Sigmar Mosdorf Hubert Kleinert
Die Renaissance der Politik
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Sigmar Mosdorf Hubert Kleinert
Die Renaissance der Politik
layout by AnyBody Wie das Kaninchen vor der Schlange erstarrt unsere Gesellschaft angesichts der weltweiten Strukturumwälzungen. Mosdorf und Kleinert helfen uns auf die Sprünge. Zusammen mit nam haften Autoren aus Wirtschaft, Politik und Kultur eröffnen sie uns einen neuen Umgang mit der Globalisierung: Durch eine Renaissance des Politischen, durch den Willen zur Gestaltung kann sie der Schlüssel zum 21. Jahrhundert werden. (Klappentext) ISBN: 344275531X Taschenbuch - 280 Seiten - btb/Goldmann Vlg., M. Erscheinungsdatum: 1998
Inhalt Inhalt............................................................................................ 2 Vorwort ........................................................................................ 3 Deutschland - eine verdrossene Gesellschaft?...................... 3 Einleitung..................................................................................... 9 Worum es geht: Für eine neue Politik in Deutschland ........... 9 I. Das Gesicht des Strukturwandels ......................................... 37 1. Was ist eigentlich Globalisierung?.................................... 37 2.Globalisierung und Informationsgesellschaft..................... 72 3.Globalisierung und Individualisierung ................................ 90 4. Ende der Arbeitsgesellschaft? ........................................ 105 5. Nachhaltigkeit und Globalisierung .................................. 141 II. Renaissance der Politik ...................................................... 157 6. Primat der Ökonomie - Ende der Politik? ....................... 157 7. Der moderne Staat.......................................................... 175 8. Transnationaler Ordnungsrahmen.................................. 187 9. Europa als Chance.......................................................... 196 10. Die Gegenkraft des Regionalen.................................... 205 III. Ausblick auf die Gesellschaft von morgen ........................ 212 11. Kultur der Selbständigkeit ............................................. 212 12. Kultur der Solidarität...................................................... 223 13. Kultur der Nachhaltigkeit ............................................... 234 IV. Eine moderne Linke .......................................................... 240 14. Mit den Werten der Aufklärung ins 21. Jahrhundert..... 240 15. Thesen zur Reform der deutschen Politik .................... 251
Vorwort Deutschland - eine verdrossene Gesellschaft? Deutschland, im Frühjahr 1998: ein Land mit notorisch schlechter Laune. Allenthalben werden Aufbrüche gefordert, 'Stimmen gegen den Stillstand' gesammelt. Schon vor Jahresfrist hatte der amtierende Bundespräsident einen Ruck gefordert, der durch dieses Land gehen müsse. Wortreich beklagte er den Verlust wirtschaftlicher Dynamik, eine Erstarrung der Gesellschaft und eine 'unglaubliche mentale Depression'. Mutlos seien sie geworden, die Deutschen. Wenn sich dies nicht ändern lasse, werde das Land im internationalen Vergleich zurückfallen. Allein blieb Roman Herzog mit seiner Philippika nicht. Zahllos sind mittlerweile die Sprecher, die ähnliches vortragen. Vom Bundesverband der Deutschen Industrie über die Spitzen der Gewerkschaft und die Regierungs- wie Oppositionsparteien meinen fast alle, die sich zu öffentlicher Rede berufen fühlen, daß es so, wie es ist, in Deutschland nicht weitergehen könne. Geschehen freilich ist seither nicht eben viel. Eine gescheiterte Steuerreform, eine ausufernde Rentendebatte, wachsender Verdruß an einer Regierung, dessen Steuermann vielen nicht mehr geeignet scheint, das Land ins nächste Jahrtausend zu führen, jede Menge Angst vor wirtschaftlichem und sozialem Niedergang - aber sonst? Sicher ist da die Hoffnung, daß mit einem Machtwechsel im Herbst manches anders werden könnte. Aber diese Hoffnung ist eher vage und unbestimmt. Sie speist sich aus Stimmungen, Befürchtungen und Gefühlslagen, weniger aus klaren Alternativen. Gewiß wollen die meisten Menschen den Wechsel. Sie haben den Eindruck, daß es nun wirklich genug sei mit der Ära Kohl, von der neue Impulse nicht mehr erwartet werden. Aber was genau sich dann ändern soll, bleibt eigenartig diffus. Der Wunsch nach Veränderung verbindet sich -3 -
mit der Angst davor. Das Wissen darum, daß es auf den alten Pfaden nicht weitergehen kann, geht einher mit der Sorge, daß allzu viele liebgewordene Besitzstände dann zur Disposition stehen könnten. Wo aber Veränderungswunsch und Veränderungsangst zusammenkommen, entsteht eine Gefühlsmelange, die zum Jammern und Lamentieren geradezu herausfordert. Die Gesellschaft ahnt, daß es nicht um irgendein Problem geht, das zu lösen ist, sondern daß wir es mit fundamentalen Veränderungen zu tun haben. Und sie spürt, daß zu viele zu viel Verschiedenes damit meinen, wenn sie von Aufbruch und Veränderung reden. Und daß sie darüber immerfort nur reden. In dieser Lage fällt Orientierung nicht leicht. Zu solcher Orientierung wollen wir mit diesem Buch beitragen. Wir wollen zeigen, daß wir uns inmitten einer Periode des Umbruchs befinden. Wir wollen beschreiben, daß es sich um einen Umbruch von Strukturen handelt, dessen Ausmaße in der neueren Geschichte nur zu vergleichen sind mit der Ablösung der Agrargesellschaft durch die Industriegesellschaft. Diese Umbrüche, die Rahmen- und Handlungsbedingungen für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft verändern, sind mit vier Stichworten näher zu bezeichnen: Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung und Krise der Arbeitsgesellschaft. Unter Globalisierung verstehen wir die Entgrenzung und Entfesselung eines sich zunehmend weltweit organisierenden Wettbewerbs. Digitalisierung meint die Entstofflichung der Arbeit und der Produkte infolge der Revolutionierung der Informationsund Kommunikationssysteme. Als Individualisierung bezeichnen wir den Prozeß der Auflösung von Traditionen und klassischer Sozial- und Millieubindungen zugunsten einer wachsenden Vielfalt von Wahl- und Handlungschancen für den einzelnen - Wahl- und Handlungschancen, die für viele Menschen zugleich auch Entscheidungslasten bedeuten. Mit dieser Loslösung des einzelnen von überlieferten Traditionen und Millieubindungen ist zugleich das Problem eines wachsenden Vorzugs von -4 -
Einzelinteressen gegenüber sozialer Gemeinwohlorientierung aufgeworfen. Als Krise der Arbeitsgesellschaft betrachten wir die säkulare Dimension der Probleme des Beschäftigungssystems moderner Marktgesellschaften, die sich auf den klassischen Wegen von Konjunktur- und Wachstumspolitik allein nicht mehr werden lösen lassen. Alle genannten Entwicklungen hängen miteinander zusammen, wirken zusammen, bedingen da und dort sogar einander. Sie sind dennoch analytisch unterscheidbar. Man mag dabei die Globalisierung des Wettbewerbs als das grundlegende Element der Veränderung ausmachen. Doch auch sie war nur möglich auf der Grundlage der Revolution der Informations- und Kommunikationssysteme. Vor allem diese fundamentalen Veränderungen, deren Ausmaß, Ursachen und Wirkungen wir zunächst genauer nachgehen wollen, führen dazu, daß das Erfolgsmodell einer sozial gebändigten Marktwirtschaft, wie es die deutsche Nachkriegsgeschichte bis heute bestimmt hat, aus den Fugen gerät. Es gerät aus den Fugen, einmal, weil sich strukturelle Voraussetzungen für diesen Erfolg im Zeitalter der Globalisierung auflösen. Aber auch, weil die Politik sich schwertut, sich dem Neuen wirklich zu stellen. Die einen tun sich schwer, der Veränderung in ihrem ganzen Ausmaß ins Auge zu blicken. Nur zu gern dementieren sie, daß von Strukturumbrüchen überhaupt auszugehen sei, tun die Globalisierung als wirtschaftsliberalen Mythos ab. Die anderen gebärden sich umgekehrt geradewegs so, als hätten sie nur auf die Gelegenheit gewartet, mit der Keule eben dieser Globalisierung endlich gegen 'Gleichmacherei' und angebliche sozialstaatliche Überversorgung zu Felde zu ziehen und ihren Tanz ums Goldene Kalb nun auch noch mit den höheren Weihen einer modernen Gesellschaftsphilosophie ausstatten zu können. Alle zusammen treffen in Deutschland auf eine vergleichsweise saturierte Gesellschaft, die es sich recht gut eingerichtet hatte in einem im großen und ganzen ziemlich kommod funktionierendem System des sozial gebändigten Kapitalismus. -5 -
Diese Gesellschaft ist nicht nur wenig auf die Aufgabe vorbereitet, etwas Neues zu gestalten. Schon die Probleme, die die deutsche Vereinigung aufgeworfen hat, waren jedenfalls der westdeutschen Gesellschaft eigenartig fremd geblieben. Die Notwendigkeit zur Gestaltung des Neuen trifft auch auf ein Land, in dem viele - nicht alle - nicht wenig zu verlieren haben. Das macht Veränderung nicht leichter. Erst recht dann nicht, wenn die Politik sowenig Orientierung bietet wie heute und das Ausmaß der Veränderungen lieber kleinmütig verschweigt. Geht es nicht vielleicht doch noch ein Stück so weiter wie immer? Aber weil es keinen Sinn hat, den sozialen Wandel dieser Epoche aufhalten zu wollen, und weil es noch weniger Sinn hat, ihn zu verleugnen, gibt es zu dieser Gestaltung des Neuen keine Alternative. Entweder wir versuchen, Übergänge zu schaffen und einer veränderten sozialen Realität jene politischen Rahmensetzungen zu geben, die die zerstörerischen Kräfte dieses Wandels bändigen können und die die sozialen Folgen mindestens erträglich machen, oder dieser Wandel setzt sich hinter unserem Rücken einfach durch - anarchisch und ungesteuert. Dann aber werden die sozialen und politischen Konsequenzen um so härter sein. Können wir durch gesellschaftliche und politische Reformen den alten Gesellschaftsvertrag des sozial gebändigten Kapitalismus aus der Spätphase des Industriezeitalters in die neue soziale Realität der Informationsund Dienstleistungsgesellschaft überführen? Können wir ihn dadurch erneuern, daß wir neue Fundamente schaffen, die der veränderten sozialen Realität eher entsprechen als die Strukturen, die aus der alten Industriegesellschaft hervorgewachsen sind? Verschwinden mit den institutionellen Grundlagen des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus auch die Chancen zur sozialen Bändigung der Marktkräfte, oder gelingt uns der Ausgleich zwischen Freiheit und Gerechtigkeit in einer sozialökologischen Bürgergesellschaft? Das sind die zentralen Fragen, die zu beantworten heute und in den vor uns liegenden Jahren aller Politik aufgegeben sind. -6 -
Um Antworten auf diese Fragen von einem sicheren Gerüst aus suchen zu können, wollen wir - nach einem einleitenden Problemaufriß zu den Aufgaben deutscher Politik an der Schwelle des neuen Jahrtausends - jene Veränderungen genauer in den Blick nehmen, die das Wesen des Neuen ausmachen. Was ist dran an der heutzutage allgegenwärtigen Rede von der Globalisierung? Was genau hat sich wirklich verändert? Wo sind die Chancen, wo liegen die Risiken? Welche Bedeutung für die Entwicklung von Gesellschaften hat die Revolutionierung der Informationsund Kommunikationssysteme? Und geht der Arbeitsgesellschaft tatsächlich die Arbeit aus? Schafft Individualisierung tatsächlich eine Gesellschaft der 'Ichlinge', in der die soziale Gemeinwohlorientierung auf der Strecke bleiben muß? Was bedeuten diese Veränderungen für das Ziel der ökologischen Nachhaltigkeit? Diese Fragen bestimmen den ersten Teil des Buches. Anschließend befassen wir uns mit Aufgaben und Chancen politischer Steuerung in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Wenn Politik Voraussetzung ist für die zivilisatorische Einhegung der Marktkräfte, die Globalisierung aber die Balance zwischen den Systemen Markt, Staat und Gesellschaft zugunsten der Ökonomie nachhaltig verschiebt, was folgt daraus für die Chancen einer politischen Regulierung von Gemeinwesen? Muß die Politik gegenüber dem schrankenlosen Wettbewerb auf der Strecke bleiben - und jeder Versuch des Ausgleichs von Freiheits- und Gleichheitswerten gleich mit? Welche Chancen hat ein Politikansatz, der von der Notwendigkeit eines transnationalen Ordnungsrahmens ausgeht? Schließlich wollen wir die Frage diskutieren, welche Schlußfolgerungen eine moderne politische Linke aus den beschriebenen Wandlungsprozessen ziehen muß. Muß sie sich vom klassischen linken Grundmißtrauen gegenüber unternehmerischer Freiheit lösen? Wie ist vor dem Hintergrund der Tradition der Linken der Zusammenhang von Markt, Freiheit und Sozialverantwortung in einer Gesellschaft der -7 -
neuen Selbständigkeit auszutarieren? Und wie verhält sich dies zum Leitbild ökologischer Verantwortung und nachhaltiger Entwicklung? Was bleibt in der entfesselten Wettbewerbsgesellschaft, im 'Wettlauf der Besessenen' (Paul Krugmann) noch von den ökologischen Notwendigkeiten des Maßes und der Entschleunigung? Den Schluß des Buches bilden Thesen zur Reform der deutschen Politik und Gesellschaft. Wir wollen damit unseren Beitrag zur Antwort auf die vielgestellte Frage leisten, was sich demnächst wirklich ändern muß und ändern kann in Deutschland. Wir wollen damit keinem Regierungsprogramm vorgreifen. Wir wollen uns da durchaus nicht verheben. Aber wir gehen schon davon aus, daß unsere Vorschläge in das einfließen sollten, was reformerische Politik in Deutschland in den nächsten Jahren auszumachen hätte. Jedenfalls hoffen wir darauf. Bonn, im Juni 1998 Hubert Kleinert und Siegmar Mosdorf
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Einleitung Worum es geht: Für eine neue Politik in Deutschland Nach der Statistik der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit hatte die Zahl der Arbeitslosen im Februar 1998 die Rekordmarke von fast 4,8 Millionen erreicht. Bis zum April sind diese Zahlen im wesentlichen unverändert geblieben. Rechnet man die Dunkelziffer hinzu, so dürften in der Bundesrepublik Deutschland im Frühjahr 1998 mehr als sechs Millionen Menschen, die einen Erwerbsarbeitsplatz suchen, vergeblich danach Ausschau halten. Dabei sind die Wirtschaftsdaten mittlerweile wieder ganz passabel. Mindestens 2,5 Prozent reales Wirtschaftswachstum sind für dieses Jahr prognostiziert. Der Export erwirtschaftet wieder wachsende Handelsbilanzüberschüsse, viele große Unternehmen schreiben schwarze Zahlen. Die Aktienkurse erreichen Rekordhöhen. Doch was den Aktionären glänzende Gewinnausschüttungen sichert, geht an den Arbeitsmärkten glatt vorbei. 'Jobless growth' heißt das in der Sprache der Ökonomen, 'Entkoppelung von Wachstum und Beschäftigung' im Deutsch der nüchternen Gutachter. Die Aktienkurse steigen - nicht obwohl, sondern weil Arbeitsplätze abgebaut werden. Die Arbeitslosigkeit hat fatale Konsequenzen für unser Sozialsystem, das sich zu mehr als drei Vierteln aus Beitragszahlungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert. Während durch Arbeitslosigkeit wachsende Leistungsansprüche an die Sozialsysteme entstehen, bleiben die Beitragszahlungen aus dem gleichen Grunde aus. Daß mit weniger Beitragszahlern die Finanzierung steigender Leistungsansprüche immer schwerer zu bewerkstelligen sein muß, liegt auf der Hand. So zeigt sich derzeit immer deutlicher, wie sehr unser beitragsfinanziertes System der sozialen Sicherung darauf beruht, daß Arbeitslosigkeit nur als vorübergehendes konjunkturelles Ausnahmephänomen auftritt und annähernde Vollbeschäftigung die Regel ist. Gerade dann, -9 -
wenn das System am meisten benötigt wird, hat es die geringste Leistungskraft. Der Weg weiterer Beitragserhöhungen ist längst versperrt. Lange schon klagen Arbeitnehmer, Mittelschichten und Unternehmer gleichermaßen über immer höhere Abgabenbelastungen, haben die Lohnnebenkosten ein Niveau erreicht, das zur Ursache weiterer Arbeitsplatzverluste wird oder die Arbeit in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse und die Schattenwirtschaft abdrängt - mit weiterem Beitragsausfall als Folge. Hinzu kommt noch die Finanzierung allgemeiner arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen durch die Versicherungssysteme, die sogenannten 'beitragsfremden Leistungen'. Durch sie wird die Finanzausstattung der Sicherungssysteme weiter geschwächt. Diese Zusammenhänge sind in der politischen Debatte hierzulande im wesentlichen unumstritten. Dennoch haben Vorschläge zur Entlastung bei Lohnnebenkosten und sozialen Sicherungssystemen bislang kaum eine Chance auf Umsetzung gehabt. So gerät trotz insgesamt hoher Abgabenbelastung für die Beitragszahler das sozialstaatliche Leistungsangebot unter den Druck chronischer Unterfinanzierung. Die Folge davon ist eine Reduzierung des Leistungsangebots. Immer neue Maßnahmen und immer neue Vorschläge dazu sind in den vergangenen Jahren diskutiert oder schon umgesetzt worden. Zugleich wurden die Zumutbarkeitsregelungen verschärft: Arbeitsuchende sind immer mehr gehalten, auch dann einen Job anzunehmen, wenn dieser weit unter dem Standard liegt, den sie von ihrer beruflichen Erfahrung, Qualifikation und Entlohnung her mitbringen. Grund zur Unzufriedenheit haben freilich Arbeitslose und Arbeitnehmer gleichermaßen: Die Arbeitslosen, weil sie trotz Herabsetzung von Leistungsansprüchen und Zumutbarkeitsregelungen vielfach dennoch vergeblich einen neuen Arbeitsplatz suchen. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich in den letzten zehn Jahren in Deutschland verachtfacht. Die Arbeitnehmer müssen seit Jahren auf Reallohnsteigerungen verzichten - und trotzdem um -1 0 -
ihren Arbeitsplatz bangen. Und sie müssen vielfach erleben, daß ihnen der Verzicht auf übertarifliche Leistungen und zusätzliche Lohnbestandteile zugemutet wird, während gleichzeitig die Aktionäre ihrer Unternehmen Rekorddividenden einstreichen. Doch es sind nicht nur Arbeitslose und Arbeitnehmer, die Klage führen und sich mit sozialen Abstiegsängsten plagen. Die leeren Kassen des Staates führen zum Rückgang öffentlicher Zukunftsinvestitionen und zum Abbau notwendiger Infrastrukturleistungen. Die jüngere Generation ist von den sozialen Folgeproblemen gleich doppelt betroffen. Die Zahl der fehlenden Lehrstellen hat im Herbst 1997 einen Höchststand erreicht, und die Mehrheit der 1,9 Millionen Studierenden sieht in hoffnungslos überfüllten akademischen Ausbildungseinrichtungen einer unsicheren Zukunft entgegen. Während längst erwiesen scheint, daß sie angesichts der strukturellen Krise des Rentensystems um ihre spätere Alterssicherung fürchten müssen, bleibt höchst ungewiß, welcher Arbeitsmarkt die Jungakademiker dieses Landes jemals aufnehmen wird. Die Liste derjenigen Gruppen, die Grund zur Klage haben, ist damit längst nicht vollständig. Da sind die breiten Mittelschichten, die über hohe Steuerund Abgabenbelastungen stöhnen. Und da ist der öffentliche Dienst, der sich zum Prügelknaben der staatlichen Finanzmisere gemacht sieht. Aber auch Unternehmer klagen über zu hohe Kostenbelastungen, die ihre Position im internationalen Wettbewerb dramatisch verschlechtern. Sie kritisieren das Übermaß an gesetzlichen Vorschriften, überlange Genehmigungsverfahren, eine zu hohe Steuer- und Abgabenquote und die Schwerfälligkeit politischer Entscheidungsprozesse. Dies führe zu wachsenden Wettbewerbsnachteilen auf den internationalen Märkten. Mittelständler beklagen eine Subventionspolitik, die allein den Großunternehmen zugute komme. Während diese bei hohen staatlichen Zuwendungen zugleich ihre eigene Steuerbelastung -1 1 -
auf ein Minimum reduzieren könnten, steige die Kostenbelastung bei Handwerk und Mittelstand immer weiter an. Gleichzeitig werde die Eigenkapitaldecke immer dünner. Existenzgründer beklagen den Mangel an Risikokapital. Durch das Fehlen einer Wagniskultur in Deutschland und einer defensiven Kreditvergabepolitik der Banken würden Unternehmensgründungen und unternehmerische Innovationen in Deutschland erheblich behindert. Angesichts der Situation in vielen Branchen von Handwerk und Mittelstand sind solche Beschwerden durchaus nachvollziehbar. Nimmt man dagegen die statistische Verteilung von Reichtum und Vermögen in Deutschland zum Maßstab, dann dürfte im Unternehmerlager zur Klage eigentlich gar nicht viel Anlaß bestehen. Gegenüber den siebziger Jahren ist der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am gesamten Volkseinkommen ständig gesunken. Die sogenannte Lohnquote, mit der der Anteil der Einkommen aus abhängiger Erwerbsarbeit am gesamtgesellschaftlichen Einkommen ausgewiesen wird, liegt nach ihrem Anstieg in den siebziger und beginnenden achtziger Jahren heute wieder beim Stand der frühen sechziger Jahre. Der reale Einkommenszuwachs der Selbständigenhaushalte betrug zwischen 1983 und 1993 etwa sechzig Prozent. Der Zuwachs der realen Arbeitnehmereinkommen lag im gleichen Zeitraum gerade einmal bei zehn Prozent. Der Anteil der Lohn- und Einkommensteuer am gesamten Steueraufkommen hat sich seit den sechziger Jahren mehr als verdoppelt. Umgekehrt ist der Anteil der Unternehmensbesteuerung auf weniger als die Hälfte abgesunken. Noch im Jahre 1982 lag der Anteil der Gewinnsteuern an den Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit bei 37 Prozent. Bis 1995 war dieser Anteil auf 25 Prozent abgesunken. Auch die Schere in der Vermögensverteilung hat sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich weiter geöffnet. Heute befinden sich achtzig Prozent des Produktivvermögens in der Hand von drei Prozent der Bevölkerung, fließen 32 Prozent der Zinsen und Dividenden in zwei Prozent aller Haushalte. -1 2 -
Wie immer man die Dinge drehen und wenden mag, die Zahlen sind eindeutig: Der in der Standortdebatte der vergangenen Jahre vorherrschende Eindruck, in Deutschland sei durch unternehmerische Tätigkeit kein Geld mehr zu verdienen und die deutschen Unternehmer seien die Opfer eines maßlosen Steuer- und Abgabenstaates, mag in Einzelfällen stimmen und manchen Meinungstrends entsprechen. Mit den vorliegenden makroökonomischen Daten freilich läßt sich diese Auffassung nicht belegen. Im Gegenteil: Gemessen an den Vorstellungen von Sozialreformern vergangener Jahrzehnte waren die letzten zehn Jahre eine Zeit der Umverteilung von unten nach oben. Es mag ja nach spätsozialistischer Klippschule klingen, aber es ist so: Profitiert haben die oberen Einkommensschichten, vor allem aber die Besitzer von Kapitalvermögen. Ist also demnach die heute allgegenwärtige Kritik an der Schwerfälligkeit und mangelnden Flexibilität des Sozialkapitalismus rheinischer Machart in Wahrheit nur der neoliberale Budenzauber einer Absahnerkaste, die längst Gefangene ihres eigenen ideologischen Irrglaubens ist, der auch ihre zahlreichen publizistischen Hilfstruppen erfaßt hat? Ist es nur Propaganda sozialstaatsüberdrüssiger Wettbewerbsapostel, wenn es heißt, die Deutschen hätten über ihre Verhältnisse gelebt? Zeigen all die Forderungen nach Deregulierung, Privatisierung und Steuersenkung, die uns seit Jahr und Tag in den Ohren klingen, am Ende doch bloß, wie weit die geistige Vorherrschaft des Marktradikalismus schon vorangekommen ist? Haben die linken Sozialstaatsbewahrer doch recht, die mit der Schieflage von Einkommens- und Reichtumsverteilung darauf hinweisen, daß die dauernd geforderte Verbesserung der Angebotsbedingungen in Wahrheit längst eingetreten sei? Sind die Apologeten des entgrenzten Marktes nicht längst widerlegt, die in staatlicher Überreglementierung und angeblich überspannten Vorstellungen von kollektiver Daseinsvorsorge wichtige Ursachen für Arbeitslosigkeit und fehlende Investitionsdynamik in Deutschland sehen?
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So einfach liegen die Dinge leider nicht. Unternehmer und Besitzer von Kapitalvermögen finden heute anderswo vielfach bessere Gewinnchancen. Die Statistik weist für die erste Hälfte der neunziger Jahre einen deutlichen Rückgang der Ausrüstungsinvestitionen der Unternehmen aus. Die Deutsche Bundesbank nennt für den Zeitraum zwischen 1991 und 1994 immerhin einen Rückgang von sechzehn Prozent. Dieser Rückgang verdankt sich weniger dem Umstand, daß investitionswillige Unternehmer durch hohe Steuer- und Abgabenlasten am Investieren gehindert worden wären, er verdankt sich vor allem der Tatsache, daß Kapital in wachsendem Umfang entweder an anderen Standorten investiert wurde oder in Geldanlagen auf den internationalen Kapitalmärkten geflossen ist. Und es gehört nun einmal zu den Grundtatsachen von Marktgesellschaften, daß das Kapital dahin fließt, wo es die rentierlichsten Anlagemöglichkeiten sieht. Es kommt eben sehr auf den Blickwinkel an, von dem aus die heutige Realität wahrgenommen wird. Aus der Sicht eines deutschen Durchschnittsarbeitnehmers müssen die Klagen kapitalkräftiger Investoren in aller Regel unverständlich sein. Denn dieser Investor wird ihm nicht selten als der Gewinner der letzten Jahre erscheinen. Gemessen freilich an Kapitalverzinsung und Gewinnmargen, die den Investor in Alabama, Mexiko, Polen, Thailand oder auch im EU-Irland erwarten, kann die unternehmerische Klage über die im Vergleich hohen Kostenbelastungen in Deutschland umgekehrt durchaus zutreffend sein. Da anlagesuchendes Kapital sich heute leichter an den Anlagebedingungen anderer Produktionsstandorte orientieren kann als in früheren Phasen der modernen Gesellschaft, wird die sozialmoralische Wünschbarkeit einer bestimmten Lohnquote in Deutschland den anlagewilligen Investor ziemlich kaltlassen. Ihn interessieren Kostenvorteile, Steuergeschenke und problemlose Genehmigungsverfahren an anderen Standorten. Und sie müssen ihn interessieren. Denn als erster Unternehmenszweck gilt nicht die Mehrung der sozialen -1 4 -
Wohlfahrt der deutschen Gesellschaft, sondern Umsatz und Gewinn. Soweit der Kostenvergleich zum deutlichen Nachteil des Standorts Deutschland ausfällt, wird daraus der Schluß gezogen, daß Löhne und Abgaben hierzulande eben zu hoch seien und demnach gesenkt werden müßten. Daß dieser Kostenvergleich nicht immer so nachteilig für den Standort Deutschland ausfällt, wie oft behauptet wird, steht auf einem ganz anderen Blatt. Die Frage ist deshalb nicht, wer recht hat - Standortkritiker oder Sozialstaatsbewahrer. Das eigentliche Problem liegt da, wo sich die Bedingungen für eine Balance zwischen der Mehrung wirtschaftlicher Leistungskraft und einer sozial wünschbaren oder zumindest erträglichen Verteilung von Einkommen und Reichtum grundlegend verändert haben. Das ist das Kernproblem, mit dem wir es zu tun haben. Die Ziele wirtschaftlicher Entwicklung und sozialen Ausgleichs zusammenzubringen ist angesichts offener Märkte, offener Grenzen und einer Verschärfung des internationalen Wettbewerbs sehr viel schwieriger geworden. Ökonomische Realitäten und soziale Notwendigkeiten klaffen immer mehr auseinander. Hier liegt des Pudels Kern. Natürlich wird mit Kostenargumenten auch viel Schindluder getrieben. Nicht alles, was in den Standortdebatten der vergangenen Jahre über Kostennachteile in Deutschland in die Welt gesetzt wurde, stimmt. Einige Kombattanten aus dem Unternehmerlager führen sich geradewegs so auf, als wären Sozialstandards nur noch Standortrisiken und die Sozialpflichtigkeit von Eigentum und Eigentümern nur noch romantische Illusionen längst vergangener Zeiten. In mancher Debatte über die Wiedergewinnung von Wettbewerbsfähigkeit scheint jede Erinnerung daran verschwunden, daß vor gar nicht allzu langer Zeit der deutsche Sozialstaat auch von Unternehmern noch als Standortvorteil und große Errungenschaft freiheitlicher Marktgesellschaften gefeiert wurde. Die Verkürzung der Reformdebatte in Deutschland auf Strategien der Kostensenkung ist sicher falsch. Aber wahr ist -1 5 -
eben auch, daß sich Politik in Deutschland wie überall in der Welt heute mit gründlich veränderten ökonomischen, technologischen und sozialen Rahmenbedingungen herumzuschlagen hat. Und daß sich die Kluft zwischen sozialen Notwendigkeiten und wirtschaftlichen Möglichkeiten in den letzten anderthalb Jahrzehnten nachhaltig vergrößert hat. Sie hat sich so sehr vergrößert, daß die Verbindung der drei Säulen des 'rheinischen Kapitalismus' der Nachkriegsära, im allgemeinen soziale Marktwirtschaft genannt, brüchig geworden ist: Wirtschaftliches Wachstum auf privatwirtschaftlicher Grundlage, soziale Integration durch Vollbeschäftigung, auskömmliche und wachsende Erwerbseinkommen sowie liberale Demokratie mit staatsbürgerlichen Beteiligungsrechten. Daß die politische Balance dieser drei Grundelemente des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus heute sehr viel schwieriger geworden ist, hat benennbare Ursachen und schwerwiegende Konsequenzen. Mit der Liberalisierung des Welthandels, vor allem mit der Liberalisierung der internationalen Finanzmärkte, mit dem Wegfall von Block- und Systemgrenzen, mit der Revolutionierung der internationalen Telekommunikations- und Transportnetze sowie mit der Entwicklung neuer weltwirtschaftlicher Wachstumszonen haben sich fundamentale Veränderungen ergeben, die auf die Entwicklung von Gesellschaften zurückwirken. Sie sorgen für eine verschärfte internationale Wettbewerbssituation und sie bedrängen die sozialstaatliche und gewerkschaftliche Organisation von Arbeit und sozialer Absicherung. Deshalb sind die Voraussetzungen für eine Politik, die in der Tradition des europäischen Sozialstaats Marktwirtschaft sozial und ökologisch gestalten will, heute schwieriger geworden. Jedenfalls soweit sich diese Politik in einem nationalen Rahmen organisiert. Der internationalisierte Kapital- und Warenverkehr entzieht sich in wachsendem Maße der Prägekraft nationalstaatlicher Rahmensetzungen. Die weitgehende Kongruenz zwischen Nationalstaat und Nationalökonomie ist Geschichte. Zugleich erweist sich die Vereinbarung übernationaler -1 6 -
Rahmenregelungen als überaus schwierig. Da aber zugleich die Anforderungen an soziale Symmetrie und sozialen Ausgleich weiterhin an nationale Politik und die entsprechenden Regierungen gestellt werden, entsteht daraus ein wachsender Widerspruc h zwischen den ökonomischen Bedingungen auf der einen und den sozial- und gesellschaftspolitischen Möglichkeiten auf der anderen Seite. 'In den das Leben beherrschenden Fragen der Umweltzerstörung und der Kapitalströme bleiben die national beschränkten politischen Entscheidungsmechanismen hoffnungslos hinter der globalen Auswirkung der Wirkungszusammenhänge zurück', schreibt Thomas Meyer (Meyer, 1995).Ein einfacher Ausweg aus den damit aufgeworfenen Problemen steht nicht zur Verfügung. Sosehr sich die nur segensreichen Wirkungen der Liberalisierung von Kapitalmärkten und Welthandel bezweifeln lassen, so aussichtslos müßte jeder Politikansatz bleiben, der diese Entwicklung rückgängig zu machen versuchte. Es bleibt nur die Möglichkeit, sie sozial- und umweltverträglich zu organisieren. Wir alle sind aufgewachsen in einer Welt, die geprägt war von der Vorstellung, daß Volkswirtschaften als überschaubare Wirtschaftsräume grundsätzlich politisch steuerbar seien. Wir sind geprägt von einer Zeit, in der politische Führungsgruppen von Staaten maßgeblichen Einfluß nehmen konnten auf die Entwicklung von Zins- und Wechselkursen und auf die Kapitalströme zwischen den Staaten und teilweise auch innerhalb der Staaten. Die entsprechenden nationalen Institutionen waren zuständig für wirtschaftliche Regulierung, für die Notenpresse, für Wechselkurse, für Besteuerung und Subventionierung, nicht zuletzt für die weithin unbeschränkte Aufnahme von Krediten. Die aktive Wirtschaftspolitik des Staates war letztendlich auch eine der Lehren aus dem Chaos, den weltwirtschaftlichen Zusammenbrüchen und Kriegen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Welt national steuerbarer Wirtschaftsräume existiert so nicht mehr. Der nationale Kapitalismus wird abgelöst vom globalen Kapitalismus. In dieser Zeit der Ablösung leben wir. -1 7 -
Der politischer Steuerung zugängliche nationale Raum verliert seine Rolle als wichtigster strategischer Raum und wird in wachsendem Maße durch den entstehenden globalen Aktionsraum ersetzt. Das bedeutet nicht, daß nationale Volkswirtschaften und Binnenmärkte keine Bedeutung mehr haben. Die quantitativen Dimensionen der Binnenmärkte übertreffen die der Exportmärkte bei weitem, und das wird auch so bleiben. Aber sie bestimmen nicht die Triebkräfte der wirtschaftlichen Entwicklung, sie diktieren immer weniger die Spielregeln. Dies zu begreifen ist vor allem für Politiker eine ziemliche Zumutung. Denn immerhin hat das, was sich vor unser aller Augen ungefähr seit Mitte der siebziger, vor allem seit Anfang der achtziger Jahre abspielt, Züge eines globalen Machtransfers, für den der Begriff kapitalistische Revolution durchaus nicht übertrieben erscheint. Die politischen Führungsgruppen haben Macht an einen globalen Kapitalmarkt abtreten müssen. Und diese Entwicklung ist keineswegs abgeschlossen. Wohin sie führen wird, liegt noch im Dunkel der Zukunft. Sicher allerdings ist, daß wir uns auf eine Welt zubewegen, in der die Kapitalmärkte die Handlungsmöglichkeiten von Regierungen stärker beeinflussen, als diese umgekehrt den Kapitalmärkten Grenzen setzen. Jedenfalls solange sich diese Regierungen nicht zu gemeinsamen Anstrengungen zu solcher Regulierung zusammenfinden. Millionen von globalen Investoren handeln aus wirtschaftlichem Eigeninteresse und bestimmen Zinssätze, Wechselkurse und Kapitalrenditen. Der Markt hat staatliche Zwänge abgeschüttelt und schafft das Potential eines global agierenden Kapitalismus. Ganz gleich, ob die Entwicklung eines so mächtigen globalen Marktes einzelnen Regierungen gefällt oder nicht, es bleibt ihnen kaum eine Wahl: Sie müssen sich darauf einstellen. Die zunehmende Macht des globalen Kapitalmarkts entsteht aus seiner gewaltigen Größe. Das Volumen für globale Finanzaktiva betrug bereits 1994 41 Billionen US-Dollar. Und es wächst dreimal so schnell wie die Realwirtschaft. Hinzu -1 8 -
Jahre seit Keynes entstanden ist, verliert zentrale Erfolgsvoraussetzungen. Mit dem Verlust der nationalen Zinshoheit schwindet die Chance, über Zinspolitik im nationalen Rahmen Realinvestitionen zu veranlassen. Und mit offenen Grenzen und globaler Kapitalmobilität steigt die Gefahr bloßer Mitnahmeeffekte bei kreditfinanzierten Investionsprogrammen, die angesichts riesiger Schuldenberge der öffentlichen Hand ohnehin kaum noch zu finanzieren sind. Bleibt demnach nur noch die Anpassung der Politik an die Macht der globalisierten Finanzmärkte? Läßt sich die Aufgabe moderner Wirtschafts- und Finanzpolitik auf die Schaffung möglichst günstiger Investitionsbedingungen für potentielle Investoren reduzieren? Bleibt nur der Ausweg des Mithaltens im Steuersenkungswettbewerb - mit der meist vagen Aussicht, dadurch würden neue Jobs entstehen? Sind die politischen Handlungsalternativen letztlich überall dieselben geworden: radikale Einschnitte bei den Ausgaben der öffentlichen Hand, Deregulierung, Abbau von Bürokratie und staatlichen Vorschriften, Entstaatlichung und Privatisierung von Lebensrisiken? Müssen wir uns damit abfinden, daß unsere Vorstellung einer wachsenden sozialstaatlichen Bändigung der Dynamik von Markt und Wettbewerb einer vergangenen Epoche angehören? Brauchen wir noch mehr Ungleichheit, noch mehr Entgrenzung von Wettbewerb, wenn wir künftig mithalten wollen in der veränderten internationalen Wettbewerbsarena? Sowenig Strukturveränderungen geleugnet werden dürfen, die uns heute andere Rahmenbedingungen setzen als in der Epoche des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus: Dies können die Antworten nicht sein. Wären sie es, könnte die Politik einpacken und würde von den Konzernzentralen besser gleich mit übernommen werden. So wichtig Markt und Wettbewerb als Instrumente einer leistungsfähigen Ökonomie auch sind - sie sind doch letztlich nur Mittel einer produktiven Entwicklung von Gesellschaften, nicht ihr Zweck. Die Wirtschaft ist für die Menschen da, nicht umgekehrt die Menschen für die Wirtschaft. Die Politik ist nicht der Servicebetrieb der Wirtschaft. 'Der Staat -2 0 -
nicht als Ordnungsmacht, sondern als Erfüllungsgehilfe, williger Helfer im Notfall und billiger Anbieter von Infrastruktur', wie es der moderne Ökonomismus sieht (de Weck, 1998) - das ist nicht die Antwort auf die Herausforderungen einer neuen Zeit. Nur die Politik bietet den Rahmen für demokratische Partizipation. Sie muß Rahmenbedingungen und Grenzen setzen, die die soziale Integration von Marktgesellschaften ermöglichen. Der Versuch der totalen Kontrolle der Ökonomie durch die Politik hat in den Irrweg jener sozialistischen Systeme geführt, die damit am Ende weder soziale Wohlfahrt noch politische Demokratie und schon gar keine ökonomische Effizienz erreichen konnten. Die Konsequenz des historischen Scheiterns solcher diktatorischen Systeme kann nun aber nicht im Verzicht auf jede politische Regulierung mit dem Ergebnis einer Ökonomisierung des Politischen bestehen. Wenn der alte Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit nicht mehr greift, weil sich die Bedingungen verändern, auf die er passen konnte, muß ein neuer gefunden werden, der unter den veränderten Umständen besser funktionieren kann. Die Kräfte des Marktes sind aus sich heraus weder sozial, noch schaffen sie Voraussetzungen für einen sorgsamen Umgang mit Rohstoffen und Naturressourcen. Markt schafft ein effektives Anreizsystem, Wettbewerb sorgt für Dynamik, für Innovation, ist Motor von Kreativität. Aber Wettbewerb kann stets nur eines von mehreren Regelungsprinzipien eines gedeihlichen Zusammenlebens von Menschen sein, denn der Markt belohnt nur den Erfolgreichen, nie den Verlierer. Der Markt schert sich nicht um den Zurückbleibenden; im Wettbewerbsprinzip selbst steckt der Hunger nach Ungleichheit. Markt kann deshalb nur in einem begrenzten Rahmen sinnvoll funktionieren. Er braucht ein Gerüst, das auf nichtökonomischen Voraussetzungen basiert, die jenseits von Kosten-Nutzen-Kalkülen formuliert werden müssen. Der Markt lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. 'Wo sie fehlen, kommt nicht der Markt, sondern die Mafia' (Dettling,1998). -2 1 -
Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Weltwirtschaft kann für Individuen und Gesellschaften dann erstrebenswertes Ziel sein, wenn sie der Verbesserung ihrer Wohlfahrt und ihrer Lebenschancen dient. Wenn freilich im Namen von Wettbewerbsfähigkeit Arbeitsplätze vernichtet werden und der Verlust sozialstaatlicher Absicherungen für die meisten Gesellschaftsmitglieder droht, während die Politik achselzuckend auf die Anpassungszwänge einer Globalökonomie verweist, stellt sich die Frage, in wessen Namen das Ziel der Wettbewerbsfähigkeit überhaupt zur Schicksalsfrage erhoben wird. Politik ist keine Veranstaltung zur Absicherung von Besitzständen. Aber sie ist ebensowenig ein Dienstleistungsunternehmen zur Bedienung der Shareholder-Interessen. Eine Wettbewerbsfähigkeit, aus der nur eine Minderheit der Gesellschaft Vorteile zu ziehen vermag, gefährdet den Zusammenhalt von Gesellschaften. Ja, mehr noch: Die ausschließliche Orientierung am Ziel der 'Wettbewerbsfähigkeit' würde auf Dauer die Grundlagen demokratischer Legitimation bedrohen - und damit auch die Demokratie selbst. Denn warum sollen sich Gesellschaften einen komplizierten und kostspieligen politischen Apparat leisten, wenn dieser gegenüber den Kräften einer entfesselten Ökonomie nichts auszurichten vermag? Für die in den gesellschaftlichen Eliten weitverbreitete Auffassung, daß gerade der Markt auch mit den Problemen sozialer Gemeinschaft am besten fertig werden könne, spricht angesichts der historischen Erfahrung wenig mehr als nichts. Die ganz irreale Vorstellung, es könne gelingen, ein Wirtschaftssystem aus sich selbst regulierenden Märkten zu schaffen, hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genau zu jenen Katastrophen beigetragen, als deren Konsequenz auf nationaler und internationaler Ebene ein System von Regulierungsmechanismen und Kompensationsverfahren geschaffen wurde, das heute wieder zur Disposition steht. Die zentrale Aufgabe der Politik besteht - gestern, heute und morgen - darin, jene rechtlichen, sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen herzustellen, unter denen wirtschaftliches -2 2 -
Handeln überhaupt erst gesellschaftlich möglich und legitim wird. Dazu gehört als unabdingbare Voraussetzung die soziale Integration von Gesellschaften. Diese soziale Integration definiert sich über Teilhabechancen der Menschen an Wohlstand und Wohlfahrt und damit auch über ihre Zugangschancen zur Erwerbsarbeit. Daß dies den Apologeten des entfesselten Marktes aus dem Blick zu geraten scheint, gehört ebenso zu den Grundproblemen der politischen Debatten in Deutschland wie manche linke Gesellschaftsanalyse, die die Strukturprobleme dieser Zeit als Erfindung wirtschaftsliberaler Ideologen wegdefinieren wollen oder sie kulturpessimistisch mit düsteren Kräften eines allgemeinen Untergangs verbunden sehen. Alle Politik in den entwickelten Industrieländern steht heute vor neuen Herausforderungen, die jedoch manche Parallele zu den Herausforderungen der kapitalistischen Früh- und Gründerzeit aufweisen. Wie die revolutionäre Kraft des Kapitals im 19. Jahrhundert die ständisch organisierte Gesellschaft durcheinanderwirbelte, gerät jetzt die sozialstaatliche Organisation von Gesellschaften in die Daumenschrauben eines ungleich härter gewordenen internationalen Wettbewerbs. 'Die Globalisierung zerstört eine historische Konstellation, die den sozialstaatlichen Kompromiß ermöglicht hat' (Habermas, 1988 a). Daraus ergibt sich die Aufgabe einer politischen Reformstrategie, die in sich eine Vielzahl von Paradoxien enthält. Geht es zum einen darum, neue Fundamente einer sozialgesellschaftlichen Ordnung im übernationalen Rahmen zu finden, so steht auf der anderen Seite gerade in Deutschland auch vieles auf dem Prüfstand, was uns aus guten Gründen lieb und teuer geworden ist. Wer nicht erkennt, daß die Steuerungsaufgaben der Politik im Zeitalter des entgrenzten Wettbewerbs eher gewachsen sind und den wirtschaftsliberalen Illusionen der Selbstregulierung des Marktes aufsitzt, wird die Grundlagen sozialgesellschaftlicher Integration untergraben und damit auf die Dauer die Zukunft demokratischer Ordnungen selbst. Wer umgekehrt die schlichte Verteidigung aller alten Strukturen des rheinischen Kapitalismus für das Gebot der -2 3 -
Stunde hält, ignoriert die Tragweite der längst eingetreten Veränderungen und wird von der Geschichte hinweggefegt werden. Auch wenn solche Begriffe heute politisch leicht mißverstanden werden: Im Kern geht es deshalb um Regulierung und Deregulierung zugleich. Wo die globalisierte Weltwirtschaft Regeln und Rahmensetzungen benötigt, um ein Mindestmaß an sozialgesellschaftlicher Integration möglich zu machen, kann zugleich auch der Abbau von Überreglementierung und bürokratischer Investitionshemmnisse im Rahmen nationaler Politik ein Gebot der Stunde sein. Deshalb sind die ideologischen Kampfbegriffe, mit denen die politische Debatte in Deutschland derzeit oft bestritten wird, nicht selten Beiträge zur Vernebelung der eigentlichen Probleme. Mit den Alternativen Deregulierung oder staatliche Überreglementierung sind die eigentlichen Aufgaben dieser Zeit nicht einmal zutreffend beschrieben. Es geht darum, daß die richtigen Regeln an den richtigen Stellen greifen. Das Grundproblem der Politik des 21. Jahrhunderts wird die soziale und ökologische Bändigung einer marktwirtschaftlichen Weltgesellschaft sein, die aus dem Gehäuse nationalstaatlicher Regulierung herausgewachsen ist. Was hier gelingen muß, ist historisch beispiellos. Der sozialstaatliche Kapitalismus westeuropäischer Provenienz war das Ergebnis einer langen Kette von Krisen, Kriegen und sozialen Kämpfen. Erst ein halbes Jahrhundert liegt es zurück, daß in Deutschland ein ganz breiter politischer Konsens über die Notwendigkeit einer politischen und sozialen Bändigung der Marktkräfte als Voraussetzung einer demokratischen und freiheitlichen Entwicklung von Gesellschaften bestand. 'Der Kapitalismus ist den Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden', schrieb die CDU unter dem Eindruck der Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ihrem Ahlener Programm. Noch vor einem Jahrzehnt wurde der europäische Sozialstaat als historische Errungenschaft gefeiert. Heute gilt er vielfach als größtes Hindernis für die Sicherung der Zukunft. -2 4 -
Wenn es zutrifft, daß wir, vereinfacht ausgedrückt, auf eine neue Stufe des globalisierten Weltkapitalismus zusteuern, dann scheint es nahezuliegen, die Kernelemente politischer Regulierung, wie sie früher im nationalen Rahmen möglich waren, einfach auf die supranationale Ebene zu übertragen. 'Ebenso wie im nationalen Rahmen, so muß auch für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen gelten: Der Markt braucht einen politisch gesetzten Orientierungsrahmen', schreibt der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine. So weit, so gut. Nun ist das leichter gefordert als politisch umgesetzt. Denn wie formiert sich Politik im internationalen Rahmen? Was sind ihre treibenden Kräfte? Was sind ihre Adressaten, woraus speist sich ihre Legitimation? Wie sind die internationalen Akteure dazu zu bewegen, auf mögliche Vorteile für die jeweils eigene Klientel, auf deren Zustimmung sie letztlich angewiesen sind, im Interesse einheitlicher Standards zu verzichten? Wer ist in der Lage, über die Einhaltung solcher Standards zu wachen? Gibt es überhaupt eine politische Ordnung jenseits des Nationalstaats? Oder gibt es nur Absprachen von Nationalstaaten und Staatenbünden, die dann aber vermutlich selten mehr als Minimalkonsense sein können? Die Antworten auf diese Fragen sind viel komplizierter, als der Verweis auf die Notwendigkeit supranationaler Regulierung auf den ersten Blick ahnen läßt. Das Ende der Nation bedeute den Tod der Politik, meint der Franzose Jean-Marie Gu*henno in seinem Buch 'Das Ende der Demokratie'. Weil Solidarität und Gemeinschaftsbildung keinen natürlichen Ort mehr hätten, komme es zu einer Zersplitterung von Debatten und Entscheidungen, schließlich zur Zerfaserung jeglicher politischen Ordnung. Die Logik der Institutionen erschöpfe sich, so daß am Ende die Politik selbst in einen Auflösungsprozeß hineingerate. In dieser zersplitterten Ordnung sei an die Mobilisierung von wirksamen Gegenkräften zur 'invisible hand' der Ökonomie kaum zu denken. Ein neues Mittelalter drohe, zumal die Politik auch nach unten Gestaltungskraft abgibt - an eine neue Form der unorganisierten Politik, der Veto- und
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Einspruchsmächte, an das, was Ulrich Beck 'Subpolitik' nennt (Beck, 1993). Man muß nicht den tiefen Pessimismus von Gu*henno teilen, um zu erkennen, daß jedes Plädoyer für supranationale Regulierung angesichts der heutigen Wirklichkeit etwas blauäugig und jedenfalls reichlich akademisch wirkt. Wer sich vergegenwärtigt, welche Probleme Großbritanniens Haltung zur europäischen Sozialcharta lange aufgeworfen hat, wer zur Kenntnis nimmt, wie sich in Brüssel die EU-Mitgliedsländer drehen und wenden, wenn es auch nur um die Beseitigung der ärgsten Auswüchse von Steuerdumping im gemeinsamen Wirtschaftsraum Europa geht, wer die Chancen für eine europäische Steuerharmonisierung realistisch einzuschätzen versucht, wird unschwer erkennen, daß der Funktionsverlust von Politik durch den volkswirtschaftlichen Souveränitätsverlust von Nationalstaaten auf Sicht jedenfalls kaum durch einen neuen politischen Handlungsrahmen wettzumachen sein wird. Und das gilt selbst da, wo sich supranationale Zusammenschlüsse längst von der Vorstellung von Freihandelszonen und bloßen Wirtschaftsgemeinschaften gelöst haben und das Ziel einer politischen Union verfolgt wird. Das gilt selbst für den einheitlichen Wirtschafts- und demnächst Währungsraum Europa, dem es auf absehbare Zeit an einer zentralen Voraussetzung politischer Handlungsfähigkeit fehlen wird: der demokratischen Legitimation. Ohne europäische Parteien, ohne europaweite Medien und ohne eine Regierung, die sich in den entsprechenden europaweiten Kontroversen behaupten muß, kann jene gemeinsame politische Identität kaum entstehen, auf deren Grundlage politische Mehrheitsentscheidungen auch von Minderheiten als legitim betrachtet werden. Einstweilen bleibt deshalb nicht mehr als das mühsame Geschäft des Aushandelns von Kompromissen und Minimalkonsensen durch verschiedene nationale Regierungen. Und doch muß eine Alternative zur nationalstaatlichen Architektur des Politischen und der Demokratie nicht nur vorstellbar, sondern auch realisierbar sein, wenn auch in Zukunft ein dauerhafter Zusammenhalt -2 6 -
sozialer Ordnungen möglich bleiben soll. Politik muß verhindern, daß verschärfter wirtschaftlicher Wettbewerb in einer entgrenzten Weltökonomie zu einem ruinösen Wettlauf mit Öko-, Steuer- und Sozialdumping führt. Ein ungesteuerter internationaler Kapitalismus würde auf längere Sicht die sozialen und zivilisatorischen Voraussetzungen von Gemeinwesen untergraben und damit am Ende auch sich selbst. Dies gilt erst recht in einer Zeit, in der die Produktivitätsschübe der technologischen Entwicklung nicht wie im 19. Jahrhundert eine Nachfrage nach der Arbeitskraft des ehemaligen Landarbeiters für den modernen industriellen Produktionsprozeß erzeugen, sondern die 'Freisetzung' einer wachsenden Zahl von beschäftigungswilligen Menschen aus dem Erwerbsarbeitsprozeß insgesamt erzwingen. Die 500 größten multinationalen Konzerne haben ihren Umsatz in zwei Jahrzehnten zwischen 1971 und 1991 von 700 Milliarden Dollar auf 5,2 Billionen Dollar gesteigert. Der Personalstand dieser Unternehmen ist in der gleichen Zeitspanne mit 26Millionen Beschäftigten ungefähr konstant geblieben. Die durch wachsenden Wettbewerbsdruck angetriebenen Produktivitätsschübe, die sich hinter diesen Zahlen verbergen, ermöglichen die Freisetzung menschlicher Arbeitskraft, die zu Recht als das soziale Kernproblem unserer Zeit gilt und die durch das Wachstum des modernen Dienstleistungssektors nicht hinreichend aufgefangen werden kann. Daß das Kapital die verfügbare Arbeitskraft immer weniger zu benötigen scheint, hat zur Folge, daß der ökonomische Prozeß selbst kein hinreichendes Druckpotential mehr entstehen läßt, mit dem ein sozialer Ausgleich erzwungen werden könnte. Die Profitabilität von Anlagebedingungen ist aufgrund ihrer Internationalität auch weniger als früher mit der Güternachfrage auf einzelnen Märkten verbunden. Es scheint, als würden viele Bürger vom anlagesuchenden Kapital auch als Konsumenten gar nicht mehr gebraucht. Das ist natürlich eine Fiktion. Natürlich benötigt die Weltwirtschaft zahlungskräftige Nachfrage. In den Strategien -2 7 -
transnationaler Unternehmen unter den Bedingungen verschärften Kostenwettbewerbs wird freilich oft so getan, als ginge es auch ohne. Im Grunde wird unterstellt, daß Überkapazitäten immer nur den anderen, den konkurrierenden Unternehmen, Schwierigkeiten bereiten könnten. Wenn solche damit als unwirtschaftlich ausgewiesenen Konkurrenten aufgeben müßten, seien die Probleme erledigt. Wo aber der Eindruck vorherrscht, Wohl und Wehe von Staaten wie von Unternehmen seien allein davon abhängig, daß die Flexiblen erfolgreich sein könnten, die Unflexiblen dagegen scheitern müßten, wo der Glaube regiert, es gehe nur darum, klüger und tüchtiger zu sein als alle anderen, gerät aus dem Blick, daß die unter Bedingungen von Rekordproduktivität hergestellten Waren am Ende auch Käufer benötigen. Die wachsende Notwendigkeit suprastaatlicher Steuerung - ein Programm für viele Jahrzehnte - enthebt freilich Politik in Deutschland nicht der Aufgabe von Strukturanpassungen. So richtig es ist, daß die Freiheit der Standortwahl für die Unternehmen jedenfalls im europäischen Wirtschaftsraum jede Art nationaler Politik in einen verschärften Wettbewerb um arbeitsplatzschaffende Investitionen hineinzwingt, der nach Steuerharmonisierung verlangt, so richtig ist dann eben umgekehrt auch, daß sich Politik hierzulande nicht außerhalb des Rahmens bewegen kann, der durch die Steuer- und Abgabenpolitik der Konkurrenten vorgegeben ist. Richtig ist ebenfalls, daß Politik und vor allem die Gesellschaft nicht warten können, bis mit anderen zusammen die Veränderung der Rahmenbedingungen durchgesetzt wurde. Die Notwendigkeit zur Reform der sozialen Sicherungssysteme stellt sich - aus unterschiedlichen Gründen - schon heute. Gewiß trägt die Verschärfung der internationalen Wettbewerbssituation, auf die das Hochkostenland Bundesrepublik Deutschland nur mit Produktivitäts- und Innovationsfortschritten reagieren kann, zu den aktuellen Problemen unserer sozialstaatlichen Sicherungssysteme bei. Aber sie ist nicht die einzige und nicht einmal ihre wichtigste Ursache. Arbeitslosigkeit, die mit der Folge von -2 8 -
Beitragsausfällen die Grundlagen eines beitragsfinanzierten Sozialsystems bedroht, hat viele Ursachen (vgl. Kapitel 5). Wenn dazu dann noch strukturelle Veränderungen der Gesellschaft kommen, wie sie sich in der demographischen Entwicklung und dem rückläufigen Anteil der klassischen männlichen Vollzeit-Erwerbsbiographie an der Gesamtzahl der Beschäftigten ausdrücken, müssen sich solche Probleme zu einer tiefen Krise der sozialen Sicherungssysteme ausweiten. Hier muß die Politik Lösungen finden, die auch in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts tragfähig sein können. So ehrenwert die Motive der Verteidiger des allein beitragsbezogenen Rentensystems auch sein mögen: Auf die Dauer hat es wenig Sinn, mit immer neuen Notoperationen und mit Löcherstopfen ein System leidlich flottzuhalten, das aufgrund struktureller Wandlungen in der Gesellschaft nicht mehr so funktionieren kann, wie es sich seine Erfinder einmal vorgestellt hatten. Der Wandel von der Industrie- zur Informationsgesellschaft, der die alte Dominanz des industriellen Normalarbeitsverhältnisses erschüttert, eine Vielzahl unterschiedlichster Beschäftigungsverhältnisse hervorbringt und einen neuen Schub für selbständige Existenzen auslöst, fordert neue Elemente für die Systeme sozialgesellschaftlicher Absicherung. Soziale Sicherungssysteme der Zukunft werden in stärkerem Maße steuerfinanzierte Systeme sein müssen. Dies entspricht auch dem Gedanken der Gerechtigkeit, weil nur so der Kreis derjenigen wirksam ausgeweitet werden kann, die an der Finanzierung dieser Systeme beteiligt sind. Wir brauchen auch eine grundlegende Reform des Steuersystems in Deutschland. Wir brauchen eine neue Beschäftigungspolitik, die alle Anstrengungen darauf konzentrieren muß, auf unterschiedlichen Wegen neue Teilnahmechancen am Erwerbsleben zu erschließen. Wenn Arbeit im Sinne produktiver Tätigkeit eine Grundvoraussetzung sinnvollen Lebens ist, kann sich Politik nicht darauf beschränken, eine materielle Mindestsicherung anzubieten. Wir müssen unser Bildungssystem den veränderten Anforderungen -2 9 -
einer neuen Zeit anzupassen. Die Chancen zur Gründung unternehmerischer Existenzen in Deutschland müssen verbessert, Produktivkapital muß breiter gestreut und die gezielte Förderung von Zukunftstechnologien verbessert werden. Innovationsrückstände müssen aufgeholt, neue kreative Kräfte mobilisiert werden. Wir brauchen auch im Bildungssystem 'Excellence'. Politik in Deutschland muß auch erkennen, daß es nicht nur ökonomische Rahmenbedingungen sind, die sich verändert haben. Individualisierung, die beispiellose Vervielfältigung von Handlungsoptionen für die persönliche Lebensgestaltung, Bildungsrevolution und Veränderungen des materiellen Produktionsprozesses haben neue Einstellungen und Werthaltungen hervorgebracht. Politik hat heute weniger mit Betreuungsobjekten großinstitutioneller sozialer Fürsorge zu tun als mit an Freiheits- und Entfaltungschancen gewöhnten Bürgern. Sicher ist vor übertriebenen Erwartungen an die sozialgesellschaftliche Selbstorganisation der Bürger zu warnen. Manche Kritik am bürokratischen Fürsorgecharakter des Sozialstaats ist unangebracht, manche auch blauäugig. Unter der Fahne bürgergesellschaftlicher Selbstorganisation die Privatisierung elementarer Lebensrisiken zu betreiben wäre verhängnisvoll. Hier liegen Gefahren, die nicht geringgeschätzt werden dürfen. Gleichwohl sind manche paternalistischen Elemente des alten Sozialstaats in einer freiheitlich-sozialen Bürgergesellschaft nicht mehr zeitgemäß. Auch kann in einer sozialen Bürgergesellschaft mit kritischen und ihrer Rechte gewissen Bürgern ein höheres Maß von Selbstverantwortlichkeit des einzelnen erwartet werden. Die Nutzung der Ressource 'Solidarität' wird in der Bürgergesellschaft der Zukunft auf anderen Fundamenten aufbauen müssen als in der Industriegesellschaft der Vergangenheit. Deshalb kann es nicht einfach um eine Verteidigung des alten Sozialstaats gehen - so richtig dies oft sein mag. Das Reformprojekt der Zukunft ist nicht der alte Wohlfahrtsstaat, in dem die Gerechtigkeitsmaschine Staat -3 0 -
durch anonyme Apparate Solidarität als Zuteilungsgerechtigkeit organisiert. Es geht vorrangig um bürgergesellschaftliche Umorganisierung von Sozialstaatlichkeit, um die Förderung von Selbsthilfebereitschaft, die Stärkung von Eigeninitiative und Gemeinsinn im sozialen Nahbereich. Die Kräfte bürgergesellschaftlicher Selbstorganisation stärken, Leistungskriterien und Förderungsrichtlinien festlegen, finanzielle Ressourcen dafür zur Verfügung stellen - das markiert den Weg zur notwendigen Mobilisierung neuer Kräfte einer sozialen Gemeinwohlorientierung. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft - das ist das Projekt der Erneuerung des Sozialen im 21. Jahrhundert. Auch bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit wird nur mit Rezepten der siebziger Jahre nicht viel auszurichten sein. Groß angelegte Beschäftigungsprogramme würden zu dramatischen Zusatzbelastungen der öffentlichen Haushalte führen, ohne wesentlich mehr als Strohfeuer- und Mitnahmeeffekte zu bewirken. Umgekehrt ist das blinde Vertrauen auf eine Politik der Stärkung der wirtschaftlichen Wachstumskräfte durch Verbesserung der Angebotsbedingungen unangebracht. Selbst beachtliche Wachstumsraten haben bislang nicht zu einer wirklich nennenswerten Verbesserung des Angebots an Erwerbsarbeitsplätzen geführt - von den ökologischen Wirkungen einer konventionellen Wachstumspolitik ganz zu schweigen. Und so wichtig eine Reform des Steuer- und Abgabensystems aus Gründen sozialer wie aus Gründen ökologischer Gerechtigkeit wäre, allein dadurch wird der notwendige beschäftigungspolitische Impuls kaum zu erwarten sein. Bei der Verteilung von Erwerbsarbeitschancen müssen deshalb auch neue Wege erschlossen werden. Die Politik muß dazu ihren Beitrag leisten. Dabei geht es um Arbeitsumverteilung und flexible Formen der Arbeitszeitverkürzung, um Jobsharing und Teilzeit, aber auch um neuartige Kombinationen von Erwerbsund Sozialeinkommen und die Förderung von Bürgerengagement und Existenzgründungen - im kommerziellen wie im -3 1 -
sozialwirtschaftlichen Non-profit-Sektor. Wir müssen Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. Die Arbeitslosen brauchen nicht Sozialhilfe, sondern eine neue Chance. Die Dramatik sozialgesellschaftlicher Absicherung im globalisierten Kapitalismus verringert nicht die Notwendigkeit sparsamen Umgangs mit den natürlichen Ressourcen dieser Erde. Weil Globalisierung und verschärfter Wettbewerb die Chancen nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung beeinflussen, gewinnt die Verzahnung von wirtschaftlicher Entwicklung und ökologischer Nachhaltigkeit zusätzliche Bedeutung. Das zwingt in wachsendem Maße zur Internationalisierung von Umweltpolitik, einer Internationalisierung, die der globalen Dimension der Umweltproblematik entspricht. Es verdeutlicht zugleich aber auch die Notwendigkeit einer höheren Kostenbelastung des Ressourcenverbrauchs zugunsten einer Senkung von Arbeitskosten. Unser heutiges Steuer- und Abgabensystem hat einen grundlegenden Konstruktionsfehler, der in diesen Zeiten besonders fatale Konsequenzen hat. Das, woran wir sparen müssen, ist viel zu billig: Energie- und Rohstoffe. Dagegen ist das besonders teuer, wovon wir mehr haben, als nachgefragt wird: Arbeit. Deshalb muß der Einsatz des Faktors Arbeit durch Senkung der Lohnnebenkosten verbilligt, der Energie- und Rohstoffverbrauch dagegen durch eine ökologische Steuerreform verteuert werden. Damit würde das ökologisch Notwendige auch zum ökonomisch Sinnvollen werden. Die Umbrüche unserer Zeit schaffen Risiken und Gefahren. Sie schaffen aber auch neue Chancen. Geschichte kennt keine sicheren Ausgänge und deshalb liegt im dunkeln, wohin die globale Befreiung des Kapitalismus die Menschen führen wird. So fragwürdig die Chancen scheinen, die entfesselten Kräfte des Marktes zu bändigen, so sicher sich sagen läßt, daß wir vor schwierigen Herausforderungen stehen, für deren Bewältigung historische Vorbilder nicht existieren und die natürlich den Handlungsraum deutscher Politik allein weit überschreiten, so klar ist für uns aber auch: Was von Menschen gemacht ist, läßt sich auch von Menschen verändern. An diesem Kern -3 2 -
aufklärerischer Grundüberzeugungen halten wir fest. 'Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat ... kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, die gefühllose, bare Zahlung ... Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allem anderen aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen zu sehen' (K.Marx/F.Engels, Das Kommunistische Manifest). So erschien der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts seinen ärgsten Kritikern, die sich dabei freilich auch den nüchternen Blick auf seine historischen Leistungen erhielten. Vieles davon scheint im Blick auf die Globalisierung erstaunlich aktuell. Sowenig die Vorstellungskraft von Karl Marx und Friedrich Engels im 19. Jahrhundert dazu ausgereicht hat, den wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorauszudenken, sowenig müssen heute all die düsteren Prognosen und Untergangsvisionen eintreten, die angesichts der globalen Revolution des Kapitalismus auf der politischen Linken oft entworfen werden. Sicher ist nur, daß ein vollkommen entgrenzter Kapitalismus im ungezügelten Vollgenuß seiner Kräfte nicht nur zu einem ruhelosen Nomadisieren von Investitionsinteressen führen müßte, von immer neuem Hunger nach Ungleichheit angetrieben, sondern damit zugleich auch tragende Ideen einer Zivilisationsentwicklung, die das ganze 20. Jahrhundert beherrscht haben, entwertet würden. Das Ende dieses Weges wäre nicht die Freiheit, sondern die Barbarei - eine Konsequenz der 'invisible hand', die übrigens Adam Smith entgegen landläufigen Ansichten durchaus fürchtete. Er wird demnach zu -3 3 -
begrenzen sein - oder die zivilsatorischen Grundlagen jedenfalls europäischer Gemeinwesen werden erodieren. Aber warum soll diese Begrenzung nicht gelingen? Warum sehen gerade viele Linke derzeit nur ein politisches Jammertal kommen? Warum werden mit den Gefahren der globalen Revolution des Kapitals Untergangsvisionen beschworen, die wie eine Mixtur aus linkem Neo-Spenglerismus und den Theorien vom notwendigen Zusammenbruch des kapitalistischen Weltsystems in der Dritten Internationale der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren klingen? Die vielen Stimmen der Marktradikalen, die an die Selbstregulierungskräfte des Marktes glauben und die Selbstabdankung der Politik fordern, mögen Anlaß zu allerhand Skepsis bieten. Grund zur Resignation oder gar zum Fatalismus sind sie nicht. Wir sehen die Politik nicht am Ende, sondern eher vor der Notwendigkeit eines neuen Anfangs. Gewiß, sie muß herauswachsen aus dem Gehäuse des Nationalstaats. Sie wächst heraus, ohne daß sie zugleich umstandslos in etwas Neues einwandern könnte, das ihr die Chance zu ähnlicher Gestaltungskraft eröffnete, wie sie der Nationalstaat bot. Und sie bewegt sich in einem Rahmen, in dem die einzelnen Teile und Ebenen ein neues Verhältnis zueinander finden müssen: Staaten und Regionen zu supranationalen Wirtschaftsräumen, demokratisch gewählte Politiker zur Macht supranationaler Bürokratien, zur Freiheit transnationaler Unternehmen, zu quotenfixierten Medien und den auf spektakuläre Wirksamkeit bedachten NGOs. Politik wird auch nach 'unten' Macht abgeben müssen: Der politische und soziale Nahbereich wird ebenso ein wichtiger Ort der Rekonstruktion des Politischen sein müssen wie neue internationale Ordnungsrahmen. Gewiß geht in dieser Welt Übersichtlichkeit verloren. Das mag Assoziationen an mittelalterliche Reiche ohne Zentrale heraufbeschwören. Aber warum sollen sich die Institutionen der Politik nur auflösen, warum soll diese Politik nicht die Kraft finden, neue zu schaffen, mit welchen Schmerzen und Geburtswehen auch immer? Immerhin stehen einige -3 4 -
Instrumente doch schon zur Verfügung: die Europäische Union, die OECD, die G7- bzw. G8-Staaten, die neue Welthandelsorganisation WTO, der Internationale Währungsfonds. Manches von dem, was heute ungesteuert wirkt, ist gar nicht ungesteuert. Manches wird sogar nur deshalb nicht gesteuert, weil die wirtschaftsliberale Doktrin von der alleinseligmachenden Kraft des Freihandels dies nahelegt. Die zivilsatorische Bändigung des entgrenzten Kapitalismus das ist die große reformerische Aufgabe der internationalen Politik des 21. Jahrhunderts. Das ist das eine. Das andere ist, daß Politik in Deutschland mit dem Anpacken der Reformaufgaben nicht warten kann, bis ein internationaler Rahmen zur Verfügung steht, der die Anpassungszwänge der Globalisierung mildert. Die Politik und die gesellschaftlichen Akteure in Deutschland müssen heute die Kraft finden, Wirtschaft und Gesellschaft zu modernisieren und Kräfte von Innovation und Erneuerung freizusetzen, ohne daß der soziale Kitt dabei bröckelt. Diese Aufgabe erfordert eine starke und moderne politische Linke, die den Konservativen und Marktradikalen ihren heute gern vertretenen Anspruch, die Speerspitze einer der Zukunft zugewandten Modernität zu sein, erfolgreich streitig machen kann. Und die damit dem Reformbegriff wieder seinen ursprünglichen Sinn zurückgibt, indem er ihn wieder bindet an das Ziel einer Verbesserung humaner Lebensbedingungen im Rahmen eines Ausgleichs zwischen Freiheit und Gerechtigkeit. Nur eine solche Linke wird die nötige Offenheit für die notwendigen Veränderungen in Deutschland entwickeln, ohne dabei in blindes Vertrauen auf die Marktkräfte zu verfallen. Wir brauchen eine moderne, demokratische Linke, die sich für sozialverträgliche Strukturveränderungen im Inneren dieses Landes einsetzt. Wir brauchen zugleich eine moderne internationale Linke, die gegen die Kräfte des Marktradikalismus neue Regeln der internationalen Kooperation durchsetzt. Und die dazu beiträgt, daß die Kräfte des sozialgesellschaftlichen Ausgleichs ebenso zu internationalen Strategien finden, wie die Kräfte der Marktkonkurrenz sie schon -3 5 -
längst gefunden haben. Die Linke muß Avantgarde sein im Kampf um das Modell eines neuen Fortschritts. In einer Zeit der Umbrüche muß sie an der Spitze von Veränderungen stehen und darf sich nicht auf Dementis und defensive Abwehrkämpfe beschränken. Wenn sie das schafft, wird sie bei der Gestaltung der Umbrüche dieser Zeit eine zentrale und unersetzliche Rolle spielen.
