivorsitzenden gewählt. Gabriel – selbst Mitglied der Parteiflügel „Seeheimer Kreis“ und „Netzwerk Berlin“ – wusste dabei durch personelle wie inhaltliche Zugeständnisse an die Parteilinke ein erneutes Aufbrechen der parteiinternen Konflikte zu vermeiden. So schlug er Andrea Nahles, die führende Vertreterin des linken Flügels, als neue Generalsekretärin vor und ging auf Distanz zu einigen Punkten der „Agenda 2010“. Gleichzeitig übernahm Frank-Walter Steinmeier den Fraktionsvorsitz im Bundestag. Abbildung 2:
Wahlabsicht für CDU/CSU und SPD nach der Bundestagswahl 2009
50
40
30
20 BTW 2009
LTW NRW
10 Gabriel Vorsitzender
10
10 D ez
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SPD
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CDU/CSU
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis des Politbarometers, Forschungsgruppe Wahlen.
Entscheidender für die positive Entwicklung dürfte aber die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 gewesen sein. Hier gelang es der sozialdemokratischen Herausforderin Hannelore Kraft, den CDU-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers zu stürzen und eine rot-grüne Minderheitsregierung zu bilden. Trotz der strukturellen Ähnlichkeit zur Situation in Hessen 2008 – Abwahl einer schwarz-gelben Koalition ohne rot-grüne Parlamentsmehrheit bei gleichzeitigem
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Ulrich von Alemann und Tim Spier
Einzug der Linken in den Landtag – konnte Kraft die Fehler, die Ypsilanti in Hessen gemacht hatte, weitgehend vermeiden. Die Rückkehr an die Regierungsmacht in diesem für die SPD so wichtigen Bundesland brachte der Partei einen erstaunlichen Auftrieb in den Umfragen. Im Sommer 2010 stagnierte die Partei jedoch wieder in der Publikumsgunst. Diesmal wurde ihr der Erfolg weniger durch die CDU streitig gemacht, vielmehr hatte sie mit starker Konkurrenz im eigenen politischen Lager zu kämpfen: Die Grünen setzten im Verlauf des Jahres zu einem bisher nicht gekannten Höhenflug in den Umfragen an. Hintergrund waren die Proteste gegen die Verwirklichung von „Stuttgart 21“ in Baden-Württemberg und die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken durch die neue schwarz-gelbe Bundesregierung. Dies wussten die Grünen für sich zu nutzen. Deshalb gab es für beide Parteien gemeinsam erstmals seit langer Zeit wieder rechnerische Mehrheiten in den Umfragen. Rot-Grün also wieder im Aufwind? Abbildung 3:
Mandatsanteile der SPD in Bund und Ländern (1990-2010)
50
40
30
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10
09
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10 20
20
20
20
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06 20
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01
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Bund
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95 19
19
19
1 9
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19
19
90
0
Länder
Quelle: Eigene Darstellung.
Diese Momentaufnahmen können nicht über die längerfristigen und strukturellen Probleme der SPD im Parteienwettbewerb hinwegtäuschen. Gerade auf der Ebene der Bundesländer wird deutlich, dass die SPD sich in einem langfristigen elektoralen wie parlamentarischen Niedergangsprozess befindet. Wenn man die mittleren Mandatsanteile der SPD in den sechzehn Bundesländern als Indikator für die längerfristige parlamentarische Stärke der Partei heranzieht, so zeigt sich,
Erholung in der Opposition? Die SPD nach der Bundestagswahl 2009
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dass die SPD an Gestaltungsmacht auf der Landesebene verloren hat. Während sie in den 1990er Jahren noch relativ kontinuierlich auf rund 40 % der Mandate im Mittel aller Landesparlamente gekommen ist, sank dieser Anteil mit der Regierungsübernahme im Bund 1998 bis ins Jahr 2010 auf rund 30 %. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Folgt man einer gängigen Einteilung der Faktoren des Einflusses auf die Stellung einer Partei im Parteienwettbewerb, so wird deren Erfolg von der gesellschaftlichen Nachfrage, dem politischen Angebot und den politischen Rahmenbedingungen beeinflusst (Niedermayer 2003, 2010). Für die SPD ist bedeutsam, dass die gesellschaftliche Nachfrage nach wohlfahrtsstaatlicher Politik weiterhin sehr groß ist (Nachtwey/ Spier 2007: 32ff). Sozialstaatlichkeit als eine Seite der nach wie vor den Parteienwettbewerb prägenden sozioökonomischen Konfliktlinie gehörte dabei lange Zeit zum Markenkern der Sozialdemokratie (Niedermayer 2010: 231). Trotz der weiterhin bestehenden Nachfrage nach wohlfahrtsstaatlicher Politik hat die SPD auf der Angebotsseite ihre Position im sozioökonomischen Konflikt mit der Regierungsübernahme Schröders 1998 verschoben: Mit dem „Schröder-BlairPapier“ 1999 und der „Agenda 2010“ 2003 hat die Partei einen Kurswechsel vorgenommen, der eine Abkehr von der traditionellen Politik der Sozialstaatlichkeit darstellt. Der Hintergrund dieses Positionswechsels bleibt umstritten. Jun (2010: 299f) identifiziert zwei Narrative, die sehr gut der Position der beiden Flügel der SPD in dieser Frage entsprechen: Auf der einen Seite wird die Abkehr von traditionellen Vorstellungen von Sozialstaatlichkeit als eine inhaltlich unbegründete und für den Erfolg der SPD fatale interne Entscheidung qualifiziert. Auf der anderen Seite verweist man auf externe ökonomische Gründe, die eine Anpassung der sozialen Sicherungssysteme zwingend notwendig gemacht haben. Die Stichhaltigkeit der beiden Narrative muss an dieser Stelle nicht überprüft werden. In jedem Fall hat die angebotsseitige Positionsveränderung der SPD zu erheblichen Bindungsverlusten in wohlfahrtsstaatsaffinen Wählergruppen geführt, die zu den traditionellen Kernklientelen der Sozialdemokratie gehören (Nachtwey/Spier 2007: 20ff). Gleichzeitig hat sich mit der Linken eine Partei etabliert, die die traditionelle Sozialstaatlichkeit in besonders pointiertem Maße vertritt. Ein guter Teil der Verluste der Sozialdemokratie in Westdeutschland geht auf die Umorientierung von Teilen ihrer ehemaligen Kernklientel hin zur Linken zurück. Hinzu kommen die Verluste aus der Flucht von Teilen der SPDWählerschaft in die Wahlabstinenz. Während letztere unter Umständen zu remobilisieren sind, erscheint eine Rückgewinnung der an die Linke verlorenen Wähler schwierig: Einerseits kann die Linke, frei von Zwängen einer direkt umsetzbaren Politikkonzeption, die SPD im sozialstaatlichen Politikangebot immer übertreffen. Andererseits dürfte der Bruch mit der Sozialdemokratie in den Rei-
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Ulrich von Alemann und Tim Spier
hen der zur Linken gewechselten Wähler aufgrund der wahrgenommenen Verletzung des identitätsstiftenden Markenkerns der SPD tiefgehend sein. 3.2 Entwicklung des Koalitionsverhaltens Die instabile Situation der SPD im Parteienwettbewerb auf Bundes- und Landesebene hat gravierende Konsequenzen im Bereich des Koalitionsverhaltens. Drei Punkte sorgen dafür, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer Regierungsbeteiligung der SPD – gleich auf welcher Ebene – reduziert. Der erste Punkt ist trivial: Sinkende Stimm- und Mandatsanteile erschweren die Möglichkeit, eine gewünschte Koalition oder gar eine Alleinregierung eingehen zu können. Gleichzeitig reduziert sich die Zahl rechnerisch möglicher Koalitionen durch den Ausschluss bzw. die Einschränkung verschiedener Optionen – nicht nur durch Ausschlüsse auf Seiten der SPD, aber auch durch diese. Der dritte Punkt stellt gewissermaßen eine spezifische Kombination der beiden ersten Punkte dar: Die SPD verliert die Vorteile der stärksten Partei bei Koalitionsverhandlungen. Dies gilt nicht nur für das Parteiensystem insgesamt, hier war die SPD auf Bundesebene ohnehin bisher nur drei Mal, nämlich 1972, 1998 und 2002, die stärkste Partei, sondern gerade auch auf Landesebene, wo bisher insbesondere in den Hochburgen der SPD im Norden der Republik diese Situation häufiger zu finden war. Zunehmend droht die SPD auch innerhalb des linken Lagers von SPD, Grünen und Linken die Rolle als stärkste Partei zu verlieren. In den östlichen Bundesländern hatten wir bereits häufiger die Situation, dass die SPD teilweise weit hinter den Ergebnissen der PDS bzw. der Linken zurückblieb. Wenn man den derzeitigen Umfragen Glauben schenkt, so könnten derartige Probleme auch in Ländern entstehen, in denen die Grünen stärker werden als die SPD, etwa in Baden-Württemberg oder Berlin. Der bereits eingetretene oder in verschiedenen Ländern zu befürchtende Verlust der Rolle als stärkste Partei hat auf das Verhandlungspotential der Sozialdemokratie einen negativen Einfluss: Von ihr geht immer weniger die Initiative für Koalitionsverhandlungen aus, sie hat immer weniger Anspruch auf die dominante Position innerhalb potentieller Koalitionen. Ist sie im linken Lager nur zweitstärkste Partei, wie derzeit in Sachsen-Anhalt und Thüringen, so hat sie trotz rechnerisch möglicher Koalitionen im linken Lager bisher eine Koalition mit der CDU bevorzugt. Auch wenn sie dort ebenfalls lediglich Juniorpartner ist. Mit anderen Worten: Der Verlust der dominanten Position der SPD innerhalb des linken Lagers führt – zumindest in Anbetracht der bisherigen Evidenz – zu lagerübergreifenden Koalitionen. Diese sind – so zeigen zumindest quantitative Messungen von Parteipositionen (Debus 2008: 217ff) – häufig heterogener als solche, die ausschließlich im linken Lager abge-
Erholung in der Opposition? Die SPD nach der Bundestagswahl 2009
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schlossen werden, und schränken somit die Fähigkeit der SPD ein, programmatische Positionen durchzusetzen. Hierdurch hat sich die Struktur der Koalitionspartner der SPD im Zeitverlauf drastisch verändert. Dabei hat sich die Zahl von Koalitionen mit den Grünen auf der Ebene der Länder – in den 1990er Jahren teilweise unter Einschluss der FDP – im Verlauf der rot-grünen Regierungszeit im Bund bis auf null reduziert. Erst in den letzten Jahren nimmt sie mit Bildung der rot-grünen Regierungen in Bremen und zuletzt Nordrhein-Westfalen wieder zu. Hingegen ist die Zahl der Koalitionen mit der CDU bis 2006 gestiegen. Auch hier ist erst in letzter Zeit ein Rückgang zu verzeichnen. Die Folge ist, dass der Anteil der lagerübergreifenden Koalitionen an allen Koalitionen auf Ebene der Bundesländer seit dem Jahr 2000 zunimmt (Spier 2010b: 304). Hierzu hat auch beigetragen, dass die Grünen im Saarland und in Hamburg erstmals Koalitionen mit Parteien des bürgerlichen Lagers gebildet haben. Insofern stellt sich auch weiterhin die Frage, wie die SPD das Problem von Koalitionen mit der Linken angehen will. Derzeit will man Bündnisse mit der Partei im Westen der Republik vermeiden, ist aber nun schon seit 1998 im Osten bereit, Koalitionen mit dieser Partei zu bilden. Die Vor- und Nachteile sind innerparteilich wie in der politikwissenschaftlichen Diskussion umstritten (Niedermayer 2010; Spier 2010a): Vorteil der Erschließung einer solchen Option ist nicht nur, dass der SPD eine weitere Mehrheitsbeschafferin zur Verfügung steht. Auch ihre Verhandlungsmacht gegenüber anderen Koalitionspartnern steigt, wenn alternative Optionen zur Verfügung stehen. Nicht zuletzt wird von Befürwortern von Koalitionen mit der Linken erhofft, dass diese größere programmatische Überschneidungen aufweisen, als Bündnisse mit Parteien des bürgerlichen Lagers. Und schließlich ist denkbar, dass man über eine Beteiligung der Linken dieser Partei den Nimbus der konsequenten Opposition nimmt und sie so in der Regierungsverantwortung entzaubert. Die Nachteile könnten aber mindestens ebenso gravierend sein: Die SPD läuft Gefahr, nach den enttäuschten linksorientierten auch noch die mitteorientierten Wähler zu verlieren, die derartige Koalitionen ablehnen. Im Westen sind viele Landesverbände der Linken ohnehin nur sehr schwer dahingehend einzuschätzen, ob mit ihnen eine verlässliche Zusammenarbeit möglich ist. Schließlich, und diesen Punkt sollte man nicht unterschätzen, sind Teile des Führungspersonals und der Mitglieder der Linken Fleisch vom Fleische der Sozialdemokratie. Sie haben die SPD teilweise unter heftigen Auseinandersetzungen verlassen. Deshalb bestehen auf beiden Seiten tiefe Ressentiments gegeneinander. In jedem Fall wird die SPD nicht umhin kommen, ihr Verhältnis zur Linken zu klären. Das Debakel in Hessen 2008 zeigt, dass das Lavieren zwischen Ableh-
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Ulrich von Alemann und Tim Spier
nung und Befürwortung derartiger Koalitionen zu den denkbar ungünstigsten Ergebnissen für die SPD führt.
4
Fazit
Der Beitrag hat die Frage untersucht, ob es der SPD nach der Bundestagswahl 2009 gelingt, sich in der Opposition zu regenerieren. In der Tat hat die SPD in den Umfragen nach der Wahl wieder ein wenig zugelegt, wenn auch Werte rund um 30 % der Wählerstimmen für die SPD noch kein Anlass zum Feiern sind. Sie hat bei der Bundestagswahl 2009 in wichtigen oder doch zumindest traditionsreichen Wählergruppen große Verluste hinnehmen müssen. Sie verliert Wähler nicht nur weiterhin an die Linke, die Grünen und die Union, sondern vor allem an die „Partei der Nichtwähler“. Das mag ein Hoffnungsschimmer sein, wenn man diese Gruppen wieder zu mobilisieren vermag. Hierzu ist jedoch ein gutes Personalangebot, ein ansprechendes Programm und eine realistische Koalitionsperspektive nötig. Wenn man längerfristige Indikatoren heranzieht, um die Lage der SPD zu analysieren, so zeigt sich, dass ihr Anteil an Parlamentsmandaten sowohl auf Bundes- wie auch auf Landesebene rückläufig ist. Damit sinkt die Verhandlungsmacht im Bereich der Koalitionsbildung. Die SPD ist nicht nur immer weniger häufig stärkste Partei, sie verliert auch in einigen Bundesländern diese Position innerhalb des linken Lagers. Ist die Linke stärker als die SPD, so hat die Sozialdemokratie bisher eine Koalition mit der CDU vorgezogen. Es wird abzuwarten sein, wie sich die SPD in dem nicht ganz unwahrscheinlichen Fall verhält, dass die Grünen auf Landesebene stärker sind als sie. In jedem Fall hat der Anteil lagerübergreifender Koalitionen an den Koalitionen mit SPD-Beteiligung zugenommen, wenn auch in den letzten Jahren wieder ein leichter Rückgang zu beobachten ist. Alles in allem: Keine besonders rosigen Aussichten für die SPD. Sie mag sich derzeit in den Umfragen stabilisieren, verschiedene strukturelle Indikatoren zeigen aber, dass die Lage der Sozialdemokratie weiterhin prekär ist. Herbert Wehner orakelte nach dem Scheitern der sozialliberalen Koalition, dass der SPD 15 Jahre Opposition bevorstünden. Er irrte sich nur um ein Jahr. Über seine höchst präzisen prophetischen Gaben verfügen wir leider nicht. Aber ob der Sozialdemokratie wirklich eine Legislaturperiode genügt, um sich in der Opposition zu regenerieren, erscheint zumindest fraglich. Zum Jahreswechsel 2010 zu 2011, als dieser Beitrag geschrieben wird, sieht es also nicht gut aus für die SPD. Aber ganz so schwarz erscheint die Zukunft nicht, wenn man an die Situation von vor einem guten Jahr nach der Bundes-
Erholung in der Opposition? Die SPD nach der Bundestagswahl 2009
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tagswahl 2009 zurückdenkt. Es erscheint ein Silberstreif am Horizont. Dies hat einige Gründe: Nicht nur ist die Performance der schwarz-gelben Koalition weiterhin äußerst deplorabel, sondern Rot-Grün verfügt in einigen Umfragen sogar über eine Mehrheit. Sicherlich, dies sind Umfragen, aber nach der Wahl 2009 hätte das wohl niemand vorhergesagt. Auch haben sich die beiden Spitzenpersonen Gabriel und Steinmeier bisher recht gut arrangiert, Steinmeier hat sogar beachtliche Sympathiewerte erworben. Der prominenteste Dritte, Steinbrück, erfreut sich hohen Ansehens, dementiert aber bisher Rückkehrabsichten in die Politik. Die alte Zerstrittenheit der SPD tritt in den Hintergrund. Schließlich könnte das Wahljahr 2011 in Hamburg und Baden-Württemberg eine Rückkehr der SPD in zwei Landesregierungen bescheren. Und die rot-grüne Minderheitsregierung im wichtigen Bundesland NRW stabilisiert sich und braucht Neuwahlen vorerst nicht zu fürchten. Daher: Die Volatilität ist groß, die Erfolge der derzeitigen Bundesregierung sind klein. Deshalb ist eine Rekonvaleszenz des sozialdemokratischen Patienten nicht auszuschließen. Aber selbst wenn die SPD an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein würde, so ist nicht auszuschließen, dass dies weniger an ihr, als an der Stärke ihrer Koalitionspartner liegt. Literatur Alemann, Ulrich von/Spier, Tim (2008): Doppelter Einsatz, halber Sieg? Die SPD und die Bundestagswahl 2005. In: Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 37-65 Alemann, Ulrich von/Erbentraut, Philipp/Walther, Jens (2010): Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Blätte, Andreas (2010): Reduzierter Parteienwettbewerb durch kalkulierte Demobilisierung. Bestimmungsgründe des Wahlkampfverhaltens im Bundestagswahlkampf 2009. In: Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Die Bundestagswahl 2009. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 273-297 Butzlaff, Felix (2009): Verlust des Verlässlichen. Die SPD nach elf Jahren Regierungsverantwortung. In: Butzlaff, Felix/Harm, Stine/Walter, Franz: Patt oder Gezeitenwechsel? Deutschland 2009. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 37-66 Debus, Marc (2008): Unfulfilled Promises? German Social Democrats and their Policy Position at the Federal and State Level between 1994 and 2006. In: Journal of Elections, Public Opinion and Parties, Bd. 18, H. 2, S. 201-224 Forschungsgruppe Wahlen (2005): Bundestagswahl. Eine Analyse der Wahl vom 18. September 2005. Mannheim: Forschungsgruppe Wahlen e.V. Forschungsgruppe Wahlen (2009): Bundestagswahl. Eine Analyse der Wahl vom 27. September 2009. Mannheim: Forschungsgruppe Wahlen e.V.
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Ulrich von Alemann und Tim Spier
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Erholung in der Opposition? Die SPD nach der Bundestagswahl 2009
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Auf dem Weg zu einer normalen Partei? Die CSU nach der Bundestagswahl 2009
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Auf dem Weg zu einer normalen Partei? Die CSU nach der Bundestagswahl 2009 Michael Weigl
1
Einleitung
Das CSU-Ergebnis der Bundestagswahl 2009 – 42,5 Prozent der Stimmen in Bayern respektive 6,5 Prozent im Bund – war keine Überraschung. Seitdem die CSU 1970 erstmals die 50+X-Schallmauer bei bayerischen Landtagswahlen durchbrochen hatte, schnitt sie bei Bundestagswahlen stets schlechter ab als bei Landtagswahlen.1 Auch die Europawahl vom Frühjahr 2010, deren Ergebnis (48,1 Prozent) die CSU als Indiz für ein Ende der Talsohle interpretierte, hielt bei nüchterner Betrachtung dieser optimistischen Sichtweise kaum stand. Bei Europawahlen fahren die Christlich-Sozialen traditionell bessere Ergebnisse als bei nationalen Urnengängen ein.2 Schließlich deuteten auch die Ergebnisse der Sonntagsfrage nicht auf einen durchgreifenden Stimmungsumschwung seit der für die CSU katastrophalen Landtagswahl vom Herbst 2008 (43,4 Prozent) hin.3 Trotzdem löste der Moment, als am 27. September 2009 die ersten Prognosen über die Bildschirme flimmerten und das Ergebnis noch ernüchternder ausfiel, als von manchen befürchtet, blankes Entsetzen in der Partei aus. Zuvor hatte man sich in Durchhalteparolen geübt und gehofft, die Landtagswahl 2008 sei nur Ausdruck einer vorübergehenden und damit auch wieder zu überwindenden Schwäche der Partei. Nun gab es keine Zweifel mehr daran, dass die Ära „50 + X“ vorbei war. Schon nach der Landtagswahl 2008 hatten die Medien kommentiert, die CSU befinde sich auf dem Weg zu einer „normalen“ Partei (z.B. Reinecke 2008). Spätestens jetzt glaubten dies viele auch in der Partei selbst. 1 Ausnahme ist allein das Jahr 1982/83, als die CSU bei der Landtagswahl vom 10. Oktober 1982 58,3 Prozent, bei den nachfolgenden Bundestagswahlen am 06. März 1983 aber 59,5 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigte. Im Mittel liegt die Abweichung seit 1970 (Landtagswahl) bzw. 1972 (Bundestagswahl) bei -2,14 Prozentpunkten (vor der Bundestagswahl 2009 -1,05). 2 Bei Europawahlen erzielte die CSU im Schnitt 54,8 Prozent, bei Bundestagswahlen (seit 1972) 53,5 Prozent der Wählerstimmen. 3 Das Hamburger Institut Gesellschaft für Markt- und Sozialforschung (GMS) hatte im Juli bzw. September 2009 jeweils 46 Prozent für die CSU in Bayern ermittelt. Vgl. die Dokumentation der Umfrageergebnisse auf www.wahlrecht.de.
O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Michael Weigl
Die essayistische Verdichtung des Niedergangs der CSU auf das Bild der „normalen Partei“ drückt vorerst nicht mehr aus als die Prognose, dass sich die Partei künftig dauerhaft auf Wahlergebnisse unterhalb der magischen 50Prozent-Marke einrichten und damit den Abschied von der bayerischen Alleinregierungspartei vollziehen muss. De facto aber wäre die Folge einer solchen Entwicklung ein fundamentaler Wandlungsprozess, an dessen Ende eine tatsächlich „neue“ CSU stehen würde (vgl. hierzu auch: Weigl 2011):
Die Partei hätte künftig allein dadurch, dass sie einen Partner an ihrer Seite hat, weniger Handlungsspielräume der Politikgestaltung im Freistaat wie auch im Bund. Nicht nur ihre Entscheidungs-, sondern ebenso ihre Darstellungspolitik würden schwieriger. Politische Erfolge könnte sie künftig kaum noch für sich allein verbuchen, sie müsste lernen, Kompromisse zu erklären. Etablierte Mechanismen der Schärfung des eigenen Profils könnten nicht nahtlos fortgesetzt werden. Die gesamte Machtarchitektur der CSU würde damit auf den Prüfstand gestellt, könnten doch die bayerische Staatsregierung und allen voran der bayerische Ministerpräsident nicht mehr wie früher uneingeschränkt zur Entscheidungs- und Darstellungspolitik der Partei beitragen. Ähnliches würde auch für die in die Regierungsmehrheit mit einem Koalitionspartner eingebundene Landtagsfraktion der CSU gelten. Die bisherige Machtbalance der Partei wäre damit grundsätzlich in Frage gestellt. Parteiliche Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse würden sich in der Folge neu strukturieren müssen. Schließlich würden sich durch die Schmälerung des Patronagepotentials der Partei vor allem im bayerischen Kabinett manche Schwierigkeiten in der Rekrutierung des Nachwuchses für politische Spitzenämter ergeben. Die weniger zu vergebenden Posten würden heftiger als bislang umkämpft, die Stärkung alternativer Machzentren der Nicht-Berücksichtigten (z.B. die Bezirksverbände) erscheint möglich.
Als „normale Partei“ wäre die CSU, so kann zusammengefasst werden, in den Niederungen eines fragmentierten Parteiensystems mit ausgeprägten Vetospielern und den deshalb erforderlichen Konsens- und Kooperationsnotwendigkeiten angekommen. Dann würde auch in der CSU mehr als bislang weniger die hierarchische Führung, sondern die Moderation die Führungsqualität der Parteieliten definieren (Walter 2009: 100). Ob ein solcher Wandel tatsächlich bevorsteht oder sogar bereits eingeleitet ist, ob die Bundestagswahl 2009 einen Abschied von der „alten CSU“ mit allen
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ihren Folgen zementiert, wie von den Medien spekuliert, soll Gegenstand des vorliegenden Beitrags sein. Der Blick richtet sich dabei nicht auf die Frage, wie das künftige Wählerpotential der Partei zu bewerten ist, ob also auch die CSU von der generell konstatierten Krise der Volksparteien erfasst ist. Vielmehr fokussiert der Beitrag auf die Partei selbst und fragt nach Modifizierungen ihrer Machtbalance, die auf einen grundsätzlicheren Wandlungsprozess der CSU schließen lassen.
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Lehren aus dem Wahljahr 2008
Nach dem „langen Ende der Ära Stoiber“ (Kießling 2008) war es die Zielvorgabe des am 29. September 2007 bzw. 09. Oktober 2007 ins Amt gelangten Führungsduos Erwin Huber (Parteivorsitzender) und Günther Beckstein (Bayerischer Ministerpräsident), der CSU die Vorherrschaft in Bayern weiter zu sichern. Der Wechsel an der Parteispitze sollte erneuter Beweis für die viel beschworene Selbsterneuerungsfähigkeit der Partei (Kießling 2005) sein. Das Ergebnis der Landtagswahl aber verunsicherte die Partei zutiefst. Sollte der CSU ihr „Selbsterhaltungs-Gen“ abhandengekommen sein? Beckstein, Huber und Generalsekretärin Christine Haderthauer standen nach der Landtagswahl im Zentrum der parteiinternen Kritik. Tatsächlich aber resultierte die Niederlage 2008 aus einer Kombination verschiedenster Faktoren, kannte demnach nicht einen einzigen Schuldigen. Demoskopen und Experten bestätigten der Partei, dass ihr Absturz nicht nur kurzfristigen, sondern ebenso mittel- und längerfristigen Faktoren geschuldet war (Schultze/Grasnick 2009; C·A·P 2008; Infratest dimap 2008):
Einerseits setzte sich auch in Bayern der Trend fort, dass immer mehr Menschen sich erst immer später entscheiden, ob und wen sie wählen. Gleichzeitig war die Landtagswahl getragen von einer diffusen Anti-CSUStimmung, die sich bereits spätestens ein Jahr vor dem Urnengang verfestigt hatte. Dieser Stimmungslage wusste die CSU nichts entgegenzusetzen. Kern dieser Stimmung war, dass die CSU als „out“ angesehen wurde. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa vom 17. September 2008 waren mehr als die Hälfte der Befragten (55 Prozent) der Meinung, dass die CSU „nicht mehr wie früher“ das bayerische Lebensgefühl verkörpere, 65 Prozent stimmten dafür, dass die CSU „keine moderne Partei“ sei (forsa 2008). Auf der Winterklausur der CSU-Landtagsfraktion in WildbadKreuth Anfang 2009 stellte der Fraktionsvorsitzende Georg Schmid dann eine Studie vor, nach der lediglich 29 Prozent aller Befragten glaubten, dass
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die CSU mit den Problemen der Menschen vertraut sei. Nur 42 Prozent hielten sie für eine glaubwürdige Partei, 75 Prozent für verfilzt (Agence France Presse 2009). Die CSU hatte, so die Kurzformel für diese Umfrageergebnisse, ein schwerwiegendes Imageproblem. Folge war, dass die Landtagswahl von einem massiv angestiegenen Wechselwahlverhalten gezeichnet war (Maier 2010). Auch in Bayern sind die Wähler wählerischer geworden, stellen aber wie andernorts keinen „volatilen Flugsand“ dar, der „wild- und voraussetzungslos zwischen den politischen Lagern hin- und herhüpft“ (Walter 2009: 12; Eith/Schlipphak 2010). Die Stärke der Lager veränderte sich zu den Vorjahren kaum, die Wähler wechselten von der CSU zu den Freien Wählern (FW), der FDP und ins Lager der Nichtwähler, kaum dagegen zwischen den Lagern hin zu SPD, Grüne und Linke. Das theoretisch ansprechbare Wählerpotential der CSU ließ sich demnach auch nach der Landtagswahl als nur wenig verändert beschreiben. Der selbst unter Parteianhängern ausgeprägte Wunsch, die CSU möge künftig nicht mehr allein regieren (forsa 2008), aber führte zu einer ausgeprägten Fragmentierung des bürgerlichen Lagers. Besonders die ehemals treu zur CSU stehende Stammwählerschaft hatte der Partei diesmal den Rücken zugekehrt. Unter den Anhänger der Freien Wähler fanden sich konfessionell-katholische Wähler deutlich überrepräsentiert. Die starken Verluste der CSU unter Landwirten (- 39 Prozent) kamen vor allem gleichfalls der FW (+ 17 Prozent), in überraschend hohem Maße aber auch der FDP (+ 11 Prozent) zugute. Während die Liberalen von hohen wirtschafts- und steuerpolitischen Kompetenzwerten profitierten, bescheinigten die Wähler den FW hohe Kompetenz in Fragen sozialer Gerechtigkeit – beides, dem eigenen Selbstverständnis nach, klassische Themenfelder der CSU. Was die CSU im Besonderen irritierte, war schließlich die Tatsache, dass Verweise auf die vornehmlich wirtschaftspolitischen Erfolge ihrer Regierungspolitik im Wahlkampf ungehört verhallten. Die CSU hatte, so wurde in diesem Wahlkampf offensichtlich, ihr Alleinstellungsmerkmal als nahezu einziger Agenda Setter im Freistaat eingebüßt. Zu keinem Zeitpunkt gelang es ihr, dem Wahlkampf ihren Stempel aufzudrücken. Ebenso wurde deutlich, dass Verweise auf die eigene wirtschaftspolitische Kompetenz nicht den Nerv der Wähler trafen, d.h. an den letztlich wahlentscheidenden Themen vorbei zielten.
Wollte die CSU bei der Bundestagswahl 2009 wieder in die Erfolgsspur zurückkehren, musste sie sich dieser Ursachen für ihren Absturz annehmen. Unmittelbar nach der Wahl sprachen Parteispitzen deshalb auch einmütig von der Not-
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wendigkeit, das Ergebnis und seine Ursachen eingehend analysieren zu müssen, um die richtigen Konsequenzen ziehen zu können (Stroh 2008). Tatsächlich aber fand eine intensive Auseinandersetzung um die notwendigen strategischen Konsequenzen des Absturzes nicht statt. Stattdessen waren die ersten Tage ganz vom Rückzug der Parteispitze (Ministerpräsident Beckstein, Parteivorsitzender Huber, Generalsekretärin Haderthauer) und dem Kampf um die Nachfolge geprägt. Zwar meldeten mit Wissenschaftsminister Thomas Goppel, dem Vorsitzenden der CSU-Landtagsfraktion Georg Schmid, Innenminister Joachim Hermann und dem frühzeitig designierten Parteivorsitzenden Horst Seehofer gleich vier Spitzenpolitiker der Partei ihre Ambitionen auf das Ministerpräsidentenamt an. Auch wurde Seehofer in weiten Teilen der Partei, vor allem unter den Landtagsabgeordneten, mit großer Skepsis betrachtet, da er den zweifelhaften Ruf als unberechenbarer Einzelkämpfer genoss. De facto aber gab es zum damaligen Zeitpunkt keine personelle Alternative zu Seehofer, der nicht nur hohe Beliebtheitswerte in der Bevölkerung und an der Parteibasis für sich verbuchte, sondern auch die Unterstützung durch den Ehrenvorsitzenden Edmund Stoiber und den mächtigen CSU-Bezirksverband Oberbayern erfuhr. Der Abschied vom Modell der Doppelspitze geriet so zu einer Notlösung aufgrund mangelnder Alternativen. Mit der Wahl Seehofers durch einen Sonderparteitag zum CSU-Vorsitzenden (25. Oktober 2008) und dessen Wahl durch den Landtag zum Bayerischen Ministerpräsidenten (27. Oktober) war die Partei zur Personalunion der beiden Spitzenämter zurückgekehrt.
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Die CSU im Wahljahr 2009
Die Inthronisierung Horst Seehofers als neuem Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden bedeute zugleich den Startschuss für den Wahlkampf zur fast genau ein Jahr später stattfindenden Bundestagswahl. Seehofer war zwar formal zum neuen starken Mann der Partei gekürt worden. Tatsächlich aber blieb er ein „König auf Probe“, über dessen Zukunft das Ergebnis der Bundestagswahl entscheiden würde. Drei Zukunftsszenarien erschienen zum damaligen Zeitpunkt denkbar und bestimmten das Verhalten Seehofers im Wahljahr 2009:
Erst mit einem glänzenden Sieg bei der Bundestagswahl, d.h. mit einer Rückkehr zu alter 50-Prozent-Stärke, wäre Seehofer zum tatsächlich „starken Mann“ der Partei geworden. Das Ergebnis der Landtagswahl wäre so als einmaliger „Betriebsunfall“ erschienen. Parteiinterne Kritiker hätten verstummen müssen.
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Ein weiteres Abrutschen der Partei in der Wählergunst im Vergleich zur Landtagswahl, d.h. ein Ergebnis unter 40 Prozent, hätte mit großer Wahrscheinlichkeit die sofortige Ablösung Horst Seehofers zur Folge gehabt. Bei einer Stabilisierung oder nur leichten Verlusten schien dagegen alles offen. Dann, so war klar, würde vor allem entscheiden, wie sich die parteiinternen Kritiker Seehofers aufgestellt sahen, ob sie eine parteiinterne Mehrheit für einen Sturz Seehofers organisieren könnten.
Seehofer Strategie seines ersten Amtsjahres war vor dem Hintergrund solcher Überlegungen doppelter Art: Einerseits versuchte er – natürlich – die Partei in den Wahlkämpfen zum Europäischen Parlament und zum Bundestag zu alter Stärke zurückzuführen. Gleichzeitig aber baute er für den Fall eines wenig überzeugenden Bundestagswahlergebnisses vor, indem er sich bemühte, seine eigene Machtstellung innerhalb der Partei zu festigen und sich so als unverzichtbar zu etablieren. 3.1 Revitalisierung der „Partei der kleinen Leute“ Die Lehren, welche die CSU und allen voran Horst Seehofer, aus dem für die Partei desaströsen Wahlergebnis 2008 zogen, schwankten zwischen „Alles neu“ und „Keine Experimente!“. Einerseits verordnete Seehofer dem bayerischen Kabinett auf „brachiale“ Art (Hartleb 2009: 119) einen drastischen Verjüngungskurs, dem seither kein CSU-Mitglied älter als 60 Jahre mehr angehört – mit Ausnahme Seehofers (Jahrgang 1949) selbst. Mit diesem Generationswechsel verbunden ist der seitdem zu beobachtende, schrittweise Abschied von manchen alten CSU-Dogmen, beispielsweise in der Umwelt- oder Familienpolitik (Schäffer 2009). Gleichzeitig aber verpflichtete Seehofer seine Partei auf eine Wahlkampfstrategie, die diese Modernisierungsprozesse innerhalb der Partei nicht offensiv aufgriff und für sich nutzte, sondern stattdessen auf altbewährte Rezepte setzte. Mit seinem Verjüngungskurs hatte Seehofer manche Traditionswähler verschreckt. Diese sollten nun nicht noch weiter von der Partei entfremdet werden. Oberste Leitlinie der Wahlkampagne zur Bundestagswahl war die Selbstdarstellung der CSU als „Partei der kleinen Leute“. Seehofer transformierte damit sein persönliches Profil als langjähriger Sozialpolitiker auf die Gesamtpartei und ihren Wahlkampf. Gleichzeitig aber wiederbelebte er damit eines der zentralen Elemente des durch die katholische Soziallehre beeinflussten christlichsozialen Selbstverständnisses (Zolleis 2008: 45-48). War das Pendel unter Stoiber stärker in Richtung Wirtschaft und Innovation ausgeschlagen, fand nun wie-
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der das soziale Profil der CSU stärkere Betonung. Allerdings bedeutete dies nicht, dass die CSU einen Themenwahlkampf geführt hätte. Vielmehr setzte die Partei ganz auf einen Wertewahlkampf, der die Marke CSU ins Zentrum rückte und diese als verlässliche und vertrauensvolle Kraft darzustellen suchte. Inhaltlichen blieb es bei wenigen Schlagwörtern wie der Forderung nach Steuersenkungen, die sich unter das soziale Leitbild der Partei subsumieren ließen. Die CSU und allen voran Seehofer bewahrten sich so auch im Wahlkampf eine programmatische Flexibilität, die dem Hang des Parteivorsitzenden zu „Sprunghaftigkeit“ und „Themenhopping“ (Fischer 2010) entgegenkam. Mit Leben angefüllt wurde die Fokussierung auf das soziale Profil der CSU auf zweierlei Art (Zeitler 2010: 511-514). Einerseits ging Seehofer scharf die FDP an, welche er als „neoliberal“ geißelte (Stroh 2009a). Das Kalkül Seehofers war es, so bei der Landtagswahl an die bürgerlichen Alternativparteien verloren gegangene Stimmen für die CSU zurückzugewinnen; sei es, dass FDP-Wähler wieder ihr Kreuz bei der CSU machen sollten, sei es, dass Wähler der bei der Bundestagswahl nicht antretenden Freien Wähler sich nun für die CSU statt für die FDP entscheiden würden. Die Rückbesinnung auf die FDP als „Lieblingsfeind“ der CSU unter Franz Josef Strauß schien vor diesem Hintergrund durchaus schlüssig. Die Aggressivität, mit der Seehofer im Wahlkampf die Liberalen anging, führte jedoch zu manchen Irritationen innerhalb und außerhalb der Partei, betonte er doch gleichzeitig, eine schwarz-gelbe Koalition im Bund anzustreben. Noch Anfang September beschloss die CSU, ihre massiven Attacken auf die FDP fortzusetzen und diese als „Partei der Kälte“ hinzustellen (Spiegelonline 2009). Zweite zentrale Angriffsfläche Seehofers und der CSU im Bundestagswahlkampf 2009 war andererseits die CDU unter ihrer Parteivorsitzenden Angela Merkel. Mit dezidiert unterschiedlichen Positionierungen vor allem bei den Themen Erbschaftssteuer, Steuersenkungen und Gesundheitsreform suchte Seehofer den offenen Konflikt mit der Schwesterpartei. Auch der Beschluss, am 20. September – nur eine Woche vor dem Wahltag – ein eigenes „Sofortprogramm“ der CSU „für Wachstum und Arbeit“ zu veröffentlichen (Christlich Soziale Union 2009), das vor allem in steuerpolitischen Fragen von der CDU-Linie abwich, war eine gezielte Provokation der Schwesterpartei. Diese ist Giftpfeile aus München zwar gewohnt; konfrontative Wahlkampfstrategien gegen die Bundesregierung auch bei eigener Regierungsbeteiligung haben in der CSU Tradition. Das Duo Beckstein/Huber war gerade dafür kritisiert worden, dass es ihm nicht gelungen sei, die Doppelrolle der CSU als Regionalpartei mit bundespolitischem Anspruch zu spielen. So richtete der Bundespolitiker Seehofer seinen Fokus von Beginn an auf Berlin und versuchte, den bundespolitischen Anspruch der CSU zu revitalisieren. Allerdings erntete er auch hier für die Schärfe und vor allem die
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Fortgesetztheit seiner Angriffe auf die Schwesterpartei zunehmend Kritik, je näher der Wahltermin rückte. Der CSU-Bundestagswahlkampf 2009 ist damit – entgegen der personalpolitischen Erneuerung unter Seehofer – als durchaus traditionell zu charakterisieren. Die Betonung der CSU als „Partei der kleinen Leute“, die Angriffe auf FDP und Bundesregierung – all dies sind seit Jahrzehnten bewährte Ingredienzien christlich-sozialer Wahlkampfführung. Die Intensität der Angriffe einerseits und die Konzentration auf Werte andererseits aber sind durchaus bemerkenswert. Vor allem Letzteres zielte ganz darauf ab, bei der Landtagswahl verloren gegangene Stammwähler wieder an das zu erinnern, was die CSU ausmacht. Allzu konkrete inhaltliche Aussagen schienen der Parteiführung dagegen angesichts der zunehmenden Individualisierung auch der eigenen Wählerschaft nur schwerlich geeignet, zu emotionalisieren und zu mobilisieren. Konsequent umgesetzt fand sich das Wertewahlkampf-Konzept auch in der Wahlwerbung der Partei, die ganz auf die Marke CSU reduzierte. Schon in der – aus CSU-Sicht – erfolgreichen Kampagne zur Wahl des Europäischen Parlamentes im Frühjahr 2009 hatte die Partei mit dem Slogan „Nur wer CSU wählt, gibt Bayern eine eigene Stimme in Europa“ Altbekanntes neu serviert. Nun, zur Bundestagswahl, verkündete das in Schulterstück-Portraits festgehaltene Spitzenpersonal der Partei: „Was unser Land jetzt braucht: Eine starke CSU in Berlin“.4 Plakate ohne Fotos, ganz in den schon in den 1960er Jahren etablierten Parteifarben grün und blau gehalten, beschränkten sich auf den Schriftzug „Was unser Land jetzt braucht: CSU“ auf weißem Hintergrund. Und auch die Themenplakate setzten ganz auf Reduktion: „Was unser Land jetzt braucht: Zusammenhalt“; „Was unser Land jetzt braucht: Sicherheit“; „Was unser Land jetzt braucht: Verantwortung“. CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt zufolge gaben diese Schlagworte die Werte der CSU wieder (CSUmedia 2009). Viele Beobachter jedoch kritisierten sowohl die inhaltliche Armut wie das unauffällige Retrodesign der Wahlwerbung. Eine Bilanz der CSU-Strategie im Bundestagswahlkampf 2009 fällt so in der Gesamtschau ambivalent aus. Zwar war die CSU durchaus bemüht, die Herausforderungen, die sich für die Partei aus der Landtagswahl 2008 ergaben, in den Griff zu bekommen:
Mit seinen permanenten Angriffen auf FDP und CDU bemühte sich Seehofer um mobilisierende Emotionalisierung des Wahlkampfes. Das Sofortprogramm kurz vor dem Urnengang zielte vorrangig darauf ab, Spätentscheider zu einem Kreuz für die CSU zu bewegen.
4 Auf den Plakaten mit Ministerpräsident Horst Seehofer wurde dies variiert zu „Ein starkes Bayern in Berlin.“
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Dem Vorwurf, die CSU sei keine moderne Partei, begegnete Seehofer vornehmlich mit einer Personalpolitik, die junge Köpfe und damit auch Ideen in Landes- (Kabinett) wie Bundespolitik (zu Guttenberg) beförderte. Der Wahlkampf war dagegen ganz darauf angelegt, die CSU als glaubwürdige und verlässliche Repräsentantin bayerischer Interessen im Bund zu präsentieren. Die CSU sollte für sich allein als Marke wirken, die seit Jahrzehnten für eine sozial- wie wirtschaftspolitisch erfolgreiche Politik stand. Angesichts des bei der Landtagswahl ausgeprägten Wechselwahlverhaltens innerhalb des bürgerlichen Lagers entschied sich die CSU dezidiert gegen einen Lagerwahlkampf. Das Leitbild der CSU als „Partei der kleinen Leute“ sollte zwar durchaus auch enttäuschte SPD-Wähler ansprechen. In erster Linie aber war Adressat dieser Botschaft die eigene bürgerliche Klientel, die mit einer Revitalisierung des sozialen Profils der CSU bei gleichzeitiger Betonung steuer- und wirtschaftspolitischer Kompetenzen von einer Wahlentscheidung für die Liberalen abgehalten werden sollte. Entsprechend entschied sich die CSU bei beiden Wahlen des Jahres 2009 – der Europa- wie der Bundestagswahl – auch für eine Zweitstimmenkampagne, die gleichfalls einen Angriff auf die FDP darstellte. Nur dadurch, dass die CSU gezielt versuchte, einen Kontrapunkt zum „Schlafkampf“ (Schütz 2009) der CDU zu setzen, sah sie eine Möglichkeit, ihre im Landtagswahlkampf verloren gegangene Agenda Setter-Qualität wieder auszuspielen. Seehofer bemühte sich darum, seine Partei dauerhaft im Gespräch zu halten. Die Neubewertung des sozialen Profils der CSU trug dabei auch der Lehre aus der Landtagswahl 2008 Rechnung, dass mit Wirtschaftspolitik allein scheinbar kein Wahlkampf mehr zu gewinnen ist.
Gleichzeitig aber wurde das Erscheinungsbild der Partei auch erheblich getrübt, vor allem – aber nicht nur – durch den aktionistischen und populistischen Stil Seehofers. Das Medienecho war anfangs überwiegend positiv, die Bemühungen Seehofers, die CSU wieder auf Kurs zu bringen, wurden gewürdigt. Je länger der Wahlkampf aber andauerte, ein prägnantes und schlüssiges inhaltliches Profil Seehofers weiter nicht zu erkennen war und die Attacken auf CDU und FDP unvermindert fortgeführt wurden, umso kritischer wurden auch die Medienstimmen. Zugeschnitten war der Wahlkampf der CSU ganz auf den Parteivorsitzenden. Er übertrug sein persönliches Kompetenzprofil als Bundes- und Sozialpolitiker auf die Gesamtpartei, woraus eine ausgeprägte Personalisierung des Wahlkampfes resultierte. Der 2009 zum Shooting-Star der CSU avancierte KarlTheodor zu Guttenberg war zwar das Zugpferd der Partei in der Wahlwerbung. Selbst die CDU entschied sich, dessen Konterfei zu plakatieren. Die Wahl-
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kampfstrategie jedoch gab der Parteivorsitzende allein vor. Zu Guttenberg verband in seiner Person – mit seinem Erscheinungsbild und seinem familiären Hintergrund – Moderne und Tradition, womit er beinahe symbolisch das Selbstverständnis der CSU personifizierte. Die Richtlinienkompetenz innerhalb der CSU aber, so machte Seehofer im Wahlkampfjahr stets deutlich, bestimme er als Parteivorsitzender allein. Das Risiko, damit auch allein die Verantwortung bei einem Misserfolg bei der Bundestagswahl tragen zu müssen, ging Seehofer ein – nicht aber, ohne für einen solchen Fall gewappnet zu sein. 3.2 Netz mit doppeltem Boden: Seehofers Vorbereitung auf den Notfall Parallel zur offiziellen Wahlkampfstrategie der CSU verfolgte Seehofer eine persönliche Machterhaltungsstrategie, die ihm das Amt des Ministerpräsidenten und den Parteivorsitz auch im Falle eines enttäuschenden Ausgangs der Bundestagswahl sichern sollte. Bemerkenswerterweise versuchte der „Einzelkämpfer“ (Gast/Kranenpohl 2010: 431 f.) Seehofer dabei erst gar nicht ernsthaft, den Kreis seiner Verbündeten zu erweitern. Obwohl Seehofer auf eine langjährige Parteikarriere zurückblicken kann, beispielsweise seit 1994 stellvertretender Parteivorsitzender war, galten seine parteiinternen Netzwerke doch als überschaubar. Zwischen 2000 und 2008 hatte er den Landesvorsitz der Christlich Sozialen Arbeitnehmer-Union (CSA) inne, 2005 war er außerdem kurzzeitig Landesvorsitzender des Sozialverbandes VdK Bayern gewesen. Viele für CSU-Karrieren bedeutende Stationen zur Ausweitung der eigenen parteiinternen Machtbasis – beispielsweise eine führende Rolle in der Jungen Union Bayern, als Generalsekretär der Partei oder als Mitglied des Bayerischen Landtages – fehlen dagegen in seiner Biographie. Trotzdem bemühte sich Seehofer auch als Ministerpräsident und Parteivorsitzender nicht, dieses Manko wett zu machen. Stattdessen setzte er ganz darauf, jegliche Mehrheitsbildung zugunsten einer personellen Alternative zur eigenen Person zu behindern:
Die potentiellen „Kronprinzen“ zu Guttenberg und den bayerischen Staatsminister für Umwelt und Gesundheit, Markus Söder, bezeichnete Seehofer selbst als „verdecktes Tandem“ (ddp 2009a), womit er darauf anspielte, dass zu Guttenberg das marktwirtschaftliche Credo der CSU im Wahlkampf hoch halten, Söder dagegen „die in Berlin ärgern“ sollte (Müller 2009). Tatsächlich aber handelte es sich hierbei nicht nur um eine strategische Arbeitsteilung im Wahlkampf, sondern um einen bewusst von Seehofer öffentlich in Szene gesetzten Machtkampf, in dem Söder in Stellung gebracht wurde gegen den in der Bevölkerung wie an der Parteibasis äußerst belieb-
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ten zu Guttenberg. Entsprechend bemühte sich Seehofer auch gar nicht darum, das „Gerangel“ zu Guttenbergs mit Söder zu unterbinden. Vielmehr freute er sich über den, so seine Darstellung, „gesunden Wettbewerb“ zwischen potentiellen Nachfolgern (ddp 2009b). Lachende Dritte dieses Zweikampfes wusste Seehofer gleichermaßen zu verhindern: Manfred Weber, Bezirksvorsitzender der CSU Niederbayern und Europaparlamentarier mit Ambitionen, überging er bei der Kabinettsbildung. Markus Ferber, CSU-Bezirksvorsitzender von Schwaben und ebenso Mitglied des Europäischen Parlamentes, versuchte Seehofer aus dem Amt des Vorsitzenden der CSU-Europagruppe zu drängen, indem er ihn nicht mehr als Spitzenkandidat für die Europawahl nominieren wollte. Eine deutliche Schwächung musste die CSU-Landtagsfraktion hinnehmen (Bürger 2010). Erstmals in der Geschichte der CSU sind seit 2008 alle drei zentralen Posten – bayerischer Ministerpräsident, Parteivorsitzender und Generalsekretär – ausschließlich mit Person besetzt, die ihre Sozialisation nicht in der selbst ernannten „Herzkammer“ der Partei erfuhren. Seehofer stützte den Vorsitzenden der Landtagsfraktion Georg Schmid, auch als dieser im Zusammenhang mit der Affäre um die Bayerische Landesbank stark unter Druck geriet. Jedoch geschah dies mehr aus Eigeninteresse, denn zur Stärkung der Partei: „Unter Schmids Vorgängern war die Fraktion einmal ein echtes Machtzentrum in der Partei. Seit Schmid im Amt ist, können sich die Abgeordneten nur noch selten gegen die Mächtigen in Staatskanzlei und Parteizentrale durchsetzen“ (Hübner 2010). Ebenfalls eine deutliche Abwertung erfuhr die CSU-Landesleitung als parteiinterner Think-Tank. Nach der kurzzeitigen Episode des Generalsekretärs zu Guttenberg (30. Oktober 2008 bis 09. Februar 2009) folgte ihm mit Alexander Dobrindt eine Persönlichkeit nach, die selbst in weiten Kreisen der Partei bis dato unbekannt war.5 Mit Dobrindt und dessen Stellvertreterin Dorothee Bär besetzte Seehofer die politische Spitze der Landesleitung mit zwei ihm loyalen Kräften aus Reihen der Berliner CSU-Landesgruppe. „Nebeneffekt“ dieser Neubesetzungen war, dass die Berliner CSULandesgruppe formal gestärkt wurde, sie so aber zugleich in einen Loyalitätskonflikt zu Seehofer auf der einen Seite und dem CSU-Landesgruppenvorsitzenden Peter Ramsauer auf der anderen Seite gedrängt wurde. Ramsauer war zwar von Seehofer selbst zum Spitzenkandidaten der Partei für die Bundestagswahl vorgeschlagen worden, was eine Abkehr von der CSU-Tradition bedeutete, diese stets durch den Parteivorsitzenden selbst
Dobrindt, der seit 2002 Mitglied des Bundestages ist, war zum Zeitpunkt seiner Bestellung zum Generalsekretär außerdem Ortsvorsitzender der CSU Peißenberg und Mitglied im Marktgemeindeart Peißenberg sowie im Kreistag des Landkreises Weilheim-Schongau.
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wahrzunehmen. Gleichzeitig aber hatte Seehofer Ramsauer gegenüber deutlich zu erkennen gegeben, dass er ihn lediglich als seinen verlängerten Arm in Berlin betrachtete. Entsprechend gering war auch die Rolle, die der offizielle Spitzenkandidat im Bundestagswahlkampf der CSU spielte. De facto versuchte Seehofer, auch die CSU-Landesgruppe an seine kurze Leine zu legen – trotz deren formaler Aufwertung. Schließlich verlor auch die Bayerische Staatskanzlei an Einfluss (Kornöder 2010). Unter Edmund Stoiber lag hier das inoffizielle Epizentrum der CSU in Person einflussreicher Berater wie Walter Schön, Friedrich Wilhelm Rothenpieler, Michael Höhenberger oder Ulrich Wilhelm (Erhard 2008). Günther Beckstein hatte an diese Tradition anzuknüpfen versucht, indem er Michael Ziegler, einen seiner engsten Vertrauten und Pressesprecher seit 1995, zum Regierungssprecher erhob. Seehofer hingegen installierte mit dem stellvertretenden Landesvorsitzenden der CSU-Arbeitnehmer-Union (CSA) Reiner Meier lediglich in der CSU-Parteizentrale einen engen Vertrauten (Herdegen 2009; Zaruba 2009). Sein Büroleiter in der Staatskanzlei, Gerhard Reichel, bereits unter Beckstein im Amt, wurde dagegen im Juni 2009 unerwartet abgelöst – offiziell wegen „chaotischer Terminplanung“ (AZ 2009). Sein Nachfolger Markus Zorzi aber war gleichfalls kein Vertrauter Seehofers, sondern seit 1999 in der CSU-Landesleitung beschäftigt, ab 2004 CSU-Landesgeschäftsführer. Und auch der Posten des Regierungssprechers wurde mit Daniela Philippi zwar mit einer ausgezeichneten Kennerin bayerischer Politik besetzt; Philippi war seit 1992 Landtagsberichterstatterin des Bayerischen Rundfunks und seit 1995 Leiterin der neu gegründeten Abteilung Landespolitik. Erfahrung in der politischen Praxis aber fehlten ihr.
Das „System Seehofer“, so ist zu konstatieren, bestand im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 darin, jegliche potentiellen parteiinternen Machtzentren neben seiner Person zu verhindern. Selbst die Verjüngungskur des bayerischen Kabinettes nach der Landtagswahl 2008 kann in diesem Sinne interpretiert werden, immerhin verdanken vier der neun CSU-Minister im Kabinett ihren Karrieresprung dem neuen Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten. Profilierte und für Seehofer unberechenbare Querdenker wie Wissenschaftsminister Thomas Goppel mussten dagegen ihren Stuhl räumen. Dass zu diesem System der Macht auch unbedingte Loyalität zählt, machte Seehofer im ersten Jahr seiner Amtszeit wiederholt unmissverständlich deutlich. Unmittelbar nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten hatte er angekündigt, einen neuen Führungsstil pflegen zu wollen. Statt autoritärer Vorgabe politischer Ziele aus der bayerischen Staatskanzlei wollte er wieder
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mehr den Dialog mit der Partei und den Bürgern pflegen. Tatsächlich aber gerierte sich Seehofer als „Horst, der Herrscher“, der vor allem dadurch auffiel, dass er gegen die eigenen Leute „polterte“ (Fischer 2009). Stimmen aus der Partei, die dem Parteivorsitzenden mangelnde Unterstützung vorhielten, mehrten sich zusehends. Beispielsweise warf Seehofer Landesgruppenchef Peter Ramsauer intern vor, die Interessen der CSU in Berlin nicht dezidiert genug zu vertreten. Ramsauer-Vertraute klagten hingegen über mangelnde Unterstützung des Parteivorsitzenden für die Landesgruppe und ihren Vorsitzenden (Handelsblatt 2008). Die CSU-Europagruppe und auch die eigene Parteibasis verärgerte Seehofer hingegen mit Alleingängen wie der Nominierung der Strauß-Tochter Monika Hohlmeier zur Europa-Kandidatin durch den oberfränkischen CSUBezirksvorstand. Die von Seehofer gemeinsam mit zu Guttenberg arrangierte Nominierung sollte einer CSU-Spitzenkandidatin Hohlmeier für die Wahlen zum Europäischen Parlament den Weg ebnen. Mit diesem Ansinnen jedoch stieß der Parteivorsitzende bei den Bezirksverbänden ebenso auf Ablehnung wie beim Vorsitzenden der CSU-Europagruppe und CSU-Bezirksvorsitzenden von Schwaben, Markus Ferber. Letztlich musste Seehofer in diesem Punkt zurückstecken, Ferber führte die CSU in die Europawahl, Hohlmeier erhielt den sicheren Listenplatz Sechs. Reichlich Porzellan vor allem auch in Franken aber war zu diesem Zeitpunkt bereits zu Bruch gegangen (Stroh 2009b). Insgesamt ist Seehofer so für das erste Jahr seiner Amtszeit als Parteivorsitzender und Ministerpräsident ein eher destruktives denn konstruktives Politikmanagement zu bescheinigen. In erster Linie galten seine Bemühungen nicht dem Ziel, sich eines größeren Rückhalts in der Partei zu vergewissern, sondern Alternativen zu seiner Person auszuschließen und die CSU mit Hilfe eines autoritären Führungsstils auf seine Person zu verpflichten.
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Konsequenzen der Ernüchterung
Wie wichtig der Entschluss Seehofers war, seine eigene Zukunft nicht nur vom Wahlergebnis abhängig zu machen, sondern gleichzeitig eine Verhinderungsstrategie personeller Alternativen zu seiner Person zu verfolgen, zeigte sich bereits am Abend der Bundestagswahl. Deren Ergebnis war für die CSU mehr als nur eine Enttäuschung. Nicht nur hatte die CSU mit 42,5 Prozent der Wählerstimmen (Bund 6,5 Prozent) das schlechteste Ergebnis der Partei bei bundesweiten Urnengängen seit 1949 (29,2/5,8 Prozent) eingefahren und damit auch noch das Landtagswahlergebnis des Vorjahres unterboten. Auch wurde rasch klar, dass sich die Trends des Wahlverhaltens, wie sie sich 2008 abgezeichnet hatten, weiter fortgesetzt hatten, die Wahlkampfstrategie folglich nicht gegriffen hatte.
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Wiederum war die Wahl von einem ausgeprägten Wechselwahlverhalten gekennzeichnet, wobei die CSU Stimmen vor allem an die Liberalen abgeben musste. Und wiederum waren die Stimmenverluste am höchsten in den CSUStammlanden Niederbayern (- 9,3 Prozent), Schwaben (- 7,8 Prozent) und Oberbayern (- 6,9 Prozent) (Bayern gesamt: - 6,7 Prozent). Dass die CSU alle bayerischen Direktmandate errang und es daher 2009 erstmals Überhangmandate (3) aus Bayern gab, war für die Partei angesichts dieses Desasters ein schwacher Trost. 4.1 Emanzipation der Machtzentren Seehofer selbst deutete das Ergebnis als herbe Enttäuschung, machte jedoch unmittelbar klar, das Feld nicht freiwillig räumen zu wollen. Dass er sich dabei künftig nicht mehr im gleichen Maße wie zuvor als Alleinherrscher der Partei gerieren würde können, verdeutlichten die gleichzeitigen Aussagen parteiinterner Kritiker, deren Tenor sich auffällig ähnelte: scharfe Kritik an der Wahlkampfstrategie und dem Führungsstil Seehofers bei gleichzeitiger Zurückhaltung mit der Forderung nach personellen Konsequenzen. Der ehemalige Parteivorsitzende Erwin Huber beispielsweise betonte, man hätte stärker Rot-Rot angreifen und „das kleinkarierte Gezänk mit der FDP“ lassen sollen (Issig 2009). Gleichzeitig aber distanzierte er sich von persönlichen Schuldzuweisungen an Seehofer. Ähnlich äußerte sich auch Theo Waigel, Parteivorsitzender von 1988 bis 1999, der auf die Frage, ob es eine falsche Strategie gewesen sei, die Liberalen im Wahlkampf zu attackieren, antwortete: „Das ist nicht zu leugnen.“ Auch er aber verband seine Kritik nicht mit einer Rücktrittsforderung an Seehofer: „Jeder in der CSU hätte bei der Bundestagswahl ähnlich abgeschnitten. Es ist uns eben nicht gelungen, die vorhandenen Strukturprobleme innerhalb eines Jahres zu lösen“ (Peter/Schmid 2009). Die bemerkenswerteste Initiative im Zuge der Bundestagswahl ergriff der Vorsitzende des CSU-Bezirksverbandes Niederbayern und Mitglied des Europäischen Parlamentes, Manfred Weber. Bereits am Montag nach der Wahl veröffentlichte er ein internes Strategiepapier zur Zukunft der Partei, in dem er eine „Neudefinition einer christlich-konservativ-liberalen Politik“ forderte (Associated Press Worldstream 2009). Der Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Papiers machte deutlich, dass es sich um keine spontane Reaktion auf das Bundestagswahlergebnis handelte. Entsprechend war das Papier als deutliche Ansage auch gegen den wankelmütigen Kurs des Parteivorsitzenden zu deuten, den Weber in den Koalitionsverhandlungen durch zu Guttenberg ersetzt wissen wollte. Nicht ganz so scharf, aber doch deutlich, konstatierte der ehemalige Vorsitzende der
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CSU-Landtagsfraktion Alois Glück eine tiefe Verunsicherung der Bürger über die Position der CSU: „Wir müssen klar machen, dass wir die Meinungsführer sind“ (Ramelsberger 2009). Glück verwies weitergehend auf eine Umfrage, welche der CSU die geringste Glaubwürdigkeit aller Parteien bescheinigte (Infratest dimap 2009a: 44). Dass es sich hierbei um eine bundesweite Umfrage handelte, das Ergebnis für die CSU somit wenig überraschend und daher eigentlich keinen Kommentar wert war, verschwieg Glück. Auch seine Auslassungen stellten so eine gezielte Spitze gegen Seehofer dar. Gleichzeitig aber wagte selbst Glück nicht den Generalangriff: „Man muss jetzt nicht alles auf den Parteichef schieben, da ist die ganze Partei in der Pflicht“ (ebd.). Seehofer erschien nach der Bundestagswahl angezählt. Das Ziel eines respektablen CSU-Votums auf dem Niveau des Ergebnisses der Europawahl hatte er klar verfehlt. Seine Wahlkampfstrategie der Attacke gegen CDU und FDP war parteiintern von vielen nur mit Vorbehalt mitgetragen worden. Es stellte sich daher nunmehr die Frage, ob sich eine Mehrheit gegen ihn formieren und ihn zu Fall bringen würde. Als gefährlichster Konkurrent für Seehofer war aus der Bundestagswahl endgültig Karl-Theodor zu Guttenberg hervorgegangen, der sich mit dem Titel „Stimmenkönig“ (Bild) schmücken konnte. Mit seinen 68,1 Prozent im Wahlkreis Kulmbach holte er mehr Erststimmen als jeder anderer Politiker in Deutschland – und schwang sich damit endgültig zum heimlichen starken Mann der CSU auf. Als Ministerpräsident kam zu Guttenberg noch nicht Frage, da er – Jahrgang 1971 – das von der bayerischen Verfassung in Art. 44 (2) vorgeschriebene 40. Lebensjahr für das Amt des Landesvaters noch nicht vollendet hatte. Doch auch der Parteivorsitz kam 2009 für ihn noch zu früh. Zwar etablierte sich zu Guttenberg angesichts seiner Beliebtheitswerte in der Bevölkerung, die diese von Seehofer deutlich überstiegen (Infratest dimap 2009b), zum Hoffnungsträger der Partei für die Zukunft. Gleichzeitig aber hatte er aufgrund seiner Blitzkarriere –seit 2002 MdB, 2007 CSU-Bezirksvorsitzender von Oberfranken, 2008 Generalsekretär, 2009 Bundeswirtschaftsminister – noch keine ausgeprägten, parteiinternen Netzwerke der Macht installieren können. Zudem hatte zu Guttenberg die an der Basis höchst umstrittene Installation Monika Hohlmeiers als CSUSpitzenkandidatin Oberfrankens für die Wahl zum Europäischen Parlament mit zu verantworten. Einem Putsch von seiner Seite wäre damit trotz seiner Popularität zum Zeitpunkt unmittelbar nach der Bundestagswahl ein ungewisser Ausgang beschieden gewesen. Doch auch andere potentielle Aspiranten auf Parteivorsitz und Ministerpräsidentenamt konnten Seehofer nicht gefährlich werden. Ein Ministerpräsident Markus Söder hätte – als Mittelfranke und Vorsitzender des CSU-Bezirksverbandes Nürnberg-Fürth-Schwabach – die langfristigen Chancen zu Guttenbergs auf
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den Parteivorsitz zunichte gemacht; eine rein fränkische Doppelspitze ist, so haben nicht zuletzt die Rivalitäten zwischen den Landesteilen nach der Landtagswahl 2008 gezeigt, in der CSU weiterhin nicht vermittelbar. Die Unterstützung der fränkischen Verbände für eine Kandidatur zum Ministerpräsidentenamt aber hätte Söder angesichts dieser Konstellation nicht erhalten, ebenso wenig wie die südbayerischen Verbände einen Putsch gegen Seehofer mitgetragen hätten. Allen voran der Bezirksverband Oberbayern, der wesentlich an der Inthronisation Seehofers beteiligt gewesen war und dessen Vorsitzender Siegfried Schneider 2008 von Seehofer zum Leiter der bayerischen Staatskanzlei im Ministerrang berufen worden war, hätten eine Ersetzung des Oberbayern Seehofer durch Söder nicht mitgetragen. Lachende Dritte in diesem verhinderten Machtpoker gab es schließlich gleichfalls nicht. Manfred Weber hatte sich mit seinem Strategiepapier zwar wieder ins Gespräch gebracht und übernahm im Dezember 2009 den prestigeträchtigen Vorsitz der CSU-Grundsatzkommission. Für einen „Putsch“ aber fehlte auch ihm wie jedem anderen in der Partei die nötige Machtgrundlage. Im Gegensatz zur Wahlkampfstrategie der CSU waren folglich Seehofers Bemühungen, andere Mehrheiten neben seiner Person zu verhindern, Erfolg beschieden. Allerdings war damit und angesichts des CSU-Ergebnisses der Bundestagswahl keinesfalls eine dauerhafte Festigung seiner Position verbunden. Er hatte lediglich Zeit gewonnen, die Stimmung innerhalb der Partei zu seinen Gunsten zu drehen – mehr aber auch nicht. Nicht zuletzt kam es außerdem auch deshalb zum damaligen Zeitpunkt nicht zum offenen Machtkampf, weil das Kalkül der Seehofer-Kritiker war, sich nicht in dieser schwierigen Situation für die CSU aufzudrängen und so selbst die Gefahr einzugehen, Kredit und Karrierechancen zu verspielen. Aus ihrer Sicht sollte Seehofer die auch von ihm und seiner Wahlkampfstrategie für die CSU eingebrockte Suppe erst einmal selbst auslöffeln. Ein dauerhaftes Bekenntnis zum Parteivorsitzenden aber sieht anders aus. Letztlich ähnelte die Situation nach der Bundestagswahl damit der ein Jahr zuvor: Seehofer war noch immer nicht zum „starken Mann“ der CSU avanciert, er blieb an der Spitze der Partei wiederum aufgrund mangelnder personeller Alternativen. Ihm musste demnach weiterhin daran gelegen sein, parteiinterne Mehrheiten für seinen Sturz zu verhindern. Gleichzeitig aber zeigte sich rasch, dass die Bundestagswahl die Situation der CSU doch wesentlich verändert hatte. War das Jahr 2009 von einem Burgfrieden in der Partei geprägt, da niemand öffentlich den Wahlerfolg verhindern wollte, sind seitdem – die nächsten Urnengänge stehen voraussichtlich erst 2013 an – ausgeprägte Emanzipationsprozesse der verschiedenen Machtzentren der Partei zu beobachten. Seinen Anspruch, weitgehend allein den Kurs der Partei bestimmen zu können, kann der Parteivor-
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sitzende seitdem immer weniger durchsetzen. Die Partei befindet sich so aktuell in einem tiefgreifenden Strukturwandel, der über das übliche Austarieren der Machtverhältnisse innerhalb der Partei früherer Jahre hinausgeht. Seehofer versuchte eingangs, seine Strategien des Wahlkampfjahres 2009 fortzusetzen. Mit dem Ergebnis der schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen in Berlin konnte er einen Sieg für sich verbuchen, indem er wesentliche Forderungen der CSU durchzusetzen imstande war. Auch hatte er der CSU drei Ministerposten – und damit einen mehr als erwartet – sichern können. Gleichzeitig aber rückte er auch in den ersten Monaten der neuen Bundesregierung nicht davon ab, die FDP scharf zu attackieren, obwohl diese nun nicht nur Koalitionspartner im Freistaat, sondern auch im Bund war. Die daraus resultierenden Belastungen für die bayerische Regierungskoalition wurden von der CSU-Fraktion im bayerischen Landtag mit Sorge gesehen, woraus Bemühungen resultieren, die Gemüter zu beruhigen. Die CSU-Landesleitung mit Generalsekretär Dobrindt an der Spitze unterstützte dagegen Seehofer und legte nicht selten im Streit mit den Liberalen nach (ddp 15.07.2010). Auch gegenüber der Schwesterpartei CDU ist Seehofer weiterhin nicht zimperlich. Beispielsweise warf Seehofer Angela Merkel und Wolfgang Schäuble schwere Fehler in der Euro-Krise vor (Auer/Ramelsberger/Szymanski 2010) und drohte der Kanzlerin mit dem Ausstieg aus der Rente mit 67 (Ramelsberger/Fried 2010). Mit dem „Herbst der Entscheidungen“ sind solche Attacken aus München seltener geworden. Eine grundsätzliche Abkehr vom bisherigen Kurs Seehofers, massiv Stärke auch gegenüber der CDU zu demonstrieren, ist damit aber nicht verbunden. Schließlich sucht der Parteivorsitzende auch weiterhin – wie vor der Bundestagswahl – parteiinterne Konkurrenten zu schwächen oder gegeneinander auszuspielen. Dass er zu Guttenberg in der neuen schwarz-gelben Regierung den Posten des Verteidigungsministers zudachte, wurde allgemein als Versuch gewertet, den Überflieger auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen (Hilbig 2009). Das Verteidigungsministerium in Zeiten des Afghanistaneinsatzes der deutschen Bundeswehr führen zu müssen, sollte, so Seehofers Kalkül, die Beliebtheit zu Guttenbergs dämpfen. Dessen Rücktritt infolge der "Plagiats-Affäre" Anfang März 2011 stärkte den Parteivorsitzenden, nutzte hingegen Markus Söder nur bedingt. Zwar versucht sich Söder auch weiterhin offensiv mit Rückendeckung Seehofers zu profilieren, indem er als Landesgesundheitsminister über den freistaatlichen Tellerrand hinausblickt. Mit Hans-Peter Friedrich als neuem Bundesinnenminister aber ist auf zu Guttenberg abermals ein Oberfranke gefolgt, der Söder die Hausmacht Franken streitig macht. Auch Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner gewann mit dem Bezirksvorsitz von Oberbayern, den sie im März 2011 übernahm, an innerparteilichem Gewinn. Und schließlich mehren
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sich Hinweise, wonach auch die bayerische Sozialministerin Christine Haderthauer nach Höherem strebt. Seehofer kann dies nur Recht sein. Je mehr „Kronprinzen“ es gibt, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass einer von diesen tatsächlich die notwendige Mehrheit für seine Ersetzung organisieren kann. Gleichzeitig zeigt der Machtkampf hinter den Kulissen, dass es in der CSU aktuell kein dominantes Machtzentrum gibt:
Innenstaatssekretär Bernd Weiß brachte nicht nur seinen persönlichen Unmut, sondern den der gesamten kommunalen Basis zum Ausdruck, als er im Oktober 2009 seinen Rücktritt erklärte. Weiß hatte mit den bayerischen Kommunen einen Kompromiss zur Finanzierung des Digitalfunks für Polizei und Rettungsdienste ausgehandelt. Dann jedoch, als scheinbar alles in trockenen Tüchern war, versagte Seehofer ihm die Zustimmung. Bemerkenswert an diesem Rücktritt war, dass damit erstmals in solch scharfer Form der Unmut in weiten Teilen der Partei, auch an der Basis, über Seehofers Führungsstil öffentlich zum Ausdruck gebracht wurde. Bundeswirtschaftsminister Michael Glos hatte seinen Rücktritt Anfang Februar 2009 noch mit dem Hinweis auf die notwendige „Erneuerung, Gestaltungskraft und Glaubwürdigkeit“ der CSU begründet, obwohl sein zerrüttetes Verhältnis zum Parteivorsitzenden kein Geheimnis war (Neukirch 2009). Der neue CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich kritisierte Seehofer und die bayerischen Staatsminister Söder und Haderthauer Anfang März 2010 öffentlich und in singulär scharfer Form. Friedrich sprach von „störenden“ Äußerungen „nicht zuständiger Politiker aus dem Süden des Landes“ sowie „ausschließlich destruktiven“ Stimmen und forderte, die „Störfeuer“ aus München einzustellen. Während Söder spöttisch entgegnete, er sei dem Landesgruppenvorsitzenden gerne behilflich, wenn dieser „Nachfragen“ habe, kanzelte Seehofer Friedrichs Kritik schlicht als „bodenlosen Unsinn“ ab (Buchsteiner 2010). Ergebnis war die Vereinbarung häufigerer Konsultationen, mehr als einen labilen Frieden zwischen Parteispitze und Landesgruppe aber stellte dieser Mechanismus nicht her. Als Seehofer im Oktober 2010 über eine Aufkündigung der Vereinbarung zur Rente mit 67 nachdachte, stellte sich die Landesgruppe abermals explizit gegen ihren Parteivorsitzenden. Die Landesgruppe, so wurde deutlich, sieht sich unter ihrem Vorsitzenden Friedrich, seines Zeichens stellvertretender Vorsitzender der CSU Oberfranken, mehr Bundesverteidigungsminister Guttenberg, zugleich Vorsitzender des Bezirksverbandes Oberfranken, verpflichtet als der Münchner Parteileitung.
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Die CSU-Fraktion im bayerischen Landtag schließlich machte deutlich, dass sie das Feld der inhaltlichen Wegbestimmung der CSU nicht dem Parteivorsitzenden und der Staatsregierung allein überlassen will. Öffentlichkeitswirksam erinnerte sie an ihre Rolle als eines der Machtzentren der Partei, indem sie Ende 2009 die Initiative „Gemeinsam Bayern bewegen“ startete, das in ihrem eigenen, gleichnamigen Zukunftskonzept mündete, das am 27. November 2010 vorgestellt wurde (Weigl 2011). Vorausgegangen waren fast acht Monate, in denen die Landtagsfraktion bayerischen Bürgern auf Veranstaltungen und im Internet die Gelegenheit gegeben hatte, ihre Vorstellungen zur Zukunft Bayerns zu formulieren. Online gingen in diesem Zeitraum –Februar bis November 2010 – 1029 so genannte „Ideen“ ein, die Partei selbst spricht von „über 5000 Menschen“ (CSU-Fraktion 2010: 2), die sich beteiligt hätten.
Dass die bayerische Staatsregierung beinahe zeitgleich ein ganz ähnliches Projekt initiierte, sorgte für Unmut in der Landtagsfraktion. Die Tatsache, dass beide Initiativen weitgehend unabgestimmt nebeneinander existierten, wirft ferner ein bezeichnendes Bild auf die nach der Bundestagswahl 2009 verloren gegangene Geschlossenheit der CSU, deren Ursache die aus dem Gleichgewicht geratene Machtbalance der Partei ist. Auch die Bayerische Staatsregierung ging in ihrer Initiative neue Wege in der Bürgerbeteiligung. Zwischen dem 16. Juni und 15. August 2010 konnten sich die Bürger an der Erarbeitung des neuen Regierungsprogramms „Aufbruch Bayern“ beteiligen, indem sie auf einer eigens eingerichteten Online-Plattform Ideen und Vorschläge für die Zukunft Bayerns einbringen und diskutieren konnten. Insgesamt riefen über 100.000 Besucher die Seite der Initiative mit Schwerpunkt auf Familie, Bildung und Innovation auf. In acht Wochen wurden 739 Ideen und Vorschläge sowie 6.3421 Diskussionsbeiträge abgegeben – ein Erfolg, wie die bayerische Staatsregierung befand (Bayerische Staatsregierung 2010). Zwar handelt es sich bei „Aufbruch Bayern“ um eine Initiative der Staatsregierung; die endgültige Ausarbeitung des Regierungsprogramms bis Weihnachten 2010 oblag der gemeinsamen Federführung von Ministerpräsident Seehofer und dem bayerischen FDP-Wirtschaftsminister Martin Zeil. Gleichzeitig jedoch machte die CSU deutlich, dass sie es war, von der der Impuls zu diesem Programm und auch der Bürgerbeteiligung ausging. Mit Christine Haderthauer, Ludwig Spaenle und Staatskanzleichef Siegfried Schneider hatten drei Staatsminister der CSU maßgeblich an der Entwicklung des Programms mitgewirkt. Das Online-Portal zur Bürgerbeteiligung wurde offensiv auf der Homepage der CSU, nicht aber auf dem der FDP beworben. Ziel der Initiative war es, das Profil des Ministerpräsidenten zu stärken, dem Vorwurf seiner inhaltlichen Sprunghaftig-
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keit zu begegnen und gleichzeitig mehr Bürgernähe herzustellen. Nicht zuletzt aber ist die Initiative das Signal an die eigene Partei, dass sich Seehofer bis 2018 an der Spitze der Partei und im „schönsten Amt der Welt“ (Franz Josef Strauß) als bayerischer Ministerpräsident einzurichten gedenkt. 4.2 Die Parteistrukturreform „Leitbild 2010plus“ Das Versprechen größerer Bürgernähe bayerischer Regierungspolitik hatte Seehofer bereits in seiner großen Regierungserklärung nach Amtsantritt als Ministerpräsident gegeben, als er „Zukunftsgestaltung für Bayern im Dialog mit den Menschen“ versprach (Seehofer 2008: 7). Ebenso offensichtlich war daneben, dass diese Bürgernähe auch auf die Partei selbst übertragen werden musste. Die Parteibasis hatte in der CSU stets die Rolle eines Frühwarnsystems inne gehabt, das Stimmungen in der Bevölkerung aufsog und nach oben bis zur Parteileitung weitergab. Das nach den Wahlniederlagen in Umfragen ermittelte Meinungsbild in der Bevölkerung, die CSU habe ihr einst legendäres Gespür für die Menschen verloren, wies darauf hin, dass die CSU auch ihre Kommunikation mit der Parteibasis reformieren musste. Dieser Anforderung gerecht zu werden versuchte der CSU-Parteivorstand mit seinem „Leitbild 2010plus“, das auf dem Parteitag Ende Oktober 2010 in München die Zustimmung der Delegierten fand (CSU 2010). Tatsächlich ist diese Parteistrukturreform der CSU keine Folge der Bundestagswahl 2009, sondern eine der Lehren aus der Landtagswahl 2008 einerseits und dem weiter kontinuierlichen Mitgliederverlust der Partei (zwischen 1990 und 2010 rund 26.000 Personen bzw. 13 Prozent) andererseits (Weigl 2011). Das Ergebnis des bundesweiten Urnengangs und die Erkenntnis, dass der Markencharakter der CSU beschädigt war, aber verdeutlichten nachdrücklich die Notwendigkeit dieser Maßnahme. Vorausgegangen war dem Beschluss des Münchner Parteitages ein einjähriger Erarbeitungsprozess, der mit einem entsprechenden Beschluss des Parteitages im Juli 2009 seinen Anfang genommen hatte. Seitdem hatten Generalsekretär Dobrindt und seine Stellvertreterin Bär auf so genannten Dialogkonferenzen in allen Kreisverbänden mit den Mitgliedern an der Basis diskutiert. Die Stoßrichtung dieser Diskussionen war mit dem Motto „Mehr Beteiligung und innerparteiliche Demokratie“ klar vorgegeben. Die Reformierung der innerparteilichen Beteiligungsstrukturen stand ebenso im Mittelpunkt der Debatte wie die Frage, wie die Partei ihr Erscheinungsbild modernisieren und so neue Mitglieder gewinnen könnte. Gleichzeitig bemühte sich die Münchner Parteispit-
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ze, nicht den Eindruck zu erwecken, nur für ihre eigenen Ideen werben, sondern der eigenen, neuartigen Stilisierung als „Mitmachpartei“ gerecht zu werden: „Engagierte Bürger fordern heute mehr Mitsprache bei ihren politischen Anliegen ein als früher. Das gilt auch für die CSU: Auch unsere Mitglieder wollen am politischen Entscheidungsprozess unmittelbar mitwirken können. Wie keine andere politische Kraft kann ihnen die CSU dieses Angebot machen. Sie ist die Partei zum Mitmachen. (...) Um ihre Spitzenstellung zu bewahren, muss sich die CSU auf die neuen gesellschaftlichen Bedingungen einstellen. Heute geht es darum, die CSU als große Volkspartei zu erhalten und zur Mitmachpartei fortzuentwickeln“ (ebd.: 2).
Im Einzelnen hat die CSU ihre Satzung aufgrund der Annahme des Leitbildes durch die Parteitagsdelegierten in folgenden Punkten geändert:
Durchführung von Mitgliederbefragungen zu Sach- und Personalfragen auf allen Parteiebenen auf Antrag von mindestens einem Drittel der jeweils nachgeordneten Gebietsverbände oder auf Beschluss des Vorstandes eines Gebietsverbandes mit absoluter Mehrheit. Die Befragung, die in Sachfragen eine mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantwortende Frage an die Mitglieder zum Gegenstand haben muss, ist binnen drei Monaten durchzuführen. Beteiligen sich an der Mitgliederbefragung mindestens ein Drittel der jeweiligen Mitglieder, ist das Mehrheitsergebnis im weiteren politischen Prozess der Partei bzw. des Gebietsverbandes zu berücksichtigen. (§ 7 der Satzung der Christlich-Sozialen Union Bayerns, Stand: Oktober 2010). Einführung einer Frauenquote von mindestens 40 Prozent der Parteiämter. Wahlen der weiteren Mitglieder des Partei- und Bezirksvorstandes sind nur dann gültig, wenn mindestens 40 Prozent der gewählten Mitglieder des jeweiligen Vorstands Frauen sind (§ 8). Erweiterung des Parteivorstandes um die Landesvorsitzenden der nicht bereits als Vollmitglied inkorporierten Arbeitsgemeinschaften – diese sind: Junge-Union, Frauen-Union und Senioren-Union – mit beratender Stimme (§ 26, 1). Etablierung einer größeren Transparenz bei parteiinternen Antragsverfahren, indem jeder Antragsteller nunmehr über den Verfahrensgang und über das Ergebnis der Beratung seines Antrages spätestens binnen sechs Monaten unterrichtet werden muss. Auch muss der Vorstand der Mitglieder- bzw. Vertreterversammlung mindestens einmal jährlich über die gestellten und behandelten Anträge Bericht erstatten (§ 47, 6).
Inwieweit diese Beschlüsse tatsächlich wegweisend sind, ist ambivalent zu bewerten. Für die Partei selbst sie sie sicherlich als revolutionär zu bezeichnen, was
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die kontroverse Debatte um die Frauenquote belegt. Im Vergleich mit den anderen Parteien in Deutschland aber relativiert sich die Bewertung:
So war die CSU neben der FDP die bislang einzige Partei, die sich einer proportionalen Besetzung von Parteiämtern mit Frauen verschloss. Die Grünen hatten sich hierzu bereits bei ihrer Gründung 1979 verpflichtet (50 Prozent), die SPD war 1988 nachgezogen (40 Prozent), die Linke hatten sich auf gleichfalls 50 Prozent festgelegt und auch die CDU hatte 1996 eine abgeschwächte Form, das Frauenquorum (ein Drittel im ersten Wahlgang), gewählt. Im Falle von Mitgliederbefragungen ist die CSU sogar die letzte der etablierten deutschen Parteien, die sich einem solch partizipativen Momentum öffnet – und dies in deutlich abgeschwächterer Form als die meisten anderen Parteien. SPD, FDP, Grüne und Linke kennen gleichermaßen basisdemokratische Instrumente. Zwar unterscheiden sich diese in ihrer Form (Urabstimmung oder Mitgliederentscheid) und in ihren Zulassungsquoren. Bei allen Unterschieden im Detail aber ist ihnen gemein, dass die Beschlüsse bindende Wirkung besitzen – zumeist im Rang eines Parteitagsbeschlusses. Die CSU hingegen spricht lediglich davon, dass das Ergebnis ihrer Mitgliederbefragung im weiteren politischen Prozess „zu berücksichtigen“ sei, ohne diese Berücksichtigung zu konkretisieren. Auch kennt sie nicht wie die anderen Parteien die Möglichkeit, dass die Initiative zu einer Mitgliederbefragung von den Mitgliedern selbst ausgeht; Initiativrecht besitzen lediglich die nachgeordneten Gebietsverbände oder der Vorstand eines Gebietsverbandes. Sie schließt sich damit im Wesentlichen der CDU an, die das Initiativrecht ähnlich restriktiv definiert hat, ebenfalls nur von einer „Befragung“ spricht und sogar keinerlei Hinweis auf die Wirkkraft solcher Befragungen gibt.
Nicht der Inhalt der Beschlüsse an sich, so ist zu konstatieren, ist damit als revolutionär in der deutschen Parteienlandschaft zu charakterisieren. Sehr wohl aber ist es als Zeichen eines tiefgreifenden Umbruchs zu werten, dass diese Beschlüsse innerhalb der CSU möglich wurden. Bis 2008/09, in ihrer Zeit als 50+X-Partei, schien der Zeitgeist an der parteiinternen Organisationsstruktur der CSU abzuprallen. Aufgrund ihrer Erfolge besaßen Fragen der Beteiligung der Basis an parteiinternen Willensbildungsprozessen keine Priorität. Wichtig war, die Stimmung an der Basis aufzugreifen und bis zur Parteispitze nach oben durchzureichen. Hierfür aber diente in erster Linie die CSU-Dominanz unter den bayerischen Mandatsträgern auf allen Ebenen sowie im vorpolitischen Raum.
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Das jetzige Umdenken der Parteispitze zeigt, dass dieser parteiinterne Informationskanal nicht mehr im gleichen Maße funktioniert wie früher. Zudem reicht allein die Aussicht, öffentliche Ämter zu besetzen, nicht mehr aus, die Basis bei Laune zu halten. Vorbei scheinen die Zeiten, in denen der CSU bescheinigt wurde, Führung und Gefolgschaft in besonderem Maße verinnerlicht zu haben: „Was die demokratischen Mitgliederpartizipationen anbelangt, so war auf Seiten der Mitgliedschaft und Delegierten gegenüber den Parteiführern und prominenten CSUPolitikern in der Regel ein gefolgsähnliches Verhältnis, auf Seiten der Parteiführer ein prononciert autoritärer Führungsstil zu beobachten“ (Mintzel 1975: 508).
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Die CSU nach der Bundestagswahl 2009 – eine „normale“ Partei?
Die in den vergangenen zwei Jahren eingeleiteten Initiativen dienen dem Facelifting der CSU. „Aufbruch Bayern“ und „Bayern gemeinsam bewegen“ werden dazu beitragen, die neuen programmatischen Akzente, welche der Generationenwechsel an der Parteispitze mit sich brachte, zu verstetigen. Die Parteistrukturreform „Leitbild 2010plus“ setzt die Verjüngungskur der Partei in ein modernisiertes Erscheinungsbild der CSU um. Die zentralen Grundfragen aber wurden durch keine dieser Initiativen gelöst. Weder sind die partiellen Neuerungen in der Organisationsstruktur geeignet, die Partei dauerhaft als Volkspartei zu erhalten (Wiesendahl 2006: 150-171). Noch hat die CSU eine griffige Antwort auf die Frage gegeben, wo sie ihren programmatischen Standpunkt als christlichkonservative Kraft sieht. Das Dilemma, in dem sich die Partei befindet, ist offensichtlich: Einerseits vollzieht sie nun Reformen, die einer nachholenden Modernisierung gleichkommen. Sie bedient damit Erwartungshaltungen an eine zeitgemäße Partei, die sich den Partizipationswünschen ihrer Mitglieder wie der Bevölkerung öffnet. Gleichzeitig aber verliert sie damit auch an Einzigartigkeit. Nicht zuletzt schöpfte der Mythos CSU aus der Wahrnehmung der Partei als monolithischer Block inmitten einer sich stetig wandelnden politischen Landschaft. Als Verfechterin einer Modernität, die ihre Kraft aus der Verwurzelung in der Tradition schöpft. Als Partei, die Anpassungsleistungen an einen vermeintlichen Zeitgeist wie Mitgliederentscheide oder eine Frauenquote nicht nötig hatte. Diese Zeiten sind nun vorbei. Der Mythos CSU muss sich neu erfinden, ohne dass klar wäre, woher die neue Kraft rühren könnte. Die Marke CSU jedenfalls, die im Bundestagswahlkampf 2009 zum Erfolg führen sollte, trägt heute allein nicht mehr.
