Die Politik der Bundesländer: Staatstätigkeit im Vergleich

Achim Hildebrandt · Frieder Wolf (Hrsg.) Die Politik der Bundesländer

Achim Hildebrandt Frieder Wolf (Hrsg.)

Die Politik der Bundesländer Staatstätigkeit im Vergleich

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Schindler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15418-3

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

7

Die Potenziale des Bundesländervergleichs Achim Hildebrandt und Frieder Wolf

11

Die Schulpolitik – Kernbestand der Kulturhoheit Frieder Wolf

21

Landeshochschulpolitiken Ute Lanzendorf und Peer Pasternack

43

„Polizei ist Ländersache!“ – Politik der Inneren Sicherheit Bernhard Frevel und Hermann Groß

67

Gewaltkriminalität: Zur Bedeutung von Politikproduktion und parteipolitischer Färbung der Landesregierungen Christoph Birkel

89

Integrationspolitik in den Bundesländern? Christian Henkes

113

Sozialpolitik in den Bundesländern Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

137

Finanzpolitik in den Ländern Achim Hildebrandt

173

Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik in den Bundesländern: Differenzierungen und Differenzen Josef Schmid und Horst Hedrich

193

Länderwirtschaftspolitik Markus M. Müller

215

Länderverkehrspolitik Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort

235

Naturschutzpolitik in den Bundesländern Axel Volkery

257

6

Inhalt

Verwaltungspolitik in den Bundesländern: Vom Stiefkind zum Darling der Politik Jörg Bogumil und Falk Ebinger

275

Kommunalverfassungspolitik der Bundesländer als lokale Institutionenpolitik Michael Haus

289

Trennen sich die Wege? Die Bundes- und Europapolitik der Länder Maximilian K. Grasl

311

Die Wahlsysteme der Länder Matthias Trefs

331

Direkte Demokratie in den Bundesländern. Ein Vergleich der Institutionen und Anwendungsmuster Raphael Magin, Christina Eder und Adrian Vatter

345

Sechzehn Länder, sechzehn Felder: Erträge des Vergleichs Frieder Wolf und Achim Hildebrandt

363

Autorenverzeichnis

371

Abkürzungsverzeichnis

AdR AFG AG AK AuslG BA BAFA BAMF BB BE BErzGG BIP BKA BMBF BNatSchG BR BRD BremSchulG BT BVerfG BVerfGE BW BY CDU CHE CSU DDR DFG DGB DHPol EEA EFRE EGKS EnWG ESD ESF EU

Ausschuss der Regionen Ausländerförderungsgesetz Arbeitsgruppe Arbeitskreis Ausländergesetz Bundesagentur für Arbeit Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Brandenburg Berlin Bundeserziehungsgeldgesetz Bruttoinlandsprodukt Bundeskriminalamt Bundesbildungsministerium Bundesnaturschutzgesetz Bundesrat Bundesrepublik Deutschland Bremisches Schulgesetz Bundestag Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsentscheid Baden-Württemberg Bayern Christlich Demokratische Union Deutschlands Centrum für Hochschulentwicklung Christlich-Soziale Union in Bayern Deutsche Demokratische Republik Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsche Hochschule der Polizei Einheitliche Europäische Akte Europäischer Fonds für regionale Entwicklung Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Energiewirtschaftsgesetz Einsatz- und Streifendienst Europäischer Sozialfonds Europäische Union

8 EUZBLG EuGH FDP FH FFH FMK GG GKV GRW GVFG GWB HB HE HH HRG i.E. IMK i.V. KGSt KHG KJHG KMK KMU MIV MV NI NRW NW ÖV OLS OWiG PDV PflegeVG PISA RAF RP RuStAG SED SGB SH SL SMOP SN

Abkürzungsverzeichnis Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union Europäischer Gerichtshof Freie Demokratische Partei Fachhochschule Fauna-Flora-Habitat Finanzministerkonferenz Grundgesetz Gesetzliche Krankenversicherung Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Bremen Hessen Hamburg Hochschulrahmengesetz im Erscheinen Innenministerkonferenz in Vorbereitung Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement Krankenhausfinanzierungsgesetz Kinder- und Jugendhilfegesetz Kultusministerkonferenz Kleine und mittlere Unternehmen Motorisierter Individual-Verkehr Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Nordrhein-Westfalen Öffentlicher Verkehr Ordinary least squares Katalog von Ordnungswidrigkeiten Polizeidienstvorschrift Pflegeversicherungsgesetz Programme for International Student Assessment Rote Armee Fraktion Rheinland-Pfalz Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialgesetzbuch Schleswig-Holstein Saarland Surface Measure of Overall Performance Sachsen

Abkürzungsverzeichnis SS ST StAG SPD TIMSS TN TOSCA UAFEK UAFEM UARV WS WWD WZB

Sommersemester Sachsen-Anhalt Staatsangehörigkeitsgesetz Sozialdemokratische Partei Deutschlands Third International Mathematics and Science Study Thüringen Transformation des Sekundarschulsystems und akademische Karrieren Unterausschuss Führung, Einsatz und Kriminalitätsbekämpfung Unterausschuss Führungs- und Einsatzmittel Unterausschuss Recht und Verwaltung Wintersemester Wach- und Wechseldienst Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

9

Die Potenziale des Bundesländervergleichs Achim Hildebrandt und Frieder Wolf1

1

Wozu das Ganze? Fragestellung und Motivation

Welche Unterschiede bestehen zwischen den Arten und Weisen, in denen die Bundesländer ihre politischen Gestaltungsspielräume nutzen, und welche Faktoren erklären diese Variation? So lautet die Leitfragestellung des vorliegenden Bandes. Während für andere föderale Staaten wie die USA und Kanada analoge Überblickswerke (Gray/Hanson 2004 und Dunn 2006) oder, wie für die Schweiz, Monographien mit breiter Abdeckung (Vatter 2002) vorliegen, ist der theoriegeleitete Vergleich der Politik der Bundesländer mit kausalanalytischem Anspruch bisher nur in einzelnen Feldern oder auf einzelne Erklärungsfaktoren verengt vorgenommen worden (siehe Abschnitt 3 zum Forschungsstand), was angesichts der wichtigen Rolle der Landespolitik in Deutschland doch überrascht. Die vorhandenen Forschungsergebnisse für die einzelnen Felder zusammen zu tragen und die wichtigsten Lücken in den übrigen Bereichen zu schließen ist das Ziel, das wir mit der Herausgabe dieses Bandes verfolgen. Neben den klassischen Politikfeldern und der Staatstätigkeit auf ihnen nehmen wir dabei ergänzend auch die Institutionenpolitik in den Blick, also die Gestaltung der politischen Institutionen der Länder durch die Landespolitik selbst.

2

Die Kompetenzen der Länder in der bundesstaatlichen Ordnung

Die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ist, so Wehling (2006: 7), „von den Ländern her gegründet“. Vom Konstruktionsprinzip des Grundgesetzes aus betrachtet sind die Kompetenzen des Bundes einzeln aufgezählte Ausnahmen. Wenngleich Letztere so zahlreich und umfassend sind, dass de facto eher Bundes- als Landeszuständigkeit die Regel darstellt, so haben die Länder dennoch – neben den weitreichenden Mitwirkungsrechten an der Bundesgesetzgebung – erhebliche Gestaltungsspielräume, was ihre institutionelle Ordnung und die Staatstätigkeit auf zahlreichen Politikfeldern anbelangt. In erster Linie sind dabei die Bildungspolitik (vom Kindergarten bis zur Hochschule) und die Innere Si-

1 Die Herausgeber danken Dieter Fuchs, Clemens Jesenitschnig, Manfred G. Schmidt, Henrik Schober, Angelika Vetter, Uwe Wagschal und Reimut Zohlnhöfer für wertvolle Anregungen und Hilfestellungen, der Thyssen-Stiftung für die Förderung der Herausgabe dieses Bandes durch die Finanzierung eines Workshops sowie den Autoren für ihre engagierte Mitarbeit.

12

Achim Hildebrandt und Frieder Wolf

cherheit zu nennen, aber auch die Infrastrukturpolitik, der Naturschutz und die Integrationspolitik jenseits des Staatsbürgerschaftsrechts sind vorwiegend Ländersache. In der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ergänzen die Landeszuständigkeiten diejenigen des Bundes zwar nur, sie genügen aber, um klar unterscheidbare Strategien zu verfolgen und distinkte Leistungsprofile auszubilden. An der Europapolitik des Bundes können die Länder via Artikel 23 GG lediglich mit einer Stimme mitwirken, aber an der Formulierung derselben beteiligen sie sich (wie auch am direkten Lobbying in Brüssel) mit großem Einsatz. Und die Finanzpolitik der Länder ist angesichts des Verbundsystems auf der Einnahmenseite zwar kaum autonom zu nennen, prägt aber erstens schon an sich verschiedene Profile aus und ist zweitens eine bedeutsame Prägegröße der Länderaktivitäten auf den übrigen Politikfeldern. Die Länder besitzen also bedeutende Kompetenzen für eine autonome Politik. Fraglich bleibt aber zunächst, inwieweit sie diese auch nutzen. Denn der eigenständigen Politik auf Länderebene steht eine unitarisch geprägte politische Kultur entgegen, die am Leitwert der Einheitlichkeit bzw. Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse orientiert ist und regionale Unterschiede vielfach als ungerecht oder als Mobilitätshindernisse wahrnimmt (Scharpf 2006). Die Länder versuchten, diesen Druck in Richtung unitarischer Politik durch die freiwillige Selbstkoordination im Rahmen der Politik der dritten Ebene aufzufangen (Voigt 1998), besonders intensiv von Beginn an im Rahmen der Kultusministerkonferenz (vgl. die Beiträge von Lanzendorf/Pasternack und Wolf i.d.B.), bald darauf beispielsweise aber auch in der Polizeipolitik über die Konferenz der Innenminister (vgl. den Beitrag von Frevel/Groß i.d.B.). Die erste Aufgabe, der sich die einzelnen Kapitel dieses Bandes widmen, ist daher die Vermessung des Grades, zu dem die Länderpolitiken im Rahmen der vorgegebenen Kompetenzordnung überhaupt variieren. Die zweite besteht darin, die Ursachen für diese je nach Politikfeld mehr oder weniger große Vielfalt zu eruieren (siehe Abschnitt 4). Im Zuge der Föderalismusreform 2006 kam es hinsichtlich der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern zwar nach Ansicht vieler Kritiker nicht zum erhofften großen Wurf und nach einer ersten quantitativen Auswertung auch zu keiner signifikanten Reduktion des Anteils zustimmungspflichtiger Gesetze (Burkhart/Manow 2006), aber doch zu einer erheblichen Entflechtung in einigen Bereichen, etwa durch die Abschaffung der Rahmengesetzgebung und von Gemeinschaftsaufgaben. Zwar ist es für eine vollgültige Evaluation der Folgen dieser Reform noch zu früh, doch nichtsdestotrotz werden sie in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes berücksichtigt, soweit sie bereits absehbar sind.

3

Der bisherige Forschungsstand

Die meisten der wenigen Arbeiten zur Politik in den Bundesländern bieten bisher – in der Regel getrennt nach den einzelnen Ländern – lediglich grundlegende deskriptive Informationen zur historischen Entwicklung und zu den Grundstrukturen der politischen Systeme (vgl. Hartmann 1997, Mielke/Reutter 2004 u. Wehling 2004).2 Einen Fortschritt gegenüber

2 Im Rahmen seines ansonsten die Rolle der Länder im deutschen Föderalismus beschreibenden Buchs bietet des Weiteren Gunlicks (2003) einen schönen Vergleich der Länderverfassungen. Industriepolitische Profile der westdeutschen Länder zeichnet Sturm (1991). Unter den vergleichenden Studien zur institutionellen Ordnung sind in jüngster

Die Potenziale des Bundesländervergleichs

13

diesen Werken stellt der jüngst veröffentlichte Sammelband von Schneider/Wehling (2006) dar. Zusätzlich zur Beschreibung der grundlegenden institutionellen Strukturen und der Einbettung der Länder in Bundesstaat und EU werden darin auch einzelne Politikfelder vergleichend beleuchtet, jedoch liegt auch hier der Schwerpunkt eindeutig auf der (selbstverständlich durchaus verdienstvollen) Deskription und dem analytischen Aufriss von Prozesscharakteristika und Problemkonstellationen. Darüber hinaus gehen im Grunde nur die Kapitel von Haus (2006) sowie Schmid/Blancke (2006), die politisches Lernen im Föderalismus bzw. Innovationsaktivitäten und Diffusionsmuster als Erklärungsfaktoren der beobachtbaren Variation von Landespolitik in der Verwaltungs- und Kommunal- bzw. Arbeitsmarktund Sozialpolitik untersuchen. Leider werden die Erkenntnisse aus den einzelnen Kapiteln dieses Bandes aber nicht in einem Synthesekapitel gebündelt. Neben solchen Überblickswerken können zwei weitere Stränge der ländervergleichenden Literatur unterschieden werden: Der eine umfasst Arbeiten, welche auf einen einzelnen Theoriestrang fokussieren, während dem anderen diejenigen zuzurechnen sind, die sich auf ein einzelnes Politikfeld kaprizieren. Einen wichtigen Faktor, nämlich die Regierungsbeteiligung der Großparteien, und seinen Einfluss auf die Länderpolitik in mehreren Politikfeldern untersuchte Schmidt (1980). Er kam zu dem Ergebnis, dass es im Rahmen des landespolitischen Handlungskorridors zumeist schon „einen Unterschied macht, ob die SPD oder die CDU regiert“ (ibid.: 130). Studien zur Budgetzyklentheorie anhand der Haushalte der westdeutschen Länder liegen – mit unterschiedlichen Ergebnissen – von Galli/Rossi (2002) und Schneider (2007) vor. Heinrich (2002) bietet aus koalitionstheoretischer Perspektive eine Studie über die Juniorpartner in Landesregierungen. Mit dem Koalitionshandeln in Landesregierungen insgesamt befassen sich Kropp 2001 und Sturm/Kropp 1999. Zu beiden der benannten Stränge gehört Kalke (2001), worin Innovationsimpulse aus den Landtagen im Hinblick auf die Drogenpolitik unter die Lupe genommen werden. Die folgenden Titel hingegen greifen verschiedene Erklärungsfaktoren auf, beziehen diese jedoch auf ein einzelnes Politikfeld: Seitz (2000) modelliert die Verschuldungs- und Ausgabenentwicklung zehn alter Bundesländer von 1970 bis 1996 und kommt zu dem Schluss, dass die ökonomische Performanz hauptverantwortlich für deren Variation sei, nicht aber die parteipolitische Färbung der Landesregierungen (ibid.: 213). Die Monographien von Blancke (2004), Schmid/Blancke (2001), Hildebrandt (2008) und Wolf (2006) untersuchen die Arbeitsmarkt-, Sozial-, Finanzund Bildungspolitik der Bundesländer (siehe auch die Beiträge dieser Autoren zum vorliegenden Band). Analysen der Verwaltungspolitik im Allgemeinen bzw. der Modernisierung der Umweltverwaltung finden sich bei Bogumil (2007; siehe ebenfalls den Beitrag i.d.B.) und Bauer et al. (2007). Rankings wie Bertelsmann-Stiftung (2003) und Plünnecke/Stettes (2005) schließlich befassen sich mit der relativen Position der Bundesländer im Hinblick auf im Standortwettbewerb als bedeutsam angesehene Faktoren.3 Zeit neben einigen Kapiteln aus Schneider/Wehling (2006) eine Übersichtsdarstellung von Leunig (2007) sowie die tiefschürfende Studie von Schneider (2001a) zu den Ministerpräsidenten zu nennen. Vergleichsweise gut erforscht sind auch Parteien und Parteiensysteme auf Landesebene (Flick/Vatter 2007, Schmid 1990, Schneider 2001b) sowie die Determinanten der Landtagswahlen. Bei Letzteren hat sich zudem eine vergleichende Forschung zum Einfluss der Bundespolitik auf die Landtagswahlen entwickelt (Burkhart 2005, Völkl et al. 2008). Da die Politics-Dimension nicht im Fokus dieses Bandes steht, werden diese Literaturstränge jedoch hier nicht weiter beachtet. 3 Derlei Rankings haben im Zuge der politischen Konjunktur wettbewerbsföderaler Vorstellungen in den letzten Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen. Der Wettbewerbsföderalismus hat sich in der Folge in Deutschland zu einem

14

Achim Hildebrandt und Frieder Wolf

Gleichwohl bestehen in der Bundesländer vergleichenden Forschung drei Defizite weiter, die der vorliegende Band beheben soll: Erstens wird bislang durch die vorherrschende deskriptive Orientierung die theoriegeleitete Erklärung der teils beträchtlichen Unterschiede zwischen den Politiken der Länder vernachlässigt bzw. durch die Verengung auf einzelne Theoriestränge die relative Erklärungskraft der verschiedenen Bestimmungsfaktoren unbestimmt belassen. Zweitens fehlt es an einer Einbeziehung aller relevanten Politikfelder und einer Bündelung der Erkenntnisse darüber, und drittens ist die Institutionenanalyse zu sehr einer statischen Perspektive verhaftet. Diese statische Perspektive soll durch den Rekurs auf das Konzept der Institutionenpolitik überwunden werden. Sie wird im Rückgriff auf Benz (1990) als Politik begriffen, die auf die Veränderung oder Stabilisierung von institutionellen Strukturen zielt. Dauer und Wandel stehen somit gleichermaßen im analytischen Fokus. Die in diesem Band betrachteten Institutionen sind breit genug gewählt, um die Kontextbedingungen von Dauer und Wandel zu untersuchen. Institutionenpolitik wird hier zudem in Analogie zu klassischen Politikfeldern betrachtet (Jann 2001, Jann et al. 2005), daher kann generell das gleiche theoretische Instrumentarium auf die Gegenstandsbereiche institutionenpolitischen Handelns angewendet werden.4 In der Literatur wurde argumentiert, dass Regierungsakteure nur begrenzt an Institutionenpolitik interessiert seien, weil sie nur kurzfristig an der Wiederwahl orientiert seien, während die Institutionenpolitik ungewisse und eher langfristige Erfolge erzielen würde (Jann et al. 2005). Demgegenüber kann jedoch eingewendet werden, dass auch institutionenpolitische Maßnahmen die Wahlchancen verbessern können, da sie den Regierenden das Image von tatkräftigen und erfolgreichen Machern verleihen können – Voraussetzung hierfür ist natürlich, dass die Maßnahmen populär sind, wie etwa die Ausweitung der Bürgerbeteiligung in den Kommunen (vgl. den Beitrag von Haus i.d.B.) und auf Landesebene (vgl. den Beitrag von Magin/Eder/Vatter i.d.B.).

4

Der Bundesländervergleich als Laboratorium für den Theorietest

Aus methodischer Sicht ist der Bundesländervergleich besonders interessant (vgl. Collier 1993, Schmidt 2003 u. Snyder 2001), da die Datenlage in den meisten Feldern vergleichbar sowie von hoher Qualität ist und die institutionellen und kulturellen Kontextbedingungen relativ homogen ausfallen. So stellt der Bundesländervergleich ein wertvolles Laboratorium

hoch umstrittenen politischen Kampfbegriff entwickelt (Schatz/Oyen/Werthes 2000); die wirtschaftsschwächeren Länder beispielsweise wenden ein, dass ein Wettbewerb unfair sei bei ungleichen Startvoraussetzungen. 4 Institutioneller Wandel wird in den Sozialwissenschaften analysiert unter den beiden Leitbegriffen der intentionalen Institutionengestaltung durch Akteure sowie der Institutionendynamik als der unintendierten Entstehung von Ordnung aus dem kontingenten Zusammenwirken von Akteuren (Czada/Schimank 2000). Beide Mechanismen treten empirisch in jedem Institutionalisierungsprozess in wechselndem Verhältnis auf. Die Unterscheidung wird allein aus analytischen Gründen getroffen, wobei unterschiedliche Disziplinen sich entweder auf die Gestaltung oder die Dynamik von Institutionen konzentrieren. Dieser Band fokussiert wie die Politikwissenschaft generell (Czada/Schimank 2000: 23) auf die Institutionengestaltung.

Die Potenziale des Bundesländervergleichs

15

zum Theorientest und zur Theorienweiterentwicklung zur Verfügung – vor allem hinsichtlich der Theorien mittlerer Reichweite. Auch bietet er sich für ein Methoden verbindendes Vorgehen an, bei dem quantifizierende Analyseverfahren – für die das N von 16 Ländern groß genug ist – mit qualitativen – deren Anwendung durch die vergleichsweise gute Verfügbarkeit von Quellen und Interviewpartnern erleichtert wird – kombiniert werden (vgl. etwa die Beiträge von Henkes, Hildebrandt, Magin/Eder/Vatter, Rothgang/Wessel, Schmid/ Hedrich, Schöller-Schwedes/Ruhrort und Wolf i.d.B.). Neben den grundliegenden Gemeinsamkeiten, die einen sinnvollen Vergleich erst ermöglichen, bestehen aber auch beträchtliche Unterschiede, die diesen Vergleich ertragreich erscheinen lassen. Die Unterschiede beginnen bei der Tradition und der historischen Herkunft der Länder. Der stolzen Tradition Bayerns und der beiden Hansestädte Bremen und Hamburg stehen viele Länder gegenüber, die nach dem Krieg von den Alliierten aus der Erbmasse Preußens und vieler kleinerer Territorien gebildet wurden (Kilper/Lhotta 1996). Die verschiedenartigen Wurzeln dieser Länder zeigen sich auch daran, dass sechs von ihnen Bindestrich-Namen tragen5 – was langfristig aber für viele von ihnen kein Hindernis war, distinkte Identitäten bis hin zum „Wir können alles außer Hochdeutsch“-Regionalpatriotismus auszubilden.6 Neben mehr oder weniger alten regionalen Identitäten sind auch Prägungen durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Besatzungszonen zu beachten, die etwa in der Kommunalverfassungspolitik (vgl. den Beitrag von Haus i.d.B.) lange spürbar blieben. Große Differenzen zeigen sich auch hinsichtlich der Geographie, insbesondere zwischen den drei Stadtstaaten und den dreizehn Flächenländern. Erstere stehen etwa hinsichtlich der Sozialpolitik (vgl. den Beitrag von Rothgang/Wessel i.d.B.) und der Politik der Inneren Sicherheit (vgl. den Beitrag von Birkel i.d.B.) vor einem völlig anderen Problemdruck als Letztere. Aber auch die Verkehrspolitik (vgl. Schöller-Schwedes/Ruhrort i.d.B.) steht in einer verdichteten Großstadt vor völlig anderen Aufgaben als in einem dünn besiedelten Flächenland wie Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern. Des Weiteren variiert auch die Einwohnerzahl beträchtlich: Das kleinste Land Bremen ist mit knapp 700.000 Einwohnern eine mittlere Großstadt, in dem größten Land Nordrhein-Westfalen wohnen 18 Millionen Menschen. Das sind mehr als in den beiden Bundesstaaten Österreich und Schweiz mit ihren insgesamt 35 Gliedstaaten leben. Die räumliche Gliederung der Bevölkerung wird in politikfeldspezifischen Erklärungsansätzen vor allem der Finanzpolitik (Brecht 1932, Popitz 1932) als Prädikator verwendet, besitzt allerdings auch Erklärungskraft für die Politik der Inneren Sicherheit (Glaeser/Sacerdote 1999). Von zentraler Bedeutung für die Beiträge dieses Bandes sind jedoch die Theorien der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung (vgl. Schmidt 1993 u. Zohlnhöfer 2007). Sie bilden die gemeinsame theoretische Perspektive, die die einzelnen Kapitel eint, wobei die Relevanz der einzelnen Theoriestränge bzw. Erklärungsfaktoren nach Politikbereichen variiert. Auch

5 Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein. 6 In Sachsen-Anhalt hingegen zog der Oppositionsführer im Jahr 2006 mit der Forderung in den Wahlkampf, das eigene Bundesland aufzulösen und mit Sachsen und Thüringen zu fusionieren (vgl. Die Zeit vom 16.03.2006). Unvorstellbar für Bayern, aber auch für die kleinen Länder Bremen und Saarland, deren Fortbestand häufiger in Frage gestellt wird (Schiffers 1996).

16

Achim Hildebrandt und Frieder Wolf

hier zeigen sich deutliche Varianzen bezüglich zentraler Erklärungsfaktoren: Bei den sozioökonomischen Restriktionen und Problemlagen existieren fast schon drei Welten unter den Flächenländern; an der Spitze liegen Hessen, Bayern, Baden-Württemberg und mit einigem Abstand Nordrhein-Westfalen, ihnen folgen die vier strukturschwächeren übrigen westlichen Flächenländer und mit weitem Abstand die von hoher Arbeitslosigkeit gezeichneten fünf neuen Länder. Die drei Stadtstaaten sind ebenfalls unterschiedlich positioniert, vorneweg das wohlhabende Hamburg, in der Mitte Bremen und mit weitem Abstand am Schluss Berlin (Dannemann 2005). Derartig unterschiedliche Ausgangspositionen sorgen für einen radikal unterschiedlichen Problemdruck in der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik. Differenzen bezüglich der parteipolitischen Färbung der Landesregierungen zeigen sich in der Gegenwart nur begrenzt, da die SPD in nur fünf der sechzehn Bundesländer den Ministerpräsidenten stellt. Betrachtet man jedoch die längerfristige politische Entwicklung, so zeigen sich Länder, die lange Jahre von der Union geprägt wurden wie Baden-Württemberg und Bayern, und ausgesprochene sozialdemokratische Hochburgen wie Bremen, Hamburg oder Nordrhein-Westfalen. Daneben gibt es auch Länder, in denen die Regierungsparteien häufiger wechselten, wie Niedersachsen, Hessen oder die Mehrzahl der ostdeutschen Länder. Hier lassen sich weniger langfristige Prägeeffekte als die unmittelbaren Folgen von Machtwechseln beobachten. Die variierenden Regierungsdauern sind auch für einen weiteren Theorienstrang, das Politikerbtheorem (Rose 1991), von Interesse. Das Politikerbtheorem fokussiert auf die Prägung der Staatstätigkeit durch die Entscheidungen früherer Regierungen. Diese historische Entwicklung interessiert im Rahmen der Leitfragestellung des Bandes generell vornehmlich insoweit, wie sie gegenwärtige Varianz im Querschnittsvergleich zu erklären hilft. Geringere, aber doch in einigen Politikfeldern spürbare Unterschiede zwischen den Ländern sind hinsichtlich politischer Institutionen, der Machtressourcen gesellschaftlicher Akteure und internationaler Einflüsse in der Folge von Denationalisierung und Europäisierung zu diagnostizieren. Ein weiterer auf der Landesebene zu beachtender Faktor sind (i.d.R. einheitliche) von der Bundesebene ausgehende Initiativen und ihre (oft unterschiedliche) Aufnahme in den Bundsländern. Hinzugezogen werden außerdem gegebenenfalls soziokulturelle Determinanten und politikfeldspezifische Erklärungsgrößen, unter ihnen auch Innovations- und Diffusionsprozesse (vgl. Blancke 2004: 35ff. u. Schmid/Blancke 2001: 24ff.) sowie der Einfluss einzelner handelnder Personen, so sie besondere Gestaltungsmacht ausgeübt haben. Diffusionsprozesse sind insbesondere in den Bereichen relevant, wo Konvergenztendenzen zu beobachten sind.