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I. Das Gesicht des Strukturwandels 1. Was ist eigentlich Globalisierung? Kaum ein anderer politischer Begriff hat in den letzten Jahren derart Karriere gemacht wie der Begriff der Globalisierung. Daß heißt freilich nicht, daß in der öffentlichen Debatte auch nur einigermaßen klar wäre, was nun eigentlich genau darunter verstanden werden soll. Bislang ist der Begriff vielschichtig und schillernd geblieben. Das hat auch damit zu tun, daß sich an ihm viel Streit entzündet und er nicht nur eine analytische Kategorie, sondern auch politischer Kampfbegriff ist. Für allzu vieles, was politisch begründet werden soll, muß er herhalten: für Sparpolitik, Steuersenkung und Deregulierung ebenso wie für Sozialkürzungen und Änderungen im Umwelt- und Genehmigungsrecht. Aber auch als analytische Kategorie wird der Begriff in unterschiedlichsten Zusammenhängen benutzt. Er ist eine Chiffre zur Kennzeichnung aller möglichen weltweiten ökonomischen Austauschbeziehungen, manchmal sogar Synonym für transnationale Austauschprozesse überhaupt. Nicht selten werden Globalisierung, Multinationalisierung und Internationalisierung mehr oder weniger gleichgesetzt. Was ist Globalisierung wirklich? Was an ihr ist tatsächlich neu? Oder ist sie am Ende gar ein alter Hut, hat die Globalisierung in Wahrheit schon mit Christoph Kolumbus ihren Anfang genommen? Und welche Anpassungszwänge gehen davon wirklich aus? Ihren Ursprung hat die Globalisierungsdiskussion in der seit den achtziger Jahren verstärkt zu beobachtenden Internationalisierung des Güteraustauschs, der Finanz- und Technologiemärkte, aber auch der Unternehmen. In dieser Zeit war es einigen Entwicklungs- und Schwellenländern gelungen, durch die Fertigung von Produkten mit mittlerer und hoher Technologieintensität zu niedrigen Arbeitskosten weltweit höhere Marktanteile zu erringen. Damit gerieten westliche Industrieländer unter steigenden Wettbewerbsdruck. Zugleich war zu beobachten, daß sich als Folge zunehmender -3 7 -
Verflechtung auch der Wettbewerb innerhalb der Triade USAEuropa-Japan intensivierte. Die Öffnung der Grenzen nach dem Zusammenbruch der 'zweiten Welt' 1989/90 hat weitere neue Märkte und neue potentielle Konkurrenten hervorgebracht. Damit hat sich der Aktionsraum der kapitalistischen Weltwirtschaft ausgeweitet. Aber nicht nur das: Der Wegfall des weltumspannenden Ost-West-Gegensatzes und der stürmische Aufholprozeß der asiatischen Schwellenländer haben den öffentlichen Blick weit stärker als zuvor auf die weltwirtschaftlichen Strukturumbrüche gelenkt. Hinzu kam die Wahrnehmung beschleunigter technologischer Umwälzungen innerhalb der hochentwickelten Gesellschaften des Westens. Vor diesem Hintergrund begann die publizistische Karriere des Begriffs 'Globalisierung'. Der Begriff selbst hat verschiedene Dimensionen. Wir wollen fünf unterscheiden: Eine kulturelle Dimension, eine ökologische, eine technische, eine ökonomische und eine politische. Kulturell meint Globalisierung die Vereinheitlichung kultureller Symbole mit ihrer Rückwirkung auf kulturelle Traditionen, Identitäten und Lebensstile, die Entgrenzung und Auflösung von Räumen, Beschleunigung, den Verlust von Tradition (vgl. Barber 1996, Robins 1991). Ökologisch ist Globalisierung die Realität einer globalen Verknappung der ökologischen Ressourcen, die zum Bewußtsein einer globalen Verantwortungsgemeinschaft nötigt und deren Folgen auch nur global zu beherrschen sind (vgl. E. U. v. Weizsäcker 1997). Technisch bedeutet Globalisierung die Revolutionierung von Transportmitteln, Transportkosten und Kommunikationswegen. Ökonomisch bezeichnet Globalisierung die wachsende internationale Verflechtung von wirtschaftlichen Aktivitäten. Ausdruck dieser Verflechtung sind weltweit deregulierte Finanzmärkte ebenso wie die gewachsene Internationalisierung von Absatzmärkten, die globale Investitionskonkurrenz und die potentiell weltweite Verbreitung bzw. Verlagerung der Produktion. Politisch schließlich bedeutet Globalisierung einen Souveränitätsverlust des Nationalstaats und einen wachsenden
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Zwang zu transnationalen Regulierungssystemen (vgl. Albrow 1998; Koch 1995; Sieferle 1995). Globalisierung setzt eine Entwicklung zur Internationalisierung des Kapitals fort, die schon vor Jahrhunderten ihren Anfang genommen hat. Sie ist daher nicht in allen Aspekten etwas historisch Neues, sondern entwickelt bekannte Trends auf neuer Stufenleiter weiter. Sie ist zugleich doch etwas historisch Neues, weil sie weit mehr umfaßt als den Prozeß der Ausdehnung von Exportmärkten, des Welthandels und internationaler Unternehmensstrategien. 'Die derzeitige Periode der Globalisierung ist nicht bloß eine Fortsetzung der Ausbreitung des Kapitalismus und des Abendlandes. Wollte man ihren spezifischen Ausgangspunkt bestimmen, wäre es die erste Nachrichtenübertragung per Satellit. Seit dieser Zeit ist verzögerungsfreie Kommunikation über den ganzen Erdball nicht nur möglich, sondern beginnt beinahe unmittelbar in das Leben vieler Millionen einzugreifen. Die Globalisierung ist weder das gleiche wie die Entwicklung eines ÝWeltsystemsÜ, noch geschieht sie bloß, Ýdort draußenÜ, wo sie mit ganz erdumspannenden Einflüssen zusammenhängt. Zugleich ist sie ein Phänomen, das sich auch Ýhier drinnenÜ abspielt und das unmittelbar verknüpft ist mit den Umständen des lokalen Lebens' (Giddens, 1997, S.119). Anthony Mc Grew, Paul Lewis u.a. haben das Besondere und Neuartige der Globalisierung so zu fassen versucht: 'Globalisierung bezieht sich auf die Vielfältigkeit der Verbindungen und Querverbindungen zwischen Staaten und Gesellschaften, aus denen das heutige Weltsystem besteht. Sie beschreibt den Prozeß, durch den Ereignisse, Entscheidungen und Aktivitäten in einem Teil der Welt bedeutende Folgen für Individuen und Gemeinschaften in weit entfernt liegenden Teilen der Welt haben. Globalisierung besteht aus zwei verschiedenen Phänomenen: Reichweite (oder Ausbreitung) und Intensität (oder Vertiefung). Auf der einen Seite definiert der Begriff eine Reihe von Prozessen, die den größten Teil des Planeten umfassen oder die weltweit wirksam sind; das Konzept hat daher eine räumliche Komponente. Auf der -3 9 -
anderen Seite bedeutet er auch eine Intensivierung der Interaktionen, Querverbindungen und Interdependenzen zwischen Staaten und Gesellschaften, die die Weltgemeinschaft bilden. Daher geht die Ausbreitung mit einer Vertiefung einher ... Weit davon entfernt, nur ein abstraktes Konzept zu sein, benennt Globalisierung eines der bekannteren Charakteristiken des modernen Lebens ... Selbstverständlich bedeutet Globalisierung nicht, daß die Welt politisch geeinter, ökonomisch integrierter oder kulturell homogener wird. Globalisierung ist ein in sich hochgradig widersprüchlicher Prozeß, sowohl was seine Reichweite als auch was die Vielfältigkeit seiner Konsequenzen angeht' (Mc Grew/Lewis u.a., 1992, S.22, zit. nach Gruppe von Lissabon, S.50). Jonathan Perraton und seine Mitautoren sehen in der Globalisierung einen historischen Prozeß, in dessen Verlauf auch 'die menschlichen Verhaltensweisen, Aktivitäten und die Ausübung gesellschaftlicher Macht transnationalen (oder internationalen) Charakter annehmen' (Perraton u.a., 1998, S.136). Sie betonen die 'Multidimensionalität' der Globalisierung und ihre Ausdehnung auf alle gesellschaftlichen Bereiche. Uns werden nachfolgend zunächst die ökonomischen und politischen Dimensionen der Globalisierung interessieren. Die technischen Aspekte werden wir im anschließenden Kapitel behandeln. Die Globalisierung der Finanzmärkte Wenn man unter Globalisierung die Entwicklung weltweit verflochtener und durch keine Schutzmechanismen abgeschotteter, völlig freier Märkte versteht, dann trifft dieser Begriff heute am ehesten die Situation auf den Kapitalmärkten. Hier ist aus einem einstmals geschlossenen System längst ein völlig freier Markt für Finanzanlagen geworden. Im Zuge dieser Entwicklung wurden nach und nach praktisch überall nationale Kapitalverkehrskontrollen aufgegeben. Angesichts des erreichten Standes der Kommunikationstechnik hätten sie inzwischen auch längst ihre Wirksamkeit eingebüßt. Dabei hat sich die transnationale Akkumulation von Geldkapital gegenüber dem realen wirtschaftlichen Wachstum derart -4 0 -
überproportional entwickelt, daß man geradezu von einer Ablösung der Finanzmärkte von der Sphäre des realwirtschaftlichen Güteraustauschs sprechen kann. Ulrich Menzel hat dies die 'Virtualisierung der Ökonomie' genannt (vgl. Menzel, 1998), Susan Strange hat dafür schon vor einem guten Jahrzehnt den Begriff 'Kasinokapitalismus' geprägt (Strange, 1986). Tatsächlich hat das ungeheure Wachstum der Finanzmärkte in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem grundlegenden Wandel der Weltwirtschaft geführt. Die internationale Wirtschaft gründet nicht mehr vorrangig auf dem Austausch von Waren, sondern auf Kapitalexport und Finanzdienstleistungen. Dabei spielen rein spekulative Anlagen auf den Devisen-, Zins- und Warenterminmärkten, der Handel mit Optionen, sogenannten 'Futures' und 'Swaps' eine bestimmende Rolle. Hier liegt der Kern der Veränderung. Der Handel mit solchen 'Derivaten' steht in keinem Verhältnis mehr zum realwirtschaftlichen Austausch. Partner in den Geschäften sind nicht mehr Produzenten und Verarbeiter, sondern Spekulanten. 'Der großen Masse der Kontrakte stehen nämlich gar keine realen Transaktionen mehr gegenüber ... Es handelt sich vielmehr um reine Wetten zwischen risikobereiten Marktteilnehmern auf künftige Kursentwicklungen' (Menzel, a.a.O., S.191). Helmut Schmidt spricht von einer 'Globalisierung des Spekulationismus' als wichtigstem Kennzeichen dieser neuen Ära. 'Die heute Globalisierung genannte Entwicklung der Weltwirtschaft ... beruht nicht nur auf der modernen Erfindung von Techniken des Verkehrs, der Telekommunikation, der Finanzierung - sie beruht auch auf dem Siegeszug der Liberalisierung des Geldverkehrs und des Kapitalverkehrs' (Schmidt, 1998, S.32/33). Bis 1973 waren die Finanzmärkte in aller Welt der Kontrolle der nationalen Regierungen unterstellt. Sie funktionierten nach einem System, das auf der Konferenz von Bretton Woods im US-Bundesstaat New Hampshire im Sommer 1944 von einem britisch-amerikanischen Team konzipiert worden war, an dem auch der englische Ökonom John Maynard Keynes maßgeblich -4 1 -
beteiligt war. Den Hintergrund für diesen Versuch, für die Zeit nach dem absehbaren Ende des Zweiten Weltkriegs einen stabilen rechtlichen und institutionellen Rahmen für das internationale Wirtschafts- und Finanzsystem zu schaffen, bildete die traumatische Erfahrung der dreißiger Jahre. Nahezu alle Beteiligten waren sich einig, daß die Krise der Weltwirtschaft nach 1929 die entscheidende Ursache für jene politische Instabilität gewesen sei, die letztlich in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs einmündete. Wenn aber das Scheitern internationaler Zusammenarbeit zu solchen Katastrophen führen konnte, dann mußte es Sache von Politikern und Ökonomen sein, für die Zukunft Kooperationsformen zu finden, die ein solches Desaster verhindern konnten. So wurde in Bretton Woods nicht nur das künftige Währungssystem konzipiert. Der amerikanische Kurort erlebte auch die Geburtsstunde des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Im Zentrum dieses Systems stand das Festhalten an stabilen Wechselkursen mit einer festen Bindung der Leitwährung Dollar an das Gold. Die einzelnen Währungen sollten mit definierten Schwankungsbreiten zu festen Kursen an den Dollar gebunden sein. Zu diesem System gehörte auch die direkte Kontrolle der Kapitalströme. Dieses 'System von Bretton Woods' funktionierte fast drei Jahrzehnte relativ erfolgreich. Es konnte funktionieren, weil die Regierungen der wichtigen Industrieländer bereit waren, sich der strengen Disziplin dieses Reglements zu unterwerfen. Dazu zählte die Bereitschaft, nur sehr geringe Haushalts- oder Handelsbilanzdefizite zuzulassen. Anderenfalls wäre den nationalen Regierungen das Geld ausgegangen, oder ihre Währungen wären gegenüber den Bretton-WoodsParitäten stark über- oder unterbewertet worden. Im Rahmen eines solchen Systems konnte ein globaler Finanzmarkt gar nicht erst entstehen. Es gab lediglich nationale Finanzmärkte, die relativ unabhängig voneinander agierten. Dazu kam, daß in den wichtigen Industrieländern eine strenge staatliche Regulierung den Wettbewerb der Banken einschränkte. In manchen Ländern wie etwa Frankreich oder -4 2 -
Italien befanden sich die führenden Banken praktisch in Staatsbesitz. Mit diesem System behielten die Regierungen die Steuerung der Geldmenge und der Zinsentwicklung in ihren Ländern in der Hand. In dieser Zeit wurden die nationalen Volkswirtschaften international durch den Handel integriert, kaum dagegen durch einen entsprechenden Kapitalmarkt. Finanzmärkte blieben eine nationale Angelegenheit, die Anlagemöglichkeiten, Preise und Risiken waren von Land zu Land sehr unterschiedlich. Dementsprechend konnte die Zinspolitik der Notenbanken eine wichtige Rolle für Erfolg oder Mißerfolg der auf nationale Volkswirtschaften abgestellten Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik spielen. Dieses System ist zu Beginn der siebziger Jahre vor allem deshalb zusammengebrochen, weil die USA die für das Funktionieren von Bretton Woods notwendige Haushalts- und Währungsdisziplin nicht mehr einhielten. Entscheidend mitverursacht durch den Vietnamkrieg wurden die Budget- und Handelsbilanzdefizite der Vereinigten Staaten zu groß, während gleichzeitig die Handelsbilanzüberschüsse von Deutschen und Japanern ein Ausmaß erreichten, das ihrerseits den Verfall des US-Dollar beschleunigen halfen. Dabei war die DM schon lange überbewertet gewesen, was der deutschen Exportwirtschaft auf dem amerikanischen Markt lange Zeit große Vorteile gebracht, allerdings im Nachkriegsdeutschland auch zu verschiedenen Aufwertungsdiskussionen geführt hatte. Mitverantwortlich für das Ende von Brenton Woods waren auch die Fortschritte in den Kommunikationstechnologien. Durch sie waren Spekulationsgeschäfte mit dem Dollar auf breiter Front möglich geworden. Dies alles führte zunächst zur Dollarabwertung 1971 und schließlich zur Freigabe der Wechselkurse zwei Jahre später. Diese Freigabe wurde zur Geburtsstunde eines globalen Devisenmarktes. Wohl bestanden zunächst in den meisten Ländern noch Devisenkontrollen und strenge Regulierungen des Bankensektors. Viele davon sind erst im Laufe der achtziger Jahre aufgegeben worden. Doch die großen multinationalen Banken erkannten rasch die Gewinnmargen -4 3 -
von Devisengeschäften bei freien Wechselkursen. Sie entdeckten, daß sie einen Kredit mit kurzer Laufzeit in einer bestimmten Währung zu einem bestimmten Zinssatz aufnehmen, dieses Geld in einer anderen Währung zu einem höheren Zinssatz vergeben und zugleich gegen Wechselkursschwankungen einen Devisenterminkontrakt abschließen konnten, der sie gegen Kursverluste absicherte. So entstanden die sogenannten Arbitragegeschäfte, die im Laufe der Zeit riesige Dimensionen angenommen haben. Bei diesen Arbitragegeschäften geht es darum, durch das Ausnutzen auch minimaler Zins- und Wechselkursdifferenzen durch eine Vielzahl von Transaktionen und große Volumina des eingesetzten Kapitals beachtliche Gewinne zu erzielen. Die technologische Entwicklung half dabei kräftig mit, solche Geschäfte zu verbreiten. Was Mitte der siebziger Jahre noch mit Rechenschiebern und Taschenrechnern ausgerechnet werden mußte und dadurch enorme Kosten verursachte, konnte durch die moderne Computertechnik später auf ein Kostenminimum gesenkt werden. Heute sind zwar die Gewinnspannen bei Arbitrageschäften nur noch minimal; durch Einsatz astronomischer Summen bleiben die Geschäfte jedoch noch immer attraktiv. Hinzu kamen bald andere Spielarten von sogenannten 'Derivatsgeschäften', die die Kursveränderungen von Währungen auszunutzen versuchen. Wie in einem gigantischen Wettbüro werden durch das Spekulieren auf Wechselkursschwankungen Geschäfte gemacht. Die Steigerungsraten bei den derivativen Finanzierungsinstrumenten, zu denen Zinsund Währungsgeschäfte sowie börslich gehandelte Instrumente wie Optionen gerechnet werden, sind enorm. Lag der Nennwert der Derivatsbestände 1987 noch bei einer Billion Dollar, so war er bis 1998 auf über 40 Billionen angestiegen (Altvater, 1998; vgl. auch Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1998). Inzwischen ist ein riesenhaft aufgeblähter, spekulativer Devisenmarkt entstanden. Betrug das Volumen des globalen Devisenhandels 1973 lediglich zehn bis zwanzig Milliarden -4 4 -
Dollar pro Tag, so war es 1986 schon bis auf etwa 200 Milliarden angewachsen. 1995 lag der Tagesumsatz der internationalen Devisenmärkte bei mehr als 1,3 Billionen USDollar. Allein am größten Handelsplatz London wurden täglich im Schnitt 460 Milliarden Dollar umgesetzt (vgl. Greider, 1997). Das Volumen hat sich also in den vergangenen 25 Jahren mehr als verhundertfacht. Bei einem jährlichen Welthandelsvolumen in einer Größenordnung von 4,3 Billionen US-Dollar (1995) würden zwei Prozent des Umsatzes auf den Devisenmärkten ausreichen, um die realwirtschaftlichen Aktivitäten wie Warenaustausch und Auslandsinvestitionen abzuwickeln und abzusichern. Es gibt geradezu eine 'asset inflation', also eine irreale Aufblähung der Vermögenswerte auf dem Papier. Dazu trat bald die internationale Öffnung der Aktien- und der Anleihemärkte. Besonders weit vorangeschritten ist die Öffnung der Märkte für Anleihen. Angetrieben durch die riesigen USHaushaltsdefizite der achtziger Jahre, kam es zwischen 1983 und 1993 zu einer Verzehnfachung von US-Anleihen im Ausland. Mittlerweile sind auch die Anleihemärkte globalisiert. Langsamer vorangekommen ist demgegenüber die Globalisierung der Aktienmärkte. Während die täglichen Handelsumsätze an den Devisenmärkten längst die Billionengrenze überschritten haben und auch die Handelsumsätze bei Staatsanleihen inzwischen über 200 Milliarden Dollar betragen, werden auf den internationalen Aktienbörsen bislang 'nur' 25 Milliarden Dollar umgesetzt. Eine Vielzahl von Hindernissen stand einer stärkeren Ausbreitung des globalen Aktienhandels lange Zeit im Wege; hohe Transaktionskosten, beschränkte Informationszugänge, Depotleistungen usw. Inzwischen ist auch hier vieles in Bewegung geraten (vgl. z.B. Bryan/Farrell, 1997). Eine besondere Rolle spielt dabei die wachsende Aktivität institutioneller Anleger wie zum Beispiel amerikanischer Pensionsfonds. Seit Anfang der neunziger Jahren haben sich solche Anleger auf den internationalen Aktienmärkten in großem Stil engagiert. Der Wert grenzüberschreitender Aktientransaktionen stieg in den USA zwischen 1980 und 1994 -4 5 -
von 93 Milliarden Dollar auf immerhin 1,5 Billionen Dollar. Mittlerweile kann man von der nahezu vollständigen Mobilität des Geldkapitals ausgehen, wobei das Volumen liquider Finanzaktiva dreimal so schnell wächst wie die Realwirtschaft (vgl. Bryan/Farrell, a.a.O.). Daraus ergeben sich einschneidende Konsequenzen für die Politik. Während sich der Staat früher als Garant eines funktionierenden Finanzsystems sehen konnte, wird nun die Fähigkeit von Einzelstaaten zur Kontrolle ihrer eigenen Finanzsysteme untergraben. Die globale Mobilität des Kapitals führt zum faktischen Verlust der nationalen Zinshoheit. Während in den Hochzeiten keynesianischer Vollbeschäftigungspolitik die Chance bestand, durch Zinssenkung die Attraktivität von arbeitsplatzschaffenden Realinvestitionen gegenüber Finanzanlagen zu steigern, ist diese Möglichkeit heute weitgehend pass*. Die Stagnation der japanischen Wirtschaft in der 'Zinsfalle' von nur 0,5 Prozent ist ein treffendes Beispiel dafür. Allenfalls die Zinspolitik der Vereinigten Staaten könnte aufgrund der Größe des Wirtschaftsraums heute noch entsprechende Effekte auslösen. Ulrich Menzel hat jüngst die Frage aufgeworfen, ob die Deregulierungspolitik und die internationale Abkehr vom Keynesianismus womöglich weniger politisch gewollt als einfach durch den Druck der Märkte erzwungen worden sei (Menzel, a.a.O.). Wenn deutsche Finanzpolitik die Zinsen unter das internationale Niveau zu senken versuchte, um damit die Attraktivität von Sachinvestitionen zu steigern, so erhöhte sich damit eher die Gefahr der Abwanderung von Kapital, die dann ihrerseits die Spielräume für Zinssenkungen weiter begrenzen müßte. 'Das Kapital hat Flügel bekommen' (Greider, 1997). Geldpolitische Instrumente zur aktiven Beschäftigungspolitik stehen in nationalem Rahmen praktisch nicht mehr zur Verfügung. Für eine solche Politik blieben heute nur noch fiskalpolitische Instrumente in Form schuldenfinanzierter Beschäftigungsprogramme, für die allerdings die Finanzspielräume fehlen (vgl., Scharpf 1997). Das alles hat zur -4 6 -
Folge, daß zusätzliche Realinvestitionen heute praktisch nur noch durch die Steigerung der Gewinnerwartungen ausgelöst werden. Dies ist der eigentliche Motor der Konkurrenz verschiedener Wirtschaftsstandorte, die sich im Angebot profitabler Anlagebedingungen zu überbieten suchen. Künftig wird ein globaler Kapitalmarkt Angebot und Nachfrage nach Kapital weltweit bestimmen und dabei auf längere Sicht vermutlich nicht nur die Wirtschaften der Industrieländer, sondern auch die Wirtschaften Chinas und Südasiens, Indiens, Südamerikas und Rußlands erfassen. Wenn aber dieser Markt die Kapitalbewegungen bestimmt, verändert sich damit die Rolle von Staaten. Denn wenn sich die Welt auf ein offenes System, das von niemandem gesteuert und von niemandem kontrolliert wird, zubewegt, bestimmen die globalisierten Kapitalmärkte die Handlungsspielräume der Politik, nicht die Politik die Handlungsspielräume der Kapitalmärkte. Regierungen müssen zusehen, wie der globale Finanzmarkt das Zinsniveau im Inland erhöht oder die Währung abwertet. Spekulationsbedingte Währungskursschwankungen können die wirtschaftliche Entwicklung gerade von kleineren Ländern stärker beeinflussen als alle Anstrengungen nationaler Wirtschafts- und Finanzpolitik. In Ländern mit überbewerteten Währungen können ganze Industriezweige in Schwierigkeiten kommen, obwohl sie effizienter und kostengünstiger produzieren als andere. Bei unterbewerteten Währungen dagegen können sich Industriezweige womöglich halten, obwohl sie eigentlich gar nicht mehr wettbewerbsfähig wären. Der globalisierte Finanzmarkt vermag Regierungen und ganze Weltregionen zu bestrafen, wenn die Fundamentaldaten signalisieren, daß dort eine 'falsche' Politik gemacht wird. Er selbst ist dabei freilich das Werkzeug von niemandem. Denn selbst die mächtigsten Teilnehmer an diesem Markt sind nichts anderes als mehr oder weniger erfolgreiche Mitspieler in einem System, das letztlich von niemandem kontrolliert wird und das sich gelegentlich auch gegen Finanzmogule oder multinationale Unternehmen richten kann. Da nur ein Bruchteil des Tagesumsatzes an den Finanzmärkten zur Absicherung des -4 7 -
Welthandels oder zur Finanzierung von Investitionen tatsächlich benötigt wird, wird man schlußfolgern müssen: Wenn Geld Zahlungsmittel zum Zwecke einer geregelten und effizienten Abwicklung von Handel und Investitionstätigkeit sein soll, haben die globalen Finanzmärkte diesen Zweck längst auf den Kopf gestellt. 'Rein quantitativ... hat sich das Finanzsystem von den realwirtschaftlichen Transaktionen weitgehend abgekoppelt und dient nicht mehr prioritär der Erschließung neuer Investitionsmöglichkeiten, sondern erfüllt einen Selbstzweck der Spekulation und Arbitrage' (Zukunftskommission der FriedrichEbert-Stiftung, a.a.O.). 'Das Interesse der Finanzanalysten gilt konsequenterweise auch nicht mehr ÝhartenÜ Indikatoren wie der Ertragslage eines Unternehmens oder den Konjunkturdaten einer Volkswirtschaft, künftige Kursentwicklungen werden vielmehr aus den vorangegangenen extrapoliert ... Wenn dann nur genug Kapital auf Hausse oder Baisse gesetzt wird, bewegt sich der Kurs schon in die gewünschte Richtung ... In der Welt des Kasino-Kapitalismus ist Wertbildung, so die These, nur mehr eine Frage der spekulativen Bewertung von Tauschvorgängen' (Menzel, a.a.O, S.193-195). Das Kapital fließt in Sekunden dahin, wo sich für Augenblicke Kursgewinne erzielen lassen. Es löst sich dabei von Grenzen und Standorten. Es hat sich gewissermaßen befreit von jeder stofflichen Gestalt. Ob dies auf die Entwicklung der Weltgesellschaft jene segensreichen Auswirkungen hat, die die Befürworter der totalen Deregulierung immer wieder unterstellen, darf bezweifelt werden. Und es wird neuerdings auch zunehmend bezweifelt nicht zuletzt von einem der größten und erfolgreichsten Devisenspekulanten selbst. Der Milliardär George Soros, der sein riesiges Vermögen eben diesen deregulierten Finanzmärkten verdankt, warnt in seinen öffentlichen Äußerungen neuerdings immer wieder vor den Gefahren eines völlig unregulierten Finanzmarktes und verlangt ein Eingreifen des Staates. Sonst drohe eine 'globale Auflösung'. Altbundeskanzler Schmidt spricht von einem 'Raubtierkapitalismus', 'man könnte auch von -4 8 -
Sozialdarwinismus reden'. Mit ihm breite sich die 'rücksichtslose Ideologie' des shareholder value aus, die den Nutzen unternehmerischer Tätigkeit nur noch an der zu erwartenden Wertsteigerung von Aktien messe, was jede soziale Verpflichtung gegenüber Staaten und Gesellschaften zurückdränge (Schmidt, a.a.O., S.31-33). Tatsächlich ist das zentrale wirtschaftsliberale Argument, daß der völlig freie globale Finanzmarkt letztlich eine größere Stabilität für alle garantieren würde, vor dem Hintergrund der gesammelten Erfahrungen der Zeit nach Bretton Woods keineswegs einleuchtend. Denn immer wieder haben spekulativ herbeigeführte Währungsschwankungen Opfer gefordert: Unternehmer, Banken, Arbeitnehmer, ganze Volkswirtschaften. Nicht zuletzt die Asienkrise zeigt, wohin dies führen kann. Alle traditionellen Erklärungen für die Finanzkrise treffen die Probleme in Ostasien nicht. Die betreffenden Länder sind nicht hoch verschuldet, haben keine hohen Inflationsraten, ihr wirtschaftliches Wachstum war außerordentlich hoch. Aber gerade weil sie derart positive wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten schienen, ist es zu einer spekulativen Überhitzung des Kapitalmarkts und aufgeblähten Kreditfinanzierungen gekommen, die nach dem ebenfalls spekulativ begründeten Kursverlust einzelner Währungen eine Abwärtsspirale eröffnet hat, die jetzt die Zukunftsaussichten ganzer Volkswirtschaften bedrohen. So zeigen sich gerade in dieser Krise die Risiken der virtualisierten Ökonomie: In allen Ländern ging der Krise eine Aufblähung der Aktien- und Immobilienpreise voraus. Die Investitionen in diesen Sektoren fütterten die Kurse und ließen in einem zirkulären Prozeß die Finanzinvestitionen sicherer erscheinen, als sie es tatsächlich waren. Ein typischer Fall einer sogenannten 'bubble economy'. Negative Konsequenzen potenzieren sich durch den 'Herdentrieb' von Anlegern, die in der gleichen Geschwindigkeit, in der es sie aufgrund realwirtschaftlich nicht gerechtfertigter Gewinnerwartungen zu Kapitalanlagen auf diesen Märkten drängt, durch überstürzten Kapitalabzug beim Auftreten der ersten Krisenerscheinungen die Probleme eskalieren lassen. -4 9 -
Auch die ökonomischen Daten der Volkswirtschaften der OECD-Länder seit den siebziger Jahren belegen die Grundannahmen der liberalen Wirtschaftstheoretiker gerade nicht. Immerhin haben wir es seither in der gesamten OECDWelt mit Arbeitslosenzahlen zu tun, die weit über denen liegen, die in der Bretton-Woods-Periode zu verzeichnen waren. Das hat viele Gründe (vgl. dazu Kapitel 5). Aber ein Beleg für die segensreichen Wirkungen globalisierter Finanzmärkte sind diese Zahlen ganz sicher nicht. Man könnte sogar schlußfolgern: Wenn das Wachstum des Weltsozialprodukts derart stark auf einer Sphäre der entstofflichten Wirtschaft beruht, die wenig beschäftigungsrelevant ist, muß das negative Konsequenzen für die Arbeitsmärkte haben. Zusammenfassend lassen sich mindestens drei schwerwiegende Probleme ausmachen, die sich aus der heutigen Verfassung der globalisierten Finanzmärkte ergeben: Schwankungen und Instabilitäten der Finanzmärkte können auch in hochentwickelten Ländern Krisen verursachen, die mit realwirtschaftlichen Entwicklungen gar nichts zu tun haben. Kurzfristige Renditeerwartungen dominieren industrielle Entwicklungsstrategien. Schließlich beeinträchtigen die spekulativen Gewinnerwartungen auf den Finanzmärkten die Investitionen in Sachanlagen. Die Bretton-Woods-Kommission, eine private, aber überaus angesehene Vereinigung von 47 namhaften Finanzexperten aus Amerika, Asien und Europa, gesponsert u.a. von den wichtigsten Banken der OECD-Länder, ist unter dem Vorsitz des früheren US-Notenbankchefs Paul Volcker in einem Bericht schon 1994 zu dem Ergebnis gekommen, daß die unregulierten Devisenmärkte nicht unerheblich zu den wirtschaftlichen Verwerfungen und Krisenerscheinungen in den OECD-Ländern seit Mitte der siebziger Jahre beigetragen hätten. Die Halbierung der wirtschaftlichen Wachstumsraten im OECDDurchschnitt, der dramatische Anstieg der Arbeitslosigkeit im gleichen Zeitraum und die rückläufigen Investitionsausgaben hätten unterschiedliche Ursachen. Eine davon seien die Instabilitäten, die aus den deregulierten Finanzmärkten -5 0 -
resultierten. Die neue Freiheit erhöhe die Effizienz des Kapitals vor allem dadurch, daß es ihm ermöglicht werde, der Notwendigkeit zur Reinvestition in das Wirtschaftswachstum des eigenen Landes zu entkommen. W ' enn die Wechselkurse ausreißen, werden die Ressourcen falsch verteilt; wenn die Wechselkurse zu stark schwanken, schafft dies Unsicherheit, so daß Investitionen verhindert werden' (Bretton-WoodsKommission, zit. nach Greider, 1997). Jenseits der fragwürdigen wirtschaftlichen Resultate des 'entfesselten Markts' (Bryan/Farrell) stellt sich auch die Frage nach der Legitimation für die ungeheure Machtfülle, die ein solches von niemandem zu steuerndes System für das Schicksal ganzer Volkswirtschaften besitzt. Das globalisierte Finanzkapital vertritt zwar einerseits die Doktrin eines von jeder staatlichen Einflußnahme befreiten Marktes. Es ist aber zugleich doch wieder auf den gleichen Staat angewiesen, den es als Akteur auf den Finanzmärkten eigentlich zum Teufel wünscht jedenfalls in einer dramatischen Krisensituation wie z.B. der Mexiko-Krise. Anfang 1995 war es die US-Regierung und der IWF, die zu Hilfe gerufen wurden, als es um die Kleinigkeit von fünfzig Milliarden Dollar ging, die aufgebracht werden mußten, um den Sturzflug des mexikanischen Pesos und die drohende Katastrophe weltweiter Kettenreaktionen abzuwenden - mit Steuermitteln, die zur Rettung von Anlegern ausgegeben wurden, die sich verspekuliert hatten. Letztlich waren es die einfachen Steuerzahler, die die Gewinnerwartungen der Anleger abstützen mußten, und Banken, wenn sie in Krisen geraten sind, mit öffentlichen Geldern wieder 'freikauften' (bail out). Die International Herald Tribune hat dies ironisch einen 'Hummersalat-Sozialismus' genannt (31.12.1997). Wer, wenn nicht der Staat, kann die Erhaltung von Eigentumsrechten der Marktakteure garantieren? Man muß nicht Spätsozialist, Regulierungsapostel oder ein Prophet des Untergangs sein, um hier Grundfragen der Demokratie berührt zu sehen. Alle bislang ernsthaft diskutierten Vorschläge zur Reregulierung haben freilich ihre Tücken. Die Bretton-Woods-5 1 -
Kommission hat bereits 1994 einen Vorschlag zur Wiedereinführung eines Währungssystems gemacht. Er orientierte sich am Vorbild des Europäischen Währungssystems, in dem sich die einzelnen Währungen in einer bestimmten Bandbreite zur Mark bewegen müssen. Entsprechend diesem historischen Vorbild, das demnächst Geschichte sein wird, sollen die führenden Länder für ihre Währungen innerhalb einer bestimmten Bandbreite einen festen Wechselkurs vereinbaren. Dabei soll der Internationale Währungsfonds als eine Art Aufpasser fungieren, der bei der Gefahr eines Verlassens des festgelegten Korridors der Wirtschafts- und Finanzpolitik der betreffenden Länder harte Auflagen machen kann. Gegen diesen Vorschlag sind vor allem drei Einwände erhoben worden: Einmal wurde darauf hingewiesen, daß im Gegensatz zum Bretton-Woods-System eine sichere Leitwährung heute nicht mehr zur Verfügung stehe. Tatsächlich ist die Koppelung des Euro an den Dollar schwer vorstellbar, die Koppelung des Dollar an den Euro ist es erst recht. Zweitens wurde die Befürchtung geäußert, ein gezielter Angriff der Spekulanten gegen die schwächste Währung in diesem Verbund könne das System ähnlich gefährden wie zu Beginn der neunziger Jahre das EWS, als der Schlag der Währungsspekulanten gegen die italienische Lira und das britische Pfund geführt wurde und trotz massiver Stützungskäufe der Notenbanken in Milliardenhöhe eine Währungsabwertung nicht verhindert werden konnte. Und drittens wurde und wird eingewandt, es sei schlicht unvorstellbar, daß eine Macht wie die Vereinigten Staaten den IWF jemals mit der Kompetenz ausstatten würde, einer USRegierung Vorgaben für ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik machen zu dürfen. Der IWF könne ärmere Länder dazu zwingen, Sparhaushalte zu verabschieden, und alle möglichen finanzpolitischen Auflagen machen. Aber es sei kaum vorstellbar, daß er dieses auch gegenüber den hochentwickelten Industrieländern durchsetzen könne (vgl. Greider, 1997)
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Ein zweiter Vorschlag wird schon seit gut anderthalb Jahrzehnten diskutiert, neuerdings auch wieder verstärkt in Deutschland. Es handelt sich um die sogenannte 'Tobin-Tax', die der Nobelpreisträger James Tobin in die Debatte gebracht hat. Bereits 1978 hat der US-Ökonom Tobin vorgeschlagen, auf alle grenzüberschreitenden Kapitalströme eine geringe Transaktionssteuer zu erheben. Selbst eine sehr geringe Abgabe - meist werden Zahlen in einer Größenordnung von 0,1 oder 0,2 Prozent genannt - könnte angesichts der geringen Gewinnmargen in den spekulativen Devisengeschäften, die ja vor allem durch die ungeheuren Volumina des eingesetzten Kapitals profitabel sind, die spekulativen Geschäfte bremsen, mindestens aber den Regierungen erhebliche Einnahmen verschaffen. Rein rechnerisch ergäben sich bei dem heutigen Volumen auf den Finanzmärkten zusätzliche Steuereinnahmen in der Größenordnung von Hunderten von Milliarden Mark. Gegen diesen Vorschlag werden vor allem zwei Argumente vorgebracht. Das erste bezweifelt die Wirksamkeit dieser Steuer als Mittel, spekulativen Devisengeschäften den Anreiz zu nehmen. Die Steuer werde einfach als Preisaufschlag mit dem nächsten Devisengeschäft weitergegeben, so daß am Ende nicht weniger Devisenspekulationen stattfänden als zuvor. Es bliebe bei der Chance, den Staatssäckel mit zusätzlichen Steuereinnahmen zu füllen. Die Gefahr von spekulationsbedingten Instabilitäten zum Nachteil ganzer Weltregionen sei dadurch aber nicht gebannt. Der zweite Einwand verweist darauf, daß eine solche Steuer nur dann wirksame Effekte haben könne, wenn sie weltweit eingeführt werde. Die dazu nötige Übereinstimmung wenigstens der wichtigsten Industrieländer aber sei mehr als unwahrscheinlich. Der erste Einwand scheint uns nicht zwingend. Selbst wenn er die Konsequenzen einer solchen Tobin-Steuer zutreffend beschreiben sollte, blieben zusätzliche Steuereinnahmen, die jedenfalls nicht die Falschen belasten würden. Das brächte in jedem Fall mehr Vorteile als Nachteile. Die Verteilung dieser Einnahmen unter den einzelnen Staaten wäre nicht einfach, aber letztlich sicher zu regeln. -5 3 -
Der zweite Einwand dagegen trifft schon eher. Tatsächlich setzt die Einführung einer solchen Steuer eine Geschlossenheit der reichen Industrieländer voraus, die aus heutiger Sicht ausgesprochen unwahrscheinlich ist. Selbst eine OECD-weite Einführung der Tobinsteuer wäre nämlich nur dann wirklich effektiv, wenn zugleich gegen die etwa dreißig OffshoreFinanzplätze auf der Welt vorgegangen würde. Entweder müßten diese Offshore-Finanzplätze von Gibraltar und den britischen Kanalinseln bis zu den Cayman Islands mitspielen, was sie gewiß nicht tun werden. Oder man müßte die Kapitalströme blockieren, was z.B. dadurch geschehen könnte, daß Banküberweisungen von Offshore-Finanzplätzen in OECDLänder nicht mehr angenommen werden dürften. Das aber würde diverse Folgeprobleme schaffen und würde vermutlich als systemwidrig angeprangert werden. In jedem Fall bliebe das Problem, das einzelne Länder aus dieser internationalen Kooperation wieder ausscheren könnten. Zu groß wäre der Vorteil, den einzelne Finanzplätze daraus ziehen könnten. Hinzu kommt das Problem, die On-line-Transaktionen von Banken überhaupt nachvollziehen zu können. Es ist deshalb kaum damit zu rechnen, daß in absehbarer Zeit die TobinSteuer eine realistische Chance haben wird. Weniger schwierig wäre freilich die Einführung einer 'TobinVersicherung' auf alle privaten Devisen- und Derivatsgeschäfte. Damit könnten private Risiken auch privat abgesichert und müßten nicht noch durch öffentliche Gelder abgefangen werden, wenn Zusammenbrüche mit unabsehbaren Folgen drohten. Damit wäre freilich nur ein kleineres jener Probleme aufgefangen, die mit der Globalisierung der Finanzmärkte entstehen. Die Instabilitäten und realwirtschaftlich problematischen Effekte dieses Systems wären noch nicht im Griff. Immerhin wird in der letzten Zeit auch hierzulande die Sorge vor einem desaströsen Zusammenbruch dieser Märkte häufiger formuliert. So hat der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine jüngst 'mehr Regulierung' für die Finanzmärkte verlangt und sich dabei auf die Empfehlungen der Bretton-Woods-Kommission bezogen -5 4 -
(Lafontaine/Müller, 1998). In jedem Falle ist die Politik in den führenden Industrieländern gefordert, Verhandlungen über Chancen und Möglichkeiten einer besseren internationalen Regulierung der Finanzmärkte aufzunehmen. Die G8-Staaten müssen ihre Geld- und Währungspolitik aufeinander abstimmen. Auf diesem Wege ist die Schaffung der europäischen Währungsunion ein ganz wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Sie wird die Attraktivität spekulativer Devisengeschäfte eindämmen helfen. Ob weltweite Absprachen zu Ergebnissen führen, die die Risiken der globalisierten Finanzmärkte entscheidend vermindern, wird sich erst in der Zukunft zeigen. Einige Reformschritte lassen sich freilich angeben, die auch auf kürzere Sicht bereits umgesetzt werden könnten. Das Risikomanagement muß optimiert, die Finanzmarktaufsicht und die Bankaufsicht müssen verbessert werden, und Frühwarnsysteme müssen für mehr Transparenz sorgen. Die Staatengemeinschaft darf sich nicht allein auf die privaten Rating-Agenturen wie MoodyÕs, Standard & Poor, Fitch IBCA u.a. verlassen. 'Wo war MoodyÕs?' fragte der amerikanische Ökonom Paul Krugmann nach Beginn der Asienkrise und drückte damit ein aktuelles Dilemma aus: die faktisch ungeheure Machtfülle von wenigen privaten Rating-Agenturen in den USA. Verfeinerte Ratinginstrumente sollten bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) geschaffen werden, damit eine unabhängige Beurteilungsinstanz zur Verfügung steht. Die deregulierten Finanzmärkte sind die treibende Kraft der Globalisierung. Sie bringen Instabilitäten und eine Eigendynamik der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft hervor, die nach tauglichen Instrumenten stärkerer Regulierung verlangen. Die hohen Renditen auf diesen Märkten führen dazu, daß der Rentabilitätsdruck bei realwirtschaftlichen Investitionen weiter steigt. Unter dem Druck des 'shareholder value' müssen Unternehmen immer profitabler werden. Das Rationalisierungstempo zieht an, die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Diese Auswirkungen verlangen Gegenmaßnahmen. Hier ist die -5 5 -
Staatengemeinschaft gefordert. Und natürlich auch eine deutsche Bundesregierung. Transnationale Unternehmensstrukturen und die Liberalisierung des Welthandels Gegenüber der Globalisierung der Finanzmärkte ist die Globalisierung der Realwirtschaft bislang zurückgeblieben. Wohl ist der Welthandel seit den fünfziger Jahren sehr viel stärker gewachsen als die Weltproduktion. Mit immer neuen GATT-Runden wurde seither die Liberalisierung des Außenhandels durch Abbau von Zöllen und Mengenkontingentierungen betrieben. Die drastische Senkung der Transport- und Kommunikationskosten hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Aber immer wieder hat es auch protektionistische Gegenbewegungen gegeben. So ist der Welthandel trotz aller Liberalisierung weit davon entfernt, sich genauso schrankenlos zu entwickeln wie die Finanzmärkte. Wohl hat der Welthandel zwischen 1983 und 1995 im Schnitt jährliche Steigerungsraten von rund sieben Prozent erlebt. Das eigentlich Neue der Globalisierung liegt jedoch weniger im quantitativen Wachstum des weltweiten Güteraustauschs als vielmehr in der Ausbildung transnationaler Unternehmensstrukturen und der Zunahme ausländischer Direktinvestitionen in allen möglichen Regionen der Weltwirtschaft. Insgesamt hat sich der Anteil des Welthandels an der Weltwirtschaftsleistung in den letzten hundert Jahren etwas mehr als verdoppelt. Um die Jahrhundertwende lag dieser Anteil bei etwa sieben Prozent. Bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 stieg er bis auf neun Prozent an, um dann in der Großen Depression der dreißiger Jahre dramatisch abzusinken. Erst 1965 konnten die Zahlen des Jahres 1929 wieder erreicht werden. Bis 1980 war dann der Exportanteil an der Weltwirtschaft auf 11,5 Prozent angestiegen. Danach wuchs dieser Anteil stetig weiter an. 1995 lag er bei 15 Prozent. In Deutschland, einem stark exportorientierten Land, liegt der Anteil des Außenhandels inzwischen bei gut 24 Prozent. In den USA und Japan erreicht er noch nicht einmal zehn Prozent. In -5 6 -
einigen Ländern der entwickelten Welt hat sich der Anteil des Warenexports und -imports am jeweiligen nationalen Bruttosozialprodukt in den neunziger Jahren sogar leicht rückläufig entwickelt. Hierin spiegelt sich das Wachstum der Direktinvestitionen ebenso wider wie die rapide Zunahme der internationalen Finanzdienstleistungen. Direktinvestitionen können Warenexporte ersetzen, das exorbitante Wachstum der Finanzmärkte verändert die Relationen zwischen Kapitaleinkommen und Warenexporten. Zugleich hat sich mit dem Aufstieg neuer weltwirtschaftlicher Wachstumszonen besonders in Asien in den letzten Jahren ein bemerkenswerter Wandel vollzogen: Waren es bis dahin vor allem die Industrieländer, die für 'free-trade' eintraten, so vertreten diese jetzt stärker Positionen eines 'fair trade'. Zum Vorreiter eines freien Welthandels haben sich dagegen die Schwellenländer gemacht, die mit ihren kostengünstig hergestellten Produkten auf die Massenmärkte der OECDVolkswirtschaften drängen. Im Gegensatz zu den Finanzmärkten stößt die Globalisierung des Verkehrs von Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften auf natürliche Grenzen. Es liegt auf der Hand, daß der mit Hilfe von Bits in Sekundenbruchteilen abzuwickelnde Devisentransfer nicht dem realwirtschaftlichen Güteraustausch vergleichbar ist. Dazu kommt, daß sich Kaufverhalten und Nachfragestrukturen bei Gütern und Dienstleistungen sehr viel stärker landestypisch unterscheiden. Auch die Mobilität der Arbeitskräfte ist zwar deutlich gewachsen, trifft aber auf kulturelle, sprachliche und politische Schranken. Gleichwohl kann die Globalisierung der Kapitalmärkte trotz ihres 'virtuellen Charakters' als Motor einer Entwicklung betrachtet werden, die auch zu einem stärkeren Zusammenwachsen von realwirtschaftlichen Märkten und entsprechenden Unternehmensstrategien führen wird. Dabei spielen transnationale Konzerne, die sich in ihren Aktionen von jeder Kontrolle durch nationale Politiken weitgehend befreit haben, eine zentrale Rolle.
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Wir haben es in den strategischen Schlüsselpositionen inzwischen mit Unternehmen zu tun, die Teil eines globalen Netzwerks finanzieller und industrieller Konzerne sind und weltweite strategische Allianzen im Kampf um Absatzmärkte und kostengünstige Produktion eingehen ('global players'). So sind oft zugleich auch Akteure auf den Finanzmärkten. Die 200 größten dieser Unternehmen bestreiten mehr als ein Viertel des globalen Handels (Jenner, 1998). So hängt der Wohlstand einzelner Länder immer stärker von Unternehmen ab, die als Teil solcher globalen Netzwerke agieren. Diese Unternehmen haben ihren Charakter als deutsche, amerikanische oder japanische Unternehmen weitgehend eingebüßt, weil das Kapital der Firmennetzwerke zunehmend von einer Vielzahl von Anteileignern aus verschiedenen Ländern gehalten wird, und es immer schwieriger ist, eine spezifische 'Territorialität' dieser Organisationen zu erkennen. 'Wir erleben eine Transformation, aus der im neuen Jahrhundert neue Formen von Politik und Wirtschaft hervorgehen. Es wird dann keine nationalen Produkte und Technologien, keine nationalen Wirtschaftsunternehmen, keine nationalen Industrien mehr geben' (Reich, 1994, S.9). In den vernetzten Systemen interdependenter Vo lkswirtschaften ist nicht mehr der 'Standort Deutschland' ausschlaggebend für Unternehmensentscheidungen, sondern 'Made by DaimlerBenz', 'Made by Sony', by Microsoft oder Elf Aquitane unabhängig davon, wo auf der Welt die jeweiligen Produkte gefertigt werden. Die Strategien transnationaler Akteure spielen eine wachsende Rolle für die Bewegungsgesetze und Ergebnisse des realwirtschaftlichen Austauschs. 'Die Multinationalisierung der Wirtschaft folgt der Logik der Marktexpansion, die bewirkt, daß die Optimierung von Produktfaktoren nicht mehr in nationalem Rahmen erfolgt, sondern zunehmend von den Mechanismen und Prozessen bestimmt wird, die eine Multiterritorialisierung (Multinationalisierung) von Produktionsaktivitäten erforderlich macht' (Henderson/Castels, 1987, zit. nach Gruppe von Lissabon, 1997, S.46). Für die Beschleunigung der internationalen Arbeitsteilung spielt auch die konzerninterne -5 8 -
Arbeitsteilung transnationaler Unternehmen eine wichtige Rolle. Greider spricht davon, daß mittlerweile mehr als vierzig Prozent aller US-Exporte und fast fünfzig Prozent der Importe Waren beträfen, die nicht über einen offenen Markt ge- oder verkauft würden, sondern über die innerbetrieblichen Absatzkanäle transnationaler Unternehmen (Greider, 1997). Dadurch sind auch Probleme der Wettbewerbsfreiheit aufgeworfen. Hier zeigt sich die Notwendigkeit eines internationalen Kartellrechts. 'In einem Sinne ist die Globalisierung - die zunehmende wechselseitige Abhängigkeit und Integration der verschiedenen Ökonomien rund um den Globus - ein Prozeß, der schon seit dem späten 15. Jahrhundert und den Anfängen des Kapitalismus als Weltwirtschaft zu verzeichnen ist. Doch im Laufe der Jahre gab es immer wieder Phasen der Ebbe und Flut in diesem Globalisierungsprozeß. Im 19. Jahrhundert etwa zwischen 1815 und 1914 - nahm die Globalisierung rasch zu ... Doch in den etwas mehr als fünfzig Jahren, die auf den ersten Weltkrieg folgten, etwa von 1920 bis 1975, wurde der Globalisierungsprozeß abgebremst ... Die Vorstellung setzte sich durch, es könne relativ autonome Nationalökonomien geben, die von ihren Regierungen kontrollierbar sind, durch zentrale Planung oder durch keynesianisches Nachfragemanagement ... Das wirklich neue Phänomen ist die Rückkehr zu einem schnelleren Globalisierungsprozeß im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts' (Desai, 1998, S.331/332). Tatsächlich hat es grenzüberschreitenden Handel schon seit Jahrtausenden gegeben - mit und ohne Einsatz von Zwang. Fernand Braudel hat in seiner 'Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts' (München 1990) den Begriff der 'economiemonde' als Kennzeichnung für die von den Europäern angeführte Expansion mit dem Ziel der Unterwerfung anderer Gemeinschaften und deren Integration in ein globales Handelsnetz verwendet. In der Zeit des Merkantilismus dienten Wirtschaft und Handel in erster Linie der Mehrung des Reichtums der Herrschenden, der Vergrößerung der Edelmetallvorräte, der Akkumulation von Vermögen. In den 'Techniken zur Stimulierung der französischen Wirtschaft' fand -5 9 -
der Finanzminister Ludwigs XIV., Jean-Baptiste Colbert, einen neuen Ansatz zur Wirtschaftsförderung, der dann zum Vorbild für nehezu alle Staaten wurde. Colbert finanzierte den Bau von Straßen und Kanälen, gewährte wichtigen Fabrikanten (z.B. Herstellern von Seidenstoffen, Wandteppichen, Glas- und Wollwaren) Subventionen und Steuererleichterungen. Schließlich gründete er eine Handelsgesellschaft, die französische Produkte in alle Welt bringen sollte: die französische Ostindien-Kompanie. Er traf Maßnahmen zur Qualitätssicherung, um den Verkauf von französischen Weinen im Ausland zu fördern. Der gleichen merkantilistischen Logik dienten dann auch die Kolonien anderer Großmächte. Sie sollten billiges Rohmaterial liefern und dann im Mutterland die Erzeugnisse kaufen, auf keinen Fall aber selbst Fertigprodukte herstellen oder gar von Drittländern erwerben. Triebkraft des Handels blieb das Interesse des absoluten Monarchen. 'In der Terminologie der Globalisierung bestand die dramatische Erfahrung des frühneuzeitlichen Europa darin, daß deren Nutzen dem politischen System zufiel, also dem absoluten Monarchen, während ihre Kosten von den städtischen Handelsund Produktionszentren getragen wurden' (James, 1997, S.21). Mit dem Übergang vom Absolutismus zu demokratischen Ideenwelten veränderte sich das vorrangige Ziel von Handel und Außenwirtschaft. Statt um Machtsteigerung für den Potentaten ging es nun um die Hebung des Wohlstands eines Landes. David Ricardo gab dem Ganzen das geistige Fundament. Mit seinem Gesetz vom 'komparativen Kostenvorteil' schien erwiesen, daß vom grenzüberschreitenden Handel letztlich alle profitierten; die Lieferanten von Rohstoffen ebenso wie die Produzenten von Industriegütern und Fertigprodukten. Handelsherren und Bankiers wollten freien Handel treiben, ihren Besitz sichern und vermehren und den Privilegien der Aristokratie ein Ende setzen. So entstand der Wirtschaftsnationalismus des 18. und 19. Jahrhunderts - mit ihm freilich auch große Auseinandersetzungen über Schutzzölle
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und Subventionen für die einheimischen Unternehmen (vgl. Reich, a.a.O.). Massenproduktion und sinkende Preise gaben dann der Handelspolitik am Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Dimension. Der Kampf um Absatzmärkte war eine der Folgen. Zugleich aber unternahmen viele Staaten den Versuch, sich mit Zöllen und Einfuhrbeschränkungen gegen unerwünschte Importe abzuschotten. Das förderte den Nationalismus weiter. Es galt als ausgemacht, daß der wirtschaftliche Erfolg eines Landes letztlich nur auf Kosten eines anderen möglich sei. Der britische Historiker Hobson warnte in seinem 1902 erschienenen Buch 'Imperialism', das dann zum Vorbild wurde für Lenins berühmt gewordene Schrift über den 'Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus', daß der Kampf um Absatzmärkte in den Krieg führen müsse. Hobson zog dreißig Jahre vor Keynes daraus den Schluß, daß es in den entwickelten Ländern vorrangig darum gehen müsse, die Binnennachfrage zu erhöhen, damit die Menschen die im Lande hergestellten Waren selber kaufen könnten. Industrielle Produktion und Welthandel wuchsen im späten 19. Jahrhundert etwa in gleichem Umfang von jährlich etwa 3,4 Prozent (vgl. James, 1997, S.16). So war die Welt bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts ökonomisch weit zusammengewachsen; die finanzielle Integration der europäischen Märkte lag auf einem hohen Niveau. Andererseits blieb diese Integration von Hegemoniestreben und dem Kampf um Absatzmärkte bedroht. Die Bedeutung des Handels im späten 19. Jahrhundert und die Verbreitung der Auffassung, daß der Selbstausschluß vom internationalen Wirtschaftsverkehr ökonomische Rückständigkeit und politischen Machtverlust mit sich bringen würde, führten zur Bereitschaft der entwickelten Länder, ein gemeinsames Finanzsystem in Gestalt des Goldstandards zu akzeptieren. Dabei fungierte die Bank von England als eine Art Zentralbank. Nachdem Großbritannien sich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf den Goldstandard festgelegt hatte, folgten dem zwischen 1870 und 1900 auch die anderen Mächte. Dabei arbeiteten die wichtigen Zentralbanken in den -6 1 -
Finanzkrisen dieser Zeit eng zusammen. So entstand damals bereits die Vorstellung, globale Finanzbeziehungen seien sowohl Anreiz wie Modell für internationale Zusammenarbeit und für die Bewahrung des Friedens (vgl. James, a.a.O., S.29). Der Weltkrieg sorgte für den Zusammenbruch dieses ersten Versuchs zum Aufbau eines internationalen Finanzsystems. In der Folge kam es zu einer grundlegenden Veränderung im Verhältnis zwischen Europa und der übrigen Welt. Die USA, deren industrielle Produktion einen gewaltigen Schub erfuhr, verwandelten sich aus einem früheren Schuldner- in ein Gläubigerland. Europa dagegen war dramatisch geschwächt. Allein die Zerstörung großer Teile der europäischen Handelsflotte führte zu einem erheblichen Rückgang der Einnahmen aus überseeischen Gebieten. Zugleich hatte der Krieg überall in Europa einen starken Anstieg der Staatstätigkeit und damit wachsende Ansprüche an staatliche Wirtschaftslenkung hervorgebracht. Die Kriegführung war überall durch Staatsanleihen finanziert worden. Jede Seite hatte darauf gesetzt, als Sieger die Kosten den Besiegten aufbürden zu können. In der Folge kam es in vielen Ländern zu Problemen bei der Regulierung der Zahlungsbilanz, schließlich zu inflationären Entwicklungen, die in Deutschland in eine Hyperinflation einmündeten. Verschiedene Anläufe zum Neuaufbau eines stabilen internationalen Wirtschafts- und Finanzsystems scheiterten. Nach einer kurzen wirtschaftlichen Erholungsphase brach mit dem Börsenkrach an der Wall Street im September 1929 schließlich jede Stabilität zusammen. Die Industrieproduktion schrumpfte. Die Arbeitslosenzahlen schnellten nach oben und die Binnennachfrage ging dramatisch zurück. Im Herbst 1931 löste Großbritanien seine Währung vom Goldstandard. Das System hatte sich als unfähig erwiesen, die globale Wirtschaft zu stabilisieren. 'Der 21. September 1931 bezeichnete das Ende des Nachkriegsversuchs, ein neues internationales Finanzsystem aufzubauen. Wer daran beteiligt oder ein naher Beobachter gewesen war, behielt ein lebenslanges Trauma' (James 1997, S.38). In der Folge lösten sich auch die Vereinigten Staaten und Frankreich vom -6 2 -
Goldstandard; in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Ländern wurde durch Handels- und Devisenkontrollen der freien Währungskonvertibilität ein Ende gesetzt. Überall erscholl jetzt der Ruf nach Zöllen zum Schutz inländischer Produkte. Und er wurde erhört. Nach dem Smoot-HawleyGesetz in den USA blieb den europäischen Handelspartnern der Vereinigten Staaten praktisch kein Produkt, das sie auf dem amerikanischen Markt zu konkurrenzfähigen Preisen anbieten konnten. Auch andere Länder reagierten mit der Erhöhung ihrer Zölle. Der internationale Handel ging stark zurück. Bis 1933 war er auf auf ein Drittel des Volumens von 1929 geschrumpft. Gleichzeitig schrumpfte das Sozialprodukt und stieg die Zahl der Arbeitslosen. 'Vielen war 1936 klar, daß es einen engen Zusammenhang gab zwischen dem Zusammenbruch wirtschaftlicher Kooperation und dem Aufstieg von Diktaturen, radikalem Nationalismus und politischem Expansionismus ... Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, zogen viele Beobachter ... eine eindeutige Lehre: Wirtschaftskrisen verursachen politische Instabilität, und das Scheitern internationaler Zusammenarbeit führt zur Gefährdung des Friedens. Mithin ist es Sache der Ökonomen und Staatsmänner, in Zukunft nicht nur Depressionen zu vermeiden, sondern auch Mittel und Wege zur Förderung und Institutionalisierung internationaler wirtschaftlicher Kooperation zu finden; an ihnen sei es, zu verhindern, daß ein kurzer euphorischer Glaube an Internationalismus wieder, wie nach dem Ersten Weltkrieg, in eigensinnigen und destruktiven Nationalismus umschlägt ...'(James 1997, S. 41). Vor dem Hintergrund dieser Geschichte müssen die Versuche zur Wiederherstellung eines internationalen Handels- und Finanzsystem gesehen werden, die nach 1945 unternommen wurden. Neben Bretton Woods hat dabei vor allem das GATT (General Agreement on Tariffs and Trade), das 1948 in Kraft trat, große Bedeutung erlangt. Aus den ursprünglich 23 Unterzeichnerstaaten sind bis heute über hundert geworden. Dabei war das GATT zunächst nur als Übergangslösung für eine 'Internationale Handelsorganisation' vorgesehen gewesen, -6 3 -
die jedoch im Jahre 1950 an der Ablehnung durch den USKongreß scheiterte. Mit dem GATT war ein Kurs vorsichtiger wirtschaftlicher Liberalisierung verbunden. Im Zuge dieser Entwicklung kam es bald wieder zu einer mengenmäßigen Ausdehnung des Welthandels. Mit dem Wegfall von Importverboten, mengenmäßigen Importbeschränkungen und Außenhandelszöllen werden mehr Güter nachgefragt und gehandelt, die im eigenen Land gar nicht oder nur beschränkt vorhanden sind. Das durchschnittliche Niveau der Zollsätze ist vom Beginn des GATT bis heute von fünfzehn Prozent auf etwa fünf Prozent gefallen. In der sogenannten 'Uruguay-Runde' konnten Fortschritte im Agrar- und Textilsektor wie beim Patentund Lizenzschutz erzielt werden. Außerdem wurde der weitere Abbau von Zöllen vereinbart: vierzig Prozent der Importe werden künftig zollfrei bleiben. Über die Einhaltung der handelspolitischen Regeln soll die WTO (World Trade Organisation) in Genf wachen. Der GATT-Vertrag läßt Freihandelszonen und die Schaffung von Zollverbünden zu. Für solche Länderzusammenschlüsse wird die sogenannte 'Meistbegünstigungsklausel' ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Solche regionalen Freihandelsabkommen haben eine wachsende Bedeutung. Das gilt für den europäischen Binnenmarkt, der inzwischen fünfzehn Volkswirtschaften umfaßt und mit der Währungsunion vor einer Vertiefung und mit der Aufnahme mittel- und osteuropäischer Staaten vor einer neuerlichen Erweiterung steht. Ähnliches gilt für die NAFTA, die den US-Binnenmarkt mit den Volkswirtschaften von Mexiko und Kanada verbindet, für den Mercosur, dem Zusammenschluß der lateinamerikanischen Staaten, sowie für ASEAN und APEC im asiatisch-pazifischen Raum. Auf dem Wege zum 'interregionalen Freihandel' (Lafontaine/Müller, 1998) ist die Europäische Union bislang weiter fortgeschritten als die Zusammenschlüsse in anderen Weltregionen. Während das Ziel der europäischen Einigung, die 'Vereinigten Staaten von Europa', fest in der europäischen Kultur und Geschichte verwurzelt ist, beschränkt sich die Zielsetzung der Zusammenschlüsse in anderen Weltgegenden -6 4 -
bislang vor allem auf die Errichtung von Freihandelszonen. Folgerichtig ist auch die regionale Verflechtung im europäischen Raum bislang am stärksten vorangeschritten. Während die EU-Länder über siebzig Prozent ihres Handels untereinander abwickeln, ist der intraregionale Anteil des USHandels (auf dem amerikanischen Kontinent) und Japans (in Asien) am jeweiligen Gesamthandelsvolumen dieser Länder nur rund halb so groß. Sie sind also sehr viel stärker als die Europäer auf weltweite Handelsbeziehungen angewiesen (vgl. Hirst/Thompson, 1996, S.110). Das im Vergleich zu den Finanzmärkten relativ bescheidene Wachstum des Welthandels wird begleitet von einem sprunghaften Wachstum der Direktinvestitionen. So haben sich die Direktinvestitionen der reichsten Industrieländer im Ausland zwischen 1970 und 1990 etwa versechsfacht. Die deutschen Direktinvestitionen erreichten 1990 sogar das Achtfache des Standes von 1970 (vgl. Menzel, 1998, Tab. S.117). Es liegt auf der Hand, daß das Wachstum von Direktinvestitionen Warenexporte zum Teil ersetzen kann, indem nunmehr die Güter unmittelbar in der Nähe der Absatzmärkte hergestellt werden. Solche Investitionen werden zunehmend auch im Dienstleistungssektor getätigt. Allerdings hat durch das sprunghafte Wachstum der 'Portfolio-Investitionen' im Laufe der neunziger Jahre die Bedeutung der Direktinvestitionen wieder abgenommen. Die Internationalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, gefaßt als Austausch von Rohstoffen, Industrieprodukten, Kapital, Dienstleistungen, Menschen und Ideen, hat insgesamt gewaltig zugenommen. Zugenommen hat damit zugleich die Einflußnahme verschiedener ökonomischer Akteure auf die wirtschaftliche Entwicklung in ganz anderen nationalen Kontexten. Umgekehrt sind sie selbst stärker Einflüssen anderer Akteure aus anderen Weltgegenden ausgesetzt. Dabei spielen die Strategien der Unternehmen eine zentrale Rolle, von Unternehmen, die in ihren weltweiten Operationen durch nationale Regierungen unterstützt werden und die zugleich im Prozeß dieser gegenseitigen Durchdringung von -6 5 -
Volkswirtschaften ihren eigenen Charakter verändern, ihre innere Struktur diversifizieren und zum globalen Akteur werden. Diese Veränderungen haben sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten in wachsender Geschwindigkeit abgespielt. Während im gesamten Finanzwesen die Internationalisierung inzwischen tatsächlich eine Globalisierung geworden ist und der Begriff auch für die Veränderungen in Unternehmensstrukturen und Unternehmensstrategien durchaus angemessen scheint, läßt sich für den Warenhandel eher von einem Trend zur regionalen Konzentration von Austauschbeziehungen sprechen. 'Der Handel ist eher interregional als international', schreiben Oskar Lafontaine und Christa Müller (Lafontaine/Müller, a.a.O., S.26). Und Ulrich Menzel prognostziert, daß im Bereich des Welthandels der Zerfall in zwei oder drei Großregionen die Zukunft bestimmen werde. Diese Regionalisierungstendenz werde freilich konterkariert durch die Globalisierung durch wachsende Direktinvestitionen und die globalisierten und 'virtualisierten' Finanzmärkte (Menzel 1998, S.123/124). 'Der Trend zur Internationalisierung muß also dahingehend präzisiert werden, daß die Internationalisierung der Volkswirtschaften seit Mitte der achtziger Jahre nicht mehr durch eine wachsende relative Bedeutung des Außenhandels, sondern durch eine relative Zunahme von Direktinvestitionen und anderen Kapitalexporten (Portfolioinvestitionen und kurzfristige, vor allem spekulative Kapitaltransfers) zustande kommt. Es geht also nicht mehr so sehr um die Internationalisierung der Warenwirtschaft, sondern um die Internationalisierung des tertiären Sektors, und hier insbesondere des Finanzwesens in allen seinen Dimensionen' (Menzel, a.a.O., S.118). Es muß hier also sehr genau unterschieden werden: Das Agieren der 'global players', die weltweit nach den günstigsten Kostenbedingungen Ausschau halten, führt zu wachsendem Wettbewerbsdruck und bedroht zumeist einfache Arbeitsplätze in den entwickelten Ländern. Die Auswirkungen dieser Entwicklung werden jedoch meist eher überschätzt. Die eigentliche Verschärfung des wirtschaftlichen -6 6 -
Wettbewerbsdrucks findet in der gewachsenen Konkurrenz innerhalb der Triade Nordamerika-Europa-Japan statt. Eine besondere Rolle spielt der Aufstieg neuer weltwirtschaftlicher Wachstumszonen. Insbesondere die asiatischen Schwellenländer sind seit den achtziger Jahren in wachsendem Maße als Mitbewerber und Konkurrenten auf den internationalen Märkten aufgetreten und haben Wachstumsraten in Rekordhöhe erzielen können. Insgesamt aber sind die quantitativen Dimensionen der Konkurrenz der Schwellenländer sowie Osteuropas in der deutschen Handelsbilanz bisher bescheiden geblieben. 1994 kamen 78 Prozent aller deutschen Einfuhren aus den hochindustrialisierten Ländern der Triade Europa-NordamerikaJapan und gingen umgekehrt 79 Prozent der Ausfuhren in diese Länder. Dabei spielten sich mehr als sechzig Prozent des gesamten Handelsverkehrs in den Ländern des europäischen Binnenmarkts (einschließlich Norwegen und der Schweiz) ab. Demgegenüber haben die ostasiatischen Schwellenländer nur einen Anteil von etwa fünf, die mittel- und osteuropäischen Länder einen Anteil von gut acht Prozent am deutschen Außenhandel (vgl. Jahresgutachten 1997, Tab.19). Auch der Großteil des Kapitals wandert bislang keineswegs in die Billiglohnländer. Etwa siebzig Prozent der weltweiten Direktinvestitionen konzentrieren sich auf Westeuropa, die USA und Japan. Und die deutschen Direktinvestitionen werden vor allem innerhalb Europas getätigt. Deutsche Direktinvestitionen in Mittel- und Osteuropa machen nach der Grenzöffnung gerade einmal zwei Prozent der gesamten deutschen Auslandsinvestitionen aus. Auch die deutschen Direktinvestionen in Asien sind, gemessen am Gesamtvolumen der Auslandsinvestitionen, bislang eher bescheiden ausgefallen. Der weitaus größte Teil deutscher Auslandsinvestitionen wird innerhalb Europas getätigt und geht nach Frankreich, Großbritannien, Italien und neuerdings Irland. Bislang also bedeutet Zusammenwachsen der Märkte in erster Linie die gegenseitige Durchdringung der Volkswirtschaften der USA, Japans und Westeuropas. Die ärmeren Länder werden -6 7 -
dabei inzwischen vollkommen von den Kapitalströmen abgekoppelt. Sie ziehen außer öffentlichen Spenden und multilateralen Hilfsprogrammen gar kein Kapital mehr an, werden gewissermaßen aus der Weltwirtschaft verdrängt. Die Folgen, die das für ganze Weltregionen hat, werden bei Kaplan sehr anschaulich geschildert (vgl. Kaplan, 1996). Soweit der Wegfall von Handelshemmnissen zur Verschärfung von Standortkonkurrenz und zum Verlust von Arbeitsplätzen hierzulande führt, ist dies deshalb bisher ganz überwiegend ein Problem des unterschiedlichen Kostenniveaus innerhalb der alten Industrieländer. Das gilt besonders für die Europäische Union, wo mit der Vollendung des Binnenmarktes auch die Mehrzahl von nichttarifären Handelshemmnissen weggefallen ist. Hier vor allem hat sich durch die Liberalisierung von Handel und den Wegfall von Investitionshemmnissen die Standortkonkurrenz von realwirtschaftlichen Anlagen deutlich verschärft. Das zwingt Regierungen dazu, ihre eigene Ausgaben- und Einnahmenpolitik an die Wünsche und Bedürfnisse potentieller Investoren anzupassen. Das aber schafft jene Probleme der Steuerkonkurrenz, die in Europa dringend einer Lösung bedürfen. Weil durch die rechtlich abgesicherte Niederlassungsfreiheit in der Europäischen Union inzwischen jedes Unternehmen in seinen Standortentscheidungen unabhängig geworden ist, findet die härteste Standortkonkurrenz unter den Ländern der Europäischen Union statt. Wir haben in den zurückliegenden Jahren bereits erlebt, wohin das führen kann: NordrheinWestfalen mußte wegen der niederländischen Konkurrenz Genehmigungsverfahren erleichtern, Frankreich Arbeitgeberbeiträge senken, Schweden Karenztage einführen. In Deutschland wurde die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall eingeschränkt. Überall in Europa wurden Unternehmenssteuern gesenkt. Ein besonderes Problem für die Entwicklung in Deutschland liegt da, wo sich zeigen läßt, daß Deutschland als Zielland für ausländische Direktinvestitionen in den vergangenen zehn Jahren deutlich an Attraktivität verloren hat. Während im Zeitraum zwischen 1985 und 1995 477 Milliarden -6 8 -
Dollar ausländische Direktinvestitionen in die USA geflossen sind, immerhin 202 Milliarden nach Großbritannien und knapp hundert Milliarden nach Frankreich, rangiert Deutschland in dieser Tabelle mit knapp 28 Milliarden noch hinter Schweden und Italien. Als Herkunftsland ausländischer Direktinvestitionen lag Deutschland in dieser Zeit zwar an fünfter, als Zielland jedoch nur an 13. Stelle (vgl. OECD, Roland Berger). Nun mag dieser Rückstand im einzelnen viele Ursachen haben. Es dürfte jedoch kaum daran zu zweifeln sein, daß sich solche Rückstände ungünstig auf Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsplatzstruktur auswirken und sie zugleich etwas aussagen über die Einschätzung von Standortbedingungen durch ausländische Investoren. Die Realität des verschärften Wettbewerbs innerhalb der Triade darf allerdings nicht dazu führen, den zukünftigen weiteren Aufholprozeß der Schwellenländer zu unterschätzen. Auch die aktuelle Krise in Asien sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß in dieser Region inzwischen auch hochwertige Industriegüter und moderne Informationsdienstleistungen zu Stückkosten gefertigt werden können, die um ein Vielfaches unter den Kosten in unseren Breiten liegen. Wohl ist die deutsche Handelsbilanz mit den aufstrebenden Wachstumsregionen bis heute insgesamt positiv. Wenig produktive Arbeitsplätze bei uns fallen der Kostenkonkurrenz mit Niedriglohnländern zum Opfer. Umgekehrt führt das wirtschaftliche Wachstum in den asiatischen Schwellenländern wie in Osteuropa zu einer steigenden Nachfrage nach Investitionsgütern, die von den alten Industrieländern bereitgestellt werden. Die Gesamtbilanz ist bis heute leicht positiv. Doch das muß, ja das wird vermutlich nicht immer so bleiben. Branchen mit geringer Produktivität und Arbeitnehmer mit relativ niedriger Qualifikation werden sich künftig noch stärker mit der Kostenkonkurrenz aus Osteuropa und den Schwellenländern konfrontiert sehen. Und die Fähigkeit der Wachstumsregionen zu eigener Forschung und Produktionsentwicklung wird steigen. Das wird auf die Dauer bei uns Arbeitsplatzverluste mit sich bringen. Auf längere Sicht -6 9 -
verfügen diese aufstrebenden Regionen über das gleiche Handwerkszeug wie wir auch. Deshalb wird sich die alte Dominanz der Triade nicht unverändert halten lassen - trotz Asienkrise. Gewiß werden die in der Weltwirtschaft bislang Zurückgebliebenen im Zuge der weiteren Liberalisierung des Welthandels ihre Kostenvorteile einsetzen, um auf den Märkten des Westens weitere Absatzchancen zu erkämpfen. Wie sich schon in den zurückliegenden Jahren gezeigt hat, werden sie in den Verhandlungen über die Wettbewerbsregeln der Weltwirtschaft gegen den 'fair trade' antreten, mit dem hochentwickelte Länder die Vereinbarung verbindlicher Sozialund Umweltstandards durchzusetzen versuchen. Auch deshalb ist bei aller Bedeutung des intraregionalen Handels die Perspektive eines 'schleichenden Funktionsverlust(s) globaler Regime wie der WTO' (Menzel, a.a.O., S.124) weder wünschenswert noch wahrscheinlich. Anzustreben ist sie auf gar keinen Fall, im Gegenteil. Denn die Probleme des Sozialund Umweltdumpings zwingen zur Schaffung von Regeln, mit denen ein Wegkonkurrieren von Standards, die für die soziale und ökologische Entwicklung von Gesellschaften unverzichtbar sind, verhindert werden kann. Daß es in den früheren GATTRunden nicht gelungen ist, auch solche Fragen einzubeziehen, stellt ein politisches Versäumnis dar, das korrigiert werden muß. Daran sollten freilich umgekehrt auch nicht zu hohe Erwartungen geknüpft werden: Bei aller Notwendigkeit verbindlicher Vereinbarungen etwa gegen Kinderarbeit wäre es eine schlichte Illusion zu glauben, daß aufstrebende Regionen auf sämtliche Kostenvorteile verzichten werden. Und für eine protektionistische Abschottung von Märkten müßten wir Europäer mit unseren hohen Exportanteilen teuer bezahlen. Neue Kommunikationsnetzwerke, das rapide Wachstum weltweiter Direktinvestitionen, globalisierte und ungesteuerte Finanzmärkte als Motor eines entgrenzten Wettbewerbs, veränderte Unternehmensorganisation mit weitweiter Integration von Geschäftsabläufen und globaler Suche nach strategischen Unternehmensallianzen, wachsende Güter- und -7 0 -
Dienstleistungsströme mit gesteigerter Umschlaggeschwindigkeit, eine gemeinsame internationale Wettbewerbsarena, die neue strategische Bedeutung des globalen Raums bei zugleich wachsender Integration regionalwirtschaftlicher Räume - dies alles ist zugleich Ausdruck grundlegender Veränderungen in der Realökonomie. In der Summe haben wir es mit Veränderungen zu tun, die eine neue Interdependenz von globalen und regionalen Wirtschaftsräumen schaffen. Gewiß eröffnet freier Welthandel auch neue Chancen zur Wohlstandsmehrung. Beide Entwicklungen aber, Globalität wie Intraregionalität, haben Rückwirkungen auf den Handlungsraum der Politik. Sie setzen Kräfte frei, die die Steuerungsalternativen nationalstaatlich formierter und legitimierter Politik stark einschränken und die die Bedingungen für einen Ausgleich zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und dem sozialen Zusammenhalt von Gesellschaften grundlegend verändern. Sie erzwingen verbesserte internationale Reglements, wenn die Risiken dieser Entwicklung beherrschbar sein sollen. Sie machen aber zugleich auch nationale Anpassungen unumgänglich. Ob es uns nun paßt oder nicht: Wer sich darauf nicht einstellt, dem wird auch die Hoffnung auf internationale Reglements nicht entscheidend weiterhelfen.