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Anders als früher ist ein dominantes Machtzentrum, das der Partei strukturell wie programmatisch die Richtung weisen könnte, aktuell nicht zu erkennen. Seehofer ist, trotz seiner Versuche, der bayerischen Regierungspolitik mit dem Programm „Aufbruch Bayern“ eine Vision geben zu wollen, und trotz seiner Ankündigung, auch nach 2013 Ministerpräsident bleiben zu wollen, weiterhin ein Parteichef mangels Alternative. Der Rücktritt zu Guttenbergs hat ihn gestärkt. Konkurrenten, die ihm kurzfristig gefährlich werden könnten, sind nicht in Sicht. Von der Partei geliebt aber wird Seehofer deswegen noch lange nicht. Auf dem Parteitag Ende Oktober 2010 in München wurde der Parteivorsitzende, selbst nicht zur Wahl stehend, mit lediglich freundlichem Beifall für seine Rede bedacht (Haimerl 2010). Der politische Aschermittwoch 2011 wurde zum Triumph für den zurückgetretenen Verteidigungsminister – trotz dessen Abwesenheit. Für die „alte“ CSU galt, dass sie immer dann Gefahr lief, an landespolitischer Macht einzubüßen, „wenn sie nicht rechtzeitig und entschlossen genug Fehlentscheidungen im Politikmanagement korrigierte und Führungsfragen löste“ (Mintzel 2003: 123). Gerade dies, die rechtzeitige Ersetzung des Führungspersonals, wurde zu einem der zentralen Erfolgsfaktoren der Partei. Andreas Kießling bescheinigte der CSU eine ausgeprägte Selbstregenerationsfähigkeit, die sich aus einer „komplexen, mehrdimensionalen Interaktion der innerparteilichen Machtzentren, die sich als kooperativer Wettbewerb in den formalen und informalen Koordinierungs- und Entscheidungsgremien beschreiben lässt“ (Kießling 2004: 344), ergebe. Gerade diese Selbstregenerationsfähigkeit in Interaktion der Machtzentren aber ist aktuell in Gefahr. Die derzeit zu beobachtende Konkurrenz zwischen den Machtzentren Parteileitung/Staatskanzlei, Landtagsfraktion und Landesgruppe entspricht nicht mehr dem Austarieren der Machtbalance, wie sie in jeder Umbruchphase der Partei zu beobachten war. Auch ist sie mehr als die der CSU traditionell zugeschriebenen „Irrationalitäten, Machtkämpfe und Klüngeleien“ (Müller 2004: 227) an der Parteispitze. Die aktuellen Entwicklungen laufen erstens darauf hinaus, die früher meist informell ausgetragenen Machtkämpfe zu formalisieren, indem jedes der Machtzentren selbstbewusster und öffentlicher als früher Stärke und eine gewisse Eigenständigkeit für sich reklamiert. Die Interaktion und Konsensfindung zwischen den Akteuren wird dadurch deutlich erschwert. Zweitens wird derzeit offenbar, dass alte Mechanismen der Führung und Unterordnung nicht mehr greifen. Von nach Außen getragener Geschlossenheit früherer Jahre ist die CSU aktuell weit entfernt. Sollte sich dieser Prozess fortsetzen, würde die Organisation parteiinterner Willensbildungsprozesse und Mehrheiten deutlich schwieriger als in früheren Jahren werden – und deutlich ähnlicher den Strukturen anderer Parteien. Dann würde auch in der CSU mehr als bislang nicht so sehr die hierarchische
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Führung, sondern die Moderation die Führungsqualität der Parteieliten definieren (Walter 2009: 100). Für den Moment bleibt zu bilanzieren, dass die CSU seit der Landtagswahl 2008 und verstärkt seit der Bundestagswahl 2009 nicht mehr Tritt gefasst hat. Alte Selbstverständlichkeiten der Partei sind ins Wanken geraten. Die Intensität und Reichweite dieser Erosionsprozesse deutet darauf hin, dass sich die CSU bereits mitten in genau diesem fundamentalen Wandlungsprozess befindet, den sie offiziell noch abwenden will. Sie verweisen darauf, dass die Partei beginnt, sich selbst als „normale Partei“ zu strukturieren, noch bevor sie sich dies in der eigenen Wahrnehmung offen eingestehen will. In ihrer Entscheidungspolitik ist die CSU seit 2008 durch den Koalitionspartner FDP zwangsläufig eingeschränkt. Auch die Machtbalance der Partei ist aus dem Gleichgewicht geraten. Allein in der Darstellungspolitik versucht vor allem der Parteivorsitzende Seehofer noch der Logik aus Zeiten der Alleinregierung zu folgen. Wohin der Weg der CSU als nicht mehr exzeptionelle politische Kraft führen wird, ist derzeit noch offen. Zwar wird die Partei wohl auch künftig die dominierende politische Kraft im Freistaat bleiben. Der Machtverlust in Bayern aber ist mittelfristig denkbar, so dass sich die CSU erstmals seit 1957 wieder auf der Oppositionsbank im Bayerischen Landtag einrichten müsste. Schon 2008 wäre ein Regierungswechsel theoretisch möglich gewesen, hätten sich alle anderen im Landtag vertretenen Parteien zu einer Koalition zusammengeschlossen. Was der damalige Spitzenkandidat der BayernSPD, Franz Maget, erträumte, scheiterte aber noch an unüberbrückbaren politischen Gegensätzen. Künftig könnte sich dies ändern. Und selbst das Aufgehen der CSU in der CDU erscheint in einer langfristigen Perspektive als nicht abwegiges Gedankenexperiment, sollte die CSU auch weiterhin an Wählerzuspruch verlieren. Das Zittern der Partei um den Sprung über die bundesweite Fünf Prozent-Hürde bei der Europawahl 2009 war noch mehr Mobilisierungsstrategie denn reale Gefahr. Nicht einmal 34 Prozent der bayerischen Wählerstimmen wären letztlich nötig gewesen, um abermals ins Europäische Parlament einzuziehen. Ähnlich hoch wäre der notwendige Stimmenanteil bei der Bundestagswahl 2009 gewesen (32,3 Prozent). Meldungen wie die von Anfang September 2010, wonach die CSU einer Forsa-Umfrage zufolge bei nur noch 38 Prozent der bayerischen Wählerstimmen lag (forsa 2010), lassen aber doch die Brisanz möglicher Zukunftsszenarien einer weiter erodierenden CSU erkennen. Zwar wäre die CSU aufgrund ihrer Direktmandate immer im Bundestag vertreten. Das politische Erdbeben, das ein bundesweites Ergebnis unter fünf Prozent auslösen würde, aber wäre fundamental. So steht die CSU aktuell am Scheideweg. Die Zeiten „50+X“ scheinen endgültig vorbei. Jedoch lässt die stabile Lagerverteilung im Freistaat erkennen, dass
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Auf dem Weg zu einer normalen Partei? Die CSU nach der Bundestagswahl 2009
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Als Phönix zurück in die Asche? Die FDP nach der Bundestagswahl 2009
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Als Phönix zurück in die Asche? Die FDP nach der Bundestagswahl 2009 Hans Vorländer
Zu Recht ist von der Bundestagswahl 2009 als einer Wahl der Superlative gesprochen worden.1 Nie hatte eine Partei bei einer Bundestagswahl zweistellige Verluste aufzuweisen, in 2009 aber die SPD. Die Union verzeichnete ihr zweitschlechtestes Ergebnis bei Bundestagswahlen überhaupt. Nie war der Anteil der Volksparteien am Stimmenergebnis geringer. Umgekehrt konnten die so genannten kleinen Parteien mit zweistelligen Resultaten ihre jeweils größten Erfolge bei einer Bundestagswahl verbuchen. Seit 1957 hat es nicht größere Veränderungen bei den Stimmanteilen gegeben. Und last but not least haben sich niemals zuvor weniger Bürger an den Bundestagswahlen beteiligt als 2009. Damit aber noch nicht genug. Auch die FDP konnte mit Superlativen aufwarten. Sie kamen allerdings nicht durchweg als Überraschungen daher. Die FDP erlangte mit 14,6 Prozent den höchsten Stimmenanteil ihrer Geschichte bei Bundestagswahlen. Sie verzeichnete auch den größten Zugewinn. Der Trend hatte ein solch überragendes Ergebnis fast schon erwarten lassen, denn seit 2005 befand sich die Partei in einem kontinuierlichen Aufschwung, der sich bei Wahlen in den Bundesländern materialisiert und in der Demoskopie abgezeichnet hatte. Die FDP vermag gut ein Jahr nach Bundestagswahl und Bildung der liberal-konservativen Regierungskoalition im Bund auch noch mit einem weiteren Superlativ aufzuwarten, der nun wirklich überrascht: Nie sah sich eine Partei mit einem schnelleren und heftigeren Abstieg in der Gunst des Publikums konfrontiert. Bei der Wahl 2009 mit 14,6 Prozent reüssierend, in ihrem Stammland BadenWürttemberg mit 18,8 Prozent das bis dahin beste Ergebnis erreichend, ist die FDP zum Jahreswechsel 2010/2011 in den Umfragen bis auf 5 Prozent, zum Teil auch darunter, abgestürzt. Das ist einzigartig und erklärungsbedürftig.
1
Jung/Schroth/Wolf (2009: 12); ähnlich Hilmer (2010); Jesse (2009); Korte (2010). Für redaktionelle Hilfe, insbesondere bei Zusammenstellung und Aufbereiten der Daten, danke ich Steven Schäller, M.A.
O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Hans Vorländer
Die Ausgangslage
Seit der Bundestagswahl 2002 hatte sich die FDP in einem Konsolidierungsprozess befunden. Der Erfolg 2002 war noch bescheiden, doch 2005 konnte mit 9,8 Prozent der Wählerstimmen ein bemerkenswertes Resultat erzielt werden. Ihr Ziel, nach der Erholung der vorhergehenden Jahre nun auch im Bund Regierungsverantwortung zu übernehmen, konnte indes nicht realisiert werden. Aber immerhin hatte die FDP bei der Bundestagswahl 2005 ihr bestes Zweitstimmenergebnis seit der Wiedervereinigung erzielt. Sie war im Bundestag zur stärksten Fraktion unter den kleinen Parteien geworden. Ihr gutes Ergebnis war vor allem auf die flächendeckende Präsenz und die Stimmengewinne in allen Bundesländern zurückzuführen gewesen (vgl. Tab. 1 & Abb. 1). Dabei hatte die FDP auch von der Schwäche der CSU und der süddeutschen CDU profitiert. Ihr Zuwachs fiel besonders überdurchschnittlich in Bayern, Baden-Württemberg, in Hessen und Sachsen aus. Die FDP hatte sich in der Folge schnell in der Oppositionsrolle eingerichtet und ihre Fraktionsführung im Bundestag erneuert. An die Stelle des Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Gerhardt war nun auch der Parteivorsitzende Guido Westerwelle getreten. Mit Westerwelle an der Spitze von Partei und Fraktion personifizierte die FDP ihren Anspruch, als größte Oppositionspartei zugleich eine bürgerlich-politische Alternative zur Großen Koalition und zum Kurs der Union darzustellen. Damit war eine Strategie der Eigenständigkeit vorgezeichnet, die in der Folge nicht ohne Erfolg blieb (Vorländer 2003; 2008). In den auf die Bundestagswahl von 2005 folgenden Landtagswahlen konnte die FDP mit drei Ausnahmen überall deutliche Gewinne verbuchen. Sie war zum Zeitpunkt der Bundestagswahl vom September 2009 wieder in fünfzehn Landtagen repräsentiert – angesichts der großen, existenziellen Krisen der Vergangenheit ein deutlicher Beweis ihrer wiedergewonnenen Stärke. Bedeutender war noch, dass die FDP an acht Landesregierungen beteiligt war, wobei vor allem die Beteiligung in Regierungen der großen Flächenländer Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen als eindrucksvoller Erfolg gewertet werden konnte. Überraschend waren vor allem das Wahlergebnis und die Regierungsbeteiligung in Bayern, wo es der FDP gelang, die jahrzehntelange Alleinherrschaft der CSU zu brechen. Auch der starke Zuwachs in Sachsen, der ebenfalls zur erstmaligen Regierungsbeteiligung führte, kam überraschend. Mit Ausnahme des Saarlandes, wo die FDP eine so genannte „Jamaika-Koalition“ mit CDU und Bündnis ‘90/Die Grünen bildete, waren alle Koalitionen mit CDU bzw. in Bayern mit der CSU zustande gekommen.
Als Phönix zurück in die Asche? Die FDP nach der Bundestagswahl 2009
Tabelle 1: Wahlergebnisse der FDP seit BTW 2002 (in Prozent) Wahl Datum Ergebnis Vorwahlergebnis BTW 22.09.02 7,4 6,2 MVP 22.09.02 4,7 1,6 Hessen 02.02.03 7,9 5,1 Niedersachsen 02.03.03 8,1 4,9 Bremen 25.05.03 4,2 2,5 Bayern 21.09.03 2,6 1,7 Hamburg 29.02.04 2,8 5,1 Thüringen 13.06.04 3,6 1,1 Saarland 05.09.04 5,2 2,6 Brandenburg 19.09.04 3,3 1,9 Sachsen 19.09.04 5,9 1,1 Schleswig-Holstein 20.02.05 6,6 7,6 NRW 22.05.05 6,2 9,9 BTW 18.09.05 9,8 7,4 Baden-Württemberg 26.03.06 10,7 8,1 Sachsen-Anhalt 26.03.06 6,7 13,3 Rheinland-Pfalz 26.03.06 7,8 8 Berlin 17.09.06 7,1 8,9 MVP 17.09.06 8,6 5,4 Bremen 13.05.07 5,4 3,9 Niedersachsen 27.01.08 8,2 8,1 Hamburg 24.02.08 4,8 2,8 Bayern 28.09.08 8 2,6 Hessen 18.01.09 16,2 7,9 Europawahl 07.06.09 11 6,1 Sachsen 30.08.09 10 5,9 Thüringen 30.08.09 7,6 3,6 Saarland 30.08.09 9,2 5,2 Schleswig-Holstein 27.09.09 14,9 6,6 Brandenburg 27.09.09 7,2 3,3 BTW 27.09.09 14,6 9,8 Nordrhein-Westfalen 09.05.10 6,7 6,2 Quelle: Statistische Landesämter, Statistisches Bundesamt, eigene Zusammenstellung
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Abbildung 1:
Hans Vorländer
Wahlergebnisse der FDP seit der BTW 2005 (in Prozent)
Quelle: Statistische Landesämter, Statistisches Bundesamt, eigene Zusammenstellung
Der Erfolg der FDP als Wählerpartei erstreckte sich auch auf die kommunale Ebene (vgl. Tab. 2). Mit Ausnahme von Bayern erreichte die FDP bei allen Kommunalwahlen ab 2006 im Landesdurchschnitt jeweils mehr als fünf Prozent. Damit war die Partei auch keine „Dame ohne Unterleib“ mehr, wie sie über viele Jahre mit Blick auf ihre äußerst magere Verankerung in Kommunen und Ländern bezeichnet worden war. Damit schienen jene die Existenz der Partei bedrohenden Schwächephasen der 1970er, 1980er und 1990er Jahre endgültig überwunden zu sein. Als Oppositionspartei im Bund konnte sie nun auf kommunaler und Landesebene reüssieren, die FDP erschien 2009 konsolidiert, eigenständig und profiliert.
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Tabelle 2: Kommunalwahlergebnisse der FDP 2006-2009 (in Prozent) Kommunalwahl Hessen März 2006 Niedersachsen September 2006 Berlin September 2006 Bremerhaven Mai 2007 Sachsen-Anhalt April 2007 Hamburg Februar 2008 Bayern März 2008 Schleswig-Holstein Mai 2008 Brandenburg September 2008 Mecklenburg-Vorpommern Juni 2009 Rheinland-Pfalz Juni 2009 Sachsen Juni 2009 Thüringen Juni 2009 Saarland Juni 2009 Baden-Württemberg Juni 2009 Nordrhein-Westfalen August 2009 Quelle: Statistische Landesämter, eigene Zusammenstellung
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Ergebnis der FDP 5,8 6,7 6,5 9,6 8,3 5,6 3,8 9 7,3 8,7 9 8,3 4,7 7,2 7,5 9,2
Image und Programm
Seit der Bundestagswahl 2002 hatte sich die FDP in einer zunächst ungeliebten Oppositionsrolle befunden, aus der heraus sie begann, eine Strategie der Konsolidierung und Eigenständigkeit zu entwickeln. Mit dem Scheitern der ursprünglich von Jürgen W. Möllemann entworfenen und von Guido Westerwelle nolens volens übernommenen „Strategie 18“ bei der Bundestagswahl 2002 hatte sich die FDP in bewusster Antithese zur Inszenierungsvergangenheit als Spaßpartei mit Seriosität und Solidität neu zu positionieren versucht. Dabei wollte die Partei im Wahlkampf 2005 und danach keinen Zweifel lassen, dass sie sich zum bürgerlichen Lager zählte und für die Wiedergewinnung der Regierungsmacht auf eine schwarz-gelbe Koalition setzte. Was als Alleinstellungsmerkmal der FDP in der Kampagne von 2005 erfolgreich herausgestrichen wurde, bestimmte auch in der Zeit danach Kurs, Programm und Image. Sie profilierte sich als eindeutig wirtschaftsliberale Partei innerhalb des bürgerlichen Lagers, forderte wieder und wieder Steuersenkung und Steuervereinfachung und zeigte hier und da auch, dass sie gewillt war, bei den Themen von Bürgerrechten und Rechtsstaat einerseits und Bildungspolitik andererseits Flagge zu zeigen. Der Kern aber war die „klare Kante“ in der Wirtschafts- und der Arbeitsmarktpolitik. Dieses Image vermochte
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schon in der Wahl von 2005 zu überzeugen, als Oppositionspartei war es der FDP in der Folge dann darum zu tun, dieses Erscheinungsbild zu verfestigen. Zu einem neuen Grundsatzprogramm fand die FDP indes nicht. So galten die „Wiesbadener Grundsätze“ von 1997 fort. Die Steuerpolitik blieb das beherrschende Thema, so auch auf dem Ordentlichen Bundesparteitag 2008 in München. Aber der Vorwurf, dass die FDP ihre Forderung nach Steuersenkungen wie ein Mantra beständig wiederhole, und der Eindruck, dass die FDP mit ihrer monothematischen Fokussierung eine „Partei der sozialen Kälte“ sei, ließ die FDP auch andere Akzente setzen. Sie entdeckte, für die Öffentlichkeit stärker als zuvor, das Thema der Bürgerrechte neu. Westerwelle geißelte die Gefährdung von Freiheit und Privatheit durch moderne, den Einzelnen zum „gläsernen“ Beobachtungsobjekt machende Technologien und die Verschärfungen von staatlichen Überwachungsmaßnahmen (Nentwig/Werwath 2009: 99f.). Auch hatten ehemalige Innenminister- und Justizminister der FDP wie Burkhard Hirsch, Gerhart Baum und – in zwei Fällen auch – Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Symbolfiguren liberaler Innen- und Rechtstaatspolitik, vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Verfassungsbeschwerden eingereicht, die den so genannten Lauschangriff, das Luftsicherheitsgesetz und die Computer-Onlinedurchsuchung – in Teilen – zu Fall brachten. Auch stimmte die FDP-Bundestagsfraktion gegen das „Terrorismusbekämpfungsgesetz“ und die „Anti-TerrorDatei“. Um sich auch programmatisch breiter zu präsentieren, legten Gremien der FDP Positionspapiere zu Umweltpolitik und Klimaschutz vor, beschloss der Bundesparteitag 2008 ein Konzept, das Steuersystem und Sozialleistungen aufeinander abstimmte, und forderte die FDP die Einführung eines Bürgergeldes. Die Erweiterung des Programmangebotes war auch ein Reflex auf die innerparteiliche Wahrnehmung kommunikativer Verengung nach außen. Das betraf zum einen das öffentliche Erscheinungsbild als „Steuersenkungspartei“, es reflektierte zum anderen aber auch das innerparteilich wie öffentlich kritisch wahrgenommene Defizit, eine „Partei ohne Herz“ zu sein. Nicht zuletzt die schneidend, aggressiv und provokativ wirkende Rhetorik des Parteivorsitzenden evozierte das Image einer ‚kalten‘ Partei. Deshalb wurde auch innerparteilich die Eigendarstellung der FDP kritisiert. Im Frühjahr 2009 nahm einer der jungen Shootingstars der Nach-Westerwelle-Generation, der niedersächsische Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident Philipp Rösler, in einem Positionspapier unter dem Titel „Was uns fehlt“ die artikulierten Monita auf, ohne sie gänzlich zu dementieren. Zuvor, im Januar 2008, hatte auch der vorherige Partei- und Fraktionsvorsitzende, nunmehr die Friedrich-Naumann-Stiftung leitende Wolfgang Gerhardt eine Denkschrift an die Öffentlichkeit gegeben, die den Titel „Für mehr Freiheit und Fairness“ trug, damit aber auch die eigene Partei meinte, wenn er einen neuen Politikstil der FDP-Spitze anmahnte. Auch die
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Jugendorganisation der FDP, die Jungen Liberalen und ihr Vorsitzender Johannes Vogel, kritisierten Führungsstil und Image der Partei und begaben sich auf die „Suche nach dem sozialen Herzblut“, wie ein journalistischer Beobachter formulierte (zit. n. Nentwick/Werwath 2009: 121). Bis zum Frühsommer 2008 hielt die Kritik an Westerwelles Führungsstil und seinem politischen Kurs, aber auch an seinem Umgang mit der Partei, an. Der Parteivorsitzende selbst zeigte sich wenig beeindruckt. So zieht sich in seiner Rhetorik von 2002 bis 2009 eine kontinuierliche Linie, die unter dem Slogan „Mehr Netto vom Brutto“ auf eine deutliche Entlastung des Steuerbürgers abzielte. Und mit Blick auf die Wahlerfolge in diesem Zeitraum erklärte Westerwelle selbstbewusst: „Die Arbeit der FDP kann so schlecht nicht sein, wenn wir bei den Wahlen regelmäßig hinzugewinnen. Ich gehe meinen Weg unbeirrt weiter“. Gleichzeitig versuchte Westerwelle dem Eindruck entgegenzutreten, dass seine Partei allein Klientelpolitik für Besserverdienende und Selbständige betreibe. Auf dem 59. Ordentlichen Bundesparteitag der FDP im Oktober 2008 nahm er deshalb einen Gedanken wieder auf, den er bereits früher einmal eingeführt hatte, nämlich die FDP als eine „Partei für das ganze Volk“ zu etikettieren: „Wir Liberale sind eine Partei, die sich nicht an einige Wenige wendet, sondern wir sind eine Partei, die wendet sich an das ganze Volk“ (zit. n. Nentwig/Werwath 2009: 125). So wenig plausibel eine solche Ansage für professionelle Beobachter der Partei auch sein mochte, das Ergebnis der Bundestagswahl von 2009 zeigte gleichwohl, dass die FDP auch in solchen Schichten hinzugewinnen konnte, die traditionell nicht zu ihrer Wählerschaft zu rechnen waren.
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Der Wahlkampf 2009
Der Wahlkampf der FDP bot keine Überraschungen. Bereits früh, nämlich auf dem 60. Ordentlichen Bundesparteitag der FDP in Hannover vom 15. – 17. Mai 2009, wurde das Wahlprogramm beschlossen: „Die Mitte stärken. DeutschlandProgramm der Freien Demokratischen Partei (FDP)“. Der Schwerpunkt lag auf der Wirtschafts-, Steuer-, sowie der Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Sozialpolitik. Die FDP erwies sich hier als marktliberale Partei, war zugleich aber bemüht, ihre Position auch als sozial und gerecht erscheinen zu lassen. So wollte sich die FDP für die Erhöhung des so genannten Schonvermögens bei Hartz IV-Empfängern einsetzen. In der Arbeitsmarktpolitik forderte die FDP eine Reform der Arbeitsagenturen, in der Gesundheitspolitik suchte sie den Einstieg in eine grundlegende Veränderung der Finanzierung zu begründen. In der Steuerpolitik verfolgte die FDP den bekannten Kurs von Steuersenkung und Steuervereinfachung und schlug nach langer parteiinterner Diskussion ein so genanntes Drei-
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Stufen-Modell vor. Das Programm enthielt auch Ausführungen zur Bürgerrechtsund Bildungspolitik, die in der Tradition einer liberalen Partei eine gewichtige Rolle zu spielen pflegen, doch blieben diese Parteipositionen in der öffentlichen Wahrnehmung eher unterbelichtet. Die FDP ließ nie einen grundsätzlichen Zweifel zu, dass sie mit CDU und CSU eine gemeinsame Koalition einzugehen beabsichtigte. So legten sich die Liberalen am 20. September 2009 auf ihrem Sonderparteitag in Potsdam auch formal auf ein Regierungsbündnis mit der Union fest. Dass dieses förmliche Bekenntnis nicht früher getroffen worden war, lag zum einen daran, dass die FDP weiterhin einen Kurs der Eigenständigkeit zu vermitteln suchte. Zum anderen legte das Wahlergebnis von 2005 Zweifel nahe, ob eine Zweierkoalition aus Union und FDP überhaupt eine Mehrheit erreichen könnte. Aus beiden Gründen hatte die FDP lange Zeit auch eine mögliche „Ampelkoalition“ mit SPD und Grünen nicht formal ausgeschlossen, wenngleich es sich nur um eine theoretische Option gehandelt hatte. Eher hätte die FDP auf Bundesebene für den Fall, dass es zu einer Zweierkoalition nicht gereicht hätte, wohl einer so genannten „Jamaika-Koalition“, einer Koalition von Union, FDP und Grünen, zugestimmt. Doch das blieb müßige Spekulation, denn Bündnis‘90/Die Grünen hatte ein solches Modell von vornherein ausgeschlossen. So stark der öffentlich sichtbare Wahlkampf auf Guido Westerwelle zugeschnitten und so monothematisch die programmatische Fokussierung auf die Wirtschafts- und Steuerpolitik angelegt war, die Wahlkampagne der FDP zeigte neue, auf breite Partizipation ausgerichtete Organisationsformen. Die FDP legte ihre Kampagne als Internet-Partei an (Kamps 2010: 211). Damit etablierte die Partei eine Kommunikationsstruktur, die sowohl ihre eigenen Mitglieder wie auch ihre potentiellen Wähler umfassen sollte. Seit der zweiten Jahreshälfte 2005 existierte bereits eine Kommunikationsplattform my.fdp, die nach eigenen Angaben „Deutschlands erfolgreichste politische Online-Community“ darstellte. Über das Internet wurden weitere Plattformen eingerichtet, um mit Bürgern in einen Dialog einzutreten. Auf der zwischen März und Oktober 2008 eingerichteten Webseite deutschlandprogramm.de fand eine Internet-Debatte über das Programm der FDP zur Bundestagswahl im September 2009 statt. Hinter dieser Ausrichtung der FDP als Internet-Partei steckte zum einen die Strategie, jüngere Wähler, die ein volatives, nicht unbedingt auf feste Organisationszugehörigkeit zielendes Partizipationsverhalten besitzen, für den Diskurs mit der FDP zu gewinnen. Zugleich glaubte die Bundesgeschäftsführung, dass sich mit dem geänderten Kommunikationsverhalten von Bürgern ein besonderer Profilierungs- und Wettbewerbsvorteil der FDP verbinden ließe. Schon 2008 hatte der seinerzeit amtierende Bundesgeschäftsführer der FDP, Hans-Jürgen Beerfeltz, die FDP als eine „Partei für den Einzelnen“ charakteri-
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siert und daraus für den Wahlkampf operative Folgerungen zu ziehen versucht (Nentwig/Werwath 2009: 115). Die FDP-Kampagne sollte als Beteiligungskampagne geführt werden und damit im Zeichen eines „consumer generated campaigning“ stehen: „In einer Zeit, in der massenmedialer Politikvermittlung sowieso immer weniger vertraut wird, und für eine Partei, die sich teure Wahlschlachten z. B. mit Zeitungsanzeigen sowieso nicht leisten kann, setzt die Kampagne ’09 der FDP auf direkten Dialog“ (zit. n. Kamps 2010: 211). In der Verknüpfung mehrerer „Mitmach-Arenen“, so genannten „Kommunikationssphären“, wurden im Internet beispielsweise Strategien, Themen, Plakatmotive, Fotos zur Diskussion und zur Abstimmung gestellt. So war es auch der „Wisdom of the Crowds“ überantwortet, einen zentralen FDP-Slogan für den Wahlkampf zu generieren (Kamps 2010: 212). Zu dem Internet-Dialog trat die professionelle Arbeit von Agenturen hinzu, die Strategien und Zielgruppenansprache, ebenso die Mitgliederführung und die Mitgliederinformation in Zusammenarbeit mit den Abteilungsleitern der Bundesgeschäftsstelle der FDP koordinierte. Der Agenturverbund wurde „IdeenReich“ genannt und sollte als ein „in hohem Maße differenziertes, durchaus FDP-affines Akteursgefüge“ verstanden werden (Kamps 2010: 212). Die FDP organisierte ihre Kampagne somit konsequent im Sinne veränderter, internetfokussierter Kommunikationsformen, zugleich war die FDP aber aufgrund ihrer Wählerzusammensetzung auch noch gezwungen, klassische Wahlkampfmittel wie Plakate, Zeitungsanzeigen, face to face-Ansprachen, etc. einzusetzen. Insofern führte sie einen „Opa-und-Enkel-Wahlkampf“ (Kamps 2010: 213). Nach eigenen Angaben setzte die FDP für ihre elektronische Kampagne mehr Mittel als für den an traditionellen Formen orientierten Wahlkampf ein. Für die FDP machte sich offensichtlich die Einstellung der Kampagnenführung auf das Web 2.0 bezahlt, wenngleich vermutet werden darf, dass das gleichermaßen plötzliche wie überraschende Erstarken der Piratenpartei ab Juli 2009 der FDP (wie auch Bündnis 90/Die Grünen) einen noch größeren Zuwachs unter den jungen, internetaffinen Wählergruppen gekostet hat.
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Die Bundestagswahl 2009
Der FDP gelang mit einem Wählerstimmenanteil von 14,6 Prozent das mit Abstand beste Ergebnis ihrer Geschichte bei einer Bundestagswahl. Die FDP verzeichnete nicht nur den prozentual größten Zugewinn, sie konnte auch in allen Ländern ihren Anteil an Stimmen erheblich ausbauen, vor allem in solchen großen Flächenstaaten, in denen sie an der Regierung beteiligt war. In Westdeutschland erreichte sie 15,5 Prozent, im Osten 10,6 Prozent. Im Westen legte sie um 5,3 Prozentpunkte, im Osten um 2,6 Prozentpunkte zu. Die stärksten Zugewinne
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verbuchte die FDP in Baden-Württemberg (plus 6,9) – erreicht dort mit 18,8 Prozent ihr bestes Ergebnis und ist vor der SPD zweitstärkste Partei –, in Schleswig-Holstein (plus 6,2), in Bayern (plus 5,2), in Hessen und RheinlandPfalz (jeweils plus 4,9) und in Nordrhein-Westfalen (plus 4,8). Aber auch in den östlichen Bundesländern kam die FDP jeweils über 9 Prozent der Stimmen und erreichte in Sachsen mit 13,3 Prozent ihr bestes Ergebnis im Osten. Sieht man einmal von Schleswig-Holstein (16,3 Prozent) ab, so lässt sich ein Nord-SüdGefälle ausmachen. In Baden-Württemberg, in Bayern, in Hessen und Rheinland-Pfalz lag die FDP zum Teil deutlich über ihrem Ergebnis auf Bundesebene (vgl. Tab. 3). Tabelle 3: Wahlergebnisse der FDP zur BTW 2009 in den Bundesländern (in Prozent) Ergebnis Differenz zu 2005 Baden-Württemberg 18,8 6,9 Bayern 14,7 5,2 Berlin 11,5 3,3 Brandenburg 9,3 2,5 Bremen 10,6 2,5 Hamburg 13,2 4,2 Hessen 16,6 4,9 Mecklenburg-Vorpommern 9,8 3,6 Niedersachsen 13,3 4,3 Nordrhein-Westfalen 14,9 4,8 Rheinland-Pfalz 16,6 4,9 Saarland 11,9 4,4 Sachsen 13,3 3,1 Sachsen-Anhalt 10,3 2,3 Schleswig-Holstein 16,3 6,2 Thüringen 9,8 1,9 Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Zusammenstellung
Abweichung vom Bundesdurchschnitt 4,2 0,1 -3,1 -5,3 -4 -1,4 2 -4,8 -1,3 0,3 2 -2,7 -1,3 -4,3 1,7 -4,8
Im Gegenzug hat die Union hier, vor allem in Bayern und Baden-Württemberg, ihre größten Verluste erlitten, wenngleich sie im Ländervergleich dort immer noch ihre besten Ergebnisse erzielte. So ging der Gewinn der FDP in den südlichen Bundesländern mit dem Verlust der Union einher. Hier wird deutlich, dass es zu Austauschbewegungen zwischen CDU und CSU auf der einen Seite und der FDP auf der anderen gekommen ist. Dass zwischen den Wählern von Union und FDP eine besondere Nähe besteht, mithin von schwarz-gelben Koalitionswählern gesprochen werden kann, verdeutlicht auch das Stimmensplittingverhal-
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ten von FDP-Zweitstimmenwählern. Die Differenz zwischen Erst- und Zweitstimme bei der FDP beträgt 5,2 Prozent und liegt damit so hoch wie nie zuvor in der Geschichte von Bundestagswahlen. Von den Wählern, die die FDP mit ihrer Zweitstimme gewählt haben, haben 39,3 Prozent mit ihrer Erststimme einen Kandidaten von CDU oder CSU gewählt (vgl. Tab. 4 & 5). Die Nähe zwischen Wählern von Union und der FDP zeigt sich auch in der Wählerwanderung. Die bei weitem größte Wählerbewegung, neben der von der SPD zur Linken, verlief von den Unionsparteien in Richtung FDP (Hilmer 2010: 161). Tabelle 4: Stimmensplitting für die FDP zur Bundestagswahl 2009 (in Prozent) Jahr
Erststimme
1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009 Quelle: Forschungsgruppe Wahlen
10,8 7,5 12,1 7,9 4,8 4,8 6,4 7,2 2,8 4,7 7,8 3,3 3,9 5,8 4,7 9,4
Zweitstimme
Differenz
9,5 7,7 12,8 9,5 5,8 8,4 7,9 10,6 7,0 9,1 11,0 6,9 6,2 7,4 9,8 14,6
1,3 -0,2 -0,7 -1,6 -1,0 -3,6 -1,5 -3,4 -4,2 -4,4 -3,2 -3,6 -2,3 -1,6 -5,1 -5,2
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Tabelle 5: Stimmensplitting von FDP-Zweitstimmen 1957-2009 Erststimme
FDP
1957 85 1961 86,5 1965 70,3 1969 62 1972 38,2 1976 60,7 1980 48,5 1983 29,1 1987 38,7 1990 50,6 1994 31,9 1998 26 2002 47,7 2005 29 2009 44,8 Quelle: Bundesamt für Statistik
CDU/CSU
SPD
7,5 8,1 20,8 10,6 7,9 8 13,3 58,3 43,2 29,4 54,9 61 36,1 60,2 39,3
3,8 3,1 6,7 24,8 52,9 29,9 35,5 10,1 13,1 14 9,9 11 11,9 7,1 4,8
GRÜNE
2 1,7 3,2 3,5 2,3 1 1,9 1,4 2,1
Die Linke
Rest
0,3 0,5 0 1 1,1 1,1
3,7 2,3 2,2 2,6 1 1,4 0,8 0,9 1,8 1,5 0,8 1 1,4 0,9 0,9
Die Wählerschaft der FDP ist in sozialstruktureller Hinsicht sehr viel breiter geworden. Westerwelles Anspruch, die FDP zu einer „Partei für das ganze Volk“ zu machen, ist ansatzweise aufgegangen, wenngleich es auch nach wie vor signifikante Unterschiede gibt. Wie schon 2005 wird die FDP von Männern (17 Prozent) eher gewählt als von Frauen (13 Prozent) (Jung/Schroth/Wolf 2009: 16). Besonders hoch ist der Zuwachs bei den Männern unter 45 Jahren (Hilmer 2010: 167). Bei den Frauen zwischen 25 und 34 Jahren ist der Anteil der FDP-Wählerinnen am höchsten. Insgesamt hat die FDP bei den unter 45-jährigen Wählerinnen und Wählern am stärksten zugelegt und kommt hier, insonderheit bei den unter 35-Jährigen, zu einem Anteil von 18 Prozent. Bildungsunterschiede im Wahlverhalten zu Gunsten der FDP haben sich, so zeigen Wahlanalysen, im Vergleich zu 2005 nivelliert, da die FDP vor allem bei jüngeren Wählerinnen und Wählern mit niedrigeren Bildungsabschlüssen erheblich zulegen konnte. So kommt die FDP nach der Analyse der Forschungsgruppe Wahlen (Jung/Schroth/ Wolf 2009: 17) bei den Wählerinnen und Wählern mit Hauptschulabschluss auf 13 Prozent (plus 5) und bei denjenigen mit Mittlerer Reife auf 15 Prozent (plus 5). Bei unter 35-jährigen Wählern mit mittlerem Bildungsabschluss kommt sie sogar auf 19 Prozent (plus 7). Auch hinsichtlich der Berufsgruppenzugehörigkeit stellt sich das Wahlverhalten zu Gunsten der FDP ausgeglichener dar, wenngleich eindeutig der Anteil der Selbständigen unter der FDP-Wählerschaft mit 27 Prozent (plus 8) herausragt. Aber auch bei Arbeitern (13 Prozent; plus 5) und
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Angestellten (16 Prozent; plus 6) und Rentnern (13 Prozent; plus 5) konnte die FDP zulegen, auch der Anteil der Arbeitslosen (11 Prozent; plus 3) stieg an. Hinsichtlich der These von einer sozialstrukturellen Ähnlichkeit zwischen der Wählerschaft von FDP und Bündnis‘90/Die Grünen lassen sich die Unterschiede wie folgt markieren: Die Wählerschaft der FDP ist männlicher, stärker von Selbständigen geprägt, und sie ist in den Altersgruppen der 25- bis 34-Jährigen und der über 45-Jährigen stärker. Die Wählerschaft der Grünen hingegen ist weiblicher, etwas jünger (bei den 18- bis 24-Jährigen) und weist einen erheblich höheren Anteil an Beamten auf (vgl. Tab. 6). Tabelle 6: Wählerprofile FDP und Grüne zur BTW 2009 im Vergleich in %
FDP Veränderung zu 2005
in %
GRÜNE Veränderung zu 2005
nach Geschlecht männlich weiblich
17,0 13,0
+6 +4
10,0 13,0
+2 +4
nach Alter 18-24 Jahre 25-34 Jahre 35-44 Jahre 45-59 Jahre 60 Jahre und älter
15,0 18,0 16,0 15,0 13,0
+5 +6 +7 +6 +4
16,0 14,0 15,0 12,0 5,0
+5 +4 +4 +4 +1
nach Berufsgruppe Arbeiter 13,0 +5 7,0 Angestellte 16,0 +6 14,0 Beamte 13,0 +4 19,0 Selbständige 27,0 +8 14,0 Rentner 13,0 +5 5,0 Arbeitslose 11,0 +3 10,0 Quelle: Wahltagsbefragung zur Bundestagswahl von infratest dimap/Liberales Institut
+6 +3 0 0 +4 +2
Ein entscheidendes Motiv, die FDP zu wählen, war das klare Profil in der Wirtschafts- und Steuerpolitik (Hilmer 2010: 170). 20 Prozent der Bundesbürger wiesen der FDP in der Steuerpolitik die größte Kompetenz zu, und jeder zweite stimmte der Aussage zu, die FDP setze sich am konsequentesten für Reformen im Steuersystem ein. Interessant und im Ausmaß bemerkenswert ist die Tatsache, dass ein Großteil der von den anderen Parteien zur FDP abgewanderten Wähler in der Wahltagsbefragung für diesen Wechsel wirtschafts- und steuerpolitische Gründe angab. 48 Prozent der SPD-Abwanderer in Richtung FDP begründeten diesen Schritt mit wirtschaftspolitischen Überlegungen. Damit lag die
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FDP wegen ihres wirtschaftspolitischen Profils noch vor der Union (46 Prozent) bei den ehemaligen SPD-Wählern. Zum Zeitpunkt der Wahl 2009 hatte Westerwelle zudem als Parteivorsitzender an Profil gewonnen. Mit seiner Arbeit als Fraktionschef der FDP zeigten sich 47 Prozent zufrieden, bei den eigenen Anhängern erzielte er mit 93 Prozent einen hohen Zustimmungswert, ähnlich dem von Angela Merkel als Kanzlerin bei den Unionsanhängern. Einer Mehrheit der Deutschen galt Westerwelle im Übrigen auch als ernsthafter, verlässlicher und glaubwürdiger Politiker, allein seine Eignung als Außenminister wurde vor der Wahl in Zweifel gezogen. Und schließlich hatten sich 57 Prozent der Bürger für eine Beteiligung der FDP an der Bundesregierung ausgesprochen, wobei bemerkenswert ist, dass dies auch ein Drittel der Anhänger der SPD taten. 87 Prozent der FDP-Wähler hatten eine eindeutige Präferenz für eine schwarz-gelbe Koalition. Damit war der Weg der Koalitionsbildung nach der Wahl vorbestimmt.
5
Regierungsbildung
Die Regierungsbildung vollzog sich schnell – aber nicht reibungslos. Am 26. Oktober 2009 wurde der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP unterzeichnet, zwei Tage später fand die Vereidigung des Kabinetts und der Kanzlerin, Angela Merkel, statt.2 Im Grunde genommen war mit der Bundestagswahl am 27. September die Entscheidung über die Koalition gefallen. An einer Koalition von Union und FDP konnte es am Abend der Wahl keine Zweifel mehr geben, eine Zweierkoalition war – entgegen der Erwartung – wieder möglich geworden. Einen Tag später wurde bei einem Treffen zwischen der CDU-Vorsitzenden Merkel und dem Vorsitzenden der FDP der Zeitplan der Verhandlungen festgelegt. Diese sollten bis zum 9. November abgeschlossen sein. Tatsächlich konnten die Verhandlungen bereits am 24. Oktober beendet werden, nachdem sie formell am 5. Oktober in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalens begonnen hatten. Auf Sonderparteitagen der beteiligten Partner am 25. Oktober wurde dem Vertrag zugestimmt und am darauffolgenden Tag von den Parteivorsitzenden unterzeichnet. Die Schnelligkeit der Koalitionsverhandlungen täuscht aber über die Schwierigkeit derselben hinweg. Die FDP sah sich eindeutig als Siegerin der Bundestagswahl und wollte keinen Abstrich an ihren Forderungen aus dem Wahlkampf machen. Die Union, vor allem Angela Merkel, sah keinen Anlass für eine grundlegende Revision der zurückliegenden Regierungspolitik der Großen Koalition unter ihrer Führung. Die Ausgangspositionen waren also unterschied2
Zum Regierungsbildungsprozess v.a. Saalfeld (2010); Hilmer (2010: 176).
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lich, Angela Merkel war an einer inhaltlichen Kontinuität interessiert, wollte und konnte die Kanzlerschaft der letzten vier Jahre nicht dementieren. Die FDP hatte sich als Oppositionspartei ein klares wirtschaftsliberales Profil gegeben und versuchte dies nun in ein Regierungsprogramm umzusetzen. Zudem hatte sich auch die CDU zur Zeit der Großen Koalition deutlich von ihrem eher modernisierungs- und marktliberalen Kurs des Leipziger Parteitages 2005 abgesetzt, insgesamt wirkte sie, vor allem mit Blick auf die Sozial-, Arbeits- und Wirtschaftspolitik ‚sozialdemokratisierter‘. Diese Differenzen wurden sehr schnell in den Koalitionsverhandlungen deutlich. Dabei gab es die größten Unterschiede in der Steuer- und in der Gesundheitspolitik. In der Steuerpolitik bestand die FDP auf der Umsetzung ihrer Forderung nach Steuersenkung und Steuervereinfachung, in der Gesundheitspolitik, die in der entsprechenden Arbeitsgruppe von Philipp Rösler als Ko-Vorsitzendem (zusammen mit Ursula von der Leyen) vertreten wurde, bestand die FDP auf ihren Reformvorstellungen, nämlich der Einführung einkommensunabhängiger Pauschalen. In beiden Hinsichten wurden Kompromisse gefunden, der von der Großen Koalition beschlossene Gesundheitsfonds sollte zunächst weitergeführt werden, bis eine Regierungskommission Vorschläge zu dessen Umbau erarbeitet habe. Rein quantitativ schien es sich in der Steuerpolitik um einen akzeptablen Kompromiss zu handeln. Die FDP hatte eine Reduktion von insgesamt 35 Milliarden Euro gefordert, die CDU hatte ein Angebot von 15 Milliarden Euro vorgelegt. Das Verhandlungsergebnis sah Steuererleichterungen im Umfang von rund 24 Millionen Euro ab 2011 vor. Damit war zunächst der zentralen Forderung der FDP nach Einführung eines Stufentarifs und des Umbaus des Gesundheitssystems nicht gefolgt worden (Saalfeld 2010: 202). Nur dilatorische Formelkompromisse, die eine weitere Befassung der Konfliktmaterien in noch einzusetzenden Regierungskommissionen, ermöglichten es Guido Westerwelle später, von einer vollständigen Umsetzung des Wahlprogramms sprechen zu können. Entscheidend aber war, dass alle im Koalitionsvertrag in Aussicht gestellten Maßnahmen unter einen „allgemeinen Finanzierungsvorbehalt“ gestellt wurden und damit der Finanzminister, der von der CDU/CSU gestellt wurde, praktisch ein Vetorecht in allen ausgabenrelevanten Feldern der Regierungsarbeit und für die gesamte Dauer der schwarz-gelben Koalition erhielt.
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Der Absturz
Der Koalitionsvertrag enthielt von Anfang an Sollbruchstellen, die nur übertüncht worden waren. Nie zuvor gab es einen Koalitionsvertrag, der, obwohl er
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auffallend lang geraten war,3 so unvollständig blieb, weil er konkrete Regelungen in Politikfeldern, die zwischen den Verhandlungspartnern streitig gestellt waren, vermied.4 Vor allem die Steuer- und die Gesundheitspolitik gehörten dazu, also Themen, die der FDP nicht nur besonders wichtig gewesen waren, sondern die ihr in den Jahren der Opposition das besondere Profil gegeben hatten. Die FDP blieb ihren Wählern damit schon in der Konstituierungsphase der Koalition den Beweis ihrer Durchsetzungskraft schuldig. Das hätte noch als Zeichen pragmatischer Koalitionskompromissfähigkeit dargestellt werden können, doch glaubte der Parteivorsitzende vollmundig von der kompletten Übernahme der FDP-Forderungen in das Regierungsprogramm sprechen zu können,5 was aber angesichts der dilatorischen Formelhaftigkeit des Koalitionsvertrags nur Verwunderung hervorrufen und deshalb unglaubwürdig wirken musste. Zudem hatte sich die regierungserfahrene Kanzlerin als die strategisch bedeutend geschickter agierende Machtpolitikerin erwiesen, indem sie den reformerischen und personellen Ambitionen der FDP von Beginn an einen Riegel vorschob. Zum einen reklamierte sie für die CDU den Posten des Finanzministers, verhinderte damit den finanz- und steuerpolitisch versierten Herrmann Otto Solms von der FDP und installierte mit Wolfgang Schäuble einen harten Verfechter der Haushaltskonsolidierungspolitik, der Steuersenkungen ablehnend gegenüber stand und mit seiner Deutungshoheit über das finanzpolitisch Machbare jederzeit von seinem Vetorecht Gebrauch machen konnte. Zum anderen musste das Angebot von Merkel, der FDP das Gesundheitsministerium zu überlassen, als ein vergiftetes Geschenk angesehen werden. Denn kaum ein anderes Ministerium galt als so schwierig, vor allem dann, wenn erklärtermaßen das gesamte Gesundheitssystem reformiert werden sollte und dabei auch noch der Widerstand des Koalitionspartners CSU und seines Parteivorsitzenden Seehofers zu erwarten war. Da bedeutete die Besetzung des Ministeriums mit dem niedersächsischen stellvertretenden Ministerpräsidenten und Gesundheitspolitiker Philipp Rösler eine doppelte Selbstfesselung der FDP: Der Reformelan wurde gebrochen und 3
Nur die Große Koalition von 2005 hatte einen noch umfangreicheren Vertrag geschlossen. Vgl. Saalfeld (2010: 197). 4 Dafür fanden sich acht Kommissionen und 15 Prüfaufträge im Koalitionsvertrag. Vgl. zur Analyse des Koalitionsvertrags Saalfeld (2010), auch Treibel (2010); Decker (2009). 5 Westerwelle erklärte auf dem Parteitag der FDP, der dem Koalitionsvertrag zustimmte: „Alle zwanzig Kernvorschläge der FDP, alle, konnten in der Koalitionsvereinbarung umgesetzt werden“. Vgl. Carstens/Bannas (2009: S.1). Erkennbare Erfolge der FDP lagen in der Rechts- und Innenpolitik (kein Einsatz der Bundeswehr im Inneren, wie die CDU gefordert hatte), in der Verteidigungspolitik (Verkürzung des Wehrdienstes; die FDP hatte die Aussetzung des Wehrdienstes in ihrem Wahlprogramm gefordert; die Union war strikt dagegen) und in der Frage der Türkeipolitik (ergebnisoffene Verhandlungen; im Wahlprogramm hatte sich die Union gegen eine Vollmitgliedschaft in der EU ausgesprochen). Das ging in der von der FDP selbst erzeugten Wahrnehmungsfokussierung auf die Steuerpolitik unter.
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Rösler als Zukunftshoffnung der FDP und potenzieller Nachfolger im Parteivorsitz an die Kette gelegt. Westerwelle tat der FDP damit einen Bärendienst an. Westerwelle hatte sich erkennbar in den machtpolitischen Fallstricken der Regierungsbildung verheddert. Seine unverändert markige Rhetorik konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Merkel – und auch Seehofer – ihm den Schneid abgekauft hatte. Hinzu traten Ungeschicklichkeiten, die die Startphase der Koalition für die FDP zu einer kommunikativen Katastrophe werden ließ. So stimmte die Partei, die seit Jahren ihre „klare Kante“ in der Forderung nach Steuervereinfachung zu demonstrieren suchte, einer Senkung des Mehrwertsteuersatzes für das Hotelgewerbe zu, die nicht nur zu erhöhtem bürokratischen Aufwand führen sollte, sondern, viel schlimmer noch, als gezielte Klientelpolitik angesehen werden musste, zumal gleichzeitig eine hohe Parteispende der Möwenpick-Gruppe an die FDP bekannt wurde. Dass die Halbierung des Mehrwertsteuersatzes ursprünglich eine von der CSU vehement erhobene Forderung zur Belebung des Tourismus in Bayern gewesen war, spielte dann keine Rolle mehr. Jede Kommunikationsanstrengung musste schließlich scheitern, als die FDP das Ministerium erhielt und auch besetzte, dessen Abschaffung sie vorher vehement gefordert hatte – und dann auch noch mit der Person, die vorher als FDP-Generalsekretär die Forderung erhoben hatte und sich nun als Entwicklungsminister etablieren ließ. Die FDP legte einen Fehlstart in der neuen Koalition hin. Der Übergang von der Oppositionspartei in die Regierungsverantwortung gelang nicht. Zudem stellte sich sehr schnell die vermeintliche Liebesehe zwischen Liberalen und Union als eine Mesalliance heraus, weil nun öffentlich die Bruchstellen der Koalitionsvereinbarung auf den verschiedenen Politikfeldern sichtbar und kontrovers ausgedeutet wurden6 und auch das Kernstück des Koalitionsvertrags, das so genannte „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ den erzielten positiven Stimmungsumschwung für die neue Koalition, nicht zuletzt wegen der öffentlichen Schelte des der CDU angehörenden Bundestagspräsidenten,7 verfehlte. Die FDP konnte sich gegen das schlechte Bild von Koalition und eigener Partei und dem damit einsetzenden demoskopischen Abschwung in den Medien nicht stemmen. Das lag auch daran, dass sie sich auf den von der Kanzlerin und der CDU vorgegebenen Kurs des Attentismus einließ, vor der Landtagswahl in NordrheinWestfalen im Mai 2010 alles zu unterlassen, was den Erfolg des sich als „Arbeiterführer“ bezeichnenden CDU-Ministerpräsidenten Rüttgers hätte gefährden können, also vor allem eine Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik, der der politische Gegner das Etikett „neoliberal“ angeheftet hätte. Auch das Management 6 „Nie zuvor haben sich die Partner einer neu gebildeten Koalition so schnell auf dermaßen vielen Politikfeldern dermaßen heftige Auseinandersetzungen geliefert.“ Bannas (2010: 8). 7 Lammert sprach von einem Gesetz, in dem „manche zweifelhafte und einige…schlicht misslungene und auch nicht vertretbare Regelungen“ enthalten seien. Vgl. Bannas (2009: 4).
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der FDP war ‚kopflos‘, die Bundesgeschäftsstelle war in der Anfangsphase der Regierungskoalition für die Besetzung von Ämtern und Positionen geplündert worden. Der Parteivorsitzende übernahm mit dem Bundesaußenministerium ein großes, traditionell prestigeträchtiges und Prestige verleihendes Amt, musste sich aber dort und auf dem Feld der Außenpolitik erst einarbeiten, zumal sich Zweifel an seiner Kompetenz, die schon vorher bestanden und sich in Umfragen bestätigten, hielten und verstärkten. Westerwelle nahm den Stab aus dem Dehler-Haus mit an den Werderschen Markt, sein Generalsekretär und der Bundesgeschäftsführer wechselten in das Entwicklungsministerium. Westerwelle ließ sich auch zu lange Zeit, um die Position des Generalsekretärs neu zu besetzen, so dass die FDP, anders als beispielweise die CSU, keine unabhängige Stimme besaß, die den Attacken aus Bayern und den kritischen Stimmen der CDU-Ministerpräsidenten Paroli geboten hätte. Westerwelle versuchte so zunächst auf beiden Klaviaturen, der des Parteiführers und der des Außenministers zu spielen, aber die aggressive Rhetorik des immer noch die Pose des Wahlkämpfers einnehmenden Provokateurs „spätrömisch-dekadenter“ Sozialstaatsverhältnisse passte nicht mit dem Rollenverständnis eines Außenministers zusammen. Da auch die Führung der auf 93 Mitglieder angewachsenen Bundestagsfraktion neu besetzt werden musste, die FDP und ihr Parteivorsitzender mit dem Aufbau der Regierungsarbeit absorbiert waren, musste die Partei ihrem Niedergang in öffentlicher Wertund Einschätzung taten-, schlimmer noch: sprachlos zusehen (vgl. Abb. 2). Nun war das Ergebnis vom 27. September 2009 auch einer Reihe von Faktoren geschuldet, die in der Summe erst das Allzeithoch von 14,6 Prozent bedingten, damit aber keineswegs seine Fortdauer oder Wiederholbarkeit zu suggerieren vermochten. Zum einen hatte die Union der FDP Platz in der bürgerlichwirtschaftsliberalen Ecke des Parteiensystems gelassen, weil sie sich selbst, nicht zuletzt durch die Erfahrungen von 2005 und ihres neoliberal wahrgenommenen Programms von Leipzig auf der einen Seite und der Zusammenarbeit mit der SPD in der Großen Koalition auf der anderen Seite in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sozialdemokratisierter gab. Das klarere Profil in der Wirtschafts- und Steuerpolitik besaß 2009 die FDP. Die FDP profitierte – wie die anderen kleinen Parteien, jedoch stärker noch – von der Abnutzung der beiden Volksparteien in der Großen Koalition. Die FDP konnte in den zurückliegenden Jahren ihr Image der Eigenständigkeit aufbauen, bewahren und verstärken. Sie stand nicht im Schatten der Union, wie es zuletzt 1998 der Fall gewesen war, wo sie sich selbst als Appendix wahrnehmen musste und nur gewählt werden wollte, um Helmut Kohl im Amt des Kanzlers zu bestätigen. Das hatten viele in der Partei, auch und vor allem Westerwelle, als demütigend erfahren. Die FDP regenerierte sich in der Opposition, personell, programmatisch, in den Ländern und Kommunen. Bei
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Wahlen reüssierte sie, sie besaß ein Sieger-Image. Und sie hatte 2009 die klarste Machtoption aller Parteien, war auf eine Koalition mit der Union festgelegt. Abbildung 2:
Umfrageergebnisse der FDP seit der BTW 2005 (in Prozent)
Quelle: infratest dimap
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Die Aussichten
Es ist bei der FDP wie mit den Wetteraussichten: sicher ist nichts. Das liegt schlicht und einfach daran, dass die FDP nie ganz Herrin ihres eigenen Schicksals ist. Das geht auch anderen Parteien so, soziostrukturelle und soziokulturelle Veränderungen, historische Kontexte und personelle Konstellationen bestimmen die Performanz in und zwischen Wahlen, die Abhängigkeit von den Zeitläuften nimmt mit der Auflösung fester Milieubindungen zu. Bei der FDP kommt indes eine weitere, entscheidende Determinante hinzu: ihre Stellung und Funktion im Parteiensystem. Konnte die Partei in den 1950er Jahren noch als Partei des liberalen, protestantischen, mittelständischen (Klein-)Stadtbürgertums (und in ländlichen Regionen der Bauern) auf eigenen Beinen stehen und flächendeckend reüssieren, so hat sich das Erscheinungsbild der Partei von der ehemaligen Stammwählerschaft abgelöst und ist immer stärker zu einem Reflex der koalitionären Opportunitätsstrukturen geworden. Vor allem ihre Position in der Bundes-
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politik schlug auf Selbstverständnis, Image und Erfolg der Partei – auch und zwar durchgreifend in den Bundesländern – durch. Veränderungen im bundesdeutschen Parteiensystem, der Wechsel zur SPD 1969, zur Union 1982, stürzten die Partei in existenzielle Krisen. Und auch (zu) lange Regierungsteilhaben, erst in Bonn, dann in Berlin, hatten die gleichen Effekte. Die FDP transformierte sich als Regierungspartei im Bund jeweils in eine Funktionspartei, die zuerst auch Korrektivfunktionen – als Opposition in der Regierung – wahrnahm, sich dann aber zunehmend in gouvernementalem Pragmatismus erschöpfte, um schließlich um den reinen Machterhalt zu kämpfen. Die Partei verlor erst ihre Identität, dann ihre Selbstachtung und schließlich den Wähler. Regierungsteilhabe im Bund führte so letztlich zu existenziellen Krisen, das Bonmot, dass bei der FDP nichts so dauerhaft wie die Krise sei, beschrieb den Zustand über lange Zeit sehr treffend. Aber dass Totgesagte bekanntlich länger leben, trifft ebenso zu. So ist die FDP auch eine Partei der Paradoxien. Als die Partei mit der längsten Regierungserfahrung auf Bundesebene war die FDP zugleich aber auch die Partei in permanenter Existenznot. Umgekehrt aber, als Oppositionspartei hat sie Renaissancen, konsolidiert sie sich und tritt sie im Parteienwettbewerb nicht nur mit neuem Selbstwertgefühl, sondern auch mit Erfolg bei Wahlen an. Als Regierungspartei im Bund genießt sie das Scheinwerferlicht, was ihr langfristig nicht zum Vorteil gereicht. In dem Moment aber, als sie aus dem Scheinwerferlicht verschwindet, gelingt ihr eine erstaunliche Erholung im Wettbewerb des Parteiensystems (Vorländer 2004, 2003, 2008). So scheint sich die Geschichte für die FDP wieder einmal zu wiederholen. Nur geht der Prozess diesmal offensichtlich schneller. Der Absturz in der öffentlichen Wahrnehmung ist dramatisch, nicht nur in der Demoskopie, sondern auch – und womöglich viel entscheidender – in der veröffentlichten Meinung. Mit ganz wenigen Ausnahmen ist die Berichterstattung der Medien sehr kritisch, auch und vor allem in der mit der FDP grundsätzlich sympathisierenden Presse.8 Dabei steht der Parteivorsitzende Westerwelle im Fokus. Überlastung, Überforderung, auch Inkompetenz und Ungeschick wird ihm attestiert.9 Dem entspricht das Ansehen in Umfragen, Westerwelle gehört in der Jahreswende 2010/2011 zu den unbeliebtesten Spitzenpolitikern. Sein Absturz hatte, wie der der gesamten FDP im Spätherbst 2010 begonnen (vgl. Abb. 3). Nicht von ungefähr konnte also der Niedergang der FDP Westerwelle zugerechnet werden: Westerwelle ist die 8
Hoffmann/Hoischen/Wehner (2010); Carstens (2010a; 2010b); Spiegel Online berichtete am 15. und 16. Dezember 2010 unter den Titeln „FDP-Basis rebelliert offen gegen Westerwelle“ und „Spitzenliberale beraten über Westerwelle-Ablösung“. Kritisch, aber sympathisierend Ulrich (2011) in der ZEIT. Westerwelle-kritisch in der gleichen Ausgabe der ZEIT: Geis (2011) und Dausend/Niejahr (2011). 9 Pars pro toto: Carstens/Sattar (2010). Vorher schon: Blechschmidt (2010); Carstens (2010c). ZEITInterview mit Guido Westerwelle (2010).
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FDP, im Guten wie im Schlechten. Mit der Kritik an Westerwelle stiegen dann auch die Erwartungen zu Beginn des Jahres 2011. Aber die mit großer Spannung erwartete Rede auf dem Stuttgarter Dreikönigsparteitag am 6. Januar 2011 hat keineswegs zum Umschwung im Stimmungsbild geführt. Westerwelles Rückzug vom Parteivorsitz scheint zu Beginn des Jahres 2011 deshalb kaum mehr eine Frage des Ob, sondern des Wann zu sein.10 Über sein Schicksal werden die Landtagswahlen des Frühjahrs 2011, vor allem die Wahl im Stammland der Liberalen, in Baden-Württemberg, entscheiden, zumal sich in der öffentlichen Abbildung 3:
Soll Guido Westerwelle künftig „eine wichtige Rolle“ spielen? (in Prozent)
Quelle: TNS Forschung/Spiegel
Diskussion auch mögliche Nachfolger abzeichnen und selber ins Gespräch gebracht haben.11 Westerwelle hat die Partei wieder erfolgreich werden lassen, als Oppositionspolitiker konnte er seine Talente als Rhetor und Angreifer ausspielen, die Partei folgte ihm. Mit der missglückten Transformation von der Oppositions- zur Regierungspartei und dem Verlust der Regierungsbeteiligung in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 hat sich die monothematische und monopersonelle 10
In Baden-Württemberg wird einige Monate vor der Landtagswahl an der Basis der Kreisverbände nach wie vor kritisch, bis hin zur Rücktrittsforderung, über Westerwelle diskutiert, vgl. die Berichterstattung in der FAZ vom 21. Januar 2011, S. 4. Vor dem Parteitag schon Soldt (2010). 11 Bahr/Lindner/Rösler (2011).
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Fokussierung auf Westerwelle und das Steuerthema erschöpft.12 Will die FDP als Regierungspartei in Berlin reüssieren, wird sie sich einmal mehr neu erfinden müssen – es sei denn, sie hätte Sehnsucht nach ihrer Oppositionszeit. Literatur Bahr, Daniel/Lindner, Christian/Rösler, Philipp (2011): Jetzt erst recht – Neujahrsappell an alle Liberalen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Januar, S. 8. Bannas, Günter (2009): Lammert kritisiert die Koalition, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Dezember 2009, S. 4. Bannas, Günter (2010): Nur Jamaika wäre noch zerstrittener, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Januar 2010, S.8. Blechschmidt, Peter (2010): Liberale leiden am Parteichef, in: Süddeutsche Zeitung vom 11./12. September 2010, S. 6. Carstens, Peter (2010a): Der Kapitän kämpft um die Brücke, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Dezember 2010, S. 3. Carstens, Peter (2010b) Worauf wartet die FDP?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Dezember 2010b, S. 1. Carstens, Peter (2010c): Westerwelle auf Tauchstation. Die FDP sucht Ruhe und ihren Vorsitzenden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Juni 2010, S. 4. Carstens, Peter/Bannas, Günter (2009): Wir haben uns in allem durchgesetzt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. November 2009, S.1. Carstens, Peter/Sattar, Majid (2010): Überall und nirgendwo, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Oktober 2010, S. 3. Dausend, Peter/Niejahr, Elisabeth (2011): Die Netten von morgen. Daniel Bahr, Philipp Rösler und Christian Lindner sind die Zukunft der FDP – und wissen es auch. Sie haben aber ein Handicap: Sie wollen Westerwelle nicht stürzen, in: DIE ZEIT vom 5. Januar 2011, S. 3. Decker, Frank (2009): Koalitionsaussagen und Koalitionsbildung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51, S. 20-26. Geis, Matthias (2011) Triumphal abgestürzt. Guido Westerwelle kann sich politisch kaum mehr erholen. Er wird in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen – wenn auch anders, als er es sich erhofft hat, in: DIE ZEIT vom 5. Januar 2011, S. 2. Hilmer, Richard (2010): Bundestagswahlen 2009: Ein Wechsel auf Raten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 41, 1, S. 147-180. Hoffmann, Christiane/Hoischen, Oliver/Wehner, Markus (2010): Die kopflose Partei. Die FDP leidet an Guido Westerwelle, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 19. Dezember 2010, S. 4. 12 Vor dem Dreikönigsparteitag 2011 hatten sich immer wieder unterschiedliche innerparteiliche „Gesprächskreise“ („Dahrendorfkreis“, „Schaumburger Kreis“, „Liberaler Aufbruch“) ins öffentliche Gespräch gebracht, die eine – zum Teil unterschiedliche – neue thematisch-programmatische Profilierung der FDP anmahnten.
Als Phönix zurück in die Asche? Die FDP nach der Bundestagswahl 2009
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Jesse, Eckhard (2009): Der glanzlose Sieg der ‚Bürgerlichen‘ und die Schwäche der Volksparteien bei der Bundestagwahl 2009, in: Zeitschrift für Politik, 56, 4, S. 397-408. Jung, Matthias/Schroth, Yvonne/Wolf, Andrea (2009): Regierungswechsel ohne Wechselstimmung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51, S. 12-19. Kamps, Klaus (2010): Zur Modernisierung und Professionalisierung des Wahlkampfmanagements. Die Kampagnenorganisationen im Vergleich, in: Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Die Bundestagswahl 2009. Analyse der Wahl-, Parteien-, Kommunikationsund Regierungsforschung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 187-226. Korte, Karl-Rudolf (2010): Die Bundestagswahl 2009 – Konturen des Neuen. Problemstellungen der Regierungs-, Parteien-, Wahl- und Kommunikationsforschung, in: Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Die Bundestagswahl 2009. Analyse der Wahl-, Parteien, Kommunikations- und Regierungsforschung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 9-32. Nentwig, Teresa/Werwath, Christian (2009): Die FDP. Totgesagte leben bekanntlich länger, in: Butzlaff, Felix/Harm, Stine/Walter, Franz (Hrsg.): Patt oder Gezeitenwechsel. Wiesbaden: VS Verlag, S. 95-127. Saalfeld, Thomas (2010): Regierungsbildung 2009: Merkel II und ein höchst unvollständiger Koalitionsvertrag, in Zeitschrift für Parlamentsfragen, 41, 1, S. 181-206. Soldt, Rüdiger (2010): Gang einlegen, Gas geben, gegen die Wand fahren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Dezember 2010, S. 3. Treibel, Jan (2010): Was stand zur Wahl 2009? Grundsatzprogramme, Wahlprogramme und der Koalitionsvertrag im Vergleich, in Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Die Bundestagswahl 2009. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 89-116. Ulrich, Bernd (2011): Hut ab vor der FDP. Denn sie verweigert sich dem Populismus. Doch ihr Problem bleibt: Der Liberalismus braucht neue Antworten, in: DIE ZEIT vom 5. Januar 2011, S. 1. Vorländer, Hans (2003): Aufstieg und Niedergang einer Spaßpartei: Die FDP nach der Bundestagswahl 2002, in: Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2002. Wiesbaden: VS Verlag, S. 109-123. Vorländer, Hans (2004): Die Schattenpartei. Mit Erfolg aus dem Scheinwerferlicht verschwunden: Die FDP, in: Zehetmair, Hans (Hrsg.): Das deutsche Parteiensystem. Perspektiven für das 1. Jahrhundert. Wiesbaden: VS Verlag, S. 159-171. Vorländer, Hans (2008): Partei der Paradoxien. Die FDP nach der Bundestagswahl 2005, in: Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005. Wiesbaden: VS Verlag, S. 135-150. ZEIT-Interview mit Guido Westerwelle (2010): „Das akzeptiere ich nicht“. Vizekanzler und Außenminister Guido Westerwelle über eigene und fremde Fehler und sein Bild in den Medien, in: DIE ZEIT vom 8. Juli 2010, S. 4.
Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur „Volkspartei“?
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Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur „Volkspartei“? Eine Analyse der Entwicklung der Grünen seit der Bundestagswahl 2005 Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur „Volkspartei“?
Lothar Probst
1
Einleitung
Die Grünen haben sich seit der Bundestagswahl 2009 zur erfolgreichsten Partei im deutschen Parteiensystem entwickelt. In den Umfragen des ZDF-Politbarometers und des ARD-Deutschland-Trends vom September und Oktober 2010 erreichten sie Spitzenwerte von fast 20 Prozent, in einigen Bundesländern näherten sich die Umfragewerte sogar der 30-Prozent-Marke. In Berlin schickt die grüne Partei ihre Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Renate Künast, in ein offenes Rennen um das Amt des Regierenden Bürgermeisters, und auch in BadenWürttemberg bestehen durchaus realistische Chancen, dass die Grünen die nächste Landesregierung anführen, zumindest dann, wenn ihr gegenwärtiges Umfragehoch nach den Auseinandersetzungen um „Stuttgart 21“ bis zur Landtagswahl im März 2011 anhält. Aus welcher Perspektive man es auch betrachtet – Bündnis 90/Die Grünen erwecken gegenwärtig nach innen und außen den Eindruck einer konsolidierten Partei, die selbstbewusst auftritt und geschickt parlamentarische Politik mit den Erfahrungen einer Protestpartei, die auch die außerparlamentarische Öffentlichkeit zu mobilisieren versteht, miteinander verbindet. Angesichts des gegenwärtigen Höhenflugs wird in einigen Medien über die Grünen sogar als neue „Volkspartei“ diskutiert (vgl. DER SPIEGEL 46/ 2010: Die Neue Deutsche Volkspartei). Noch vor fünf Jahren, direkt nach der Bundestagswahl 2005, wäre niemand auf die Idee gekommen, den Grünen eine derartige Karriere vorherzusagen und ihnen das Attribut „Volkspartei“ zu verleihen. Franz Walter schrieb ein Jahr nach der damaligen Bundestagswahl über die Grünen: „Viel hört man derzeit nicht mehr von den Grünen in Deutschland. […] Die alternativen Milieus haben sich im Zuge des Aufstiegs ihrer Protagonisten irgendwann in den achtziger Jahren aufgelöst. […] Und auch das ökologische Thema ist trotz aller O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Lothar Probst kollektiven Virenängste und kalkulierbar regelmäßigen Lebensmittelskandale auf der politischen Agenda nach hinten abgerutscht“ (Walter 2006: 37).
Tatsächlich war die Lage der Grünen damals alles andere als rosig. Im Gegenteil: Der Ausgang der Bundestagswahl 2005 stellte für die Grünen einen ähnlich tiefen Einschnitt dar wie die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl 1990, als die westdeutschen Grünen an der Fünfprozentsperrklausel scheiterten und für vier Jahre nicht mehr im Bundestag vertreten waren. Im Unterschied zu damals erzielten sie 2005 mit 8,1 Prozent zwar ein überraschend gutes Ergebnis, gingen aber dennoch als kleinste Fraktion aus der Bundestagswahl hervor. Noch schmerzlicher war der Verlust aller Regierungsbeteiligungen in Bund und Ländern zwischen den Bundestagswahlen 2002 und 2005. Gemessen an den gestiegenen Ansprüchen der Grünen, die sich seit den 1990er Jahren längst vom Selbstverständnis einer reinen Oppositionspartei verabschiedet haben und mitgestalten wollen, war der Wahlausgang also rundweg enttäuschend. Eine Zäsur bedeutete auch der Rückzug von Joschka Fischer, der als „Leitwolf“ die Richtung der Partei über viele Jahre geprägt hatte. Nicht zuletzt seinem Einsatz und seiner Popularität verdankten die Grünen 1994 ihren Wiedereinzug in den Bundestag sowie die Wahlergebnisse bei den Bundestagswahlen von 1998, 2002 und 2005. Als Außenminister hatte er es geschafft, für mehrere Jahre zum beliebtesten Politiker der Bundesrepublik zu avancieren. Damit war er eine Ausnahmeerscheinung unter allen grünen Politikern. Schließlich vermittelten auch die Wahlergebnisse bei den ersten Landtagswahlen nach der Bundestagswahl 2005 ein eher gemischtes Bild. Herausragenden Wahlergebnissen in traditionellen Hochburgen wie Baden-Württemberg, Berlin und Bremen standen das Scheitern an der Fünfprozentsperrklausel in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz sowie herbe Verluste in Hessen und Hamburg gegenüber. Erst 2009 war ein deutlicher Aufwärtstrend zu erkennen.
Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur „Volkspartei“?
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Tabelle 1: Landtagswahlergebnisse für Bündnis 90/Die Grünen zwischen September 2005 und September 2009 (Zweitstimmenergebnis in Prozentzahlen) Wahl
2006
2007
2008
2009
Baden-Württemberg Landtag 11.7 26.03.2006 Bayern Landtag 9,4 28.09.2008 Berlin Abgeordnetenhaus 13,1 17. 09. 2006 Brandenburg Landtag 5,7 27.09.2009 Bremen Bürgerschaft 16,5 13.05.2007 Hamburg Bürgerschaft 9,6 24.02.2008 Hessen Landtag 7,6 27.01.2008 Hessen Landtag 13,7 18.01.2009 Mecklenburg-Vorpommern Landtag 3,4 17.09.2006 Niedersachsen Landtag 8,0 27.08.2008 Rheinland-Pfalz Landtag 4,6 26.03.2006 Saarland Landtag 5,9 30.082009 Sachsen Landtag 6,4 30.08.2009 Sachsen-Anhalt Landtag 4,4 26.03.2006 Schleswig-Holstein Landtag 12,4 27.09.2009 Thüringen Landtag 6,2 30.08.2009 Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Angaben der Landeswahlleiter der betreffenden Bundesländer.
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Lothar Probst
Dieser kurze Überblick macht bereits deutlich, dass sich die Position von Bündnis 90/Die Grünen im Parteienwettbewerb seit der Bundestagswahl 2005 radikal verändert hatte. Neben der FDP war nach dem Zusammenschluss von WASG und PDS nun auch DIE LINKE im Westen zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten um den ersten Platz unter den kleinen Parteien geworden. Hinzu kam, dass DIE LINKE im Osten inzwischen zur zweitstärksten „Volkspartei“ aufgestiegen war (vgl. Hough u.a. 2007) und es auch der FDP gelang, in den ostdeutschen Landesparlamenten wieder Fuß zu fassen, während sich die Grünen zu diesem Zeitpunkt in Ostdeutschland – von Sachsen abgesehen – immer noch unterhalb der Schwelle der parlamentarischen Repräsentation bewegten (Probst 2007: 179; Lees 2006: 369). Die macht- und koalitionspolitische Konstellation unter den drei kleinen Parteien sprach zu diesem Zeitpunkt eindeutig für die FDP. Sie regierte in den vier bevölkerungsreichsten Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen zusammen mit der CDU bzw. CSU und konnte sich bei anstehenden Landtagswahlen berechtigte Hoffnungen auf weitere Regierungsbeteiligungen machen. DIE LINKE machte ebenfalls keinen Hehl daraus, dass sie – neben ihrer Regierungsbeteiligung in Berlin – nicht nur im Osten, sondern auch im Westen Regierungsbündnisse anstrebte. Im Vergleich zu ihren Mitbewerbern unter den kleinen Parteien sahen die Koalitions- und Machtperspektiven für die Grünen dagegen relativ düster aus. Mit der SPD schienen neue Regierungsbündnisse auf absehbare Zeit zunächst einmal schwierig. wenn nicht aussichtslos zu sein, und für andere Regierungsbündnisse fehlten die politischen Voraussetzungen. Das insgesamt negative Bild wurde durch die stagnierende Mitgliederentwicklung zwischen 2005 und 2008 abgerundet. Erst ab 2009 schnellten die Mitgliederzahlen in die Höhe. Tabelle 2: Mitgliederentwicklung von Bündnis 90/Die Grünen (2005 – 2009) Jahr Mitgliederzahl bundesweit 45.105 2005 44.677 2006 44.320 2007 45.089 2008 48.171 2009 52.608 2010 Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Angaben der Bundesgeschäftsstelle von Bündnis 90/Die Grünen..
Wie kann man sich angesichts dieser ernüchternden Bilanz den anfangs geschilderten Höhenflug der Grünen nach der Bundestagswahl 2009 erklären? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, werden im folgenden Beitrag die innerpartei-
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liche und programmatische Entwicklung der Grünen, ihre Koalitionspolitik sowie ihre Wahlergebnisse zwischen den Bundestagswahlen 2005 und 2009 genauer analysiert. Des Weiteren wird die Frage erörtert, ob sich Bündnis 90/Die Grünen – wie von einigen Medien behauptet – seit der Bundestagswahl 2009 tatsächlich zu einer neuen Volkspartei entwickeln.
2
Vom Machtvakuum zu einem neuen strategischen Zentrum in der Post-Fischer-Ära
Die Fähigkeit, erfolgreich Wahlkämpfe zu organisieren, Richtungsentscheidungen zu treffen sowie eine zeitgemäße Programmatik zu entwickeln hängt ganz wesentlich von einem funktionierenden strategischen Zentrum innerhalb einer Partei ab (vgl. Raschke/Tils 2007). Ein solches Zentrum kann sich nur herausbilden, wenn es zur Konzentration an der Spitze der Partei, der Verflechtung verschiedener Handlungsbereiche (Partei, Fraktion, Regierung) und der Zentrierung von Entscheidungsmacht kommt. „Ein strategisches Zentrum ist ein informelles Netzwerk mit sehr wenigen Personen (mit meist nicht mehr, manchmal weniger als drei bis fünf Personen), die in Führungspositionen platziert sind und über privilegierte Chancen verfügen, die Strategie einer Formation zu bestimmen“, schreiben Raschke und Tils (2007: 283). Noch am Ende der 1990er Jahre gab es kein entsprechendes strategisches Zentrum in der grünen Partei. Vor der Bundestagswahl 1998, als eine Regierungsbeteiligung der Grünen auf Bundesebene in greifbare Nähe gerückt war, wirkten mehrere Zentren in der Partei neben- und gegeneinander. Joschka Fischer, der sich bereits damals, obwohl nicht offiziell nominiert, als „informeller Spitzenkandidat“ fühlte, zog aus dieser Situation seine Schlussfolgerungen und organisierte „einen eigenen Parallelwahlkampf“, der die Bundespartei umging (Fischer 2007: 51). Erst als Bundesaußenminister in der rot-grünen Regierung konnte Fischer aufgrund seiner Popularität die Partei so weit hinter sich versammeln, dass sie ihn 2002 zum unangefochtenen Spitzenkandidaten kürte – und das trotz formaler Fortexistenz von Quotierung und Doppelspitze. Dennoch kam der Umbau der grünen Partei im Sinne der Schaffung eines – auf Fischer zugeschnittenen – strategischen Zentrums nur zäh voran. Das zeigte sich daran, dass die von Fischer mehrfach propagierte Strukturreform, die auf eine Verschlankung von Führungsgremien mit nur einem oder einer Vorsitzenden und eine Erhöhung der Schlagkraft der Partei zielte, auf mehreren Parteitagen abgeschmettert wurde beziehungsweise nur im Schneckentempo vorankam (vgl. DER SPIEGEL 11/ 2000: Grüne. Viel Macht, wenig Inhalt; Hoogvliet/Wedell 2001).
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Lothar Probst
Erst nach dem erfolgreichen Abschneiden der Grünen bei der Bundestagswahl 2002 bildete sich an der Spitze von Partei und Fraktion ein Machtzentrum heraus, das zwar strömungspolitisch und personell durchaus heterogen war, aber nunmehr nicht mehr in erster Linie gegeneinander, sondern miteinander agierte. Reinhard Bütikofer und Claudia Roth als neues Führungstandem in der Parteizentrale entwickelten eine Arbeitsteilung, die verhinderte, dass man einander zu sehr in die Quere kam; Krista Sager und Kathrin Göring-Eckardt sorgten dafür, dass die Bundestagsfraktion in der zweiten Legislaturperiode von Rot-Grün weitgehend reibungslos die Regierungspolitik unterstützte, und auf Regierungsebene vermittelte die Trias aus den Ministern Joschka Fischer, Renate Künast und Jürgen Trittin den Eindruck von trauter Eintracht. De facto wurde dieses Machtzentrum durch die unangefochtene Autorität von Fischer zusammengehalten, der im Zweifelsfall die Richtung vorgab. Die gut austarierte Machtbalance an der Spitze der Partei trug in dieser Phase maßgeblich dazu bei, dass grüne Parteitage ein Bild der Geschlossenheit nach außen abgaben und sich zwischen 2002 und 2005 wieder Wahlerfolge bei mehreren Landtagswahlen einstellten. Der Ausgang der Bundestagswahl 2005 und der Rückzug von Fischer läuteten das Ende dieser Konstellation ein. Ohne seine Autorität zerfiel die seit 2002 mühsam errichtete Einheit, und an der Spitze der Partei entstand ein Machtvakuum. Im Kampf um seine Nachfolge brachen alte Richtungs- und Strömungskonflikte sowie personelle Konkurrenzen wieder verstärkt auf – am deutlichsten sichtbar in der Rivalität zwischen Renate Künast und Jürgen Trittin, die sich beide anschickten, das Erbe von Fischer anzutreten. Nach dem Ende der Regierung Schröder-Fischer mussten die beiden ehemaligen Minister wieder in die Fraktion integriert werden, ohne das komplizierte Machtgefüge an der Spitze der Partei und der Fraktion aus den Angeln zu heben. Kathrin Göring-Eckardt wurde zur Kandidatin für das Amt der Bundestagsvizepräsidentin gekürt, Krista Sager zur stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt und Renate Künast sowie Fritz Kuhn teilten sich den Fraktionsvorsitz. Um das Verhältnis zwischen Reinhard Bütikofer und Claudia Roth, die seit 2004 gemeinsam an der Spitze des Bundesvorstandes standen, war es zu diesem Zeitpunkt auch nicht zum Besten bestellt. Von einem strategischen Zentrum mit Richtungs- und Führungskompetenz waren die Grünen jedenfalls nach der Bundestagswahl 2005 zunächst weit entfernt (vgl. Probst 2009: 259). Die unklaren Machtverhältnisse an der Spitze der Partei nach Fischers Abgang sowie das Bedürfnis der Parteibasis, sich von den Entscheidungen der rotgrünen Regierungsjahre in Fragen der Sozial- sowie Außen- und Sicherheitspolitik zu distanzieren, stürzten die grüne Partei nach der Bundestagswahl 2005 mehrfach in eine Formkrise. Politische Beobachter sprachen bereits von einer Tendenz zur „Linksverschiebung“ (von Lucke 2008: 7). Am deutlichsten wurde
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dies auf dem Afghanistan-Sonderparteitag im September 2007 in Göttingen, als die Parteibasis den Leitantrag der Parteiführung, der von allen relevanten Spitzenakteuren der Grünen unterzeichnet worden war, durchfallen ließ und sich mehr oder weniger für einen Ausstieg der Bundeswehr aus dem AfghanistanKrieg aussprach (Roßmann: süddeutsche.de vom 15.09.2007). In dieser Zeit wurde ein neues Grundmuster in der Konfliktstruktur der Grünen erkennbar: Während Strömungskonflikte moderat und durch Kompromisse innerhalb der Parteielite ausgetragen wurden, nahmen in dieser Zeit Konflikte zwischen Parteispitze und Parteibasis zu. Dazu trug auch das mangelhafte Konfliktmanagement von oben bei. Schon im Vorfeld des Afghanistan-Sonderparteitags war deutlich geworden, dass nicht alle Spitzenpolitiker geschlossen hinter dem Leitantrag standen und zu taktieren versuchten, um sich persönliche Vorteile im Kampf um die Führungsrolle zu verschaffen. Das Debakel des Göttinger Parteitags wirkte gleichwohl wie ein heilsamer Schock. In einer konzertierten Aktion arbeiteten Partei- und Fraktionsvorstand sowie der Parteirat nun gemeinsam daran, den Eindruck zu zerstreuen, dass die Grünen zerstritten und nicht handlungsfähig seien. Im Laufe der Legislaturperiode gelang es, die Konkurrenz in geordnete Bahnen zu lenken und stattdessen Teambildung zu betreiben. Am deutlichsten zeigte sich diese Tendenz in der Frage der Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl 2009. Es setzte ein Klärungsprozess in der Parteispitze ein, der mit der salomonischen Entscheidung endete, dass Renate Künast und Jürgen Trittin gemeinsam als Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl antreten sollten. Unter den gegebenen Umständen war diese Entscheidung alternativlos, weil weder Renate Künast noch Jürgen Trittin in der Partei über die Autorität verfügten, ihren jeweiligen Anspruch auf eine alleinige Spitzenkandidatur durchzusetzen. Renate Künast brachte diese Alternativlosigkeit auf den Punkt, als sie in einem Interview mit dem Tagesspiegel sagte: „Die Doppelspitze ist bei den Grünen ein bewährtes Format, und es war weise, die Partei nicht ein Jahr lang damit zu beschäftigen, sich zwischen zwei möglichen Spitzenkandidaten zu entscheiden, die sich auch inhaltlich sehr nah sind. Das hätte uns nur geschadet“ (Künast: In der Krise ist ein geschlossenes Konzept nötig, in Tagesspiegel vom 11.01.2009). Dass auch der Parteibasis die Alternativlosigkeit dieser Konstellation bewusst war, drückte sich in der 90prozentigen Zustimmung für die Doppelspitze auf dem Nominierungsparteitag im November 2008 in Erfurt aus – ein sicheres Zeichen, dass mit dieser Entscheidung auch potentielle Strömungskonflikte neutralisiert wurden. Da die Grünen im Hinblick auf die Bundestagswahl 2009 keinen offensiven Koalitionswahlkampf führen konnten, erwies sich das Modell „Doppelspitze“ sogar als Vorteil. Diese Konstellation bot beiden Kandidaten die Möglichkeit der Eigenprofilierung in unterschiedlichen Milieus. Jürgen Trittin kam erklärtermaßen die Rolle zu, Wähler
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eher links der Mitte anzusprechen, während Renate Künast sich auf das „grüne Bürgertum“ konzentrierte. Auch der Übergang an der Parteispitze von Reinhard Bütikofer zu Cem Özdemir Anfang 2009 verlief ohne größere Probleme. Es gelang nach einer kurzen Warmlaufphase, Cem Özdemir relativ reibungslos in die neue Machtstruktur an der Spitze der Partei einzubinden und ihn erfolgreich an der Seite von Claudia Roth zu platzieren. Seitdem präsentieren sich die Grünen an der Spitze als eine Partei mit vielen Köpfen, die durch ihre unterschiedlichen Profile verschiedene Wählersegmente ansprechen: Claudia Roth als „bunter Vogel“, die auch die emotionale Seite der Politik repräsentiert, Cem Özdemir, der als „türkischer“ Schwabe die Attraktivität der Grünen (nicht nur) für Migranten widerspiegelt, Renate Künast, die die Partei in Richtung bürgerliche Mitte geöffnet hat und mit ihren forschen Art zu punkten weiß, sowie Jürgen Trittin, der mit zunehmendem Alter seine strategischen Fähigkeiten mit größerer Ruhe und Gelassenheit in die Waagschale wirft. Gleichzeitig haben die Grünen seit der Bundestagswahl 2002 unter Leitung der politischen Geschäftsführerin Steffi Lemke ihre Parteistrukturen ständig professionalisiert und ihre Kampagnenfähigkeit verbessert. Bereits im Zusammenhang mit den Bundestagswahlkämpfen 2002 und 2005 wurde der operative Bereich der Wahlkampfführung zentralisiert, sodass nur ein kleiner Kreis von Personen durchgängig alle wichtigen wahlkampfrelevanten Entscheidungen traf (vgl. Bukow/Rammelt 2003; vgl. Poguntke 2003: 99). Ein Novum war auch die Zusammenarbeit mit der Werbe- und Ideenagentur „Zum Goldenen Hirschen“, die 2002 und 2009 mit dem Ziel angeheuert wurde, für die Grünen einen Kreativwahlkampf zu entwerfen. Aber nicht nur die Einbeziehung von externen Kreativagenturen und Meinungsforschungsinstituten in den Wahlkampf ist inzwischen zur Selbstverständlichkeit bei der Ökopartei geworden, sondern seit 2005 wurden auch in der Parteizentrale entscheidende Schritte unternommen, um die Kommunikationsfähigkeit nach innen und außen zu verbessern. So gibt es seit einigen Jahren eine zentrale Mitgliederverwaltung und die Möglichkeit, die Mitglieder über E-Mail schnell mit Informationen zu versorgen. Für Funktionsträger und den parteipolitischen Nachwuchs wurden darüber hinaus spezielle Traineeund Qualifizierungsangebote entwickelt (vgl. Kiziloglu Sönmez/Probst 2009: 245f). Außerdem haben sich die Grünen mit dem Parteirat, der 1999 reformiert wurde und heute einen exklusiven Kreis von Spitzenakteuren aus der Partei, der Bundestagsfraktion und den Ländern umfasst, ein relativ überschaubares Gremium geschaffen, mit dem aufkommende Konflikte bereinigt sowie Grundsatzfragen im kleinen Kreis vordiskutiert werden können. Der Parteirat hat sich auch zu einem wichtigen Aktionsfeld für die nächste Generation grüner Politiker entwickelt, die in verantwortlichen Positionen der Kommunen und Länder bereits
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politisches Profil erworben haben. Landes- und Kommunalpolitiker wie Anja Hajduk (GAL Hamburg), Tarek Al Wazir (Landesverband Hessen), Boris Palmer (Landesverband Baden-Württemberg), Volker Ratzmann (Landesverband Berlin) und Anja Hermenau (Landesverband Sachsen) spielen in diesem Gremium mit ihren politischen Erfahrungen inzwischen eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt aufgrund der Funktion des Parteirats als Clearingstelle für offene Fragen und Probleme haben auch Strömungskonflikte innerhalb der Grünen an Bedeutung verloren und werden schon im Vorfeld durch die interne Kommunikation der Parteielite untereinander entschärft. Vor diesem Hintergrund heben sich die Grünen als Teamplayer positiv von ihren Mitbewerbern ab, die seit der Bundestagswahl 2009 mit ihren internen Konflikten und Auseinandersetzungen immer wieder die Medien beschäftigen.
3
Die Entwicklung der grünen Programmatik: Rückbesinnung auf den ökologischen Markenkern
Nach dem eher enttäuschenden Ergebnis bei der Bundestagswahl 2005 setzte bei den Grünen ein Nachdenken über die zukünftige programmatische Ausrichtung ein. Das neue Grundsatzprogramm, welches sich die Partei 2002 gegeben hatte, wurde zwar parteiintern als zeitgemäßes und modernes Parteiprogramm eingestuft, aber es eignete sich nur bedingt, um angesichts der veränderten politischen Koordinaten das politische Profil der Grünen als Oppositionspartei zu schärfen. Sie begannen deshalb, ihren ökologischen Markenkern wieder stärker ins Zentrum zu rücken und neu zu definieren (vgl. Blühdorn 2009: 41ff). Auf ihrer 26. ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz 2006 verabschiedeten sie unter der Überschrift „Für einen radikalen Realismus in der Ökologiepolitik“ eine Grundsatzerklärung, in der es heißt: „Dass uns von der Mehrheit der Menschen in unserem Land die ökologische Kompetenz zugeschrieben wird, darf nicht zu falscher Selbstgewissheit führen. Natürlich sind Bündnis 90/Die Grünen keine Ein-Punkt-Partei. Natürlich decken wir das gesamte Themenspektrum mit Herz und Verstand ab. Aber eine ökologische Sicht auf die Welt ist wesentlich mehr als Umweltpolitik. Im Gegenteil: Da, wo Ökologie in den Käfig der Umweltpolitik eingesperrt bleibt, springt sie systematisch zu kurz. Wir Grüne sehen deswegen unsere große Aufgabe darin, einer ökologischen Sichtweise insgesamt zum Durchbruch zu verhelfen. Diese muss die Gerechtigkeitsdimension von vornherein einschließen. Wir Grüne sehen deswegen unsere große Aufgabe darin, einer ökologischen Sichtweise insgesamt zum Durchbruch zu verhelfen“ (Bündnis 90/Die Grünen 2006: Beschluss der 26. Bundesdelegiertenkonferenz).