5

Der Aufbau des Bandes

Mit den beiden Hauptaspekten der Kulturhoheit der Bundesländer als einem der Kernbereiche (wenn nicht einer der Herzkammern) des deutschen Föderalismus setzen sich die ersten beiden Kapitel dieses Bandes auseinander, Ersteres von Frieder Wolf mit der seit Bekanntwerden der PISA-Ergebnisse wieder verstärkt in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückten Schul-, Letzteres von Ute Lanzendorf und Peer Pasternack mit der im Zei-

Die Potenziale des Bundesländervergleichs

17

chen des Bologna-Prozesses und der Diskussionen über Studiengebühren stehenden Hochschulpolitik. Die zweite Herzkammer des deutschen Föderalismus, die Innere Sicherheit, wird sodann aus zwei verschiedenen Blickwinkeln analysiert, von Bernhard Frevel und Hermann Groß bezüglich der Polizeipolitik – deren Charakter als Ländersache von den Autoren mit einem Ausrufungszeichen bekräftigt wird – und von Christoph Birkel hinsichtlich der Gewaltkriminalität und ihrer politischen Bearbeitung. Die Frage nach einer Integrationspolitik der Länder zwischen Kreuzberger Multikulturalismus und bayerischem Bierzelt nimmt daraufhin Christian Henkes – differenziert nach politisch-rechtlicher und kultureller Integration – in den Blick. Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel untersuchen die Landessozialpolitik. Sie erstellen einen Aktivitätsindex der Länder und analysieren diesen auf seine sozioökonomischen und parteipolitischen Determinanten hin. Achim Hildebrandts Beitrag bietet einen Überblick über die von Verbundsystem und Verschuldung geprägte Finanzpolitik in den Ländern unter besonderer Berücksichtigung synchroner und diachroner Machtverteilungseffekte. Der Beitrag von Josef Schmid und Horst Hedrich setzt sich mit der Arbeitsmarktpolitik der Länder, gerade auch im Gegensatz zu derjenigen des Bundes, auseinander, während Markus Müller die unterschiedlichen Strategien in der Wirtschaftspolitik analysiert. Beide Themen eint der stark unterschiedliche sozioökonomische Problemdruck, aber auch die Neigung aller Landesregierungen, ungeachtet dessen Aktivitäten zu entfalten. Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort gehen auf den wichtigsten Teil der Infrastrukturbemühungen der Länder, nämlich ihre Verkehrspolitik, ein. Insbesondere forschen sie nach Spuren einer ‚integrierten Verkehrspolitik’. Einen der Teilbereiche der Umweltpolitik, in dem die Länder besonders weitreichende Kompetenzen besitzen, beleuchtet Axel Volkery mit der Naturschutzpolitik, wobei er vor allem die Umsetzung des Bundesnaturschutzrechts in die Landesgesetzgebung unter die Lupe nimmt. Die beiden darauf folgenden Kapitel sind zwei Aspekten der Institutionengestaltung gewidmet: Auf die gerade in den vergangenen Jahren in vielen Ländern tiefgreifend reformierte öffentliche Verwaltung gehen Jörg Bogumil und Falk Ebinger ein, und Michael Haus behandelt die Kommunalverfassungspolitik der Länder als lokale Institutionenpolitik. Der Beitrag von Maximilian Grasl nimmt mit der Untersuchung der Bundes- und Europapolitik der Länder eine doppelte Querschnittsperspektive ein und hebt daher stärker auf strategische Gesichtspunkte ab. Matthias Trefs stellt die Wahlsysteme der Bundesländer und ihre im Detail dann doch größer als gemeinhin vermutet ausfallende Variation dar. Raphael Magin, Christina Eder und Adrian Vatter vergleichen die Ausgestaltung der unterschiedlich weit ausgebauten direktdemokratischen Elemente der Landesverfassungen, deren (auch politikfeldspezifische) Nutzung in der Praxis samt ihren Ursachen sowie ihre Folgen. Im abschließenden Kapitel werden die Erkenntnisse aus beiden Teilen zusammengefasst und weiter bestehende Forschungsdesiderata im Bundesländervergleich benannt.

18

Achim Hildebrandt und Frieder Wolf

Literatur Bauer, Michael W./Bogumil, Jörg/Knill, Christoph/Ebinger, Falk/Krapf, Sandra/Reißig, Kristin, 2007: Modernisierung der Umweltverwaltung. Reformstrategien und Effekte in den Bundesländern. Berlin. Benz, Arthur, 1990: Institutionenpolitik, in: Ellwein, Thomas/Hesse, Jens Joachim/Mayntz, Renate/Scharpf, Fritz W. (Hg.): Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 4. Baden-Baden, 359-374. Bertelsmann-Stiftung (Hg.), 2003: Die Bundesländer im Standortwettbewerb. Gütersloh. Blancke, Susanne, 2004: Politikinnovationen im Schatten des Bundes. Policy-Innovationen und -Diffusionen im Föderalismus und die Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer. Wiesbaden. Bogumil, Jörg, 2007: Verwaltungspolitik im Bundesländervergleich – Große Entwürfe statt inkrementalistische Reformen?, in: Bandelow, Nils C./Bleek, Wilhelm (Hg.): Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien. Festschrift für Ulrich Widmaier. Wiesbaden, 111-123. Brecht, Arnold, 1932: Internationaler Vergleich der öffentlichen Ausgaben. Leipzig. Burkhart, Simone, 2005: Parteipolitikverflechtung. Über den Einfluss der Bundespolitik auf Landtagswahlentscheidungen von 1976 bis 2006, in: Politische Vierteljahresschrift 46, 14-38. Burkhart, Simone/Manow, Philip, 2006: Was bringt die Föderalismusreform? Wahrscheinliche Effekte der geänderten Zustimmungspflicht, MPIfG Working Paper 06/6. Köln. Collier, David, 1993: The Comparative Method, in: Finifter, Ada W. (Hg.): Political Science: The State of the Discipline II, Washington D.C.: The American Political Science Association, 105-119. Czada, Roland/Schimank, Uwe, 2000: Institutionendynamiken und politische Institutionengestaltung. Die zwei Gesichter sozialer Ordnungsbildung, in: Werle, Raymund/Schimank, Uwe (Hg.): Gesellschaftliche Komplexität und kollektive Handlungsfähigkeit. Frankfurt a.M., 23-43. Dannemann, Günter, 2005: Stadtstaaten in der Krise?, Bremen: Forschungsstelle Finanzpolitik der Universität Bremen. Dunn, Christopher (Hg.), 22006: Provinces. Canadian Provincial Politics. Peterborough. Flick, Martina/Vatter, Adrian, 2007: Bestimmungsgründe der Parteienvielfalt in den deutschen Bundesländern, in: Politische Vierteljahresschrift 48, 44-65. Galli, Emma/Rossi, Stefania P.S., 2002: Political Budget Cycles: The Case of the West German Länder, in: Public Choice 110, 283-303. Glaeser; Edward L./Sacerdote, Bruce, 1999: Why is There More Crime in Cities?, in: Journal of Political Economy 107, 225-258. Gray, Virginia/Hanson, Russell, L. (Hg.), 2004: Politics in the American states: a Comparative Analysis. Washington. Gunlicks, Arthur, 2003: The Länder and German Federalism. Manchester. Hartmann, Jürgen (Hg.), 31997: Handbuch der deutschen Bundesländer. Bonn. Haus, Michael, 2006: Verwaltungs- und Kommunalpolitik der Länder, in: Schneider, Herbert/Wehling, Hans-Georg (Hg.): Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder. Wiesbaden, 270-294. Heinrich, Gudrun, 2002: Kleine Koalitionspartner in Landesregierungen. Zwischen Konkurrenz und Kooperation. Opladen. Hildebrandt, Achim, 2008: Die finanzpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesländer. Determinanten, institutionelle Defizite und Reformoptionen. Universität Stuttgart: Dissertation. Jann, Werner, 2001: Verwaltungsreform als Verwaltungspolitik: Verwaltungsmodernisierung und Policy-Forschung, in: Schröter, Eckhard (Hg.): Empirische Policy- und Verwaltungsforschung. Lokale, nationale und internationale Perspektiven. Opladen, 331-344. Jann, Werner/Döhler, Marian/Fleischer, Julia/Hustedt, Thurid/Tiessen, Jan, 2005: Regierungsorganisation als Institutionenpolitik: Ein westeuropäischer Vergleich, Antrag auf Förderung eines Forschungsprojektes im Normalverfahren der DFG. Potsdam.

Die Potenziale des Bundesländervergleichs

19

Kalke, Jens, 2001: Innovative Landtage. Eine empirische Untersuchung am Beispiel der Drogenpolitik. Wiesbaden. Kilper, Heiderose/Lhotta, Roland, 1996: Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung. Opladen. Kropp, Sabine, 2001: Regieren in Koalitionen. Handlungsmuster und Entscheidungsfindung in deutschen Länderregierungen. Wiesbaden. Leunig, Sven, 2007: Die Regierungssysteme der deutschen Länder im Vergleich. Opladen. Mielke, Siegfried/Reutter, Werner (Hg.), 2004: Länderparlamentarismus in Deutschland. Wiesbaden. Pierson, Paul, 2004: Politics in Time: History, Institutions and Social Analysis. Princeton. Plünnecke, Axel/Stettes, Oliver, 2005: Bildung in Deutschland. Ein Benchmarking der Bundesländer aus bildungsökonomischer Perspektive. Köln. Popitz, Johannes, 1932: Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden. Gutachten, erstattet der Studiengesellschaft für den Finanzausgleich. Berlin. Rose, Richard, 1991: Inheritance Before Choice in Public Policy, in: Journal of Theoretical Politics 2, 263291. Scharpf, Fritz W., 2006: Föderalismusreform: Weshalb wurde so wenig erreicht? in: Aus Politik und Zeitgeschichte Heft 50, 6-11. Schatz, Heribert/Oyen, Christian van/Werthes, Sascha, 2000: Wettbewerbsföderalismus. Aufstieg und Fall eines politischen Streitbegriffes. Baden-Baden. Schiffers, Reinhard, 1996: Weniger Länder – mehr Föderalismus? Die Neugliederung des Bundesgebietes im Widerstreit der Meinungen 1948/49-1990. Düsseldorf. Schmid, Josef, 1990: Die CDU. Organisationsstrukturen, Politiken und Funktionsweisen einer Partei im Föderalismus. Opladen. Schmid, Josef/Blancke, Susanne, 2001: Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer. Chancen und Restriktionen einer aktiven Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik im Föderalismus. Berlin. Schmid, Josef/Blancke, Susanne, 2006: Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den Bundesländern. Randerscheinung oder Laboratorium, in: Schneider, Herbert/Wehling, Hans-Georg (Hg.): Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder. Wiesbaden, 295-315. Schmidt, Manfred G., 1980: CDU und SPD an der Regierung. Ein Vergleich ihrer Politik in den Ländern. Frankfurt a.M. Schmidt, Manfred G., 1993: Theorien in der international vergleichenden Staatstätigkeitsforschung, in: Héritier, Adrienne (Hg.): Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung, PVS-Sonderheft 24. Opladen, 371-393. Schmidt, Manfred G., 42003: Vergleichende Policy-Forschung, in: Berg-Schlosser, Dirk/Müller-Rommel, Ferdinand (Hg.): Vergleichende Politikwissenschaft. Opladen, 261-276. Schneider, Christina J., 2007: Politischer Opportunismus und Haushaltsdefizite in den westlichen Bundesländern, in: Politische Vierteljahresschrift 48, 221-242. Schneider, Herbert, 2001a: Ministerpräsidenten. Profil eines Amtes im deutschen Föderalismus. Opladen. Schneider, Herbert, 2001b: Parteien in der Landespolitik, in: Gabriel, Oscar W./Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (Hg.): Parteiendemokratie in Deutschland. Bonn, 385-405. Schneider, Herbert/Wehling, Hans-Georg (Hg.), 2006: Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder. Wiesbaden. Seitz, Helmut, 2000: Fiscal Policy, Deficits and Politics of Subnational Governments: The Case of the German Länder, in: Public Choice 102, 183-218. Snyder, Richard, 2001: Scaling Down: The Subnational Comparative Method, in: Studies in Comparative International Development 36:1, 93-110. Sturm, Roland, 1991: Die Industriepolitik der Bundesländer und die europäische Integration. BadenBaden.

20

Achim Hildebrandt und Frieder Wolf

Sturm, Roland/Kropp, Sabine (Hg.), 1999: Hinter den Kulissen von Regierungsbündnissen. Koalitionspolitik in Bund, Ländern und Gemeinden. Baden-Baden. Vatter, Adrian, 2002: Kantonale Demokratien im Vergleich. Entstehungsgründe, Interaktionen und Wirkungen politischer Institutionen in den Schweizer Kantonen. Opladen. Voigt, Rüdiger, 1998: Die dritte Ebene im Bundesstaat. Zur horizontalen Selbstkoordination der Länder, in: Görlitz, Axel/Burth, Hans-Peter (Hg.): Informale Verfassung. Baden-Baden, 85-109. Völkl, Kerstin/Schnapp, Kai-Uwe/Holtmann, Everhard/Gabriel, Oscar W. (Hg.), i.E. 2008: Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Baden-Baden. Wehling, Hans-Georg (Hg.), 32004: Die deutschen Länder. Geschichte, Politik, Wirtschaft. Wiesbaden. Wehling, Hans-Georg, 2006: Landespolitik und Länderpolitik im föderalistischen System Deutschlands, in: Schneider, Herbert/Wehling, Hans-Georg (Hg.): Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder. Wiesbaden, 7-21. Wolf, Frieder, 2006: Die Bildungsausgaben der Bundesländer im Vergleich. Welche Faktoren erklären ihre beträchtliche Variation? Münster. Zohlnhöfer, Reimut, 2008: Stand und Perspektiven der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung, erscheint in: Janning, Frank/Toens, Katrin (Hg.): Stand und Perspektiven der Policy-Forschung. Wiesbaden, 157-174.

Die Schulpolitik – Kernbestand der Kulturhoheit Frieder Wolf

1

Zur Einleitung: Kompetenzen und Spielraum der Landesschulpolitik

Die Schulpolitik ist die ureigenste Kernkompetenz der Bundesländer. Während in der Hochschulpolitik (siehe hierzu den Beitrag von Lanzendorf/Pasternack i.d.B.) der Bund zumindest ein Wörtchen mitzureden hat, können die Landesschulpolitiker theoretisch ihr (Politik-)Feld ungestört von äußeren Einflüssen bestellen. Zu beachten haben sie lediglich die grundgesetzlichen Bestimmungen zur staatlichen Schulaufsicht, zum Religionsunterricht und zur Privatschulfreiheit in Art. 7 GG sowie den Vorrang der Eltern bei Pflege und Erziehung der Kinder nach Art. 6 Abs. 2 GG. Und diesen großen Spielraum nutzen sie dergestalt aus, dass die Schulstrukturen, pädagogischen Grundausrichtungen und nicht zuletzt Schulausgaben der Bundesländer einem bunten Flickenteppich gleichen (siehe Abschnitt 3). Jedoch toleriert man im deutschen Föderalismus allzu große Abweichungen auch wieder nicht, nicht einmal in Belangen der Kulturhoheit. Denn „despite disagreements […] over the contents of educational policy, political actors in the Federal Republic of Germany shared an all-German frame of reference” (Erk 2003: 298).1 Die gesellschaftlichen Erwartungen sind in dieser Hinsicht zentralisierter als die politische Ordnung (vgl. Katzenstein 1987: 15ff.), und die Schulpolitik der Länder musste in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder mit Koordinationsübungen darauf reagieren.2 Ja selbige waren sogar schon vor der Staatsgründung notwendig, konstituierte sich die Kultusministerkonferenz (KMK) doch bereits 1948. Mit den Jahren hat die KMK ein immer dichteres Netz von mittlerweile weit über tausend einzelnen Abkommen geschlossenen. Diese betreffen so diverse Themen wie Mindestanforderungen für die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen, den Beginn und die Dauer der Schulpflicht, einheitliche Notenbezeichnungen, Feriendauern und -termine sowie Richtlinien zur Behandlung bestimmter Themen in verschiedenen Fächern. Da die KMK lange Zeit generell mit Einstimmigkeit entschied und auch heute noch in den wichtigsten Fragen so entscheidet3, eignet ihr allerdings auch eine Tendenz zu langsamer Entscheidungsfin1 Es wäre allerdings falsch, daraus mit Erk (2003: 298) zu schließen, dass die Bildungspolitik ‚nationalisiert’ worden sei. Ausführlicher zur Bildungspolitik im Gesamtstaat Wolf 2006b. 2 Der ehemalige KMK-Präsident Hans Maier (1998: 23) bemerkte dazu: „In Deutschland nämlich erwartet man vom Kulturföderalismus paradoxerweise nicht nur, wie anderswo, die Bewahrung föderaler Eigenheiten der Länder, sondern auch, und fast im selben Atemzug, die Stiftung kultureller Einheit und politischer Homogenität im Gesamtstaat.“ 3 Nach dem kurzfristigen Ausscheren Niedersachsens wurde die Geschäftsordnung 2005 dahingehend geändert, dass das Einstimmigkeitserfordernis nur noch für Fragen gilt, welche die „Herstellung der notwendigen Einheitlichkeit und

22

Frieder Wolf

dung und zu Selbstblockaden bei umstrittenen, nicht selten gerade besonders wichtigen Problemen. Es ist also eine Ambivalenz zwischen den eigenständigen schulpolitischen Kompetenzen der Länder und einem partiell durchschlagenden Unitarisierungsdruck zu konstatieren. Letzterer wirkt sich tendenziell zu Lasten des Gestaltungsspielraums bzw. der Mitwirkungsmöglichkeiten der Landesparlamente aus. Scharpfs explizit auch auf die Bildungspolitik gemünzter Analyse der Politikverflechtung zufolge ist eine Pathologie des deutschen Exekutivföderalismus die strukturelle Bevorzugung von Regierungsinteressen gegenüber den Interessen der Parlamente (Scharpf 1985: 334ff.). Die Umsetzung der KMKVereinbarungen in Landesrecht erfolgt selbstverständlich durch die Landtage; deren Abgeordnete sind allerdings einem starken Druck zur Annahme der oft erst nach langen Verhandlungen erzielten Ergebnisse ausgesetzt, und ihre Einflussmöglichkeiten auf diese Verhandlungen sind begrenzt.4 Des Weiteren erschweren die Aushandlungsprozesse auf der dritten Ebene des deutschen Föderalismus, wie die Koordinationsgremien auch oft genannt werden, die Zurechnung von Entscheidungen zu politischen Akteuren durch die Öffentlichkeit und geben den zuständigen Politikern die Gelegenheit zur ‚blame-avoidance’: Schuld an mangelhafter Problembearbeitung hat im Zweifel niemand. Den zweiten wichtigen limitierenden Faktor der Landesschulpolitik stellen die ihr zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen bzw. deren in der Regel durch die Finanzminister und Ministerpräsidenten gezogenen Grenzen dar. Die Implementation von unter den Bildungspolitikern der Länder nach längerem Ringen konsensual verabschiedeten Vorhaben wie dem Bildungsgesamtplan von 1973 kann auch daran noch scheitern, dass die Finanzministerkonferenz (FMK) sie nicht für finanzierbar hält und die Ministerpräsidentenkonferenz sich auf die Seite Letzterer schlägt5, und auch nicht zwischen den Ländern koordinierte schulpolitische Initiativen in den einzelnen Ländern haben in der Finanzseite ihren stärksten natürlichen Feind. Bis zur Föderalismusreform 2006 lag in inhaltlich kaum umstrittenen, finanziell aber auf Landesebene nicht durchsetzbaren Projekten das Haupteinfallstor für den Einfluss des Bundes auf die Schulpolitik. So nutzte die rot-grüne Bundesregierung erst jüngst die goldenen Zügel eines 4 Mrd. € schweren Förderprogramms, um die Länder zur flächendeckenden Einführung von Ganztagesschulen zu bewegen, wenn auch ohne weitere inhaltliche Mitsprache für sich zu erreichen (vgl. dazu Wolf/Henkes 2007: 368f.). Derartiges wird in Zukunft nicht mehr möglich sein. Denn die einzige nennenswerte Neuerung der Föderalismusreform für die Schulpolitik besteht darin, dass der neue Artikel 104b GG dem Bund Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen nur noch erlaubt,

Mobilität im Bildungswesen“, „die Kultusministerkonferenz selbst“ oder die „Errichtung gemeinsamer Einrichtungen“ betreffen oder „Auswirkungen auf die Landeshaushalte“ haben (Geschäftsordnung der KMK in der Fassung vom 02.06.2005). Ansonsten gilt nun ein Mehrheitserfordernis von 13 Stimmen (vgl. zu Ursachen und Folgen dieser Reform auch Scheller 2006: 34f.). 4 In den 1950er Jahren kam es allerdings „durchaus noch zur Nichtverwirklichung von Beschlüssen“ (Thränhardt 1990: 182), z.B. als der bayerische Landtag den einheitlichen Schuljahresbeginn zu Ostern ablehnte (und langfristig seine Präferenz für den Herbst in ganz Deutschland übernommen wurde). 5 Bisweilen treibt die Rivalität zwischen KMK und FMK abstruse rhetorische Blüten: „Die Kultusministerkonferenz nimmt mit Befremden zur Kenntnis, dass die Finanzministerkonferenz mit Befremden zur Kenntnis genommen hat, dass die Kultusministerinnen und Kultusminister [eine Fördermaßnahme] für notwendig erachten“ (Beratungsunterlage RS Nr. 402/2005, zitiert aus Spiegel-Online vom 08.02.2007: Was ist eigentlich…die KMK? http://www.spiegel.de/ unispiegel/studium/0,1518,453957,00.html).

Die Schulpolitik – Kernbestand der Kulturhoheit

23

„soweit dieses Grundgesetz ihm Gesetzgebungsbefugnisse verleiht“, also definitiv nicht mehr für den Schulbereich. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels sollen die Querschnittsvariation der Schulpolitik der Bundesländer beschrieben und die Gründe für diese Variation analysiert werden. Zuvor jedoch gilt es, die wichtigsten schulpolitischen Themen und Problemfelder, welche sich nach Fragen der Gerechtigkeit, Leistung und Demokratie systematisieren lassen, zumindest anzudiskutieren, um einen Referenzrahmen für die danach betrachteten Variationsdimensionen zu gewinnen.

2

Schulpolitische Themen und Problemfelder

2.1 Gerechtigkeit Gerechtigkeit als Leitwert und Zielvorstellung des Schulwesens darf als unumstritten gelten. Ihre Verengung auf Chancengerechtigkeit wird von Egalitaristen zwar mit durchaus guten Argumenten nicht mitgetragen, als Mindestanforderung dürfte sie aber mehrheitsfähig sein. Doch wie die Verwirklichung von schulischer Chancengerechtigkeit erreicht werden kann, darüber gehen die Auffassungen in den politischen Debatten in den Bundesländern im Grunde schon seit ihrer Gründung weit auseinander. Zum zentralen parteipolitischen Konflikt wuchs sich diesbezüglich die Frage nach der Dauer der gemeinsamen Schulzeit bzw. der Struktur des weiterführenden Schulsystems aus.6 Weniger lebhaft öffentlich debattierte, aber für die (Chancen-)Gerechtigkeit von Schulpolitik nicht unwichtige Aspekte sind die serielle Durchlässigkeit, also Anschlussperspektiven für höhere Abschlüsse nach erfolgreichem Durchlaufen eines Schultyps, die in den letzten Jahren wieder stark eingeschränkte Lernmittelfreiheit und die (wie auch immer institutionalisierte) Förderung von Schülern mit Lernschwächen und Behinderungen. Aus dem ersten von der KMK und dem Bundesbildungsministerium (BMBF) in Auftrag gegebenen Bildungsbericht lässt sich entnehmen, welche Gruppen ein besonders hohes Risiko schulischer Misserfolge aufweisen. Aus diesen Risiken kann zwar nicht unmittelbar geschlossen werden, dass die entsprechenden Gruppen nicht die gleichen Chancen bekommen wie andere. Im Sinne ‚tiefer Chancengerechtigkeit’, welche um den „Ausgleich der sozioökonomischen Auswirkungen der unterschiedlichen genetisch-sozialen Ressourcenausstattung der Individuen“ (Kersting 2004: 17) bemüht ist, verdienen sie aber besondere Aufmerksamkeit, von den gesellschaftlichen Folgekosten einmal ganz abgesehen. Der soziale Status und das Bildungsniveau ihrer Eltern spiegeln sich deutlich in den schulischen Karrieren der Kinder in Deutschland: „Herkunftsbedingte Bildungsdisparitäten zeigen sich nahezu in allen Bildungsbereichen und in allen Phasen des Lebenslaufs.“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 26). Das verweist auf einen Zielkonflikt zwischen der in

6 Pädagogisch ist zwar mindestens ebenso relevant, wie in den Klassenzimmern – gleich welchen Schultyps – „differenzsensitiv und für unterschiedliche Talentmuster und Begabungsausrichtung gleichermaßen vorteilhaft“ (so definiert Kersting 2004: 24 chancengerechte Bildungsinstitutionen) gearbeitet wird, dies lässt sich aber politisch und publizistisch nicht ganz so leicht zuspitzen. Wenn es doch versucht wird, dann meist hoffnungslos unterkomplex.