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2.Globalisierung und Informationsgesellschaft An der Schwelle des 21.Jahrhunderts vollzieht sich heute in raschem Tempo der Wandel von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft. In dieser Gesellschaft spielt der sogenannte 'tertiäre Sektor' der Dienstleistungen gegenüber dem klassischen industriellen Sektor eine immer größere Rolle. Nur eine Minderheit von Erwerbstätigen stellt tatsächlich noch etwas her. Und diese Minderheit nimmt weiter ab. Die meisten Erwerbstätigen sind - in der einen oder anderen Form - mit dem Erbringen von Dienstleistungen befaßt. Bei diesen strukturellen Umbrüchen nehmen die neuen Informationsund Kommunikationstechnologien eine Schlüsselrolle ein. Immer mehr Menschen verdienen ihr Geld im Umgang mit Informationen und Wissen. Sie schaffen Informationen, sie suchen, verarbeiten, verwalten und verkaufen sie. Durch diese Veränderungen wandelt sich der Charakter von Arbeit. Sie werden der internationalen Arbeitsteilung eine neue Form geben, sie werden alte Typen von Arbeit verdrängen und neue schaffen. Das Bürgertum war der Träger der französischen Revolution im 18. Jahrhundert. Die revolutionären Veränderungen Ende des 19. und Anfang des 20.Jahrhunderts gingen von der Arbeiterbewegung aus. Man könnte sagen, daß die Revolution des 21. Jahrhunderts durch globale technologische Veränderungen ausgelöst wird. Wie Daniel Bell schon vor Jahrzehnten vorausgesehen hatte, werden sich dadurch auch die sozialen Strukturen entwickelter Gesellschaften grundlegend verschieben (Bell, 1973, vgl. auch Toffler, 1995). Im Zentrum dieser Revolution steht der Siliciumchip. Mit ihm konnte die Automation in den industriellen Branchen entscheidend vorangetrieben werden. Es entstanden 'saubere' und menschenleere Fabrikhallen, in denen nun Industrieroboter anstelle der Menschen ihren programmierten Dienst versehen. Zugleich verändert sich der Charakter der modernen Ökonomie: Mit der 'Ideenökonomie' (Heuser, 1996, S.15) -7 2 -
werden anscheinend unverrückbare volkswirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt. Es entstehen Produkte, für deren Wert 'Software' gegenüber der 'Hardware' eine immer größere Rolle spielt. Damit aber wird das klassische Verständnis der Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Rohstoffe gesprengt. Der kalifornische Wirtschaftstheoretiker Paul Romer hat davon gesprochen, daß die klassische Dreiteilung in Arbeit, Rohstoffe und Kapital im Computerzeitalter durch eine neue Trias von 'Hardware, Software und Wetware' (Romer, zit. nach Heuser, 1996, S.19) ersetzt werde. Gewiß hat es schon immer 'Ideenprodukte' gegeben. Auch ist nicht vom Verschwinden der Produktion klassischer Prägung auszugehen. Das grundlegend Neue besteht darin, daß Software in wachsendem Maße über den Wert von Produkten und die Wettbewerbsposition von Unternehmen und Volkswirtschaften entscheidet. Lester Thurow spricht sogar davon, daß in der Zukunft Wissen zur einzigen Quelle komparativer Kostenvorteile werde (Thurow, 1996). Die revolutionäre Rolle der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien besteht also nicht nur darin, daß zukünftig eine größere Anzahl von Menschen mit mehr und neuen Medien umgehen wird. Die digitale Revolution wird die ganze Organisation von Gesellschaften verändern. Der rasche Zugriff und der leichte Austausch von Informationen in einer vernetzten Welt ohne Grenzen müssen Alltag und Arbeitswelt, Bildung, Handel und Austausch, nicht zuletzt auch die Kooperation in und zwischen Unternehmen verändern und neu gestalten. Es findet ein Prozeß der Entstofflichung von Arbeit statt. Arbeit verliert ihre Bindung an Ort und Raum. In der Ideenökonomie bemißt sich der Wert von Produkten immer weniger am Einsatz von Kapital und Arbeit, sondern an einer sich freilich rasch verändernden Position von Anbietern am Markt. Digitalisierung ermöglicht eine neue Mobilität von Dienstleistungen. Durch Computernetzwerke überwindet der Wettbewerb Grenzen, an die sich regionale Anbieter seit Generationen gewöhnt hatten. Man mag über die Ausmaße -7 3 -
streiten, die diese Veränderungen bereits angenommen haben. Daß hier etwas grundlegend Neues stattfindet, das zur Erosion von Grundlagen der Industriegesellschaft führt, kann freilich im Kern gar nicht geleugnet werden. Die digitale Revolution bringt einen neuen Typus des Arbeitnehmers hervor. Im industriellen Zeitalter hat der Arbeiter als industrieller Massenarbeiter immer dieselben monotonen Tätigkeiten erledigt. Im Ausführen begrenzter Funktionen besaß er seine Vorzüge für das Unternehmen. Im Informationszeitalter entsteht ein anderer Typus. Es entsteht der individualisierte Wissensarbeiter. Ein Wissensarbeiter, dessen Fähigkeiten und Bereitschaft zu fragen und zu hinterfragen nun gefordert sein werden. Von ihm wird allerdings auch eine neue Flexibilität gefordert. Eine Flexibilität, die zu tiefgreifenden kulturellen Veränderungen führt, den Arbeitsbegriff verändert und neue Probleme für die Persönlichkeitsbildung des modernen Menschen schafft (vgl. Sennett, 1998). Wo im Industriezeitalter das Kollektiv der Massenarbeiter in fester Bindung an Zeit, Raum und spezifische, kollektiv ausgehandelte Arbeitsreglements agierte, kommt es nun zu einer Ausdifferenzierung unterschiedlichster Beschäftigungsverhältnisse. Heuser spricht von den 'tausend Arbeitswelten der Informationsgesellschaft' (Heuser, a.a.O, S.49). Das erschüttert die Kraft der großen Kollektivakteure und muß die Position der Gewerkschaften schwächen. Es verwandelt freilich auch die Organisationsform von Unternehmen: 'Kleinheit, Spezialisierung und Differenzierung ersetzen das Massenparadigma auf der Ebene des Produkts, der Dienstleistung und der Arbeit' (Heuser, a.a.O., S.44). Seit Anfang der achtziger Jahre hat sich die Entwicklung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) enorm beschleunigt. Immer leistungsfähigere Netze und Geräte und die wachsende Verknüpfung verschiedener Anwendungen eröffnen ganz neue Perspektiven. 1960 gab es weltweit nicht mehr als siebentausend Computer. 1971 wurde der erste Mikrochip vorgestellt. Jetzt konnte mit den Geräten an Schreibtischen gearbeitet werden. 1974 kam der erste -7 4 -
Vorläufer der heutigen Personalcomputer auf den Markt. Gut zwanzig Jahre später werden weltweit mehr Computer als Autos verkauft. 1996 waren es mehr als 65 Millionen Geräte. Bisher zurückliegende Volkswirtschaften überspringen inzwischen ganze industriegeschichtliche Entwicklungsphasen (das Phänomen des 'leapfrogging'). Das läßt sich am Beispiel der Telekommunikation gut illustrieren: Während die OECDVolkswirtschaften im Zuge der historischen Herausbildung der Telekommunikation von Zeichenübermittlungssystemen des französischen Ingenieurs Claude Chappe über die Erfindung des Telefons durch Philipp Reis und Alexander Graham Bell bis zur Verkabelung von Telefonanschlüssen große Entwicklungsund Umsetzungsinvestitionen aufzubringen hatten, können neue Wettbewerber heute mit der neuesten Mobiltelefon- und Internet-Technologie ganze technische Entwicklungsphasen auslassen. Das Telefon wurde erstmals auf der Weltausstellung in Philadelphia 1876 präsentiert. Hundert Jahre später gab es 400 Millionen Telefonhauptanschlüsse. Im Jahre 2000 wird diese Zahl die Milliardengrenze überschritten haben. Das Mobiltelefon kam erst Ende der achtziger Jahre auf den Markt. Im Jahr 2000 wird es veraussichtlich 400 Millionen Exemplare davon geben. Das Internet bedient heute etwa 65 Millionen Menschen mit 16 Millionen Servern. Es wird angenommen, daß es 2000 schon 110 Millionen Server mit 300 Millionen Nutzern geben wird. Der Computer ist längst mehr als ein Recheninstrument oder Forschungsmittel. Es ist ein universales Werkzeug für alle produktiven Tätigkeiten. Die IuK-Technologien haben durch die Digitalisierung von Wissen und Informationen die Kosten für Informationsverarbeitung, -speicherung und -übertragung in den letzten Jahrzehnten drastisch reduziert. Nun ist es möglich, Informationen mit Lichtgeschwindigkeit rund um den Globus zu schicken. Bestehende Grenzen verschwinden, räumliche und zeitliche Schranken spielen keine Rolle mehr. Wissen, das bisher an Menschen, Unternehmen und Standorte gebunden war, wird zum transferierbaren Gut. Diese Entwicklung ist Bestandteil eines schon seit Jahrzehnten anhaltenden -7 5 -
Wachstums des Dienstleistungssektors. Während der Anteil der Beschäftigten im industriellen Sektor in Deutschland von 41 Prozent im Jahre 1970 bis auf 21 Prozent im Jahre 2010 absinken wird, wird heute bereits knapp fünfzig Prozent der Bruttowertschöpfung im Dienstleistungssektor erwirtschaftet, obwohl nicht einmal zehn Prozent der öffentlichen Mittel für Forschung und Entwicklung in diesen Sektor fließen. Dabei ist Deutschland keineswegs Vorreiter, sondern eher Nachzügler des Strukturwandels. Der Anteil des tertiären Sektors an der gesellschaftlichen Wertschöpfung ist bei uns bis heute deutlich hinter dem in anderen entwickelten Gesellschaften des Westens zurückgeblieben. Der Wohlstand dieses Landes gründet bis heute stärker als anderswo auf den klassischen Sektoren des produzierenden Gewerbes. Das verstärkt freilich nur die Notwendigkeiten vorausschauender Strukturanpassungen und einer Förderung des Wandels. An der Schwelle einer informationsbasierten Ökonomie verschieben sich die Gewichte immer weiter. Nach einer Studie der Gartner Group lassen sich die 'costs of ownership' bei Software so aufschlüsseln: 45 Prozent Training und Support, zwanzig Prozent Vertrieb und Installation, zwanzig Prozent Lizenz und fünfzehn Prozent Verwaltung. Technische Innovationen in der Digitaltechnik, der Mikroelektronik und der Telekommunikation beschleunigen und verstärken die Effekte der Globalisierung. Mitarbeiter von Unternehmen können mit Hilfe von Datennetzen von verschiedenen Orten der Welt aus an einem gemeinsamen Projekt arbeiten: die Aufgaben können über die Zeitzonen der Erde rund um die Uhr bearbeitet werden. Ganz neue Typen der Arbeitsteilung entstehen. Die Produktentwicklung kann durch Tele-Engineering simultan, arbeitsteilig und räumlich ungebunden stattfinden. Beim dänischen Unternehmen Oticon, dem drittgrößten Hörgerätehersteller der Welt, hat kein Mitarbeiter mehr einen festen Schreibtisch. Papier ist aus den Büros verbannt. Die Zusammenarbeit läuft über vernetzte Computer. Multimedia sichert die Abstimmung zwischen den 'virtuellen' Teams orts-7 6 -
und zeitunabhängig. Tätigkeiten, die bisher in Großorganisationen zu erledigen waren, lassen sich jetzt auch von kleinen Einheiten bis hin zu Ein-Mann-Unternehmen betreiben: Informationsbroking- und Finanzdienstleistungen, Softwareherstellung und Softwareberatung, Produktionsagenturen, Auskunftsdienste, Versandgeschäfte in Kooperation mit innovativen Einzelhandelsformen, Kommunikations- und Datashops, Franchising in Handel und Freizeitindustrie, dezentrale Gesundheitsbetreuung etwa durch Telemedizin. Gewiß wird es weiterhin Branchen geben, die große Unternehmenseinheiten erfordern. Etwa die Chemie- oder die Automobilindustrie. Aber bei vielen Tätigkeiten wird es in der Zukunft keine Rolle spielen, von welchem Ort aus sie von wem verrichtet werden. Menschen werden in Deutschland oder in Europa arbeiten, die Deutschland und Europa nie sehen werden, weil sie lieber in Malaysia oder Kalifornien leben. Die über Datennetze mögliche elektronische Mobilität des Faktors Arbeit schafft neue Chancen der Beschäftigung. Beispiele dafür gibt es längst: American Airlines beschäftigt heute mehr als tausend Informatiker in Barbados und der Dominikanischen Republik, die New York Life Insurance Company läßt Schadensfälle nicht in New York, sondern in Irland mit On-lineSystemen bearbeiten, Texas Instruments läßt Computersoftware in Indien entwickeln. Die Programmierleistung für Computersoftware ist heute in Indien größer als in Silicon Valley. Wer durch das Fenster ins 21. Jahrhundert schaut, blickt auf die Ökonomie der Informationsgesellschaft. In ihr wird 'Information' zum wichtigsten Produktionsfaktor und zur Ware. In ihr sind die Megastrukturen der Industriegesellschaft mit ihren gigantischen Fabriken, die den gesamten Weltmarkt von einem Zentrum aus mit Gütern und Dienstleistungen versorgen, verschwunden. Jetzt wird zentral gesteuert, aber dezentral, nahe den Absatzmärkten in quasi-transnationalen Unternehmen produziert. Aus weltweit agierenden Konzernen werden Netzwerke. -7 7 -
Robert Reich beschreibt die Soziologie dieser neuen Arbeitsgesellschaft so: 'Die erste Kategorie ist die der Routinearbeiter und Routinedienstleistung. Hierunter fallen Bandarbeiter, aber auch Aufseher, Vorarbeiter, Sektionschefs, Prüfingenieure. Auch das Fußvolk der Informationswirtschaft, die Horden von Informatikern, die in Hinterzimmerbüros am Bildschirm sitzen und die weltweiten Datenverbindungen bedienen: Kreditkartenkäufe, Banknotenbewegungen, Versandhausbestellungen, Automobilanmeldungen. Die zweite Kategorie ist die der persönlichen Dienstleistung. Das sind die Putzfrauen, die Verkäufer, Kellner, Hotelbediensteten, Sekretärinnen, Taxifahrer, Automechaniker, Heilgymnastiker und - besonders schnell wachsend - das Sicherheitspersonal' (Reich, 1996). Die dritte Kategorie nennt Reich die 'symbolic-analytic-services'. In diese Kategorie fallen diejenigen, die dafür bezahlt werden, daß sie Probleme identifizieren, Strategien für den Umgang mit ihnen entwickeln und diese Probleme lösen. Es handelt sich um Leute, die sich selbst Wissenschaftler, Manager, DesignIngenieure, Public-Relations-Manager, Bankdirektoren, Investmentbanker, Rechtsanwälte, Grundstücksmakler, Steuerberater, Wirtschaftsanwälte, Wirtschaftsjournalisten, Softwaredesigner, strategische Planer usw. nennen. Im Gegensatz zu einem Fast-food-Restaurant und den dort Beschäftigten, zum örtlichen Polizisten, Lehrer oder Facharbeiter sind sie nicht länger an eine regionale oder nationale Ökonomie gebunden. Die 'Symbolanalytiker' sind wohlhabende Wanderarbeiter einer grenzenlosen Welt. Sie sind die Profiteure von Globalisierung und Digitalisierung. Robert Reich hat das alte Bild aufgegriffen, das Volkswirtschaften mit einem Boot vergleicht, in dem zwar unterschiedliche Plätze mit unterschiedlichem Komfort zu vergeben sind, in dem aber doch alle das gleiche Schicksal teilten. Das ganze Boot und damit alle Passagiere wurden gleichermaßen von den Wellenbewegungen der Konjunktur erfaßt. Inzwischen aber sei dieses Bild längst überholt: 'Unser Leben wird nicht länger davon bestimmt, in welchen nationalen -7 8 -
Grenzen wir wohnen. É Eine kleine, aber einflußreiche Gruppe sitzt quasi in einem wendigen Schnellboot. Sie ist in ihren Lebenschancen längst unabhängig geworden vom Schicksal jener Amerikaner, die in anderen Booten Platz nehmen mußten' (Reich,1996). Bei dieser kleinen, aber einflußreichen Gruppe handelte es sich um eine Entscheidungselite, die global denkt, zentral steuert, aber dezentral produzieren läßt. Sie agiere in transnationalen Unternehmen und habe ein kosmopolitischmultikulturelles Selbstverständnis vom way of life. Horst Afheldt hat sie die 'Neue Nomenklatura' genannt (Afheldt, 1997). Im Gegensatz zu ihnen werde die Masse der Routinebeschäftigten durch die Globalisierung zu einer Art 'Boat people'. Ihr Schicksal würde nicht von ihrer Herkunft, sondern allein vom jeweiligen Auf und Ab der Wirtschaft bestimmt. Wenn sich gerade in Asien die besten wirtschaftlichen Entwicklungstrends abzeichnen, steige die Zahl der 'Boat people' in Europa - und umgekehrt. Doch da das Kapital wie die neue Nomenklatura flexible Teile der Wertschöpfung sind, könne es nach einiger Zeit auch wieder zu ganz anderen Konstellationen kommen. Tatsächlich stellt sich mit dem Informationszeitalter ganz real das Problem neuer sozialer Spaltungen. Diese Spaltung spielt sich freilich weniger in Form einer Neuauflage festgefügter Klassenspaltungen ab. Das Neuartige wird eher in der Zersplitterung und Auflösung von Klassen und genau definierbarer Typen von Erwerbsarbeitsverhältnissen liegen. Die Digitalisierung schafft einen Trend zu unendlich vielen verschiedenen Arbeitsformen, die sich irgendwo zwischen Selbstständigkeit und Arbeitnehmerschaft ansiedeln lassen. Differenzierung ist das Kennzeichen dieser Epoche - mit hochproblematischen Konsequenzen für die Chancen kollektiver tarifvertraglicher Absicherungssysteme. Die Informationsgesellschaft bedroht die Kraft gemeinschaftsbildender Institutionen und kollektiv-vertraglicher Regelungen. Zur Informationsgesellschaft gehört auch die Tendenz zu Berufswechseln innerhalb eines Arbeitslebens und zum Ersatz traditioneller bürokratischer Hierarchien durch Kompetenzhierarchien. Die Arbeitsformen werden flexibler, -7 9 -
chancenreicher, individualisierter - aber eben auch instabiler und unsicherer. 'Die Ideenökonomie reduziert die berufliche Aufgabe des Menschen nicht auf eine spezialisierte Handbewegung oder eine Verwaltungsarbeit. Wenn überhaupt, läuft sie Gefahr, den einzelnen nicht zu unter-, sondern zu überfordern, ihm Entscheidungen aufzubürden, an die er nicht gewöhnt ist. Ebenso werden Arbeitnehmer und Neuunternehmer sich weit mehr als gewohnt selbst disziplinieren und organisieren müssen' (Heuser, a.a.O., S.67). Die Arbeitswelt der Zukunft erfordert mündige, selbstständige und selbstbewußte Arbeitnehmer. Die Entwicklung von Berufsanforderungen, Arbeitszeiten und Einkommen lassen sich ungleich schwerer vorausplanen als früher. In der Welt, die auf uns zukommt, vermischen sich neue Selbständigkeit und Scheinselbständigkeit zu einem nur noch schwer unterscheidbaren Gemenge. Formale Elemente und materielle Grundlagen, die unter den Bedingungen der Industriegesellschaft Gemeinschaft ausmachen konnten, gehen verloren. Damit aber stellt sich das Problem neuer institutioneller Grundlagen für eine Kultur der Solidarität. Besonders sichtbar werden die Veränderungen der Arbeitswelt im Vordringen der Telearbeit. Nehmen wir das Beispiel von IBM Paris: Hier arbeiten etwa zweitausend Mitarbeiter online, vernetzt mit der Zentrale, zu Hause. IBM konnte seine Niederlassungen von achtzehn auf sechs verringern, 85000 m2 Büroraum einsparen. Angesichts der astronomischen Büromieten in der französischen Metropole ist damit ein erheblicher Kostenfaktor weggefallen. IBM Frankreich spart seit Einführung der Telearbeit auf diese Weise 260 Millionen Franc im Jahr, also etwa achtzig Millionen Mark. In den USA gibt es mehr als zehn Millionen Telecomputer, in Großbrittannien arbeiten etwa 500000 Erwerbstätige zu Hause oder in 'Tele-Cottages', mit denen insbesondere strukturschwache Gebiete in die Arbeitsteilung einbezogen werden sollen. Auch für Deutschland eröffnet sich hier ein beträchtliches Potential. Schon heute existieren bei uns nach einer Studie des Fraunhofer-Instituts etwa 800000 -8 0 -
Telearbeitsplätze. Davon sind etwa 500000 mobile Vertriebsjobs, etwa 280000 alternierende Telearbeit und etwa 22000 reine Telearbeitsplätze. Bis zum Jahr 2000 kann die Zahl dieser Arbeitsplätze bis auf über eine Million angewachsen sein. Die 'telematikbasierten Dienstleistungen' werden weltweit in jedem Fall erheblich zunehmen. Dann wird es möglich sein, einem intelligenten, gut ausgebildeten jungen Menschen an vielen Stellen der Erde für vielleicht 30000 DM Investitionskosten einen Arbeitsplatz einzurichten. Alles, was dazu gebraucht wird, ist eine Multimedia-Workstation mit einer (Solar-)Energiequelle und einer Verbindung zu einem Satelliten zum Zwecke des Datenaustauschs, während früher zur Integration einer nicht eingebundenen Region in den Weltmarkt zunächst Straßen oder Zugverbindungen, Flughäfen, Postämter usw. geschaffen werden mußten. Die Integration in die internationalen Märkte ist sehr viel weniger an infrastrukturelle Vorleistungen gebunden als früher. Da es weltweit genügend intelligente, gut ausgebildete junge Menschen gibt, die gerne für vielleicht 20000 Dollar zu arbeiten bereit sind, kann hier ein großes Problem für die Arbeitsplätze bei uns entstehen. 'Dies verschärft die Gefahr der Verlagerung von Arbeit. Tatsächlich sind gemäß einer Studie des MIT bis zum Jahr 2010 etwa achtzig Prozent aller Arbeitsplätze in den früheren Industriestaaten (G7-Staaten) potentiell auslagerungsfähig' (F.J. Radermacher, in: A.Dengel/W.Schröter, 1997). Die durch die Telekommunikation beschleunigte Globalisierung und die neuen Formen der Arbeitsteilung können die Standortflexibilität auch für hochqualifizierte Dienstleistungen verbessern. Das indische Bangalore mag hier als Beispiel dienen. In Bangalore werden nicht nur die meisten englischsprachigen Softwareingenieure der Welt ausgebildet. Hier werden zugleich auch telematikbasierte Dienstleistungen für Unternehmer aus der ganzen Welt erledigt. So ist Bangalore inzwischen eine Art virtueller Vorort für die Metropolen der Welt geworden. Mit dem Übergang von der Industriezur Informationsgesellschaft, mit der Einführung neuer -8 1 -
Informationstechniken und Kommunikationsdienste sind nachhaltige Produktivitätsund Effizienzsteigerungen verbunden. Das wachsende Angebot der Informations- und Kommunikationswirtschaft gewinnt für alle Arten wirtschaftlicher Aktivität vermehrte Bedeutung. Medienwirtschaft im klassischen Sinn - also: Fernsehen und Hörfunk, Film, Printmedien, Werbung, Telekommunikation - muß dabei als Teil der Informations- und Kommunikationswirtschaft gesehen werden. Sie entwickelt sich in den sogenannten TIME-Branchen (T steht für Telekommunikation, I für Information und Kommunikation, M für die klassische Medienbranche und das E für Elektronik). In der dritten industriellen Revolution werden viele heutige Arbeitsplätze wegfallen. Umgekehrt werden neue entstehen, vor allem in diesem dynamisch wachsenden Multimedia-Markt. Es wird Berufe geben, die heute erst wenigen bekannt sind. Nach einer von der EU-Kommission angeregten Studie werden die Beschäftigungseffekte von der raschen Verbreitung innovativer Infrastrukturen und Anwendungen abhängen. Dabei werden in der Multimedia-Branche vorrangig hochqualifizierte Beschäftigte nachgefragt werden. Eine Gesellschaft, die darauf vorbereitet sein will, muß rechtzeitig die entsprechenden Ausbildungsgänge und Qualifizierungsmöglichkeiten bereitstellen. Seit 1996 sind in Deutschland als neue Ausbildungsberufe nach dem Berufsbildungsgesetz anerkannt: Mediengestalter(innen) für Bild und Ton, Film- und Videoeditor und Werbe- und Medienvorlagenhersteller mit der Fachrichtung Medien-Operating. Seit 1997 gibt es offiziell die Ausbildungsberufe Fachinformatiker, Informationsund Kommunikationssystem-Elektroniker, IuK-Systemkaufmann sowie Informatikkaufmann. Im Bundesinstitut für Berufsbildung wird derzeit an einem Konzept für einen neuen Beruf in der Druck/Medienvorstufe gearbeitet, der als Basis für verschiedenste Medienberufe dienen soll. Die Ausbildung dazu könnte in Form von zum Teil obligatorischen, zum Teil fakultativen Einheiten erfolgen. Seit 1996 gibt es an deutschen Universitäten den Studiengang Mediendesign und Medieninformatik. -8 2 -
Auf breiter Front entstehen neue Berufsbilder. Gerade im Multimedia-Bereich gibt es zahlreiche neue Tätigkeitsfelder, die sich nach Herkunft und Ausrichtung differenzieren lassen: Den eher journalistischen Bereich wie On-line-Redakteur und Multimedia-Journalist, Foren-Moderatoren, Web-Autoren und Web-Master, Medienassistenten für Video und Fernsehen, Informationsbroker in der Wirtschaft. Eine betriebswirtschaftliche Basis haben die Online-Händler, die Industriekaufleute mit der Zusatzqualifikation Datenentwickler in vernetzten Systemen, Medientechnikund Informationsmanager sowie Präsenz-Organisatoren. Daneben entstehen künstlerisch orientierte Tätigkeiten wie Multimediaund Informationsdesigner, Multimedia-Grafiker, MultimediaKonzeptionist, Multimedia-Netzwerker, Systemberater für Multimedia und Telekommunikation, Multimedia-ToolProgrammierer, Digitalisierer, Telekommunikationsfachleute und Multimedia-Systemprogrammierer. Schließlich gibt es den Zweig von Lehre und Unterricht, werden Multimedia-Didaktiker und Medienpädagogen gebraucht, denn für einen kompetenten Umgang mit den Multimedia-Technologien sind in allen Tätigkeitsfeldern neue Qualifikationen notwendig. Da die Unternehmen die neuen Technologien nur mit entsprechend qualifiziertem Personal nutzen können, liegt es in ihrem ureigensten Interesse, die notwendigen Qualifikationen bei ihren Beschäftigten auch sicherzustellen. Der Einsatz neuer Informationsund Kommunikationstechnologien kann auch für eine neue, partnerschaftliche Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen Vorteile schaffen. Wenn die Zeit- und Ortssouveränität der Beschäftigten größer wird und gerade im Medienbereich Arbeitsplätze entstehen, die von einer Betriebsstätte relativ unabhängig sind, ergeben sich daraus neue Möglichkeiten für Mütter und Väter, deren Mobilität aufgrund familiärer Aufgaben eingeschränkt ist. Mit dem Einsatz der neuen Technologien steigen die Möglichkeiten, Familie und Beruf miteinander vereinbar zu machen. Neue Arbeitszeitregelungen und Arbeitsorganisation können die Chance bieten, die traditionelle -8 3 -
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufzubrechen. Die Expansion des Multimedia-Sektors kann ein zusätzliches Arbeitsplatzangebot für Frauen schaffen. Schließlich werden hier auch Qualifikationen nachgefragt, die Frauen in besonderem Maße zugeschrieben werden: Kommunikationsund Teamfähigkeit, Führungsqualitäten, Organisationsvermögen, Flexibilität. Die am besten qualifizierte Frauengeneration der Geschichte könnte ihre Chancen auch in Führungspositionen besser nutzen. Medienkompetenz wird ohnehin eine Schlüsselqualifikation sein, die auf dem Stellenmarkt von morgen zu einem wesentlichen Wettbewerbsfaktor werden dürfte. Deutschland hat mit dem flächendeckenden ISDN-Netz und dem Hochgeschwindigkeitsnetz WIN-Shuttle des DFN-Vereins sehr gute infrastrukturelle Voraussetzungen für Forschung, Wissenschaft und gewerbliche Anwendung. Das entsprechende Innovationspotential wird jedoch von uns viel zuwenig genutzt. Das gilt sowohl für die Synergieeffekte in Forschung und Wissenschaft wie für solche innerhalb der Wirtschaft, aber auch für den Technologietransfer und für Electronic-CommerceAnwendungen. Forschung und Wissenschaft haben durch die Vernetzung via Internet die einmalige Chance, durch Kooperation eine höhere Produkivität zu erreichen. Voraussetzung dafür ist freilich, daß sich die mangelhafte Ausstattung der deutschen Universitäten mit den dafür nötigen technischen Voraussetzungen verbessern läßt. 700 Studenten kommen heute auf sechs PCs - das muß sich dringend ändern. Initiativen wie 'Schulen ans Netz' müssen weiter ausgebaut werden. Die Spaltung der Gesellschaft in 'user' und 'loser' kann nur dadurch verhindert werden, daß möglichst viele mit dem neuen Handwerkszeug umzugehen lernen. Trotz schlechter infrastruktureller Voraussetzungen sind in den USA und Kanada siebzig Prozent aller Schulen ans Netz angeschlossen. Der Medienkompetenz wird in der schulischen Ausbildung dort große Bedeutung beigemessen. In Skandinavien und Holland haben etwa fünfzig Prozent der Schulen Internet-Anschluß;.in Deutschland sind es gerade einmal zehn Prozent. Daraus -8 4 -
werden sich mittelfristig erhebliche Wettbewerbsnachteile ergeben. Da Telekommunikation, Information und Medien immer weiter zusammenwachsen, muß sich moderne Innovationspolitik nicht nur um technologische Infrastruktur und Hardware kümmern. Vielmehr werden Wissen, Qualifikation und Inhalte zu gleichberechtigten Säulen einer vorausschauenden Innovationspolitik. Hardware wird zu Software. In den USA ist diese Entwicklung heute schon an zwei Orten zu besichtigen: im Silicon Valley und an der Silicon Alley. Im kalifornischen Silicon Valley sind in den Garagenfirmen der achtziger Jahre alle bedeutenden Hardwarehersteller der Branche entstanden. In der New Yorker 'Silicon Alley' entstehen heute viele kleine Multimedia-Dienstleister, die vor allem Inhalte anbieten. Wohl gibt es auch in Deutschland inzwischen etwa 1200 solcher kleiner, innovativer Unternehmen. Aber im Vergleich zu New York, wo allein in Manhattan etwa 3200 solcher Unternehmen arbeiten, nimmt sich diese Zahl noch ziemlich bescheiden aus. Globalisierung und Digitalisierung werden dabei auch unser heutiges Verständnis von Forschungs- und Technologiepolitik verändern. Wir müssen die Anwendungsfelder vor dem Hintergrund unserer besonderen europäischen Kultur immer wieder neu bestimmen. Wie Bill Gates sich die digitalen Rechte an den Bildern aus dem Guggenheim-Museum gesichert hat, könnte eine CD-ROM über den Louvre in Paris, den Prado in Madrid oder die Sixtinische Kapelle statt von Microsoft auch von europäischen Medienhäusern produziert und angeboten werden. Die globale Informationsgesellschaft setzt nicht nur gute Grundausbildung, Medienkompetenz und Sprachkenntnisse voraus. Sie verlangt auch nach einer Renaissance der klassischen Bildung. Die Informationsgesellschaft wird viele Strukturen unserer Gesellschaft umwälzen. Begriffe wie Arbeitszeit und Freizeit, Urlaub und Ausbildung, Arbeitsplatz und Rente bedeuteten in vorindustrieller Zeit nichts. Es gab sie nicht. Die strenge Trennung der Sphären und Lebensbereiche, wie sie uns selbstverständlich scheint, existierte nicht. Erst die -8 5 -
Industriegesellschaft hat sie hervorgebracht. Mit dem Übergang zur Informationsgesellschaft werden viele dieser Begriffe ihren von der Industriegesellschaft geprägten Sinn wieder verlieren. Menschliche Lebensrhythmen und Zeiteinteilungen werden sich erneut verändern, Lebenszyklen werden sich weniger an trennscharf abgrenzbaren biographischen Abschnitten orientieren. Die verstärkte Nutzung der Telearbeit kann zu einer Aufwertung von ländlichen Räumen, zur Entlastung der Zentren und zu veränderten Siedlungsstrukturen führen. Landflucht und Expansion der städtischen Industriezentren - die säkulare Tendenz des Industriezeitalters - könnten sich umkehren. In einer Zeit, in der viele sich zum Moloch entwickelnde MegaMetropolen der Erde nach Dekonzentration geradewegs verlangen, wird man dies kaum bedauern müssen. Es entsteht freilich auch das Problem eines Verlusts an sozialer Verbindlichkeit zugunsten virtueller Kommunikation. Im Gegensatz zur Maschinentechnologie mit ihren stationären Organisationsformen und der lebenslangen Betriebszugehörigkeit der Industriearbeiter wird die Informationstechnologie und die Informationsgesellschaft eine beweglichere Gesellschaft herausbilden, eine Gesellschaft, die umgekehrt aber auch labiler und unsicherer sein muß, die eine stärker marktorientierte Gesellschaft sein wird. In ihr wird es flachere Hierarchien geben, weitverzweigte Netzwerke, virtuelle Unternehmen und viele informelle menschliche Kontakte. Bedürfnisse nach Sicherheit und Stabilität werden schwerer zu befriedigen sein, das Problem sozialer Bindungsfähigkeit wird sich verschärfen. Richard Sennett hat in seiner feinsinnigen Analyse des 'flexiblen Menschen' die Folgeprobleme dieser Veränderungen auf den Punkt gebracht: 'Der Pfeil der Zeit ist zerbrochen, er hat keine Flugbahn mehr in einer sich ständig umstrukturierenden routinelosen kurzfristigen Ökonomie. Die Menschen spüren das Fehlen nachhaltender persönlicher Beziehungen und dauerhafter Absichten. Coca-Cola light mag gut für das Gewicht sein, aber ÝZeit lightÜ ist nicht gut für das Herz ... Wie aber können langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im Rahmen einer ganz auf das kurzfristige -8 6 -
ausgerichteten Ökonomie lebt? Wie können Loyalitäten nach Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? Wie bestimmen wir, was in uns von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur auf den unmittelbaren Moment konzentriert?' (Senett, S.131/132 sowie S.10). Mit den gestiegenen Möglichkeiten der Informationstechnik sind andererseits die Chancen größer geworden, Verbindungen auf Distanz zu pflegen. Was mit dem Telefon bereits begonnen hat - die Verwandlung der Realität in Virtualität - setzt sich mit den Internet-Kontakten fort - mit dem Unterschied, daß es die Anwender nicht mehr mit einer Stimme, sondern nur noch mit schriftlichem Austausch zu tun haben. Auch beim Internet findet eine 'Virtualisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen' statt, die Spaltung der Realität in eine physische und eine digitale Wirklichkeit. Dabei lockern sich territoriale und lokale Verankerungen. Es entwickeln sich freilich auch neue Gruppenstrukturen, wie sich an der viele Computerfachleute überraschenden Ausbreitung von 'On-line-Gemeinschaften' (Heuser, a.a.O., S.114) beobachten läßt: Internet-Benutzer sind weniger an abrufbaren Inhaltsinformationen als an globalkommunikativer Interaktion interessiert. Auch die Informationsgesellschaft braucht eine rechts- und sozialstaatliche Ordnung. Dazu gehört, daß der Zugang aller Menschen zu den neuen Informationsund Kommunikationssystemen sichergestellt wird. Dazu gehört die Erziehung zur Medienkompetenz. Technische Übertragungswege sind wichtig, aber die Inhalte, mit denen die Menschen sich beschäftigen, sind wichtiger. 'Ihr werdet zu Sklaven, wenn Ihr nicht auswählt; jedes neue Programm, das Euch vorgesetzt wird, lähmt eigene Initiative', mahnt der greise Philosoph Hans-Georg Gadamer junge Mitbürger. 'Nur durch das Verstehen als Akt des eigenen Denkens und der Urteilsfindung ist das Leben aus erster Hand (wieder) möglich.' Dazu gehört die Stärkung von Bindungskräften und Selektionskompetenz. Auch der Kunsthistoriker Heinrich Klotz -8 7 -
hat eine skeptisch-kritische Position zur Informationsgesellschaft. Heute stelle sich 'die historische Parallele zur Situation der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Die Anfänge der Moderne waren inspiriert vom Pathos der Maschine und von der Funktionalität der industriellen Produktion. Marinettis Ausruf, ein wie aus Kartätschen aufheulendes Auto sei schöner als die Nike von Samothrake, sollte die ästhetischen Traditionen Europas vernichten ... Heute - am Ende des 20. Jahrhunderts - hat sich die Situation abermals verändert, und mit der Perspektive auf den ökologischen Untergang der alten Technologien sind zugleich die Technologien der Kommunikation und der Datenverarbeitung entstanden. So wie am Anfang des Jahrhunderts die Künste auf die maschinelle Produktion bezogen wurden, so werden sie am Ende dieses Jahrhunderts mit den digitalen Techniken verbunden.' Nach den Zeichen der Kultur und den Anzeichen in Wirtschaft, Technologie und Arbeit zu urteilen, ließe sich 'im Fin de siécle des 20. Jahrhunderts nicht so sehr ein müder Abgesang, sondern eine Wendung hin zu einem offeneren Horizont erkennen' (Klotz, 1996). Einen solchen Horizont mitzugestalten gehört zu den wichtigsten Aufgaben einer zukunftsorientierten Politik. Die Kraft der technologischen Umwälzung wird von keiner Politik der Welt aufzuhalten sein - selbst wenn sie es wollte. Deshalb geht es nicht um Bejahen oder Verneinen dieses Wandels, sondern darum, ihn richtig auszugestalten. Das schwierigste Problem dabei ist gewiß der Erhalt und die Neubefestigung von Solidarität und Gemeinschaftsbindung. Die Informationsgesellschaft schafft auf unterschiedlichen Ebenen fragmentierte Realitäten und schwächt gemeinschaftsbindende Institutionen. Arbeit, Bildung, Freizeit, Konsum - alles wird stärker individualisiert. In dieser Welt existieren vor allem kontextorientierte, begrenzte und fließende, sich rasch verändernde Gemeinschaften, 'fluid networks', wie die amerikanischen Soziologen Hage und Powers dies nennen (Hage/Powers, 1992). 'Es entsteht eine Gesellschaft im Übergang, für die neue Formen der Solidarität erst noch -8 8 -
gefunden werden müssen' (Heuser, a.a.O., S.88). Um so mehr wird es auf gemeinschaftsbindende Kräfte jenseits der Arbeit ankommen. Und auf Maßstäbe, die den einzelnen in die Lage versetzen können, sich in einer unübersichtlich gewordenen Welt zurechtzufinden.
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3.Globalisierung und Individualisierung Vor mehr als einem Jahrzehnt haben Sozialwissenschaftler wie Anthony Giddens und Ulrich Beck den Begriff 'Individualisierung' zur Kennzeichnung moderner Gesellschaftsentwicklung geprägt. Inzwischen ist er längst zum festen Bestandteil der Zeitdiagnostik geworden. Was ist damit gemeint? Mit 'Individualisierung' wird versucht, die vielen Anzeichen einer wachsenden Herauslösung des modernen Menschen aus Traditionen, Konventionen und festen Sozialbezügen und die damit einhergehende ungeheure Vervielfältigung von individuellen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten begrifflich zu erfassen. Der moderne Mensch in entwickelten Gesellschaften zeichne sich durch seine wachsende Neigung aus, Traditionen und soziale Bezüge nicht mehr als verbindlich zu betrachten, sondern frei unter einer Fülle von wechselnden Handlungsmöglichkeiten auszuwählen und sich selbst dabei als ein mit autonomer Handlungskompetenz ausgestattetes Subjekt zu erfahren. 'Die Steigerung der Erlebens-, Handlungsund Lebensmöglichkeiten, die Optionensteigerung, ist der augenscheinlichste Vorgang der Modernisierung' (Gross, 1994). Offenheit und Flexibilität werden zu Leitbildern einer Moderne, in der, wenn nicht alles, so doch immer mehr möglich zu sein scheint. Möglich scheint es dem auf sich selbst zurückgeworfenen einzelnen, der sich dabei gewissermaßen selbst erfindet. Individualisierung als Begriff reflektiert also den Prozeß der Auflösung der Verbindlichkeit vorgegebener sozialer Lebensformen. Menschen definieren sich immer weniger über kollektive Identitäten. Individuen entdecken sich selbst und beanspruchen ein eigenes Recht, mit Werten, Traditionen und Bindungen schöpferisch umzugehen. Dabei haben sie es mit einer ständigen Steigerung prinzipiell denkbarer Handlungsmöglichkeiten zu tun, was die Entscheidung nicht nur zur Chance, sondern auch zur Last werden lassen kann. Ehemals festgefügte soziale Milieus und -9 0 -
gesellschaftliche Teil- und Subkulturen haben sich aufgelöst oder lösen sich auf. Wertorientierungen verlieren ihre unhinterfragbare Verbindlichkeit. Der einzelne erlebt eine Freisetzung von sozial normierten Konventionen und Verhaltensverpflichtungen, überkommene Gruppensolidaritäten verlieren ihre Prägekraft. Gesellschaft wird von den Menschen in wachsendem Maße als 'Markt der Möglichkeiten' betrachtet und erlebt. Je nach individuellen Präferenzen wird mal dies, mal jenes bevorzugt - oder auch wieder verworfen. Es scheint, als träfe die Auswahl allein das Individuum selbst, das auch den Kompaß für die richtige Auswahl in sich trägt bzw. tragen muß. Wo die Menschen in traditionelle Gesellschaften und ihre Vorgaben und Regeln mehr hineingezwungen waren, müssen sie sich in der modernen Gesellschaft selbst um Regeln und Orientierungen bemühen. Jedenfalls erscheint es ihnen so. An die Stelle der orientierenden Kraft vorgegebener Bindungen tritt labile Vorläufigkeit. Das hat Konsequenzen. 'Heutzutage scheint sich alles gegen lebenslange Entwürfe, dauerhafte Bindungen, ewige Bündnisse, unwandelbare Identitäten zu verschwören. Ich kann nicht langfristig auf meinen Arbeitsplatz, meinen Beruf, ja nicht einmal auf meine Fähigkeiten bauen; ich kann darauf wetten, daß mein Arbeitsplatz wegrationalisiert wird, daß mein Beruf sich bis zur Unkenntlichkeit verändert, daß meine Fähigkeiten nicht länger gefragt sind. Auch auf Partnerschaft oder Familie ist in Zukunft nicht mehr zu gründen; im Zeitalter dessen, was Anthony Giddens Ýconfluent loveÜ nennt, währt das Beisammensein nicht länger als die Befriedigung eines der Partner, die Bindung gilt von vornherein nur Ýbis auf weiteresÜ, die intensive Bindung von heute macht Frustrationen morgen nur um so heftiger' (Baumann, 1993). Die Erscheinungsformen dieser Veränderungen in modernen Gesellschaften liegen offen zutage, sind soziologisch im wesentlichen unbestritten und haben weitreichende Konsequenzen bis hin zum Wandel privater Beziehungen und Familenstrukturen. So gut wie alle überkommenen Großorganisationen des Industriezeitalters haben Bindungskraft eingebüßt und büßen sie weiter ein. Das trifft die Volksparteien -9 1 -
ebenso wie die großen Religionsgemeinschaften. Es reicht von den Gewerkschaften über die Kollektivorganisationen des Kapitals bis zum klassischen deutschen Vereinswesen. Die Prägekraft der alten Kollektivakteure schwindet. Und mit ihr die Legitimationsgrundlage für die von ihnen hervorgebrachten kollektiven Systeme. Das trifft dann auch die Systeme sozialer Sicherheit und das Tarifvertragssystem. Dabei handelt es sich um Entwicklungen, die in allen modernen Gesellschaften des Westens anzutreffen sind. Die Ursachen dafür liegen in der Entwicklung dieser modernen Gesellschaften selbst. Sie haben zu tun mit Wohlstand und Einkommensverbesserungen, die in der Nachkriegsgeschichte zur Auflösung des alten proletarischen Milieus mit seinen bis dahin kollektiv geteilten Lebensorientierungen und Wertesystemen führten. Sie sind Konsequenz des Umbruchs der Arbeitswelt ebenso wie Folge von kulturellem Wandel. An die Stelle sittsamer Strebsamkeit und bürgerlicher Wohlanständigkeit mit dem primären Ziel, 'es zu etwas zu bringen', sind Selbstverwirklichung in allen Schattierungen bis hin zum Hedonismus der 'Spaßgesellschaft' als zentrale Lebensorientierungen getreten. Sie haben zu tun mit der Expansion des Bildungssektors, der Ausweitung sozialstaatlicher Sicherungen, den ungeheuer gewachsenen Mobilitätschancen und der Zunahme lebensweltlicher Erfahrungsräume. In der modernen Medien- und Warenwelt werden die Menschen mit einer früher ganz und gar unvorstellbaren Vielzahl von Deutungsangeboten und Glücksverheißungen konfrontiert. Zugleich spiegeln sich in diesem Wandel technologische Veränderungen der digitalisierten Welt, die die gemeinschaftsbildende Kraft der Institutionen des Industriezeitalters zusätzlich schwächen. Helen Wilkinson hat zusammenfassend drei große Veränderungen hervorgehoben, die den Boden für den Wertewandel bereitet haben: Säkularisierung, Erziehung und Bildung, sowie die sprunghafte Zunahme von Mobilität und Kommunikation (Wilkinson, 1997) Individualisierung hat vor allem drei Konsequenzen: Es entsteht eine gründlich umgekrempelte Landschaft von Beziehungen -9 2 -
und Familienstrukturen. Es entsteht ein individualisierter Arbeitsmarkt, auf dem eine veränderte Arbeitsmoral vorherrscht und höhere Anforderungen an die Qualität der Arbeit in einem ausdifferenzierten System unterschiedlicher Beschäftigungsverhältnisse gestellt werden. Strukturelle Macht wird immer weniger durch die Macht der großen Zahl von durch sehr ähnliche Arbeits- und Lebensumstände vereinheitlichten Massen begrenzbar und begrenzt. Es kommt, wie Wilkinson dies ausdrückt, zum 'Verschwinden der historischen Rolle der Massen'. Zygmunt Baumann hat sogar von einer 'Landstreichermoral' gesprochen, die die Gegenwart charakterisiere: 'Der Landstreicher weiß nicht, wie lange er dort, wo er ist, noch bleiben wird, und zumeist ist nicht er es, der über die Dauer seines Aufenthalts befindet. Unterwegs wählt er sich seine Ziele, wie sie kommen und wie er sie von den Wegweisern abliest; aber selbst dann weiß er nicht sicher, ob er an der nächsten Station Rast machen wird, und für wie lange. Er weiß nur, daß seines Bleibens sehr wahrscheinlich nicht lange sein wird. Was ihn forttreibt, ist die Enttäuschung über den Ort seines letzten Verweilens sowie die nie versagende Hoffnung, der nächste Ort, von ihm noch nicht besucht, oder vielleicht der übernächste möge frei sein von Mängeln, die ihm die bisherigen verleidet haben' (Baumann, 1993). Ruhelos, ortlos, bindungslos, ein fragmentiertes Leben in einer Welt ohne echte Tiefe - ist es das, was den modernen Menschen ausmacht? Weil die empirischen Befunde einigermaßen eindeutig sind, die für Traditionsverlust, nachlassende Kraft des 'inneren Kompasses' (David Riesman) als Basis angestammter Wertorientierungen, Verlust an sozialer Bindungsfähigkeit und kollektiver Identitäten sprechen, hat sich inzwischen im Anschluß an die Arbeiten der amerikanischen 'Kommunitaristen' (vgl. z.B. Etzioni, 1996) quer zu den politischen Lagern auch in Deutschland eine Debatte entwickelt, in der es um die Grundlagen von sozialer Verantwortlichkeit, Gemeinwohlorientierung und Gemeinsinn geht. So wenig umstritten die meisten Diagnosen sind, um so kontroverser wird -9 3 -
freilich über die Konsequenzen diskutiert, die aus der veränderten sozialen Konfiguration folgen. Was manchen als historisch neuartige Freiheit gilt, betrachten andere als Anzeichen eines gesellschaftlichen Niedergangs. Die kulturkritische Variante moderner Zeitdiagnostik ist sich von links bis rechts weithin einig, daß es sich hier um einen bedrohlichen, möglicherweise sogar zivilsationsgefährdenden Trend zu Egoismus und Hedonismus handelt. Auch im lebensweltlichen Bereich würden inzwischen ökonomische Kosten-Nutzen-Kalküle immer mehr dominieren. Es entstehe eine Gesellschaft von 'Ichlingen', die von Entsolidarisierung, Anspruchsdenken, Narzißmus und Werteverfall bestimmt werde. Ob nun Helmut Dubiel die Krise der liberalen Gesellschaft als Ergebnis einer Erschöpfung nichtmarktförmiger Ressourcen deutet (Dubiel, in: Teufel, 1995), ob Wolfgang Schäuble den Verlust von Bürgertugend als freiwilligem Rechtsgehorsam und die Diffamierung elementarer Grundlagen des Zusammenlebens als 'Sekundärtugenden' beklagt (Schäuble, in: Teufel, a.a.O.) oder Etzioni die Balance zwischen Werten der Freiheit und der Gemeinschaft gestört sieht letztlich ist man sich in der Analyse dieser Phänomene als bedrohlicher Anzeichen eines Verlusts an sozialer Gemeinwohlorientierung weithin einig. Helmut Dubiel sieht in den wachsenden 'Anomiepotentialen' (Heitmeyer, 1996a) das Ergebnis der historischen Schwindsucht einer ursprünglich aus traditionalen Quellen gespeisten 'moralischen Ökologie der Marktwirtschaft', die infolge einer Ausweitung der in der Sphäre des Marktes geltenden Regeln eingetreten sei: 'Die verbreiteten Identitätskrisen, die Krisen der sozialen Integration und die Schwierigkeiten der politischen Steuerung ergeben sich daraus, daß die in der Sphäre des Marktes gültigen Regeln des Verhaltens über ihre Grenzen überdehnt und durch nichtmarktförmige Kulturbestände nicht mehr zureichend in Schach gehalten werden' (Dubiel, 1995, S.83). Solange das marktwirtschaftliche Prinzip egozentrischer Nutzenverfolgung eingebunden geblieben sei in religiöse, kulturelle und politische -9 4 -
Normen, die Solidarität und Orientierung an allgemeinen Interessen auch unter Marktbedingungen garantieren konnten, und gewissermaßen eine Einhegung von marktwirtschaftlichen Nützlichkeitsaspekten stattfand, war die moralische Integration der Marktgesellschaften ein lösbares Problem. Die irreversible Auflösung von Traditionen und die Durchdringung aller möglichen Lebensbereiche mit marktförmigen Nützlichkeitserwägungen müsse das kulturelle Fundament moderner Gesellschaften gefährden (Dubiel, a.a.O.). Derlei Pessimismus wird von Ulrich Beck gar nicht geteilt. Er deutet die 'riskanten Freiheiten' des Menschen im individualisierten Zeitalter optimistisch als neue 'Wertorientierung für eine zweite Moderne'. Die erste Moderne sei gekennzeichnet gewesen durch territoriale Abgrenzung in Form des Nationalstaats, durch klare soziale Konfliktlinien wie Klassenkampf und Kulturkampf, durch breite Integration der Menschen in die Gesellschaft über das System der Erwerbsarbeit, durch einen auf diesem System beruhenden Sozialstaat sowie durch klare Trennungen zwischen öffentlicher und privater Sphäre, zwischen Beruf und Familie. In der zweiten Moderne dagegen müßten sich jetzt alle Institutionen reflexiv neu begründen, die der ersten Moderne das Gepräge gaben. Dies sei ein Freiheitsgewinn, der keineswegs auf Kosten von Solidaritätsfähigkeit und Sozialbindung der Menschen gehen müsse. Was fälschlich als Werteverfall und Verlust sozialer Gemeinschaftsbindung verteufelt werde, erzeuge gerade neue Orientierungen und Voraussetzungen für die Demokratie der Zukunft. Nicht die neue Unübersichtlichkeit durch die unter ständigem Entscheidungsdruck stehenden modernen Menschen sei das Problem, sondern die Unfähigkeit der alten Institutionen, mit der neuen Freiheit und gewachsenen Vielfalt umzugehen. Die Selbstautorisierung des Individuums sei Kennzeichen der europäischen Moderne seit der Aufklärung. Also könnte sich unmöglich das Ende von Sozialität, Gerechtigkeit und Solidarität ankündigen, wenn die Freiheitsversprechen der Aufklärung endlich voll eingelöst werden könnten. Schließlich ließe sich auch zeigen, daß die -9 5 -
Bereitschaft, für andere da zu sein, mit der Individualisierung und der Auflösung selbstverständlicher Traditionsbindungen keineswegs abnehme. Soziales und gesellschaftliches Engagement verschwänden durchaus nicht; sie organisierten sich jetzt nur in anderen Formen. Mit dem Wertewandel habe die Toleranz gegenüber Andersartigem und gesellschaftlichen Randgruppen sogar beachtlich zugenommen. 'Das Zeitalter des eigenen Lebens ist nicht nur von Anspruchsträgern, Querulanten, Störenfrieden und Drückebergern bevölkert. Es bilden sich auch Orientierungen und Prioritäten heraus, die unterschwellig den Herausforderungen der zweiten Moderne entsprechen: In der Bevölkerung gewinnen Selbstverantwortung, Selbstorganisation, Selbstpolitik eine aufgeklärt-realistische Chance, die nun allerdings auch von einer Politik, die überall auf ihre Grenzen trifft, in dem Sinne genutzt werden muß, Verantwortung und Macht neu zu verteilen' (Beck, 1997a, S.20/21). Nun sind es freilich keineswegs allein Kulturpessimisten, die die Folgen der Individualisierung weniger euphorisch beurteilen und negative Konsequenzen für soziale Gemeinschaftsbindungen befürchten. Schon 1979 hatte Ralf Dahrendorf darauf hingewiesen, daß auch die Moderne Bindungen benötige, wenn die historisch möglich gewordene Vielfalt von Handlungsoptionen zu einem realen Freiheitsgewinn führen solle. 'Die sozialen Lebenschancen der Menschen haben zwei Bestandteile, Wahlmöglilchkeiten oder Optionen und Bindungen oder Ligaturen. Beide müssen gegeben sein, damit Lebenschancen wirklich werden. Bindungen ohne Wahlmöglichkeiten sind offenkundig ein chancenarmer Zustand. Der ostelbische Landarbeiter hatte so wenig Lebenschancen wie die traditionelle Hausfrau. Aber auch Wahlmöglichkeiten ohne Bindungen sind ein chancenarmer Zustand. Wenn alle Optionen gleich gültig werden, verlieren sie ihren Wert. Optionen haben Wert und Sinn nur im Rahmen von Koordinaten, die durch soziale Bezüge bestimmt werden (Dahrendorf, 1979, S.222). Und an anderer Stelle: 'Lebenschancen sind nur zu einem Teil Optionen; ihr anderer -9 6 -
Teil hat es mit den Koordinaten zu tun, innerhalb deren Optionen Sinn ergeben' (Dahrendorf, 1994). Wahlmöglichkeiten sind nur dann echte Chancen, wenn die Auswählenden über Entscheidungshilfen verfügen, die ihnen Orientierung ermöglichen. Erst das Vorhandensein von Koordinaten läßt die Wahlmöglichkeiten zu realen Optionen werden. Der Mensch benötigt einen inneren Kompaß, um eine echte Wahl zu haben. Der aber kann nur durch kulturelle Bindungen entstehen, die über Institutionen vermittelt werden. Dies sind für Dahrendorf vor allem zivilgesellschaftliche Institutionen, also Gemeinde, Familie, politische Vereinigungen, Religionsgemeinschaften, kulturelle Gruppen usw. Wenn nun aber diese Institutionen an Prägekraft verlieren, muß auch die Herausbildung solcher Koordinaten zum Problem werden. Selbst wenn man davon ausgeht, daß in neuen Formen alte Bindungen gesucht werden, könnte es dennoch prekär werden, wenn sich herausstellt, daß diese Bindungen keine Festigkeit und Kontinuität erlangen. Auch die Moderne benötigt Bindungen. Zugleich aber zeichnet sie sich dadurch aus, daß sie solche Bindungen vor allem aufbraucht. Sie zehrt von traditionalen Sinnbeständen, die sie selbst zerstört (Habermas, 1972). Daniel Bell hat das, fast kommunitaristisch, so ausgedrückt: 'Das Fehlen eines verwurzelten Systems moralischer Überzeugungen ist der kulturelle Widerspruch der Gesellschaft, die am tiefsten reichende Herausforderung ihrer Lebensfähigkeit' (Bell, zit. nach Giddens, 1997). Wilhelm Heitmeyer sieht mit der freiheitsverheißenden Normenpluralisierung weniger die Förderung von Autonomie als das Anwachsen individueller 'anomischer Zustände' verbunden. Übergreifende Sinnordnungen wie Solidarität würden durch verheißungsvolle Kompensationsangebote eines kulturellen Pluralismus ersetzt. Da diese jedoch nicht in gleicher Weise die Ausbildung verbindlicher Handlungsformen ermöglichten, sei das Wachstum von Anomiepotentialen insbesondere bei Jugendlichen eine Folge dieser gesellschaftlicher Entwicklung (Heitmeyer 1997a). 'Die Individualisierung ermöglicht Entscheidungsfreiräume, die sich u.a. als Subjektivierung von -9 7 -
Werten und Normen, Enttraditionalisierung usw. ausweisen; die strukturell im Kapitalismus verankerte Konkurrenz- und Verwertungslogik hingegen erzwingt zunehmend ein utilitaristisch-kalkulatives Verhalten, so daß die Möglichkeitsräume unbegrenzt damit ausgefüllt werden' (Heitmeyer, 1995, S.58). Vor dem Hintergrund fortbestehender und neuerdings wieder verschärfter sozialer Ungleichheit müsse die Schattenseite der Individualisierung um so deutlicher zutage treten: Desintegration. Angesichts der kaum zu übersehenden Anzeichen solcher gesellschaftlicher Desintegration wird man Ulrich Beck den Vorhalt einer gewissen Blauäugigkeit nicht ersparen können. Allzu glatt wird bei ihm aus der Not von Bindungsverlust, Orientierungsproblemen und Herrschaft des Kommerzes die Tugend eines Aufbruchs zur Freiheit. Mit Tocqueville darauf hinzuweisen, daß die Symptome der Egogesellschaft mit politischer Freiheit bekämpft werden müßten, bleibt da eine allzu vage Hoffnung. Bindung wird zum Kernproblem der Moderne. 'Soziale Bindung entsteht am elementarsten aus einem Gefühl gegenseitiger Abhängigkeit. Nach den Losungen der neuen Ordnung ist Abhängigkeit eine Sünde ... In diesen Ablehnungen der Abhängigkeit als etwas Erniedrigendes findet sich indessen kein Hinweis auf etwas allen Gemeinsames, auf etwas Geteiltes' (Sennett, a.a.O., S.191/192). Nun geht aber die platte Entgegensetzung von Individualismus und Altruismus an der Realität vorbei, wie schon Vester u.a. in ihrer breit angelegten Studie überzeugend herausgearbeitet haben. Hinzu kommt, daß die Diagnose von Desintegration und Zerfall allein keine Perspektive weist. Welche Handlungskonsequenz stünde noch zur Verfügung, wenn mit der modernen Vervielfältigung von Handlungsmöglichkeiten tatsächlich nur Anzeichen von gesellschaftlichem Verfall verbunden wären? Was wäre denn zu tun, wenn es tatsächlich eine innere Zwangsläufigkeit gäbe, mit der die Moderne dazu verurteilt wäre, ihre eigenen moralischen Existenzvoraussetzungen zu untergraben? Wollen wir zurück zur Vormoderne? Auf diese Frage bleiben die kulturkritischen -9 8 -
Skeptiker überzeugende Antworten in aller Regel schuldig. Und den Markt will schließlich auch niemand von ihnen abschaffen. Das Fundament sozialgesellschaftlicher Verfaßtheit von Gemeinwesen kann nur mit wirklichen Menschen erhalten, reformiert und neu befestigt werden. Diese Menschen aber sind inzwischen in den Genuß eines kulturellen Pluralismus gekommen, der ihnen als realer Freiheitsgewinn zumindest erscheinen muß und den sie nicht wieder aufgeben werden. 'Die konservative Suche nach einer Rekonstruktion von Traditionsbindungen und den normativen Gewißheiten der Vergangenheit verkennt die Irreversibilität der reflexiven Verflüssigung traditionaler Gewißheiten' (Kleinert, 1997). Der Rückweg ist also versperrt. Oder wie Daniel Yankelovich sein Fazit zusammenfaßt: 'Aus unseren Untersuchungen geht eine neue Sehnsucht der Menschen nach Gemeinschaftlichkeit, Disziplin und absoluten statt relativen moralischen Werten hervor. Doch den meisten fällt es trotz dieser Sehnsucht schwer, zu den traditionellen Werten ... zurückzukehren. Nachdem sie einmal vom Apfel des radikalen Individualismus gegessen haben, können sie die alte Lebensweise nicht wieder aufnehmen. Das hat zur Folge, daß wir heute in einem Klima der moralischen Unsicherheit leben' (Yankelovich, in: Dettling, 1998). Eine auf Zukunftsgestaltung ausgerichtete Politik wird sich deshalb nicht zu lange bei der Frage aufhalten können, ob Individualisierung und Bindungsverlust nur Fluch oder auch Segen für Sozialgesellschaft und Demokratie bedeuten müssen. Gerade weil sie um die Risiken weiß, die damit verbunden sind, gerade weil sie die Probleme verunsicherter einzelner kennt, die vergeblich nach Halt suchen, weil sie die Sackgassen eines Freiheitsverständnisses kennt, das unter Freiheit einen Markt der Möglichkeiten frei flottierender Individuen versteht, die zu Objekten medialer Verfügung und letzthin auf ihren Konsumentenstatus reduziert werden - gerade deshalb kann sie sich letztlich nicht an dem aussichtslosen, zur Donquichotterie verurteilten Versuch einer Wiederherstellung vertrauter Gewißheiten orientieren. Sie muß sich vielmehr vor -9 9 -
allem zwei Aufgaben stellen: der besseren Ausstattung der Menschen mit jenen Ligaturen, die als Entscheidungshilfen Voraussetzung für echte Wahlfreiheit sind, und der Schaffung von Bedingungen, unter denen beschädigte Solidaritätsbeziehungen auf neuer Grundlage wiederhergestellt werden können. Ein Politikansatz, dem es radikallibertär immer nur um die Öffnung weiterer Freiräume für autonom gedachte Individualität zu tun wäre, würde diese Aufgaben allerdings ebenso verfehlen. 'Darum hängt das Schicksal der modernen Bürgergesellschaft von der eigentümlichen Fähigkeit ab, die moralischen und die institutionellen Bedingungen des Zusammenhalts der Bürger selbst zu erzeugen' (Dubiel, in: Teufel, 1995, S.85). Dazu gehört dann auch, daß die Chancen des Neuen gesehen werden. Wo Bindung gewählt werden kann, kann auch die Voraussetzung für einen sozial verantwortlichen Individualismus entstehen, der den Einsatz für andere nicht als erzwungene Selbstaufopferung, sondern als Bereicherung des eigenen Lebens erfahrbar machen kann. Wenn in einer enttraditionalisierten Welt Solidarität weniger als Verpflichtung betrachtet wird, die aus vorgegebenen sozialen Positionen abgeleitet ist, wenn sie also nur auf Vertrauen gründen kann, das immer wieder neu errungen werden muß, kann dann dieses Vertrauen nicht gerade deshalb eine reichhaltigere Quelle von sozialer Solidarität sein - gerade weil es nicht erzwungen ist? Die Organisation sozialer Solidarität wird künftig stärker auf die selbstorganisatorische Kraft von Bürgergesellschaften verwiesen sein. Das hat Konsequenzen für einen Politikansatz, der sich der Tradition des europäischen Sozialstaats verpflichtet weiß: In der individualisierten Welt des 21.Jahrhunderts wird der Ausgleich zwischen Freiheits- und Gleichheitswerten weniger auf das Agieren großer Kollektivakteure und das Funktionieren anonymer, großräumig angelegter Beitragssysteme zu gründen sein, die eine abstrakte Zuteilungsgerechtigkeit verheißen. Die gesellschaftliche Ressource Solidarität ist bedroht und damit die Legitimationsbasis sozialstaatlicher Systeme. Da der -1 0 0 -
Zusammenhang dieser Systeme mit der alltäglichen Lebensrealität einer wachsenden Zahl von Menschen immer weniger erkennbar ist, wird das Fundament von Sozialgesellschaftlichkeit stärker auf anderen Pfeilern ruhen müssen. Zur Förderung eines 'sozialen Individualismus' bedarf es deshalb der materiellen und nichtmateriellen Förderung von Gemeinschaften, die den Vorzug von Solidarität lebenspraktisch erfahrbar werden lassen. Wir brauchen ein neues Verständnis von Gemeinwohl, Gemeinschaftsorientierung und Sozialstaatlichkeit, in dem das alltägliche soziale Engagement der Bürger als vorrangiger Bestandteil von Sozialpolitik gilt und entsprechend gefördert wird. Statt als mechanisch und im Grunde gesellschaftlich entfremdete Einrichtung zur Befriedigung von Ansprüchen aufzutreten und dabei von einer sozialen Konvention zu zehren, die zunehmend brüchiger wird, weil sie aus einer Zeit stammt, die vergangen ist, muß das Soziale 'vor Ort' spürbar werden. Demnach wird es vorrangig um den Erhalt und die Förderung kleiner gemeinschaftlicher Lebenskreise gehen und um die Sicherungsmöglichkeiten, die diese bieten können. Daraus ergibt sich z.B. die Notwendigkeit einer verstärkten Kommunalisierung von Sozialpolitik, und der Ausweitung der sozialpolitischen Handlungsspielräume der Kommunen. Daß dazu dann auch die entsprechende finanzielle Ausstattung gehört, versteht sich. Dazu gehört weiter die Stärkung alter und neuer Vergemeinschaftungsformen in Vereinen, Verbänden und Bürgerinitiativen. Gerade weil die moderne Arbeitswelt weniger Vergemeinschaftsformen hervorbringt, wird soziales, kulturelles und bürgerschaftliches Engagement als Quelle von Bindung und Gemeinwohlorientierung wichtiger. Politik kann dies weder verordnen noch ersetzen. Aber Politik kann dazu beitragen, Möglichkeitsräume zu öffnen. Zur Stärkung von Ligaturen gehört auch die Wiederbelebung der Schule als sozialer Institution. Das hat verschiedene Aspekte, die nicht nur die Lehrpläne und die Weiterbildung der Fachkräfte betreffen. Es geht auch um die Stärkung der -1 0 1 -
Ligaturen und um die Einbindung der Schule in das soziale Leben von Kommunen und Stadtteilen. Es geht um die Wiederbelebung des Gemeinschaftsgedankens im Rahmen schulischer Ausbildung (vgl. Evers, in: Teufel, 1995). Die Formel von der Wohlfahrtsgesellschaft als politischem Reformziel mag heute noch einen allzu vagen Beigeschmack haben. Und es ist anderer Stelle schon angesprochen worden, daß die Kräfte gesellschaftlicher Selbstorganisation gegenüber der allgegenwärtigen Kommerzialisierung auch nicht überschätzt werden dürfen. Manches neuere Loblied auf amerikanische community-Traditionen und die dortigen 'volunteers' unterschlägt die inzwischen brutale Realität der Verteilung von Lebenschancen in der amerikanischen Gesellschaft (so etwa Robert Wuthnow, in: Beck, 1997). Es ist auch gar nicht zu bestreiten, daß ein sozialgesellschaftliches Konzept, das sich stärker auf die aktive Beteiligung von Bürgerschaften und Eigenverantwortlichkeit setzt, Disparitäten und Ungleichheiten verstärken kann. Lokale Bürgerschaften werden damit unterschiedlich umgehen. Aber was ist die Alternative? Anspruchsrechte lassen sich dauerhaft nur sichern, wenn eine gesellschaftliche Basis da ist, die diese Ansprüche trägt. Das gilt in einer Welt der Normenpluralisierung, ausdifferenzierter Arbeitsmärkte, virtueller Realitäten und überbordender Glücksverheißungen des Kommerzes mehr denn je. Die großen Institutionen und Organisationen, die das Leben in unseren Gesellschaften lange geprägt haben, haben fast alle ihre Ursprünge im 19. Jahrhundert, sind das Ergebnis einer industriegesellschaftlichen Moderne mit ihren besonderen sozialen Konfigurationen. Das trifft für das System der Parteien ebenso zu wie für die großen Organisationen kollektiver Interessensvertretung. Das gilt für die familiären Strukturen ebenso wie für die kollektiven Systeme sozialer Sicherheit, deren Funktionieren sich auf den alten arbeitsgesellschaftlichen Strukturen der durchschnittlichen männlichen Vollzeiterwerbsbiographien abstützt. Diese Strukturen geraten zunehmend in Konflikt mit einer Welt, deren Gesicht immer -1 0 2 -
weniger der Zeit entspricht, die diese Organisationen und Strukturen groß gemacht hat. Wenn sich aber Strukturen verändern, alte Bindungen, alte Loyalitäten und alte Mythen verblassen, ist es einigermaßen unwahrscheinlich, daß alle diese Institutionen und Organisationen der Industriegesellschaft das alles unverändert überdauern werden. Letztlich gründet die Sozialverfassung einer Gesellschaft nicht auf Geld und rechtlich abgesicherten Anspruchsniveaus. Beide Voraussetzungen können sich relativ leicht verändern. Ein halbwegs stabiles Fundament von Sozialgesellschaftlichkeit in der Welt des 21. Jahrhunderts kann deshalb nur darauf beruhen, daß möglichst viele Menschen an der 'Produktion sozialer Güter' (Evers, 1996) beteiligt sind und dabei möglichst viele der Betroffenen selbst zu Beteiligten gemacht werden. Der Staat garantiert Rahmenbedingungen und finanzielle Ressourcen. Er gewährt aber nicht mehr Leistungen gegenüber passiven Betreuungsklientelen. Es geht um den Brückenschlag zwischen den individualistischen Werten, die sich die Menschen in modernen Gesellschaften nicht mehr nehmen lassen werden, und den Werten sozialer Gemeinwohlorientierung und sozialer Gemeinschaftsbindung. Staat und Politik müssen sich vom Leitbild fürsorglicher Betreuung lösen. Ebenso müssen sie sich freilich von der Vorstellung lösen, sie hätten nur für den allgemeinen Rechtsrahmen und für die Verfahrensregeln im Umgang der Marktteilnehmer zu sorgen. Staat und Politik müssen bei der Erneuerung sozialer Gemeinwohlorientierung eine aktive Rolle spielen. Und sie müssen Kompetenzen und Sozialsysteme so umbauen, daß soziale Grundwerte da gestützt, gefördert und erneuert werden, wo dies am ehesten möglich ist: in kleinräumigen Netzen. Die Erneuerung sozialer Demokratie, die Begrenzung der Herrschaft ökonomischer Nutzenkalküle wird sich, wenn sie denn stattfindet, vor allem im sozialen Nahbereich abspielen. In der informationsgesellschaftlichen Moderne verschwinden vertraute Übersichtlichkeiten und Gewißheiten. Darin liegen gewiß dramatische Gefahren. Wir freilich mögen keinen Sinn -1 0 3 -
darin zu sehen, solche Entwicklungen nur zu betrauern. Politik und Gesellschaft müssen sich vielmehr darauf einstellen. Warnfried Dettling spricht davon, daß 'eine neue formative Periode für Staat und Gesellschaft' bevorstehe (Dettling, 1998). Wie der Sozialstaat die Antwort auf den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts war, müsse die Wohlfahrtsgesellschaft die Antwort auf Globalisierung und Individualisierung sein. Natürlich ist nicht gewiß, ob das Ganze einen guten Ausgang nehmen wird. Es besteht auch durchaus kein Anlaß, die Rolle des alten Sozialstaats als 'Gerechtigkeitsmaschinerie' zu verteufeln. Aber das öffentliche Lesen von Totenmessen, die Vorhersage des unvermeidlichen Niedergangs des Sozialen in der ökonomisierten Welt wird bei der Gestaltung der Zukunft niemandem weiterhelfen. Aus den strukturellen Umbrüchen am Ende der alten Industriegesellschaft folgt die Gefahr, nicht aber die Unvermeidlichkeit der Wiederkehr brutaler Klassenspaltungen. Wir wollen die Risiken des Umbruchs keineswegs geringschätzen. Aber eine Politik fürs 21. Jahrhundert muß darauf setzen, daß Sinn, Moral und Gerechtigkeit keine exterritorialen Größen der modernen Gesellschaft sind, die von dieser nur verzehrt, nicht aber neu hervorgebracht werden können.