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In der Erklärung wurden eine umweltverträgliche Klimapolitik, die energetische Umsteuerung der Gesellschaft sowie eine andere Mobilitäts- und Verkehrspolitik als Kernanliegen moderner Gesellschaften formuliert. Die in dieser Erklärung angelegte programmatische Rückbesinnung auf das ökologische Profil mündete schließlich im Green New Deal (Bündnis 90/Die Grünen 2008: Beschluss der 28. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz) – also der Idee, dass die Gesellschaft einen neuen Vertrag braucht, der Ökologie und Ökonomie nicht länger gegeneinander ausspielt, sondern zum wechselseitigen Nutzen miteinander verbindet. Dabei kam den Grünen die Finanz- und Wirtschaftskrise, die Zweifel an einer Politik des bloßen Weitermachens heraufbeschwor, durchaus entgegen. Mit einem Mal entdeckten auch Investoren, Finanzfachleute und Politiker anderer Parteien die Bedeutung neuer, grüner Wachstumsmärkte für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und für die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen. Umwelt- und Klimapolitik als Markenkern der Grünen rückte insofern zwischen den Bundestagswahlen 2005 und 2009 von der Peripherie stärker ins Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses. Inzwischen ist Umweltund Klimapolitik zu einem harten Politikfeld geworden, das auch andere Zukunftsfragen der Gesellschaft berührt. Die ökologische Modernisierung im Sinne des New Green Deal kommt gewissermaßen als Voraussetzung und Schlüssel für ökonomische Innovation, die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf den globalen Märkten und kulturellen Wandel daher. Damit treffen die Grünen ziemlich genau den Nerv von Wählern der modernen Mitte in der Bundesrepublik, zumal der New Green Deal nicht in die alten Muster von Katastrophenszenarien und unrealistischen Forderungen zurückfällt. Ihre Vorschläge zur ökologischen Modernisierung der Gesellschaft werden heute vielmehr in verträglichen Dosierungen präsentiert. Die 1998 von einem Parteitag beschlossene Forderung, die Benzinpreise durch eine entsprechende Besteuerung auf 5 DM anzuheben, würde heute keinen Parteitag der Grünen mehr passieren. In der Präambel des Bundestagswahlprogramm 2009 heißt es zwar: „Wir können nicht länger so tun, als ob alles nichts mit der Art und Weise, wie wir wirtschaften und leben, zu tun hat. Die Krise ist Ausdruck einer Denkweise, die kurzfristige Profitinteressen über alles andere gestellt hat. Viele Gesellschaften haben über ihre Verhältnisse gelebt und mehr konsumiert, als es ihre eigene Leistungsfähigkeit eigentlich erlaubte“ (Bündnis 90/Die Grünen 2009: Bundestagswahlprogramm).
Wenn es allerdings darum geht, Konsequenzen für die individuelle Lebensweise aus dieser Diagnose zu formulieren, bleiben die Grünen im Vagen. Schließlich gehören viele grüne Wähler, auch wenn sie im Bio-Supermarkt einkaufen gehen,
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zu den Teilen der Bevölkerung, denen individuelle Selbstverwirklichung und globale Mobilität eine Herzensangelegenheit sind. In der 2006 verabschiedeten Grundsatzerklärung „Für einen radikalen Realismus in der Ökologiepolitik“ betonen die Grünen zwar ihre besondere Kompetenz für ökologische Themen, weisen aber darauf hin, dass sie keine Ein-PunktPartei sind und dass die ökologische Sichtweise die Gerechtigkeitsdimension mit einschließt. Tatsächlich ist der spezifische Platz, den eine Partei in einem Parteiensystem einnimmt, in der Regel mit bestimmten wertbasierten Leitideen verknüpft, die in der Politik eine regulative Orientierung entfalten. Das ökologische Paradigma weist den Grünen diesen spezifischen Platz zu, aber es muss mit anderen regulativen Leitideen verbunden werden – einerseits um den geschichteten Wertepräferenzen, die es auch in der grünen Wählerschaft gibt, gerecht zu werden, andererseits um Bündnisse mit anderen politischen Parteien zu ermöglichen. In der Präambel des Bundestagswahlprogramms von 2002 wurde die Verknüpfung grüner Leitideen mit der rot-grünen Machtperspektive durch die Trias aus ökologischer Modernisierung, sozialer und wirtschaftlicher Erneuerung sowie gesellschaftlicher Demokratisierung ausgewiesen. Im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2005 fand eine gewisse Akzentverschiebung statt. „Freiheit braucht Teilhabe und Gerechtigkeit“ stand nun am Anfang der Präambel des Wahlprogramms. Und weiter: „GRÜNE Politik zielt auf Freiheit und Selbstbestimmung“ (Bündnis 90/Die Grünen 2005: Bundestagswahlprogramm 2005) – eine Formulierung, die dem 2002 verabschiedeten neuen Grundsatzprogramm der Grünen entnommen wurde. Zum ersten Mal definierten die Grünen damit in einem Bundestagswahlprogramm „Freiheit“ explizit als ein Ziel ihrer Politik. Während diese Akzentverschiebung 2005 keine größeren Diskussionen in der grünen Partei auslöste, stieß der Versuch von Renate Künast und Jürgen Trittin, die Trias aus Ökologie, Gerechtigkeit und Freiheit zur regulativen Leitformel im Bundestagswahlkampf 2009 zu machen, parteiintern auf größere Widerstände. Ein Teil der Parteibasis vermutete, dass mit dieser Formel eine Öffnung für neue machtpolitische Optionen in Richtung FDP und Union vorbereitet werden sollte. Zugleich rückte der Begriff „Freiheit“ angesichts solcher Optionen stärker ins Zentrum der innerparteilichen Diskussion. Im Unterschied zum unverfänglicheren Begriff „gesellschaftliche Demokratisierung“ mobilisierte er mentale Reserven, weil „Freiheit“ im parteiinternen Diskurs der Grünen immer noch in erster Linie mit wirtschaftsliberalen und konservativen Positionen assoziiert wird. Gleichwohl hat die Betonung der Freiheitsdimension unter den regulativen Leitideen der Grünen seit 2005 in verschiedenen programmatischen Erklärungen eine deutliche Aufwertung erfahren und ist zukünftig aus der Parteiprogrammatik nicht mehr wegzudenken.
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Die Koalitionspolitik der Grünen seit der Bundestagswahl 2005
Aufgrund der geschwächten Position im Parteienwettbewerb nach der Bundestagswahl 2005 sah sich die grüne Parteispitze gezwungen, die Position der Grünen im Parteiensystem zu überdenken und strategisch neu auszurichten. Da sich ein Teil der Parteibasis trotzig auf das Mantra „Wir können auch Opposition“ zurückzog, versuchte man die Parteimitglieder davon zu überzeugen, dass das Einigeln in den Status einer Oppositionspartei verhängnisvoll wäre. Die Parteiführung war sich bewusst, dass gerade die Mittelschichten aus dem kritischen Bürgertum ihr Votum für die inhaltlichen Ziele der Grünen in der Regel mit der Erwartung verbinden, dass sich dadurch auch Gestaltungsoptionen im Rahmen von Regierungsbeteiligungen eröffnen. Die ersten Wahlergebnisse bei den Landtagswahlen nach der Bundestagswahl 2005 boten allerdings kaum Ansatzpunkte, um den Grünen wieder machtpolitische Optionen zu eröffnen. Eine Wiederbelebung des rot-grünen Projekts war sowohl arithmetisch als auch politisch in weite Ferne gerückt. Nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus 2006 in Berlin zeigte Klaus Wowereit den Grünen die kalte Schulter und setzte seine Koalition mit der Linkspartei fort, obwohl eine Koalition mit den Grünen arithmetisch genauso gut möglich gewesen wäre. Die Bildung einer rot-grünen Regierung nach der Bürgerschaftswahl 2007 im kleinsten Bundesland Bremen wiederum war zu unbedeutend, um daraus koalitionspolitische Signale ableiten zu können. Erst das Wahljahr 2008 mit der Bürgerschaftswahl in Hamburg und der Landtagswahl in Hessen eröffnete den Grünen die Chance, bei der Regierungsbildung wieder richtig mitzumischen und das, obwohl die Grünen in beiden Fällen relativ schlechte Wahlergebnisse mit Stimmenverlusten erzielt hatten. Am spektakulärsten war das Zustandekommen einer schwarz-grünen Koalition in Hamburg, die sich dem knappen Scheitern der FDP an der Fünfprozenthürde, dem strategischen Interesse von CDU und Grünen sowie der Person Ole von Beust verdankte. Hamburg war das ideale Laboratorium und playing field für die schwarzgrüne Koalition auf Landesebene: Ole von Beust als großstädtisch-liberaler CDU-Spitzenkandidat, eine CDU, die ihm keine Steine in den Weg legte, zwei grüne Spitzenkandidatinnen, die unverdächtig waren, grüne Positionen einfach auf dem Altar der Machtbeteiligung zu opfern. Hinzu kam die Struktur von Hamburg, in der sich wirtschaftliche Prosperität mit den typischen Problemen einer urbanen Metropole wie umweltverträgliche Stadtentwicklung, Migration und Kriminalität mischen. Für diese Problemlagen brachten sowohl CDU als auch Grüne jeweils Lösungsansätze und Milieuzugänge mit, die sich ergänzen sollten: die CDU Kompetenzen für Wirtschaft, Finanzen und innere Sicherheit,
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die Grünen Kompetenzen für Bildung, Soziales, Integration, Umwelt und Bürgerrechte. Bei den Akteuren der GAL spielte der Begriff der „Ergänzungskoalition“ als Abgrenzung zur Schnittmengenkoalition alter Provenienz eine wichtige Rolle als legitimierendes Deutungsmuster dieser neuen Konstellation (vgl. Switek 2010: 322). Joachim Raschke brachte die Vorteile dieser Konstellation folgendermaßen auf den Punkt: „[Es] geht nicht um ‚gemeinsame‘ Schnittmengen‘“, sondern die schwarz-grüne Koalition kann zeigen, dass „‚Ergänzung‘ besser [ist] als ‚Überschneidung‘. Gerade das Fehlen gemeinsamer Schnittmengen bringt Vorteile der Nichtkonkurrenz. Dagegen schafft Nähe ihre eigenen Probleme: Konkurrenz auf dem gleichen Terrain, Kampf um ähnliche Wählergruppen, Unklarheit der Erfolgszurechnung. Das Hamburger Beispiel zeigt die Vorteile einer Politik der Differenz“ (Raschke 2008: 9).
Tabelle 3: Ergebnis der Bürgerschaftswahl in Hamburg vom 24.2.2008 Partei
Wahlbeteiligung
Wahlergebnis (in Prozent)
Anzahl der Mandate
Differenz zur Bürgerschaftswahl 2004 CDU 42,6 56 -7 SPD 34,1 45 4 GAL 9,6 12 -5 FDP 4,8 0 0 DIE LINKE 6,4 8 +8 Sonstige 2,5 0 0 Gesamt 63,5 100 121 0 Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Angaben des Landeswahlleiters für Hamburg
Die grünen Akteure in Hamburg wollten in enger Abstimmung mit der Parteizentrale in Berlin auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, dass es sich bei der schwarz-grünen Koalition um ein neues „Projekt“ handelt und die Grünen jetzt grundsätzlich auf einen anderen Koalitionskurs einschwenken. Gleichzeitig trug die Tatsache, dass die Hamburger CDU der GAL in den Koalitionsverhandlungen sowohl in der Bildungspolitik als auch in der ökologischen Stadtentwicklungspolitik weit entgegenkam, wesentlich dazu bei, dass die grünen Spitzenakteure die Koalition auch der Parteibasis vermitteln konnten. Der andere koalitionspolitische Schauplatz, auf dem die Grünen zu neuen Ufern in der Koalitionspolitik aufbrechen wollten, spielte 2008 in Hessen. Das Ergebnis der Landtagswahl endete in einer politischen Pattsituation, in der weder CDU und FDP noch SPD und Grüne über eine ausreichende Mehrheit für eine Regierungsbildung verfügten.
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Tabelle 4: Ergebnis der Hessischen Landtagswahl vom 27.01.2008 DirektListenman- Gesamtzahl Wahlergebnis mandate date der Mandate (Landesstimmen) in Prozent CDU 36,8 28 14 42 SPD 36.7 27 15 42 GRÜNE 7,5 0 9 9 FDP 9,4 0 11 11 LINKE 5,1 0 6 6 Sonstige 4,5 0 0 0 Gesamt 64,3 100 55 55 110 Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Angaben des Landeswahlleiters für Hessen. Partei
Wahlbeteiligung in Prozent
Differenz zur Landtagswahl 2003 -14 +9 -3 +2 +6 0 0
Obwohl die Grünen von der CDU und der FDP heftig umworben wurden, um in eine Jamaika-Koalition einzutreten, entschieden sie sich, mit der SPD die Chancen für eine Minderheitsregierung auszuloten. Zu verführerisch war die Chance, sich nach Hamburg auch „links“ neue Machtoptionen zu erschließen und damit die koalitionspolitische Balance parteiintern wieder herzustellen. Das doppelte Dilemma der hessischen Grünen bestand darin, dass ihnen einerseits der Weg in eine Jamaika-Koalition unter Führung von Roland Koch de facto unmöglich war, andererseits aber auch die Bildung einer Minderheitsregierung unter Führung von Andrea Ypsilanti große Risiken beinhaltete. Beide Optionen hatten den Makel, dass sie für die Grünen mit einem Glaubwürdigkeitsverlust verbunden waren. Mit dem Wahlverlierer und konservativen Hardliner Roland Koch eine Koalition einzugehen, hätte die Parteibasis kaum mitgemacht und gleichzeitig Kredit bei den Wählerinnen und Wählern gekostet (vgl. Jesse 2008: 243f.). Die Bildung einer Minderheitsregierung, toleriert von der Linkspartei, aber war Wortbruch, denn nicht nur Andrea Ypsilanti, sondern auch die Grünen Hessens hatten im Vorfeld eine Koalition mit der Partei DIE LINKE ausgeschlossen. Für die Grünen zahlte sich die Auseinandersetzung um die Regierungsbildung in Hessen dennoch aus, da sie sich – anders als die SPD – rechtzeitig vom Experiment Minderheitsregierung verabschiedeten und bei der nach einem Jahr anberaumten Neuwahl Wähler vor allem von der SPD zurückgewinnen konnten. Mit einem Ergebnis von 13,7 Prozent gehörten sie zu den Wahlsiegern und konnten wieder an frühere Wahlerfolge in ihrer Hochburg Hessen anknüpfen. Eine neue Regierungsoption aber hatten sie sich aufgrund des souveränen Wahlsieges von CDU und FDP damit nicht erschlossen.
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Tabelle 5: Ergebnis der Hessischen Landtagswahl vom 18.01.2009 DirektListenGesamtzahl Wahlergebnis mandate mandate der Mandate (Landesstimmen) in Prozent CDU 37,2 46 0 46 SPD 23,7 9 20 29 GRÜNE 13,7 0 17 17 FDP 16,2 0 20 20 LINKE 5,4 0 6 6 Sonstige 3,8 0 0 0 Gesamt 61 100 55 63 118 Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Angaben des Landeswahlleiters für Hessen. Partei
Wahlbeteiligung in Prozent
Differenz zur Landtagswahl 2008 +4 -13 +8 +9 0 0 +8
Die innerparteiliche Diskussion über das Koalitionsverhalten der Grünen zwischen der Bundestagswahl 2005 und 2009 wurde neben den Erfahrungen in Hamburg und Hessen ganz maßgeblich durch die asymmetrische Entwicklung des Parteiensystems beeinflusst. Nach einer Reihe von verheerenden Wahlniederlagen der SPD sah es zunächst so aus, als ob rot-grüne Zweierkoalitionen aufgrund der elektoralen Schwäche der Sozialdemokraten auf absehbare Zeit keine Mehrheit mehr haben würden (Decker 2009: 20). Politische Beobachter interpretierten diese Entwicklung als „Verschiebung des Optionsraums zu Gunsten der Union“ (Rulff 2008). Aber das rot-grüne Projekt verlor nicht nur aus arithmetischen Gründen an Attraktivität, sondern auch die gemeinsame ideologische Basis hatte sich nach der Bundestagswahl 2005 verflüchtigt. Vier Jahre Große Koalition trugen maßgeblich zur Entfremdung der beiden ehemaligen Koalitionspartner bei und lösten innerhalb der Grünen einen erstaunlich schnellen Lernprozess bezüglich einer Erweiterung ihrer Koalitionsoptionen aus. Doch trotz ihrer koalitionspolitischen Öffnung gerieten die Grünen vor der Bundestagswahl 2009 in ein Dilemma. Eine Koalitionsaussage für eine schwarzgrüne Koalition bei der Bundestagswahl 2009 wäre weder programmatisch möglich noch innerparteilich durchsetzbar gewesen. Zugleich war es angesichts der schlechten Umfragewerte für die SPD unrealistisch, eine Koalitionsaussage für eine rein rot-grüne Regierung zu treffen. Renate Künast und Jürgen Trittin versuchten, die grüne Partei in dieser Situation auf eine Ampelkoalition einzuschwören. Dieses Ansinnen wurde allerdings von der Parteibasis eindeutig zurückgewiesen, so dass die Grünen ohne eine klare Koalitionsaussage in den Bundestagswahlkampf 2009 zogen. Die veränderte Wettbewerbssituation im Parteiensystem, das asymmetrische Kräfteverhältnis zwischen CDU und SPD sowie der innerparteiliche Diskussionsprozess, in der sich relevante Strömungen
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und die Parteibasis gegen jedwede Koalitionsaussage bzw. gegen ein Koalitionssignal in Richtung Ampelkoalition aussprachen, führten also bei der Bundestagswahl de facto zu einer koalitionspolitischen Blockierung der Grünen. Das Wahlergebnis war vor diesem Hintergrund für Bündnis 90/Die Grünen eine weitere Enttäuschung. Erneut wurden sie nur die fünfstärkste Fraktion im Deutschen Bundestag. Tabelle 6: Ergebnis der Bundestagswahl 2009 vom 27.9.2009 Partei
WahlbeteiZweitDiffeDirekt- Listen- Überhangmandate mandate mandate ligung in stimmen in renz Prozent Prozent zu 2005 27,3 -0,5 173 21 21 6,5 -0,9 45 0 3 23,0 -11,2 64 82 0 14,5 +4,7 0 93 0 11,9 +3,2 16 60 0 10,7 +2,6 1 67 0
CDU CSU SPD FDP DIE LINKE Bündnis 90/ Die Grünen Sonstige 6,1 0 0 Gesamt 70,8 100 299 323 Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Angaben des Bundeswahlleiters.
0 24
Gesamtzahl der Mandate 215 48 146 93 76 68 0
Dennoch signalisierte das Ergebnis einen weiteren Aufwärtstrend. Die Partei erzielte das beste Ergebnis bei einer Bundestagswahl und das ohne ihr früheres Zugpferd Joschka Fischer und ohne Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung. Weder die neuen koalitionspolitischen Experimente noch die öffentliche Agenda, die im Vorfeld der Bundestagswahl ganz im Zeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise stand, hatten sich negativ auf das Wahlergebnis ausgewirkt. Darüber hinaus hatte sich trotz des souveränen Wahlsieges von CDU/CSU und FDP die koalitionspolitische Situation für die Grünen zwischen der Bundestagswahl 2005 und 2009 eindeutig zu ihren Gunsten verändert. Bereits das Ergebnis der Bundestagswahl 2005 hatte deutlich gemacht, dass Wahlausgänge in der Bundesrepublik häufiger dazu tendieren, Koalitions- und Mehrheitsbildungen entweder arithmetisch oder politisch zu blockieren. Dieser Trend setzte sich fort, auch wenn CDU und FDP zwischen 2005 und 2009 bei einer Reihe von Landtagswahlen nochmals in der Lage waren, das in der Bundesrepublik etablierte Modell von kleinstmöglichen Gewinnkoalitionen aus einer großen und einer kleinen Partei fortzuführen. Als „Scharnierpartei“ zwischen dem linken und dem bürgerlichen Lager profitieren die Grünen am meisten von diesem Trend (Walter 2006: 50f.). Sie werden von beiden Volksparteien als Partner umworben und bei allen
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Dreierkoalitionen, in welcher Farbschattierung auch immer, gebraucht. Das sollte sich einmal mehr nach der Landtagswahl im Saarland bewahrheiten, deren Ausgang noch vor der Bundestagswahl 2009 zu einer weiteren politischen Pattsituation und schließlich zur ersten Jamaika-Koalition führte. Trotz eines relativ schlechten Wahlergebnisses von 5,9 Prozent und der Entsendung von nur drei Abgeordneten in den Landtag, war es den saarländischen Grünen möglich, erheblichen Einfluss auf die Inhalte des Koalitionsvertrages und die Besetzung der Regierungsämter zu nehmen. Die neuen koalitionspolitischen Konstellationen und Erfahrungen mündeten in der Strategie des Offenhaltens von klaren Koalitionsaussagen – eine Strategie, die seitdem bei Landtagswahlen erfolgreich praktiziert wird. So legten sich die Grünen vor der Landtagwahl 2010 in NRW nicht auf eine eindeutige Koalitionsaussage fest, obwohl die programmatischen Schnittmengen zwischen ihnen und der SPD groß waren. Es war offensichtlich, dass man sich bei einem entsprechenden Wahlergebnis Koalitionsverhandlungen auch mit der CDU offen halten wollte. Dem hervorragenden Wahlergebnis der Grünen bei der Landtagswahl mit 12,1 Prozent tat diese Strategie keinen Abbruch. Paradoxerweise war es gerade der Ausgang der NRW-Wahl, der den in den Medien geäußerten schwarz-grünen Koalitionsphantasien schlagartig den Boden zu entziehen schien. Mit einem Mal war eine eigene rot-grüne Mehrheit wieder in Reichweite gerückt, wenngleich in NRW noch eine Stimme zu dieser Mehrheit fehlte. Als SPD und Grüne im Juni 2010 nach dem Rücktritt von Horst Köhler darüber hinaus mit Joachim Gauck einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten präsentierten, sah tatsächlich alles danach aus, als ob SPD und Grüne wieder eine gemeinsame Perspektive anstrebten. Stattdessen lösten in dieser Zeit die steigenden Umfragewerte für die Grünen, die nicht zuletzt auf den Zuspruch von ehemaligen sozialdemokratischen Wählern zurückgingen, bei der SPD Nervösität aus. Am 11. August 2010, kurz nach der Bundespräsidentenwahl, griff der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel die Grünen in einem Interview mit der taz frontal an: „Die Grünen [müssen] irgendwann […] die Frage beantworten, wofür sie am Ende stehen wollen. Die von den Grünen immer wieder beschriebene Äquidistanz, der gleiche Abstand zu SPD und CDU, lässt diese Frage offen. Wollen sie eine rechtsliberale Politik, bei der sie Gemeinsamkeiten mit den Konservativen im Naturschutz und in der Umweltpolitik suchen, dafür aber sozial- und gesellschaftspolitisch nichts durchsetzen können?“ (Gabriel: Die Grünen müssen sich entscheiden, in taz vom 11.08. 2010).
Und auf die Frage der taz, ob er den Grünen Opportunismus vorwerfe, antwortete Gabriel: „Nein. Aber zu sagen ‚wir wollen regieren – egal mit wem‘ führt
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sicher nicht dazu, dass sich Menschen wieder mehr für Politik interessieren“ (Gabriel: Die Grünen müssen sich entscheiden, in taz vom 11.08.2010). Außerdem warf er den Grünen vor, sich nur für „vermeintliche Wohlfühlthemen“ zuständig zu fühlen. Die Antwort der Grünen auf dieses Interview ließ nicht lange auf sich warten. Der Vorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, konterte bereits einen Tag später als er sagte: „Sigmar Gabriel hat genug damit zu tun, das sozialdemokratische Schiff auf Kurs zu bringen, bevor er anderen die Richtung weisen kann“ (taz vom 12.08.2010: Grüne sauer auf SPD-Chef). Außerdem führte er aus, dass die SPD zwar inhaltlich den Grünen näher stehen würde als die CDU, dass es aber auch weiterhin keinen Koalitionsautomatismus geben werde. Schließlich stehe die SPD auch für die Abwrackprämie ohne jegliche ökologische Lenkungswirkung, für Kohlekraftwerke und für das Milliardengrab „Stuttgart 21“ in Baden-Württemberg. Die öffentlich ausgetragene Kontroverse macht deutlich, dass die Grünen keinesfalls gewillt sind, zu einer einseitigen Festlegung auf rot-grüne Bündnisse zurückzukehren. Für die Landtagswahl 2011 in Rheinland-Pfalz hat die dortige Landesvorsitzende Eveline Lemke bereits die Marschroute für die Strategie des Offenhaltens der Koalitionsaussage umrissen: „Wir haben ein Zukunftskonzept, das sich deutlich von dem der SPD unterscheidet. Deren Projekte […] sind Symbole für eine veraltete Verkehrs- und Energiepolitik. […] Noch machen wir keine Koalitionsaussage. Wir Grüne haben in RheinlandPfalz 35 kommunale Bündnisse bzw. Koalitionen gebildet, die alle politischen Farbenspiele abdecken“ (Lemke: Noch machen wir keine Koalitionsaussage, in taz vom 13.09.2010).
Die Aussage von Eveline Lemke reflektiert den Umstand, dass die Grünen tatsächlich in den Städten und Kommunen der Bundesrepublik längst eine Multikoalitionspartei geworden sind. Das ist nicht ohne Rückwirkungen auf die grünen Funktionsträger und Mitglieder geblieben. Koalitionen auf kommunaler Ebene mit der CDU und selbst mit der FDP sind keine Schreckgespenster mehr, sondern Teil einer politischen Normalität, in der es um gemeinsame pragmatische Politikansätze geht (vgl. Ober 2008). Bei regelmäßigen Treffen grüner und schwarzer Kommunalpolitiker, organisiert von der Konrad Adenauer Stiftung und der Heinrich Böll Stiftung, wird die Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene als vertrauensvoll, verlässlich, verbindlich und vernünftig beschreiben1. Exemplarisch dürfte in diesem Zusammenhang sein, was der Vorsitzende der GALBürgerschaftsfraktion, Jens Kerstan, zu einem Zeitpunkt, als die schwarz-grüne Koalition in Hamburg unter Ole von Beust noch funktionierte, bei der Präsenta-
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Dem Verfasser liegen interne Protokolle dieser Treffen vor.
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tion der Halbzeitbilanz über die Zusammenarbeit der beiden Parteien in der Regierung sagte: „Wir sind mit diesem Bündnis ein Wagnis eingegangen und stellen fest, dass die Zusammenarbeit in der Koalition runder läuft, als wir es erwartet hätten. Es zeigt sich, dass eine Vernunftehe manchmal besser funktioniert als eine Liebesheirat […]. Es zeichnet die Arbeit der Koalition aus, dass wir fair und vertrauensvoll miteinander umgehen“ (GAL Pressemitteilung Nr. 8/6 vom 24.02.2010).
Dass Bündnisse mit der CDU für die Grünen nicht mehr ausgeschlossen sind, hat auch damit zu tun, dass einmal implementierte Koalitionen unter den Anhängern der Parteien die wechselseitigen Wahrnehmungen verändern. Durch schwarzgrüne Koalitionserfahrungen in großen Städten wie Frankfurt, Köln, Kassel, Kiel, Dortmund und Duisburg sind die Abgrenzungsrituale der Vergangenheit auch unter den Mitgliedern und Anhängern der beiden Parteien erodiert. Der Kulturkampf, den sich beide Parteien noch in den 1980er Jahren geliefert haben, hat in der heutigen Gesellschaft jedenfalls keine Grundlage mehr (vgl. Kleinert 2004: 31f). Wenn sich seit Ende 2010 trotzdem die politischen Koordinaten wieder in Richtung der traditionellen Lager verschoben haben, dann hat dies vor allem damit zu tun, dass die CDU den Grünen mit der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke den Fehdehandschuh hingeworfen hat. Auch das Ende der schwarz-grünen Koalition in Hamburg hat die Aussichten auf weitere derartige Bündnisse vorläufig gebremst. Joachim Raschke hat die Strategie des Offenlassens von Koalitionsaussagen, die den Grünen mehr „Beweglichkeit“ im Fünfparteiensystem verschafft, als eine Übergangsstrategie charakterisiert, die sich seiner Meinung nach sowieso nur eine Zeitlang aufrechterhalten lässt (Raschke 2010: 116). Als Partei des „linken Lagers“ kämen die Grünen nicht drum herum, diese Strategie wieder durch eine koalitionspolitische Eindeutigkeit zu ersetzen (Raschke 2010: 118). Bisher deutet allerdings wenig darauf hin, dass die Grünen in dieser Hinsicht einen Strategiewechsel vorbereiten. Vorläufig sind Koalitionen mit der CDU zwar unwahrscheinlicher geworden, aber auch nicht ganz ausgeschlossen. Am 07.01.2011 sagte Cem Özdemir auf die Frage, ob Schwarz-Grün tot sei: „Nach dem Ende von Schwarz-Grün in Hamburg besteht kein Anlass, SchwarzGrün grundsätzlich für undenkbar zu erklären, aber die Konstellation ist deutlich unrealistischer geworden durch den Kurs, den Angela Merkel jetzt fährt. Da müsste die CDU schon sehr hohe Hürden überwinden: Sie müsste sich vom jetzigen Atomkurs verabschieden, sie müsste sich Gerechtigkeitsfragen zuwenden und in der Bildungspolitik endlich versuchen, alle Kinder mitzunehmen“ (Özdemir: Westerwelle liebt auf einem andren Planeten, in DIE WELT vom 07.01.2011).
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Lothar Probst
Bündnis 90/Die Grünen: Die neue Volkspartei?
Die Etikettierung der Grünen als neue Volkspartei durch die Medien mutet in einer Zeit, in der dieselben Medien gleichzeitig das Ende der Volksparteien verkünden und Karl-Rudolf Korte mit Blick auf SPD und CDU schon von „Volkspartei-Ruinen“ (Korte 2010: 19) spricht, geradezu paradox an – zumal dieses Etikett zugleich von der skeptischen Frage begleitet wird, ob es sich bei dem Stimmungshoch der Grünen nicht um eine künstliche „Blase“ handele, die bei nächster Gelegenheit genauso schnell platzen könne, wie der elektorale Höhenflug der FDP bei der Bundestagswahl 2009 nach ihrem Regierungseintritt in einem Absturz endete. Diagnosen dieser Art blenden aus, dass sich die gegenwärtigen Umfragewerte für die Grünen in einen stabilen Trend einreihen, der ihnen bereits seit längerem in bestimmten Regionen und Bevölkerungssegmenten Wahlergebnisse um die 20 Prozent und mehr beschert. Obwohl Europawahlen wegen der geringen Wahlbeteiligung eine nachgeordnete Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung spielen, sind sie ein guter Gradmesser für die elektoralen Tabelle 7: Landesergebnisse von Bündnis 90/Die Grünen bei der Europawahl 2009 (in Prozent) Wahl
2009
Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen
15,0 11,5 23,6 8,4 22,1 20,5 15,0 5,5 12,5 12,5 9,5 7,7 6,7 5,4 13,5 5,8
Europawahl insgesamt 12,1 Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis der Angaben des Bundeswahlleiters.
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Stärken der Grünen. Besonders bei diesen Wahlen gelingt es ihnen, ihre gebildete und europapolitisch interessierte Wählerschaft im Unterschied zu allen anderen Parteien optimal zu mobilisieren und in den Stadtstaaten Ergebnisse zwischen 20 und 25 Prozent zu erzielen. Aber auch in Flächenstaaten wie BadenWürttemberg und Hessen liegt der Wählerzuspruch bei 15 Prozent. Das Bild wird nur durch die relativ schwachen Wahlergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern getrübt. Die herausragenden Wahlergebnisse der Grünen in den Stadtstaaten stehen für einen Trend, der bei allen Wahlen zu beobachten ist: Urbane und prosperierende Regionen mit einer starken bevölkerungspolitischen Verdichtung und Durchmischung, mit Universitäten, vielfältigen Bildungseinrichtungen und Kulturzentren sowie einem hohen Anteil der sogenannten Kreativwirtschaft entwickeln sich immer mehr zu Hochburgen der Grünen, in denen bei der Bundestagswahl 2009 bereits Wahlergebnisse bis zu 20 Prozent erreicht wurden. Tabelle 8: Wahlergebnisse von Bündnis 90/Die Grünen in den zehn größten Städten Deutschlands bei der Bundestagswahl 2005 und 2009 (in Prozent) Stadt
Bundestagswahl 2005
Bundestagswahl 2009
13,7 Berlin 14 Bremen 14,9 Hamburg 14,6 München 14,9 Köln 16,6 Frankfurt a. M. 15,0 Stuttgart 9,6 Düsseldorf 9,2 Dortmund 8,3 Essen Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Angaben des Bundeswahlleiters.
17,4 15,4 15,6 17,5 16,9 17,1 20,1 10,7 12,4 10,3
In Universitätsstädten wie Freiburg, Tübingen und Konstanz stellen sie den Bürgermeister, und in Stuttgart verpasste Cem Özdemir bei der letzten Bundestagswahl mit 29,9 Prozent der Erststimmen nur knapp das Direktmandat. Auch in anderen Städten lagen die Erststimmenergebnisse grüner Bundestagskandidaten 2009 zum Teil bereits deutlich über 20 Prozent.
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Tabelle 9: Wahlergebnisse von grünen Bürgermeisterkandidaten in Städten über 50.000 Einwohner (in Prozent) Stadt
Bürgermeister
Einwohnerzahl
Wahljahr
Wahlergebnis
Michael Korwisi 39,3 51.877 2009 (Oberbürgermeister) 59,5 Stichwahl Tübingen Boris Palmer 87.788 2006 50,4 (Oberbürgermeister) Freiburg Dieter Salomon 221.924 2010 50,5 im Breisgau (Oberbürgermeister) Konstanz Horst Frank 34,0 in der 1. Wahl 83.644 2004 (Oberbürgermeister) 38,6 Neuwahl Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Angaben der Landeswahlleiter Baden-Württembergs und Hessens. Bad Homburg
Tabelle 10: Ausgewählte Erststimmenergebnisse von grünen Bundestagskandidaten und -kandidatinnen bei der Bundestagswahl 2005 und 2009 (in Prozent) Kandidat/in
Erststimmenergebnis bei der Bundestagswahl 2005
Hans Christian Ströbele 43,2 Wahlkreis Berlin – Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg-Ost Cem Özdemir Wahlkreis Stuttgart 1 Renate Künast 21,0 Wahlkreis Berlin-Tempelhof – Schöneberg Krista Sager Wahlkreis Hamburg-Eimsbüttel Kerstin Andreae 10,8 Wahlkreis Freiburg Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Angaben des Bundeswahlleiters.
Erststimmenergebnis bei der Bundestagswahl 2009 46,8 29,9 26,3 25,9 21,8
Aber selbst in vielen kleineren und mittleren Städten der bundesdeutschen Flächenstaaten zeigen die Wahlergebnisse für die Grünen inzwischen Ausschläge zwischen 10 und 20 Prozent. Die Auswertung der Bundestagswahl 2009 durch die Forschungsgruppe Wahlen (vgl. Jung u.a. 2009) zeigt des Weiteren, dass die Wahlergebnisse bei Frauen, gebildeten und gut verdienenden Wählern sowie in jüngeren Alterskohorten überdurchschnittlich sind. Der Anteil bei den Wählerinnen betrug bei der Bundestagswahl 2009 13 Prozent und lag damit deutlich über
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dem Anteil der männlichen Wähler von 9 Prozent. Bei den unter 30-Jährigen Frauen fiel das Wahlergebnis mit 18 Prozent noch besser aus. Unter Hochschulabsolventen und Wählern mit Hochschulreife konnten die Grünen einen Wähleranteil von 18 Prozent bzw. 16 Prozent, bei Auszubildenden und Studierenden von 19 Prozent verbuchen. Bei den 18- bis 45-Jährigen schließlich lag das durchschnittliche Wahlergebnis bei der letzten Bundestagswahl bei ca. 14 Prozent. Die von der Parteien- und Wahlforschung noch vor einigen Jahren vertretene These vom „Ergrauen der Grünen“ (vgl. Klein/Arzheimer 1997) und von einer nachlassenden elektoralen Unterstützung durch jüngere Wählern hat sich also nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Das „Ergrauen“ hat unter den grünen Wählern noch gar nicht richtig eingesetzt. Gerade das unterdurchschnittliche Abschneiden mit 6,0 Prozent bei den über 60-Jährigen, die aufgrund der demografischen Entwicklung in Zukunft einen immer größeren Teil der Wählerschaft stellen werden und darüber hinaus häufiger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen als jüngere Alterskohorten, drückt die Grünen bisher bei Wahlen noch nach unten. Da aber ein Teil der grünen Wählerschaft langsam in die Altersgruppe der über 60-Jährigen aufrückt, werden sich die Wahlergebnisse hier zukünftig eher verbessern. Alles in allem haben sich die Grünen über 30 Jahre fest in verschiedenen Milieus und Bevölkerungssegmenten verankern und ihre elektorale Basis erweitern können. Sie sind schon lange keine ökologische Nischenpartei mehr, sondern inzwischen tief in das bürgerliche Milieu vorgedrungen (vgl. Haas 2006). Von einer klassischen Volkspartei, die alle Schichten der Bevölkerung anspricht und repräsentiert, sind sie jedoch noch weit entfernt. Ihre Kernwähler bei der Bundestagswahl 2009 rekrutierten sich aus Beamten (15 Prozent), Angestellten (14 Prozent) und zunehmend auch Selbstständigen (14 Prozent), die überwiegend aus dem Bereich der sogenannten kreativen Berufe und der Humandienstleistungen kommen, während Arbeiter (7 Prozent) deutlich unterrepräsentiert sind (Jung u.a. 2009: 18). Ein Manko ist auch die elektorale Schwäche der Grünen in den ostdeutschen Bundesländern, in denen sie bei der Bundestagswahl 2009 ein durchschnittliches Wahlergebnis von 6,8 Prozent erzielten (Jung etc. 2009: 15). Gleichwohl signalisieren dieses Ergebnis und die Tatsache, dass die Grünen bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg 2009 die Fünfprozenthürde nehmen konnten, im Vergleich zu früheren Zeiten einen deutlichen Aufwärtstrend in Ostdeutschland. Da der Typus der klassischen Volkspartei, die sich auf historisch gewachsene gesellschaftliche Milieus stützt, angesichts der Erosion dieser Milieus immer stärker unter Druck gerät und an Substanz verliert, könnte man die Grünen angesichts der Konzentration ihrer Wählerschaft in der Mitte der Gesellschaft mit etwas Wohlwollen als „Volkspartei der modernen Mitte“ bezeichnen. Die Grünen selber weisen das Etikett „Volkspartei“ zwar zurück, aber dennoch hört man
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von ihren Spitzenakteuren neue Töne, die den Abschied von einer rein ökologischen Klientelpartei ankündigen. Renate Künast beschrieb in einem Interview den Standort der Grünen folgendermaßen: „Dass wir die linke Mitte sind, heißt nicht, dass wir allein die kurzfristigen Interessen der Mitte vertreten. Sondern uns geht’s ums Ganze, wir machen Politik fürs ganze Land.“ (Künast: DIE WELT vom 24.06.2010). Auch der Vorsitzende der grün-nahen Heinrich Böll Stiftung, Ralf Fücks, machte keinen Hehl aus den zukünftigen Ambitionen der Grünen, als er in einem Streitgespräch mit dem Vorsitzenden der Friederich Naumann Stiftung, Wolfgang Gerhard, sagte: „Sie [die Grünen, d.V.] definieren sich über ihre politischen Projekte, nicht über Koalitionen. Die Grünen sind heute eine eigenständige politische Strömung, die sich von der Sozialdemokratie ebenso unterscheidet wie von den Christdemokraten und dem Liberalismus Marke FDP. So können sie gelassen koalitionspolitische Optionen prüfen – was nicht heißt, das alles geht“ (Fücks: Jamaika ist 2013 keine Option, in welt.de vom 26.09.10).
Hinter solchen Äußerungen verbirgt sich nicht nur das gewachsene Selbstbewusstsein der Grünen, sondern auch die angestrebte Öffnung für neue Wählerschichten. Ob es mit dieser Strategie gelingt, Wählerinnen und Wähler von den anderen Parteien an sich zu binden, werden jedoch erst die Landtagswahlen 2011 zeigen. Literatur Blühdorn, Ingolfur (2009): Reinventing Green Politics: On the Strategic Repositioning of the German Green Party. In: German Politics, 1, S. 36-55. Bündnis 90/Die Grünen (2005): Bundestagswahlprogramm „Eines für Alle. Das grüne Wahlprogramm 2005“. http://www.gruene-partei.de/cms/default/dokbin/141/141550. wahlprogramm_ 2005.pdf (Zugriff am 21.12.2010). Bündnis 90/Die Grünen (2006): Beschluss der 26. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz: „Für einen radikalen Realismus in der Ökologiepolitik“. http://www.gruenepartei.de/cms/default/dokbin/159/159557.fuer_einen_radikalen_realismus_in_der_ oe.pdf (Zugriff am 21.12.2010). Bündnis 90/Die Grünen (2008): Beschluss der 28. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz: Die Krise bewältigen – für einen Green New Deal! http://www.gruene-partei.de/ cms/default/dokbin/258/258004.gruener _new_ deal.pdf (Zugriff am 21.12. 2010). Bündnis 90/Die Grünen (2009): Bundestagswahlprogramm „Der grüne neue Gesellschaftsvertrag: Klima, Arbeit, Gerechtigkeit, Freiheit“. http://www.gruene-partei. de/cms/files/dokbin/295/295495.wahlprogramm_ komplett_2009.pdf (Zugriff am 21.12.2010).
Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur „Volkspartei“?
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„Quo vadis? Wie die LINKE versucht, sich als Partei und für sich eine Position im Parteiensystem zu finden.“ Interne Konsolidierungsprozesse und Orientierungssuche im Fünf-Parteien-System „Quo vadis?
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Vorbemerkung
Zwei Ereignisse und die durch sie ausgelösten Prozesse wirkten sich nach der Bundestagswahl 2009 unmittelbar auf die Partei Die LINKE aus: Der Ausgang der Bundestagswahl kostete sie ihre bis dato bequeme Position in der Opposition und veränderte zugleich die Koordinaten ihres Beziehungssystems zu ihren unmittelbaren Konkurrenten, insbesondere zur SPD. Der unerwartete Wechsel im Vorsitz von Partei und Fraktion legte ihre inneren Probleme bloß: den Nachfolgern fehlte die für das Niederhalten parteiinterner Kämpfe notwendige Autorität des Vorgängers sowie dessen mediale Wirkungsmächtigkeit. Die Strömungen setzten ihre Querelen auch außerhalb der Programmdebatte fort und deren geplanter Ablauf versprach keine Befriedung vor Ende 2011. Zudem verlor die LINKE seit Ende 2009 trotz ihrer massiven Kritik an den Entscheidungen der Bundesregierung in Umfragen an Zuspruch, während ihre Wettbewerber in der Opposition, vor allem die Bündnisgrünen, zulegten. Die Partei konnte sich nicht mehr sicher sein, dass die alten Erfolgsbedingungen Bestand haben würden und sie sich deshalb aus einer fragilen Situation heraus neu orientieren müsste. In diesem Beitrag werden einige Entwicklungen skizziert und unter der Fragestellung analysiert, was sie einerseits für die Position der LINKEN im Parteienwettbewerb und andererseits für ihre innere Verfasstheit bedeuten. Das Interesse wird auf Indikatoren fokussiert, die Veränderungen bisheriger Positionen signalisieren. Die LINKE wird dabei sowohl auf der Ebene des Parteiensystems als auch auf der Parteiebene selbst betrachtet. Beide Ebenen lassen sich nicht immer genau trennen, denn beispielsweise sind die Beziehungen zwischen der LINKEN und der SPD sowie den Bündnisgrünen zugleich Gegenstand interner Kontroversen, aus denen Rückschlüsse über Voraussetzungen und Bedingungen der Regierungsbeteiligung – zumindest theoretisch – erkennbar werden. O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Ausgangslage der LINKEN
2.1 Organisationsentwicklung und Wahlgeschichte DIE LINKE konnte seit ihrer Gründung ihre Position gegenüber den konkurrierenden Parteien im Parteienwettbewerb schnell ausbauen, so dass trotz einiger Verluste in 2010 die Existenz der Partei im Bund und in den meisten Ländern auf absehbare Zeit gesichert und eine stabile Basis für die weitere Entwicklung vorhanden ist. Zwar verliert sie an Mitgliedern im Osten und in manchen Landesverbänden im Westen, allein im Saarland rund 1100 von 2009 (3610) auf 2010, aber der Landesverband in NRW hat mit 8.852 Mitglieder (Stand Dezember 2010), eine Stärke erreicht, die ihn nach Sachsen (11729) und Berlin (8919) auf den dritten Platz bringt. In den östlichen Landesverbänden gleichen die Eintritte den Verlust durch Abgänge nicht aus, in den westlichen sind Verluste oft die Folge von Karteibereinigungen. Tabelle 1: Mitgliederentwicklung der Partei Die Linke 2007-2009 Bundesgebiet
Stand 31.12.2007
Stand 31.12.2008
Stand 31.12.2009
Gesamt 71.711 75.968 78.046 Quelle: http://die-linke.de/partei/fakten/mitgliederzahlen_dezember_2010/
Stand 31.12.2010 75.462
Die im April 2010 gemeldete Zahl von „78.700 Mitgliedern“, darunter 25.428 Neueintritte seit 2007 – rund 20.00 im Westen und 5.000 im Osten1 – hat da wohl nur einen Zwischenhoch bedeutet. Schüler, Studenten und junge Frauen, diese aus Mangel an Zeit und wegen der innerparteilichen Umgangsformen2, lassen sich nicht in gewünschtem Maße zum Beitritt bewegen. Es kann bezweifelt werden, dass alle diese Mitglieder Beiträge zahlen und für Wahlkämpfe und Aktionen mobilisierbar sind3.
1 http://news.die linke.de/nc/presse/presseerklaerungen/detail/zurueck/presseerklaerungen/artikel/dielinke-ist-partei-der-einheit/, 16.04.2010. 2 So G. Lötzsch „Erwartungen der Partei an die Bundestagsfraktion“, Rede auf der Herbstklausur der Bundestagsfraktion in Bad Saarow, http://die-linke.de/nc/die_linke/nachrichten/detail/artikel/erwar tungen-der-partei-an-die-bundestagsfraktion/18. September 2010. 3 Die Mitgliederzahlen in den westlichen Landesverbänden gelten als ungenau. Ca. 30% der dortigen Mitglieder sollen keine Beiträge bezahlen. Vgl. E. Bartelmus-Scholch, Krise und Bilanz der Linkspartei zweieinhalb Jahre nach der Parteienfusion, http://www.scharf-links.de/90.0.html?&tx_ ttnews[tt_news]=8270&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=d58d4fd37d, 14.1.2010. Vgl. zur Aktivitätsbereitschaft eine Analyse aus Bremen unter http://www.dielinke-bremen.de/fileadmin/user_upload/ partei/Wie_viel_Struktur_braucht_die_Partei-1.pdf, 14.2.2010.
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Die westdeutschen Landesverbände verbesserten ihre Möglichkeiten, politisch zu arbeiten, bauten ihre Organisationsstrukturen aus und bemühten und bemühen sich, ihre gesellschaftliche Verankerung durch Kontakte zu den DGBGewerkschaften und neuen sozialen Bewegungen zu stärken, um ihre Position als die Partei „der alternativen sozialdemokratischen Richtung“ (Fühlbert 2008: 138) weiter auszubauen. Dabei trifft sie auf Versuche der SPD, die bei den DGBGewerkschaften, die sich weder der einen noch der anderen Partei verpflichten wollen, verlorenen Boden wieder gut machen möchte. Die politische Arbeit wird von der Landtagsfraktion geleistet. Fehlt sie, mangelt es manchen Landesverbänden an Stabilität, in anderen ist dieser Mangel Resultat von Konflikten zwischen Teilen der Basis und der Führung; Bayern und Rheinland-Pfalz sind dafür Beispiele4. Probleme in den Beziehungen zwischen Fraktion und Partei, Querelen um Personen zwischen Strömungen, vor allem bei Kandidatennominierungen vor Partei- und anderen Wahlen, sowie Differenzen zwischen Landes- und Bundesebene wirkten und wirken irritierend5. Obwohl die Landesverbände auf ihrer Autonomie bestehen, versucht die Parteiführung in Berlin, Einfluss auf Geschehnisse in den Landesvorständen und –verbänden auszuüben. Dabei hat sie gelegentlich Erfolge, doch kann nicht von einer durchgängigen Folgebereitschaft gesprochen werden. Seit 2007 ist die LINKE in 13 Landtagen mit Fraktionen vertreten. In Berlin und in Brandenburg regiert sie mit der SPD. In Bayern scheiterte sie 2008. 2006 erzielte die Wahlallianz WASG/LP.PDS in Baden-Württemberg 3,1 und in Rheinland-Pfalz 2,5 Prozent. Bei der Europawahl 2009, die LINKE hatte zuvor einen streiterfüllten und demobilisierenden Wahlparteitag abgehalten, erreichte sie 7,5 Prozent (8 Mandate). Nicht dieses magere Ergebnis, sondern die der westdeutschen Landtagswahlen, Bayern ausgenommen, galten als ermutigender Vorlauf für die Bundestagswahl 2009, bei der die LINKE einen Zweitstimmenanteil von 11,9 Prozent – im „Wahlgebiet West“ 8,3, im „Wahlgebiet Ost“ 29,1 Prozent sowie 16 Direktmandate erzielte. Das Ergebnis der linken Wahlallianz von 2005 wurde um 3,2 PP – West plus 3,4, Ost plus 3,2, verbessert und die Zahl ihrer Abgeordneten im Deutschen Bundestag stieg von 54 auf 76 an6. 4 In Rheinland-Pfalz veränderten im Juni 2010 die Delegierten die Kandidatenliste zur LTW 2011. Daraufhin trat der Landessprecher MdB A. Ulrich mit der Begründung zurück, der LV sei politikunfähig und für die LTW schlecht aufgestellt. Vgl. Linke-Landeschef Alexander Ulrich zurückgetreten, in: Handelsblatt, 27.06.2010. Seine Mitarbeiterin im BT wurde zu seiner Nachfolgerin gewählt. 5 Vgl. dazu beispielhaft die Geschehnisse im LV Bremen im Sommer 2010: http://www.dielinkebremen.de/partei/parteitage/ao_landesparteitag_200610/bericht/ 2.12.2010. 6 Die Wahlergebnisse nach http://www.wahlrecht.de/news/2009/19.htm#zahlen, 11.11.2010; die West- und Ostzahlen nach FGW, Bundestagswahl. Eine Analyse der Wahl vom 27. September 2009, Berichte der Forschungsgruppe Wahlen e.V., Mannheim, Nr. 138, S. 77 u. 79.
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Tabelle 2: Landtagswahlergebnisse der LINKEN 2007 bis 2010 (in %) LAND Bremen Hessen Niedersachsen Hamburg Bayern Hessen Saarland Sachsen Thüringen Schleswig-Holstein Brandenburg Nordrhein-Westfalen Amtl. Ergebnisse
JAHR 2007 2008 2008 2008 2008 2009 2009 2009 2009 2009 2009 2010
ERGEBNIS 8,4 5,1 7,1 6,4 4,3 5,4 21,3 20,6 27,4 6,0 27,2 5,4
Dieses Ergebnis wurde als Erfolg über die SPD definiert, denn rund 1,1 Millionen SPD-Wähler des Jahres 2005 wechselten 2009 zur Linken; die verlor 20.000 Wähler an die FDP (sic!) und immerhin 330.000 an das Nichtwählerlager7. Damit verstetigte sich ein Trend des Jahres 2005, als die Linkspartei.PDS ihren größten Gewinn durch die Mobilisierung ehemaliger SPD-Wähler (970.000) erzielt hatte8. Das Wahlergebnis schien die These zu bestätigen, dass, anders als die PDS zuvor, die neue Partei das durch den „Gang der SPD in die Mitte“ verursachte Vakuum im linken Teil des Wählerlagers würden besetzen können. Sie hatte erfolgreich ehemalige SPD-Wähler für sich gewonnen und galt nun als die Partei, die für soziale Gerechtigkeit steht und für traditionelle sozialdemokratische Sozialstaatspolitik eintritt. Ihre Zukunft wollte sie durch das Beharren auf diesen Erfolgsbedingungen sichern. Da sie Entscheidungen früherer Bundesregierungen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie das militärische Engagement der Bundesrepublik in Afghanistan abgelehnt hatte und sich dabei in Übereinstimmung mit einer Mehrheit sah, glaubte sie auch, die anderen von ihr so genannten neoliberalen Parteien vor sich hertreiben zu können und nicht über Optionen für Koalitionen im nun etablierten Fünf-Parteien-System – und ebenso wenig über 7
http://wahlarchivomtagesschau.de/wahlen/2009-09-27-BT-DE/analyse-wanderung.shtml, 11.11. 2010. Die Linke gewann zudem rund 140.00 ehemalige grüne und 40.000 ehemalige CDU-Wähler hinzu. 2005 hatte die SPD bereits 970.000 ehemalige Wähler an die linke Wahlallianz verloren. Infratest dimap, ARD Wahlberichterstattung, zitiert nach 2005 Kampa im WBH, Bundestagswahl 2005, 18. September 2005, S. 12. 8 Ebenda, S. 16. Sie hatte 2005 jedoch aus dem Nichtwählerlager 430.000 Stimmen gewonnen.
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weitere politische Themen – nachdenken müsse. Sie vergaß, dass nicht der Treiber, sondern der Jäger das Wild zur Strecke bringt, freute sich über die Niederlage der SPD (Gysi 2009) und konnte hoffen, nun das Stadium einer „temporären Flugsandpartei“ (Fülberth 2008:144)9 überwunden zu haben.
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Der Ort der LINKEN – irgendwo
Das Ausscheiden der SPD aus der Bundesregierung wirkte sich auf die Position der LINKEN im Parteiensystem aus, denn während sie sich bis zum September 2009 aus der Opposition heraus mit Kritik an der SPD als Regierungspartei profilieren konnte, war sie nun durch die neue Konstellation zu einer veränderten Haltung gegenüber ihrer wichtigsten Konkurrentin gezwungen. Dass sich ihr diese Herausforderung nicht gleich erschloss, beruhte darauf, dass sie meinte, dass nicht die SPD, sondern Hartz IV, die Rente mit 67, Afghanistan und anderes die Themen der LINKEN wären10. Das Signal der SPD, über mögliche Korrekturen an Entscheidungen ihrer Regierungspolitik nachdenken zu wollen, wurde nicht auch als Botschaft an die LINKE verstanden. So ignorierte sie weitgehend, dass mit der Verbannung der SPD in die Opposition sich ihre Operationsbedingungen gravierend verändert hatten. Bodo Ramelow und André Brie wiesen ihre Partei darauf hin, dass die LINKE ihre Blockadehaltung gegenüber der SPD sowie bestimmte Positionen in der Außen- und Sicherheitspolitik überdenken und vermeiden sollte, mit der SPD in einen „Überbietungswettbewerb“ einzutreten. Die LINKE müsse „ein modernes demokratisches und sozialistisches Profil“ entwickeln, denn „nur damit kann sie sich von der SPD unterscheiden.“(Brie: 2010) Gelinge das nicht, laufe sie in Gefahr, „die Partei zu einer Eintagsfliege zu machen.“(Ebenda) Die Kompliziertheit der Beziehungen zwischen SPD und LINKE, wie zuvor zwischen PDS und SPD, verstärkt durch Vorbehalte zwischen Personen, die unterschiedlichen Interpretationen der jeweiligen Ambitionen, die hessischen Begebenheiten 2008 und 2009 und anderes zeigten ihre Wirkung. Als die SPD im Mai 2010 zusammen mit den Bündnisgrünen versuchte, die LINKE zu überzeugen, den von ihnen nominierten Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten zu wählen, scheiterte sie. Die LINKE konnte und wollte nicht mitziehen. Nach der Wahl in NRW im Mai 2010 hatte die SPD theoretisch eine breite Auswahl an Koalitionsmöglichkeiten. Oskar Lafontaine bot die LINKE (Hengst 9 Fülberth meint damit, dass sich bei der Partei die versammeln, die die Gegenwart mit einer „teilweise bessere(n) Vergangenheit vergleichen können“. 10 Diese These vertrat O. Lafontaine noch im Oktober 2010. Vgl. Financial Time Deutschland vom 20.10.2010, „Lafontaine umwirbt Berliner Grüne“.
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2010b)11an. In Vorgesprächen wurden jedoch nicht die Gemeinsamkeiten in der Bildungspolitik thematisiert, sondern die Systemfrage („Wie hältst Du es mit der DDR?“) gestellt. Die Antwort half der SPD; sie wollte sich nicht auf mehr einlassen (Neugebauer 2010:12). Auf dem Parteitag in Rostock warf Gysi den anderen Bundestagsparteien vor, sich nicht mit den Inhalten der LINKEN zu befassen und sie faktisch ausgrenzen zu wollen. In Fragen der Regierungsbeteiligung sah er die LINKE in einem „strategischen Dilemma“ und der Gefahr ausgesetzt, sich opportunistisch gegen oder für eine Regierungsbeteiligung zu entscheiden (Gysi 2010a). Ostdeutsche Fraktionsvorsitzende machten jedoch klar, dass dieses Problem für sie so nicht bestand. Nach ihrer im Juni 2010 veröffentlichten „Magdeburger Erklärung“ ginge es bei den ostdeutschen Landtagswahlen 2011 „um nicht weniger als die Eröffnung neuer demokratischer, sozialer und ökologischer Perspektiven für die Menschen“, weshalb die LINKE „linke Mehrheiten schaffen und auch führen wolle“12. Das demonstrierte eine Differenz zu westdeutschen Landesverbänden, die sich schnell auf ihre Gegnerschaft zur SPD und zu den Bündnisgrünen einigen können, aber nicht befürchten, in bestimmten Konstellationen wie beispielsweise 1998 und 2002 nicht für Mehrheiten gebraucht zu werden. Diese Perspektive deutete sich seit Ende 2009 wieder an, nachdem die LINKE in den Umfragen nach kurzem Aufschwung unter ihr Wahlergebnis (11,9%) abrutschte und dort blieb13. Der stetige Aufschwung der Grünen nährte die Befürchtung, dass die Partei 2013 möglicherweise nicht für eine rot-grün-rote Koalition gebraucht werden würde und daher eine erneute Platzierung der LINKEN am Spielrand anstatt in der Regierungsmannschaft, für manche aus der ehemaligen PDS seit fast zwanzig Jahren ein Ort der Sehnsucht, drohen würde. Die LINKE musste sie sich der Situation stellen. Sie tat es bezüglich ihrer Haltung zu politischen Kooperationen in der bekannten ambivalenten, nichts ausschließenden Weise. So erklärte G. Lötzsch, dass „SPD und Grüne, wenn sie auf uns angewiesen sind, eine unglaubliche Kooperationsbereitschaft an den Tag legen und alle Unvereinbarkeitsschwüre brechen. Der 11
„Wir sind jederzeit zu einer Regierungsbeteiligung bereit….Es gibt auf Länderebene große inhaltliche Gemeinsamkeiten … etwa in der Schulpolitik oder bei der Frage der Studiengebühren.“ Auf dem Rostocker Parteitag sagte er: „Wir sind bereit, mitzumachen, … wenn der Sozialabbau in Deutschland verbindlich im Bundesrat gestoppt wird.“ http://die-linke.de/partei/organe/parteitage/ 2_parteitag/reden/, 22.01.2011. 12 „Der Osten braucht den Wechsel“, in http://www.die-linke.de/index.php?id=55&tx_ttnews [tt_news]=12453&tx_ttnews[backPid]=9&no_cache=1, 16.06.2010. 13 FGW: LINKE in der politischen Stimmung: 30.10.2009 = 12 %, in der Projektion: 13%., 3.12.2010: 6% und 9%. www.wahlrecht.de/umfragen/politbarometer.htm. Infratest dimap: LINKE in der Sonntagsfrage: 16.10.2009: 13%, 2.12.2010: 10%. www.wahlrecht.de/umfragen/dimap.htm. 5.12.2010.
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Umkehrschluss muss uns aber auch bewusst sein: Wenn SPD und Grüne nicht auf uns angewiesen sind, werden sie uns immer links liegen lassen. Das ist auch aus ihrer Sicht strategisch zwingend. Sie wollen zusammen die Bundesregierung ablösen und setzen alles daran, dass ihnen das ohne DIE LINKE gelingt. Deshalb halte ich es auch nicht für sinnvoll, SPD und Grüne mit Angeboten zu überhäufen, wenn wir wissen, dass sie auf unsere Angebote nicht angewiesen sind.“ (Lötzsch 2010a).
Ende Oktober 2010 konnte sich Oskar Lafontaine eine grün-schwarze Mehrheit im Land Berlin vorstellen (Financial Times Deutschland 2010). Doch zwei Wochen später beschimpfte er auf dem Programmkonvent in Hannover die Bündnisgrünen als „Kriegspartei“, als „Partei der Besserverdiener“, die die „ökologische Frage von der sozialen Frage“ abkopple, deren Ökologiepolitik dazu führe, „…, dass nur die Wohlhabenden sich Autos und Fernreisen leisten können“ und deren Konzepte von Green Economy und New Green Deal eine „Mogelpackung“14 sei (Lafontaine 2010a). Auch auf die SPD wird weiter durchaus zwiespältig geblickt. Gysi wirft ihr einerseits Arroganz vor (Gysi 2010c), schließt aber eine Kooperation nicht aus. Klaus Ernst sieht einerseits „keinen Grund, SPD und Grünen heute ihre politische Verantwortung für gesellschaftliche Fehlentwicklungen abzunehmen“, will ihnen aber andererseits nicht „grundsätzlich die Glaubwürdigkeit ihrer politischen Erkenntnisse und Einsichten absprechen“ (Ernst 2010). Eine Chance wolle ihr die LINKE erst dann geben, wenn sie ihre „Vergangenheit aufgearbeitet“ habe. Trotzdem rede die LINKE mit den Sozialdemokraten, „die vieles genauso sehen wie wir“; nur hätten leider die „Hardliner das Sagen.“ Doch:“Selbstverständlich wollen wir regieren.“(Ebenda) Da finde man sich durch. Zweifel daran, dass die möglichen Partner nicht bereit sein könnten, sich auf Politik-Konzepte einzulassen, die auch auf Elementen gewerkschaftlicher Kritik an der Politik der Regierungspartei SPD unter Brandt und Schmidt beruhen (Falkner 2009), hat er wohl nicht. Insofern ist es kontraproduktiv, die Wettbewerber auf der einen Seite abzuqualifizieren und andererseits Bereitschaft zu zeigen, doch über Koalitionen nachzudenken. Wenn dann doch Angebote abgegeben werden, dann nur unter Vorbehalt: „Auch eine Zusammenarbeit in Sachfragen mit SPD und Grünen ist sinnvoll, wenn dies ohne Aufgabe unserer Positionen möglich ist.“ (Lötzsch/Ernst/Gysi 2010). Die LINKE, deren erste Adresse ohnehin Gewerkschaften und neue soziale Bewegungen sind, will auf SPD und Grüne Druck ausüben, bis sie sich von der „Agenda-Politik“ verabschiedet haben, will mit ihnen inhaltliche Auseinandersetzungen führen, jedoch eigene „Kernpositionen“ bewahren und „zum Motor“ werden; das klingt nach Avantgarde. Was würde die LINKE machen, wenn SPD und Grüne vorschlagen 14 „Und …dieses Konzept der Green Economy oder New Green Deal, …ist ja schon interessant, dass man Anglizismen bemühen muss –, das ist ein Placebo, das ist eine Mogelpackung.“
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würden, als Alternative zu Hartz IV ein bedingungsloses Grundeinkommen durchzusetzen und mit der Rente mit 67 das Konzept „Rente mit 70“ zu verhindern? Weicht sie dem Druck nach links – wie weit dann – aus? Selbst wenn die Ursachen der Spannungen zwischen der SPD und der LINKEN, in denen noch die aus den Beziehungen zwischen PDS und SPD nachwirken (Falkner 2009), ausgeblendet werden, werden die Hürden deutlich, die zu überwinden wären, denn auch in der SPD – das haben Hessen und NRW sowie die Reaktionen auf die Gauck-Kampagne gezeigt – und bei den Bündnisgrünen gibt es erhebliches Konfliktpotential und nicht immer Gewissheit, ob das Handeln anderer beeinflusst werden kann. So drängt sich der Eindruck auf, dass die Herausforderungen des Fünf-Parteien-System von den potentiellen Partnern bislang auf die arithmetische Dimension reduziert und inhaltliche wie kulturelle Fragen sowie die Mentalitäten der Parteimitglieder ausgeblendet worden sind. Kein Wunder, wenn Sehnsüchte nach traditionellen Konstellationen blühen und die LINKE, obwohl sie den Status der Protestpartei gern los werden möchte, doch als solche nicht nur wahrgenommen wird, sondern auch bewusst so posiert (Wahlstrategie 2011).
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Die innere Verfasstheit der LINKEN
4.1 Die Partei hat ein Führungsproblem, das ihre Aktionsfähigkeit beeinträchtigt. Die Ankündigung Oskar Lafontaines, die Ämter des Fraktions- wie des Parteivorsitzenden abzugeben, führte zu einer kritischen Situation. Die spitzte sich durch den Konflikt zwischen Oskar Lafontaine und dem Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch noch zu. Gregor Gysi setzte eine Lösung durch, die einen Parteibeschluss – keine Doppelspitze mehr nach 2010 – umwarf, das Verlangen nach einem Mitgliederentscheid provozierte und Debatten zwischen den Strömungen, von denen keine einen Kandidaten präsentieren konnte, um ihre in Personalfragen dokumentierte geringe Relevanz, auslösten; beides wirkte nachhaltig (Scharenberg 2010). Der Mitgliederentscheid und der Rostocker Parteitag im Mai 2010 segneten die Entscheidungen ab. Unterschiedliche, vordergründig weniger politisch, sondern eher habituell und moralisch begründete Vorbehalte gegen den einen Vorsitzenden (Ritzer 2010, Bielicki 2010)15 sowie mangelnde Entscheidungsbereitschaft und wenig sichtbare Anstrengungen zur Positionsbestimmung der Partei führten zu Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Führung. 15
Die juristisch relevanten Vorwürfe erwiesen sich als nicht justitiabel.
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Lafontaine hatte als personifiziertes strategisches Zentrum polarisierend und zugleich einigend gewirkt, Bündnisse abgeschlossen, wenn die für ihn in der jeweiligen Situation nützlich waren, und einen autoritären Stil gepflegt (Neugebauer 2009:249), weshalb parteiinterne Kritik an seinem Führungsstil weitgehend wirkungslos blieb (Hengst 2010a). Die neue Führung hat nicht die Voraussetzungen dazu, sich ähnlich zu etablieren. Sie kann es zum einen deshalb nicht, weil der ehemalige Vorsitzende trotz seiner räumlichen Ferne entweder durch direkte Kontakte mit Mitgliedern in der Parteispitze oder über die Medien präsent ist und der Partei dabei mitteilt, was er von diesen oder jenen Personen, Beschlüssen oder Positionen hält (vgl. Rademaker 2010). Zum anderen ist sie sich nicht einig genug über die Richtung, in die die Partei gehen, nicht einig im Verständnis darüber, wie die Partei geführt werden und nicht einig darin, dass die Parteiführung gegenüber den kleinen Königreichen in Partei und Fraktion ihre Richtlinienkompetenz durchsetzen sollte, um das Nebeneinander von Positionen zu unterbinden. Ein Ausweg aus diesem Dilemma, die Parteileitung ist nicht die Parteiführung und die Parteiführung ist zugleich mehr als die gewählte Führung, muss schon deshalb gefunden werden, weil eine solche Konstellation zu Blockaden führen kann, wenn extern oder nebenbei geführte Diskussionen und getroffene Entscheidungen das Entscheidungshandeln in der Führung beeinflussen und das Nebeneinander von institutionellen formalen und informellen Kommunikationslinien und Entscheidungsstrukturen die Festlegung von Verantwortlichkeiten verhindert. 4.2 Wer – wen? Die Bundestagsfraktion als politische Führungsinstanz der LINKEN Die parlamentarische Geschichte der PDS als auch die der LINKEN seit der Bildung der Wahlallianz 2005 zeigt eine Tendenz, die Robert Michels als typisch für sozialistische Parteien beschrieben hat: die Entwicklung zur Fraktionspartei. Unabhängig von Faktoren wie dem Zugang zu Mitteln, Ressourcen, Informationen und Medien sowie der Aufmerksamkeit, die Parteien im Parlament in den Medien und damit in der Öffentlichkeit genießen, kann ein Abgeordneter sich leicht der Parteidisziplin entziehen, Parteibeschlüsse negieren und die Parteiorganisation zu Dienstleistungen nutzen. Um das Risiko zu mindern, der Gunst der Partei bei der nächsten Nominierung verlustig zu gehen, lassen sie sich selbst oder ihre Vertrauten in Positionen auf der regionalen Ebene wählen16.
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So zuletzt im Landesverband Bayern. Vgl. U. Ritzer „Linkes Chaos“, in: SZ, 13.12.2010.
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Unter der Führung von Oskar Lafontaine war die Fraktion seit 2005 zum politischen Zentrum ausgebaut worden Ihre Arbeit sollte für Politik und Programm der Partei Richtung gebend sein und den Fortgang der Fusion demonstrieren. Dieses avantgardistische Verständnis prägt bis heute den Geist der Fraktion und das Handeln mancher Mandatsträger. Die Fraktionsmitglieder haben voneinander verschiedene politische Biographien, Profile und sind von unterschiedlicher Professionalität (Reinicke/Schulz 2010). Ihren Führungsanspruch dokumentierte die Fraktion Anfang Oktober 2009 mit einem 10-Punkte-Sofortprogramm, dessen Schwerpunkte ihre Arbeit bestimmen sollten17. Was davon in den Bundestag gelangte und dort in Initiativen, Anfragen, Erklärungen und Anträgen umgesetzt wurde, erregte wenig öffentliches Interesse; das taten primär die Querelen um einen der Vorsitzenden (Berg 2010). Anfang September 2010 tagte die Fraktion wieder in Klausur. Als Grund für das mangelnde Interesse an der Arbeit der LINKEN wurden getreu dem Motto: „Ist mir doch egal, wenn ich friere, warum kauft mir meine Mutter keine Handschuhe!“ die Medien verantwortlich gemacht. Eine Gutachterin hatte eine Expertise erstellt, wie die Fraktionsarbeit effektiver gestaltet werden könne; darüber wurde nicht entschieden. Die Vorsitzende Lötzsch formulierte „Erwartungen der Partei an die Bundestagsfraktion“ (Lötzsch 2010a). Sie beklagte quasi, dass die Fraktion wie ein Quader auf die Partei liege und die Hoheit über deren politische Strategie und Politik beanspruche. Als „Superschwergewicht“ der Partei solle sie nicht arrogant gegenüber ehrenamtlichen Funktionären auftreten, diese ihre Macht spüren und den Eindruck aufkommen lassen, dass sie alle Probleme lösen könne und die Funktionäre nur die von der Fraktion vorgegebene Strategie der Partei zu erklären hätten (Ebenda). Die Schwäche der Partei erklärte sie unter anderem mit der Art der Konfliktaustragung in Landesverbänden und der Rolle, die Abgeordnete spielen, die Konflikte zuspitzen würden statt sie zu lösen. Deshalb gelte es, nicht nur politische Themen, sondern auch „unsere Verhaltensweisen (zu) überprüfen“, denn die Glaubwürdigkeit der Partei werde „durch das Verhalten weniger Genossen untergraben und nicht durch falsche oder verblassende politische Themen.“ (Ebenda) Welche das waren, das sagte sie nicht. Ob der erste Versuch, die Fraktion stärker in die „Parteidisziplin“ einzubinden, eine Wende einleitet, muss abgewartet werden. Das Anfang November 2010 präsentierte Konzept „Zum Motor für den Politikwechsel werden. Zu den aktuellen Aufgaben der LINKEN und ihrer Bundestagsfraktion“, lässt auf die Absicht 17
Das waren Außenpolitik (Afghanistan), Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (u. a. Mindestlohn, Mitbestimmung, Kurzarbeiter- und Arbeitslosengeld I; Hartz IV, Rente 67) Steuerpolitik („Abschaffung des Steuerbauchs“), Finanzpolitik (Sicherung der Sozialsysteme durch Staatsgarantie) sowie die „Verteidigung der Grundrechte und das „Festhalten am Atomausstieg“. Vgl. 10-Punkte Sofortprogramm der LINKEN, 9.10.2009, www.linksfraktion.de/positionspapiere/?S=4.
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schließen, gemeinsam zu agieren (Fried 2010). Das Papier könnte die Bemühungen um eine stärkere Anbindung der Fraktion an die Parteiführung legitimieren18. Allerdings wäre deren Struktur im Prinzip nur durch eine rigorosere Trennung von Amt und Mandat zu verändern. Dafür gibt es keine Mehrheiten. Selbst wenn das Schwergewicht der Arbeit bei der Fraktion verbleibt, könnte sich die Parteileitung zum strategischen Zentrum entwickeln, das die längerfristige politische Führung übernimmt. Das würde die Rolle der Fraktion in der Entscheidungsstruktur der Partei verändern. Doch Klaus Ernst und Gesine Lötzsch, die zugleich im Fraktionsvorstand sind, akzeptieren die Dominanz der Fraktion19. Deshalb wird es kein strategisches Zentrum in der eigentlichen Parteistruktur geben, solange sich die agierende Führung darin einig ist, sich nicht einig darüber einig zu sein, wer die Führung sein soll. Um das zu ändern, braucht es mehr als nur einen halbherzigen Generationenwechsel. 4.3 Vielfalt ohne Einheit Innerparteiliche Geschlossenheit gilt als eine der Voraussetzungen für politische Erfolge einer Partei. Damit hapert es bei der LINKEN, deren interne Struktur durch divergierende ideologische Positionen, widerstreitende innerparteiliche Kulturen, unterschiedliche politische Traditionen und differenzierte realpolitische Erfahrungen sowie verschiedenerlei Erwartungen von Kollektiven und Individuen gekennzeichnet ist. Das sind zum einen Bestandteile der Erbmassen, die von der PDS einerseits und andererseits von den Strukturen der WASG, von denen einige bereits der alten PDS unfreundlich gesinnt waren, in die LINKE eingebracht wurden. Manches davon organisiert sich in der Partei in unterschiedlichen Strömungen, anderes neben ihr. In manchem drücken sich innerparteiliche Ost-WestKonflikte aus, manches beruht auf persönlichen Ambitionen. Im Fusionsprozess ist wenig geheilt und zusammengeführt worden. Noch Anfang 2010 lamentierte Gregor Gysi, ob Ost oder West in der LINKEN das Regime übernehmen werde (Vgl. Vietze 2010). Im Mai 2010 wurde geklagt, in der LINKEN existiere „eine einzigartige Mischung verschiedener Erfahrungswelten, eine interessante, manchmal auch gewöhnungsbedürftige Kultur“ und zugleich „bestimmte Erscheinungen …. wie Besserwisserei, Abwesenheit von Ehrlichkeit, Wichtigtuerei, Denunziantentum.“ (Vietze 2010) 18
Das Papier war ursprünglich ein Fraktionspapier, das sich dann die Parteispitze mit „aneignete“. „ Die Bundestagsfraktion ist eine einzigartige Struktur in unserer Partei….Im Vergleich zu Parteistrukturen ist die Bundestagsfraktion … ein Superschwergewicht, sie wird aber die Partei nie ersetzen. Das ist auch der Grund, warum Klaus (Ernst, G.N.) und ich es für sehr wichtig halten, weiter im Fraktionsvorstand zu arbeiten.“ G. Lötzsch (2010a).
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weshalb sich keine Identität stiftende politische und Parteikultur entwickeln würde. „Bei der – weiteren – Vereinigung geht es auch und gerade um das Zusammenwachsen von Ost und West, ... um die Zusammenführung unterschiedlicher Traditionen, Kultur, struktureller Unterschiede, … um die Zusammenführung der Volkspartei im Osten und im Saarland und den von (ausschließlich) oppositionellen Interessen geprägten anderen Teilen der Partei“ (Ebenda).
Dieser Prozess sollte positiv antizipiert werden, „auch und gerade weil wir mit marxistischer Dogmatik, postmoderner Beliebigkeit, Sektierertum, aber auch offenem Geist konfrontiert sind. Weil wir es mit der unterschiedlichen sozialen Situation von Hartz IV-Empfängern bis hin zu Unternehmern, ausgegrenzten Ossis, diffamierten oder enttäuschten Wessis zu tun haben.“(Ebenda)
Tatsächlich ist die LINKE nicht so einfach auf ein Bild zu bekommen wie eine Hochzeitsgesellschaft. Das liegt nicht nur an den sozialen Differenzen in der Mitgliedschaft. Während die PDS ihre Mitglieder weitgehend aus der ehemaligen Dienstelite der DDR und angedockten Randgruppen rekrutierte, griff die WASG auf Mitglieder aus Gewerkschaften, aus Parteien – von der CSU bis zur DKP- und aus neuen sozialen Bewegungen zurück oder wurde für herumschweifende Linke aus unterschiedlichen sozialen Milieus und zum Teil prekären sozialen Situationen zeitweilig oder dauerhaft attraktiv. Die existierenden parteikulturellen Differenzen beruhen auf der unvollendeten Integration unterschiedlicher linker Teilmilieus in der WASG – Angehörige offener Organisationen (SPD, Grüne) trafen auf solche aus Kaderorganisationen (DKP, KBW) oder trotzkistischen und anderen Gruppierungen. Sie wiederum wurden mit ostdeutschen Eliten konfrontiert; beide Seiten traten sich teilweise skeptisch bis ablehnend gegenüber. Die Risiken dieses Prozesses waren nicht gering. Zum einen wurde übersehen, dass in den unterschiedlichen Politikkonzepten erhebliche Potentiale für Spannungen lagen. Zum anderen wurden die Gefahren gering geschätzt, die aus divergierenden Strukturen mit ihren destabilisierend und zentrifugal wirkenden Tendenzen resultieren. Denn hinter ideologischen Differenzen verbergen sich in der Regel Auseinandersetzungen um Macht und Positionen. Die Träger dieser Auseinandersetzungen sind die unterschiedlichen Strömungen und andere Zusammenschlüsse, von denen die eine oder andere den Eindruck erwecken, als seien die Ressourcen der Partei der Gegenstand ihrer Begierde, nicht aber deren Performance. Sie prägen die politische Topographie der Partei, die keineswegs starr, sondern in bestimmter Weise flexibel und durch Zweckbündnisse geformt
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ist, so dass ein Bild entsteht, in dem das Gegeneinander ebenso zu finden ist wie Miteinander und Nebeneinander (Vgl. Hübner/Strohschneider 2007:222f, Neugebauer 2009:245 ff), aber kein Zentrum, selbst wenn eine Fraktion aus diversen Amtsinhabern und Mandatsträgern sich so nennt. 4.4 Pluralität oder Pluralismus? Die Differenzen zeigen sich sowohl in Hinblick auf realpolitische Fragen wie die der Regierungsbeteiligung oder der sozialen Sicherung (höhere Hartz IV-Sätze oder Grundeinkommen) als auch in der Programmdiskussion. Dabei geht es um die großen Fragen, d. h. nach der künftigen Eigentumsordnung, nach der Überwindung des Kapitalismus, dem Weg in die sozialistische Gesellschaft oder nach dem Verhältnis politischer Grundwerte und Gesellschaft. In dieser bis zum Programmkonvent geführten Diskussion wurden Kontroversen unter anderem in der Frage deutlich, ob es Freiheit nur durch Sozialismus, das war die Losung des Parteitags 2008, geben könne, weshalb individuelle Freiheitsrechte in der bürgerlichen parlamentarisch-demokratischen Ordnung weder ausgebaut noch verwirklicht werden könnten. In der Eigentumsfrage wird gestritten, ob Verstaatlichung, und wenn, nur Struktur bestimmender Zweige oder wie in der DDR de facto aller Produktionsbetriebe, notwendig sei oder ob die Demokratisierung der Entscheidungsstrukturen bereits ausreichen könne, um Gemeinwohlorientierung und die Beachtung ökologischer Prinzipien durchzusetzen und gesellschaftliches Eigentum sich auf die Bereiche beschränken könne, die der öffentlichen Daseinsvorsorge dienen. Hinter akademisch anmutenden Kontroversen verbergen sich jedoch oft manifeste Interessen und Anschauungen darüber, wie modern die LINKE sein sollte. So wird in der Diskussion darüber gestritten, ob unter Arbeit nur Erwerbsarbeit als Quelle von gesellschaftlichem Reichtum zu verstehen ist oder der Arbeitsbegriff „sowohl die Erwerbsarbeit als auch die Reproduktionsarbeit in Familie, Kindererziehung, Pflege sowie Engagement in der Zivilgesellschaft usw. erfasst.“ (Kipping 2010) Mit dieser Position („4 in 1“) sollen im Kontext der Modernisierungsbemühungen Änderungen im Programmentwurf erreicht werden, gegen die sich Vertreter des polit-ökonomischen Arbeitsbegriffs unter anderem deshalb wenden, weil dann die Bedeutung der Erwerbsarbeit als Ziel der Arbeitsmarktpolitik reduziert werden müsste. Die Beiträge zur Programmdiskussion dokumentieren eine Breite der Themen, in denen die Desiderate der Parteipolitik, beispielsweise religiöse Fragen, ebenso aufgegriffen werden wie Geschlechterfragen oder die Relevanz und Bedeutung des Begriffs des demokratischen Zentralismus (Vgl. Rosa-LuxemburgStiftung/ND 2010).
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An diese Diskussion sind Erwartungen geknüpft, die oft gegen die von anderen gesetzt werden. So beschuldigt die Kommunistische Plattform das Forum Demokratischer Sozialismus, sich am Verriss des Programmentwurfs beteiligt zu haben und besteht darauf: „Die Klarheit der Kapitalismusanalyse des Programmentwurfs muss erhalten bleiben. Das gilt besonders für die Kernaussagen zur Eigentumsfrage. Die klaren Aussagen zur außenpolitischen Ausrichtung unserer Partei müssen unangetastet bleiben. DIE LINKE ist gegen Kriegseinsätze ohne Wenn und Aber, programmatisch und im politischen Tagesgeschäft. Und noch etwas liegt uns besonders am Herzen: Die Beibehaltung der im Programmentwurf fixierten inhaltlichen Kriterien für Regierungsbeteiligungen.“ (Kommunistische Plattform 2010).
Das Statement richtete sich gegen die Thesen des Forum Demokratischer Sozialismus zum Entwurf des Parteiprogramms. Aussagen über die Kapitalismusanalyse im Programmentwurf lassen die Differenzen zur KPF erkennen: „Die Kapitalismusanalyse des Programmentwurfs fokussiert darauf, dass kapitalistische Akkumulation und Regulation Verantwortung tragen für einen vielfach unwiderruflichen Raubbau an der Natur, für Hunger, Armut, Krieg und Arbeitslosigkeit. Soziale Gerechtigkeit sowie friedliche Entwicklung einerseits und Profitmaximierung andererseits stehen in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis. Das ist zutreffend und zugleich wird dabei nahezu vollständig ausgeblendet, dass die kapitalistische Entwicklung gleichzeitig zu einer enormen Produktivitätsentwicklung, zu ökonomischen und sozialen Innovationen sowie zur gesellschaftlichen Wohlstandsmehrung führte und führt – auch wenn dieser Wohlstand immer ungleich verteilt ist. Keine vorhergehende oder konkurrierende Gesellschaftsform garantierte einen solchen Grad an demokratischen Freiheitsrechten wie die bestehende – trotz aller Beschränkungen sozialer und anderer Rechte.“ (Forum Demokratischer Sozialismus 2010).
Ob diese und weitere Differenzen am Ende der Programmdiskussion produktiv aufgehoben oder unvereinbar nebeneinander stehen bleiben werden, ist offen. Da die Kämpfe der Strömungen solche um ideologische und letztlich um innerparteiliche Mehrheiten sind, an deren Ende sich die „siegreiche“ Strömung als Machtzentrum installieren und ihr Parteiverständnis als allgemein gültig durchsetzen will, ist die Aufhebung grundsätzlicher Differenzen, d. h. die Herstellung eines pluralistischen Grundverständnisses kaum zu erwarten. Alles andere ist, das zeigen die Erfahrungen mit der Programmdiskussion der PDS zwischen 1990 und 2003, nicht dazu geeignet, die für die Leistungsfähigkeit und das Erscheinungsbild der Partei destruktiven Potentiale zu neutralisieren. Bislang jedenfalls scheinen den Vertretern der verschiedenen Strömungen die Konsequenzen ihrer Politik, die nicht auf strategische Kooperation und Entwicklung gemeinsamer
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Positionen durch die verschiedenen Strömungen setzt, nicht klar zu werden. Eine gemeinsame Erklärung von Vertretern der Strömungen (Vgl. Dehm 2010) ist bislang folgenlos geblieben. Wenn die Programmdiskussion nicht zu einem erkennbaren eindeutigen Profil der LINKEN und ihrer Positionen auf wichtigen Politikfeldern führt, fehlen die Nachweise sowohl dafür, dass sie die in den sie unterstützenden Teilen der Gesellschaft ablaufenden Diskussionen aufgreifen kann als auch dafür, als geschlossen handlungsfähiger und berechenbarer Akteur im Parteiensystem akzeptiert zu werden.
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Wo kann die LINKE sich finden?
Der Fraktionsvorsitzende Gysi kritisierte im September 2010 die Partei, weil sie sich mit sich selbst zu sehr beschäftigt und dabei Entwicklungen in ihrer Umwelt aus den Augen verloren, Themen verschlafen und keine neuen aufgegriffen oder entwickelt habe. Die Partei würde an Wirkung verlieren, weil sie ihre Identität als Partei der sozialen Gerechtigkeit aufs Spiel setze und bei aktuellen Themen wie der Wehrpflicht oder in der Integrationsdebatte kein Engagement entwickle und sich von SPD und Bündnisgrünen fernhalte (Gysi 2010b+d). Gysis Kritiker, zu denen auch Lafontaine und Lötzsch gehörten, verwiesen auf die Gewinnerthemen der LINKEN: Hartz IV, Rente mit 67, Afghanistan-Krieg, leugneten Änderungsbedarf und forderten SPD und Bündnisgrüne auf, ihr Verhalten gegenüber der LINKEN zu ändern. Damit setzten sie einerseits eine Haltung fort, die sich dadurch auszeichnet, dass Herausforderungen ignoriert oder als Angriff auf die reine Lehre betrachtet und deshalb unverzüglich und reflexartig zurückgewiesen werden; Oskar Lafontaine und Klaus Ernst demonstrieren das in wenig beeindruckender Weise (Vgl. Lafontaine 2010b, Ernst 2010). Andererseits zeigen sich, wenn auch zögerlich, konkrete Ansätze zur Anbahnung von Gesprächen, denn der LINKEN ist klar, dass sie ohne Partner keine Mehrheiten erreichen kann. Dafür braucht sie Themen, die nicht die alten unüberwindbaren Kontroversen reflektieren oder wie der willkürlich festgelegte Hartz IV-Regelsatz von 500 € als Dogma gelten. Thementreue kann berechtigt sein, wenn sich Rahmenbedingungen nicht ändern Dass die LINKE ihre Themen ändern kann, hat sie nach 2005 dadurch demonstriert, dass sie ihr Thema „Neue Soziale Idee“ schnell vergessen hat, weil sie im Fusionsprozess keine notwendigerweise strittige und manche überfordernde Diskussion führen wollte. Ostdeutsche PDS-Politiker, die im Fusionsprozess gegen das enge Konzept von Lafontaine ein weites und neues Themenangebot durchsetzen wollten (Vgl. Stöss/Neugebauer 2008:182), verzichteten auf Kontroversen im Fusionsprozess und um einen Konflikt in der Führungstroika
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zwischen Bisky, Gysi und Lafontaine zu verhindern. Konfliktscheue und Streitvermeidung sind Faktoren, die sich für die PDS oder für Reformpositionen in den ersten Etappen des Fusionsprozesses nachteilig ausgewirkt haben. In der gegenwärtigen Programmdebatte wird wieder gestritten und dabei wird, wie die Kritik der stellvertretenden Parteivorsitzenden Katja Kipping am Co-Vorsitzenden Ernst zeigt, durchaus zur Sache gegangen (Vgl. Strohschneider 2010)20. Das demonstriert erneut, dass in der LINKEN Themenfragen zugleich Machtfragen sind – und erinnert an die Zeiten zwischen 2000 und 2003 in der PDS mit anderen Kräfteverhältnissen. Zudem haben sich die Rahmenbedingungen verändert. Die politischen Reaktionen auf die Wirtschafts- und die Finanzmarktkrise haben dazu geführt, dass die Öffentlichkeit weiß, dass bis auf die FDP keine andere Partei den Sozialstaatskonsens grundsätzlich aufgeben will, selbst wenn die gegenwärtige Koalition den sozial Schwachen die Teilhabe am sozialen wie politischen Leben weiter erschwert. Die Bevölkerung ist mehrheitlich gegen das militärische Engagement Deutschlands in Afghanistan, allerdings nicht für einen plötzlichen Rückzug. Doch die Abneigung gegen die Politik der schwarz-gelben Koalition begünstigte die Bündnisgrünen und danach die SPD; der LINKEN kam das nicht zugute. Zwar sind die Politikfelder Hartz IV und Rente mit 67 weiterhin relevant, aber weder mobilisieren sie Massen noch werden kritische Positionen dazu nicht nur durch die LINKE vertreten: die holte sich ihr „Rentenargument“ – ein halbes Prozent Beitragsaufstockung würde die Rente mit 65 sichern – vom DGB und bot Horst Seehofer Beistand bei dessen Argumentation gegen die Rente mit 67 an. Ihre wichtigen Themen wie der gesetzliche Mindestlohn oder der Rückzug aus Afghanistan werden nicht als nur ihre Themen – und damit sie als deren politische Repräsentantin – wahrgenommen. Nicht, dass sie nicht auch zu anderen als sozial- und wirtschaftspolitischen Themen oder zur Steuer-, zur Bildungspolitik sowie zum Atomausstieg etwas zu sagen hätte. Aber sie trabt, von seltenen Ausnahmen abgesehen, entweder neben oder hinter den Debatten her und präsentiert kein Gesicht, das sich in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit mit einem bestimmten Politikfeld verbindet. Sie stagniert oder verliert in Umfragen, weil ihre Angebote Medien wie Öffentlichkeit nicht interessieren (Vgl. Brössler 2010). Und sie riskiert gesellschaftliche Akzeptanz und ihren Erfolg. Der beruhte darauf, dass sie – auch in Ostdeutschland – Interessen bestimmter Milieus in der Mitte wie im unteren Drittel der Gesellschaft repräsentierte, in
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Nach einer Meldung in der Süddeutschen Zeitung vom 20.12.2010 „Linke gegen Linke“ beabsichtigen ostdeutsche linke Abgeordnete, eine „Landesgruppe Ost“ zu gründen, um zu verhindern, dass ostdeutsche Interessen in der LINKEN unter den Tisch fallen und damit ostdeutsche Wähler wegbleiben könnten.