24

Frieder Wolf

Deutschland traditionell vorrangigen (und mit Verfassungsrang ausgestatteten) Vorfahrt für die Familie in der Erziehung und dem Chancenausgleich durch längere Beschulung: Je mehr Zeit Kinder im familiären Umfeld verbringen, desto stärker kann sich dieses positiv oder eben auch negativ auf die Lebenschancen auswirken. Egalisierung durch ein ganztägiges schulisches Pflichtprogramm hat ein großes Potenzial, Letzterem entgegen zu wirken, steht aber auch in der Gefahr, ersteren Effekt zu bremsen. Außerdem spielt bei der Aufteilung der Schüler auf verschiedene Schulformen der Sekundarstufe I neben der (prognostizierten) Leistungsfähigkeit in der Praxis der Elternwille eine erhebliche Rolle. Dies wirkt als „Transmissionsmechanismus einer geringen intergenerationalen Mobilität der Einkommen“ (Plünnecke 2003: 32). Ohne Schulabschluss bleiben insgesamt 8,5% der 15-16-Jährigen, wobei diese Quote unter den männlichen Schülern deutlich höher ist als bei den weiblichen (10,5 gegenüber 6,3%) und bei Schülern ohne deutsche Staatsangehörigkeit weit überdurchschnittlich (19,7% bei den männlichen Ausländern und 12,9% bei den weiblichen). Bei den höheren Bildungsabschlüssen sind Ausländer dagegen unterdurchschnittlich vertreten, wobei der relative Vorsprung der weiblichen bei den mittleren Abschlüssen groß ist, bei der Hochschulreife dagegen nur noch recht gering (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 73). Die Fokussierung auf die Staatsangehörigkeit verschleiert den wahren Integrationsbedarf allerdings eher noch, da die Bildungserfolge von Deutschen mit Migrationshintergrund, deren größte Teilgruppe die Aussiedler darstellen, ebenfalls unterdurchschnittlich sind (vgl. HerwartzEmden 2003: 679ff.; für weitere Indikatoren zur Situation von Migranten im Bildungswesen siehe Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 137ff.). Der Ausbau sprachlicher und sonstiger Fördermaßnahmen wird also vor einem beunruhigenden empirischen Hintergrund gefordert.7 Durch die Schwäche des dualen Ausbildungssystems in vielen Regionen (vor allem Ostdeutschlands) besonders herausgefordert ist schließlich die schulische Berufsbildung. Denn wo Ausbildungswillige keine Berufsqualifikation erwerben können, dort kann von Chancengerechtigkeit nicht die Rede sein.

2.2 Leistung Neben dem relativen Kriterium der Gerechtigkeit steht das absolute der Leistung. Schulsysteme werden vor allem auch daran gemessen, auf welchen Leistungsstand sie ihre Schüler bringen (während Leistungsförderungs- und -forderungsfaktoren außerhalb des Schulgebäudes weitaus weniger konsequent angegangen werden). Nicht nur aus bildungsökonomischer Sicht besteht ein gesamtgesellschaftliches Interesse an möglichst hohen Spitzenleistungen einer Bildungselite ebenso wie an einem möglichst hohen Leistungsdurchschnitt und einer möglichst kleinen Gruppe von Schülern mit absolut schwachen, die Arbeitsmarktpartizipation gefährdenden Ergebnissen. Die Relation zwischen den Maßen der Erreichung dieser drei Teilziele, so kann unterstellt werden, variiert auch mit den strukturellen Eigenschaften der Schulsysteme, der pädagogischen Grundausrichtung sowie Umfang und Verteilung 7 Die Forderung nach verpflichtendem Besuch von Fördermaßnahmen oder gar nach Ausschluss vom Grundschulbesuch bei fehlenden Deutschkenntnissen, wie sie etwa der Lernforscher Manfred Spitzer (2002: 406) erhebt, geht solange ins Leere, wie es kein ausreichendes Angebot daran gibt.

Die Schulpolitik – Kernbestand der Kulturhoheit

25

der finanziellen Mittel, weshalb diese in Abschnitt 3 auch unter diesem Aspekt diskutiert werden. Die PISA-Ergebnisse für Deutschland und ihre Variation nach Bundesländern sollen an dieser Stelle nur äußerst knapp zusammen gefasst werden, da sie bekannt sein dürften bzw. andernorts (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2002, 2003, 2004 u. 2005) gut dargestellt sind. Bayern und Baden-Württemberg liegen leicht über dem OECD-Durchschnitt, Bremen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt schneiden dagegen deutlich schwächer ab, Hamburg und Berlin nahmen gar nicht erst teil (Deutsches PISA-Konsortium 2003: 61). Auch ein Parteiendifferenzeffekt deutet sich hier an: Unter den westdeutschen Ländern schnitten diejenigen mit langjährigen Unions-Regierungen klar besser ab als sozialdemokratisch geprägte.8 Ein weiteres Bundesländer-Ranking stellen Plünnecke/Stettes (2005: 51ff.) mit dem ‚Bildungsmonitor Deutschland’ zur Verfügung. Neben der Bildungsqualität wird davon u.a. auch die Effizienz des Ressourceneinsatzes im Bildungswesen abgedeckt. Auch in dieser Rangliste zeigt sich ein Süd-Nord-Gefälle im Westen wie im Osten, wobei unter den vier überdurchschnittlich abschneidenden Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Thüringen und Sachsen die ersteren beiden weit vor dem übrigen Feld positioniert sind (ibid.: 53). In der Folge des PISA-Schocks entbrannte eine lebhafte Debatte über die zur Leistungssteigerung notwendigen Schritte. Während der Streit über die besten Schulstrukturen in der Sekundarstufe entlang der altbekannten Gräben verlief, da Länder mit Gesamtschulen im internationalen Vergleich überdurchschnittliche, innerhalb Deutschlands aber unterdurchschnittliche Ergebnisse aufwiesen und sich somit jede Seite die ihr genehmen Argumente aussuchen konnte, entstand zu einigen anderen Aspekten weitreichende Übereinstimmung. Dazu gehörte die Kritik an der im internationalen Vergleich relativ späten Einschulung (bzw. am fehlenden curricularen Auftrag des präprimären Bildungssektors) und der relativ langen Dauer der Schulzeit (bei zugleich eher wenigen Unterrichtsstunden pro Schuljahr) ebenso wie der Ruf nach mehr Ganztagesschulen und früherer und intensiverer Sprachförderung.9 Eine weitere nahezu allgegenwärtige Forderung betrifft die Vergrößerung des autonomen Handlungsspielraums der Schulen bzw. Schulleitungen. Diese wird als Voraussetzung für einen funktionierenden, leistungsfördernden Wettbewerb zwischen den Schulen verstanden. Sie wirft allerdings auch Probleme der demokratischen Steuerung, Verantwortung und Kontrolle auf, welche im folgenden Abschnitt näher behandelt werden. Zu den Leistungen von Schulen zu zählen sind nicht nur die von ihnen vermittelten Kenntnisse und Kompetenzen, sondern auch die Erziehung der heranwachsenden Generation und somit die Reproduktion von sozialen Werten und Normen. Die Diskussion darüber, ob das deutsche Schulwesen diese Leistung noch zur Genüge vollbringen kann, wurde im Frühjahr 2006 von den Ereignissen an der Berliner Rütli-Schule angefacht, die durch einen Hilferuf der Rektorin dieser Hauptschule in der Form eines Briefes an den Senat an die Öffentlichkeit gelangten. Dass es auch in einem bisher so wenig vermarktlichten Schul8 Die im Juli 2005 wegen des heraufziehenden Wahlkampfes früher als geplant veröffentlichten Ergebnisse der zweiten, 2003 durchgeführten PISA-E-Studie erbrachten keine grundlegend neuen Erkenntnisse. Alle Länder konnten leichte Leistungsverbesserungen verzeichnen, welche in Sachsen-Anhalt am stärksten ausfielen (Deutsches PISAKonsortium 2005). 9 Beigetragen zur Herausbildung dieses Konsenses haben auch die Empfehlungen des Forum Bildung (Forum Bildung 2001), eines auf Initiative der Bundesbildungsministerin von 1999 bis 2002 aktiven Beratungsgremiums, in dem Vertreter der Kultus- und Wissenschaftsministerien, der Sozialpartner, der Wissenschaft, der Kirchen sowie von Schüler-, Studierenden-, Eltern- und Lehrerverbänden mitarbeiteten.

26

Frieder Wolf

system wie dem deutschen zu den aus dem angelsächsischen Raum bekannten Qualitätsspiralen bei der Schul- bzw. Wohnortwahl kommen kann, verdeutlichen in diesem Zusammenhang die Äußerungen von Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit, wonach er seine (bisher nicht vorhandenen) Kinder nicht gerne in Kreuzberg einschulen würde: „Ich kann auch jeden verstehen, der sagt, dass er da seine Kinder nicht hinschickt“ (Tagesspiegel vom 07.12.2006). Es sei selbstverständlich, dass Eltern für ihre Kinder das Beste zu haben versuchten.

2.3 Demokratie Probleme demokratischer Mitwirkung, Kontrolle und Verantwortung stellen sich in allen Politikbereichen. In der Schulpolitik sind sie in zweierlei Hinsicht besonders von Belang: Zum einen wurde häufig eine Übermacht der Kultusverwaltungen im schulpolitischen Tagesgeschäft beklagt, die zu Lasten des Einflusses der Landtage gehe. Das Bundesverfassungsgericht hat deren Rechte mit der Anwendung der Wesentlichkeitstheorie, wonach für alle wesentlichen Beschlüsse ein Parlamentsvorbehalt gilt, in verschiedenen Urteilen, etwa zur Gestaltung der Förder- und der gymnasialen Oberstufe, den Bedingungen für leistungsbedingte und disziplinarische Schulentlassungen sowie zum Sexualkundeunterricht, gestärkt, die Bestimmtheitsanforderungen dabei aber moderat formuliert (vgl. Staupe 1985: 338ff.).10 In der Praxis folgte aus diesem Urteil aus der Sicht von Kritikern allerdings eine „Entwicklung zu einer Bürokratisierung des Schulwesens, zu einer tendenziellen Justizialisierung der Schulpolitik“ (Hepp 2006: 246), welche eher die dritte als die erste Gewalt mächtiger gemacht habe. Zum anderen wirft der Trend zur größeren Schulautonomie11 und mehr Wettbewerb zwischen den Schulen die Frage auf, wer über Bildungsinhalte und die Art und Weise ihrer Vermittlung in einer demokratischen Gesellschaft entscheiden soll. Befürworter der diesbezüglichen Gestaltungsfreiheit für die einzelne Schule haben neben der bildungsökonomischen Erwartung der daraus resultierenden Leistungssteigerung je nach Partizipation von Lehrern, Eltern und kommunalen Instanzen basisdemokratische Argumente auf ihrer Seite. Der ‚Aktionsrat Bildung’, eine Gruppe von durch die bayerische Wirtschaft beauftragten prominenten Professoren, der u.a. der deutsche PISA-Koordinator, Manfred Prenzel, und der Leiter des von Bertelsmann-Stiftung und Hochschulrektorenkonferenz getragenen Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), Detlef Müller-Böling, angehören, sieht in einer radikalen Autonomisierung und Privatisierung des Schulwesens unter Beibehaltung seiner öffentlichen Finanzierung nicht nur den Schlüssel zu besseren Leistungen, sondern auch einen Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit (Vereinigung der bayerischen Wirtschaft 2007: 145 u. 152f.). Kritiker können dagegen allerdings anführen, dass Bildung als meritorisches Gut eines gewissen Maßes an paternalistischen Vorgaben samt zentralisierten Versorgungsgarantien bedarf. Die Übertragung der Wettbewerbslogik auf den Schulbereich hat – ihre

10 Verneint hat das BVerfG den Parlamentsvorbehalt im Schulbereich dagegen z.B. in der Frage der Fünf-Tage-Woche. 11 Zu den rechtlichen Regelungen in zehn Bundesländern siehe Müller 2006: 128ff.

Die Schulpolitik – Kernbestand der Kulturhoheit

27

insgesamt leistungssteigernde Wirkung einmal mit angenommen – auch von ihren Verfechtern selten explizit angesprochene Kosten: „The fundamental problem with education markets is that they are designed so that some schools will fail. In allowing some schools to fail, policy makers are also allowing the students in these schools to fail. While the threat of failure may spur some schools to greater heights, if the possible cost of this policy is sacrificing the education of the students in the failing schools, then, in our view, the policy is morally unacceptable.“ (Lauder et al. 1999: 134) Die von Nullmeier (2000: 226) in der Hochschulpolitik nach der „bildungstheoretisch recht abstinenten Phase der Konstitution von Wettbewerb und Märkten“ erwartete „neue Bildungsdebatte“, in der es um die Identifikation der förderungswürdigen Bildungsgüter gehen werde, dürfte auch für den Schulbereich bevorstehen und auch die geeigneten Mechanismen demokratischer Mitwirkung, Kontrolle und Verantwortung sowie die angemessene Ebene, auf der diese zu verorten sind, betreffen. Empirisch ist festzustellen, dass bildungspolitische Themen die häufigsten Inhalte von Volksgesetzgebungsverfahren in den deutschen Bundesländern darstellen (siehe den Beitrag von Vatter/Eder/Magin in diesem Band). Die drei Themenblöcke Rechtschreibreform, Lernmittelfreiheit und Schul- bzw. Unterrichtsversorgung werden dabei mit Abstand am häufigsten angegangen, die Initiativen hierzu weisen jedoch eine noch geringere Erfolgsquote als die im Durchschnitt über alle Bildungsthemen hinweg ohnehin vergleichsweise geringe auf (ibid. u. Freitag/Vatter 2006).

3

Variations-Dimensionen und -Ursachen

Gerechtigkeit, Leistung und Demokratie sind Topoi der schulpolitischen Debatte, die sowohl zum Movens der Landespolitik werden als auch als Outcome derselben angesehen werden können. Bei der folgenden Betrachtung der Variation der Schulpolitiken der Länder schwingen sie daher in doppelter Weise mit. Gegliedert ist die Befassung mit dem PolicyOutput und seinen Ursachen nach Schulstrukturen, pädagogischer Grundausrichtung und Schulausgaben.

3.1 Schulstrukturen Einer der ältesten und am erbittertsten geführten Konflikte in der Landespolitik betrifft die Frage nach der angemessenen Schulstruktur in der Sekundarstufe und dem Übergang von der Grundschule auf die weiterführende(n) Schule(n). Schon vor der Gründung der Bundesrepublik wurden diesbezüglich in den neugegründeten Ländern bildungspolitische Weichen gestellt und Reformdebatten ausgetragen. Vor allem in Hessen und den Stadtstaaten wurden dabei reformpädagogische Ansätze aus der Weimarer Zeit wieder aufgegriffen. Während Linksparteien, Gewerkschaften und amerikanische Militärregierung für egalitäre

28

Frieder Wolf

Reformen eintraten, setzten sich Kirchen, CDU/CSU12, Universitäten und die organisierte Gymnasiallehrerschaft für eine Begrenzung höherer Bildung, ein gegliedertes Schulsystem, Konfessionsschulen und gegen Lernmittelfreiheit ein (vgl. Thränhardt 1990: 188f.). Während die Konfessionsschulen mit den Jahren dem modernisierten Zeitgeist zum Opfer fielen und die Lernmittelfreiheit sich für längere Zeit weitgehend etablieren konnte (siehe hierzu und zum jüngsten Gegentrend Abschnitt 3.3), entwickelte sich in Ländern mit häufigeren Regierungswechseln oft ein Hü und Hott der Schulstrukturen. Daraus erwuchs in den meisten Ländern der alten Bundesrepublik ein Nebeneinander von dreigliedrigem Schulsystem und (oft lediglich kooperativen) Gesamtschulen, das weitaus konstanter blieb als das Experimentierfeld der Klassenstufen 5 und 6, die bis zum heutigen Tag verschoben und differenziert bzw. integriert werden, jüngst etwa in gegensätzlicher Richtung in Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern (siehe Tabelle 1). Die ostdeutschen Länder Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen entwickelten in der Folge der Wiedervereinigung eine Innovation, die inzwischen nicht nur in den übrigen Ost-Ländern, sondern auch in Westdeutschland (in Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Schleswig-Holstein) Nachahmer gefunden hat: Dort wurden Haupt- und Realschule zu der neuen Schulart ‚Schule mit mehreren Bildungsgängen’ (in Sachsen Mittelschule, in Thüringen Regelschule und in Sachsen-Anhalt Sekundarschule genannt) zusammengefasst (vgl. Baumert et al. 2003: 70f.).13 Die Erosion der im Bundesdurchschnitt nur noch von rund einem Zehntel der Schüler besuchten Hauptschule in Kombination mit der demographischen Entwicklung und der im Namen der Bildungsgerechtigkeit erhobenen Forderung nach ihrer Abschaffung (vgl. etwa Vereinigung der bayerischen Wirtschaft 2007: 147) lässt erwarten, dass dieser Trend noch auf weitere Länder übergreifen wird.14 In Bayern, wo die Hauptschule mit fast 40% eines Jahrgangs den höchsten Schüleranteil und wohl auch noch das beste soziale Standing aufweist, ist die Landesregierung allerdings entschlossen, die Hauptschule zu stärken, durchgängig zur Ganztagesschule auszubauen und die Anschlussperspektiven bis hin zum Abitur zu verbessern. Das Abitur nach zwölf Schuljahren ist ebenfalls aus Ostdeutschland in den Westen diffundiert, wozu am stärksten der am internationalen Vergleich orientierte bildungsökonomische Diskurs (oder ökonomisierte Bildungsdiskurs), katalysiert durch den Bologna-Prozess (siehe Lanzendorf/Pasternack i.d.B.), beigetragen hat.

12 Wo im Folgenden der Einfachheit halber von der CDU oder CDU-regierten Ländern die Rede ist, ist die CSU bzw. Bayern mit gemeint. 13 In Brandenburg heißt sie ‚Oberschule’, in Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ‚Regionalschule’ und im Saarland ‚Erweiterte Realschule’. Genutzt wird sie in Rheinland-Pfalz ergänzend vor allem in ländlichen Gebieten, in den übrigen drei Ländern hat sie flächendeckend Haupt- und Realschulen ersetzt. In Hamburg geht auch die Gesamtschule in der ‚Stadtteilschule’ auf, die dann bis zum (13-jährigen) Abitur führen soll. 14 Längerfristig dürfte der Erfolg der fusionierten Haupt- und Realschule das Fortbestehen der Gesamtschulen gefährden, da sie diesen de facto vom Leistungsprofil her überall dort ähnelt, wo Gymnasien parallel existieren. Ein zweigliedriges Schulsystem aus Ersteren und Gymnasien bedient sowohl demographisch bedingte und pädagogische Integrationsforderungen als auch die Wünsche des Bildungsbürgertums, sodass es in vielen Fällen mehrheitsfähig sein dürfte. Proteste dagegen sind allerdings, wie in Schleswig-Holstein geschehen, vor allem von den Realschülern und ihren Eltern zu erwarten, die die Hauptlast dieses Kompromisses von Differenzierung und Integration tragen.

29

Die Schulpolitik – Kernbestand der Kulturhoheit Tabelle 1:

Strukturelle Parameter des Schulwesens in den Bundesländern Dauer der Grundschule1

Gliederung der Sekundarstufe

Schuljahre bis zum Abitur4

Studienberechtigtenquote (davon mit FH-Reife)

Anteil schulischer Verwaltungseinheiten mit Ganztagesbetrieb 2005

BW

4

dreigliedrig

12 (seit 2004)

44,0 (12,0)

13,4

BY

4 (/ 6)

dreigliedrig

12 (seit 2004)

34,0 (12,9)

18,5

BE

6 (-2)

BB

6

dreigliedrig + GS

12 (seit 2006)

44,7 (8,8)

68,0

zweigliedrig + GS

13

39,3 (8,4)

28,7

HB

4/6

zweigliedrig + GS

12 (seit 2004)

49,0 (15,0)

21,7

HH

4/6

zweigliedrig

12 (seit 2002)

45,4 (12,1)

36,0

HE

4 (+ 2)

dreigliedrig + GS

12 (seit 2005)

46,7 (17,5)

18,3

MV

4+2

zweigliedrig + GS

12 (seit 1999)

31,3 (5,1)

33,8

NI

4

dreigliedrig + GS

12 (seit 2004)

41,8 (14,1)

14,4

NW

4

dreigliedrig + GS

12 (seit 2005)

52,4 (21,6)

30,5

RP

4 (+ 2)

dreigliedrig + GS3

12,5

37,2 (10,4)

25,4

SL

4

zweigliedrig + GS

12 (seit 2001)

45,7 (22,6)

67,8

SN

4/6

zweigliedrig

12

36,8 (7,1)

72,4

ST

4+2

zweigliedrig + GS

12

35,0 (7,7)

21,9

SH

4 (+ 2)

zweigliedrig + GS2

13 (bis 2008)

38,3 (9,4)

29,5

TH

4/6

zweigliedrig + GS

12

38,9 (8,1)

70,0

2

2

Zahlen in Klammern stehen hier für parallel existierende optionale Formen, + 2 für eine gemeinsame zweijährige Orientierungsstufe, und /6 für eine Differenzierung zwischen Haupt- und Realschule bzw. den entsprechenden Abschlussarten erst ab Klassenstufe 7 (läuft in BY 2007 aus). Einige Gymnasien in BE und ST (hier in freier Trägerschaft) beginnen mit Stufe 5. 2 Zusammenlegungen sind beschlossen, aber noch nicht vollständig umgesetzt. 3 Parallel existieren auch zusammengelegte Haupt- und Realschulen. 4 An Gesamtschulen und an beruflichen oder Aufbau-Gymnasien i. d. R. 13 Jahre, an Modellversuchsschulen in BB auch 12 Jahre. Quelle: Diverse Dokumentationen der KMK, der Landeskultusministerien und des Statistischen Bundesamtes 1

Eine beträchtliche Variation zwischen den Schulsystemen der Bundesländer, von der anzunehmen ist, dass sie nicht von Unterschieden im Leistungsvermögen der Schüler verursacht ist, manifestiert sich in dem Anteil der Schulabgänger, die eine Studienberechtigung erreichen (siehe ebenfalls Tabelle 1). Er ist im Osten und in Bayern deutlich niedriger als im übrigen Westen und in SPD-geprägten Ländern deutlich höher als in meist unionsregierten (Korrelationskoeffizient mit dem durchschnittlichen SPD-Kabinettssitzanteil seit 1949 bzw. 1990: r = 0,54**; Korrelationen hier wie im folgenden im einfachen Querschnitt, N daher = 16). Spitzenreiter und das einzige Land, das mehr als die Hälfte eines jeden Jahrgangs zur verbrieften Hochschulreife führt, ist Nordrhein-Westfalen. Jedoch halten Lagemann/ Schmidt (2006: 79) dazu einschränkend fest:

30

Frieder Wolf „Allerdings verflüchtigt sich der egalitäre Impuls der nordrhein-westfälischen Bildungspolitik beim Übergang zur tertiären Bildungsstufe weitgehend. Ein hoher Anteil der Hochschulzugangsberechtigten, insbesondere mit Fachhochschulreife, verzichtet auf ein Studium.“

Der (in den ostdeutschen Ländern ganz besonders niedrige) Anteil der Schulabgänger mit Fachhochschulreife steht im Übrigen in keinem komplementären Verhältnis zur Abiturientenquote, sondern steigt und fällt parallel mit dieser (r = 0,76***). Überdurchschnittliche Studienberechtigtenquoten können auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden: Baden-Württemberg etwa führt ein Drittel seiner Abiturienten über berufliche Gymnasien, die vornehmlich von Realschulabgängern besucht werden, zur Hochschulreife. „In keinem anderen Bundesland erwirbt ein vergleichbar großer Anteil aller Abiturienten die Hochschulreife nicht an allgemein bildenden Gymnasien“ (Trautwein et al. 2004: 452). Der flächendeckende Einsatz dieses der seriellen Durchlässigkeit bzw. der „Entkopplung von Bildungsweg und Abschlusszertifikat“ (ibid.: 451) und damit der Chancengerechtigkeit des Schulsystems dienlichen Instruments stellt einen der Hauptunterschiede zum Nachbarland Bayern dar. Zudem fühlen sich seine Schüler „besser auf die Studienfachwahl vorbereitet als die Absolventen des allgemein bildenden Gymnasiums“ (ibid.: 464), was die der TOSCA-Studie zufolge schwächeren Mathematikleistungen zumindest zum Teil kompensieren sollte. Der Ausbau der Ganztagesschulen begann mit unterschiedlichem Tempo (siehe die letzte Spalte von Tabelle 1), wobei die Verteilung keines der sonst üblichen Muster aufzeigt. Signifikante bivariate Korrelationen ergeben sich nur für zwei der üblichen Verdächtigen aus dem in der Einleitung angesprochenen Theorienarsenal: Zum einen für die Steuereinnahmen nach Finanzausgleich pro Kopf (r = 0,5*), und zum anderen für den Anteil der Schüler an der Bevölkerung (r = -0,6*). Daraus könnte man den – vorläufigen – Schluss ziehen, dass diejenigen Länder, welche über höhere Finanzmittel je Bürger verfügten und in denen geringerer demographischer Nachfragedruck herrschte, Vorreiter beim Ausbau der Ganztagesschulen waren. Vermutlich fiel ihnen dies schlicht leichter. Die Statistikabteilung der KMK dokumentiert jährlich eine Vielzahl weiterer schulstruktureller Daten, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden kann. Zwei seien, jeweils für 2004 und die allgemeinbildenden Schulen, jedoch knapp angesprochen: Die Relation von Schülern zu Vollzeit-Lehrereinheiten (zu denen Teilzeitkräfte ggf. zusammengefasst werden) variiert bei einem Bundesschnitt von 16,0 zwischen 12,1 in Thüringen und 17,3 in Hessen und Nordrhein-Westfalen. Bei den wöchentlich erteilten Unterrichtsstunden je Schüler15 liegen der Durchschnitt bei 1,50 und die Extreme bei 1,38 in NordrheinWestfalen und 1,8 in Thüringen. Für diese beiden Indikatoren zeigt sich ein charakteristisches Verteilungsmuster: Die neuen Länder, die Stadtstaaten und Baden-Württemberg liegen jeweils auf der einen Seite des Durchschnitts – mit weniger Schülern je Lehrer und mehr Unterrichtsstunden je Schüler – und die übrigen Länder auf der anderen.16 15 Zur Berechnung dieses Indikators werden die Unterrichtsstunden durch die Schülerzahlen geteilt. 16 Eine Korrelationsanalyse der Determinanten der Variation der Unterrichtsstunden je Schüler und je Lehrer deutet auf interessante soziokulturelle Unterschiede und Parteieneffekte hin: Mit dem Katholikenanteil sind die Unterrichtsstunden je Lehrer positiv, diejenigen je Schüler negativ assoziiert. Unter CDU/CSU-Regierungen ist die Unterrichtsstundenzahl von Schülern und Lehrern tendenziell höher, unter SPD-Regierungen tendenziell niedriger. Mit FDPRegierungsbeteiligung sinkt die Zahl der Unterrichtsstunden je Schüler, mit derjenigen der Grünen dagegen die der Lehrer. Zu diesen Ergebnissen ist jedoch einschränkend zu erwähnen, dass alle Lehrkräfte mit dem gleichen Gewicht

Die Schulpolitik – Kernbestand der Kulturhoheit

31

Ein bis auf Weiteres leider recht stabiler Ost-West-Unterschied im Schulwesen schließlich betrifft die Bedeutung vollschulischer (und sonstiger außerbetrieblicher) Berufsbildungsangebote. Da das duale System der Berufsbildung in den neuen Ländern trotz weitgehender Übernahme der westdeutschen Strukturen und starker Subventionierung wegen der geringeren Leistungsfähigkeit der Wirtschaft bisher nicht mit vergleichbarem Erfolg etabliert werden konnte, beginnen dort auch fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung noch über vierzig Prozent der Schulabgänger allgemeinbildender Schulen eine derartige Berufsausbildung (BMBF 2006: 203).