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4. Ende der Arbeitsgesellschaft? 'Kein Politiker scheint zu begreifen, daß sich in den Vorstandsetagen, in den Fabrikhallen und in den Kaufhäusern der Welt eine heimliche Revolution abspielt. Die Unternehmen sind damit beschäftigt, ihre Organisationsstrukturen umzubauen, sich gänzlich zu erneuern, ihr Management und ihr Marketing so umzustrukturieren, daß sie zu den neuen Informations- und Telekommunikationstechnologien passen. Das Wirtschaftsleben wird radikal verändert, und es stellt sich die Frage, ob wir im nächsten Jahrhundert überhaupt noch arbeitende Menschen brauchen werden.' Jeremy Rifkins Thesen übertreiben. Tatsächlich aber sind wachsende Arbeitslosenzahlen und die Abnahme des Erwerbsarbeitsvolumens der sichtbarste und folgenreichste Ausdruck für die Umbrüche unserer Zeit. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit hat 1996 prognostiziert, daß in Deutschland in den kommenden Jahren neun bis zehn Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze fehlen werden - eine Zahl, die es vollkommen illusorisch erscheinen läßt, dieses Defizit allein durch ein wie auch immer verstandenes Wachstum der Produktion auf ein gesellschaftlich auch nur erträgliches Maß reduzieren zu können. Von dieser Entwicklung sind mehr oder weniger alle OECD-Länder betroffen - die Europäer mehr, Amerika und (noch) Japan weniger. Die USA zahlen für ihre relativ niedrigen Arbeitslosenzahlen den hohen Preis einer tieferen sozialen Spaltung der Gesellschaft und einer größeren Zahl von 'working poor', d.h. Beschäftigten, die mit ihrer Arbeitsleistung oft kein existenzsicherndes Einkommen erzielen können. Japans Zukunftsaussichten sind angesichts der ökonomischen Dauerkrise völlig ungewiß. Nach einer lang andauernden Phase hoher wirtschaftlicher Wachstumsraten und niedriger Arbeitslosenzahlen, die vom Beginn der fünfziger bis zur Mitte der siebziger Jahre reichte, sind die Arbeitslosenzahlen in den hochentwickelten Länden -1 0 5 -
der OECD-Welt seit 1975 stetig gewachsen. Allein durch den Verlauf der Konjunkturzyklen wurde dieser Trend zwischenzeitlich gemildert. Jeder Aufschwung sorgte zwar wieder für einen gewissen Rückgang der Arbeitslosenzahlen. Aber bei insgesamt abgeflachten wirtschaftlichen Wachstumsraten konnte die Arbeitslosigkeit auch in Aufschwungsphasen längst nicht mehr auf den Stand vor der Krise reduziert werden. So ist die Sockelarbeitslosigkeit inzwischen in allen hochentwickelten Ländern zu einer akuten Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts geworden. In Deutschland ist die Arbeitslosenrate von 0,7 Prozent aller abhängigen Erwerbstätigen in der alten Bundesrepublik 1965 über 4,7 Prozent 1975 bis auf 9,1 Prozent im Jahre 1982 angestiegen. Die lang anhaltende Konjunkturphase in den achtziger Jahren sorgte dann zwischenzeitlich für einen Rückgang; bis 1990 war der Anteil der Arbeitslosen an der abhängig tätigen Erwerbsbevölkerung auf 7,2 Prozent gesunken. Gleichzeitig hatte sich zwischen 1983 und 1990 die Zahl der Erwerbstätigen um gut zwei Millionen vermehrt. Nach dem Ende der Sonderbedingungen durch den vom Konsumnachholbedarf der Ostdeutschen veranlaßten Einheitsboom stieg die Arbeitslosigkeit im vereinten Deutschland 1994 auf 10,6 Prozent an, um nach einem leichten Rückgang 1995 inzwischen bis auf die Rekordmarke von über zwölf Prozent steil nach oben zu gehen. Die Entwicklung in der Europäischen Union und den Ländern der OECD hat einen ganz ähnlichen Verlauf genommen: Von einem höheren Ausgangswert ausgehend, der 1965 in der EU bei knapp über zwei Prozent lag (OECD-Durchschnitt: 2,5 Prozent), stieg die Arbeitslosigkeit in der Mitte der siebziger Jahre auf über fünf Prozent und nach 1980 sogar auf über zehn Prozent, um gegen Ende der achtziger Jahre auf unter neun Prozent zurückzugehen. In den neunziger Jahren ging die Arbeitslosigkeit dann wieder nach oben, um schließlich 1997 den Rekordstand von über zwölf Prozent zu erreichen. Der OECD-Durchschnitt lag bis zur Mitte der siebziger Jahre knapp über dem Europas. Das änderte sich beim Übergang zu den -1 0 6 -
achtziger Jahren: Während die Arbeitslosigkeit in Europa die Zehnprozentmarke überschritt, blieb sie OECD-weit deutlich darunter (8,5 Prozent). In den Jahren darauf folgte die OECDKurve dem Verlauf der europäischen Kurve. Freilich blieb die Arbeitslosigkeit kontinuierlich etwa drei Prozent unter dem EUMittelwert. Insgesamt ist der Kurvenverlauf in der Beschäftigungsstatistik sehr ähnlich. Signifikante Abweichungen zeigen sich für Deutschland lediglich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre und in den Jahren des Vereinigungsbooms. In dieser Zeitspanne lief die Entwicklung in Deutschland günstiger als im internationalen Rahmen. Die OECD-Kurve wiederum zeigt vor allem beim Übergang zu den achtziger und seit Mitte der neunziger Jahre einen etwas günstigeren Verlauf. Hierin spiegeln sich Besonderheiten der US-amerikanischen Entwicklung durch den Nachfrageboom der Rüstungsindustrie unter Reagan in den frühen achtziger Jahren und das sogenannte amerikanische 'Jobwunder' der neunziger Jahre (vgl. zum Kurvenverlauf Bayerisch-Sächsische Zukunftskommission. Bd.1, 1996). In Europa fallen nur Großbritannien und die Niederlande etwas aus dem Rahmen. In beiden Ländern war bereits in den achtziger Jahren der bisherige Höchststand der Arbeitslosigkeit erreicht worden. Der dort inzwischen eingetretene Rückgang verdankt sich jedoch allein einer anderen Verteilung des insgesamt ebenso wie bei uns rückläufigen Arbeitsvolumens. In den Niederlanden etwa sind auch Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sozialversicherungspflichtig und tauchen in den entsprechenden Statistiken auf, in Deutschland dagegen nicht. Schätzungen gehen davon aus, daß bei Einbeziehung der 620Mark-Jobs die Erwerbstätigenzahl hierzulande etwa um zwei Millionen über dem statistisch registrierten Niveau läge. Wir haben es also in der gesamten hochentwickelten Welt mit ähnlichen Trends zu tun. Während die Erwerbsneigung, also der Anteil der einen Erwerbsarbeitsplatz suchenden Bevölkerung, fast überall zunimmt (vor allem durch die höhere -1 0 7 -
Erwerbsneigung von Frauen), geht das Arbeitsvolumen der Gesellschaften eher zurück. Das Angebot an Erwerbsarbeitsplätzen kann mit der gewachsenen Erwerbsneigung der Bevölkerung nicht Schritt halten. Im Gegenteil: allein in den alten Bundesländern ist die Zahl der Erwerbstätigen von ihrem Höchststand von 29,5 Millionen im Jahre 1992 auf 28,1 Millionen 1996 zurückgegangen. Die Arbeitsplatzverluste betreffen vor allem die industrielle Erwerbsarbeit. In Deutschland sind in den neunziger Jahren in Landwirtschaft und produzierendem Gewerbe 3,5 Millionen regulärer Arbeitsplätze verlorengegangen. Dies hat zwar auch mit der Sondersituation nach der deutschen Einheit und dem Wegbrechen der ostdeutschen Industrie zu tun. Aber auch in den alten Ländern sind allein zwischen 1991 und 1996 im produzierenden Gewerbe etwa 1,5 Millionen Arbeitsplätze weggefallen. Das gleichzeitige Wachstum im Dienstleistungsgewerbe (Westdeutschland ca. eine Million, Gesamtdeutschland 1,5 Mio) konnte diesen Rückgang bei weitem nicht auffangen, zumal in der gleichen Zeitspanne die Zahl der im öffentlichen Dienst Beschäftigten gesamtdeutsch um 500000 und in den alten Bundesländern immerhin um 150000 abgenommen hat (vgl. Jahresgutachten, 1997). Fast fünf Millionen registrierte Arbeitslose in Deutschland im Frühjahr 1998, fast 36 Millionen in der gesamten OECD-Welt schon 1996, dazu 15 Millionen unfreiwillig in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen - die Zahlen demonstrieren eine Lage, die vor allem da dramatische Züge angenommen hat, wo sie die jungen Leute betrifft. In Frankreich und Italien lag die Jugendarbeitslosigkeit 1996 knapp unter bzw. sogar knapp über dreißig Prozent. In Großbritannien betrug sie fünfzehn Prozent und selbst im Lande des 'Jobwunders' USA immerhin noch zwölf Prozent. (Zählt man die in den Gefängnissen der Vereinigten Staaten einsitzenden jungen Männer zu den Erwerbslosen hinzu, dann gleicht sich die Rate der amerikanischen Jugendarbeitslosigkeit dem westeuropäischen Durchschnitt an.)
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Noch schärfer stellt sich das Problem, wenn man die globale Entwicklung in den Blick nimmt. Heute schon leben weltweit etwa 1,3 Milliarden Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Das anhaltende Bevölkerungswachstum wird in den nächsten dreißig Jahren für eine Verdoppelung des Arbeitskräftereservoirs in den Entwicklungsund Schwellenländern sorgen. Allein bis 2010 wird die Zahl der erwerbsfähigen Männer und Frauen um etwa 700 Millionen anwachsen. Dabei ist in vielen ehemaligen Entwicklungsländern mit einem stetigen Wachstum der Zahl gut ausgebildeter Arbeitskräfte zu rechnen, die künftig in stärkerem Maße als Konkurrenten um die Arbeitsplätze auf den Weltmärkten bereitstehen. Paul Kennedy geht davon aus, daß in den kommenden Jahrzehnten etwa hundert Millionen Arbeitskräfte aus ehemaligen Entwicklungsländern mit hohem Ausbildungs- und Qualifikationsstand auf die weltweiten Arbeitsmärkte drängen werden (Kennedy, 1996). Bei wachsender Mobilität von Kapital und Arbeit müssen sich daraus zusätzliche Verdrängungsprozesse ergeben. Auch die Krise der asiatischen Wachstumswirtschaften wird daran nichts Grundlegendes ändern. Schon die Erfahrung der vergangenen beiden Jahrzehnte muß also die Frage aufwerfen, ob auf dem klassischen Wachstumspfad über die Zunahme privatwirtschaftlich organisierter Erwerbsarbeit eine durchgreifende Verbesserung der Beschäftigungssituation jenseits begrenzter Effekte durch konjunkturelle Entwicklungen überhaupt noch zu erreichen sein wird. In den entwickelten Ländern wird durch technologischen Fortschritt und immer neue Produktivitätsschübe ein wachsendes Sozialprodukt mit sinkendem Arbeitseinsatz erstellt. Die Westdeutschen haben 1996 ungefähr dreimal soviel Güter und Dienstleistungen produziert wie 1960 - bei einem insgesamt um zwanzig Prozent niedrigeren Arbeitsvolumen und einer um 28 Prozent kürzeren Arbeitszeit pro Erwerbstätigen. Die Globalisierung verschärft hier noch den Rationalisierungsdruck. In den letzten Jahren sind gerade in den industriellen Sektoren, die der weltwirtschaftlichen -1 0 9 -
Konkurrenz besonders ausgesetzt sind, besonders viele Arbeitsplätze verlorengegangen. Das Ausmaß der Produktivitätssteigerung in Deutschland läßt sich auch an der Kapitalausstattung pro Arbeitsplatz ablesen. In Westdeutschland hat sich diese Ausstattung zwischen 1970 und 1994 von rund 100000 auf 200000 Mark ungefähr verdoppelt. Zugleich ging die durchschnittliche Jahresarbeitszeit um ein Fünftel zurück (von 1949 auf 1553 Stunden). In den USA erhöhte sich im gleichen Zeitraum die Kapitalausstattung von 100000 auf 'nur' 160000 Mark, während umgekehrt die Arbeitszeit sogar leicht zunahm. Während in den USA die Kapitalausstattung pro geleistete Arbeitsstunde von 52,40 auf 83,00 DM anstieg, kletterte sie in Deutschland von 55,30 DM auf 125,90 DM (Zahlenvergleiche jeweils zum Geldwert von 1990, vgl. Bayerisch-Sächsische Zukunftskommission, Bd.II, 1996). Kapital und Wissen treten als Produktionsfaktoren im Produktionsprozeß immer mehr an die Stelle von Arbeit. Diese kann in immer größeren Bereichen der Volkswirtschaft mit Kapital nicht mehr erfolgreich konkurrieren. Während sich die Ausweitung hochproduktiver, aber wenig arbeitsintensiver Sektoren stark beschleunigt, nimmt zugleich das Angebot an niedrigproduktiven Arbeitsplätzen mit relativ geringen Qualifikationsanforderungen besonders stark ab. Nicht oder wenig qualifizierte Arbeitskräfte und gesundheitlich beeinträchtigte Menschen sind unter den Arbeitslosen dementsprechend weit überproportional vertreten. Generell sind die einzelnen Gruppen der Erwerbsbevölkerung von Arbeitslosigkeit in sehr unterschiedlichem Ausmaß betroffen. So sind Menschen ohne abgeschlossene Schul- oder Berufsausbildung in Deutschland fünfmal so oft arbeitslos wie z.B. Fachhochschulabsolventen. Die Wirkungen der Veränderungen im Beschäftigungssystem reichen dabei weit in die Gruppe der noch Beschäftigten hinein. Das gilt besonders für die abhängig Beschäftigten. Ehemals dauerhafte Vollzeitbeschäftigungen (Normarbeitsverhältnisse) werden in wachsendem Maße durch Teilzeit, geringfügige -1 1 0 -
Beschäftigung und andere Nicht-Normarbeitsverhältnisse wie zum Beispiel die sogenannte Scheinselbständigkeit ersetzt. In Deutschland gibt es heute mindestens vier bis fünf Millionen sozialversicherungsbefreite 620-Mark-Jobs, die in keiner Statistik über die Entwicklung von Arbeitslosigkeit auftauchen (vgl. Jahresgutachten des Sachverständigenrates, 1997). Oskar Lafontaine schätzt, daß diese geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse etwa zwei Millionen regulärer Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse ersetzen (Lafontaine/Müller, a.a.O.). 'Derzeit befindet sich bereits ein Drittel der abhängig Beschäftigten in Deutschland in ... NichtNormarbeitsverhältnissen mit weiter steigender Tendenz' (Bayerisch-Sächsische Zukunftskommission, Bd.1, 1996). Diese Umwälzung der Beschäftigungsverhältnisse hat eine enorme soziale Sprengkraft. Die Ersetzung der alten Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse durch NichtNormarbeitsverhältnisse führt zu einer immer erratischeren Verteilung von Erwerbseinkommen, was sich damit auch auf die aus diesen Einkommen abgeleiteten Rentenansprüche auswirkt. Während die dauerhaft Vollzeitbeschäftigten trotz zurückhaltender Tarifpolitik der Gewerkschaften weiterhin von wirtschaftlichem Wachstum in gewissem Umfang profitieren, konnte bereits 1996 ein Viertel der abhängig Beschäftigten nur noch geringe Arbeitseinkommen erzielen und damit niedrige Rentenansprüche erwerben. Mit solchen Veränderungen der Beschäftigungsverhältnisse verschärfen sich die Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherungssysteme. So wird es immer schwieriger, mit den geringen Sozialversicherungsbeiträgen, die in NichtNormarbeitsverhältnissen aufgebracht werden, die Rentenansprüche früherer Vollzeitbeschäftigter zu finanzieren. Wir haben es also nicht nur mit dem Problem wachsender Arbeitslosigkeit zu tun. Das sich verringernde Volumen der Erwerbsarbeit führt auch zu wachsender sozialer Spaltung innerhalb der Gruppe der abhängig Beschäftigten und
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verschärft die Krise der auf Beitragszahlungen aufgebauten Sozialsysteme. Arbeitslosigkeit ist die wichtigste Ursache für eine Vielzahl von sozialen Problemen, mit denen sich diese Gesellschaft herumzuschlagen hat. Wer daran etwas ändern will, wird zunächst einmal genauer nach den Ursachen der Arbeitslosigkeit fragen müssen. Zur Analyse dieser Ursachen werden sehr unterschiedliche Erklärungsmuster herangezogen, aus denen oft auch ebenso unterschiedliche Therapievorschläge abgeleitet werden. Im einzelnen lassen sich sechs verschiedene Erklärungsmuster unterscheiden: 1. Der Mangel an Arbeitsplätzen ist eine Folge von Wachstumsschwächen und nichtoptimierter Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten. Die Wachstumsschwächen wiederum sind Ergebnis schlechter Angebotsbedingungen, die über die Kostenseite negativ zu Buche schlagen. Die Beseitigung von Wachstumsschwächen würde auch das Beschäftigungsniveau entscheidend verbessern. 2. Arbeitslosigkeit ist eine Folge der Globalisierung, die eine Verlagerung von Arbeitsplätzen in andere Regionen der Erde zur Folge hat, wo kostengünstiger produziert werden kann. 3. Arbeitslosigkeit ist eine Folge von Wachstumsschwächen, die sich aus einer zu geringen Binnennachfrage ergeben. Sinkende Realeinkommen der breiten Masse und wachsende soziale Spaltung in der Gesellschaft hätten zu einem gesamtwirtschaftlich äußerst schädlichen Ausfall an zahlungsfähiger Nachfrage auf den Binnenmärkten geführt. 4. Der Mangel an Arbeitsplätzen hat entscheidend zu tun mit zu hohen Arbeitskosten im niedrigproduktiven Bereich. Kulturelle Traditionen der deutschen Arbeitsgesellschaft und allzu weitreichende materielle Angebote der Sozialsysteme führen dazu, daß große zusätzliche Beschäftigungspotentiale im Dienstleistungssektor nicht genutzt werden können und eine stationäre Gesellschaft nicht bereit ist, die Chancen neuer Selbständigkeit zu nutzen. -1 1 2 -
5. Arbeitslosigkeit ist eine Folge von Innovationsblockaden in Deutschland. Diese wird durch Versäumnisse in Wirtschaft und Politik verursacht. 6. Arbeitslosigkeit ist vornehmlich eine Konsequenz säkularer Veränderungen, die das Ende der alten Arbeitsgesellschaft anzeigen. Die Industriegesellschaft macht einer Informationsund Dienstleistungsgesellschaft Platz, in der der private Arbeitsmarkt Zustände von annähernder Vollbeschäftigung gar nicht mehr schaffen kann. Die Vorstellung, die Abnahme der Beschäftigung im produzierenden Gewerbe sei durch beschleunigtes Wachstum im privatwirtschaftlich organisierten Dienstleistungssektor zu kompensieren, muß illusionär bleiben. Ohne eine grundlegende Veränderung der Arbeitsorganisation der Gesellschaft und ohne den Einsatz staatlicher Instrumentarien sind durchgreifende Verbesserungen nicht mehr zu erwarten. Das erste Argument wird von der Bundesregierung und den sie tragenden politischen Kräften seit vielen Jahren vertreten und hat die Politik hierzulande maßgeblich geprägt. Schon ihre beschäftigungspolitisch dürftigen Resultate müssen deshalb trotz gewisser Verbesserungen in allerjüngster Zeit - Zweifel aufkommen lassen, ob eine solche Ursachenanalyse wirklich entscheidend weiterführen kann. Sicher sind die Wachstumschancen der deutschen Wirtschaft aufgrund unseres hohen Exportanteils in besonderer Weise von der Verschärfung der internationalen Wettbewerbssituation beeinflußt. Aber soweit von dieser Seite über ungünstige Angebotsbedingungen tatsächlich negative Wirkungen auf das Arbeitsplatzangebot ausgegangen sind, wurde daraus in den vergangenen Jahren bereits eine Reihe von Konsequenzen gezogen. Es hat Steuererleichterungen für die Unternehmen gegeben, vor allem aber hat die Debatte um den Standort Deutschland längst zu innerbetrieblichen Kostensenkungs- und Effektivierungsstrategien geführt. Die Gewerkschaften haben Lohnzurückhaltung geübt, Betriebsräte vielfach sogar Reallohneinbußen und dem Abbau übertariflicher Leistungen zugestimmt. Genehmigungsverfahren sind vereinfacht, eine -1 1 3 -
Reihe von Sozialkürzungen längst umgesetzt worden. Die Exportbilanzen vieler Unternehmen in Deutschland zeigen an, daß die deutsche Wirtschaft ihre Position auf vielen Märkten wieder verbessern konnte. Man mag einwenden, daß Strategien zur Verbesserung der Angebotsbedingungen nicht an den richtigen Stellen angesetzt haben. Tatsächlich sind die Lohnnebenkosten zu hoch, und eine große Steuerreform hat bisher nicht stattgefunden. Wir wollen diese Probleme in ihrer Bedeutung für das Arbeitsplatzangebot keinesfalls geringschätzen: Eine Steuerreform, die durch Verringerung der Nominalsteuersätze und Beschränkung von Steuervermeidungstatbeständen die realwirtschaftliche Investitionsneigung fördert, ist ebenso dringend notwendig wie die Absenkung der Lohnnebenkosten, für die durch eine stärkere Besteuerung von Energie- und Ressourcenverbrauch der entsprechende Spielraum geschaffen werden müßte. Besonders hoch sind die Lohnnebenkosten bei uns vor allem im Vergleich zu den USA und Großbritannien. Gemessen am EU-Durchschnitt ist das Problem allerdings weniger dramatisch; in Frankreich und Italien lag der Anteil der Lohnzusatzkosten an den realen Arbeitsentgelten 1995 sogar höher als in Deutschland. Hinzu kommt das Wachstum der Schattenwirtschaft. Es wird geschätzt, daß bis zu fünfzehn Prozent der Bruttowertschöpfung heute in der Schwarzarbeit geleistet wird. Gewiß könnte durch solche Reformen die deutsche Wettbewerbssituation gerade auf den Märkten verbessert werden, auf denen unsere europäischen Partner zugleich unsere Konkurrenten sind. Eine ökosoziale Variante der Steuerreform, die Energie verteuert und Arbeit verbilligt, könnte zugleich auch neue Beschäftigungschancen erschließen, zum Beispiel in der Umwelttechnik und den Energiesparbranchen. Natürlich wäre es richtig, durch eine Entlastung bei den Lohnnebenkosten die Bedingungen für reguläre Beschäftigungsverhältnisse auf den Binnenmärkten von Handwerk und Mittelstand zu verbessern und den Trend zur Schattenwirtschaft einzudämmen. Gleichwohl halten wir es für -1 1 4 -
wenig wahrscheinlich, daß dies alles ausreichen würde, um ein Erwerbsarbeitsvolumen in einer Größenordnung zu schaffen, die notwendig wäre, um das Ziel der Vollbeschäftigung auch nur annähernd zu erreichen. Was langfristig geschieht, hängt von vielen Faktoren ab, die nur schwer vorausbestimmbar sind. Daß allein durch Kostensenkungsstrategien und eine weitere Verbesserung der Angebotsbedingungen jene enormen wirtschaftlichen Wachstumsraten erreicht werden könnten wenn sie denn aus ökologischen Gründen überhaupt wünschenswert sind -, die angesichts des Produktivitätsfortschritts unerläßlich wären, um die Beschäftigungssituation wirklich grundlegend zu verändern, halten wir für wenig wahrscheinlich, zumal auch unsere Konkurrenten die gleiche Strategie verfolgen werden. 'Eine nur auf den internationalen Vergleich der Lohnstückkosten, auf die Wechselkurse ... oder die Lohnnebenkosten ... gerichtete Politik führt nämlich am Ende vermutlich nur zu einer marginalen Verbesserung der Beschäftigungslage. Dann könnten wir die Enttäuschung erleben, daß trotz kontinuierlicher relativer Absenkung der Lohnkosten eine spürbare Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt ausbleibt, sich aber die soziale Spannung erheblich verschärft' (von Dohnanyi, 1997). Hinzu kommt, daß die Arbeitsplatzgewinne in den Dienstleistungsbranchen mit den Arbeitsplatzverlusten in der Industrie nicht nur nicht Schritt halten können, sondern durch Rationalisierungs- und Effektivierungsstrategien auch im Dienstleistungssektor demnächst erhebliche Arbeitsplatzeinbußen zu erwarten sind. Die Hoffnung auf den Dienstleistungssektor als Beschäftigungsmotor der Zukunft kann trügerisch sein, wie eine Studie des IWF feststellt: 'Der Dienstleistungssektor wird sich möglicherweise als unfähig erweisen, die frei werdenden Arbeitskräfte auf kurze Sicht vollständig zu absorbieren' (IWF, World Economic Outlook, 1996). Strategien, die auf Beschäftigungseffekte durch Verbesserung der Angebotsbedingungen setzen, sind notwendig, soweit sie an den richtigen Stellen ansetzen. Auch die Effektivierung von -1 1 5 -
staatlichen Genehmigungsverfahren und die Entrümpelung der überbordenden Regeln und Vorschriften gehören in diesen Zusammenhang. Allein darauf aber werden wir nicht setzen können. Globalisierung verschärft die Verdrängung von Arbeit vor allem deshalb, weil sie zur Verlagerung von wenig produktiver Arbeit in andere Regionen der Welt beiträgt. Damit dramatisiert sie ein in Deutschland ohnehin vorhandenes Problem. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) geht davon aus, daß sich die Zahl der Arbeitsplätze für ungelernte Arbeitnehmer in Deutschland von heute zwanzig Prozent bis zum Jahre 2010 auf zehn Prozent halbieren wird. Dabei hat sich die Zahl der Arbeitsplätze für Arbeitskräfte ohne abgeschlossene Berufsausbildung in den vergangenen zwanzig Jahren ohnehin bereits um ein gutes Drittel reduziert. Entsprechend sind die Folgen: Die Arbeitslosenquote im Bereich der ungelernten und angelernten Arbeitskräfte lag 1994 mit 19,9 Prozent fast dreimal so hoch wie bei Personen mit abgeschlossener Lehre (6,8 Prozent) und mehr als viermal so hoch wie bei Absolventen von Fachhochschulen (4,6 Prozent) (vgl. Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1998). Ähnliche Entwicklungen beobachten wir auch in anderen Ländern. In Frankreich lag die Arbeitslosenquote zu Beginn der siebziger Jahre bei den qualifizierten Arbeitnehmern bei 2,5 Prozent, bei den un- und angelernten bei 3,5 Prozent. Zu Beginn der neunziger Jahre aber hatte sich die Schere weit geöffnet: fünf Prozent der qualifizierten, aber zwanzig Prozent der wenig qualifizierten Arbeitnehmer waren arbeitslos. 'Abgesehen von den unvermeidlichen Auswirkungen des verlangsamten Wirtschaftswachstums ist die Beschäftigungskrise zunächst einmal als Ausdruck der nachlassenden Nachfrage nach unqualifizierter Arbeit zu fassen' (Cohen, 1998, S.130). Globalisierung führt zu zusätzlichem Rationalisierungsdruck und verschärft Freisetzungseffekte durch Rationalisierung. Globalisierung begrenzt die Spielräume zur Umverteilung des Arbeitsvolumens durch Arbeitszeitverkürzung. Die deregulierten internationalen Finanzmärkte begünstigen durch hohe -1 1 6 -
Renditeerwartungen Finanzanlagen gegenüber realwirtschaftlichen Investitionen. Das wirkt sich zweifellos auch zuungunsten arbeitsplatzschaffender Investitionen aus. Aber die Globalisierung schafft umgekehrt auch zusätzliche Nachfrage nach hochwertigen Gütern und damit neue Chancen für die Exportwirtschaft. Nun mag die deutsche Exportwirtschaft diese Chancen bislang nicht immer genutzt haben. Aber in der Summe hat sich die Globalisierung entgegen einem verbreiteten Vorurteil auf den hiesigen Arbeitsmarkt eher vorteilhaft als nachteilig ausgewirkt. Selbst die Außenhandelsbilanz mit den Schwellenländern ist bisher - mit Ausnahme Chinas - positiv gewesen. Das wird nicht immer so bleiben, weil die asiatischen und andere Schwellenländer in Zukunft immer mehr hochwertige Güter selber herstellen können, die sie heute noch in Deutschland und anderswo kaufen. Globalisierung verschärft auch die 'Produktivitätsfalle', in der wir hierzulande sitzen. Der Aufholprozeß der Schwellenländer und das vermehrte Angebot qualifizierter Arbeitskräfte in der Weltwirtschaft der Zukunft wird im 21. Jahrhundert gewiß zusätzlichen Konkurrenzdruck schaffen. Aber die eigentliche Ursache für den steigenden Mangel an Arbeitsplätzen in Deutschland ist die Globalisierung jenseits der verschärften Verdrängungseffekte bei einfachen Tätigkeiten bislang nicht. Eher schon spielt die verschärfte Kostenkonkurrenz innerhalb der Triade USA-Europa-Japan eine Rolle Das dritte Argument von der Arbeitslosigkeit als Folge zu geringer Massenkaufkraft führt uns in die Geschichte der Wirtschaftstheorien. Im 19. Jahrhundert gingen die Ökonomen davon aus, daß neue Technologien Produktivität steigern und Arbeit ersetzen würden, aber dadurch zugleich Märkte und Kaufkraft wachsen könnten. Aufgrund höherer Produktivität sinken die Preise, was zu einer höheren Nachfrage führt. Das wiederum führt zur Vergrößerung des Produktionsvolumens und damit zu einer steigenden Nachfrage nach Arbeit. So löst sich das Problem von Arbeitsplatzverlusten durch Produktivitätsfortschritte gewissermaßen von selbst, schafft sich -1 1 7 -
das Angebot seine eigene Nachfrage. So jedenfalls besagt es das 'Saysche Theorem' des französischen Ökonomen JeanBaptiste Say aus dem frühen 19. Jahrhundert (vgl. Giarini/Liedtke, 1998). Unter dem Eindruck von Deflation und Arbeitsplatzverlusten durch fehlende zahlungsfähige Nachfrage in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ergab sich freilich ein Problem, auf das das herrschende ökonomische Denken keine Antwort wußte. So entstand eine neue ökonomische Schule, die nach der Rolle von Nachfrage und Konsum im Wirtschaftsprozeß fragte und schließlich eine ökonomische Gleichgewichtstheorie entwickelte, der zufolge die Schaffung einer ausreichenden Nachfrage Voraussetzung eines stetigen Kreislaufs von Wohlstand, Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung ist. Erreicht werden sollte dies durch eine künstliche Stimulierung der Nachfrage. Hierfür sollte dann die Politik zuständig sein. Wenn die Dynamik des Wirtschaftskreislaufs durch das Fehlen ausreichender Nachfrage gehemmt würde, sollte der Staat durch Zinspolitik und kreditfinanzierte Nachfrage (öffentliche Investitionen) diese Dynamik wieder entfachen und damit auch für neue Arbeitsplätze sorgen. All dies wird im allgemeinen mit dem Namen John Maynard Keynes verbunden. Zwar hatte Keynes 1930 auch von 'technologischer Arbeitslosigkeit' gesprochen und die Sorge formuliert, daß 'unsere Entdeckung von Mitteln zur Ersparung von Arbeit schneller voranschreitet als unsere Fähigkeit, neue Verwendung für die Arbeit zu finden' (zit. nach Rifkin, a.a.O.). Dennoch ist in diesem theoretischen System die Freisetzung von Arbeitskraft durch immer neue Produktivitätssteigerungen letztlich kein Problem, weil sie durch neue Nachfrageschübe und Konsumsteigerung aufgefangen werden kann. Danach wäre Arbeitslosigkeit im Kern ein Problem der effektiven Nachfrage auf den Gütermärkten. Tatsächlich ist es den entwickelten Gesellschaften des Westens mit Hilfe der Instrumente nachfrageorientierter ökonomischer Theoriebildung bis in die siebziger Jahre hinein -1 1 8 -
gelungen, die Mechanismen eines dynamischen ökonomischen Gleichgewichts einigermaßen funktionsfähig zu halten. Wenn durch technische Revolutionen in einem Wirtschaftssektor Arbeitsplätze verlorengingen, entstand stets ein neuer Sektor, der die freigesetzten Arbeitskräfte aufnahm. So schien der säkulare Trend zur Abnahme des produzierenden Gewerbes ebenso beherrschbar wie der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft: Wie die vielen durch die Mechanisierung der Landwirtschaft arbeitslos gewordenen Menschen in der Industrie Beschäftigung gefunden hatten, so sollte der wachsende Dienstleistungssektor jene Arbeitskräfte aufnehmen, die als Folge wachsender Automation ihre Arbeitsplätze im industriellen Sektor verloren hatten. Auffällig ist allerdings, daß die Stabilitäts- und Vollbeschäftigungsperiode des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer markanten Ausweitung der Staatstätigkeit einherging. Das gilt insbesondere für die sechziger und frühen siebziger Jahre. Allein in Westdeutschland ist der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 33 Prozent 1960 bis auf knapp unter fünfzig Prozent in den Jahren 1975/76 sowie 1981/82 angestiegen. Heute liegt die Staatsquote im vereinigten Deutschland bei etwa 48,5 Prozent. Ähnlich verhielt es sich in den anderen entwickelten Industrieländern; überall waren die Jahre des 'golden age of capitalism' eine Periode der enormen Ausweitung der Staatstätigkeit, wie sich besonders gut am wachsenden Anteil der Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt und der Staatsbediensteten an der Gesamtzahl der Beschäftigten ablesen läßt. So ist in Deutschland der Anteil der Sozialausgaben zwischen 1960 und 1975 von 22,7 auf 33,7 Prozent angewachsen (Berger, in: Grimm, 1996). Die Zahl der Beschäftigten des öffentlichen Diensts in den alten Bundesländern hat ich zwischen 1960 und dem bisherigen Höchststand 1992 mehr als verdoppelt: Während der Staat 1960 noch mit 2,1 Millionen Beschäftigten auskam, waren 1992 auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik mehr als 4,3 Millionen (gesamtdeutsch 5,8 Millionen) für ihn tätig. Von den 26 Millionen Erwerbstätigen in der alten Bundesrepublik waren 1960 acht Prozent im öffentlichen Dienst beschäftigt, von den -1 1 9 -
27 Millionen im Jahre 1973 waren es bereits 12,5 Prozent. Und von den 28 Millionen Erwerbstätigen in den Ländern der alten Bundesrepublik waren es 1996 immerhin fast fünfzehn Prozent. Selbst in den Jahren der Prosperität, die zwischen 1960 und 1973 nur durch ein kurzes Zwischentief 1966/67 unterbrochen wurden, war es neben dem Beschäftigungsanstieg in Dienstleistungsunternehmen im wesentlichen die Ausweitung der Staatstätigkeit, die für eine anwachsende Erwerbstätigkeit gesorgt hat. Während der öffentliche Dienst in dieser Zeit von 2,1 auf 3,4 Millionen Beschäftigte erweitert wurde, stieg die Gesamtzahl der Beschäftigten nur um eine Million. Trotz überdurchschnittlicher Wachstumsraten ( im Jahresdurchschnitt zwischen 1960 und 1973 etwa 4,5 Prozent) hätte das Wachstum der privaten Dienstleistungswirtschaft allein den Beschäftigungsrückgang durch den Strukturwandel nicht wettmachen können (vgl. Jahresgutachten 1997/98). Es war praktisch allein der staatliche Sektor, der per Saldo für zusätzliche Beschäftigung sorgte. Solche Möglichkeiten zur Ausweitung von Beschäftigung werden aus vielen Gründen heute und in absehbarer Zukunft nicht mehr gegeben sein. Natürlich kann eine allzu zurückhaltende Lohnpolitik dazu führen, ein annäherndes Gleichgewicht zwischen Angebot und zahlungsfähiger Nachfrage zu verhindern. Angesichts der Tatsache, daß immerhin drei Viertel der Produktion in Deutschland für Binnenmärkte bestimmt sind, erscheint deshalb die Forderung nach einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik als Mittel zur Verbesserung der Beschäftigungslage gewiß nicht abwegig. Jedenfalls soweit sie die inländischen Produzenten nicht dadurch unzuträglich beeinträchtigt, daß das Angebot kostengünstigerer Anbieter von außen, die auf die Binnenmärkte drängen, allzusehr begünstigt wird (was unter den Bedingungen einer Wirtschafts- und Währungsunion eine Internationalisierung der Lohnpolitik in Europa zwingend erforderlich macht). Dennoch sollte die Reichweite dieser Erklärungsansätze nicht überschätzt werden. Schon die überaus bescheidenen beschäftigungspolitischen Erfolge nachfrageorientierter Globalsteuerung beim Übergang zu den -1 2 0 -
achtziger Jahren zeigten nicht nur in Deutschland an, daß sich die Bedingungen für eine erfolgreiche Konjunktursteuerung im Laufe der siebziger Jahre nachhaltig verändert hatten. Das markanteste Beispiel für deren Scheitern lieferte die französische Volksfrontregierung in den Jahren 1981 bis 1983. Aus vielen Gründen liegen heute die Bedingungen dafür erst recht nicht vor: Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte wird heute überall als Folge einer verkürzten Umsetzung keynesianischer Beschäftigungsförderung früherer Jahrzehnte gedeutet. Die Ausweitung der öffentlichen Verschuldung als Mittel antizyklischer Konjunkturpolitik wurde nicht ausreichend mit Ausgabenreduzierung in Phasen günstiger Konjunkturentwicklung kompensiert. Zudem sind mit der Verpflichtung auf die Stabilitätskriterien der Europäischen Währungsunion die Spielräume für eine antizyklische Fiskalpolitik, die zur Vermittlung von Nachfrageimpulsen Haushaltsdefizite in Kauf nähme, überaus eng geworden. Dazu kommt der faktische Verlust der Zinssouveränität der Nationalstaaten als Folge der Globalisierung der Finanzmärkte. Selbst wenn es zutreffen sollte, daß, wie das IFO-Institut schätzt, die heutige Arbeitslosigkeit in Deutschland zu vierzig Prozent konjunkturell bedingt ist, stünden Instrumente für eine gegensteuernde Nachfragepolitik nur noch sehr begrenzt zur Verfügung. Onno Giarini und Patrick M.Liedtke haben unlängst die Auffassung vertreten, daß in der heutigen Dienstleistungsökonomie das herkömmliche Konzept der Trennung von primärem (Landwirtschaft), sekundärem (Industrie) und tertiärem Sektor(Dienstleistungen) überholt sei, da achtzig Prozent der Produktionskosten von Gütern auf Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich entfielen. Zugleich werfen die Autoren die Frage auf, ob ökonomische Gleichgewichtstheorien, die vom Wert oder vom Grenznutzen eines Produkts ausgehen, unter den Bedingungen einer Dienstleistungsökonomie nicht entscheidend an Aussagekraft verlieren (Giarini/Liedtke, 1998). Tatsächlich sind Ungewißheit und Risikomanagement die wichtigsten Kennzeichen der -1 2 1 -
globalisierten Dienstleistungsgesellschaft mit ihrem Trend zur 'virtuellen Ökonomie'. Wenn das so ist, können weder angebots- noch nachfrageorientierte Konzepte allein die entscheidende Richtschnur für den Weg aus der Krise des Beschäftigungssystems weisen. Man kann den Zweifel, ob durch konsequentere Umsetzung oder bloße Umkehrung der derzeit herrschenden Angebotsorientierung der entscheidende Hebel zur Verbesserung der Beschäftigungssituation gefunden werden kann, auch weniger theoretisch ausdrücken. Denn gar zu offensichtlich stoßen die klassischen ökonomischen Theorien an die Grenzen der Realitäten der dritten industriellen Revolution. Natürlich lassen sich zusätzliche Nachfrageeffekte nach High-Tech-Produkten und Dienstleistungen anstoßen. Freilich werden zu ihrer Herstellung, Ausführung und Anwendung überall weniger Menschen benötigt, als durch den Ersatz herkömmlicher Produktionen verdrängt werden. Im letzten Jahrzehnt sind in den USA 100000 Arbeitsplätze in der Biotechnikindustrie geschaffen worden. Umgekehrt sind aber allein 1993 200000 Arbeitsplätze in anderen industriellen Sektoren weggefallen. Zugleich zeigt sich, daß Hochtechnologiebranchen keineswegs die höchste Wertschöpfung pro Beschäftigten erzielen (vgl. Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1998, Tabelle 14). Die landläufige Auffassung, je höher die Technologie, desto höher der Beitrag zur Wertschöpfung eines Landes, ist unzutreffend, wie schon Krugmann nachgewiesen hat (Krugmann, 1994). Der Beschäftigungsimpuls, den die zusätzliche Nachfrage nach High-Tech-Produkten auslösen kann, wird demnach nur bescheiden ausfallen. Der Anteil des Dienstleistungssektors ist in den vergangenen dreißig Jahren enorm gestiegen. In (West-) Deutschland hat sich die Zahl der in Dienstleistungsunternehmen Beschäftigten zwischen 1960 und 1995 fast verdreifacht. Aber es mehren sich auch inzwischen fast überall in der entwickelten Welt die Anzeichen für eine Rationalisierungsoffensive in vielen Bereichen des Dienstleistungssektors. In den USA geht man -1 2 2 -
davon aus, daß mehr als ein Fünftel der Arbeitsplätze bei Banken und Versicherungen in den nächsten Jahren wegfallen werden: 'Der riesige Dienstleistungsbereich steht zu großen Teilen ... vor einer ähnlich dramatischen Umwälzung, wie ihn die Bereiche der Landwirtschaft und der Industrie bereits hinter sich haben. Dort fällt die Zahl der Beschäftigten seit Jahren, während die Produktion stetig zunimmt ... Die Dienstleistungsunternehmen können dank der schnelleren technologischen Entwicklung wesentlich mehr Leute entlassen als sie zur Einführung der neuen Techniken oder zur Abwicklung der anwachsenden Aufträge brauchen' (Wall Street Journal, zit. nach Rifkin, a.a.O.). Tatsächlich liegen die großen Rationalisierungswellen im Bereich der technischen Dienstleistungen auch hierzulande noch vor uns. Dem wird zwar eine steigende Nachfrage nach Wissens - und Informationsberufen gegenüberstehen. Aber die Zahl der dort entstehenden neuen Stellen wird den Verlust bei Dienstleistungen kaum wettmachen können. Arbeitslosigkeit ist gerade in Deutschland in besonderem Maße ein Problem nicht mehr ausreichend nachgefragter, niedrig qualifizierter Arbeit, die durch den Wegfall ungelernter Tätigkeiten im modernen industriellen Produktionsprozeß verursacht wird. Die Globalisierung und die Verschärfung der internationalen Wettbewerbssituation spielen hier eine besondere Rolle. 'Es ist damit zu rechnen, daß in den Wirtschaftszweigen, die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, die Beschäftigungschancen für Arbeitnehmer mit geringer beruflicher Qualifikation weiter abnehmen werden' (Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1998). 'Die Beschäftigungskrise ist in Wirklichkeit nur eine Krise der unqualifizierten Arbeit', schreibt Daniel Cohen mit Blick auf Frankreich. Fritz Scharpf glaubt, daß dieses Problem in Deutschland auch deshalb besonders virulent wird, weil hier gerade die Niedriglöhne im Unterschied zu anderen Ländern noch in den achtziger Jahren überproportional angehoben wurden (Scharpf,1996). Allerdings muß hier gleichzeitig berücksichtigt -1 2 3 -
werden, daß der Markt auf dem Wege der 620-DM-Jobs gewissermaßen im Selbstlauf längst Antworten gegeben hat, die freilich sozial vielfach nicht akzeptabel sind. Die bestehende Problematik verschärft sich durch die bei uns im internationalen Vergleich außergewöhnlich niedrigen Beschäftigungsquoten im Bereich der binnenmarktbezogenen, personennahen Dienstleistungen. Wenn das Angebot regulärer Arbeitsplätze immer weniger ausreicht, um allen Arbeitswilligen eine Chance zu bieten, sich zugleich die Schattenwirtschaft immer weiter ausbreitet, dann kann sich auch Sozialpolitik nicht darauf beschränken, den von der Teilnahme an der Erwerbsarbeit Ausgeschlossenen ein arbeitsloses Einkommen oberhalb des Existenzminimums zu verschaffen. Statt dessen muß es darum gehen, das Angebot von Arbeitsplätzen, auf denen gesellschaftlich anerkannte und nützliche Tätigkeit geleistet wird, dauerhaft zu erhöhen. Deshalb sind auch wirksame Anreize zur Ausweitung der personennahen Dienstleistungen notwendig. Solche Dienstleistungen bieten eine Vielzahl von Beschäftigungsmöglichkeiten, die aus unterschiedlichen Gründen heute weder ausreichend nachgefragt noch ausreichend angeboten werden. Auch dies werden jedoch nur Teilantworten auf die politische Herausforderung sein, die mit der Arbeitslosigkeit verbunden ist. Es wäre falsch, daß Problem der Arbeitslosigkeit in Deutschland auf ein Problem zu hoher Arbeitskosten zu reduzieren. Umgekehrt aber dürfen wir auch nicht die Augen davor verschließen, daß es ein besonderes Problem der mangelnden Nachfrage nach einfachen Tätigkeiten ganz real gibt. Daß die Probleme der Wirtschaftsentwicklung und auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland auch mit Innovationsschwächen zu tun haben, läßt sich angesichts der Position der deutschen Wirtschaft in neuen, wachstumsträchtigen Sektoren der Hochtechnologie kaum bestreiten. Mehr als die Volkswirtschaften Japans oder der USA ist Deutschland seiner traditionellen Branchenstruktur verhaftet. Während Deutschland im Bereich der mittleren und arbeitsintensiven Technologien eine Spitzenstellung einnimmt, sieht die Bilanz in -1 2 4 -
verschiedenen Hochtechnologien weit weniger günstig aus. Insbesondere in der Mikroelektronik und den IuK-Technologien sind Rückstände gegenüber den Hauptkonkurrenten USA und Japan unverkennbar. Dies zeigt sich auch im Handelsbilanzdefizit bei Hochtechnologiegütern gegenüber den USA und Japan (vgl. Zukunftskommission der Friedrich-EbertStiftung, 1998, Tab.15). Hier spielen sowohl der Rückgang an Industrieforschung wie die nachlassende staatliche Forschungsförderung eine bedenkliche Rolle. Die Blockaden im deutschen Innovationssystem werden auf längere Sicht Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit gefährden. Sowenig sie als Hauptursache der aktuellen Beschäftigungsprobleme angesehen werden können: Wenn solche Innovationsblockaden nicht aufgehoben werden können, werden auf längere Sicht negative Arbeitsplatzeffekte unvermeidlich sein. 'Während das Industriezeitalter der Sklavenarbeit ein Ende setzte, wird das Informationszeitalter wahrscheinlich die Massenlohnarbeit abschaffen. Die neuen Technologien geben Anlaß zur Hoffnung, daß im 21. Jahrhundert mit einem Bruchteil der Arbeitskraft, die heute von uns eingesetzt wird, ein riesiger Zuwachs an produzierten Gütern und erbrachten Dienstleistungen erzielt werden kann.' Man mag Rifkins Prognosen übertrieben finden und einwenden, daß das alles schon einmal dagewesen sei: in der Talsohle der Weltwirtschaft um die Wende der siebziger zu den achtziger Jahren. Als es dann der Wirtschaft in den Achtzigern wieder besserging, seien all die Propheten des 'Endes der Arbeit' schnell wieder kleinlaut geworden. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Gewiß mögen von einer Reduzierung der Arbeitskosten durch eine ökologische Umgestaltung des Steuersystems und von Anreizen zur Ressourcenproduktivität und Energieeffizienz Wachstumsschübe in der Umwelttechnik ausgehen. Auch moderne Verkehrssysteme können neue Arbeitsplätze schaffen. Vielleicht wird dadurch sogar der Prozeß der Substitution von Arbeit da und dort verlangsamt. Sicher wird auch der wirtschaftliche Aufholprozeß der Schwellenländer -1 2 5 -
neue Märkte für Massenprodukte und hochwertige Industriegüter schaffen. Die Arbeit wird uns weder ausgehen, noch wird sie verschwinden - nicht einmal die industrielle. Die Arbeitsgesellschaft ist nicht am Ende, die Vision des 'Kapitalismus ohne Arbeit' ist eine Übertreibung. Ohnehin geht es ja nicht um das Ende der Arbeit, sondern um einen Mangel an nachgefragter Erwerbsarbeit. Und schließlich ist trotz aller Rationalisierung und aller technischen Revolution selbst hierzulande die Zahl der Erwerbsarbeitsplätze jedenfalls bis 1992 kontinuierlich angestiegen - wenn auch längst nicht in einem für das wachsende Arbeitskräfteangebot ausreichenden Maße. Trotzdem bleibt eine säkulare Dimension der Beschäftigungskrise. Das Arbeitsvolumen wird weiter rückläufig sein - und das bei wachsender Nachfrage nach Erwerbsarbeit. Wir müssen erkennen, daß allein auf den alten Wegen von Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung die Teilhabegesellschaft der Zukunft nicht geschaffen werden kann. Die Fixierung auf eine Verbesserung der Angebotsbedingungen durch Kostenentlastung zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und zur Stärkung der Wachstumskräfte werden uns ebensowenig die Vollbeschäftigung zurückbringen wie mehr Lohnspreizung oder eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik im Namen einer Stärkung binnenwirtschaftlicher Nachfrage. Das heißt nicht, daß das alles falsch wäre. Es heißt allerdings, daß diese Wege allein sehr wahrscheinlich nicht zum Ziel führen. Es ist notwendig, unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Innovationsblockaden müssen überwunden werden. Die zahlungsfähige Nachfrage auf den Binnenmärkten muß gestärkt und die Gesellschaft in Deutschland auf die wissenschaftlich-technischen Umwälzungen der Informationsund Dienstleistungsgesellschaft besser vorbereitet werden. Wir brauchen mehr Existenzgründer. Wir brauchen eine höhere Selbständigenquote. Das alles ist notwendig. Und doch wird es als Antwort nicht genügen. Wir sollten auch aufhören, im Rückgang der industriellen Arbeit eine Schreckensvision zu sehen. Über Jahrtausende haben die -1 2 6 -
Menschen den Traum von der Befreiung von Arbeit im Sinne einer Befreiung von Mühsal und Plackerei geträumt. Warum sollten sie diese Befreiung jetzt, wo sie erstmals wirklich am Horizont erscheint, fürchten? Was ist so schrecklich an der Aussicht, daß Computer und Roboter die Organisation von komplexen Prozessen und anstrengende Tätigkeiten erledigen - nur jetzt effektiver und genauer, als Menschen dies je könnten? Können die Menschen ihre Zeit nicht anders, sinnvoller, nutzbringender verwenden? Schrecklich sind doch nur die Folgen einer gesellschaftlichen Organisation von Arbeit, die die Befreiung von Mühsal und Plackerei zum Ausschluß von Teilhabechancen am materiellen und nicht-materiellen Reichtum von Gesellschaften macht und einer wachsenden Zahl von Menschen die Chance zu produktiver und nützlicher Tätigkeit, aus der Sinnstiftung und Selbstbewußtsein erwachsen können, verweigert. Es kann nicht darum gehen, wie ein moderner Don Quichotte verzweifelt Modelle zu ersinnen, wie Produktivitätssteigerungen zu begrenzen wären. Wir müssen uns mit dem Abschied von der industriellen Ära vielmehr auch vom Arbeitsbegriff dieser Ära lösen. Die privatwirtschaftlich organisierte Vollzeiterwerbstätigkeit als einziger Weg zu Lebenssinn, Erfolg und Selbstbewußtsein von Individuen - von dieser Vorstellung müssen wir uns allmählich verabschieden. Arbeit im Sinne produktiver Tätigkeit ist eine Grundkonstante sinnerfüllten menschlichen Lebens. Menschen erfahren sich selbst in produktiver Tätigkeit. Insoweit ist die Eröffnung von Chancen zur Beteiligung am System gesellschaftlich nützlicher Tätigkeiten eine Grundforderung an jede Politik. Gesellschaftlich nützliche Tätigkeiten, für die ein echter Bedarf besteht, die nur nicht zu Marktpreisen nachgefragt werden, gibt es in erheblichem Umfang. Deshalb ist der Ausschluß von der Teilnahme an der gesellschaftlichen Arbeit eben auch eine Frage der Arbeitsorganisation der Gesellschaft. Das Problem liegt nicht in der Beschaffung von Arbeit um jeden Preis. Es ist freilich auch nicht dadurch zu lösen, daß leistungsunabhängige soziale Sicherungssysteme, ursprünglich überwiegend als -1 2 7 -
Überbrückungshilfen geschaffen, dauerhaft für materielle Existenzsicherung sorgen. Kein Entwurf einer Gesellschaft der Zukunft und keine Politik kann sich darauf beschränken, Menschen mit materiellen Mindestsicherungen auszustatten und sie ansonsten ihrem Schicksal zu überlassen. Wenn der industrialistische Traum von der Wiederherstellung von Vollbeschäftigung durch neue Wachstumsschübe tatsächlich ausgeträumt ist, Wachstumsförderung allein nicht ausreicht, dann steht Politik vor einer Grundfrage: Sie kann entweder auf die selbstregulierende Kraft von freien Arbeitsmärkten setzen, die durch Abbau von Lohnschranken den Preis der Arbeit nach unten drücken und auf diesem Wege einen Niedriglohnsektor schaffen, in dem Arbeit geleistet wird, aber keine existenzsichernden Einkommen erzielt werden können. Dieser Weg ist in Amerika gegangen worden - mit den bekannten Konsequenzen der vielen 'working poor' und der 'bad jobs' sowie einer dramatisch angewachsenen sozialen Spaltung der Gesellschaft, in der auch die Mittelschichten reale Einkommensverluste hinnehmen mußten. (vgl. R.Reich, a.a.O.), allerdings auch mit einer beeindruckenden Arbeitsplatzzunahme von acht Millionen allein in den neunziger Jahren. Oder sie versucht eine Beschäftigungspolitik, die auf anderen Wegen neue Beteiligungschancen eröffnet, die öffentliche und private Mittel mobilisiert, um neue Beschäftigung auf Feldern zu schaffen, auf denen ein realer, aber 'nicht effektiver' Arbeitskräftemangel herrscht: in der Sozialwirtschaft etwa, im Bildungsund Umweltbereich, in der Gemeinwesenarbeit usw. Gerade wenn wir den amerikanischen Weg nicht wollen, weil er mit den Traditionen des europäischen Sozialstaats nicht vereinbar ist, dann gibt es zu einer solchen neuen Beschäftigungspolitik im Kern gar keine Alternative. Ganz gleich, ob das dann 'zweiter Arbeitsmarkt', 'Grundschicht von Beschäftigung' (Giarini/Liedtke) oder 'Dritter Sektor' (Rifkin) genannt wird. Diese neue Beschäftigungspolitik sollte freilich verbunden werden mit neuen Formen der Verbindung von Erwerbs- und Sozialeinkommen auch im privatwirtschaftlichen Bereich. -1 2 8 -
Der Kerngedanke der negativen Einkommenssteuer - degressiv angelegte Bezuschussung niedriger Erwerbseinkommen durch Sozialeinkommen - reflektiert die aktuellen Problemlagen von Gesellschaften mit einem Überangebot an nicht zu Marktpreisen nachgefragter Arbeit ganz folgerichtig. In Deutschland hat Joachim Mitschke mit seinem Konzept eines Bürgergeldes einen Vorschlag gemacht, der sich am Grundgedanken der negativen Einkommenssteuer orientiert. Das Bürgergeld soll jeder Erwerbsperson ein existenzsicherndes Einkommen in Höhe der heutigen Sozialhilfesätze garantieren. Anders als im heutigen Sozialhilfesystem würden zusätzliche Erwerbseinkommen aber nicht abgezogen, sondern nur teilweise 'weggesteuert'. Auf diese Weise ergäbe sich eine degressive Subventionierung von niedrigen Erwerbseinkommen und entstünden Anreize zur Beschäftigung niedrig qualifizierter Arbeitnehmer (Mitschke 1985, 1995). In eine ähnliche Richtung zielen auch die Vorschläge zur Lohnkostensubventionierung im unteren Einkommensbereich, wie sie Fritz Scharpf vorgelegt hat (Scharpf 1996, 1997, 1998). Diese bieten darüber hinaus noch den Vorteil, das sie auch ohne jene umfangreichen Veränderungen der sozialund tarifrechtlichen Rahmenbedingungen umgesetzt werden könnten, die Voraussetzung für die Einführung von Bürgergeldmodellen wären. Die Problematik beider Vorschläge liegt freilich da, wo die Gefahr von Mitnahmeeffekten und der Verdrängung heute noch bestehender regulärer Arbeitsverhältnisse durch solche kombinierten Einkommen besteht. Entsprechend skeptisch wurden bislang alle auf Zulassung eines Niedriglohnsektors gerichteten Vorschläge aus gewerkschaftlicher Sicht behandelt. Die Gewerkschaften fürchten, daß mit Einführung öffentlich subventionierter Niedriglöhne die Tarifstruktur insgesamt nach unten gezogen würde. Auch bei SPD und Bündnis 90/Die Grünen sind diese Bedenken bislang weit verbreitet. Wir glauben, daß sich diese Einwände bei entsprechender Ausgestaltung der Subventionierungssysteme zerstreuen -1 2 9 -
lassen. Zudem ist zu berücksichtigen, daß bei insgesamt verbesserter Beschäftigungssituation auch die Verhandlungsposition der Gewerkschaften wieder stärker würde. Der wachsende Ersatz regulärer Beschäftigungsverhältnisse durch alle möglichen Formen der NichtNormarbeitsverhältnisse, das Wachstum der Schattenwirtschaft und die hohe Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zeigen, daß sich die soziale Realität über die institutionelle Abwehr solcher Modelle bereits längst hinweggesetzt hat. Allerdings mit weitreichenden Folgen für die soziale Absicherung der Betreffenden, die den Traditionen unserer sozialstaatlichen Ordnung widersprechen. Heute haben wir eine relativ schmale Einkommensdifferenz zwischen hochproduktiven Tätigkeiten und einfachen und kaum rationalisierbaren Arbeitsplätzen, die dann wegen relativ hoher Löhne als reguläre Arbeitsplätze nicht zu besetzen sind. Das fördert Schwarzarbeit und die Verdrängung einfacher Arbeit ins Ausland. Wer daran etwas ändern will, kann nicht in der Haltung defensiver Abwehr gegenüber allen möglichen Kombilohnmodellen verharren. Kombilohnmodelle haben in Deutschland auch deshalb hohe Plausibiltät, weil sie an einer zentralen Schwäche des deutschen Sozialsystems ansetzen: Unser System finanziert Untätigkeit statt produktiver Tätigkeit, 'fördert Nichterwerb und Rentnertum' (Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung, a.a.O.). Wir müssen statt dessen Möglichkeiten für produktive Beschäftigung schaffen. Wir haben allerdings Zweifel, ob nach Art und Umfang der Arbeitsplatzsituation in der privatwirtschaftlich-kommerziell strukturierten Erwerbswirtschaft selbst durch Kombilohnmodelle, die gegen Mitnahmeeffekte und Lohndumpingwirkungen einigermaßen abgesichert wären, tatsächlich ein ausreichendes Angebot an Arbeitsplätzen geschaffen werden könnte. Deshalb sollten solche Modelle mit der Ausweitung des Arbeitsplatzangebots in Gemeinwesenarbeit und Sozialwirtschaft verbunden werden.