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denen sozialer Abstieg nach dem Ausschluss vom Arbeitsmarkt erlebt oder befürchtet werden. Es ist Skepsis angesagt, ob es der LINKEN gelingt, sich so zu konsolidieren, dass sie sich findet. Die Kontroversen über Voraussetzungen und Bedingungen von Regierungsbeteiligungen dauern an. Mehr als ein Jahr nach der BTW 2009 zeigt sich die Linke unentschlossen, wie sie im Fünf-Parteien-System agieren will: als potentieller Partner für eine Regierung oder als Einzelgängerin. Der Eindruck, sie wolle diese Rolle aufgeben, ist bislang nicht nachhaltig; das jüngste Angebot richtet sich zuerst an außerparlamentarische Akteure und spricht erst dann auch SPD und Grüne an (Lötzsch et al. 2010). Der Crossover-Prozess ist erlahmt, Appelle für gemeinsame Initiativen in der Opposition wirken kaum, und gemeinsame Auftritte mit SPD und Bündnisgrünen sind noch keine harten Indizien für gegenseitige Öffnungsprozesse21. Sie werden jedoch auch für SPD und Bündnisgrüne nötig, wenn diese sowohl die regierende Koalition 2013 ablösen als auch für ihre Parteien eine Haltung zur LINKEN finden wollen, die über den Tag hinausreicht. Die interne Konsolidierung hängt damit zusammen, dass es eine innerparteiliche Verständigung über die Positionsbestimmung der LINKEN geben sollte. Zudem ist eine einheitlich agierende verantwortliche Führung, die zugleich als strategisches Zentrum für die gesamte politische Arbeit der Partei fungiert, von Vorteil. Der Bedarf für eine Reform der Führungsstruktur ist offensichtlich. Die gegenwärtig mehreren Zentren mit unterschiedlicher Reichweite und Durchsetzungskraft müssten integriert werden. Wenn es Akteure gibt, die dieses ändern wollen, dann sind die noch in Deckung. Sichtbar sind bislang in der Regel die, die die Partei disziplinieren, ihren Pluralismus negieren und sie wie Klaus Ernst, der ein „Schweigegebot“ in der Satzung fordert (Reinicke 2010), autoritär strukturieren wollen. Ergebnisse der Programmdiskussion können erst 2011, nachdem sieben Landtagswahlen verstrichen sind, der Öffentlichkeit ein Bild der programmatischen Konfiguration der LINKEN vermitteln. Wenn es nicht das bereits bekannte Bild einer in sich zerstrittenen Partei sein sollte, könnte sich das positiv auf ihr öffentliches Image und zugleich auf das Selbstverständnis der Partei auswirken. Die Entscheidung über das Programm wird nicht nur etwas über ihre Modernisierung sowie über die Machtverteilung in der Partei aussagen, sondern auch über ihre Position im Parteienwettbewerb. Denn ein Programm ist nicht nur ein Angebot zur Identifikation der Mitglieder und Anhänger mit den Zielen ihrer Partei, es enthält zugleich politische Angebote an potentielle Bündnispartner, wenn denn in einer Machtperspektive ein Anreiz gesehen wird. Angebote sind 21 Das bezieht sich u.a. auf einen gemeinsamen Auftritt der drei Parteien beim DGB oder einen gemeinsamen Antrag im Bundesrat von SPD, Grünen und LINKEN.
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sinnlos, wenn diese an Bedingungen geknüpft werden, die sie selbst nicht akzeptiert würde. Jetzt hat sie das Problem, dass sie sich zu „ihrem Lager“, selbst wenn das nicht eindeutig definiert werden kann, verhalten muss. Deshalb bleibt es trotz aller der Programmdiskussion zugeschriebenen Bedeutung eine politische Entscheidung, welchen Kurs die LINKE einschlägt, auch um zu erfahren, welcher Kurs ihr gegenüber eingeschlagen wird. Will die LINKE in einer Position der Sicherung minimaler Existenzbedingungen im Parteiensystem verharren und sich als strikt antikapitalistische Partei mit anderen nicht gemein machen, hat sie kein Problem, ihren Ort zu finden, denn als systemoppositionelle Partei wird sie Einzelgängerin bleiben. Ist das nicht ihr Ziel, braucht sie den Wettbewerb mit potentiellen Partnern. Erreicht sie es, als im modernen Sinn linke politische Kraft zu agieren, d. h. ihre Politik sowohl an sozialen als auch an libertären Werten zugleich zu orientieren, hat sie Potentiale für Angebote an SPD wie Bündnisgrüne. Auch die hätten dann damit zu tun, in ihren Parteien Aversionen abzubauen, Vorbehalten zu überwinden und Gemeinsamkeiten ausfindig zu machen, ohne Abgrenzungen aufzugeben. Die LINKE wird als Konkurrentin dann respektiert, wenn sie wegen ihrer Stärke und ihrer Themen attraktiv ist. Im Moment sieht es nicht danach aus (Vgl. Bisky 2010c). Die interne Konsolidierung, in deren Folge Geschlossenheit, Handlungsfähigkeit und Attraktivität erreicht werden sollen, hat keinen Vorrang. Die Strömungen setzen ihre Auseinandersetzungen fort und die Partei befasst sich mit sich selbst. Dem Ziel, eine respektierte und akzeptierte Position im Parteiensystem einzunehmen und Angebote abgeben wie empfangen zu können, kommt sie so nicht näher. Literatur Bartelmus-Scholch, Edith (2010), Krise und Bilanz der Linkspartei zweieinhalb Jahre nach der Parteienfusion,http://www.scharf-links.de/90.0.html?&tx_ttnews[tt_news] =8270& tx_ttnews[backPid]=56&cHash=d58d4fd37d Berg, Stefan (2010): Über allen Wolken, in: Der Spiegel, 21/2010 22.05.2010 Bielicki, J., P. Blechschmidt und D- Stawski (2010), Auf dem Friedhof der Karteileichen, in: Süddeutsche Zeitung vom 17.08.2010. Brie, André (2010): Wir müssen uns selbstverständlich öffnen, Interview, in: Freie Presse (Chemnitz) vom 08.09.2010. Bisky, Lothar (2010a): Versuch zur Verdächtigungskultur (Auszug), http://die-linke.de/ politik/disput/aktuelle_ausgabe/detail/zurueck/aktuelle-ausgabe-1/artikel/versuchzur-verdaechtigungskultur/. Ders. (2010b): „Ich habe einen Wutausbruch bekommen, wie ich ihn alle fünf Jahre habe“, http://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/Lothar-Bisky-Oskar-Lafontaine-DieLinke;art122,3039873.
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Ders. (2010c): Die Linke hat noch zu wenig eigene Projekte, Interview, http://www. neues-deutschland.de/artikel/185565.die-linke-hat-noch-zu-wenig-eigene-projekte .html, 4.12.2010. Brössler, Daniel (2010): Im tiefen Tal des Desinteresses, in: Süddeutsche Zeitung vom 4./5.12.2010. Dehm, Dieter et al. (2010): Über Strömungen, Gemeinsamkeit und Widerspruch, in: Neues Deutschland vom 24.04.2010. Ernst, Klaus (2010): Die Linkspartei wackelt nicht, Interview, in: Tageszeitung taz vom 7.12.2010. Falkner, Thomas (2009): Am Bedarf vorbei? Gesellschaftliche Umbrüche und das Beispiel der Linkspartei, in: Berliner Republik, 4/2009. http://www.b-republik.de/ archiv/am-bedarf-vorbei. Financial Times Deutschland (2010): http://www.ftd.de/politik/deutschland/:ftdinterview-lafontaine-umwirbt-berliner-gruene/50184051.html; 20.10.2010. Forum demokratischer Sozialismus (2010): Zum Entwurf des Programms der Partei Die Linke, http://www.forum-ds.de/article/1928.13_thesen_des_forum_demokratischer_ sozialismus_fds_zum_entwurf_des_programms_der_partei_die_linke.html. Forschungsgruppe Wahlen (2009): Bundestagswahl. Eine Analyse der Wahl vom 27. September 2009, Berichte der Forschungsgruppe Wahlen e.VOM, Mannheim, Nr. 138 Fried, Nico (2010): Gysis wundersame Wandlung, in: Süddeutsche Zeitung vom 3.11. 2010. Fülberth, Georg (2008): Doch wenn sich die Dinge ändern. Die Linke, Köln, Papyrossa Gysi, Gregor (2009): „Wir müssen der SPD Opposition beibringen“ http://www.tages spiegel.de/politik/deutschland/Gregor-Gysi-Oskar-Lafontaine-Die-Linke;art122,295 6099. Ders. (2010a): „…indem wir uns alle verändern“ Rede auf dem 2. Parteitag in Rostock, http://die-linke.de/partei/organe/parteitage/2_parteitag/reden/. Ders. (2010b). „Gysi sieht Die Linke in dramatischer Lage. Klausur der Bundestagsfraktion: Keine Beschlüsse, aber Warnungen vor zu viel Distanz zu SPD und Grünen“, in: junge welt vom 11.09.2010. Ders. (2010c): Zu lange mit uns selbst beschäftigt, Interview, in: Tageszeitung taz, 08.10.2010. Ders. (2010d): „Die SPD ist arrogant geworden“, http://www.fr-online.de/politik/-diespd-ist-arrogant-geworden-/-/1472596/4718180/-/index.html. Hengst, Björn (2010a): Linke rebellieren gegen Alleinherrschaft von Lafontaine, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,641518,00.htm Ders.(2010b): Lafontaine bietet SPD rot-rotes Bündnis an, Interview, http://www. spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,689738,00.htm. Hübner, Werner und Tom Strohschneider (2007) Lafontaines Linke. Rettungsboot für den Sozialismus, Berlin, Karl-Dietz. Kampa im WBH (Hrsg.): Bundestagswahl 2005, Berlin, 18. September 2005. Kipping, Katja (2010): „Debattieren statt Durchregieren“, Interview, in: prager frühling, http://www.prager-fruehling-magazin.de/article/602.8222-debattieren-statt-durch regieren-8220.html.
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„Quo vadis?
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Das Abschneiden der kleinen Parteien bei der Bundestagswahl 2009
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Das Abschneiden der kleinen Parteien bei der Bundestagswahl 2009 und ihre Perspektiven Das Abschneiden der kleinen Parteien bei der Bundestagswahl 2009
Eckhard Jesse
1
Einleitung
Kleine Parteien und ihr Abschneiden bei Wahlen sind in der Bundesrepublik Deutschland eher stiefmütterlich behandelt worden. Auch in Fachwörterbüchern finden sich nur selten einschlägige Artikel (Hoffmann 2009). Der Grund liegt auf der Hand. Die zweite deutsche Demokratie war und ist ein Staat, in dem die „übrigen Parteien“ zumal bei Bundestagswahlen – anders als in der ersten deutschen Demokratie – ausgesprochen schlecht abgeschnitten haben. Von 1961 an etablierte sich ein Dreiparteiensystem1, das ab 1983 durch den Einzug der Grünen zu einem Vierparteiensystem und ab 1990 durch die PDS (später Linkspartei, Die Linke) zu einem Fünfparteiensystem mutierte.2 Nach dem Scheitern der Gesamtdeutschen Partei mit 2,8 Prozent an der Fünfprozentklausel bei der Bundestagswahl 1961 ist es von den kleinen Parteien nur der NPD gelungen, mit 4,3 Prozent im Jahr 1969 ein besseres Ergebnis zu erreichen. Der Vielzahl an Parteien (Stöss 1983/1984; Decker/Neu 2007) steht damit eine Unterzahl an Erfolgen gegenüber. Den teils strukturellen, teils situativen Gründen für das Scheitern sogenannter nicht-etablierter Kleinparteien ist vielfältig nachgegangen worden (Rowold 1974; Roemheld 1983; Boom 1999; Schulze 2004; Freudenberg 2009). Der folgende Beitrag will anhand der Bundestagswahl 2009 untersuchen, ob sich nun – angesichts eines stärker volatilen und fragmentierten Parteiensystems – ein Wandel andeutet. Sind „Kleine Parteien im Aufwind“ (Jun/Kreikenbom/Neu 2006; Diet1 Die Deutsche Partei wäre bereits 1957 (3,4 Prozent) an der Fünfprozenthürde gescheitert, hätte die CDU in einigen Wahlkreisen nicht auf die Aufstellung eigener Kandidaten verzichtet und so der DP per „Alternativklausel“ den Bundestagseinzug ermöglicht. 2 Die PDS zog 1990 (2,4 Prozent) nur durch die für den Osten und den Westen gesondert geltende Sperrklausel in den Bundestag ein, 1994 (4,4 Prozent) durch den Gewinn von vier Direktmandaten, 1998 (5,1 Prozent) durch das Überspringen der Fünfprozenthürde. 2002 erreichte die Partei lediglich zwei Direktmandate (durch Gesine Lötzsch und Petra Pau). Gregor Gysi, der 1990, 1994 und 1998 (später auch 2005 und 2009) jeweils ein Direktmandat errungen hatte, war seinerzeit nicht angetreten. Bei einer erfolgreichen Kandidatur Gysis wäre ansonsten die PDS im Bundestag verblieben und bereits 2002 eine Große Koalition unumgänglich geworden.
O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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sch 2006)? Vor allem die beiden großen der vielen kleinen Partei stehen dabei im Vordergrund: die NPD und die Piratenpartei. Haben sie das Zeug dazu, die Fünfprozentklausel zu überwinden und damit eine Erweiterung des Parteiensystems im Bund herbeizuführen? Welche Faktoren sprechen dafür, welche dagegen? Zunächst geht es um die wahlrechtlichen Vorschriften und Hemmnisse für kleine Parteien, danach um den Ausgang der Bundestagswahl 2009 mit dem Schwerpunkt auf den nicht-etablierten Kleinparteien. Später wird dem Abschneiden der extremistischen NPD und dem der nicht-extremistischen Piratenpartei nachgegangen. Anschließend kommen im Zusammenhang mit den kleinen Parteien zwei Reformvorschläge zur Sprache. Der Beitrag endet mit einigen Thesen, die zum Teil über den Tenor des Inhalts hinausweisen.
2
Rechtliche Vorschriften und Hemmnisse für die kleinen Parteien
Die Parteiendemokratie ermöglicht allen Parteien eine Teilnahme an Wahlen, unabhängig von ihrer verfassungsmäßigen Ausrichtung. Eine Partei kann nur durch das Verfassungsgericht verboten werden („Parteienprivileg“). Auch wenn prinzipiell Chancengleichheit besteht, begünstigt das Wettbewerbssystem etablierte Kräfte, etwa durch die Fünfprozentklausel, die Parteienfinanzierung, die Unterschriftenquoren (Köhler 2006). Der Versuch, die Parteienfinanzierung erst dann „greifen“ zu lassen, wenn eine Partei in drei Ländern mindestens 1,0 Prozent der Stimmen erreicht hat, scheiterte 2004 am Bundesverfassungsgericht (Jutzi 2005). Die Fünfprozentklausel ist die größte Hürde für Kleinparteien, ob nun demokratischer oder extremistischer Couleur. Die Erwähnung extremistischer Parteien in den Verfassungsschutzberichten schadet diesen, ist durch das Prinzip der streitbaren Demokratie aber gedeckt. Die Verfassungsschutzberichte sind ein legitimer Ausdruck der Sorge des demokratischen Staates vor Unterwanderung (Backes 2000), dürfen jedoch keine Verdachtsberichterstattung pflegen (Michaelis 2000). Parteien, die im Bundestag oder in einem Landtag ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten sind, können nach dem Bundeswahlgesetz ohne jegliche Prüfung Landeslisten einreichen (Gisart 2010). Die anderen müssen dem Bundeswahlleiter spätestens bis zum 90. Tag vor der Wahl ihre Teilnahme anzeigen – mit drei Unterschriften des jeweiligen Bundesvorstandes. Dies taten bei der Bundestagswahl 2009 49 Parteien und politische Vereinigungen, darunter solche, die auch ein mit der Materie Vertrauter kaum jemals gehört haben dürfte: z.B. „Heimat Deutschland“ (HEIDE), „Global Future Party“ (GFP), „Europäische
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Soziale Bürger Arbeiter Partei“ (ESBAP).3 Der Bundeswahlausschuss muss spätestens 72 Tage vor der Bundestagswahl die Parteieigenschaft feststellen. Ihm gehören neben dem Bundeswahlleiter als Vorsitzendem acht Beisitzer an, die von den Bundestagsparteien vorgeschlagen werden (2009: Peter Brörmann und Klaus Schüler von der CDU, Johannes Risse und Cornelia Sonntag-Wolgast von der SPD, Hartmut Geil von den Grünen, Ruth Kampa von der Linken, Gabriele Renatus von der FDP und Marcus Zorzi von der CSU). Am 17. Juli hatte der Bundeswahlausschuss neben den acht Parteien, die im Bundestag (SPD, CDU, FDP, Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen, CSU) oder in den Landtagen (NPD, DVU) vertreten sind, 21 weitere Vereinigungen als Parteien anerkannt, darunter die „Allianz der Mitte“ (ADM), die „Christliche Mitte – Für ein Deutschland nach GOTTES Geboten“ (CM) oder die „Demokratische Volkspartei Deutschlands“ (DVD). Die Parteieneigenschaft wurde damit – einstimmig – 28 politischen Vereinigungen versagt, darunter der „Demokratischen Bürgerbewegung!“ (D-BÜ) und der „Partei für Recht und Soziale Gerechtigkeit“ (PRSG).4 Als Kriterium für die Eigenschaft als Partei zählen die in § 2 des Parteiengesetzes genannten Merkmale: Einflussnahme auf die politische Willensbildung; Mitwirkung an der Vertretung des Volkes; Umfang und Festigkeit der Organisation; Zahl der Mitglieder; Hervortreten in der Öffentlichkeit; ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit der Zielsetzung. Der Bundeswahlausschuss hat also einen gewissen Spielraum. Er entscheidet bei Beschwerden der nicht zur Wahl zugelassenen Vereinigungen in eigener Sache. Landeslisten von Parteien, die nicht im Bundestag oder in keinem Landtag vertreten sind, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Unterzeichnung von mindestens jedem tausendsten Wahlberechtigten, höchstens jedoch 2000 Unterstützerunterschriften. Die Landeslisten müssen den Landeswahlausschüssen spätestens bis 66 Tage vor der Wahl eingereicht werden. Diese tagen 58 Tage vor der Wahl und entscheiden über die Zulassung oder Zurückweisung der Landeslisten. Bei der Bundestagswahl 2009 war dies am 31. Juli der Fall. Außer den Bundestagsparteien (CSU statt CDU in Bayern) stellten nur NPD und MLPD in allen Ländern Landeslisten auf. Die Piratenpartei trat in 15 Ländern an (in Sachsen hatte sie sich auf die Landtagswahl am 30. September konzentriert und deswegen darauf verzichtet, eine Landesliste einzureichen), die DVU in 12 (obwohl sie von der Unterschriftenregelung befreit war), die Partei der Republikaner in 11, die „Ökologisch-Demokratische Partei“ in acht, die „Bürgerrechtsbewegung Solidarität“ in sieben, die Tierschutzpartei in sechs (darunter in den vier bevölkerungsreichsten Ländern), die „Rentnerinnen und Rentner Partei“ (RRP) in fünf, die Familien-Partei Deutschland ebenso in vier wie die „Partei Bibeltreuer Chris3 4
Vgl. Pressemitteilung des Bundeswahlleiters vom 30. Juni 2009. Vgl. Pressemitteilung des Bundeswahlleiters vom 17. Juli 2009.
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ten“, die Partei „DIE VIOLETTEN“ und die „RENTNER“ in je drei, die trotzkistische „Partei für Soziale Gleichheit“ in je zwei wie die „Volkabstimmung Ab jetzt“. Die anderen Parteien stellten lediglich eine einzige Landesliste auf. Bei der „Freien Union“ wurden alle eingereichten 14 Landeslisten nicht zugelassen, bei den anderen Parteien kam es nur zu wenigen Zurückweisungen (je zwei bei der „Rentnerinnen und Rentner Partei“ und bei den „VIOLETTEN“).5 Die nötige Zahl der Unterschriften fehlte jeweils. Wurde keine Landesliste eingereicht, so kann dies zwei Ursachen haben: entweder freiwilliger Verzicht oder Scheitern am Unterschriftenquorum. In Bayern standen 19 Landeslisten zur Wahl, in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt dagegen nur je neun. Dass Landeslisten von acht Vereinigungen, denen der Bundeswahlausschuss die Anerkennung als Partei versagt hatte – z. B. der „Bürger Partei Deutschland“ (BPD) – oder einer Gruppierung („Die Friesen“), die ihre Beteiligung gar nicht erst angezeigt hatte, keine Anerkennung finden konnten, versteht sich bei der geltenden Konstruktion von selbst. Der Bundeswahlausschuss muss spätestens am 52. Tag vor der Bundestagswahl über Beschwerden der Parteien zur Nichtzulassung der Landeslisten entscheiden. Am 6. August wies er alle vier Beschwerden (der „PARTEI“, der „GRAUEN“, der „Bürgerpartei für ALLE“ und der „Freien Union“) gegen die Voten der Landeswahlausschüsse zurück. Bereits zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht – wie in ständiger Rechtsprechung – am 31. Juli 2009 einen Antrag der „GRAUEN“ auf Erlass einer einstweiligen Verfügung aus prinzipiellen Gründen verworfen. Das Ansinnen der Partei könne erst in einem Wahlprüfungsverfahren nach der Wahl entschieden werden – zunächst als Einspruch beim Bundestag, danach als Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Die wegen eines Formfehlers – einer fehlenden Unterschrift der Vorsitzenden Gabriele Pauli – erfolgte Nichtzulassung der bayerischen Landesliste der „Freien Union“, mit vier Ja- und vier Nein-Stimmen6 (letztlich bestimmt durch den Bundeswahlleiter, dem bei Stimmengleichheit die Entscheidung obliegt), löste öffentliche Kritik aus. Dies veranlasste den Bundeswahlleiter zu einer Klarstellung.7 Anders als früher wurde diesmal in der Wissenschaft die Rolle des Bundeswahlausschusses eher kritisch eingeschätzt (Meinel 2010)8. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die erstmals die Wahlen in Deutschland beobachtet hatte (nicht deshalb, weil Zwei5 Vgl. die Übersicht „Bundestagswahl 2009 – Zulassung der Landesliste. Eingereichte und zugelassene Landeslisten der Parteien, in: http.//www.wahlrecht.de/bundestag/2009 (31. August 2009). 6 Vgl. Annett Meiritz, Wahlleiter legt Pauli und Provokateure lahm, in: SpiegelOnline v. 6. August 2009. 7 Vgl. Pressemitteilung des Bundeswahlleiters vom 7. August 2009. Diese Mitteilung war eine (wenig überzeugende) Reaktion auf den Kommentar von Dietmar Hopp, SpiegelOnline v. 3. August 2009. 8 Siehe auch Wilko Zicht, Zulassungsverfahren zur Bundestagswahl in der Kritik, in: http://www. wahlrecht.de/news/2009/10.htm (22. August 2009).
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fel an der demokratischen Praxis bestehen könnten, sondern um Vorbehalte zu entkräften, nur Wahlen in Transformationsgesellschaften würden kritisch untersucht), kam zwar zu einem nahezu uneingeschränkt positiven Ergebnis, ließ aber im Kern drei Monita erkennen: Neben dem Hinweis auf eine fehlende gesetzliche Regelung zur Zulässigkeit von Wahlbeobachtern ging es um die (fehlende) gerichtliche Überprüfung der Entscheidungen der Wahlausschüsse vor den Wahlen sowie um die (fehlenden) klaren Kriterien bei der Frage der Zulassung der Parteien (Schmedes 2010). Die Entsendung von Wahlbeobachtern war freilich keineswegs durch die Nichtzulassung kleiner Parteien ausgelöst worden.
3
Wahlausgang für die Kleinparteien
Bei der Bundestagswahl 2009 erlebten die beiden Volksparteien SPD – mehr – und CDU/CSU – weniger – einen massiven Einbruch ihres Stimmenanteils. Hatten sie bei den beiden Bundestagswahlen 1972 und 1976 über 80 Prozent der Stimmberechtigten auf sich vereinigt, so waren es 2009 nicht einmal 40 Prozent. Dies entspricht mithin einer Halbierung. Mit zusammen 56,8 Prozent erzielten sie das schlechteste Ergebnis in der Geschichte der Bundestagswahlen. Von den verbleibenden 43,2 Prozent entfielen 37,2 Prozent auf die drei nunmehr mittelgroßen Parteien FDP, die Linke und die Grünen. 6,0 Prozent erhielten Parteien, die nicht in den Bundestag gelangten. Die beiden größten der Kleinparteien (dieser Begriff ist weniger negativ konnotiert als „Splitterparteien“) – die Piratenpartei mit 2,0 Prozent und die NPD mit 1,5 Prozent – erreichten fast 60 Prozent der verbliebenen 6,0 Prozent. Es bietet sich eine weitere Differenzierung nach der Größe an. Von den verbleibenden 2,5 Prozent entfielen 1,7 Prozent auf fünf Parteien mit mehr als 0,1 Prozent, was etwa 70 Prozent dieser 2,5 Prozent entspricht: Die Tierschutzpartei überwand mit 0,5 Prozent der Stimmen die für die Parteienfinanzierung wichtige Hürde; die konservativpopulistische Partei der Republikaner9 scheiterte mit 0,4 Prozent das erste Mal seit ihrem Antreten 1990 an dieser Kautele; 0,3 Prozent errang die konservative Ökologisch-Demokratische Partei, ebenso die Familien-Partei Deutschlands, 0,2 Prozent die Rentnerinnen- und Rentner-Partei Deutschlands, die den Kampf gegen den „Rentenbetrug“ auf ihr Panier geschrieben hatte. Schließlich kamen acht Parteien auf je 0,1 Prozent – u.a. die fundamentalistische Partei Bibeltreuer Christen, die sektiererische Bürgerrechtsbewegung Solidarität, die stalinistische Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands. Sechs Parteien blieben bei 0,0 Prozent, so die Zentrumspartei oder die DKP (Tabelle 1). 9 Sie wird in den Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder seit einigen Jahren nicht mehr als rechtsextremistisch aufgeführt.
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Tabelle 1: Ergebnis der Bundestagswahl 2009 für alle Parteien Erststimmen Zweitstimmen Anzahl in Diff. zu 2005 in Diff. zu Prozent in Prozent-Pkt. Prozent 2005 in ProzentPkt. Wahlberechtigte 62.168.489 62.168.489 Wähler 44.005.575 70,8 -6,9 44.005.575 70,8 -6,9 Ungültige 757.575 1,7 -0,0 634.385 1,4 -0,1 Gültige 43.248.000 98,3 0,0 43.371.190 98,6 0,1 SPD 12.079.758 27,9 -10,5 9.990.488 23,0 -11,2 CDU 13.856.674 32,0 -0,6 11.828.277 27,3 -0,5 FDP 4.076.496 9,4 4,7 6.316.080 14,6 4,7 DIE LINKE 4.791.124 11,1 3,1 5.155.933 11,9 3,2 GRÜNE 3.977.125 9,2 3,8 4.643.272 10,7 2,6 CSU 3.191.000 7,4 -0,9 2.830.238 6,5 -0,9 NPD 768.442 1,8 -0,0 635.525 1,5 -0,1 REP 30.061 0,1 -0,0 193.396 0,4 -0,1 FAMILIE 17.848 0,0 -0,1 120.718 0,3 -0,1 Die Tierschutzpartei 16.887 0,0 0,0 230.872 0,5 0,3 PBC 12.052 0,0 -0,1 40.370 0,1 -0,1 MLPD 17.512 0,0 0,0 29.261 0,1 -0,0 BüSo 34.894 0,1 -0,0 38.706 0,1 0,0 BP 32.324 0,1 0,0 48.311 0,1 0,0 PSG 2.957 0,0 -0,0 Volksabstimmung 2.550 0,0 0,0 23.015 0,1 0,0 ZENTRUM 369 0,0 -0,0 6.087 0,0 0,0 ADM 396 0,0 0,0 2.889 0,0 0,0 CM 6.826 0,0 0,0 DKP 929 0,0 0,0 1.894 0,0 0,0 DVU 45.752 0,1 0,1 DIE VIOLETTEN 5.794 0,0 0,0 31.957 0,1 0,1 FWD 11.243 0,0 0,0 ödp 105.653 0,2 0,2 132.249 0,3 0,3 PIRATEN 46.770 0,1 0,1 847.870 2,0 2,0 RRP 37.946 0,1 0,1 100.605 0,2 0,2 RENTNER 56.399 0,1 0,1 Freie Union 6.121 0,0 0,0 Übrige 139.275 0,3 -0,0 Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken. Anzahl
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Immerhin sechs Prozent der Zweitstimmen wurden damit nicht verwertet („Papierkorbstimmen“), entfielen auf kleine Parteien, die mannigfache Wettbewerbsnachteile besitzen. Dieser Umstand kam der Union und den Liberalen, die zusammen 48,4 Prozent der Stimmen erreicht hatten (also nur 2,8 Prozentpunkte mehr als SPD, Linke und Grüne zusammen), ebenso zugute wie die ansehnliche Zahl der Überhangmandate für sie (insgesamt 24; 21 für die CDU, drei für die CSU).10
4
NPD
Trotz der Großen Koalition, die einer solchen Partei gemeinhin Zulauf einbringt, kam die NPD 2009 mit 1,5 Prozent nicht ganz an das Ergebnis von 2005 heran (Jesse 2008). Immerhin erreichte die Partei jeweils 1,8 Prozent der Erststimmen. Das ist ein Indiz für die Annahme, dass manche Wähler ihr die Stimme gegeben hätten, wäre sie verwertet worden. Die NPD, die heute durch ihre Radikalisierung unter Udo Voigt (Jesse 2006) nicht mehr die Deutschnationalen der sechziger, siebziger und achtziger Jahre vertritt (Hoffmann 1999), fand kein Thema, mit dem sie Unzufriedenheiten hätte mobilisieren können, war so nicht kampagnefähig und wurde im Wahlkampf kaum wahrgenommen. Bei der Wählerschaft der NPD sind Personen mit geringer formaler Bildung und schwachem sozialen Status über-, jene mit hoher formaler Bildung unterrepräsentiert. Die Unzufriedenheit mit der Demokratie ist hier überproportional hoch, die eigene wirtschaftliche Situation wird eher als schlecht eingeschätzt, die „Ausländerfrage“ im Vergleich zu Wählern anderer Parteien als wichtiger beurteilt. Die Unterschiede zwischen dem Westen und dem Osten sind auffallend (Tabelle 2). In den neuen Ländern kam die Partei auf 3,1 Prozent, in den alten Bundesländern dagegen nur auf 1,1 Prozent. Das schlechteste Landesergebnis im Osten (Sachsen-Anhalt: 2,2 Prozent) übertraf das beste Ergebnis im Westen (Bayern und Saarland je 1,3 Prozent). Die NPD schnitt in ihrer sächsischen Hochburg mit 4,0 Prozent mehr als viermal besser ab als in Nordrhein-Westfalen (0,9 Prozent). Selbst das Land Berlin spiegelt das unterschiedliche Wahlverhalten wider, wiewohl in etwas abgeschwächter Form. Kam die NPD in Berlin-West auf 1,2 Prozent, so erhielt sie im Ostteil der Stadt, wo Udo Voigt agi(ti)ert(e), 2,2 Prozent. Die NPD ist nicht nur im Osten besser vertreten als im Westen, sondern auch bei den Männern und bei den Jüngeren, wie die repräsentative Wahlstatistik 10
Wäre eine schwarz-gelbe Koalition nur dank der Überhangmandate ins Amt gelangt, so hätte sie eine schwache Legitimität besessen. Stimmenmehrheiten müssen, soll die Legitimation keinen Schaden leiden, Mandatsmehrheiten entsprechen (Behnke 2009).
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zuverlässig belegt. Die Partei ist eine ausgesprochene Männerpartei. Bei den Männern erreichte sie 2,1 Prozent, bei den Frauen 0,8 Prozent. Noch stärker weichen nicht nur bei der Bundestagswahl 2009 die Altersgruppen voneinander ab (18-24 Jahre: 3,3 Prozent; 25-34 Jahre: 2,6 Prozent; 35-44 Jahre: 1,7 Prozent, 45-49 Jahre: 1,3 Prozent; ab 60 Jahre: 0,7 Prozent). Von diesem Befund (starke Überrepräsentanz des Ostens, der Männer und der Jüngeren) gibt es keine Ausnahme. So erreichte die NPD ihr bestes Ergebnis bei den 18- bis 24-jährigen Männern in den neuen Bundesländern mit 8,5 Prozent, ihr schlechtestes bei den über 60-jährigen Frauen in den alten Bundesländern mit 0,3 Prozent.11 Tabelle 2: Erst- und Zweitstimmenergebnisse der NPD bei der Bundestagswahl 2009 (in Prozent) Erststimmen 2009 absolut Prozent Schleswig-Holstein 17.139 1,1 Hamburg 9.181 1,0 Niedersachsen 60.811 1,4 Bremen 4.626 1,4 Nordrhein-Westfalen 112.709 1,2 Hessen 44.260 1,4 Rheinland-Pfalz 34.514 1,6 Baden-Württemberg 89.204 1,6 Bayern 111.662 1,7 Saarland 8.033 1,4 Berlin 34.488 2,0 Mecklenburg-Vorpommern 29.801 3,4 Brandenburg 46.792 3,4 Sachsen-Anhalt 30.183 2,5 Thüringen 43.588 3,5 Sachsen 91.451 4,1 Bund 768.442 1,8 Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Zweitstimmen 2009 absolut Prozent 15.848 1,0 7.679 0,9 53.909 1,2 3.612 1,1 88.690 0,9 35.929 1,1 26.077 1,2 61.575 1,1 87.591 1,3 7.399 1,3 27.799 1,6 28.223 3,3 35.396 2,6 26.584 2,2 39.603 3,2 89.611 4,0 635.525 1,5
Die Gründe für das überproportional starke Votum der Männer für die NPD (ungefähr im Verhältnis von 2:1) sind unterschiedlicher Natur. Die (harten) Themen, die die Partei in den Vordergrund rückt (wie Ausländerpolitik), sprechen eher 11
Weil die repräsentative Wahlstatistik bei der Bundestagswahl 2009 die NPD-Stimmen nicht gesondert nach Alter und Geschlecht auswies, erhielt der Verfasser auf seine Bitte hin die Daten vom Statistischen Bundesamt.
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Männer als Frauen an. Das traditionalistische Familienbild der Partei dürfte Frauen abschrecken. Radikale Parteien ziehen generell stärker Männer als Frauen an (Molitor 1992: 25, 121). Dieses Spezifikum nach dem Geschlecht galt für die „alte“ NPD, wie es für die „neue“ zutrifft. Hingegen traf die Überrepräsentation jüngerer Wähler nicht auf die „alte“ NPD zu. Die heutige NPD spricht den Aktivismus jüngerer Leute an, während sie früher in ihrem starken Traditionalismus auf Wähler dieser Altersgruppe keine Anziehungskraft auszuüben vermochte. Die Bereitschaft einer Partei wie der NPD im Osten (bei Bundestags- wie Landtagswahlen) eher die Stimme zu geben als im Westen, hängt von vielen Faktoren ab: der geringeren Parteiidentifikation, der schwächer ausgeprägten Zivilgesellschaft, der demokratisch weniger guten Konsolidierung und dem höheren Ausmaß an Demokratieunzufriedenheit wie an ökonomischer Instabilität (Backes/Steglich 2007; Miliopoulos 2006). Zwei Großursachen erklären das dort bessere Abschneiden der Partei: zum einen die Erblast des „realen Sozialismus“ (sozialisationsbedingte Faktoren), zum anderen – und vor allem – der gesellschaftlich-ökonomisch schwierige Transformationsprozess (situativ bedingte Faktoren). Heftige Kritik an der Globalisierung geht einher mit der Forderung nach Mindestlöhnen. Einen zentralen Platz nimmt die „Ausländerpolitik“ mit dem „Ausländerrückführungsprogramm“ ein. Die NPD votiert ebenso für die Rückkehr aller deutschen Soldaten aus dem Ausland stark wie für den Abzug aller fremden Truppen aus Deutschland. Die Mitgliedschaft in der NATO sei aufzukündigen. „Das Superwahljahr 2009 findet jetzt eine motivierte handlungs- und kampagnefähige NPD in vollem Wahleinsatz. [...] Die greifbar nahen Erfolge werden einen ungeahnten Auftrieb zur Bundestagswahl am 27. September verursachen und bei der gleichzeitig stattfindenden Landtagswahl in Brandenburg unserer NPD zum vierten Einzug in ein weiteres Landesparlament verhelfen. Nachdem das Jahr für uns sehr bescheiden begonnen hat, glaube ich heute, dass der Parteivorstand mit dem ‚Deutschen Weg‘ ein richtungsweisendes Fundament für weitere Erfolge gelegt hat und dass wir am Ende des Jahres vom ‚Jahr der NPD‘ sprechen werden.“12 Diese Aussage Udo Voigts war mehr Autosuggestion denn Realität. Bis auf den Wiedereinzug der NPD in den Landtag von Sachsen (wenn auch auf einem bescheideneren Niveau) dominierte Stagnation, ist die vom NPD-Theoretiker Jürgen W. Gansel propagierte „Graswurzelrevolution“ ausgeblieben. Der rechte Rand profitiert von der Schwäche der großen Parteien bisher kaum. Die Last der Geschichte ist durch das verheerende Beispiel des Nationalsozialismus so stark, dass eine Partei wie die NPD nicht reüssieren konnte und in 12
Udo Voigt, Die echte Rechte: NPD wählen!, in: http://www.udovoigt.de/ (15. Oktober 2009).
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absehbarer Zeit keine Chance hat, bundesweit die Fünfprozenthürde zu überwinden. Auch wenn sich in den neuen Bundesländern die Situation für die demokratischen Kräfte weniger günstig ausnimmt: Eine geächtete Partei wie die NPD findet keine gesellschaftlich geachteten Repräsentanten. Die Angebotsstrukturen sind damit für sie noch schlechter als die Gelegenheitsstrukturen. Wenn die NPD weiter ihren aggressiven Kurs fährt (und ein glaubwürdiger Wandel ist schwerlich möglich), dürfte sie nicht reüssieren. Die Partei hat ihre – begrenzten – Erfolge nicht wegen, sondern trotz ihres aggressiven Kurses erreicht. Sie wird als Protestpartei wahrgenommen, jedoch schadet ihr der systemfeindliche Charakter selbst bei einem großen Teil der unzufriedenen Bevölkerung (Jesse 2010). Nach der nächsten Vorstandswahl im Jahr 2011 könnte der Bundesvorsitzende nicht mehr Udo Voigt heißen, sondern aus den Reihen der relativ erfolgreichen Landesverbände Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern kommen. Voigt hat die NPD in eine Sackgasse geführt. Vielleicht gelangt sein früherer politischer Ziehsohn Holger Apfel an die Spitze der Partei (Goll 2008). Wie bei Voigt liegt dessen Stärke im organisatorischen Bereich. Sein „sächsischer Weg“ ist weniger abschreckend als Voigts „deutscher“. Udo Voigt und Matthias Faust, der Nachfolger des millionenschweren Gerhard Frey bei der DVU, wollten im Jahr 2010 die Fusion der beiden Rechtsparteien auf den Weg bringen. Sowohl die NPD als auch die DVU hatte auf einem Parteitag die Fusion zur „NPD – Die Volksunion“ beschlossen, so der Name. Urabstimmungen der Mitglieder beider Parteien segneten diesen Beschluss ab. Damit schien Ende 2010 die Verschmelzung beschlossene Sache zu sein. Doch die DVU-Landesverbände Berlin, Niedersachsen und NordrheinWestfalen stellten die ordnungsgemäße Einberufung zur Urabstimmung in Frage. Ausgerechnet in dem Moment, in dem die DVU schon „tot“ war, entwickelte die „Briefkastenfirma“ innerparteiliches Leben und erhob beim Landgericht München gegen die Fusion Einspruch. Das Gericht gab den Klägern Ende Januar 2011 Recht und untersagte den Zusammenschluss. Diese könne erst nach einer ordnungsgemäßen Urabstimmung der DVU-Mitglieder rechtens sein. Wie auch immer: Durch die Fusion, die faktisch ein Aufgehen der sehr schwachen DVU in der schwachen NPD bedeutet, ist bzw. wäre diese keineswegs gestärkt.
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Piratenpartei
Die Piratenpartei, gegründet 2006, erreichte auf Anhieb bei der Bundestagswahl 2009 2,0 Prozent der Stimmen, und damit mehr als die Partei der Grünen bei ihrer erstmaligen Kandidatur 1980 (1,5 Prozent). Steht ihr nun ein ebensolcher Aufstieg bevor? Die im doppelten Sinne jungen „Piraten“ (Durchschnittsalter der
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Mitglieder: etwa 30 Jahre) verstehen sich wie einst die Grünen mehr oder weniger als eine Ein-Themen-Partei. Sie sind einerseits eine Partei der „Informationsgesellschaft“, plädieren für freie Zugänglichkeit aller Informationen und warnen andererseits vor deren (Neben-)Folgen, was etwa digitale Überwachung, OnlineDurchsuchung und Vorratsdatenspeicherung betrifft (Bartels 2009; Blumberg 2010; Zolleis/Prokopf/Strauch 2010). Die „Piraten“ sind keine Abspaltung von einer anderen politischen Kraft, sondern eine originäre Gründung, freilich ein nahezu europaweites Phänomen. Ihr Alleinstellungsmerkmal: die Akzeptanz der digitalen Revolution ohne Wenn und Aber. Die Partei sagt jeglicher Art von „Netzsperren“ den Kampf an und wittert bei Schutzmaßnahmen (gegen Raubkopien, gegen Kriminalität, gegen Pornographie, gegen Terrorismus) eine Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte. Dieses Cleavage dürfte jedoch für die bundesdeutsche Gesellschaft nicht zentral sein, zumal auch andere Parteien wie die Grünen und die Liberalen es hinreichend stark bedienen. Die Union hingegen steht dem Anliegen der Piratenpartei prinzipiell skeptisch gegenüber. Diese hat sich insbesondere gegen das mit Ursula von der Leyen verbundene „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen“ profiliert. „Die Argumentationslinie, nur diejenigen Themen und Forderungen zu vertreten, die durch die eigene Kompetenz wirklich getragen werden können, wurde [...] bewusst zur Mitgliederwerbung und offensiv als Abgrenzungskriterium zu den etablieren Parteien eingesetzt. Im Vordergrund ihrer programmatischen Forderungen steht demzufolge eine Protesthaltung gegen die etablierten Parteien: Protest, den sie äußern, obwohl einige ihrer Forderungen von manchen etablierten Parteien auf dem politischen Markt sogar aufgegriffen werden“ (Zolleis/Prokopf/Strauch 2010. 14). Gleichwohl versucht die Partei, ihr Themenspektrum auszuweiten. Die „Piraten“ haben kaum prominente Mitglieder. Wer kennt schon den Vorsitzenden Jens Seipenbusch oder gar seinen Stellvertreter Andreas Popp? In einer Zeit, in der Personalisierung eine große Rolle spielt, ist dies ein schweres Manko. Der Partei fehlt ein „strategisches Zentrum“ (Zolleis/Prokopf/Srauch 2010: 22). Auch das innerparteiliche Leben ist stark durch die digitale Revolution bestimmt. Es ist für die mangelnde Festigkeit der Partei wohl bezeichnend, dass sie kaum mit Direktkandidaten aufwarten konnte und wollte. Die Zahl der Übertritte von Politikern aus anderen Parteien fiel spärlich aus. Meistens handelt es sich um Personen, die in ihren Reihen aus diesem oder jenem Grund in Ungnade gefallen waren, wie etwa Angelika Beer von den Grünen. Der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Jörg Taus hat die Piratenpartei nach seiner rechtskräftigen Verurteilung wegen des Besitzes von kinderpornographischem Material im Mai 2010 wieder verlassen.
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Anders als bei der NPD fallen die Stimmenanteile – bezogen auf den Osten und den Westen des Landes – relativ gleichmäßig aus. Es gibt eine knappe Überrepräsentation im Osten (Tabelle 3). Die Partei schneidet am besten in den Stadtstaaten ab – mit einem Spitzenergebnis in Berlin (3,4 Prozent). Das Statistische Bundesamt hat im Nachhinein versucht, mit Hilfe der repräsentativen Wahlstatistik das Wahlverhalten für die „Piraten“ nach dem Geschlecht und dem Alter zu ermitteln. Für sieben Bundesländer ist dies gelungen.13 Danach schnitt die Partei bei den Männern deutlich besser als bei den Frauen ab, in jedem Land mehr als zweimal besser, zum Teil fast dreimal. Am größten war die Kluft in Hessen und in Baden-Württemberg mit 3,1 Prozent zu 1,1 Prozent. Wer die Altersgruppen miteinander vergleicht, stößt auf weitaus größere Unterschiede. Die Partei erreichte bei den 18- bis 24-Jährigen in Mecklenburg-Vorpommern 10,3 Prozent, bei den über 60-Jährigen nur 0,3 Prozent. Der geringste Abstand besteht in Berlin: 9,4 Prozent zu 0,5 Prozent. Bei der Kombination von Alter und Geschlecht fällt die Diskrepanz besonders krass aus: So votierten 12,9 Prozent der 18- bis 24jährigen Männer in Hessen für die Partei, aber nur 0,2 der über 60-jährigen Frauen. Mit zunehmendem Alter lässt die Differenz zwischen den Geschlechtern nach, was die Präferenz für die Partei betrifft. Die Thematik der „Piraten“ spricht offenkundig junge Männer an, die nicht wünschen, dass die Gesellschaft der digitalen Revolution Grenzen setzt. Diese Kluft zwischen den Generationen fällt damit höher als bei der NPD und auch höher als früher bei den Grünen aus. Bei der Wählerschaft der Partei dominieren formal höher gebildete Personen. Die Perspektiven der Piratenpartei sind besser als die der NPD, aber wohl nicht gut. Mittlerweile hat sie etwa 12.000 Mitglieder. Nachdem 2009 mit der Europawahl eine Art öffentlicher „Hype“ eingetreten war, stagniert ihre Entwicklung nunmehr. Bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 erhielt die Partei mit 1,6 Prozent ungefähr den Anteil, den sie bei der Bundestagswahl im Lande erreicht hatte (1,7 Prozent). Bisher konnte sie bei keiner Landtagswahl das Resultat der Bundestagswahl überbieten. Immerhin gelang es ihr, neben Nordrhein-Westfalen auch in Sachsen (1,9 Prozent) und in SchleswigHolstein (1,8 Prozent) die für die Parteienfinanzierung wichtige Hürde von einem Prozent deutlich zu übertreffen. Oskar Niedermayer hat zur Messung des Erfolges einer neuen Partei ein fünfstufiges Modell entfaltet: Wahlteilnahme – Wettbewerbsbeeinflussung – parlamentarische Repräsentation – koalitionsstrategische Inklusion – Regierungsbeteiligung (Niedermayer 2010). Von einem Einzug in einen Landtag, geschweige denn in den Bundestag, ist die Partei augenscheinlich weit entfernt. Sie beeinflusst den Wettbewerb (durch Reaktionen anderer Kräfte), bestimmt ihn 13 Vgl. Brief von Gabriele Schömel v. 26. Februar 2010 an den Verfasser mit der Übermittlung der einschlägigen Angaben.
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jedoch nicht, treibt die großen Parteien nicht vor sich her. Die Themen, die sie zu befördern sucht, spielen zwar in den Medien eine gewisse Rolle, bewegen jedoch die Masse der Bürger kaum. Nicht die rechtlichen Rahmenbedingungen setzen der Piratenpartei Grenzen, wohl aber die politischen. Bei zentralen Themen wie Sozial- und Wirtschaftspolitik weisen die „Piraten“ für die Wähler so gut wie keine Kompetenzwerte auf. Auch wenn das mancher anders sieht (Neumann 2009): Weder die programmatischen noch die strategischen noch die organisatorischen Komponenten sprechen für ein Anwachsen der Partei. Tabelle 3: Erst- und Zweitstimmenergebnisse der Piratenpartei bei der Bundestagswahl 2009 (in Prozent) Erststimmen 2009 absolut Prozent Schleswig-Holstein Hamburg Niedersachsen 4.214 0,1 Bremen Nordrhein-Westfalen Hessen 3.866 0,1 Rheinland-Pfalz 3.188 0,1 Baden-Württemberg 11.400 0,2 Bayern 24.102 0,4 Saarland Berlin Mecklenburg-Vorpommern Brandenburg Sachsen-Anhalt Thüringen Sachsen Bund 46.770 0,1 Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
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Zweitstimmen 2009 absolut Prozent 33.277 2,1 23.168 2,6 87.046 2,0 8.174 2,4 158.585 1,7 66.708 2,1 41.728 1,9 112.006 2,1 135.790 2,0 8.620 1,5 58.062 3,4 20.063 2,3 34.832 2,5 28.780 2,4 31.031 2,5 847.870 2,0
Reformvorschläge
Gibt es, was die rechtliche Seite betrifft, Reformnotwendigkeiten zur Verbesserung der Chancengleichheit kleinerer Parteien? Wer solche sieht, muss kein prinzipieller Anhänger kleiner Parteien sein und kein Gegner großer. Ihm geht es vielmehr darum, das Konkurrenzsystem elastischer zu gestalten. Offenheit stärkt
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die Bürgergesellschaft und damit indirekt auch die vielfach als erstarrt empfundene Parteiendemokratie. Das erste Reformvorhaben betrifft die Verwertung der Stimmen. Im Jahre 1949 gelang es einer Reihe von Parteien (Bayernpartei: 4,2 Prozent; Deutsche Partei: 4,0 Prozent; Zentrum: 3,1 Prozent; Wirtschaftliche Aufbauvereinigung: 2,9 Prozent; Deutsche Rechts-Partei: 1,8 Prozent; Südschleswigscher Wählerverband: 0,3 Prozent), die bundesweit keine fünf Prozent der Stimmen erzielt hatten, in den Deutschen Bundestag einzuziehen. Das lag an der Fünf-Prozent-Klausel, die seinerzeit auf die Länderebene bezogen war und an der Ausnahmeregelung für den SSW (Kuhn 1991). Die Zahl der aufgrund der Sperrhürde unberücksichtigt gebliebenen Stimmen ging bei den Wahlen zwischen 1972 und 1987 nicht über 2,0 Prozent hinaus (Tabelle 4). Die Angaben in der Tabelle sind ungenau, da 1949 aufgrund der landesweiten Verrechnung Stimmen auch bei jenen Parteien, die in den Bundestag gelangten, unverwertet blieben, weil sie nicht in allen Ländern fünf Prozent der Stimmen erreichten. So kam die KPD bei 5,7 Prozent der Stimmen nur auf 3,7 Prozent der Mandate. Die höchste Quote (8,0 Prozent bei der Bundestagswahl 1990) erklärt sich u.a. mit dem Scheitern der West-Grünen an der Fünfprozenthürde (4,7 Prozent), was einem bundesweiten Stimmenanteil von 3,8 Prozent entsprach. Tabelle 4: Unberücksichtigt gebliebene Zweitstimmen bei der Mandatsvergabe seit 1949 (in Prozent) 1949: 5,9 1983: 0,5 1953: 6,5 1987: 1,4 1957: 6,9 1990: 8,0 1961: 5,7 1994: 3,6 1965: 3,6 1998: 5,8 1969: 5,5 2002: 7,1 1972. 0,9 2005: 4,0 1976: 0,9 2009: 6,0 1980: 2,0 Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Bei diesen Angaben musste die psychologische Wirkung der Sperrklausel unberücksichtigt gelassen werden. Denn über die Höhe der Wähler, die für eine größere Partei lediglich deshalb votieren, um die eigene Stimme nicht zu „verschenken“, lässt sich nur spekulieren. Mit Sicherheit haben einige Wähler nicht ihrer ersten Präferenz die Stimme gegeben. Insofern handelt es sich bei den Angaben um ein Minimum.
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Im Sinne der Funktionsfähigkeit des Parlaments muss ein bestimmter – nicht zu großer – Prozentsatz für die Mandatsvergabe erreicht sein. Die Fünfprozentklausel ist ein sinnvoller Kompromiss zwischen den beiden Kriterien „Bildung regierungsfähiger Mehrheiten“ und „Repräsentation der politischen Richtungen“, die in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen. Auch wenn es schwierig ist, den Anteil der Fünfprozentklausel bei der Konzentration des Parteiensystems genau zu erfassen, so herrscht doch überwiegend zu Recht die Auffassung vor, sie habe sich bewährt. So sinnvoll die Sperrklausel damit ist, so erscheint angesichts der erwähnten Stimmen, die unberücksichtigt bleiben, eine Reform angebracht. Dass die Stimmen einer beträchtlichen Anzahl von Wählern „unter den Tisch fallen“, ist ein offenkundiger Missstand. Der Wahlakt ist das urdemokratische Prinzip schlechthin. Insofern sollte jedes Votum verwertet werden. Erhält der Wähler eine Nebenstimme, so kann er mit seiner Hauptstimme ohne Risiko für die Partei votieren, die ihm am sympathischsten erscheint (Jesse 1985; Decker 2011). Sollte diese Kraft an der Fünfprozenthürde scheitern, käme die Nebenstimme zur Geltung.14 Auf diese Weise ginge das Votum des Wählers nicht verloren. Der positive Effekt der Fünfprozentklausel (Schutz vor Zersplitterung im Parlament) bliebe gewährleistet, die negative Wirkung verschwände (die fehlende Berücksichtigung von Stimmen). Dieser Reformvorschlag überfordert die Wähler nicht. Er ist in Deutschland ohne Tradition, jedoch in anderen Ländern wie Australien bekannt („alternative vote“). Ob dadurch der Anteil der kleinen Parteien im Parlament wirklich stiege, ist unerheblich. Das zweite Reformvorhaben betrifft die Frage der Wahlzulassung, die im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 mehr Aufmerksamkeit fand als zuvor – wohl deshalb, weil der Bundeswahlausschuss vor dem Hintergrund vergangener Wahlen weniger liberal entschieden und mancher Gruppierung die Eigenschaft als Partei abgesprochen hat – anders als früher. Wer an die Wahlwerbung gewisser Vereinigungen denkt, kann die Vermutung hegen, in der Vergangenheit sei zu großzügig verfahren worden. Die Crux ist jedoch, dass nicht einfach zu entscheiden ist, ob eine Vereinigung die in § 2 des Parteiengesetzes genannten und nicht klar operationalisierbaren Merkmale erfüllt. Ein unumstrittenes und klar messbares Kriterium steht wohl nicht zur Verfügung. Da der Bundeswahlausschuss die Ernsthaftigkeit der Kandidatur prüfen muss, um die Wahl nicht zu entwerten, wäre eine doppelte Regelung besser: einerseits ein zurückhaltendes Agieren des Bundeswahlausschusses, der nur offenkundigen „Witzvereinigungen“ die Zulas14 Für den Fall, dass der Wähler auch mit seiner Nebenstimme eine Partei mit weniger als fünf Prozent wählt, gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder bleibt seine Stimme dann unberücksichtigt (pragmatische Variante) oder (perfektionistische Variante) die Stimme fällt derjenigen Partei mit über fünf Prozent zu, die der Wähler bei seiner Reihung als erste vermerkt hat.
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sung versagt, andererseits mehr Engagement von den politischen Vereinigungen, ihre Ernsthaftigkeit positiv unter Beweis zu stellen, z.B. dadurch, dass sie ein höheres Unterschriftenquorum erfüllen (Meinel 2010: 73). So ließe sich an eine Verdopplung denken. Wenn eine Vereinigung vom Bundeswahlausschuss nicht als Partei anerkannt wird und trotzdem bei den Landeswahlausschüssen Landeslisten einreicht, sehen sich diese aufgrund des übergeordneten Votums gezwungen, deren Zulassung zu verweigern – ganz unabhängig davon, ob genügend Unterstützerunterschriften vorliegen. Dagegen kann die Vereinigung beim Bundeswahlausschuss Beschwerde einlegen. Dieser Sachverhalt ist unhaltbar. Der Wahlausschuss entscheidet damit in eigener Sache. Salopp formuliert: Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Um für Unabhängigkeit zu sorgen, müsste eine unabhängige, etwa von Richtern besetzte Instanz eingeschaltet werden. Kritikwürdig erscheint ferner das damit in Zusammenhang stehende Wahlprüfungsverfahren. Der Bundestag ist aus dem Verfahren herauszuhalten. Gegenwärtig obliegt ihm die Wahlprüfung in erster Instanz, erst in zweiter steht sie dem Bundesverfassungsgericht zu. Eine richterliche Überprüfung von Anfang an könnte jeden Anschein vermeiden, als gehe es um die „eigene Sache“.15 Insgesamt laufen die Vorschläge darauf hinaus, den „Parteienstaat“ zurückzudrängen.
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Abschließende Thesen
Erstens: Die Verluste der beiden Volksparteien bei der Bundestagswahl 2009 begünstigten die drei mittelgroßen Parteien, weniger die Kleinparteien, die sich freilich auf 6,0 Prozent zu steigern vermochten. Es sieht nicht nach einem Reüssieren der beiden größten Kleinparteien aus – die NPD schreckt selbst dezidiert konservative Wähler mit ihrer aggressiv-militant antidemokratischen Art ab; die Piratenpartei dürfte mit ihrer Fixierung auf die digitale Revolution kein zentrales Konfliktissue besitzen. Sie ist mehr eine Klientel-Partei. Über regionale Erfolge dürften die beiden Kräfte nicht hinauskommen. Zweitens: Die Schwächen der kleinen Parteien gehen zum einen auf vielfältige Mechanismen des Staates und des Politikbetriebs zurück, die ein Aufkommen erschweren. Zum anderen erklären sie sich mit Mängeln der Kleinen. Diese ziehen oft Exzentriker an, Querulanten, Besserwisser, Gescheiterte aus anderen Parteien. Die Integrationsschwäche der Volksparteien hat mehr den Grünen, den Liberalen und den Postkommunisten genützt, weniger den Kleinparteien, die oft 15
Die Internetplattform „wahlrecht.de“ hat einen konkreten Vorschlag entwickelt: Reform der Wahlprüfung bei Bundestagswahlen überfällig. Notwendigkeit einer effektiven Wahlprüfung, in: http:// wahlrecht.de/wahlprüfung/wahlgericht.html (10. August 2009).
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nur ein Thema auf ihr Panier geschrieben haben. Momentan ist nicht erkennbar, dass sich der Protest in beträchtlicher Größenordnung auf die Kleinparteien durchschlägt. Drittens: Für eine rechtspopulistische Kraft wie in anderen demokratischen Verfassungsstaaten sieht es in Deutschland nicht gut aus. Die Last der Vergangenheit wirkt nach. Sie würde mehr oder weniger schnell in die „rechte Ecke“ geraten. Der Abwehrmechanismus gegenüber dieser Richtung funktioniert – zum Teil in einer Weise, die Liberalität vermissen lässt. Ein großes Wählerpotenzial für „das“ Migrationsthema verbürgt mithin noch keinen Erfolg. Auch wenn die „Dagegen“-Haltung vieler Bürger in den letzten Jahren den Großparteien Niederlagen beschert hat, ist damit keine Aufbruchstimmung zugunsten einer – beispielsweise – „Blocher“-Partei wie in der Schweiz verbunden. Viertens: Die größte Möglichkeit für eine sechste Parlamentspartei auf Bundesebene läge bei einer Abspaltung von Repräsentanten aus der Union und der SPD vor. Verunsicherte Sozialdemokraten könnten mit der sozio-ökonomischen Konfliktdimension angesprochen werden, verunsicherte Konservative mit der sozio-kulturellen. Voraussetzung für den Erfolg eines solchen Bündnisses wäre die Kooperation zweier populärer Kräfte aus den beiden Lagern: etwa Wolfgang Clement und Friedrich Merz. Danach sieht es nun wahrlich nicht aus. Fünftens: Die Annahme, eine Vergrößerung des Parteiensystems (z.B. auf sechs Parteien) würde die Koalitionsbildung erschweren, ist so nicht richtig. Die gegenwärtigen – tatsächlichen oder potenziellen – Schwierigkeiten wurzeln nicht in der Erweiterung des Parteiensystems, sondern hängen mit der auf Bundesebene nicht als „koalitionswürdig“ geltenden Partei „Die Linke“ zusammen. Es kommt immer auf die Art der Erweiterung an: Die Piratenpartei würde die Koalitionsbildung erleichtern, die NPD sie erschweren. Literatur Backes, Uwe (2000): Probleme der Beobachtung und Berichtspraxis der Verfassungsschutzämter – am Beispiel von REP und PDS, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.): 50 Jahre Verfassungsschutz in Deutschland, Köln: Heymanns, S. 213-231. Backes, Uwe/Steglich, Henrik (Hrsg.) (2007): NPD. Erfolgsbedingungen einer rechtsextremen Partei in Deutschland, Baden-Baden: Nomos. Bartels, Henning (2009): Die Piratenpartei. Entstehung, Forderungen und Perspektiven der Bewegung, Berlin: Contumax. Behnke, Joachim (2009): Überhangmandate bei der Bundestagswahl 2009. Eine Schätzung mit Simulationen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40, S. 620-636. Blumberg, Fabian (2010): Partei der „digital natives“? Eine Analyse der Genese und Etablierungschancen der Piratenpartei, Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung.
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Absturz der Volksparteien
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Absturz der Volksparteien Eine Analyse der loyalen und ehemaligen Wählerschaft von CDU und SPD im Vergleich Absturz der Volksparteien
Manuela S. Kulick
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Einleitung
Über den Absturz oder den Niedergang der Volksparteien wurde schon viel geschrieben und diskutiert. Das Thema ist also durchaus nicht als neu zu bezeichnen. Nach dem dramatisch schlechten Abschneiden der SPD bei der letzten Bundestagswahl 2009 wurde die Diskussion nun erneut entfacht. Kann in Deutschland noch von zwei Volksparteien gesprochen werden? Darf sich eine Partei, die nur 23 Prozent der Stimmen erreicht noch Volkspartei nennen? Bevor darauf eine Antwort gesucht werden kann, muss zumindest ein kurzer Blick auf die Benennung „Volkspartei“ geworfen werden. Gibt es – aufgrund der schlechten Wahlergebnissen – nun keine Volksparteien mehr in Deutschland? Pauschal lässt sich dies sicher nicht beantworten und Volksparteien nur über ihre Wählerstimmen zu definieren, ist zu undifferenziert. Es lassen sich vielfältige Definitionen und Diskussionen zu dem Begriff an sich finden. Jesse (2009: 291f.) charakterisiert eine Volkspartei, über eine große Wählerschaft, eine breit gefächerte Programmatik und die Akzeptanz der demokratischen Prinzipien. Wildemann hält dagegen, dass es keine „typischen“ Volksparteien gebe (Wildemann 1989: 36). Vielmehr sieht er in Volksparteien Großparteien, die sich aus verschiedenen Strukturelementen zusammensetzen. Eine ausführliche Darstellung von Volksparteien gibt auch Mintzel (1984) und in einer jüngeren Untersuchung Hofmann (2004). Auf die verschiedenen einzelnen Definitionen von Volksparteien soll und kann hier aber nicht weiter eingegangen werden. Im Folgenden wird deshalb unter einer Volkspartei, wie auch bei Niedermayer (2010: 265) eine Partei verstanden, die ihre Mitglieder und Wähler (aus verschiedenen sozialen Schichten) mit einer breiten Programmatik anspricht, sich flächendeckend organisiert und bündnisoffen agiert. Entstanden sind Volksparteien in Deutschland im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch gesellschaftliche Veränderungen. Nach Jahren, in denen sie um die 90 Prozent der Wähler an sich binden konnten, folgten Jahre, in O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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denen diese Bindung langsam nachließ. Schon 1989 titelte Wildemann seine Studie „Volksparteien. Ratlose Riesen“ und verwies auf die schwindende Kraft der CDU und SPD. Auch Feist betrachtete die Volksparteien bereits 1994 „als Relikte, als Dinosaurier aus der alten Zeit“ (1994: 107). Die Abkehr der Wähler von den Volksparteien ist also nicht als plötzlicher Einschnitt zu sehen, sondern vielmehr als schleichender Prozess. Viele Stammwähler gaben ihrer Partei zeitweise noch aus Gründen der Tradition ihre Stimme. Durch die nachlassende Bindung, konnte aber schließlich auch die Tradition die Wähler nicht mehr bewegen, ihre Stimme einer Partei zu geben, die ihre Interessen nicht mehr entsprechend vertrat (Vester, Geiling 2009: 25). Diese Entwicklung ist auf gesellschaftliche Veränderungen zurückzuführen, welche sich durch höhere Bildung der Wählerschicht, Individualisierungstrends und dem Einfluss der Medien auszeichnet (Kleinert 2010: 61). Dabei ist sie konstant einem Wandel unterworfen. Gerade deshalb ist es aber notwendig, nicht von der häufig betitelten „Krise der Volksparteien“ zu sprechen, sondern von einem Abstieg oder Erosion. „Eine Krise könne man überwinden und dann sei es wieder wie vorher. Dies sei nicht mehr möglich, die Rettung [der Volksparteien] liege nicht in der Vergangenheit“ (Borchard 2009: 282). Das einstige Ziel der Volksparteien, dauerhaft mehr als 35 Prozent der Wähler, sowie ein Prozent der Wahlberechtigten als Mitglieder zu gewinnen, scheint damit erst einmal in weite Ferne gerückt zu sein (Lösche 2009: 7f). Ein notwendiges Kriterium für eine Volkspartei ist neben Wählerstimmen auch die Verankerung im Volk. Um diese zu untersuchen, darf nicht nur auf die oftmals betrachtet Addition der Stimmanteile der SPD und CDU geschaut , sondern muss ihr Anteil an den Wahlberechtigten untersucht werden. Dies ist zwar für die Mandatsvergabe im Bundestag nicht von Bedeutung, wohl aber für die gesellschaftliche Verankerung, da sich in der Mobilisierung der Wähler auch eben diese ablesen lässt. In ihrer Hochphase, den 1970er Jahren, konnten die beiden Volksparteien über 80 Prozent der Wahlberechtigten und über 90 Prozent der Wähler für sich gewinnen. Von diesen Zahlen waren SPD und CDU bei der Bundestagswahl 2009 weit entfernt. Es gelang ihnen gerade einmal 56,8 Prozent der Wähler und nur 39,6 Prozent der Wahlberechtigen zu einer Stimmenabgabe für sie zu bewegen. Der zu Anfangs nur schleichende Verlust an Wählerstimmen der Volksparteien zeigte sich bei den letzten Wahlen durchaus deutlich.1 Bei einem Vergleich der Wahlergebnisse von 2005 und 2009 in Prozent bzw. in Wählerstimmen ist der massive Verlust gut sichtbar (Tabelle 1). Sichtbar wird vor allem auch der Verlust der Union. Während sie „nur“ 1,4 Prozent der Wählerstimmen im Vergleich zur Wahl 2005 verlor, entschieden 1
Vgl. dazu auch das Schaubild von Niedermayer 2010: 267.
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sich doch 11,9 Prozent bzw. knapp 2 Millionen Wähler weniger, der Union ihre Stimme zu geben. Die SPD verlor bei der Bundestagswahl 2009 11,2 Prozent der Wählerstimmen, dementsprechend fiel auch der Verlust von Wählerstimmen erwartungsgemäß höher aus. Sie verlor über sechs Millionen Stimmen, was einem Anteil von 38,3 Prozent entspricht. Tabelle 1: Verlust der Wählerstimmen Wahlergebnis in Prozent Union SPD 2009 33,8% 23,0% Differenz zu 2005 -1,4% -11,2% Quelle: Eigene Darstellung mit Daten des Bundeswahlleiters.
Wahlergebnis in Wählerstimmen (in 1.000) Union SPD 14.658 9.990 -11,9% -38,3%
Als Indikatoren für den Bedeutungsverlust der Volksparteien und ihrer Verankerung im Volk macht von Armin drei Punkte aus: Schwund der Wähler, Schwund der Mitglieder und Rückgang der Wahlbeteiligung (von Arnim 2009: 190). Beide Volksparteien haben massiv an Stimmen verloren, auch wenn das schlechte Abschneiden der CDU in den Medien nach der Bundestagswahl nur wenig thematisiert wurde. Dies mag sicher mit dem auffallend schlechten Abschneiden der SPD zusammenhängen, aber auch mit der Tatsache, dass die CDU unter Angela Merkel nach vier Jahren der Großen Koalition nun endlich ihre Wunschkoalition mit der FDP eingehen konnte. Sie schien also der Sieger auf ganzer Linie.2 Bei dem bereits aufgezeigten prozentualen Stimmenverlust der SPD, aber auch des durchaus hohen Anteils der Wähler, die sich nicht erneut für die CDU entschieden, ist davon auszugehen, dass nicht nur die „natürlichen“ Wechselwähler, welche von Wahl zu Wahl neu entscheiden, wem sie ihre Stimme geben, der SPD (und teilweise auch CDU) ihre Stimme verweigert haben. Vielmehr müssen auch Stammwähler ihr Kreuz bei einer anderen Partei gemacht haben oder aber zuhause geblieben sein. Dabei stellt sich dann auch die Frage, an wen die beiden einstmals stolzen deutschen Volksparteien ihre Wähler verloren haben. Haben ihnen eher die Wähler am Rand oder eher die der Mitte die Stimme verweigert? Dass vielen Wählern die CDU nicht rechts genug ist und zu wenig konservatives Gedankengut vertritt konnte auch die Sarrazin-Debatte zeigen. Mei2
Dabei erreichte sie nur 27,3 Prozent der Stimmen, ein durchweg schlechtes Ergebnis für die CDU und eine Volkspartei an sich. Obwohl die CDU nur gut jeden vierten Wähler für sich gewinnen konnte, gelang es ihr trotzdem die Regierung zu stellen, was dem guten Abschneiden ihrer Koalitionspartner geschuldet ist. Die FDP konnte ihr bislang bestes Wahlergebnis erlangen und erreichte 14,6 Prozent der Wähler. Das Abschneiden der CSU war mit 6,5 Prozent nicht phänomenal, aber durchaus akzeptabel.
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nungsforscher kamen zu dem Ergebnis, dass sich 16 Prozent der Deutschen vorstellen könnten, eine Sarrazin Partei zu wählen, welche im deutschen Parteiensystem rechts von der CDU stehen würde (Kemnitzer 2010).3 Dabei ist natürlich zu beachten, dass die reine Möglichkeit, einer Partei eventuell seine Stimme zu geben, nur wenig über die tatsächliche Stimmabgabe aussagt. Festgehalten werden muss aber, dass in jedem Falle ein Potenzial vorhanden ist, welches sich sicher auch aus unzufriedenen CDU Wählern speist. Ähnlich stellt sich die Situation im Lager der SPD dar. Während einige der CDU-Anhänger sich „ihre“ Partei weiter „rechts“ wünschen, sieht ein Teil der SPD-Anhänger sich durch den Mitte-Ruck der SPD unter Schröder nicht mehr gut vertreten und wünscht sich dementsprechend einen Ruck rückwärts, wieder nach „links“. Auch diese Möglichkeit wurde in den Medien wie auch der Partei nach dem Wahldebakel eifrig diskutiert (beispielsweise im Spiegel 2009). Es bleibt festhalten: weder die SPD, noch die CDU konnten zur Bundestagswahl 2009 Wähler in der Menge, wie es von einer Volkspartei in Deutschland bislang erwartet wurde, für sich gewinnen. Im Folgenden soll der Bedeutungsverlust der Volksparteien anhand der anhaltend schlechter werdenden Wahlergebnisse auf Bundesebene und damit verbunden der sinkenden Verankerung in der Gesellschaft festgemacht werden. Dabei interessiert vor allem die Frage, welche Wähler sich von den Volksparteien abgewandt haben und in wie fern sie sich von den loyalen Wählern unterscheiden. Neben der Unterscheidung der loyalen und ehemaligen Wähler wird auch ein Vergleich zwischen den CDU und SPD Wählern vorgenommen. Von besonderem Interesse sind aber vor allem die ehemaligen Wähler. Diese werden auch auf ihr Potenzial zur Rückgewinnung durch die Volksparteien untersucht.
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Datengrundlage und Gruppenbildung
Daten der German Longitudinal Election Study (GLES) bilden die Grundlage für die folgenden Analysen.4 Aufgrund der teilweise recht kleinen Gruppen (insbe-
3 Andere Umfragen kamen teilweise zu noch deutlich höheren Werte; so beispielsweise eine von Thorsten Faas in Auftrag gegebene Umfrage, nach der sich sogar 26 Prozent der Deutschen vorstellen könnten, einer Sarrazin Partei ihre Stimme zu geben (Handelsblatt 2010). 4 Die Daten, die in diesem Beitrag verwendet werden, wurden von GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften zugänglich gemacht. Die Daten der beiden Umfragen wurden im Rahmen der German Longitudinal Election Study (Komponente 1: Querschnitt und Komponente 2: Rolling Cross Section) von Prof. Dr. Hans Rattinger (Universität Mannheim), Prof. Dr. Sigrid Roßteutscher (Universität Frankfurt), Prof. Dr. Rüdiger Schmitt-Beck (Universität Mannheim) und PD Dr. Bernhard Weßels (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) erhoben. Sie wurden von GESIS für die
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sondere der ehemaligen CDU Wähler), wurden zwei Datensätze der GLES kumuliert. Der Vor- und Nachwahlquerschnitt existierte bereits als Kumulation. Diese wurde um die entsprechenden Variablen der Rolling Cross Section mit Nachwahl-Panelwelle (RCS) ergänzt.5 Somit steht eine ausreichend große Gesamtfallzahl von insgesamt 10.900 Fällen für die Analysen zur Verfügung. Um die loyale und ehemalige Wählerschaft der beiden Volksparteien analysieren zu können, müssen zwei Gruppen von Wählern gebildet werden: die loyalen Wähler der Volksparteien (aufgeschlüsselt nach CDU und SPD) und die ehemaligen Wähler der beiden Volksparteien. Dabei kann die Gruppe der loyalen Wähler der Volksparteien recht einfach über die aktuelle Wahlentscheidung (Bundestagswahl 2009) und die ehemalige Wahlentscheidung (Bundestagswahl 2005) gebildet werden. Die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2005 wird dabei über eine Recall-Frage abgefragt.6 Neben den loyalen Wählern existiert eine große Gruppe ehemaliger Wähler, wobei diese Gruppe bei der SPD deutlich größer ist, als bei der CDU. Diese Gruppe kann ebenfalls über die aktuelle und ehemalige Wahlentscheidung gebildet werden. Wer 2005 seine Stimme der CDU/SPD gab, sich 2009 aber nicht wieder für die gleiche Partei entschied, wurde der Gruppe der ehemaligen Wähler zugeordnet. Durch diese Aufteilung lassen sich 573 Personen den ehemaligen CDU-Wählern und 706 Personen den ehemaligen SPD-Wählern zuordnen. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei den ehemaligen Wählern nicht um eine heterogene Gruppe handelt. Vielmehr ist zu vermuten, dass einige Wähler der CDU bzw. SPD für diese dauerhaft, andere dagegen nur kurzfristig verloren sind und die Volksparteien durch die richtige Politik durchaus Chancen haben, diese wiederzugewinnen. Analyse aufbereitet und dokumentiert. Weder die genannten Personen noch die Institute tragen Verantwortung für die Analyse oder Interpretation der Daten in diesem Beitrag. 5 Eine Kumulation der erhobenen Daten ist nicht als ganz unproblematisch, da es sich bei dem Querschnitt um Face-to-Face Befragungen handelt, die kurz vor bzw. kurz nach der Bundestagswahl stattfanden, während die RCS als Telefonbefragung sechzig Tage vor der Wahl startete und das Ziel verfolgte, täglich 100 Wahlberechtigte zu befragen um damit Veränderungen von Einstellungen während des Wahlkampfes abbilden zu können. Dennoch wurde in diesem Fall einer Kumulation zur Erhöhung der Fallzahlen den Vorzug gegeben. 6 Dabei ist die Recall-Frage mit einer gewissen Skepsis zu betrachten. Es ist zu vermuten, dass insbesondere die nur schwach am politischen Geschehen Interessierten Schwierigkeiten haben sich an ihre vorangegangene Stimmabgabe zu erinnern. Des Weiteren kann vermutet werden, dass es zu sozial erwünschten Antworten bei Anhängern von extremen Gruppierungen oder aber Protestwählern kommt. Schließlich mag auch die aktuelle politische Stimmung eine Rolle spielen (vgl. u.a. Zelle 1996: 5253; Schoen/Kasper 2009: 160f.). Schoen (2000: 222) zeigt bei seiner Untersuchung der Verlässlichkeit der Recall-Frage auf, dass die Wählerbewegungen systematisch unterschätzt werden, das heißt, die deutsche Wählerschaft wechselt häufiger die Partei, als durch die Recall Frage aufgezeigt. Trotz der genannten Mängel an der Recall Frage wird hier mit eben dieser gearbeitet, da keine Alternative (Paneldaten) zur Verfügungen steht.
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Um mögliche Unterschiede untersuchen zu können, muss die Gruppe der ehemaligen Wähler weiter differenziert werden. Als erstes wird eine Gruppe von kurzfristig abgewanderten Wählern gebildet. Diese zeichnen sich durch ein hohes Potenzial aus, von der CDU bzw. SPD zurückgewonnen werden zu können. Das zeigt sich bei Betrachtung der Parteiidentifikation, bei der diese Wähler trotz Nichtwahl der CDU/SPD angeben, weiterhin über eine Parteiidentifikation zu eben dieser Partei (CDU oder SPD) zu verfügen. Ein weiterer Indikator stellen die Skalometer der Parteien dar, bei denen die CDU bzw. SPD weiterhin sehr gut abschneiden. Die zweite Gruppe beinhaltet die langfristig verlorenen Wähler. Es ist davon auszugehen, dass diese über einen längeren Zeitraum für die Partei (CDU oder SPD) verloren sind. Diese Personen weisen entweder bereits eine Bindung oder hohe Sympathie für eine andere Partei auf, oder aber haben sich – aufgrund von Politikverdrossenheit – ganz aus dem Wahlsystem zurückgezogen. Gebildet werden die beiden Untergruppen der ehemaligen Wähler entsprechend der aufgeführten Definition über die Variablen Parteiidentifikation und Differenz der Parteiskalometer der gewählten und ehemals gewählten Partei. Neben den drei aufgeführten Gruppen lassen sich natürlich auch Wähler finden, die 2009 das erste Mal für eine der beiden Volksparteien ihre Stimme abgegeben haben. Diese sogenannten „neuen Wähler“ sollen hier aus zweierlei Gründen nicht näher betrachtet werden. Zum einen ist die Gruppe in dem Datensatz äußerst klein, so dass aufgrund der geringen Fallzahl keine Aussagen zu dieser Gruppe getroffen werden könnte. Zum anderen gibt es einige wenige Wechsler zwischen den beiden Volksparteien. Beispielsweise hat eine Person 2005 für die SPD, 2009 aber für die CDU votiert. Dieser Fall wäre dann in zwei Gruppen vertreten, einmal in der Gruppe der ehemaligen SPD-Wähler und einmal in der Gruppe der neuen CDU-Wähler. Dies ist als problematisch zu betrachten, da ein und derselbe Fall mehrfach in die Analysen eingeht. Die Zahl der neuen Wähler des Datensatzes setzt sich zu ungefähr gleichen Teilen aus erstmalig Wahlberechtigten und Wechslern zwischen den beiden Volksparteien zusammen. Nachdem die Wähler, wie erläutert, den drei zu untersuchenden Gruppen zugeordnet wurden, ergibt sich die in Tabelle 2 dargestellte Verteilung. Es zeigt sich, dass beide Parteien Stimmen verloren haben, wenn auch die SPD stärker als die CDU. Bei genauerer Betrachtung der ehemaligen Wähler, werden zudem deutliche Unterschiede zwischen den beiden Volksparteien sichtbar. Während gut jeder zweite ehemalige Wähler der SPD (53,5 Prozent) als langfristig verloren gilt, macht diese Gruppe bei den ehemaligen CDU-Wählern nur 38,7 Prozent aus. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass es der CDU leichter möglich sein sollte,
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einen nicht unwesentlichen Anteil der ehemaligen Wähler zurückzugewinnen, während diese Gruppe für die SPD deutlich kleiner ist. Tabelle 2: Verteilung der Wählerschaft der Volksparteien Häufigkeit
SPD
CDU
loyale Wähler 1.808 kurzfristig abgewanderte Wähler 351 langfristig abgewanderte Wähler 222 loyale Wähler 1.253 kurzfristig abgewanderte Wähler 328 langfristig abgewanderte Wähler 378 Gesamt 4.336 Quelle: Eigene Berechnung auf Basis der GLES.
Prozent insgesamt 41,6% 3,4% 2,2% 28,9% 7,6% 8,7% 100,0%
Prozent Partei 61,3% 38,7% 46,5% 53,5%
Als Erklärung für die Unterschiede mögen die möglichen Beweggründe der ehemaligen Wähler beider Volksparteien kurz betrachtet werden. Schon im Vorfeld der Wahl wurde viel spekuliert, ob es für eine bürgerliche Koalition aus Union und FDP nach der Wahl reichen würde. Es ist daher davon auszugehen, dass eine nicht unwesentliche Zahl der ehemaligen CDU-Wähler sich 2009 für eine Stimmabgabe für die FDP entschloss, auch wenn sie politisch weiter hinter der Union stehen. Mit ihrer taktischen Wahlentscheidung wollten sie eine Große Koalition verhindern und den Weg für eine bürgerliche Koalition ebnen. Darauf deuten auch Häufigkeitsauszählungen der Daten zur gewünschten Koalition nach der Wahl hin.
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Ehemaligen und loyale Wähler der Volksparteien im Vergleich
Um Unterschiede zwischen den beiden Gruppen der ehemaligen sowie der loyalen Wähler der beiden Volksparteien festzustellen, soll der Blick zuerst auf die Wahlentscheidung der ehemaligen Wähler gelenkt werden. Für welche Partei haben sich die ehemaligen Wähler entschieden? Oder sind sie gar zuhause geblieben? Anschließend werden die sozialdemographischen Faktoren sowie die Determinanten der Wahlentscheidung genauer betrachtet. So können weitere mögliche Unterschiede zwischen den Gruppen festgestellt werden und möglicherweise eine Aussage zu den Chancen der Wiedergewinnung der Wähler durch die Volksparteien getroffen werden.
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3.1 Wahlentscheidung Die loyalen Wähler gaben ihre Stimme – wie schon zur Bundestagswahl 2005 – ihrer Volkspartei. Wofür aber votierten die ehemaligen Wähler? Unterschieden sich die kurzfristig abgewanderten Wähler in ihrer Entscheidung von den langfristig verlorenen Wählern? Mögliche Unterschiede können Aufschluss über Rückgewinnungschancen geben. Es ist zu vermuten, dass die kurzfristig abgewanderten Wähler tendenziell eher einer ideologisch nahestehenden Partei ihre Stimme geben oder aber zuhause bleiben, da keine Partei ihre Interessen entsprechend vertritt, während bei den langfristig verlorenen Wählern der Anteil der Nichtwähler geringer angenommen wird und der Anteil derer, die bei der Wahlentscheidung 2009 ins andere „Lager“ wechselten höher war. Diese Vermutung lässt sich mit einem Blick auf die Tabelle 3 bestätigen. In beiden Gruppen der ehemaligen CDU-Wähler machen die „neuen“ FDP-Wähler den deutlich größten Anteil aus. Da mögen, neben der immer wieder zu hörenden Kritik, dass die CDU unter Merkel und vor allem während der Großen Koalition viele sozialdemokratische Politiklinien verfolgt hat und ihr Kernklientel teilweise vernachlässigte – wie bereits erwähnt – auch koalitionstaktische Überlegungen einen Rolle gespielt haben (Zohlnhöfer 2009: 212). Bei der Gruppe der langfristig verlorenen FDP-Wähler mit Parteiidentifikation zur FDP lässt sich nicht ausschließen, dass diese Wähler eigentlich treue FDP-Wähler sind, die aber 2005 ausnahmsweise (aus taktischen Gründen) für die CDU votierten. Diese Vermutung lässt sich aufgrund der Datenlage aber leider nicht verifizieren. Ein deutlicher Unterschied zwischen den kurzfristig und langfristig verlorenen Wählern zeigt sich bei der Wahlentscheidung für die Grünen und Die Linken bzw. dem Anteil der Nichtwähler. Der Anteil derer, die ihre Stimme 2009 den Grünen bzw. den Linken gaben, ist bei den langfristig verlorenen Wählern deutlich höher. Dies ist nicht verwunderlich, vertreten die beiden Parteien, die dem linken Lager zugerechnet werden, doch teilweise – insbesondere die Linke – eine völlig andere Politikrichtung als die CDU. Der Anteil der Nichtwähler ist dagegen in der Gruppe der kurzfristig abgewanderten Wähler deutlich höher. Hier finden sich auch viele Wähler wieder, die angaben, immer noch über eine Parteiidentifikation zur CDU zu verfügen. Die Gruppe der Wechsler zur anderen Volkspartei ist in beiden Gruppen in etwa gleich stark vorhanden.
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Tabelle 3: Wahlentscheidung der ehemaligen Wähler ehemalige CDU-Wähler kurzfristig langfristig abgewandert verlorene CDU SPD 12,5% 15,8% FDP 60,8% 53,6% GRÜNE 6,3% 11,3% DIE LINKE 3,7% 14,4% andere Partei 4,8% 0,9% nicht gewählt 11,9% 4,1% Quelle: Eigene Berechnung auf Basis der GLES.
ehemalige SPD-Wähler kurzfristig langfristig abgewandert verlorene 14,3% 22,2% 8,2% 32,0% 25,3% 4,0% 16,2%
12,4% 30,4% 31,5% 0,8% 2,6%
Die beiden Gruppen der ehemaligen SPD-Wähler zeigen dagegen durchaus Unterschiede, was die Wahlentscheidung für die andere Volkspartei (CDU) angeht. Fast jeder vierte langfristig verlorene SPD-Wähler entschied sich 2009 für die CDU, aber nur 14,3 Prozent der kurzfristig verlorenen Wähler. Dabei mag, bei beiden Gruppen, der Einfluss von Angela Merkel mit ausschlaggebend gewesen sein, die sowohl von Anhänger ihrer Partei, als auch generell von der Bevölkerung als beliebte Kanzlerin wahrgenommen wurde (Neu 2009: 58). Gründe für die Wahlentscheidung für die Grünen werden ähnlich gelagert sein, wie bei den ehemaligen CDU-Wählern für die FDP. Die Linke konnte knapp ein Drittel der langfristig verlorenen SPD-Wähler für sich gewinnen, bei denen sich insbesondere enttäuschte SPD-Wähler wiederfinden lassen. Aber auch jeder vierte kurzfristig abgewanderte SPD-Wähler entschied sich 2009 für die Linke. Ein deutlicher Unterschied zwischen den beiden Gruppen der ehemaligen SPD-Wähler zeigt sich bei den Nichtwählern. Während nur 2,6 Prozent der langfristig verlorenen Wähler zuhause blieben, entschieden sich 16,2 Prozent der kurzfristig abgewanderten Wähler nicht zur Wahl zu gehen. Für diese wird die Interpretation von Lösche gelten, der die Nichtwähler der ehemalige SPD-Wähler treffend als „sozialdemokratische Wähler im Wartestand“ (Lösche 2009: 8) bezeichnet. Diese sind, aufgrund fehlender Alternativen nicht zu einer anderen Partei gewechselt, sondern entschieden sich zuhause zu bleiben. In dieser Gruppe finden sich – ähnlich wie bei den ehemaligen CDU-Wählern, die sich entschieden der Wahl fernzubleiben – ein hoher Anteil an Personen, die angaben weiterhin über eine Parteiidentifikation zur ehemals gewählten Partei zu verfügen. Es lässt sich somit zusammenfassend festhalten, dass sich durchweg größere Unterschiede zwischen den kurzfristig abgewanderten und langfristig verlorenen Wählern in Bezug auf ihre Wahlentscheidung 2009 finden lassen.
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3.2 Soziodemographische Faktoren Soziodemographische Faktoren wie Alter, Geschlecht, Bildung sowie Gewerkschaftszugehörigkeit und Religiosität können Einfluss auf die Wahlentscheidung nehmen.7 Aufgrund dessen wird im Folgenden überprüft, ob diese auch Einfluss auf die Gruppenzugehörigkeit der loyalen bzw. ehemaligen CDU- und SPDWähler haben. Dazu wird die Variable Bildung rekodiert (niedrig, mittel und hoch). Religiosität wird aus zwei Variablen gebildet, der Religionszugehörigkeit und der Kirchgangshäufigkeit. All solche Personen werden als religiös betrachtet, die einer Religion angehören (unabhängig welcher) und mindestens einmal im Monat die Kirche besucht. Dass Wahlentscheidung viel stärker von der Religiosität, als der eigentlichen Religionszugehörigkeit abhängt, konnte Wolf bereits 1996 zeigen. Bei Betrachtung der loyalen und ehemaligen CDU-Wähler zeigen sich nur bei zwei der fünf untersuchten Variablen deutliche Unterschiede. Die loyalen CDU-Wähler sind mit im Durchschnitt 55,2 Jahren älter als die langfristig verlorenen CDU-Wähler, die im Schnitt nur 49,6 Jahre alt sind. Die kurzfristig verlorenen CDU-Wähler finden sich mit durchschnittlich 51 Jahren zwischen den beiden Gruppen wieder. Bei einem Vergleich über die Mittelwerte hinaus zeigt sich, dass insbesondere jüngere Wähler die CDU 2009 nicht wiedergewählt haben und der Gruppe der langfristig verlorenen Wähler zuzuordnen sind. Wenig überraschend ist das Ergebnis der Religiosität. Während knapp 60 Prozent der loyalen CDU-Wähler als religiös gelten, trifft dies nur auf jeden zweiten kurzfristig abgewanderten CDU-Wähler zu und nur auf 40 Prozent der langfristig verlorenen CDU-Wähler. Es zeigen sich also bereits bei einem Vergleich von zwei soziodemographischen Variablen Unterschiede zwischen den drei Gruppen. Die loyalen CDU-Wähler sind eher etwas älter und religiös, während die langfristig abgewanderten jüngeren Alters sind und auch deutlich weniger religiös. Die Gruppe der kurzfristig abgewanderten Wähler befindet sich – was nicht wenig überrascht – zwischen den beiden Randgruppen, was verdeutlicht, dass sie sowohl wiedergewonnen werden können, als auch die Gefahr besteht, sie bei der nächsten Wahl an die Gruppe der langfristig verlorenen Wähler zu verlieren. Auch die loyalen und ehemaligen SPD-Wähler wurden auf die fünf soziodemographischen Faktoren hin getestet. Während, wie zu erwarten, keine messbaren Unterschiede bei der Religiosität feststellbar sind, zeigen sich deutliche 7 Auf diese Erklärungsvariablen greift u.a. der sozialtheoretische Ansatz von Lazarsfeld et al. (1944) zurück. Aber auch bei einfachen deskriptiven Untersuchungen in der Wahlforschung werden die aufgeführten Variablen häufig untersucht und es lassen sich oftmals deutliche Unterschiede zwischen den Altersklassen, Bildungsabschlüssen und dem Geschlecht feststellen. Religiosität und Gewerkschaftszugehörigkeit standen lange Zeit für eine Wahlentscheidung für die CDU bzw. SPD.