3.2 Pädagogische Grundausrichtung Nachdem die schulpolitische Debatte in Deutschland rund zwei Jahrzehnte lang wenig dynamisch in den wohlbekannten Positionen verharrte, wirkten die Ergebnisse der Vergleichsstudien TIMSS und PISA wie ein Weckruf. Politiker auf allen Ebenen entfalteten, motiviert durch den öffentlichen Aufschrei, lange Zeit ungekannte reformerische Aktivität (und zuweilen auch Aktionismus), die manchen Beobachter geradezu euphorisch werden ließ: „Die Phase der bildungspolitischen Stagnation und Resignation in Deutschland scheint endgültig vorbei zu sein.“ (Massing 2003: 5) Die KMK beschloss als Reaktion auf den PISASchock, künftig regelmäßig Bildungsberichte vorzulegen (ein erstes Produkt dieses Beschlusses ist Avenarius et al. 2003) und nationale Bildungsstandards entwickeln zu lassen. Letztere hat sie mittlerweile nach und nach für die Abschlussklassenstufen in Primar- und Sekundarstufe verabschiedet, und zum Schuljahr 2005/2006 galten erstmals in ganz Deutschland einheitliche Regelstandards als erwarteter Leistungsmaßstab. Ob die bisher de facto nach Bundesländern und Schularten unterschiedlichen Leistungsanforderungen für gleichwertige Abschlüsse (vgl. hierzu Baumert et al. 2003: 96) dadurch konvergieren werden, wird allerdings erst die Anwendung der Standards in der Praxis zeigen. Definitiv einher geht mit der Einführung der Standards aber der Versuch, von der Input- zur Outputorientierten Steuerung des Schulsystems zu kommen (vgl. Klieme et al. 2003: 74). Monitoring und Evaluation17 sind die neuen, den schulischen Alltag ganz erheblich bestimmenden Schlagworte, und es ist in Mode, dass Schulen gleichen Typs ihre Unterschiedlichkeit durch Profilbildungsbemühungen betonen.18 Des Weiteren ergibt sich aus der Festlegung von Bildungsstandards in allen Bundesländern die Notwendigkeit zur Anpassung der Lehrpläne (ibid.: 74ff.). Diese hatten sich bisher – im Rahmen der KMK-Vereinbarungen – deutlich unterschieden und waren immer wieder heftig umstritten (vgl. etwa Friedburg 1989: 449ff. zur Debatte um die hessischen Rahmenrichtlinien). Auch hier ist es für eine Beurteilung der tatsächlichen Auswirkungen im Detail allerdings zu früh.

in die Analyse eingingen und sich daher unterschiedliche Teilzeitbeschäftigungsquoten verzerrend auswirken können (vgl. Wolf 2006a: 208ff.). 17 Dass die Evaluation der Performanz von Schulen implizit in vielerlei Hinsicht ein normativ aufgeladenes Unterfangen ist, stellt Koch 2004 dar. 18 Es dürfte interessant sein zu sehen, wie lange es dauert, bis wieder Forderungen nach größerer Input-Gleichheit laut werden, zumal dort, wo die Schulwahl geographisch bedingt stark eingeschränkt ist und daher de facto ein „Wettbewerb ohne Markt“ (Nullmeier 2000: 210) stattfindet.

32

Frieder Wolf

Verringert hat sich die schulpolitische Variation zwischen den Bundesländern durch die Post-PISA-Reformen auch in einigen anderen Bereichen: Das Zentralabitur, in Bayern, Baden-Württemberg und dem Saarland bei Landesgründung und in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Anfang der 1990er Jahre eingeführt, wurde zwischen 2004 und 2007 auch von allen anderen Ländern außer Rheinland-Pfalz übernommen bzw. beschlossen. Die Modalitäten unterscheiden sich allerdings zwischen den Ländern beträchtlich, etwa hinsichtlich der Fächer, die es abdeckt, der Themenauswahl und der Korrekturverfahren. Auch der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule ist inzwischen flächendeckend, allerdings wiederum in zahlreichen unterschiedlichen Modellen ausgestaltet. Maßgeblich beigetragen zur Durchsetzbarkeit der genannten Reformen hat, für den Schulbereich eher selten, ein internationaler Akteur: die OECD. Martens/Wolf (2006: 164ff.) zeichnen nach, wie sie im Laufe der 1980er Jahre aufgrund des Interesses einzelner Mitgliedstaaten – darunter nicht die Bundesrepublik – am Aufbrechen inländischer Reformblockaden ihre Aktivitäten im Bereich der Bewertung von Bildungsleistungen ausgebaut hat und mit diesen schließlich eine Wirkungsmacht erreichen konnte, die von einzelnen nationalen Regierungen nicht mehr nach ihren jeweiligen Wünschen zu steuern ist. Weiterhin fortbestehende Unterschiede in der pädagogischen Grundausrichtung der Schulpolitiken der Bundesländer manifestieren sich in der Wiederholer- und der Sonderschülerquote.19 Der Anteil derjenigen Schüler, deren schulische Laufbahn sich verzögert (Hauptursache dafür ist das Sitzenbleiben, eine Nebenrolle spielt die spätere Einschulung), variiert zwischen knapp über 20% in Brandenburg und Thüringen sowie über 40% in Bremen und Schleswig-Holstein. Diese enorme Bandbreite dürfte kaum in ähnlich großen Leistungsunterschieden, sondern in unterschiedlichen pädagogischen Grundhaltungen begründet liegen. Während sich die Länder auch in ihrem Muster der Häufigkeitsverteilung der Wiederholungen auf die verschiedenen Schulstufen deutlich unterscheiden (vgl. Konsortium Bildungsbericht 2006: 54ff.), lässt sich ein eindeutiger Ost-West-Unterschied (im Osten wird weniger wiederholt), aber keine Parteiendifferenz ausmachen. Des Weiteren deutet sich ein Konfessionsunterschied an: Während der Katholikenanteil mit der Verzögertenquote nullkorreliert ist (r = 0,03), ist die Assoziation mit dem Protestantenanteil hochsignifikant positiv (r = 0,78**). Durch mehr als einen Verweis auf das Klischee des im Vergleich zum lebensfrohen, vergebungsfreudigeren Katholizismus gestrengeren Protestantismus kann dieses Ergebnis hier allerdings nicht theoretisch plausibilisiert werden. Auch im Sonderschüleranteil, der zwischen knapp 3,2% im Saarland und 7,1% Prozent in Thüringen liegt20, spiegeln sich nicht vor allem regionalspezifische Begabungsprofile, sondern vielmehr schulpolitische Grundsatzentscheidungen. Die Korrelationen zwischen der Sonderschülerquote und sie potenziell erklärenden Variablen fallen in folgender Hinsicht bemerkenswert aus: Zum einen ist sie für alle Parteien außer der CDU negativ, für die Union hingegen positiv, was für einen Parteiendifferenzeffekt der Präferenzverteilung hinsichtlich mehr oder weniger integrativer Förderungsformen sprechen dürfte. Dahinter ste19 Auch in dieser Hinsicht gibt es eine Post-PISA-Mehrheitsmeinung (für Integration und gegen Wiederholungen), diese mündet bisher jedoch nicht in einer den oben geschilderten Entwicklungen vergleichbaren Konvergenz. 20 Ebenfalls unter vier Prozent liegt der Sonderschüleranteil in Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen, RheinlandPfalz und Schleswig-Holstein, über sechs Prozent dagegen in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern.

Die Schulpolitik – Kernbestand der Kulturhoheit

33

hen unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie man lernschwachen Kindern im Schulsystem am ehesten gerecht wird. Zum anderen handelt es sich beim Sonderschulbereich um einen Sektor des Bildungswesens, in dem die Ost-West-Unterschiede in den letzten Jahren zu- statt wie sonst zumeist abgenommen haben. Weshalb in den neuen Ländern ein größerer und zunehmender Anteil der Schüler an Sonderschulen unterrichtet wird, darüber kann hier allenfalls spekuliert werden – sowohl ein überproportionaler Ausbau eines in der DDR vernachlässigten Bereichs als auch eine selektiver leistungsorientierte pädagogische Grundstimmung könnten zu den Ursachen zählen. Die Benotung von Sozialverhalten und Mitarbeit hat, nachdem sie zwischenzeitlich nur in Baden-Württemberg nicht abgeschafft worden war, wieder weitere Verbreitung gefunden. Einerseits kann dies als Ausdruck des wieder konservativeren Bildungs-Zeitgeists und einer neuen Betonung der im Abschnitt 2.2 angesprochenen zweiten Leistungsdimension von Schule angesehen werden. Andererseits verweist ein Hauptvertreter des Ersteren nicht zu Unrecht darauf, dass gerade in ihrer Abwesenheit die Fachnoten oft zur Disziplinierung missbraucht wurden (Bueb 2006: 122; für eine Generalkritik von Buebs Thesen und ihrer öffentlichen Aufnahme vgl. Brumlik 2007).

3.3 Schulausgaben Aus der Höhe der finanziellen Aufwendungen eines Landes für den Schulbereich kann nicht direkt geschlossen werden, ob seine Schulpolitik gerecht oder leistungsförderlich ist. Sie können aber Aufschluss darüber geben, wie viel ihm seine Schulen im Vergleich zu anderen Aufgaben wert sind (Messgröße hierfür ist der Prozent-Anteil der Schulausgaben am Landeshaushalt), wie groß seine schulpolitischen Anstrengungen in Relation zu seiner wirtschaftlichen Leistungskraft sind (Messgröße: Schulausgabenquote am BIP in Prozent), welchen Absolutbetrag pro Einwohner er für die Schulen ausgibt (Messgröße: preiskorrigierte Schulausgaben pro Kopf), und nicht zuletzt darüber, wie das Land in diesen drei Maßen relativ zu den übrigen Ländern positioniert ist.21 Die folgende Tabelle 2 enthält die Werte aller sechzehn Bundesländer in den drei benannten Indikatoren für die Jahre 1992 und 2004.22 Bezüglich der Ausgaben der Stadtstaaten ist allerdings vorab eine Erläuterung vonnöten: Da die Stadtstaaten sowohl Kommunen als auch Bundesländer sind, erfüllen sie die Aufgaben dieser beiden Ebenen. Die Kommunen finanzieren als Schulträger etwa ein Fünftel der öffentlichen Bildungsausgaben in Deutschland. Aus diesem Grund sind Vergleiche zwischen den Bundesländern, die diesen Faktor nicht berücksichtigen, bezüglich der Stadtstaaten nach oben verzerrt. Deshalb wurden die Ausgaben der Stadtstaaten um ihren (fiktiven) Kommunalanteil bereinigt, indem sie um den Anteil der kommunalen Ausgaben an der Summe der Ausgaben der Länder und Kommunen in den Flächenländern im betreffenden Jahr nach unten korrigiert wurden.23 21 Zu damit zusammenhängenden föderalen Gerechtigkeitsfragen siehe auch Wolf 2007. 22 2004 ist das gegenwartsnächste Jahr, für das die Jahresrechnungsstatistik des Statistischen Bundesamtes vorliegt, und 1992 das erste Jahr, für das die Daten für die neuen Länder verlässlich sind. 23 Dabei wurden für Bremen und Hamburg die westdeutschen Flächenländer zugrunde gelegt, für Berlin alle Flächenländer.

34 Tabelle 2:

Frieder Wolf Die Schulausgaben der Bundesländer

Haushaltsanteil 2004

BIP-Quote 2004

Pro-Kopf-Ausgaben 2004

Baden-Württemberg

19,25

Sachsen-Anhalt

3,55

Sachsen-Anhalt

560

Nordrhein-Westfalen

17,95

Thüringen

3,08

Baden-Württemberg

495

Bayern

16,75

Mecklenburg-Vorp.

2,74

Thüringen

487

Hamburg

16,65

Sachsen

2,67

Hamburg

469

Niedersachsen

16,23

Brandenburg

2,34

Sachsen

432

Sachsen-Anhalt

15,79

Berlin

2,04

Mecklenburg-Vorp.

427

Rheinland-Pfalz

15,55

Baden-Württemberg

1,92

Nordrhein-Westfalen

421 406

Schleswig-Holstein

15,17

Niedersachsen

1,89

Bayern

Hessen

15,06

Rheinland-Pfalz

1,88

Berlin

405

Thüringen

14,16

Nordrhein-Westfalen

1,82

Bremen

402

Berlin

14,07

Schleswig-Holstein

1,77

Rheinland-Pfalz

393

Saarland

13,88

Saarland

1,69

Niedersachsen

391

Bremen

13,54

Bayern

1,50

Hessen

390

Sachsen

13,35

Hessen

1,36

Saarland

375

Mecklenburg-Vorp.

12,04

Bremen

1,27

Schleswig-Holstein

375

Brandenburg

11,28

Hamburg

1,18

Brandenburg

366

Ø

15,05

Ø

2,04

Ø

425

Haushaltsanteil 1992

BIP-Quote 1992

Pro-Kopf-Ausgaben 1992

Baden-Württemberg

17,71

Thüringen

5,18

Thüringen

538

Nordrhein-Westfalen

17,65

Sachsen-Anhalt

4,71

Sachsen-Anhalt

495

Bayern

17,24

Brandenburg

3,69

Bremen

487

Thüringen

16,43

Mecklenburg-Vorp.

3,46

Baden-Württemberg

473

Niedersachsen

15,77

Sachsen

3,40

Hamburg

435

Rheinland-Pfalz

15,27

Niedersachsen

2,01

Bayern

420

Hessen

15,08

Rheinland-Pfalz

1,93

Niedersachsen

423

Hamburg

14,66

Saarland

1,88

Nordrhein-Westfalen

414

Schleswig-Holstein

14,32

Berlin

1,86

Brandenburg

406

Bremen

14,22

Baden-Württemberg

1,84

Rheinland-Pfalz

405

Sachsen-Anhalt

13,68

Schleswig-Holstein

1,84

Berlin

400

Saarland

13,19

Nordrhein-Westfalen

1,77

Hessen

399

Berlin

11,42

Bayern

1,66

Saarland

396

Sachsen

10,99

Bremen

1,65

Schleswig-Holstein

390

Mecklenburg-Vorp.

10,48

Hessen

1,46

Sachsen

373

Brandenburg

10,47

Hamburg

1,17

Mecklenburg-Vorp.

371

Ø

14,29

Ø

2,47

Ø

427

Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis von Daten des Statistischen Bundesamtes und des AK VGR der Statistischen Landesämter

Die Schulpolitik – Kernbestand der Kulturhoheit

35

Bei allen drei Messgrößen ist die Spannweite der Werte bemerkenswert. Die Haushaltsanteile der Schulausgaben reichen 2004 von etwas über einem Zehntel bis zu knapp einem Fünftel der Landesbudgets. Im Durchschnitt nahmen sie seit 1992 von 14,29 auf 15,05% zu. In Relation zu allen anderen Haushaltsposten konnte die Schule also – trotz wachsender Zinslast – ihre Position stärken. Die Reihenfolge der Länder blieb dabei recht stabil: Sowohl 2004 als auch schon 1992 finden sich Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bayern an der Spitze dieser Tabelle und Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg am unteren Ende. Damit ist der Haushaltsanteil der einzige der drei Indikatoren, in dem der Durchschnitt der West-Länder (mit recht konstant über zweieinhalb Prozentpunkten Vorsprung) über demjenigen der östlichen liegt. Der Anteil der Schulausgaben am Bruttoinlandsprodukt dagegen war und ist in den neuen Ländern weitaus höher, hat sich allerdings im Laufe der 1990er Jahre von rund 2,6 auf etwa 1,3 Prozentpunkte reduziert. Zugleich ging der Durchschnittswert für alle Länder von 2,47% 1992 über 2,25% 1998 auf 2,04% im Jahre 2004 zurück. Die Bundesländer haben also insgesamt der Schulpolitik zwar ein stärkeres Gewicht innerhalb ihrer Haushalte gegeben, bemessen an der wirtschaftlichen Leistungskraft aber immer weniger in die schulische Bildung investiert und damit einen seit 1975 zu beobachtenden Trend (vgl. dazu Wolf 2006a: 140ff.) fortgesetzt. Sachsen-Anhalt hat jüngst den langjährigen BIP-Quoten-Spitzenreiter Thüringen überholt und weist nunmehr auch den Höchstwert bei den Pro-Kopf-Ausgaben auf. In dieser dritten Messgröße war in den 1990er Jahren ein leichter Aufwärtstrend zu verzeichnen, 2004 liegt der Durchschnittswert für alle Länder aber mit 425 wieder knapp unter dem Ausgangswert von 427 €. Obzwar der Ost-West-Unterschied sich hier anhand der Rangplätze am wenigsten eindeutig bemerkbar macht, ist er in dieser Messgröße stark von anfangs 12 auf 43 € angewachsen.24 Tabelle 3 enthält drei Regressionsmodelle zu den Bestimmungsfaktoren der Schulausgabenvariation, je eines für die drei Messgrößen. Der Beobachtungszeitraum beginnt hier erst 1998, da zuvor die wiedervereinigungsbedingten Sondereffekte recht groß sind und noch nicht alle interessierenden erklärenden Variablen in der gewünschten Datenqualität vorliegen. Aus diesen Modellen geht hervor, dass der Bevölkerungsanteil der jungen Altersgruppe von 6 bis 24 Jahren und der FDP-Kabinettssitzanteil25 auf alle drei Messgrößen einen positiven Einfluss haben, der Schuldenstand und der SPD-Kabinettssitzanteil des jeweiligen Landes dagegen einen negativen. Dass die Sozialdemokraten weit weniger bildungsausgabenfreundlich sind als die Liberalen mag auch mit den gegensätzlichen Präferenzen dieser beiden Parteien hinsichtlich anderer Felder der Staatstätigkeit, insbesondere der Sozialpolitik, zusammen hängen, durch die dann unterschiedlich große Spielräume für die Schulpolitik verbleiben. Das BIP pro Kopf weist bezüglich der Bildungsausgabenquote am BIP einen negativen Effekt auf, was verdeutlicht, dass mit steigender wirtschaftlicher Leistungskraft zwar absolut und relativ zum Gesamthaushalt mehr in die Schulen investiert wird, nicht aber auch ein proportional steigender Anteil an eben dieser höheren Leistungskraft. Steuereinnahmen und Kirchenmitgliederanteil schließlich weisen im ersten Modell (zum Haushaltsanteil) ein anderes Vorzeichen auf als in den beiden übrigen. Der erstgenannte Befund 24 Eine weitere Messgröße, in der die südlichen und östlichen Länder höhere Werte aufweisen, wären die Ausgaben pro Schüler. Für – allerdings nicht stadtstaatenkorrigierte – Daten hierzu siehe Lagemann/Schmidt 2006: 18. 25 Da sich parteipolitische Prägungen längerfristig auswirken, wurden bei allen Parteien die durchschnittlichen Kabinettssitzanteile seit Gründung des jeweiligen Landes verwendet.

36

Frieder Wolf

ist ähnlich dem hinsichtlich des BIP: Steigen die Einnahmen eines Landes, wird zwar absolut und in Relation zum BIP mehr für die Schulen ausgegeben, nicht aber ein steigender Haushaltsanteil. Die Schulausgaben sind also relativ zur Haushaltsentwicklung eher ein Fixum, das bei Einnahmeausfällen verschont wird, von Steigerungen aber nicht proportional profitiert. Der Kirchenmitgliederanteil wiederum steht für die größere Präferenz für staatliche Aktivitäten in säkularisierten Regionen bzw. eine gewisse mit der Kirchennähe einhergehende Staatsferne. Der positive Effekt auf den Haushaltsanteil der Schulausgaben indes zeugt davon, dass diese relativ zu anderen Bereichen der Staatstätigkeit in Ländern mit starker Kirchenbindung besser abschneidet. Tabelle 3:

Die Determinanten der Schulausgaben 1998-2004 Haushaltsanteil

BIP/Kopf

0,0002***

BIP-Quote 0,486

(0,00003) Ant. 6-24Jährige

(0,148)

Steuereinnahmen

(0,0004)

Schudenstand SPD-Kab. sitzanteil FDP-Kab. sitzanteil Kirchenmitgl.anteil Konstante R2 R

2korr

N

Pro-Kopf-Ausgaben

-0,00004***

-0,339

(8.56e-06)

0,237

0,139

0,096***

0,181

(0,026)

-0,002***

-0,338 -0,100

(0,0001)

0,061***

0,355

-0,011**

-0,156

-0,006***

0,252

0,045***

0,168

-0,010***

-0,214

(0,001)

0,156*** (0,046) (0,009)

0,032***

0,303

-0,009***

-0,361

-1,052***

-0,477

(0,214) 0,237

7,782***

-0,328

-1,235***

(0,009)

0,016*

0,331

(0,003)

-0,288

(0,008)

13,118***

(0,011)

(0.005)

-0,027***

0,583

(3,962)

(0,017)

-0,0001

0,005*** (0,0008)

0,547

(1,237)

0,002

-0,545

(0,229)

9,182** (3,760)

0,965 (0,789)

77,989 (100,911)

0,645***

0,882***

0,523***

0,622***

0,874***

0,491***

112

112

112

Es handelt sich jeweils um gepoolte Modelle. Im oberen linken Feld steht jeweils der partielle Regressionskoeffizient, darunter der Standardfehler und rechts der standardisierte partielle Regressionskoeffizient. * steht für ein Signifikanzniveau von 90%, ** für 95% und *** für 99%. Soweit notwendig wurden auch die erklärenden Variablen stadtstaatenkorrigiert. Die pekuniären erklärenden Variablen sind im Falle von Modell 2 und 3 wie die jeweilige abhängige Variable aufbereitet (also als Anteil am BIP bzw. als preiskorrigierte Pro-Kopf-Werte), im Falle von Modell 1 ebenfalls preiskorrigiert pro Kopf. Für eine ausführliche Theorie- und Methodendiskussion sowie Analyseergebnisse zu den gesamten Bildungs- und den Hochschulausgaben siehe Wolf 2006a u. 2007.

Aus zusätzlichen, hier aus Platzgründen nicht abgedruckten Modellen ergeben sich einige weitere erwähnenswerte Erkenntnisse: Erstens ist das Politikerbe bzw. sind die Ausgaben früherer Jahre die stärksten einzelnen Prognosegrößen für die jeweiligen Schulausgaben der Länder. Veränderungen sind in aller Regel kleinschrittig und kumulativ. Zweitens ist über-

Die Schulpolitik – Kernbestand der Kulturhoheit

37

raschenderweise der demographische Effekt weniger deutlich, wenn statt der Jugendquote der Schüleranteil an der Bevölkerung in die Modelle aufgenommen wird. Dies mag daran liegen, dass Letzterer in kürzeren Wellen variiert und die politischen Planungen stärker an Ersteren ausgerichtet sind. Drittens sind die Ergebnisse zur CDU-Regierungsbeteiligung nahezu spiegelbildlich zu denjenigen für die SPD, die Effekte also positiv. Viertens ergeben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den (im Vorzeichen mit dem Kirchenmitgliederanteil jeweils identischen, von der Substanz aber deutlich schwächeren) Effekten der Bevölkerungsanteile von Katholiken und Protestanten. Fünftens geht ein höherer Beamtenanteil im Schulbereich mit geringeren Schulausgaben einher. Dies ist allerdings großteils ein statistischer Effekt, der darauf beruht, dass die Pensions- und Beihilfeleistungen für Beamte von den Ländern und statistischen Ämtern nicht dem Bildungsbereich zugerechnet werden, sondern unter ‚Allgemeine Finanzwirtschaft’ verbucht werden.26 Sechstens hat der Finanzausgleichssaldo einen positiven Effekt auf die Schulausgabenquote und die Pro-Kopf-Schulausgaben, nicht aber auf den Haushaltsanteil, und siebtens finden sich für alle drei Messgrößen schwache Hinweise auf eine Programmkonkurrenz zur Politik der Inneren Sicherheit (bzw. den Ausgaben dafür) sowie für die Pro-Kopf-Ausgaben und die Haushaltsanteile hochsignifikante Konkurrenzeffekte zur Landessozialpolitik. Fallstudien zum Schulausgabeverhalten der Bundesländer (Ausführlicheres darüber in Wolf 2006a) können demonstrieren, wie sich unterhalb der Aggregatdatenebene zum einen bei Einzelthemen ähnliche Trends über die Länder hinweg auswirken und zum anderen Sonderfaktoren die relative Position einzelner Länder zu erklären helfen können. Ein Bereich, in dem in den letzten Jahren in mehreren Ländern Sparmaßnahmen ergriffen wurden, ist die Lernmittelfreiheit. So besteht in Niedersachsen (wo sie erst 1990 eingeführt und schon von der Regierung Schröder wieder eingeschränkt worden war) seit 2004 die Wahl zwischen dem Kauf der Schulbücher und einer ‚entgeltlichen Lernmittelausleihe’, für die pro Kind durchschnittlich 37 € im Schuljahr zu zahlen ist (Presseerklärung des Niedersächsischen Kultusministeriums vom 26.10.2004). Ähnliche Kostenbeteiligungsregelungen existieren in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Thüringen. Das Saarland und RheinlandPfalz hatten die allgemeine Lernmittelfreiheit gleich gar nie eingeführt (und waren damit 1991 noch die Ausnahme). Auch in Bremen wird ab 2007 eine Elternbeteiligung an den Lernmittelkosten eingeführt (Presseerklärung des Senats vom 24.06.2005), und in weiteren Ländern gibt es entsprechende Pläne. Nur noch in Baden-Württemberg, Hessen, SchleswigHolstein und Sachsen besteht die traditionelle Lernmittelfreiheit, aber auch hier gibt es Debatten über ihre Ausgestaltung, z.B. hinsichtlich der Geringfügigkeitsgrenze, unterhalb derer der Staat die Kosten dann doch nicht trägt. In Bayern wurde an dem zum Schuljahr 2005/06 eingeführten Büchergeld in Höhe von 40 € an weiterführenden Schulen besonders das datenschutzrechtlich fragwürdige Verfahren kritisiert, das einkommensschwache Eltern verpflichtet, „für Befreiungsanträge zum Büchergeld den Lehrkräften ihrer Kinder Nachweise über ihre Bedürftigkeit, z.B. Sozialhilfebescheide, vorzulegen“ (Presseerklärung des Bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz vom 11.11.2005). Hier führen – vom

26 Alle übrigen Analysen stehen daher unter einem gewissen Vorbehalt. Eine Einbeziehung der im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung üblichen Zuschläge von 7,5% auf die Pensionen und Beihilfen verändert die Koeffizienten der einschlägigen Modelle allerdings lediglich ab der dritten Nachkommastelle.