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Der internationale Vergleich zeigt, daß das deutsche Beschäftigungssystem insbesondere bei den binnenabsatzorientierten Dienstleistungen ungenutzte Beschäftigungschancen in erheblichem Umfang aufweist. Rechnet man die Branchen Handel, Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe einerseits und öffentlicher Dienst, soziale und persönliche Dienstleistungen andererseits zusammen, so zeigt sich ein dramatisches Nachhinken gegenüber den Beschäftigungsquoten sowohl in den USA wie auch in Schweden, wo extrem unterschiedliche Wege zur Anhebung des Beschäftigungsniveaus in diesen Bereichen gegangen wurden. 'Deutschland kombiniert, so könnte man im internationalen Vergleich das deutsche Beschäftigungsdefizit definieren, die Schwächen des amerikanischen mit den Schwächen des schwedischen Modells. Wir haben fast so wenige Beschäftigte in den privaten Dienstleistungen wie Schweden und genauso wenige Beschäftigte im öffentlichen Sektor wie die Vereinigten Staaten ... Der deutsche Sozialstaat ist weder so großzügig wie der schwedische noch so knauserig wie der amerikanische ... Aber der deutsche Sozialstaat ist nicht dienstleistungsintensiv, sondern transferintensiv ausgestaltet worden. Während die Einkommenstransfers an Rentner und Frührentner, Arbeitslose und Einkommensschwache (nicht aber an kinderreiche Familien) fast so großzügig ausfallen wie in Schweden (und das amerikanische Niveau weit übersteigen), bleiben die Ausgaben für soziale Dienstleistungen fast auf dem amerikanischen Minimalniveau. Aber der deutsche Sozialstaat hat auch eine Expansion der privatwirtschaftlich erbrachten Dienstleistungen nach amerikanischem Muster nicht zugelassen' (Scharpf, 1997). Statt eine Verbindung der Nachteile zu praktizieren, müßte es in Deutschland künftig umgekehrt darauf ankommen, die Vorteile der beiden 'Systemalternativen' zu verbinden. In den USA werden diese binnenabsatzorientierten Dienstleistungen ganz überwiegend im privatwirtschaftlichen Sektor erbracht, in dem inzwischen mehr als dreißig Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter beschäftigt ist. In -1 3 1 -
Schweden dagegen findet die hohe Beschäftigung in diesen Dienstleistungen ganz überwiegend im öffentlichen Sektor statt, wo ein knappes Viertel der Erwerbsbevölkerung tätig ist. Deutschland hat weder das eine noch das andere. Hier liegt unser besonderes Problem (vgl. Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1998, Abb.26). Neben der Stärkung der wirtschaftllichen Wachs tumskräfte, flexibler Formen der Umverteilung des Arbeitsvolumens und verbesserter Chancen für Existenzgründungen sollten Kombillohnmodelle im privatwirtschaftlichen Bereich und die öffentliche Förderung von sozialwirtschaftlichen Dienstleistungen in einem dritten Non-profit-Sektor die Kernelemente einer neuen Beschäftigungspolitik sein. Die Übernahme von Pflege- und Betreuungsdiensten, von Bildung und Weiterbildung, von Umwelt- und Gemeinwesenarbeit erfüllt nicht nur objektiv vorhandene Bedarfe. Ihre Finanzierung dient zugleich der sozialen Integration einer Gesellschaft, deren marktförmige Organisation allein sozialen Zusammenhalt ebensowenig sichern kann wie ein ausreichendes Maß an Teilhabe an der Erwerbswirtschaft. Deshalb wird ein solcher Dritter Sektor eine wichtige Antwort auf die Herausforderungen eines postindustriellen Zeitalters sein. Die öffentliche Förderung von Gemeinwesenarbeit kann auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen. Die Möglichkeiten reichen von Steuererleichterungen für Arbeit in gemeinnützigen Organisationen ('Bürgerarbeit') bis zur öffentlichen Finanzierung von Jobs in sozialwirtschaftlichen Einrichtungen. Wichtig ist freilich, daß die Grenzen dieses Sektors zur privatwirtschaftlichen Erwerbsarbeit fließend bleiben. Es hätte überaus kontraproduktive Konsequenzen, wenn in Zukunft immer höhere Mauern zwischen einem schmaler werdenden Sektor privatwirtschaftlich organisierter Erwerbsarbeit und diesem Dritten Sektor entstünden. Deshalb muß es Finanzierungshilfen und Anreizsysteme zur Förderung solcher Übergänge geben. Dabei geht es gar nicht um den Aufbau von etwas ganz Neuem. Der 'Dritte Sektor' besteht längst. Die größten Institutionen dieses sehr bunten und vielfältigen Bereichs -1 3 2 -
beschäftigen heute mehr hauptamtliche Mitarbeiter als DaimlerBenz oder Siemens. Die katholische Caritas etwa hat heute 460000 Mitarbeiter, die evangelische Diakonie 400000. Seit 1970 wuchs die Zahl der Arbeitsplätze in diesem sozialwirtschaftlichen Sektor schneller als in anderen Bereichen der Wirtschaft. Heute schon ist jeder zehnte Dienstleistungsarbeitsplatz im gemeinnützigen Sektor angesiedelt, erbringt der Dritte Sektor knapp vier Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts (vgl. zu den Zahlenangaben Dettling, 1998). 'Zum Dritten Sektor in der Bundesrepublik Deutschland zählt ein breites Spektrum von Organisationen, das von Freizeit-, Sport- und Kulturvereinen, lokalen Umweltinitiativen und soziokulturellen Zentren bis hin zu den karitativen Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände und den international tätigen Hilfsorganisationen reicht. Sie sind in einem Bereich angesiedelt, der zwischen den Polen Staat, Markt und Familie liegt. Sie unterscheiden sich von der öffentlichen Verwaltung durch ein geringeres Maß an Amtlichkeit. Im Gegensatz zu Firmen streben sie nicht nach Gewinnmaximierung, sondern verfolgen ideelle Ziele und orientieren sich dabei am Gemeinwohl ... Selbständigkeit und Solidarität sind dabei die zentralen Elemente der Dritte-SektorOrganisationen ... Ihre Handlungslogik basiert dementsprechend nicht in erster Linie auf individuellen Nutzenkalkülen, sondern beruht vorrangig auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit ... Da die Organisationen des Dritten Sektors eine Zwischen- bzw. Mittlerstellung zwischen den Sektoren Staat, Markt und Familie einnehmen ..., sind sie am ehesten prädestiniert als Moderator einer gesamtgesellschaftlichen Modernisierung ...' (Zimmer, zit. nach Dettling 1998, S.275/276). Durch eine Aufwertung, Veränderung und Reformierung dieses Dritten Sektors könnte neue Beschäftigung geschaffen werden z.B. in Umweltund Landschaftspflege, bei personenbezogenen Dienstleistungen von der Kinderbetreuung über die Altenhilfe bis hin zu Pflegediensten, in der Arbeit am Wohnumfeld, bei Transportdiensten usw. Hier läßt sich an ein -1 3 3 -
vielfältiges Aufgabengebiet denken - Aufgaben, die als Bestandteil einer Rekonstruktion von bürgerschaftlichem Engagement auf der gemeindlichen Ebene auch jenseits des Aspekts materieller Existenzsicherung eine wichtige Funktion für die soziale Integration unserer Gesellschaft haben können. Gewiß ist auch hier vor übertriebenen Erwartungen zu warnen. Manche Aufgaben, die von den Protagonisten des Dritten Sektors gerne genannt werden, werden schon heute von öffentlich finanzierten Beschäftigungsgesellschaften übernommen. Und viele solcher sozialen und für das Gemeinwesen nützlichen Aktivitäten, werden gerade von den besonderen Problemgruppen unserer Gesellschaft nicht erledigt werden können. Es ist leider eine schlichte Tatsache, daß vielen Langzeitarbeitslosen die Fähigkeiten und sozialen Kompetenzen zur Übernahme solcher Aufgaben fehlen bzw. noch fehlen. Der Ausbau sozialwirtschaftlicher Gemeinwesenarbeit in einem solchen 'Dritten Sektor' öffnet eher neue Beschäftigungsfelder für arbeitslose Fachkräfte und Akademiker. Dennoch ist es falsch, solche Modelle als 'zynisch' abzutun, wie dies gelegentlich zu lesen ist (vgl. Lafontaine/Müller, 1998). Erstens ist es durchaus denkbar, daß auch ungelernte Langzeitarbeitslose durch entsprechende Hilfen Fähigkeiten und Kompetenzen entwickeln können, die sie zur Übernahme entsprechender Aufgaben qualifizieren. Und zum anderen ist der Hinweis auf die begrenzte Reichweite solcher Modelle kein überzeugendes Argument. Den einen Königsweg zur Verbesserung der Beschäftigungssituation gibt es ohnehin nicht. Auch in der Gemeinwesenarbeit lassen sich einfache Tätigkeitsfelder finden. Die Befürchtung, schlecht qualifizierten Arbeitslosen könnte durch entlohnte Gemeinwesenarbeit eine doppelte Stigmatisierung drohen, konfrontiert uns zwar mit einem möglichen Problem, liefert aber dennoch keinen wirklich überzeugenden Einwand. Wenn man ihn nämlich konsequent weiterverlängerte, könnte man sich alle möglichen Qualifizierungsund Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die es heute schon gibt, schenken. Auch hier gibt es stets bestimmte Gruppen von -1 3 4 -
Arbeitslosen, die dafür nicht in Frage kommen. Deshalb haben die Einwände, wie sie u.a. auch vom DIW und von Offe/Fuchs formuliert worden sind (DIW 4/98 und Offe/Fuchs, 1998) nur die Qualität einer defensiven Abwehrargumentation, die uns nicht überzeugt. Die damit aufgeworfenen Finanzierungsfragen halten wir ebenfalls keineswegs für unlösbar. Nicht nur deshalb, weil die heutigen Kosten der Arbeitslosigkeit und ein erheblicher Teil der Sozialhilfekosten hier gegengerechnet werden müssen. Es stellt sich zudem die Frage, ob die Instrumente der heutigen Arbeitsförderung tatsächlich immer effektiv und zielgenau eingesetzt werden. Das kostenträchtige 'Verstecken' von Arbeitslosen in immer neuen Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen ohne wirkliche Aussicht auf einen Arbeitsplatz in der privaten Erwerbswirtschaft wäre hier ebenso zu überprüfen wie der Nutzen von Qualifizierungsprogrammen, die so tun, als wäre durch Qualifizierung eine Ausweitung des insgesamt vorhandenen Arbeitsvolumens zu erreichen. Ob man gerade jungen Menschen damit einen Gefallen tut, daß man sie in immer neue Bildungsmaßnahmen steckt, die oft zu nichts anderem als zum Aufbau illusionärer Hoffnungen führen, halten wir für zweifelhaft. Wir gehen jedenfalls davon aus, daß selbst ohne dramatische Aufstockung öffentlicher Mittel eine sehr viel effektivere Beschäftigungsförderung möglich ist. Städte und Gemeinden werden zur wichtigsten Arena einer wirkungsvollen Beschäftigungspolitik werden müssen. Auf die kommunale Ebene wird es bei der Realisierung entsprechender Programme besonders ankommen. Städte und Gemeinden benötigen die dafür erforderlichen finanziellen Mittel, aber auch die entsprechenden Kompetenzen. Dazu würde u.a. die Überprüfung der bisherigen 'Schutzpolitik' für den privatwirtschaftlichen Sektor gegenüber kommerziellen Angeboten aus dem Non-profit-Sektor und die Übertragung von beschäftigungspolitischen Kompetenzen an die Gemeinden gehören, die bislang bei der Bundesanstalt für Arbeit lagen. Die Mittel für eine aktive Beschäftigungspolitik sollten von den Kommunen eingesetzt werden. -1 3 5 -
Berücksichtigt werden sollte auch die Mobilisierung privater Mittel. Warum sollen Unternehmen nicht stärker aktiv werden, wenn es darum geht, in ihre soziale Umwelt zu investieren, damit diese die Folgen einer hochproduktiven Wirtschaft auffangen kann? Warum sollte neben Sport- und Kultursponsering nicht auch Sozialsponsering denkbar sein? In den USA existieren längst 'Community Foundations', die aus Spenden, Erbschaften und Aktienpaketen beträchtliche Mittel für soziale Zwecke aufbringen. Auch hier gibt es Grenzen, gewiß. Wir wollen nicht den Sozialstaat der Mildtätigkeit oder den Werbestrategien von Konzernen überantworten. Aber warum nicht auch private Mittel mobilisieren, wenn es denn möglich ist? Zu einer neuen Politik der Vollbeschäftigung gehört die weitere Verkürzung der durchschnittlichen effektiven Jahresarbeitszeit. Auch angesichts verschärfter internationaler Wettbewerbsbedingungen ist davon auszugehen, daß Umverteilung des vorhandenen Arbeitsvolumens einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten kann. Dies muß freilich angesichts der sehr unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen in den einzelnen Sektoren der Wirtschaft flexibel geschehen. Von dieser Flexibilität werden die gesamtwirtschaftlichen und damit auch die beschäftigungspolitischen Effekte einer solchen Umverteilung des Arbeitsvolumens letztlich ebenso abhängen wie von einem künftig verbesserten Zusammenwirken von Ausbildungs- und Beschäftigungssystem. Deshalb sind eine Ausweitung des Angebots an Teilzeitarbeit und eine höhere Flexibilisierung der Arbeit notwendig. Dabei wird Zeitersparnis und Verringerung von Arbeitszeit in der Regel nicht mit Lohnausgleich kompensiert werden können. Dies setzt freilich auch voraus, daß Sozialsysteme so umgebaut werden, daß wachsende Flexibilität nicht mit unzumutbaren Einbußen bei der sozialen Absicherung verbunden ist. Der Abschied von der 'durchschnittlichen männlichen Vollzeiterwerbsbiographie' muß sich in der Konstruktion der sozialen Sicherungssysteme entsprechend -1 3 6 -
niederschlagen. Da die Verkürzung von Anrechnungszeiträumen hier letztlich keinen Ausweg bieten kann, führt an der grundlegenden Reform der Sicherungssysteme auf Dauer kein Weg vorbei. Dieser Abschied wird sich schließlich auch auf ein verändertes gesellschaftliches Wertegefüge abstützen müssen. Solange Teilzeit gerade im Bereich der Besserverdienenden als Ausweis von Nachrangigkeit betrachtet wird, ('der Erfolgreiche arbeitet rund um die Uhr und ist omnipräsent'), wird ihre Verbreiterung da, wo sie mehr sein soll als eine Notlösung, auf Hemmnisse stoßen. Natürlich steckt bei alldem die Tücke im Detail. Schon die Ebbe der öffentlichen Haushalte sorgt dafür, daß bei der Förderung von Arbeit nicht alles gleichzeitig angegangen werden kann. Entscheidend aber bleibt, daß sich die Politik - bei aller Notwendigkeit der Förderung umweltverträglicher Wachstumsimpulse und einer entsprechenden Struktur-, Steuer- und Forschungspolitik - von der Erwartung löst, allein die Kräftigung von wirtschaftlichen Wachstumschancen bewirke eine entscheidende Verbesserung der Beschäftigungssituation und damit die Stärkung des sozialen Zusammenhalts von Gesellschaften. Es wird darauf ankommen, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Ohne vermehrte Anstrengungen zur Erhaltung und Verbesserung von Wettbewerbsfähigkeit in den internationalen Wachstumsbranchen drohen Arbeitsplatzverluste, die sonst jedenfalls in engeren Grenzen gehalten werden können. Daß Produkt- und Prozeßinnovation wichtige Voraussetzungen von Arbeitsplatzsicherung und Arbeitsplatzschaffung sind, gilt auch dann, wenn man die Grenzen der Möglichkeiten solcher Strategien realistisch erkennt. Das Ausblenden der Frage nach zahlungsfähiger Nachfrage auf den Binnenmärkten gefährdet Arbeitsplätze im Handwerk und in vielen mittelständischen Unternehmen. Die deutschen Rückstände beim Angebot an Informations- und Kommunikationsdiensten, bei On-line-, Datenbank- und Multimediadiensten führen dazu, daß Beschäftigungschancen nicht in ihrem möglichen Umfang -1 3 7 -
genutzt werden können. Dies gilt auch für die unzulängliche Bereitschaft und Förderung selbständiger Existenzgründungen und das Auslassen der wirtschaftlichen Chancen eines auf Umweltverträglichkeit abzielenden Wachstumstyps. Eine Beschäftigungspolitik der Zukunft ist mehr als eine Politik der Standortsicherung und der wirtschaftlichen Wachstumsförderung. Sie darf freilich umgekehrt diese Faktoren auch nicht auslassen oder auch nur geringschätzen. Insoweit wird in der aktuellen politischen Debatte viel zu oft mit falschen Alternativen operiert und werden ideologische Schlachten von gestern geschlagen, die niemandem weiterhelfen, am wenigsten den Arbeitslosen. 'Es scheint, als bestünde unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Globalisierung kaum noch ein Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Senkung der Arbeitslosenquote. Die Auswirkungen dieser polarisierenden Tendenz lassen sich an einzelnen Städten beobachten. ... Obgleich neue Arbeitsplätze geschaffen werden, sinkt in diesen Städten weder die Arbeitslosenquote noch die Zahl der Sozialhilfeempfänger' (Friedrichs, in: APUZG, 1997). Dies darf im Umkehrschluß nicht bedeuten, daß Politik nicht auf die Herausforderung der Globalisierung mit einer Stärkung der Wachstumskräfte und Wettbewerbsfähigkeit reagiert. Dies allein aber reicht nicht. Wer allein darauf setzt, produziert nur Erwartungen, deren absehbare Nichteinlösbarkeit die damit verbundenen Opfer unakzeptabel machen. Die Alternative 'Abschied von der Arbeitsgesellschaft' oder 'Mobilisierung aller Kräfte für eine neue Ära von Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung' ist falsch gestellt. Es bleibt die wichtigste politische Aufgabe, möglichst viele Menschen mit Erwerbsarbeitsplätzen auszustatten. Lebenschancen und Stellung des einzelnen in der Gesellschaft hängen maßgeblich von der Berufstätigkeit ab. Deshalb müssen viele Wege zugleich gegangen werden: Qualifizierung, Ermutigung selbständiger Existenzgründer, Behebung von Innovationsrückständen, Verbesserung von Wettbewerbsfähigkeit. Aber eben auch Umverteilung von Arbeit, neue Modelle der Verbindung von Erwerbs- mit -1 3 8 -
Transfereinkommen und die Mobilisierung finanzieller Mittel für einen sozialwirtschaftlichen Dritten Sektor. Arbeit fördern statt Arbeitslosigkeit - darum geht es. Hinzugedacht werden müssen die Besonderheiten, die sich in Deutschland aus den Folgen der Einheit ergeben. Trotz riesiger Finanztransfers von West nach Ost entstehen dort auch im Jahre 1998 gerade einmal ein Zehntel des gesamtdeutschen Bruttosozialprodukts und nur zwei Prozent des Exports. Zwischen 1991 und 1996 hat die Zahl der Beschäftigten um über eine Million abgenommen. Die aktuellen Arbeitslosenzahlen in den neuen Ländern liegen bei über achtzehn Prozent. Derzeit spielt im Osten das Absacken der über Jahre durch Steueranreize für Westinvestoren künstlich aufgepäppelten Bauwirtschaft eine besondere Rolle. Rechnet man öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hinzu, so liegt die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland heute bei etwa dreißig Prozent, also über der in Spanien und Griechenland. Sie macht ein Drittel der gesamtdeutschen Arbeitslosigkeit aus. Auch geographisch ist mit einer andauernden sozialen Spaltung in Deutschland zu rechnen - eine Spaltung, die sich neuerdings sogar wieder verschärft. Tatsächlich nehmen die neuen Länder eine Entwicklung, die in vielem an den italienischen Süden, den Mezzogiorno, erinnert. Dadurch verschärfen sich viele Probleme der deutschen Wirtschaftsund Beschäftigungsentwicklung erheblich. Deshalb werden beschäftigungspolitische Erfolge in Deutschland immer auch daran gebunden sein, ob und wie die wirtschaftliche Leistungskraft Ostdeutschlands verbessert werden kann. Die Arbeitsgesellschaft ist weniger am Ende, als die Protagonisten ihres Endes von Jeremy Rifkin bis Ulrich und Beck annehmen. Aber sie ist umgekehrt ihrem Ende doch näher, als es vielen lieb sein kann, die sich gerne in den Bahnen des alten Denkens bewegen und noch immer von kurzfristigen Funktionsstörungen eines ansonsten funktionierenden Systems ausgehen. Mit einem Wachstumswunder ist sowenig zu rechnen wie mit einem keynesianischen Beschäftigungswunder. Daraus müssen -1 3 9 -
endlich die entsprechenden Schlußfolgerungen gezogen werden. Sozialpolitik ist Beschäftigungspolitik, weil sie neben der Sicherung von Lebenschancen für Nichterwerbsfähige und Rentner sowie der Absicherung von Übergängen nicht die bloße Alimentierung von Arbeitslosen, sondern die Öffnung von Teilnahmechancen im Auge haben muß. Zukunftsorientierte Politik muß dafür sorgen, daß solche Chancen entstehen und genutzt werden können. Das Bild vom Sozialstaat als Trampolin, das Gerhard Schröder gern gebraucht, macht diese Aufgabe anschaulich. Wo der Markt dies nicht leistet, muß die Politik zum Motor einer neuen Vollbeschäftigung werden. Weil Sozialintegration entscheidend über gesellschaftliche Teilhabe stattfindet, wird sich an der Antwort auf diese Frage das Schicksal demokratischer Marktgesellschaften im 21. Jahrhundert entscheiden.
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5. Nachhaltigkeit und Globalisierung Bereits die Entdeckung der 'ökologischen Frage' drängt zu einer globalen Perspektive. Weil die Gefahren einer Weltrisikogesellschaft Gefahren sind, die nicht an Staatsgrenzen oder Grenzen von Wirtschaftsräumen oder politischen Einflußzonen haltmachen, entspricht die Wahrnehmung ökologischer Bedrohung der Erfahrung eines gemeinsamen, weltumspannenden Schicksals. Globale Gefahren werden von globalen Gesellschaften hervorgebracht. Sie zu bannen macht globale Lösungen erforderlich, disponiert zu einer 'Erdpolitik' (E.U. v. Weizsäcker, 1997). Das Wachstum des Energieverbrauchs, die Abholzung der Regenwälder, die Verschmutzung der Erdatmosphäre, der 'Treibhauseffekt' mit seinen bedrohlichen Folgen für die Klimaentwicklung, das Schwinden der weltweiten Wasserreserven, der Rückgang der Artenvielfalt - das alles sind keine lokalen oder regionalen Probleme. Es ist das Wachstum der Weltwirtschaft, das solche Probleme hervorbringt. Es ist diese Weltwirtschaft, die mehr Kohlenstoff in die Atmosphäre ausstößt, als die Pflanzen abbauen können, und die Gleichgewichtszustände in den Wäldern, Ebenen und Meeren zunichte macht. Die Umweltfrage ist eine globale Frage. Supranational sind auch die Entwicklungen, die ursächlich für verschwenderischen Umgang mit Natur und Umwelt sind: Bevölkerungswachstum, ungerechte Reichtumsverteilung auf dieser Erde, der wirtschaftliche Wachstumstyp der reichen Industrieländer, das verständliche Bedürfnis von Entwicklungsund Schwellenländern, Anschluß zu finden an die wirtschaftliche Entwicklung im Westen. Entsprechend bescheiden ist der Beitrag, den Politik zur Abwehr dieser Gefahren leisten könnte, solange diese Politik nur im nationalen Rahmen, etwa in Deutschland, agieren kann. Ob es gelingt, etwa die Gefahren der globalen Erwärmung ('Klimakatastrophe') auch nur einigermaßen zu begrenzen und zu beherrschen, darüber entscheidet vor allem die Fähigkeit der -1 4 1 -
Weltgemeinschaft zur Herausbildung einer einigermaßen funktionsfähigen globalen Umweltpolitik. Es gibt kaum ein weiteres Problem der Menschheit - neben der Anhäufung atomarer Vernichtungskapazitäten -, das für ihre Lösung derart auf globale Kooperation angewiesen ist. Die USA und Europa, Rußland und China, Indien und Brasilien - sie alle zusammen werden gebraucht. Nur Weltumweltpolitik wird die Gefahren beherrschen können, nur global wirksame Institutionen werden die entsprechenden Wirkungen entfalten können. Ökologie und Globalismus gehören untrennbar zusammen. Die mit dem Verschwinden von Grenzen und der Auflösung von Blockkonfrontationen, mit der Revolutionierung von Informationsund Kommunkationssystemen objektiv gegebenen Möglichkeiten des Zusammenrückens einer globalen Verantwortungsgemeinschaft entsprechen den realen Notwendigkeiten der ökologischen Bedrohung. Versuche, wie sie die Weltgemeinschaft seit der Rio-Konferenz von 1992 unternommen hat, sind deshalb in ihrer globalen Perspektive nur folgerichtig. Der Versuch, mit dem weltumspannenden Ansatz einer 'nachhaltigen Entwicklung' den Weg eines alternativen Entwicklungstypus als übergreifenden Ansatz zu wählen, trägt zum einen der Globalität der Probleme Rechnung. Und er geht darüber hinaus von der richtig erkannten Notwendigkeit aus, breite Teile der Bevölkerung und ihrer politischen Vertretungsorgane als Mitspieler und Mitgestalter in diesen Weg zum 'sustainable development' einzubeziehen (Brundtland-Kommission, 1987). Ein neuer Wohlstandstyp, der das Natur- und Umweltkapital von Gesellschaften erhalten will und auf Vereinbarkeit von wirtschaftlicher Entwicklung, sozialem Ausgleich und Schonung der natürlichen Ressourcen angelegt ist, kann nicht einfach verordnet werden. Er braucht die Mitwirkung der Menschen und der politischen Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen, angefangen mit der kommunalen Ebene. Erst auf dieser Basis, so der richtige Grundansatz des AGENDA 21-Prozesses, wird die Regelungskraft globaler Umweltinstitutionen entscheidend an Boden gewinnen. -1 4 2 -
Freilich zeigen schon die Schwierigkeiten bei der Umsetzung selbst bescheiden dimensionierter Ziele, daß die gleiche Öffnung von Räumen und die gleiche Befreiung von Grenzen, die den Blick auf die Realität einer ökologischen Verantwortungsgemeinschaft in einer zusammengewachsenen Welt erleichtern, umgekehrt den Druck verschärfen, der durch ökonomische Handlungsimperative auf die umweltpolitischen Ziele ausgeübt wird. Der verschärfte weltwirtschaftliche Wettbewerb wirkt als disziplinierende Verhinderungsinstanz gegenüber ökologischen Steuerungszielen im nationalen Rahmen. So sieht sich derzeit zum Beispiel nahezu jeder Ansatz, die Energie zu verteuern, dem Vorwurf der Arbeitsplatzvernichtung im eigenen Land ausgesetzt. Es heißt, verschärfte Auflagen und Grenzwerte und vermehrte Anstrengungen der heimischen Umweltpolitik würden gerade nicht zur Verminderung weltweiter Emissionsbelastungen führen, sondern zur Verlagerung von Produktionsstätten in Regionen mit weitaus niedrigeren Standards. Hohe Umweltstandards in Deutschland wären danach nicht nur zum wirtschaftlichen Standortrisiko geworden, sondern besäßen zugleich ökologisch überaus fragwürdige Effekte. So droht Umweltpolitik in eine Falle zu geraten: Einerseits kann sie nur global wirklich zu durchgreifenden Erfolgen etwa bei der Bekämpfung der Klimakatastrophe beitragen. Global kommt sie freilich kaum voran. National oder regional aber, wo sie eher vorankommen könnte, wirkt die gleiche Globalität der Umweltfrage als Disziplinierungselement. Der gleiche Prozeß der Entgrenzung und des weltweiten Zusammenrückens, der die ökologisch notwendigen globalen Lösungen erleichtert, scheint umgekehrt ökologische Politik unmöglich zu machen, weil unter den Bedingungen verschärften wirtschaftlichen Wettbewerbs ihre wirtschaftlichen Konsequenzen mit ungleich stärkerer Wucht als Keule gegen ökologische Politik eingesetzt werden können als früher. Unter den Bedingungen des allgegenwärtigen Runs auf die Erlangung bzw. Wiedererlangung von 'wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit' als dem anscheinend wichtigsten Ziel aller Politik scheinen umweltpolitische Normen und Anforderungen, die sich aus den -1 4 3 -
Zielen der Nachhaltigkeit ergeben, zu lästigen Kostenfaktoren und problematischen Standortrisiken zu werden. Ökologische und ökonomische Steuerungsziele wären demnach unterhalb der globalen Ebene weniger kompatibel denn je - oder allenfalls dann, wenn wirklich alle wichtigen wirtschaftlichen Konkurrenten mitmachen. Tatsächlich läßt sich zeigen, daß die weitgehende Durchsetzung des Freihandels und die Verschärfung des weltwirtschaftlichen Wettbewerbs zu etlichen Rückschritten in der nationalen Umweltpolitik vieler Länder geführt haben. Dies trifft in den neunziger Jahren in besonderer Weise auf die USA zu (E.U. v. Weizsäcker, 1995). Auch hierzulande haben sich in den vergangenen Jahren die Konsequenzen dieser Entwicklung deutlich gezeigt - wenn auch nicht so ungebremst. Auch hier klagen Unternehmer über zu hohe Umweltkosten, die sie im internationalen Wettbewerb benachteiligten, über zu viele Auflagen, zu komplizierte Verfahren usw. (z.B. Ritter, in: Levi/Danzer, 1995). Wenn dies eine Entwicklung wäre, die mit quasi naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit abliefe, dann freilich säßen wir geradewegs in der Falle, da nicht zu erwarten steht, daß auf absehbare Zeit alle wichtigen wirtschaftlichen Konkurrenten eine Angleichung ihrer nationalen Umweltstandards und Umweltpolitiken vollziehen werden. Wir würden in wohlfeilen Sonntagsreden immer wieder die Hoffnung auf die Kraft der weltweiten ökologischen Verantwortungsgemeinschaft beschwören und tatsächlich immer wieder vor den Anpassungszwängen des ökonomischen Konkurrenzmechanismus in die Knie gehen. Zum Glück entspricht in vielen Fällen die Rede vom Standortnachteil Umweltpolitik nicht der Realität. So problematisch die nationale Unterschiedlichkeit von Umweltstandards, Kosten- und Genehmigungsauflagen in den betriebswirtschaftlichen Kostenkalkulationen im Einzelfall durchaus sein mag: Aus volkswirtschaftlicher Perspektive besteht keine innere Zwangsläufigkeit, nach der verstärkte umweltpolitische Anstrengungen unvermeidlich den Verlust von Arbeitsplätzen bedeuten müßten. So wie Umweltschutz zum -1 4 4 -
positiven Wettbewerbsfaktor werden kann, muß Wirtschaftswachstum mit dem Ziel vermehrter Güterproduktion keineswegs einen unüberwindlichen Gegensatz zum Ziel einer Beschränkung des Verbrauchs von Energie und natürlichen Ressourcen bedeuten. Gerade unter den Bedingungen eines gewachsenen wirtschaftlichen Wettbewerbsdrucks muß es darum gehen, umweltverträgliches Wirtschaften mit dem Ziel einer Zunahme von Beschäftigung und der Sicherung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit zu verbinden. Dazu sehen wir vor allem fünf Ansatzpunkte: 1. vermehrte Anstrengungen zur Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch; 2. ökologische Innovation, d.h. technische Innovation, neue Produkte und Produktionsverfahren, die auch neue Arbeitsplatzchancen schaffen; 3. Maßnahmen zur Effektivierung des Ordnungsrahmens für eine ökologische Marktwirtschaft; 4. verbesserte internationale Abstimmung und Kooperation und 5. die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe. Angesichts der weltweiten Verteilung von Reichtum und Einkommen wird kaum davon auszugehen sein, daß zur Lösung der globalen Umweltgefahren allein der Weg von Verzichtsappellen gangbar sein wird. So notwendig vor allem in den hochentwickelten Ländern des Westens Leitbilder der Lebensführung sind, die auf Entschleunigung statt Beschleunigung und auf Werten des 'Seins' statt Werten des 'Habens' gründen, so wenig wird es gerade angesichts der neuen sozialen Frage, die sich in der Informationsgesellschaft des 21.Jahrhunderts stellen wird, ausreichen, allein oder auch nur vordringlich auf veränderte Werte zu setzen. So umweltpolitisch hilfreich es in vielen Fällen ist, wenn auf die Fragwürdigkeit mancher Leitbilder des konsumistischen 'Immer schneller, immer mehr, immer größer' hingewiesen wird (vgl. z.B. Wuppertal-Institut, Zukunftsfähiges Deutschland, 1997). Wir werden nicht darauf setzen können, die Umweltfrage durch Konsumverzicht zu lösen. Es wird vielmehr darauf ankommen, daß es gelingt, Wohlstand auf der Grundlage eines drastisch verminderten Einsatzes von -1 4 5 -
Energie und Ressourcen zu sichern bzw. erst zu ermöglichen. Deshalb geht es um eine neue Dimension von Ressourcenproduktivität, um eine Effizienzrevolution. Produkte müssen mit wesentlich geringerem Einsatz an Material und Energie hergestellt und da, wo dies nicht möglich ist, durch andere Produkte mit gleichem Verbrauchernutzen ersetzt werden. Zugleich müssen aus den Produkten mehr Nutzungsmöglichkeiten herausgeholt werden. Der Wirkungsgrad von Kraftwerken etwa muß wesentlich größer, der Aufwand zur Verpackung von Produkten insgesamt drastisch gesenkt werden. Wärmeisolierung kann den Energieaufwand für die Raumbeheizung drastisch senken, intelligentere Verkehrssteuerung den Nutzen von Verkehrssystemen bei geringerem Einsatz von Material und Energie heben, Leasing-Strukturen können einen wesentlich effizienteren Einsatz langlebiger Gebrauchsgüter sicherstellen. Solche Leasing-Strukturen mögen den raschen Ersatz von Konsumgütern durch neue verlangsamen und daher wieder die Gefahr von Arbeitsplatzverlusten in der Produktion heraufbeschwören. Dies würde freilich durch neue Beschäftigungschancen im Dienstleistungssektor kompensiert, vermutlich sogar überkompensiert, weil Reparatur und Instandhaltung eher an menschliche Arbeitskraft gebunden sind als die immer stärker automatisierte Herstellung von Konsumgütern. Ernst-Ulrich v. Weizsäcker, Friedrich Schmidt-Bleek und das Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie haben dargelegt, wie im einzelnen eine solche Strategie der Effizienzrevolution aussehen könnte (v. Weizsäcker, 1995, Wuppertal-Institut, 1997, Schmidt-Bleek, 1998). Weizsäcker geht davon aus, daß es langfristig ebenso notwendig wie möglich sein werde, die Produktivität der in den Prozeß der Güterherstellung eingesetzten Energie und Rohstoffe um den 'Faktor vier' zu steigern. Es sei in absehbaren Zeiträumen zu schaffen, den doppelten Güterausstoß mit der Hälfte des heutigen Aufwands an Energie und Rohstoffen bereitzustellen. Schmidt-Bleek hält sogar einen Faktor zehn für möglich -1 4 6 -
(Schmidt-Bleek, 1998). Dabei wird auch der Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft helfen, zu einer Verringerung von Ressourcenbelastung und Schadstoffausstoß beizutragen. Demnach wäre es eine vordringliche Aufgabe gerade ökologischer Politik, eine Beschleunigung des Strukturwandels voranzubringen. Solche Stimmen finden in Teilbereichen der Wirtschaft inzwischen Zustimmung und Akzeptanz (z.B. Hopfmann/Winter, 1997, Schmidheiny 1992). So wird etwa im 'Bundesverband umweltbewußten Managements' (BUM) über den eingeständigen Beitrag der Wirtschaft zur Umsetzung der Ziele des 'sustainable development' nachgedacht. Mit dem 'Faktor-vier-Konzept' stellt sich die Aufgabe, Entkoppelungsprozesse voranzutreiben, die an einigen Punkten partiell bereits stattfinden, wie sich an der Entwicklung verschiedener umweltökonomischer Indikatoren in den letzten Jahrzehnten zeigen läßt. Danach ist in der alten Bundesrepublik das Wachstum der Mengendurchsätze an Feststoffen und Energieträgern zwischen 1960 und 1990 deutlich unter dem Wachstum des Bruttosozialprodukts geblieben, wobei vor allem die Periode zwischen 1980 und 1990 eine beachtliche Tendenz der Entkoppelung erkennen läßt (vgl. Zukunftskommission der Ebert-Stiftung, S.137/138). Allerdings haben wir es beim Pro-Kopf-Energieverbrauch nur mit einer deutlichen Abflachung des Wachstums, nicht mit einem absoluten Rückgang zu tun. Diese Entkoppelung wesentlich nachhaltiger und kräftiger zu machen - das müßte das vordringliche Ziel einer Politik der nachhaltigen Wirtschaftsentwic klung in Deutschland sein. Auf allen vier Gebieten der notwendigen Effizienzrevolution (Produktinnovation, Prozeßinnovation, Produktsubstitution und intelligentere Produktnutzung) liegen zugleich neue Beschäftigungschancen, die ihrerseits die wirtschaftlichen Wettbewerbschancen positiv beeinflussen können. Demnach kann die ökologische Umorientierung der deutschen Wirtschaft auch die Chance zu einer technologischen Offensive bieten. Dies wäre auch deshalb um so dringlicher, als die deutsche -1 4 7 -
Umweltindustrie zwar immer noch eine starke Stellung auf den internationalen Exportmärkten innehat, aber 1996 erstmals von ihrer bis dahin führenden Position abgelöst worden ist. Zwischen 1989 und 1996 ist der Exportanteil der deutschen Umweltindustrie von 23,8 bis auf fünfzehn Prozent abgesunken, während der Anteil ihrer Hauptkonkurrenten aus den USA und Japan stetig angestiegen ist (vgl. Übersicht 18 bei Lafontaine/Müller, a.a.O.). Immerhin ist die deutsche Wirtschaft in vielen Bereichen nach wie vor führend: Etwa in der Abwassertechnik, bei der Schallisolierung, beim Metallrecycling oder bei der Gewässersanierung. Der Aufholprozeß der Umweltindustrien in Amerika und Japan zeigt aber auch, daß vermehrte Anstrengungen nötig sind, um diese Führungsrolle zu halten. Nach den Berechnungen des Umweltbundesamtes waren 1996 etwa eine Million Menschen im Umweltschutz tätig. Nach vorliegenden Prognosen könnten in den kommenden Jahren weitere 500000 Arbeitsplätze in diesen Branchen entstehen. Warum sollen durch Qualität und Langlebigkeit der Produkte nicht auch neue Marktchancen entstehen? Es wird entscheidend von den politischen Weichenstellungen abhängen, ob diese Beschäftigungschancen auch genutzt werden können. Eine Vielzahl unterschiedlichster Schritte könnte helfen, diese Ziele voranzubringen. Um das ökologische Know-how deutscher Hochschulabsolventen zu nutzen und ihnen den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern, könnten Unternehmen Hochschulabsolventen zunächst als Innovationsassistenten einstellen. Der Einsatz von Energieelektronikern könnte den Energieeinsatz mittelständischer Unternehmen um dreißig bis fünfzig Prozent senken helfen. Zur Finanzierung dieser Stellen könnte durch ein degressiv auslaufendes Förderprogramm öffentliche Hilfen zur Verfügung gestellt werden. Wenn sich schon die Ausrüster unserer Produktionskapazitäten in der Investitionsgüterindustrie an ökologischen Kriterien orientieren würden, wäre integrierter Umweltschutz schneller und flächendeckender möglich. Dazu müssen verbesserte Rahmenbedingungen geschaffen werden, -1 4 8 -
etwa durch Investitionszulagen oder günstige Abschreibungsbedingungen im Rahmen eines Zukunftsinvestitionsprogramms. Eine Exportoffensive für Umwelttechnik könnte unsere Position auf den internationalen Märkten für Umwelttechnik wesentlich verbessern. Durch technologische Spitzenleistungen könnte die deutsche Umwelttechnikindustrie weniger entwickelten Volkswirtschaften helfen, ökonomische, technologische und ökologische Fehler zu vermeiden. Um dies zu fördern, sollten bei der Finanzierungsabsicherung von Exportgeschäften durch die staatlichen HERMES-Bürgschaften neben die Länderkriterien auch Kriterien ökologischer Förderungswürdigkeit aufgenommen werden. Deutschland verfügt über ein erfolgreich arbeitendes Netz von Technologietranferzentren, die die Unternehmen bei der Umsetzung neuer Technologien beraten. Diese Zentren sollten um Öko-Transferzentren ergänzt werden. Fraunhofer-Institute, Max-Planck-Gesellschaften, Universitäten und Fachhochschulen könnten gerade kleinere und mittlere Unternehmen bei der Umsetzung von Maßnahmen unterstützen, etwa bei Maßnahmen zur Vergrößerung der Energieproduktivität, der Reststoffreduktion oder der Senkung des Rohstoffverbrauchs im Unternehmen. Der verstärkte Einsatz regenerierbarer Energieträger kann durch öffentliche Förderprogramme entsprechend unterstützt werden. Daß deutsche Politik bei solchen Programmen in den vergangenen Jahren Kürzungen vorgenommen hat, steht in krassem Gegensatz zu den energiepolitischen Anforderungen der Zukunft. Politik muß mithelfen, die Nutzung von Solarenergie beim Endverbraucher voranzubringen. Mit Hilfe eines 'Hunderttausend-Dächer'-Programms, das die Nutzung von Solarzellen zur Energiegewinnung für private Haushalte fördert, könnte der Einstieg ins solare Zeitalter endlich gelingen. Eine entscheidende Voraussetzung für die notwendige Effizienzrevolution ist die Preisgestaltung bei Energie und Ressourcen. Internationale Preisvergleiche zeigen, daß es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Preisgestaltung und Energieeffizienz gibt (Lafontaine, 1998). Deshalb ist der -1 4 9 -
ökologische Umbau unseres Steuer- und Abgabensystems dringend geboten. Ziel muß es dabei sein, die Preise für Energie- und Rohstoffverbrauch schrittweise an die tatsächlich entstehenden volkswirtschaftlichen Kosten anzunähern. Dabei ist allerdings sorgfältig darauf zu achten, daß die einzelnen Schritte so dimensioniert werden, daß sie keine kontraproduktiven wirtschaftlichen oder sozialen Folgen haben. Weniger kann auf diesem Gebiet manchmal mehr sein. Eine ökologische Steuer- und Abgabenreform muß die Preise nicht nur schrittweise erhöhen, sondern die höheren Belastungen zugleich durch Absenkung der Lohnnebenkosten als Entlastung an Arbeitgeber und Arbeitnehmer zurückgeben. 'Der erste Schritt zu einer ökologischen Steuer- und Abgabenreform umfaßt die Beseitigung umweltschädlicher Steuerregelungen und die höhere Besteuerung von Energie bei gleichzeitiger Absenkung der Sozialbeiträge' (E.U. v. Weizsäcker, 1995). Das DIW hat schon vor vier Jahren im Auftrage von Greenpeace ein Modell für eine wirtschafts- und sozialverträgliche Steuer- und Abgabenreform vorgestellt (DIW, 1994). Über einen Zeitraum von zehn Jahren sollen die Steuern auf Mineralöl, Gas und Strom pro Jahr um sieben Prozent steigen. Damit wäre einerseits ein wirksamer Anreiz zur Energieeinsparung und zum Einsatz ressourcenschonender Verfahren gegeben. Andererseits würde die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft jedenfalls dann nicht beeinträchtigt, wenn besonders energieintensiven Branchen ein günstigerer Steuersatz eingeräumt würde - etwa so, wie es in Dänemark bereits praktiziert wird. Wir halten den Grundansatz im DIW -Gutachten für richtig, die jährliche Steigerungsrate von sieben Prozent für überdimensioniert. Das DIW geht von deutlich positiven Arbeitsplatzeffekten durch eine Ökosteuer aus, wenn diese vorsichtig dimensioniert wird. Das Institut befindet sich mit dieser Prognose in Gesellschaft der weit überwiegenden Mehrheit von Gutachtern, die günstige arbeitsmarktpolitische Prognosen stellen. Dabei spielt der angestrebte Effekt einer Entlastung der Arbeitskosten durch Absenkung der Lohnnebenkosten eine zentrale Rolle. Die Europäische Kommission geht bei ihrem Modell einer EU-weiten CO2-Steuer -1 5 0 -
von 2,7 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen in Europa aus, von denen etwa 700000 auf Deutschland entfallen würden. In diesem Modell wird das Aufkommen der Ökosteuer vollständig an die Wirtschaft zurückgegeben. Allerdings soll hier die Kernenergie von einer erhöhten Besteuerung ausgenommen werden. Das halten wir nicht für sinnvoll. Wie sich in der letzten Zeit gerade in Deutschland wieder gezeigt hat, sind die Risiken dieser Technologie derart wenig kalkulier- und beherrschbar, daß ihre Nutzung auf Dauer nicht gerechtfertigt werden kann. Deutschland sollte mittelfristig auf die Nutzung der Kernenergie verzichten. Deshalb kann eine höhere Energiebesteuerung nur die regenerativen Energieformen ausnehmen, nicht aber die Kernenergie. Ernst Ulrich v. Weizsäcker u.a. haben in einem Memorandum des 'Fördervereins Ökologische Steuerreform' (FÖS) den Vorschlag einer stufenweisen Verteuerung der Energiepreise um jährlich fünf Prozent vorgelegt - eine Größenordnung, die auch wir für angemessen halten. Auch nach den Berechnungen des FÖS wären davon gesamtwirtschaftlich positive Effekte zu erwarten - selbst dann, wenn eine höhere Energiebesteuerung zunächst nicht europaweit eingeführt werden könnte. Wir verkennen durchaus nicht, daß mit der Einführung einer Ökosteuer im nationalen Alleingang auch Risiken verbunden sein können. Bestimmte Regionen unseres Landes mit einem hohen Anteil von energieintensiven Branchen wären in besonderer Weise betroffen. Wir plädieren deshalb dafür, mit dem Instrument vorsichtig umzugehen, die einzelnen Schritte sorgfältig auszutarieren und Ausnahmeregelungen vorzusehen. Eine europaweite Lösung wäre sicher die bessere. Dennoch muß Deutschland nicht warten, bis seine Partner und Konkurrenten in der Europäischen Union mitziehen. Wie die Beispiele von Dänemark, Österreich, Holland und Belgien zeigen, lassen sich solche Reformen durchaus auch im nationalen Rahmen verwirklichen, ohne daß damit wirtschaftliche Verwerfungen entstehen müßten. 'Zweifellos sollte ein international abgestimmtes Verhalten angestrebt werden, doch kommt es im untersuchten Szenario auch bei -1 5 1 -
einem nationalen Alleingang vor allem deshalb nicht zu den befüchteten negativen Wirkungen, weil die Steuer an den Unternehmenssektor zurückfließt' (DIW, 1994). Wer sich vor Augen führt, wie seit Beginn der neunziger Jahre der Ball in der Ökosteuerdebatte immer wieder zwischen der EU und den Mitgliedsländern hin- und hergespielt worden ist, wird wenig davon halten können, daß derzeit wieder so getan wird, als wäre die Übereinstimmung im EU-Rahmen zwingende Voraussetzung für die Umsetzung einer solchen Reform. Dies gilt nicht zuletzt für die erforderliche CO2-Reduzierung durch die Schaffung von Anreizen für die Einführung verbrauchsärmerer Autos. Zur Integration von ökonomischen und ökologischen Zielen im Rahmen einer ökologischen Marktwirtschaft gehört neben steuerlichen Anreizen auch die Effektivierung der staatlichen Rahmensetzung. Ein Politikansatz, der Umweltpolitik auf ein Maximum an ordnungsrechtlichen Maßnahmen und eine immer weiter aufgeblähte staatliche Genehmigungsund Überwachungsbürokratie reduziert, geht an den praktischen Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte vorbei. Die Kritik am Vollzugsdefizit einer vornehmlich ordnungsrechtlich verstandenen Umweltpolitik ist fast so alt wie diese Umweltpolitik selbst. Und die Kritik an manchen Instrumenten der Umweltpolitik muß keineswegs identisch sein mit einer Kritik an der Umweltpolitik selbst, im Gegenteil (vgl. z.B. Schröder, 1997). Wenn es darum geht, einen effizienten Ordnungsrahmen für eine funktionierende ökologische Marktwirtschaft zu schaffen, dann gehört dazu auch die Entschlackung und Vereinfachung des geltenden Ordnungsrechts. 'Die bisherige Umweltpolitik ist zu interventionistisch' (Lafontaine/Müller, S.183). Umweltgesetze und Genehmigungsverfahren sollten nicht unnötig kompliziert, unübersichtlich und bürokratisch sein. Dazu gehört auch, daß dort, wo es möglich und vertretbar ist, staatliche Auflagen durch privatrechtliche Lösungen ersetzt werden. Dazu gehört das Umweltaudit genauso wie der Ersatz komplizierter Genehmigungsverfahren durch versicherungsrechtliche Lösungen bei weniger risikobehafteten -1 5 2 -
Produktionen. Die Vorstellung, durch staatliche Intervention und staatliche Kontrolle ließe sich alles kontrollieren, ist irreal. Ein funktionierender Ordnungsrahmen für umweltverträgliches Wirts chaften wird künftig stärker auf marktwirtschaftliche Mechanismen, entsprechende Preisgestaltungen und Haftungsrisiken setzen müssen. Das Ordnungsrecht muß vereinfacht und so reformiert werden, daß es dem Vorsorgeprinzip stärker Rechnung trägt. Die Vereinbarkeit der Ziele ökologischer Nachhaltigkeit und wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit werden in wachsendem Maße auch davon mitbestimmt sein, daß es zu internationalen Übereinkommen über das Niveau von Umweltstandards und zu effektiven Formen einer Institutionalisierung globaler Umweltpolitik kommt. Wir haben an anderer Stelle bereits darauf hingewiesen, daß das bisherige Heraushalten dieser Frage aus den Regelwerken der World Trade Organisation beendet werden muß. Die Politik hierzulande muß darauf dringen, daß Umweltstandards schrittweise international angepaßt werden. Dabei wird die unterschiedliche Leistungsfähigkeit von Volkswirtschaften berücksichtigt werden müssen. Gleichwohl gibt es zu solcher Harmonisierung keine Alternative, wenn verhindert werden soll, daß eine Verlagerung schadstoffintensiver und risikobehafteter Produktionen in Schwellen- und Entwicklungsländer stattfindet. Deshalb müssen die WTO-Regeln künftig auch Maßnahmen gegen umweltschädliche Produktionsverfahren zulassen. Sie müssen den Ländern Chancen und Vorteile einräumen, die sich zum Vorreiter einer nachhaltigen Entwicklung machen. Dies muß besonders für solche Länder gelten, die sich zum umweltpolitischen Vorreiter machen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie die Schwerfälligkeit der internationalen Abstimmungsprozesse aufgebrochen werden kann, die sich aus dem Konsensverfahren ergibt, nach dem bislang internationale Umweltvereinbarungen zustande kommen. Hier sind mehrere Wege denkbar: Der Ersatz von Konsensverfahren durch Mehrheitsregeln, die Einbeziehung globaler Umweltreglements in die Aufgaben der WTO, eine Aufwertung -1 5 3 -
der Rolle der NGOs, 'Joint-Implementation' mit der damit eröffneten Chance zur grenzüberschreitenden Klimaschutzpolitik (vgl. Simonis, in Meissner, a.a.O., S.302ff.). Wir haben allerdings Zweifel, ob die Einrichtung ganz neuer Behörden das Ziel globaler umweltpolitischer Fortschritte entscheidend weiterbringen kann. Eher sollten vorhandene Institutionen mit neuen Kompetenzen ausgestattet werden. Wenn die Wahrnehmung der Endlichkeit von Ressourcen von Anfang an ein globales Thema war und sein mußte, dann können Globalisierung und Nachhaltigkeit nicht unvereinbar sein, im Gegenteil. Unvereinbar scheinen sie nur in einem Bild von Wirtschaft und Gesellschaft, das im Markt den Schöpfer aller Dinge sieht und alle Rahmensetzungen und steuernden Einflußnahmen zu störenden, letzthin systemwidrigen Einflußfaktoren erklärt, die ein im Wege der Selbststeuerung zu vernünftigen Resultaten befähigtes System an eben dieser Selbststeuerung hindern - angeblich zum Nachteil aller. Wer diese Vorstellung nicht teilt, vielmehr ökologische Rahmensetzungen gegenüber dem Prozeß des marktwirtschaftlichen Konkurrenzmechanismus ebenso für unverzichtbar hält wie soziale, muß darauf aus sein, Regeln zu finden, die unter Bedingungen verschärften Wettbewerbs sowohl wirtschaftlich tragfähig wie ökologisch vertretbar sind. Dabei läßt sich zeigen, daß uns auch die aktuellen Bedingungen nicht zu einer 'Pause beim Umweltschutz' in Deutschland zwingen, wie das Teile der Industrie seit Jahren nahelegen. Umweltqualität und hohe Umweltstandards können auch neue Chancen für eine wirtschaftliche Entwicklung schaffen. Allerdings dürfen wir die Augen auch nicht davor verschließen, daß die Unterschiedlichkeit nationaler Umweltstandards und die unterschiedlichen Sensibilitäten, die in einzelnen Ländern bestimmten Technologien entgegengebracht werden, immer wieder zur Einbruchstelle für Konflikte werden können, die unter Bedingungen starken Wettbewebsdrucks nicht immer zugunsten der Umweltbelange ausgehen. In Ländern und Regionen mit hohen Umweltstandards werden Marktöffnung und verschärfte -1 5 4 -
Wettbewerbskonkurrenz da und dort auch Nivellierungsdruck nach unten entstehen lassen. Nicht überall sind ökonomische und ökologische Aspekte harmonisierbar. Aber hohe Umweltstandards können auch Motor im Innovationswettbewerb sein. Energieeinsparung und Effizienzrevolution können die Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen verbessern. Solche Chancen zu öffnen und sie zu nutzen - das wird zentrale Aufgabe sein für eine zukunftsorientierte Politik. 'Die Arbeitsproduktivität ist heute gut zwanzigmal so hoch wie zu Beginn der Industrialisierung...Die Ressourcenproduktivität, also die Menge Wohlstand pro eingesetzte Einheit Energie oder Rohstoffe, ist im Vergleich dazu kläglich zurückgeblieben. Sie ist in den letzten hundert Jahren bloß um etwa ein Prozent jährlich gestiegen. Technisch müßte diese Langsamkeit nicht sein. Ich halte drei Prozent pro Jahr für technisch ohne weiteres machbar, sowohl weltweit wie bei uns im Lande. Das ergäbe eine Vervierfachung der Ressourcenproduktivität innerhalb von 46 Jahren. Wenn dieser ÝFaktor vierÜ erreicht wäre, könnten wir den Wohlstand weltweit verdoppeln und gleichzeitig weltweit den Naturverbrauch halbieren' (E.U.v.Weizsäcker, 1995). Schmidt-Bleek hält sogar den Faktor zehn für eine realistische Zielgröße. Wenn die Wahrnehmung ökologischer Bedrohung zur Empfindung der Zugehörigkeit zu einer globalen Verantwortungsgemeinschaft nötigt, die Globalisierung der Ökonomie zugleich aber eine Wettbewerbsverschärfung provoziert, dann kommt es darauf an, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es erlauben, Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit zu einem Wettbewerbsvorteil zu machen. Wenn das gelingt, wird es möglich sein, zusammenzubringen, was zusammengehört: weltweite Wohlstandsmehrung bei Reduzierung von Stoffdurchsätzen und gleichzeitigem Abbau des globalen Verbrauchs an Natur und Energie. Die Universalisierung des marktwirtschaftlichen Konkurrenzgedankens durch die Verschärfung des globalen Wettbewerbs mag gegenüber dem auf Entkoppelung von -1 5 5 -
Lebensqualität und Stoffwechsel gerichteten Prinzip der Nachhaltigkeit als ein natürlicher Antipode erscheinen. Gleichwohl wird eine nachhaltige Entwicklung zwingend erforderlich sein, wenn die natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen marktwirtschaftlicher Wettbewerb sich überhaupt erst entfalten kann, auf Dauer gesichert bleiben sollen. Nachhaltige Entwicklung in einer dynamischen und freiheitlichen Welt ist wiederum ohne die Kräfte des Marktes nicht vorstellbar. Dies auf intelligente Weise zusammenzubringen, das ist Aufgabe der Politik. Das muß gelingen, wenn nicht das eine zur rhetorischen Pflichtübung degenerieren, das andere aber schnöde Wirklichkeit werden soll.
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II. Renaissance der Politik 6. Primat der Ökonomie - Ende der Politik? Groß waren die Hoffnungen, die mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums verbunden wurden. Die Welt glaubte sich an der Schwelle eines goldenen Zeitalters universeller politischer Kooperation und friedlicher Zusammenarbeit zur Einebnung des Wohlstands und zum Kampf gegen die globalen Umweltgefahren. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der sowjetischen Hegemonie in Osteuropa, dem Scheitern des Sozialismus und einer neuen Welle der Demokratisierung schien der Weg frei für eine neue weltbürgerliche Ordnung des Friedens und der globalen Kooperation in der Tradition, wie sie Kant vorgedacht und wie sie den amerikanischen Präsidenten Wilson und Roosevelt nach den Katastrophen der Weltkriege vorgeschwebt hatte. Der frühere amerikanische Präsidentenberater Francis Fukuyama sah mit dem Triumph der liberalen, demokratischen und marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung sogar das 'Ende der Geschichte' heraufziehen (Fukuyama, 1992). Nur wenige Jahre später hat sich die Stimmungslage grundlegend gewandelt. Selten zuvor gab es derart wenig Hoffnung auf die Kraft politischer Gestaltung der Zukunft. Hierzulande zeigt nicht zuletzt der alarmierende Ansehensverlust der politischen Parteien, daß immer mehr Menschen keiner Partei und keiner Politik mehr zutrauen, Lösungen für die als vordringlich empfundenen Probleme zu finden. Er ist Ausdruck einer Enttäuschung und einer tiefen Skepsis, gegenüber der die kurze Euphorie über die 'One World' von 1990/91 längst zur Episode geworden ist. Wo professionell über die Welt von morgen nachgedacht wird, regiert längst der Zweifel an der Fähigkeit moderner Gesellschaften, heute und in Zukunft jene elemenaren politischen Steuerungsleistungen überhaupt noch erbringen zu können, die Voraussetzung sind für die Bewahrung ihres sozialen Zusammenhalts. Allenthalben sieht man mittlerweile -1 5 7 -
moderne Marktgesellschaften dem Regiment eines ungesteuerten Marktes ausgesetzt und wird die Auflösung von Ordnung und Kohäsion diagnostiziert. Daß dem auf der anderen Seite Liebhaber eines Marktradikalismus gegenüberstehen, die so tun, als sei mit dem von ihnen herbeigewünschten Rückzug der Politik schon alles zum besten geregelt, wenn er denn nur endlich stattfände, macht die Sache nicht besser. Schließlich läßt sich zeigen, daß im Zeitalter der Globalisierung der Handlungsraum einer sich im nationalen Rahmen formierenden Politik tatsächlich prekär geworden ist. Jean-Marie Guéhenno (vgl. Einleitung) sieht das Ende der Demokratie gekommen und eine Zeit angebrochen, in der sich die regulierende Kraft der Zentralen in einen anarchischen Pluralismus aufzulösen droht: 'Der vor mehreren Jahrhunderten begonnene Prozeß der Machtkonzentration ist beendet und mit ihm das Bemühen, die Ausübung dieser Macht durch ein institutionelles Gleichgewicht zu kontrollieren. Die Idee des Souveräns hat ihre Anziehungskraft verloren und mit ihr auch die eines souveränen politischen Gemeinwesens' (Guéhenno, 1994, S.99/100). Das Ende der Nationen bedeute das Ende der Politik und eine 'Libanisierung der Welt'. Sein französischer Kollege Alain Minc spricht sogar von einem 'neuen Mittelalter', das auf die Menschheit zukäme (Minc, 1994). Der Tod des Sozialismus bedeute auch das Ende der dreihundertjährigen Herrschaft der Ideen der Aufklärung, den Verlust jeder kollektiven Hoffnung und jeder Vorstellung einer gerechten Ordnung. Benjamin Barber fürchtet, die Demokratie werde im Zangenangriff von Fundamentalismus und ungezügeltem Kapitalismus, von 'Dschihad und McWorld' untergehen (Barber, 1996) Pierre Bourdieu sieht die Welt längst in die Hände eines 'ökonomischen Imperialismus' geraten (Bourdieu, 1996). Eric Hobsbawn erkennt eine grundlegende Bedrohung der Zivilgesellschaft durch eine letztlich ökonomisch produzierte 'Auflösung jeder Kollektivität' , die 'jedem einen rein persönlichen Individualismus als Endziel vor Augen stellt' (Hobsbawn, 1994). Hans-Peter Martin und Harald Schumann sprechen vom 'Markt ohne Staat' (Martin/Schumann, -1 5 8 -
1996).William Greider fürchtet, daß der Globus den Siegeszug des globalen Kapitalismus nicht überleben könne (Greider, 1997) Die amerikanischen Wirtschaftsjournalisten William Wolman und Anne Colamosca beklagen den 'Verrat an der Arbeit' und stellen - beide überzeugte Anhänger der Marktwirtschaft - die Frage, ob der Kapitalismus noch vor sich selbst zu retten sei (Wolman/Calamosca, 1998). John Saul verbindet Hoffnung nur mit der Widerständigkeit gegenüber den angeblichen Zwängen des Marktes und plädiert vehement 'wider die Ökonomisierung der Gesellschaft' (Saul, 1997). Viviane Forrester hat dieser Richtung der Zeitdiagnostik das programmatische Leitmotiv geliefert, als sie ihren Bestseller mit 'Der Terror der Ökonomie' betiteln ließ (Forrester, 1996). Klaus Koch hat in seiner Analyse der Ohnmacht der modernen Politik gegenüber den Marktkräften die Gestaltlosigkeit der Parteien als ursächlichen Faktor hinzugefügt: 'Nicht aus der Unregierbarkeit der Gesellschaft wächst also die Gefahr stummer Anarchie, sondern aus der Funktionslosigkeit der repräsentativen Systeme ... Dieses Versinken des liberalen Staates in Europa kann von Marktkräften und ihrer Selbstregulierung nicht kompensiert werden. Es ist nicht mehr, wie in den 30er Jahren, der zu schwach organisierte Kapitalismus, der sich das bedrohliche politische Vakuum schafft, sondern der allzu kräftige' (Koch, 1995). Auch Ulrich Beck, der einen 'Kapitalismus ohne Arbeit' kommen sieht, hat eine Mitverantwortung der Politiker für ihre eigene Einflußlosigkeit ausgemacht: 'Auf mich jedenfalls wirkt es unfreiwillig ironisch, wie einige Politiker nach Markt, Markt und noch mehr Markt rufen und offenbar gar nicht bemerken, daß sie sich auf diese Weise den eigenen Lebensnerv abtöten, den Geld- und Machthahn zudrehen' (Beck, 1997b, S.16). Selbst Ralf Dahrendorf, Nestor des Liberalismus und gewiß kein Regulierungsapostel, schreibt: 'Die Entwicklungen, die mit dem Stichwort Globalisierung beschrieben werden, sind der Demokratie, wie sie im Westen seit 200 Jahren verstanden wird, nicht förderlich. Globalisierung vollzieht sich in Räumen, für die noch keine Strukturen der Kontrolle und Rechenschaft -1 5 9 -
erfunden sind, geschweige denn solche, die den einzelnen Bürger ermächtigen. Globalisierung entzieht dem einzigen Domizil der repräsentativen Demokratie, das bisher funktioniert hat, dem Nationalstaat, die ökonomische Grundlage. Globalisierung beeinträchtigt den Zusammenhalt von Bürgergesellschaften, in denen der demokratische Diskurs gedeiht. Globalisierung ersetzt die Institutionen der Demokratie durch konsequenzlose Kommunikation zwischen atomisierten Individuen. Das ist ein düsteres Gemälde, bei dessen Anblick daran zu erinnern ist, daß Prozesse der Globalisierung Grenzen haben. Sie haben regionale, aber auch ökonomische und soziale Grenzen. Dennoch drängt sich der Schluß auf, daß die Entwicklungen zur Globalisierung und ihre sozialen Folgen eher autoritären als demokratischen Verfassungen Vorschub leisten. Autoritäre Verfassungen aber können dauern; sie sind weder so katastrophenträchtig noch so prekär wie totalitäre Diktaturen. Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert' (Dahrendorf, in Beck, 1998c). Jürgen Habermas spricht von einer 'postnationalen Konstellation' als Folge einer mit der Globalisierung verbundenen Auflösung der Grundkoordinaten sozialstaatlicher Demokratien. Eine postnationale Konstellation, die bislang nur einen 'gebremsten Alarmismus aufgeklärter Ratlosigkeit' hervorgebracht habe. 'Die lähmende Aussicht, daß sich die nationale Politik in Zukunft auf das mehr oder weniger intelligente Management einer erzwungenen Anpassung an Imperative der Standortsicherung reduziert, entzieht den politischen Auseinandersetzungen den letzten Rest an Substanz' (Habermas, 1998b, S.805). Demnach hätten also die weltweit wirksamen Marktkräfte längst die Vorherrschaft über ein auf Sicht im Gehäuse des Nationalstaates eingesperrtes politisches Handeln gewonnen und wären alle Versuche, dem zu entrinnen, entweder ganz und gar aussichtslos geworden oder doch wenig erfolgversprechend - jedenfalls mit den begrenzten Mitteln, die ein demokratisch verfaßtes Gemeinwesen der Politik zur Verfügung stellt. Stehen wir also hilflos vor den Kräften dieser -1 6 0 -
'Satansmühle', wie der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi vor einem halben Jahrhundert freie Märkte ohne gesellschaftliche Regulierung nannte? Und werden wir noch hilfloser, weil überforderte Politiker auch noch einer 'neuen Staatsfeindschaft' das Wort reden, wo doch einzig dieser vielgeschmähte Staat noch Chancen zur Mobilisierung regulierender Gegenkräfte aufbringen könnte? (vgl. Roß, Die neuen Staatsfeinde, 1998). Oder sind derart pessimistische Zeitdiagnosen am Ende doch nur neo-spengleristische Untergangsszenarien, wie sie sich häufig in Umbruchzeiten finden, ein modernes 'Fin de siécle' sozusagen? Der apokalyptische Tonfall jener französischen Zeitdiagnostiker, die mit dem Ende der sozialistischen Verheißung gleich das Ende jeder regulativen politischen Idee verbunden sehen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit dem Umbruch von 1989/90 tatsächlich ein Regulierungsdilemma moderner Politik nur sichtbarer geworden ist, das zuvor vom Ost-West-Gegensatz überlagert war. Die sozialstaatliche Zähmung des Kapitalismus verdankte sich der ausbalancierenden Kraft eines nationalstaatlich formierten Institutionensystems, das auf real existierende volkswirtschaftliche Räume einwirken und so zu einer sozialgesellschaftlichen Begrenzung der Wirkungskraft der ökonomischen Mächte beitragen konnte. Mit der Entgrenzung des Marktes im modernen Globalkapitalismus und dem beschleunigten Wandel der Informationstechnologien begannen sich die Bedingungen dafür schon in den achtziger Jahren zu verändern. Diese neuen ökonomischen und technologischen Bedingungen verlangen in wachsendem Maße den 'Meister der Geschwindigkeit' (Menzel) und nicht mehr den Beherrscher des Territoriums. Deshalb geraten alle territorial gebundenen Systeme tendenziell ins Hintertreffen. Politik aber existiert nun zunächst und vor allem im nationalstaatlich-territorialen Raum. Sie konstituiert und legitimiert sich in diesem Rahmen. Die Ökonomie aber folgt inzwischen Regeln und Bewegungsgesetzen, die sich eben diesem Rahmen vielfach entziehen können. So schaffen die modernen -1 6 1 -
Grenzüberschreitungen des Marktes und die Entstofflichung der Ökonomie ein politisches Steuerungsdefizit. Während sich die transnational agierenden Unternehmen dem nationalstaatlichen Steuerzugriff immer besser entziehen können, müssen die in ihrem Aktionsradius eingeschränkten kleinen und mittleren Unternehmen die Hauptlast der Unternehmensbesteuerung tragen und wird den einfachen Lohnsteuerzahlen ein immer höherer Anteil am gesamtstaatlichen Steueraufkommen aufgebürdet. 'Die Globalisierung der Wirtschaft treibt einen Keil zwischen die nationalen politischen Institutionen und deren Bemühungen, wirtschaftliche Entwicklungen in bestimmte Richtungen und internationale Wirtschaftskräfte in bestimmte Bahnen zu lenken. In der heutigen Welt entscheidet nicht mehr die nationale Politik über Wirtschaftskräfte, sondern es entsteht eine globale Wirtschaft, in der außerhalb jeder nationalen Einflußsphäre angesiedelte geoökonomische Kräfte die nationale Wirtschaftspolitik eines Landes diktieren. Mit der Internationalisierung verlieren die Regierungen der Einzelstaaten viele der Druckmittel, mit deren Hilfe sie die Wirtschaft bisher kontrollieren konnten' (Thurow, 1996, S.186/187). Noch prononcierter hat Ulrich Menzel das Dilemma der modernen Politik und seine Folgen auf den Punkt gebracht: 'Die Tertialisierung und Virtualisierung der Ökonomie, ablesbar insbesondere am boomenden Finanzsektor, durchlöchert die fiskalische und soziale Kompetenz der Staaten, weil sie in ein schier unauflösliches Dilemma geraten. Auf der einen Seite verschwinden die Arbeitsplätze, wächst die Zahl der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger und damit der Druck auf die Sozialkassen, denen die Beitragszahler abhanden kommen, auf der anderen Seite lassen sich die boomenden Segmente des tertiären Sektors, insbesondere im Finanzwesen, nur schwer besteuern mit der Folge rückläufiger Finanzeinnahmen des Staates ... Dreht der Staat an der Steuer- und Sozialabgabenschraube in der stofflichen Ökonomie, um seine Kasse wieder zu füllen, beschleunigt er nur den Prozeß der -1 6 2 -
Deindustrialisierung und trägt das Seine zur Dramatisierung der sozialen Frage bei. Massenarbeitslosigkeit, Sozialdumping und Elendswanderung untergraben die Gegenmacht der Gewerkschaften, die bei rückläufigen Mitgliederzahlen nur noch defensiv agieren können ..., und stellen die Regulierungskompetenz des Verbandswesens schlechthin als eines konstituierenden Elements der westlichen Gesellschaft in Frage. Wettbewerbs- oder Sozialstaat sind da fast schon anachronistische Alternativen, da sie von einem territorialen Verständnis von Ökonomie, von einem ethnischen Verständnis von Arbeit (Ýunsere ArbeitsplätzeÜ), von in politischen Grenzen definierter staatlicher Zuständigkeit ausgehen, die immer weniger mit den genannten Tendenzen von Globalisierung, Entstofflichung und Entgrenzung in Einklang gebracht werden können' (Menzel, S.17/18). Man mag das Dilemma hier ein wenig überzeichnet dargestellt finden. Gleichwohl spiegelt sich in dieser Beschreibung der Probleme viel Realität. Tatsächlich läuft die moderne Politik Gefahr, in eine Falle zu geraten. Kapital läßt sich schwerer besteuern als Arbeit - erst recht unter Bedingungen, die es weltweit in Sekundenbruchteilen mobilisierbar und transferierbar machen. In einer Zeit, in der der Einsatz von Kapital gegenüber Arbeit immer mehr an Bedeutung gewinnt, muß dies den Handlungsrahmen der Politik einschränken. Ist also die ganze Politik nur noch ein wichtigtuerisches Medientheater von um Stimmenprozente buhlenden Staatsschauspielern, die sich zwar tüchtig spreizen, aber in Ermangelung realer Steuerungsalternativen am Ende doch nichts anderes machen können, als den Imperativen der Ökonomie zum Durchbruch zu verhelfen - in der vagen Hoffnung, es würden dann wenigstens die für die soziale Integration von Gesellschaften unverzichtbaren Brosamen abfallen? Dennoch sind wir nicht am Ende aller Politik angelangt, der es noch um die Umsetzung von Zielen und die Schaffung gerechter Ordnungen zu tun ist. Zunächst einmal muß das Ende des Keynesianismus in einem Lande keineswegs -1 6 3 -
bedeuten, daß alle Probleme der Entwicklung einer sozialgesellschaftlichen Ordnung durch Zwänge einer internationalisierten Ökonomie vorgegeben wären. Daß Politik in Deutschland heute keine Alternativen mehr hätte und nur noch exekutieren könnte, was die Zwänge der Globalisierung vorgäben, trifft nicht zu. Mitunter dient der Hinweis auf die Globalisierung sogar als Versuch, Versäumnisse und politische Fehlentscheidungen zu kaschieren. Zu erkennen, daß der alte Instrumentenkasten keynesianischer Konjunkturund Beschäftigungspolitik aus der Zeit geschlossener Volkswirtschaften nicht mehr zur Verfügung steht, bedeutet nicht, daß Wirtschafts- und Finanzpolitik in Deutschland heute keine Alternativen mehr hätten. Es sind nicht die globalisierten Finanzmärkte, die darüber entscheiden, wie lange riesige Subventionen zur Erhaltung von Arbeitsplätzen ausgegeben werden, die am Ende doch keine Perspektive haben, statt sie zur Förderung zukunftsträchtiger Branchen zu verwenden. In Deutschland sind in der Vergangenheit ungefähr zehnmal soviel öffentliche Mittel als Erhaltungssubventionen in perspektivlose Altindustrien geflossen wie in die Förderung neuer Produkte und Dienstleistungen. Wichtige Branchen der deutschen Wirtschaft haben Innovationsrückstände gegenüber führenden Unternehmen aus anderen Ländern. Achtzig Prozent der Computertechnologie und siebzig Prozent der in Deutschland verwendeten Software werden importiert. Die Mängel des deutschen Innovationssystems und die Rückstände in manchen Technologiesparten sind nicht an den Finanzplätzen in London oder New York geschaffen worden. Daß wir hierzulande zuwenig tun, um die Ressource Bildung zu fördern und so einzusetzen, daß sie uns für die Informationsgesellschaft besser zu rüsten vermag, darüber befinden nicht die 'global players'. Steuerreform, flexible Formen der Arbeitsumverteilung, die Nutzung der ökonomischen Chancen einer maßvollen Ressourcenverteuerung, die Modernisierung des Sozialstaats es gibt viele Entscheidungen, die nicht einfach durch Handlungszwänge der internationalisierten Ökonomie vorgegeben sind. Das gilt für das Thema Mittelstandsförderung -1 6 4 -
und Existenzgründungen ebenso wie für die ungenutzten Chancen zur Stärkung regionalwirtschaftlicher Strukturen. Es gibt auch unter den heutigen Bedingungen Möglichkeiten für eine sinnvolle Beschäftigungspolitik. Die deutsche Politik hat auch hausgemachte Probleme. Klaus von Dohnanyi hat ganz richtig festgestellt: 'Jeder Staat ist deswegen dafür verantwortlich, daß er Wirtschaftsunternehmen und Arbeitnehmer, Wissenschaftler und Unternehmer in seinem Hoheitsraum in den Stand setzt, den für sie geltenden Wettbewerbsbedingungen entsprechen zu können' (von Dohnanyi, 1997). Dazu gehört natürlich auch, daß dieser Staat seine Möglichkeiten einsetzt, beim Zustandekommen gerechter Wettbewerbsbedingungen mitzuwirken. Auf beiden Gebieten, bei der Anpassung an neue Bedingungen wie beim Voranbringen internationaler Kooperationen, wird man der deutschen Politik den Vorhalt von Versäumnissen nicht ersparen können. Aber auch da, wo Handlungsspielräume real von der internationalisierten Ökonomie vorgegeben sind, muß die Politik nicht am Ende sein. Es geht nicht um ihre Abdankung, sondern um ihren Ausbruch aus dem zu eng gewordenen nationalstaatlichen Gehäuse. Es geht um den 'Abschied vom Nationalstaat' (Albrow, 1998), um Regeln, Rahmensetzungen und Entscheidungen durch supranationale Gremien und Institutionen, die zum großen Teil keineswegs neu erfunden werden müssen. Es geht um politische Akteure, deren Größe und ökonomisches Gewicht eine neue Souveränität gewährleisten. Gewiß darf man die Möglichkeiten nicht überschätzen - das Thema werden wir an anderer Stelle noch eingehender behandeln (vgl. Kap.8). Gleichwohl wird zum Beispiel der einheitliche Wirtschafts- und Währungsraum Europa gegen die Macht von Währungsspekulanten ganz andere Kräfte mobilisieren können, als sie einzelne Notenbanken in der Vergangenheit besaßen. Und natürlich hat die Stimme Europas Gewicht, wenn es in den internationalen Gremien um Regelwerke geht, die zur sozialen und ökologischen Bändigung der Marktkräfte notwendig sind - etwa -1 6 5 -
die Einbeziehung ökologischer und sozialer Mindeststandards in die WTO-Verhandlungen oder die bessere Abstimmung der Wirtschafts- und Finanzpolitik im Rahmen der G7- bzw. G8Staaten. Die Imperative einer entgrenzten Ökonomie werden uns auch zwingen, die Sozialsysteme der Zukunft stärker auf das Fundament einer Steuerfinanzierung zu gründen, unter denen die indirekten Steuern eine größere Bedeutung erhalten werden. Wenn Kapitalbesteuerung schwierig ist und die Besteuerung der Arbeit aus vielen Gründen an Grenzen stößt, liegt hier ein zusätzliches Motiv für die stärkere Besteuerung von Ressourcen. Das Austarieren einer neuen Balance zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Gerechtigkeit wird nicht einfach. Aber eine Alternative dazu gibt es nicht. Die Marktkräfte werden eine solche Balance nicht schaffen. Die Herrschaft des Marktes wird schließlich auch da ihre natürliche Grenze finden, wo dieser Markt seine eigenen Voraussetzungen nicht garantieren kann. Weil er sich um die soziale Integration von Gesellschaften nicht schert und in seinem Selbstlauf eine wachsende Zahl von Gesellschaftsmitgliedern von Teilhabe ausschließt, muß er in seiner ungezügelten Form auf Dauer Gegenkräfte auf den Plan rufen. Es ist ganz und gar unwahrscheinlich, daß im Namen von Wettbewerbsfähigkeit eine größer werdende Zahl von Menschen um Lebenschancen gebracht werden kann, ohne daß dafür irgendwann der Preis gefordert würde. Eine Politik, die sich nicht gegen die Rolle eines Wirts der transnationalen Ökonomie wehrte, hätte keine Zukunft. Denn zu viele Verlierer würden ihre Stimme nutzen. Das muß dem Markt gewissermaßen natürliche Grenzen setzen. Die Politik steht am Scheideweg. Sie würde selbst zum Ruin von Gemeinwesen beitragen, wenn sie sich marktradikal auf die Rolle eines Servicebetriebes für kapitalkräftige Investoren beschränkte. Sie muß freilich umgekehrt auch den Mut finden, alte Strukturen zu erneuern, die auf die neue Wirklichkeit nicht mehr passen. Sie muß sich künftig als Instanz einer -1 6 6 -
kooperativen Steuerung auch im internationalen Rahmen verstehen, die die Kräfte des Marktes sozialgesellschaftlich bändigen und einhegen kann. Dazu braucht sie freilich mehr Selbstbewußtsein, mehr Mut, mehr Phantasie und auch mehr Kraft. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die zivilisatorische Notwendigkeit politischer Steuerung. Es mag allzu optimistisch sein, wie Lafontaine/Müller die programmatische Devise 'Keine Angst vor der Globalisierung' zu formulieren. Aber das heute gar nichts mehr ginge außer der Anpassung an die Gesetze des verschärften Wettbewerbs - das trifft einfach nicht zu. Tatsächlich ist der Grad zwischen Resignation und Überanpassung auf der einen und der Überschätzung des realpolitisch vorhandenen Handlungsraums auf der anderen Seite schmal. Aber es gibt ihn. Daß heute gar nichts mehr ginge außer der Anpassung an die Gesetze des verschärften Wettbewerbs trifft nicht zu. Was soll moderne Politik nun eigentlich regeln, was ausdrücklich nicht? Was sollte sie dem Markt überlassen, was der gesellschaftlichen Selbstregulierung? Folgt man dem marktradikalen Credo moderner Wirtschaftsliberaler, dann hätte moderne Politik vor allem eines zu tun: Sich zurückzuziehen. Sie hätte sich zu beschränken auf die Gewährleistung eines allgemeinen Rechtsrahmens für potentielle Marktteilnehmer, die ihre Chance auf einem Markt suchen, der von politischer Einflußnahme in Form von Steuerungszielen weitgehend befreit wäre. Dieser Rückzug der Politik sei notwendig, weil es vor allem politische Einflußnahme auf das Marktgeschehen sei, die der Entfaltung jener gesellschaftlichen Dynamik im Wege stünde, von der allein jene Verbesserung wirtschaftlicher Entwicklung zu erwarten sei, von der am Ende alle profitieren. In dieser Vorstellung ist die Bindung politischen Handelns an den Zusammenhalt von Gemeinwesen immer weniger erkennbar. Politische Steuerungsabsichten, die sich auf Werte des sozialen Ausgleichs beziehen, erscheinen kontraproduktiv. Soweit der Politik regulierende und intervenierende Funktionen
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zugeschrieben werden, soll diese funktional im Interesse des ökonomischen Systems wahrgenommen werden. Im Gegensatz dazu ist für politische Tradition der Linken ein fast emphatisches Verständnis von Politik für die gedeihliche Entwicklung von Gesellschaften charakteristisch. Was immer als Kern eines linken Politikverständnisses definiert werden mag - die soziale Demokratie, die besondere Betonung von Gleichheitswerten, die Befreiung der Menschen aus Zuständen von Unfreiheit und Bevormundung -, stets schien es nur realisierbar durch politische Regulierung der Ökonomie, durch entsprechende Rahmensetzungen oder gar durch totale Kontrolle der Wirtschaftsabläufe durch die Politik. Ob in der Form der revolutionären Selbsttätigkeit der Massen oder durch die technische Rationalität der Apparate, ob durch Revolution oder durch Eroberung der Staatsmacht in demokratischen Wahlen - immer ging es der Linken um den Primat der Politik, einen Primat, den sie aufklärerisch zu begründen wußte. Zu den Verheißungen der Aufklärung, daß der vernunftbegabte Mensch zu einer vernünftigen Ordnung menschlichen Zusammenlebens befähigt sei, gehörte die Vorstellung von der Herstellbarkeit gerechter Gesellschaftszustände und der politischen Steuerbarkeit von Zukunft. Die Auseinandersetzung zwischen linken und wirtschaftsliberalen Ordnungsvorstellungen wird im Grunde schon seit 1776 geführt, als Adam Smith' 'The Wealth of Nations' erstmals erschien. Das spiegelt sich auch in der deutschen Nachkriegsgeschichte wider. Nachdem in den Trümmern von Krieg und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft sozialistische und planerische Vorstellungen von der Entwicklung der Gesellschaft eine kurze Blütezeit erlebt hatten, der Wirtschaftsliberalismus sogar mitverantwortlich gemacht wurde für den Weg in das nationalsozialistische Regime, setzte sich mit Ludwig Erhards 'sozialer Marktwirtschaft' eine gemäßigte Variante wirtschaftsliberaler Ordnungsvorstellung durch, die in sich verschiedene Elemente eines Sozialkapitalismus aufnahm. Es entstand jenes 'Modell Deutschland', das heute als 'rheinischer Kapitalismus' (Albert, -1 6 8 -
1992) bezeichnet wird und das durch seine sozialkorporatistischen Verflechtungen vom angloamerikanischen und vom asiatischen Modell des Kapitalismus unterscheidbar ist. Nach dem ökonomischen Erfolg des deutschen 'Wirtschaftswunders' sorgten die Turbulenzen der späten sechziger Jahre dann mit einer allgemeinen Reformstimmung für eine neue Blüte von Vorstellungen, die die Planbarkeit von Zukunft durch Einsatz politischer Steuerungsinstrumente betonten. In der Regierung Willy Brandt wurden ganze Planungsgruppen im Kanzleramt gebildet, die systematisch an der Umsetzung einer Strategie der inneren Reformen arbeiten sollten. Karl Schiller hatte schon zuvor, in der Zeit der Großen Koalition, die 'Konzertierte Aktion' geschaffen, die im Konsens 'soziale Symmetrie' herstellen sollte. Zugleich sollte mit dem Stabilitätsgesetz der Grundstein für eine vorausschauende und ausgewogene Wirtschafts - und Finanzpolitik gelegt werden. Dem Denken dieser Zeit entsprach die Vorstellung, daß sich durch gezielten Einsatz politischer Instrumente die Grundlinien wirtschaftlicher Entwicklung und sozialen Ausgleichs steuern ließen. Diese Blüte planerischer Politikvorstellungen war freilich nur von kurzer Dauer. Mit den weltwirtschaftlichen Krisenerscheinungen in der Folge der ersten Ölpreisschocks begann eine neuerliche Wende im Denken der Zeit, die sich beim Übergang zu den achtziger Jahren noch verstärkte. Die großen Hoffnungen, mit denen sich namentlich Sozialdemokraten Anfang der siebziger Jahre an planerische Visionen gemacht hatten, waren bald wieder verflogen. Mit den wenig befriedigenden Resultaten der letzten Konjunkturprogramme der Regierung Helmut Schmidt schwand das Vertrauen zur Regulierbarkeit wirtschaftlicher Entwicklung durch die Globalsteuerung. Zugleich wurde das Haushaltsdefizit immer größer. In dieser Lage war es mit der geistigen Hegemonie sozialreformerischer Weltbilder bald vorbei. 'Leistung muß sich wieder lohnen' hieß die Losung, mit der Helmut Kohl 1982 die Kanzlerschaft von der Regierung Schmidt übernahm, die von einer neuen ökologischen Wachstumskritik -1 6 9 -
auch auf einer anderen Seite des politischen Spektrums unter Beschuß genommen worden war. Staatsquote, Staatsverschuldung, Abgabenbelastung, 'leistungsfeindliche Überreglementierung' und ein angeblich überspanntes Netz sozialstaatlicher Sicherung - das stand schon damals im Zentrum liberaler und konservativer Angriffe, die sich in jenem 'Lambsdorff-Papier' zugespitzt fanden, das im September 1982 zur Trennungsurkunde der sozialliberalen Bundesregierung wurde. Andernorts hatten solche Wechsel bereits früher stattgefunden. So nahm die neoliberale Revolution in Großbritannien mit Maggie Thatcher schon seit 1978 ihren marktradikalen Lauf und mit ihr die Zurückdrängung gewerkschaftlicher Machtpositionen, eine radikale Steuersenkungspolitik, die eine schrittweise Zurückführung des Spitzensteuersatzes von 83 bis auf vierzig Prozent und die Halbierung der Unternehmensbesteuerung vorsah, sowie ein Programm zur Privatisierung staatlicher Leistungen. Eine ideologisch festgefahrene Labour Party hatte ihr dabei den Weg geebnet. Ronald Reagan wurde 1980 mit einem Programm zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, das radikale Steuersenkungen und drastische Einschnitte bei den Sozialausgaben vorsah. Erst später wurde deutlich, wie sehr Reagan mit seiner gleichzeitigen Subventionierung des militärisch-industriellen Komplexes zu einem ein beispiellosen Haushaltsdefizit beitrug, das, gemessen an unseren heutigen Konvergenzkriterien, bei acht Prozent gelegen hat. Schon vor dem Zusammenbruch der letzten Illusionen über die segensreichen Kräfte totaler Regulierung der Ökonomie durch die Politik nach der Auflösung des sowjetischen Imperiums am Ende der achtziger Jahre war die prägende Kraft sozialgesellschaftlicher Weltbilder eindeutig schwächer geworden. Da das Ende der staatssozialistischen Systeme des Ostblocks als Erfolg des Marktes gesehen wurde, hat sich diese Entwicklung beim Übergang zu den neunziger Jahren fraglos verstärkt. Die sozialreformerischen Weltbilder der siebziger Jahre wirkten nun weit entrückt. -1 7 0 -
So läßt sich die heutige politische Auseinandersetzung einerseits als Fortsetzung und Zuspitzung einer schon lange währenden Kontroverse zwischen den Vertretern einer wirtschaftsliberalen Ordnungsvorstellung und den Befürwortern einer sozialgesellschaftlichen Beschränkung der Ökonomie verstehen. Zugleich aber haben wir es mit etwas Neuem zu tun: Während die Auseinandersetzungen der siebziger und achtziger Jahre noch von der Vorstellung grundsätzlich vorhandener Steuerungsalternativen geprägt waren, scheinen diese Alternativen angesichts der Integration der Weltmärkte inzwischen arg geschrumpft. Was vor zwanzig Jahren prinzipiell auf dem Wege politischer Mehrheitsbildung über demokratische Wahlen entscheidbar schien, tritt heute mit dem Anspruch objektiver, vom Weltmarkt erzwungener Alternativlosigkeit auf. Obgleich der relative Erfolg der sozial gebändigten Marktwirtschaften der Nachkriegsepoche stets an die relativ konfliktarme Balance von Wirtschaftswachstum, sozialer Integration und politischer Demokratie gebunden war, hat die Vorstellung davon, daß alle Zwecke der Ökonomie letztlich an Ziele wie die Entwicklung sozialer Demokratie und sozialer Kohäsion rückzubinden sind, heute erstaunlich stark gelitten. Immer häufiger gerät die Aufgabe der Sozialintegration aus dem Blick und erscheint als abgestandener Restposten unverbesserlicher Spätsozialisten und Regulierungsapostel. Dies trägt indirekt mit dazu bei, daß auf der sozialgesellschaftlichen Seite des politischen Spektrums gesellschaftliche Strukturveränderungen nicht oder nur unzureichend wahrgenommen werden, die tatsächlich zu Umbauten und neuen Lösungen zwingen. In der Tat ist es heute nicht immer einfach, zwischen realen Problemen des Strukturwandels und wirtschaftsliberalem Ideologievorrat zu unterscheiden. Vier Aufgaben lassen sich festhalten, die Gemeinwesen heute und in der Zukunft gleichermaßen lösen müssen. Sie müssen erstens Wohlstand schaffen und Wohlstand erhalten - unter Bedingungen verschärften internationalen Wettbewerbs. Sie müssen zweitens den Zusammenhalt von Gesellschaften -1 7 1 -
organisieren und immer wieder neu herstellen. Sie müssen drittens politische Freiheit und Demokratie erhalten und entwickeln. Und sie müssen dies viertens alles schaffen, ohne die natürlichen Ressourcen dieser Erde derart verschwenderisch auszubeuten, daß dadurch die Grundlagen für die Verfolgung dieser Ziele ruiniert werden. Die Marktgesetze können helfen, diese Ziele zu erreichen. Sie können dies freilich nur, wenn der Rahmen stimmt, in dem sie zur Entfaltung kommen. Diesen Rahmen zu schaffen, ist Aufgabe der Politik. Deshalb brauchen wir nicht ihre Abdankung. Wir brauchen vielmehr die Renaisscance der Politik, einer Politik, die sich ihrer Grenzen wohl bewußt ist, die aber auch ihre Verantwortung und ihre Aufgaben da entschlossen wahrnimmt, wo es auf ihre Regulierungskompetenz ankommt. Politik ist nicht allzuständig. Sie kann und sie darf nicht alles. Dort, wo die Selbstregulierungskräfte der Gesellschaft und des Marktes gedeihliche Entwicklungen in Gang setzen, kann sie sich beschränken. Sie muß sich nicht überall einmischen. Nicht nur die staatliche Sphäre kann der Geltung der Marktgesetze Grenzen setzen. Auch die Kräfte der Bürgergesellschaft können hier wichtige Funktionen übernehmen. Wenn sich die alte Kolonnengesellschaft auflöst, in der die Solidarität der vielen gegenüber der überlegenen Machtposition der Eigner des Produktivkapitals für eine einigermaßen erträgliche Verteilung von Reichtum und sozialer Sicherung sorgen konnte, wenn diese soziale Realität mehr und mehr einer Informationsgesellschaft der Selbständigen und Scheinselbständigen weicht, die soziale Desintegration weniger von mächtigen gesellschaftlichen Großorganisationen abgefedert werden kann und die Kraft der großen Kollektivakteure schwindet, entstehen daraus auch neue politische Steuerungs- und Regulierungsaufgaben. Politik hat funktionierende Rahmenbedingungen für den Markt zu setzen. Dazu gehören die Sicherung der infrastrukturellen Voraussetzungen, der Teilhabemöglichkeiten am Markt und des privaten Eigentums sowie eine stabile Währung und ein -1 7 2 -
einheitliches Rechts- und Normensystem. Dazu gehört ein leistungsfähiges Bildungssystem sowie eine Wirtschafts - und Forschungsförderung, die in den zukunftsträchtigen Bereichen die richtigen Schwerpunkte setzt. Politik muß auch eine moderne Wertschöpfung ermöglichen helfen, die Voraussetzung ist für sozialpolitische Umverteilung und sozialen Ausgleich. Es ist ihre besondere Aufgabe, Chancen der Teilhabe gerade für diejenigen zu öffnen, die der Unterstützung besonders bedürfen. Sie muß über das System der sozialen Sicherungen und die Gesundheitsfürsorge die Voraussetzungen schaffen, die jedem einzelnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Politik hat nicht nur allgemeine Verfahrensregeln und rechtliche Rahmenbedingungen festzulegen. Sie muß - direkt und indirekt - die Kräfte von Solidariät und sozialer Gemeinwohlorientierung stärken. Innovation und wirtschaftliche Entwicklung fördern, soziale Gerechtigkeit sichern, den ökologischen Strukturwandel voranbringen - das werden die Kernaufgaben politischer Regulierung im 21. Jahrhundert sein. Diese politische Regulierung wird in neuen Formen stattfinden müssen. Supranationale politische Organisationsformen werden an Bedeutung gewinnen. Zugleich wächst auch die Bedeutung neuer politischer Organisationsformen jenseits des staatlichen wie des alten Institutionenapparates. Medien und die sogenannten NGOs werden im Rahmen politischer Steuerungsprozesse eine größere Rolle spielen. Die Geltung des marktwirtschaftlichen Funktionsprinzips kann nicht nur durch die klassischen Institutionen der Politik, Staatsmacht, Parteien und Großverbände, begrenzt werden. Manche Regeln können verschwinden, weil sie die Entwicklung von Wohlstand und Wohlfahrt eher behindern als fördern. Aber wir brauchen zugleich auch neue Regeln für viele neue Probleme, die durch den Strukturwandel hervorgebracht werden. Dazu brauchen wir eine moderne, selbstbewußte Politik, die sich nicht ängstlich hinter den Sachzwängen der Ökonomie versteckt und die sich nicht als Gegner, aber auch -1 7 3 -
nicht als Serviceladen der Ökonomie versteht. 'Der Traum von der Entpolitisierung, dem der Vulgärliberalismus anhängt, der keine Parteien kennen will, sondern nur noch Wirtschaft, ist schon manches Mal geträumt worden, und er ist nie in Erfüllung gegangen ... Die Politik ist nicht abzuschaffen ... Es gibt nicht nur den Kampf ums Geld, den der Vulgärliberalismus für die einzige Wirklichkeit hält, sondern auch den Kampf gegen die Allmacht des Geldes' (Roß, 1998, S.161/162). Unser Leitbild ist die Teilhabegesellschaft. Wenn sie eine Chance haben soll, wird der Renaissance der Politik dabei eine entscheidende Rolle zukommen.