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Unterschiede beim Alter, Bildung und der Gewerkschaftszugehörigkeit. Wie auch schon bei den CDU-Wählern, sind auch die loyalen SPD-Wähler die vergleichsweise ältesten und mit 54 Jahre nur geringfügig jünger als die loyalen CDU-Wähler. Die langfristig abgewanderten SPD-Wähler sind mit durchschnittlich 47 Jahren die jüngste Gruppe und die kurzfristig abgewanderten liegen mit durchschnittlich 51 Jahren ziemlich genau zwischen den beiden Gruppen. Die Gewerkschaftsmitgliedschaft bei den SPD-Wählern stellt den Gegenpart zu der Religiosität bei den CDU-Wählern dar. Auch hier zeigen sich keine Überraschungen. Gut jeder fünfte loyale SPD-Wähler ist Mitglied einer Gewerkschaft. Bei den langfristig verlorenen Wählern liegt der Anteil bei nur noch 15,9 Prozent. Die Gewerkschaftsmitgliedschaft bei den kurzfristig abgewanderten Wählern liegt auch hier wieder zwischen den beiden Gruppen, aber mit 19,5 Prozent sehr nahe an den loyalen Wählern. Unterschiede zeigen sich auch bei der Bildung. Die meisten der loyalen SPD-Wähler haben einen niedrigen Bildungsabschluss (40,3 Prozent). Einen mittleren bzw. hohen Bildungsabschluss weisen je ca. 30 Prozent der loyalen SPD-Wähler auf. Die langfristig verlorenen SPDWähler dagegen verfügen zu 40 Prozent über einen hohen Bildungsabschluss und nur 27 Prozent über einen niedrigen. Die kurzfristig abgewanderten SPDWähler finden sich erneut zwischen den beiden Gruppen wieder. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die loyalen SPD-Wähler eher älter und tendenziell eher Mitglied in einer Gewerkschaft sind. Außerdem haben sie eher einen niedrigeren Bildungsabschluss. Die langfristig verlorenen Wähler stellen den Gegenpart dar und die kurzfristig verloren SPD-Wähler finden sich – wie schon die kurzfristig verlorenen CDU-Wähler – zwischen den beiden Gruppen. Es lassen sich demnach sowohl bei Betrachtung der loyalen und ehemaligen CDU- als auch SPD-Wählerschaft Unterschiede betreffend der Soziodemographie feststellen. Dabei zeigen sich durchaus Ähnlichkeiten zwischen den loyalen Wählern der CDU und SPD sowie dem Verhältnis zu den beiden Gruppen der ehemaligen Wähler der jeweiligen Volkspartei. 3.3 Determinanten der Wahlentscheidung Neben den soziodemographischen Faktoren können auch andere Faktoren Einfluss auf die Wahlentscheidung nehmen. Kanzlerkandidaten werden häufig als mögliche Einflussfaktoren angeführt, wobei ihr tatsächlicher Einfluss auf die Wahlentscheidung häufig von der Parteiidentifikation überlagert wird (Kellermann 2007: 320). In diesem Fall ist aber nicht der ausschlaggebende Faktor für die Wahlentscheidung von alleiniger Bedeutung, vielmehr soll untersucht werden, wie sich die Gruppen möglichst gut voneinander trennen lassen. Aufgrund
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dessen soll die Beliebtheit der beiden Kanzlerkandidaten entsprechend der drei Gruppen untersucht werden. Ebenso wird ein Blick auf die zugeschrieben Kompetenzen der Kandidaten und auch auf die Zufriedenheit mit der Regierungsarbeit der Bundesregierung insgesamt sowie der drei an der Regierung beteiligten Parteien geworfen. Angela Merkel erreichte im Wahlkampf bei allen Bevölkerungs- und Anhängergruppen hohe Zustimmungswerte, auch wenn diese kurz vor der Wahl etwas sanken (FAZ 2009). Dies spiegelt sich auch in den Antworten der Befragten wieder. Insgesamt 96 Prozent der loyalen CDU-Wähler wünschten sich Merkel als Kanzlerin. Bei den kurzfristig abgewanderten schrumpfte der Wert auf 87,5 Prozent und bei den langfristig verlorenen CDU-Wählern sank er weiter auf 63,9 Prozent, was aber immer noch als guter Wert zu sehen ist. Obwohl die langfristig verlorenen Wähler nicht für die CDU stimmten, wollten aber doch zwei Drittel von ihnen Merkel als Kanzlerin. Dabei ist zu beachten, dass ein nicht unerheblicher Teil dieser Gruppe sich 2009 entschied die FDP zu wählen und damit indirekt auch Angela Merkel zur Kanzlerschaft verhalf. Diejenigen, die nicht Merkel als Kanzlerin sehen wollen, gaben jeweils zu gleichen Hälften Frank-Walter Steinmeier und „keiner von beiden“ als gewünschten Kanzler an. Der Wunsch, Merkel als Kanzlerin zu bestätigen, spiegelt sich allerdings nicht in den Kompetenzzuweisungen nieder. Ein Index der aus den Abfragen in wie weit Merkel bzw. Steinmeier für durchsetzungsfähig, führungsstark, vertrauenswürdig oder sympathisch gehalten wurden und in wie fern sie die Wirtschaftskrise bewältigen können, gebildet wurde, erreichte Merkel in allen drei Gruppen nur mittelmäßige Werte, und schnitt bei den kurzfristig abgewanderten Wählern am schlechtesten ab. Diese Wähler weisen Steinmeier höhere Kompetenzen in den genannten Bereichen zu. Die Ergebnisse weisen also auf eine Erklärungsmöglichkeit hin, warum die kurzfristig abgewanderten CDU-Wähler – obwohl sie den loyalen CDU-Wählern in allen bisher betrachteten Bereichen sehr nahe stehen – sich 2009 nicht für eine Stimmabgabe für die CDU entscheiden konnten. Obwohl sie sich Merkel größtenteils als Kanzlerin wünschten, hielten sie sie im Durchschnitt für weniger kompetent als Steinmeier. Die geringe Kompetenzzuweisung im Zusammenhang mit den hohen Werten für Merkel als Kanzlerin kann auch durch die wenigen Alternativen zu Merkel erklärt werden. Bei Betrachtung der ehemaligen und loyalen SPD-Wähler zeigt sich ein ähnliches Bild in Bezug auf Steinmeier, auch wenn die Zustimmungswerte für ihn bedeutend niedriger ausfallen. Nur 78,3 Prozent der loyalen SPD-Wähler favorisieren ihn als Kanzlerkandidaten (96 Prozent der loyale CDU-Wähler stimmten für Merkel). 15,9 Prozent sehen in Merkel ihre Favoritin und 5,8 Prozent wollen keinen von beiden. Nur knapp die Hälfte der kurzfristig abgewanderten Wähler stimmt für Steinmeier und nur noch jeder vierte der langfristig verlo-
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renen SPD-Wähler. Dagegen möchte fast die Hälfte der langfristig verlorenen Wähler Merkel als Kanzlerin behalten und auch gut ein Drittel der kurzfristig verlorenen SPD-Wähler favorisierte Merkel. Steinmeier war im Wahlkampf von vielen als schwacher Kandidat empfunden worden und Merkel konnte von ihrer Beliebtheit sowie dem Kanzlerbonus auch bei den ehemaligen und loyalen SPDWählern profitieren. Bei einem Blick auf den gebildeten Index zeigt sich, dass Steinmeier durchweg von allen drei Gruppen als kompetenter wahrgenommen wurde als Merkel, wobei der Abstand als nur gering zu bezeichnen ist. Ein weiteres Entscheidungskriterium für die Stimmabgabe am Wahltag ist auch die Zufriedenheit mit der Bundesregierung an sich, bzw. den an der Regierung beteiligten Parteien. Dabei zeigt sich, dass die Große Koalition von den loyalen CDU-Wählern am positivsten beurteilt wurde, aber auch die kurzfristig abgewanderten CDU-Wähler die Arbeit der Bundesregierung weniger negativ wahrgenommen haben, als die loyalen SPD-Wähler. Innerhalb der beiden Volkspartei-Gruppen, sind erwartungsgemäß die loyalen Wähler am zufriedensten und die langfristig abgewanderten am stärksten unzufrieden. Die Leistung der gewählten bzw. ehemals gewählten Partei der CDU-Wähler wird dabei am positivsten wahrgenommen. Im Klartext: die langfristig verlorenen CDU-Wähler sind zwar weniger stark mit der Leistung der CDU zufrieden als die loyalen CDU-Wähler, aber die Leistung der SPD in der Bundesregierung wird noch schlechter bewertet. Etwas anders stellt sich die Situation bei den ehemaligen SPD-Wählern dar. Die Gruppe der langfristig verlorenen SPD-Wähler bewertet die Arbeit der CDU in der Koalition besser, als die Arbeit der ehemals gewählten Partei – der SPD. Scheinbar konnte die SPD die an sie gestellten Erwartungen in der Regierung nicht erfüllen, was zur Nichtwahl eben dieser führte und ihr schlechte Bewertungen bescherte. 3.4 Wechselwirkung wahlentscheidender Faktoren Anhand der aufgeführten Faktoren haben sich Unterschiede zwischen den Gruppen feststellen lassen. Allerdings konnte durch die deskriptiven Analysen nicht aufgezeigt werden, wie stark der Einfluss der einzelnen Faktoren auf die Gruppenzugehörigkeit wirkt. Dabei ist davon auszugehen, dass einige der Faktoren einen stärkeren bzw. schwächeren Einfluss ausüben. Auch besteht die Möglichkeit, dass sich ein vermuteter Einfluss durch Wechselwirkungen mit anderen Faktoren aufhebt oder zumindest verringert. Aufgrund dessen wird im Folgenden ein kurzer Blick auf die Trennkraft der Faktoren zwischen den Gruppen der loyalen und der langfristig verlorenen Wähler geworfen. Die beiden Gruppen stehen im Gegensatz zueinander. Die loyalen Wähler, die sich erneut für die CDU bzw.
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SPD entschiedenen haben und die langfristig verlorenen Wähler, die – wie der Name schon suggeriert – für die jeweilige Partei auf die Dauer von mehreren Jahren nur schwer wiederzugewinnen sind. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass die kurzfristig verlorenen Wähler in ihren Einstellungen und Merkmalen zwischen den beiden zuvor genannten Gruppen stehen, so dass bei diesen sowohl Potenzial zur Rückgewinnung erwartet werden kann, als auch die Möglichkeit besteht, dass sie sich nach weiteren Regierungs- bzw. Oppositionsjahren ganz von „ihrer“ Volkspartei abwenden. Da diese Gruppe sich zwischen den beiden zuvor genannten befindet, soll sie hier nicht näher untersucht werden, da sich sowohl Gemeinsamkeiten mit den loyalen als auch den langfristig verlorenen Wählern feststellen lassen. Die loyalen und langfristig verlorenen CDU-Wähler trennt in besonders hohem Maß ihre Einstellung zu Angela Merkel, die Wahrnehmung der Regierungsleistung von CDU und etwas schwächer der CSU, sowie die Kanzlerpräferenz für Frank-Walter Steinmeier.8 Aber auch die soziodemographischen Faktoren üben einen – wenn auch ungleich geringeren – Einfluss auf Trennkraft der beiden Gruppen aus. Dabei sind insbesondere das Alter und Geschlecht zu nennen. Ein Blick auf Wilks-Lambda zeigt, dass sich die Gruppe der loyalen Wähler signifikant von der Gruppe der langfristig verlorenen Wähler mit Hilfe der untersuchten Variablen trennen lässt. Dies wird auch vom Klassifizierungsergebnis bestätigt. Aufgrund der ausgewählten Variablen ließen sich 85,6 Prozent der Fälle korrekt zu den beiden Gruppen zuordnen, was als ein gutes Ergebnis zu werten ist. Auch die Unterschiede zwischen den loyalen und langfristig verlorenen SPD-Wählern wurden mit Hilfe der Diskriminanzanalyse genauer betrachtet. Die Trennkraft der einzelnen Variablen weisen dabei teilweise durchaus Gemeinsamkeiten zu denen der loyalen und ehemaligen CDU-Wähler auf. Wieder ist die Einstellung zum Kanzlerkandidaten von hoher Bedeutung. Bei den SPDWählern übt dabei aber Steinmeier deutlich mehr Einfluss aus als Angela Merkel (beide haben aber einen signifikanten Einfluss auf die Trennkraft der Gruppen). Ebenfalls von großer Bedeutung ist die Leistung der SPD in der Bundesregierung. Im Vergleich deutlich schwächer als bei der CDU fallen die soziodemographischen Faktoren ins Gewicht. Den größten Einfluss haben das Alter und ein niedriger Bildungsabschluss auf die Trennkraft – so sind die langfristig verlore8 Um die Trennkraft zwischen den beiden Gruppen zu bestimmen, wurde eine Diskriminanzanalyse durchgeführt. Dazu mussten einige Variablen in Dummy-Variablen rekodiert werden (u.a. Bildung, Kanzlerpräferenz). Die hier wiedergegebenen Ergebnisse beziehen sich auf den Gleichheitstest der Gruppenmittelwerte, aus dem ersichtlich wird, welche Variablen in welchen Maße zur Trennkraft zwischen den Gruppen beitragen. Bis auf drei Variablen (mittlerer Bildungsabschluss, Gewerkschaftsmitgliedschaft, Index zu den Eigenschaften von Steinmeier) haben alle Faktoren, die im Beitrag schon deskriptiv untersucht wurden, einen signifikanten Einfluss auf die Trennkraft der Gruppen der loyalen und langfristig verlorenen CDU-Wähler. Allerdings ist dieser Einfluss unterschiedlich stark.
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nen Wähler deutlich jünger und höher gebildet als die loyale Wähler der SPD.9 Wilks-Lambda weist mit 0,660 (p<0,000) eine geringfügig bessere Trennkraft zwischen den Gruppen auf, als zwischen den beiden Gruppen der (ehemaligen) CDU-Wähler. Das Klassifizierungsergebnis liegt mit einer korrekten Klassifikation von 79,8 Prozent der Fälle leicht unter dem der CDU-Gruppe, ist aber immer noch als gut zu bezeichnen. Als Ergebnis der Analyse lässt sich demnach resümieren, dass sich die beiden Gruppen der loyalen und langfristig verlorenen Wähler der beiden Volksparteien mit Hilfe der untersuchten Faktoren gut voneinander trennen lassen. Es zeigt sich aber auch deutlich, dass dabei weniger die soziodemographischen Faktoren eine Rolle spielen, als vielmehr die Einstellungen zu den Parteien bzw. deren Repräsentanten. In beiden Fällen ist der jeweilige Kanzlerkandidat von enormer Bedeutung. Aber auch zu den erbrachten Leistungen in der Regierungskoalition haben die loyalen Wähler durchweg andere Ansichten als die langfristig verlorenen Wähler. Das zeigt deutlich, dass die Entscheidung für oder gegen die „eigene“ Volkspartei maßgeblich vom Kandidaten und den Leistungen der Volksparteien in der Großen Koalition geprägt war.
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Positionierung im Wahlsystem
Nach dem Ergebnis lässt sich nun fragen, welche Wähler die Volksparteien verloren haben. Entschieden sich Wähler am politischen Rand des Spektrums gegen „ihre“ Volkspartei oder waren es eher die Wähler der „Mitte“ die 2009 nicht wieder „ihrer“ Volkspartei die Stimme geben wollten. Um darauf eine Antwort zu finden, wird die Links-Rechts-Selbsteinstufung der Wähler, in Kombination mit der Links-Rechts-Einstufung der Parteien zu Rate gezogen. Als erstes muss dabei festgelegt werden, was unter Mitte bzw. Rand einer Partei zu verstehen ist. Dazu wird der Median der loyalen und ehemaligen CDU-Wähler für die Links-Rechts-Einstufung der CDU berechnet. Dieser liegt auf einer 11er Skala (von 0 „links“ bis 10 „rechts“) bei 6. Um einen Bereich um den Medien zu definieren, wird die Standardabweichung betrachtet, die für diese Gruppe 1,50 beträgt. Anhand des Medians und der Standardabweichung lassen sich eine „Mitte“ und ein „Rand“ definieren, wobei die Mitte zwischen 5 und 7 auf der Skala festgelegt wird.10 9 Im Vergleich mit der CDU haben mehr Faktoren keinen signifikanten Einfluss auf die Trennkraft zwischen den Gruppen, und zwar das Geschlecht, der mittlere Bildungsabschluss, die Indexeigenschaften von Merkel und Steinmeier, sowie die Regierungsleistung von CDU und CSU. 10 Die Betrachtung der Standardabweichung ist ein wenig problematisch, da es sich bei der LinksRechts-Skala um eine ordinale und nicht um eine metrische Variable handelt. Dennoch gibt die
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Ebenso wird bei der Definition der Bereiche bei der SPD verfahren. In dem Fall beträgt der Median 4 mit einer Standardabweichung von 1,42. Entsprechend der CDU wird die „Mitte“ zwischen 3 und 5 definiert. Der Mittelpunkt der Skala ist der Wert 5, welches für die SPD den Endpunkt des Bereichs „Mitte“ markiert, während er für die CDU den ersten Wert darstellt. Somit wird die CDU von ihren loyalen wie ehemaligen Wähler etwas rechts von der Mitte und die SPD etwas links von der Mitte eingeschätzt. Um nun festzustellen, ob die beiden Volksparteien eher am Rand oder verstärkt in der Mitte Wähler verloren haben, muss zusätzlich die Selbsteinstufung der Befragten in die Betrachtung mit aufgenommen werden. Wenn eine Person aus der Gruppe der ehemaligen CDU-Wähler sich dabei auf der Skala zwischen 5 und 7 einordnet, wird sie als Person gewertet, die aus der Mitte verloren wurde. Gibt sie sich selber einen Wert größer 7 bzw. kleiner 5 wird sie als Wähler, der am Rand verlorenen ging, gewertet. Analog dazu folgt die Einordnung der ehemaligen SPD-Wähler. Zu Vergleichszwecken wird zusätzlich noch die Verteilung der loyalen Wähler der beiden Volksparteien aufgeführt. Diese sollten sich zum Großteil in der „Mitte“ wiederfinden, da dann ihre eigenen Einstellungen mit denen der gewählten Parteien am Besten übereinstimmen.11 Wie aus Tabelle 4 ersichtlich wird, lassen sich nur wenige Unterschiede zwischen den loyalen und ehemaligen Wählern der Volksparteien schließen, so dass als erste allgemeine Aussage festgestellt werden kann, dass beide Volksparteien sowohl am Rand ihres politischen Spektrums als auch aus der Mitte Wähler verloren haben. Tabelle 4: Wählerverlust in der Mitte bzw. am Rand der Volksparteien CDU-Wähler kurzfristig langfristig loyale abgewanverloren dert linker Rand 8,1% 8,5% 13,6% Mitte 73,5% 70,2% 65,2% rechter Rand 18,4% 21,3% 21,2% Quelle: Eigene Berechnung auf Basis der GLES.
loyale 20,4% 75,2% 4,4%
SPD-Wähler kurzfristig langfristig abgewanverloren dert 11,2% 13,7% 75,3% 74,4% 13,5% 11,9%
Standardabweichung auch in diesem Fall die ungefähre Position der mittleren Verortung der Fälle an und kann demnach als Richtwert verwendet werden. 11 Ein Problem bei der Analyse der Links-Rechts-Skala stellen geringe Fallzahlen dar. Leider wurde die Links-Rechts-Einstufung der Parteien im RCS nicht erhoben und die Links-Rechts-Selbsteinstufung nur in der Nachwahlpanelwelle.
Absturz der Volksparteien
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Erwartungsgemäß schließen die kurzfristig abgewanderten Wähler der CDUGruppe den nicht sonderlich großen Abstand zwischen den langfristig verlorenen und den loyalen Wählern. Knapp drei Viertel der loyalen CDU-Wähler ordnen ihre eigene Position im politischen System dem Bereich der Mitte der CDU zu. Bei den langfristig verlorenen Wählern ist der Anteil ein wenig geringer. Nur knapp zwei Drittel dieser Gruppen ordnen sich der CDU-Mitte zu. Am linken Rand befinden sich erwartungsgemäß nur wenige der loyalen CDU-Wähler. Dagegen ist der Wert von 13,6 Prozent in der Gruppe der langfristig verlorenen Wähler auffallend hoch. Es ist zu vermuten, dass diese Wähler mit der Politik unter Angela Merkel in der Großen Koalition zufrieden waren und die „Kanzlerin einer sozialdemokratischen Politik“ (Die Zeit 2007) durchaus nicht negativ beurteilten. Am rechten Rand der CDU finden sich nur wenig mehr ehemalige Wähler als loyale Anhänger. Dies widerspricht der eingangs geäußerten Vermutung, dass die CDU insbesondere von unzufriedenen konservativen Anhängern verlassen wurde. Allerdings ist dieses Ergebnis bezüglich des nur vergleichsweise geringen Verlustes am rechten Flügel der CDU mit dem Fehlen einer wählbaren rechten Partei zu begründen. Auch wenn diese loyalen wie auch ehemaligen Wähler der CDU mit dem Ruck Richtung Mitte und der Abkehr von einer stärker konservativen Politik unter Merkel unzufrieden waren, so fehlte ihnen doch eine alternative Partei der sie 2009 ihre Stimme hätten geben können. Wäre aber, um auf den eingangs formulierten Gedanken zurückzukommen, zur Bundestagswahl 2009 eine „Sarrazin“ Partei angetreten, könnte vermutet werden, dass die CDU noch mehr Wähler verloren hätte. Insbesondere die Gruppe der loyalen Wähler am rechten Rand der CDU hätte die Stimmabgabe für die CDU wahrscheinlich noch einmal vor dem Hintergrund einer weiteren konservativen Partei überdacht. Das Bild der loyalen und ehemaligen SPD-Wähler zeigt gewissen Ähnlichkeiten zu dem der CDU-Wähler. Wieder können drei Viertel der loyalen Wähler der SPD Mitte zugeordnet werden. Aber auch die ehemaligen Wähler finden sich zu drei Viertel in dieser Gruppe wieder. Auffällig ist, dass sich vergleichsweise viele ehemalige Wähler (13,5 bzw. 11,9 Prozent zu nur 4,4 Prozent der loyalen Wähler) dem rechten Rand zuordnen. Hier finden sich wahrscheinlich einige Anhänger Schröders wieder. Nach seiner Abwahl 2005 nahm die neue Parteiführung Abstand von der Ausrichtung der SPD unter Schröder und richtete sie weiter links als mittig aus. Die Mitte wurde zwischen drei und fünf definiert, so dass schon bei sechs (auf einer Skala von 0 bis 10) eine Person dem rechten Rand zugeordnet wird. Bei einer Gesamtbetrachtung des Parteienspektrums findet sich diese Person demnach noch in der Mitte wieder und gilt nur für die SPD als „rechts“. Am linken Rand der SPD befinden sich deutlich mehr loyale SPDWähler als ehemalige Wähler der Volkspartei, was zeigt, dass die SPD nicht hauptsächlich am Rand Wähler verloren hat, sondern verstärkt auch in der Mitte.
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Damit unterscheidet sich der Verlust der SPD – wenn auch nur in Tendenzen – durchaus von dem der CDU. Beide Parteien haben ihren Hauptanteil der Wähler aus ihrer Mitte verloren, die SPD aber noch stärker als die CDU. Der Verlust der CDU-Wähler verteilt sich dabei gleichmäßig am rechten wie auch linken Rand. Die SPD dagegen hat vor allem Wähler am rechten Rand verloren, wobei dies zu einem nicht unwesentlichen Teil auch ehemalige Anhänger Gerhard Schröders und seiner Politik sein dürften.
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Fazit
Beide Volksparteien haben Wähler verloren. Wähler, die nicht einfach wieder zurückgewonnen werden können, bei denen sich aber durchaus Potenzial ergeben kann. Die Analyse hat gezeigt, dass sich die beiden Gruppen der ehemaligen Wählerschaft von CDU und SPD klar voneinander unterschieden. Dabei haben die Faktoren zur Einstellung zum Kanzlerkandidaten sowie zur Leistung der Regierung einen deutlich höheren Einfluss auf die Gruppenzugehörigkeit, als soziodemographische Faktoren. Auch lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den loyalen und insbesondere den langfristig verlorenen Wählern feststellen. Die kurzfristig verlorenen Wähler lagen mit ihren Ansichten stets zwischen den beiden Gruppen. Die langfristig verlorenen Wähler der CDU, die sich unter anderem durch eine nicht mehr vorhandene Parteiidentifikation zur CDU auszeichnen, machen 38,7 Prozent der ehemaligen CDU-Wähler aus. Häufig hat sich bei ihnen schon eine Parteiidentifikation zu einer anderen Partei gebildet, wie der FDP, auf die auch nicht selten die Wahlentscheidung fiel. Die kurzfristig abgewanderten Wähler, die dagegen teilweise noch über eine Parteiidentifikation zur CDU verfügen, stellen mit 61,3 Prozent den größeren Teil der ehemaligen Wähler dar. Bei der Wahl entschieden auch sie sich zu einem nicht unwesentlichen Teil für eine Stimmabgabe zu Gunsten der FDP, ein kleiner Teil blieb aber auch zuhause. Den größten Einfluss auf die Gruppenzugehörigkeit macht die Beurteilung der Regierungsleistung der CDU aus. Dabei beurteilen die loyalen Wähler die Regierung in ihrer Gesamtheit, sowie die CDU als Partei deutlich positiver als die ehemaligen Wähler. Die Regierungspartei SPD wird von allen drei Wählergruppen deutlich negativer wahrgenommen. Ebenfalls einen hohen Einfluss auf die Gruppenzugehörigkeit haben die Kanzlerkandidaten ausgeübt. Dabei wurde Merkel von den loyalen und kurzfristig abgewanderten Wählern stark präferiert, während von den langfristig verlorenen Wählern nur noch zwei Drittel Merkel als Kanzlerin wollten. Weniger starken Einfluss auf die Gruppenzugehörigkeit hatten die soziodemographischen Faktoren. Dennoch lassen sich Unterschiede ausma-
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chen. So sind die loyalen Wähler tendenziell etwas älter und stärker religiös, als die langfristig abgewanderten Wähler. Die kurzfristig abgewanderten Wähler finden sich auch bei der Soziodemographie zwischen den beiden Gruppen. Die meisten Wähler hat die CDU aus ihrer Mitte verlorene. Aber auch Wähler am rechten wie auch linken Rand entschieden sich nicht selten für eine andere Partei. Die langfristig verlorenen Wähler der SPD machten mit 53,5 Prozent gut die Hälfte der ehemaligen Wähler aus. Sie zeichnen sich – analog zu den langfristig verlorenen Wählern der CDU – durch keine Parteiidentifikation zur SPD aus, haben aber teilweise bereits eine Parteiidentifikation zu einer anderen Partei aufgebaut. Mit ihrer Wahlentscheidung blieben sie zu zwei Drittel im linken Lager, wobei sich die Stimmabgabe gleichmäßig auf die Grünen und die Linke verteilt. Die kurzfristig abgewanderten Wähler stellten mit 46,5 Prozent die andere Hälfte der ehemaligen SPD-Wähler, wobei sie häufig noch eine Parteiidentifikation zur sozialdemokratischen Partei aufweisen. In ihrer Wahlentscheidung unterscheiden sie sich von den langfristig verlorenen Wählern. Dies fällt insbesondere bei dem relativ hohen Anteil der Nichtwähler in dieser Gruppe auf. Den größten Einfluss auf die Gruppenzugehörigkeit hat bei der SPD der Kanzlerkandidat Steinmeier. Die Unterschiede zeigten sich auch deutlich im deskriptiven Vergleich. Steinmeier wird von den loyalen Wählern positiv wahrgenommen, von den ehemaligen Wählern aber kaum. Insbesondere die langfristig verlorenen Wähler stehen ihm äußerst kritisch gegenüber und favorisieren zur Hälfte Merkel. Des Weiteren hat auch die Beurteilung der Regierungsleistung Einfluss auf die Gruppenzugehörigkeit. Dabei nehmen die loyalen SPD-Wähler die Arbeit der SPD in der Regierung deutlich positiver wahr als die ehemaligen, was wenig verwundert. Die langfristig verlorenen SPD-Wähler bewerten dagegen die Arbeit der CDU besser. Wie schon bei den loyalen und ehemaligen CDU-Wähler hat die Soziodemographie nur recht wenig Einfluss auf die Gruppenzugehörigkeit. Gruppenunterschiede lassen sich aber trotzdem wieder feststellen. So sind die loyalen SPD-Wähler im Schnitt älter, niedriger gebildet und gehören eher einer Gewerkschaft an, als die ehemaligen SPD-Wähler. Wie die CDU hat auch die SPD in der Hauptsache Wähler aus ihrer Mitte verloren. Aber auch am Rand musste sie Verluste einstecken, wobei sie mehr Wähler am rechten Ende verlor als am linken. Sowohl für die ehemaligen CDU- als auch SPD-Wähler lässt sich festhalten, dass es sich um keine homogenen Gruppen handelt. Vielmehr ließen sich teilweise starke Unterschiede zwischen den langfristig verlorenen und kurzfristig abgewanderten Wählern feststellen. Dabei sehen die langfristig verlorenen Wähler beider Volksparteien ihre ehemalige Volkspartei deutlich negativer als die kurzfristig abgewanderten Wähler. Festzuhalten bleibt auch, dass die CDU im
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Vergleich immer besser bewertet wird, als die SPD. So ist bei der CDU auch der Verlust der Wähler geringer und die Gruppe der „nur“ kurzfristig abgewanderten Wähler größer. Insgesamt zeigt die Gruppe der kurzfristig abgewanderten Wähler ein Potenzial auf, welches von beiden Volksparteien auf vergleichsweise einfache Art wieder gewonnen werden kann. Mit der „richtigen“ Politik und dem „richtigen“ Kandidaten haben sowohl die CDU aber vor allem auch die SPD gute Chancen, bei der nächsten Bundestagswahl deutlich besser abzuschneiden. Literatur Armin, Hans Herbert von (2009): Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik. München: Bertelsmann. Borchard, Michael (2009): Die Volksparteien und der Wertewandel. In: Kronenberg, Volker/Mayer, Tilmann (Hrsg.): Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft? Konzepte, Konkurrenzen und Konstellationen. Freiburg: Herder, S. 277-290. Feist, Ursula (1994): Die Macht der Nichtwähler. Wie die Wähler den Volksparteien davonlaufen. München: Droemersche Verlagsanstalt. Hofmann, Bernd (2004): Annäherung an die Volkspartei. Eine typologische und parteiensoziologische Studie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Jesse, Eckard (2009): Parteien und Parteiensysteme in den neuen Bundesländern. In: Kronenberg, Volker/Mayer, Tilmann (Hrsg.): Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft? Konzepte, Konkurrenzen und Konstellationen. Freiburg: Herder, S. 291-303. Kellermann, Charlotte (2007): „Trend and Constellations“: Klassische Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens bei den Bundestagswahlen 1990-2005. In: Rattinger, Hans/Gabriel, Oscar W./Falter, Jürgen W. (Hrsg.): Der gesamtdeutsche Wähler. Baden-Baden: Nomos, S. 297-327. Kemnitzer, Sebastian: Nicht ohne einen Haider. In: Stern vom 8. September 2010. Kleinert, Hubert (2010): Bundestagswahl 2009 – Volksparteien im Anstieg. In: Forschungsjournal NSB, 1, S. 59-63. Lazarsfeld, Paul F./Berelson, Bernard/Gaudet, Hazel: The People's Choice. How the Voter Makes Up his Mind in a Presidential Campaign. New York: Duelle, Sloan and Pearce. Lösche, Peter (2009): Ende der Volksparteien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 51, S. 6-12. Mintzel, Alf (1984): Die Volkspartei. Typus und Wirklichkeit. Opladen: Westdeutscher Verlag. N.N.: Merkel verliert an Zustimmung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. NET, http://www.faz.net/s/Rub4D6E6242947140018FC1DA8D5E0008C5/Doc~E072C46 219DFB43688FBBD00F28776A1A~ATpl~Ecommon~Scontent.html [14.12.2010] N.N.: Partei in der Krise. SPD streite über Linksruck. In Spiegel vom 30. September 2009.
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Volksparteien ohne Volk: Der Niedergang von Union und SPD auf dem Wählermarkt Volksparteien ohne Volk
Peter Matuschek und Manfred Güllner
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Aufstieg und Niedergang: Die Entwicklung von Union und SPD bei Wahlen seit 1949
1.1 Von der Konsolidierung zur Erosion Die vergangene Bundestagswahl im September 2009 markierte einen vorläufigen Tiefpunkt der beiden Volksparteien CDU/CSU und SPD, die das deutsche Parteiensystem seit den ersten Wahlen der Bundesrepublik 1949 über Jahrzehnte hinweg dominiert haben. So konnten die beiden Volksparteien zusammen genommen bei der vergangenen Bundestagswahl nur noch 39,7 Prozent aller Wahlberechtigten für sich mobilisieren und fielen damit hinter das Ausgangsniveau bei der ersten Bundestagswahl 1949 zurück, als beide Parteien zusammengenommen 45,8 Prozent der Wahlberechtigten für sich gewinnen konnten. Dabei waren die ersten zwanzig Jahre der Bundesrepublik zunächst geprägt gewesen von einem stetigen Aufstieg und einer Konsolidierung von Union und SPD auf dem Wählermarkt, der zu einer Konzentration im deutschen Parteiensystem geführt hatte. So gelang der Union bereits während der 1950er Jahre – auch dank der Integration kleinerer Parteien wie der Deutschen Partei oder dem BHE – die Entwicklung zu einer Volkspartei, die bis zu Beginn der 1980er Jahre bei Bundestagswahlen gut 40 Prozent aller Wahlberechtigten an sich binden konnte. Bei der SPD vollzog sich der Aufstieg zwar langsamer, dafür aber stetig. 1972 gelang es der SPD erstmals, mehr als 40 Prozent aller Wahlberechtigten für sich zu mobilisieren und damit die Union als stärkste Partei abzulösen.
O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Wähleranteile bei Bundestagswahlen 1949 - 2009 (in % der Wahlberechtigten) 100
Nichtwähler 80
60
sonstige Parteien
40
CDU/CSU 20
SPD 0 1949
1953
1957
1961
1965
1969
1972
1976
1980
1983
1987
1990
1994
1998
2002
2005
2009 Jahr
Anteile der CDU/CSU und der SPD bei Bundestagswahlen 1949 bis 2009 (in % der Wahlberechtigten) 50
%
40
30
CDU/CSU 20
SPD 10
0 1949
1953
1957
1961
1965
1969
1972
1976
1980
1983
1987
1990
1994
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2009 Jahr
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Eine ähnliche Entwicklung zeigte sich auch auf der Landes- und der kommunalen Ebene, wo es Union und SPD ebenfalls gelang, in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik zu den beiden dominierenden Parteien im Parteiensystem aufzusteigen. Dabei erfolgte auch auf der Landesebene die Konsolidierung der SPD zunächst stetiger als bei der Union: Während die Union zwischen 1949 und 1969 bei Landtagswahlen ihre Wähler in deutlich geringerem Maße mobilisieren konnte als bei Bundestagswahlen, erhielt die SPD bei den Landtagswahlen zwischen 1949 und 1961 sogar mehr Stimmen als bei den jeweils vorausgegangenen Bundestagswahlen. Zwischen 1961 und 1969 konnte sie die Wähler, die sie bei der Bundestagswahl gewählt hatten, weitgehend auch bei den jeweils nachfolgenden Landtagswahlen wieder zur Stimmabgabe für die SPD motivieren. Die 1970er Jahre waren während der sozial-liberalen Koalition geprägt von einer zunehmenden Polarisierung zwischen den beiden großen Parteien, die zu einer weitergehenden Stabilisierung von CDU/CSU und SPD auf dem Wählermarkt beitrug. Der Abstieg der beiden Volksparteien setzte dann in den 1980er Jahren ein – bei der SPD etwas früher, bei der Union mit leichter zeitlicher Verzögerung. Während die Union bei der nach dem geglückten Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt vorgezogenen Bundestagswahl 1983 noch einmal 43,1 Prozent aller Wahlberechtigten für sich mobilisieren und damit fast die absolute Mehrheit der Mandate erringen konnte, musste die SPD bei der ersten „Kohl-Wahl“ bereits einen deutlichen Rückgang hinnehmen, nachdem sie bei der Bundestagswahl 1980 ihren Anteil noch einmal hatte halten können. So fiel die SPD bei der Bundestagswahl 1983 mit 33,7 Prozent aller Wahlberechtigten auf das Wählerniveau zurück, das sie bei der Bundestagswahl 1965 erreicht hatte. Dieser Vertrauensverlust setzte sich in den folgenden Jahren verstärkt fort: so schrumpfte der Anteil der SPD bei der nachfolgenden Bundestagswahl 1987 auf 30,9 Prozent und bei der ersten gesamtdeutschen Wahl (mit Oskar Lafontaine als Kanzlerkandidat) auf 25,7 Prozent. Aber nicht nur bei der SPD, sondern auch bei der Union war während der 1980er und 1990er Jahre – was häufig übersehen wird – eine massive Erosion ihrer Wählersubstanz zu registrieren: Bezogen auf alle Wahlberechtigten schrumpfte die Wählerbasis der Union von 43,1 Prozent bei der Bundestagswahl 1983 auf 33,7 Prozent bei der „Einheitswahl“ 1990 und auf 28,5 Prozent bei der Bundestagswahl 1998. Der Niedergang der beiden Volksparteien während der 1980er und 1990er Jahre manifestierte sich auch bei Landtagswahlen. So sank der Anteil der Union bei Landtagswahlen zwischen 1983 und 1987 von 33,4 Prozent auf 27,3 Prozent zwischen 1994 und 1998 (wiederum bezogen auf alle Wahlberechtigten). Der Anteil der SPD bei Landtagswahlen sank im gleichen Zeitraum noch etwas stär-
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ker von 31,1 Prozent zwischen 1983 und 1987 auf 23,8 Prozent zwischen 1994 und 1998. Damit gelang es der SPD in den 1980er und 1990er Jahren – anders als noch während der Adenauer- und Ehrhard-Ära – nicht mehr, ihr Wählerpotenzial bei Landtagswahlen voll zu mobilisieren, obwohl sie in Bonn in der Opposition war, und obwohl die Union deutliche Vertrauensverluste zu verzeichnen hatte. Festzuhalten bleibt, dass der Niedergang der SPD auf allen politischen Ebenen vor der „Schröder-Zeit“ begann und nicht etwa durch die Schrödersche Regierungszeit verursacht wurde. Mit Schröder als Kanzlerkandidat konnte die SPD dann kurzzeitig wieder an die Erfolge der Schmidt-Ära anknüpfen und ihren Anteil 1998 auf 33,2 Prozent der Wahlberechtigten steigern. Zum zweiten Mal seit 1972 erhielt die SPD wieder mehr Stimmen als die Union. Bei der Bundestagswahl 2002 gelang der Union unter ihrem Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber – dank der starken Zuwächse in Bayern – insgesamt eine etwas höhere Mobilisierung ihrer Anhänger als noch 1998. Die Union konnte bei dieser Wahl – ebenso wie die SPD – 30,1 Prozent aller Wahlberechtigten an sich binden. 1.2 Die Entwicklung zwischen 1998 und 2009: Leichte Verluste der Union, dramatische Erosion der SPD Nach dem Schröderschen „Zwischenhoch“ 1998 und 2002 sowie der Mobilisierung von rund einer Million bayerischer Wähler durch Edmund Stoiber bei der Wahl 2002 setzte sich die Erosion der beiden Volksparteien weiter fort. Allerdings ist dies nur zu einem geringen Teil auf einen Rückgang der Union, sondern in weiten Teilen auf die dramatischen Verluste der SPD zurückzuführen. Während der Anteil der CDU/CSU zwischen 1998 und 2009 bei Bundestagswahlen unter allen Wahlberechtigten von 28,5 auf 23,6 Prozent zurückging, musste die SPD im gleichen Zeitraum einen Rückgang ihrer Wählersubstanz von 33,2 auf 16,1 Prozent von allen Wahlberechtigten verzeichnen. In absoluten Zahlen verlor die SPD bei Bundestagswahlen damit zwischen 1998 und 2009 nicht weniger als 10.192.426 Wähler. Demgegenüber nimmt sich der Rückgang der Union zwischen 1998 und 2009 eher verhalten aus. Zudem wurden diese Verluste der Union 2005 und 2009 durch die Zugewinne der FDP aufgefangen, die einen Großteil enttäuschter Unionswähler an sich binden konnte, so dass das „bürgerliche Lager“ insgesamt zwischen 1998 und 2009 stabil blieb. Demgegenüber ging der Anteil des „linken Lagers“ aus SPD, Grünen und PDS bzw. Linke zusammengenommen zwischen
Volksparteien ohne Volk
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1998 und 2009 von 42,7 Prozent auf 31,9 Prozent (wiederum auf Basis aller Wahlberechtigten) zurück. Auch bei Landtagswahlen zwischen 1998 und 2009 waren insbesondere die Verluste der SPD dramatisch, während die der Union im gleichen Zeitraum deutlich moderater ausfielen. Führt man sich diese Befunde vor Augen, so wird deutlich, dass der Substanzverlust der Union auf dem Wählermarkt sich bereits in den Jahren zwischen 1983 und 1998 während der Kanzlerschaft von Helmut Kohl vollzogen hatte. Einem moderaten Rückgang der Union in der Ära nach Helmut Kohl steht ein umso dramatischerer Substanzverlust der SPD seit 1998 gegenüber.
Anteile der Wählerlager bei den Bundestagswahlen 1983, 1998 und 2009 (in % der Wahlberechtigten) Anteile „bürgerliches“ Wählerlager
Anteile „linkes“ Wählerlager
(CDU/CSU und FDP)
(SPD, Grüne, Linke/PDS)
1983
49,2
1998
33,6
2009
33,8
38,6
42,7
31,9
So unterschiedlich der Konsolidierungsprozess von Union und SPD in den ersten beiden Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik verlief, so unterschiedlich verliefen auch die Erosionsprozesse bei beiden großen Volksparteien. So fällt zum einen der Erosionsprozess bei der SPD in den letzten zehn Jahren – wie bereits erwähnt – deutlich dramatischer aus als bei der Union. Zum anderen beschleunigte sich der Vertrauensverlust der SPD bei Wahlen seit 1998 nicht nur auf der Bundesebene, sondern in noch stärkerem Maße auf der Landes- und kommunalen Ebene, wie die Ergebnisse der Landtags- und Kommunalwahlen zwischen 2005 und 2009 zeigen. Erklärungsbedürftig sind daher in erster Linie die dramatischen Verluste der SPD in den vergangenen Jahren. Im Folgenden sollen daher einige Aspekte und Ursachen herausgegriffen werden, wie sie sich anhand von Wahl- und Umfragedaten herausschälen und die gleichzeitig einige gängige Erklärungsversuche in Frage stellen.
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Der Vertrauensverlust der SPD seit 1998 – einige ausgewählte Ursachen
Bei der Suche nach den Ursachen für die dramatische Niederlage der SPD bei der Bundestagswahl 2009 (der bereits klare Niederlagen bei Landtags- und Kommunalwahlen sowie bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Sommer 2009 vorausgegangen waren), dominieren in der öffentlichen Diskussion zumeist Hinweise auf den Kurs der „neuen Mitte“, die Agenda-Politik unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und – so die Lesart – eine damit einhergehende Abkehr von eher linken bzw. traditionellen Positionen der Sozialdemokratie, vor allem auf dem Feld der „sozialen Gerechtigkeit“, die die Wähler von der SPD entfremdet und zur Linkspartei getrieben habe. Der Blick auf einige empirische Befunde verdeutlicht allerdings, dass diese Erklärungsmuster für den beschleunigten Niedergang der SPD in den vergangenen Jahren einerseits zu kurz greifen und in dieser Form auch nicht belegt werden können. Betrachtet man zunächst die Verluste der SPD und stellt diese den Zugewinnen der Linkspartei gegenüber, so fällt auf, dass die SPD zwischen 1998 und 2009 bei Bundestagswahlen knapp 10,2 Millionen Stimmen verlor, die Linkspartei im gleichen Zeitraum jedoch lediglich 2,6 Millionen Wählerstimmen hinzugewinnen konnte. Auch ein Blick auf die Anteile der SPD und der PDS bzw. der Linkspartei bei Bundestagswahlen in den neuen Bundesländern zeigt, dass der Wählererosion bei der SPD ein nur moderater Zugewinn der PDS/Linke gegenübersteht, die seit Ende der 1990er Jahre sogar eher stagniert. Dies bedeutet, dass von einer einfachen Wechselwirkung zwischen SPDVerlusten und Zugewinnen der Linkspartei (die seit 2005 ohnehin weitgehend auf die alten Bundesländer beschränkt waren) nicht gesprochen werden kann. Selbst wenn man einmal davon ausginge, dass sämtliche 2,6 Millionen Wählerstimmen, die die PDS bzw. die Linkspartei seit 1998 hinzugewinnen konnte, von früheren SPD-Wählern gekommen wären (was nicht der Fall ist), blieben noch 7,6 Millionen Stimmen, die von der SPD in andere Richtungen verloren wurden. Sowenig wie die Linke auf der Wählerebene also als eine „Abspaltung der SPD“ begriffen werden kann, sowenig traf dies im Übrigen auf die Grünen zu, wie sich bei einer Gegenüberstellung der Entwicklung der Anteile von SPD und Grünen bei Bundestagswahlen zeigt: Auch hier stehen den Verlusten auf Seiten der SPD keine Zugewinne der Grünen gegenüber; vielmehr vollzog sich die Entwicklung beider Parteien weitgehend voneinander entkoppelt.
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Anteile der SPD und der PDS (Linke) in den neuen Bundesländern bei Bundestagswahlen 1990 bis 2009 (in % der Wahlberechtigten) 60
%
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Anteile der SPD und der Grünen bei Bundestagswahlen 1980 bis 2009 (in % der Wahlberechtigten) 60
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Das heißt, dass die Verluste der SPD seit 1998 nur zu einem sehr geringen Teil der Linken (oder den Grünen) zugutegekommen sind und sich das Gros der SPD-Abwanderer entweder anderen Parteien – vornehmlich der Union – zugewandt hat, vor allem aber gar nicht mehr zur Wahl zu bewegen war. Tatsächlich gelang es der SPD bei Wahlen zwischen 2002 und 2009 von Wahl zu Wahl weniger, ihre Anhänger von der jeweils vorangegangenen Bundestagswahl wieder für sich zu mobilisieren – im Gegensatz zur CDU/CSU, der dies in weitaus höherem Maße gelang. Bei der Suche nach Erklärungen für die Verluste der SPD im vergangenen Jahrzehnt wird neben anderen Aspekten häufig auf die Person Gerhard Schröder verwiesen. Vergleicht man aber die Präferenzwerte für die potenziellen oder tatsächlich nominierten Kanzlerkandidaten der SPD seit 1992, so wird zunächst deutlich, dass Gerhard Schröder von allen SPD-Spitzenkandidaten der letzten zwei Jahrzehnte mit 45 Prozent unter allen Wahlberechtigten und 82 Prozent unter den SPD-Anhängern den bislang höchsten Wert eines SPD-Spitzenpolitikers nach seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten oder seiner Wahl zum Parteivorsitzenden erzielte. Alle anderen Kanzlerkandidaten der SPD seit 1992 wurden von den Wählern deutlich schlechter bewertet.
Präferenzen für die SPD-Spitzenkandidaten (jeweils nach ihrer Nominierung) Präferenz insgesamt
SPD-Anhänger
39
Engholm
1992
Scharping
1993
Lafontaine
1995
Schröder
1998
Platzeck
2005
Beck
2006
25
Steinmeier
2008
24
79
33
68
26
61 45
82
34
59 51 55
Bei der Bundestagswahl 1998 war ein deutlicher „Schröder-Sog“ zu beobachten, der entscheidend dazu beitrug, dass die SPD erstmals seit 1972 wieder zur stärksten Partei vor der Union aufstieg. Zudem zeigt ein Vergleich der Präferen-
Volksparteien ohne Volk
229
zen für Gerhard Schröder und für die SPD zwischen 1998 und 2005, dass ein Anstieg der Werte für die SPD zumeist durch einen Anstieg der Popularitätswerte des damaligen Bundeskanzlers ausgelöst wurde. Es bestand eine eindeutige (statistisch belegbare) Korrelation zwischen den persönlichen Präferenzwerten von Schröder und den Werten seiner Partei. Bei den Bundestagswahlen 2002 und 2005 führte dies dazu, dass die SPD in dem Maße, wie sich das Interesse in der letzten Phase des Wahlkampfes wieder schwerpunktmäßig auf die Kandidatenalternative fokussierte, jeweils ein deutlich besseres Ergebnis erzielte als zuvor erwartet. Insofern muss man davon sprechen, dass der Kanzler(kandidat) Gerhard Schröder für seine Partei mitnichten ein „Malus“, sondern vielmehr ein Erfolgsfaktor war und insbesondere die Wahlniederlage der SPD bei der Bundestagswahl 2005 ohne den Kandidaten Schröder und die dadurch mögliche Aufholjagd in der Endphase des Wahlkampfs vermutlich deutlich verheerender ausgefallen wäre.
Präferenzen für Schröder und die SPD (1998 bis 2005) 70
%
60
50
Schröder
40
SPD 30
20
10
0 Okt Jan Apr Jul Okt Jan Apr Jul Okt Jan Apr Jul Okt Jan Apr Jul Okt Jan Apr Jul Okt Jan Apr Jul Okt Jan Apr Jul 1999
2000
2001
2002
2003
2004
Monat
2005
Auch die Wirkung der unter dem Begriff „Agenda 2010“ durchgesetzten Reformen am Arbeitsmarkt und der Sozialsysteme auf die Wähler und die Entwicklung der SPD bei Wahlen wird zumeist nicht richtig eingeschätzt. Tatsächlich stießen die Reformen der „Agenda 2010“ insgesamt als auch die einzelnen Maßnahmen bei einer großen Mehrheit der Bundesbürger auf Zustimmung. So wurden etwa Leistungskürzungen für Arbeitslose von 78 Prozent der Bundesbürger
230
Peter Matuschek und Manfred Güllner
für richtig befunden, während sich 60 Prozent sogar für eine Lockerung des Kündigungsschutzes in allen Betrieben aussprachen. Noch nach der Vorstellung der Agenda 2010 im März 2003 waren 65 Prozent der Bundesbürger der Meinung, dass die von Gerhard Schröder vorgeschlagenen Reformen nicht mutig genug seien. Auch noch im November 2004 äußerten 68 Prozent der Bundesbürger die Meinung, dass die beschlossenen Reformmaßnahmen auf dem Arbeitsmarkt noch nicht ausreichten. Weniger die Reformen der Agenda 2010, sondern vielmehr die innerparteiliche Kritik daran und das damit verbundene Bild der Zerstrittenheit, das die SPD dadurch vermittelte, waren für eine Mehrheit der Bundesbürger kritikwürdig. So waren im Zuge der Debatte um die AgendaMaßnahmen 70 Prozent der Bundesbürger der Auffassung, dass der SPD mehr Schaden entstehe durch die Kritik der Reformgegner, während lediglich 23 Prozent die Meinung vertraten, dass es Schröder sei, der mit seinen Reformplänen der Partei schade. Tatsächlich war es vor allem das Erscheinungsbild der SPD als Ganzes und in besonderem Maße die ihr zugeschriebene Kompetenz, die maßgeblich zur weiteren Erosion der SPD in den vergangenen Jahren beigetragen haben. Betrachtet man die Kompetenzwerte der beiden großen Parteien im Langzeitverlauf seit 1998, so zeigt sich, dass die SPD seit 2002 gegenüber der Union Jahr für Jahr zurückgefallen ist.
Einschätzung der politischen Kompetenz von CDU/CSU und SPD (1993 bis 2009) Mit den Problemen in Deutschland wird am besten fertig CDU/CSU 1993
SPD 12
12
1994
16
18 22
15
1999
18
18
2000
12
2001
13
32 32 27
2004
22
2005
21
2006
22
2008 2009
21
23
2003
2007
8
21
1997
2002
10
28
1996 1998
14
23
1995
12 11 14 11
28 25 27
11 9 8
Volksparteien ohne Volk
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Trauten in den Jahren 2000 und 2001, in denen die SPD sich – nach einem misslungen Start in der Bundesregierung – als Reformpartei positionierte und Projekte wie die Steuer- und die Rentenreform durchsetzte, 32 Prozent aller Wahlberechtigten der SPD die größte politische Kompetenz zu und nur 12 bzw. 13 Prozent der Union, so kehrte sich dieses Bild ab 2002 um. Bis 2009 verlor die SPD (von einer kleinen Verbesserung im Wahljahr 2005 abgesehen) gegenüber der Union massiv an Boden. Im Jahr der vergangenen Bundestagswahl trauten nur noch 8 Prozent der Wahlberechtigten der SPD zu, die Probleme des Landes lösen zu können. Noch aufschlussreicher als die Entwicklung der Werte der Generalkompetenz für die SPD ist die Entwicklung der Kompetenzzuschreibung auf einzelnen Politikfeldern. So musste die SPD zwischen 2002 und 2005 auf den Politikfeldern, die sich unter die Dimension „Gerechtigkeit“ zusammenfassen lassen, in dem genannten Zeitraum keinerlei Kompetenzverluste hinnehmen. Bei der zugeschriebenen Problemlösungskompetenz bei der „Garantie sozialer Gerechtigkeit“ blieb der Wert zwischen 2002 und 2005 unverändert bei 39 Prozent. Auch bei der Frage einer Modernisierung des Gesundheitswesens ergab sich keine Veränderung, und bei der Frage, welche Partei eher in der Lage ist, für eine gerechte Verteilung der Steuern zu sorgen, gewann die SPD sogar einen Prozentpunkt hinzu.
Einschätzung der Kompetenz von CDU/CSU und SPD in einzelnen Politikfeldern 2002 und 2005 Dimension: „Gerechtigkeit“ Zugeschriebene Problemlösungskompetenz Garantie sozialer Gerechtigkeit
2002
CDU/CSU 19
2005
2002
23
2005
22
2002 2005 Veränderung
39 -1
0
28 29 -1
Veränderung
Modernisierung Gesundheitswesen
39
18
Veränderung
gerechte Verteilung der Steuern
SPD
+1
26 28
26 26 +2
0
Die Politikfelder, bei denen die SPD zwischen 2002 und 2005 massiv an Vertrauen verlor, lassen sich dagegen allesamt dem Bereich der Ökonomie zuord-
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Peter Matuschek und Manfred Güllner
nen. Zugleich sind dies gerade jene Politikfelder, die von den Bundesbürgern in regelmäßig durchgeführten Befragungen durchgängig als die wichtigsten benannt werden. So sanken die Kompetenzwerte der SPD auf dem Feld der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit um 10 Prozentpunkte, bei der Schaffung von Rahmenbedingungen für weiteres Wirtschaftswachstum um 11 Prozentpunkte, bei der Förderung neuer Technologien um 9 Prozentpunkte und bei der Begrenzung der Staatsschulden sogar um 23 Prozentpunkte. Dies bedeutet, dass der Vertrauensverlust der SPD bei den Wählern nicht darin begründet war, dass ihr nicht mehr ausreichend soziale Kompetenz zuschrieben wurde, sondern dass die Wähler der SPD (und der rot-grünen Koalition insgesamt) nicht mehr zutrauten, die drängenden Probleme des Landes zu lösen und auf den für die Bürger zentralen Politikfeldern die richtigen Konzepte zu besitzen.
Einschätzung der Kompetenz von CDU/CSU und SPD in einzelnen Politikfeldern 2002 und 2005 Dimension: „Ökonomie“ Zugeschriebene Problemlösungskompetenz CDU/CSU Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
2002
36
2005
37
24 14 +1
Veränderung
Schaffung von Rahmenbedingungen für weiteres Wirtschaftswachstum
2002 2005
24 13 +6
15 +9
Veränderung
-9
25
2002 2005
24
39
Veränderung
Begrenzung der Staatsschulden
- 11
30
2002 2005
- 10
44 50
Veränderung
Förderung neuer Technologien
SPD
35
38
12 + 13
- 23
In der Phase nach 2005, in der sich die Erosion der SPD auf dem Wählermarkt in verstärkter Form fortsetzte (zunächst bei Landtagswahlen, dann bei der Europawahl 2009 und schließlich bei der Bundestagswahl), verlor die SPD bei der Kompetenzzuschreibung weiter an Vertrauen. Wenig vertrauensbildend wirkte sich auch der Wechsel an der Parteispitze aus. Die Wahl Kurt Becks hatte für die SPD insgesamt fatale Folgen, da sich Beck – im Gegensatz zu Gerhard Schröder – zu einem Malus für die SPD entwickelte. So sanken Becks Werte in der Kanz-
Volksparteien ohne Volk
233
lerpräferenz im direkten Vergleich mit Angela Merkel im Zeitverlauf seit der Übernahme des Parteivorsitzes immer weiter ab. Wie gering das Vertrauen in Kurt Beck bei den Wählern war, zeigte sich daran, dass sich im August 2008, d.h. kurz vor seinem Rücktritt als Parteivorsitzender, gerade einmal 11 Prozent (und auch unter den SPD-Anhängern nur eine Minderheit) für ihn als Kanzler entschieden hätten. Die folgende Übersicht zeigt, dass Kurt Beck – anders als sein Vor-Vorgänger Gerhard Schröder – die Werte der SPD deutlich nach unten zog (auch dies belegt durch eine statistisch relevante Korrelation). Nach der Nominierung von Frank-Walter Steinmeier stiegen dessen Werte in der Kanzlerpräferenz zwar zunächst deutlich an, doch konnte auch er bis zur Bundestagswahl 2009 zu keinem Zeitpunkt zu Angela Merkel aufschließen. Zwar wurde Steinmeier als Außenminister von einer großen Mehrheit der Bundesbürger bis zum letzten Tag der Großen Koalition respektiert, doch die guten Werte für den Außenminister Steinmeier übertrugen sich angesichts der hohen Akzeptanz für Angela Merkel als Kanzlerin nicht auf den Kanzlerkandidaten Steinmeier.
Entwicklung der Präferenzwerte für SPD und Beck 2008
50
%
40
30
20
SPD Beck
10
0 KW 1
2 3 4
5 6
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Neben einem für die Mehrheit der Wähler wenig ansprechenden Spitzenpersonal wirkte sich auch die Diskussion über eine mögliche Öffnung gegenüber der Linkspartei, ausgelöst durch den Wahlausgang bei der hessischen Landtagswahl 2008 und der Vorbereitung einer von der Linken tolerierten rot-grünen Minder-
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heitsregierung durch Andrea Ypsilanti negativ auf die Werte der SPD aus. Ein solches Bündnis und die damit verbundene Öffnung der SPD für Koalitionen mit der Linken auch in anderen westdeutschen Landtagen (oder auf Bundesebene) wurde von einer gleichbleibend großen Mehrheit der Bundesbürger – und auch der SPD-Anhänger – eindeutig abgelehnt. Die Folgen dieses – am Ende gescheiterten – Vorhabens waren für die SPD insofern verheerend, als sie dadurch einen Teil ihrer eigenen Anhänger und mögliche potenzielle Wähler massiv verunsicherte. Gleichzeitig passte sich die Debatte über eine mögliche Öffnung der Partei in Richtung der Linkspartei ein in die Diskussion über die Abkehr von der Agenda 2010 und damit der eigenen Regierungspolitik bis 2005, womit die SPD ihre Glaubwürdigkeit weiter unterminierte. Wenig förderlich für die Wahlchancen der SPD erwiesen sich schließlich im Wahljahr 2009 strategische Fehler, wie etwa die Nominierung von Gesine Schwan, die gegen den Amtsinhaber Horst Köhler ins Rennen geschickt worden war, obgleich drei Viertel aller Bundesbürger sich für eine weitere Amtszeit Horst Köhlers ausgesprochen hatten. Zudem brachte die SPD damit ohne Not erneut das Thema einer Kooperation mit der Linkspartei auf die politische Tagesordnung, da ihre Kandidatin in der Bundesversammlung auch von den Stimmen der Linkspartei abhängig war. Schließlich folgte ein völlig falsch angelegter Negativ-Wahlkampf für die Europawahl, in dem die SPD den Versuch unternahm, sich mit einer holzschnittartigen Kampagne („Finanzhaie würden FDP wählen“ bzw. „Heiße Luft würde die Linke wählen“) als Partei der sozialen Gerechtigkeit zu profilieren und sich gegenüber Union, FDP und Linkspartei abzugrenzen. Ähnliche handwerkliche Unzulänglichkeiten zeigten sich auch während des Bundestagswahlkampfs, in dessen Verlauf es der SPD nicht gelang, eine in sich stimmige und überzeugende Kampagne zu organisieren. Als wichtige Ursachen für die weitere Erosion der SPD zwischen 2005 und 2009, mit dem (vorläufigen) Tiefpunkt bei der vergangenen Bundestagswahl, lassen sich somit ein weiterer Kompetenzverlust, ein wenig überzeugendes personelles Angebot und eine Aufweichung ihrer Abgrenzung gegenüber der Linkspartei auch in Westdeutschland anführen, was es der Union ermöglichte, sich als alleinige Kraft der politischen „Mitte“ zu positionieren.
3
Ausblick
Auch nach der Bundestagswahl 2009 hat sich die Situation der beiden Volksparteien nicht verbessert. Die Union kann in etwa ihren im Vergleich mit früheren Wahlergebnissen stark reduzierten Wählerstamm halten. Es gelingt ihr aber nicht, die bei der Bundestagswahl 2009 zur FDP abgewanderten früheren CDU/
Volksparteien ohne Volk
235
CSU-Wähler wieder zur Rückkehr zur Union zu bewegen. Die nun auch von der FDP extrem Enttäuschten wandern zu großen Teilen ins Lager der Nichtwähler. Und die SPD verharrt im Wesentlichen auf der geringen, ihr im September 2009 verbliebenen Wählersubstanz. Die weitere Abkehr von zentralen Elementen des Schröderschen Modernisierungs- und Erneuerungskurses, die Annäherung an die Grünen in wichtigen politischen Positionen und die andauernde Schwäche in vielen Ländern und Kommunen geben den vielen in den letzten Jahren Abgewanderten keine Veranlassung, zur SPD zurückzukehren. Zudem zeigt ein Blick auf die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010, dass die Erosionsprozesse sich auch in den Ländern weiter fortsetzen. So verlor die CDU im Vergleich zur vorangegangenen Landtagswahl 2005 deutlich an Stimmen, während auch die SPD Verluste hinnehmen musste und nur noch 20,2 Prozent aller Wahlberechtigten für sich mobilisieren konnte. Auch in der politischen Stimmung auf Bundesebene verlieren die beiden Volksparteien – auch hier insbesondere die SPD – gemessen an allen Wahlberechtigten weiter an Rückhalt, während der Anteil derer weiter anwächst, die angeben, bei einer kommenden Wahl der Wahlurne fernbleiben zu wollen. Die große Herausforderung für beide Volksparteien wird es daher sein, mit einem entsprechend attraktiven Spitzenpersonal, einem einheitlichen Erscheinungsbild und inhaltlicher Kompetenz die ihnen verbliebenen Wähler zu halten bzw. bei vergangenen Wahlen – zumeist in die Enthaltung – abgewanderte Wähler wieder neu für sich zu gewinnen. Es liegt auf der Hand, dass diese Aufgabe, vor der beide Volksparteien stehen, vor dem Hintergrund des Ausmaßes des Vertrauensverlusts, der sich auf allen Ebenen des politischen Systems, von der kommunalen bis zur Bundesebene, eingestellt hat, nur langfristig angelegt sein kann und unabhängig von aktuellem wahltaktischem Opportunismus erfolgen muss.
Wer entscheidet unter welchen Bedingungen über die Nominierung
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„Wer entscheidet unter welchen Bedingungen über die Nominierung von Kandidaten?“ Die innerparteilichen Selektionsprozesse zur Aufstellung in den Wahlkreisen Wer entscheidet unter welchen Bedingungen über die Nominierung
Marion Reiser
1
Einleitung
Zwischen Herbst 2008 und Sommer 2009 nominierten die politischen Parteien in Deutschland ihre Direktkandidaten1 in den 299 Wahlkreisen und stellten die Landeslisten mit den Listenkandidaten für die Bundestagswahl am 27. September 2009 auf. Diese innerparteiliche Kandidatenaufstellung ist dabei politisch und politikwissenschaftlich höchst bedeutsam: So ergibt sich ihre Relevanz zum einen aus der Bedeutung der Kandidatenaufstellung für die personelle Zusammensetzung des Bundestags: Für die Mehrheit der Kandidaten stand bereits bei ihrer Nominierung fest, ob sie nach der Wahl Bundestagsabgeordnete werden oder nicht. So zeigten Studien in den 1960er und 1970er Jahren, dass mehr als 75% der Abgeordneten bereits vor der Wahl sicher sein konnten, dass sie in den Bundestag einziehen, da sie auf sicheren Listenplätzen oder in sicheren Wahlkreisen kandidierten (vgl. Kaack 1971). Damit entscheidet in diesen Fällen nicht das Votum der Wähler sondern die innerparteilichen Selektoren über die Abgeordneten. Auch wenn durch die Veränderung des Parteiensystems und die erhöhte Volatilität der Anteil an Kandidaten auf sicheren Listenplätzen und Wahlkreisen vermutlich gesunken ist, ist der Nominierungsprozess innerhalb der Parteien für die personelle Zusammensetzung des Bundestags nach wie vor sehr wichtig. Die innerparteiliche Kandidatennominierung ist zum anderen jedoch auch unter dem Gesichtspunkt der innerparteilichen Willensbildung und innerparteilichen Demokratie zentral. So untersuchten die vielfältigen Studien zur innerparteilichen Kandidatennominierung in den 1960er und 1970er Jahren die innerparteilichen Selektionsprozesse insbesondere hinsichtlich ihrer Implikationen für die innerparteiliche Demokratie (Loewenstein 1973; Zeuner 1970; Kaack 1971; 1 In diesem Beitrag wird nur die männliche Form verwendet. Dies geschieht ausschließlich aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung.
O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Lohmar 1963; Kitzinger 1960). Bodo Zeuner (1970: 6) fasste diesen Fokus auf die innerparteiliche Willensbildung mit der Frage „Wer entscheidet unter welchen Bedingungen über die Nominierung von Kandidaten?“ zusammen. Trotz dieser Relevanz für die Rekrutierung der Abgeordneten und für die innerparteiliche Demokratie ist die parteiinterne Kandidatenaufstellung jedoch seit den 1970er Jahren „ein Stiefkind der deutschen Politikwissenschaft“ (Schüttemeyer 2002: 145). So entstanden seither kaum empirische Studien zu den innerparteilichen Willensbildungs- und Selektionsprozessen (Ausnahme: Schüttemeyer/Sturm 2005). Daher greift dieser Beitrag die alte ‚Zeuner-Frage‘ auf und fragt danach, wie die innerparteilichen Nominierungsprozesse zur Bundestagswahl 2009 in den Wahlkreisen verliefen: Wer entschied also unter welchen Bedingungen über die Nominierung von Kandidaten? Dazu werden in einem ersten Schritt die Rahmenbedingungen und der Forschungsstand zur innerparteilichen Kandidatenaufstellung in Deutschland gelegt, bevor das methodische Vorgehen und die empirische Basis der Studie erläutert werden. Im Anschluss erfolgt die Analyse der Selektions- und Entscheidungsprozesse im Rahmen der Nominierungsprozesse der Direktkandidaten von SPD, CDU, CSU sowie – in den ostdeutschen Wahlkreisen – der Linken zur Bundestagswahl 2009. Dazu werden neben der formalen Entscheidung auf den Wahlkreiskonferenzen insbesondere auch die vorgelagerten Phasen der Entscheidungsprozesse mit in die Analyse integriert.
2
Kandidatenaufstellung und innerparteiliche Demokratie
Die Nominierung der Kandidaten für die Wahlen zum Deutschen Bundestag wird zentral beeinflusst durch das Wahlsystem und die gesetzlichen Anforderungen an die innerparteiliche Kandidatenselektion, die demokratische Verfahren fordern. Die Frage, wie demokratisch diese Kandidatenauswahlverfahren in den politischen Parteien jedoch tatsächlich sind und inwiefern dadurch die Postulate innerparteilicher Demokratie erfüllt werden, wurde insbesondere in den Anfangsjahren der Bundesrepublik sehr intensiv diskutiert. Im Folgenden werden daher zuerst die institutionellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen erläutert, bevor im Anschluss die zentralen Erkenntnisse zur Kandidatenaufstellung in Deutschland diskutiert werden.
Wer entscheidet unter welchen Bedingungen über die Nominierung
239
2.1 Institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen der Kandidatenaufstellung Die wichtigste institutionelle Rahmenbedingung für die innerparteilichen Selektionsprozesse in Deutschland ist das Wahlsystem der personalisierten Verhältniswahl mit geschlossenen Listen. Dabei wird die Hälfte der regulären 598 Abgeordneten des Deutschen Bundestags in Einerwahlkreisen nach relativer Mehrheitswahl und die andere Hälfte der Mandate über die Landeslisten der Parteien vergeben (Klingemann/Wessels 2004). Entsprechend gibt es zwei unterschiedliche Arten der Kandidatur, die Wahlkreiskandidatur und die Kandidatur auf den Landeslisten, und zwei unterschiedliche Entscheidungsinstanzen, die über die Kandidaturen entscheiden: Die Vertreterversammlungen auf der Wahlkreisebene für die Direktkandidaturen und jene auf der Landesebene für die Aufstellung der Landeslisten. Für die parteiinternen Verfahren zur Aufstellung der Kandidaten für die Bundestagswahlen in den Wahlkreisen und auf den Landeslisten gibt es in Deutschland im Grundgesetz, dem Parteigesetz sowie im Bundeswahlgesetz Regelungen. So legt Artikel 21 GG, Abs.1 grundlegend fest, dass die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muss. Diese grundsätzliche Forderung nach innerparteilicher Demokratie wird in den Satzungen und im Bundeswahlgesetz für die Kandidatennominierungen konkretisiert. Für die im Rahmen dieses Beitrags untersuchten Nominierungen der Wahlkreiskandidaten verlangt das Bundeswahlgesetz die demokratische Nominierung durch gewählte Wahlkreisvertreterkonferenzen (vgl. §21 BWahlG). Danach können die Direktkandidaten entweder im Rahmen einer Mitgliederversammlung, bei der alle Mitglieder der Partei in dem jeweiligen Wahlkreis wahlberechtigt sind, oder im Rahmen einer Delegiertenversammlung in geheimer Abstimmung gewählt werden. Alle weiteren Regelungen können die Parteien durch ihre Satzungen bestimmen. 2.2 Kandidatenaufstellung in den Wahlkreisen Die Erkenntnisse zur innerparteilichen Kandidatenaufstellung und der demokratischen Qualität dieser Selektionsprozesse stützen sich nach wie vor weitgehend auf die Studien in den 1960er und 1970er Jahren (Kaack 1969; Zeuner 1970; Roberts 1988; Kitzinger 1960; Haungs 1976; Lohmar 1963; Mintzel 1980; Kaufmann et al. 1961; Loewenberg 1969). So bestand in der Frühphase der Bundesrepublik ein sehr großes Interesse an den Funktionsmechanismen und Funktionsweisen des neu entstandenen demokratischen Systems. Gleichzeitig gab es starke parteiinterne und -externe Kritik an den Kandidatennominierungsverfah-
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Marion Reiser
ren aufgrund der Tatsache, dass in den sogenannten sicheren Wahlkreisen oder auf sicheren Listenplätzen nicht das Votum des Wählers entscheidet, sondern mit der Aufstellung der Bewerber durch die Parteien faktisch bereits vorentschieden ist, wer in das Parlament einzieht. Im Rahmen der politikwissenschaftlichen und juristischen Debatte der 1960er und 1970er Jahre wurde betont, dass der innerparteilichen Kandidatenaufstellung daher für die demokratische Legitimationswirkung staatlicher Wahlen eine besondere Bedeutung zukommt. Der Grund hierfür wurde in der zentralen Stellung der politischen Parteien in der bundesdeutschen Verfassungsordnung gesehen, wodurch sich erhöhte Anforderungen an die innerparteiliche Demokratie ergeben2. Deshalb lag auch ein starker Fokus der empirischen Studien auf den Selektionsverfahren und der Qualität innerparteilicher Demokratie. Zeuner (1970: 6) fasste diesen Fokus für die empirischen Analysen unter der Frage „Wer entscheidet unter welchen Bedingungen über die Nominierung von Kandidaten?“ zusammen. Die formalen Entscheidungen auf der Wahlkreisebene wurden in den 1960ern fast ausschließlich im Rahmen von Delegiertenversammlungen – und nicht Mitgliederversammlungen – entschieden. Die Delegierten kamen dabei überwiegend aus dem Kreis der Funktionäre, während einfache Parteimitglieder an der Auswahl kaum beteiligt waren (Lohmar 1963). Die Studien beschränkten sich jedoch nicht darauf, nur diese letzte – und formale – Stufe des Nominierungsprozesses zu analysieren. Stattdessen fokussierten die Studien auf die Frage, ob neben den formellen Entscheidungsgremien weitere informelle Gruppierungen Einfluss auf die Kandidatenauslese nehmen. Entsprechend verwiesen die Autoren darauf, dass die vorgelagerten informellen und formellen innerparteilichen Entscheidungsprozesse zentral seien, um die demokratische Qualität des Selektionsprozesses bewerten zu könnten (vgl. u.a. Zeuner 1970: 20). Aufgrund der noch aus Weimarer Zeiten überkommenen starken Verbandsfärbung des Bundestages in den Anfangsjahren der Bundesrepublik wurde insbesondere eine Außensteuerung durch Verbände – auch durch die Partei- und Wahlkampffinanzierung – als große Gefahr für die Demokratie problematisiert (Lohmar 1963). Die Studien zeigten jedoch, dass die Verbände sehr schnell an Einfluss verloren und nur indirekten Einfluss über Parteimitglieder auf die Kandidatennominierung ausüben konnten (vgl. Varain 1961: 148ff.; Kaufmann et al. 1961; Schröder 1971). Eine (informelle) Einflussnahme der höheren Parteiebenen wurde ebenfalls kaum festgestellt. Die Studien zeigten vielmehr, dass ein Versuch der Einflussnahme der Bundespartei auf Wahlkreis- und Listenkandida2 Im Rahmen der juristischen Debatte stand insbesondere die Frage im Zentrum, welchen Anforderungen die Kandidatenaufstellung im Schnittpunkt zwischen der innerparteilichen Willensbildung (Art. 21 GG) und den staatlichen Wahlrechtsgrundsätzen (Art. 38 GG) genügen muss (Nass 1974, Henkel 1976, Wolfrum 1994; Ipsen 2004).
Wer entscheidet unter welchen Bedingungen über die Nominierung
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turen eher schädlich war (Kaufmann et al. 1961, Zeuner 1970, Loewenberg 1969, Schröder 1971). Im Rahmen der stärkeren Verschränkung von Direkt- und Listenkandidatur gewann die Landesebene jedoch stärker in sogenannten unsicheren Wahlkreisen an Einfluss, da die örtlichen Parteiinstanzen hier teilweise um die Absicherung auf der Landesliste verhandelten (Varain 1961; vgl. hierzu auch Borchert/Reiser 2010). Die Studien arbeiteten stattdessen die zentrale Rolle der örtlichen Parteiinstanzen, insbesondere der Kreisvorstände im Nominierungsprozess heraus (Zeuner 1970). So waren die formalen Entscheidungsinstanzen, also die Delegiertenversammlungen, dann weitgehend macht- und einflusslos, wenn sich die Kreisvorstände in den Vorberatungen bereits auf einen Kandidaten geeinigt hatten und daher auf der Delegiertenversammlung lediglich ein Bewerber zur Abstimmung antrat. Sofern es auf den Wahlkreisversammlungen zu Alternativabstimmungen zwischen Bewerbern kam, waren die Delegiertenversammlungen hingegen sehr einflussreich. Einfache Parteimitglieder hatten hingegen kaum Einfluss auf die Kandidatenauswahl. Zeuner (1971: 165) kam daher zu dem Ergebnis, dass nur 0,12 bis 0,15 aller Wahlberechtigten die personelle Zusammensetzung des Bundestags bestimmen. Insgesamt wurde daher ein niedriges Ausmaß an innerparteilicher Demokratie beklagt und die oligarchische Struktur der Führungselite problematisiert. Im Anschluss an diese Erkenntnisse wurden Vorschläge zur Einführung anderer Formen der Kandidatenaufstellung sowohl in der Wissenschaft als auch innerhalb der Parteien diskutiert und teilweise auch umgesetzt: Zum einen die stärkere Einbindung der Parteimitglieder durch Einführung von Urwahlen, Parteivorwahlen und Mitgliederbefragungen (vgl. Haungs 1976), zum anderen die Beteiligung breiterer Wählerschichten an der Kandidatenaufstellung, wie beispielsweise die Einführung von Primaries nach US-Vorbild, oder eine Veränderung des Wahlverfahrens in ein Präferenzwahlsystem (Müller-Wigley 1971; Fabritius 1972; Arnim 2004). Durch die Einführung dieser Verfahren sollte die innerparteiliche Demokratie durch erhöhte Beteiligungschancen, mehr Transparenz und verbesserte Kontrollmöglichkeiten gestärkt werden (Zeuner 1970; Kaack 1969). So werden auch aktuell eine stärkere Mitgliederbeteiligung und mögliche Reformen der innerparteilichen Kandidatenaufstellung innerhalb der SPD und der CSU diskutiert. Während die Debatte zur parteiinternen Kandidatennominierung in den 1960er und 1970er Jahren sehr intensiv geführt wurde, entstanden seither kaum wissenschaftliche Studien. Es ist jedoch höchst fraglich, ob die empirischen Erkenntnisse aus den frühen Jahren der Bundesrepublik heute noch zutreffend sind, da sich seither sowohl die zwischen- als auch die innerparteilichen Wettbewerbsbedingungen deutlich verändert haben (zu ersten Erkenntnissen hierzu vgl. Schüt-
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temeyer/Sturm 2005; Reiser 2010). So zeigten Schüttemeyer/Sturm für die Nominierungen der Direktkandidaten für die Bundestagswahl 2002 eine Veränderung der formalen parteiinternen Selektionsverfahren, da vielfach Mitgliederversammlungen an die Stelle von Delegiertenversammlungen getreten sind (Schüttemeyer/Sturm 2005). Allerdings gaben im Rahmen dieser Studie drei Viertel der befragten Direktkandidaten an, „dass der Ausgang der Abstimmung über ihre Kandidatur vor der Versammlung – ob mit Mitgliedern oder mit Delegierten – als entschieden oder eher entschieden galt“ (Schüttemeyer/Sturm 2005: 545). Entsprechend vermuten sie, dass es sich nach wie vor eher um kleine Zirkel handelt, die vorsondieren und gegebenenfalls Absprachen im Vorfeld treffen. Über diese vorgelagerten Entscheidungsprozesse jedoch gibt es nach wie vor kaum Erkenntnisse: „Mit empirischen Daten und systematischem Wissen kann die Politikwissenschaft gegenwärtig nicht aufwarten“ (Schüttemeyer/Sturm 2005: 546). Neben dieser ‚alten‘ deutschen Debatte wurde in den letzten Jahren beginnend mit Gallagher/Marsch (1988) und Norris (1997; vgl. auch Norris/Lovenduski 1985) eine internationale Debatte zur Kandidatenaufstellung angestoßen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der vergleichenden Analyse der innerparteilichen Kandidatennominierungsprozesse und der Frage nach deren demokratischer Qualität – und schließt damit gewissermaßen an die alte deutsche Debatte an (Gallagher/Marsh 1988; Ranney 1981; Barnea/Rahat 2007; Epstein 1980; Katz 2001; Bille 2001, Lundell 2004; kritisch: Pennings/Hazan 2001). Die Studien zeigen dabei eine außerordentliche Breite an Nominierungsverfahren, die insbesondere anhand von zwei Dimensionen unterschieden werden: Die erste Dimension ist dabei die Zentralität der Entscheidungsebene (lokal – regional – national) und damit die Frage, auf welcher Ebene die Entscheidung über die Kandidaturen gefällt wird. So besteht zumeist die (implizite) Annahme, dass Nominierungsentscheidungen, die dezentral auf der lokalen Ebene gefällt werden, demokratischer sind, da die Entscheidungen von denen gefällt werden, die von dem Kandidaten repräsentiert werden. Die zweite Dimension ist der Grad der Inklusivität des Selektorats, der als Kontinuum zwischen den beiden Polen ‚alle Bürger eines Landes mit Wahlrecht‘ und dem ‚einzelnen Parteiführer‘ gefasst wurde. Grundsätzlich wird dabei das Verfahren umso demokratischer angesehen, je mehr Personen in die Entscheidung involviert sind. Dabei stellten die Analysen einen grundsätzlichen Trend zur Demokratisierung der Kandidatenauslese in den Parteien der etablierten Demokratien zwischen 1960 und 1990 fest, wobei es aber auch gegenläufige Tendenzen gibt (vgl. Bille 2001; Scarrow et al. 2000). Diese Studien beziehen sich dabei jedoch in erster Linie auf die formalen Regelungen und Parteisatzungen zur Kandidatenaufstellung und blenden die tatsächliche Durchführung der Kandidatenaufstellungen und die informellen vorgelagerten Entscheidungsprozesse aus. In diesen international vergleichenden Analysen gilt
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Deutschland als ein Fall, in dem die gesetzlichen Mindeststandards die Parteien in ihren Auswahlmethoden einschränken (vgl. 2.1). Aufgrund der Nominierungen der Wahlkreiskandidaten auf lokaler Ebene sowie der Einführung von Mitgliederversammlungen wird die Kandidatennominierung in Deutschland jedoch als vergleichsweise demokratisch eingestuft (vgl. Bille 2001; Barnea/Rahat 2007). Insgesamt brachte die ‚alte‘ deutsche Debatte somit vielfältige empirische Erkenntnisse zur innerparteilichen Kandidatenaufstellung hervor. Sie zeichnete sich insbesondere dadurch aus, dass die informellen Selektionsprozesse im Zentrum der Analyse standen und gezeigt werden konnte, dass es ein Auseinanderklaffen von formalem und informellem Selektorat gibt. Fraglich ist jedoch, ob die gewonnenen Erkenntnisse aufgrund von zwischen- und innerparteilichen Veränderungen noch zutreffend sind. Zudem mangelte es der Debatte der 1950er bis 1970er Jahre an einem systematischen und vor allem auch an einem international vergleichenden Zugang. Den liefert die aktuelle Diskussion, die einen systematischen Ansatz zur vergleichenden Analyse der innerparteilichen Qualität von Nominierungsverfahren bietet. Allerdings fokussieren die Studien bisher zumeist auf die formalen Regelungen und blenden die tatsächlichen Verfahren ebenso aus wie die informellen vorgelagerten Entscheidungsprozesse. Der vorliegende Artikel möchte einen ersten Beitrag leisten, um die empirischen Befunde zu den Selektionsprozessen für die Bundestagswahl 2009 zu aktualisieren und die Erkenntnisse an die internationale Forschung anzubinden. 2.3 Methoden und empirische Basis Zur Analyse des innerparteilichen Selektionsprozesses in den Wahlkreisen wird ein Methodenmix angewendet: So basiert die Studie empirisch erstens auf einer quantitativen Analyse der Wettbewerbssituation auf den Nominierungskonferenzen zur Aufstellung der Direktkandidaten für die Bundestagswahl 2009. Dazu werden alle Nominierungen der SPD (n=299), der CDU (n=254) und der CSU (n=45) sowie alle Nominierungen der Linken in den ostdeutschen Wahlkreisen (n=56) untersucht. FDP und Bündnis 90/Die Grünen3 sowie die Linkspartei in den westdeutschen Wahlkreisen sind nicht Teil der Analyse, da ihre Kandidaten bisher keine Wahlkreise direkt gewinnen. Insgesamt werden daher 654 Nominierungen von Wahlkreiskandidaten analysiert. Die in der Datenbank erfassten Informationen wurden auf Basis der Protokolle der Nominierungskonferenzen, der Pressemitteilungen der Parteien sowie der Presseberichterstattung erhoben 3 Die Ausnahme stellt Hans-Christian Ströbele dar, der für die Grünen seit 2002 den Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg direkt gewinnt.
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und umfassen unter anderem Informationen zum Bewerberfeld, der Nominierungsart und der Größe des Selektorats. Zweitens stützt sich die Studie auf eine teilnehmende Beobachtung von zehn Nominierungskonferenzen von SPD und CDU zur Nominierung der Wahlkreiskandidaten für die Bundestagswahl 2009. Diese variieren in Bezug auf das Nominierungsverfahren (fünf Mitglieder- und fünf Delegiertenversammlungen), die Partei (fünf Verfahren der SPD, fünf der CDU) und die Anzahl der Kandidaten (zwei bis fünf Kandidaten). Mit Hilfe dieser teilnehmenden Beobachtungen können Differenzen zwischen der Nominierungsart und ihren Effekten auf die Mechanismen, Prozesse und Resultate beobachtet werden. Um Aussagen über die informellen Selektionsprozesse vor den Nominierungskonferenzen machen zu können, werden zudem für 32 Nominierungen diese Prozesse rekonstruiert (geschichtete Zufallsauswahl). Diese Nominierungen variieren zum einen systematisch nach dem Grad und der Form der Nominierung, zum anderen variieren sie nach Partei: Die Stichprobe beinhaltet je zwölf Nominierungen von CDU und SPD sowie je vier Nominierungen der CSU und der Linken. Die Rekonstruktion erfolgt auf Basis von Leitfadeninterviews mit den zentralen beteiligten Akteuren (erfolgreiche und erfolglose Bewerber, Kreisvorsitzende und andere Parteifunktionäre, Mitglieder der Findungskommission, Journalisten). Bisher wurden insgesamt 124 Leitfadeninterviews mit einer Länge von 60 bis 210 Minuten durchgeführt. Dieses Forschungsdesign erlaubt damit Aussagen zu den formalen und informellen innerparteilichen Selektionsprozessen vor und auf der Nominierungskonferenz.
3
Innerparteiliche Selektionsprozesse
Im Folgenden wird der innerparteiliche Selektions- und Entscheidungsprozess zur Nominierung der Direktkandidaten für die Bundestagswahl 2009 analysiert. Dazu wird in einem ersten Schritt die formale Entscheidung auf der Nominierungskonferenz untersucht, bevor in einem zweiten Schritt die formalen und informellen Willensbildungs- und Selektionsprozesse vor der Nominierungskonferenz näher beleuchtet werden. 3.1 Die formale Entscheidung auf der Nominierungskonferenz Die Wahlkreisvertreterkonferenz ist die letzte Stufe des Nominierungsprozesses und das formale Gremium zur Auswahl des Direktkandidaten des Wahlkreises. Daher ist eine zentrale Frage, wer formal auf der Wahlkreisnominierungskonfe-
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renz über den Wahlkreiskandidaten entscheidet. Dazu wird im Folgenden untersucht, welche Nominierungsart angewendet wird und welche Implikationen dies hat, die Größe des Selektorats beleuchtet sowie untersucht, ob das formale Selektorat überhaupt eine Auswahl hat. (1) Formales Selektorat: Delegierten- und Mitgliederversammlungen Grundsätzlich lassen sich dazu in Deutschland zwei zentrale Nominierungsformen unterscheiden: Die Wahlkreismitgliederversammlung, bei der alle Mitglieder der Partei in dem jeweiligen Wahlkreis wahlberechtigt sind, und die Wahlkreisdelegiertenversammlung. In der Vergangenheit wurden die Kandidaten fast ausschließlich im Rahmen von Delegiertenversammlungen aufgestellt (Kaufmann et al. 1961; Zeuner 1970). Schüttemeyer/Sturm (2005: 541 ff.) stellten jedoch einen Trend hin zur Einführung von Mitgliederversammlungen fest und damit zu einer größeren Inklusivität des Selektorats. Tabelle 1: Formales Selektorat: Delegierten- und Mitgliederversammlungen Partei SPD CDU CSU Die LINKE (Ost) Gesamt4 Quelle: Eigene Erhebung
Mitgliederversammlung
Delegiertenversammlung
14,4% 52,5%
85,6% 47,5%
0,0% 38,3% 30,3%
100,0% 61,7% 69,7%
Analysiert man die Kandidatenaufstellung für die Bundestagswahl 2009, lässt sich ein grundsätzlicher Trend jedoch nicht bestätigen. So wurden 70% der Direktkandidaten der vier untersuchten Parteien in Delegiertenversammlungen bestimmt und lediglich ein knappes Drittel (30%) in Mitgliederversammlungen (vgl. Tabelle 1). Dabei zeigen sich erstens sehr große Unterschiede zwischen den Parteien: So findet die Kandidatenaufstellung bei der CSU generell in Form von Delegiertenversammlungen statt. In der SPD werden in der großen Mehrheit der Wahlkreise (86%) die Direktkandidaten ebenfalls im Rahmen von Delegiertenversammlungen aufgestellt. DIE LINKE nominierte ebenfalls die Mehrheit der Direktkandidaten mittels Delegiertenversammlungen (62%), wobei hier der Anteil an Mitgliederversammlungen mehr als ein Drittel und damit überdurchschnittlich war. Im Gegensatz dazu finden bei der CDU die beiden Verfahren
4 Die Daten zu der Nominierungsart sind noch nicht vollständig in der Datenbank enthalten, so dass sich die folgenden Erkenntnisse auf 601 der 654 untersuchten Nominierungen beziehen.