38

Frieder Wolf

Finanzaufkommen her gar nicht so bedeutende – Sparmaßnahmen zu deutlichen Einschnitten in bislang gewohnte Freiheitsrechte. Ausgabensteigernde bzw. -senkende Sondereffekte zeigen die beiden folgenden Beispiele aus Thüringen und Brandenburg: Thüringen ist das einzige ostdeutsche Bundesland, das nach der Wiedervereinigung die Institution der Horte an Schulen beibehalten hat. Diese Betreuungseinrichtungen sind den Schulen angegliedert, und ihr Personal wird sowohl vom Land bezahlt als auch im Bildungshaushalt verbucht. Etwa zehn Prozent der überdurchschnittlichen Schulausgaben Thüringens werden durch diesen Sachverhalt erklärt. In Brandenburg wurden, anders als in den anderen Ostländern, nach der Wende keine Bedarfskündigungen im Schulbereich vollzogen, sondern es wurde stattdessen eine pauschale Teilzeitlösung (mit Anpassungsmöglichkeit an die regionale Schülerzahlenentwicklung) umgesetzt. Für die Schulausgaben des Landes bedeutete diese Regelung eine ungewöhnlich große Flexibilität. Daher überrascht es nicht, dass Brandenburg das einzige Bundesland ist, in dem die Personalausgaben im Schulbereich seit Mitte der 1990er Jahre bis zum Ende des Beobachtungszeitraums deutlich sanken (und zwar um knapp 15%).

4

Fazit

Wie im vorangegangenen Abschnitt festgestellt werden konnte, weist die Schulpolitik der Bundesländer eine bemerkenswerte Variation und in den jüngstvergangenen Jahren auch wieder eine erhebliche Dynamik auf. Fünf Faktoren zeichnen dafür in besonderer Weise verantwortlich: Parteipolitische und soziokulturelle, daneben auch ökonomische und demographische Unterschiede führen zu sehr verschiedenen schulpolitischen Profilen hinsichtlich struktureller Gestaltungsparameter, pädagogischer Ausrichtungen und nicht zuletzt auch der für das Schulwesen aufgewendeten finanziellen Ressourcen. So geben sozialdemokratisch regierte Länder weniger für das Schulsystem aus, führen aber mehr Schüler zur Hochschulreife. Regierungsbeteiligungen der FDP wirken sich dagegen positiv auf die Schulausgaben aus. Das Sitzenbleiben ist in den neuen Ländern weniger verbreitet, doch dafür ist die Sonderschülerquote dort höher. Mit höherem Katholikenanteil gehen niedrigere Unterrichtsstundenzahlen je Schüler einher, wohingegen die Quote der Schüler mit verzögerter Laufbahn stark positiv mit dem Protestantenanteil assoziiert ist. Eine höhere wirtschaftliche Leistungskraft wird nur unterproportional in die Schulen investiert, den ProKopf-Schulausgaben und ihrem Anteil am Gesamthaushalt des jeweiligen Landes kommt sie dagegen zu Gute, während die Schwäche der ostdeutschen Wirtschaft einen größeren Anteil der beruflichen Bildung vollschulischen bzw. vollstaatlichen Ausbildungswegen aufbürdet. Der positive Effekt des demographischen Nachfragedrucks auf die Schulausgaben ist indes enger mit der Jugendquote als mit der Bildungsbeteiligung selbst verbunden. In Reaktion auf die internationalen Leistungsvergleiche kam es nicht nur zu einer Diffusion des Zentralabiturs, sondern auch zu einem bundesweiten Versuch des Umstiegs von der Input- zur Outputsteuerung des Schulsystems bzw. seiner Leistungen, der auch die Vereinbarung von Bildungsstandards einschließt. Dritter und vierter Bestandteil einer gewissen Konvergenzentwicklung der Landesschulpolitiken sind der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule und die auf Initiative des Bundes hin ausgebaute Ganztagesbetreuung.

Die Schulpolitik – Kernbestand der Kulturhoheit

39

Im Ensemble der landespolitischen Felder nimmt die Schulpolitik eine besondere Rolle ein und ist doch zugleich typisch für den deutschen Föderalismus: Emotionalisiert und mit Identitätsfragen verwoben wie kaum ein zweiter Bereich steht sie im Spannungsfeld zwischen Wettbewerb und Koordination, Profilierung und Gleichwertigkeit. Angesichts der ständigen Herausforderung, ein zugleich leistungsfähiges, gerechtes und angemessen demokratisch rückgebundenes Schulsystem zu gestalten, dürfte die Landesschulpolitik auch in den kommenden Jahren spannend bleiben. Wenngleich Geld nicht das einzige Gestaltungsmittel ist, so hängen die Möglichkeiten der Länder doch stark von den zur Verfügung stehenden Ressourcen ab. Die finanzpolitischen Weichenstellungen der Föderalismusreform II werden daher ziemlich direkte Auswirkungen auf die Schulpolitik haben. Während bisher die einnahmeseitigen Restriktionen und Nivellierungen der Landeshaushalte (noch) größere Unterschiede, aber auch größere Anstrengungen verhinderten, würde eine wettbewerbsföderalere Finanzarchitektur diese vermutlich mit sich bringen. Unausgeschöpftes Potenzial zum wechselseitigen Policy-Learning besteht dagegen im Bereich der nicht-pekuniären Steuerungsmittel. Eine Vielfalt der Vorgehensweisen sollte hier nicht nur zum Anlass für fortgesetzte erhitzte Debatten genommen werden, sondern etwas gelassener auch als föderales Laboratorium begrüßt werden, das, sofern die Länder stärker bereit wären, voneinander zu lernen, ein Aktivum der deutschen Bundesstaatlichkeit darstellen könnte. Damit sei allerdings explizit nicht einem Verständnis von Bildungspolitik das Wort geredet, welches diese nur noch als die letzte verfügbare Form von Wirtschaftspolitik im Standortwettbewerb begreift.27 Vielmehr sollte sich die Lernbereitschaft auf alle schulpolitischen Problemfelder beziehen, also gerade auch auf Fragen der Gerechtigkeit und demokratischen Steuerung und Kontrolle.

Literatur Avenarius, Hermann/Ditton, Hartmut/Döbert, Hans/Klemm, Klaus/Klieme, Eckhard/Rürup, Mathias/Tenorth, Heinz-Elmar/Weishaupt, Horst/Weiß, Manfred, 2003: Bildungsbericht für Deutschland: Erste Befunde. Opladen. Baumert, Jürgen/Cortina, Kai S./Leschinsky, Achim, 2003: Grundlegende Entwicklungen und Strukturprobleme im allgemein bildenden Schulwesen, in: Cortina, Kai S./Baumert, Jürgen/Leschinsky, Achim/ Mayer, Karl Ulrich/Trommer, Luitgard (Hg.): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick. Ein Bericht des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Reinbek, 52-147. Brumlik, Micha (Hg.) 2007: Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernhard Bueb. Weinheim.

27 „Das neue Erwachen der Bildungsdiskussion hat mehrere Gründe: Einer dieser Gründe hängt mit der Verzweiflung der nationalstaatlichen Politik zusammen: Es ist keine echte Wirtschaftspolitik […] mehr möglich. Deshalb wird Wirtschaftspolitik auf dem Umweg über die Bildungspolitik gemacht. Die Bildungspolitik ist – gleichsam kompensatorisch für die Impotenz der ‚wirklichen’ Wirtschaftspolitik – geprägt von einer wirtschaftlichen Perspektive und von einer wirtschaftlichen Diktion. Bildungspolitiker äußern sich heute üblicherweise so, als wären sie Vertreter von Wirtschaftsförderungsinstitutionen: Es geht um den Standortwettbewerb, um praxisnahe Ausbildung, um forschende Zulieferarbeit für kompetitive Unternehmen. Das ist – in einer Wissensgesellschaft – nicht unrichtig. […] Falsch wird die Akzentuierung dann, wenn so getan wird, als sei das alles, was zum Thema ‚Bildung’ zu sagen wäre, und eine solche Einseitigkeit scheint das Signum der Zeit zu sein.“ (Prisching 2005: 19f.)

40

Frieder Wolf

Bueb, Bernhard, 2006: Lob der Disziplin. Berlin. Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2006: Berufsbildungsbericht 2006. BMBF: Berlin. Deutsches PISA-Konsortium, 2002: PISA 2000 – Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Opladen. Deutsches PISA-Konsortium, 2003: PISA 2000 – Ein differenzierter Blick auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland. Opladen. Deutsches PISA-Konsortium, 2004: PISA 2003. Der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland – Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs. Münster. Deutsches PISA-Konsortium, 2005: PISA 2003: Ergebnisse des zweiten Ländervergleichs. Zusammenfassung. veröffentlicht im Internet unter http://pisa.ipn.uni-kiel.de/PISA2003_E_Zusammenfassung. pdf (letzter Zugriff am 28.03.2007). Erk, Jan, 2003: Federal Germany and Its Non-Federal Society: Emergence of an All-German Educational Policy in a System of Exclusive Provincial Jurisdiction, in: Canadian Journal of Political Science 36:2, 295-317. Forum Bildung, 2001: Empfehlungen des Forum Bildung. Bonn: Arbeitsstab Forum Bildung in der Geschäftsstelle der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Freitag, Markus/Vatter, Adrian, 2006: Demokratiemuster in den deutschen Bundesländern und ihre politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen, unveröffentlichter Datensatz. Version Mai 2007. Universität Konstanz. Friedburg, Ludwig von, 1989: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt a. M. Hepp, Gerd F., 2006: Bildungspolitik als Länderpolitik, in: Schneider, Herbert/Wehling, Hans-Georg (Hg.): Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder. Wiesbaden, 240-269. Herwartz-Emden, Leonie, 2003: Einwandererkinder im deutschen Bildungswesen, in: Cortina, Kai S./Baumert, Jürgen/Leschinsky, Achim/Mayer, Karl Ulrich/Trommer, Luitgard (Hg.): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick. Ein Bericht des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Reinbek, 661-709. Katzenstein, Peter J., 1987: Policy and Politics in West Germany. The Growth of a Semi-Sovereign State. Philadelphia. Kersting, Wolfgang, 2004: Das Prinzip der Chancengerechtigkeit. Theoretische Voraussetzungen investiver Sozialstaatlichkeit, in: Vorgänge 43:4, 12-24. Klieme, Eckhard/Avenarius, Hermann/Blum, Werner/Döbrich, Peter/Gruber, Hans/Prenzel, Manfred/Reiss, Kristina/Riquarts, Kurt/Rost, Jürgen/Tenorth, Heinz-Elmar/Vollmer, Helmut, 2003: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Frankfurt a. M.: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung. Koch, Lutz, 2004: Normative Empirie, in: Heitger, Marian/Hügli, Anton/Koch, Lutz (Hg.): Kritik der Evaluation von Schulen und Universitäten. Würzburg, 39-55. Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006: Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld. Lagemann, Bernhard/Schmidt, Christoph M., 2006: Humankapital, Bildung und Ausbildung in Deutschland. Eine aktuelle Bestandsaufnahme auf Ebene der Bundesländer. Essen. Lauder, Hugh/Hughes, David/Watson, Sue/Waslander, Sietske/Thrupp, Martin/Strathdee, Rob/Simiyu, Ibrahim/ Dupuis, Ann/McGlinn, Jim/Hamlin, Jennie, 1999: Trading in Futures. Why Markets in Education Don’t Work. Buckingham (Philadelphia). Maier, Hans, 1998: Die Kultusministerkonferenz im föderalen System, in: KMK (Hg.): Einheit in der Vielfalt. 50 Jahre Kultusministerkonferenz 1948-1998. Neuwied, 21-33. Martens, Kerstin/Wolf, Klaus-Dieter, 2006: Paradoxien der Neuen Staatsräson. Die Internationalisierung der Bildungspolitik in der EU und der OECD, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 13:2, 145-176.

Die Schulpolitik – Kernbestand der Kulturhoheit

41

Massing, Peter (Hg.) 2003: Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Schwalbach/Taunus. Müller, Judith, 2006: Schulische Eigenverantwortung und staatliche Aufsicht. Eine Untersuchung der Möglichkeiten und Grenzen schulischer Eigenverantwortung unter Geltung des Grundgesetzes. Baden-Baden. Nullmeier, Frank, 2000: „Mehr Wettbewerb!“ Zur Marktkonstitution in der Hochschulpolitik, in: Czada, Roland/Lütz, Susanne (Hg.): Die politische Konstitution von Märkten. Wiesbaden, 209-227. Plünnecke, Axel, 2003: Bildungsreform in Deutschland. Eine Positionsbestimmung aus bildungsökonomischer Sicht. Köln. Plünnecke, Axel/Stettes, Oliver, 2005: Bildung in Deutschland. Ein Benchmarking der Bundesländer aus bildungsökonomischer Perspektive. Köln. Prisching, Manfred, 2005: Bildungstrends in Europa, in: Prisching, Manfred/Lenz, Werner/Hauser, Werner (Hg.): Bildung in Europa. Entwicklungsstand und Perspektiven. Wien, 19-32. Scharpf, Fritz W., 1985: Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift 26:4, 323-356. Scheller, Henrik, 2006: Der deutsche Bildungsföderalismus – zwischen Kulturhoheit der Länder und europäischer Harmonisierung, in: Vogel, Bernhard/Hrbek, Rudolf/Fischer, Thomas (Hg.): Halbzeitbilanz – Die Arbeitsergebnisse der deutschen Bundesstaatskommission im europäischen Vergleich. Baden-Baden, 30-47. Spitzer, Manfred, 2002: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg. Staupe, Jürgen, 1985: Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis. Zur „Wesentlichkeitstheorie“ und zur Reichweite legislativer Regelungskompetenz, insbesondere im Schulrecht. Berlin. Thränhardt, Dietrich, 1990: Bildungspolitik, in: Beyme, Klaus von/Schmidt, Manfred G. (Hg.): Politik in der Bundesrepublik. Opladen, 177-202. Trautwein, Ulrich/Köller, Olaf/Watermann, Rainer, 2004: Transformation des Sekundarschulsystems und akademische Karrieren – Zusammenfassung, Diskussion und ein Ausblick, in: Köller, Olaf/Watermann, Rainer/Trautwein, Ulrich/Lüdtke, Oliver (Hg.) : Wege zur Hochschulreife in Baden-Württemberg: TOSCA – eine Untersuchung an allgemein bildenden und beruflichen Gymnasien. Opladen, 451-471. Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (Hg.) 2007: Bildungsgerechtigkeit. Jahresgutachten des Aktionsrates Bildung. Wiesbaden. Wolf, Frieder, 2006a: Die Bildungsausgaben der Bundesländer im Vergleich. Welche Faktoren erklären ihre beträchtliche Variation? Münster. Wolf, Frieder, 2006b: Bildungspolitik: Föderale Vielfalt und gesamtstaatliche Vermittlung, in: Schmidt, Manfred G./Zohlnhöfer, Reimut (Hg.): Regieren in der Bundesrepublik Deutschland. Innen- und Außenpolitik seit 1949. Wiesbaden, 219-239. Wolf, Frieder, 2007: Die Bildungsausgaben der Bundesländer: Bestimmungsfaktoren und sozialpolitische Relevanz, in: Zeitschrift für Sozialreform 53:1, 31-56. Wolf, Frieder/Henkes, Christian, 2007: Die Bildungspolitik von 2002 bis 2005: Eine Misserfolgsgeschichte und ihre Ursachen, in Egle, Christoph/Zohlnhöfer, Reimut (Hg.): Das Ende des rot-grünen Projektes. Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002-2005. Wiesbaden, 355-378.

Landeshochschulpolitiken Ute Lanzendorf und Peer Pasternack

Die Hochschulpolitik stellt systematisch den Adapter zwischen Bildungs- und Forschungspolitik, also zwei unterschiedlichen Bereichen mit zentraler Bedeutung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung dar. Staatsrechtlich unterstehen die Hochschulen als Teil des Bildungswesens der Kulturhoheit der Länder, so dass Hochschulpolitik grundsätzlich eine Zuständigkeit der Länder darstellt. Die Kulturhoheit ist im Grundgesetz als Kern der Eigenstaatlichkeit der Länder verankert. Mit ihrer Festschreibung war die Vorstellung verknüpft, dass Bildungsangebote in Abhängigkeit historischer, sozioökonomischer, geografischer und kultureller Gegebenheiten eigenverantwortlich durch die Landesregierungen gestaltet und entwickelt werden sollten. Was zunächst eindeutig klingt, ist allerdings in Reaktion auf soziale und ökonomische Entwicklungen in den ersten Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik sehr differenziert ausgestaltet worden. Rasch wurde evident, dass sich die Landeshochschulpolitiken nicht nur an regionalem Entwicklungsbedarf orientieren können, sondern auch der Notwendigkeit bundesweit einheitlicher Standards Rechnung tragen müssen. Im Hochschulsektor kann generell von höherem bundesweitem Abstimmungsbedarf ausgegangen werden als z.B. im Schulbereich, da Studierende, Absolventen und Wissenschaftler mobiler sind als Schüler und Lehrer. Vor allem vier Gründe trugen dazu bei, dass es zu einer engen Verflechtung der Hochschulpolitiken auf horizontaler und vertikaler Ebene – der Länder untereinander bzw. zwischen Bund und Ländern – kam: ƒ ƒ ƒ ƒ

der hohe Stellenwert des Entwicklungsziels „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ bzw. die Erwartung an ein Mindestmaß der Gleichwertigkeit von Bildungschancen; das Streben nach bundesweiten Qualitätsstandards in der Hochschulbildung; der politische Wille, Mobilität im Hochschulsektor zu ermöglichen; und schließlich die sprunghaft steigende Nachfrage nach Studienplätzen ab den 1960er Jahren und der dadurch ausgelöste Investitionsbedarf, der die finanzielle Kraft der Länder überstieg, wohingegen sich der Bundeshaushalt damals günstig entwickelte.

Thieme (1986: 138) kommt zu dem Schluss, dass „in gewissem Umfang ein Kondominium“ von Bund und Ländern für die Hochschulen etabliert wurde. Es wurde auch vom Übergang von einem reinen zu einem kooperativen Kulturföderalismus gesprochen (Peisert/Framheim 1990: 7). Seit einigen Jahren entflechten sich nun die Beziehungen zwischen Bund und Ländern. Nachdem das Bundesverfassungsgericht 2004 und 2005 zweimal kurz hintereinander Klagen der unionsgeführten Länder gegen Novellen der Rahmengesetzgebung des Bundes

44

Ute Lanzendorf und Peer Pasternack

stattgegeben hatte (weil die Bundesregierung ihre Rahmengesetzgebungskompetenz überschritten habe), war die hochschulpolitische Rolle des Bundes stark geschwächt. Im Zuge der nach dem Regierungswechsel im Bund 2005 ausgehandelten Föderalismus-Reform wurden dann Planungen verabschiedet, um die Bundeszuständigkeiten für die Hochschulbildung in Zukunft stark zurückzufahren. Entsprechend der übergeordneten Fragestellung des vorliegenden Sammelbands sollen im Weiteren zwei Aspekte näher betrachtet werden: Zum einen ist den Unterschieden zwischen den Hochschulsektoren der Länder und zwischen den Landeshochschulpolitiken nachzugehen; zum anderen sollen mögliche Erklärungsansätze für spezifische Landeshochschulpolitiken erörtert werden. Das Thema der hochschulpolitischen Koordination zwischen den Ländern sowie zwischen Bund und Ländern wird dabei nicht vertieft.

1

Die Hochschullandschaften der Länder

Zu den öffentlichen Hochschulen zählen Universitäten, Pädagogische Hochschulen, Theologische Hochschulen, Kunsthochschulen, allgemeine Fachhochschulen und Verwaltungsfachhochschulen sowie einige Spezialhochschulen. Ihre bundesweite Zahl ist mit zuletzt 311 (2004) seit 1995 weitgehend stabil geblieben (vgl. Tab. 1).1 Knapp die Hälfte der öffentlichen Hochschulen in Deutschland konzentriert sich auf lediglich drei Länder: Baden-Württemberg (53 öffentliche Hochschulen, darunter 9 staatliche Universitäten2), Nordrhein-Westfalen (45/14) und Bayern (43/13). An den nordrhein-westfälischen Hochschulen sind im Ländervergleich mit Abstand die meisten Studierenden eingeschrieben (über ein Viertel der insgesamt rund zwei Mio. Studierenden in Deutschland). In Baden-Württemberg sind die Studierendenzahlen lediglich knapp halb so hoch (11% der Studierenden in Deutschland), so dass das Land bei den Studierendenzahlen knapp hinter Bayern nur an dritter Stelle der Länder steht. Eine zweite Gruppe aus wiederum drei Ländern (Niedersachsen, Hessen und Sachsen) unterhält jeweils knapp über 20 öffentliche Hochschulen (elf bzw. fünf staatliche Universitäten). In Sachsen ist die Zahl der Studierenden allerdings im Ländervergleich gering (nur rund 5% aller Studierenden in Deutschland). Die kleinsten Hochschulsysteme mit unter zehn öffentlichen Hochschulen weisen Bremen, das Saarland und Mecklenburg-Vorpommern auf. Diese Länder haben maximal zwei staatliche Universitäten. Die zwei verbleibenden Stadtstaaten Hamburg und Berlin verfügen über neun bzw. 16 Hochschulen, darunter zwei bzw. drei Universitäten. Berlin steht trotz einer geringen Zahl an Hochschulen im Ländervergleich hinter Hessen und Niedersachsen an sechster Stelle der Studierendenstatistik (7% der Studierenden in Deutschland). Die fünf verbleibenden Länder Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben zwischen zehn und 20 Hochschulen (von zwei bis sechs Universitäten). Vor allem in den ostdeutschen Bundesländern, aber auch in Bremen und in Rheinland-

1 Es gibt 267 staatliche Hochschulen und 44 Hochschulen in kirchlicher Trägerschaft. Hochschulen in kirchlicher Trägerschaft werden weitestgehend staatlich finanziert. 2 ohne Pädagogische, Theologische und Gesamthochschulen.