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7. Der moderne Staat 'Die Absicht und Ursache, warum die Menschen bei all ihrem natürlichen Hang zur Freiheit und Herrschaft sich dennoch entschließen können, sich gewissen Anordnungen, welche die bürgerliche Gesellschaft trifft, zu unterwerfen, lag in dem Verlangen, sich selbst zu erhalten und ein bequemes Leben zu führen: oder mit anderen Worten, aus dem elenden Zustande eines Krieges aller gegen alle gerettet zu werden. Dieser Zustand ist aber notwendig wegen der menschlichen Leidenschaften mit der natürlichen Freiheit so lange verbunden, als keine Gewalt da ist, welche die Leidenschaften durch Furcht vor Strafe gehörig einschränken kann ... Hieraus ergibt sich, daß ohne eine einschränkende Macht der Zustand der Menschen ein solcher sei, wie er zuvor beschrieben wurde, nämlich ein Krieg aller gegen alle' (Thomas Hobbes, Leviathan). Bereits für Hobbes galt als ausgemacht, daß Politik den Staat als Handlungsraum und Herrschaftsorganisation voraussetze. Demnach war der Staat über Jahrhunderte das Zentrum des politischen Denkens. 'Im Staat allein hat der Mensch vernünftige Existenz. Alle Erziehung geht dahin, daß das Individuum nicht ein Subjektives bleibe, sondern sich im Staate objektiv werde', heißt es bei Hegel. Auch in der klassischen Vorstellung der Linken von der Regulierungskraft der Politik spielt der Staat eine beherrschende Rolle: Von seinen 'Kommandohöhen' aus werden den Marktkräften jene gesellschaftlichen Räume abgetrotzt, in denen dann die fürsorgliche Instanz Staat im Interesse wohlfahrtsgesellschaftlicher Umverteilung tätig werden kann. Die Indienstnahme eines staatlichen Apparates zugunsten von sozialer Integration, sozialem Ausgleich und der Verfolgung nichtmarktwirtschaftlicher, gemeinwohlorientierter Ziele galt so als Zentralvoraussetzung einer erträglichen Balance zwischen Freiheit und Gleichheit, zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Demokratie. -1 7 5 -
Wohl blieb diese Sicht auf die Rolle staatlicher Aufgaben in der Geschichte der Linken keineswegs unumstritten. So kennt die Geschichte Nordamerikas und der dortigen Arbeiterbewegung keine vergleichbar 'etatistischen' Vorstellungen von der Abfederung sozialer Konfliktpotentiale in der Gesellschaft. Auch in Europa sind diese Vorstellungen in der Linken des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder kritisiert worden; von radikalen Sozialisten und Kommunisten ebenso wie von den anarchosyndikalistischen Richtungen der Arbeiterbeweguung. Man fürchtete die damit verbundene 'Pazifierung von Klassenkonflikten' und die Einvernahme der Interessen einer zu emanzipierenden Arbeiterschaft in ein 'korporatistisches Herrschaftsmodell' eines kompromißlerisch verbrämten Kapitalismus. Freilich blieb selbst im revolutionären Gegenbild dieser Teile der Linken Politik an Staatlichkeit gebunden. Die Negation der Herrschaftsorganisation Staat durch Marx' 'freie Assoziation der Individuen' sollte sich auf der Basis eben dieser Herrschaftsorganisation vollziehen. Der Staat blieb so letztlich die Prämisse, von der alles politische Denken ausging. Letztlich hat sich diese Staatsauffassung in den erfolgreichen sozialdemokratischen Parteien Europas über Krisen und Auseinandersetzungen hinweg durchsetzen können. Dabei ist sie in der deutschen Sozialdemokratie sogar in besonderer Weise prägend geworden. In Deutschland würden die Revolutionäre vor der Besetzung des Bahnhofs erst einmal vorschriftsmäßig eine Bahnsteigkarte erwerben, urteilte Kurt Tucholsky mit beißendem Spott über die Arbeiterbewegung in der Weimarer Zeit. Die Vorstellung von der zentralen Rolle des Staates für die Einlösung der Ziele von sozialer Gerechtigkeit, realer staatsbürgerschaftlicher Gleichheit und der Möglichkeit sozialen Aufstiegs wurde schließlich - weit über die sozialdemokratischen Parteien hinaus - zum bestimmenden Gesellschaftsbild einer Ära, für die sich der Begriff vom 'sozialdemokratischen Jahrhundert' eingebürgert hat. In diesem Gesellschaftsbild kam dem Staat im Kampf um den Primat der Politik die entscheidende Rolle zu. Dementsprechend genoß auch das staatliche -1 7 6 -
Aufgabenmonopol höchste Wertschätzung. Staatliche Behörden, staatliche Prärogative und Elemente staatlicher Planung galten als Garanten der Wahrnehmung von Gemeinwohlorientierung. Das politische Denken formierte sich in dem Dualismus Staat-Markt. Allenfalls die inzwischen versunkenen Reste des gewerkschaftsnahen Genossenschaftssektors besaßen daneben noch Kredit als Träger öffentlicher Aufgaben und Instanz zur Beförderung des Gemeinwohls. Die privatwirtschaftliche Sphäre erschien demgegenüber eher als Fremdkörper. Ein Fremdkörper, der zwar für eine gedeihliche Entwicklung wirtschaftlichen Fortschritts unverzichtbar schien, der aber doch nur in sehr begrenztem Umfang als geeignet betrachtet wurde, die wahren Bedürfnisse einer Gesellschaft decken zu können, und dessen Entfaltungsräume durch staatliche Intervention zu begrenzen waren. Privatwirtschaftliche Organisationsformen wurden zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben kaum für geeignet gehalten. Entsprechend kam es bis in die siebziger Jahre hinein - keineswegs nur hierzulande - zu einer ständigen Ausweitung öffentlicher Aufgaben. Stark unterbelichtet blieben in Deutschland lange Zeit die Möglichkeiten und Chancen bürgerschaftlicher Selbstorganisation. Daß nicht nur der Staat, sondern auch Gesellschaft den Steuerungsanspruch des Marktsystems begrenzen kann, wurde ebenso vernachlässigt wie die Folgen einer staatlichen Überreglemtierung, die im Namen der Gerechtigkeit begründet, aber von emanzipierten Staatbürgern als Beschränkung ihrer freiheitlichen Entfaltungsräume wahrgenommen werden kann. Man wird wohl sagen können, daß deutsche Linke lange Zeit weniger liberal, aber dafür um so staatsgläubiger war. Dies hat sich erst in den Jahren nach 1968 sichtbar verändert. Seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre sieht sich dieses Verständnis von der Rolle des Staates Angriffen ausgesetzt, die aus mehreren Richtungen zugleich kommen: Eine liberale Sozialstaatskritik verweist auf die Nachteile einer -1 7 7 -
sozialstaatlichen Regulierung, die den Bürger mit einem solchen Übermaß an staatlichen Interventionen, zentralisierten Prozeduren politischer Planung und sozialstaatlichen Leistungen konfrontiere, daß nicht nur Leistungsbereitschaft und Initiative der Bürger gehemmt würden, sondern auch ihr Sinn für soziale Verantwortung. Eine ökonomistisch argumentierende Staatsauffassung, die mit dieser liberalen Sozialstaatskritik keineswegs identisch ist, betont unter dem Druck immer enger werdender Finanzierungsspielräume der öffentlichen Hand die Notwendigkeit von Effizienzsteigerung und Kostenersparnis und folgert daraus das Ziel einer Übertragung staatlicher Aufgaben auf private Anbieter. Dabei bleibt - abgesehen vom Militär und der staatlichen Verfassungsgerichtsbarkeit - inzwischen fast kein angestammter Bereich staatlicher Aufgaben von der Diskussion verschont. Außerdem gerät diese Staatsvorstellung drittens unter den Druck einer zivil- und bürgergesellschaftlich argumentierenden Richtung, die im fürsorglichen Sozialstaat des sozialdemokratischen Jahrhunderts Elemente eines paternalistischen Verständnisses von Demokratie und Elemente eines Obrigkeitsstaats entdeckt, die modernen Vorstellungen einer Bürgergesellschaft mit weitreichender individueller Wahl- und Optionsfreiheit längst nicht mehr entsprächen. Sie will aus dem Dualismus von Markt und Staat heraus, bringt die Selbstorganisationskraft der Gesellschaft als Widerpart zur Herrschaft des ökonomischen Nutzenkalküls ins Spiel und fordert die subsidiäre Modernisierung des Sozialstaats. Damit verbindet sich zugleich eine Kritik an überkommenen Vorstellungen von der Regulierung des politischen Prozesses durch Planungshoheit zentralisierter Instanzen, die in der postmodernen Gesellschaft mit ihrem hohen Maß an Interdependenzen und selbststeuernden Elementen und der neuen Bedeutung von 'Subpolitiken' (Beck) nicht mehr angemessen sei. Auch diese Richtung der Kritik verbindet sich nicht selten mit der Analyse mangelnder Effizienz staatlicher Leistungen. Dieser Aspekt bildet in ihr jedoch nicht den eigentlichen Ausgangspunkt, weshalb sie auch nicht -1 7 8 -
notwendig daran gebunden ist und bürgergesellschaftliche argumentierende Autoren zu Recht gegen eine Indienstnahme für neoliberale Staatsverständnisse argumentieren. 'Obwohl, ja sogar weil die Autoren dieses Gutachtens unzweideutig Position beziehen zugunsten einer Reduktion und ÝVergesellschaftungÜ staatlicher Aufgaben, möchten sie doch ebenso unzweideutig an der Auffassung festhalten, daß die Typik staatlichen Handelns ... sich jeder eindimensionalen Wertsetzung entzieht. Als ÝModeratorÜ der sozialen und funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft muß der vermittelnde und regulierende Staat zuvörderst im Hinblick auf anders nicht zu erfüllende Funktionen entworfen, kritisiert und ÝrationalisiertÜ werden' (Wiesenthal, 1995). Schließlich haben wir es viertens heute mit einem Alltagsverständnis zu tun, dem längst geklärt scheint, daß mit dem Staat kein Staat mehr zu machen sei. Das Vertrauen in die segensreiche Kraft des Wirkens staatlicher Institutionensysteme ist inzwischen in einem für demokratische Gesellschaften durchaus dramatischen Ausmaß gesunken. In dieser Gemengelage findet heute jede Auseinandersetzung über die Zukunft des Staates und seine Rolle bei der politischen Rahmensetzung für eine marktwirtschaftliche Ordnung statt. Dabei spiegelt die im politischen Alltagsdiskurs vorherrschende Verkürzung der Debatte auf Gesichtspunkte von Effizienzsteigerung und Kostenersparnis ('schlanker Staat') zwar die Problemlagen wider, wie sie sich durch dramatisch verschärfte finanzielle Rahmenbedingungen ergeben. Sie liefert jedoch schon deshalb keine zureichende Orientierung für Aufgaben und Strukturen moderner Staatlichkeit, weil sie in aller Regel schlicht ausblendet, daß staatliche Aufgabenerfüllung stets an eine Balance zwischen sozialen und funktionalen Kriterien gebunden ist. Es geht nie allein nur um Kosten oder Ergebnisse im Sinne eines betriebswirtschaftlichen Outputs, sondern stets auch um demokratische, rechtsstaatliche und informatorische Qualitäten von Verfahren und Aufgabenerfüllung. Deshalb ist das Ziel der Staatsmodernisierung in bürgergesellschaftlicher Richtung auch -1 7 9 -
nicht zu identifizieren mit Minimalstaat und ideologisch begründeter Deregulierung. Die liberalistisch inspirierte Sozialstaatskritik hat angesichts der Strukturveränderungen in modernen Gesellschaften hochgradig ambivalenten Charakter. Da sie einerseits solche Strukturveränderungen wie die Auflösung der industrialistischen Kolonnengesellschaft, die prägend war für die Struktur unserer Sozialsysteme, thematisiert, kann sie in ihren moderaten Varianten durchaus als Beitrag zu einer weiterführenden Reformdebatte verstanden werden. Danach wäre das 'emanzipatorische Ziel des Sozialstaats' (Habermas 1985) gerade gefährdet, wenn privilegierte und zugleich privatisierende Bürger sich auf die Nutzung von Ansprüchen und Serviceleistungen beschränkten. Ein passives Versorgungsdenken, wie es die Kritiker der 'Anspruchsrevolution' schon in den siebziger Jahren als Kehrseite perfektionierter sozialstaatlicher Versorgungsnetze herausgestellt haben, entspricht dem bürgergesellschaftlichen Bild des kritischen Aktivbürgers gerade nicht - erst recht nicht den wachsenden Notwendigkeiten zur Selbstverantwortung in einer Gesellschaft der neuen Selbständigkeit. Umgekehrt freilich können solche Einwände leicht zur Einbruchstelle einer grundlegenden Abkehr von sozialstaatlichen und sozialgesellschaftlichen Prinzipien zugunsten einer Privatisierung von Lebensrisiken werden. Die möglichen negativen Konsequenzen von Verrechtlichungsund Bürokratisierungstendenzen für den einzelnen zu bedenken, ohne dabei die Ziele sozialgesellschaftlicher Einbindung und Lösung existentieller Risiken aus dem Blick zu verlieren und von diesem Ausgangspunkt staatliche Aufgabenwahrnehmung in der modernen Gesellschaft festzulegen - exakt darum geht es. Die Konsequenz daraus kann nicht die Abschaffung von Sozialstaatlichkeit, sondern nur ihre 'Subsidiarisierung' sein. Der Staat muß sich zur Gesellschaft hin öffnen, wenn das Projekt der 'Wohlfahrtsgesellschaft' (Evers, 1995) eine Chance haben soll.
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Die zivil- und bürgersellschaftliche Kritik des 'altlinken Etatismus' thematisiert mit Recht die Reste eines letztlich vordemokratischen, obrigkeitlichen Staatsverständnisses, nach dem staatliche Bedienstete nicht in erster Linie eine gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen, sondern ein Amt zu verwalten und eine Betreuungsklientel zu versorgen haben. Sie attackiert ebenso zu Recht die Struktur eines hierarchischen Verwaltungsaufbaus und -vollzugs, der den modernen Einsichten über Me hrdimensionalität und Polyzentrismus von Steuerungsprozessen nicht mehr entspricht. Verwaltungsaufbau und Verwaltungsvollzug spiegeln bis heute die Vorstellung eines einheitlichen, hierarchisch aufgebauten Regulationszentrums zur Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse wider. Längst aber hat das traditionale Verständnis von Staatlichkeit, das auf der klaren Trennung von Staat und Gesellschaft basiert, seine tragenden Grundlagen verloren. Dieses Verständnis, dem zufolge Staat und Gesellschaft voneinander scharf abgetrennte Bereiche sind, trifft die heutige Realität nicht mehr. Faktisch übt Gesellschaft längst eine Kontrollfunktion gegenüber Regierungen und Verwaltungen aus, ist staatliche Aufgabenerfüllung an Gewährleistungs- und Koordinierungsleistungen gebunden, die nur in Zusammenarbeit mit den Repräsentanten der Gesellschaft erbracht werden können. Der Staat ist demokratisch 'entzaubert', ihrer staatsbürgerlichen Rechte gewisse Bürger sind nicht einfach durch Staatsautorität zu disziplinieren. Man denke hier nur an die Medien, die Rolle von NGOs und von Bürgerinitiativen. All dies hat in den neueren Debatten um den Einsatz von Mediatoren bei umstrittenen Vorhaben der öffentlichen Verwaltung oder an die wachsende Tendenz zur Einbindung von Bürger- und Interessengruppen in den politischen Entscheidungsprozeß durch Foren und runde Tische auch längst seinen praktischen Niederschlag gefunden. Dem Funktionsverlust der institutionellen Sphäre des Politischen (Staat, Parteiensystem usw.) entspricht nicht ein genereller Funktionsverlust des Politischen. Vielmehr ist Politik aus den klassischen Arenen ausgewandert in eine Sphäre der -1 8 1 -
Subpolitik von Organisationslosen, Bürgerinitiativen und NichtRegierungs-Organisationen, die längst eine Macht darstellten, ja thematisch sogar längst die Macht ergriffen haben. Tatsächlich wird, wie Beck es ausdrückt, 'die politische Ideengeschichte der letzten zwei Jahrzehnte nicht ohne eine Geschichtsschreibung der Subpolitik auskommen' (Beck, 1993). Es erscheint jedoch keineswegs als ausgemacht, daß der Verlust politischer Steuerungskompetenz gegenüber dem supranational entweichenden ökonomischen System dadurch irgendwie kompensiert werden könnte. Das Agieren von Greenpeace liefert hierfür keinen überzeugenden Gegenbeweis, wie Beck an anderer Stelle selber feststellt (Beck, 1997b). Ebensogut ließe sich die Auffassung begründen, daß die Sphäre staatlichen Handelns gleich nach zwei Seiten an Bedeutung verliert: nach oben zu den Imperativen der globalisierten Ökonomie, nach unten durch den Verlust von Durchsetzungsmacht in Form des Versandens bislang reibungsloser Abläufe in der Widerständigkeit kontroverser Vorhaben. Was dabei auch herauskommen kann, läßt sich am Beispiel der Klimaschutzpolitik illustrieren: Dem allgegenwärtigen, überparteilichen Gerede über 'Agenda 21' und 'nachhaltige Entwicklung' steht das glatte Verfehlen der nationalen Klimasschutzziele entgegen. Der Einsatz einer kritischen Aktivbürgerschaft im kommunalen Rahmen kann die politische Steuerungsleistung da, wo die grundlegenden Strukturentscheidungen fallen, ganz offensichtlich nicht ersetzen. Demnach entlastet die Öffnung zur Gesellschaft nicht von der Wahrnehmung von staatlichen Steuerungsfunktionen. Es wird also darauf ankommen, sie gezielter, effektiver und konzentrierter einzusetzen. Hier stellt sich auch das Problem einer zu weit getriebenen Durchmischung der verschiedenen politischen Ebenen. Hier wäre Entzerrung geboten. Eine klare Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden wäre gewiß sinnvoller als der kaum noch zu überblickende Wildwuchs von Mischfinanzierungen und eine wenig durchsichtige Verteilung der Steuereinnahmen.
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Wenn das alte Bild von der paternalistischen Staatlichkeit durch die radikaldemokratische Kritik passé ist, dann wird das Modell eines rundum versorgenden Wohlfahrtsstaates ebensowenig Orientierung für die Zukunft geben können wie das eines minimalistischen Staates, der nur den Raum für marktförmige Selbstregulierung öffnet. Der moderne Staat kann nur ein Bürgerstaat sein, der die Kräfte gesellschaftlicher Selbstorganisation als Begrenzung der Herrschaft des ökonomischen Systems fördert. In der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts wird Staatlichkeit nicht in einer abgehobenen, undurchschaubaren Sphäre stattfinden. In dieser Gesellschaft ist der Staat 'entzaubert', keine besondere, der Gesellschaft entgegentretende Kraft, kein bürokratischer Moloch, kein Leviathan, der immer mehr Sphären der Gesellschaft beherrscht und sich immer weiter ausbreitet, und auch keine riesige Gerechtigkeitsmaschinerie. Er ist vielmehr ein Staat, der von der Bürgerschaft das Gewaltmonopol und ein Mandat zu unverzichtbaren Koordinierungs- und Regulierungsleistungen hat, der dieses Mandat auch entschlossen wahrnimmt, der aber zugleich in der Ausübung dieser Funktionen wieder an die Gesellschaft und ihre Institutionen rückgekoppelt ist. Er öffnet Räume, die weder verstaatlicht noch kommerzialisiert sind. Er wirkt als Katalysator für soziales Engagement in einer bürgergesellschaftlichen Ordnung, die sich nicht gegen Markt und Staat stellt, die aber den Geltungsanspruch beider Teilsysteme begrenzt. Manche vormals dem Staat vorbehaltene Räume lassen sich parastaatlich mit 'public-privatepartnerships' organisieren. Der Staat der Zukunft wird häufiger als 'invisible hand' wirken können. Und er wird auch auf mehr Eigenverantwortung der Bürger setzen müssen. Wenn Staat, Markt und Gesellschaft gleichermaßen das Zusammenleben von Gesellschaften strukturieren, kann es im Staatsverständnis einer modernen Linken nicht mehr um die einfache Entgegensetzung von Markt und Staat gehen, sondern um Mischung und Synergie der drei Ordnungselemente Markt, Staat und Gesellschaft. Denn wenn dem modernen Staat die Öffnung bürgergesellschaftlicher Räume gegen die Imperative -1 8 3 -
des Marktes gelingen soll, dann muß er den Möglichkeiten bürgergesellschaftlicher Selbstorganisation auch etwas zutrauen. Dann kann für ihn der Bürger nicht fürsorglich oder obrigkeitlich zu behandelndes Betreuungsobjekt sein, sondern muß als 'citoyen' Partner und zugleich 'sozialer Unternehmer' sein, der darin zu unterstützen ist, soziale Räume jenseits kommerzieller Zwänge frei und selbstverantwortlich zu nutzen. Dabei geht es dann weniger um das staatliche Großunternehmen soziale Wohlfahrt, sondern um die staatliche Rahmensetzungen, um die Wahrnehmung staatlicher Gewährleistungsaufgaben für die Wohlfahrtsgesellschaft der Zukunft. Das Subjekt eines modernen, sozialgesellschaftlichen Staatsverständnisses ist nicht mehr zuerst der zu versorgende Massenarbeiter der industriellen Ära, sondern der freie Bürger, dem der Raum zu sozialem und gemeinnützigem Engagement geöffnet werden muß. Die Perspektive ist der Bürgerstaat. Ein Bürgerstaat, der nicht in einer abgehobenen Sphäre angesiedelt ist, nicht gnädig gewährt, sondern an ihn von der Bürgerschaft delegierte Regulierungs-, aber auch Serviceleistungen erbringt. Ein Staat, der sich stärker auf Kernaufgaben konzentrieren muß und der Aufgabenübertragung als Chance der Ausweitung bürgerschaftlicher Selbstorganisation versteht. Der Personalbestand des öffentlichen Dienstes hat sich in den letzten hundert Jahren in Deutschland von rund 700000 im Jahr 1882 auf knapp 5,2 Millionen im Jahr 1993 etwa versiebenfacht. Gewiß, in diesem langen Zeitraum hat sich auch eine Vielzahl neuer Aufgaben ergeben. Im Zuge der Entwicklung moderner Gesellschaften, des Wertewandels und der allgemeinen Wohlstandsentwicklung sind neue Bedürfnisse entstanden, die auch neue Formen der Problemverarbeitung und Entscheidungsfindung notwendig machten. Daraus ergab sich eine Schwerpunktverschiebung in der staatlichen Aufgabenwahrnehmung: Aus der Konzentration auf äußere Sicherheit und innere Ordnungsleistungen wurden Dienstleistungs-, Versorgungs- und Entwicklungsaufgaben insbesondere im sozialen Sektor. Freilich zeigen bereits die -1 8 4 -
Zahlen, daß die Entwicklung der öffentlichen Verwaltung inzwischen an Grenzen gestoßen ist. Nun darf hier nicht unerwähnt bleiben, daß die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Anteil der im öffentlichen Dienst Beschäftigten im Gegensatz zu manchem landläufigen Vorurteil keineswegs über dem europäischen Durchschnitt und sogar noch unter dem Durchschnittswert der OECD-Staaten liegt. Selbst die vieldiskutierte Staatsquote liegt im internationalen Vergleich eher im Durchschnitt (vgl. zu den Zahlen Jahresgutachten 1997/98 des Sachverständigenrates..., a.a.O., Tab.7). Dennoch wird der öffentliche Dienst abspecken müssen, wenn nicht der Personalkostenanteil der öffentlichen Haushalte derart ansteigen soll, daß schon in wenigen Jahren jeder finanzpolitische Handlungsspielraum aufgezehrt wäre. Eine Gesellschaft emanzpierter Bürger mit viel bürgerschaftlicher Selbstorganisation wird auch kaum eine Staatsquote von fünfzig Prozent benötigen. Gewiß ist die Staatsquote eine sehr abstrakte Bezugsgröße für die Ermittlung gesellschaftlicher Wohlfahrt. Aber ein Sozialstaat, der aufgrund expandierender Abgaben vornehmlich als Steuerstaat wahrgenommen wird, schafft sich Akzeptanzprobleme. Längerfristig wird die Staatsquote sinken müssen. Wir plädieren nicht für eine rigide Privatisierungsstrategie. Wir plädieren allerdings für eine Aufgabenkonzentration. Und wir plädieren dafür, daß der Versuchung widerstanden werden muß, neue Aufgabengebiete ungeprüft in die öffentliche Verantwortung zu übernehmen. Staatliche Aufgabenverantwortung wird künftig stärker zwischen Gewährleistungsverantwortung, Finanzierungsverantwortung und Durchführungsverantwortung differenzieren müssen. Im Rahmen von Gewährleistungsverantwortung muß staatliche Verwaltung für die zur Leistungserbringung nötigen Rahmenbedingungen sorgen und Leistungsziele und Leistungsstandards vorgeben. Eine unmittelbare Finanzierungsverantwortung muß daraus jedoch ebensowenig erwachsen wie eine direkte Durchführungsverantwortung. Eine Finanzierungsverantwortung sollte an zwingende soziale -1 8 5 -
Gründe gebunden sein. Eine unmittelbare staatliche Durchführungsverantwortung setzt voraus, daß andere Anbieter die Erreichung der gesetzten Leistungsziele und Leistungsstandards nicht gewährleisten oder gar keine alternativen Anbieter verfügbar sind. Staatsmodernisierung heißt nicht Ausweitung des kommerziellen Sktors. Eine in private Rechtsform überführte Verwaltungseinheit, die jedoch in öffentlicher Trägerschaft bliebe, läßt sich ebenso vorstellen wie die stärkere Übertragung von Aufgaben an den Non-ProfitSektor von Selbsthilfegruppen und Selbsthilfenetzwerken. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die weder Teil der staatlichen noch Teil der privaten Sphäre sind, spielen heute schon eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung gemeinwohlorientierter Aufgaben. In vielen Fällen haben Selbsthilfegruppen und die im Zuge ihrer Professionalisierung entstandenen 'Sozialunternehmen' hohe Leistungsfähigkeit bewiesen. Durch regelmäßige Ausschreibungen bei neuen sozialen Versorgungs- und Betreuungsaufgaben können Wettbewerbschancen für neue Leistungsanbieter geschaffen werden, die auch zur größeren Effizienz der eingesetzten Mittel beitragen können. Staatsmodernisierung muß darüber hinaus Verwaltungsvereinfachung bedeuten. Die derzeit gültigen Bundesgesetze und Bundesrechtsverordnungen haben das Volumen von nicht weniger als 84000 Paragraphen erreicht (vgl. Schmidt, 1998). Das kann nicht sinnvoll sein. Hier ist öffentliche Verwaltung an Grenzen gelangt, ja über sie hinaus getrieben worden. Wir plädieren also für einen Umbau des öffentlichen Sektors. Er soll es ermöglichen, Aufgaben flexibler und effektiver zu erfüllen. Nicht der Rückbau des Staates steht an, sondern die Wiederherstellung seiner Leistungsfähigkeit.
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8. Transnationaler Ordnungsrahmen Wenn das Gehäuse nationalstaatlich formierter Politik zu eng geworden ist, um einem internationalisierten Markt jene Grenzen und Rahmenbedingungen zu setzen, die notwendig sind, um die Kräfte dieses Marktes in sozial- und umweltverträgliche Bahnen zu lenken, dann liegt es auf der Hand, in der Ausweitung des Handlungsraums der Politik die Lösung dafür zu suchen. Wie die soziale Einhegung der Marktkräfte im nationalen Rahmen Jahrzehnte hindurch einigermaßen leidlich gelang, wäre dies dann eben jetzt auf internationaler Ebene anzupacken. Entsprechend oft ist heute von der Verlagerung staatlicher Handlungskompetenz auf übergeordnete Handlungsebenen die Rede. 'Die globalen Veränderungen führen zwangsläufig zu einer Neuformulierung des Staatsbegriffs. Sie kappen die Verknüpfung von Staat und Nation, die die nationalen Eliten hergestellt haben, und rücken die Entwicklung institutionalisierter Praktiken auf transnationaler Ebene und den Einfluß globaler Bedeutungen auf die alltäglichen Aktivitäten ganz gewöhnlicher Menschen in den Mittelpunkt. Die Entkoppelung von Staat und Nation ist der wichtigste Aspekt des Übergangs von der Moderne zum globalen Zeitalter' (Albrow, 1998, S.266/267). Das mag wohl sein. Aber welche Neuformulierung des Staatsbegriffs ist da gemeint, welche neuen Organisationsformen könnten aus dieser Entkoppelung überhaupt entstehen? Und was heißt Entkoppelung von Staat und Nation? Einen Staat ohne Staatsbürger gibt es nicht. Erst recht keinen demokratischen Staat. Da es vielfach um globale Akteure und globale Verantwortlichkeiten geht, müßte da nicht sogar am Ende eine Art 'Weltstaat' her, der allein die Kongruenz von Politik und Weltökonomie herstellen könnte? Wäre ein solcher Weltstaat, in dem dann alle Politik zur 'Innenpolitik' würde, die Lösung? Albrow spricht vom 'globalen Staat' als Möglichkeit und als Potential, als dem Ort der
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Auseinandersetzung zwischen 'Weltbürgern und Managern der Globalität'. Die politische Organisation globaler Zusammenhänge durch kooperative Strukturen ist notwenig, ein Weltstaat aber weder realistisch noch erstrebenswert. Schon Immanuel Kant hatte in seiner Schrift 'Zum ewigen Frieden' vor mehr als zwei Jahrhunderten festgestellt, daß ein Weltstaat Despotismus bedeuten müsse. Er hätte entweder keine wirkliche Macht und sei daher sinnlos, weil seine Gesetze in der ungeheuren Weite des Raums 'immer mehr an Nachdruck einbüßten', oder es müsse sich zwangsläufig um eine despotische Ordnung handeln, gegen deren Zugriff es kein Entrinnen mehr gäbe (Kant, zit. nach Narr/Schubert, 1994). Tatsächlich ist die Idee einer weltstaatlichen Ordnung eher ein totalitäres Schreckensbild. Wie sollte sich ein Weltstaat jemals demokratisch legitimieren? Zwar ist die Legitimation von Demokratien bedroht, wenn der demokratische Nationalstaat Handlungsfähigkeit verliert. Umgekehrt aber kann auch die Delegation von Handlungskompetenz an anonyme, undurchschaubare und zu weit entfernt liegende Kräfte und Organisationen kaum zu beseitigende Legitimationsdefizite zur Folge haben. Die Legitimation demokratischer Institutionen schwindet mit zunehmender Entfernung von den von ihnen repräsentierten Bürgern. Das trifft schon für das heutige Europa zu. Um so mehr würde es für einen Weltstaat zutreffen. Eine demokratisch legitimierte Weltregierung, die aus demokratischen Wahlen hervorgeht, sprengt den Rahmen des Vorstellbaren. Und wie sollte sie Sozialstandards vergleichbar machen, wenn für die gleiche Arbeit, die bei uns dreißig Mark einbringt, in anderen Weltgegenden zwei Dollar gezahlt werden? Wenn der Nationalstaat als regulierende Instanz zu schwach geworden, ein Weltstaat aber undenkbar ist, was dann? Zunächst sollte zwischen den unterschiedlichen Problemtypen, die sich für die Politik im globalen Zeitalter stellen, genauer unterschieden werden. Wohl ist die Grundannahme zutreffend, daß wir es mit einem Zuwachs globaler Probleme zu tun haben, -1 8 8 -
die ein weit höheres Maß an internationalem Handeln als früher erfordern. In dieser Allgemeinheit ist sie aber zugleich allzu pauschal und undifferenziert. Zweifellos gibt es eine wachsende Zahl von Problemen, die im nationalen Rahmen weder gelöst noch überhaupt aussichtsreich politisch angegangen werden können. Umgekehrt aber sind viele Probleme sinnvoll nur nationalstaatlich bearbeitbar. Internationalisierte Kooperationsmodelle können sogar Voraussetzung sein für einen Rückgewinn nationalstaatlicher Souveränität. Mit Meissner (Meissner, 1998) wollen wir sechs Problemtypen unterscheiden, die jeweils spezifische Typen von internationaler Kooperation erforderlich machen: Erstens die Bedrohung der 'globalen öffentlichen Güter', die zwar durch einzelne Akteure unter den Industriegesellschaften ausgelöst oder verschärft werden kann, die aber dennoch nur global anzugehen ist. Zweitens grenzüberschreitende Probleme, die zur Verlagerung von Problemen in andere Länder führen. Drittens globale Phänomene, die weltweit auftreten, ohne durch grenzüberschreitende Interdependenzen hervorgerufen zu sein, zu deren Bearbeitung daher Erfahrungsaustausch zwar sinnvoll, aber nicht unbedingt zwingende Voraussetzung ist. Viertens globale Interdependenzprobleme wie Wirtschaftskrisen als Folge internationalisierter Wirtschafts- und Finanzräume. Hier liegen unseres Erachtens die zentralen politischen Defizite. Ferner den 'Systemwettbewerb von Nationalstaaten', den Wettbewerb von Sozial- und Umweltregulierungssystemen als Folge weltweiter Liberalisierungsschübe. Auch hier liegt erheblicher Handlungsbedarf. Schließlich ist es die ungeheure Komplexität von globalen Politikstrategien, durch die eine 'Global Governance-Architektur' auch sich selbst zum Problem werden muß. Die Spezifik dieser Problemtypen macht auf jeweils unterschiedliche Weise den Ausbau zwischenstaatlicher, regionaler und globaler Kooperationsformen notwendig. In manchen Bereichen bleiben nationale Regulierungen möglich und notwendig, in anderen gewinnen sie gerade durch Herstellung von transnationalen Ordnungsrahmen wieder an -1 8 9 -
Charm. Es wäre falsch, sich 'Transnationalisierung' einfach als linearen Prozeß der Abgabe von souveränen Handlungsspielräumen an eine 'höhere Ebene' vorzustellen. Es wird eher um das Wachstum von Netzwerkstrukturen in und zwischen Gesellschaften gehen müssen. Ein Wachstum, das sich partiell von räumlichen Bindungen löst und neue Akteure hervorbringt: Wenn zum Beispiel transnationale Konzerne ('global players') mit weltweit operierenden NGOs verhandeln, dann stellt dies eine neue Form von Machtstruktur dar, die sich von nationalen Räumen gelöst hat. Realistisch scheint uns die Perspektive einer neuen Rolle multilateraler Politikorganisation in Verbindung mit einem globalen Föderalismus, der sich auf regionale Räume abstützt. Es wird weltweit zu neuen Formen der Verbindung von föderalen und zentralen Strukturen kommen müssen. Wie mit der Schaffung der Europäischen Union das Verhältnis von europäischen, nationalen und regionalen Strukturen neu austariert werden muß, so gilt dies im Zeichen der Globalisierung auch für den weltweiten Handlungsraum. Es geht um eine Art föderativer Weltordnung, in der Staatenblöcke, supranational organisierte Bundesstaaten, Nationalstaaten und Regionen ihr Verhältnis zueinander neu definieren und dabei spezifische Aufgaben politischer Regulierung übernehmen. Weltumspannende Organisationen, Staatenbünde, Bundesstaaten, wirtschaftlich integrierte Räume, Nationalstaaten und Regionen werden in neuen Netzwerken agieren müssen. Dabei wird der demokratische Nationalstaat auf Sicht wichtige Funktionen behalten. Denn er ist bislang der einzige Akteur, der für sein Handeln volle demokratische Legitimität beanspruchen kann, in dem Entscheidungen nach Mehrheitsregeln getroffen werden und in dem auch von Minderheiten die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen erwartet werden kann. Internationale Organisationen und Staatenblöcke können keine staatsbürgerschaftlichen Loyalitäten einfordern. Sie besitzen nur mittelbare demokratische Legitimation.
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Daraus folgt, daß transnationale Ordnungsrahmen sich zuerst auf Vereinbarungen von souveränen staatlichen Akteuren stützen müssen. Soweit die Notwendigkeit solcher Vereinbarungen aus Furcht vor den ruinösen Folgen weltweiten Wettbewerbs um niedrige Umwelt-, Steuerund Sozialstandards formuliert wird (vgl. Lafontaine 1996 und Lafontaine/Müller 1998), liegt hier ein gewisser Widerspruch. Um die Regulierungschancen nationaler Politik wieder zu verbessern, sollen die an solchen Abmachungen beteiligten Staaten auf Wettbewerb um die Erlangung von Kostenvorteilen verzichten. Sie sollen einen Verzicht leisten, auf dessen Grundlage sie dann wieder versuchen können, der heimischen Wirtschaft etwa durch Industrie- und Sozialpolitik auf nationaler Ebene Vorteile zu verschaffen. Man will wettbewerbsfähiger werden, indem andere auf den Einsatz ihrer Wettbewerbsvorteile verzichten. Das Problem kommt am deutlichsten in der Haltung vieler Schwellenländer in internationalen Verhandlungen zum Ausdruck: Wo die Länder des Westens von 'fairen Wettbewerbsbedingungen' sprechen, sehen sie darin nur die Verbrämung des Versuchs von Konkurrenten, ihre Wachstumschancen zu schmälern. Das Problem trifft aber auch die alten Industrieländer selbst, ja es ist sogar innerhalb der Staaten der Europäischen Union auf der Tagesordnung. Die Entstehung solcher auf die Kooperation von Nationalstaaten gegründeter Regelwerke hat mit dem Problem zu kämpfen, daß Nationalstaaten zunächst einmal ein Kartell von Egoisten sind, die nicht so ohne weiteres bereit sind, auf eigene Vorteile zu verzichten. Sie können dazu auch gar nicht so ohne weiteres bereit sein, weil ihre Legitimation vom nationalstaatlich verfaßten Institutionensystem abhängt. Auf dieses Institutionensystem beziehen sich Ansprüche und Anrechte von Bürgern. Ihnen ist Politik zuerst verpflichtet. Deshalb sind Kooperationsmodelle, die auf Verständigung von souveränen nationalen Akteuren aufbauen, in aller Regel eine mühsame Veranstaltung, die selten über Minimalkonsense und schwierigen Interessenausgleich hinauskommt. Dies aber wird -1 9 1 -
kaum genügen, um wachsende Steuerungsdefizite im Wettlauf mit den weltweit agierenden Kräften der Ökonomie zu beheben. Hinzu kommen noch die Schwierigkeiten, die sich aus der großen Zahl der Beteiligten ergeben, aus Verhandlungsblockaden und Vetopositionen besonders mächtiger Verhandlungsteilnehmer. Der Erfolg supranationaler Regulierung wird deshalb entscheidend davon abhängen, daß zur klassischen, auf Interessenausgleich angelegten Verhandlungsdiplomatie ein transnationales politisches Denken hinzutritt. Daß Staatenbündnisse entstehen, die gerade deshalb transnational agieren, weil sie darum wissen, daß sie allein dadurch nationale Gestaltungschancen zurückerhalten können. Wer gewiß sein kann, durch Kooperation nicht Souveränität einzubüßen, sondern neue hinzuzugewinnen, wird solche Vereinbarungen eher tragen und auf den kurzfristigen Vorteil, den der nationale Egoismus in der Kosten- und Standortkonkurrenz versprechen mag, verzichten können. Ulrich Beck sieht allein in einem so gedachten 'Transnationalstaat' eine realistische Utopie zwischen 'den Denkblockaden eines nationalstaatlichen Politikmonopols' und der 'Horrorvorstellung eines imperialen Weltstaats, dessen Machtanspruch nicht zu entrinnen wäre' (Beck, 1997b). Es geht darum, kooperierende Nationalstaaten 'innenpolitisch wahrnehmbar in bindende Kooperationsverfahren einer kosmopolitisch verpflichtenden Staatengemeinschaft' einzubinden. Das setzt freilich die Existenz einer gesellschaftlichen Legitimationsbasis voraus. Die entscheidende Frage ist deshalb, 'ob in den Zivilgesellschaften und den politischen Öffentlichkeiten großräumig zusammenwachsender Regime ein Bewußtsein kosmopolitischer Zwangssolidarisierung entstehen kann. Nur unter diesem Druck einer innenpolitisch wirksamen Veränderung der Bewußtseinslage der Bürger wird sich auch das Selbstverständnis global handlungsfähiger Aktoren dahingehend ändern können, daß sie sich zunehmend als Mitglieder einer Gemeinschaft verstehen, die alternativenlos zur Kooperation und damit zur gemeinsamen -1 9 2 -
Interessenberücksichtigung genötigt sind' (Habermas, 1998a, S.77). Erst dadurch können die Voraussetzungen dafür entstehen, daß auf die Nutzung möglicher Wettbewerbsvorteile mit der Folge des Niederkonkurrierens von Umwelt-, Steuerund Sozialstandards verzichtet wird. Der Weg dahin ist freilich weit, die Verhaftung des politischen Denkens in nationalen Bezügen selbst in Europa stark. Daß hat keineswegs nur mit Traditionen oder gar mit dem 'Ballast' der Vergangenheit zu tun. Bislang ist es nur im Rahmen des Nationalstaats gelungen, ein demokratisches Institutionen- und Verfassungssystem hervorzubringen. Alle bekannten supranationalen Organisationsstrukturen, auch die Europäische Union, haben ein Demokratiedefizit. Einige Autoren sind sogar der Auffassung, daß jede Vorstellung von internationaler Demokratisierung sinnlos sei 'Es kann keine internationale Demokratisierung geben' (Brock, 1998; S.45, vgl. auch Scharpf 1993 u. 1998). Tatsächlich ist die Vorstellung einer Demokratisierung supranationaler Politik schwierig, die Einbindung transnationaler Strukturen in demokratische Verfassungssysteme eine bislang nicht beantwortete Frage. 'Der Nationalstaat war die historisch wohl letzte und umfangreichste Form eines die Menschen in allen Lebensbezügen umfassenden Gemeinwesens, in dem ... das individuelle und das kollektive Wohl plausibel in einem gemeinsamen Sinnzusammenhang vermittelt werden konnte. Im Zuge von Internationalisierung, Globalisierung und Transnationalisierung werden diese Grenzen unscharf und eben deshalb der gesellschaftliche Zusammenhang fragwürdig' (Kaufmann, 1997, zit. nach Meissner, 1998, S.15). Der Nationalstaat 'ist das einzige, was wir haben, und gleichzeitig viel weniger als notwendig wäre, um eine globale Ökonomie sozial, und vielleicht auch wirtschaftlich, lebensfähig zu machen' (Streeck, 1997, S.325). Schon deshalb wird auf Sicht der Nationalstaat auch in einer transnationalen Architektur der Politik eine wichtige Rolle spielen.
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Ein transnationaler Ordnungsrahmen, der sich auf netzwerkförmige Verhandlungssysteme gründet, wird dennoch mehr sein müssen als die Summe der Aktivitäten von Einzelstaaten. Dafür stehen die Chancen in Europa vergleichsweise günstig. Die Europäer sind auf dem Weg zu einer transnationalen Politik am weitesten fortgeschritten (vgl. Kap.9). So kann Europa auch im globalen Rahmen zum Motor einer Renaissance der Politik werden und kann den Weg weisen zu einem neuen globalen Föderalismus. 'Die soziale und ökologische Marktwirtschaft ist das politische Koordinatensystem der Europäischen Union. Wir plädieren dafür, dieses Modell der Marktwirtschaft mit sozialer und ökologischer Verantwortung jetzt auch zur Geschäftsgrundlage für eine neue Weltwirtschaftsordnung zu machen' (Lafontaine, 1996). Ein internationales Wettbewerbsrecht, die Sicherung sozialer Mindeststandards, die Harmonisierung von Umweltstandards und die Rekonstruktion eines internationalen Währungssystems sollen jenen politischen Ordnungsrahmen für die internationalsierten Märkte schaffen, der die Zivilisierung des globalisierten Kapitalismus ermöglicht (vgl. Lafontaine/Müller, 1998). Bedarf an solchen Regeln gibt es gewiß genug. Tatsächlich ist ein internationales Kartellamt dringend nötig. Wir brauchen einen global aktionsfähigen und interventionsfähigen Internationalen Währungsfonds. Ein multinationales Investitionsabkommen könnte faire Partnerschaften ermöglichen. Wir brauchen eine Weltorganisation für geistiges Eigentum, die auch über Sanktionsmöglichkeiten verfügt. Wir brauchen international verbindliche Umwelt- und Sozialstandards. Das alles könnte segensreiche Einflüsse auf die wirtschaftliche Entwicklung und die soziale Wohlfahrt haben. Wir bezweifeln allerdings, daß ein globales Reglement sozialer Mindeststandards viel Ähnlichkeit mit unserer europäischen Sozialverfassung haben könnte. Über allgemeine Regelungen wie das Verbot von Kinderarbeit hinaus wird es kaum möglich sein, Schwellenländer daran zu hindern, ihre Kostenvorteile im Wettbewerb einzusetzen. Mit einer Begrenzung der -1 9 4 -
Arbeitszeiten werden diese Vorteile nicht verschwinden. Und einem sozialpolitisch begründeten Protektionismus wären durch die Interessen der europäischen Exportwirtschaft Grenzen gesetzt. Bei aller Notwendigkeit zu solchen Reglements müssen deshalb die Erwartungen, die sich im Hinblick auf die nationale Wettbewerbssituation damit verbinden, auf einem realistischen Niveau bleiben. Der Aufbau einer neuen weltwirtschaftlichen Ordnung, die den Realitäten des globalisierten Kapitalismus entspricht, stellt nicht nur die internationale Politik vor ganz neue Aufgaben. Er erfordert neue Kooperationsmodelle, neue Institutionen und neue Verhandlungsnetzwerke. Der Aufbau dieser Ordnung fordert Öffentlichkeiten, die sich stärker an globalen Wirkungszusammenhängen orientieren. Er fordert gesellschaftliche Organisationen, die sich supranational orientieren und organisieren und die dazu beitragen, daß transnationale Regulierung Thema der Innenpolitik innerhalb der Staaten wird. Der Weg dahin wird mühsam und langwierig sein, soweit es ein demokratischer Weg sein soll. Wir Europäer werden dabei zunächst viel mit uns selbst zu tun haben. Global Governance ist ebenso notwendig wie der Weg dahin dornenreich. 'Die Ära der nationalen Wirtschaftsbestimmungen neigt sich dem Ende zu, und die Ära der globalen Wirtschaftsbestimmungen ist noch nicht eingeleitet. Eine Weile wird sich der Kapitalismus wohl mit weitaus weniger einzelstaatlichen Vorschriften austoben können' (Thurow, a.a.O., S.192). Wir sollten uns darauf einstellen, daß Thurow erst einmal recht behalten könnte.