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fast gleichgewichtig Anwendung: Hier entscheiden in 52% der Nominierungen die Parteimitglieder und in 48% Delegierte über den Bundestagskandidaten. Innerhalb der einzelnen Parteien zeigen sich zweitens jedoch große regionale Unterschiede: Mitgliederversammlungen bei der Linken fanden zur Bundestagswahl 2009 fast ausschließlich in Sachsen statt. Wie die Interviews zeigten, werden jedoch auch hier die Kandidaten üblicherweise im Rahmen von Delegiertenversammlungen nominiert. Die Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl 2009 fand jedoch fast zeitgleich mit der Kreisgebietsreform und der damit verbundenen Neuformierung der Kreisverbände statt. Zudem befand sich die Linke insgesamt in diesem Zeitraum im Vereinigungsprozess (PDS-WASG). Daher wurden aus Gründen der Rechtssicherheit Mitgliederversammlungen durchgeführt, wie das folgende Zitat verdeutlicht: „Wir haben ausnahmsweise Kreismitgliederversammlungen durchgeführt und zwar deshalb, weil wir im Vorfeld vom Landesvorstand einen Hinweis bekommen hatten, dass es Probleme mit den Formalia für die Delegiertenwahlen geben könnte; deshalb haben wir dann eine Mitgliederversammlung gemacht, um Rechtssicherheit zu haben.“ (31_1)
Bei der SPD fand die Kandidatennominierung in den westdeutschen Wahlkreisen fast ausschließlich in Form von Delegiertenversammlungen statt (92%). In den ostdeutschen Wahlkreisen hingegen wurden die Kandidaten in 41% der Wahlkreise im Rahmen von Mitgliederversammlungen aufgestellt. Begründet wird dies erstens – wie bei der Linken – mit der spezifischen Situation der Neuformierung der Kreisverbände in Sachsen durch die Kreisgebietsreform. Die zweite Ursache für den hohen Anteil an Mitgliederversammlungen liegt in den niedrigen Mitgliederzahlen begründet, wie ein Kreisvorsitzender erläutert: „Wir haben solch niedrige Mitgliederzahlen und der Anteil der Aktiven ist so niedrig. Obwohl wir eine Mitgliederversammlung gemacht haben, waren dennoch nur 30 Personen anwesend.“ (25_2)
Auch bei der CDU liegt der Anteil der Mitgliederversammlungen in den ostdeutschen Wahlkreisen (77%) deutlich über dem Anteil in den westdeutschen Wahlkreisen (48%). Insgesamt zeigt die Analyse jedoch ein sehr interessantes Muster in den verschiedenen Bundesländern: In den ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt sowie in den westdeutschen Bundesländern Hamburg und Schleswig-Holstein finden alle Nominierungen in Form von Mitgliederversammlungen statt. Im Gegensatz dazu wurden (fast) alle Kandidaten in Berlin, Hessen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland sowie in Thüringen auf Delegiertenversammlungen nominiert. In Baden-Würt-
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temberg (79% auf Mitgliederversammlungen), NRW (38% auf Mitgliederversammlungen) sowie Niedersachsen (72% auf Mitgliederversammlungen) ist die Form der Nominierung hingegen innerhalb der jeweiligen Bundesländer uneinheitlich. Insgesamt lässt sich somit im Vergleich zur Studie von Schüttemeyer/Sturm (2005) zur Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl 2002 kein Trend festmachen, dass die Parteien verstärkt Mitgliederversammlungen zur Kandidatenaufstellung einführen. Bei der Linken und der SPD spiegelt die Anwendung von Mitglieder- statt Delegiertenversammlungen (zumindest bisher) keinen generellen Trend hin zu einem inklusiveren Selektorat wider, sondern war den besonderen Bedingungen geschuldet. Insofern sind Mitgliederversammlungen weitgehend ein Phänomen, das sich auf bestimmte Landesverbände der CDU konzentriert. In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch die Frage, inwiefern das formale Nominierungsverfahren überhaupt einen Einfluss auf den Selektionsprozess und die Auswahl des Direktkandidaten hat. Die teilnehmende Beobachtung ebenso wie die Aussagen in den geführten Interviews lassen darauf schließen, dass es systematische Unterschiede zwischen den Verfahren gibt: Erstens hat das formale Verfahren eine Relevanz für die Inklusivität des formalen Selektorats. Bei Wahlkreismitgliederkonferenzen sind alle Mitglieder der Partei in dem jeweiligen Wahlkreis wahlberechtigt und können somit formal über ihren Direktkandidaten abstimmen. Demgegenüber sind bei den Delegiertenversammlungen nur die von den Mitgliedern der Ortsvereine5 gewählten Delegierten stimmberechtigt, während die einfachen Parteimitglieder formal nicht über ihren Direktkandidaten abstimmen können. Aus diesem unterschiedlichen Selektorat ergeben sich zweitens Differenzen hinsichtlich der Bedeutung der Wahlkreiskonferenz für die Kandidatenaufstellung. So wurde im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung und der Gespräche mit Parteimitgliedern am Rande der Nominierungskonferenzen deutlich, dass viele Parteimitglieder unentschlossen bzw. uninformiert zur Wahlkreiskonferenz kommen. Daher ist die Performance der Bewerber auf dieser Wahlkreiskonferenz für ihre Auswahl zentral. Im Gegensatz dazu kennen die Delegierten die Bewerber bereits aus anderen Zusammenhängen in der Regel sehr gut. Zudem haben die Delegierten in der überwiegenden Mehrheit bereits eine festgelegte Meinung, wenn sie zur Konferenz kommen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es im Vorfeld sogenannte Tingeltouren mit Voten in den Ortsvereinen gab (vgl. dazu 3.2). Entsprechend ist die Performance der Kandidaten auf der Wahlkreiskonferenz zweitrangig. Die geringe Bedeutung spiegelt sich auch darin 5 Im Rahmen dieses Beitrages werden aus sprachlichen Gründen Ortsverein und Ortsverband synonym verwendet, ebenso wie Arbeitsgemeinschaften und Vereinigungen.
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wider, dass bei vielen Delegiertenversammlungen sogar auf eine ausführliche Präsentation der Bewerber und eine anschließende Aussprache verzichtet wurde. Damit ist die Nominierungskonferenz bei Delegiertenversammlungen bei weitem nicht so entscheidend wie bei Mitgliederversammlungen. Damit sind gleichzeitig auch andere Ressourcen der Bewerber zentral: Da bei der Mitgliederversammlung die Wahlkreiskonferenz entscheidend ist, sind hier die rhetorische Fähigkeiten, die Attraktivität des Kandidaten für die einfachen Parteimitglieder, das Potential, Menschen für sich zu gewinnen sowie die lokale Verankerung sehr wichtige Ressourcen der Bewerber. Bei Delegiertenversammlungen spielen die rhetorischen Fähigkeiten und die Attraktivität der Bewerber für die allgemeinen Parteimitglieder lediglich eine untergeordnete Rolle. Hier sind die Parteierfahrung und die lokale Verankerung für die Delegierten tendenziell entscheidender. Darüber hinaus zeigen sich systematische Unterschiede danach, wie beeinflussbar und kontrollierbar das formale Verfahren durch die lokale Parteiführung, also den Kreisvorstand, ist. So ist der Wahlausgang aufgrund der hohen Bedeutung der Performance und der durchschnittlich deutlich höheren Teilnehmerzahl bei Wahlkreismitgliederkonferenzen für die Parteiführung schwer kalkulierbar und damit auch schwieriger zu beeinflussen als bei Delegiertenversammlungen (vgl. hierzu ausführlich 3.2). (2) Größe des Selektorats Somit weisen die Ergebnisse dieser Studie auf systematische Unterschiede zwischen den Nominierungsarten hin. Allerdings zeigt die Studie, dass es darüber hinaus für die Entscheidungsprozesse auf der Nominierungskonferenz und die Einflussmöglichkeiten der Parteiführung auch zentral ist, wie groß das Selektorat ist. Bei den Kandidatenaufstellungen zur Bundestagswahl 2009 stimmten durchschnittlich 145 Personen über den Bundestagskandidaten ihres Wahlkreises ab, wobei sich jedoch sehr große Unterschiede zeigen (vgl. Tabelle 2): Das kleinste Selektorat gab es bei einer Delegiertenversammlung der SPD in Thüringen, wo lediglich zwölf Delegierte formal über den Bundestagskandidaten abstimmten. Das größte Selektorat bestand aus 1.293 CDU-Parteimitgliedern in einem nordrhein-westfälischen Wahlkreis. Zwischen der Größe des Selektorats und der Nominierungsart besteht erwartungsgemäß ein Zusammenhang. So stimmen bei Delegiertenversammlungen durchschnittlich deutlich weniger Personen formal über den Direktkandidaten ab als bei Mitgliederversammlungen (-,424**).
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Tabelle 2: Anzahl der Abstimmenden nach Nominierungsart SPD
Mitgliederversammlung Delegiertenversammlung CDU Mitgliederversammlung Delegiertenversammlung CSU Delegiertenversammlung Die LINKE Mitgliederversammlung Delegiertenversammlung Gesamt Mitgliederversammlung Delegiertenversammlung Gesamt Quelle: Eigene Erhebung
Mittelwert 122 94 276 138 132 152 63 240 109 145
Minimum 38 12 54 26 107 111 24 38 12 12
Maximum 400 243 1.293 566 159 222 153 1.293 566 1.293
Interessant ist jedoch, dass auch innerhalb der beiden Nominierungsarten eine große Varianz besteht: So schwankt die Anzahl der Abstimmenden bei den Mitgliederversammlungen zwischen 38 und 1.293 Personen und auch bei den Delegiertenversammlungen reicht die Spannweite von 12 bis 566 Personen. Dabei verfügt die CDU sowohl bei der Anwendung von Delegierten- als auch von Mitgliederversammlungen über die höchsten Teilnehmerzahlen. Hier nehmen an Mitgliederversammlungen durchschnittlich 276 und an Delegiertenversammlungen 134 Delegierte teil. An den CSU-Delegiertenversammlungen nehmen durchschnittlich 132 Delegierte teil. Bei SPD und Linke ist mit 98 bzw. 93 Abstimmenden das durchschnittliche Selektorat am kleinsten. Diese Unterschiede zwischen aber auch innerhalb der einzelnen Parteien erklären sich insbesondere durch die unterschiedlich hohen Mitgliederzahlen in den jeweiligen Wahlkreisen und durch die unterschiedlichen Delegiertenschlüssel. So variieren die Delegiertenschlüssel zum Teil erheblich zwischen den Parteien und den Bundesländern. Bei einem niedrigen Verhältnis der Delegierten zu den Mitgliedern handelt es sich um ein exklusives Selektorat. In diesen Fällen ist davon auszugehen, dass sich die Delegierten mehrheitlich aus lokalen Parteifunktionären zusammensetzen und einfache Parteimitglieder nicht an der formalen Abstimmung beteiligt sind. Ist das Verhältnis Delegierte zu Mitgliedern hingegen hoch und somit inklusiver, befindet sich unter den Delegierten neben den Funktionären in der Regel auch ein höherer Anteil an einfachen Parteimitgliedern. Somit ist für die Beurteilung der Inklusivität des Selektorats nicht nur die Nominierungsart wichtig, sondern auch der Delegiertenschlüssel. Daher sollten die verwendeten Delegiertenschlüssel und ihre Implikationen in weiteren Analysen näher beleuchtet werden.
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Darüber hinaus hat die Größe der Nominierungsveranstaltung jedoch auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Offenheit der Entscheidung auf der Wahlkreiskonferenz. Je kleiner das Selektorat auf der Versammlung ist, desto eher kennen die Abstimmenden die Bewerber und sind bereits vor der Nominierungskonferenz festgelegt. Damit ist der Ausgang für die Parteiführung prinzipiell besser überschaubar und damit auch im Vorfeld stärker beeinflussbar (vgl. dazu auch 3.2). (3) Auswahl auf der Nominierungskonferenz? Unabhängig von Nominierungsart und Größe ist das formale Selektorat jedoch dann weitgehend macht- und einflusslos, wenn es auf der Wahlkreiskonferenz keine Auswahl zwischen mehreren Bewerbern hat. So zeigten die Studien von Zeuner (1970) und Kaack (1969) (vgl. 2.2), dass es nur selten zu Alternativabstimmungen auf den Nominierungskonferenzen kam, da sich die Kreisvorstände häufig bereits bei Vorberatungen auf einen Kandidaten geeignet hatten und nur dieser zur Abstimmung auf der Nominierungskonferenz antrat. Somit stellt sich die Frage, ob das Selektorat bei den Nominierungen zur Bundestagswahl 2009 in den Wahlkreisen überhaupt eine Auswahl hatte. Die Analyse zeigt, dass lediglich bei knapp einem Viertel der Nominierungen (23%) zwei oder mehr Bewerber auf der Wahlkreiskonferenz gegeneinander antraten (vgl. für eine detaillierte Analyse zum Ausmaß des Wettbewerbs auf den Wahlkreiskonferenzen, Reiser 2010). In 77% der Nominierungen hingegen konnte das formale Selektorat lediglich einen Bewerber ‚bestätigen‘. Dabei zeigen sich erwartungsgemäß sehr große Unterschiede zwischen Nominierungen, bei denen der Amtsinhaber wieder antritt, und sogenannten vakanten Wahlkreisen. Sofern der Amtsinhaber in seinem Wahlkreis wieder antritt, ist Auswahl auf der Nominierungskonferenz die Ausnahme. So gab es in 91,5% dieser Nominierungen keinen Gegenkandidaten und lediglich in 8,5% der Nominierungen einen offenen Wettbewerb gegen den Amtsinhaber auf der Nominierungskonferenz. Dieses Ergebnis entspricht den Erkenntnissen zum Amtsinhaberbonus und überrascht insofern nicht (vgl. zu den Gründen des Wettbewerbs gegen den Amtsinhaber, Reiser 2010). Sofern der Wahlkreis vakant war, weil der Amtsinhaber nicht wieder antrat oder weil bei der Bundestagswahl 2005 der Wahlkreiskandidat weder direkt noch über die Landesliste in den Bundestag einziehen konnte, hätte man hingegen einen offeneren Wettbewerb auf der Nominierungskonferenz erwarten können. Entgegen dieser Annahme zeigt die Analyse jedoch, dass in mehr als der Hälfte (57,1%) der vakanten Wahlkreise dennoch kein Wettbewerb auf der Wahlkreiskonferenz stattfand, d.h. zur Abstimmung trat lediglich ein parteiinterner Bewerber an. Somit hatte das formale Selektorat lediglich in 42,9% der Nominierungen in vakanten Wahlkreisen eine Auswahl auf der Wahl-
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kreiskonferenz. Dieses Ergebnis verweist damit zum einen darauf, dass das formale Selektorat nach wie vor in vielen Fällen keine Auswahl hat und damit macht- und einflusslos ist. Es verdeutlich aber zum anderen die Wichtigkeit, die formalen und informellen Willensbildungs- und Selektionsprozesse vor der Nominierungskonferenz in die Analyse zu integrieren. Diese Phasen werden im Folgenden beleuchtet. 3.2 Selektionsprozesse vor der Nominierungskonferenz Im Folgenden werden die informellen und formalen Willensbildungs- und Selektionsprozesse vor der Nominierungskonferenz näher beleuchtet, die wie erläutert (vgl. 2.2) zwar zentrale Phasen der innerparteilichen Kandidatenaufstellung darstellen, über die jedoch kaum systematische Erkenntnisse vorliegen. Im Zentrum der folgenden Analyse stehen insbesondere drei Aspekte: (1) die Organisation dieser vorgelagerten Entscheidungsprozesse in den einzelnen Wahlkreisen, (2) der interne Wahlkampf der Bewerber und (3) die Einflussnahmen der lokalen Parteiführung. (1) Organisation der vorgelagerten Willensbildungsprozesse Die vorliegende Studie bestätigt, dass in den Wahlkreisen im Vorfeld der Nominierungskonferenz – sofern der Amtsinhaber nicht wieder antritt – ein zumeist langer und umfassender parteiinterner Willensbildungs- und Selektionsprozess stattfindet. Die Diskussions- und Entscheidungsebene ist hierbei bei der Aufstellung der Direktkandidaten in den westdeutschen Wahlkreisen bei allen untersuchten Parteien – wie bereits in den 1960er und 70er Jahren – nicht nur formal, sondern auch de facto die Entscheidung der lokalen Parteiorganisationen in den Wahlkreisen. So wurde bei der Aufstellung der Direktkandidaten zur Bundestagswahl 2009 nur vereinzelt vom Landesvorstand aus überhaupt versucht, den Selektionsprozess im Wahlkreis zu beeinflussen. Diese Versuche der Einflussnahme ‚von oben‘ scheitern jedoch in der Regel. In den ostdeutschen Wahlkreisen gibt es hingegen Hinweise auf einen stärkeren Einfluss des Landesvorstands auf die Kandidatenaufstellung in den Wahlkreisen – selbst bei sicheren Wahlkreisen, die keine Listenabsicherung benötigen. Dies wird jedoch nicht als „unzulässige Einmischung“ wie in den westdeutschen Wahlkreisen empfunden, sondern als Teil eines „normalen Verfahrens“ (17_1; 25_3). Entgegen der Annahmen in der Literatur und den Erkenntnissen aus den 1960er und 1970er Jahren finden jedoch die Vorentscheidungen und Diskussionen vor der Nominierungskonferenz nicht mehr in erster Linie innerhalb kleiner Vorentscheiderzirkeln statt. So zeigten die Interviews und Rekonstruktionen der
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Willensbildungsprozesse, dass sich der parteiinterne Willensbildungs- und Selektionsprozess insbesondere im Rahmen sogenannter ‚Tingeltouren‘ organisiert. Diese Tingeltouren werden häufig zentral vom Kreisvorstand aus koordiniert, teilweise laden aber auch die einzelnen Ortsverbände unabhängig voneinander die Bewerber ein. Bei diesen Tingeltouren handelt es sich um Veranstaltungstouren durch die einzelnen Ortsvereinen und Arbeitsgemeinschaften, im Rahmen derer sich alle Bewerber den Mitgliedern präsentieren können. In der Regel haben die einzelnen Bewerber hierbei 20 bis 30 Minuten Zeit, ihre Person, ihr parteipolitisches und ehrenamtliches Engagement sowie ihre inhaltlichen Positionen darzulegen. Im Anschluss daran haben die Parteimitglieder die Möglichkeit, den Bewerbern Fragen zu stellen und mit ihnen zu diskutieren. Je nach Zuschnitt der Wahlkreise, nach Anzahl der Ortsvereine und nach Organisation dieser Tingeltouren waren dies vier bis zu 40 Podiumsveranstaltungen. Sofern es sich bei den formalen Nominierungskonferenzen um Mitgliederversammlungen handelt, dienen diese Diskussionen vor allem der Vorstellung der Bewerber sowie der Mobilisierung der Mitglieder. Zudem entsteht bei den einzelnen Veranstaltungen jeweils ein Stimmungsbild über die einzelnen Bewerber, so dass sich im Laufe der Tingeltouren meist Favoriten und chancenlose Bewerber für die formale Abstimmung herauskristallisieren. Falls es sich bei der formalen Abstimmung um eine Delegiertenversammlung handelt, spielen diese Tingeltouren jedoch eine noch zentralere Rolle für die Beteiligung der Parteimitglieder am Willensbildungsprozess. So wird teilweise bereits auf den Mitgliederversammlungen im Rahmen dieser Tingeltouren in den Ortsvereine für die einzelnen Bewerber votiert. Die Delegierten der jeweiligen Ortsvereine sollen dann entsprechend dieser Voten auf der formalen Wahlkreiskonferenz abstimmen. Insofern fällt hier die Entscheidung über den Kandidaten de facto bereits im Laufe dieser Tingeltouren durch die Ortsvereine, so dass in der Regel spätestens am Ende der Tingeltour deutlich ist, welcher Kandidat sich auf der Delegiertenversammlung (höchstwahrscheinlich) durchsetzen wird. Als Reaktion darauf ziehen die anderen Bewerber teilweise ihre Bewerbung zurück und treten auf der Wahlkreiskonferenz nicht mehr an. Exemplarisch wird dies durch die folgende Aussage deutlich: „Wir sind dann durch die zwölf Ortsvereine getingelt. Wir haben das danach zusammengezählt: Insgesamt haben wir uns mehr als 2.500 Leuten vorgestellt. (…) Zu Beginn waren wir ja ein 5er Kandidatenfeld. (…) Für die drei Kandidaten A, B, und C gab es in den ersten Ortsvereinen sehr unschöne Ergebnisse, das war für sie wirklich sehr hart und sehr schmerzhaft, weil sie ihre Chancen völlig anders eingeschätzt hatten. Und dann haben sie keine einzige Stimme am Abend bekommen und konnten sich teilweise selbst in ihrem eigenen Ortsverein nicht durchsetzen. Deshalb haben sie dann nacheinander ihre Bewerbung zurückgezogen, so dass wir dann am En-
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de nur noch zu zweit waren. (…) Nach dem achten Ortsverein hatte ich die Mehrheit der Delegiertenstimmen“ (24_5).
Somit handelt es sich in diesen Fällen de facto um ein mehrstufiges Auswahlverfahren, das den amerikanischen Primaries ähnelt. Sofern mehrere Kreisverbände gemeinsam einen Wahlkreiskandidaten aufstellen, erfolgt der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess häufig zuerst getrennt innerhalb der einzelnen Kreisverbände. In diesen Fällen erfolgen die Tingeltouren in einem ersten Schritt lediglich durch die Ortsvereine des jeweiligen Kreisverbands; teilweise findet auch eine formale Abstimmung über einen Kreisverbandskandidaten im Rahmen von Mitglieder- oder Delegiertenversammlungen auf der Kreisverbandsebene statt. Im Anschluss daran treten dann in der Regel nur noch die ‚Gewinner‘ der – i.d.R. zwei bis drei – Kreisverbände in den formalen Wahlkreisvertreterversammlungen gegeneinander an. Hier zeigt sich die große Bedeutung der regionalen und lokalen Strukturen für die Aufstellung der Direktkandidaten. Insgesamt ist somit festzustellen, dass zentrale Teile des Willensbildungsund Selektionsprozesses bereits vor den Nominierungskonferenzen erfolgen. Im Gegensatz zu den 1960er Jahren finden diese Vorentscheidungen jedoch nicht in erster Linie innerhalb kleiner Vorentscheiderzirkeln statt, sondern im Rahmen von formalisierten und informellen Auswahlverfahren, an denen auch die einfachen Parteimitglieder beteiligt sind. (2) Innerparteilicher Wahlkampf der Bewerber Dieser mehrstufige innerparteiliche Willensbildungs- und Selektionsprozess, der von den lokalen Parteigremien organisiert wird, wird durch einen innerparteilichen Wahlkampf der Bewerber begleitet. Dabei präsentieren sich die innerparteilichen Bewerber den Parteimitgliedern nicht nur innerhalb der Tingeltouren, sondern führen darüber hinaus teilweise sehr intensive individuelle Wahlkämpfe zur Bekanntmachung, Mobilisierung und Überzeugung der Parteimitglieder. Insbesondere in ‚sicheren Wahlkreisen‘ übersteigen diese parteiinternen Wahlkämpfe nach Aussage der Bewerber häufig sogar das Ausmaß der zwischenparteilichen Wahlkämpfe. Die Interviews zeigten, dass über 95% der innerparteilichen Bewerber um die Direktkandidaturen Werbematerialien für den innerparteilichen Wahlkampf hergestellt und verwendet haben. Dazu gehören insbesondere Infobriefe, Mailings und Flyer für alle Parteimitglieder bzw. für alle Delegierte des Wahlkreises. Zudem werden vermehrt auch Websites als Werbeplattform eingesetzt, um sich zu präsentieren. Hinzu kommen individuell organisierte öffentliche Auftritte und der Besuch bei Veranstaltungen.
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Marion Reiser „Ab diesem Tag [dem Tag der Entscheidung für die innerparteiliche Bewerber M.R.] bin ich jeden Tag in einem Ortsverein, bei einem Fest, bei einer Organisation etc. gewesen, um mich bekannt zu machen und um mich vorzustellen“ (20_3).
Zentrales Charakteristikum eines hohen Anteils an parteiinternen Wahlkämpfen ist jedoch die individuelle Ansprache der Parteimitglieder und Delegierten. Die konkrete Form der individuellen Ansprache ist hierbei regional sehr unterschiedlich, wobei die beiden Hauptformen Telefonate und Besuche sind. Die folgenden zwei Aussagen von parteiinternen Bewerbern verdeutlichen diese Wahlkampfform sehr eindrücklich: „Ich habe dann natürlich telefoniert und diese ganzen Telefonate, die sind dann extrem wichtig. Also persönliche Kontakte auffrischen, pflegen, anrufen. So viele wie nur möglich. Alle aktiven Leute, die man kennt aus den letzten Jahren, von denen man weiß, die gehen auf Kreis- und Parteitage. Die müssen sie halt richtig beackern. Da habe ich mir ein Telefon gekauft mit Headset und habe da gehockt und über Wochen jeden Abend telefoniert. Von den 2.300 Mitgliedern habe ich über 1.000 angerufen“ (9_5). „Ich habe mir dann für sechs Wochen einen Fahrer eingestellt und bin bei allen Delegierten vorbeigefahren und habe mich vorgestellt. Hier wird das einfach erwartet, dass man die Delegierten zuhause besucht und mit ihnen eine Maß trinkt“ (27_3).
Insgesamt ist der Grad der Professionalisierung dieser parteiinternen Wahlkämpfe höchst unterschiedlich: Minimalversionen umfassen neben den Tingeltouren insbesondere den Einsatz von Infobriefen und Flyern. Auf der anderen Seite der Skala stehen hochprofessionelle Wahlkämpfe. Diese umfassen die Unterstützung von Wahlkampfmanagern bzw. Wahlkampfteams, professionell geplante Wahlkampftouren durch den Wahlkreis, professionell gestaltete Wahlkampfmaterialien sowie ein hohes Ausmaß an individueller Ansprache der Mitglieder bzw. Delegierten. Das Ausmaß des innerparteilichen Wahlkampfes hängt dabei nach ersten Analysen insbesondere von den individuellen Ressourcen, den Erfolgschancen der Partei in dem jeweiligen Wahlkreis sowie vom Wahlkampfverhalten der anderen Bewerber ab. (3) Einflussnahmen der lokalen Parteiführung Die bisherige Analyse zeigt, dass entgegen bisheriger Annahmen nicht nur kleine Vorentscheiderzirkel die Kandidatenauswahl beeinflussen, sondern dass insbesondere durch die Tingeltouren die Parteimitglieder in den Prozess involviert sind und Einfluss haben. Dennoch nehmen nach wie vor die lokalen Parteigremien, insbesondere die Kreisvorstände, aber auch wichtige Amts- und Mandatsträger eine zentrale Rolle in diesem Prozess ein und üben Einfluss auf die Selekti-
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onsprozesse aus, um ‚ihren Kandidaten‘ durchzusetzen. Hierbei lassen sich insbesondere drei Formen der Einflussnahme unterscheiden: Am häufigsten zeigen sich erstens Einflussnahmen auf das Bewerberfeld. In diesen Fällen wird aktiv versucht, das Bewerberfeld auf der formalen Nominierungskonferenz zu begrenzen, indem Bewerber aufgefordert werden, ihre Bewerbung zurückzuziehen. Ziel ist in der Regel eine größtmögliche Kontrolle über den Ausgang der formalen Abstimmung. Das Zitat eines parteiinternen Bewerbers verdeutlicht diese Form der Einflussnahme: „Am Tag der Wahl [Nominierungskonferenz], zwischen 12.45 und 13.15 erhielt ich einen Telefonanruf. Herr X, den kenne ich noch aus JU-Zeiten, rief mich an und versuchte mich am Telefon zu überzeugen, dass ich meine Kandidatur noch zurückziehe. Der wurde beauftragt von Y [Kreisvorsitzender] und Z [Landrat], mich zu kontaktieren, damit ich zurückziehe. Aber das habe ich abgelehnt, man hat wirklich versucht, mich weich zu kochen“ (27_5)
Zweitens zeigen sich Einflussnahmen auf die Delegiertenauswahl, um solche Delegierte in den Ortsvereinen aufzustellen zu ‚lassen‘, die den gewünschten Bewerber unterstützen. Dafür kursieren teilweise ‚Empfehlungslisten‘. Üblicher ist jedoch, dass die Kreisvorsitzenden versuchen, direkt über die Ortsvereinsvorsitzenden Einfluss auf die Delegiertenauswahl zu nehmen. Die dritte Form der Einflussnahme setzt direkt bei den Abstimmungsberechtigten auf der Wahlkreisvertreterkonferenz an. So werden die Mitglieder bzw. Delegierten direkt von der lokalen Parteiführung kontaktiert, um für den favorisierten Bewerber zu werben. Während diese Form der Einflussnahme durchaus legitim ist, zeigen sich jedoch auch Einflussnahmen im Graubereich, indem Gratifikationen für den Fall der Unterstützung des gewünschten Bewerbers angeboten wurden (z.B. mehr Plätze für den Ortsverein auf der nächsten Kreistagsliste). Der Grad der Einflussnahme auf die Kandidatenaufstellung durch Kreisvorstand bzw. weiteren lokalen Führungszirkeln schwankte bei den Nominierungsverfahren zur Bundestagswahl 2009 sehr stark. Auf der einen Seite gab es Selektionsprozesse, die nicht von der lokalen Parteiführung beeinflusst wurden. Somit trafen hier die Parteimitglieder bzw. Delegierten weitgehend unbeeinflusst ihre Entscheidung über den Direktkandidaten. Auf der anderen Seite stehen Fälle, in denen der Kreisvorsitzende bzw. andere lokale Parteifunktionäre massiv den Ausgang des Nominierungsverfahrens beeinflussten, um ihren Wunschkandidaten durchzusetzen.
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Fazit
Ziel dieses Beitrages war es, die innerparteilichen Willensbildungs- und Selektionsprozesse zur Aufstellung der Direktkandidaten zur Bundestagswahl 2009 zu analysieren. Dazu wurde die von Zeuner (1970: 6) formulierte Frage „Wer entscheidet unter welchen Bedingungen über die Nominierung von Kandidaten?“ als Untersuchungsfrage aufgegriffen und damit der Fokus auf die innerparteiliche Willensbildung und Demokratie gerichtet. Die Analyse zum formalen Selektorat auf den Wahlkreiskonferenzen zeigte, dass bei den untersuchten Nominierungen von SPD, CDU, CSU und der Linken 70% der Direktkandidaten im Rahmen von Delegiertenversammlungen und lediglich ein knappes Drittel im Rahmen von Mitgliederversammlungen aufgestellt wurde. Mitgliederversammlungen sind dabei insbesondere ein Phänomen bestimmter Landesverbände der CDU. Insgesamt kann somit kein Trend hin zu Mitgliederversammlungen und damit zu einer höheren Inklusivität des formalen Selektorats festgestellt werden. Darüber hinaus besteht jedoch eine große Varianz der Größe des Selektorats, das zwischen 12 und 1.293 Abstimmenden schwankte. Die Größe ist für die Beurteilung der Inklusivität und die Offenheit der Entscheidung neben der Nominierungsart ebenfalls bedeutsam. Allerdings hatte das formale Selektorat auf den Wahlkreiskonferenz lediglich in 23% der untersuchten Nominierungen Auswahl zwischen zwei und mehr Bewerbern. In mehr als drei Viertel der Nominierungen trat hingegen lediglich ein Bewerber auf der Nominierungskonferenz an, so dass das Selektorat in diesen Fällen machtlos war. Dies verweist auf die große Bedeutung der vorgelagerten Phasen des innerparteilichen Willensbildungsprozesses in den Wahlkreisen, die sich im Rahmen der Analyse bestätigt. Dabei wird die Kandidatenauswahl jedoch überwiegend nicht mehr von kleinen Führungsgruppen in Hinterzimmern entschieden. Stattdessen bestehen durchaus große Beteiligungsmöglichkeiten und Einflusschancen der einfachen Parteimitglieder. So finden sowohl bei Delegierten- als auch bei Mitgliederkonferenzen im Vorfeld sogenannte ‚Tingeltouren‘ durch die Ortsvereine statt, im Rahmen derer sich die parteiinternen Bewerber den Parteimitglieder präsentieren und diese die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen und zu diskutieren. Hier ergeben sich zumindest deutliche Stimmungsbilder in den jeweiligen Ortsvereinen, die Einfluss auf das Kandidatenfeld und den Nominierungsprozess haben. Bei Delegiertenversammlungen geben die Parteimitglieder in den Ortsvereinen teilweise bereits Voten für die Bewerber ab, an die sich die Delegierten gebunden fühlen. In diesen Fällen sind die Delegiertenversammlungen damit de facto ebenso inklusiv wie die Mitgliederversammlungen, der Nominierungsprozess ist nur mehrstufig organisiert. Neben diesen (formalisierten) mehrstufigen Selektionsverfahren nehmen die parteiinternen Wahlkämpfe der Bewerber eine
Wer entscheidet unter welchen Bedingungen über die Nominierung
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wichtige Rolle im Selektionsprozess ein, die sich insbesondere durch einen hohen Grad an individueller Ansprache der Parteimitglieder auszeichnen. Die lokalen Parteiführungen nehmen nach wie vor eine zentrale Rolle in den Selektionsprozessen ein und versuchen teilweise auch auf vielfältige Weise Einfluss auf das Bewerberfeld, die Delegiertenauswahl und insbesondere auf den Ausgang des Selektionsprozesses zu nehmen. Der Umfang dieser Einflussnahme variiert jedoch sehr stark zwischen den einzelnen Wahlkreisen; er scheint jedoch insgesamt im Vergleich zu den Studien der 1960er Jahre deutlich gesunken zu sein. Wie erläutert (vgl. 2.2) wird die demokratische Qualität der Kandidatenauswahlprozesse in der internationalen Debatte insbesondere anhand der beiden Dimensionen ‚Zentralität der Entscheidungsebene‘ und ‚Inklusivität des Selektorats‘ analysiert. Betrachtet man die Erkenntnisse der vorliegenden Studie anhand dieser beiden Dimensionen, kann hinsichtlich der Dimension ‚Zentralität der Entscheidungsebene‘ festgestellt werden, dass die Auswahl über die Wahlkreiskandidaten formal wie informell nach wie vor weitgehend auf der lokalen Ebene in den Wahlkreisen getroffen wird. Bezüglich der ‚Inklusivität des Selektorats‘ wird im Gegensatz zu den Erkenntnissen in den 1960er und 1970er Jahre die große Mehrheit der Nominierungsverfahren nicht mehr im Vorfeld der Konferenz durch kleine Führungszirkel in Hinterzimmern entschieden. Stattdessen ist sowohl im Rahmen der Mitgliederversammlungen als auch im Rahmen der Delegiertenversammlungen durch die mehrstufigen Auswahlverfahren ein größerer Anteil der Parteimitglieder an der Kandidatenauswahl beteiligt. Literatur Arnim, Hans Herbert von (2004): Wahl ohne Auswahl: Die Parteien und nicht die Bürger bestimmen die Abgeordneten. In: Zeitschrift für Rechtspolitik, Heft 4, 37. Jahrgang, 115-119. Barnea, Shlomit/Rahat, Gideon (2007): Reforming Candidate Selection Methods: A Three-Level Approach. In: Party Politics 2007; 13; 375-394. Bille, Lars (2001): Democratizing a Democratic Procedure: Myth or Reality? Candidate Selection in Western European Parties, 1960-1990. In: Party Politics 2001, 7, 363-380. Borchert, Jens/Reiser, Marion (2010): Friends as Foes: The Two-Level Game of IntraParty Competition in Germany. Paper präsentiert auf der Jahrestagung der American Political Science Association (APSA), 1-5 September, Washington, D.C. Epstein, Leon David (1980): Political Parties in Western Democracies. New Brunswick. Fabritius, Georg (1972): Die amerikanischen Vorwahlen (primaries) als Modell für das Parteien- und Wahlsystem der Bundesrepublik? In: Politische Studien, 23, 566-574. Gallagher, Michael/Marsh, Michael (Hrsg.) (1988): Candidate Selection in Comparative Perspective. The Secret Garden of Politics. London.
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Strategien der Bundestagswahlkämpfe 1998 – 2009
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Selbstreflexivität, Sachlichkeit, Entpolitisierung Strategien der Bundestagswahlkämpfe 1998 – 2009 Yvonne Kuhn
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Einleitung
Wahlkämpfe gelten aufgrund der besonders hohen Kommunikationsdichte zwischen Repräsentanten und Souverän als Ausdruck der politischen Kultur und erlauben Rückschlüsse über den Gesamtzustand des politischen Systems. Sie beeinflussen entscheidend die politische Partizipation und den Legitimitätsglauben. Folgt man dieser Einschätzung, so muss der Bundestagswahlkampf 2009 Besorgnis erregen, galt er doch als einer der inhaltsärmsten und langweiligsten überhaupt, als „Wahlkampf der forcierten Politikvermeidung“ (Bruns 2009) oder „Tutti-Frutti-Wahlkampf“, in dem mehr die Dekolletee-Tiefen von Spitzenpolitikerinnen als Sachfragen thematisiert wurden (Gellermann 2009).1 Diese Beurteilung fällt in Journalismus wie Politikwissenschaft gleichermaßen deutlich aus, teilweise noch verstärkt durch die Erinnerung an den als vergleichsweise stark politisiert und konfrontativ eingeschätzten Bundestagswahlkampf 2005 (Tenscher 2007: 65), der damit scheinbar in Kontrast zu den ausgeprägten Selbstinszenierungskampagnen von 1998 und 2002 stand. In einem diachronen Vergleich der Wahlkampfstrategien2 seit 1998 deutet sich damit ein stetiger Wechsel der Kampagnenintentionen an: von der Selbstreflexivität mit dem Wahlkampf als Thema Nummer eins (1998 und 2002) zur vermeintlichen Re-Politisierung mit einer Abkehr von der Entertainisierung und einer Zuwendung zu Ehrlichkeit gegenüber dem Wähler und Sachinhalten (2005) bis schließlich zur Entpolitisierung ohne Substitut (2009). Unter Entpolitisierung wird hier eine besonders intensive Ausübung des Agenda-Cutting verstanden, also des bewussten Bestrebens der Parteien, die jeweils nachteiligen Policies mit Hilfe 1
Nicht einmal der Barack-Obama-Wahlkampf, der auch hierzulande ein ungewöhnlich hohes öffentliches Interesse erregte, gab den deutschen Wahlkämpfern Inspiration zur Nachahmung. Amerikanische Strategien wurden nicht übernommen (Vgl. Jung 2010). 2 Ich übernehme den Strategiebegriff von Joachim Raschke und Ralf Tils: „Strategien sind erfolgsorientierte Konstrukte, die auf situationsübergreifenden Ziel-Mittel-Umwelt-Kalkulationen beruhen.“ (Raschke/Tils 2007: 127)
O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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einer Kommunikationsstrategie aus der medialen Themenagenda zu verdrängen beziehungsweise ihre Diskussion zu unterdrücken und eine eigene diesbezügliche Positionierung zu vermeiden, die bis zur weitgehenden Ausblendung politischer Fragestellungen führt. Der Vorwurf der Entpolitisierung ist nicht neu und wird vermehrt im Zusammenhang mit der Amerikanisierungsthese seit den neunziger Jahren formuliert (Brettschneider 2009). Das Phänomen der entpolitisierten Strategien könnte demnach eine Kontinuität sein, von der der Wahlkampf 2005 eine Ausnahme und für die der Wahlkampf 2009 lediglich ein besonders deutlicher Ausweis war. Fraglich bleibt, welche Motivation einer Entpolitisierung zugrunde liegt und welche Konsequenzen damit verbunden sind. In diesem Beitrag sollen mögliche erkennbare Tendenzen oder Muster von Wahlkampfstrategien sowie ihre jeweiligen Ursachen aufgezeigt werden. Dabei geht es nicht um allgemeine und unbestrittene Phänomene wie Personalisierung, Negative Campaigning, Zielgruppenorientierung etc., sondern um übergeordnete Kernbotschaften und ihre Rolle im Wahlkampf. Jede Partei entscheidet für jeden Wahlkampf ein leitendes Selbstdarstellungsprinzip, das die programmatischinhaltlichen Aussagen sowie die gesamte Kommunikation dominiert. Dieses ‚Herzstück‘ der Kampagne gibt eine Einbettung, einen Rahmen, eine Prägung für alle weiteren Wahlkampfaussagen vor. Es kennzeichnet, wie das Wesen der Partei wahrgenommen werden soll und liefert die Begründungsfolie für die inhaltlichen Botschaften. Diese Grundrichtung lässt sich aus der Summe der Wahlkampfaussagen herauslesen, gleichsam immer zumindest im Hintergrund mithören und damit als Metastrategie bezeichnen. Der Begriff Strategie impliziert nicht nur rationales3 Vorgehen, sondern ist auch in dem Sinne als demokratisch zu interpretieren, dass strategische Zielverfolgung ein inhärentes Kennzeichen von Demokratie ist (Raschke/Tils 2007: 13f). Beständige oder induzierbare Aussagen über Strategien und Wahlkampfcharakteristika zu treffen ist aufgrund der jeweiligen situativen Eigenheiten schwierig, doch lassen sich anhand der Analyse des Parteienmaterials und der Medienberichterstattung Kontinuitäten und Persistenzen feststellen. Die akteurszentrierte Untersuchung fokussiert die Wahlkampfstrategien der Union und der SPD, da die beiden ‚alten Volksparteien‘ noch immer den Tenor des Wahlkampfes bestimmen, bisher allein die Kanzler stellen und üblicherweise Kanzlerkandidaten aufstellen, somit in direkter Konkurrenz zueinander stehen. All dies macht ihre Wahlkampf-Performance für die Medienberichterstattung deutlich attraktiver als die der anderen Parteien. Dass Christ- und Sozialdemokraten ihre Wahlkampfgestaltung unverkennbar aufeinander beziehen, führt zu jeweils nur 3
Als rational wird hier reflektiertes, logisch abwägendes, kalkulierendes Entscheiden verstanden, nicht jedoch die Annahme einer intersubjektiv vollkommen teilbaren Auffassung von Rationalität der normativ-präskriptiven Entscheidungstheorie übernommen.
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einer den Wahlkampf dominierenden roten Linie. Mein Blick richtet sich nicht allein auf die einzelnen Parteistrategien, sondern auf den jeweiligen vorherrschenden Grundtenor und den Gesamteindruck des Wahlkampfes. Die Ergebnisse dieses Beitrags sollen als weiterer Baustein zur Erforschung der Frage dienen, wieso die etablierten Volksparteien so gravierend an Unterstützung einbüßen und ob beziehungsweise wie sie ihre ureigene Aufgabe der Integration von Wählern und Gewählten noch in der Lage sind zu erfüllen.
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Gesetzmäßigkeiten von Wahlkämpfen
Eine besondere Schwierigkeit bei Aussagen über Wahlkampfstrategien ist das Fehlen der ceteris paribus – Bedingung. Jeder Wahlkampf ist ein Unikat und unterliegt neben stabilen gesetzlichen Bestimmungen für Wahlwerbung und Parteienfinanzierung spezifischen Entscheidungen wie situativen Eigenheiten. Dazu gehören auch die jeweiligen innerparteilichen Rahmenbedingungen wie finanzielle Ressourcen, Kandidaten, Machtgefüge, Programmatik sowie die äußeren Rahmenbedingungen wie Parteiensystem, Wählerpotenziale und das Mediensystem, das heißt Mechanismen der medialen Politikvermittlung, nutzbare Medienkanäle, Publikum. Doch für jede Wahlkampagne gilt: Das Ziel ist immer das Erreichen eines möglichst hohen Wähleranteils durch erstens Positivzeichnung des eigenen Parteien- und Kandidatenprofils, bestehend aus den Komponenten Sachkompetenz, Führungsqualitäten, Vertrauenswürdigkeit und persönliche Eigenschaften, und zweitens einer Negativzeichnung der Konkurrenten (Niedermayer 2007: 21). Zur Zieldurchsetzung werden über eigene Werbemittel potenzielle Wähler direkt und mittels Kommunikationsstrategie über Medienkanäle indirekt (und damit gefiltert) angesprochen. Als allgemeines Imageziel können Kompetenzzuschreibungen und Glaubwürdigkeit ausgemacht werden, das heißt Wahlwerbung ist in erster Hinsicht Werben um Vertrauen. Im Folgenden werden die wiederkehrenden Elemente angeführt, die jede politische Konkurrenzaustragung entscheidend prägen und daher als Gesetzmäßigkeiten gelten können: dauerhafte Einflussfaktoren und empirische Regelmäßigkeiten. Beobachtbare Bestimmungsfaktoren, die sich mindestens auf die hier betrachteten letzten vier Bundestagswahlkämpfe auswirkten, sind vor allem die Veränderungen der Wählersoziologie wie des Parteiensystems und das Mediensystem. Für die letzten zirka zehn Jahre wird in der Politikwissenschaft übereinstimmend ein Wandel der Kommunikationspraxis und der Wahlkampfführung vor dem Hintergrund der Individualisierungsprozesse, Entideologisierung und Rationalisierung der Wähler, zunehmender Volatilität und einer Ausdifferenzierung der Medien festgestellt. Die politischen Akteure reagierten mit einer oft-
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mals als Elektoralisierung bezeichneten zielgenauen Ausrichtung auf verschiedene Wählergruppen, einer Anpassung „von Führungseliten und politischen Inhalten an massenmedialen Logiken und Medienformaten“ (Mediatisierung oder Medialisierung) sowie einem „Bemühen um ein dauerhaft angelegtes, strategisch geplantes professionelles Kommunikationsmanagement“ (Tenscher 2007: 67). Gerade unter der Bedingung der durch die Dynamik des Parteiensystems und der Flexibilität der Wähler bedingten erhöhten Konkurrenz gewinnt die mediale Aufmerksamkeit an Bedeutung und wird zur wichtigsten Ressource. Für Wechselwähler sind die Themen ausschlaggebend, die durch die mediale Politikvermittlung aktuell präsent und damit für ihre Meinungsbildung „ohne großen Aufwand verfügbar“ (Brettschneider/Bachl 2009: 53) sind. Entsprechend stellen sich die Parteistrategen auf mediale Trends wie Personalisierung und Visualisierung ein, versuchen Themen, in denen der eigenen Partei oder ihrem Kandidaten Kompetenz zugeschrieben wird, durch mediale Kommunikationsstrategien in drängende Problemlagen umzuwandeln und ungünstige Themen zu unterdrücken (Agenda-Setting und Agenda-Cutting). So ist der Fokus auf wirtschaftliche Fragestellungen durch Union und FDP ein Muster, das sich je nach Ausgangslage mehr oder weniger stark ausgeprägt. Allerdings ist eine scharfe Profilierung aus Sicht der Wahlforschung nicht anzuraten, denn: „Je klarer sich die beiden Volksparteien programmatisch präsentieren, desto schwieriger wird die Mobilisierung des Potenzials in der Mitte.“ (Neu 2009: 28) Im Querschnitt aller bisherigen Bundestagswahlkämpfe fällt die von den Volksparteien vorgenommene, nicht immer kommunikationsstrategisch durchsetzungsfähige Titulierung als „Richtungswahl“ besonders auf (Kuhn 2007). Obwohl davon ausgegangen werden darf, dass die verantwortliche Parteielite in Bezug auf die Wahlkampfgestaltung rational im Sinne der Zielausrichtung handelt und entsprechend bewusst versucht, die öffentliche Wahrnehmung zu Gunsten der eigenen Partei zu steuern, gelingen die genannten Kommunikationsstrategien nicht immer und erreichen eben jene nicht förderlichen Widersprüche und Streitereien in den eigenen Reihen eine überproportionale Publikationsrate.
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Metastrategien 1998 – 2009
Im Folgenden werden anhand der jeweiligen Hauptbotschaften und erfassbaren Prinzipien der Selbstdarstellung die Metastrategien von Union und SPD ausgemacht und geprüft, welche Gründe der Entscheidung zugrunde gelegen haben könnten. Wie oben dargelegt wurde, ist die Medienberichterstattung ein entscheidender Faktor für die Wahlkampfgestaltung und wird daher hier ebenfalls betrachtet.
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3.1 Selbstreflexivität 1998 Das Wahljahr 1998 gilt mit der Orientierung der SPD-Kampagne an medialen Präsentationsmechanismen und Selbstinszenierungstechniken als Wendepunkt der Wahlkampfführung. Seither beherrscht die Behauptung von der Modernisierung und Professionalisierung von Wahlkämpfen in Bezug auf Organisation, Methoden, Mittel und Instrumente die politik- und kommunikationswissenschaftlichen Analysen (Kamps 2010) und erfahren die Begriffe Amerikanisierung, Professionalisierung und Medialisierung eine erhebliche Konjunktur. Tatsächlich führte die Überraschung über die Eigenart des SPD-Wahlkampfs nicht nur bei den politischen Konkurrenten, sondern auch bei den Journalisten zu bemerkenswerten Reaktionen von Bewunderung über Unsicherheit bis zu Kritik an einer zum Theater verformten, inszenierten Politik. In jedem Fall provozierte diese Inszenierungen durchweg reges Interesse (Holtz-Bacha 2000). Die Einführung neuer Wahlkampfelemente, vor allem die nach amerikanischem Vorbild externalisierte SPD-Wahlkampfzentrale KAMPA, sorgte für mediale Aufmerksamkeit und galt als Ausweis der eigenen Modernität und Zukunftsfähigkeit. Die Anpassung an die Medienlogik und das vermehrte Auftreten prominenter Politiker in politikfernen Unterhaltungsshows zielte darauf, die eigene Präsenz in den Medien, vor allem im wichtigsten Wahlkampfmedium Fernsehen zu erhöhen und zugleich politikferne Wählerschichten zu erreichen. Dass die sich von ihren Krisen erholte SPD mit ihrem entschlossenen und siegesgewiss auftretenden Kandidaten Gerhard Schröder im Zentrum der Kampagne den alten und altmodischen Kanzler Helmut Kohl nicht würde ‚endlich‘ ablösen können, erschien schlichtweg unwahrscheinlich. So wurde die CDU trotz ihres Vorteils, das Kanzleramt innezuhaben, zur wenig attraktiven Nebendarstellerin im von der Oppositionspartei dominierten Wahlkampf. Die tatsächliche Zäsur bestand also im Tenor und Inhalt der Berichterstattung, das heißt der Thematisierung der Wahlkampfprofessionalisierung der Sozialdemokraten, die noch bis 1994 der CDU hinsichtlich der Fortschrittlichkeit ihrer Wahlkampforganisation hinterhergehinkt waren (Holtz-Bacha 2000: 16). Die vergleichsweise hohe Konzentration auf Wahlkampfaspekte von medialen wie politischen Akteuren (vgl. Brettschneider 2009) bedeutet nicht das völlige Fehlen einer Themenkompetenzstrategie. Die SPD warb mit dem Slogan ‚Innovation und Gerechtigkeit‘ mit den entsprechenden Verkörperungen durch Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine und verband so einen traditionellen sozialdemokratischen Wert mit der Signalisierung von Zukunftskompetenz. So prägte den Wahlkampf 1998 vor allem die SPD-“Machteroberungsstrategie, in der die sichtbaren Hauptakteure mit Überzeugung, Engagement und Authentizität ihre spezifischen Rollen spielen konnten“ (Raschke/Tils 2007: 501). Die
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beiden Hauptakteure wurden von den Wahlstrategen der KAMPA in das Modernisierungskonzept „eingebaut, das optimal auf diese Akteure und die Rahmenbedingungen zugeschnitten war“ (Raschke/Tils 2007: 501). 3.2 Authentizität 2002 2002 wurden ähnlich wie 1998 die KAMPA die TV-Duelle der beiden Kanzlerkandidaten als neues, von den Amerikanern kopiertes Wahlkampfelement gefeiert und von den Medien mit hoher Resonanz belohnt (Kuhn 2007: 158f.). Entsprechend erfuhr es auch von den Bürgern hohes Interesse: Die zwei live übertragenen Duelle erreichten eine Zuschauerzahl von mehr als 15 Millionen (Hilmer 2003: 199). Die Union sah ihr Hauptziel im Wahlkampf darin, den Modernitätsvorsprung im Image der Konkurrentin auf- und möglichst einzuholen, wollte daher „mit der Einführung neuer Wahlkampfelemente ihrerseits Zeichen zu setzen“ (Röseler 2003: 201f.), kopierte die SPD-KAMPA mit ihrer Arena 02 und fügte das Internet-Instrument ‚Rapid Response‘ hinzu. Auf einer eigens eingerichteten Homepage wurde die SPD und die Regierung in konkreten Punkten kritisiert und argumentativ widerlegt, zeitnah und gezielt für die mediale Weiterverwertung formuliert. Ganz offen strebte die CDU mit diesem als innovativ vorgestellten Instrument ein modernes Image an, also eine ähnliche Wirkung wie die SPD mit ihrer KAMPA 1998 erreicht hatte (CDU-Bundesgeschäftsstelle 2002: 26f). Beide Parteien entschieden sich für eine Authentizitäts-Kampagne: Die Kanzlerplakate waren im „Reportage-Stil“ gehalten, der bei Zielgruppentests am besten abschnitt. Fotos und TV-Spots zeigten den Bundeskanzler Schröder in scheinbar typisch alltäglichen Kanzler-Situationen, als ob dem Zuschauer ein Einblick hinter die Kulissen der Regierungsarbeit gewährt würde (SPD-Parteivorstand 2002). Zufällig fügte sich in diese Selbstdarstellung das Bild des Kanzlers bei den unplanbaren Ereignissen während der Wahlkampfphase passend ein: Sein Auftraten bei der Elbe-Flut zeugte von Tatkraft; seine Absage an eine Beteiligung am Irak-Krieg 2002 von Standhaftigkeit. Den beträchtlichen Rückstand zur Union in der Sonntagsfrage von durchschnittlich fünf Prozentpunkten seit März 2002 konnte die SPD am Wahltag im September überwinden und erreichte mit 41,9 Prozentpunkten 0,8 mehr als ihre Konkurrentin, die im Laufe des Jahres an Zustimmung verlor (Infratest dimap).4 4 Die Nennung dieser Daten impliziert nicht die These, dass der Wahlkampf ursächlich für die Zustimmungs- und Wahlergebnisse ist. Dies lässt sich empirisch kaum messen. Auch der Einfluss der genannten Ereignisse und die jeweilige Positionierung der Kanzlerkandidaten hatte einen ungewissen Einfluss auf das Wahlergebnis (Schoen 2004). Eine Zunahme der Unterstützung für die Regierungsparteien mit näher rückendem Wahltermin ist eher der Regelfall (Hilmer 2003: 190f).
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Die Unionsstrategie der Authentizität als Metastrategie bestand darin, ihren Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber, der zu dem bemüht medial-modernen Parteiimage nicht recht passen wollte, als „kantig, echt, erfolgreich“ zu präsentieren (so der Plakatslogan), als jemanden, der „sich treu bleibt, der sich auch als Kanzlerkandidat nicht verbiegt oder verbiegen lässt, […] der sich zu seinen Ecken und Kanten bekennt, der sagt was er denkt und denkt was er sagt.“ (CDU-Pressestelle 2002). Die Unionsstrategie war darauf ausgelegt, die Politik der Partei und die Person ihres Kanzlerkandidaten von der ‚Politik als Show‘ eindeutig abzugrenzen, da diese bereits von journalistischer Seite kritisiert wurde (Kuhn 2007: 167): „Die angebliche Schwäche des einen, dass er nicht so fernsehgewandt ist und keine Entertainment-Qualitäten hat, wird in ernsten Zeiten seine Stärke, und die Stärke des anderen, dass er ein Top-TV-Entertainer ist, wird in Krisenzeiten seine Schwäche. Es kommt aber darauf an, dass die Leute das auch so verstehen.“ (CSU-Medienberater im Wahlkampf 2002, Michael Spreng, zitiert nach Bauer/Krumrey 2002: 25)
Die Konkurrenz innerhalb und zwischen den Schwesternparteien erzeugte mediale Aufmerksamkeit, die dann erfolgreich für die Inszenierung der Kandidatenwahl genutzt wurde. Dieses Vorgehen sprachen Unionspolitiker ganz offen aus. Im weiteren Verlauf des Wahljahres kombinierte die CDU/CSU den Versuch, das Thema Wirtschaft und Arbeit zu besetzen und die entsprechende Kompetenz zu vermitteln mit der Thematisierung des eigenen Kampagnenstils (Hilmer 2003: 194ff.). Eine Besonderheit in 2002 war das journalistische Interesse an den Kommunikationsstrategen der beiden großen Parteien, Matthias Machnig und Michael Spreng, deren zahlreichen Interviews und öffentliche Auftritte einerseits von einer hohen Aufmerksamkeit gegenüber den Kampagnen zeugten und andererseits noch zu ihr beitrugen (Kuhn 2007). Für die Wahlkämpfe 1998 und 2002 kann resümierend eine ausgeprägte Selbstreflexivität nachgewiesen werden: Gegenstand der medialen Berichterstattung waren vor allem Stil und Charakter der Wahlkampfführung – dies ging zunächst 1998 von der SPD aus, wurde jedoch von den Journalisten bereitwillig aufgegriffen und von anderen Parteien 2002 teilweise kopiert. Das bemerkenswert Neue an dem Wahlkampf 1998 war die ausführliche Beschäftigung der Öffentlichkeit und der Parteien, insbesondere der SPD, mit den Mechanismen der Wahlkampfinszenierung. Ganz bewusst und selbstbewusst thematisierte die SPD ihre Wahlkampfinszenierungen und die damit verbundenen Absichten (Kuhn 2007). Wie in der Produktwerbung eine lila Kuh irgendwann den Reiz des Ungewöhnlichen und damit den Aufmerksamkeitsbonus verliert, musste auch für die politische Kampagnenführung klar sein, dass das Konzept der Selbstreflexivität nicht lange wirkt.
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3.3 ‚Ehrlichkeit‘ und Vertrauen 2005 Der Bundestagswahlkampf 2005 war daher von einer Abkehr von der Professionalisierungs- und Modernisierungsthematik geprägt, die bereits 2002 nicht mehr die erwünschte Wirkung brachte, und ist damit nicht nur wegen des um ein Jahr vorgezogenen Wahltermins, der für die Parteien Zeit- und Geldmangel bedeutete, als Sonderfall zu betrachten. Der Überraschungseffekt war verflogen, stattdessen rief die Zurschaustellung der Medienanpassung den Vorwurf der Entertainisierung und Substanzlosigkeit hervor. Statt des eigenen Wahlkampfstils wurden 2005 von der Union steuer- und finanzpolitische Fragen angesprochen und explizit als ehrliche Botschaften gekennzeichnet. Prägend für den Wahlkampf war das verstärkte und offene Werben um Vertrauen als Konsequenz aus der Erfahrung von 2002. Die SPD startete aus einer denkbar schlechten Position5 durch den „dramatische[n] Vertrauensverlust“ der Wähler, nachdem ihnen während des Wahlkampfes 2002 das „wahre Ausmaß der Probleme im Bereich der öffentlichen Finanzen und der Sozialsysteme verschwiegen worden“ war und erst anschließend offengelegt wurde, und musste historische Tiefststände in den Umfragewerten, drastische Niederlagen bei fast allen 2004 und 2005 durchgeführten Landtagswahlen, öffentliche und innerparteiliche Kritik an der ‚Agenda 2010‘ sowie schließlich den Vorwurf der Inkompetenz und sozialen Ungerechtigkeit bei Arbeits- und sozialpolitischen Reformen hinnehmen (Niedermayer 2007: 24f). Die Union sah zu einem frühen Zeitpunkt wie die sichere Siegerin aus, sie profitierte von der schlechten Bewertung der SPD, ohne jedoch mit eigenen Kompetenzen als überzeugende Alternative wahrgenommen zu werden (Niedermayer 2007: 26). Beide Parteien sendeten vorrangig Vertrauensbotschaften. Der zentrale SPD-Slogan ‚Vertrauen in Deutschland‘ erschien auf allen Großflächenplakaten unter dem Parteilogo. Weitere inhaltliche Aussagen auf den Plakaten wurden als „Wir stehen für […]“ formuliert und mit dem Nachsatz „Aber wofür stehen die anderen?“ versehen, um die Vertrauenswürdigkeit der Union als zweifelhaft darzustellen (SPD-Parteivorstand 2005: 10f). Auch die CDU sah die Rückgewinnung von Vertrauen als wichtigstes Ziel ihrer Kommunikationskampagne und entschied sich für eine „reality campaing“6, die eine arbeitsmarkt- und wirtschaftliche Themenorientierung mit der Aussage verband, diesbezüglich die Wähler offen über die Lage und Pläne zu informieren, auch wenn diese materielle Verschlechterungen für die meisten Bürger bedeuteten. Die zweite, nachrangi5 Dies war bereits lange vor Gerhard Schröders Entscheidung für Neuwahlen der Fall, was zu Spekulationen über seine Motivation führte. 6 So der Kreativchef der Werbeagentur McCann Erickson und Berater für die CDU-Kampagne, zitiert nach Niedermayer 2007: 29.
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ge Dimension der Kampagne war ein Angriff auf die Glaubwürdigkeit der SPD (Niedermayer 2007: 30). Bei näherer Betrachtung kann auch der Wahlkampf 2005 nicht mehr als besonders politisiert oder sachlich gelten. Steuer-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik waren auch 2002 zentrale Gegenstände von wahlkämpferischen Auseinandersetzungen und Profilierungen (Schoen 2004). Unüblich war 2005 zum einen, dass der Inhalt der Aussagen der Union nicht in ein wohlklingendes Gewand gehüllt und als Wahlgeschenk verpackt wurde – der faktische Ehrlichkeitsgrad soll an dieser Stelle unbetrachtet bleiben. Der zweite, entscheidende Unterschied war ihre Strategie, über dieses Vorgehen nach außen zu kommunizieren und es sich als Pluspunkt zuzuschreiben. In diesem Sinne war der Wahlkampf 2005 also nicht außergewöhnlich sachorientiert, nur weil es auch um inhaltliche Fragen ging. Die Unionsstrategie der scheinbaren Politisierung wirkt geradezu wie ein Gegenentwurf zu den vorangegangenen Wahlkämpfen, verbunden mit der Hoffnung, diesmal als die Partei mit der interessanteren – weil ungewöhnlichen – Strategie wahrgenommen zu werden in einer politischen Kultur, die durch einen signifikanten Vertrauensverlust des Souveräns gegenüber der politischen Elite geprägt ist. Die Entscheidung für den ‚Ehrlichkeitswahlkampf‘ resultierte einerseits aus den Erfahrungen des Jahres 2002, als nach Offenlegung der finanzpolitischen Lage die rot-grüne Regierung mit der Empörung der Wähler und Zustimmungsentzug konfrontiert und der Wahllüge bezichtigt wurde. Auch aufgrund mangelnder Persönlichkeitswerte und medialer Unterstützung für die Kanzlerkandidatin wählte man bewusst eine in diese „Strategie der kommunizierten Ehrlichkeit“ eingebettete Themenorientierung statt Personalisierung, stellte ein konkretes Regierungsprogramm vor und versuchte sich mit Wirtschaftskompetenz und einer klaren Koalitionsaussage zu Gunsten der FDP7 zu profilieren (Best 2009: 579ff.). Obwohl die Steuerpolitik tatsächlich zum prägenden Thema wurde (Tenscher 2009), scheiterte die Unionsstrategie. Die Zustimmungswerte der Partei lagen im März/April bei 44-45 Prozentpunkten, das Wahlergebnis waren 35,2 Prozentpunkte. Die SPD hingegen durfte mit dem Ergebnis von Ergebnis 34,2 Prozentpunkten nach Zustimmungswerten von nur 30 Prozentpunkten im März von einem vergleichsweise erfolgreichen Wahlkampf ausgehen (Infratest dimap). Der Wahlkampf der CDU wird übereinstimmend als Misserfolg gedeutet, jedoch teilweise durchaus differenziert: Berthold Löffler sieht einen Mangel an Emotionalität durch den Verzicht auf eine „erkennbare politisch-ideologische 7 Auch die FDP-Kampagne wird „im Vergleich zu der auf Guido Westerwelle zugeschnittenen ‚Spaßkampagne‘ 2002 […] eher nüchtern, sachlich und sachthemenbezogen“ bewertet: „Anstatt den Tabubruch, die Eventisierung und Personalisierung weiter voranzutreiben, wollte sich die FDP im Jahr 2005 in erstere Linie thematisch profilieren – und zwar als Marktfreiheitspartei.“ (Tenscher 2009: 140)
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Perspektive“ sowie auf bestimmte Wahlkampfthemen als wesentliche Ursache für das Scheitern des Unionswahlkampfes 2005 an (Löffler 2005: 29). Das heißt: Nicht die Vermittlung von Sachinhalten war das Problem der Union, sondern der Mangel an begleitenden ideologischen Prinzipien, die zu einer affektiven Mobilisierung hätten führen können.8 Die Ehrlichkeitsstrategie hätte nur funktionieren können, wenn nicht bereits ein Glaubwürdigkeitsproblem bestanden hätte. Die Behauptung der Ehrlichkeit wurde der Union von den meisten Wählern nicht einfach so abgenommen, zumal von Journalisten Finanzierungslücken bei den Steuerplänen errechnet wurden, Merkel offen Unehrlichkeit vorgeworfen wurde und außerdem die Unionsvorhaben ihren eigenen Vorgaben aus Oppositionszeit widersprachen, beispielsweise in Bezug auf die Mehrwertsteuererhöhung (Best 2009: 595). Die Behauptung Merkels, keinesfalls für eine große Koalition zur Verfügung zu stehen, auch nicht, um ein rot-rot-grünes Bündnis zu verhindern, führte bereits während des Wahlkampfes zu einem Vertrauensverlust. Hinzu kamen weitere „unehrliche Brechungen im Ehrlichkeitswahlkampf der Union“ wie zum Beispiel die versuchte Vertuschung von Merkels Brutto-Netto-Verwechslung (Best 2009: 599). Das Misstrauen verstärkte sich durch Fehler während des Wahlkampfs. Aufgrund der Ehrlichkeitsbehauptung wurden an die Union und ihre Kanzlerkandidatin höhere Ansprüche an den Wahrheitsgehalt aller Aussagen gestellt, der nicht erfüllt werden konnte und kaum erfüllbar ist (Best 2009: 602). Als ursächliches Problem lässt sich also ausmachen, dass die ‚Strategie der Ehrlichkeit‘ als solche dem Wähler verkauft, also aktiv kommuniziert wurde. Ehrlichkeit war das gewählte Thema des Unionswahlkampfes, was eine Erhöhung des Maßstabs der Wähler und einen kritisch prüfenden Blick der Journalisten an die Ehrlichkeit der Unionsaussagen bewirkte. Das heißt, die CDU/CSU musste sich an dem messen lassen, was sie postulierte. „Strikte Wahrhaftigkeit kann man sich nur leisten, wenn man sehr privilegiert und unabhängig ist, wenn man sicher sein kann, dass alle anderen dieser Norm ebenfalls folgen bzw. wenn das Publikum auf die Aufdeckung von Unehrlichkeiten mit einem abschreckenden Ausmaß an Empörung und entsprechend scharfen Sanktionen reagiert.“ (Offe 2004: 33)
Insofern ist die Unehrlichkeit im Wahlkampf – denn auch das Verschweigen einer Wahrheit, „dessen Bekanntwerden den Erfolg seines Handelns beeinträchtigen würde“ ist dazuzuzählen (Offe 2004: 32) – nur eine folgerichtige, rational kalkulierte Reaktion auf die Rahmenbedingungen und Erfordernisse von Wahlen. Doch 8 Eine Leitidee hätte laut Löffler die Soziale Marktwirtschaft geboten: „Die CDU als Erneuerin der Sozialen Marktwirtschaft, welche strategische Chance! Stattdessen bleibt die CDU in ihren Wahlkampfaussagen fast ausschließlich auf der Ebene der reformpolitischen Sachaussagen und der reformpolitischen Maßnahmenkataloge stecken.“ (Löffler, 2005: 31)
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auch die Rhetorik der Ehrlichkeit war eine konsequente und bewusste Entscheidung der Union. Das Scheitern der Union bei der Bundestagswahl 2005 nach elf Landtagswahlsiegen war auch kein unabwendbares Resultat eines Politisierungsversuchs oder der ‚Strategie Ehrlichkeit‘, sondern die Folge mehrerer falscher Entscheidungen bezüglich der Thematisierung. Sie wählte angreifbare Themen, musste den Vorwurf der sozialen Kälte ertragen, die dem Unionswahlprogramm widersprechende Aussagen ihres designierten Finanzministers Paul Kirchhof rechtfertigen und sich darauffolgend von ihm distanzieren. Schließlich wirkte sich auch die mangelnde Abgrenzung zur FDP negativ aus (vgl. Best 2009). Eine weitere Ausnahmeerscheinung im Bundestagswahlkampf 2005 war, dass die Christdemokraten einen Regierungswahlkampf führten. Der Versuch der Ehrlichkeit und Themenorientierung statt der üblich vorherrschenden Oppositionsstrategie des Angriffs auf die Regierung wurde von der SPD ihrerseits als willkommene Möglichkeit zum Angriff genutzt: Die Eröffnung einer zukünftigen Mehrwertsteuererhöhung wurde als unsozial gedeutet, die SPD konnte sich selbst als soziale Alternative dazu positionieren. Aber auch die SPD war der Meinung, es müsse wieder mehr Inhalt her als 1998 und 2002, da sich die Inszenierungsmasche leergelaufen habe, versuchte eine Resozialdemokratisierung ihres Profils (Niedermayer 2007: 27f) und setzte auf Mitgliedermobilisierung. Im Gegensatz zu den detaillierten, verwirrenden, dem Wähler „hohe intellektuelle Leistungen“ abverlangenden und schwer nachvollziehbaren Unionsaussagen standen die unterkomplexen, aber Identifikation stiftenden Botschaften der SPD: Soziale Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Sicherung des Friedens. Dem Unionswahlkampf fehlte diese Hoffnungsperspektive (Bippes 2007: 288f). Die 2002 zur Gegenüberstellung der Kandidaten verwendete Zuspitzung auf die Aussage: „Er oder ich“ (Schröder – Stoiber) wurde von der SPD 2005 angesichts einer weiblichen gegnerischen Kanzlerkandidatin umgangen und in ein „Wir oder die“ verwandelt. Das Prinzip blieb dasselbe, wie üblich sollte die Wahlentscheidung als ‚Richtungswahl‘ gekennzeichnet werden. Auch 2005 gab es wie üblich an die Präsentationslogik der Medien angepasste Inszenierungen wie die Präsentation des Kompetenzteams der Kanzlerkandidatin Angela Merkel. Anders als in den Jahren 1998 und 2002 wurde diese Inszenierungsbereitschaft aber darüber hinaus nicht als Eigenwerbung verwertet oder auch nur kommuniziert. Das Phänomen der Modernisierung und Medialisierung der Wahlkampagnen hat sich etabliert, erreicht eben deshalb keinen nennenswerten Aufmerksamkeitswert mehr und wird entsprechend nicht mehr metakommuniziert. Der Wahlkampf selbst bleibt allerdings beliebtes Thema für die Berichterstattung: 2002 und 2005 wurde das Medieninteresse an Wahlkampfinszenierung warm gehalten durch das neue TV-Duell-Format. In der Folge war eine weitaus intensivere Berichterstattung als bei den früheren Elefantenrunden
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zu verzeichnen (Wilke/Reinemann 2006). Die Zunahme der Berichterstattung über den Wahlkampf als eigenes Thema lässt sich als kontinuierliche Entwicklung seit zwanzig Jahren beobachten: Vier Wochen vor der Wahl 2005 betrug der Anteil 58 Prozent der gesamten Wahlkampfberichterstattung in den Qualitäts-Tageszeitungen Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Welt. 1990 waren es noch 30 Prozent, 44 Prozent 1994, 49 Prozent 1998 und 46 Prozent 2002 (Vgl. Wilke/Reinemann 2006: 316). Vor allem nach der Ausstrahlung der TV-Duelle 2002 ist der Anteil der Berichte über die Performance der Kandidaten mit über 50 Prozent hoch (Wilke/Reinemann 2006: 324). Hier kommt also eine Verstärkung durch mediale Selbstreferenzialität hinzu.9 Der Bundestagswahlkampf 2005 bedeutete schließlich nicht wie oftmals angenommen eine außerordentliche „Repolitisierung und kurzfristige Reideologisierung des politischen Wettbewerbs“ (Tenscher 2009: 143), sondern war lediglich ein Ausprobieren der CDU/CSU in die entgegen gesetzte Richtung zum Herkömmlichen. Am Ende dominierte auch wie üblich die Frage nach dem vermutbaren Wahlsieger die Berichterstattung und rückte sachpolitische Themen in den Hintergrund (Tenscher 2009: 129). Auch wenn umfassendere Medienanalysen zeigen, dass die Fernsehnachrichten vor Wahlen insgesamt doch eher sachorientiert sind, gewinnt die Wettkampfperspektive zum Wahltermin hin in allen Medien an Gewicht (Brettschneider 2009). 3.4 Langeweile und Entpolitisierung 2009 Aufgrund der besonderen Rahmenbedingung durch die große Koalition und die die mediale Themenagenda beherrschende Weltwirtschaftskrise, die vor allem die Volksparteien vor Profilierungsprobleme stellte, wird der Bundestagswahlkampf 2009 als „untypisch“ charakterisiert (Brettschneider/Bachl 2009). Die journalistischen Urteile über Attraktivität, Informationsgehalt und Ideenreichtum der Wahlkampagnen sind übereinstimmend negativ: „Wahlkampf ohne Kampf“, „inhaltsfreie Slogans“ (Gathmann et.al. 2009), „Merkels zweite Bewerbung ist wieder ein Experiment. […] Was das Regierungsprogramm 2005 vielleicht zu viel an Inhalt enthielt, bietet das Unionsprogramm jetzt zu wenig.“ (Birnbaum 2009). Der Vorwurf, einen programmfreien Wahlkampf zu führen, zielte zumeist auf die Union. Anders als 2005 versuchte sie, wie auch die SPD, 2009 wieder gute Laune zu verbreiten, vermittelte Hoffnung auf wirtschaftlichen Auf9
Eine weitere Veränderung der Medienberichterstattung betriff die starke Zunahme der Visualisierung (Verwendung von Fotos) bei den Qualitäts-Tageszeitungen Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Welt (Wilke/Reinemann 2006: 328ff.).
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schwung, stellte Steuersenkungen in Aussicht – und erntete damit angesichts der erwarteten verminderten Steuereinnahmen aufgrund der Wirtschaftskrise prompt den Vorwurf der Medien, Wahllügen auszusprechen (Dettmer et. al. 2009).10 Die 2005 behauptete Repolitisierung wurde 2009 wieder aufgegeben und wie üblich vage Formulierungen geboten. Die CDU versuchte, Verlässlichkeit zu vermitteln, verzichtete jedoch auf eine klare Profilierung und blieb bei einer „weitgehend themenlose[n] Strategie“ (Brettschneider/Bachl 2009: 52). Diffuses Werben um Vertrauen unter Vermeidung von Themen mit potenzieller Angriffsmöglichkeit ist eine vor allem von den jeweiligen Regierungsparteien gebräuchliche Methode, die nun jedoch vergleichsweise intensiv angewendet wurde. Die Scheu vor inhaltlichen Festlegungen resultierte aus der Konzentration darauf, „die Fehler von 2005 nicht zu wiederholen“, keine falschen Erwartungen zu wecken und somit auch keine Angriffsfläche für die Konkurrenz zu bieten, sondern stattdessen „exakt dieselben populistischen Steuersenkungsversprechen der vergangenen Jahrzehnte“ zu postulieren (von Lucke 2009). Die zuvor lediglich latent vorhandene Neigung zur Vermeidung der Kommunikation über Inhalte im Wahlkampf, Debatten um anstehende Probleme und grundsätzliche Konzepte prägte den Bundestagswahlkampf 2009 also in einem ungewöhnlich hohem Ausmaß. Auch grundlegende Positionierungen zu Fragen von wirtschaftlicher Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität wurden umgangen. Sogar die weltweite Finanzkrise und ihre politischen Konsequenzen wurden weitgehend erfolgreich aus dem Wahlkampf ausgeblendet.11 Dass die SPD gerade auf konzeptionelle Grundsatzaussagen verzichtete, wurde ihr als Unschlüssigkeit in Bezug auf ihre eigene Aufgabe ausgelegt. Die Union vermittelte zumindest überzeugend den eigenen Machtwillen und die entsprechende Fähigkeit durch ihre Kanzlerkandidatin (von Lucke 2009). Tatsächlich lässt allerdings nichts darauf schließen, dass die Parteien weniger Programm anzubieten hatten als in anderen Wahljahren. Nur die Metastrategie war eine komplementär andere als im erst vier Jahre zuvor durchgeführten und damit von den Journalisten noch gut erinnerbaren Wahlkampf, nämlich Vorsicht vor politischen Aussagen. Anders als andere Metastrategien ließ sich diese jedoch nicht metakommunizieren, da sie sich dem Vorwurf der Entpolitisierung aussetzen musste. Diese Entpolitisierung oder Inhaltsarmut ist nicht im Sinne der Amerikanisierungsthese als Trivialisierung einzuordnen, die den 10
Die Behauptung, keinen Wahlkampf zu führen, kann durchaus eine überlegte Strategie sein, wie 1987, als Rau sich als überparteilicher Landesvater für alle versuchte zu präsentieren und vermittelte, das Wahlkampf-Gerangel als seiner unwürdig abzulehnen. Diese schließlich erfolglose Strategie war aber auf den Kandidaten beschränkt. (Kuhn 2007) 11 Eine Ausnahme stellt der Wahlkampf der FDP dar: Sie konnte erfolgreich die Steuerthematik für sich besetzen und damit eine positive Berichterstattung erreichen (Brettschneider/Bachl 2009: 50f.).
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Wahlkampf als Show mit unterhaltenden Elementen geprägt hätte, sondern als Zurückhaltung vor angreifbaren Positionierungen und damit als Mangel an Wahlkampf überhaupt. Es ist nicht davon auszugehen, dass dieses Vorgehen keiner bewussten und abgestimmten Entscheidung in den Parteizentralen entsprang, vielmehr ebenso wie jedes Wahlkampfkonzept auf vorangegangenen Erfahrungen und Lageeinschätzungen beruht. Es erscheint eher als geringstes Übel und Resultat einer Ratlosigkeit aufgrund der Medienberichterstattung und Wählerreaktionen. Die Strategie der Profilarmut ist schließlich zumindest nicht so gescheitert wie die Versuche einer deutlichen Profilierung 2005: Die Umfragedaten haben sich anders als 2005 im Laufe des Wahljahres nicht verschlechtert: Laut Sonntagsfrage von Infratest dimap lag die Zustimmung für die CDU/CSU im März 2009 bei 32 Prozentpunkten (Wahlergebnis 33,8 Prozentpunkte), für die SPD bei 27 (Wahlergebnis 27,9 Prozentpunkte). Das Hauptziel des SPD-Wahlkampfes war das Aufzeigen der Unterschiede zwischen der Politik einer sozialdemokratisch geführten Regierung und einer schwarz-gelben Koalition (Wasserhövel 2009) und damit der Versuch, den Wahlkampf trotz der großen Koalition als Richtungswahl zu prägen (Steinmeier 2009). Das Hauptproblem dabei diagnostizierte ihr Wahlkampfleiter Kajo Wasserhövel in der negativen Medienberichterstattung: „Die Medien schreiben uns überwiegend in Grund und Boden.“ (Wasserhövel 2009). Um die Wirkung zu relativieren, wurde auf Mobilisierung durch mehr persönliche Kommunikation, also einen Wahlkampf vor Ort gehofft. Eine Metastrategie ist schwer erkennbar, die SPD schlingerte „orientierungslos zwischen Angriffs- und Leistungsbilanzwahlkampf hin und her“ (Brettschneider/Bachl 2009: 49) und erreichte keine Themensetzung. Wie 2005 dominierte wieder die CDU den Wahlkampfgesamteindruck, die SPD schien ganz anders als 1998 und noch 2002 nurmehr zu reagieren. Auch die Medienberichterstattung 2009 weist Besonderheiten auf und spiegelt die Abwesenheit erkennbarer Metastrategien der großen Parteien wider. Im Vergleich zu 2005 gab es eine starke Abnahme von Wahlkampfberichten um teilweise mehr als 50% bei den vier großen Tageszeitungen. Als mögliche Ursachen sind das vorrangige Interesse an der Wirtschafts- und Finanzkrise, der klare Vorsprung der Union und der Mangel an gegenseitigen Angriffsmöglichkeiten der beiden Volksparteien durch die gemeinsame Regierungsarbeit anzunehmen (Wilke/Leidecker 2010: 343f.). Wie bei den Bundestagswahlen zuvor bildeten die Wahl und der Wahlkampf aber mit knapp drei Fünftel der Beiträge wieder den Hauptanteil an der gesamten Berichterstattung (Wilke/Leidecker 2010: 348). Dabei machten die Wahlprogramme und inhaltliche Wahlkampfthemen nur 29 Prozent aus; 2005 hatte ihr Anteil noch 39 Prozent betragen (Wilke/ Leidecker 2010: 350).
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In jedem Wahlkampf muss man mit unvorhersehbaren Phänomenen umgehen. Themen tauchen im politischen Alltagsgeschehen ungeplant auf und werden, wenn möglich, in die Metastrategie eingebunden und gedeutet. 2009 gelang dies den Volksparteien nicht, oder sie entschieden sich a priori gegen den Versuch. Die fundamentale und umwälzende Krisensituation – die für keine der Parteien einen nennenswerten Vor- beziehungsweise Nachteil bedeutete – ergab die Chance, sich über sozio-ökonomische Grundsätze zu profilieren, wovon auch die Wähler profitiert hätten. Diese Chance ließen SPD und Union ungenutzt.
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Schlussfolgerungen
Metastrategien sind bei allen hier untersuchten Wahlkämpfen klar erkennbar, als zentrale und entscheidende Richtungsvorgabe für die Grundstimmung und Rezeption des Wahlkampfes12, können aber im Fall der Negativkonnotation wie bei der Entpolitisierung 2009 nicht metakommuniziert werden. Dennoch kann auch die Themenvermeidungsstrategie der Union als Metastrategie eingeordnet werden, denn es handelt sich um eine rationale zielorientierte Entscheidung für einen spezifisch ausgerichteten Wahlkampf und ein Selbstdarstellungsprinzip, das sich auf alle weitere Außenkommunikation auswirkt. Eine Metakommunikation beinhaltet die Thematisierung der eigenen Botschaften und Konzepte, und intendiert Werben mit Wahlkampfneuheiten oder mit der Strategie an sich, bedeutet also eine Selbstbezüglichkeit als Wahlwerbung. Dies gelang der SPD 1998, als sie die Aussage ‚Wir wollen gewinnen‘ zum zentralen Argument ihrer Selbstdarstellung erklärte. Optimismus und Siegermentalität sind häufig eine wichtige Komponente oder gar Hauptstrategie, denn Erfolg wirkt mobilisierend. Dies ließ sich auch im fortgeschrittenen Wahlkampf 2005 beobachten, als die Mobilisierung der SPDAnhänger erst nach den Fehlern und Umfragewerteeinbrüchen der Union gelang. Die für das Wahljahr 2009 festgestellte besondere Entpolitisierung ist zwar eine logisch nachvollziehbare Konsequenz aus Wahlkampferfahrungen, zeigte aber gravierende Nachteile sowohl aus Parteiensicht als auch hinsichtlich der Funktionsfähigkeit des politischen Systems: Sie kann von den Parteien nicht als Eigenwerbung genutzt werden, sondern muss im Gegenteil negiert werden. Selbstbezüglichkeit kann eine Dethematisierung nicht leisten, was sie als eine Art Notfall-Strategie erscheinen lässt. Eine andere, als Werbung einsetzbare Metastrategie gab es 2009 jedoch bei keiner der Parteien. Dieser daraus resultierende Mangel an Metakommunikation führte zu dem Urteil, es handelte sich um den langweiligsten Wahlkampf aller Zeiten. Ein weiterer Nachteil der entpoliti12
Dies lässt sich jedoch nicht zwangsläufig auch für die Wahlentscheidung feststellen.
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sierten Wahlkampfkommunikation besteht in der Verhinderung einer Profilierung, die die direkten Konkurrenten klar voneinander unterscheidbar macht. Die problematische Suche nach einem Parteienprofil in Abgrenzung zur Konkurrenz ist keineswegs ein neues Phänomen: In den 70er Jahren ergaben die „Grundwerte-Kommissionen“ der beiden Volksparteien jeweils gleiche Werte als oberste politische Ziele: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Wohlstand, Umweltschutz und Frieden. Aus dieser scheinbar unumstößlichen Wertefestlegung resultierte die Behauptung von dem „nach-ideologischen“ Zeitalter (Offe 2004, S. 28f.). Was den Parteien bleibt, ist der Versuch, auf das Wissen und die Wirklichkeitsdeutung der Bürger Einfluss zu nehmen (Offe 2004: 29) – unter anderem über eine dominierende Wahlkampfaussage. Der Ausgang der Bundestagwahl 2005 bedeutet nicht, dass das offene Aussprechen politischer Wahrheiten und (vermeintlicher) Notwendigkeiten per se Wähler abschreckt – solange diese überzeugend und glaubwürdig vermittelt werden und die Vermittler über die Ressource Vertrauen verfügen. Dies war 2005 bei der Union eben nicht gegeben. Es geht schlichtweg darum, dass der Partei ihre Deutung der Wirklichkeit geglaubt wird (Vgl. Offe 2004; Best 2009). Erfolgreich aus parteistrategischer und aus demokratietheoretischer Sicht sind Kampagnen, die eine hohe Aufmerksamkeit und Überzeugungskraft ihrer Metastrategie und dadurch eine hohe Mobilisierung erreichen. Auch wenn sie nicht unbedingt eine inhaltliche Auseinandersetzung mit politischen Problemstellungen bedeuten müssen, können überzeugende Wahlkampfstrategien positiv auf das politische Interesse, den Partizipationswillen der Bürger und damit auf den Legitimitätsglauben wirken. Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 1998, deren Wahlkampf eine intensive öffentliche Aufmerksamkeit erwirkte, erreichte mit 82,3 Prozent die höchste Wahlteilnahmequote des Jahrzehnts. 2009 hingegen resultierte aus dem reduzierten Wahlkampf eine Wahlbeteiligung von lediglich 70,8 Prozent und damit die niedrigste Beteiligung in der Geschichte der Bundesrepublik. Das Dilemma besteht also darin, dass bei so wenig Wahlkampf der geschrumpfte Anteil an Wahlwilligen nicht mehr verwunderlich, aber dieses Verhalten der Parteien trotz der genannten Nachteile durchaus konsequent ist: Wahlaussagen leiden generell unter einem Glaubwürdigkeitsdefizit (Jung 2010); klare programmatische Profilierungen bieten der Konkurrenzpartei Angriffsfläche und erschweren die Mobilisierung des Potenzials in der Mitte. Auf konkrete Aussagen zu verzichten wie 2009 erscheint vor diesen Prämissen durchaus rational. Die Reaktion auf die erhöhte Wählervolatilität ist ein hohes Maß an Flexibilität von Wahlkampfstrategien. Eine ideologische Positionierung und Politisierung bedeutete hingegen unflexibel zu sein. Die Frage, ob die Parteien zu inhaltlich-strategischer Positionierung nicht mehr in der Lage sind, stellt sich damit im Grunde nicht mehr, sondern vielmehr: Warum sollten sie?
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Das bedeutet aber auch, dass unabhängig von den Interessen der Parteien die Entpolitisierung in doppelter Hinsicht heikel ist: Einerseits wird die Qualität der Wahlkämpfe im Sinne der Vermittlung programmatischer Inhalte, Information und Befähigung zu fundierter Wahlentscheidung abgemildert, zum anderen wird die Partizipationsbereitschaft und die Verbindung zwischen Wählern und Parteien weiter geschwächt und damit die Qualität der Parteiendemokratie. Die Reduktion von Wahlkampf auf undeutliche, individualinterpretationsfähige Wohlfühlbotschaften, ausgewählt und geformt nach den Mechanismen ihrer medialen Selektion und Präsentation, bringt die Wähler offenbar nicht in gewünschtem Ausmaß13 an die Wahlurne, sondern führt eher zu ihrer Abwendung von den Parteien. Das heißt: Ein zielorientierter, professionalisierter „Wahlkampf der forcierten Politikvermeidung“ (Bruns 2009: 5) führt letztlich zu Wahlverweigerung, einem Mangel an Vertrauen und Verachtung der Politik und trägt damit schließlich entscheidend zum Verlust an Bindungskraft bei. Wahlkampf(meta)strategien sind trotz der vielbeschriebenen Professionalisierung, minutiösen Planung, Einbindung modernster Technologien und hohen Personal- wie Materialdeckung das Ergebnis von Trial-and-Error und orientieren sich vor allem entlang der zuletzt gemachten Erfahrungen. Dabei lässt sich momentan eine gewisse Ratlosigkeit, zumindest eine Ideen- und Konzeptlosigkeit für wirksame Wahlwerbestrategien feststellen. Bewährte Elemente wie Personalisierung, Emotionalität oder Negative Campaigning werden unverzichtbar bleiben. Andere ehemals erfolgreiche Konzeptionen wie Selbstreflexivität oder Entertainisierung werden je nach politischer Grundstimmung und Rahmenbedingungen graduell abnehmen – wenn auch nicht vollständig verschwinden. Literatur Bauer/Krumrey: Die Schwäche wird seine Stärke. Interview mit Michael Spreng, Fokus 5/2002. Best, Volker (2005): Die Strategie der kommunizierten Ehrlichkeit im CDU/CSU-Wahlkampf. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Heft 3/2009, S. 579-602. Bippes, Thomas (2007): Ist der Ehrliche der Dumme? Bundestagswahl 2005 – Wahlkampf unter verkehrten Vorzeichen. In: Jackob, Nikolaus (Hrsg.): Wahlkämpfe in Deutschland. Fallstudien zur Wahlkampfkommunikation 1912-2005. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 279-290. Birnbaum, Robert: Merkels gewagtes Experiment, ZEIT ONLINE vom 26.9.2009, http:// www.zeit.de/online/2009/27/union-wahlkampf-merkel (letzter Zugriff 13.12. 2010). 13
In gewünschtem Ausmaß soll hier heißen: Den Erwartungen der Parteien gemäß. Eine Wahlbeteiligung von 70 Prozent ist im internationalen Vergleich hoch und kann nicht als Ausdruck einer dysfunktionalen Demokratie gelten.