45

Landeshochschulpolitiken

Pfalz ist die Zahl der Studierenden zwischen 1995 und 2004 stark expandiert. In NordrheinWestfalen und im Saarland hingegen ist sie in diesem Zeitraum deutlich zurückgegangen. Tabelle 1:

Landeshochschulsysteme in Deutschland: Basisdaten Hochschulen

Gesamt1

FH

Land Jahr BB

BE

BW

BY

HB

HH

HE

MV

NI

NW

RP

SH

SL

Finanzierung

Flächenbezogene Studienplätze

lfd. Grundmittel (Mio. €)2)

Gesamt ohne Medizin

Studierende Medizin3)

Studierende davon gesamt

FH (%)

HZB aus anderem AuslänBundesland der (%)5) (%)4)

1995

11

5

191,4

11.971

-

19.486

23

49,3

5,8

2004

12

6

224,8

21.770

-

41.036

30

58,3

11,3

1995

15

6

1.327,9

76.890

9.842

142.855

13

53,5

11,6

2004

16

6

1.101,9

74.233

8.132

141.010

19

54,3

11,2

1995

55

25

1.699,0

129.425

13.515

228.702

22

33,3

6,2

2004

53

24

1.832,3

159.603

12.827

239.794

28

35,9

11,9

1995

39

18

1.744,3

116.125

13.995

247.084

22

28,1

4,3

2004

43

19

1.765,1

130.885

13.973

248.920

27

29,5

9,1

1995

5

2

131,7

12.273

-

26.183

31

53,7

3,8

2004

5

2

212,6

14.182

-

34.553

31

64,5

13,2

1995

9

2

487,4

34.742

3.989

68.867

22

52,4

4,8

2004

9

2

565,7

36.335

3.540

69.617

29

54,9

8,5

1995

22

6

922,0

69.253

9.320

153.763

26

40,8

5,3

2004

21

6

1.004,2

75.227

8.447

158.916

29

40,8

10,0

1995

7

3

223,1

11.979

2.341

19.085

23

38,9

3,1

2004

7

3

255,1

17.809

2.728

34.949

27

42,7

5,4

1995

24

10

920,6

91.729

7.448

158.758

20

37,0

3,9

2004

22

8

1.333,3

100.633

7.224

154.722

29

40,7

9,3

1995

46

14

2.548,3

201.570

19.786

519.368

19

27,8

4,7

2004

45

14

3.561,4

225.591

20.446

458.970

22

26,6

9,3

1995

20

9

412,1

44.590

3.901

80.691

27

53,4

5,5

2004

19

9

566,8

45.105

4.068

99.138

30

56,3

8,9

1995

11

5

322,0

21.005

3.930

46.072

39

43,0

3,1

2004

11

5

317,1

25.787

3.833

45.685

37

43,7

6,2

1995

6

2

164,7

13.099

2.077

23.174

14

46,6

7,7

2004

6

2

169,6

14.851

1.794

19.335

19

42,6

14,2

46

Ute Lanzendorf und Peer Pasternack Hochschulen

Gesamt1

FH

Land Jahr SN

ST

TH

Finanzierung

Flächenbezogene Studienplätze

lfd. Grundmittel (Mio. €)2)

Gesamt ohne Medizin

Studierende Medizin3)

Studierende davon gesamt

FH (%)

HZB aus anderem AuslänBundesland der (%)5) (%)4)

1995

20

8

709,0

50.251

3.819

67.231

25

37,7

4,6

2004

21

7

711,7

60.702

4.952

106.550

24

40,7

8,0

1995

11

4

343,5

20.908

2.336

27.299

28

36,6

3,1

2004

10

4

389,9

29.055

2.969

52.439

38

43,9

7,6

1995

12

3

308,6

12.707

1.792

27.497

23

37,1

3,1

2004

11

4

367,9

26.061

2.077

48.683

26

38,8

5,2

14.379,5

1.057.829

97.010

1.954.317

26

44,6

Summe / Durchschnitt 2004

311 121

9,6

Ohne private Hochschulen, jedoch inklusive der Hochschulen in kirchlicher Trägerschaft. FH des Bundes pro Bundesland, falls vorhanden, einmal gezählt. 2) Laufende Ausgaben minus Verwaltungseinnahmen und Drittmittel der Hochschulen, ohne Investitionsmittel. Incl. ca. 1% Ausgaben von privaten Hochschulträgern (Statistisches Bundesamt 2007). 3) Die Studienplätze in der Medizin werden vom Wissenschaftsrat nicht erfasst. Daher sind hier nachrichtlich die Studierendenzahlen (jeweils Wintersemester) der Medizinischen Fakultäten aufgeführt (vgl. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zum 35. Rahmenplan für den Hochschulbau, Kapitel A.I.2). Die Zahlen beinhalten auch Zahnmedizin und Gesundheitswissenschaften, soweit an medizinischen Fakultäten angeboten. 4) HZB = Hochschulzugangsberechtigung. Ab 2000 incl. sog. Bildungsinländer/innen (Studierende mit ausländischer Staatsbürgerschaft, die ihre HZB in Deutschland – jedoch nicht an einem Studienkolleg – erworben haben) 5) Bildungsausländer/innen (ausländische Studierende, die ihre Hochschulzugangsberechtigung im Ausland oder an einem Studienkolleg in Deutschland erworben haben). Quellen: Statistisches Bundesamt: Mikrozensus, Fachserie 1, Reihe 4.1.1; Fachserie 11, Reihen 4.1, 4.3 sowie Sonderauswertung; Statistische Ämter der Länder: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder (Mai 2007), Reihe 1, Bd. 5 Länderergebnisse; Wissenschaftsrat: Empfehlungen zum 26. (1995), 31. (2000) und 35. (2004) Rahmenplan für den Hochschulbau; eigene Berechnungen. 1)

Neben den stark unterschiedlichen Größen der Hochschulsysteme der Länder gibt es laut Tabelle 1 auch ausgeprägte strukturelle Besonderheiten: Bei den flächenbezogenen Studienplätzen3 sind innerhalb des betrachteten Jahrzehnts in acht Bundesländern deutliche Steigerungen zu beobachten: Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Schleswig-Holstein. Bei den fünf ostdeutschen Ländern, die sich darunter befinden, resultieren diese Studienplatzzuwächse aus dem einigungsbedingten Ausbau der Hochschulen. Lediglich drei westdeutsche Länder haben demnach ihre flächenbezogenen Studienplatzkapazitäten deutlich erweitert. Dem steht ein Land gegenüber, das deutlich reduziert hat: Berlin. 3 Dies ist eine kalkulatorische Größe, die der Wissenschaftsrat verwendet. Die aussagekräftigeren personalbezogenen Studienplätze werden nicht bundeseinheitlich erfasst.

Landeshochschulpolitiken

47

Deutliche Unterschiede finden sich auch beim Anteil der Fachhochschulstudierenden an allen Studentinnen und Studenten. Deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 26,4% liegen hier insbesondere kleinere Länder (Brandenburg, Bremen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt), aber auch Hessen. Sehr deutlich darunter liegen das Saarland und Berlin. In allen Ländern außer Bremen, Schleswig-Holstein und Sachsen gab es zwischen 1995 und 2004 Steigerungen des FH-Studierendenanteils. Über die innerdeutsche Mobilität zwischen den Ländern zu Studienzwecken – und damit z.T. auch über die Attraktivität der Hochschulen – geben die Anteile der Studierenden mit Hochschulzugangsberechtigung (HZB) eines anderen Bundeslandes Auskunft. Besonders viele auswärtige Studieninteressierte werden von den Stadtstaaten Bremen, Berlin und Hamburg sowie von Rheinland-Pfalz und Brandenburg aufgenommen. Die Stadtstaaten spielen dabei eine Sonderrolle, da große Städte grundsätzlich besonders viele auswärtige Studieninteressierte anziehen. Sehr unterdurchschnittlich sind die Anteile von Studierenden mit HZB aus einem anderen Land in Nordrhein-Westfalen und Bayern. Inwieweit einzelne Hochschulen bzw. ihre Standorte auch für nichtdeutsche Studierende attraktiv sind, lässt sich an dem Anteil ausländischer Studierender, die für ein Studium nach Deutschland gekommen sind (Bildungsausländer), an allen Studierenden ablesen. Insgesamt beträgt dieser Anteil in der Bundesrepublik knapp 10% (2004). Davon weichen Hamburg und das Saarland deutlich nach oben, die drei Länder Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Thüringen hingegen deutlich nach unten ab. Wenig verwundert zunächst, dass in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg die höchsten Beträge für die Hochschulfinanzierung aufgewendet werden. Allerdings gibt es beträchtliche Unterschiede bei den Steigerungsraten. Entgegen einer landläufigen Wahrnehmung hat sich die finanzielle Nominalausstattung der Hochschulen zwischen 1995 und 2004 in 14 Bundesländern verbessert, davon in acht Ländern erheblich. Nahmen von 1995 bis 2004 die an den Hochschulen verausgabten Grundmittel in Bayern um lediglich 1,2% zu, so waren dies in Nordrhein-Westfalen 28,5%. Deutliche Zuwächse weisen im gleichen Zeitraum auch einige mittelgroße und kleine Länder auf: Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Eine Auswertung, welche die Leistungsdaten der Hochschulen ins Verhältnis zu sozioökonomischen Referenzgrößen setzt, ergibt weitere Aufschlüsse (siehe Tabelle 2): Die Hochschulfinanzierung pro Kopf der Bevölkerung ist in den drei Stadtstaaten und daneben in Nordrhein-Westfalen stark überdurchschnittlich. Deutlich unterdurchschnittlich ist sie hingegen in Bayern sowie Mecklenburg-Vorpommern, und einen extrem unterdurchschnittlichen Wert erreicht Brandenburg mit lediglich 50% des gesamtdeutschen Mittels. Dabei fällt insbesondere Bayern auf, da es aufgrund seiner wirtschaftlichen Leistungskraft (nach Nordrhein-Westfalen zweiter Platz bundesweit beim Bruttoinlandsprodukt, BIP) einen besonders hohen Bedarf an Hochqualifizierten hat. Diese müssen dann zu großen Teilen von außerhalb angeworben werden, so dass Bayern seinen Akademikerbedarf großteils durch finanzielle Ausbildungsanstrengungen anderer Bundesländer decken lässt. Indem der Anteil der Hochschulaufwendungen am Bruttoinlandsprodukt berechnet wird, lässt sich die Hochschulfinanzierung ins Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistungskraft des jeweiligen Bundeslandes setzen. Dabei zeigt sich, dass Berlin und Bremen als Stadtstaaten sowie die (ostdeutschen) Flächenländer Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-

48

Ute Lanzendorf und Peer Pasternack

Anhalt und Thüringen deutlich überdurchschnittliche Anteile der Hochschulaufwendungen am BIP aufweisen. Tabelle 2:

Landeshochschulsysteme in Deutschland: Daten in Relation zu sozioökonomischen Aspekten (2004) Sozioökonomische Referenzdaten Bruttoinlandsprodukt (Mio €)

Hochschulfinanzierung (lfd. Grundmittel) Pro Kopf der Bevölkerung (€)

Anteil am BIP (%)

Studierende

Land

Einwohner (Tsd)

je Tsd Einwohner

Betreuungsrelation1)

BB

2.569

48.326

88

0,47

16

51,5

BE

3.387

78.301

325

1,41

42

56,1

BW

10.694

318.282

171

0,58

22

45,4

BY

12.420

393.175

142

0,45

20

46,9

HB

663

24.101

321

0,88

52

49,8

HH

1.737

80.834

326

0,70

40

44,7

HE

6.088

198.370

165

0,51

26

50,6

MV

1.729

31.815

148

0,80

20

41,8

NI

7.991

186.499

167

0,71

19

48,5

NW

18.070

479.445

197

0,74

25

59,7

RP

4.057

96.497

140

0,59

24

58,4

SH

2.824

67.811

112

0,47

16

49,0

SL

1.060

26.391

160

0,64

18

47,6

SN

4.315

85.429

165

0,83

25

48,1

ST

2.517

47.446

155

0,82

21

47,0

TH

2.369

44.476

155

0,83

21

45,5

Summe / Durchschnitt

82.491

2.207.200

174

0,65

24

51,1

1) quantitatives Verhältnis Studierende je Professor/in Quellen: Statistisches Bundesamt: Mikrozensus, Fachserie 1, Reihe 4.1.1; Fachserie 11, Reihen 4.1 (Berichte und Vorberichte), 4.3 sowie Sonderauswertung; Statistische Ämter der Länder: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder (Mai 2007), Reihe 1, Bd. 5 Länderergebnisse; Statistisches Bundesamt: Fachserie 11, Reihe 4.4 und Sonderauswertung

Die hohen Werte der ostdeutschen Länder (außer Brandenburg) resultieren aus dem dort insgesamt geringen BIP, zeigen aber auch, dass trotz eingeschränkter ökonomischer Leistungskraft prägnante politische Schwerpunkte in der finanziellen Ausstattung ihrer Hoch-

Landeshochschulpolitiken

49

schulen gesetzt werden. Deutlich unterdurchschnittliche Anteile der Hochschulaufwendungen am BIP sind für Bayern, Brandenburg und Schleswig-Holstein zu konstatieren.4 Die Zahl der Studierenden in Relation zur Einwohnerzahl ist besonders hoch in den drei Stadtstaaten, was durch die oben beschriebene starke Zuwanderung von Studieninteressenten aus anderen (umliegenden) Bundesländern zu erklären ist. Deutlich unterdurchschnittlich ist sie in Brandenburg, Niedersachsen, im Saarland und in Schleswig-Holstein. Die Betreuungsrelation, also das Verhältnis von Studierenden zu Professoren, ist sehr gut in Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen. Dagegen müssen besonders viele Studierende je Professor/in in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz betreut werden. Neben der in den Ländern zum Teil von einander abweichenden Hochschulstruktur, der differenzierten ökonomischen Leistungskraft der Länder und ihren unterschiedlich intensiven Hochschulfinanzierungsanstrengungen bestimmen vor allem die Hochschulreformaktivitäten das Bild von der jeweiligen Landeshochschulpolitik. Dazu nun im Weiteren.

2

Hochschulreform im Ländervergleich

2.1 Hochschulreform als Mehrebenen-Prozess Wie bereits in der Einleitung angeklungen ist, stellt sich die Gestaltung des Hochschulwesens realpolitisch als ein Mehrebenen-Prozess dar, innerhalb dessen jeder Ebene typische Handlungsfelder zugeordnet werden können. Die unterste Ebene im hochschulpolitischen Mehrebenen-Prozess bilden die Hochschulen. Ihre Autonomie konkretisiert sich in der Hochschulselbstverwaltung, die insbesondere die Grundordnungsgewalt und die Kompetenz zur Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben in Zusammenhang mit Forschung und Lehre beinhaltet. Diese so genannte akademische Selbstverwaltung steht lediglich unter einer allgemeinen Rechtsaufsicht der Länder. In Bereichen, in denen die Hochschulen staatliche Aufgaben erfüllen – vor allem in der Personal-, Wirtschafts- und Haushaltsverwaltung – haben die Länder allerdings eine relativ weitgehende Aufsichtsfunktion (Fachaufsicht). Über der Ebene der einzelnen Hochschulen wirkt die Landespolitik. Sie bestimmt vorrangig den gesetzlichen und finanziellen Rahmen des Hochschulsektors (vgl. z.B. Geis 1992). Daneben planen die Länder im Rahmen der Struktur- und Entwicklungsplanung hochschulische Standorte, Fächerausstattungen und bauliche Infrastrukturen. Bis in die achtziger Jahre konzentrierte sich die Hochschulplanung auf die Abstimmung von Studiennachfrage und Absolventenbedarf. Später schwenkte der Fokus auf die Definition von profil bildenden Schwerpunkten, vor allem in der Forschung, und Vernetzung. Eine Konsolidierungsplanung löste die frühe Ausbauplanung ab, und die Zielsetzung einer Optimierung der Ressourcennutzung gewann an Bedeutung (Oehler 2000: 251). Aktuell reformieren die Länder ihr bisheriges Steuerungsmodell für die Hochschulen und entscheiden über die Einführung von Studiengebühren. 4 Zu den Gründen für die Unterschiede in den Landeshochschulausgaben vgl. Wolf 2007: 35ff.

50

Ute Lanzendorf und Peer Pasternack

Bereits vor der Gründung der Bundesrepublik hatten sich die Länder darauf geeinigt, überregional relevante Aspekte ihrer Bildungspolitiken untereinander abzustimmen (horizontale Verflechtung). Zu diesem Zweck wurde 1948 per Staatsvertrag die Kultusministerkonferenz (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, KMK) ins Leben gerufen. Die Länder koordinieren ihre Politik insbesondere in Fragen der Gleichwertigkeit von Studienleistungen und -abschlüssen sowie des Studienzugangs und internationaler Belange (vgl. z.B. Fränz/Schulz-Hardt 1998, Zehetmair 1998). Die selbst auferlegte Bedingung einer einstimmigen Beschlussfassung der Länder im Rahmen der KMK ist häufig kritisiert worden, da sie gemeinsame bildungspolitische Entwicklungen schwerfällig gemacht und auch Innovationen einzelner Länder behindert habe. Im Jahr 2004 suchte Niedersachsen ein politisches Zeichen zu setzen, als es mit dem Argument aus dem KMK-Staatsvertrag austrat, die gewachsenen Strukturen der KMK seien zu bürokratielastig und innovationsfeindlich. Dieser Schritt initiierte eine umfassende Reform von Inhalten und Verfahren der KMK-Arbeit (KMK 2005a, 2005b und 2005c). Ergänzend zur Koordination der Landeshochschulpolitiken im Rahmen der KMK ist in den späten 1960er Jahren der Bund in die Hochschulpolitik eingebunden worden (vertikale Verflechtung). Die zunehmende regionale Uneinheitlichkeit des Hochschulsystems wurde als gesamtstaatliches Entwicklungshemmnis betrachtet. Sie schien der zu dieser Zeit als dringlich erachteten Technologie- und Exportförderung entgegen zu stehen (Müller 1982: 188f.). Da zusätzlich die Studiennachfrage stark anstieg und auf Länderebene nur begrenzte finanzielle Ressourcen verfügbar waren, wurde das Grundgesetz 1969 dahingehend geändert, dass der Bund in die Finanzierung des Hochschulsektors und die Entwicklung seiner allgemeinen Strukturen (Rahmengesetzgebungskompetenz) eingebunden wurde (zu den wichtigsten Themen der Bundespolitik Teichler 2006). Das Hochschulrahmengesetz gibt bis 2008 Grundstrukturen für das bundesweite Hochschulwesen vor. Daneben beteiligt sich der Bund finanziell an Forschungseinrichtungen und -vorhaben von überregionaler Bedeutung, sowie, allerdings derzeit auslaufend, am Hochschulbau, sofern entsprechende Länderprojekte einer rahmenplanerischen Begutachtung standhalten (hierzu z.B. Faber et al. 1997). Auch die Europäische Kommission wirkt auf die Entwicklung des Hochschulsektors ein. Im Rahmen des Maastrichter Vertrags erhielt sie 1992 eine Zuständigkeit für die Durchführung von Maßnahmen der internationalen Kooperation und Mobilität in der allgemeinen und beruflichen Bildung. Artikel 126 Maastrichter Vertrag eröffnet die Möglichkeit der Förderung der „europäischen Dimension im Bildungswesen“, etwa über die Förderung von Mobilität oder Fremdsprachenvermittlung.5 Die Verantwortung für „die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungswesens“ (Art. 126 Maastrichter Vertrag) liegt allerdings weiterhin voll bei den Mitgliedsstaaten. Die Europäische Kommission kann lediglich im Rahmen von strategischen Förderprogrammen zusätzliche Finanzmittel zur Verfügung stellen.6 Schließlich wird die Hochschulentwicklung in Deutschland seit ca. zehn Jahren politisch auch durch zwischenstaatliche Initiativen jenseits des EU-Institutionengefüges geprägt – 5 In Verbindung mit der Ratifizierung des Maastricht-Vertrags in Deutschland wurde vereinbart, dass die Vertretungs- und Mitwirkungsrechte der deutschen Länder auf europäischer Ebene durch den Bundesrat ausgeübt werden. 6 vgl. als frühes Strategiepapier das EU-Memorandum zur Hochschulpolitik (Europäische Kommission 1993) oder als jüngeres die EU-Kommissionsmitteilung „Forscher im europäischen Forschungsraum“ (Europäische Kommission 2003).

Landeshochschulpolitiken

51

insbesondere durch den Bologna-Prozess zur Schaffung eines europäischen Hochschulraums mit kompatiblen Studienstrukturen und vergleichbaren Abschlüssen (Bachelor und Master). Er wurde durch eine Vereinbarung der Bildungsminister von vier europäischen Staaten 1998 initiiert (Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien). 29 Länder unterzeichneten im Folgejahr die so genannte Bologna-Erklärung, und mittlerweile ist die Zahl der teilnehmenden Staaten auf 46 (Stand: Mai 2007) gewachsen, unter ihnen beispielsweise auch Russland. Für Deutschland haben Bund und Länder gemeinsam die Bologna-Erklärung unterschrieben. Die Umsetzung dieser zwischenstaatlichen Initiative erfolgt in Deutschland über die Rahmengesetzgebung des Bundes. Aus diesem Grund entfaltet sie eine hohe strukturelle Durchschlagskraft, die von EU-Initiativen in der Regel nicht erreicht werden kann. Während zum Beispiel die Einführung von Bachelor- und Master-Abschlüssen weitgehend in Abstimmung der Länder untereinander bzw. von den Hochschulen selber gesteuert erfolgt, setzen die Landesregierungen bei der Reform der Hochschulsteuerung und der Einführung von Studiengebühren jeweils spezifische Akzente. Vor diesem Hintergrund wurden die beiden genannten Handlungsfelder für einen exemplarischen Vergleich der Landeshochschulpolitiken ausgewählt.

2.2 Neue Steuerungsverfahren Bereits seit den 1990er Jahren reformieren die Länder das Verhältnis zu ihren Hochschulen unter der Zielsetzung, bürokratische Strukturen durch ein neues Steuerungsmodell abzulösen, das sich stark an Prinzipien des New Public Management orientiert (vgl. zu den frühen Diskussionen z.B. Hödl/Zegelin 1999). Die Länder positionieren sich innerhalb des Spannungsfelds zwischen staatlicher Verantwortung für die öffentliche Daseinsvorsorge einerseits und Hochschulautonomie bzw. hochschulischer Selbstverantwortung andererseits neu. Zunächst geschah dies in Form von Pilotprojekten, und 1998 setzte eine Novelle des Hochschulrahmengesetzes (HRG) dem entsprechenden Prozess einen bundesweiten Rahmen. Durch die Reform der Hochschulsteuerung wird den Hochschulen neuer institutioneller Handlungsspielraum gewährt, mit Hilfe dessen sie die Voraussetzungen für Leistungssteigerungen in Forschung und Lehre schaffen sollen. Parallel hierzu wird von Länderseite allerdings auch der Leistungswettbewerb unter den Hochschulen verstärkt. Zugleich verzichten die Länder darauf, diese Prozesse mit einer aufwandsdeckenden Finanzierung der Hochschulen zu verbinden. Die Umsetzung der Reformen erfolgt schrittweise, so dass der Reformprozess 2007 noch nicht als abgeschlossen angesehen werden kann. Im Folgenden werden zunächst die aus der Reform hervorgegangenen neuen Hochschulsteuerungs- und -finanzierungsmechanismen ländervergleichend betrachtet. In einem weiteren Schritt wird anschließend ein gesonderter Blick auf die Neuregelungen in Bezug auf das Dienstrecht für Professoren und personalbezogene Kompetenzen der Hochschulen geworfen.

52

Ute Lanzendorf und Peer Pasternack

Im Bereich der Hochschulsteuerung und -organisation haben sich den Ländern drei große Handlungsfelder eröffnet, deren differenzierte Umsetzung in Tabelle 3 zusammengefasst wird.7

Die Gestaltung einer erweiterten institutionellen Autonomie der Hochschulen Ein Zuwachs an institutioneller Autonomie ergibt sich aus dem Abbau von Verfahrensvorschriften, vor allem in Fragen von Haushalt und Personal (Abschaffung der Kameralistik und Lockerung von Stellenplänen), der Reduzierung von Fachaufsichtsgegenständen (z.B. Einführung der Berufung von Professoren durch Hochschulleitungen) und der Ermöglichung neuer Trägerschaften und Rechtsformen für Hochschulen. Die Umsetzung dieser Punkte erfolgt schrittweise, in der Länderpraxis werden einzelne staatliche Zuständigkeiten nicht sofort vollständig aufgegeben, sondern im Zeitverlauf immer weiter an die Hochschulen delegiert. Die weitreichendsten gesetzlichen Vorstöße in Richtung Hochschulautonomie haben bislang Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen vorgenommen. Hessen hat eine ebenfalls sehr weitgehende Gesetzesinitiative angekündigt, in Berlin hingegen gilt bereits seit zehn Jahren eine Experimentierklausel, mit der 77 Paragraphen des geltenden Hochschulgesetzes außer Kraft gesetzt werden können.

Die Ausgestaltung neuer Steuerungsinstrumente Mit Hilfe der Einführung neuer, aus dem New Public Management entlehnter Steuerungsinstrumente sichern sich die Landesministerien Einfluss auf die Leistungsergebnisse der zunehmend organisatorisch unabhängigen Hochschulen bzw. sie bestimmen, wie mit Hochschulräten andere, nichtstaatliche Akteure in die Steuerung der Hochschulen eingebunden werden sollen. Bisherige staatliche Zuständigkeiten werden an regierungsunabhängige Organisationen (vor allem Akkreditierungsagenturen), an Hochschulräte oder an Leitungspositionen innerhalb der Hochschulen delegiert. Die Landesministerien konzentrieren ihre Tätigkeit darauf, die Leistung einzelner Hochschulen transparent zu machen und über Zielvereinbarungen gesellschaftlich wünschenswerte Entwicklungsprioritäten mit ihnen zu vereinbaren (Kontraktmanagement), die die Hochschulen bei der Verwendung ihrer zunehmend flexibilisierten Budgets beachten sollen (vgl. auch Pasternack 2001, Kehm/Lanzendorf 2006). In diesem Gestaltungsfeld werden die inzwischen weitgehend in die Praxis umgesetzten neuen Instrumente ständig weiter entwickelt.

7 Die synoptische Übersicht über die Vorgehensweisen der Länder in Tabelle 3 beschränkt sich auf diejenigen Reformaspekte, für die es relevante Unterschiede zwischen den Ländern gibt. Der Aspekt ‚Lockerung hochschulischer Stellenpläne’ beispielsweise wurde nicht erfasst, da die Neuerungen der einzelnen Länder hier bislang nur geringfügig und sehr spezifisch sind.