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9. Europa als Chance 'Si nous allons reconstruire l'Europe, nous devons commencer par la culture.' Dieser häufig zitierte Satz, der Jean Monnet zugeschrieben wird, klingt überzeugend. Aber funktioniert so die Mechanik der Weltgeschichte? Ist die Kultur nicht die unterste Schicht des Mutterbodens? War es nicht doch richtig, mit einfachen Schritten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa zu beginnen, so wie es Monnet zusammen mit anderen ja auch getan hat? Mit der Montanunion? Mit den Römischen Verträgen? Es war am 3. Dezember 1963 - also 14 Jahre nachdem zehn europäische Staaten das Statut des Europarates unterschrieben hatten -, als ein deutscher Europäer bei General de Gaulle eine Audienz erhielt. Carlo Schmid war damals Präsident der Parlamentarischen Versammlung der Westeuropäischen Union und wollte 'dem Präsidenten des Landes, das der Versammlung in so generöser Weise Gastfreundschaft gewähre, danken und des Respekts versichern'. Damals - heute vor 35 Jahren - bremste de Gaulle die Visionen des Europäers Carlo Schmid mit den Worten: 'Der aus eigener Kraft erwachsene Nationalstaat ist Ýune finalité de l'histoire - ein Endzweck der Geschichte; die Nationalstaaten in einem Überstaat einzuschmelzen bedeute den Untergang der schöpferischen Kräfte, in denen allein das Genie der Völker lebendig zu werden vermöge. Das Europa der politischen Schöngeister werde nie zustande kommen. Sollten sich Regierungen finden, die das Wagnis unternähmen, es ins Leben zu rufen, werde es sehr bald unter den Schwerthieben der Geschichte zerbrechen und nichts hinterlassen als ein schlimmes Chaos (Schmid 1979). Jahrzehntelang lag über der Zukunft Europas die Spannung, die man zwischen den beiden Werken von Max Ernst mit demselben Titel findet: l'Europe aprés la pluie - Europa nach dem Regen. Das eine, 1933 entstanden, zeigt einen mit Afrika zusammenwachsenden und mit Asien verwobenen Kontinent Europa. Das andere Bild, 1942 entstanden, ist ein Trümmergemälde. -1 9 6 -
Heute hat der alte Kontinent eine neue Architektur. Teilweise wurden auch tragende Wände verändert. Zwei Gründe gibt es dafür, daß sich Europa positiver entwickelt hat, als viele es für möglich gehalten haben. Der erste Grund läßt sich mit einem Satz erklären: Nie wieder Krieg zwischen den europäischen Völkern. Der Grundgedanke der europäischen Einigung reflektiert die schreckliche Erfahrung eines Jahrhunderts des gegenseitigen Mordens, der Kriege und der Katastrophen. Die leitende Idee der europäischen Einigung war die politische Integration der europäischen Union. Das unterscheidet den europäischen Zusammenschluß bis heute von vielen regionalen Wirtschaftsverbünden und Freihandelszonen in anderen Gegenden der Erde. Der zweite Grund aber hat mit den fundamentalen Veränderungen der Weltwirtschaft und der Globalisierung zu tun. Unter den Bedingungen der Globalisierung entstehen Anreize zur Schaffung größerer Märkte und überstaatlicher, regionaler Strukturen. Um in dieser Weltwirtschaft zu bestehen, liefern regionale Freihandelszonen und Wirtschaftsräume wie die Nafta, der Mercosur und eben auch die Europäische Union bessere Voraussetzungen. So ist die Ausdehnung Europas und der einheitliche Wirtschaftsraum auch eine Antwort auf die Strukturveränderungen der Weltwirtschaft. Mit der Abschaffung der nationalen Währungen setzt sich diese Entwicklung fort. Deshalb sind viele Befürchtungen, die hierzulande mit dem Euro verbunden werden, überaus kurzsichtig. Der nationale Souveränitätsverlust, den die Einführung des Euro bedeutet, wird kaum zu den von manchen beschworenen dramatischen Instabilitäten führen. Im Gegenteil kann die gemeinsame Währung Euro zum Stabilitätsanker auf dem stürmischen Weltmeer der Devisenspekulanten und der entgrenzten Finanzmärkte werden. Es liegt auf der Hand, daß auf den globalisierten Finanzmärkten fünfzehn verschiedene nationale Währungen in der Europäischen Union eher zum Spielball von Dollar und Yen oder womöglich später einmal der chinesischen Währung Yuan werden könnten als eine europäische Einheitswährung. Die Globalisierung erzwingt ein -1 9 7 -
starkes Gegengewicht. Das kann mit dem Euro erreicht werden. Die gemeinsame Währung wird den alten Kontinent nach außen stärken. Der einheitliche Wirtschaftsraum Europa ist auch eine Antwort auf die Globalisierung. Er schafft neue Märkte und neue Marktzugangschancen auf einem Markt für 350 Millionen Menschen. Und er schafft neue Chancen der politischen Steuerung gegenüber supranationalen ökonomischen Akteuren. In der Logik dieser Antwort liegt auch die gemeinsame Währung. Innerhalb des europäischen Binnenmarktes wird sich freilich der Wettbewerb erheblich verschärfen, weil die Unterschiede zwischen den Volkswirtschaften noch beträchtlich sind, aber die 'Stoßdämpfer' der Währungsanpassung zwischen den fünfzehn Volkswirtschaften nun fehlen. Früher konnten national verursachte Verteuerungen der Produktionsfaktoren durch die Wechselkursanpassungen abgefedert werden. Wenn mit der Europäischen Währungsunion aber das Wechselkursrisiko und die Wechselkurschancen entfallen, werden entweder die Arbeitsmärkte die Produktivitäts- und Kostenunterschiede auffangen, oder eine 'Transferunion' wird sie ausgleichen müssen. Weitere Transfers sind aber kaum zumutbar. Deshalb ist eine sorgfältig abgestimmte Wirtschafts-, Finanz- und Tarifpolitik in Europa dringend notwendig. Sie muß deshalb die bestehenden, teils gravierenden Unterschiede in den Beschäftigungsquoten, bei Einkommen, Steuern, Abgaben und Tarifen annähern. Die gemeinsame europäische Währung ist ein irreversibler Schritt der Vertiefung der Vereinigung. Wenn ihre ökonomischen Chancen voll genutzt werden sollen, sind freilich weitere Schritte der Harmonisierung notwendig. In einem europäischen Binnenmarkt mit einheitlicher Währung müssen faire Wettbewerbsbedingungen für alle am Wirtschaftsprozeß Beteiligten entstehen. Gleichzeitig soll die europäische Gemeinschaft nach Osten hin erweitert werden. Noch nicht einmal zehn Jahre sind die mittelund osteuropäischen Staaten (MOE) jetzt mit marktwirtschaftlichen Regelmechanismen vertraut. Inzwischen ist, acht Jahre nach dem Zusammenbruch der -1 9 8 -
Zentralverwaltungswirtschaften 1990, in vielen Volkswirtschaften eine Erholung unübersehbar. Insbesondere in Polen und Ungarn - trotz der ersten Rezession inzwischen auch in der Tschechischen Republik - sind enorme Fortschritte zu verzeichnen. Durch die geplante Erweiterung um zehn Staaten Mittel- und Osteuropas, Malta und Zypern wird sich der europäische Binnenmarkt von 350 Millionen Einwohner auf 450 Millionen vergrößern. Diese Erweiterung ist freilich nur als Ergebnis eines langwierigen und mühevollen Anpassungsprozesses vorstellbar. So wie vor dem Vertiefungsschritt im Westen Konvergenzkriterien erfüllt werden mußten, so müssen vor dem Erweiterungsschritt im Osten Integrationskriterien erfüllt werden. Die von der Europäischen Union formulierte 'Agenda 2000' sieht außerdem erhebliche Reformen bei der Innenarchitektur der EU vor. Denn würden die bisherigen Integrationssysteme auf die MOE-Staaten einfach übertragen, müßten die EU-Budgets schlicht verdoppelt werden. Die Ursache dafür ist vor allem die unbedingt reformbedürftige EUAgrarpolitik, die immer noch 48 Prozent des EU-Haushaltes ausmacht. Die Agrarordnungen müssen verändert und die Exportsubventionen endlich verringert werden. Eine Europäische Union mit 21 bis 25 Mitgliedstaaten wird auch im politischen Regelsystem nicht mehr so funktionieren können wie bisher. Deshalb müssen die Institutionen der EU im Rahmen der Regierungskonferenz reformiert, muß das Einstimmigkeitsprinzip aufgehoben werden. Das schafft freilich ein neues Problem: Mit der Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips entsteht die Verpflichtung zur Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen. An die Stelle mühsamer Interessenausgleiche zwischen souveränen Staaten tritt die Befolgung der Mehrheitsregel. Gleichzeitig fehlt ein europäisches demokratisches Institutionengefüge, das das institutionelle Gerüst für diese Verpflichtung abgeben könnte. Deshalb wird die Schaffung eines solchen demokratischen Institutionensystems zur wichtigsten Aufgabe der politischen Einigung in Europa. -1 9 9 -
Weil im Zeitalter der Globalisierung Größe ein wichtiger Machtfaktor wird, gewinnt das geeinte Europa eine zusätzliche Bedeutung. Eine Europäische Union mit einem einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraum hätte im Kräftespiel der Weltpolitik nicht weniger Gewicht als die USA und kommende Großmächte wie China. Ein geeintes Europa könnte, gestützt auf einen Binnenmarkt von heute 350, später 450 Millionen Verbrauchern, zunächst nach innen und dann auch nach außen die Kraft für eine neue Wirtschaftspolitik in der Tradition der sozialen Marktwirtschaft entwickeln. Die Währungsunion kann Europa die Möglichkeit geben, in der Währungs- und Finanzpolitik ein Stück politischer Souveränität zurückzugewinnen. Europas Zinssätze und Wechselkurse werden weniger von den US-Märkten abhängig sein als heute. Die Wechselkurse werden stabilisiert, der Preis europäischer Produkte auf den Weltmärkten wäre nicht mehr vom Wohl und Wehe der US-Notenbank und der großen Devisenhändler abhängig. Ein geeintes Europa könnte auch Motor sein, um mit anderen neue Regeln des sozialen und ökologischen Ausgleichs für die Globalökonomie der Zukunft durchzusetzen. Das setzt allerdings eine Sichtweise der europäischen Integration, nicht allein als Chance zur Verbesserung von Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch als Medium zur Wahrnehmung einer globalen Verantwortung voraus. Europa ist nicht nur eine Chance, in der globalen Konkurrenz besser bestehen zu können. Das politisch geeinte Europa kann selbst wesentlichen Einfluß auf das Zustandekommen globaler Regeln nehmen. Dies wird freilich nur gelingen, wenn die Europäische Union zügig zu einer handlungsfähigen politischen Einheit zusammenwächst. Dazu gehört die Harmonisierung von Steuersystemen, von Umwelt- und Sozialstandards. Ob das gelingt, wird freilich auch entscheidend davon abhängen, ob das Demokratiedefizit der EU abgebaut werden kann und ob demokratische Formen der Transparenz, der Kontrolle und der Legitimation der politischen Prozesse in Brüssel entstehen werden. Solange der handelnde Apparat den Charakter von -2 0 0 -
Einrichtungen einer zwischenstaatlichen Diplomatie behält, die Entscheidungsgänge undurchschaubar und die Entscheidungsträger nicht rechenschaftspflichtig sind, wird eine echte politische Einheit kaum entstehen können. Die Chancen für eine soziale und ökologische Marktwirtschaft in Europa, die zugleich Motor einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung wäre, werden auch davon abhängen, ob die politischen und gesellschaftlichen Kräfte es schaffen, aus den jeweiligen nationalen Grenzen auszubrechen und das Fundament einer europäischen Bürgergesellschaft zu legen. Dazu gehört nicht zuletzt auch der Aufbau europäischer Gewerkschaften. Unter den Bedingungen der Globalisierung müssen auch die Organisationen der Arbeitnehmer die nationalen Grenzen überwinden und sich als neue europaweite Tarifpartei konstituieren. Das gleiche gilt auch für die Arbeitgeberverbände. Wenn das gelingt, hätte Europa an der Schwelle des neuen Jahrtausends nicht nur die Lehren aus der schrecklichen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezogen. Es hätte auch die richtige Antwort auf die Umbrüche der Globalisierung gefunden. 'Im Hinblick auf die wachsenden globalen Gefahren, die die Nationen längst hinter ihrem Rücken zu einer unfreiwilligen Risikogemeinschaft vereint haben, ergibt sich die praktische Notwendigkeit, auf supranationaler Ebene politisch handlungsfähige Einrichtungen zu schaffen. Wenn der Sozialstaat wenigstens in seiner Substanz erhalten werden soll ... müssen supranationale handlungsfähige Instanzen aufgebaut werden. Nur regional übergreifende Regime wie die Europäische Gemeinschaft können überhaupt noch auf das globale System nach Maßgabe einer koordinierten Weltinnenpolitik einwirken' (Habermas, 1998a). Europa hat den richtigen Weg eingeschlagen. Wenn die Arbeitslosigkeit entschlossen bekämpft wird und der alte Kontinent den Aufbruch zur Moderne schafft, hat er mit Binnenmarkt und Währungsunion auch die richtige Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung gefunden. Helmut Schmidt, der bereits in den siebziger Jahren seine Wirtschaftsund Finanzpolitik auf eine gemeinsame europäische Währung -2 0 1 -
ausgerichtet und mit der Einführung des Europäischen Währungssystems (EWS) die Grundlagen geschaffen hat, kommt 1998 zu folgender Einschätzung: 'Es hat in der Weltgeschichte seit Jahrtausenden immer wieder den Versuch gegeben, Völker gegen ihren Willen in einem großen Reich zusammenzuzwingen: Xerxes, Alexander, die Römer, Dschingis-Khan, Napoleon, Hitler, die japanische Militärdiktatur, Stalin etc. Der europäische Zusammenschluß dagegen geschieht freiwillig: ein einmaliger Vorgang! Bis heute haben sich fünfzehn Staaten mit zwölf nationalen Sprachen, mit fünfzehn nationalen Traditionen, Literaturen und Identitäten zusammengetan. Keiner von uns will seine nationale Identität opfern; gleichwohl sind alle bereit, einen Teil ihrer Souveränität an die Gemeinschaft - heute Europäische Union genannt abzugeben. Durch die Einführung des Euro rechne ich mit folgenden konkreten Auswirkungen: In bezug auf die in fast allen Teilnehmerstaaten viel zu hohe Arbeitslosigkeit werden weder negative noch positive Wirkungen eintreten. Es werden einmalig erhebliche Umstellungskosten eintreten; diese werden durch die Vorteile nach weniger als drei Jahren aufgewogen sein. Es ist im Einzelhandel eine im Schnitt leichte einmalige Preisanhebung denkbar, weil sich z. B. auf volle DM- oder Gulden- oder Franc-Beträge lautende Preise bei Umstellung auf Euro krumme Preise ergeben und die Versuchung der Abrundung nach oben auftreten kann. Dem steht aber gegenüber die schlagartig einsetzende Transparenz aller Preise und aller Kosten von Helsinki bis Madrid, die den innereuropäischen Wettbewerb verschärfen wird. Alle bisherigen Währungsrisiken innerhalb des Gemeinsamen Marktes fallen ab sofort weg. Die Transaktionskosten werden deshalb sinken. Desgleichen werden innerhalb des Gemeinsamen Marktes alle Kurssicherungskosten (HedgingKosten) sofort wegfallen. Im Laufe der nächsten Jahre werden die Europäische Zentralbank und die EU an währungspolitischem Gewicht so sehr zunehmen, daß sie die dringend notwendige Herstellung einer stabilen Weltwährungsordnung und die Herstellung größerer Stabilität -2 0 2 -
der globalisierten Geld- und Währungsmärkte gegenüber und mit den USA herbeiführen können' (Schmidt, 1998). Wir halten die Prognose, die Helmut Schmidt hier stellt, für überaus realistisch. Sie macht deutlich, daß die Einigung Europas nicht nur mit den politischen Lehren der Vergangenheit zu tun hat, sondern zugleich eine unverzichtbare Weichenstellung für die Zukunft bedeutet. Der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher hat das in seiner letzten Rede im Deutschen Bundestag herausgestellt: 'Nein, diese europäische Einigung wird eine Antwort auf die europäischen Bruderkriege, auf die Irrwege der deutschen und der europäischen Geschichte. Sie ist die bleibende Antwort auf zwei schreckliche Weltkriege in diesem Jahrhundert. Diese Begründung wird immer gültig bleiben. Aber die Herausforderung der Globalisierung ist hinzugetreten. Es ist meine feste Überzeugung: Nur vereint werden die Völker Europas diese Herausforderung bestehen können: Nur vereint werden wir als Europäer in der Welt des 21. Jahrhunderts unseren Platz einnehmen können: In einer Welt, in der Grenzen immer mehr an Bedeutung verlieren, in der neue regionale Kraftzentren entstehen und in der Multipolarität bestimmend sein wird. Die Vollendung der Währungsunion ist deshalb auch die Antwort Europas auf die Herausforderungen des neuen globalen Zeitalters. So ist die Währungsunion keineswegs der Preis für unsere Vergangenheit, wie uns manche einreden wollen. Aber sie ist der Schlüssel zu unserer Zukunft.' - Eine Zukunft, in der Europa nicht angelsächsische oder asiatische Modelle kopiert, sondern für einen eigenen Weg in der Tradition des europäischen Sozialstaats steht. Diese Zukunft wird die europäische Architektur der Politik verändern. Mit der Abgabe klassischer nationalstaatlicher Souveränitätsrechte wird Europa seinen Ursprungscharakter noch weiter verändern. Eine Konföderation von Staaten ist es nicht, ein Bundesstaat aber auch nicht, sondern ein politischer Organismus ganz eigener Art. Gerade durch die Abgabe nationaler Souveränitätsrechte können wieder neue Chancen politischer Steuerung entstehen auch auf der nationalen Ebene. -2 0 3 -
Es wird ein neues Geflecht politischer Strukturen sein müssen, das daraus hervorgeht. Die Vorstellung, daß die politische Union eine Fortsetzung nationalstaatlicher Strukturen auf erweiterter Stufenleiter sein könnte, geht an den Realitäten vorbei. Europäische Strukturen, nationale und förderale Strukturen werden sich auf neuartige Weise durchmischen und verknüpfen - in einem neuartigen politischen Gebilde. 'In den verschiedenen Konflikten zwischen regionalen, staatlichen und europäischen Institutionen wird wohl keine eindeutig die Oberhand gewinnen. Staatliche, regionale und föderale Formen konstituieren zusammen eine neue Art des kosmopolitischen Gemeinwesens, das mehr oder weniger stabil zwischen den Nationalstaaten und einem Bundesstaat angesiedelt ist' (Goodman, S.350). Das wird noch viele Fragen und Probleme aufwerfen, die uns gewiß Jahrzehnte beschäftigen werden. Die Demokratisierung der europäischen Institutionen gehört ebenso dazu wie die breitere Wahrnehmung der europäischen Dimension in der politischen Öffentlichkeit. Selbst dem Deutschen Bundestag ist bis heute kaum bewußt, wie stark in seinen Beschlüssen die europäische Ebene faktisch längst ausschlaggebende Bedeutung besitzt. Er hat bis heute keinen überzeugenden Weg gefunden, in seinen parlamentarischen Aktivitäten europäischen Vorhaben jenen Raum zu geben, der diesen angesichts ihrer realen Bedeutung längst zukommt. So zeigt sich selbst noch auf dieser Ebene ein 'Nachhängen' der politischen Öffentlichkeit, die weiter darauf fixiert ist, nationale Regelungen national strittig zu debattieren, aber nicht recht weiß, wie sie mit Vorschlägen der Europäischen Kommission im parlamentarischen Streitritual adäquat umgehen soll. Eines freilich scheint uns gewiß: Europa ist eine Chance, mit der Herausforderung durch die Globalisierung politisch gestalterisch umzugehen. Europäische Kleinstaaterei böte diese Chance nicht.
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10. Die Gegenkraft des Regionalen Globalisierung erzwingt die verbesserte Ausrichtung von Volkswirtschaften auf die Anforderungen eines weltweiten Wettbewerbs. Sie erfordert den Ausbau internationaler Kooperation und den Aufbau transnationaler Ordnungsrahmen. Zugleich aber aktualisiert sich mit der Ausrichtung an globalen Wirkungszusammenhängen die Frage nach den Kräften regionaler Bindung. Gerade weil die Welt offener, grenzenlos wird, wächst die Bedeutung regionaler Identitäten. Menschen sind eben nicht 'ortlos', nicht bindungslos. Wo das Kapital keinen Ort kennt und auf keine räumliche Vertrautheit angewiesen ist, erfahren Menschen auch im 'global village' die Gefahr des Verlusts räumlicher und zeitlicher Bindung jedenfalls als prekär (vgl. Sennett, a.a.O.). Zugleich dient auch im Zeitalter der Globalisierung die Mehrzahl aller wirtschaftlichen Aktivitäten nicht der Nachfrage auf internationalen Märkten, sondern dem Bedarf regionaler Märkte. Eine Politik, die die Vorteile weltweiter Austauschprozesse nutzen will, muß umgekehrt auch die Stärkung regionaler Strukturen und regionaler Wirtschaftsräume im Auge haben. Sie muß dies aus ökologischen Gründen tun, weil zu den Antworten auf die Enträumlichung durch Globalisierung auch die bewußte Entschleunigung von Lebensprozessen gehört. Sie muß dies aus sozialen Gründen tun, weil für viele Menschen Leben und Arbeiten in überschaubaren Räumen ein zentrales Element von Lebensqualität darstellt und weil gerade in ländlichen Regionen eine wohnortnahe Versorgung mit den Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs ein wichtiges Ziel sein muß. Sie muß dies aber auch aus ökonomischen Gründen tun, weil die Stärkung regionaler Wirtschaftsräume neue wirtschaftliche Chancen schaffen kann. Gerade im Zeitalter des Globalismus kann es nicht darum gehen, alle wirtschaftlichen Kräfte auf beschleunigte weltwirtschaftliche Austauschprozesse auszurichten. Auch im -2 0 5 -
Lande des Export(vize)weltmeisters Deutschland hängt nicht jeder Arbeitsplatz am weltwirtschaftlichen Wettbewerb. Ein deutscher Friseur verliert seinen Arbeitsplatz ebensowenig an einen billigeren Konkurrenten in Lissabon wie ein Elektroinstallateur oder ein Bäckermeister. Helmut Schmidt schätzt, daß maximal vierzig Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland direkt oder indirekt von weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Veränderungen beeinflußt werden (Schmidt, 1998). Politisch geht es um die Stärkung von Regionalbewußtsein, Zugehörigkeit und bürgerschaftlichem Engagement. Ökonomisch geht es vor allem um die Stärkung von Mittelstand und Handwerk - was natürlich auch eine kulturelle Dimension besitzt. Ökologisch geht es um die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe, durch die der Ressourcenverbrauch begrenzt werden kann. In Deutschland gibt es derzeit drei Millionen mittelständische Unternehmen mit insgesamt zwanzig Millionen Beschäftigten. Knapp die Hälfte der Bruttowertschöpfung in Deutschland wird in diesen kleinen und mittleren Unternehmen erwirtschaftet. Prognosen gehen davon aus, daß in den kommenden Jahren die Gründergeneration in circa 300 000 mittelständischen Unternehmen ausscheiden wird. Ähnlich sieht es in den 835000 Handwerksbetrieben aus. Jährlich erhalten in Deutschland etwa 40000 neue Meister ihre Meisterbriefe. Selbst wenn sich diese alle selbständig machen würden, würde dies gerade ausreichen, den heutigen Bestand an Handwerksbetrieben bis 2005 zu sichern. Nun werden freilich längst nicht alle von ihnen selbständig tätig. Wenn aber die Quote selbständiger Existenzen vergrößert werden soll, darf die Zahl der Handwerksbetriebe nicht abnehmen, sondern muß im Gegenteil ansteigen. Eine Zunahme der Zahl der Handwerksbetriebe könnte ein wichtiger Beitrag zu mehr Beschäftigung in Deutschland sein. Dazu brauchen wir eine neue gesellschaftliche Anerkennung von Handwerk und Handwerkskultur. Viele erfolgreiche Unternehmen haben als
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Handwerksbetriebe begonnen, viele später erfolgreiche Unternehmer kamen aus dem Handwerk. Ungünstige Rahmenbedingungen haben den Anteil der Schattenwirtschaft in den letzten Jahren immer weiter zunehmen lassen. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, daß inzwischen zehn bis fünfzehn Prozent des Sozialprodukts in der Schwarzarbeit erwirtschaftet und ein Arbeitsvolumen von drei bis vier Millionen Arbeitsplätzen in Nebentätigkeiten ausgefüllt wird. Wer daran etwas ändern will, muß die Rahmenbedingungen für das Handwerk dringend verbessern. Dazu sind Maßnahmen auf den unterschiedlichsten politischen Ebenen notwendig: - Das Handwerk muß in der Schulausbildung wieder einen höheren Stellenwert erhalten. Handwerksberufe müssen wieder mehr gesellschaftliche Anerkennung finden. - Die Lohnnebenkosten müssen deutlich abgesenkt werden. Das setzt die Reduzierung versicherungsfremder Leistungen durch die Sozialversicherungssysteme, eine stärkere Steuerfinanzierung von Sozialsystemen, eine stärkere subsidiäre Ausrichtung der Sozialsysteme sowie eine Kostenentlastung des Faktors Arbeit voraus. Sie könnte durch höhere Belastung des Faktors Umweltverbrauch konpensiert werden. - Die Mehrwertsteuer für handwerkliche Dienstleistungen sollte stufenweise abgesenkt werden. Damit könnte die Schwarzarbeit ausgetrocknet werden. Dies würde eine erhebliche Stärkung des arbeitsintensiven Handwerks wie der regionalen Dienstleister nach sich ziehen. Entsprechende Überlegungen werden von der EU-Kommission bereits verfolgt. - Bestimmte Sparten des Handwerks könnten von einer Lockerung der EU-Verpflichtung auf europaweite Ausschreibung profitieren. So schreibt etwa die EUBaukoordinierungsrichtlinie heute vor, daß bei Aufträgen oberhalb einer Größenordnung von fünf Millionen ECU Aufträge europaweit ausgeschrieben werden müssen. Eine
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Verdoppelung dieses Grenzwertes würde die regionale Wirtschaft, besonders das Handwerk, stärken. Die steuerlichen Rahmenbedingungen für Existenzgründungen müssen verbessert werden. Die Eigenkapitalausstattung kleiner und mittelständischer Unternehmen muß dringend gestärkt werden. Das gilt ganz besonders für Ostdeutschland. Der Aufbau von Informationsbörsen könnte bei der Kapitalbeschaffung wichtige Funktionen übernehmen. - Handwerksordnungen sind darauf zu überprüfen, ob sie noch zeitgemäß sind und die Gründung mittelständischer Existenzen unzuträglich erschweren. Überbleibsel mittelalterlicher Zunftordnungen, die Selbständigkeit eher verhindern als Qualitätsstandards sicherstellen, nutzen niemandem. Die Zwangsmitgliedschaft von Unternehen in den IHKs ist ein überflüssiges Relikt. - Die heutige Förderungs- und Subventionspolitik begünstigt einseitig Großunternehmen. Handwerk und Mittelstand erhalten gerade einmal drei bis vier Prozent der Subventionen. Und die bestehenden Förderprogramme für den Mittelstand sind dazu noch unübersichtlich. Das muß dringend verändert werden. - Eine höhere Ressourcenbesteuerung könnte auf unterschiedlichen Wegen regionalwirtschaftliche Kräfte stärken. Eine Belastung des Energieverbrauchs schafft Anreize zur Vermeidung von Transportkosten. Ökologisch innovative Wirtschaftszweige, die zu höherer Energieeffizienz und Ressourcenproduktivität beitragen, sind in aller Regel mittelständische Unternehmen. Wir plädieren nicht dafür, die Fossilien der alten Industriegesellschaft, wie etwa die Steinkohle, einfach absaufen zu lassen. Aber eine allmähliche Verlagerung der Subventionspolitik auf ökologisch innovative Sektoren anstelle bloßer Erhaltungssubventionen für alte Industriestrukturen wäre zugleich ein Förderprogramm zugunsten mittelständischer Strukturen. - Abbau vermeidbarer Bürokratie. Kleine und mittlere Unternehmen haben mit überbordender Bürokratie besondere -2 0 8 -
Probleme. Dies trifft vor allem für das ausufernde umweltpolitische Ordnungsrecht zu. Eine stärkere Orientierung der Umweltpolitik an Abgabenlösungen und am Haftungsrecht würde vor allem kleineren und mittleren Unternehmen zugute kommen. - Gezielte arbeitsmarktpolitische Hilfen beim Aufbau selbständiger Existenzen. Hier könnten der Einsatz von Lohnkostenzuschüssen, besondere Qualifizierungshilfen für Existenzgründer und ihre mitarbeitenden Lebenspartner und die Einrichtung spezieller Kontaktstellen für Existenzgründer und Kleinbetriebe auf den Arbeitsämtern positive Effekte haben. Kleine und mittlere Unternehmen sind die regionale Basis unserer Wirtschaft. Sie tragen zu einer breiten Verteilung von Macht, Eigentum und Risiko bei. Sie fördern durch ihre Vielzahl Wettbewerb und Innovation. Ihre Beschäftigungsintensität ist überdurchschnittlich hoch. Sie sind flexibler als die Megastrukturen der Großindustrie und spielen eine unverzichtbare Rolle für die Breite des Angebots und eine gleichmäßige räumliche Verteilung von Gütern und Dienstleistungen. Sie sind zugleich unverzichtbare Voraussetzung jeder Strategie einer nachhaltigen Wirtschaft, weil die Stärkung regionaler Kräfte und die Eindämmung überflüssiger Mobilität an die Stärkung ihrer Strukturen gebunden sein müssen. Deshalb gehört auch die Förderung ländlicher Räume und die Sicherung wohnortnaher Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen zu den Antworten auf den Strukturwandel im Zeitalter der Globalisierung. Dabei schafft auch die technologische Dynamik der Globalisierung Chancen für kleinere und mittlere Unternehmen. Die Nutzung von Computernetzen und der Möglichkeiten elektronischer Geschäftsabwicklung kann auch für sie Vorteile schaffen. Derzeit nutzen dreißig Prozent des Mittelstands in Deutschland die EDV, aber nur drei Prozent davon sind an das Internet angeschlossen. Das schafft Konkurrenznachteile gegenüber den Großen. Dabei könnten auch Mittelständler die Möglichkeiten des weltweiten Netzes nutzen. Die Informationstechnologie macht auch die 'Kleinen' im globalen -2 0 9 -
Raum 'beweglich'. Der Mittelstand braucht mehr Medienkompetenz. Regionalwirtschaft und überschaubare Räume können schließlich auch dadurch gestärkt werden, daß geringer qualifizierte Arbeit künftig auch wieder bei uns angeboten und nachgefragt und nicht immer stärker in die Schwellenländer verlagert wird. Hierzu können neue Formen der Verbindung von Erwerbs- und Sozialeinkommen einen wichtigen Beitrag leisten (vgl. Kap.4 und Kap.15). Zur Stärkung der Regionalwirtschaft gehört schließlich auch der föderale Aufbau der Regionen. Heute drohen die Konturen des Föderalismus in Deutschland eher zu verschwimmen. Zu viele Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgaben und allzu undurchsichtige Mischfinanzierungen sind geschaffen worden. Das macht Verantwortlichkeiten undurchschaubar und unklar. Wir brauchen auch eine neue föderale Zuordnung der verschiedenen Verwaltungsebenen. Die Verantwortungs- und Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern muß ebenso reformiert werden wie die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Auch auf regionaler Ebene sind Veränderungen notwendig. Eine Reform der Verwaltung, die die Ebenen der Landkreise und Regierungspräsidien zu einer regionalen Ebene zusammenfaßt, könnte helfen, die notwendige Stärkung regionaler Identitäten voranzubringen. In einer globalen Welt ist die Stärkung regionaler Identitäten eher dringlicher geworden. Natürlich gibt es auch die andere Seite. Globalisierung verschärft Wettbewerb und Ansiedlungskonkurrenz von Regionen. Sie werden bei Standortentscheidungen weltweiter Investoren einem harten Prüfungsverfahren unterzogen. Wer hat die qualifiziertesten Arbeitskräfte, die beste Verkehrsanbindung, das größte Wachstum, die beste Lebensqualität, die wirtschaftsfreundlichste Verwaltung? Das sind Fragen, die das 'Ranking' von Regionen bestimmen. Globalisierung zwingt auch die Regionen zu einem verstärkten Wettbewerb um ansiedlungswillige Investoren. Und sie erfordert vermehrte Anstrengungen, ein aktives 'Standortmarketing' zu betreiben. Globalisierung verlangt auch wirksame Gegengewichte. Sie ist nicht der einzige wichtige Faktor für -2 1 0 -
Wirtschaft und Gesellschaft der Zukunft. 'Es gibt lokale, auch regionale Wirtschaftsräume, die in bestimmter Hinsicht autark sind, ohne darum protektionistisch zu sein' (Dahrendorf, 1998, S.45). Politik darf sich nicht auf die Förderung der am globalen Wettbewerb orientierten wirtschaftlichen Akteure beschränken. Deshalb gehört zu den Antworten auf die Globalisierung auch die Stärkung regionaler Strukturen und regionaler Wirtschaftskreisläufe. Soziale Integration wie Bereitschaft und Fähigkeit zu bürgerschaftlichem Engagement werden entscheidend geprägt durch sozial intakte Räume im Lebensund Arbeitsumfeld des einzelnen. Hier können funktionierende regionalwirtschaftliche Strukturen mit einem breiten Angebot an Dienstleistungen, Handwerk und Mittelstand wichtige integrative Funktionen übernehmen. Die Antwort auf die Konkurrenz durch hochqualifizierte Softwareentwickler aus Bangalore liegt nicht nur auf den Weltmärkten, sondern auch vor unserer eigenen Haustür.
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III. Ausblick auf die Gesellschaft von morgen 11. Kultur der Selbständigkeit 'Wir brauchen in Deutschland wieder Gründerjahre, eine neue Wagniskultur, einen Mentalitätswandel hin zu mehr Risikobereitschaft, Flexibilität und Offenheit gegenüber dem Wandel. Dazu gehört auch eine neue Gründerwelle, damit wieder so viele Menschen wie in den 50er und 60er Jahren mit guten Ideen den Sprung in die Selbständigkeit wagen. Junge Menschen müssen erkennen: Unternehmer kann man nicht nur durch Erbschaft, sondern auch durch eigene Leistung werden. Nicht lebenslange Tätigkeit beim Staat oder in Großunternehmen, sondern berufliche Selbständigkeit bietet heute die besten Zukunftsaussichten' (Roman Herzog, zit. nach Bissinger, 1997). Tatsächlich wird die Welt des 21. Jahrhunderts von einer Renaissance der Selbständigkeit geprägt sein. Das gilt für die lebensweltlich-kulturellen Orientierungen genauso wie für Ökonomie und Arbeitswelt. Aus festgefügten Traditions- und Milieubindungen herausgetretene Bürger haben selbständig aus einer Fülle von Handlungsmöglichkeiten Entscheidungen zu treffen über Lebensformen und Lebensziele. Sie bewegen sich in einer individualisierten Arbeitswelt, die unterschiedlichste Beschäftigungsverhältnisse hervorbringt und in einer Gesellschaft, die weniger lebenslange Gewißheiten kennt und weniger Schutz durch feste Einbindung in Kollektive mit relativ einheitlicher Lebenslage und Lebensorientierung bietet. Sicher wird es auch weiter große Einheiten geben, deren Existenz auf Einstellungen und Verhalten zurückwirkt. Und natürlich wird es auch in dieser Welt weiter darum gehen müssen, durch die Kraft der vielen gemeinschaftlich tarifvertragliche Lösungen zu erreichen. Aber diese Welt der Informationsgesellschaft wird sehr viel stärker bestimmt sein von einzelnen Individuen mit unterschiedlichen und biographisch wechselnden Lebenslagen und
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Erwerbsarbeitsverhältnissen. In dieser Welt kommt Selbständigkeit eine neue Bedeutung zu. Um darauf vorbereitet zu sein, braucht unser Land die mentale Bereitschaft, Chance und Verantwortung anzunehmen, die sich aus einer Welt ergeben, die dem einzelnen mehr Freiheit, aber auch mehr Risiken anbietet und zugleich zumutet. Wir brauchen Existenzgründer und Existenzgründerinnen, die bereit sind, Wagnisse einzugehen. Deutschland braucht eine neue Gründerwelle. Dazu bedarf es auch schöpferischer Unternehmerpersönlichkeiten. Wir müssen anknüpfen an die positiven Elemente unserer Industrietradition, die die großen Erfinderpersönlichkeiten in Deutschland begründet haben - an die Tradition eines Robert Bosch, Werner von Siemens, Gottlieb Daimler und Carl Benz, Adam Opel, Philipp Holzmann, Fritz Henkel und Carl Linde. Und auch an die Gründerbiographien der Nachkriegszeit - von Josef Neckermann bis Heinz Nixdorf. Schöpferisches Unternehmertum im Sinne Schumpeters - das wird die wichtige Produktivkraft der Welt von morgen sein. Auch die politische Linke braucht ein realistisches Unternehmerbild, das im Unternehmer nicht immer zuerst den Kapitalisten sieht. Gewiß gibt es Unternehmer und unternehmerische Strategien, die allein auf Kostensenkung bedacht sind und die die sozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen nicht kümmern. Die Orientierung von Managern, Bankern und Unternehmern am 'shareholder value' gehört zu den größten Problemen, die die heutige Wirtschaft für die Gesellschaft heraufbeschwört. Aber es gibt auch ein Leitbild der schöpferischen Unternehmerpersönlichkeit, die verantwortlich im Sinne gesellschaftlicher Zukunftsfähigkeit handelt. Solche Unternehmer haben eine zentrale Rolle für die Entwicklung von Gesellschaften. Die Stärkung eines Unternehmertums, das sich sozialer und gesellschaftlicher Zukunftsverantwortung verpflichtet weiß, ist eine wichtige politische Aufgabe. Eine Unternehmenskultur, die von solchen Leitbildern ausgeht, ist viel wichtiger, als der kurzfristige Kursvorteil, 'ein shareholder -2 1 3 -
value, der nur Spielernaturen blenden kann'. 'Mitarbeiter müssen überzeugt sein von dem, was sie tun. Was wir heute brauchen, um Leistung zu erbringen ist Identifikation' (Mohn, 1997). Ein solches Verständnis unternehmerischen Handelns wird in der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnen. Wenn der frühere Bosch-Chef Hans C. Merkle heute feststellt, daß es 'eine unternehmerische Aufgabe' sei, nicht nur mit dem Heute fertig zu werden, sondern auch an das Morgen und Übermorgen zu denken', dann mag dies zwar jenem Verständnis von unternehmerischem Handeln widersprechen, das die kurzfristige Profitmaximierung für die vordringliche Aufgabe von Unternehmern hält. Gerade weil solche verkürzten Vorstellungen von der Rolle unternehmerischer Tätigkeit in der modernen Gesellschaft heute sehr verbreitet sind, muß das Leitbild von der gesellschaftlichen Verantwortung unternehmerischer Tätigkeit für die Gesellschaft der Zukunft gestärkt werden. Zwischen den Trümmern Nachkriegsdeutschlands führte die 'Ökonomie der Not' zum selbständigen Unternehmertum. Später, in der 'Ökonomie des Wohlstandes' (Trautwein-Hahns) gab es andere Motive für die Selbständigkeit. Das deutsche Wirtschaftswunder hatte mit dieser Gründer- oder Wiederbegründergeneration zu tun. mit Erfinden und mit schöpferischem Unternehmertum. Noch in den sechziger Jahren betrug die Selbständigenquote in Deutschland 16 Prozent.1990 war diese Quote bis auf acht Prozent abgesunken. Inzwischen steigt sie wieder leicht an. Zur Zeit liegt sie bei knapp neun Prozent. Sicher spiegelt sich in diesen Zahlen auch der gesellschaftliche Strukturwandel wider. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsstadium einer Volkswirtschaft und der Selbständigenquote. Vor allem solche strukturellen Ursachen waren es, die den Rückgang der Zahl der Selbständigen in der Industriegesellschaft bewirkt haben. Die aufkommende Industriegesellschaft rekrutierte ihre Beschäftigten oft aus dem selbständigen Handwerk, das in Existenznöte geraten war. Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe ist in unserem -2 1 4 -
Jahrhundert auf einen Bruchteil früherer Zeiten zusammengeschrumpft. Während die Zahl der Betriebe in Landwirtschaft und Handwerk abnahm, hat sich die gesellschaftliche Wertschöpfung immer mehr auf die großen Einheiten des produzierenden Gewerbes verlagert. Aber inzwischen haben sich diese Tendenzen international bereits wieder verschoben. Jetzt, nachdem die Industriegesellschaft ihren Zenit überschritten hat, steigt die Zahl der Selbständigen wieder an. Mit der Abkehr von fordistischen und tayloristischen Arbeits- und Produktionsmodellen muß sie auch wieder zunehmen. Sie entwickelt dabei neue Formen und Schattierungen. Das reicht von klassischen Handwerkern und Freiberuflern über Scheinselbständige bis zu Teleworkern und Freelancern im IuK-Netz. Andere haben diesen neuerlichen Strukturwandel bislang besser bewältigt als wir. Die Selbständigenquote in anderen OECD-Volkswirtschaften ist durchweg deutlich höher als in Deutschland. Dies gilt auch dort, wo das Modernisierungstempo der Volkswirtschaften vergleichbar ist. In den USA liegt die Selbständigenquote heute bei vierzehn Prozent, in Großbritannien bei dreizehn, in Frankreich bei 12,5 Prozent. Selbst im staats- und regulierungsfreundlichen Schweden, das gewiß nie ein Paradies für Unternehmer gewesen ist, liegt sie bei elf Prozent. Das hat auch damit zu tun, daß der Anteil des produzierenden Gewerbes an der Wertschöpfung in Deutschland höher liegt als in anderen entwickelten Gesellschaften. Gleichwohl spricht einiges dafür, daß wir es in Deutschland auch mit einem speziellen Problem zu tun haben: Es gibt Anzeichen dafür, daß Deutschland in einer Art 'Buddenbroockrise' steckt. Was ist damit gemeint? Thomas Mann schildert in seinem berühmten Roman die Geschichte des Handelshauses der Buddenbrooks in Lübeck. Der Gründer fing klein an, er war der Pionier. Die nächste Generation baute das Unternehmen mit viel Fleiß und Energie zu einem florierenden mittelständischen Unternehmen aus. Die dritte Generation stand in der Familientradition der ersten beiden Generationen und konnte reichlich ernten. Bei -2 1 5 -
der dann folgenden vierten Generation aber nahmen Engagement und Interesse deutlich ab. Schließlich endete die unternehmerische Familienbiographie in Dekadenz und Konkurs. Fünfzig Jahre nach Kriegsende spricht einiges dafür, daß unser Land in eine ähnliche Krise geraten sein könnte. Die Generation, die jetzt Führungspositionen besetzt, hat den Wohlstand oft geerbt, nicht selber erarbeitet. Zugleich haben wir in Deutschland immer weniger Unternehmerpersönlichkeiten und immer mehr 'beamtete' Manager. Die Rechtsform der AG ersetzt inzwischen den Schumpeterschen Unternehmer. Es scheint, als durchlebten wir nach Jahrzehnten des wirtschaftlichen Aufstiegs in Deutschland jetzt die gefährliche Phase der Buddenbrook-Saga. Das gilt für viele Einzelunternehmen und viele Personengesellschaften. Allein 400000 Unternehmer werden ihr Unternehmen bis 2005 aufgeben, weil sie keinen Nachfolger in der Familie haben. Das gilt aber auch für gesellschaftliche Mentalitäten. Die Erfolgsgeschichte der Nachkriegszeit hat viel Neugier, viel Energie und viel Ehrgeiz nach Innovation aufgezehrt. Anscheinend gibt es tatsächlich eine Art 'Gesetz des bremsenden Vorsprungs', das dafür sorgt, daß gerade der Erfolg Saturiertheit, Strukturkonservatismus, stationäres Denken und zu viele Elemente einer 'Rentnergesellschaft' hervorbringt. Dabei wird es heute immer wichtiger, Neues auszuprobieren, neue Wege zu versuchen, Experimente zu wagen. Andere Gesellschaften sind uns da derzeit ein Stück voraus. Immerhin wird der Druck des Strukturwandels auf das strukturkonservative Denken stärker. Diesmal kommt die Veränderung von unten. Von dort geht die Kraft einer 'Renaissance der Selbständigkeit' aus. Diese Renaissance speist sich heute aus verschiedenen Quellen: Selbständige Existenzen entstehen nicht selten aus einer 'Ökonomie der Not'. Darunter fallen zum einen Arbeitslose, die sich selbständig machen, weil sie keine Anstellung bekommen. In Deutschland haben 1997 87824 Menschen ein neues Programm zur Förderung der Selbständigkeit von Arbeitslosen durch die Bundesanstalt für -2 1 6 -
Arbeit in Anspruch genommen. Allerdings wächst auch die Zahl der 'Scheinselbständigen'. Etwa eine Million Menschen gelten als hauptberufliche und 1,5 Millionen als nebenberufliche 'Scheinselbständige': formal selbständige Erwerbstätige, die tatsächlich aber wie abhängige Beschäftigte bei einem einzigen Arbeitgeber tätig sind. Es handelt sich im Grunde um Arbeitnehmer, die in einem Outsourcing-Prozeß ihre frühere feste Anstellung verloren oder überhaupt nur eine scheinselbständige angeboten bekommen haben. Die Zahl dieser Scheinselbständigen nimmt deutlich zu. Dies hat freilich überaus problematische soziale Konsequenzen, die dringend der Korrektur bedürfen. Eine 'Renaissance der Selbständigkeit' im besten Wortsinne ist die allmähliche Ausbreitung selbständiger Existenzen in Ostdeutschland, wo sich seit Beginn der 90er Jahre allmählich eine Selbständigkeitskultur entwickelt. In der Zentralverwaltungswirtschaft spielte die selbständige Berufsausübung nur eine untergeordnete Rolle. 1995 betrug die Selbständigenquote in Ostdeutschland schon sieben Prozent, wobei zwölf Prozent der Selbständigen aus der Arbeitslosigkeit, dreizehn Prozent aus früherer Nichterwerbstätigkeit und 74 Prozent aus der abhängigen Beschäftigung kamen. Man muß allerdings davon ausgehen, daß auch die 'Scheinselbständigkeit' in Ostdeutschland besonders groß ist, so daß nur ein Teil der Existenzgründungen als Strukturwandel gelten kann. Auch unter Frauen nimmt die Selbständigenquote zu. Die am besten qualifizierte Frauengeneration der Geschichte sucht heute neue Wege in die Berufstätigkeit. Allerdings liegt Deutschland auch hier derzeit noch hinter anderen entwickelten Ländern zurück. 'Frauen stellen mit einem Anteil von 51,3 Prozent der deutschen Bevölkerung nur etwa einen Anteil von 43 Prozent der Erwerbstätigen. Der Frauenanteil an allen Teilzeitbeschäftigten liegt dabei in Deutschland bei nahezu neunzig Prozent, während unter den erwerbstätigen Männern Teilzeitbeschäftigung eine Marginalie ist: Erst Mitte der siebziger Jahre überschritt die Teilzeitquote unter den -2 1 7 -
männlichen Arbeitnehmern die Zwei-Prozent-Marke, 1996 lag sie bei etwa vier Prozent. Ein verändertes Lebensverständnis und neue Lebenssituationen führten etwa seit Mitte der achtziger Jahre immer häufiger dazu, daß sich Frauen mit Hilfe einer Existenzgründung Arbeitsplätze geschaffen haben, die auf ihre individuellen Fähigkeiten und persönliche Lebenssituation abgestimmt sind. Von den über drei Millionen Selbständigen in Deutschland beträgt der Anteil an Frauen mehr als 880000. Letzteres entspricht einem Frauenanteil von etwa 26 Prozent' (IZT-Studie, 1998). Im Vergleich dazu liegt der Anteil der Frauen an den Selbständigen in unseren Nachbarländern deutlich höher. In Österreich, Holland und Belgien liegt er bei über dreißig Prozent, in den USA sogar bei vierzig Prozent. Frauen spezialisieren sich nicht selten auf die Bereiche Dienstleistungen und Handel. In den USA nimmt aber auch der Anteil der hochqualifizierten Freiberuflerinnen zu, die z.B. im Bereich 'Inhalte' der Neuen Medien große Erfolge haben. Schließlich führt die Veränderung der Produktionsstrukturen selbst zu einer Zunahme der Selbständigkeit. Die Ablösung der alten hierarchisch- bürokratischen Administrationsstrukturen der Industriegesellschaft durch kleinere, beweglichere und selbstverantwortungsreiche Betriebseinheiten, die Einführung von Kontingent- und Projekt-Arbeiten, die neuen Möglichkeiten der Telearbeit, der Telekooperation, des Teleservice und der Schaffung virtueller Netze und Unternehmensstrukturen sorgt für einen deutlichen Anstieg der Selbständigenquote. Dadurch wird es auch zu einer Flexibilisierung des Arbeitslebens kommen. Mehr Menschen werden als Selbständige in verschiedenen und wechselnden Teams mit speziellen Aufgaben arbeiten. Immer mehr qualifizierte Spezialisten werden gebraucht, die sich kleinere und mittlere Unternehmen nicht als Festangestellte leisten können. Die Zukunft wird im Informationszeitalter kleinen, flexiblen Unternehmen gehören, die mit einer schmalen Stammbelegschaft, aber vielen freien Mitarbeitern operieren, sich zu speziellen Projekten in Teams zusammenschließen und -2 1 8 -
virtuelle, multinationale, zeitlich befristete Konsortien bilden. Die Mega-Strukturen der Industriegesellschaft - gigantische Fabriken, die von einem Zentrum aus den ganzen Weltmarkt mit Gütern und Dienstleistungen versorgen - wird es im Informationszeitalter nicht mehr geben. Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) sagt voraus, daß die optimale Größe von neuen Unternehmen im Jahr 2010 bei zehn bis zwanzig fest angestellten Mitarbeitern liegen wird. Für größere Aufgaben, die mehr Mitarbeiter erfordern, werden flexible Task Forces gebildet, die an verschiedenen Orten, aber online miteinander verbunden, an einer Aufgabe arbeiten. Diese Entwicklung führt zwangsläufig zu neuen Aufgabenstellungen für das Management. Es führt aber auch zu einer fundamentalen Veränderung des klassischen Normalarbeitsverhältnisses industriegesellschaftlicher Prägung. Die klassischen 'Nine-to-Five-Jobs' werden an Bedeutung verlieren. Die feste Bindung der Arbeit an Raum und Zeit, die für das Industriezeitalter charakteristisch war, lockert sich (siehe oben). Selbständigkeit wird auch deshalb zunehmen, weil immer mehr industrienahe unternehmensbezogene Dienstleistungen nachgefragt werden, die nicht mit angestellten Beschäftigten erledigt werden sollen oder können. Dabei verschmelzen der sekundäre und der tertiäre Sektor immer mehr. An der Schwelle einer auf Information basierenden Ökonomie verschieben sich die Gewichte. Nach einer Studie von Coopers & Lybrand gibt es allein in Manhattan 2200 Unternehmen, die sich mit den Neuen Medien beschäftigen - doppelt so viele wie vor zwei Jahren. Die 'Silicon Alley' ist zum Symbol für neue Selbständigkeit, für neue hochqualifizierte Dienstleistungen geworden. All diese Faktoren tragen mehr zu selbständiger Beschäftigung bei. Offen ist nur, in welchem Zeiträumen diese Prozesse ablaufen. Das aber hängt von den Rahmenbedingungen ab. Politik sieht sich hierbei auch mit einer doppelten Anforderung konfrontiert. Sie muß Rahmenbedingungen schaffen, die Existenzgründungen erleichtern und neuen Formen der -2 1 9 -
Selbständigkeit fördern. Sie muß aber zugleich klare Abgrenzungskriterien definieren, um der Umwandlung von eindeutig abhängiger Erwerbsarbeit in scheinselbständige Existenzen dort realitätsnahe Grenzen setzen zu können, wo dies auf Kosten der sozialen Absicherung der Betroffenen und der Sozialkassen geht. Solche Grenzen zu setzen, ohne zugleich Risiko- und Wagnisbereitschaft unzuträglich einzuschränken, wird nicht immer einfach sein. Hätten wir in Deutschland die gleiche Selbständigenquote wie in den USA, gäbe es bei uns rund 800000 Selbständige mehr. Da jeder Selbständige im Durchschnitt vier bis sechs Mitarbeiter beschäftigt, könnte rein rechnerisch damit ein enormes zusätzliches Beschäftigungsvolumen mobilisiert werden. Deutschland aber ist noch zu sehr der industriellen Beschäftigungsstruktur der sechziger und siebziger Jahre verhaftet. Der Strukturwandel vollzieht sich schleppender als anderswo. Allein um die beiden amerikanischen Universitätszentren Berkeley und Cambridge/Boston sind in den letzten zehn Jahren 360 neue Biotechnologiefirmen mit einem Jahresumsatz von heute fast fünf Milliarden Dollar und 40000 Beschäftigten entstanden. Das entspricht der Gesamtbeschäftigungszahl dieser Branche in Deutschland. In Bangalore werden heute mehr Software-Ingenieure ausgebildet als in Deutschland. Diese Ingenieure machen sich hinterher selbständig. In New York gibt es heute mehr als 56000 Beschäftigte in der Branche der Neuen Medien. Und es gibt dort mehr Startkapital als in ganz Deutschland. Allerdings gibt es in den USA und vor allem um die Innovationszentren Kalifornien (Silicon Valley) und New York/Boston (Silicon Alley) auch viel mehr 'venture capital', d.h. Chancen- und Innovationskapital für junge, innovative Gründerunternehmen. 650 verschiedene Fonds unterstützen dort 3500 Unternehmen jährlich mit fünf Milliarden Mark. Insgesamt stehen in den USA etwa 65 Milliarden Mark an 'Working Capital' zur Verfügung. In Deutschland dagegen sind es nur etwa sechs Milliarden (Roland Berger).
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Die neugegründeten Börsen für junge Technologieunternehmen sind besonders in den USA erfolgreich. Der reichlich spät geschaffene 'Neue Markt' in Deutschland und das enorme Engagement der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Ausgleichsbank zeigen, daß auf diesem Gebiet für die neue Gründergeneration viel zu bewegen ist. In der Selbständigkeit liegen realistische Beschäftigungsmöglichkeiten, aber auch große Potentiale für einen aktiven Strukturwandel. Die Renaissance der Selbständigkeit hat institutionelle, aber auch mentale Voraussetzungen. Das gilt in Deutschland in besonderer Weise. Vor kurzem noch hat eine Umfrage ergeben, daß 61 Prozent aller Studierenden bei uns den Wunsch haben, später im öffentlichen Dienst tätig zu sein. Eine selbständige Existenz wollten gerade einmal elf Prozent aufbauen. Dieses Denken muß sich verändern. Das muß schon in Schule und Hochschule anfangen. Die Universitäten müssen sich nicht nur als Ausbildungseinrichtung verstehen, sondern auch als 'Quellenstandort' für neue Selbständigkeit, neue Arbeit und neue Produkte. Eine der angesehensten Ausbildungsund Forschungseinrichtungen der Welt, das MIT in Boston, hat jetzt eine Bilanz vorgelegt: Von den MIT-Absolventen wurden bis jetzt 4000 Unternehmen mit inzwischen 8500 Fabriken gegründet. Die von MIT-Absolventen gegründeten Unternehmen beschäftigen inzwischen mehr als eine Million Menschen und erwirtschaften einen jährlichen Umsatz von 232 Milliarden Dollar. Das entspricht ungefähr dem Bruttosozialprodukt der Republik Südafrika. Das ComputerHaus SUN in Stanford/Kalifornien geht auf das Stanford University Network zurück. Solche Erfolgsgeschichten sucht man an deutschen Universitäten bislang vergeblich. Zur Renaissance der Selbständigkeit gehören mentale und kulturelle Akzeptanzgrundlagen. Eine neue Kultur der Selbständigkeit könnte mehr schöpferische Potentiale zur Geltung bringen und mehr gesellschaftliche Beweglichkeit schaffen. Sie könnte auch einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten. -2 2 1 -
Sicher schafft dieser strukturelle Wandel auch erhebliche Risiken und Gefahren. Existenzgründungen können scheitern, mit Selbständigkeit sind viele Probleme verbunden. Das Problem der Arbeitslosigkeit wird sich nicht nur durch eine Renaissance der Selbständigkeit lösen lassen. Der strukturelle Wandel schafft das Problem von Bindungsverlusten und einer Gefährdung von Gemeinwohlorientierung. Zur neuen Selbständigkeit gehört deshalb auch eine neue Kultur der Solidarität. Sie muß das gewissermaßen 'natürliche Pendant' dazu werden. Durch erneuerte Fundamente von Solidarität und Gemeinwohlorientierung aber werden die Risiken der gewandelten Gesellschaft eher beherrschbar werden als durch angstbesetzte Abwehrhaltungen, die das Neue fürchten und es am liebsten aufhalten würden. Die Renaissance der Selbständigkeit wird die Konturen der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts wesentlich mitbestimmen. Offen ist nur, wie wir uns rechtzeitig so darauf einstellen, daß Chancen genutzt und Risiken gemindert werden können.
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12. Kultur der Solidarität 'Der europäische Sozialstaat bedarf einer dringenden Effizienzrevolution, wenn er eine Zukunft haben soll, und diese muß er haben. Aber jenseits einer effizienten Erneuerung muß er auch das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Solidarität neu definieren und in Reformen umsetzen. Die Sozialstaatssicherung war die Antwort der klassischen kapitalistischen Arbeitsgesellschaft auf die Gerechtigkeits-, die Sicherheits- und Aufstiegsbedürfnisse von Millionen abhängig Beschäftigter. Die westeuropäischen Mittelschichtsgesellschaften sind nach 50 Jahren Frieden aber alles andere als arm, wenn man sich die privaten Vermögenswerte und die Einkommen betrachtet. Also wird das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit neu justiert werden müssen. Die entscheidende Frage wird dabei sein, wieweit sozialstaatliche Strukturen verstärkt Selbsthilfe und Hilfe auf Gegenseitigkeit, Gemeinsinn und Solidarität also, zu Lasten großer bürokratischer Apparate zu fördern in der Lage sein werden. Jeder Sozialstaat hat seine Finanzierungsgrenze und hängt ab von den wirtschaftlichen Erträgen. Letztendlich gründet er aber auf der Erkenntnis, daß soziale Solidarität den inneren Frieden, verläßliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen, politische Stabilität und die Zukunft der Demokratie gewährleistet. Europa wird auch im Zeitalter des Globalismus auf diesen wesentlichen Bestandteil seines demokratischen und auch wirtschaftlichen Erfolges nicht verzichten dürfen. Den Sozialstaat in Europa als solchen in Frage zu stellen, heißt mit dem Feuer zu spielen und die Axt an die Wurzeln der Demokratie zu legen' (Fischer, 1996). Tatsächlich sind die Grundlagen des europäischen Sozialstaates, der Ergebnis war einer wechselvollen und blutigen Geschichte von Kämpfen zwischen den Kräften des Marktes, des Staates und der organisierten Arbeiterbewegung des Industriezeitalters, heute gleich aus mehreren Gründen bedroht. Sie sind bedroht durch den Wandel einer Arbeitswelt, -2 2 3 -
die mit der Ausbildung unterschiedlichster Beschäftigungsverhältnisse und der wachsenden Konkurrenz auf internationalisierten Arbeitsmärkten die solidaritätsbildende Kraft einer gemeinsamen betrieblichen Alltagserfahrung vieler einzelner schwächt und die Macht großer Kollektivakteure wie der Gewerkschaften mindert. Sie sind geschwächt, weil die Finanzierungsspielräume der großen Sozialversicherungssysteme, die sich auf annähernde Vollbeschäftigung auf beitragspflichtigen Vollzeitarbeitsplätzen gründen, aus unterschiedlichen Gründen geringer werden. Dabei spielen Arbeitslosigkeit, Ausdifferenzierung von Erwerbsbiographien, demographischer Wandel und die insgesamt prekär gewordenen Grundlagen der Staatsfinanzen eine Rolle. Sie sind ferner geschwächt, weil in der Wahrnehmung vieler Gesellschaftsmitglieder der Grenznutzen von Solidarität abgenommen hat. Wo für eine sozialstaatliche Steuerungsfunktion der Politik noch vor wenigen Jahrzehnten eine mehr oder weniger breite gesellschaftliche Zustimmung vorausgesetzt werden konnte, weil die Mehrheit der Bevölkerung darum wußte, was Entrechtung und soziale Not bedeuten konnten, und das Risiko, selbst betroffen zu sein, als nicht gering veranschlagt wurde, scheint diese Erinnerung angesichts des beachtlichen Wohlstands einer Mehrheit heute deutlich geschwunden. Sie sind schließlich auch deshalb geschwächt, weil in den gesellschaftlichen Leitbildern dieser Zeit die Orientierung an betriebswirtschaftlichen Rationalitätskalkülen, Gewinnmaximierung und Vorteilsnahme gegenüber sozialgesellschaftlichem Ausgleich deutlich an Boden gewonnen hat. Auch der lebensweltliche Erfahrungsbereich der Menschen ist in wachsendem Maße 'kommerzialisiert'. Selbst von Politik wird inzwischen vielfach erwartet, daß sie sich am Vorbild unternehmerischer Optimierungsstrategien orientiert. Andererseits aber stehen wir inmitten von Umbruchprozessen, durch die die Bedeutung sozialer Solidarität und sozialgesellschaftlichen Ausgleichs wieder zunehmen muß. In der OECD-Welt hat sich in den vergangenen anderthalb -2 2 4 -
Jahrzehnten die Schere der Verteilung von Reichtum und Lebenschancen weit geöffnet - in der anglo-amerikanischen Welt mehr, in der westeuropäischen weniger. Die Grundtendenz aber ist überall gleich. Die Beschäftigungskrise führt zu neuer sozialer Ausgrenzung, die Bindungskräfte von Gesellschaften werden labiler, Anzeichen sozialer Anomie machen sich breit. Zugleich ist die Macht der klassischen Gegenkräfte des sozialen Ausgleichs wie der Gewerkschaften geschwächt. Gerade weil hier strukturelle Veränderungen eine erhebliche Rolle spielen, die zum großen Teil irreversibel sind, gewinnt das Problem, wie in einer Welt der neuen Selbständigkeit die gesellschaftlichen Grundlagen der Solidarität erneuert werden können, eine fundamentale Bedeutung. Die soziale Frage hat auch in hochentwickelten Marktgesellschaften längst eine Brisanz gewonnen, die sie im 21. Jahrhundert aufs neue zur Kernfrage der sozialen Integration dieser Gesellschaften werden lassen wird. Kultur der Solidarität muß sich dabei zuerst über die Beteiligungschancen der Menschen an der Erwerbsarbeit definieren. Dauerarbeitslosigkeit ist nicht hinnehmbar, weil sie zu sozialer Ausgrenzung führt und Menschen um elementare Lebenschancen bringt. Arbeit im Sinne produktiver Tätigkeit gehört zu den Grundvoraussetzungen sinnerfüllten Lebens. Massenarbeitslosigkeit ist auf Dauer nicht zu finanzieren. Vor allem aber bedroht sie die Grundlagen jedes sozialen Zusammenhalts von Gesellschaften - ganz gleich, ob das Kapitalanlegern, Managern und Aktionären nun klar ist oder nicht. John Galbraith schreibt vor dem Hintergrund der Erfahrung amerikanischer Großstädte mit ihrer Verslumung, mit Kriminalität und der wachsenden Zahl von Gewaltausbrüchen: 'Die im Wohlstand und Komfort leben, waren schon immer der Auffassung, daß die anderen auf der anderen Seite des Grabens ihr Schicksal friedvoll und glücklich akzeptieren. Dieser Irrglaube könnte eines Tages wie eine Seifenblase zerplatzen' (Galbraith, 1992). Und selbst wenn sich die Profiteure der modernen Wirtschaftsentwicklung vor dem -2 2 5 -
sozialen Sprengstoff wirksam schützen könnten, der durch neue soziale Spaltungen entsteht: Die Vorstellung einer Zukunft, in der die gut verdienenden 'Symbolanalytiker' und wohlhabenden Rentiers in abgeschirmten und von privaten Wachdiensten geschützten Wohnquartieren ein angenehmes Leben führen, während Innenstädte verelenden und die Wohnviertel von Beschäftigungslosen und der 'working poor' zu Zentren von Kriminalität, Gewalt und sozialem Zerfall degenerieren, ist eine Horrorvision. Auch in Deutschland haben wir es in den großen Städten mittlerweile mit einem bedrohlichen Nebeneinander von Wohlstand und Anzeichen von sozialer Verelendung zu tun. Wachsendem Luxuskonsum gut situierter Schichten, die sich in ihre eigenen Viertel zurückziehen, stehen zunehmende Potentiale gesellschaftlicher Desintegration gegenüber. Diese Desintegration kommt in den unterschiedlichsten Formen zum Ausdruck: in Fremdenfeindlichkeit, in rechtsextremem Wählerverhalten, in der Eskalation von Gewalt und Vandalismus, in Kriminalität und wachsendem Drogenkonsum. Und nicht zuletzt in der seit einigen Jahren stark anwachsenden Obdachlosigkeit. Die Energie von Hoffnungslosen drückt sich gerade heute immer häufiger in Gewalt aus. Wenn diesen Hoffnungslosen keine Perspektiven eröffnet werden können, wird die Gesellschaft nicht nur ihrer Verpflichtung zum Mitgefühl und zur Gewährung fairer Chancen nicht gerecht. Sie wird dann auch Kräfte verlieren, die sie für ihre ökonomische und soziale Erneuerung eigentlich dringend benötigt. In Deutschland gibt es heute 85 Milliardäre und rund 110000 Millionäre. Dem stehen 2,8 Millionen Sozialhilfeempfänger und fast eine Million Obdachlose gegenüber. 36 Millionen Menschen arbeiten - viele bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Gleichzeitig aber haben wir etwa sechs Millionen Menschen, die eine Leistung erbringen wollen, aber dazu keine Chance bekommen. Diese Spannung kann einer Gesellschaft nicht bekommen. Zumal wenn sie durch das Gefälle zwischen Ost und West in Deutschland zusätzlich verschärft wird. Diese Entwicklung muß -2 2 6 -
zu weiterer Separierung gesellschaftlicher Gruppen führen, zu 'Parallelgesellschaften', wie Heitmeyer dies ausdrückt. Die Menschen, die sich regelmäßig in VIP-Loungen begegnen, haben mit denen, die durch Suppenküchen versorgt werden, keine gesellschaftlichen Berührungspunkte mehr. 'Armut ist die Mutter aller Verbrechen' (Aristoteles). Deshalb ist eine neue Beschäftigungspolitik die erste und zugleich wichtigste Antwort auf die Frage nach der Zukunft gesellschaftlicher Solidarität. Menschen brauchen die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Sie brauchen das Gefühl der Zugehörigkeit, des Gebrauchtwerdens, sie brauchen soziale Anerkennung. Arbeitslosigkeit ist mehr als ein materielles Problem. Deshalb muß Sozialpolitik heute zuerst Beschäftigungspolitik sein. Sie darf sich nicht auf die Sicherung von Existenzgrundlagen und die Höhe von Sozialtransfers verkürzen lassen. Die Öffnung von Chancen muß im Vordergrund aller Politik stehen, nicht Transferzahlungen. Langzeitarbeitslose, die wie Frührentner behandelt werden, werden um Lebenschancen betrogen. Es kann nicht darum gehen, Menschen, die erwerbsfähig sind und in ihrer ganz großen Mehrheit nach Erwerbstätigkeit suchen. auf Dauer erwerbslose Mindesteinkommen zu garantieren. Es muß vielmehr darum gehen, ihnen solche Chancen tatsächlich zu eröffnen. Durch Ausbildung, durch neue Verbindungen von Sozialund Erwerbseinkommen, durch neue Beschäftigungsfelder im 'Dritten Sektor' (vgl. Kapitel 4), aber auch durch gezielte Hilfen beim Aufbau selbständiger Existenzen. Höhere Beschäftigungsraten vermindern auch den Druck auf die Sozialsysteme und verbessern ihre Fianzausstattung. Allerdings werden sich die Probleme unserer heutigen Sozialsysteme mit beschäftigungspolitischen Erfolgen nur begrenzt lösen lassen. Auch Lohnkostenzuschüsse kosten Geld. Erst recht gilt dies für ein zusätzliches Arbeitsplatzangebot im sozialwirtschaftlichen Sektor. 'Social sponsering', also die Mobilisierung privaten Kapitals für solche Zwecke, und die Übernahme solcher Aufgaben durch -2 2 7 -
Stiftungen mögen bis zu einem gewissen Umfang helfen. Realistischerweise aber wird auch hier mit einem öffentlichen Mittelbedarf zu rechnen sein. Dem stünden zwar wieder Einspareffekte bei den sozialen Transfersystemen durch höhere Beschäftigungsquoten gegenüber. Letztlich aber würde vor allem eine Verlagerung stattfinden von beschäftigungslosen Einkommen zur Finanzierung von Arbeit. Die Mittel dafür müßten von der Gesamtheit der Steuerzahler aufgebracht werden. Denn die Belastung der Arbeitslosenversicherung durch Maßnahmen der allgemeinen Arbeitsmarktpolitik verschärft den Druck auf die Arbeitskosten und muß schon deshalb korrigiert werden. Trotz solcher Entlastungseffekte für die Sozialversicherungssysteme wird auch der Erfolg einer neuen Beschäftigungspolitik nicht jede Sackgasse öffnen können, in die unser heutiges Sozialsystem hineingeraten ist. Denn unser auf den Generationenvertrag aufgebautes System der Rentenfinanzierung ist auch durch eine demographische Entwicklung unter Druck geraten, die das Verhältnis von Rentenbeziehern und berufstätigen aktiven Beitragszahlern immer weiter verschiebt. Die Geburtenrate ist seit Mitte der sechziger Jahre deutlich gesunken und hat sich heute auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau stabilisiert. Die Lebenserwartung hat sich dagegen erfreulicherweise deutlich verlängert. Ein System der Rentenfinanzierung, das auf den laufenden Beitragszahlungen der aktiven Erwerbstätigen gründet, muß dadurch in Schwierigkeiten geraten. Diese Schwierigkeiten werden sich in der Arbeitswelt der Zukunft noch verschärfen: Uneinheitliche, unterbrochene Erwerbsbiographien, die Ausweitung von Teilzeitarbeitsplätzen und die Ausdifferenzierung von Beschäftigungsverhältnissen müssen ein System, das eine auskömmliche Altersrente an sehr lange Zeiträume kontinuierlicher Beitragszahlungen bindet, zum kaum lösbaren Problem machen. Entweder müssen die Beitragszeiten, die heute Voraussetzung für den Bezug der vollen Rente sind, verkürzt werden. Das hätte zur Folge, daß mit geringeren Beitragsleistungen höhere Rentenzahlungen -2 2 8 -
finanziert werden müßten - was nicht funktionieren kann. Oder der Kreis derjenigen, der eine einigermaßen auskömmliche Rente beziehen kann, die den erreichten Lebensstandard einigermaßen zu sichern vermag, wird deutlich enger. Deshalb sind Reformen auch dann unumgänglich, wenn das Arbeitsplatzangebot erhöht werden kann. Auf die Dauer führt kein Weg daran vorbei, das System der Alterssicherung auf eine neue Grundlage zu stellen. Wenn man davon ausgeht, daß das Solidaritätsprinzip prioritär die Sicherung der Lebensverhältnisse der Bedürftigsten verlangt, muß es zuerst um die Sicherung einer Mindestrente gehen. Darüber hinaus werden weitere strukturelle Veränderungen unumgänglich sein, wie zum Beispiel die Beteiligung der Beamten an ihrer Alterssicherung. Wir brauchen eine Bürgerversicherung für alle. Sie sollte eine Mindestsicherung schaffen, darüber hinaus aber beitragsbezogen sein. Aber sie kann nicht mehr die alleinige Grundlage der Alterssicherung sein. Die Bürgerversicherung braucht noch weitere Standbeine. Das zweite Standbein der künftigen Alterssicherung könnte die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital der Gesellschaft sein. Dadurch könnten auch die produktiven Elemente des Kapitaldeckungsverfahrens genutzt werden. Im öffentlichen Dienst und in anderen nicht-kommerziellen Bereichen müssen andere Formen betriebsbezogener Rentenanwartschaften geschaffen werden. Hinzukommen muß die stärkere Eigenvorsorge des einzelnen als dritte Säule künftiger Alterssicherung (vgl. Rümp, 1998). Die Erosion des Sozialen in der Gesellschaft ist jedoch längst nicht allein ein Problem der Krise der Bismarckschen Sozialsysteme. Es wäre auch höchst fahrlässig, sie auf ein Problem brüchiger Finanzierungsgrundlagen zu reduzieren. Gesellschaftlicher Strukturwandel, veränderte Arbeitswelt, Individualisierung, die wachsende Durchdringung auch des lebensweltlichen Bereichs von strategischen Nutzenkalkülen, das Vordringen von Lebensorientierungen, die marktförmiges Verhalten auch im menschlichen Umgang zum Maßstab nehmen - wir haben es hier mit Problemen zu tun, die tiefer -2 2 9 -
reichen und mehr erfordern als die Sicherung von Finanzierungsgrundlagen. Die Akzeptanz sozialgesellschaftlicher Umverteilung basiert auf dem sozialen Wertefundament von Gesellschaften, auf dem, was Dubiel die 'Gewohnheiten des Herzens' nennt (Dubiel, 1995). Ist dieses Fundament porös, sind formale Anrechte nicht mehr viel wert. Galbraith sieht vor dem Hintergrund der amerikanischen Gesellschaft eine 'Kultur der Zufriedenheit' als Hauptproblem der sozialgesellschaftlichem Integration. Diese Kultur der Zufriedenheit ignoriere egoistisch die real vorhandenen sozialen, kulturellen und ökologischen Herausforderungen. Sie repräsentiere dabei freilich eine Mehrheit, auf die die Politiker angewiesen seien. 'Diese Mehrheit sucht ihren Vorteil unter dem Schutz der Demokratie, auch wenn diese Demokratie einen großen Teil der Bürger ausgrenzt. Auf diese Weise wird eine Regierung gewählt, die sich nicht an der Realität orientiert und an den gesellschaftlichen Bedürfnissen, sondern an dem Weltbild der Zufriedenen, die jetzt eben die Mehrheit der Wähler stellen' (Galbraith, a.a.O.). Deshalb hätten wichtige Zukunftsprojekte keine Chance mehr, 'weil eben die sofort anfallenden Kosten und Steuern genau zu beziffern sind, niemand aber genau zu sagen vermag, wem genau die entsprechenden Maßnahmen in der Zukunft nützen werden ... Die Generation, die investiert, ist nicht die, die profitiert. Warum soll man für Leute, die man gar nicht kennt, bezahlen? Diese Form aus der Zufriedenheit geborener Ignoranz gewinnt zunehmend Einfluß auf unser soziales Leben' (Galbraith, a.a.O.). So weit sind wir in Europa noch nicht, auch nicht in Deutschland. Aber auch hier besteht die Gefahr, daß der Sozialstaat im Zeichen des Verlusts von arbeitsweltlich fundierten Solidaritätserfahrungen den von Steuern und Abgaben gebeutelten Bürgern immer mehr als lästiger Steuerstaat erscheint. Eben deshalb geht es um viel mehr als um die Sicherung der Finanzierung der Transfersysteme. Gerade in einer neu strukturierten Gesellschaft der Zukunft mit differenzierten Erwerbsbiographien, Unsicherheiten und Instabilitäten, gerade -2 3 0 -
in der 'Multioptionsgesellschaft' wird die eigentliche Basis des Sozialen stärker im lebensweltlichen und sozialen Nahbereich liegen müssen. Wenn es zutrifft, daß die 'Gewohnheiten des Herzens' durch eine Erschöpfung der Prägekraft vormoderner Sinn- und Verpflichtungssysteme und der Marktlogik entgegengesetzter Lebenswelten bedroht und alte Begrenzungen der Marktgesetze nicht mehr wirksam sind, gerade dann muß die Chance zur Erneuerung des Sozialen von den Fähigkeiten moderner Bürgergesellschaften abhängen, die Bedingungen ihres sozialen Zusammenhalts selbst zu erzeugen. Das aber kann nur in sozialen Nahbereichen geschehen. Nachbarschaftliche Hilfe, soziale Betreuungsdienste durch lokale Träger, die gemeinschaftsbildende Kraft bürgerschaftlichen Engagements in Vereinen, Verbänden, Projektgruppen, Bürgerinitiativen - all diese Kräfte, die jenseits marktorientierter Nutzenkalküle im weitesten Sinne als Kräfte der Gemeinschaftsbindung identifiziert werden können, bilden die Grundlage für eine Kultur der Solidarität in der Gesellschaft von morgen. Sie müssen gestärkt werden. Auch und gerade von der Politik. Dabei wird sich Politik von morgen nicht darauf beschränken können, allgemeine Rechtsrahmen festzulegen und eine äußere Friedens- und Freiheitsordnung zu sichern. In der Schaffung von 'Möglichkeitsräumen' für bürgerschaftliches Engagement liegt auch deshalb eine zentrale Aufgabe zukunftsorientierter Politik, weil wir uns beim sozialgesellschaftlichen Ausgleich auf die Kraft der großen Kollektivakteure der Industriegesellschaft immer weniger werden verlassen können. Die Antwort auf die Veränderungen der modernen Gesellschaft kann nicht im bloßen Abwehrkampf liegen, der um den Erhalt von längst brüchigen Strukturen geführt wird. Die Antwort kann nicht im Erhalt aller Strukturen des alten Sozialstaates liegen. Die Antwort ist die Erneuerung des Sozialen in einer Wohlfahrtsgesellschaft der Zukunft. Die Basis dieser Wohlfahrtsgesellschaft sind die Bürgerschaften des kommunalen Nahbereichs. Sie müssen Chance, Verantwortung und Möglichkeit erhalten, das Fundament für soziale Integration -2 3 1 -
zu schaffen. Der Staat muß dabei finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen, er muß Leistungsstandards bei der Erfüllung sozialer Aufgaben definieren und ihre Einhaltung sicherstellen. Er muß sich zugleich bei der Formulierung von Leitbildern und Politikzielen deutlich zu einer solche Politik der Rekonstruktion von Gemeinwohlorientierung über die Wurzeln von Gemeinschaft bekennen. Er muß z.B. seine Bildungspolitik darauf abstellen. Und er muß materielle wie nichtmaterielle Anreizsysteme für Bürgerarbeit, Gemeinwesenarbeit und ehrenamtliche Tätigkeit schaffen. Er muß dabei keineswegs selbst als sozialstaatlicher Großunternehmer tätig werden. Es ist deshalb auch keineswegs allein und nicht einmal zuerst die häufig überlegene Leistungsfähigkeit keinräumig operierender, dezentralisierter Sozialinitiativen, die eine 'Kommunalisierung' der Sozialpolitik geboten erscheinen läßt. Daß freie Träger und Einrichtungen im kommunalen Nahbereich nicht selten kostengünstiger arbeiten als sozialstaatliche Großversorger, kann ein wichtiges zusätzliches Motiv für ihre Förderung sein, denn natürlich gehört zur Modernisierung sozialstaatlicher Strukturen auch größere Zielgenauigkeit und die effiziente Steuerung finanzieller Mittel. Den wichtigsten Grund aber, die Kultur der Solidarität vor allem in dem buntscheckigen Geflecht gemeindlich operierender Träger zu fördern, liefert die darin beschlossene Chance, über die alltägliche Erfahrbarkeit der knapper gewordenen Ressource Solidarität Attraktion und Überlegenheit solidargesellschaftlicher Lebensorientierungen erfahrbar zu machen. Die bürgerschaftliche Erschließung des kommunalen Raumes als Ort gemeinschaftlichen Engagements ist deshalb die Kernaufgabe bei der notwendigen Erneuerung des Sozialen. Es gibt keinen anderen gesellschaftlichen Ort, an dem dies gelingen kann. Eine solche 'bürgergesellschaftliche' Reform des Sozialen ist das notwendige Pendant zur Kultur der Selbständigkeit. Sie wird ihre Basis stärker in den Lebenswelten der Individuen haben müssen, weniger auf arbeitsweltliche Solidaritätserfordernisse gründen können, wie sie die -2 3 2 -
Industriegesellschaft hervorgebracht hat. Sie ist Voraussetzung, wenn die neuen Freiheitsräume tatsächlich von einer Kultur des sozial verantwortlichen Individualismus ausgefüllt werden sollen und unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Kultur der Solidarität gesellschaftlichen Zusammenhang sichern soll.