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Parteienwettbewerb, Regierungsbildung und Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2009 Parteienwettbewerb, Regierungsbildung und Ergebnisse …
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Einleitung und Fragestellung
Prozesse der Regierungsbildung haben in Folge der parlamentarischen Etablierung der Linken in Ost- wie Westdeutschland seit der Bundestagswahl 2005 eine neue Form von Dynamik auf Ebene der Länder als auch bundesweit erfahren. So ist die Wahrscheinlichkeit deutlich gesunken, dass einer der beiden „Koalitionsblöcke“ – das „bürgerliche Lager“ aus Christdemokraten (CDU), Christsozialen (CSU) und Freien Demokraten (FDP) auf der einen und ein „rot-grünes“ Bündnis aus Sozialdemokraten (SPD) und Bündnis 90/Die Grünen auf der anderen Seite – eine parlamentarische Mehrheit erreicht. Bedingt durch die Festlegung auf bestimmte Bündnisse als präferierte Koalitionsregierungen und vor allem aufgrund des Ausschlusses einzelner Parteien als möglicher Regierungspartner kann es zu nicht auflösbaren Blockaden im Regierungsbildungsprozess kommen (Decker 2009a; Decker/Best 2010), die entweder zu vorzeitigen Neuwahlen des Parlaments oder der Nicht-Einhaltung von Koalitionsaussagen gegenüber den Wählern und Parteimitgliedern führen können. Insbesondere die hessische Landtagswahl vom Januar 2008 hat die Konsequenzen, die sich aus der Kombination des Fünfparteiensystems im Parlament mit den positiv wie negativ formulierten Koalitionsaussagen ergeben, deutlich gemacht (Schmitt-Beck/Faas 2009a, 2009b). Trotz der Gefahr, dass eine ähnliche Situation wie in Hessen 2008 auch auf Bundesebene nach den Wahlen vom September 2009 entstehen könnte, haben Union, SPD, FDP und Grüne dennoch Koalitionsaussagen derart getätigt, die eine Reihe von Parteienkombinationen von vorneherein ausschlossen. Entgegen einigen Erwartungen brachte das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 schließlich eine Mehrheit für ein Bündnis aus Christ- und Freidemokraten, so dass sich keine Komplikationen im Regierungsbildungsprozess aufgrund der wechselseitigen Koalitionsaussagen einstellen konnten. Doch welches Parteienbündnis hätte sich auf Grundlage der programmatischen Ausrichtungen der Bundesparteien und ihrer Vorwahlaussagen gebildet, wenn Schwarz-Gelb eine O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Mehrheit der Mandate verfehlt hätte? In diesem Beitrag soll im ersten Schritt die Wahrscheinlichkeit aller möglichen Koalitionen nach der Bundestagswahl 2009 ermittelt werden. Dabei wird sowohl die tatsächliche Stärke der Parteien im 17. Deutschen Bundestag als auch eine fiktive, für CDU/CSU und FDP keine Mehrheit ergebende Sitzverteilung herangezogen. Letzteres ermöglicht die – in Folge der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen vom Mai 2010 durchaus realistischen – Einschätzung, dass eine christlich-liberale Mehrheit auf Bundesebene kein langfristig stabiles Phänomen ist und vielmehr Koalitionen aus drei Parteien notwendig sind, um eine stabile parlamentarische Mehrheit zu erzielen. Im zweiten Schritt der vorliegenden Untersuchung soll auf die Eigenschaften der sich gebildeten CDU/CSU-FDP-Koalitionsregierung Merkel/Westerwelle eingegangen und der Frage nachgegangen werden, welche der beteiligten Regierungsparteien sich hinsichtlich der Ämterverteilung und der beabsichtigten Politikinhalte am besten durchsetzen konnte. Die Ergebnisse zeigen, dass aufgrund der Fraktionsstärken, der politikfeldspezifischen Positionen sowie der vor den Wahlen getätigten Koalitionsaussagen der Parteien eine schwarz-gelbe Koalition das mit Abstand wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses 2009 war. Hätte die Sitzverteilung im Bundestag jedoch nicht für die Bildung einer christlich-liberalen Koalitionsregierung ausgereicht, dann wäre es sehr wahrscheinlich zur Fortführung der großen Koalition auf Bundesebene 2009 gekommen, wobei eine Jamaika-Koalition einem CDU/CSU-SPD-Bündnis am ehesten Konkurrenz gemacht hätte, wenn die Grünen diese Koalitionsoption nicht von vorneherein ausgeschlossen hätten. Dieses Ergebnis hängt maßgeblich mit der geringeren programmatischen Heterogenität einer „Jamaika“-Koalition im Vergleich zu einer Ampelkoalition zusammen. Hinsichtlich der Ämterverteilung und der Politikziele des Kabinetts Merkel/Westerwelle sollten sich aus koalitionstheoretischer Perspektive CDU und CSU am besten in den Verhandlungen durchgesetzt haben. Dies gelang der Union zwar nicht auf Ebene der zu verteilenden Ministerposten, allerdings bei der Gewinnung eines überdurchschnittlichen Anteils von parlamentarischen Staatssekretären, die zudem in zwei von drei Fällen als „watch dogs“ (Thies 2001; Verzichelli 2008) in von FDP-Mitgliedern kontrollierten Ministerien platziert werden konnten. Die ermittelte Position des Koalitionsabkommens macht des Weiteren deutlich, dass die Liberalen sich nicht überdurchschnittlich in ihrem zentralen Politikfeld der Wirtschafts- und Sozialpolitik, sondern vor allem in gesellschaftspolitischen Fragen durchsetzen konnten. Um zu diesen Schlussfolgerungen zu gelangen wird zunächst ein Überblick zu den Mustern des deutschen Parteienwettbewerbs in der Zeit der großen Koalition Merkel/Steinmeier einerseits und zum Stand der Forschung hinsichtlich der Theorien der Regierungsbildung, der Bestimmung von zentralen Akteuren im
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Koalitionsspiel sowie den Mustern von Ämterverteilung und inhaltlichen Kompromissen zwischen den Regierungsparteien andererseits gegeben. Im Anschluss daran wird näher auf das hier herangezogene Modell zur Bestimmung der durchsetzungsstärksten Partei eingegangen. Bevor die Ergebnisse des Modelltests präsentiert werden, wird jedoch zunächst dargelegt, mit welcher Methode die Policy-Positionen der Bundestagsparteien und des Koalitionsabkommens einerseits sowie die Wahrscheinlichkeiten der potentiell möglichen Koalitionen andererseits ermittelt werden. Die Schlussbetrachtung fasst die gewonnenen Erkenntnisse zusammen und diskutiert Anreize für weitere Forschungsfragen.
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Parteienwettbewerb und Muster der Koalitionsbildung während der großen Koalition (von 2005-2009)
Regierungsbündnisse der beiden großen Parteien stellen in der Bundesrepublik Deutschland eher eine Ausnahmesituation dar. Koalitionen aus Unionsparteien und SPD werden in der Regel nur dann gebildet, wenn andere Alternativen nicht mehrheitsfähig sind und/oder eine – aus den entsprechenden zeithistorischen Rahmenbedingungen betrachtet – als „nicht regierungsfähig“ erachtete Partei mit umfassen würde. Dieses Muster gilt insbesondere für die Bundesebene, aber auch – mit Abstrichen – für den Bereich der Bundesländer. Somit stellt aus dieser Perspektive die Bildung einer großen Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten nach der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 einerseits eine Überraschung dar, war sie doch erst das zweite Bündnis dieser Parteien seit der im Dezember 1966 formierten Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Kiesinger (CDU) und Vizekanzler Brandt (SPD). Auf der anderen Seite überraschte die Bildung einer Regierung, die sich auf Union und SPD stützt, nach den Wahlen vom September 2005 insofern nicht, als dass eine, von einer beteiligten Partei nicht vorab ausgeschlossene Parteienkombination sich auf keine Mehrheit im Bundestag hätte stützen können: Die Bildung einer „Ampelkoalition“ aus SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen wurde seitens der Liberalen vor und nach der Wahl kategorisch ausgeschlossen, was auch für die am Wahlabend als „JamaikaKoalition“ getaufte Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen sowie für ein Linksbündnis aus SPD, Grünen und der aus PDS und „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) neu gebildeten „Linkspartei.PDS“ galt (vgl. Jun 2007: 499-502; Niedermayer 2007: 35-40). Somit blieb die große Koalition aus Union und SPD die einzige Alternative zu – wiederum vorgezogenen – Neuwahlen des Parlaments, bei denen sich weder das rot-grüne noch das schwarzgelbe Koalitionslager einer Mehrheit hätten sicher sein können (vgl. Pappi/Shikano 2005).
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Die Bildung einer großen Koalition auf Bundesebene hatte zunächst einen deutlichen Einfluss auf die Muster des Parteienwettbewerbs und die Koalitionsstrategien der Parteien. So kam es zur Bildung neuer Koalitionen, die in den 1990er Jahren noch als nahezu ausgeschlossen galten. Die FDP, die seit der Etablierung der Grünen als vierte parlamentarische Kraft auf Bundesebene 1983 ihre Schlüsselrolle verloren hat, schloss im Bundestagswahlkampf 2009 zunächst kein Bündnis mit einer Partei – abgesehen von der Linken – aus, um somit die Chancen zu erhöhen, nach elf Jahren Opposition wieder Regierungsverantwortung zu erlangen. Um jedoch zu unterstreichen, dass eine Koalition aus Union und FDP seitens der Liberalen – wie auch der Christdemokraten – klar gegenüber anderen Optionen präferiert wird, hat die FDP-Parteiführung ein Bündnis mit SPD und Bündnisgrünen vier Wochen vor der Bundestagswahl öffentlichkeitswirksam ausgeschlossen (Decker 2009a: 21; Bräuninger/Debus 2009: 563). Mit der Bildung der ersten „schwarz-grünen“ Koalition in einem Bundesland in Folge der Hamburger Bürgerschaftswahlen vom Frühjahr 2008 haben Christdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen ihre bis dahin bestehende Strategie eines wechselseitigen Koalitionsausschlusses beendet. Eine Koalition dieser beiden Parteien war bis dahin lediglich in Baden-Württemberg eine halbwegs realistische Option gewesen, gelten die Grünen im Südwesten als einer der am stärksten pragmatisch ausgerichteten Landesverbände, was sich auch in den programmatischen Positionen ihre Landtagswahlprogramme nachweisen läst (vgl. Bräuninger/Debus 2008: 321-323). Zwar wurde vor allem auf Drängen des linken Flügels innerhalb der Bündnisgrünen ein etwaiges „Jamaika-Bündnis“ nach der Bundestagswahl 2009 abgelehnt. Dennoch zeigt die Offenheit der Grünen zur Bildung von Koalitionen mit der CDU in Sachsen, Thüringen und dem Saarland 2009 sowie in Nordrhein-Westfalen 2010, das „schwarz-grüne“ Bündnisse nicht mehr als a priori auszuschließende Koalitionsoption angesehen werden dürfen. Ein für die Koalitionsstrategien der bundesdeutschen Parteien zentrale Rolle nahm der nach den Landtagswahlen in Hessen vom Januar 2008 einsetzende Regierungsbildungsprozess ein. Die Polarisierungsstrategie von Ministerpräsident Roland Koch (CDU), der vor allem mit seiner Kampagne gegen die „doppelte Staatsbürgerschaft“ im Landtagswahlkampf 1999 die ohnehin in diesem Bundesland tiefen Gräben zwischen Schwarz-Gelb einerseits und Rot-Grün andererseits noch weiter verfestigt hat (vgl. Strünck 2008: 248, 261), sowie die in Hessen fest an der Seite der Union stehende FDP führte zur Unfähigkeit der vier Parteien, eine auf einer parlamentarischen Mehrheit beruhende Koalition zu bilden. Entscheidend mit dazu bei trug der erstmalige Einzug der Linken in ein westdeutsches Landesparlament.1 Dadurch erreichten weder CDU und FDP noch 1 Am selben Wahlabend übersprang die Linke auch bei den Wahlen zum niedersächsischen Landesparlament deutlich die 5%-Hürde.
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SPD und Grüne eine parlamentarische Mehrheit. Da die FDP die Teilnahme an einer „Ampel“ rigoros ablehnte und auch die Grünen nicht zu einer „JamaikaKoalition“ unter der Führung von Roland Koch zu bewegen waren, war die SPD mit dem Dilemma konfrontiert, entweder mit der CDU zu koalieren und damit Roland Koch als Ministerpräsidenten zu akzeptieren oder ihr zentrales Wahlkampfversprechen, keine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit der Linken einzugehen, zu brechen (Schmitt-Beck/Faas 2009a, 2009b). Nach intensiven parteiinternen Debatten entschloss sich die SPD für letztere Option, die jedoch kurz vor der geplanten Wahl Andrea Ypsilantis zur Ministerpräsidentin mit Stimmen von SPD, Grünen und Linken aufgrund des Widerstandes eines Teils des rechten Parteiflügels der hessischen SPD scheiterte. Die Neuwahlen vom Januar 2009 führten zu einer drastischen Wahlniederlage der SPD in Hessen und einem klaren Wahlsieg von FDP und Grünen, der in einer parlamentarischen Mehrheit für Union und Liberale endete (vgl. Schmitt-Beck/Faas 2009b). Der Regierungsbildungsprozess in Hessen macht das Dilemma der SPD deutlich, dem sich die Sozialdemokraten seit der parlamentarischen Etablierung der Linken auch in westdeutschen Bundesländern sowie mit einem Stimmenanteil von 8,9% auf Bundesebene seit den Wahlen 2005 gegenübergestellt sehen. Schließen sie ein Bündnis mit der ehemaligen PDS aus, dann sind sie mit der Situation konfrontiert, entweder als Juniorpartner der CDU in eine große Koalition einzutreten oder aber den Weg in die Opposition zu gehen. Wird hingegen ein solches Bündnis nicht ausgeschlossen – wie es in den ostdeutschen Bundesländern seit der Mitte der 1990er Jahre eher die Regel als die Ausnahme ist –, dann besteht zwar für die SPD die Chance, als stärkste Partei in der Regierungskoalition den Ministerpräsidenten zu stellen, jedoch müssten die Sozialdemokraten empfindliche Einbußen bei ideologisch-programmatisch moderat eingestellten Wählersegmenten fürchten. Die SPD-Parteiführung gab schließlich der hessischen SPD im Spätsommer 2008 wie auch den saarländischen und thüringischen Sozialdemokraten für die Landtagswahl im August 2009 freie Hand für das potentielle Eingehen einer Koalition mit der Linken (vgl. Decker 2009a: 21). Die Abschwächung bzw. das Wegfallen eines Teils vormals ausgeschlossener Koalitionsvarianten markiert eine der markantesten Schlussfolgerungen der Bundesparteien seit dem Amtsantritt der großen Koalition im Herbst 2005. Dies geschah vor allem durch Verschiebungen im deutschen Parteiensystem aufgrund der Etablierung der Linken auch im Westen der Republik, die damit auf Bundesebene deutlich stärker vertreten ist als im Zeitraum von 1990 bis 2002. Welche weiteren, theoriegeleiteten Faktoren neben Effekten, die sich aus den Eigenschaften des Parteiensystems ergeben, einen Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung einer Regierung, aber auch auf die Durchsetzungsfähigkeit einer
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Partei in Koalitionsverhandlungen ausüben, wird im nächsten Abschnitt diskutiert.
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Koalitionsbildung und Koalitionsverhandlungen: Theoretische Zugänge
3.1 Theorien der Koalitionsbildung Es gibt eine Vielzahl theoretisch begründeter Faktoren, die bei der Bildung einer Regierung letztlich eine Rolle spielen können. Als entscheidend für die parteipolitische Zusammensetzung einer Regierung können vier der Regierungsbildung unmittelbar vorgelagerte Faktoren und Prozesse angesehen werden: (1) das Wahlergebnis bzw. der Sitzstärke der Parteien, (2) die sachpolitisch-inhaltliche Positionierung der parteipolitischen Akteure, (3) die kontextuellen Faktoren des Regierens im (bundesdeutschen) Mehrebenensystem und (4) die eventuell geäußerten, positiv wie negativ formulierbaren Koalitionsaussagen der Parteien. Durch das Wahlergebnis wird zunächst die Menge an potentiell möglichen Koalitionen festgelegt. Insofern die Parteien lediglich an Ämtern interessiert sind, sind Sitzstärke und Anzahl der Koalitionspartner von Interesse. Entsprechend gehen sogenannte office-orientierte Ansätze der kooperativen Koalitionstheorie davon aus, dass sich kleine oder kleinstmögliche Gewinnkoalitionen bilden (von Neumann/Morgenstern 1944; Riker 1962) bzw. Gewinnkoalitionen mit einer möglichst geringen Anzahl an Parteien, so dass Verhandlungskosten gering ausfallen (Leiserson 1968). Auch in nicht-kooperativen Ansätzen kommt der Sitzstärke der Parteien eine wichtige Bedeutung zu. So hat die an Mandaten im Parlament stärkste Partei einen Vorteil sowohl bei der Wahl des „Regierungsbildners“ (formateur) als auch in den Koalitionsverhandlungen (vgl. Austen-Smith/Banks 1988). Zweitens nehmen politische Akteure programmatische Standpunkte zu sachpolitischen Fragen ein. Diese Positionen bilden sowohl die Grundlage für die Koalitionspräferenzen von sachpolitisch motivierten Parteien, die Koalitionen anhand ihres zu erwartenden Politikergebnis bewerten. Im Allgemeinen wird eine Partei solche Koalitionen anstreben, deren erwartbare Politik der eigenen Position nahe kommt. Daher beziehen policy-orientierte Ansätze der Koalitionstheorien die ideologischen bzw. politikfeldspezifischen Positionen der Parteien ein und prognostizieren die Wahl von Koalitionen mit geringer Heterogenität (vgl. Axelrod 1970; De Swaan 1973). In Deutschland übt drittens der Mehrebenencharakter des politischen Systems einen Einfluss auf die Regierungsbildung aus. So wirken die bundespoliti-
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schen Mehrheitsverhältnisse auf die Regierungsbildung in den Bundesländern ein (vgl. Jun 1994; Kropp 2001). Um ihre Politikziele auch im Bundesrat durchsetzen zu können, sollten die die Bundesregierung tragenden Parteien versuchen, parteipolitisch gleiche Landesregierungen zu installieren, um damit das Lager der Regierungsländer im Bundesrat zu stärken. Umgekehrt ist zu erwarten, dass die Oppositionsparteien auf Bundesebene die Schwächung des Regierungslagers zum Ziel haben (vgl. etwa Pappi/Becker/Herzog 2005; Bräuninger/Debus 2008). Analog zu diesem Muster der Einflussnahme der nationalen Ebene des Parteienwettbewerbs auf die Regierungsbildungen in den Bundesländern ist mit Hinblick auf das Ziel der Maximierung der Wiederwahlchancen von Regierungsparteien zusätzlich in Betracht zu ziehen, dass die zu Beginn der Legislaturperiode im Koalitionsabkommen abgesteckten Policy-Ziele bis zur nächsten Bundestagswahl weitestgehend umgesetzt werden sollten (Müller/Strøm 2008). Diese Orientierung an den Ergebnissen der Politik sollte – insbesondere mit Hinblick auf den deutschen Bikameralismus – dazu führen, dass die Bundesparteien die gegebenen Mehrheitssituationen im Bundesrat bei der Regierungsbildung berücksichtigen und damit solchen Parteibündnissen einen Vorzug geben, die von einer Mehrheit in der Länderkammer unterstützt werden. Schließlich kommt weiteren, „kontextuellen“ Merkmalen ein entscheidender Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung von Regierungen zu (vgl. Strøm/Budge/Laver 1994). So weisen Koalitionsoptionen mit Parteien, mit denen in der Vergangenheit bereits Erfahrungen im gemeinsamen Regieren gesammelt werden konnten, im Allgemeinen geringere Unsicherheiten und geringere Transaktionskosten auf (vgl. jüngst Bäck/Dumont 2007). Zu den Kontextmerkmalen zählt auch der Ausschluss von einer oder mehreren Parteien aus dem Koalitionsspiel aufgrund ihres Status als „Anti-System-Partei“. Einzelne Parteien können zum einen generell, also von allen anderen Mitbewerbern von der Regierungsbildung a priori ausgeschlossen werden, zum anderen aber auch nur von einigen Parteien als von vornherein „nicht regierungsfähig“ deklariert werden. Gleiches gilt – mit umgekehrtem Vorzeichen – für positiv formulierte Koalitionsaussagen oder Vorwahlallianzen (Decker 2009b; vgl. Jun 1994; Martin/Stevenson 2001; Debus 2007; Bräuninger/Debus 2008). Die letztgenannten Studien weisen auf den eigenständigen Effekt sowohl von Koalitionsaussagen als auch von den anderen, hier aufgeführten Erklärungsansätzen des Regierungsbildungsprozesses hin.
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3.2 Ämterverteilung und Politikkompromisse in Koalitionsregierungen Zur Beantwortung der Frage, welche Partei sich innerhalb einer Koalitionsregierung am besten hat durchsetzen können, wird von politischen Beobachtern wie auch in der Politikwissenschaft in der Regel die Ämterverteilung im Kabinett herangezogen. Hierbei gilt die von Gamson (1961) festgestellte und in zahlreichen späteren Studien nachgewiesene Proportionalitätsnorm: eine Regierungspartei erhält einen ungefähr so hohen Anteil an Ministerien, wie sie zur Mehrheit der Koalition im Parlament beiträgt. Obwohl dieser Zusammenhang nicht perfekt ist, so erreicht er doch für politikwissenschaftliche Verhältnisse sehr hohe Korrelationswerte, wodurch die Beobachtung von Gamson häufig in den Status eines „Gesetzes“ befördert wird (Laver/Schofield 1998: 171-181). Browne und Franklin (1973) konnten in einer frühen Replikationsstudie zeigen, dass kleinere Regierungsparteien der Tendenz nach einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Kabinettsposten erringen. Generell gilt aber, dass selbst unter Kontrolle der Bedeutung der jeweiligen Ministerien eines Landes die Proportionalitätsnorm erhalten bleibt (Warwick/Druckman 2006; Bäck/Persson/Meier 2009). Budge und Keman (1990: 90) haben die Ämterverteilung in Koalitionsregierungen weniger unter dem numerischen Aspekt als vielmehr aus inhaltlicher Perspektive betrachtet. Unter Heranziehung des Parteifamilienansatzes haben sie eine Reihenfolge der Ministerien gebildet, die zwischen solchen Ämtern unterscheidet, die für Parteien aus fünf Parteifamilien – der konservativen, der liberalen, der christlich-religiösen, der sozialistischen und der agrarischen Parteifamilie – zwischen wichtig und unwichtig verläuft. Parteien mit unterschiedlichem historisch-ideologischem Hintergrund versuchen solche Ministerien zu besetzen, von der sie sich den größtmöglichen Nutzen zur Befriedigung der Präferenzen ihrer Anhänger versprechen. So stellen etwa in rund 80% aller Kabinette, an denen sozialistische oder sozialdemokratische Parteien beteiligt sind, parteipolitische Gruppen aus dieser Parteifamilie das Ministerium, das für Arbeit, Gesundheit und Soziales zuständig ist. Unter Bezugnahme auf den Datensatz des Comparative Manifesto Project (CMP; Klingemann u.a. 2006) kann zudem gezeigt werden, dass selbst unter Kontrolle der Sitzstärke und des Parteifamilienansatzes die in den Wahlprogrammen seitens der Parteien geäußerten IssueSalienzen einen Effekt auf die Ämterverteilung in Koalitionsregierungen ausüben: je wichtiger einer Koalitionspartei ein mit einem Ministerium verwandtes Thema ist, desto wahrscheinlicher wird sie es im Zuge der Verhandlungen über die Regierungsbildung auch erhalten (Bäck/Debus/Dumont 2011). An den Mustern der Ämterverteilung ausgerichtete Studien beziehen neben der Anzahl der Ministerien auch die Anzahl der so genannten „junior ministers“ mit ein (Müller/Strøm 2000; Strøm/Müller/Bergman 2003; Verzichelli 2008).
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Thies (2001) findet empirische Evidenz für das Argument, dass Juniorminister – in Deutschland die parlamentarischen Staatssekretäre – als „watch dogs“ von den Regierungsparteien, die nicht den Minister für einen bestimmten Politikbereich stellen, entsandt werden, um die Einhaltung des Koalitionsabkommens zu überwachen oder gar die vom Minister implementierten Politikinhalte in Richtung der Präferenzen der eigenen Partei abzuändern. Der Fokus auf die Ämterverteilung vernachlässigt jedoch die Bedeutung der Koalitionsabkommen, in denen neben der Festlegung der Ämtervergabe und der Formalia des Regierens in der Koalition vor allem die Politikziele der Bündnispartner für die kommende Legislaturperiode festgelegt werden (Timmermans 2006; Müller/Strøm 2008). Während sich einige Arbeiten darauf konzentrieren, anhand der Regierungserklärung des Kanzlers oder Premierministers auf die künftige Politik der (Koalitions-)Regierung zu schließen (Budge/Laver 1993; König/Volkens/Bräuninger 1999; Warwick 2001), sind zur Beantwortung der Frage nach den künftigen Politikinhalten Koalitionsabkommen überraschenderweise nur in geringem Ausmaß in empirische Analysen mit einbezogen worden. In qualitativen Fallstudien zur Regierungsbildung und zum Regierungshandeln in den deutschen Bundesländern streichen Kropp und Sturm (1998) sowie Kropp (2001) die Bedeutung der Koalitionsabkommen gerade für das Verhalten von Landesregierungen im bikameralen politischen System der Bundesrepublik heraus. In empirisch-quantitativen Analysen, die auf einer Inhaltsanalyse der Regierungserklärungen und der Wahlprogramme der Regierungsparteien basieren, konnte Warwick (2001) zeigen, dass in der Tat eine große Übereinstimmung zwischen der erwarteten Position einer Koalition, gemessen auf Grundlage der aus den Wahlprogrammen extrahierten Policy-Positionen, mit derjenigen der Regierungserklärung besteht. Dieser aus der Perspektive des „responsible party government“-Modells von Powell (2004) demokratietheoretisch positive Befund wird jedoch durch einen signifikanten Trend der Regierungserklärungen zu leicht rechteren Positionen auf einer ideologischen Links-Rechts-Achse getrübt. 3.3 Schlüsselakteure in Koalitionsbildungsprozessen Die Literatur zur Koalitionsbildung bietet des Weiteren eine Reihe von Ansätzen, die es ermöglichen, den entscheidenden Akteur in der Koalitionsbildungsphase einerseits sowie im Zeitraum der Koalitionsverhandlungen andererseits zu bestimmen. Berücksichtigt man sowohl den an der Besetzung möglichst vieler Ämter als auch den an Politikinhalten ausgerichteten Ansatz, so sollten die ideologischen Ausrichtungen der Parteien von Bedeutung für die Identifikation von Schlüsselakteuren – so genannten „key players“ oder „pivotal parties“ (Keman
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2002) – im Koalitionsspiel sein. Aufbauend auf dem „median voter“-Theorem von Downs (1957) kann van Roozendaal (1993) theoretisch herleiten, dass die Partei, die auf einer allgemeinen Links-Rechts-Dimension über den MedianAbgeordneten im Parlament verfügt, eine zentrale Stellung im Koalitionsspiel einnimmt und sicher Teil der künftigen Regierungskoalition sein wird. Nun beschreiben eindimensionale Politikräume in den meisten Fällen nur unzureichend die Muster des Parteienwettbewerbs in vielen modernen Demokratien. Aus politisch-soziologischen Studien wissen wir, dass in der Regel mehr als eine soziale Konfliktlinie („cleavage“) die Muster des Parteienwettbewerbs beeinflusst (Lipset/Rokkan 1967; Pappi 2009: 195). Neben dem sozioökonomisch determinierten Gegensatz zwischen Arbeitnehmern und Kapitaleignern ist dies in vielen europäischen Ländern der Konflikt zwischen säkular-liberalen Auffassungen einerseits und klerikal-konservativen Positionen in gesellschaftspolitischen Fragen andererseits. Daher sind Modelle zur Bestimmung von pivotalen parteipolitischen Akteuren in Regierungsbildungsprozessen notwendig, die zumindest zwei Politikdimensionen berücksichtigen (vgl. Niedermayer 2008, 2010). Einen solchen Ansatz stellt das „Political Heart“-Modell von Schofield (1993) dar. Die Positionen der im Parlament vertretenen Parteien werden in einem zweidimensionalen Politikraum verortet. Ausschlaggebend sind die jeweils zwischen Mehrheit und Minderheit trennenden Medianlinien. Schneiden sich die Medianlinien in einem Punkt, so verfügt die entsprechende Parteienkonstellation über einen „Kern“. Die Partei an der Stelle dieses „core“ sollte demnach auf jeden Fall die Regierung bilden und – ceteris paribus – sich aufgrund dieser Schlüsselrolle in den Koalitionsverhandlungen am besten durchsetzen können. Wenn sich die Medianlinien nicht in einem Punkt schneiden, dann ergibt sich ein „Political Heart“ bzw. die so genannte Zyklusmenge (vgl. Pappi 2009: 197; Debus 2010). Die Parteien, die das „Heart“ bilden, nehmen eine zentrale Stellung im Regierungsbildungsprozess ein. Baut man zusätzlich Informationen zu den seitens der Parteien vorab getätigten Koalitionsaussagen in das Modell des „Political Heart“ ein, so kann dies entscheidende Verbesserungen in der Modellvorhersage nach sich ziehen. Abbildung 1 verdeutlicht diese Überlegung in grafischer Form. Parteien A und B erreichen in einem hypothetischen Parlament mit 100 Abgeordneten jeweils 40 Sitze, wohingegen Partei C auf 10 Mandate kommt. Parteien D und E stellen die beiden kleinsten Fraktionen mit jeweils 5 Sitzen dar. Aufgrund der Positionen der fünf im Parlament vertretenen Parteien entsteht nach dem Eintragen der Medianlinien ein „Political Heart“, das jeweils zwischen Mehrheit und Minderheit im zweidimensionalen Politikraum unterscheidet. Zentrale Akteure des Koalitionsspiels sind die Parteien A, B und C, wohingegen die beiden kleinen Parteien D und E als „peripher“ bezeichnet werden müssen, da durch ihre Position keine Medianlinie verläuft.
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Bezieht man zusätzlich zu der Stärke der Parteien und deren politikfeldspezifischen Positionen die Information mit ein, dass die Parteien A und C eine Koalition a priori ausschließen, dann wird die aus den Geraden AB, AC und BC begrenzte Zyklusmenge instabil, da die Protokoalition AC nicht mehr als realistische Option aufgrund der Vorwahlstatements der Parteien gewertet werden kann.2 In Abbildung 1 ist dies durch die gestrichelt eingezeichnete Mediangerade AC angedeutet. Aufgrund dieses durch die Berücksichtigung der Koalitionsaussagen modifizierten „Political Heart“-Modells steht zu erwarten, dass sich Partei B am stärksten in den Koalitionsverhandlungen durchsetzen sollte, da sie über ein Drohpotential derart verfügt, dass auch mit der jeweils anderen Protokoalitionspartei (in diesem Fall A oder C) ein Bündnis gebildet werden könnte. Abbildung 1:
Um Koalitionsaussagen der Parteien erweitertes „Political Heart“-Modell in einem hypothetischen Fünfparteiensystem
A (40 Sitze) AB
E (5 Sitze) AC
B (40 Sitze)
BC
Politikdimension II
C (10 Sitze) D (5 Sitze)
Politikdimension I
Zwar kann man argumentieren, dass Parteien mit Hinblick auf das Ziel der Regierungsbeteiligung ihren vor den Wahlen getätigten Koalitionsaussagen wenig Beachtung schenken. Jedoch zeigt das Abschneiden der hessischen SPD bei den Landtagswahlen 2009, dass ein solches Handeln das neben office- und policyseeking dritte Ziel von Parteien – das Maximieren ihres Stimmenanteils (Strøm/ Müller 1999) – massiv gefährden kann. Zu erwarten ist daher, dass wenn eine 2 Theoretisch betrachtet reicht es aus, wenn nur eine Partei der Protokoalition AC eine gemeinsame Regierung ausschließt, damit die Medianlinie nicht mehr gewertet werden kann.
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Partei Teil des um Informationen zu den Koalitionsaussagen erweiterten „Political Heart“ ist, sie dann eine zentrale Stellung im Regierungsbildungsprozess und den Koalitionsverhandlungen einnehmen und sich überdurchschnittlich stark im Hinblick auf Ämterverteilung und Politikinhalte durchsetzen kann.
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Daten und Methoden
Zur Beantwortung der in diesem Beitrag aufgeworfenen Fragestellung werden Daten zu den Eigenschaften aller nach der Bundestagswahl 2009 theoretisch möglichen Koalitionen und zur Anzahl der von den Regierungsparteien besetzten Ministerien und Staatsekretäre benötigt. Zum andern müssen die Policy-Positionen aller Bundestagsparteien sowie der gebildeten Koalitionsregierung auf den zentralen Politikdimensionen ermittelt werden. Während Informationen zur Verteilung der Ämter auf die Regierungsparteien sowie über die Mitgliederzahl der Parlamentsfraktionen über aktuelle politikwissenschaftliche Studien zugänglich sind (Hilmer 2010; Saalfeld 2010), so wirft die Bestimmung der programmatischen Positionen der Parteien zur Wahl 2009 wie auch die Politikziele des CDU/CSU-FDP-Kabinetts größere Hürden auf. So liegt zwar eine Fortschreibung des vielfach zur Messung der programmatischen Schwerpunkte und Positionen von Parteien verwendeten CMP-Datensatzes vor, jedoch werden dabei Koalitionsabkommen nicht berücksichtigt.3 Daher wird hier auf das inzwischen vielfach erfolgreich angewandte, rein computergestützte „Wordscores“-Verfahren (Laver/Benoit/Garry 2003; Lowe 2008) zur Messung der in Wahlprogrammen wie auch im Koalitionsabkommen enthaltenen Policy-Positionen zurückgegriffen. Das Verfahren geht von der Beobachtung aus, dass die Wortwahl politischer Akteure in ihren programmatischen Dokumenten oder Reden nicht nach dem Zufallsprinzip erfolgt. Vielmehr wird angenommen, dass man allein aufgrund der relativen Worthäufigkeit eines Dokuments auf dessen programmatische Position schließen kann. Einem auf der Grundlage dieses Verfahrens bereits erstellten Datensatzes, der die Positionen der deutschen Bundes- und Landesparteien seit Januar 1990 umfasst (Bräuninger/Debus 2008, 2009), wurden die zu den Bundestagswahlen 2009 verfassten programmatischen Dokumente inklusive des Koalitionsabkommens hinzugefügt. Zudem erlaubt dieser Datensatz mit Hilfe multivariater Regressionsmodelle4 die Ermittlung der Determinanten der Koalitionsbildung in Bund und Ländern, auf deren Grundlage sich wiederum die Wahrscheinlichkeit 3
Siehe http://www.wzb.eu/zkd/dsl/download-marpor.en.htm Aus Platzgründen wird auf die Ausweisung der Ergebnisse der einzelnen Regressionsmodelle verzichtet. Vgl. Ausführlicher Bräuninger/Debus 2008 sowie Debus/Müller 2011. 4
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für jede mögliche Koalitionsoption, die sich aus der Anzahl der parlamentarisch vertretenen Parteien ergibt, berechnen lässt (Bräuninger/Debus 2008: 328-333; Linhart/Debus/Bräuninger 2010: 248-250). Im folgenden Abschnitt werden die Wahrscheinlichkeiten der potentiell möglichen Koalitionen sowie die Erwartungen hinsichtlich des Durchsetzungsvermögens der Parteien – differenziert nach Ämterverteilung und Politikzielen – anhand der verwendeten Daten überprüft.
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Koalitionsoptionen, Ämterverteilung und Politikziele der schwarz-gelben Koalitionsregierung
5.1 Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2009 In der Analyse der Regierungsbildung wird zwischen zwei Szenarien unterschieden. Während das Szenario 1 die tatsächliche Mandatsverteilung im 17. Deutschen Bundestag zugrunde legt, wird in Szenario 2 postuliert, dass weder Union und FDP noch SPD und Grüne eine Mehrheit im Parlament haben. Letzteres spiegelt damit die Situation wieder, wie sie nach den Landtagswahlen vom Mai 2010 im Düsseldorfer Landtag besteht. Die in Tabelle 2 ausgewiesenen Wahrscheinlichkeiten von potentiell möglichen Koalitionen machen deutlich, dass – bei einer Mehrheit für Union und FDP im Bundestag – eine Koalition dieser beiden Parteien wie erwartet das mit Abstand wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses ist. Dies gilt auch, wenn die Ausprägungen einiger Schlüsselfaktoren modifiziert werden. Während in Modell 1 die erklärenden Variablen unverändert in die Berechnung eingehen, so werden im Fall der Modelle 2 bis 5 die Ausprägungen einzelner Variablen verändert. In Modell 2 und in den folgenden Modellen nehmen wir an, dass der Amtsinhaber-Vorteil nicht für die amtierende Koalition aus Union und SPD gilt, was vor dem Hintergrund der Äußerungen beider Parteien im Wahlkampf keine allzu abwegige Modifikation darstellt. In Modell 3 wird die Variable „Koalitionsablehnung“ in der Form abgeändert, dass die Sozialdemokraten auf Bundesebene eine Zusammenarbeit mit der Linken nicht a priori ablehnen, so dass die Koalitionsoption aus SPD, Grünen und Linken als nicht mehr von vorneherein ausgeschlossen in die Analyse eingeht. Die Modelle 4 und 5 berücksichtigen nicht, dass die FDP eine Ampelbzw. die Grünen eine Jamaika-Koalition a priori ausgeschlossen haben. Ein Bündnis aus Union und FDP dominiert die Verteilung der Wahrscheinlichkeiten mit jeweils über 95%, wenn man der amtierenden Koalitionsregierung aus CDU/CSU und SPD keinen Amtsinhaberbonus zuweist, und mit über 85%, wenn der „incumbency advantage“ auch für die bis 2009 amtierende Koalition von Kanzlerin Merkel (CDU) gilt. Eine Fortführung der Koalition aus Union und
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SPD konnte damit als sehr unwahrscheinlich bis nahezu ausgeschlossen gelten, wenn CDU/CSU und FDP eine Bundestagsmehrheit auf sich vereinigen. Tabelle 1: Wahrscheinlichkeitsverteilung ausgewählter Koalitionsoptionen auf der Grundlage von Szenario I (1) Ausgangsmodell
CDU/CSU-FDP CDU/CSU-SPD CDU/CSU-Grüne CDU/CSU-FDP-Grüne SPD-Grüne SPD-FDP-Grüne SPD-Grüne-Linke
85,9 13,9 0,0 0,0 0,1 0,0 0,0
(2) (3) (4) Kein Amts- SPD schließt FDP schließt inhabervor- Koalition mit eine Ampelteil für große der Linken koalition Koalition nicht aus nicht aus 96,3 3,5 0,0 0,0 0,1 0,0 0,0
95,9 3,5 0,0 0,0 0,1 0,0 0,2
96,3 3,5 0,0 0,0 0,1 0,0 0,0
(5) Grüne schließen eine Jamaika-Koalition nicht aus 96,2 3,5 0,0 0,0 0,1 0,0 0,0
Wäre die Bildung von Dreierbündnissen aus Union, FDP und Grünen, SPD, FDP und Grünen oder Sozialdemokraten, Grünen und Linken wahrscheinlicher gewesen als die Fortführung der CDU/CSU-SPD-Koalition, wenn Union und Liberale keine gemeinsame Mehrheit bei den Bundestagswahlen 2009 erreicht hätten? Die in Tabelle 2 wiedergegebenen Wahrscheinlichkeitswerte der Koalitionsoptionen verneinen dies deutlich. Im Ausgangsmodell liegt die Wahrscheinlichkeit für die Neuauflage einer großen Koalition bei rund 97%. Dieser Wert geht jedoch zurück, wenn man die Wahrscheinlichkeiten auf Grundlage von Modell 2 berechnet, in dem der amtierenden Regierungskoalition kein Amtsinhabervorteil unterstellt wird. Dennoch ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit von 89,6% für die Fortführung der großen Koalition, während ein Dreierbündnis keine Chance aufgrund der wechselseitigen Ausschlüsse dieser Konstellationen gehabt hätte. Geht man einen Schritt weiter und schließt eine Zusammenarbeit von SPD und Linken nicht a priori aus, dann steigt die Wahrscheinlichkeit einer rot-rot-grünen Koalition deutlich auf 23,2% an, jedoch ist ein erneutes CDU/CSU-SPDBündnis mit 63,3% noch immer der wahrscheinlichste Ausgang des Regierungsbildungsprozesses. An den Wahrscheinlichkeiten für die einzelnen Koalitionsoptionen ändert sich wesentlich weniger, wenn man statt der Absage der SPD an ein Bündnis mit der Linken die Ablehnung einer Ampelkoalition durch die FDP zurücknimmt. In diesem Fall wäre eine große Koalition mit knapp 84% das wahrscheinliche Ergebnis, wohingegen die „Ampel“ nur eine Chance von knapp 7% hätte.
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Tabelle 2: Wahrscheinlichkeitsverteilung ausgewählter Koalitionsoptionen auf der Grundlage von Szenario II Ausgangsmodell
CDU/CSU-FDP CDU/CSU-SPD CDU/CSU-Grüne CDU/CSU-FDP-Grüne SPD-Grüne SPD-FDP-Grüne SPD-Grüne-Linke
1,4 97,2 0,1 0,0 0,5 0,0 0,0
Kein Amts- SPD schließt FDP schließt inhabervor- Koalition mit eine Ampelteil für der Linken koalition Schwarz-Rot nicht aus nicht aus 5,3 89,6 0,3 0,0 1,9 0,0 0,0
3,7 63,3 0,0 0,0 1,3 0,0 23,2
4,9 83,5 0,0 0,0 1,8 6,8 0,0
Grüne schließen eine Jamaika-Koalition nicht aus 3,6 61,9 0,2 30,9 1,3 0,0 0,0
Die Verteilung der Wahrscheinlichkeit auf die Koalitionsoptionen würde sich hingegen wesentlich deutlicher ändern, wenn man den Fokus weniger auf die Vorwahlaussagen von SPD und FDP als vielmehr auf diejenigen der Grünen richtet und diese modifiziert. Wenn die Grünen ein Jamaika-Bündnis nicht ausgeschlossen hätten, dann würden die Chancen für eine Neuauflage der CDU/CSU-SPD-Koalition (61,9%) deutlich zu Gunsten einer Jamaika-Koalition (30,9%) sinken. Dieses Ergebnis macht deutlich, dass eine Rücknahme der Vorwahlaussage der Grünen zugunsten einer Jamaika-Koalition wesentlich größere Effekte gehabt hätte als das Außenvorlassen der Ablehnung einer Zusammenarbeit der SPD mit der Linken und insbesondere der FDP mit SPD und Grünen. Letzteres impliziert, dass – im Falle keiner wesentlichen Veränderungen der inhaltlichen Ausrichtungen der Parteien – bei den nächsten Regierungsbildungsprozessen auf Bundes- wie Landesebene eher Jamaika- oder Linkskoalitionen als Bündnisse zwischen Sozialdemokraten, Grünen und Freidemokraten zu erwarten sind. So sind nicht ohne Zufall die Sondierungsgespräche zwischen den drei letztgenannten Parteien in Nordrhein-Westfalen im Juni 2010 sehr schnell gescheitert. Begründet liegt dies in der größeren programmatischen Heterogenität insbesondere im entscheidenden Politikfeld Wirtschaft und Soziales (vgl. Bräuinger/Debus 2008: 332). Während eine potentielle „Linkskoalition“ eine homogene sozioökonomische Ausrichtung aufweist und eine Jamaika-Koalition auf die CDU/CSU mit ihrer wirtschaftspolitisch moderaten Position als „Vermittlerin“ zurückgreifen kann (vgl. Abbildung 2), so wäre eine „Ampelkoalition“ von den sehr gegensätzlichen wirtschafts- und sozialpolitischen Positionen von FDP einerseits und SPD und Grünen andererseits geprägt.
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5.2 Ämterverteilung und Politikziele der schwarz-gelben Koalitionsregierung Um nun zu bestimmen, welche der fünf parlamentarisch vertretenen Parteien als der entscheidende, „pivotale“ Akteur im Koalitionsbildungs- wie Koalitionsverhandlungsprozess gelten kann, gilt es, die Parteien zu bestimmen, die Teil der modifizierten „Political Heart“-Lösung sind (vgl. auch Debus 2010). Abbildung 2 macht deutlich, dass drei Medianlinien, die zwischen Mehrheit und Minderheit im Bundestag trennen, das „Political Heart“ begrenzen. Dies ist erstens die zwischen Union und FDP verlaufende Medianlinie, zweitens eine Gerade, deren Lage durch die Positionen von SPD und Liberalen festgelegt wird, und schließlich eine Mediangerade, die durch die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen von CDU/CSU und SPD verläuft.5 Berücksichtigt man die Information zu den Vorwahlaussagen der Parteien bei der Erstellung des „Political Hearts“, dann darf man die Medianlinie, die zwischen Sozial- und Freidemokraten verläuft, nicht berücksichtigen, da eine Mehrheit unterhalb dieser Geraden und somit eine Koalition aus SPD, FDP und Grünen bzw. aus Sozialdemokraten, Freidemokraten und Linken seitens der Liberalen a priori ausgeschlossen wurde. Diese Zusatzinformation, die durch die gepunktet eingezeichnete Medianlinie zwischen SPD und FDP kenntlich gemacht ist, hat einen bedeutenden Einfluss auf die Vorhersagekraft des Modells. So nimmt auf der Grundlage des modifizierten „Political Heart“-Modells die Union die Stellung des zentralen Akteurs und damit der Kernpartei im Regierungsbildungs- und Koalitionsverhandlungsprozess 2009 ein. Um zu testen, ob die aufgrund des modifizierten „Political Heart“-Modells als Kernpartei identifizierte CDU/CSU sich überdurchschnittlich stark in den Koalitionsverhandlungen hat durchsetzen können, müssen die Erwartungswerte hinsichtlich der Verteilung der Kabinettsposten sowie der inhaltlichen Positionen der neuen Koalitionsregierung mit den gemessenen Werten abgeglichen werden. Mit Rückgriff auf die Proportionalitätsnorm sollte man erwarten, dass die Ämter in dem Verhältnis auf die Parteien verteilt werden, in welchem diese zur Bundestzagsmehrheit beitragen. Gleiches sollte für die Policy-Position des Koalitionsabkommens von Union und FDP gelten: es sollte an dem mit der Stärke der Regierungsparteien gewichteten arithmetischen Mittel – dem programmatischen „centre of gravity“ (Gross/Sigelman 1984) – im Politikraum verortet sein.
5 Die Konfidenzintervalle der mit „Wordscores“ geschätzten Policy-Positionen der Parteien werden bei der Ermittlung des Verlaufs der Mediangeraden nicht berücksichtigt.
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Abbildung 2:
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Modifiziertes „Political Heart“ zur Bundestagswahl 2009 auf Grundlage der Stärke der Fraktionen, Parteipositionen und Koalitionsaussagen
Gesellschaftspolitik progressiv - konservativ 4 5 6 7 8 9 10 11 12
CDU/CSU (239 Sitze)
CDU/CSU-SPD CDU/CSU-FDP SPD (149 Sitze)
FDP (93 Sitze) SPD-FDP-Bündnis 90/Grüne SPD-FDP-Linke
Bündnis 90/Grüne (68 Sitze)
3
Linke (76 Sitze)
5
6
7
8
9
10 11 12 13 14 15 16 Wirtschaftspolitik links - rechts
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Tabelle 3 gibt den Anteil der Sitze, die die Regierungsparteien CDU/CSU6 und FDP zur Anzahl der Mandate der Regierungskoalition beitragen, sowie den Anteil der gewonnenen Ministerposten und derjenigen der parlamentarischen Staatssekretäre wieder. Zusätzlich dazu wird die Anzahl der Ministerien angegeben, in denen es den beiden Regierungsparteien gelang, einen Staatssekretär in einem vom Koalitionspartner kontrollierten Ministerium zu entsenden, so dass dieser als „watch dog“ im Sinne von Thies (2001) gelten kann. Gemäß den in Tabelle 1 präsentierten Daten gelang es CDU/CSU in Fragen der Ministerienverteilung nicht, von ihrer pivotalen Rolle im Koalitionsspiel profitieren. Vielmehr konnten die Freidemokraten einen höheren Anteil an Ministerien für sich reklamieren (33,3%), als ihnen anhand ihrer Stärke innerhalb der Koalitionsregierung – die FDP-Abgeordneten machen 28% der gemeinsamen Bundestagsmehrheit mit der Union aus – zugestanden hätte.7 Da auch die CSU – im Vergleich zu ihrem Mandatsanteil innerhalb der Koalition – überdurchschnittlich viele Mini6 CDU/CSU werden in der Analyse als Einheit ausgewiesen, da sie im Bundestag eine Fraktionsgemeinschaft bilden und auch ein gemeinsames Wahlprogramm verfasst haben. Der Vollständigkeit halber wird in Tabelle 3 zwischen CDU und CSU differenziert. 7 Die Einbeziehung des Amts der Bundeskanzlerin in die Analyse führt zu keinen signifikanten Änderungen.
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sterien für sich reklamieren konnte, wird der von Browne und Franklin (1973) beobachtete Vorteil für die kleineren Koalitionsparteien auch bei der Regierungsbildung in Deutschland 2009 erneut deutlich. Tabelle 3: Koalitionsinterne Stärke der Regierungsparteien und Muster der Ämterverteilung Koalitionspartei
Anzahl der Sitze und Stimmengewicht in der Koalition
Anzahl und Anteil gewonnener Ministerien UngeGewichtet wichtet
Anzahl und Anteil gewonnener parlamentarische Staatssekretäre
„Watch dog“Staatssekretäre in Ministerien des Koalitionspartners
CDU/CSU CDU CSU FDP
239 (72) 194 (58,4) 45 (13,6) 93 (28)
10 (66,7) 7 (46,7) 3 (20) 5 (33,3)
22 (73,3) 18 (60) 4 (13,3) 8 (26,7)
2 2 0 1
10,5 (68,8) 7,65 (50,1) 2,85 (18,7) 4,76 (31,2)
Anmerkung: die Anteilsangaben (in %) sind jeweils in Klammern angegeben.
Diese Perspektive verschiebt sich nur geringfügig in Richtung der „core party“ CDU/CSU, wenn die Ministeriumsverteilung mit der Salienz der jeweiligen Ministerien anhand der Daten von Druckman und Warwick (2005) gewichtet wird.8 Zwar gleicht sich die Ministerienverteilung der Proportionalitätsnorm stärker an, jedoch bleiben die Unionsparteien noch immer leicht hinter dem Erwartungswert zurück. Dies gilt wiederum auch, wenn das Amt der Kanzlerin mit einbezogen wird. Das unter Berücksichtigung der Ministeriumssalienzen die Union – und hier ausschließlich die CDU – ihre unterdurchschnittlichen Payoffs leicht ausgleichen kann, liegt darin begründet, dass sie gemäß den Resultaten von Druckman und Warwick die eher wichtigen Ministerien besetzen konnte, wohingegen nur zwei der fünf Ministerien, die an die FDP gingen, als überdurchschnittlich „salient“ gelten. Dies sind das mit dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle besetzte Außenministerium, das einen Wert von 1,41 in der Studie von Druckman und Warwick (2005: 35-36) erreicht, sowie das Justizministerium, dem die Liberale Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vorsteht und das auf einen geringfügig überdurchschnittlichen Wert von 1,02 kommt. Erst wenn die parlamentarischen Staatssekretäre und ihre potentielle Verwendung als „watch-dogs“ in die Analyse mit einbezogen werden, dann äußert 8
In der Expertenbefragung wurde erhoben, welche Ministerien in 14 westeuropäischen Demokratien welchen Grad an Bedeutung haben. Wenn die Befragten einem Ministerium einen Wert von 1 zuordneten, dann handelte es sich um ein durchschnittlich-wichtiges Ministerium. Ein Wert von 1,5 sollte vergeben werden, wenn das entsprechende Ministerium um 50% wichtiger eingestuft wird als ein durchschnittlich relevantes Ministerium. Dementsprechend sollte ein Wert von unter 1 vergeben werden, wenn es sich um ein unterdurchschnittlich wichtiges Ministerium handelt.
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sich partiell die Verhandlungsstärke der Union hinsichtlich der Ämterverteilung: so gehören 22 von 30 und damit 73,3% der parlamentarischen Staatssekretäre der CDU/CSU an. Die Freien Demokraten erreichen mit acht Staatssekretären (26,7%) einen leicht unterdurchschnittlichen Anteil an allen parlamentarischen Staatssekretärsposten. Deutlicher wird die zentrale Position der Union in der koalitionsinternen Ämtervergabe, wenn man sich die Anzahl der Ministerien anschaut, in dem die Union einen Staatssekretärsposten besetzen kann, obwohl die FDP den jeweiligen Minister stellt. Dies ist der Fall in dem von Rainer Brüderle (FDP) geleiteten Ministerium für Wirtschaft und Technologie sowie im vom Freidemokraten Philipp Rösler geführten Gesundheitsministerium, wo CDU und Liberale jeweils einen Staatsekretär stellen. Im Gegenzug konnte die FDP nur einen „watch dog“ in Form eines parlamentarischen Staatssekretärs in einem von der Union geführten Ministerium platzieren. Zeigt sich ein klareres Bild hinsichtlich des erwarteten Durchsetzungsvermögens der CDU/CSU, wenn man statt der Ämterverteilung den Blick auf die inhaltlichen Positionen des Koalitionsabkommens richtet? Abbildung 3 veranschaulicht das Ergebnis in grafischer Form. Die mit Hilfe des „Wordscores“Verfahrens gemessene Position des Koalitionsabkommens von Union und Liberalen liegt – selbst unter Berücksichtigung des geschätzten 95%-Konfidenzintervalls – nicht am Gravitätszentrum der schwarz-gelben Bundesregierung im hier aufgespannten wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Politikraum. Vielmehr zeigt die ermittelte Position des Koalitionsabkommens, dass sich auf der sozioökonomischen Links-Rechts-Dimension CDU und CSU so gut wie erwartet durchsetzen konnten, da sich die erwartete sozioökonomische Position des Koalitionsabkommens mit der ermittelten inhaltlichen Ausrichtung weitgehend deckt. Damit konnte sich die FDP auf dem für sie und ihre Anhängerschaft zentralen Politikfeld der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht überdurchschnittlich stark durchsetzen. Dies gelang den Liberalen jedoch in Fragen der Gesellschaftspolitik: hier nimmt das Koalitionsabkommen des Kabinetts Merkel/Westerwelle eine im Vergleich zum Erwartungswert signifikant progressivere Position ein, die deutlich näher an der Position der FDP als an derjenigen der Christdemokraten und Christsozialen liegt.
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Abbildung 3:
Erwartete und tatsächliche Policy-Position des schwarz-gelben Koalitionsabkommens 2009
Gesellschaftspolitik progressiv - konservativ 4 5 6 7 8 9 10 11 12
CDU/CSU
CDU/CSU-FDP "centre of gravity"
Koalitionsabkommen von CDU/CSU-FDP 2009 SPD FDP
Bündnis 90/Grüne
3
Linke
5
6
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Konsequenzen des neuen Fünfparteiensystems für Koalitionsstrategien und Politikgestaltung im deutschen Mehrebenensystem
Die Kombination „klassischer“ koalitionstheoretischer Ansätze, die sich auf die Prinzipien der Ämtergewinnung und programmatischen Nähe politischer Akteure beziehen, ermöglicht zusammen mit kontextuellen Erklärungsfaktoren ein detailliertes Bild des Koalitionsbildungsprozesses. Die ermittelten Wahrscheinlichkeiten für alle potentiell möglichen Koalitionen haben deutlich gemacht, dass bei einer Mehrheit für Union und FDP im 17. Deutschen Bundestag keine andere Koalition als ein Bündnis dieser Parteien zu erwarten gewesen wäre. Hätten CDU/CSU und Liberale jedoch eine Mehrheit verfehlt, dann wäre – wenn die Grünen eine Jamaika-Koalition nicht a priori abgelehnt hätten – ein solches Bündnis nicht im Bereich des Unmöglichen gewesen. Jedoch sollte bei Fragen der Regierungsbildung in Deutschland noch eine weitere, in den hier durchgeführten Analysen nicht einbezogene inhaltliche Dimension berücksichtigt werden, die den politischen Systemkonflikt widerspiegelt. Niedermayer (2010: 28) argumentiert, dass sich in dieser Konfliktdimension CDU/CSU, SPD, Grüne und
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FDP nicht nur von den rechtsextremen Parteien, sondern auch von der „Linken“ aufgrund ihres nach wie vor starken fundamentalistisch-kommunistisch ausgerichteten Flügels deutlich unterscheiden. Somit besteht auf dieser Konfliktlinie eine große Distanz zwischen Sozialdemokraten und Bündnisgrünen auf der einen und der „Linken“ auf der anderen Seite. Eine explizite Messung der Systemimmanenz der ehemaligen PDS – etwa auf Basis der Aussagen in ihrem Wahlprogramm – konnte hier aus methodischen Gründen nicht erfolgen. Es ist jedoch zu erwarten, dass die Einbeziehung dieser dritten inhaltlichen Dimension des deutschen Parteienwettbewerbs in die Analyse der Koalitionsbildung zu einem deutlichen Rückgang der Wahrscheinlichkeit einer „Linkskoalition“ geführt hätte. Letzteres impliziert, dass unter den möglichen Dreier-Bündnissen – Ampel, Jamaika und Linkskoalition – lediglich eine schwarz-gelb-grüne Koalition dominiert, was die Grünen – auch aufgrund anwachsender inhaltlicher Schmittmengen mit einer sich modernisierenden CDU – in eine Schlüsselrolle im bundesdeutschen Koalitionsspiel bringt (vgl. Niedermayer 2010: 29). Vor dem Hintergrund der Etablierung des neuen deutschen Fünfparteiensystems und der Bildung einer schwarz-gelb-grünen Koalition im Saarland im November 2009 sowie der häufig diskutierten Option eines Bündnisses aus CDU und Bündnisgrünen im Vorfeld der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen 2010 versprechen die Regierungsbildungsprozesse in den nächsten Jahren spannend zu werden. Des Weiteren konnte am Beispiel des „Political Heart“-Modells gezeigt werden, welche der im Parlament vertretenen Parteien der zentrale Akteur im Koalitionsspiel nach der Bundestagswahl vom September 2009 war. Das Modell wies die Unionsparteien als modifizierte „Kernpartei“ aus, was ihr theoretisch betrachtet ein hohes Durchsetzungsvermögen in den Verhandlungen mit dem von ihr präferierten Regierungspartner FDP hätte gewährleisten sollen. Die genauere Betrachtung der Ministerienverteilung hat jedoch deutlich gemacht, dass auf dieser Ebene vielmehr die Liberalen und nicht die CDU/CSU einen überdurchschnittlichen Anteil an Ministerien erringen konnten. Dies gilt jedoch nicht für die parlamentarischen Staatssekretäre: diese konnte die Union doppelt so oft wie die FDP in Form von „Policy-Kontrolleuren“ in von liberalen Politikern kontrollierte Ministerien entsenden. Diese auf einer ausschließlich quantitativen Betrachtungsweise beruhende Schlussfolgerung birgt Anreize für qualitative Studien zur Ämterverteilung im Oktober 2009 gebildeten Kabinett Merkel/Westerwelle. So bedarf es tiefgreifender Analysen, die etwa der Frage nachgehen sollten, warum die FDP das von ihr im Wahlkampf als abschaffungswürdig bezeichnete Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erhielt und die Freien Demokraten kein aus liberaler Perspektive bedeutenderes Amt – wie etwa das Ministerium für Bildung und Forschung – für sich reklamieren konnten. Im Hinblick auf die im Koalitionsabkommen festgehaltenen inhalt-
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lichen Kompromisse der Regierungskoalition konnten sich in den Koalitionsverhandlungen 2009 zwar die Liberalen in gesellschaftspolitischen Fragen verhältnismäßig stark mit ihren Vorstellungen durchsetzen, nicht jedoch im sozioökonomischen Bereich, wo die Position des Regierungsprogramms deutlich näher an der Position des CDU/CSU-Wahlprogramms liegt. Die hier herangezogenen Modelle und Verfahren können natürlich nicht alle Faktoren, die den Ausgang von Koalitionsbildungsprozessen beeinflussen, umfassen. Dazu zählen – neben der Relevanz einer dritten, den politischen Systemkonflikt widerspiegelnden Politikdimension (Niedermayer 2010) – etwa persönliche Animositäten zwischen zentralen Akteuren der Koalitionsverhandlungen, wie sie etwa zwischen dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) und dem grünen Oppositionsführer Tarek Al-Wazir bestanden und durchaus die Chancen auf eine Regierungsbeteiligung der Grünen an einem Kabinett mit der CDU unter Roland Koch nach den Wahlen 2008 minimiert haben (vgl. SchmittBeck/Faas 2009a: 19-21). Gleiches gilt für den Einfluss innerparteilicher Fraktionalisierung und Konflikte, die im deutschen Fall die Ministerienvergabe mit beeinflussen: So sollte der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) als der Arbeitnehmerorganisation der Union ein Bündnis mit der SPD aufgrund ähnlicher wirtschaftspolitischer Präferenzen lieber sein als mit der marktliberalen FDP. Umgekehrtes sollte für die Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU gelten (vgl. Debus/Bräuninger 2009). Es bleibt somit für die Analyse von Koalitionsbildungsprozessen noch viel Raum für weitere Studien, die die letztgenannten Faktoren in Theorie und Empirie mit einbeziehen. Literatur Austen-Smith, David/Banks, Jeffrey, 1988: Elections, Coalitions, and Legislative Outcomes. In: American Political Science Review 82, 405-422. Axelrod, Robert, 1970: Conflict of Interest. Chicago: Markham. Bäck, Hanna/Debus, Marc/Dumont, Patrick (2011): Who Gets What in Coalition Governments? Predictors of Portfolio Allocation in Parliamentary Democracies. In: European Journal of Political Research 50 (im Erscheinen). Bäck, Hanna/Dumont, Patrick, 2007: Combining Large-n and Small-n Strategies: The Way Forward in Coalition Research. In: West European Politics 30, 467-501. Bäck, Hanna/Persson, Thomas/Meier, Henk Erik (2009): Party Size and Portfolio Payoffs: A Study of the Mechanism Underlying the Proportionality Relationship in Coalition Governments. In: Journal of Legislative Studies 15, 10-34 Bräuninger, Thomas/Debus, Marc (2008): Der Einfluss von Koalitionsaussagen, programmatischen Standpunkten und der Bundespolitik auf die Regierungsbildung in den deutschen Ländern. In: Politische Vierteljahresschrift 49, 309-338.
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Bräuninger, Thomas/Debus, Marc (2009): Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, Jamaika oder die Ampel? Koalitionsbildungen in Bund und Ländern im Superwahljahr 2009. In: Zeitschrift für Politikberatung 2, 563-567. Browne, Eric C./Franklin, Mark N. (1973): Aspects of Coalition Payoffs in European Parliamentary Democracies. In: American Political Science Review 67, 453-469. Budge, Ian/Keman, Hans (1990): Parties and Democracy. Coalition Formation and Government Functioning in Twenty States. Oxford: Oxford University Press. Budge, Ian/Laver, Michael (1993): The Policy Basis of Government Coalitions: A Comparative Investigation. In: British Journal of Political Science 23, 499-519. De Swaan, Abram (1973): Coalition Theories and Cabinet Formation. Amsterdam: Elsevier. Debus, Marc (2007): Pre-Electoral Alliances, Coalition Rejections, and Multiparty Governments. Baden-Baden: Nomos. Debus, Marc (2008): Office and Policy Payoffs in Coalition Governments. In: Party Politics 14, 515-538. Debus, Marc (2010): Regierungsbildung, Ämterverteilung und Politikinhalte nach der Bundestagswahl 2009: Wer hat sich in der schwarz-gelben Koalition am besten durchgesetzt?. In: Zeitschrift für Politik 57, 389-412. Debus, Marc/Bräuninger, Thomas (2009): Intra-Party Politics and Coalition Bargaining in Germany. In: Giannetti, Daniela/Benoit, Kenneth (Hrsg.) (2009): Intra-Party Politics and Coalition Governments in Parliamentary Democracies. London, New York: Routledge, 121-145. Debus, Marc/Müller, Jochen (2010): Government formation after the 2009 federal election: The remake of the Christian-liberal coalition under new patterns of party competition. In: German Politics 20, 168-189. Decker, Frank (2009a): Koalitionsaussagen und Koalitionsbildung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 51/2009, 20-26. Decker, Frank (2009b): Koalitionsaussagen der Parteien vor Wahlen. Eine Forschungsskizze im Kontext des deutschen Regierungssystems. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40, 431-453. Decker, Frank/Best, Volker (2010): Looking for Mr. Right? A Comparative Analysis of Parties’ ‚Coalition Statements‘ prior to the Federal Elections of 2005 and 2009. In: German Politics 19, 164-182. Downs, Anthony (1957): An Economic Theory of Democracy. New York: Harper. Druckman, James N./Warwick, Paul V. (2005): The missing piece: Measuring portfolio salience in Western European parliamentary democracies. In: European Journal of Political Research 44, 17-42. Gamson, William (1961): A Theory of Coalition Formation. In: American Sociological Review 26, 373-382. Gross, Donald A.; Sigelman, Lee (1984): Comparing party systems: A multidimensional approach. In: Comparative Politics 16, 463-479 Hilmer, Richard (2010): Bundestagswahl 2009: Ein Wechsel auf Raten. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 41, 147-180.
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Marc Debus
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Im Schatten der Großen Koalition? Bundespolitik und Landtagswahlen unter Merkel I und Merkel II Im Schatten der Großen Koalition?
Florian Grotz und Silvia Bolgherini
1
Einleitung
In parlamentarischen Wettbewerbsdemokratien sind Große Koalitionen ein paradoxes Phänomen: Dabei sollen ausgerechnet diejenigen Parteien in einer Regierung kooperieren, die normalerweise um das Amt des Regierungschefs konkurrieren. Im internationalen Vergleich sind Große Koalitionen daher eine Ausnahmeerscheinung (Müller 2008). Das gilt grundsätzlich auch für die Bundesrepublik Deutschland. 2005 kam es erst zum zweiten Mal seit 1949 zu einer Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD. Diese Koalition war bekanntlich keine Wunschpartnerschaft. Vielmehr wurde sie notgedrungen gebildet, als nach der Bundestagswahl 2005 kein anderes Mehrheitsbündnis politisch möglich erschien, und unverzüglich wieder beendet, als das Wahlergebnis 2009 eine „kleine“ Mehrheitskoalition aus Union und FDP zuließ. Obwohl Große Koalitionen auf Bundesebene nur selten auftraten, wird über ihre Auswirkungen relativ viel und kontrovers diskutiert (zusammenfassend Egle/Zohlnhöfer 2010: 15ff.). So findet man häufig die These, dass sich Bundesregierungen aus Union und SPD aufgrund ihrer internen Konkurrenzsituation grundsätzlich nur auf den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ einigen können und so die Politikverdrossenheit befördern. Andererseits wird Großen Koalitionen auch eine außergewöhnliche Durchsetzungsfähigkeit attestiert: Da das deutsche Regierungssystem bei politischen Schlüsselfragen ohnehin die Zusammenarbeit beider Volksparteien in Bundestag und Bundesrat voraussetzt (Lehmbruch 2000), können – so die plausible Annahme – „große“ Probleme überhaupt nur von Großen Koalitionen gelöst werden. Aber gerade weil Union und SPD unter den Bedingungen föderaler Politikverflechtung immer kooperieren müssen,1 wäre es ebenso denkbar, dass Große Koalitionen überhaupt keine besonderen
1 Manfred G. Schmidt (2008) spricht daher von der Bundesrepublik Deutschland als „Staat der Großen Koalition“.
O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Auswirkungen haben, sondern im Prinzip genauso funktionieren wie „normale“ Bündniskonstellationen. Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, wie sich der bundesstaatliche Parteienwettbewerb während der bisherigen Regierungszeit von Kanzlerin Angela Merkel entwickelt hat. Konkret untersuchen wir, inwiefern sich die Große Koalition im Bund in den politischen Ergebnissen der entsprechenden Landtagswahlen niedergeschlagen hat. Die weiteren Ausführungen gliedern sich in vier Teile. Im folgenden Abschnitt wird zuerst gezeigt, welche generellen Zusammenhänge zwischen Bundespolitik und Landtagswahlen bestehen, und dann gefragt, wie sich diese Zusammenhänge unter einer Bundesregierung aus Union und SPD darstellen könnten (2). Die daraus resultierenden Hypothesen werden in den weiteren Abschnitten empirisch überprüft. Zunächst geht es dabei um die Landtagswahlen, die während der ersten Merkel-Regierung zwischen 2006 und 2009 stattfanden (3). Danach wird untersucht, ob diese Muster bei der nordrheinwestfälischen Landtagswahl, die während des ersten Amtsjahres der schwarzgelben Bundesregierung abgehalten wurde, ihre Fortsetzung fanden (4). Abschließend versuchen wir dann zu klären, inwiefern der Parteienwettbewerb unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel „im Schatten der Großen Koalition“ stand bzw. auch nach dem Regierungswechsel steht (5).
2
Bundespolitik und Landtagswahlen: theoretische Zusammenhänge
Wie in jedem Bundesstaat findet der Parteienwettbewerb in Deutschland auf mehreren Ebenen statt. Allerdings sind die entsprechenden Verbindungen zwischen föderaler und gliedstaatlicher Ebene enger als in den meisten anderen Bundesstaaten, und zwar aus zwei Gründen. Erstens weisen die Parteiensysteme von Bund und Ländern ein relativ hohes Ausmaß an struktureller Kongruenz auf (Haas/Jun/Niedermayer 2008). Auch wenn sich nach der Wiedervereinigung die regionalen politischen Kontexte stärker auseinanderentwickelt haben, so sind in den meisten Landtagen noch immer primär diejenigen Parteien vertreten, die sich auch im Bundestag in zumindest vergleichbarer Größenordnung finden (Schniewind 2008). Zweitens wird die vertikale Kopplung des Parteienwettbewerbs durch die eigentümliche Struktur des deutschen Föderalismus verstärkt. Im kooperativen Bundesstaat ist das machtvollste Instrument der Länder die Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung über den Bundesrat. Da der Bundesrat aber von den Länderregierungen besetzt wird, ist es immer von unmittelbarer bundespolitischer Bedeutung, welche Parteien in den Ländern die Parlamentswahlen gewinnen bzw. die dortigen Regierungen stellen.
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Vor diesem Hintergrund hat sich die deutschlandbezogene Politikwissenschaft ausführlich mit der bundespolitischen Durchdringung von Landtagswahlen befasst (vgl. u.a. Dinkel 1977; Decker/von Blumenthal 2002; Völkl/Schnapp/ Holtmann/Gabriel 2008). Entsprechende Effekte lassen sich grundsätzlich auf zwei Ebenen feststellen (Niedermayer 2008a): auf der Wählerebene und auf der Regierungsebene. Mit Blick auf die Wählerebene geht ein Großteil der Literatur von der Theorie der second-order elections aus, die ursprünglich für Europawahlen formuliert (Reif/Schmitt 1980) und auf Landtagswahlen übertragen wurde (Jeffery/Hough 2001). Grundlegend ist hier die Annahme, dass bei Landtagswahlen politisch „weniger auf dem Spiel steht“ als bei Bundestagswahlen. Diese „Zweitrangigkeit“ von Landtagswahlen schlägt sich auch in deren Ergebnissen nieder – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Erstens fällt die Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen grundsätzlich niedriger aus als auf Bundesebene. Zweitens sind die Wähler bei Landtagswahlen eher dazu geneigt, mit ihrer Stimme zu „experimentieren“. Dies führt dazu, dass „andere“, nicht-etablierte Parteien tendenziell besser abschneiden als auf Bundesebene. Drittens stehen Landtagswahlen auch insofern im Schatten der Bundespolitik, als sie den Wählern eine gute Gelegenheit bieten, um den in Berlin regierenden Parteien einen „Denkzettel“ zu verpassen. Solche parteipolitischen „Denkzettel“ sind bei den Landtagswahlen besonders wahrscheinlich, die in der Mitte der föderalen Wahlperiode stattfinden, weil man davon ausgeht, dass dann die Beliebtheit einer Bundesregierung ihren Tiefpunkt erreicht hat (Dinkel 1977); in Anlehnung an die US-amerikanischen Kongresswahlen, die mitten in der Amtsperiode des Präsidenten stattfinden, spricht man dabei auch vom sog. mid-term effect. Seit der Wiedervereinigung ist dieser wahlzyklische Effekt in Deutschland nicht mehr so deutlich ausgeprägt (Hough/Jeffery 2006). Das heißt aber nicht, dass die Bundespolitik für den Ausgang der Landtagswahlen bedeutungslos wäre. Im Gegenteil: Auch nach 1990 hat die Beliebtheit der Regierungsparteien im Bund deren Wahlerfolg in den Ländern nachhaltig beeinflusst (Burkhart 2005). Der Zusammenhang zwischen Bundespolitik und Landtagswahlen findet auch auf Regierungsebene einen charakteristischen Niederschlag. Zunächst lässt sich empirisch feststellen, dass die Koalitionsbildung nach Landtagswahlen im Wesentlichen analog zur Bundesebene erfolgt (Debus 2008). Dieser Befund erklärt sich zum einen aus der bereits angesprochenen strukturellen Symmetrie des Parteienwettbewerbs innerhalb und zwischen den politisch-administrativen Ebenen. Zum anderen veranlasst die institutionelle Struktur des deutschen Föderalismus die politischen Parteien, kongruente Regierungsbündnisse in Bund und Ländern anzustreben (Pappi/Becker/Herzog 2005): Wie erwähnt, hat jede Bundesregierung ein vitales Interesse an einer parteipolitisch verlässlichen Mehrheit
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im Bundesrat. Diese ist aber nur dann gewährleistet, wenn es eine hinreichende Anzahl von Länderregierungen gibt, die sich ausschließlich aus den Regierungsparteien im Bund zusammensetzen. Jenseits inhaltlicher Passfähigkeit gibt es für Regierungsparteien im Bund also einen zusätzlichen institutionellen Anreiz, auch auf Länderebene miteinander zu koalieren – sofern es die politischen Mehrheitsverhältnisse erlauben. Wenn freilich die Bundesregierung in Landtagswahlen an Unterstützung verliert (was im Laufe einer Legislaturperiode häufig passiert; siehe oben), schwindet auch die Möglichkeit, gleichförmige Regierungsbündnisse auf Länderebene zu bilden. Folglich schmilzt eine anfängliche parteipolitische Mehrheit der Bundesregierung im Bundesrat dahin, und es kommt zu gegenläufigen Mehrheiten zwischen Bundestag und Länderkammer. Diese strukturell angelegte Tendenz zu „divided government“ (Sturm 2001) spiegelt sich auch in der Empirie wider: Seit Ende der 1970er Jahre gab es immer wieder längere Phasen gegenläufiger Mehrheitsverhältnisse; seit Mitte der 1990er Jahre sind sie eher die Regel als die Ausnahme (Wagschal/Grasl 2004: 734ff.). Inwieweit dürften sich nun die angesprochenen Zusammenhänge verändern, wenn im Bund eine Große Koalition regiert? Auf Wählerebene würden wir erwarten, dass sich die drei angesprochenen second-order-Effekte insgesamt verstärken. (1) Wenn sowohl die Union als auch die SPD an der Bundesregierung beteiligt sind, dürften die Wahlkampagnen auf Länderebene kaum von scharfer inhaltlicher Auseinandersetzung zwischen den politischen Lagern geprägt sein, was die Mobilisierungskraft schwächt und damit die Wahlbeteiligung deutlich negativ beeinflusst. Selbstverständlich handelt es sich bei sinkender Wahlbeteiligung keineswegs „um ein neues Phänomen, sondern um einen Trend, der – von wenigen Ausnahmen abgesehen – seit Jahren anhält“ (Hilmer 2008: 102). Die Gründe für diesen Partizipationsrückgang sind vielfältig: Sie reichen von einer nachlassenden Bindungskraft der Parteien bis zu einem politisch-kulturell veränderten Verständnis des Urnengangs, der „nicht mehr als ‚Bürgerpflicht‘ empfunden, sondern unter pragmatischen Kosten-Nutzen-Kalkülen abgewogen“ (ebd.: 104) wird. Gerade vor diesem Hintergrund dürfte die demobilisierende Wirkung der Großen Koalition auf Bundesebene zu einer signifikanten Verstärkung des Wählerrückgangs auf Länderebene beitragen.2 (2) Wenn beide Volksparteien an der Bundesregierung beteiligt sind und Landtagswahlen als Gelegenheit für bundespolitische „Denkzettel“ genutzt werden, ist mit beträchtlichen Stimmenverlusten für Union und SPD zu rechnen. Dies gilt besonders für die Landtagswah2 Der Kontext einer generell rückläufigen Wahlbeteiligung stellt eine entscheidende Voraussetzung für die vermutete Auswirkung der Großen Koalition (2005-2009) dar. Dies lässt sich auch daraus ersehen, dass die Partizipationsraten bei den Landtagswahlen unter der Regierung Kiesinger (19661969) – in einem gänzlich anderen parteipolitischen und politisch-kulturellen Umfeld – nicht zurückgingen, sondern relativ konstant blieben (Ritter/Niehuss 1991: 157ff.).
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len in der Mitte der Bundestagswahlperiode, bei denen solche „Denkzettel“ am deutlichsten ausfallen sollten. (3) Von diesem veränderten Wählerverhalten dürften nicht nur die „etablierten“ kleinen Parteien – also FDP, Grüne und Die Linke – profitieren; vielmehr könnten angesichts der unzureichenden politischen Unterscheidbarkeit von Union und SPD auch neue bzw. extremistische Parteien besonders gut abschneiden. Letztere Annahme erscheint gerade vor dem Hintergrund der ersten Großen Koalition im Bund (1966-1969) plausibel: Damals kamen die Stimmenverluste von Union und SPD vor allem der rechtsextremistischen NPD zugute, der damals der Einzug in etliche Länderparlamente gelang (Hilmer 2008: 93f.). Blickt man auf die Regierungsebene, so legt die bisherige Argumentation nahe, dass unter einer Großen Koalition im Bund auch vermehrt Große Koalitionen nach Landtagswahlen gebildet werden. Gerade wenn Union und SPD infolge von second-order-Effekten größere Stimmenverluste verzeichnen, dürften sie je für sich zu schwach sein, um eine (kleine) Mehrheitskoalition zu bilden. Allerdings sind sie vermutlich noch immer stark genug, um eine gemeinsame Landesregierung zu bilden. Dies würde auch durch den institutionellen Anreiz befördert, „bundesratskompatible“ Bündniskonstellationen zu formieren. Im Ergebnis würde dadurch die Bundesratsmehrheit der Großen Koalition – anders als bei „kleinen“ Regierungsbündnissen – nicht abschmelzen, sondern – auch und gerade bei rückgängiger Wählerunterstützung – erhalten bleiben bzw. sogar noch ausgebaut. Demnach dürfte eine Große Koalition im Bund also über eine sichere Mehrheit in beiden Kammern verfügen und so zumindest formal jene „Regierbarkeit“ gewährleisten, die von ihren Befürwortern gerne betont wird. Soweit die theoretischen Annahmen, wenn man der top-down-Logik einer bundespolitischen Durchdringung von Landtagswahlen folgt. Allerdings könnte es auch sein, dass keine länderübergreifenden Muster erkennbar werden. So argumentieren Hough und Jeffery (2004), dass aufgrund der gestiegenen territorialen Heterogenität im vereinigten Deutschland eine zunehmende Regionalisierung des Parteienwettbewerbs zu beobachten ist. Wenn man diesem Argument folgt, dann werden bei Landtagwahlen die regionalen politischen Kontexte immer bedeutsamer für das Wählerverhalten, was wiederum tendenziell gegen uniforme Auswirkungen der Bundespolitik auch unter einer Großen Koalition spräche. Zeigten die Landtagswahlergebnisse nun unter der Regierung Merkel I einheitliche Muster? Wenn ja, deckten sie sich mit den theoretischen Erwartungen, wie wir sie soeben für eine Große Koalition entwickelt haben? Und inwieweit setzten sich diese Muster nach dem Regierungswechsel zur schwarz-gelben Koalition fort?
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Bereichsspezifische Auswirkungen der Großen Koalition: Landtagswahlen unter Merkel I (2006–2009)
Betrachten wir zunächst die Landtagswahlen während der ersten Merkel-Regierung. Die Ausgangssituation erweist sich hier für eine empirische Überprüfung der obigen Hypothesen als ausgesprochen günstig, besonders wenn man sie mit der ersten Großen Koalition im Bund vergleicht. Damals – von Dezember 1966 bis September 1969 – fanden in lediglich sechs von zehn westdeutschen Ländern Parlamentswahlen statt.3 Zwischen 2006 und 2009 wurde dagegen in allen Ländern – außer in Nordrhein-Westfalen – gewählt; in Hessen durften die Bürger sogar zweimal an die Wahlurne. Damit stehen insgesamt 16 Landtagswahlen zur Verfügung, die sich nach ihrer zeitlichen Abfolge in drei nahezu gleichgroße Gruppen aufteilen lassen (Tabelle 1). Tabelle 1: Landtagswahlen während der ersten Merkel-Regierung (2006-2009) Phase Anfangsphase
Land Baden-Württemberg Rheinland-Pfalz Sachsen-Anhalt Berlin Mecklenburg-Vorpommern Mittelphase Bremen Hessen (I) Niedersachsen Hamburg Bayern Hessen (II) Endphase Saarland Sachsen Thüringen Brandenburg Schleswig-Holstein Quelle: eigene Darstellung nach der Internetseite des Bundesrates.
Datum 26.03.2006 26.03.2006 26.03.2006 17.09.2006 17.09.2006 13.05.2007 27.01.2008 27.01.2008 23.02.2008 28.09.2008 18.01.2009 30.08.2009 30.08.2009 30.08.2009 27.09.2009 27.09.2009
Die ersten fünf Landtagswahlen fanden innerhalb des ersten Amtsjahres der Großen Koalition statt (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern). Die nächsten sechs Wahlen wurden in 3 Dazu zählten Baden-Württemberg, Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein sowie West-Berlin (vgl. Ritter/Niehuss 1991).
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der „Mittelphase“ abgehalten (Bremen, Hessen, Niedersachsen, Hamburg, Bayern und erneut Hessen), während fünf Landtage unmittelbar vor (Saarland, Sachsen, Thüringen) bzw. zeitgleich mit der Bundestagswahl 2009 (Brandenburg, Schleswig-Holstein) erneuert wurden. Insgesamt können wir so die Auswirkungen der Großen Koalition nicht nur (nahezu) flächendeckend analysieren, sondern auch überprüfen, ob die Effekte im Verlauf des Wahlzyklus unterschiedlich ausfielen. 3.1 Wählerebene Um die Auswirkungen der Großen Koalition auf der Wählerebene zu identifizieren, dokumentiert Tabelle 2 die Ergebnisse der 16 Landtagswahlen im Überblick.4 Angegeben sind dabei die Veränderungen zu den jeweils vorhergehenden Landtagswahlen (in Prozentpunkten) für jene drei Indikatoren, die mit Blick auf die zuvor entwickelten Hypothesen besonders interessieren: die Wahlbeteiligung, die aggregierten Stimmenanteile von Union und SPD (Volksparteien) sowie die Stimmenanteile der nicht im Bundestag vertretenen Parteien („Andere“). Obwohl die Varianz zwischen den einzelnen Ländern auf den ersten Blick beträchtlich erscheint, lassen sich doch einige durchgängige Tendenzen erkennen. Erstens war in den meisten Fällen ein deutlicher Rückgang der Wahlbeteiligung zu verzeichnen. Bei 11 der 16 Landtagswahlen erreichten die Partizipationsraten historische Tiefststände. Lediglich in Bayern, Thüringen, Brandenburg, Schleswig-Holstein und im Saarland war schon zuvor bei Landtagswahlen ein geringerer Teil der Bürgerschaft zur Urne gegangen. Die stärksten Einbrüche gab es in der Anfangsphase der Großen Koalition, wo der Rückgang überwiegend im zweistelligen Prozentpunktebereich lag. In Sachsen-Anhalt wurde dabei mit 44,4% die geringste Beteiligungsrate bei bundesdeutschen Landtagswahlen überhaupt gemessen. Gegen Ende der ersten Merkel-Regierung hellte sich das Bild zwar etwas auf, doch waren die besonders deutlichen Partizipationszuwächse im Saarland, in Brandenburg und Schleswig-Holstein im Vergleich zu den jeweils vorhergehenden Landtagswahlen nicht auf eine positivere Bewertung der Großen Koalition im Bund bzw. eine „Repolarisierung“ zwischen den beiden Volksparteien, sondern hauptsächlich auf kontextbedingte Sondereffekte zurückzuführen: Während die Wahlen im Saarland durch die Präsenz des ehemaligen Ministerpräsidenten und nun Spitzenkandidaten der Linken Oskar Lafontaine einen Mobilisierungsschub erfuhren (Winkler 2010), wurden die Landtage in Brandenburg und Schleswig-Holstein – anders als zuvor – am selben Tag wie 4
Für eine Kurzdarstellung der einzelnen Wahlergebnisse vgl. Bolgherini/Grotz (2010: 55ff.).
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der Bundestag neugewählt, was dort die Wahlteilnahme positiv beeinflusste. Zieht man als Vergleichspunkt nicht die Beteiligung bei der letzten Landtagswahl, sondern die durchschnittlichen Partizipationsraten seit 1990 heran, so lagen alle Länder – mit Ausnahme der Sonderfälle Brandenburg und SchleswigHolstein – signifikant unterhalb dieser Durchschnittswerte (Tabelle 2).5 Insgesamt stützen diese Befunde also die Annahme, dass die Große Koalition im Bund – bei allen regionalen Besonderheiten – die allgemein rückläufige Partizipationsbereitschaft bei Landtagswahlen tendenziell verstärkt hat. Tabelle 2: Landtagswahlen unter der ersten Merkel-Regierung (2006-2009): ausgewählte Ergebnisse auf Wählerebene Land Wahlbeteiligunga Volksparteienb „Andere“c Baden-Württemberg -9,2 (-13,3) -9,1 -1,0 Rheinland-Pfalz -3,9 (-10,7) -1,4 -0,6 Sachsen-Anhalt -12,1 (-17,6) +0,3 +1,0 Berlin -10,1 (-12,8) -1,4 +6,0 Mecklenburg-11,5 (-12,8) -12,0 +6,9 Vorpommern Mittelphase Bremen -3,7 (-8,0) -9,9 -2,6 (2007-2009) Niedersachsen -9,9 (-15,2) -8,9 +1,9 Hessen (I) -0,3 (-2,7) -4,4 -0,6 Hamburg -5,1 (-5,5) -1,0 -3,9 Bayern +1,0 (-7,1) -18,3 +6,9 Hessen (II) -3,3 (-5,5) -12,6 -0,6 Endphase Saarland +12,1 (-5,1) -19,3 -4,0 (2009) Sachsen -7,2 (-10,8) -0,3 -2,0 Thüringen +2,4 (-8,8) -7,8 +0,6 Brandenburg +11,1 (+9,0) +1,6 -6,7 Schleswig-Holstein +7,0 (+3,6) -22,0 +2,3 Durchschnittswert -2,7 (-7,7) -7,9 +0,2 Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der amtlichen Wahlergebnisse. Anmerkungen: a Die Tabelle dokumentiert die Wahlbeteiligung und die Stimmenanteile der jeweiligen Parteien bei den Landtagswahlen als Prozentpunktdifferenzen (PPD) zur jeweils letzten Landtagswahl. Bei der Wahlbeteiligung sind zusätzlich die PPD zu den entsprechenden Durchschnittswerten seit der Wiedervereinigung (1990-2005) in Klammern angegeben. b Aggregierte PPD der Stimmenanteile von CDU/CSU und SPD. c Aggregierte PPD der Stimmenanteile der nicht im Bundestag vertretenen Parteien. Phase Anfangsphase (2006)
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In einem Regressionsmodell ist die Veränderung der Wahlbeteiligung (als abhängige Variable) in den 16 Fällen auf 95%-Niveau signifikant, wenn für Gleichzeitigkeit mit den Bundestagswahlen (Fälle Brandenburg und Schleswig-Holstein) kontrolliert wird.
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Zweitens zeigt auch die Stimmenentwicklung der Volksparteien in die vermutete Richtung. Während der Amtszeit der ersten Merkel-Regierung büßten Union und SPD in 14 von 16 Landtagswahlen aggregierte Stimmenanteile ein; in fünf Fällen betrug der Verlust mehr als zehn Prozentpunkte (PP), in Schleswig-Holstein lag er sogar bei 22 PP. Bei der Betrachtung der einzelnen Wahlergebnisse stellt man zwar fest, dass in den meisten Fällen nur eine der beiden Volksparteien deutlich verlor. Bezeichnend ist jedoch, dass die jeweils andere diesen Verlust nicht kompensieren konnte, sondern – wenn überhaupt – nur sehr wenige Stimmenanteile hinzugewann. Einzige Ausnahme war die erste Landtagswahl in Hessen vom Januar 2008, in der die Sozialdemokraten unter Andrea Ypsilanti im Vergleich zur letzten Wahl beträchtlich zulegen (um 7,6 PP auf 36,7%) und so mit der stark geschwächten CDU (-12,0 PP; 36,8%) nahezu gleichauf ziehen konnten (Schmitt-Beck/Faas 2009). Nach der missglückten Bildung eines Linksbündnisses stürzte die hessische SPD bei vorgezogenen Neuwahlen allerdings umso deutlicher ab (-13,0 PP; 23,7%), während die CDU fast unverändert blieb (+0,4 PP; 37,2%). Einzig in Sachsen-Anhalt und Brandenburg gewannen CDU und SPD jeweils leicht an Stimmenanteilen hinzu; allerdings befinden sich dort beide Parteien ohnehin auf relativ geringem Niveau. Insgesamt verloren also die Parteien der Großen Koalition signifikant an Wähleranteilen,6 und zwar in allen Phasen der Legislaturperiode. Eine Konzentration auf die Mittelphase der Bundestagsperiode (mid-term-Effekt) war hier nicht erkennbar. Bei der Überprüfung unserer dritten Annahme zeigt sich ein interessanter Befund. Anders als vermutet, gingen die Stimmenverluste der Volksparteien nicht primär auf das Konto der „anderen“ – nicht-etablierten bzw. extremistischen – Parteien. In Einzelfällen verzeichneten zwar auch nicht im Bundestag vertretene Parteien beträchtliche Zugewinne, wie die NPD in Mecklenburg-Vorpommern 2006 (+6,5 PP; 7,3%) oder die Freien Wähler in Bayern 2008 (+6,2 PP; 10,2%). In neun von 16 Wahlen sank jedoch der Stimmenanteil der „Anderen“, und der entsprechende Mittelwert lag nur knapp über null.7 Unbenommen struktureller Differenzen zwischen den regionalen Parteiensystemen8 bleibt also festzustellen, dass vor allem die kleinen Bundestagsparteien von der Schwäche der großen profitierten, allen voran FDP und Die Linke.
6 In einem Regressionsmodell ist der Rückgang der Volksparteien (als abhängige Variable) in den 16 Fällen auf 95%-Niveau signifikant. 7 Auch dieser Befund – keine Gewinne der „Anderen“ – ist in einem Regressionsmodell auf 95%Niveau signifikant. 8 Die obige Argumentation sollte nicht verdecken, dass in einigen Ländern rechtsextremistische Parteien – wie die NPD in Sachsen oder die DVU in Bremen – im Parlament blieben, obwohl dort die Stimmenanteile der „Anderen“ zurückgingen. In Ländern wie Hessen oder Niedersachsen dagegen blieben die Stimmenanteile der „Anderen“ auf konstant niedrigem Niveau.