53

Landeshochschulpolitiken Die landesgesetzliche Regelung der (bis 1998 über das HRG vorgegebenen) Hochschulorganisation

Hier spielen die Definition der Organe einer Hochschule und ihrer Aufgaben sowie Vorgaben zur Zusammensetzung der akademischen Selbstverwaltungsgremien eine Rolle, daneben aber auch die Einführung von Experimentierklauseln, um Innovationen in der Hochschulorganisation zu stimulieren. Mittels der Erweiterung von Zuständigkeiten und Verlängerung der Amtszeiten von Hochschulleitungen und Dekanen wird angestrebt, ein Hochschulmanagement aufzubauen. Leitungspersonen innerhalb der Hochschulen sollen die neuen institutionellen Entscheidungsspielräume strategisch im Sinne eines Leistungswettbewerbs ausfüllen. Die entsprechende Gesetzgebung auf Länderebene ist weitgehend abgeschlossen (vgl. auch Lanzendorf 2006). Das Kontraktmanagement mit Hilfe von Zielvereinbarungen ist inzwischen in allen Ländern gesetzlich ermöglicht oder vorgeschrieben worden und wird auch überall praktiziert (vgl. König 2007). Teilweise werden Ziele nicht nur in Bezug auf reguläre Hochschulaktivitäten, sondern auch auf Innovationen vereinbart und spezielle Mittel hierfür bereitgestellt. Tabelle 3:

Hochschulreform in den Ländern: Steuerung & Finanzierung

Kontraktmanagement Vertragsförmige Vereinbarungen LandHochschulen

BB

gesetzl. möglich; Beginn: 2004

BE

gesetzl. vorgeschrieben; Beginn: 1997

BW

gesetzl. vorgeschrieben; Beginn: 1997

Hochschulräte (2006)

Rechtsform

Indikatorgestützte Finanzierung (M-)Bf.: (Mitwir- nur öffentl. Rückbau Veränderungskung an) BeKörperschaft kameralis- potenzial schlussfassung; gesetzl. tischer (2004)1) ZSt: Zustimvorgesehen? Strukturen mung; Extern: hochschulextern M-Bf.: Strukturu. Entwicklungs- nein plan, Haushalt Bf.: Haushalt; M-Bf.: Hochschulgliederung Mitglieder: ja aus Senat, Parlament u. gesellschaftliche Interessen Bf.: Grundordnung, Studiengänge, Hochschulgliederung, nein Struktur- u. Entwicklungsplan Mitglieder: 50% + 1 extern

Globalhaushalt

ja

ja

ja

<3%

<3%

<3%

Studiengebühren grundständige (incl. konsekutive Master-) Studiengänge; pro Semester

Wahl der Hochschulleitung Schema: Vorschlag Æ Wahl (Wahlbestätigung) Æ Ernennung

keine

Landeshochschulrat Æ Senat Æ Land

keine

Senat (Kuratorium Stellungnahme) Æ Konzil Æ Land

ab SS 2007 500 €

öffentl. Ausschreibung Æ Hochschulrat (Senat) Æ Land

54

Ute Lanzendorf und Peer Pasternack Kontraktmanagement Vertragsförmige Vereinbarungen LandHochschulen

Hochschulräte (2006)

Indikatorgestützte Finanzierung (M-)Bf.: (Mitwir- nur öffentl. Rückbau Veränderungskung an) BeKörperschaft kameralis- potenzial schlussfassung; gesetzl. tischer (2004)1) ZSt: Zustimvorgesehen? Strukturen mung; Extern: hochschulextern

Studiengebühren

M-Bf.: Studiengänge, Hochschulgliederung, Struktur- u. nein Entwicklungsplan, Haushalt Mitglieder: Senat + 8 extern

ab SS 2007 nach Entscheidung der Hochschulen, Unis: 300 - 500 €, FHs: 100 - 500 € Studienkonten (mit Langzeitstudiengebührenkomponente = 500 €)

BY

gesetzl. vorgeschrieben; Beginn: 2005

HB

gesetzl. vorgeschrieben; Beginn: 1998

–

HE

gesetzl. vorgeschrieben; Beginn: 2002

nur stellungnehmende u. empfehlende Funktionen Mitglieder: nur extern

gesetzl. vorgeHH schrieben; Beginn: 1999

gesetzl. vorgeMV schrieben; Beginn: 2006

Rechtsform

ja

Globalhaushalt

erste Ansätze (2 <3% Pilotprojekte)

ja

<3%

grundständige (incl. konsekutive Master-) Studiengänge; pro Semester

nein

ja

<3%

ab WS 2007/08 500 €, Langzeitstudiengebühren 500 - 900 €

Bf.: Grundordnung, Strukturu. Entwicklungsplan, Haushalt; nein M-Bf.: Studiengänge Mitglieder: > ¾ extern

ja

<3%

ab SS 2007 500 €

ja

<3% (2,5% mit keine Kappungsgrenze von 10 %, also 0,25 %)

nur beratende Funktionen ja Mitglieder: nur extern

Wahl der Hochschulleitung Schema: Vorschlag Æ Wahl (Wahlbestätigung) Æ Ernennung Vorsitzende Senat u. Hochschulrat Æ Hochschulrat Æ Land

Senat (Land Stellungnahme) Æ Senat Æ Land Öffentl. Ausschreibung Æ Senat (Land) Æ nicht relevant Findungskommission (Senat u. Hochschulrat hälftig) Æ Hochschulrat (Senat) Æ Land Senat Æ Konzil Æ nicht relevant

55

Landeshochschulpolitiken Kontraktmanagement Vertragsförmige Vereinbarungen LandHochschulen

NI

gesetzl. vorgeschrieben; Beginn: 1997

Hochschulräte (2006)

Indikatorgestützte Finanzierung (M-)Bf.: (Mitwir- nur öffentl. Rückbau Veränderungskung an) BeKörperschaft kameralis- potenzial schlussfassung; gesetzl. tischer (2004)1) ZSt: Zustimvorgesehen? Strukturen mung; Extern: hochschulextern nur beratende u. stellungnehmende Funktionen [anders beim Stiftungsrat an Stiftungshochschulen] Mitglieder: 5 von 7 extern

Rechtsform

ja, aber Hochschulträgerschaft durch Stiftungen

ZSt.: Haushalt; ZSt., (wenn nicht durch erweitertes Präsidium): Grundordnung, gesetzl. Studiengänge, ermöglicht; NW nein HochschulglieBeginn: derung, Struktur2000 u. Entwicklungsplan Mitglieder: 50% o. 100% extern ZSt.: Grundordnung, Hochgesetzl. schulgliederung, ermöglicht; Struktur- u. RP nein Beginn: Entwicklungs2003 plan, Haushalt Mitglieder: 50% extern gesetzl. vorgeschrieben; nur Stellungerstmals nahme SH nein 2000/01, Mitglieder: nur extern dann wieder seit 2004

Globalhaushalt

ja

ja

erste Ansätze

ja

Studiengebühren grundständige (incl. konsekutive Master-) Studiengänge; pro Semester

Wahl der Hochschulleitung Schema: Vorschlag Æ Wahl (Wahlbestätigung) Æ Ernennung

> 10 %

Findungskommission Æ Senat ab SS 2007 500 € (Entschei(Senioren dungsvor800 €), schlag mit Langzeitstu- Stellungsdiengebühren nahme Hoch600 - 800 € schulrat) Æ Land/ Stiftungsrat

FH: 5% Uni: 7%

ab SS 2007 max. 500 € (Entscheidung der Hochschulen)

Findungskommission Æ Hochschulrat (Senat) Æ nicht relevant

> 10 %

Studienkonten (mit Langzeitstudiengebührenkomponente = 650 €)

Hochschulrat im Einvernehmen mit dem Land Æ Senat Æ nicht relevant

keine

Findungskommission Æ Senat Æ Land

10%

56

Ute Lanzendorf und Peer Pasternack Kontraktmanagement Vertragsförmige Vereinbarungen LandHochschulen

SL

SN

ST

TH

gesetzl. vorgeschrieben; Beginn: 2000

gesetzl. vorgeschrieben; Beginn: 2003 gesetzl. vorgeschrieben; Beginn: 2002

Hochschulräte (2006)

Rechtsform

Indikatorgestützte Finanzierung (M-)Bf.: (Mitwir- nur öffentl. Rückbau Veränderungskung an) BeKörperschaft kameralis- potenzial schlussfassung; gesetzl. tischer (2004)1) ZSt: Zustimvorgesehen? Strukturen mung; Extern: hochschulextern ZSt.: Grundordnung, Studiengänge, Hochschulgliederung, Haushalt nein M-Bf.: Strukturu. Entwicklungsplan Mitglieder: nur extern ZSt.: Studiengänge, HSG, nein Haushalt Mitglieder: nur extern nur stellungnehmende Funktionen ja Mitglieder: nur extern

ZSt.: Grundordnung, Strukturgesetzl. u. Entwicklungsermöglicht; plan nein Beginn: Mitglieder: alle 2003 oder mind. 2/3 extern

Globalhaushalt

Studiengebühren grundständige (incl. konsekutive Master-) Studiengänge; pro Semester

Wahl der Hochschulleitung Schema: Vorschlag Æ Wahl (Wahlbestätigung) Æ Ernennung

ja

keine indikatorgestützte Finanzierung

ab WS 07/08 500 €

Findungskommission Æ Hochschulrat u. Senat Æ Land

erste Ansätze

keine indikatorgestützte Finanzierung

keine

Senat Æ Konzil

ja

keine indikatorgestützte Finanzierung

ab 2008 erste Ansätze

<3%

FindungsLangzeitstu- kommission diengebühren Æ Senat 500 € Æ erweiterter Senat Findungskommission Æ HochLangzeitstuschulrat diengebühren (in Einver500 € nehmen mit Senat) Æ Land

Sofern nicht anders angegeben: Stand 2007 (geplante Gesetzesänderungen sind berücksichtigt) 1) Das „maximale Veränderungspotenzial“ im Haushalt einer Hochschule ergibt sich aus dem Anteil der leistungsorientierten Mittelverteilung am Gesamthaushalt und der in den meisten Ländern vorhandenen Kappungsgrenze (Leszczensky/Orr 2004: 49). Quellen: Landeshochschulgesetze, Hohenhaus (2006), Leszczensky/Orr (2004), Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur Rheinland-Pfalz (2005), Stifterverband (2002), Anfragen bei den zuständigen Landesministerien

Ein prägnantes Beispiel für Unterschiede in den Reformansätzen der Länder sind Hochschulräte bzw. -kuratorien, die es in allen Ländern außer Bremen gibt. Teilweise haben mehrere Hochschulen einen gemeinsamen Hochschulrat, aber in der Regel ist für jede Hochschule ein eigenes derartiges Organ eingesetzt worden. Je nachdem, wie stark die jeweilige Landeshochschulpolitik vom Leitbild der Hochschule als Dienstleistungsunternehmen geprägt wird, ist der Hochschulrat als mehr oder weniger starkes Aufsichtsgremium verfasst. Das

Landeshochschulpolitiken

57

findet seinen Ausdruck in Unterschieden der Zusammensetzung und Kompetenzen (vgl. auch Laqua 2004). In zehn Ländern sind die Hochschulräte ausschließlich oder mehrheitlich mit externen Mitgliedern besetzt. Ausschließlich extern besetzte Hochschulräte haben weniger Kompetenzen als solche, in denen auch Hochschulmitglieder vertreten sind (so in Baden-Württemberg, Bayern und Berlin). Sie wirken in der Regel lediglich an Beschlüssen mit (Zustimmung) oder verbleiben im Status eines Beratungsgremiums (Stellungnahmen und Empfehlungen). Bei einer gemischten Besetzung aus hochschulexternen und -internen Mitgliedern übernehmen sie aber auch direkte Steuerungsfunktionen (Beschlussfassung). Starke Hochschulräte gehen zwangsläufig mit einer Schwächung der Akademischen Senate einher. Die Frage, in welcher Weise Hochschulräte an der Bestellung der Hochschulleitung mitwirken (vorschlagend, wählend, stellungnehmend oder lediglich zur Kenntnis nehmend), wird in Tabelle 3 gesondert dargestellt, da sie für den Übergang eines bisherigen Kernbereichs der akademischen Selbstverwaltung in die Zuständigkeit eines nicht von den Hochschulmitgliedern gewählten Gremiums steht. Es zeigt sich, dass in sechs Ländern der Hochschulrat für die Wahl der Hochschulleitung zuständig ist (im Saarland gemeinsam mit dem Senat). Seine Entscheidung muss allerdings außer in Bayern – wo der Senat im Hochschulrat vertreten ist – immer durch den Senat bestätigt werden. In den verbleibenden Ländern sind weiterhin der Senat bzw. das Konzil für die Wahl der Hochschulleitung zuständig, jedoch erfolgt die Wahl in einem Land auf der Grundlage eines gemeinsamen Vorschlags von Hochschulrat und Land und in sieben Ländern auf der Basis von Vorschlägen von Findungskommissionen, in denen Mitglieder des Hochschulrats oder von ihm bestellte Persönlichkeiten vertreten sind. Die meisten Länder sehen in ihren Hochschulgesetzen die Möglichkeit vor, dass die Hochschulen eine andere Rechtsform annehmen als die Körperschaft des öffentlichen Rechts. In Niedersachsen kann der Staat die Trägerschaft für eine Hochschule an eine Stiftung des öffentlichen Rechts übertragen. Mehrere Hochschulen haben von dieser Option bereits Gebrauch gemacht. Die Einführung von Globalhaushalten soll den Hochschulen einen unbürokratischen Umgang mit den ihnen von den Ländern zur Verfügung gestellten öffentlichen Mitteln ermöglichen. Ein Globalhaushalt umfasst (mindestens) die Einführung einer gegenseitigen Deckungsfähigkeit der Haushaltstitel, die überjährige Übertragbarkeit von Haushaltsmitteln, also der Möglichkeit zur Rücklagenbildung, und die Reduzierung der Anzahl von Haushaltstiteln. Auch wenn die meisten Länder angeben, ihre Hochschulhaushalte globalisiert zu haben, so werden doch nur in einigen Fällen alle drei Kriterien vollständig erfüllt. Vier Länder halten im Wesentlichen an der traditionellen Kameralistik fest, indem sie lediglich eine Reduzierung der Haushaltstitel vornehmen. Bei den in den Ländern eingeführten Verfahren der leistungsorientierten (indikatorbasierten) Mittelzuweisung an die Hochschulen schwankt das Veränderungspotenzial einzelner Hochschulhaushalte nach oben oder nach unten zwischen unter drei Prozent und über zehn Prozent. Die Mehrzahl der Länder hat sich für eine relativ begrenzte Möglichkeit des Verlusts oder Zugewinns öffentlicher Haushaltsmittel durch Leistungen in Forschung und Lehre entschieden. Zudem sind die Landesmittel für die Hochschulen in der Regel insgesamt gedeckelt, so dass breite Leistungssteigerungen (z.B. Steigerung der Absolventen in der Regelstudienzeit und Drittmitteleinwerbung) der Hochschulen gegebenenfalls nicht belohnt

58

Ute Lanzendorf und Peer Pasternack

werden können. Häufig wird zwischen Grundbudgets und Leistungs- bzw. Innovationsbudgets differenziert, aus denen je unterschiedliche Zwecke zu finanzieren sind. Zum Teil werden auch Globalbudgets für die Fakultäten vorgeschrieben. Die Möglichkeit, ein hochschuleigenes Körperschaftsvermögen zu bilden, wird in mehreren Hochschulgesetzen eröffnet. Bei Studiengebühren ist die Situation dergestalt, dass die Mehrheit der Länder Gebühren für Verwaltungsvorgänge (etwa 50 Euro) und zwei Bundesländer Studiengebühren (nur) von Langzeitstudierenden erheben, zwei Länder mit Studienkonten arbeiten (was in der Wirkung dem Langzeitgebühren-Modell entspricht, im Übrigen aber ein Weg zur Vermeidung von Gebühren für das Erststudium ist), und sieben Bundesländer allgemeine Studiengebühren eingeführt haben bzw. die Einführung vorbereiten (meist 500 Euro, für Langzeitstudierende bis 900 Euro). Hierbei besteht eine charakteristische Differenz darin, ob die Studiengebühren per Gesetz vorgeschrieben werden oder die Einführungsentscheidung bzw. die Entscheidung über die Höhe innerhalb einer Von-bis-Spanne den Hochschulen überantwortet wird (wie in Nordrhein-Westfalen und Bayern).

2.3 Neugestaltungen im Dienstrecht Das Dienstrecht weckt hochschulpolitisch besonderes Interesse, da seine Gestaltung darüber bestimmt, wie die zentrale Ressource von Hochschulen – ihre Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen – angeworben, entwickelt, motiviert und gehalten werden kann. Im Regelungsbereich Dienst- und Besoldungsrecht finden sich regionale Spezifika vor allem bei den Themen Juniorprofessur und Professur, aber auch bei der Dienstherreneigenschaft für alle Hochschulmitarbeiter (vgl. Tab. 4). Die Dienstherreneigenschaft für Angestellte und Beamte an Hochschulen, die traditionell beim Land lag, wurde bislang erst in wenigen Ländern an die Hochschulen übertragen. Vereinzelt wird auch mit einem Verzicht auf die bisherigen Stellenpläne experimentiert. Zur traditionellen Professur gibt es unterschiedliche gesetzliche Regelungen bezüglich des Berufungsrechts, der Flexibilität der Besoldung auf Hochschulebene, zu der Frage der Berufung im Beamten- oder Angestelltenverhältnis sowie hinsichtlich der Befristungsmöglichkeit von Professuren. Während alle Länder unter mehr oder weniger spezifischen Voraussetzungen eine befristete Beschäftigung von Professoren und auch deren Beschäftigung im Angestelltenverhältnis ermöglichen, bestehen beim Berufungsrecht und der Professorenbesoldung deutliche Unterschiede. Bei Berufungen mussten die Landesregierungen bisher die Vorschläge der Hochschulen bestätigen. Heute treffen in der Hälfte der Länder die Hochschulen die Letztentscheidung bei Berufungen bzw. können das Berufungsrecht übertragen bekommen. Es gibt allerdings nur ein Land, in dem die Hochschulen sowohl über die Dienstherreneigenschaft als auch über das Berufungsrecht verfügen (Nordrhein-Westfalen). In Bezug auf die Flexibilität einzelner Hochschulen bei der Professorenbesoldung hat Handel (2005) einen Indikator entwickelt, der 17 unterschiedliche Aspekte berücksichtigt. In seiner Studie kommt er zu dem Ergebnis, dass fünf Länder den Hochschulen relativ wenige Vorgaben gemacht und ihnen die vom Professorenbesoldungsreformgesetz auf Bundesebene eröffneten Gestaltungsspielräume größtenteils weitergegeben haben. In zwei Ländern

59

Landeshochschulpolitiken

lassen die landesgesetzlichen Regelungen den Hochschulen hingegen ausgesprochen wenig Spielraum, bei der Professorenbesoldung ein eigenes Profil zu entwickeln (Rheinland-Pfalz und Brandenburg). Tabelle 4:

Hochschulreform in den Ländern: Dienstrecht & Personal Dienstherreneigenschaft

Berufungsrecht

Land

Professorenbesoldung Flexibilität

BB

Land

Land

niedrig

BE

Hochschulen

Land

hoch

BW

Land

Hochschulen

hoch

BY

Land

Land

mittel

HB

Land

Land

mittel

HE

Hochschulen vorgesehen

Hochschulen (im Einvernehmen mit Land)

hoch

HH

Land

Hochschulen

hoch

MV

Land

Land

mittel

Land/ Stiftungshochschulen

Land (3jährige Übertragung an Hochschulen möglich) bzw. Stiftungshochschulen

hoch

NW

Hochschulen

Hochschulen

mittel

RP

Land

Land

niedrig

SH

Land

Hochschulen

mittel

SL

Land

Hochschulen

mittel

SN

Land

Land

mittel

ST

Land

Land

mittel

TH

Land

Hochschulen

mittel

NI

Quellen: Landeshochschulgesetze, jeweils aktuell (Juni 2007) geltende Fassung, Handel (2005)

Die Juniorprofessur ist mittlerweile in allen Ländern gesetzlich eingeführt. Allerdings haben manche Landesgesetzgeber die Juniorprofessur mit Einschränkungen gegenüber den anderen Hochschullehrern ausgestaltet hinsichtlich der Bewerbungsverfahren, mitgliedschaftsrechtlicher Stellung, individueller Autonomie, akademischen Mitwirkungsrechten, passivem und aktivem Wahlrecht sowie bei der Regelung der Titelführung. Andere Länder hingegen haben die Juniorprofessoren den anderen Professoren weitestgehend gleichgestellt (am konsequentesten Berlin).

60

Ute Lanzendorf und Peer Pasternack

2.4 Analyse: Länderspezifische Ausprägungen der Hochschulreform als Ergebnis von Parteipolitik? Es konnte gezeigt werden, dass einige Länder bei der entstaatlichend-dezentralisierenden Hochschulreform ausgesprochen offensiv und dynamisch vorgehen, während sich andere eher vorsichtig und kompromissorientiert verhalten. Im Weiteren soll nun erörtert werden, welche Rahmenbedingungen für die unterschiedlichen Vorgehensweisen einzelner Länder bei der Hochschulreform als relevant angesehen werden können. Tabelle 5 fasst auf der Grundlage der Tabellen 3 und 4 die Schwerpunkte der Steuerungsreformen in den einzelnen Ländern zusammen. Sie bezieht sich auf gesetzliche Regelungen und berücksichtigt nicht, inwieweit diese bereits in die Praxis umgesetzt wurden. Im Sinne einer sukzessiven Informationsverdichtung werden nur die Instrumente einbezogen, die deutliche Steuerungswirkungen entfalten. Die tabellarische Darstellung stellt eine Momentaufnahme aus dem Jahr 2007 dar, da die Länder sowohl ihre Steuerungsinstrumente kontinuierlich verfeinern als auch die institutionelle Hochschulautonomie weiterhin aufwerten. Tabelle 5:

Hochschulsteuerungsreformen im Ländervergleich

Neue Steuerungsinstrumente Kontraktmanagement BB BE BW BY HB HE HH MV NI NW RP SH SL SN ST TH

• •• •• • •• • •• • •• •• • • •• • • •

Hochschulräte •• •• •• •• • •• • • •• •• • •• •• • ••

indikatorgestützte Finanzierung • • • • • • • • •• •• •• ••

•

Institutionelle Autonomie Berufungsrecht

Rechtsform ••

••

•• ••

• ••

•• ••

• ••

• •• •• •• •• ••

•• ••

••

••

Globalhaushalt •• •• •• • •• •• •• •• •• •• • •• •• • •• •

Hochschulorganisation Wahl der Hochschulleitung

•• •

•• •• • •

•

•• = vergleichsweise offensiver Reformstil; • = vergleichsweise vorsichtiger bzw. kompromissorientierter Reformstil; weiß = (bislang) Verbleib im herkömmlichen Modus; grau unterlegt = hohe Reformaktivität (Neue Steuerungsinstrumente: Länder, die fünf Punkte aufweisen; Institutionelle Autonomie: Länder, die sechs Punkte haben; Hochschulorganisation: Länder, mit einem Doppelpunkt)

Landeshochschulpolitiken

61

Es zeigt sich, dass lediglich einige westdeutsche Länder die Steuerung ihrer Hochschulen vergleichsweise offensiv reformieren. Darunter gibt es sowohl Flächen- als auch Stadtstaaten. In den Bereichen neue Steuerungsinstrumente und institutionelle Autonomie wurde insgesamt deutlich weitgehender reformiert als im Bereich der Hochschulorganisation. Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, die Funktionalität der unterschiedlichen Reformansätze zu vergleichen und zu bewerten oder eine normative Kritik ihrer Zielrichtung vorzunehmen. So ist grundsätzlich nicht auszuschließen, dass die Länder, die sich in der Hochschulsteuerungsreform eher zurückhaltend verhalten, eine höhere Leistungsfähigkeit ihrer Hochschulen erzielen als aktivere Länder. Auch ist darauf hinzuweisen, dass die Entstaatlichungs- und Dezentralisierungsaktivitäten auf eine Erweiterung institutioneller Autonomie zielen. Diese Autonomiesteigerung ist von der Freiheit der Wissenschaft nach Art. 5 (3) GG – also der Freiheit der Themenwahl, der Methodenwahl, der wissenschaftlichen Kommunikation und des Umgangs mit den wissenschaftlichen Ergebnissen – zu unterscheiden. Operative Träger der Hochschulautonimie sind aber die Hochschulleitungen und ggf. die Dekanate – und sie sind dies um so mehr, je stärker die Kompetenzen der akademischen Selbstverwaltungsgremien reduziert werden. Von besonderem Interesse ist nun in der föderalistischen Betrachtung, in welcher Beziehung der Reformstil zur Programmatik der Regierungsparteien in den Ländern steht. Werden die oben vorgenommenen Gruppierungen nach der Dynamik der Hochschulsteuerungsreform, die aktuellen Beschlusslagen zu Studiengebühren – als dem bedeutendsten hochschulpolitischen Reformbruch seit der Hochschulexpansion – und die parteipolitischen Besetzungen der Landesregierungen einander vergleichend gegenübergestellt, so ergibt sich kein vollständig konsistentes Bild, aber doch ein grobes, intern differenziertes Muster (Tabelle 6): Am eindeutigsten lässt sich in Baden-Württemberg, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und im Saarland der parteipolitischen Prägung der Landesregierung eine hochschulpolitische Linie zuordnen: Sowohl bei der Hochschulsteuerungsreform als auch beim hochschulpolitischen Reizthema Studiengebühren wird dort unter bürgerlichen Regierungen ein offensiver Zugriff gepflegt. In einem Land allerdings, Niedersachsen, war diese Reformrichtung bereits unter der früheren SPD-dominierten Regierung eingeleitet worden. Die gleichfalls bürgerlich regierten Länder Bayern und Hessen haben sich für allgemeine Studiengebühren entschieden, sind aber in der Hochschulsteuerungsreform zurückhaltender. Auch Schleswig-Holstein, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben unionsdominierte Regierungen, verzichten aber bislang auf allgemeine Studiengebühren, und die drei letztgenannten Länder vermieden zudem bisher auch durchgreifende Änderungen der Hochschulsteuerung. Bei den SPD-dominierten Landesregierungen lässt sich die Situation dagegen etwas stringenter zusammenfassen: Brandenburg, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz verzichteten bislang auf allgemeine Studiengebühren und gehören bei der Hochschulsteuerungsreform zu den Ländern, die zurückhaltende Änderungen implementieren bzw. den herkömmlichen Modus beibehalten. Am ehesten lässt sich eine parteipolitische Polarisierung noch in der Frage der Studiengebühren erkennen: Dort, wo Studiengebühren eingeführt wurden, sind die Regierungen bürgerlich dominiert. Wo auch unionsdominierte Regierungen noch keine Studienge-

62

Ute Lanzendorf und Peer Pasternack

bühren eingeführt haben, ist dies kein Ausdruck prinzipieller Ablehnung: Die ostdeutschen Länder verzichten zum einen einstweilen darauf, um die vergleichsweise geringe Studierneigung in den östlichen Bundesländern nicht zusätzlich zu dämpfen; zum anderen regieren in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg (wie auch im studiengebührenfreien Schleswig-Holstein) Große Koalitionen, in denen der Studiengebührenverzicht Bestandteil koalitionsinterner Konfliktvermeidung ist. Tabelle 6:

Hochschulreformen und parteipolitische Prägungen der Landesregierungen BB

Hochschulsteuerungsreform1) Studiengebühren2)

•

BE BW BY HB HH HE MV NI NW RP SH •

••

•

••

••

•

•

••

••

••

••

•

••

•••

••

••

•/ •••

•/ ••

•/ ••

•

••

•

• / •• ••

•/ ••

•/ ••

•/ ••

•

••

•

••

••

Parteipolitische ••• / Prägung der Lan- ••• •• • desregierung3) Parteipolitische Prägung des •• •• / • •• Wissenschaftsministeriums4)

••

SL

SN

••

•

••

ST TH • •

•

••

•••

•/ •••

••

• / •• ••

•• / •

•/ ••

••

•/ •••

entsprechend Gesamtpunkten aus Tab. 5 •• = allgemeine Studiengebühren; • = Studienkonten bzw. Langzeitstudiengebühren; weiß = keine Studiengebühren 3) Grundlage: Zusammensetzungen der Landesregierungen seit 2000; • = nichtbürgerliches Lager; •• = bürgerliches Lager; ••• = CDU/SPD-Koalition; Doppelangaben: Wechsel innerhalb des Zeitraums 2000- Juni 2007 4) Grundlage: Besetzung des Ministeramtes, in dessen Zuständigkeit die Hochschulen fallen, seit 2000; • = nichtbürgerliches Lager (SPD, Bündnis 90/Die Grünen, PDS/Linke); •• = bürgerliches Lager (CDU, CSU, FDP); parteilose Amtsinhaber/innen sind dem Lager zugeordnet, aus dessen Mitte sie nominiert wurden; Doppelangaben: Wechsel innerhalb des Zeitraums 2000- Juni 2007 1)

2)

Insgesamt dürfte für die hochschulpolitische Orientierung der Länder eine andere Unterscheidung erklärungsstärker sein als die parteipolitische Prägung ihrer Regierungen. Die hochschulpolitische Debatte in Deutschland wird durch drei wesentliche Strömungen geprägt: eine konservative, eine chancenausgleichsorientierte und eine marktliberale. Die letztgenannte spielt erst seit den achtziger Jahren eine durchschlagskräftige Rolle und hat seither ihre Position kontinuierlich ausbauen können. Bei der Betrachtung dieser drei Strömungen ist zu beachten, dass es sich um hochschulpolitische handelt, die nicht umstandslos parallel laufen mit den üblichen parteipolitischen Zuordnungen der entsprechenden Begriffe: In allen regierungsbeteiligten Parteien von CSU bis PDS/Linke finden sich, soweit es um Hochschulpolitik geht, jeweils Vertreter aller drei Strömungen. Ebenso ist es charakteristisch, dass einzelne hochschulpolitische Einstellungen häufig von jeweils zwei der beiden Richtungen geteilt werden (und dann auch Bündnisse in Einzelfragen begründen), allerdings mit je unterschiedlichen, mitunter konfligierenden normativen Begründungen. So treffen sich z.B. die konservative und die marktliberale Strömung in ihrer hochschulpolitischen Befürwortung von Leistungsorientierung und Differenzierung; die einen jedoch auf der Grundlage eines akademischen Exklusivitätsanspruchs, die anderen auf Basis einer leis-

Landeshochschulpolitiken

63

tungsgesteuerten Inklusionsorientierung. Die marktliberale Strömung vertritt ebenso wie die chancenausgleichsorientierte die Position, dass die Hochschulbildungsbeteiligung gesteigert werden solle; erstere aus Gründen der Standortsicherung, letztere aus Gründen der Verbreiterung sozialer Aufstiegschancen. Oder, ein letztes Beispiel: In der Verteidigung der akademischen Autonomie stimmen wiederum die konservative und die chancenausgleichsorientierte Strömung überein; die einen als Vertreter eines traditionellen, auf Exklusivität bedachten Universitätsmodells, die anderen deshalb, weil akademisch selbstverwaltete Hochschulen politischer Intervention einfacher zugänglich sind als unternehmensförmig gestaltete Organisationen (vgl. Pasternack 2006: 35-37).