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13. Kultur der Nachhaltigkeit Mit unserer Lebensweise in den reichen Industrieländern verbrauchen wir heute pro Kopf etwa vier- bis fünfmal so viel Material und Energie wie vor hundert Jahren. Allein in den letzten zwanzig Jahren hat sich der Ressourcenverbrauch pro Einwohner in Deutschland noch einmal um etwa ein Drittel erhöht (zu den Zahlenangaben vgl. Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung, S.357/358). Nun sind wir durchaus keine Verzichtsapostel und erst recht keine Untergangspropheten. Aber diese Lebensweise ist nicht nur weltweit nicht verallgemeinbar, sie geht auch auf Kosten künftiger Generationen. Das derzeitige Niveau der Ressourcennutzung ist nicht zukunftsfähig - trotz mancher Erfolge der Umweltpolitik in den vergangenen zwanzig Jahren. Tatsächlich hat in den Industrieländern in den vergangenen beiden Jahrzehnten eine gewisse Entkoppelung des Energieund Materialverbrauchs vom wirtschaftlichem Wachstum stattgefunden. Das hat aber nur bedingt zu einer Stabilisierung des Stoff- und Energieverbrauchs geführt, weil Einspareffekte durch höheres Wachstum oft wieder aufgezehrt worden sind. So ist z.B. der durchschnittliche Benzinverbrauch von Autos und der Kerosinverbrauch von Flugzeugen durch eine bessere Motortechnik gesunken. Gleichzeitig aber sind die möglichen Umweltentlastungseffekte durch den Anstieg des Verkehrsvolumens nicht nur wettgemacht, sondern überkompensiert worden. Eine durchgängige Entkoppelung von Wachstum und Umweltverbrauch ist nicht erreicht, die Koppelung industriegesellschaftlicher Entwicklung an einen Wachstumstyp, der Wohlstand und soziale Wohlfahrt nur um den Preis eines immer höheren Verbrauchs an Material und Energie zu steigern vermag, trotz mancher Fortschritte nicht durchbrochen. Auch der Strukturwandel hat noch keine entscheidenden Entlastungen gebracht. Strategien zur drastischen Reduzierung von Energieverbrauch und
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Stoffdurchsätzen müssen daher in allen Industrieländern vorrangiges Ziel bleiben. Politik muß dafür sorgen, daß sich die Potentiale gesteigerter Ressourcenproduktivität ökonomisch entfalten können. Sie muß Erfindergeist fördern, neuen technischen Lösungen zum Durchbruch verhelfen, durch Steuer- und Abgabenpolitik Anreize zu umweltgerechter Produktion und Konsumtion schaffen. Sie hat Bedingungen zu schaffen, die den Herstellern und den Verbrauchern von Gütern die Möglichkeit schafft, sich umweltgerecht zu verhalten. Aber da sie Lebensstile weder vorschreiben kann noch vorschreiben will, stößt die Politik an Grenzen. Sie braucht die Gesellschaft als Bündnispartner. Nachhaltigkeit kann nicht nur Zielgröße politischer Strategien sein. Sie braucht auch eine 'Kultur des Maßes'. Unsere heutigen Vorstellungen von Reichtum und Glück haben ihre Fundamente in der Erfahrung von Knappheit und Entbehrung früherer Jahrzehnte. 'Der Drang nach immer mehr ist nicht zuletzt ein Nachhall handfester Überlebenskämpfe, in ihm schwingt Erinnerung an Hunger, Obdachlosigkeit und Unterdrückung mit' (Ulrich, 1997, S.158). Nicht mehr unter materiellem Mangel leiden zu müssen, nicht mehr dauernd sparen, Dinge aufheben zu müssen, beweglich zu sein, über Mobilität selber zu bestimmen - das ist das kulturelle Fundament von Lebensmustern, die einen Zugewinn an Freiheit und Wohlstand bedeuten, aber zugleich auch ökologisch problematische Konsequenzen haben. Wohl läßt sich inzwischen nachweisen, daß Wachstum des Bruttosozialprodukts in Industrieländern längst nicht mehr zwangsläufig mit Wachstum der Lebensqualität korreliert, daß das Wachstum von Dingen mitunter mehr Last als Lust bringt, daß z.B. die Freiheit des Individualverkehrs auch den Streß und die Freiheitsbeschränkung durch Staus bedeuten kann. All das aber hat die vorherrschenden Lebensstile bislang kaum beeinflussen können. Nun können Lebensstile allenfalls begrenzt Gegenstand von Politik sein. Sie entstehen durch kulturelle Evolutionen, sie differenzieren und vereinheitlichen sich, stoßen an Schranken -2 3 5 -
und entwickeln aus sich heraus neue Varianten. Dies entzieht sich weitgehend der Einflußnahme durch die klassischen Instrumente politischer Steuerung. Man kann Verbrauchern mit einigem Aufwand die Getrenntsammlung von Abfall nahebringen. Aber schon die Frage, ob selbst drastische Erhöhungen der Mineralölsteuer wirklich nennenswerten Einfluß auf das Mobilitätsverhalten der Menschen hätten, ist unter Fachleuten umstritten. Und drastische Eingriffe in die Freiheit der Lebensgestaltung sähen sich zu Recht mit dem Vorhalt eines freiheitsbeschränkenden Dirigismus konfrontiert. Ein solcher ökologischer Dirigismus hat keine Chance auf Akzeptanz, wie gerade eine grüne Bundestagsabgeordnete mit der Ansicht, eine Fernurlaubsreise in fünf Jahren sei doch genug, erfahren mußte. Es kann nicht darum gehen, Konsumentenentscheidungen durch Vorschriften beeinflussen zu wollen. Vorschriften sind nur dort sinnvoll und legitim, wo es um die Abwehr unmittelbar drohender Gefahren geht. Aber warum soll Politik nicht 'Gelegenheitsstrukturen für Kaufentscheidungen' (Zukunftskommission der Ebert-Stiftung) beeinflussen? Warum soll sie neben der Einflußnahme auf die Preisgestaltung für Umweltverbrauch auf Strategien der indirekten Steuerung durch Leitbilder verzichten und Strategien der 'geheimen Verführung' der Werbewirtschaft überlassen? Auch Politik kann indirekt Einfluß nehmen auf die Entwicklung von Images, die Umweltbewußtsein als Ausdruck von Modernität statt als hinterwäldlerischen Fortschrittszweifel langweiliger Asketen behandeln. Eine nachhaltige Entwicklung braucht auch eine Kultur der Selbstbeschränkung von Mobilitätsformen, von Ressourcenentnahme, von Flächenverbrauch. Sie muß den Erfolg von Strategien der Ressourceneffizienz ergänzen. Gerade in einem freiheitlichen Gesellschaftsbild, das den selbstregulativen Kräften von Gesellschaft etwas zutraut, wird sich der Erfolg von Strategien der Nachhaltigkeit auch auf solche kulturellen Wandlungen abstützen müssen. Dem Erfolg einer Politik der Nachhaltigkeit blieben zu enge Grenzen -2 3 6 -
gesetzt, wenn sie immer wieder in eklatante Widersprüche zu Lebensstilen und Konsummustern geriete. Unsere heutigen Wohnformen und Siedlungsstrukturen mit ihrer Trennung von Wohnen und Arbeiten sind eine der Hauptquellen des Materialverbrauchs. Rund zehn Tonnen Rohmaterial an Gütern werden pro Einwohner jährlich verbaut. Zugleich steigt der Flächenverbrauch. Der Strukturwandel zur Informationsgesellschaft wird hier Entwicklungen umkehren können. Er unterläuft die industriegesellschaftliche Trennung von Wohnen und Arbeiten. Das schafft Chancen, den Anstieg von Materialund Flächenverbrauch zu bremsen. Wärmedämmung, ressourcenschonendes Bauen, Niedrigenergiehäuser, neue Materialien, die Ergänzung der Wohnungsbauförderung um ökologische Komponenten, alles dies sind richtige und notwendige Möglichkeiten und Schritte. Aber werden sie ausreichen? Zwischen 1960 und 1993 hat sich die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf in Westdeutschland fast verdoppelt. Sie stieg von 23 auf vierzig Quadratmeter (vgl. Wuppertal-Institut, 1996, S.234), Gewiß, das hat gute Gründe: Der Mensch braucht Freiheit, Freiheit braucht Platz. Menschen suchen nach Orten der Entschädigung für weniger schöne Wohnumfelder, möglicherweise auch für den Verlust an öffentlichen Räumen und Plätzen. Das alles ist Lebensqualität. Kaum jemand wird dies missen wollen - zu Recht. Aber es gibt Grenzen. Die Pro-Kopf-Wohnfläche kann sich nicht noch einmal verdoppeln. Und sie kann weltweit auch nicht annähernd unser heutiges Niveau erreichen, wenn die ökologischen Konsequenzen vertretbar bleiben sollen. Das kann niemand erzwingen. Die Politik kann die Instrumente der Wohnungsbauförderung verändern. Aber der Umfang des Flächenverbrauchs hat auch mit einer Kultur des Maßes zu tun, mit der Bereitschaft und Fähigkeit von Menschen, Lebensqualität, Sinn, Glück und Zufriedenheit nicht immer auf 'immer mehr' gründen zu wollen. Ein zweites Beispiel: Mobilität. Neben Bauen und Ernährung ist der Verkehr die dritte große Quelle von Energie-, Material-, Flächen- und Landschaftsverbrauch. Nun ist für die großen -2 3 7 -
städtischen Ballungsräume die Zeit der 'autogerechten Stadt' längst vorbei. Für eine wachsende Zahl von Menschen ist dort sogar die Benutzung anderer Verkehrsmittel wieder attraktiver geworden, weil die Bedingungen für effektive Mobilität mit Pkw inzwischen eher ungünstig geworden sind. Aber für die Gesamtfahrleistung im Individualverkehr gilt dies nicht. Diese steigt weiter. Und es gilt erst recht nicht für den Flugverkehr, der explosionsartig zugenommen hat und die umweltschädlichste Mobilitätsform überhaupt darstellt. Auch hier kann Politik steuernd Einfluß nehmen - über die Korrektur des Verzichts auf die Kerosinbesteuerung, was allerdings nur europaweit machbar wäre. Aber auch hier stößt sie auf Grenzen, die Lebensstile und kulturelle Bedeutungen setzen. Der Güterverkehr auf der Straße könnte durch eine einheitliche europäische Besteuerung gegenüber der Schiene Attraktivität einbüßen. Hier würden ökonomische Anreize unmittelbar wirken. Im Wirtschaftsleben spielen Kosten die entscheidende Rolle. Das Privatfahrzeug aber ist auch Statussymbol, Inbegriff von Freiheit, verschafft Erlebnisse von Geschwindigkeit, von Selbstbestimmung. All das ist für viele Menschen ein realer Gewinn an Lebensqualität, wird als wichtiger Bestandteil von Selbstentfaltungsmöglichkeiten verstanden. Viele werden darauf auch dann nicht verzichten wollen, wenn dieser Gewinn tatsächlich einen deutlich höheren Preis hätte. Eine Strategie des erhobenen ökologischen Zeigefingers hat keine Zukunft. Wenn Nachhaltigkeit das Anliegen wohlsituierter Mittelstandsbürger ist, die es sich leisten können, über materialistische Lebensorientierungen anderer Bevölkerungsgruppen die Nase zu rümpfen, werden ihre Erfolge begrenzt sein. Eine nachhaltige Entwicklung in einer freiheitlichen Gesellschaft braucht auch keine Kultur des Verzichts. Aber sie braucht eine Kultur des Maßes und der ökologischen Verantwortlichkeit. Dafür gibt es durchaus ermutigende Anzeichen: In Teilen der jüngeren Generation sind ökologische Verhaltensstandards im Alltagsleben längst selbstverständlich, die vielen Älteren noch immer fremd sind. In der deutschen Gesellschaft ist zum Beispiel der Fleischkonsum -2 3 8 -
rückläufig. Das hat auch mit Ängsten zu tun (zum Beispiel vor BSE). Aber es hat ökologisch sinnvolle Effekte, weil für eine Kalorieneinheit Fleisch ungefähr das Zehnfache an Fläche und Stoffdurchsatz aufgewendet werden muß wie für die gleiche Kalorienmenge pflanzlicher Herkunft. In der Gesellschaft der Zukunft mit ihren neuen virtuellen Realitäten, mit ihren Brüchen und unterbrochenen Entwicklungen, mit ihren gelockerten Bindungen werden die Möglichkeitsräume für die Menschen noch zunehmen. Um so wichtiger wird die Fähigkeit zur Auswahl, zur Selbstbescheidung und auch zur frei gewählten Selbstbeschränkung sein. Den Drang der Menschen nach immer neuen Ufern, nach neuen Wegen, neuen Erfindungen und neuen Produkten darf man nicht ungebührlich bremsen oder gar stoppen wollen. Das wird nicht gelingen - oder nur um einen Preis, der zu hoch ist. Wer Ökologie und Nachhaltigkeit so versteht, will sie ohne den Menschen durchsetzen. Gerade deshalb aber ist eine Kultur des Maßes, die den Nutzen von Gütern intensiviert und dadurch erst zum Genuß ihres vollen Wertes befähigt, elementare Voraussetzung für eine Gesellschaft, die ihre natürlichen Grundlagen erhalten und für die Zukunft bewahren will. Kultur der Selbständigkeit, Kultur der Solidarität und Kultur der Nachhaltigkeit - alle drei Elemente werden das Gesicht des 21. Jahrhunderts prägen.
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IV. Eine moderne Linke 14. Mit den Werten der Aufklärung ins 21. Jahrhundert Seit dem Epochenbruch von 1989 ist der Kapitalismus konkurrenzlos geworden. Der Siegeszug des Marktes scheint keine Grenzen zu kennen, Alternativen dazu werden nicht einmal mehr theoretisch gehandelt. Das hat Folgen, besonders für die politische Linke. Seither ist die Frage 'What's left ?' immer wieder gestellt worden, und es wurde bezweifelt ob nach dem 'Ende des Sozialismus' (Hobsbawm, 1994) das gut zweihundertjährige politische Koordinatensystem von 'rechts' und 'links' noch Sinn haben könne (vgl. Bobbio, 1994). Aber damit nicht genug. Kaum daß die liberale Gesellschaft das ganze Ausmaß ihres Sieges so recht bemerkt hatte, wurde in den Marktgesellschaften Verunsicherung spürbar. Kaum war Geschichte 'aufgetaut' (Magris, 1996), die Zementierung des Politischen durch den Ost-West-Gegensatz aufgesprengt, zeigte sich die 'freie Gesellschaft' in reichlich desolater Verfassung. Als täten sich marktwirtschaftliche Ordnungen mit ihren eigenen Legitimationsgrundlagen gerade dann besonders schwer, wenn die Herausforderung konkurrierender Mächte ausbleibt, wirkten die Gewinner des kalten Krieges mit ihrem Erfolg auf einmal ziemlich überfordert. Die neue globale Gemengelage mit ihrem Nebeneinander von weltweiter Kommunikation und Vergesellschaftung, neuen sozialen Spaltungslinien, Transnationalisierung, Separatismus und blutigem Ethnonationalismus ließ tiefe Selbstzweifel und Sinnvakua in der geistigen Welt liberaler Marktgesellschaften erkennbar werden. Ob Geschichte überhaupt so etwas wie Entwicklung kenne, ob nicht sogar die zentralen Grundannahmen über den Fortschritt des Zivilisationsprozesses in Frage gestellt werden müßten und womöglich die Verheißungen der europäischen Aufklärung an ihr Ende gekommen seien - dies alles ist angesichts der offenkundigen Ermüdungserscheinungen liberaler -2 4 0 -
Gesellschaften und der barbarischen ethnonationalistischen Konflikte der neunziger Jahre zum Thema gemacht worden. Während hierzulande die Diagnose einer 'Krise der liberalen Gesellschaften' inzwischen zum gesicherten Erkenntnisfundus moderner Zeitanalytiker gehört (vgl. z.B. Schäuble, in: Teufel, 1995, oder Dubiel, in: a.a.O.), reicht der Selbstzweifel der Moderne in Frankreich noch weiter. Alain Minc spricht vom 'Ende der Moderne', sieht die Ideen der Aufklärung nach dreihundertjähriger Herrschaft gescheitert und die Welt am Beginn eines neuen Mittelalters: 'Zweifellos haben wir seit Jahrhunderten keine solche ideologische Leere mehr erlebt ... Der Tod des Sozialismus verkörpert das Ende aller Ordnungsphilosophien ... Hier bricht nicht nur ein versteinertes System zusammen, sondern auch die Idee, die Gesellschaften könnten im Namen einer Hoffnung Fortschritte erzielen' (Minc, 1994). Das betreffe nicht nur den autoritären Sozialismus, sondern auch die demokratische Linke: 'Der Zusammenbruch reißt sogar den Mythos einer kollektiven Hoffnung mit sich. Selbst die mächtigsten Sozialdemokraten sind nunmehr jeder theoretischen Grundlage beraubt, denn ihre Vision lehnte sich, durch das Sieb der demokratischen Freiheiten passiert, noch immer an eine Utopie an. Weder Hoffnung noch Utopie, noch Fortschritt, tabula rasa: Es ist endgültig reiner Tisch gemacht' (Minc, a.a.O.). Auch Liberale und Christdemokraten sollten sich keine Hoffnung machen: Die weltweite Deregulierung schaffe eine Unordnung, die das Ende jedes Glaubens an die Machbarkeit von Geschichte bedeuten müsse. Als sichere Orientierung bleibe buchstäblich nichts mehr, nur 'für Pessimismus ist das Feld grenzenlos'. In der 'nachmodernen Welt des zweiten Mittelalters' bedeute Regieren nicht mehr das Umsetzen von Zielen, sondern sei nur noch ein Durchwurschteln durch ein Geflecht von Zwängen und indirekten Einwirkungen. 'Fortschrittsglaube, die Überzeugung, der Idealzustand sei erreichbar, die Sicherheit, auf eine gerechtere Gesellschaft zuzugehen, all diese Gegenmittel fehlen uns heute' (Minc, a.a.O.).
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Gewiß sind nach dem Epochenbruch von 1989/90 die Probleme der Marktgesellschaften deutlicher zutage getreten, die zuvor unter der Tünche der bipolaren Weltordnung verborgen waren. Eine Dichotomie schafft Spannung, erlaubt aber zugleich eine klare Orientierung. Die Schwäche des einen ist die Stärke des anderen und schafft damit eine Art wechselseitiger Legitimationsgrundlage. Ein offener politischer Raum dagegen bringt Orientierungsprobleme hervor. Die eigentlichen Fragen aber, die den Hintergrund für eine derart skeptische Zeitdiagnostik bilden, die bis zum Zweifel an den Grundlagen des modernen Denkens reicht, sind so neu nicht. Sie sind durch die strukturellen Umbrüche nur deutlicher geworden und zielen auf die Grundprobleme liberaler Gesellschaften: den Ausgleich zwischen Freiheit und Gleichheit, das Verhältnis zwischen citoyen und bourgeois, den Hunger nach Ungleichheit durch Marktkonkurrenz und die Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs als Voraussetzung der Existenz von Gemeinwesen. Und nicht zuletzt zielen sie auch auf die Kraft der Normensysteme, die der demokratische Staat nicht vorschreiben kann, die aber für das leidliche Funktionieren freiheitlicher Ordnungen unverzichtbar sind. Es ist gut dreißig Jahre her, daß Ernst-Wolfgang Bockenförde jenen Satz schrieb, der hierzulande inzwischen durch viele kritische Analysen unserer Gesellschaft geistert: 'Der freiheitliche säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann' (Bockenförde 1967, zit. nach Bockenförde, in: Teufel 1995). Damit war gemeint, daß der moderne demokratische Staat kein geistiges und ethisches Fundament des Zusammenlebens verbindlich festlegen kann, zugleich aber eine freiheitliche Ordnung auf innere Regulierungskräfte der Freiheit und ein gewisses Maß an Übereinstimmung über bestimmte Grundauffassungen angewiesen ist. Verflüssigt sich der elementare Grundkonsens, können auch Rechts- und Verfassungssysteme diese Lücke nicht zureichend schließen. Wir haben es also keineswegs mit einem völlig neuen Problem zu tun. Neu ist allenfalls, daß die Entgrenzung von Räumen und der Funktionsverlust staatlicher -2 4 2 -
Ordnung als Regulierungsinstanz gegenüber den Gesetzen des ökonomischen Wettbewerbs zu Wirkungen führt, die die Integrationsprobleme von Gesellschaften verschärfen und die Basis für 'traditional eingelebte Bestände des Gemeinsinns' (Dubiel, 1996, S.86) weiter schwächen. Weil das alles so neu nicht ist, können wir den tiefen Pessimismus frankophiler Zeitdiagnostik ebensowenig teilen wie die Auffassung, daß mit dem definitiven Scheitern des autoritären Sozialismus die Linke insgesamt an ihr Ende gekommen sei. Am Ende sind gewiß alle Modelle einer zentralistischen Plan- und Kommandowirtschaft, am Ende ist auch jede Vorstellung einer erziehungsdiktatorischen Schaffung des 'neuen Menschen', am Ende - vom islamischen Fundamentalismus einmal abgesehen - sind wohl auch die Chancen politischer Ordnungen, deren Legitimationsgrundlage auf dem Versprechen künftiger Erlösung von heutigen Übelständen beruht. Unter den Bedingungen des modernen Medienzeitalters können solche Ordnungen dem realen Leistungsvergleich im Hier und Jetzt nicht mehr ausweichen und wären deshalb nur noch auf nackten Zwang zu gründen. Aber ist deshalb auch die demokratische Linke und jede Vorstellung von Chance und Notwendigkeit einer guten und gerechten Ordnung, die schon Platon umtrieb, am Ende? Müssen solche Vorstellungen am Ende sein, weil wir erkennen, daß das Freiheitskonzept der Aufklärung zwar die Emanzipation des Bürgers von normativen Zwängen ermöglicht, aber damit zugleich das Problem von Regulierungsund Koordinationskräften, deren eine freiheitliche Gesellschaft bedarf, nicht zu lösen vermag? Wir können nicht erkennen, warum dies zwingend so sein sollte. Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit - in dieser leicht modernisierten Form ist die Wertetrias der französischen Revolution unter den Bedingungen verschärfter sozialer Spaltungslinien an der Schwelle des Informationszeitalters sogar aktueller denn je. In diesem Sinne besteht akuter Bedarf an einer modernen Linken. Der Ausgangspunkt aller modernen Politik liegt im Bedarf an Regeln für das gedeihliche Zusammenleben von Menschen in -2 4 3 -
Gemeinschaften und Gesellschaften. Da Gemeinschaftlichkeit sich in der modernen Welt weniger über Familien- und Stammenszugehörigkeiten definiert, spielt auch hier die Politik eine Rolle. In diesen Regeln muß sich Individualität wie Sozialität menschlicher Existenz gleichermaßen widerspiegeln. Sie haben die Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit des einzelnen ebenso zu berücksichtigen wie die Existenz des Menschen als 'zoon politikon', als Gattungswesen. In ihnen muß sich daher der natürliche Spannungszustand von Freiheits- und Gleichheitswerten ausdrücken. Der konkrete Ausdruck, den dieser Spannungszustand in spezifischen Regeln findet, mag historisch variieren. Das Problem freilich bleibt. Das Industriezeitalter hat ihm ein weiteres hinzugefügt: die Notwendigkeit eines verantwortlichen Umgangs der menschlichen Spezies mit Natur und Umwelt. Die Gerechtigkeitsutopie des autoritären Sozialismus entstand vor dem Hintergrund der sozialen Realität des 19. Jahrhunderts, in der die Existenz einer ausgebeuteten, weithin recht- und besitzlosen Klasse von Fabrikarbeitern die staatsbürgerschaftlichen Gleichheitsversprechen des Liberalismus als leere Hülle zu entlarven schienen, sowie auf der Grundlage der Analyse der krisenhaften Konsequenzen marktwirtschaftlicher Steuerungsmechanismen, die einen rationalen Einsatz von menschlicher Arbeitskraft oft mehr zu behindern als zu ermöglichen schien. Die offensichtlichen Schattenseiten der 'invisible hand', die zu Kriegen und sozialen Katastrophen führten, brachten die Hoffnung hervor, auf dem Wege planerischen Umgangs mit Produktionsfaktoren die wirtschaftlichen Aktivitäten von Gesellschaften und die Verteilung von Gütern besser organisieren zu können als über die 'Anarchie des Marktes'. Das erste war eine Realität, die Hoffnung freilich blieb unerfüllt. Die mit ihr verbundenen Weltbilder vom Proletariat als einer Kraft mit historischer Mission, die als Werkzeug einer objektiven Geschichtsmächtigkeit eben diese Geschichte auf ihren Endzweck hin zu entwickeln hatte, erwiesen sich als eine Mischung aus quasireligiöser Heilserwartung auf ein -2 4 4 -
diesseitiges Paradies und dem Objektivismus Hegelscher Geschichtsphilosophie, eine Mischung, die bis in den Terror des Stalinschen Vernichtungssystems führte. Allerdings hat die Hoffnung auf die Möglichkeit einer gerechteren Ordnung wesentlich dazu beigetragen, daß in einem Jahrhundert von sozialen Kämpfen, von Kriegen und Katastrophen die sozialstaatliche Zähmung des Kapitalismus gelang. In den frühindustrialisierten Ländern wurden aus den ausgebeuteten Proletariern mit bescheidenem Wohlstand ausgestattete Teilhaber von Mittelschichtsgesellschaften, die vor den ärgsten Gefahren von Not und Elend durch kollektive Sicherungssysteme einigermaßen geschützt waren. Zugleich versöhnte sich die demokratische Linke allmählich mit den Grundstrukturen marktwirtschaftlicher Ordnungen und legte ihr Augenmerk auf ihre sozialgesellschaftliche Ausgestaltung statt auf ihre Abschaffung. Teilnahme der Arbeitnehmerschaft am Wohlstand einer marktwirtschaftlichen Ordnung - das war der Kern des Anliegens von Sozialdemokraten und Gewerkschaften in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte (im Grunde hatte das auch schon für die Weimarer Zeit gegolten). Gewiß hat die machtpolitische Realität der staatssozialistischen Systeme nicht nur Arbeitslager und Unterdrückung elementarer Freiheitsrechte bedeutet, sondern indirekt lange auch dazu beigetragen, die Chancen sozialgesellschaftlicher Lösungen in Westeuropa zu verbessern. Schließlich sollte die allseitige Überlegenheit von Marktgesellschaften demonstriert werden, eine Überlegenheit, die noch vor wenigen Jahrzehnten keineswegs als gesichert galt. Insoweit haben sich durch die Umwälzungen 1989/90 die Bedingungen verändert. Sicher ist auch die demokratische Linke nicht unbeeinflußt geblieben vom - zuletzt freilich immer stärker kanonisch geprägten Fortschrittsglauben autoritärer Sozialisten. Aber deshalb muß weder die Linke noch jede Vorstellung irgendeiner vernünftigen Gestaltbarkeit von Zukunft am Ende sein. Insoweit 'links' mit Staatswirtschaft und Planung assoziiert wurde, hatte sich in unseren Breiten schon in den Jahrzehnten vor 1989 eine Umwertung vollzogen. Hier spielten neben der -2 4 5 -
Entwicklung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften die Entdeckung der ökologischen Frage in den Siebzigern und die Selbstentfaltungs- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse des modernen Postmaterialismus eine wichtige Rolle. Sie trugen dazu bei, daß Freiheitswerte in der Linken eine neue Bedeutung erhielten. Mit der 'ökologischen Gattungsfrage' war zugleich der Kernbestand altlinker Weltbilder tangiert, die zuvor mit ungebrochenem technologischem Fortschrittsoptimismus fast ausschließlich auf die gerechte Verteilung der Ergebnisse eines auf quantitatives Wachstum und vermehrten Güterausstoß gerichteten Wirtschaftsprozesses fixiert gewesen waren. Die Entdeckung der überlegenen Kraft des Marktes als effizientem Mechanismus zur Herstellung und Verteilung von Gütern mag von manchen auch aus der demokratischen Linken Überwindung verlangen. Ebenso das Eingeständnis, daß jene Konservativen, die schon Jahrzehnte zuvor die ökonomische Ineffizienz planwirtschaftlicher Systeme analysierten, die nur für Kriegs- und Notzustände taugten, so unrecht nicht hatten. Aber muß deshalb die ganze Begriffswelt verschwinden, bleibt künftig gar nichts mehr von den alten Vorstellungen der Machbarkeit von Geschichte? Es gibt eine Reihe von Merkmalen moderner Gesellschaftsentwicklung, die in den tragenden Elementen des alten linken Gesellschaftsverständnisses nicht berücksichtigt sind. So wird man der Linken einen mechanischen Begriff vom Fortschritt in der Geschichte unterstellen müssen, der zur Hilflosigkeit gegenüber immer wieder aufflammenden barbarischen Atavismen disponiert. Ebensowenig wird ihr der Vorwurf einer allzu vereinfachten Sicht auf Gesellschaft und ihre Teilsysteme nicht erspart werden können. Allzusehr und allzulange wurde diese Sicht von einer Dichotomie von Markt und Staat bestimmt, sollte aus dem kapitalistischen Primat der Ökonomie ein sozialistisches Primat der Politik werden (was übrigens auch die erstaunliche Affinität mancher Sozialisten zu Carl Schmitt erklären mag). Daß moderne Gesellschaften eine wachsende Autonomie von Teilsystemen hervorbringen, ist diesem Denken ebenso fremd geblieben wie das heute daraus -2 4 6 -
gefolgerte Dilemma mangelnder Reichweite der Politik. Daß Geschichte nicht einfach als aufsteigende Linie vom Niederen zum Höheren verstanden werden kann, heißt freilich nicht, daß Geschichte gar nichts bedeutet und Zivilisierung nie stattgefunden hätte. Immerhin haben Demokratie und Menschenrechte nie zuvor in der Geschichte der Menschheit eine so große Rolle gespielt wie heute. Schließlich zeigt die Geschichte der Linken gerade in Deutschland auch eine Unterschätzung der Bedeutung von Individualität und Freiheit. Hier haben freilich seit den siebziger Jahren Veränderungen stattgefunden. Bereits vor 1989 war das Gesellschaftsbild der Linken liberaler geworden. Der triumphale Siegeszug des Marktes in den letzten Jahren mag erschreckende Wirkungen zeitigen und tatsächlich den Eindruck der Chancenlosigkeit jeder politischen Steuerung erwecken. Umgekehrt läßt sich freilich kaum übersehen, daß Menschenrechtsfragen in den vergangenen Jahren aufmerksamer registriert und diskutiert wurden als je zuvor. Wir können deshalb nicht erkennen, daß aufklärerisches Denken nun in den Orkus der Geschichte wandern müßte. Eher schon ließe sich manche neuere Zeitdeutung als linker Neospenglerismus deuten. Norberto Bobbio hat das Gleichheitsthema als den eigentlichen identitätsbildenden Ort der Linken bezeichnet (Bobbio, 1994). Gleichheit nicht verstanden als absoluter Egalitarismus, sondern im Sinne der Anerkennung sozialer Rechte neben den Rechten der Freiheit. Linke sind für ihn 'Egalitarier', freilich nicht im Sinne der Vorstellung einer völligen Gleichheit. 'Man kann diejenigen durchaus als Egalitarier bezeichnen, die, ohne zu verkennen, daß die Menschen ebenso gleich wie ungleich sind, eher dem größere Bedeutung beimessen, was sie gleich statt ungleich macht, um sie zu beurteilen und ihnen Rechte und Pflichten zu übertragen. Nichtegalitarier (sind) diejenigen, die, von der gleichen Feststellung ausgehend, um desselben Zieles willen dem größere Bedeutung beimessen, was die Menschen ungleich statt gleich macht' (Bobbio, a.a.O.). Man mag links auch über Begriffe wie 'compassion' definieren, für die es eine treffende deutsche Übersetzung nicht gibt. Wie -2 4 7 -
auch immer: Wenn es zutrifft, daß das Kernproblem des 21. Jahrhunderts die wachsende soziale Spaltung von Marktgesellschaften sein wird, dann ist ein 'linkes' Gesellschaftsbild nicht perdu, sondern hochaktuell. Was Bobbio einen 'Liberalsozialismus der linken Mitte' nennt, den er vom Jakobinismus der egalitär-autoritären Bewegungen der extremen Linken ausdrücklich abgrenzt, entspricht den Lehren der Geschichte des 20. Jahrhunderts ebenso ziemlich genau wie den Anforderungen dieser Zeit. Wo die alte Linke im Namen abstrakter Gerechtigkeitsutopien die Freiheitsrechte des einzelnen geringgeschätzt und Gerechtigkeit häufig auf den Aspekt der Zuteilung von Anrechten reduziert hat, muß eine moderne, freiheitliche Linke heute im neuen Austarieren von Freiheits- und Gleichheitswerten ihre zentrale Aufgabe sehen. Hinzugedacht werden muß darüber hinaus das Ziel der Nachhaltigkeit, die 'compassion' gegenüber der Natur sozusagen. Wo die alte Linke eine autoritäre Gerechtigkeitsutopie verfolgte und der moderne Vulgärliberalismus nur den einzelnen im Blick hat und Gesellschaft auf die Ansammlung von Marktteilnehmern verkürzt, muß der Ausgleich von Freiheit und Solidarität geradezu Programm einer neuen Linken sein. Dazu gehört ein unverkrampftes Verhältnis zu Markt und Gewinnstreben genauso wie die Betonung von Gemeinschaftswerten und sozialer Gemeinwohlorientierung, die die Geltungskraft von Markt und ökonomischen Nutzenkalkülen begrenzen müssen. Das Leitbild einer solchen modernen Linken ist demnach weder die Verflüssigung des Individuums als Teil eines Kollektivs, deren Geschichtsmächtigkeit eine anonymisierte Gerechtigkeitsmaschinerie zu erkämpfen und funktional einzusetzen vermag, sondern ein sozial verantwortlicher Individualismus. Rahmenbedingungen zu schaffen, die diesen sozial verantwortlichen Individualismus ermöglichen und fördern, ist die zentrale Aufgabe von Politik. Das Zusammenleben der Menschen organisiert sich in modernen Gesellschaften in vier Bereichen: Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Familie bzw. sozialer Nahbereich. Dabei rücken -2 4 8 -
Gesellschaft und sozialer Nahbereich im Zuge der Auflösung und Durchmischung traditionaler Familienstrukturen immer stärker zusammen, übernimmt der gesellschaftliche Nahbereich Funktionen, die ursprünglich der Familie zukamen. Diese verschiedenen Systeme beeinflussen menschliches Verhalten durch unterschiedliche Faktoren: durch die verbindliche und nötigenfalls auch durch Zwangsmittel durchzusetzende Kraft von Gesetzen und Rechtsnormen (Staat), durch die Kraft ökonomischer Anreizsysteme (Markt) sowie durch moralische Dialoge, Zuwendung und menschliche Nähe (Gesellschaft und sozialer Nahbereich). Das politische Denken der Linken hat lange nur auf die Sphären von Staat und Markt abgestellt und die politische Dimension von Gesellschaftlichkeit und sozialem Nahbereich vernachlässigt. Die Vorstellungen gerechter Gesellschaftszustände setzten dementsprechend ihre Hoffnung auf den Staat, alle Befürchtungen ungerechter Gesellschaftszustände galten den schädlichen Wirkungen eines allzu freien Wirkens der Marktkräfte. Heute, wo nicht nur die freiheitsbeschränkenden Auswirkungen von Staatsgesellschaften erwiesen, sondern auch die Schattenseiten sozialstaatlicher Großversorgungssysteme bekannt sind, gerät eine Linke, die in diesen Alternativen denkt, in die Defensive. Diese Defensive hat gewiß auch mit dem Ausgreifen ökonomischer Tauschbeziehungen in immer mehr Bereiche des menschlichen Lebens zu tun. Sie ist aber auch eine Folge der Vernachlässigung jener gesellschaftlichen Sphäre, in der sich Menschen nicht primär als Marktteilnehmer begegnen. Die Macht der Ökonomie wird nicht nur durch den Staat begrenzt. Für eine neue, freiheitliche Linke ist deshalb die Aktivierung gesellschaftlicher Beziehungen jenseits kommerzieller Austauschbeziehungen eine entscheidende Handlungsebene. Eine solche Linke muß gesellschaftliche Kräfte fördern, die Gemeinschaftsbindung und Gemeinschaftsbildung stärken. Dazu müssen zentralistische Reserven gegenüber dem Subsidiaritätsgedanken schwinden. Gewiß darf die Prägekraft institutioneller Mechanismen nicht -2 4 9 -
unterschätzt werden. Die Begrenzung der Macht des ökonomischen Prinzips ist auch auf institutionelle Rahmenbedingungen angewiesen, die nur der Staat schaffen kann. Und sie hat sich herumzuplagen mit dem Eindringen von Nutzenkalkülen, Statuskonkurrenz und strategischer Rationalität auch in den lebensweltlichen Bereich. Gleichwohl liegt die zentrale Aufgabe in der Mobilisierung eines zukunftsorientierten Gemeinsinns in der Gesellschaft. Eine moderne Linke des 21. Jahrhunderts kämpft nicht den alten Kampf um die Macht zwischen Markt und Staat. Ihr geht es um verantwortliche Grenzziehungen, um das Austarieren der verschiedenen Ebenen. Dem Staat, was des Staates ist, dem Markt, was die Wirtschaftsgesellschaft effizient durch Herrschaft von Kosten/Nutzen-Kalkülen regeln kann, der Gesellschaft, was der Gesellschaft ist. Dabei ist ein offenes, pragmatisches Verhältnis zu den Kräften der Wirtschaftsgesellschaft dieser Grenzziehung durchaus zuträglich. Zwischen dem unbefangenen Einsatz marktwirtschaftlicher Instrumente im Interesse der gedeihlichen Entwicklung einer gerechten Ordnung und der Vergötterung der Marktkräfte liegt genau die Spanne, die eine aufgeklärte Linke vom Vulgärliberalismus und der Marktgläubigkeit des konservativen Mainstream unterscheiden muß. Gerade weil die Handlungsbedingungen der modernen Politik im Zeitalter der Globalisierung prekär geworden sind, sind regulative Ideen politischer Gestaltung notwendiger denn je. Eine moderne, freiheitliche, ökologische Linke wird deshalb in Zukunft dringend gebraucht werden.
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15. Thesen zur Reform der deutschen Politik 'Es gibt viel zu verlieren, du kannst nur gewinnen, genug ist zu wenig, oder es wird, wie es war. Stillstand ist der Tod, geh voran, bleibt alles anders, der erste Stein fällt aus der Mauer, der Durchbruch ist nah' (Grönemeyer, 1998). Diese Textzeilen aus einem Lied von Herbert Grönemeyer verdeutlichen, worum es geht: Wer Werte bewahren und Erreichtes sichern will, darf heute nicht strukturkonservativ sein. Denn tatsächlich muß 'alles anders' werden, damit das Wertvolle erhalten bleiben kann. Das sozialstaatliche 'Modell Deutschland', der 'rheinische Kapitalismus' (Michel Albert) basierte auf einer gelungenen Balance zwischen wirtschaftlichem Wohlstand, sozialem Ausgleich und politischer Demokratie. Längst aber haben sich die Grundlagen dieser Balance verschoben. Herausgefordert durch globalisierte Finanzmärkte, den Frühkapitalismus der Schwellenländer und strukturelle Veränderungen der Arbeitsgesellschaft durch die moderne Informations- und Kommunikationstechnik, stehen die Strukturen des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus unter Druck. Zugleich hat die Wohlfahrtsentwicklung in den frühindustrialisierten Ländern zu Entwicklungen geführt, die den 'Grenznutzen der Solidarität' für viele wirtschaftliche Akteure abnehmen läßt. Aus diesen Veränderungen wachsen neue Ideologien, wächst eine Art von 'kapitalistischer Utopie', die man als Verschmelzung emanzipatorischer und anarchistischer Ideen mit marktradikalen Theorien kennzeichnen kann. 'Der zentrale Glaubenssatz dieser Ideologie lautet: Für die Hälfte aller Probleme der Menschheit gibt es eine technische Lösung. Die andere Hälfte löst der Markt' (Nürnberger, 1998). Mit defensiver Abwehr wird diesem Doppelangriff von innen und außen nicht zu begegnen sein. Politik in Deutschland muß die Voraussetzungen schaffen, damit auf einer neuen Grundlage eine neue Balance zwischen moderner wirtschaftlicher Wertschöpfung, sozialer Integration, ökologischer Nachhaltigkeit und politischer Demokratie gefunden werden -2 5 1 -
kann. Das Spannungsfeld zwischen Freiheits- und Gleichheitswerten muß neu austariert, die Chancen zur Mehrung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit müssen entschlossen genutzt, aber zugleich auch die Kräfte von Solidarität, Gemeinwohlorientierung und sozialem Zusammenhalt gestärkt werden. Dies alles muß verbunden werden mit einer Politik der Nachhaltigkeit, die den Erfordernissen einer umweltschonenden Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft Rechnung trägt. Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sind die Grundwerte, auf denen eine solche Politik gleichermaßen aufbauen muß. Es geht um die Gestaltung einer freien und sozialen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, einer Gesellschaft, in der Individuen mit ihrer gewachsenen Freiheit sozial verantwortlich umgehen können; in der eine neue Kultur der Selbständigkeit und eine erneuerte Kultur der Solidarität sich nicht ausschließen, sondern ergänzen, ineinandergreifen und sich durchmischen; die einen schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen ermöglicht und sich einpaßt in eine Welt, in der aufstrebende Regionen in anderen Teilen der Erde ihre Chance suchen, an Wohlstand und Entwicklungsmöglichkeiten der westlichen Welt teilzuhaben. Und es geht um eine Politik, die der Verantwortung Deutschlands und Europas bei der Schaffung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung entspricht ohne Wunderglauben an die Kräfte politischer Regulierung auf supranationaler Ebene, aber auch ohne ideologische Selbstbeschränkung durch marktradikale Dogmen. Von dieser Grundlage aus halten wir die folgenden Aufgaben und Reformvorhaben für besonders dringlich: 1. Die deutsche Wirtschaft muß vorhandene Rückstände bei Spitzentechnologien aufholen. Durch technische Spitzenleistungen müssen neue Marktchancen entstehen. 'Excellence' ist eine der wichtigsten Antworten auf die Globalisierung. 2. Deshalb müssen Innovationsschwächen der Wirtschaft überwunden werden. Heute vorhandene Innovationsschwächen haben vielfach mit politischen Hemmnissen und Versäumnissen -2 5 2 -
in der Forschungsförderung zu tun. Das muß sich ändern. Wir brauchen eine schnellere Verkoppelung von Zukunftstechnologien mit den klassischen Stärken der deutschen Wirtschaft. 3. Das internationale Engagement deutscher Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen muß stärker gefördert werden, etwa durch internationale Ausbildungs- und Förderprogramme, durch Förderung der internationalen Mobilität deutscher Studenten und den Ausbau von Technologiekompetenz auf Gebieten, auf denen die deutsche Wirtschaft bisher Rückstände aufzuweisen hat. Technologiepolitik und Forschungsförderung müssen flexibler gestaltet, durch das öffentliche Dienstrecht vorhandene Hindernisse beseitigt werden. 4. Politik muß die Bedingungen für einen deutlichen Anstieg der Selbständigenquote verbessern. Wir müssen den Anschluß finden an die Selbständigenquote in anderen westlichen Ländern. Ziel sollte es sein, die Zahl der Selbständigen in den nächsten Jahrzehnten auf fünfzehn Prozent zu verdoppeln. Dabei muß die Förderung von Handwerk und Mittelstand einen neuen Stellenwert erhalten. 5. Steuerliche Rahmenbedingungen für Risikokapitalbildung sowie rechtliche und finanzielle Voraussetzungen für Existenzgründungen müssen dringend verbessert werden. Unsinnige Zugangsbeschränkungen durch überholte Standesordnungen müssen den heutigen Realitäten angepaßt, überflüssiger Bürokratismus abgebaut werden. 6. Das Dickicht von Gesetzen, Vorschriften und Verordnungen muß dringend gelichtet werden. Zu viele Vorschriften, zuviel Bürokratie und zu viele verschiedene Fördertöpfe behindern wirtschaftliche Aktivität. 7. Die Herausforderungen durch die globale Weltwirtschaft erfordern die Stärkung von Gegengewichten. Deshalb muß die Förderung regionalwirtschaftlicher Strukturen und ländlicher Räume zu einem neuen politischen Schwerpunkt werden. Das gilt vor allem für die Teile der Wirtschaft, die nicht zu den
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natürlichen Gewinnern der Globalisierung gehören: Handwerk, Einzelhandel und Landwirtschaft. 8. Wir brauchen eine breitere Streuung des Aktienkapitals und neue Formen der Beteiligung von Arbeitnehmern am Ertrag von Unternehmen. Wir treten dabei für Lösungen ein, die eine freie Wahl zwischen risikomindernden Fondslösungen und betriebsbezogenen Beteiligungsmodellen ermöglichen. Unser Leitbild ist die Teilhabegesellschaft, die Teilhabe am Wohlstand für alle schafft. 9. Wir wollen Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. Deshalb muß der Weg für neue Formen der Verbindung von Erwerbsund Sozialeinkommen geöffnet werden. In Deutschland gibt es nicht genügend reguläre Arbeitsplätze, auf denen einfache Arbeit zu marktgerechten Arbeitskosten geleistet werden kann. Die Gruppe der Niedrigqualifizierten stellt zudem einen immer größeren Teil der Arbeitslosen. Wenn wir das ändern und zugleich existenzsichernde Einkommen ermöglichen wollen, brauchen wir solche kombinierten Einkommensmodelle. Die Argumente gegen die Einführung eines aus den Sozialkassen unterstützten Niedriglohnsektors, die auf die Gefahr von Mitnahmeeffekten und die Gefährdung der Tarifstruktur hinweisen, sind ernst zu nehmen und bei der Ausgestaltung der Modelle zu berücksichtigen. Sie greifen aber letztlich deshalb nicht, weil die Realität zeigt, daß bei dauerhafter institutioneller Blockade gegen jede Form solcher Entlohnungssysteme die soziale Realität das Tarifvertragssystem auf andere Weise unterläuft - durch das Vordringen der Schwarzarbeit ebenso wie durch unversicherte geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Mit der Globalisierung entsteht das zusätzliche Problem der Verlagerung von Arbeitsplätzen für Niedrigqualifizierte in Schwellen- und Entwicklungsländer. Wir können nicht Jahrzehnte zuwarten, bis steigende Löhne in Billiglohnländern den Konkurrenzdruck senken und die Wiedereingliederung von Niedrigqualifizierten ermöglichen. Wir sehen den einfachsten Weg zur Einrichtung solcher Entlohnungsmodelle in degressiv angelegten Lohnkostenzuschüssen aus Steuermitteln. Auch über ein Bürgergeld- oder Grundsicherungsmodell, das die über -2 5 4 -
das Transfereinkommen hinausgehenden Einkünfte im Unterschied zur heutigen Sozialhilfe nur noch zum Teil anrechnet, könnte der Weg in die Schaffung solcher Beschäftigungsverhältnisse gegangen werden. 10. Das Angebot sozialwirtschaftlicher Tätigkeiten im 'Dritten Sektor' muß ausgeweitet werden. Die Kommunen müssen mit den dazu erforderlichen Mitteln ausgestattet werden. Künftig sollten die Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik von den Kommunen eingesetzt werden. Damit könnte gegenüber dem heute oft beklagten Nebeneinander verschiedenster Programme unterschiedlichster Träger und Finanziers eine effektivere und zielgenauere Mittelverwendung möglich werden. 11. Wir sind für einen Anspruch auf 'Arbeit oder Ausbildung statt Sozialhilfe' für alle Erwerbsfähigen unter 25 Jahren. Sozialhilfe statt Arbeit oder Ausbildung - das ist gerade bei jungen Menschen nicht der richtige Weg. Wir brauchen eine neue Beschäftigungspolitik. 12. Politik muß dazu beitragen, die Bereitschaft zu 'social sponsoring' und 'Kultursponsoring' zu vergrößern und die Einrichtung von Stiftungen zu erleichtern. Auch privates Kapital kann für die Ausweitung des sozialwirtschaftlichen Dienstleistungsangebots wie für die Kulturförderung verfügbar gemacht werden. 13. Politik in Deutschland ist kinder- und familienfeindlich. Unser Steuerrecht bestraft das Aufziehen von Kindern und belohnt durch das Ehegattensplitting die kinderlose Hausfrauenehe. Deshalb muß die Familienförderung künftig eine gezielte Kindförderung werden und müssen Sozial- und Tarifrecht stärker auf die Bedürfnisse von erwerbstätigen Vätern und Müttern eingestellt werden. Die Einführung einer Kappungsgrenze muß die Vorteile des Ehegattensplittings künftig begrenzen. Steuerliche Freibeträge müssen auch für Normalverdiener die Möglichkeit verbessern, Haushaltshilfen und Betreuungskräfte zu verpflichten. 14. Wir brauchen eine Große Steuerreform, die sich gleichermaßen an den Zielen der Steuergerechtigkeit, der -2 5 5 -
Steuertransparenz und der Steuervereinfachung wie an der Verbesserung von Chancen für realwirtschaftliche Investitionen in Deutschland orientiert. Wir halten auch eine Nettoentlastung für notwendig. Wir treten dafür ein, Steuervermeidungstatbestände und Ausnahmeregelungen, die die steuerlichen Bemessungsgrundlagen für die Einkommenssteuer herabsetzen, abzubauen. Im Gegenzug müssen die Einkommenssteuertarife gesenkt werden. Das gilt für alle Einkommenssteuerzahler, besonders aber für den Eingangssteuersatz und den Tarif für die Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen. Damit kann zugleich die Schwarzarbeit bekämpft werden. Wir sind auch für eine deutliche Senkung des Spitzensteuersatzes. Bei der Unternehmensbesteuerung müssen Wege gefunden werden, die eine steuerliche Gleichbehandlung verschiedener Rechtsformen ermöglichen. Wir sind für einen Eingangssteuersatz von fünfzehn, einen Spitzensteuersatz von 42 und einen Körperschaftssteuersatz von 35 Prozent. Eine Große Steuerreform wird die Investitionsneigung wieder erhöhen, zur Steuergerechtigkeit beitragen und die Steuerehrlichkeit verbessern. 15. Eine neue Bundesregierung muß sich verstärkt für eine Steuerharmonisierung in Europa einsetzen. Mit der Einführung des Euro wird die Vergleichbarkeit wirtschaftlicher Rahmenbedingungen unter dem Gesichtspunkt von Chancengleichheit noch wichtiger. Die Notwendigkeit der Steuerharmonisierung gilt insbesondere für die Besteuerung von Zinsgewinnen. Nur europaweite Mindeststandards können der wachsenden Kapital- und Steuerflucht wirksam begegnen. 16. Die Stabilisierung der internationalen Geld- und Kapitalmärkte muß ein zentrales Ziel deutscher Politik werden. Deutsche Politik muß sich dafür einsetzen, die riesenhaft aufgeblähten Spekulations-, Währungs- und Derivatsgeschäfte durch einen Ordnungs- und Aufsichtsrahmen des völlig liberalisierten internationalen Finanzsystems einzudämmen. Der Euro kann hier eine wichtige Stabilisierungsfunktion erfüllen. Darüber hinaus ist eine verbesserte Abstimmung der
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Geld- und Währungspolitik der reichen Industrieländer dringend notwendig. 17. Deutsche Politik muß sich verstärkt dafür einsetzen, verbindliche Umweltund Sozialstandards als Rahmenbedingungen für den internationalen Handel zu schaffen. Wir sind nicht dafür, Umwelt- und Sozialstandards zum Mittel einer letztlich auf Protektionismus abzielenden Wirtschaftspolitik zu machen. Umgekehrt aber muß der Gefahr wirksam begegnet werden, daß die Verschärfung des Wettbewerbs zu Umwelt- und Sozialdumping führt. 18. Internationaler Wettbewerb mit transnationalen Akteuren braucht ebenso ein Wettbewerbsrecht wie Volkswirtschaften und regionale Zusammenschlüsse wie etwa die EU. Deshalb muß sich deutsche Politik für ein internationales Kartellrecht einsetzen. Dabei geht es uns nicht in erster Linie um eine neue supranationale Behörde, sondern um ein multilaterales Reglement, dessen Einhaltung durch eine Antitrust-Kommission zu gewährleisten wäre. 19. Wir treten für eine höhere Besteuerung des Energieverbrauchs ein. Eine ökologische Steuerreform, die eine Verteuerung der Energiepreise um jährlich fünf Prozent vorsieht, wäre für Unternehmen wie Verbraucher kalkulierbar, wirtschaftlich verkraftbar und ökologisch sinnvoll. Sie würde zugleich neue Nachfrage und wirtschaftliche Chancen in Bereichen der Umwelttechnik und der Energiewirtschaft schaffen und dabei besonders mittelständische Branchen fördern. Zweifellos wäre eine europaweite Ökosteuer der beste Weg. Aber wir müssen nicht darauf warten, daß eine gesamteuropäische Lösung zustande kommt. Da, wo in einzelnen Branchen und Regionen eine Energiepreisverteuerung in diesen Dimensionen aufgrund besonderer Energieintensität zu unzumutbaren Belastungen führt, müssen Ausnahmeregelungen nach dem Vorbild der skandinavischen Länder dafür sorgen, daß das Ziel der Energieverbrauchsminderung ohne Wettbewerbsnachteile erreicht werden kann - so etwa durch Ausnahmen bei der verbindlichen Zusage von Einsparungen, wie dies in Dänemark -2 5 7 -
bereits praktiziert wird. Die ökologische Steuerreform muß aufkommensneutral angelegt sein. Aus ihrem Aufkommen müssen im Gegenzug andere Steuern und Abgaben gesenkt werden, beispielsweise durch niedrigere Sozialversicherungsbeiträge. Die Mehreinnahmen müssen in vollem Umfang an die Verbraucher weitergegeben werden. 20. Die gesetzlichen Lohnnebenkosten in Deutschland sind zu hoch. Deshalb müssen hier durch Einsparungen und Umfinanzierungen die Beitragspunkte zur Sozialversicherung von heute 42 auf höchstens 38 Prozent gesenkt werden. Die Einnahmen aus einer höheren Energiebesteuerung können dazu einen wichtigen Beitrag leisten. 21. Auch die stärkere Steuerfinanzierung von Leistungen, die bisher durch die Kassen der Sozialversicherungssysteme finanziert werden, kann zur Entlastung von Arbeitskosten beitragen. Die heutige Finanzierung der sogenannten 'versicherungsfremden Leistungen' durch die Träger der Sozialversicherung treibt die Arbeitskosten unnötig in die Höhe und belastet einseitig allein die Beitragszahler. Sie finanzieren Maßnahmen, die mit dem eigentlichen Versicherungszweck nichts oder nur sehr bedingt zu tun haben. Hier muß statt dessen die Gesamtheit der Steuerzahler beteiligt werden. Eine stärkere Steuerfinanzierung des Sozialsystems der Zukunft würde auch den veränderten Realitäten der Erwerbsgesellschaft der Zukunft mit ihren uneinheitlichen Erwerbsbiographien eher Rechnung tragen. 22. In der kommenden Legislaturperiode des Bundestages sollten die Voraussetzungen für eine Reform des Rentensystems geschaffen werden, mit der die Altersrenten der Zukunft auf solidere Finanzierungsgrundlagen gestellt werden können, die auch bei zunehmend asymmetrischem Verhältnis zwischen Zahlungsempfängern und Beitragszahlern und bei Zunahme unterbrochener und uneinheitlicher Erwerbsbiographien eine ausreichende Versorgung künftiger Rentnergenerationen gewährleisten kann. Wir wollen ein mehrstufiges System, das sich auf drei Bestandteile gründet: eine leistungsbezogene Bürgerversicherung für alle, die eine -2 5 8 -
Grundsicherung im Alter ermöglicht. Diese Bürgerversicherung schließt auch die Beamten ein, die künftig einen eigenen, nennenswerten Beitrag zur Altersvorsorge leisten sollten. Eine zweite Säule der Alterssicherung schafft über die Beteiligung von Arbeitnehmern am Produktivvermögen bzw. andere Systeme betriebsbezogene Rentenanwartschaften. Wir werden drittens auf eine vermehrte Eigenvorsorge setzen müssen. 23. Wir sind keine Verfechter eines modernen Nachtwächterstaates. Auch das Modell des 'schlanken Staats' verkennt häufig den besonderen Charakter staatlicher Aufgaben und dient oft zur Rechtfertigung von durch Fiskalpolitik diktierten Notwendigkeiten einer restriktiven Stellenbewirtschaftung. Dennoch ist Staatsmodernisierung eine zentrale Reformaufgabe. Es gibt staatliche Aufgaben, die besser in anderen Formen organisiert werden könnten, etwa durch 'public-private-partnership'. Besonders vordringlich aber ist die Verlagerung staatlicher Aufgaben von der Produzentenrolle zur Gewährleistungsfunktion. Der Staat muß Normen setzen und Standards vorgeben, aber nicht als staatlicher Großunternehmer überall selbst tätig sein. Eine soziale Bürgergesellschaft des 21. Jahrhunderts wird eines Tages auch mit einer Staatsquote um die 40 Prozent auskommen können. 24. Die bisherige Steuerung der Verwaltung durch Hierarchien und Rechtsnormen ist unter dem Gesichtspunkt der Leistungseffizienz an Grenzen gestoßen. Vorrangiges Ziel der Staatsmodernisierung wäre die Entwicklung strategischer Managementkompetenz und ein bereichsübergreifendes Reengineering. Wir sehen die Schwachstellen des öffentlichen Dienstes in mangelnder Flexibilität und zu geringer Kundenorientierung sowie in allzu aufwendigen und unnötg komplizierten Genehmigungsverfahren. Hier sind Veränderungen nötig. Eine effektivere Steuerung des staatlichen Mitteleinsatzes könnte auch einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten. 25. Wir sind für eine Beschränkung des Berufsbeamtentums auf die Kernbereiche der hoheitlichen Aufgaben der -2 5 9 -
Verwaltung. Lehrer müssen nicht Beamte sein und Hochschullehrer nicht Beschäftigte auf Lebenszeit. 26. Wir treten für eine Stärkung der kommunalen Eigenverantwortung durch die Ausweitung kommunaler Kompetenzen und die Bereitstellung der dafür nötigen Finanzmittel ein. Die Rekonstruktion des Sozialen wird sich vor allem im sozialen Nahbereich abspielen müssen. Die Nachteile einer solchen Dezentralisierung von Verantwortlichkeiten durch mögliche größere Unterschiede zwischen Regionen wiegen demgegenüber weniger schwer. 27. Wir sind auch für klarere Kompetenzverteilungen zwischen Bund und Ländern. Die Schaffung von allzu vielen Gemeinschaftsaufgaben, mangelnde Transparenz und gegenseitige Abhängigkeiten bei der Verteilung der Steuereinnahmen haben sich nicht bewährt. Verantwortlichkeiten müssen künftig wieder klarer verteilt werden und klarer erkennbar sein. Wir brauchen eine Reform des föderalen Systems. 28. Aktiver Klimaschutz muß endlich ein vorrangiges Ziel deutscher Politik sein. Mit den bisherigen Maßnahmen werden die von der Regierung Kohl eingegangenen Selbstverpflichtungen zur Reduzierung der klimarelevanten Emissionen deutlich verfehlt werden. Mit einer ökologischen Steuerreform kann auch ein effektives Anreizsystem für eine wirksame Klimaschutzpolitik gegen den Treibhauseffekt und die drohende Erwärmung der Erde geschaffen werden. Eine Politik, die die Ziele des Klimaschutzes ernst nimmt, macht verstärkte Anstrengungen zur Energieeinsparung, zur Energieefizienz und zur Förderung regenerativer Energieträger notwendig. Auch die Förderung einer Mobilität, die Alternativen zum Einsatz schadstoffintensiver Verkehrsmittel begünstigt, ist dringend geboten. Deutsche Politik muß sich deshalb europaweit für eine einheitliche Besteuerung des Güterverkehrs und für eine einheitliche europäische Besteuerung des Flugbenzins einsetzen. Die notwendige Verteuerung des LKWGüterverkehrs würde den Güterverkehr auf der Schiene attraktiver machen, Anreize für den Aufbau transportsparender -2 6 0 -
Wirtschaftsstrukturen schaffen und regionale Wirtschaftskreisläufe stärken. 29. Wichtigstes Ziel einer Politik der Nachhaltigkeit ist der Wandel von der Schadstoffkontrolle zur Reduzierung der Energie- und Rohstoffumsätze. Umweltpolitik muß deshalb mehr von der Nachsorge und der bürokratisierten Kontrolle wegkommen und zum integrierten Bestandteil wirtschafts- und industriepolitischer Strategien werden. Der produktivere Einsatz von Ressourcen muß gefördert werden. Langlebige Gebrauchsgüter und die verstärkte Förderung von LeasingSystemen, aber auch eine Förderung des Strukturwandels zur 'Dematerialisierung' der Produktion können mehr zur Nachhaltigkeit beitragen als End-of-pipe-Technologien und ein immer weiter aufgeblähtes Ordnungsrecht. 30. Das Energieversorgungssystem der Zukunft muß den Einsatz fossiler Energieträger reduzieren und auf den Einsatz der Kernenergie mittelfristig verzichten. Die Nutzung der Kernenergie schafft unkalkulierbare Risikopotentiale. Eine vertretbare Lösung für die Endlagerung radioaktiver Abfälle steht auch drei Jahrzehnte nach dem Beginn der Kernenergienutzung in Deutschland nicht zur Verfügung. Deshalb muß ein neuer Anlauf zu einem Energiekonsens genommen werden, der die Grundlagen für eine andere Energiepolitik schafft. Anzustreben sind dabei verbindliche Vereinbarungen über ein Auslaufen der Kernenergienutzung mit geregelten Restlaufzeiten für die vorhandenen Anlagen, die verbindliche Festlegung von Energieeinsparzielen, die Schaffung von Rahmenbedingungen für ein allmähliches Aufwachsen der regenerativen Energieträger sowie Vereinbarungen über Schritte, Wege und Zeiträume beim Zurückfahren der Nutzung der fossilen Energieträger. Wir müssen und wir können auf die Nutzung der Kernenergie verzichten. 31. Künftig sollten alle öffentlichen Subventionen auf ihre Umwelteffekte hin überprüft werden. Das ökologische Mißverhältnis zwischen der finanziellen Förderung des Steinkohlebergbaus und der unzureichenden Förderung der -2 6 1 -
Fotovoltaik bedarf einer Korrektur. Die Wohnungsbauförderung muß durch ökologische Ziele und Kriterien ergänzt werden. 32. Eine Novellierung des Umwelthaftungsrechts sollte den Ausbau der Umwelthaftung ermöglichen. Eine Umweltpolitik, die um die Grenzen des Ordnungsrechts weiß und bürokratische Verfahren erleichtern will, muß die haftungsrechtlichen Risiken von Umweltgefährdungen institutionell stärken. 33. Durch den Ausbau der Regelungen des Kreislaufwirtschaftsgesetzes könnten umweltverträgliche Produkt- und Prozeßinnovationen gefördert werden. Ziel wäre die Intensivierung des Nutzens von Produkten und die Verlängerung ihrer Lebensdauer. Rücknahmeverpflichtungen üben sinnvollen Druck auf Qualität und Langlebigkeit von Produkten aus. 34. Deutsche Politik muß die Internationalisierung der Umweltpolitik voranbringen. Die Kompetenz der internationalen Gremien für Umweltvereinbarungen muß gestärkt und die WTO auch für die weltweite Durchsetzung ökologischer Mindeststandards verantwortlich werden. Außerdem muß sie notwendige Finanz- und Technologietransfers zur Realisierung umweltpolitischer Ziele in Entwicklungsländern fördern (joint implementation). 35. Wissen ist der wichtigste Rohstoff für die Zukunft hochentwickelter Gesellschaften. Ein Rohstoff, der sich bei Gebrauch noch vermehrt. Die Qualität von Bildung und Ausbildung entscheidet auch über die Zukunft der Arbeitsplätze. Bildung spielt für die soziale Frage des 21. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle. Wir müssen deshalb vermehrte Anstrengungen unternehmen, um in jeder Altersphase Brücken zu schaffen zwischen dem Bildungs- und dem Beschäftigungssystem. Neue 'Unternehmensuniversitäten' sollten Aufgaben der Weiterbildung für die Wirtschaft übernehmen. 36. Das duale System der beruflichen Bildung gehört zu den Stärken des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Wir wollen, daß -2 6 2 -
die Kernelemente dieses Systems erhalten bleiben. Das Berufsprinzip muß freilich künftig zugunsten breiterer Qualifikationsprofile aufgelockert, Kombinationen von allgemeinbildenden und beruflichen Prozessen müssen erleichtert werden. Zudem muß zur Förderung beruflicher Mobilität ein neuer institutioneller Rahmen für die Sicherung und Gewährleistung von Weiterbildungschancen geschaffen werden. Voraussetzung einer guten Berufsausbildung ist eine gute schulische Ausbildung. Deshalb müssen auch unsere Haupt- und Realschulen gestärkt und besser ausgestattet werden. 37. Wir schlagen die Einrichtung eines Generationenfonds zur Finanzierung von Zukunftsinvestitionen vor. Dieser Fonds soll zur Förderung von Aus- und Fortbildung sowie zur Finanzierung von Forschungsinvestitionen herangezogen werden. Er soll aus Privatisierungserlösen sowie den Einnahmen aus einer maßvollen Anhebung der Erbschaftssteuer gespeist werden. Es ist legitim, die Generation wohlhabender Erben gezielt zur Finanzierung von Zukunftsinvestitionen heranzuziehen. Die Erbschaftssteuer eignet sich dazu besser als die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. 38. Die Schulen müssen künftig wieder ganzheitlich ausgerichtet sein. Die Gesellschaft der Zukunft erfordert mehr 'Lernen des Lernens', mehr Ausrüstung des einzelnen mit Grundkenntnissen und Beurteilungskriterien, weniger die Vermittlung spezifischer Einzelkenntnisse. In der Gesellschaft von morgen wird es keinen Mangel an Informationen geben, eher einen Mangel an Einordnungs- und Bewertungsfähigkeit. Bildung muß besonders auf die Stärkung der Urteilsfähigkeit, auf die 'Ligaturen' achten. Auch die vielfältigen Erscheinungen von sozialer Desintegration machen eine stärkere Orientierung der Bildungspolitik auf die Schule als Ort des sozialen Lernens notwendig. Dies muß sich in der Lehrerausbildung ebenso niederschlagen wie in der Schulorganisation, in der künftig verstärkt auf die Möglichkeiten zur Gruppenbindung geachtet werden muß. Die schulische Selbstverwaltung muß durch Budgetierung gestärkt werden. -2 6 3 -
39. Der Zustand der deutschen Universitäten macht grundlegende Reformen notwendig. Selbstverwaltung und stärkere Differenzierung von Aufgaben und Studiengängen sind dringend erforderlich. Anonymisierte Großeinrichtungen, eine aus den Nähten platzende Massenuniversität mit einer Vielzahl von Studienabbrechern und einer wachsenden Fehlallokation von Mitteln - das kann nicht die Struktur einer modernen Hochschullandschaft des 21. Jahrhunderts sein. Die Hochschulen müssen internationalisiert und dual ausgestaltet werden. Eine zweistufige Hochschulausbildung sollte stärker mit praktischer Berufsausbildung verbunden sein. Wir brauchen ein zweistufiges System der Abschlüsse. Nach kürzerer Studiendauer sollte ein 'Bachelor'-Abschluß möglich sein. Der 'Master'-Abschluß stellt eine weiterführende Qualifikation dar. Deutschland muß wieder zu einer ersten Adresse für ausländische Studierende werden. Deutsche Universitäten müssen nicht nur in Kultur- und Musikwissenschaften für ausländische Studierende attraktiv sein, sondern auch in Natur, Wirtschafts- und Ingenieurwissenschaften. Das setzt aber ein weltoffenes Deutschland voraus. 40. Auch im 21.Jahrhundert setzen wir bei den klassischen Medien auf ein duales Rundfunk- und Fernsehsystem, auf ein modernes öffentlich-rechtliches System mit föderaler Struktur, aber auch auf leistungsfähige private Medienhäuser. Die Balance zwischen beiden zu halten - darauf wird es ankommen. Da die Vielzahl der Programme nicht automatisch zu einer größeren Vielfalt führt, brauchen wir auch in Zukunft eine qualitätsorientierte öffentlich-rechtliche Grundversorgung. Auch die privaten Anbieter müssen Qualitätsstandards einhalten. Wenn wir nicht zu einem Importland für Programme werden wollen, brauchen wir private Medienhäuser, die dem internationalen Konkurrenzdruck standhalten können, die die ganze Wertschöpfungskette vom Autor und Produzenten bis zum Konsumenten abdecken. Weil es sich bei den Medien um eine Art 'Bewußtseinsindustrie' handelt, brauchen wir bei der Aufsicht über die Medienkonzentration eine doppelte
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Demokratiesicherung. Die Kontrolle durch das Kartellamt allein reicht nicht aus. Wir benötigen eine spezielle Medienaufsicht. Stärkung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, Erneuerung und Festigung des sozialen Zusammenhalts und Zukunftsbewahrung durch ökologische Nachhaltigkeit in einer Gesellschaft gewachsener Freiheitsansprüche - das sind die großen Ziele der notwendigen Reformanstrengung, die Politik für einen neuen Fortschritt in Deutschland in Angriff nehmen muß. Dabei ist keines dieser Ziele für sich allein genug und auf der Höhe dieser Zeit. Deshalb darf auch keines gegen das andere ausgespielt werden - obwohl bei der Verfolgung dieser Ziele natürlich auch Widersprüche und Zielkonflikte auftauchen und sie in Teilbereichen in Konkurrenz zueinander stehen. Wenn diese Reformanstrengung gelingen soll, bedarf es dazu nicht nur der Politik. Es bedarf einer Anstrengung, an der sich alle gesellschaftlichen Kräfte beteiligen müssen, die von der Politik formuliert und vorangebracht werden muß, die aber nicht alle Hoffnung nur auf die großen staatlichen Steuerleute setzt. Die Menschen dieses Landes, ihre Fähigkeiten und ihre Bereitschaft zum Engagement werden in diesen Reformprozeß aktiv eingebunden werden müssen, wenn er denn gelingen soll. Der Glaube, daß diese Veränderung nur als Resultat intelligenter, administrativ umgesetzter Konzepte politischer Steuerleute möglich ist, wird nicht weit führen. Sie allein werden die Mauer nicht durchbrechen, von der Grönemeyer singt. Die Ressourcen der Gesellschaft selbst sind es, die gebraucht werden. Wenn es gelingt, sie zu mobilisieren, besteht zu düsteren Untergangsvisionen keine Veranlassung. Wir sind da gemäßigt optimistisch.
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