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3.2 Regierungsebene Zeigten sich unter der Großen Koalition im Bund auch auf der Regierungsebene charakteristisch veränderte Muster? Dazu dokumentiert Tabelle 3 die parteipolitische Zusammensetzung der Länderregierungen vor und nach den jeweiligen Wahlen. Im Vergleich zur Wählerebene verkleinert sich die Fallzahl dadurch, dass vier der 16 neugewählten Regierungen aufgrund des späten Wahltermins erst nach der Bundestagswahl 2009 gebildet wurden und damit nicht mehr unter dem „Rubrum“ der Großen Koalition standen. Diese letzten post-elektoralen Landesregierungen – in Thüringen, Brandenburg, Schleswig-Holstein und im Saarland – sind daher in der Tabelle kursiv gesetzt. Oben sind wir von der Annahme ausgegangen, dass unter einer Großen Koalition im Bund im Verlauf einer Legislaturperiode auch vermehrt Große Koalitionen auf Länderebene gebildet werden. Zu Beginn der ersten Merkel-Regierung schien sich in der Tat eine entsprechende Tendenz abzuzeichnen, als 2006 in Sachsen-Anhalt und dann auch in Mecklenburg-Vorpommern jeweils ein Bündnis aus CDU und SPD eine Schwarz-Gelbe bzw. Rot-Rote Vorgängerregierung ablöste. Die Motive für die Bildung dieser Großen Koalitionen decken sich insofern mit unseren Vorüberlegungen, als die bisherigen „großen“ Regierungsparteien – die CDU in Sachsen-Anhalt und die SPD in Mecklenburg-Vorpommern – deutliche Stimmenverluste verzeichneten. Unter diesen Vorzeichen erschien eine Schwarz-Rote Koalition – ähnlich wie im Bund 2005 – als „letzter Ausweg“: In Sachsen-Anhalt galt die Linkspartei/PDS als nicht-koalitionsfähig (Detterbeck 2008), und in Mecklenburg-Vorpommern verfügte Rot-Rot nach der Wahl nur noch über die denkbar knappste Parlamentsmehrheit von einer Stimme, so dass sich die SPD letztlich für die „sicherere“ Bündnisoption mit der Union entschied (Werz/Schoon 2008). Nach 2006 kam jedoch nur noch eine einzige schwarz-rote Landesregierung zustande – und diese erst nach der Bundestagswahl 2009 (Thüringen). Ansonsten wurden auch unter der ersten Merkel-Regierung die „klassischen“ Flügelkoalitionen gebildet, wann immer es arithmetisch möglich war: in den meisten Fällen schwarz-gelb (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen II, Niedersachsen, Sachsen), aber auch einmal rot-grün (Bremen). In Bremen und Sachsen lösten diese Regierungen sogar Große Koalitionen ab (die rein arithmetisch hätten fortbestehen können). Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass es selbst in den Fällen, in denen keine Flügelkoalition möglich war, nicht immer automatisch zu einem Regierungsbündnis aus CDU und SPD kam. Vielmehr wurden auch andere, zum Teil neuartige Koalitionsformate gebildet: Schwarz-Grün in Hamburg bzw. – nach den Bundestagswahl 2009 – Schwarz-Gelb-Grün („Jamaika“) im Saarland und Rot-Rot in Brandenburg.
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Tabelle 3: Landtagswahlen unter der ersten Merkel-Regierung (2006-2009): Regierungsparteien und politische Zusammensetzung des Bundesrates Phase
Land
Regierungspar- RegierungsparteiBundesratsBundesratsen nach der Wahl teien vor der stimmen GK stimmen GK Wahl (abs. Differenz) (in %) AnfangsBW CDU-FDP CDU-FDP 0 52,2 phase RP SPD-FDP SPD +4 58,0 ST CDU-FDP CDU-SPD +4 63,8 BE SPD-Linke SPD-Linke 0 63,8 MV SPD-Linke SPD-CDU +3 68,1 Mittelphase HB CDU-SPD SPD-Grüne -3 63,8 NS CDU-FDP CDU-FDP 0 63,8 HE (I) CDU CDU 0 63,8 HH CDU CDU-Grüne -3 59,4 BY CSU CSU-FDP -6 50,7 HE (II) CDU CDU-FDP -5 43,8 Endphase SL CDU CDU-FDP-Grüne -3 33,3 SN CDU-SPD CDU-FDP -4 37,6 TH CDU CDU-SPD 0 33,3 BB SPD-CDU SPD-Linke -4 27,5 SH CDU-SPD CDU-FDP -4 21,7 Quelle: eigene Berechnungen. Anmerkungen: Die Tabelle dokumentiert die parteipolitische Zusammensetzung der Landesregierungen vor und nach den jeweiligen Landtagswahlen. Kursiv gesetzt sind diejenigen Regierungskoalitionen, die erst nach der Bundestagswahl 2009 gebildet wurden. Die beiden letzten Spalten informieren über die entsprechenden Veränderungen der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates mit Blick auf die amtierende Große Koalition (GK) im Bundestag. Demnach werden Bundesratsstimmen als „positiv“ gezählt, wenn die Landesregierung ausschließlich von Union und/oder SPD gebildet wird. Die Regierungsbeteiligung dritter Parteien wird dagegen (im Einklang mit den Abstimmungsregeln im Bundesrat bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen) als „Opposition“ gezählt. Bezugspunkt für die Prozentangaben der letzten Spalte sind die insgesamt 69 Bundesratsstimmen, von denen die Regierungsparteien bei Amtsantritt der Großen Koalition 36 innehatten.
Entgegen unserer Ausgangsüberlegung nahm die parteipolitische Kompatibilität zwischen Landesregierungen und Bundesregierung also nur in der Anfangszeit der Großen Koalition zu, um dann ab der Mittelphase nahezu durchgängig abzunehmen. Diese Entwicklung schlug sich auch unmittelbar in der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates nieder (Tabelle 3). Nach ihrem Amtsantritt hatte die Regierung Merkel I eine wenn auch knappe, so doch absolute Mehrheit in der Länderkammer (36 von 69 Stimmen; 52,2%), die sie innerhalb des ersten Jahres um elf Stimmen auf eine komfortable Zwei-Drittel-Mehrheit (68,1%)
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ausbauen konnte. Dann aber sank dieser Wert kontinuierlich und landete am Ende, als in Sachsen die letzte Landesregierung vor der Bundestagswahl gebildet wurde, bei etwas über einem Drittel (37,6%). Noch drastischer wäre es gekommen, hätten Union und SPD nach 2009 im Bund weiterregiert: Unter dieser Konstellation hätte die Regierung Merkel II nur noch über etwas mehr als ein Fünftel der Bundesratsstimmen verfügt (15 von 69; 21,7%). Die Große Koalition hatte also keine größere Mehrheit in der Länderkammer, sondern war – genauso wie „normale“ Bundesregierungen – im Verlauf ihrer Amtszeit mit dem Strukturproblem gegenläufiger Mehrheiten konfrontiert.
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(Dis-)Kontinuität nach dem Ende der Großen Koalition? Die erste Landtagswahl unter Merkel II
Die erste Landtagswahl nach dem Amtsantritt der Regierung Merkel II fand am 7. Mai 2010 in Nordrhein-Westfalen statt. Der politische Kontext dieser Wahl war durch einige Besonderheiten gekennzeichnet. Aus Sicht der Bundesregierung galt die erhoffte elektorale Bestätigung der CDU/FDP-Regierung unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers nicht nur als erster „Stimmungstest“ nach der Bundestagswahl, vielmehr drohte durch einen Regierungswechsel in NRW auch die Bundesratsmehrheit für Schwarz-Gelb verloren zu gehen. Von diesem Szenario war bereits die Regierungsbildung auf Bundesebene im Herbst 2009 überschattet. Der Koalitionsvertrag enthielt deswegen viele „Ankündigungspolitiken“ (Sturm 2010), und auch in den folgenden Monaten hielt sich die zweite MerkelRegierung mit einschneidenden Reformvorhaben bewusst zurück. Dies konnte gleichwohl nicht verhindern, dass im Vorfeld der NRW-Wahl eine deutliche Bevölkerungsmehrheit mit der schwarz-gelben Bundesregierung unzufrieden war: Der entsprechende Wert (62% Unzufrieden) lag sogar noch leicht über demjenigen, der für die rot-grüne Bundesregierung vor der letzten Landtagswahl 2005 ermittelt wurde (57% Unzufrieden; Daten zitiert nach Neu 2010: 3), als die SPD eine herbe Niederlage in ihrem „Stammland“ erfahren musste und die CDU einen deutlichen Sieg errang. Die Regierung Rüttgers konnte also nicht auf einen Anfangsbonus der neuen Bundesregierung bauen, sondern hatte es eher mit „bundespolitischem Gegenwind“ zu tun. Auch die Ausgangslage der Oppositionsparteien war insofern von den Ergebnissen der Bundestagswahl 2009 geprägt, als sich die SPD in Meinungsumfragen von ihrem historischen „Einbruch“ (23,0%) noch nicht erholt hatte, während die Grünen ihr relativ hohes Zustimmungsniveau halten konnten und Die Linke um die 5%-Marke oszillierte – ein bei Landtagswahlen in NRW nie zuvor erreichter Wert (vgl. ausführlich Neu 2010: 4ff.). Im Wahlkampf versuchte dann
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die SPD sowohl mit bundes- als auch mit landespolitischen Themen eine klare Gegenposition zur Union aufzubauen, so dass die Konturen der beiden parteipolitischen Lager erkennbar wurden. Vor diesem Hintergrund konnte man weder annehmen, dass sich die Struktur des Parteienwettbewerbs zum Status quo ante, d.h. vor die Bildung der Großen Koalition im Bund, zurückbewegen würde, noch war eine vollständige Kontinuität zur ersten Merkel-Regierung zu erwarten. Die in Tabelle 4 zusammengestellten Ergebnisse der nordrhein-westfälischen Landtagswahl vermitteln in der Tat ein sehr facettenreiches Bild. Beginnen wir wieder mit der Wählerebene. Bei der Höhe der Wahlbeteiligung zeigt sich im Zeitvergleich sowohl Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten – je nachdem, welche Referenzpunkte man heranzieht. Mit 59,3% wurde eine geringere Partizipationsrate im Vergleich zu 2005 (-3,7 PP), aber auch zum mittelfristigen Durchschnittswert (1990-2005; -4,7 PP) erreicht. Der bisherige Tiefststand vom Jahr 2000 wurde jedoch nicht unterschritten (56,7%). Die Partizipationsrate fügte sich mithin in den mittelfristigen Trend sinkender Wahlbeteiligung ein, erlebte aber keinen Einbruch, wie er bei den meisten Landtagswahlen in der Anfangsphase der Großen Koalition zu verzeichnen war (Tabelle 2). Tabelle 4: Ergebnisse der nordrhein-westfälischen Landtagswahl vom 9. Mai 2010 Stimmenanteile (in %)a
ǻ zu 2005 (1990-2005; Mandate abs. (in %) in PP) Wahlbeteiligung 59,3 -3,7 (-4,7) CDU 34,6 -10,3 (-4,5) 67 (37,0) SPD 34,5 -2,6 (-9,5) 67 (37,0) Grüne 12,1 +5,9 (+5,0) 23 (12,7) FDP 6,7 +0,6 (+0,2) 13 (7,2) Die Linke 5,6 +4,7 (+4,6)b 11 (6,1) Andere 6,5 +1,7 (+4,2) 181 (100,0) Quelle: eigene Berechnungen auf der Datenbasis des Landesamtes für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen. Anmerkungen: a Angaben für Wahlbeteiligung in Prozent der registrierten Wähler, für die Parteien in Prozent der jeweiligen Zweitstimmen. b Der in Klammern angegebene Durchschnittswert für Die Linke bezieht sich nur auf den Zeitraum von 2000 bis 2005.
Auch das Abschneiden der Volksparteien ist – je nach Vergleichspunkt – differenziert zu beurteilen. Blickt man auf die vorhergehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, so sind deutliche Stimmenverluste für die CDU und die SPD unübersehbar. Gleichwohl muss auch hier nach Größenordnungen und zeitlicher Perspektive unterschieden werden: Während die Christdemokraten vor
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allem im Vergleich zu ihrem „historischen“ Wahlerfolg von 2005 einbrachen (-10,3 PP), fügten sich die kurzfristig geringen Verluste der Sozialdemokraten (-2,6 PP) in ein massiven Abschmelzungstrend ihrer Wählerschaft ein, der bereits Mitte der 1980er Jahre begann (Kranenpohl 2008). Im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 hingegen scheinen sich beide Volksparteien konsolidiert zu haben – allerdings wiederum in je spezifischer Weise: Während die Union gegenüber der Bundestagswahl nur leicht zulegen konnte (+0,8 PP auf 34,6%), landete die SPD zwar nach absoluten Zahlen noch knapp hinter der Union (34,5%), aber mit einem beträchtlichen Zugewinn gegenüber 2009 (+11,5 PP). Nur vor diesem Hintergrund ist die öffentliche Erstreaktion der sozialdemokratischen Spitzenkandidatin Hannelore Kraft auf das Wahlergebnis zu verstehen: „Die SPD ist wieder da“ (zitiert nach: Der Tagesspiegel vom 09.05.2010). Die kleineren Bundestagsparteien schnitten entsprechend ihrer Rolle als Regierungs- bzw. Oppositionskraft unterschiedlich ab. Als Regierungspartei in Bund und Land musste die FDP ihren „Höhenflug“ beenden, wobei sie im Vergleich zur Bundestagswahl regelrecht einbrach (-7,9 PP), allerdings auf ein Niveau, das ihren kurz- wie mittelfristigen Stimmenanteilen bei Landtagswahlen fast genau entsprach (+0,6 PP bzw. +0,2 PP). Die Grünen setzten hingegen ihre Erfolgsserie ungebrochen fort, indem sie gegenüber der Bundestagswahl leicht (+1,4 PP) und gegenüber der letzten Landtagswahl deutlich zulegten (+5,9 PP). Die Linke schließlich verzeichnete ein weit schwächeres Ergebnis als bei der Bundestagswahl (-6,3 PP); gleichzeitig war es das mit Abstand beste, das die Partei jemals bei Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen erreicht hatte (+4,6 PP). Schließlich bleibt festzuhalten, dass auch die „anderen“ Parteien von den Stimmenverlusten der beiden Volksparteien profitierten. Allerdings fielen ihre Gewinne im Vergleich zur letzten Landtagswahl relativ moderat aus, sowohl insgesamt (+1,7 PP) als auch mit Blick auf einzelne Parteien (z.B. Piraten: +1,6 PP; NPD: -0,2 PP). Während sich auf Wählerebene ein differenziertes Nebeneinander von Stabilität und Wandel zeigte, überwog auf Regierungsebene insofern Kontinuität, als die traditionellen Segmentierungslinien zwischen den beiden politischen Lagern einerseits und innerhalb des linken Lagers andererseits strukturprägend blieben. Vor diesem Hintergrund kam es zu einer Pattsituation, die für das „fluide Fünfparteiensystem“ (Niedermayer 2008b) nicht untypisch war: Da Die Linke den Einzug in den Landtag geschafft hatte, konnten weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün eine Mehrheit auf sich vereinen. Als entsprechend kompliziert erwies sich die Regierungsbildung. Nach langwierigen wechselseitigen Verhandlungen wurde deutlich, dass weder ein Linksbündnis (Rot-Rot-Grün) noch lagerübergreifende Dreierkonstellationen („Ampel“ bzw. „Jamaika“) konsensfähig waren. Auch eine Große Koalition erwies sich als politisch nicht umsetzbar, weswegen
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sich schließlich SPD und Grüne auf die Bildung einer Minderheitskoalition einigten, die 90 von 181 Mandate umfasste und auf wechselnde Mehrheiten im Landtag setzte. Am 14. Juli 2010 wurde Hannelore Kraft im zweiten Wahlgang von einer relativen Abgeordnetenmehrheit zur neuen Ministerpräsidentin gewählt.
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Fazit
Der vorliegende Beitrag ging der Frage nach, wie sich der bundesstaatliche Parteienwettbewerb während der bisherigen Regierungszeit Angela Merkels entwickelt hat. Insbesondere wurde untersucht, ob und wie die Große Koalition, die im Bund zwischen 2005 und 2009 regiert hat, einen spezifischen Niederschlag in den Ergebnissen der entsprechenden Landtagswahlen gefunden hat. Nach der obigen Analyse muss die Antwort darauf differenziert ausfallen, und zwar nicht nur hinsichtlich der unterschiedlichen parteipolitischen Konstellationen unter Merkel I und Merkel II, sondern auch mit Blick auf die unterschiedlichen Ebenen des Parteienwettbewerbs. Auf Wählerebene hat sich die Große Koalition im Bund offensichtlich in den Landtagswahlen niedergeschlagen, die zwischen 2006 und 2009 abgehalten wurden. Im Einklang mit unseren theoretischen Vorüberlegungen sank die Wahlbeteiligung insgesamt stärker als zuvor, und beide Volksparteien verzeichneten fast durchwegs beträchtliche (aggregierte) Stimmenverluste. Von diesen Verlusten wiederum profitierten primär die kleinen Bundestagsparteien – und nicht wie ursprünglich vermutet die „Anderen“. Zweifellos hat die Große Koalition die Dekonzentration des bundesdeutschen Parteiensystems zwar nicht verursacht, wohl aber hat sie einen bestehenden Trend erheblich verstärkt. In diesem Zusammenhang ist allerdings auch bemerkenswert, dass der dynamische Dekonzentrationsprozess nicht zu einer größeren Anzahl relevanter Parteien geführt hat. Vielmehr vollzog und vollzieht er sich nach wie vor innerhalb des „fluiden Fünfparteiensystems“ (Niedermayer 2008b). Auch nach dem Regierungswechsel zu Merkel II scheint sich diese Entwicklung fortzusetzen. Obwohl hier die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom Mai 2010 keine wirklichen Trendaussagen erlaubt, spricht doch vieles dafür, dass „Fluidität“ noch mehr als bislang das Markenzeichen eines stärker dekonzentrierten Parteiensystems bleiben wird, vor allem wenn man es mit früheren Phasen außerordentlicher Stabilität vergleicht (von Alemann 2011). Auf Regierungsebene konnten wir dagegen unsere theoretischen Annahmen bezüglich der Auswirkungen einer Großen Koalition im Bund nicht bestätigen. Während der ersten Merkel-Regierung wurden nicht mehr schwarz-rote Länder-
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regierungen gebildet als sonst. Stattdessen blieben „kleine“ Flügelkoalitionen der Regelfall – vor allem Schwarz-Gelb, aber auch (einmal) Rot-Grün. Diese Zweierkonstellationen kamen immer zustande, wenn es die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse erlaubten. Und wenn dies nicht möglich war, kam es nicht automatisch zu einer Großen Koalition, sondern teilweise zu neuen Bündniskonstellationen, wie Schwarz-Grün in Hamburg oder Schwarz-Gelb-Grün im Saarland. Dieser Befund verweist nicht nur erneut auf die gestiegene Heterogenität der Parteiensysteme in den Ländern; er macht vielmehr auch deutlich, dass die Große Koalition unter Angela Merkel die Segmentierung des deutschen Parteiensystems nicht nachhaltig verändert hat. Bündnisse aus Union und SPD gelten nach wie vor nur als „letzter Ausweg“ und werden daher auch auf Länderebene so weit wie möglich vermieden. Dies zeigt nicht zuletzt der aktuelle Fall Nordrhein-Westfalens, wo eine Minderheitsregierung, die im deutschen Kontext traditionell als problematisch gilt (Lehmbruch 2000: 194ff.), einer Großen Koalition vorgezogen wurde. Die bipolare Logik des Parteienwettbewerbs hatte also sowohl unter als auch nach der Großen Koalition eine deutlich stärkere Strukturierungskraft als der institutionelle Anreiz, vertikal homogene Regierungsbündnisse zu bilden, um die Regierbarkeit im deutschen Bundesstaat zu gewährleisten. Daraus ergibt sich eine weitere Schlussfolgerung: Unter den Bedingungen des fluiden Fünfparteiensystems sind Große Koalitionen offenbar keine Versicherung gegen divided government. Wie aufgezeigt, sank die parteipolitische Basis der ersten Merkel-Regierung im Bundesrat nach und nach und wies am Ende ein sehr geringes Niveau auf. Damit wird nicht zuletzt ein Argument unterminiert, das wir anfangs erwähnt haben und das angeblich immer für die Bildung einer Großen Koalition spricht: nämlich die These, dass nur eine Bundesregierung aus Union und SPD über eine hinreichend „große“ Gesetzgebungsmehrheit verfügt, um „große“ politische Probleme innerhalb des deutschen Regierungssystems zu lösen. Literatur Alemann, Ulrich von (2011): Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Burkhart, Simone (2005). Parteipolitikverflechtung. Über den Einfluss von Bundespolitik auf Landtagswahlentscheidungen von 1976 bis 2000. In: Politische Vierteljahresschrift, 46, S. 14-38. Bolgherini, Silvia/Grotz, Florian (2010): Multi-level Party Politics during the Grand Coalition: Electoral Outcomes at Länder Level. In: dies. (Hrsg.): Germany after the Grand Coalition. Governance and Politics in a Turbulent Environment. New York: Palgrave Macmillan, S. 49-68.
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Nach der Wahl ist vor der Wahl?
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Nach der Wahl ist vor der Wahl? Themenschwerpunkte und Verständlichkeit der Parteien vor und nach der Bundestagswahl 2009 Nach der Wahl ist vor der Wahl?
Jan Kercher und Frank Brettschneider
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Einleitung und Fragestellung
Nur wer verstanden wird, kann auch überzeugen. So einfach diese Erkenntnis ist, so häufig wird sie von politischen Akteuren aller Parteien missachtet. Wahlprogramme beispielsweise sind für Menschen ohne politisches Fachwissen oft kaum zu verstehen. Auch Pressemitteilungen der Parteien werden immer wieder in einem Jargon verfasst, der eher abschreckt. Und die Webseiten von Ministerien sind zwar Fundgruben für juristisch einwandfreie Formulierungen, verstanden werden sie aber von vielen Menschen nicht. So entstehen Hürden zwischen den politischen Akteuren und den Bürgern. Kein Wunder, dass Politik als bürgerfern, unverständlich und intransparent gilt (vgl. Brettschneider/Haseloff/Kercher 2009). Schon zur Bundestagswahl 2009 fanden sich in den Programmen aller Parteien zahlreiche Kuriositäten. Da schrieb die SPD über eine „britische Stempelsteuer“, die Linke beschäftigte sich mit „Agroenergie-Importen“ und die Union empfahl eine „Abflachung des Mittelstandsbauches“. Die Grünen ließen sich über „energetische Sanierung“ aus. Und die FDP meinte: „Deutschland ist ein landwirtschaftlicher Gunststandort“. Dort tummeln sich dann wahrscheinlich „Großvieheinheiten“ – umgangssprachlich auch als „Kühe“ bekannt. Leider wurde es seit der Bundestagswahl nicht besser: Auch in den Programmen zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen fanden sich zahlreiche Fremd- und Fachwörter (vgl. Brettschneider u.a. 2010). Dabei bildet Verständlichkeit die Grundlage dafür, überzeugen zu können. Und Überzeugung tut Not. Ein wachsender Anteil der Wählerschaft fühlt sich nicht mehr langfristig an eine Partei gebunden. Anstelle der ideologisch motivierten Bindung tritt immer häufiger eine an Themen orientierte, kurzfristige Stimmabgabe. 30 bis 40 Prozent der Wähler entscheiden erst in den letzten zwei Wochen vor der Bundestagswahl, welcher Partei sie ihre Stimme geben. Und auch der Anteil der Wechselwähler steigt stetig an. Diese Wähler sind anO. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Jan Kercher und Frank Brettschneider
spruchsvoller geworden. Sie wollen umworben und überzeugt werden. Dies setzt voraus, dass die Botschaften der Parteien auch verstanden werden. In der politischen Kommunikation kommt es für die Parteien darauf an, mit ihren Themen Gehör zu finden. Welche Themen die öffentliche Diskussion prägen, hat maßgeblichen Einfluss auf die Bewertung der einzelnen Parteien. Dies gilt vor Wahlen noch stärker als nach Wahlen. Um Wahlen zu gewinnen, muss eine Partei und ihr/e Spitzenkandidat/in primär zwei Ziele erreichen: Erstens sind die eigenen Anhänger zu mobilisieren. Zwar sinkt der Anteil der verlässlichen Stammwähler an allen Wahlberechtigten von Jahr zu Jahr. Dennoch sind sie für eine Partei von größter Bedeutung. Mobilisierte Stammwähler reden mit Nachbarn und Bekannten. Schon Lazarsfeld, Berelson und Gaudet (1944: 158) stellten in ihrem Klassiker zum Wahlkampf fest: „More than anything else people can move people“. Das direkte Gespräch gilt nach wie vor als glaubwürdigste und damit als wirkungsvollste Form der Kommunikation. Vor allem in der Frühphase des Wahlkampfes muss es Parteien daher gelingen, ihre Stammwähler von der Bedeutung ihres Engagements zu überzeugen. Für die Mobilisierung der eigenen Anhänger ist es entscheidend, wie stark eine Partei ihre Grundüberzeugungen und ihre Wertebasis im Wahlkampf vermitteln kann und wie intensiv die für eine Partei zentralen Themen in die Wahlkampfkommunikation gelangen. Hinzu treten Aspekte wie das geschlossene Auftreten der Partei, ihre Unterscheidbarkeit vom Hauptkonkurrenten sowie die Überzeugungskraft des politischen Führungspersonals (Problemlösungskompetenz und Leadership-Qualitäten). Zweitens muss eine Partei die parteipolitisch ungebundenen oder prinzipiell wechselbereiten Wähler überzeugen. Verfügen diese Personen über eine hohe formale Bildung und ein ausgeprägtes politisches Interesse, so gelingt dies in erster Linie mittels der im Wahlkampf dominanten Themen und der den Parteien bei diesen Themen zugeschriebenen Sachkompetenz. Die ungebundenen Wähler mit einer niedrigen formalen Bildung und einem geringen politischen Interesse werden hingegen eher durch Einzelthemen, die sie unmittelbar betreffen, oder durch Stimmungen direkt vor der Wahl beeinflusst (vgl. Brettschneider/Rettich 2005). Zudem sollte der Wahlkampf so angelegt sein, dass die Anhänger der politischen Kontrahenten nicht mobilisiert werden. Es ist also ratsam, jene Themen zu vermeiden, die für den politischen Gegner eine besonders große reale oder symbolische Bedeutung haben. Für die Kommunikation mit den Wählerinnen und Wählern stehen grundsätzlich zwei Wege zur Verfügung, die im besten Fall von den Wahlkämpfern „orchestriert“ eingesetzt, also miteinander verzahnt und aufeinander abgestimmt werden (vgl. Abbildung 1): zum einen der direkte Kontakt, etwa bei Wahlkundgebungen auf Marktplätzen, an Infoständen in der Fußgängerzone, durch den Hausbesuch der Kandidaten, durch Maßnahmen des Direktmarketing, durch
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Wahlplakate und durch das Internet. Das Internet kann einerseits als Informationskanal genutzt werden, indem man die eigenen Themen und Sichtweisen Interessierten zur Verfügung stellt – etwa auf der klassischen Homepage. Andererseits eignet es sich als Dialogkanal, in dem man der Web 2.0-Logik folgend nicht nur Informationen „von oben nach unten“ kommuniziert, sondern umgekehrt den Wählern die Möglichkeit bietet, sich selbst zu äußern. Neben dem direkten Kontakt prägt die Berichterstattung der Massenmedien die wahlrelevanten Eindrücke des Großteils der Wähler (vgl. Überblick bei Brettschneider 2005). Vor allem die Fernsehnachrichten werden auch von jenen wahrgenommen, die sich nicht besonders stark für Politik interessieren. Die Thematisierungsfunktion der Massenmedien ist die bedeutendste Wirkung: Vereinfacht gesagt erachten Menschen vor allem jene Themen als wichtig und als lösungsbedürftig, über die die Massenmedien häufig und gut platziert berichten. Themen, die in der Medienberichterstattung unter den Tisch fallen, spielen auch aus Sicht der meisten Wähler keine besondere Rolle. Zudem bewerten parteipolitisch ungebundene Wähler die Parteien und Kandidaten nicht, indem sie diese Punkt für Punkt miteinander vergleichen und am Ende einen Saldo aus Vor- und Nachteilen bilden. Dieses Verfahren wäre viel zu zeitraubend. Stattdessen werden Parteien und Kandidaten anhand derjenigen Informationen beurteilt, die gerade „top-of-the-head“ sind, die also ohne großen Aufwand gedanklich verfügbar sind (vgl. u.a. Zaller 1992). Und das sind genau die Themen, die in der aktuellen Medienberichterstattung den breitesten Raum einnehmen. Indem die Massenmedien mitbestimmen, welche Themen dominieren, definieren sie auch den Bewertungsmaßstab, anhand dessen die Bevölkerung Parteien und Politiker beurteilt. Dominieren beispielsweise außenpolitische Themen, so werden die Akteure vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer außenpolitischen Kompetenz bewertet. Davon profitiert die Partei, die im Hinblick auf die Außenpolitik unter den Wählern besser abschneidet als die Konkurrenten. Dominieren wirtschaftspolitische Themen, so werden die Akteure vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer wirtschaftspolitischen Kompetenz bewertet. Davon profitiert die Partei, der wirtschaftspolitisch mehr zugetraut wird als den anderen Parteien. Daher besitzen „die Massenmedien auch dann einen Einfluss auf die Meinungsbildung und Wahlentscheidung, wenn sie die vorhandenen Einstellungen nicht ändern. Es genügt, sie mehr oder weniger stark zu aktualisieren“ (Kepplinger u.a. 1989: 75, ähnlich: u.a. Iyengar 1992).
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Abbildung 1:
Parteien-Kommunikation
Wegen der Bedeutung der massenmedial vermittelten Eindrücke versuchen Parteien, die Agenda der politischen Berichterstattung mittels Media-AgendaSetting zu prägen; sie versuchen, ihre Themen in der Berichterstattung zu verankern. Umgekehrt beeinflussen die Journalisten, worüber sich Parteien äußern (müssen) – etwa, indem sie in Interviews entsprechende Fragen stellen oder durch Themen-Kampagnen ihrerseits die Agenda der Politik vorgeben. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden einer Reihe von Forschungsfragen nachgegangen: 1.
2.
Auf welche Themen konzentrierten sich die Parteien in ihrer direkten und medienvermittelten Kommunikation vor und nach der Bundestagswahl 2009? Gibt es Unterschiede in der Themen-Fokussierung vor und nach der Bundestagswahl? Wie verständlich kommunizierten die Parteien vor und nach der Bundestagswahl 2009 ihre Themen? Gibt es dabei Unterschiede in der Verständlichkeit vor und nach der Bundestagswahl? Und kommunizieren Parteien ihre Kernthemen verständlicher als die Randthemen?
Der Beantwortung der Fragen liegt eine systematische Analyse von zwei Textarten zugrunde: Zum einen wird die direkte Kommunikation der Parteien mit den
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Bürgern untersucht (am Beispiel der Homepage-News der Parteien). Zum anderen wird ein Instrument des Media-Agenda-Settings untersucht, nämlich die Pressemitteilungen der Parteien. In beiden Fällen haben es die Parteien selbst in der Hand, wie verständlich sie mit den Bürgern bzw. den Journalisten kommunizieren. Zuvor sollen jedoch die Grundlagen des Themenmanagements und der Verständlichkeitsforschung dargelegt werden.
2
Theoretischer Hintergrund: Themenmanagement und Verständlichkeit
2.1 Themenmanagement Themen sind der Rohstoff für Kommunikation – und zur Erreichung der für die Wahl bzw. die Akzeptanz der Parteien relevanten Kommunikationsziele. Das strategische Themenmanagement hat im Wesentlichen zwei Aufgaben zu erfüllen: Zum einen sollen Themen, die die eigenen Ziele gefährden können, frühzeitig erkannt und möglichst entschärft werden. Zumindest sollen die Anhänger auf diese Themen vorbereitet sein und beispielsweise die Position der Partei zu der Streitfrage kennen. Zum anderen sollen die zahlreichen Chancen-Themen genutzt werden. Auch die Parteien kennen den Stellenwert von Themen für den Wahlentscheid und für die Akzeptanz der eigenen Handlungen. Dementsprechend sollte das Themenmanagement im Rahmen der politischen Kommunikation besondere Beachtung finden. Mit ihm soll die Themen-Agenda der Massenmedien, also die Tagesordnung der in den Medien diskutierten Themen, so beeinflusst bzw. genutzt werden, dass die eigene Partei und der eigene Kandidat davon profitieren. Und es soll die Bevölkerung direkt angesprochen werden. Dabei lehnt sich das Themenmanagement an den klassischen ManagementProzess an. Dieser besteht aus den vier Phasen Analyse, Planung, Umsetzung und Evaluation (vgl. Abbildung 2). In der Analyse-Phase, die permanent stattzufinden hat, werden die relevanten Themen identifiziert. Insbesondere muss bekannt sein, welchen Bevölkerungsgruppen welche Themen besonders wichtig sind und wie sie die Partei und ihre Konkurrenten hinsichtlich dieser Themen bewerten. Mit Hilfe des ThemenMonitoring wird beobachtet, wie sich die bereits als relevant identifizierten Themen in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen entwickeln. Beim ThemenScanning wird beobachtet, welche bislang nicht beachteten Themen auf der Agenda der öffentlichen Diskussion oder auf der Agenda von InteressenGruppen (Umweltverbände etc.) erscheinen, die relevant werden könnten. Zudem werden die Themen nach Relevanz sowie nach Chancen- und Risikopoten-
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Jan Kercher und Frank Brettschneider
zial beurteilt. Als Analyse-Instrumente stehen u.a. repräsentative Bevölkerungsbefragungen, Fokus-Gruppen, Inhaltsanalysen der Medienberichterstattung sowie das Web-Monitoring zur Verfügung. Abbildung 2:
Themenmanagement
In der Planungs-Phase werden Prioritäten festgelegt. Dies erfolgt auf der Basis der Analyse sowie der sich aus der Partei-Historie ergebenden Grundwerte und Überzeugungen einer Partei. Nicht alle Themen können gleichzeitig bespielt werden. Dafür reichen weder die Ressourcen aus, noch wäre es sinnvoll, da sich die Themen gegenseitig kannibalisieren würden. Daher sind Themen zu priorisieren: Welche Themen kommen auf die Shortlist, werden also aktiv von der Partei gegenüber der Öffentlichkeit kommuniziert? Auf welche externen Ereignisse ist bei der Themenplanung Rücksicht zu nehmen? Wann kann ein externes Ereignis (z.B. das Finalspiel bei der Fußball-Weltmeisterschaft) die Aufmerksamkeit für die eigenen Themen rauben, wann kann es die Thematisierung eigener Anliegen unterstützen? Wie sieht der ideale Themenmix aus? Und was sind die zentralen Kernbotschaften, die die relevanten Bevölkerungsgruppen verstehen sollen? Es muss vor der Durchführung einer Kommunikationsmaßnahme (einer Pressemitteilung, einer Pressekonferenz, einer Wahlkampfveranstaltung,
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eines Beitrags im Intranet der Partei etc.) klar sein, was mit dieser Kommunikationsmaßnahme erreicht werden soll. Eine solche Form des planerischen Umgangs mit Themen schont nicht nur knappe Ressourcen, sondern schafft auch den Freiraum für proaktives Kommunizieren. Dieser ist freilich durch die Kommunikationsaktivitäten der Konkurrenz sowie durch die eigenständige Recherche und Schwerpunktsetzung der Journalisten eingeschränkt. Politische Kommunikation findet in einem sich permanent wandelnden Kommunikationsumfeld statt. Ereignisse, die bei der Formulierung der Kommunikationsstrategie nicht vorhersehbar waren, können von heute auf morgen auf der Tagesordnung erscheinen und Reaktionen der Parteien erzwingen. Zu den Taktiken in dieser Phase zählen das Agenda-Setting, das AgendaCutting und das Agenda-Surfing. Beim Agenda-Setting wird versucht, jene Themen in der Medienberichterstattung zu lancieren oder sie dort zu halten, bei denen entweder die eigene Partei bzw. der eigene Kandidat von der Bevölkerung als kompetent angesehen werden oder bei denen die Bevölkerung bei der gegnerischen Partei und dem gegnerischen Kandidaten Defizite wahrnimmt. Beim Agenda-Cutting wird aktiv versucht, jene Themen aus der Medienberichterstattung fernzuhalten oder sie von dort verschwinden zu lassen, bei denen entweder die eigene Partei bzw. der eigene Kandidat von der Bevölkerung nicht als kompetent angesehen werden oder bei denen die Bevölkerung der gegnerischen Partei und dem gegnerischen Kandidaten Problemlösungsfähigkeit zuschreibt. Wenn man das in der Medienberichterstattung existierende Themen-Set nicht beeinflussen kann – beispielsweise weil sich ein Thema so stark aufdrängt, das darüber auf jeden Fall diskutiert wird – wird versucht, dieses Themen-Set zum eigenen Vorteil zu nutzen (Agenda-Surfing; vgl. Brettschneider 2002). In der Umsetzungs-Phase geht es um das operative Kommunikationsmanagement. Hier kommt es darauf an, Themen und Kommunikationsinstrumente zielgruppengerecht zu verknüpfen. Dabei sind allgemeine Regeln des Campaignings zu beachten (vgl. u.a. Hinrichs 2001). So müssen sich die Kommunikationsmaßnahmen immer wieder auf die Kernbotschaften beziehen. Diese sollten permanent wiederholt, durchgängig und konsistent kommuniziert werden. Sie sollten sowohl auf das „Herz“ als auch auf den „Verstand“ der Wähler zielen. Dazu sind Botschaften – wo möglich – zu visualisieren. Vor allem aber müssen sie einfach kommuniziert werden. Zu den wesentlichen Erfolgsfaktoren gehört dabei die Verständlichkeit der eigenen Kommunikation: kurze Sätze, Vermeidung oder Erläuterung von Fachbegriffen, konkrete statt abstrakte Begriffe, aktive statt passive Sprache, gebräuchliche Wörter – um nur ein paar Beispiele zu nennen. In der möglichst permanent erfolgenden Evaluation sollte der Erfolg der eigenen Bemühungen gemessen werden, um gegebenenfalls die Planung justieren oder an sich verändernde Kommunikations-Bedingungen anpassen zu können.
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Hier kommen die bereits aus der Analyse-Phase bekannten Instrumente zum Einsatz. Darüber hinaus kann die Verständlichkeit der eigenen Kommunikation objektiv gemessen und optimiert werden. 2.2 Verständlichkeit Der Begriff der Verständlichkeit ist komplexer als es auf den ersten Blick erscheint. Verständlichkeit kann – im weiteren Sinne – als Oberbegriff für alle Merkmale eines Kommunikationsprozesses angesehen werden, die das Verstehen einer Mitteilung beim jeweiligen Rezipienten beeinflussen. Das Verstehen ist hierbei zugleich Prozess und Produkt und kann als „der aktuelle Aufbau einer konsistenten und kohärenten mentalen Repräsentation eines Sachverhalts“ (Schnotz 1994: 35) definiert werden. Die Verständlichkeit einer Mitteilung wird also potenziell von Merkmalen des Kommunikators, der Mitteilung selbst, des Übertragungskanals sowie des Rezipienten beeinflusst – und zwar immer in der jeweils spezifischen Kommunikationssituation. Das bedeutet: Verständlichkeit ist eine relative Größe (vgl. Bayer/Seidel 1979: 14). Denn genau genommen kann dieselbe Botschaft unendlich viele Verständlichkeiten annehmen, je nachdem zwischen welchen Kommunikationsteilnehmern sie ausgetauscht wird, über welchen Kanal und in welcher Situation dies geschieht. Engt man die Betrachtung auf sprachliche Botschaften ein, so lässt sich Verständlichkeit mit Bayer und Seidel als „Beziehungsgröße zwischen einem Text und einem Individuum“ (ebd.) bezeichnen. Mit solch einem Verständlichkeitsbegriff ist jedoch ein bedeutender messtechnischer Nachteil verbunden: Die Verständlichkeit muss so immer für jede Mitteilung in Relation zu jedem Rezipienten und dessen spezifischer Rezeptionssituation neu bestimmt werden; überindividuelle Messungen und Vorhersagen der Verständlichkeit sind unmöglich. Es ist deshalb für wissenschaftliche Untersuchungen unabdingbar, eine zweite, operationale Bedeutung von Verständlichkeit einzuführen. Diese bezeichnen Bayer und Seidel als „Konstrukt, das sich allgemeingültig aus Merkmalsausprägungen von Texten ergibt, die überindividuell den Verständlichkeitsgrad beeinflussen“ (ebd.). Unter den zahlreichen unterschiedlichen Konzepten der Verständlichkeitsforschung lassen sich zwei Ansätze identifizieren, die einen Verständlichkeitsbegriff anstreben, der dieser zweiten Verständlichkeitsdefinition von Bayer und Seidel entspricht.1 Den ältesten Ansatz der Verständlichkeitsforschung stellt die Lesbarkeitsforschung dar, die sich bereits in den 1920er Jahren in den USA ent1 Aus Platzgründen konzentriert sich dieser Beitrag im Folgenden auf diese beiden Ansätze. Für einen Überblick über alle zentralen Ansätze der Verständlichkeitsforschung siehe Grabowski (1991: 13ff.).
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wickelte. Anlass waren insbesondere die Bestrebungen, Schul-Lesebücher im Hinblick auf ihre Lesbarkeit objektiv und ökonomisch einschätzen zu können, um sie den jeweils angemessenen Klassenstufen zuzuordnen (vgl. Klare 1963: 91ff.). Für diesen Zweck wurde der Zusammenhang zwischen zahlreichen Textmerkmalen einerseits und dem Leseverstehen von Texten andererseits untersucht. Auf der Grundlage dieser Untersuchungen wurden ab Ende der 1920er Jahre Lesbarkeitsformeln entwickelt, die anhand der Auswertung und Verrechnung ausgewählter quantifizierbarer Textmerkmale (z.B. durchschnittliche Satzlänge, Anteil seltener Wörter) den Schwierigkeits- bzw. Lesbarkeitsgrad eines Textes vorhersagen.2 Den durchaus überraschenden Vorhersageerfolg dieser recht einfachen Messinstrumente erklärt Best (2006: 28) folgendermaßen: „Lesbarkeitsformeln … messen also aufgrund der vielen Interaktionen zwischen sprachlichen Entitäten indirekt wesentlich mehr, als in den Formeln direkt enthalten ist. Dies dürfte das eigentliche Geheimnis für den Erfolg der Lesbarkeitsformeln sein“. Erst in den 1970er Jahren kam es sowohl in Deutschland als auch in den USA zur Entwicklung komplexerer Ansätze. Nicht nur Wort- und Satzmerkmale, sondern beispielsweise auch Merkmale der Textgliederung und -organisation sowie der inhaltlichen Redundanz der Texte sollten miterfasst werden. In Deutschland erlangte insbesondere das Hamburger Verständlichkeitsmodell von Langer u.a. (1974) große Bedeutung. Auf der Grundlage von Untersuchungen, bei denen zahlreiche Probanden unterschiedliche Texte anhand einer Reihe von Gegensatzpaaren beurteilen mussten (z.B. interessant/langweilig, stark gegliedert/wenig gegliedert, weitschweifig/aufs Wesentliche beschränkt), gelangten die Forscher zu vier zentralen Merkmalsdimensionen der Verständlichkeit (vgl. Langer u.a. 1974: 13ff.): Einfachheit (syntaktisch-semantische Einfachheit), Gliederung/Ordnung (innere Folgerichtigkeit und äußere Übersichtlichkeit), Kürze/Prägnanz (inhaltliche Beschränkung auf das Wesentliche), zusätzliche Stimulanz (Auslösung persönlicher Anteilnahme und Anregung). Der Vergleich der beiden vorgestellten Ansätze der Verständlichkeitsforschung deckt aber auch ein zentrales Dilemma auf: Mit zunehmender Komplexität des Modells sinkt die Praktikabilität seiner Anwendung. Dies führt im Fall des Hamburger Verständlichkeitsmodells zu äußerst aufwändigen Messverfahren, die zusätzlich durch ihre mangelnde Objektivität in Frage gestellt werden (vgl. z.B. Ballstaedt u.a. 1981: 219, Tergan 1980: 26). Auch die Validität und damit der Ertrag dieses Verfahrens ist keineswegs unumstritten (vgl. z.B. Hofer 2 Für die Validierung der Lesbarkeitsformeln wurden unterschiedliche Kriterien verwendet. Die am besten belegten Zusammenhänge bestehen zwischen den untersuchten Wort- und Satzfaktoren und der Lesegeschwindigkeit sowie der subjektiven Schätzung der Lesbarkeit durch Experten oder Laien (vgl. z.B. Klare 1963: 121ff.).
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1976: 149, Krause 1991: 396, Tergan 1980: 22ff.). Eine objektive und ökonomische Messung der Textverständlichkeit und eine darauf basierende Vorhersage der Textverarbeitungsreaktionen (ohne den Einsatz von Probanden) bleibt somit den Formeln der Lesbarkeitsforschung überlassen. Hierbei ist zu beachten, dass die Beziehung zwischen Lesbarkeitsformeln und Verständlichkeit eine rein statistisch-probabilistische ist, keine kausale (vgl. z.B. Dale/Chall 1948: 20, Bormuth 1966: 129, Klare 1974: 97f). Dies stellt zwar eine Verwendung bei Analysen auf der Individualebene in Frage, beeinträchtigt aber nicht ihre Eignung für Aggregatanalysen. Dazu kommt im vorliegenden Forschungskontext, dass die zentrale Einschränkung der Formeln, nämlich die Konzentration auf überindividuell relevante Textmerkmale, angesichts des hier zugrunde gelegten Verständlichkeitsbegriffs kein Problem darstellt, sondern eher von Vorteil ist. Jüngere Forschungsergebnisse sprechen zudem dafür, dass die Formeln trotz ihres Ursprungs in der Schulbuch-Forschung auch zur Messung der Verständlichkeit von Politikersprache geeignet sind. Niecke (2006) untersuchte die Verständlichkeit der „Großen Regierungserklärungen“ der deutschen Bundeskanzler seit dem Zweiten Weltkrieg, d.h. die jeweils erste Regierungserklärung nach dem Regierungsantritt. Hierfür griff er auf eine Lesbarkeitsformel als Messinstrument zurück. Die Studie kam zu zwei zentralen Ergebnissen (vgl. Niecke 2006: 131ff.): Bundeskanzler verwenden immer dann relativ einfache Wörter und kurze Sätze, wenn sie eigene Erfolge und Leistungen betonen, wenn sie Vorhaben verkünden, die im Einklang mit der öffentlichen Meinung stehen, oder wenn sie die Opposition kritisieren. Muss ein Kanzler bzw. eine Kanzlerin der Bevölkerung hingegen Probleme oder negative Bilanzen erklären, unpopuläre Maßnahmen verkünden oder eigene Misserfolge, Fehler und Versäumnisse einräumen, dann verwendet er bzw. sie tendenziell eher schwierige Wörter und lange Sätze. Dieser Befund kann als Indiz für die Validität der verwendeten Lesbarkeitsformel aufgefasst werden, da er für einen sehr plausiblen, taktischen Einsatz der Sprachschwierigkeit durch die Bundeskanzler (und ihre Redenschreiber) spricht. Die Validität der Lesbarkeitsformeln als Messinstrument der Politikerverständlichkeit wird zudem durch die Ergebnisse von Kercher (2010) gestützt. Dieser untersuchte anhand eines Experiments die Vorhersagekraft unterschiedlicher deutscher Lesbarkeitsformeln für die subjektiven Verständlichkeitsbewertungen sowie das objektive Textverständnis von Probanden. Als Stimuli dienten hierbei kurze Videos von Politikeransprachen. Es zeigte sich, dass die untersuchten Formeln die Ausprägungen der beiden abhängigen Variablen erstaunlich gut vorhersagen konnten – sowohl auf der Individualebene als auch auf der Aggregatebene. Durch die Kontrolle unterschiedlicher Rezipientenmerkmale (z.B. Bildung, politisches Wissen, Sprachkompetenz) konnte zudem sichergestellt
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werden, dass diese Ergebnisse auch überindividuell gültig sind. „Zusammenfassend ergeben sich also eine ganze Reihe von Indizien, die dafür sprechen, dass objektiv messbare Textmerkmale, wie sie von den Formeln erfasst werden, tatsächlich für eine Messung der Politikerverständlichkeit geeignet sind“ (Kercher 2010: 115).
3
Forschungshypothesen und Methodik
Vor dem Hintergrund des Themenmanagements und der Verständlichkeitsforschung sind nun folgende Annahmen zu prüfen: 1.
2.
3.
4.
Die Parteien fokussieren sich im Wahlkampf stärker als sonst auf wenige Kernthemen. In Zeiten, in denen kein Wahlkampf stattfindet, können Parteien ihr Themen-Portfolio erweitern. Sie werden sich dann zu einer breiten Palette von aktuell diskutierten Themen äußern. In Wahlkampfzeiten hingegen geht es darum, im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit überhaupt wahrgenommen zu werden. Das Überspringen der Wahrnehmungsschwelle ist bei einer Konzentration auf wenige Themen wahrscheinlicher. Die Parteien fokussieren sich im Wahlkampf stärker als sonst auf ihre Kernkompetenz-Themen. Der Wahlerfolg hängt in starkem Maße davon ab, ob es einer Partei gelingt, die für sie nützlichen Themen auf der Agenda der öffentlichen Diskussion zu verankern. Es ist daher sinnvoll, wenn sich Parteien so weit wie möglich auf die Themen konzentrieren, bei denen ihnen Kompetenz zugeschrieben wird. Die Verständlichkeit der Parteien-Kommunikation ist im Wahlkampf größer als sonst. Das Bemühen um eine größere Verständlichkeit in Wahlkampfzeiten ist sinnvoll, weil der „Preis“ für Unverständlichkeit größer ist als in „Normalzeiten“. Zudem verfolgen in Wahlkampfzeiten auch jene Bevölkerungsgruppen das politische Geschehen, für die Politik in Normalzeiten keine besondere Rolle spielt. Diese Bevölkerungsgruppen verfügen über eine geringere Schulbildung und über geringeres Vorwissen. Damit sie von der politischen Kommunikation erreicht werden können, muss diese besonders verständlich sein. Die Verständlichkeit der Parteien ist bei ihren jeweiligen KernkompetenzThemen größer als die der anderen Parteien. Mit einer größeren Verständlichkeit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Thema öffentliche Beachtung findet. Die Parteien müssten ihre Kompetenz-Themen also besonders verständlich formulieren.
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Diese Annahmen wurden mittels einer quantitativen Inhaltsanalyse der Pressemitteilungen und der Homepage-News aller sechs im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien untersucht. Berücksichtigt wird also sowohl der direkte Kommunikationsweg zwischen Parteien und Bürgern (Homepage-News) als auch der indirekte Weg über die Massenmedien (Pressemitteilungen). Die Daten stammen aus dem Langzeitprojekt „PolitMonitor“, für das seit Juni 2009 die Kommunikation der Bundestagsparteien auf monatlicher Basis erhoben, analysiert und veröffentlicht wird.3 Der Untersuchungszeitraum beträgt zehn Monate, von Juni 2009 bis März 2010. Hierbei werden drei Phasen unterschieden: (1) Wahlkampfphase (1. Juni bis 27. September 2009), (2) Übergangsphase (28. September bis 30. November 2009), (3) Normalphase (1. Dezember 2009 bis 31. März 2010). In die Übergangsphase fielen die Regierungsbildung, die Aushandlung des Koalitionsvertrages sowie die Aufnahme der Regierungsgeschäfte durch die neue Bundesregierung. Diese Phase wurde bewusst von der Normalphase abgegrenzt, um zu verhindern, dass bei letzterer noch ein relevanter Einfluss der kommunikativen Prozesse des Wahlkampfs eine Rolle spielt. Die folgenden Analysen stützen sich auf die Wahlkampfphase und auf die Normalphase. Während der Anteil des Themas „Wahlkampf“ in der Parteien-Kommunikation in der Wahlkampfphase durchschnittlich bei 15 Prozent lag (im Wahlmonat stieg er sogar auf über 30 Prozent), sank er in der Übergangsphase auf 6,3 Prozent, um sich in der Normalphase schließlich bei nur noch knapp zwei Prozent einzupendeln (vgl. Abbildung 3). Bei der Erfassung der Pressemitteilungen und der Homepage-News handelt es sich um eine Vollerhebung (weshalb im Folgenden auch keine Signifikanzen dargestellt werden). Insgesamt wurden 1744 Homepage-News und 1372 Pressemitteilungen erfasst. Diese wurden zunächst in thematische Abschnitte unterteilt und anschließend einer von 31 Themenkategorien zugewiesen. Auf diese Weise ergab sich eine Fallzahl von insgesamt 3404 thematischen Textabschnitten. Diese wurden dann einer Lesbarkeitsanalyse unterzogen. Hierfür wurde die Textanalyse-Software „TextLab“ verwendet, mit deren Hilfe die Texte auf ihre Lesbarkeitsparameter (z.B. Wort- und Satzlängen sowie gängige Lesbarkeitsformeln) untersucht wurden. Diese Lesbarkeitsparameter dienten anschließend zur Berechnung des „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ (HVI). Hierbei handelt es sich um einen im Rahmen des PolitMonitor-Projektes entwickelten Meta-Index, der auf vier validierten deutschen Lesbarkeitsformeln sowie auf sechs Einzelparametern beruht (vgl. Anhang für eine genaue Darstellung). Der Index wurde speziell für die Verständlichkeitsbewertung politischer Texte entwickelt und geeicht. Die Skala des HVI reicht von null Punkten (sehr schwer verständlich) 3 Erhebung und Analyse erfolgen an der Universität Hohenheim unter Leitung der Verfasser dieses Beitrags. Die Ergebnisse des PolitMonitors sind unter www.polit-monitor.de öffentlich zugänglich.
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bis 20 Punkte (sehr leicht verständlich). Politikwissenschaftliche Dissertationen erreichen hierbei ungefähr den Wert null, Artikel aus dem Politikteil der BildZeitung hingegen in etwa den Wert 18. Abbildung 3:
4
Anteil des Themas „Wahlkampf“ an der ParteienKommunikation im Untersuchungszeitraum (in Prozent)
Ergebnisse
4.1 Themenwahl und Themenfokussierung Während der Wahlkampfphase äußern sich die Parteien zu einem Thema am häufigsten: zum Wahlkampf selbst. 15,8 Prozent aller untersuchten Texte aus der Wahlkampfphase drehen sich u.a. um den Stand des Wahlkampfes, Bewertungen von Umfrageergebnissen sowie einzelne Wahlkampfereignisse (vgl. Abbildung 4)4. Der Anteil der Wahlkampfthemen an allen Themen erhöht sich im letzten Monat des Wahlkampfes sogar nochmals deutlich auf 28,6 Prozent. Dies deckt sich im Großen und Ganzen mit Ergebnissen aus früheren Wahlen. Beispielsweise entfielen vor der Bundestagswahl 2002 ca. 20 Prozent aller Pressemitteilungen
4 Wir verzichten darauf, die Ergebnisse für Pressemitteilungen und Homepage-News getrennt auszuweisen, da sich zwischen den beiden Text-Arten meist keine gravierenden Unterschiede feststellen ließen.
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der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien und der Fraktionen auf das Thema „Wahlkampf“ (vgl. Brettschneider 2002: 40). An zweiter Stelle folgt die Außenpolitik (11,7%) vor der Sozial- und der Bildungspolitik (9,0 bzw. 8,8%). Die Wirtschaftspolitik belegt mit acht Prozent aller Themenpassagen Platz 5. Die Themenstruktur der Parteien-Kommunikation insgesamt war damit nicht deckungsgleich mit der Themenstruktur in der Medienberichterstattung. Dies stärkt die Vermutung, dass Massenmedien im Wahlkampf einer eigenen Auswahllogik für Themen folgen und sich nicht an die von den Parteien vorgegebene Agenda anpassen. In Folge der Wirtschaftskrise fokussierten beispielsweise die Hauptnachrichtensendungen des Fernsehens in den letzten Wochen vor der Bundestagswahl 2009 sehr stark auf die Wirtschaftspolitik. Insgesamt fielen gut ein Drittel aller sachpolitischen Aussagen über Parteien und Politiker in diesem Bezugsrahmen. Damit war das Thema zwar weniger beherrschend als noch vor der Europawahl 2009, lies aber immer noch wenig Spielraum für andere Themenkarieren oder aktives Themenmanagement der Parteien (vgl. Bachl/Brettschneider 2011). Abbildung 4:
Die Top-5-Themen vor und nach der Wahl (alle Texte)
Lediglich in der ersten Augustwoche verdrängte die Arbeitsmarktpolitik die Wirtschaftspolitik kurzfristig vom Spitzenplatz in der Medienberichterstattung, angestoßen durch die Diskussionen um Frank-Walter Steinmeiers Deutschlandplan. Obwohl hiermit ein für die Bevölkerung weiterhin zentrales Problem angesprochen wurde, gelang es der SPD nicht, dieses Thema auf der Agenda zu halten. Damit verflog der einzige im Ansatz erfolgreiche Versuch der SPD, ein eigenes Thema zu setzen, innerhalb von nur einer Woche. Die Verteidigungsund die Außenpolitik prägten in der 37. Kalenderwoche aufgrund des von einem
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Bundeswehroffizier veranlassten Luftangriffs auf einen Tanklaster in Kunduz die Medienagenda. Da sich in der Afghanistanpolitik alle Parteien – mit Ausnahme der Linkspartei – einig waren, blieb das Ereignis für den Wahlkampf jedoch ohne Relevanz. In den letzten beiden Wochen vor der Wahl nahm die Diskussion über Steuersenkungen Fahrt auf. Sie wurde vor allem von der FDP und von der CSU auf die Agenda gesetzt. Durch das Aufkommen des Themas unmittelbar vor dem Wahltermin könnte es durchaus einen Einfluss auf unentschlossene Wähler gehabt haben – speziell auf solche, die zwischen der FDP und der Union schwankten. Dies wirkte sich vor allem zugunsten der Liberalen aus, da sie bezüglich Steuersenkungen eine klarere Position vertraten. Andere Themen tauchten immer wieder einmal auf der Medienagenda auf, spielten aber im Gesamtkontext der Wahlberichterstattung keine wesentliche Rolle (vgl. Bachl/Brettschneider 2011). In der Normalphase nach der Bundestagswahl 2009 standen die Außen- und die Sozialpolitik weiterhin an der Spitze der von den Parteien kommunizierten Agenda. In der Außenpolitik wurde die Frage diskutiert, was sich unter dem neuen Außenminister Guido Westerwelle ändern würde. Und auch in der Sozialpolitik stand die Frage im Mittelpunkt, ob es unter der bürgerlichen Koalition nun zu Einschnitten in das soziale Netz kommen würde. Entgegen unserer Erwartung fokussierten sich die Parteien aber im Wahlkampf nicht stärker als sonst auf einige wenige Kernthemen. Im Gegenteil: Bei allen Parteien ist im Wahlkampf eine geringere Themenfokussierung festzustellen als in der Normalphase (vgl. Abbildung 5). Demnach verteilen sich die Aussagen der Parteien im Wahlkampf gleichmäßiger über viele Themenfelder. Besonders deutlich ist dies bei der SPD, den Grünen und der FDP. Damit wird einer zentralen Erkenntnis aus dem Themenmanagement nicht gefolgt: der Konzentration auf einige wenige Themen in der Wahlkampfkommunikation. Darin spiegelt sich zwar die Notwendigkeit wider, im Wahlkampf zu vielen Themen Stellung beziehen zu müssen. Umso wichtiger wäre jedoch der Versuch, in den Pressemitteilungen und in den Homepage-News eigene Schwerpunkte zu setzen. Lediglich bei der FDP ist dieses Ergebnis zu relativieren, wenn man die letzten beiden Wochen des Wahlkampfes betrachtet: In dieser Zeit hat die FDP sehr erfolgreich Agenda-Setting betrieben, indem sie sich fast ausschließlich zum Thema Steuerpolitik äußerte.
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Abbildung 5:
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Anteil der Top-5-Themen jeder Partei an allen Veröffentlichungen der Partei (N=1807)
Allerdings trifft unsere zweite Annahme zu: Die meisten Parteien fokussieren sich im Wahlkampf stärker als sonst auf ihre Kernkompetenz-Themen. In Tabelle 1 sind jene Themen dargestellt, die im Wahlkampf zu den Top-5-Themen einer Partei zählten und deren Bedeutung im Wahlkampf größer war als in der Normalphase nach der Bundestagswahl 2009. Mit Ausnahme der CDU haben alle sechs untersuchten Parteien im Wahlkampf gezielt eines ihrer Kernkompetenz-Themen (vgl. Infratest dimap 2009) betont. Bei der CSU war das Thema Wirtschaftspolitik im Wahlkampf um 9,1 Prozentpunkte wichtiger als in der Normalphase. Die SPD betonte das Thema Bildungspolitik im Wahlkampf um 6,9 Prozentpunkte stärker als in der Normalphase. Von der FDP wurde die Steuerpolitik auf die Agenda gesetzt. Die Grünen rückten das Thema Umweltpolitik im Wahlkampf um zwei Prozentpunkte geringfügig stärker in den Mittelpunkt als in der Normalphase, und von der Linkspartei wurde das Thema Sozialpolitik im Wahlkampf geringfügig stärker betont als in der Normalphase. Damit wurde die Agenda-Setting-Regel aus dem Themenmanagement von fast allen Parteien beherzigt.
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Tabelle 1: Top-5-Themen jeder Partei mit deutlicher Abnahme von der Wahlkampfphase zur Normalphase Partei CDU CSU SPD FDP Die Grünen Die Linke
Themen
N
Umweltpolitik Bildungspolitik Wirtschaftspolitik Bildungspolitik Integrationspolitik Steuerpolitik Umweltpolitik Bildungspolitik Sozialpolitik Wirtschaftspolitik Bildungspolitik
32 27 29 42 57 46 24 10 40 24 18
Abnahme (in Prozentpunkten) -1,0 -4,3 -9,1 -6,9 -4,8 -1,8 -2,0 -4,9 -1,3 -4,0 -4,8
4.2 Verständlichkeit Betrachtet man zunächst die durchschnittlichen Ausprägungen des Hohenheimer Verständlichkeitsindex (HVI) über die Parteien im gesamten Untersuchungszeitraum, so lässt sich feststellen, dass deren Verständlichkeit in etwa zwischen der durchschnittlichen Verständlichkeit einer politikwissenschaftlichen Dissertation und dem Politikteil der Bild-Zeitung liegt. Die CDU schneidet hierbei jedoch deutlich schlechter ab als die übrigen Parteien und erreicht lediglich einen Wert von 6,5 auf der HVI-Skala. Am verständlichsten kommuniziert Die Linke (11,2 Punkte). Die übrigen vier Parteien bewegen sich zwischen diesen beiden Extremen (Bündnis90/Die Grünen: 8,9; SPD: 9,5; CSU: 9,9, FDP: 10,0). Eine geringe formale Verständlichkeit basiert in der Regel auf zu langen Sätzen, auf einem großen Anteil von Schachtelsätzen sowie auf der Verwendung ungebräuchlicher Wörter. Dabei sind die Homepage-News nicht grundsätzlich verständlicher als die Pressemitteilungen der Parteien. Bei der CSU, der SPD und der FDP bestehen keine gravierenden Unterschiede zwischen beiden Textarten. Bei der CDU sind die Pressemitteilungen deutlich verständlicher formuliert als die HomepageNews (10,6 vs. 5,7 auf der HVI-Skala); bei der Links-Partei ist es umgekehrt (9,6 vs. 14,1). Die Verständlichkeit der Kommunikation variiert aber nicht nur nach Parteien, sondern auch nach Themen. So erreichen die Texte zu außenpolitischen Themen im Durchschnitt einen Wert von 7,9 Punkten auf der HVI-Skala, Texte mit innenpolitischen Themen hingegen einen Mittelwert von 9,8 Punkten. Dieser
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Themeneinfluss zeigt sich ausnahmslos bei jeder der untersuchten Parteien (vgl. Abbildung 6). Abbildung 6:
Mittlere Ausprägungen des Hohenheimer Verständlichkeitsindex nach Politikbereich der untersuchten Texte (N=3353)
Unserer dritten Annahme zufolge müssten die Parteien im Wahlkampf verständlicher kommunizieren als sonst, um den Persuasionserfolg der Wahlkampfbotschaften zu maximieren. Um diese Annahme zu überprüfen, wurde die Verständlichkeit der wichtigsten fünf Themen (Top-5-Themen) jeder Partei in der Wahlkampfphase mit der Verständlichkeit derselben Themen in der Normalphase verglichen. Hierbei wurde das Thema „Wahlkampf“ jedoch ausgeklammert, um einen angemesseneren Vergleich der Themenverständlichkeit vor und nach der Wahl zu ermöglichen (die Fallzahl der wahlkampfbezogenen Texte fiel in der Normalphase äußerst gering aus). Das Ergebnis dieser Analyse ist eindeutig: Nur eine der sechs untersuchten Parteien (SPD) kommuniziert im Wahlkampf deutlich verständlicher als in der Normalphase (vgl. Abbildung 7). Bei drei Parteien (CDU, FDP, Grüne) fällt die Verständlichkeit im Wahlkampf entweder gleich oder sehr ähnlich aus wie in der Normalphase. Und bei CSU und Linkspartei zeigt sich sogar eine den Erwartungen entgegengesetzte Tendenz: Sie kommunizieren im Wahlkampf um 1 bzw. 1,3 Punkte weniger verständlich als in der Normalphase. An diesem Befund ändert sich auch dann nichts, wenn das Thema „Wahlkampf“zu den Top-5-Themen hinzugerechnet wird oder alle untersuchten
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Texte und Themen in die Betrachtung einbezogen werden. Unsere dritte Annahme hat sich demnach als falsch erwiesen. Abbildung 7:
Mittlere Ausprägungen des Hohenheimer Verständlichkeitsindex bei den Top-5-Themen jeder Partei in der Wahlkampfphase und der Normalphase (N=1524)
Viertens haben wir erwartet, dass Parteien ihre Kernkompetenz-Themen verständlicher kommunizieren als die Konkurrenz, die in diesen Themenfeldern keine Kernkompetenz zugeschrieben bekommt. Um diese Annahme zu überprüfen, wurden die Verständlichkeitswerte aller Parteien in vier Themenfeldern über den gesamten Untersuchungszeitraum ermittelt: Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Steuerpolitik und Umweltpolitik.5 Diesen Themenfeldern können jeweils relativ eindeutig Parteien zugeordnet werden. So gelten die Unionsparteien und die FDP in der Wirtschaftspolitik, die SPD und die Linkspartei in der Sozialpolitik, die FDP in der Steuerpolitik und die Grünen in der Umweltpolitik als überdurchschnittlich kompetent (vgl. Infratest dimap 2009). Betrachtet man die Ausprägungen des Hohenheimer Verständlichkeitsindex in den vier Themenbereichen bei allen Parteien (vgl. Abbildung 8), so lässt sich zunächst feststellen, dass die FDP im Bereich Wirtschaftspolitik den höchsten 5 Auf eine Aufteilung in Wahlkampf- und Normalphase wurde an dieser Stelle verzichtet, weil die Fallzahlen in den betrachteten Themenfeldern ansonsten zu klein gewesen wären.
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Verständlichkeitswert erzielt, ebenso wie Die Linke im Bereich Sozialpolitik. Diesen beiden Parteien gelingt es demnach, eines ihrer Kernkompetenz-Themen verständlicher zu kommunizieren als die übrigen Bundestagsparteien. Allerdings fällt auch auf, dass die Unionsparteien in der Wirtschaftspolitik die beiden letzten Plätze im Verständlichkeitsranking belegen, die SPD bei der Sozialpolitik den vorletzten Platz. Zudem teilt sich die FDP im Bereich Steuerpolitik den zweiten Platz mit der CSU (hinter der Linkspartei), und auch die Grünen müssen sich im Bereich Umweltpolitik mit dem zweiten Platz hinter der Linkspartei begnügen. Die Abstände zur Linkspartei fallen hierbei in beiden Fällen relativ deutlich aus; die Differenz beträgt jeweils mehr als einen Skalenpunkt. Abbildung 8:
Mittlere Ausprägungen des Hohenheimer Verständlichkeitsindex nach Parteien und Themen
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Insgesamt ergibt sich demnach in Bezug auf unsere vierte Annahme ein gemischter Befund: Für zwei Parteien (FDP, Die Linke) bestätigen sich die Erwartungen, während sie gleichzeitig in denselben Themenbereichen (Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik) für die anderen Parteien, die hier eine Kernkompetenz aufweisen, nicht bestätigt werden können. In den beiden Themenbereichen Steuerpolitik und Umweltpolitik können die Erwartungen ebenfalls nicht bestätigt werden. Auch unsere vierte Annahme kann demnach, zumindest in ihrer ursprünglichen, allgemeinen Form, nicht bestätigt werden: Die Parteien kommunizieren ihre jeweiligen Kernkompetenz-Themen nicht generell verständlicher als die jeweiligen Konkurrenten. Betrachtet man die vier untersuchten Themenfelder, ergibt sich zudem ein weiterer interessanter Befund: Die Linke schneidet in drei der vier Bereiche am verständlichsten ab; nur bei der Wirtschaftspolitik belegt sie hinter der FDP den zweiten Rang. Das bedeutet, dass es der Linkspartei im Untersuchungszeitraum gelang, sowohl in ihrem eigenen Kernkompetenzfeld Sozialpolitik als auch in den drei Kernkompetenzfeldern der anderen Parteien am verständlichsten oder am zweitverständlichsten zu kommunizieren. Die Linke kommunizierte demnach im Untersuchungszeitraum nicht nur generell am verständlichsten (vgl. Abbildung 6), sondern insbesondere auch in den Themenfeldern, die für sie und die anderen Parteien als zentral bezeichnet werden können.
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Zusammenfassung und Diskussion
Zusammenfassend ergeben sich in Bezug auf die vier untersuchten Annahmen folgende Ergebnisse: 1.
2.
Die Parteien fokussierten sich im Bundestagswahlkampf 2009 nicht stärker als sonst auf wenige Kernthemen. Im Gegenteil: Betrachtet man die Top-5Themen jeder Partei, so war die Themenfokussierung in der Wahlkampfphase geringer, teilweise sogar deutlich geringer ausgeprägt als in der Normalphase. Annahme 1 muss demnach zurückgewiesen werden. Die meisten Parteien fokussierten sich im Bundestagswahlkampf 2009 stärker als sonst auf eines ihrer Kernkompetenz-Themen. So ist bei der CSU ein besonderer Fokus auf die Wirtschaftspolitik, bei der SPD auf die Bildungspolitik, bei der FDP auf die Steuerpolitik, bei den Grünen auf die Umweltpolitik und bei der Linken auf die Sozialpolitik festzustellen. Die einzige Abweichung von der Erwartung stellt die CDU dar, die sich besonders auf die Umwelt- und auf die Bildungspolitik konzentrierte. Annahme 2 kann demnach weitgehend bestätigt werden.
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3.
4.
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Die Verständlichkeit der Parteien-Kommunikation war im Bundestagswahlkampf 2009 nicht generell höher als sonst. Lediglich bei der SPD zeigte sich in der Wahlkampfphase eine eindeutig höhere Verständlichkeit als in der Normalphase. Bei den anderen Parteien fiel die Verständlichkeit in beiden Untersuchungsphasen entweder ähnlich aus oder lag, bei CSU und Linkspartei, in der Normalphase sogar höher als im Wahlkampf. Annahme 3 muss demnach zurückgewiesen werden. Die Parteien kommunizierten – über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg betrachtet – ihre jeweiligen Kernkompetenz-Themen nicht generell verständlicher als die anderen Parteien. Hier ergaben sich jedoch gemischte Befunde: So schnitten die FDP im Bereich Wirtschaftspolitik und Die Linke im Bereich Sozialpolitik am verständlichsten ab. Demgegenüber steht ein sehr schlechtes Abschneiden der beiden Unionsparteien im Bereich Wirtschaftspolitik und der SPD im Bereich Sozialpolitik. Zudem erreichten die FDP im Bereich Steuerpolitik und Bündnis90/Die Grünen im Bereich Umweltpolitik jeweils nur den zweiten Platz im Verständlichkeitsranking. Annahme 4 muss demnach, zumindest in ihrer allgemeinen Form, zurückgewiesen werden. Interessanterweise kommunizierte Die Linke in drei der betrachteten Themenfelder am verständlichsten. Ihr gelang es, sowohl in ihrem eigenen Kernkompetenzfeld als auch in den Kernkompetenzfeldern der übrigen Parteien überdurchschnittlich verständlich zu kommunizieren.
Zusammengefasst bedeuten die Ergebnisse: Die Parteien haben im Bundestagswahlkampf 2009 gegen zentrale Regeln des Themenmanagements verstoßen. Keine der Parteien bemühte sich durchgängig um eine verstärkte Themenfokussierung. Lediglich eine besondere Betonung einzelner Kernkompetenzthemen gelang der Mehrzahl der Parteien; besonders erfolgreich war das Agenda-Setting der FDP in den letzten Wahlkampfwochen. Auch die Verständlichkeit wurde als wichtiger kommunikativer Faktor im Wahlkampf offensichtlich von den meisten Parteien verkannt. Betrachtet man die Befunde zu Annahme 4, lässt sich diese Feststellung in Bezug auf die Kernkompetenzthemen der Parteien auch für den gesamten Untersuchungszeitraum treffen. Es überrascht jedoch insbesondere, dass die gesteigerten potenziellen Kosten mangelnder Verständlichkeit im Wahlkampf (mögliche Stimmverluste) bei den Parteien zu keiner Verhaltensänderung führte. Zwei mögliche Erklärungen bieten sich an: Entweder ist den Parteien der doppelt positive Effekt gesteigerter Verständlichkeit im Wahlkampf nicht bewusst (Erhöhung des Persuasionspotenzials bei der direkten Parteien-BürgerKommunikation, Senkung des Übersetzungseinflusses der Medien bei der vermittelten Parteien-Bürger-Kommunikation). Oder sie schätzen ihn als nachrangig gegenüber anderen Aspekten ein, die bei der Gestaltung der Parteien-
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Kommunikation berücksichtigt werden können (wie z.B. die Demonstration von Fachkompetenz durch die Verwendung von Fachsprache). Die so beschriebenen Befunde unterliegen jedoch einer Einschränkung: Sie sind lediglich für die hier untersuchten Teilaspekte der Parteien-Kommunikation gültig, d.h. für Homepage-News und Pressemitteilungen. So ist es durchaus möglich und sogar wahrscheinlich, dass andere Formen der Wahlkampfkommunikation (z.B. Wahlwerbespots, Wahlplakate, Wahlprogramme) thematisch stärker fokussiert sind. Da es sich bei diesen Kommunikationsmitteln jedoch um Wahlkampfkommunikation handelt, die lediglich in der Wahlkampfphase eingesetzt wird, können sie nicht für einen Vergleich zwischen Wahlkampfphase und Normalphase herangezogen werden. Für solch einen Vergleich kommen lediglich Kommunikationsmittel in Frage, die sowohl in der Wahlkampfphase, als auch außerhalb der Wahlkampfphase (in einer ausreichenden Fallzahl) eingesetzt werden und gleichzeitig eine möglichst hohe Relevanz für die Themenwahrnehmung bei den Bürgern haben. Diesen Kriterien entsprechen insbesondere die beiden untersuchten Kommunikationsmittel. Weitere mögliche Untersuchungsobjekte für zukünftige Untersuchungen wären beispielsweise Bundestagsreden, öffentliche Interviews und Medienauftritte von Politikern (z.B. in Talkshows). Diese weisen jedoch spezifische Merkmale mündlicher Kommunikation auf, die eine Erhebung der Textverständlichkeit erschweren (z.B. Berücksichtigung von Modulation, Gestik und Mimik, Bestimmung von Satzgrenzen, Umgang mit grammatikalisch unvollständigen Sätzen) und deshalb vor einer entsprechenden Untersuchung erst noch gelöst werden müssen. Eine weitere mögliche Erklärung für die mangelnde Themenfokussierung bei den hier untersuchten Parteiveröffentlichungen könnte darin begründet sein, dass die Parteien auf ihren Webseiten und in ihren Pressemitteilungen nicht nur eigene Themen kommunizieren, sondern auch auf die Themensetzungen der anderen Parteien reagieren. Dies hätte automatisch einen negativen Einfluss auf den Anteil der eigenen Wahlkampfthemen an der Partei-Kommunikation und eine Angleichung der Themenagenden zwischen den Parteien zur Folge. Inwiefern dies im Bundestagswahlkampf 2009 zutraf, kann auf der Grundlage der hier durchgeführten Analysen nicht beantwortet werden. Es wäre demnach durchaus interessant, in einer Re-Analyse der hier verwendeten Daten den Anteil der agierenden und der reagierenden Parteien-Kommunikation zu ermitteln. Aber selbst wenn solch eine Analyse zu dem Ergebnis führen sollte, dass die reagierenden Stellungnahmen der Parteien einen relevanten Anteil an deren Veröffentlichungen darstellen, würde dies nichts an dem Gesamtergebnis ändern. Denn auch, wenn es im Rahmen eines professionellen Themenmanagements durchaus angemessen sein kann, auf bestimmte Äußerungen der Konkurrenz zu reagieren, darf dies nicht dazu führen, dass die Fokussierung der eigenen Themen verloren geht. Hierfür spielt neben der
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Thematisierung der eigenen Wahlkampfthemen insbesondere auch die Dethematisierung der gegnerischen Themen eine wichtige Rolle. Eine Erklärung für die generellen Unterschiede der Verständlichkeit zwischen den Parteien könnte in deren unterschiedlichen Zielgruppen liegen. So fällt auf, dass Die Linke von allen untersuchten Parteien am verständlichsten kommuniziert. Möglicherweise kann dies mit der Absicht der Linkspartei erklärt werden, gerade auch politik- und bildungsfernere Wählerschichten anzusprechen. Demgegenüber steht jedoch das ebenfalls relativ gute Abschneiden der FDP, die zusammen mit Bündnis90/Die Grünen immer wieder – und nicht ganz grundlos – als Partei der Bessergebildeten bezeichnet wird (vgl. z.B. Neugebauer 2007: 99ff.). Ebenso wenig erklärbar ist das besonders schlechte Abschneiden der CDU bei den Verständlichkeitswerten. Denn der Anteil der politisch involvierten und höher gebildeten Wähler liegt bei der CDU deutlich niedriger als bei FDP und Grünen (vgl. ebd.). Auch wenn sich nachweisen lassen sollte, dass sich die Parteien bei der Verständlichkeit ihrer Kommunikation tatsächlich an den Verständnisvoraussetzungen ihrer Wählerschaft orientieren, so wäre dies jedoch nur ein weiteres Indiz dafür, dass sie zentrale Regeln der Wahlkampfkommunikation vernachlässigen. Denn: Gerade die Ansprache und Aktivierung der politikferneren Wählergruppen sollte ein zentrales Ziel dieser kommunikativen Aktivitäten sein. Denn im Gegensatz zu politisch höher involvierten Wählern kann bei dieser Gruppe nicht davon ausgegangen werden, dass sie aktiv nach Informationen zu den Wahlkampfbotschaften der Parteien sucht. Zugleich sind diese Wählergruppen aufgrund ihres geringeren Informationsniveaus häufig leichter durch Wahlkampfkommunikation beeinflussbar (vgl. z.B. Converse 1962, Zaller 1992). Dies gilt jedoch nur dann, wenn diese Wähler von den Botschaften der Parteien auch erreicht werden und sie die Botschaften auch verstehen können. Aus Sicht der Parteien wären durch eine Berücksichtigung von Verständlichkeitsaspekten im Wahlkampf zweifellos positive Wirkungen auf den Wahlerfolg zu erwarten. Fraglich ist jedoch, ob dies auch auf die gesellschaftliche Betrachtungsperspektive übertragen werden kann. Zwar kann aus demokratietheoretischer Sicht die Verständlichkeit politischer Kommunikationsprozesse als Grundlage einer funktionierenden Demokratie bezeichnet werden (vgl. z.B. Habermas 1984: 137ff., Sartori 1992). Es fragt sich aber dennoch, ob eine Betonung des Verständlichkeitsaspektes bei der politischen Kommunikation die Gefahr einer Trivialisierung in sich birgt. Zweifellos sollte durch eine Betrachtung der Verständlichkeit nicht die Funktion der politischen Kommunikation als Faktor der Sprachkultur und Sprachentwicklung aus dem Blickfeld geraten. Hinzu kommen weitere wichtige Aspekte wie die emotionale Funktion politischer Sprache, die im besten Fall das Interesse der Bevölkerung an politischen Prozessen eher steigern und nicht – wie im Falle banaler und trivialer Sprache zu er-
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warten wäre – senken sollte. Aus Sicht der Verfasser belegen die vorliegenden Befunde jedoch, dass das Erreichen einer „Trivialitätsschwelle“, bei der solche Konsequenzen zu erwarten wären, noch weit entfernt ist. Eine Vermeidung unnötiger Verständlichkeitshürden, wie sie sich in den Untersuchungstexten sehr zahlreich fanden, kann deshalb nur schwerlich als bedenkliche Trivialisierung angesehen werden. Es stellt sich abschließend die Frage, wie die teilweise geringe Verständlichkeit der hier untersuchten Texte erklärt oder möglicherweise sogar entschuldigt werden kann. Da es sich bei den untersuchten Texten zum Großteil um kurzfristig veröffentlichte (und wenig langlebige) Homepage-Texte bzw. Pressemitteilungen handelt, liegt die Vermutung nahe, dass häufig ein Mangel an Zeit oder personellen Ressourcen aufseiten der Parteien zu einer Beeinträchtigung der Verständlichkeit führt. Hinzu dürften in einigen Fällen auch taktische Erwägungen (z.B. Vermeidung von Festlegungen und Verschleierung von Wahlzielen) kommen: Nicht immer wollen Politiker verstanden werden. Gerhard Schröder etwa war durchaus in der Lage, sehr verständlich zu reden – Subjekt, Prädikat, Objekt. Und zwar dann, wenn er populäre Maßnahme verkündete. Unpopuläres – wie die Agenda 2010 – verpackte er hingegen in ausufernden Satzmonstern. Denn mit Sätzen, die 70 Wörter lang sind, wird man in der Tagesschau nicht zitiert. Dies war übrigens keine Spezialität von Schröder alleine. Auch alle anderen Bundeskanzler bedienten sich dieser Taktik (vgl. Niecke 2006). Und schließlich ist Unverständlichkeit oft auch das Resultat parteiinterner Abstimmungsund Kompromissfindungsprozesse. Diese können aus demokratietheoretischer Sicht durchaus als wünschenswert bezeichnet werden und sollten deshalb mit dem Ziel einer höheren Verständlichkeit abgewogen werden. Auch die taktischen und die ressourcenbedingten Aspekte der Parteien-Kommunikation sind aus Sicht der einzelnen Parteien zweifellos wichtig und relevant. Aus demokratietheoretischer Sicht können diese Gesichtspunkte jedoch keine Entschuldigung für mangelnde Verständlichkeit sein. Literatur Amstad, Toni (1978): Wie verständlich sind unsere Zeitungen? Zürich: StudentenSchreib-Service. Bachl, Marko/Brettschneider, Frank (2011): Wahlkämpfe in Krisezeiten. Ein Vergleich der Medien- und der Bevölkerungsagenda vor den Europa- und Bundestagswahlen 2009. In: Tenscher, Jens (Hrsg.): Kampagnen nach Wahl. Vergleichende Analysen aus Anlass der Wahlen zum Deutschen Bundestag und zum Europäischen Parlament im Jahr 2009. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (im Erscheinen).
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Anhang
Tabelle 2: Elemente des Hohenheimer Verständlichkeitsindexes Lesbarkeitsformeln Amstad-Formel 1. Neue Wiener Sachtext-Formel Deutscher SMOG-Index Lix Lesbarkeitsindex
Lesbarkeitsparameter Durchschnittliche Wortlänge Durchschnittliche Satzteillänge Durchschnittliche Satzlänge Anteil langer Wörter (> 6 Zeichen) Anteil langer Satzteile (> 12 Wörter) Anteil langer Sätze (> 20 Wörter)
Die in Tabelle 2 aufgeführten Formeln und Parameter wurden anhand der Analysesoftware „TextLab“ erhoben und für die Berechnung des „Hohenheimer Verständlichkeitsindexes“ (HVI) verwendet.6 Dieser Index wird auf folgende Weise entwickelt und berechnet: 1.
2.
3.
Benchmarking: Zunächst wurden Zielwerte (Benchmarks) und Negativwerte definiert. Hierfür wurden einerseits Texte von den Parteien-Homepages untersucht, in ihrer Verständlichkeit bewertet und optimiert, um die mögliche Bandbreite der Verständlichkeit einschätzen zu können. Zum anderen wurden als Vergleichswerte Texte aus politikwissenschaftlichen Dissertationen sowie Artikel aus der Politik-Berichterstattung der Bild-Zeitung analysiert. Auf dieser Basis wurden für jeden Formelwert und jeden Parameter Zielwerte und Negativwerte gebildet. Skalierung: Auf der Basis des Benchmarkings wurden alle potenziell möglichen Messwerte der Verständlichkeitsformeln und -parameter einem Wert auf einer Skala von 0 (sehr unverständlich) bis 10 (sehr verständlich) zugeordnet. Der Wert 0 entspricht hierbei dem Verständlichkeitsgrad einer politikwissenschaftlichen Dissertation (Experten-Verständlichkeit), der Wert 10 dem Verständlichkeitsgrad eines in Bezug auf die Verständlichkeit optimierten Textes (Allgemeinverständlichkeit). Index-Bildung: Die einzelnen Skalenwerte werden dann a) zu einem Durchschnittswert für die Formeln und b) zu einem Durchschnittswert für die Parameter verrechnet. Beide Werte werden schließlich zu einem Indexwert addiert, der von 0 (= geringe Verständlichkeit) bis 20 (= hohe Verständlich-
6 Für die Berechnung der hier aufgeführten Formeln und Parameter soll an dieser Stelle auf die jeweiligen Ursprungsquellen verwiesen werden: Amstad-Formel (Amstad 1978), 1. Neue Wiener Sachtextformel (Bamberger/Vanecek 1984), deutscher SMOG-Index (Bamberger/Vanecek 1984), Lix Lesbarkeitsindex (Björnsson 1968), Satzteile (Harrison/Bakker 1998)
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keit) reicht. Eine durchschnittliche politikwissenschaftliche Dissertation erreicht auf diesem Index einen Wert von etwa 0 Punkten, ein durchschnittlicher Politik-Artikel aus der Bild-Zeitung einen Wert von etwa 18 Punkten.
Kurzbiographien der Autoren
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Kurzbiographien der Autoren
Alemann, Ulrich von, geb. 1944, Prof. Dr.; Lehrstuhl für Politikwissenschaft II an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Veröff. u.a.: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. Bolgherini, Silvia, geb. 1973, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Politikwissenschaft an der Universität Neapel Federico II; Veröff. u.a.: Germany after the Grand Coalition, Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan 2010 (Mithrsg. und Mitverf.). Brettschneider, Frank, geb. 1965, Prof. Dr., Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim; Veröff. u.a.: Spitzenkandidaten und Wahlerfolg. Personalisierung – Kompetenz – Parteien. Ein internationaler Vergleich, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002. Debus, Marc, geb. 1978, Dr. rer. soc., Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung der Universität Mannheim; Veröff. u.a.: Reform Processes and Policy Change: Veto Players and Decision-Making in Modern Democracies, New York: Springer 2010 (Mithrsg. und Mitverf.); Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011 (Mitverf). Grotz, Florian, geb. 1971, Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg; Veröff. u.a.: Germany after the Grand Coalition, Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan 2010 (Mithrsg. und Mitverf.). Güllner, Manfred, geb. 1941, Prof.; Gründer und Geschäftsführer von forsa und Honorarprofessor für empirische Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin; Veröff. u.a.: Die Bundestagswahl 2002. Eine Untersuchung im Zeichen hoher politischer Dynamik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005 (Mithrsg. und Mitverf.).
O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93223-1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Kurzbiographien der Autoren
Jesse, Eckhard, geb. 1948; Prof. Dr.; Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz; Veröff. u.a.: Systemwechsel in Deutschland. 1918/19 - 1933 - 1945/49 - 1989/90, 2. Aufl., Köln: Böhlau Verlag 2011. Kercher, Jan, geb. 1980, Dipl.rer.com; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim; Veröff. u.a.: Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker anhand quantitativer Textmerkmale, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. Kuhn, Yvonne, geb. 1975, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HelmutSchmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg; Veröff. u.a.: Professionalisierung deutscher Wahlkämpfe? Wahlkampagnen seit 1953, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2007. Kulick, Manuela S., geb. 1982, Dipl.-Sozialwiss., Projektleiterin bei GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften; Veröff. u.a. Die Wähler der Linkspartei in ihren Hochburgen (mit H. Onken), in: ZParl, 2008. Matuschek, Peter, geb. 1973, Dr.; Leiter des Bereichs Politik- und Sozialforschung bei forsa in Berlin; Veröff. u.a.: Erfolg und Misserfolg konservativer Parteien. Die spanische AP-PP und das portugiesische CDS-PP im Vergleich. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. Neugebauer, Gero, geb. 1941, Dr.rer.pol.; Visiting Fellow am Otto-StammerZentrum, Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin; Letzte Buchveröff.: Politische Milieus in Deutschland, Bonn: Dietz Verlag 2007. Niedermayer, Oskar, geb. 1952, Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin; Veröff. u.a.: Bürger und Politik, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005. Probst, Lothar, geb. 1952, Prof. Dr., Leiter des Arbeitsbereichs Wahl-, Parteienund Partizipationsforschung (AWaPP) am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen; Veröff. u.a.: Politische Institutionen, Parteien und Wahlen im Bundesland Bremen (Hg.), Münster: LIT-Verlag 2011. Reiser, Marion, geb. 1975; Dr.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der GoetheUniversität Frankfurt; Veröff. u.a. Independent Local Lists in East and West
Kurzbiographien der Autoren
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European Countries, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008 (Mithrsg. und Verf.). Schmid, Josef, geb. 1956, Prof. Dr.; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen; z.Z. Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät; Veröff. u.a.: Zwischen Anarchie und Strategie. Der Erfolg von Parteiorganisationen, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2005 (Mithrsg. u. Mitverf.). Spier, Tim, geb. 1975, Dr.; Akademischer Rat am Lehrstuhl für Politikwissenschaft II an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Veröff. u.a.: Modernisierungsverlierer? Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. Vorländer, Hans, geb. 1954, Prof. Dr.; Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden; Veröff. U.a.: Demokratie. Geschichte, Formen, Theorien, 2. Aufl., C.H. Beck 2010. Weigl, Michael, geb. 1971, Dr., Wissenschaftlicher Assistent am GeschwisterScholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Veröff. u.a.: Die CSU. Interne Entscheidungsprozesse, Strategische Potentiale, Baden-Baden: Nomos, 2011 (im Erscheinen). Zolleis, Udo, geb. 1974, Dr.; Honorarprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen; Veröff. u.a.: Zwischen Anarchie und Strategie. Der Erfolg von Parteiorganisationen, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2005 (Mithrsg. u. Mitverf.).