3

Fazit und Ausblick auf mögliche Konsequenzen der Föderalismusreform

Der vorliegende Beitrag hat zunächst aufgezeigt, dass die Hochschulsektoren der Länder sich von ihrer Größe, der Entwicklung der Hochschulhaushalte, der Verteilung der Studierenden auf die Hochschultypen und anderer struktureller Merkmale her deutlich unterscheiden. Anschließend wurde dargestellt, dass die Hochschulpolitik der Länder durch eine Parallelität vereinheitlichender und differenzierender Entscheidungsstrukturen gekennzeichnet ist. Mit der Steuerungsreform, der Frage nach der Einführung von Studiengebühren und den Neuregelungen zur personalbezogenen Kompetenzverteilung wurden für diesen Beitrag Teilbereiche der Hochschulreform zur näheren Betrachtung ausgewählt, in denen keine bundesweite Abstimmungsnotwendigkeit im Sinne einer Einheitlichkeit von Studienchancen besteht und in denen regionale sozioökonomische Besonderheiten keine tragende Rolle spielen. Es wurde vielmehr davon ausgegangen, dass sich den Ländern in diesen Themen jeweils (partei-) politische Gestaltungsfelder eröffnen können. In der Frage der Einführung von Studiengebühren für Erststudierende lässt sich eine vergleichsweise deutlich durch die parteipolitische Prägung der Landesregierungen bedingte Unterscheidung der Vorgehensweisen der Länder beobachten. Die Gegenüberstellung der Dynamik von Steuerungsreformen in den einzelnen Ländern und der parteipolitischen Ausrichtung der Landesregierungen/Wissenschaftsministerien hat allerdings kein eindeutig profiliertes Bild ergeben. Dies wird von den Autoren maßgeblich darauf zurückgeführt, dass es keine vollständig stabilen Übereinstimmungen zwischen den allgemeinen politischen und den hochschulpolitischen Orientierungen der einzelnen Parteien gibt. Infolgedessen können sowohl konservative als auch linke Parteipolitiker in der Hochschulpolitik marktliberal agieren, während liberale Parteipolitiker hochschulpolitisch chancenausgleichsorientiert handeln können. Nachdem die erste Stufe der Föderalismusreform die ursprünglich im Grundgesetz angelegte Konzentration hochschulpolitischer Zuständigkeiten auf der Länderebene wiederhergestellt hat, wird die Gestaltungsfreiheit der einzelnen Länder im Hochschulsektor in naher Zukunft formal deutlich erweitert werden. Die Hochschulrahmengesetzgebung des Bundes wird am 1. Oktober 2008 außer Kraft treten. Als Zuständigkeiten verbleiben beim

64

Ute Lanzendorf und Peer Pasternack

Bund lediglich die Regelungen der Hochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse (sowie der beruflichen Bildung) und die Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Hinsichtlich der Hochschulzulassung und -abschlüsse sieht das Grundgesetz allerdings ausdrücklich ein Abweichungsrecht zugunsten der Länder vor. Ursprünglich war ein ausdrückliches Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern vorgesehen. Hochschulpolitische Auswirkungen hat daneben der Umstand, dass den Ländern die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für das Dienst-, Besoldungs- und Versorgungsrecht der Landesund Kommunalbeamten übertragen wurde. Diese Neuerungen ändern indes nichts daran, dass die Länder-Koordination und die Bund-Länder-Kooperation in der Hochschulpolitik stärker als in zahlreichen anderen Politikfeldern zentrale Bereiche der Willensbildung und Entscheidungserzeugung sein müssen (s. auch Scheller 2006). Die Bedeutung dieser Koordinierungen wurde und wird durch die Föderalismusreform nicht schwächer, sondern stärker – und zugleich schwieriger: Die Reform zielt in der Hochschulpolitik ausdrücklich auf eine Minderung der kooperativ-föderalistischen Elemente zugunsten eines dezidierten Wettbewerbsföderalismus. Die Länder sollen in konstruktiver Konkurrenz untereinander nach innovativen Lösungen für bundesweite und regionalspezifische hochschulpolitische Herausforderungen suchen. In diesem neu definierten Rahmen ist nun der weit reichende Bedarf an horizontaler und vertikaler Koordination zu befriedigen.

Literatur Europäische Kommission, 1993: Memorandum zur Hochschulbildung in der Europäischen Gemeinschaft, COM (91)349. Brüssel. Europäische Kommission, 2003: Forscher im europäischen Forschungsraum: ein Beruf, vielfältige Karrieremöglichkeiten. KOM(2003)436; URL http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2003/com 2003_0436de01.pdf (Zugriff 12.1.2007). Faber, Klaus/Gieseke, Ludwig/Gramm, Christof/Wesseler, Mechthild, 31997: Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern im Hochschulbereich. (Hochschulrecht des Bundes; Band 7). Bad Honnef. Fränz, Peter/Schulz-Hardt, Joachim, 1998: Zur Geschichte der Kultusministerkonferenz 1948-1998, in: Sekretariat der KMK (Hg.): Einheit in der Vielfalt: 50 Jahre Kultusministerkonferenz 1948-1998. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand, ohne Seitenzahl (www.kultusministerkonferenz.de/kmk 50/festschr.htm). Geis, Max-Emanuel, 1992: Die Kulturhoheit der Länder. Historische und verfassungsrechtliche Aspekte des Kulturföderalismus am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, in: Die Öffentliche Verwaltung 45 (12), 522-529. Handel, Kai, 2005: Die Umsetzung der Professorenbesoldungsreform in den Bundesländern. Arbeitspapier Nr. 65, 2. Aufl., Osnabrück und Bielefeld: Fachhochschule Osnabrück, Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). Hödl, Erich/Zegelin, Wolf, 1999: Hochschulreform und Hochschulmanagement: Eine kritische Bestandsaufnahme der aktuellen Diskussion. Marburg. Hohenhaus, Jörn, 2006: Hochschulrat. Kompetenzen bei der Rektorenwahl, bei Strukturentscheidungen und beim Haushalt, in: Forschung & Lehre 10/2006, 576f. Kehm, Barbara/Lanzendorf, Ute, 2006: Germany – 16 Länder Approaches to Reform, in: Kehm, Barbara/ Lanzendorf, Ute (Hg.): Reforming University Governance – Changing Conditions for Research in Four European Countries. Bonn, 135-186.

Landeshochschulpolitiken

65

König, Karsten, 2007: Kooperation wagen. 10 Jahre Hochschulsteuerung durch Vertragsförmige Vereinbarungen. Wittenberg: Institut für Hochschulforschung HoF. KMK, 2005a: Geschäftsordnung der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland gemäß Beschluss vom 19. November 1955 i.d.F. vom 02.06.2005. http://www.kmk.org. KMK, 2005b: Bericht an die Ministerpräsidentenkonferenz am 14. April 2005 in Berlin (Beschluss vom 10./11.03.2005, TOP 3 (Reform der Kultusministerkonferenz)). http://www.berlin.de/rbmskzl/ dokumentation/mpk/ergebnisse140405.html. KMK, 2005c: Ergebnisse der 309. Plenarsitzung der Kultusministerkonferenz – erster Tag. Pressemeldung vom 10.03.2005. http://www.kultusministerkonferenz.de/aktuell/home1.htm. Lanzendorf, Ute, 2006: Neue Governance an Hochschulen – Mitbestimmung und Management als neue Partner? In: Kremberg, Bettina (Hg.): Mitbestimmung und Hochschule. (Berichte aus der Politik). Aachen, 25-44. Laqua, Alexander, 2004: Der Hochschulrat zwischen Selbstverwaltung und staatlicher Verwaltung – Eine Analyse der Ratsmodelle nach den Landeshochschulgesetzen (Bonner Schriften zum Wissenschaftsrecht; 8). Baden-Baden. Leszczensky, Michael/Orr, Dominic, 2004: Staatliche Hochschulfinanzierung durch indikatorgestützte Mittelverteilung – Dokumentation und Analyse der Verfahren in 11 Bundesländern. HIS Kurzinformation. Hannover. Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur Rheinland-Pfalz, 2005: Mittelbemessungsmodell und Personalbemessungskonzept – Mehr Finanzverantwortung für die Hochschulen – der rheinland-pfälzische Weg. Mainz: Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur. Müller, Reinhard, 1982: Entstehungsgeschichte des Hochschulrahmengesetzes – Eine Fallstudie. Unveröffentlichte Dissertation im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann-WolfgangGoethe Universität Frankfurt am Main. Oehler, Christoph, 2000: Staatliche Hochschulplanung in Deutschland – Rationalität und Steuerung in der Hochschulpolitik. (Hochschulwesen). Neuwied, Kriftel. Pasternack, Peer (Hg.), 2001: Flexibilisierung der Hochschulhaushalte. Handbuch. Marburg. Pasternack, Peer, 2006: Qualität als Hochschulpolitik? Leistungsfähigkeit und Grenzen eines PolicyAnsatzes. Bonn. Peisert, Hansgert/Framhein, Gerhild, 1990: Das Hochschulsystem in der Bundesrepublik Deutschland – Struktur und Entwicklungstendenzen. Hrsg. vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft. Bad Honnef. Scheller, Henrik, 2006: Der deutsche Bildungsföderalismus – zwischen Kulturhoheit der Länder und europäischer Harmonisierung, in: Vogel, Bernhard/Hrbek, Rudolf/Fischer, Thomas (Hg.): Halbzeitbilanz – Die Arbeitsergebnisse der deutschen Bundesstaatskommission im europäischen Vergleich (Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung, Bd. 23). Baden-Baden, 30-47. Statistische Ämter der Länder, 2007: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder (Mai 2007), Reihe 1, Bd. 5 Länderergebnisse. Statistisches Bundesamt: Mikrozensus, Fachserie 1, Reihe 4.1.1; Fachserie 11, Reihen 4.1 (Berichte und Vorberichte), 4.3 sowie Sonderauswertung. Statistisches Bundesamt, 2007: Hochschulen gaben im Jahr 2005 31,0 Milliarden Euro aus, Wiesbaden, 27.6.2007, URL: http://idw-online.de/pages/de/ news215882 (Zugriff 28.6.2007). Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, 2002: Qualität durch Wettbewerb und Autonomie – Landeshochschulgesetze im Vergleich. Positionen. Essen. Teichler, Ulrich, 2006: Hochschulsystem – Studium – Arbeitsmarkt: Die lehr- und studienbezogene Hochschulpolitik des Bundesministeriums, in: Weingart, Peter/Taubert, Niels C. (Hg.): Das Wissens-

66

Ute Lanzendorf und Peer Pasternack

ministerium – Ein halbes Jahrhundert Forschungs- und Bildungspolitik in Deutschland. Weilerswist, 347-377. Thieme, Werner, 21986: Deutsches Hochschulrecht. Das Recht der wissenschaftlichen, künstlerischen, Gesamt- und Fachhochschulen in der Bundesrepublik Deutschland. Köln u.a. Wolf, Frieder, 2007: Die Bildungsausgaben der Bundesländer: Bestimmungsfaktoren und sozialpolitische Relevanz, in: Zeitschrift für Sozialreform 53, 31-56. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zum 26. (1995), 31. (2000) und 35. (2004) Rahmenplan für den Hochschulbau, Köln. Zehetmair, Hans, 1998: 50 Jahre Kultusministerkonferenz – Neue Entwicklungen im Kulturföderalismus, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 46 (2), 133-144.

„Polizei ist Ländersache!“ – Politik der Inneren Sicherheit Bernhard Frevel und Hermann Groß

Das Politikfeld Innere Sicherheit stand lange Zeit nicht auf der politikwissenschaftlichen Agenda, die vielmehr bestimmt war von Policy-Analysen zu Wirtschafts-, Arbeitsmarktund Sozialpolitik und auf der Akteursebene die Regierung, Parteien und Verbände in den Vordergrund rückte. Und selbst wenn sich Politikwissenschaftler mit dem Feld beschäftigten, wie z.B. in den 1970er/80er Jahren im Zusammenhang mit dem Links-Terrorismus, später im Kontext von Organisierter Kriminalität oder angesichts verschiedener kritischer Polizeieinsätze und -skandale (z.B. bei Großdemonstrationen der Anti-Atomkraftbewegung), war dies eine eher punktuelle und keine systematische Analyse. Erst Mitte der 1990er Jahre setzt in der Politikwissenschaft wie auch bei den Soziologen eine intensivere Beschäftigung mit dem Sujet ein, die auch unter dem Titel „Polizeiwissenschaft“ und „Empirische Polizeiforschung“ geführt wird (vgl. Jaschke/Neidhardt 2004; Liebl/Ohlemacher 2000). Diese Marginalisierung des Themas mag überraschen, ist doch die Innere Sicherheit mit all ihren Facetten von Kriminalität und Gewalt, Terror und Korruption, Staatskritik und Extremismus beständig auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda. Zudem ist die Polizei ein alltäglicher Akteur auf der Straße (und dem TV-Bildschirm) und mit rund 280.000 Polizeivollzugsbeamten eines der größten Felder des öffentlichen Dienstes. Dem „handelnden Staat“ begegnet der Bürger besonders intensiv, wenn Geschwindigkeits- und Alkoholkontrollen anstehen oder das physische Gewaltmonopol des Staates unmittelbar erlebt wird. Ein Hauptgrund für die sozialwissenschaftliche Vernachlässigung des Politikbereiches Innere Sicherheit dürfte die Zugangsproblematik sein, mit der sich Forscher konfrontiert sehen, wenn sie mit der Polizei, Geheimdiensten oder anderen Akteuren der Inneren Sicherheit zu tun haben. Für die deutsche Politikwissenschaft ist dies aber kein Ausnahmefall, sondern betrifft z.B. auch andere Teile der Exekutive wie die Ministerialverwaltung. Dabei lässt sich im Politikfeld Innere Sicherheit (hierin nur vergleichbar mit der Bildungs- und Kulturpolitik) Staatstätigkeit in einem komplexen Beziehungsgeflecht mit vertikalen und horizontalen Verschränkungen innerhalb des kooperativen Föderalismus Deutschlands besonders gut studieren. Die Politikfeldanalyse der Inneren Sicherheit befasst sich mit verschiedenen Aspekten, die unterschiedliche Teilfelder ansprechen. Ein Bereich ist die Kriminalpolitik, die sich mit Fragen der Einordnung von Verhaltensweisen als kriminell und nicht-kriminell befasst. Außerdem wird dabei versucht, mittels Strafrecht und Strafprozessrecht Normen zu setzen und menschliches Handeln zu beeinflussen. Hier berührt die Kriminalpolitik dann auch die

68

Bernhard Frevel und Hermann Groß

Justizpolitik, die sich u.a. mit Fragen des Umgangs mit Straftätern und der Gestaltung von Strafen befasst. Eine dritte Dimension ist dann die Polizeipolitik, die sich mit den Aufgaben und Kompetenzen, der Organisation und der Führung der Polizei beschäftigt. Da sich die Länderhoheit vor allem auf die letzte Dimension konzentriert, steht die Polizeipolitik im Mittelpunkt der folgenden Analyse.

1

Rahmenbedingungen

„Polizei ist Ländersache“ – abgeleitet werden kann dieser Grundsatz aus der deutschen Verfassung, in der den Ländern das Recht der Gesetzgebung zugewiesen wird, „soweit dieses Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse verleiht“ (Art. 70 I GG). Die Länder sind damit in der Pflicht, da dem Bund hier keine Kompetenz zugewiesen wird. Im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung (Art. 73 GG) sind unter Nr. 6 lediglich die Aufgabe des Grenzschutzes dem Bund als polizeiliche Aufgabe zugewiesen. Des Weiteren regelt Nr. 10 „die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder a) in der Kriminalpolizei, b) zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes (Verfassungsschutz) und c) zum Schutze gegen Bestrebungen im Bundesgebiet, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, sowie die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes und die internationale Verbrechensbekämpfung“

Hieraus lässt sich ableiten und in der organisatorischen Realität belegen, dass der Bund im operativen polizeilichen Bereich Kompetenzen im Grenzschutz hat, die von der Bundespolizei (bis zur Umbenennung zum 1.7. 2005: Bundesgrenzschutz) wahrgenommen werden und weiterhin das Bundeskriminalamt als zentrale Datensammelstelle für länderübergreifende Aktivitäten, für die internationale polizeiliche Zusammenarbeit (Interpol, Europol) und für Ermittlungsaufgaben aus dem Arbeitsbereich der Bundesanwaltschaft besteht (Groß 2006: 53). Im Übrigen gilt jedoch: Polizei ist Ländersache.

1.1 Geschichtliche Hintergründe Dass die Polizei Ländersache ist, hat vor allem auch historische Ursachen. Die Organisation Polizei bildete sich erst im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts als eigenständige Institution zur Gewährleistung von Ruhe, Sicherheit und Ordnung aus (vgl. Lüdtke 1982 und Boldt 2001). Zu jener Zeit bestand die kleinstaatliche Gliederung in deutschen Landen, die von föderalen Strukturen im Reich, dann in der Weimarer Republik und – nach der Unterbrechung im Nationalsozialismus sowie in der DDR – auch in der Bundesrepublik abgelöst wurde.

„Polizei ist Ländersache!“ – Politik der Inneren Sicherheit

69

Die polizeilichen Aufgaben wurden Anfang des 19. Jahrhunderts häufig schlicht von den Gutsherren wahrgenommen. Mit zunehmender Ausprägung von Staatlichkeit lagen sie dann seltener bei staatlichen Polizeipräsidien, häufiger bei den Kommunen und manchmal, z.B. in preußischen Garnisonsstädten, auch beim Militär. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Polizei eine neue institutionelle Entwicklung. Sie blieb in der Kompetenz der Länder und teilweise der Kommunen, diversifizierte sich jedoch im Aufgabenfeld und damit auch der inneren Organisation. Sicherheitspolizei, Schutzpolizei – auch mit den neuen Aufgaben im Bereich des Straßenverkehrs – und Kriminalpolizei bildeten sich heraus. Dabei waren zwei widerstreitende Leitlinien zu erkennen: einerseits eine Orientierung am militärischen Vorbild und andererseits eine von liberalen Politikern, wie dem preußischen Innenminister Carl Severing, forcierte Zivilisierung der Polizei, die sich unter dem damals entwickelten Motto „Die Polizei – Dein Freund und Helfer“ bündelte und von den Polizisten ein „höflicheres Verhalten“ gegenüber dem „Publikum“ forderte (vgl. Dams 2006: 115). In der Zeit des Nationalsozialismus wurde sukzessive die föderale Struktur der Polizei aufgeweicht und schließlich abgeschafft. Zunächst wurden in den Ländern SA-Führer als Polizeikommissare und Aufsichtsorgane eingesetzt, dann ging die Polizeikompetenz von den Ländern auf das Reich über. Zudem wurde die Polizei an die Partei herangeführt und mit der SS verschmolzen. Heinrich Himmler war schließlich ‚Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern’. Zu den bisherigen Formen der Schutzinkl. Verkehrs- und Kriminalpolizei kamen noch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) sowie die in den besetzten Gebieten tätigen Polizeibataillone, die auch an Kriegsverbrechen und dem Holocaust beteiligt waren (vgl. Nitschke 2000). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Polizei in der sowjetischen Besatzungszone radikal umstrukturiert: Alle ehemaligen Polizisten wurden ungeachtet ihrer Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft in der NSDAP entlassen; die Polizei wurde mit deutschen Kommunisten und anderen ‚politisch Zuverlässigen’ neu aufgebaut. Die zentralistisch organisierte Volkspolizei in der DDR hatte mit dieser Personalstruktur zunächst erhebliche Anlaufschwierigkeiten, entwickelte aber polizeiliche Professionalität – immer in der Nähe zur herrschenden Ideologie und als integraler Bestandteil des SED-Herrschaftssystems (vgl. Lindenberger 2000). Die Grundprinzipien der alliierten Siegermächte (kodifiziert bei den Konferenzen von Jalta und Potsdam) sahen vor, Deutschland zu entmilitarisieren, zu entnazifizieren, zu dezentralisieren und zu demokratisieren. Für die westlichen Besatzungsgebiete, die die spätere Bundesrepublik Deutschland bildeten, bedeutete dies einen Wiederaufbau der Polizei von unten, zunächst in den Besatzungszonen und ab 1946 in den neu gebildeten Ländern. In der britischen und amerikanischen Besatzungszone kam es infolge der angelsächsischen Polizeitradition zu einer Rekommunalisierung der Polizei. So mussten in der amerikanischen Besatzungszone (also primär im späteren Bayern und Hessen) alle Kommunen mit mehr als 5.000 Einwohnern eine eigene Polizei aufstellen (Boldt 2001: 26f.). Die Entnazifizierung des Polizeipersonals wurde – wie auch in anderen Bereichen – nicht überall gleich hart und langfristig durchgesetzt, so dass spätestens nach dem Übergang des Entnazifizierungsverfahrens in deutsche Hände und der Regelung in Art. 131 Grundgesetz auch Führungspositionen mit ehemaligen hochrangigen Polizisten des NS-Staates besetzt wurden. Auch eine

70

Bernhard Frevel und Hermann Groß

funktionale Unentbehrlichkeit hat dabei dazu geführt, dass auch politisch belastetes Personal wieder in Polizeibehörden gelangen konnte. Der Aufbau der Länderpolizeien war beeinflusst von den Vorstellungen der Besatzungsmächte, so dass sich auch verschiedene Polizeistrukturen entwickelten. So war der Aufbau der Polizei in Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen eher britisch, während in Rheinland-Pfalz die französische Prägung durchschlägt. Die Alliierten verhinderten 1949 mit ‚Polizeibriefen’ und Anweisungen auch Versuche dem Bund mehr Kompetenzen bei der Inneren Sicherheit einzuräumen und waren erst Anfang der 1950er Jahre im Zusammenhang mit der Ost-West-Auseinandersetzung bereit, einen Kurswechsel zu vollziehen. An der ‚Entpolizeilichung’ der Polizei, also der Beschränkung der Vollzugspolizei auf die Kernaufgaben der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung bei weitgehender Verlagerung anderer Aufgaben auf allgemeine Ordnungsbehörden (z.B. Feuerschutz oder Gewerbeaufsicht) wurde aber festgehalten (vgl. Fürmetz/Reinke/ Weinhauer 2001). Im Laufe der Jahre wurden in den Bundesländern dann Polizeireformen durchgesetzt, die allerdings keine Einheitlichkeit in den Aufbaustrukturen mit sich bringen, länderspezifische Eigenheiten auch in den Aufgabenbeschreibungen ermöglichen und in Laufbahnordnung wie auch Ausbildung viele Unterschiede zeigen.

1.2 Struktur der Polizei in Deutschland Zur Klärung der Polizeistruktur bedarf es der Klärung des Polizeibegriffs. Dabei gilt es jedoch zu differenzieren, wobei drei Bereiche zu berücksichtigen sind (vgl. Schenke 2004): ƒ

ƒ ƒ

Materieller Polizeibegriff: Er umfasst die mit Zwangsgewalt ausgestattete Staatstätigkeit, die auf die Abwehr von Gefahren ausgerichtet ist, welche die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden. Hiermit ist keine organisatorische Zuordnung verbunden. Institutioneller Polizeibegriff: dieser Begriff bezieht sich auf die Behörden als öffentliche Verwaltung, die Polizeiaufgaben wahrnehmen. Formeller Polizeibegriff: er beschreibt die staatlichen Funktionen, die von den Polizeibehörden ausgeübt werden, als Summe der Aufgaben und Zuständigkeiten.

Je nachdem, welcher Polizeibegriff zugrunde gelegt wird, erweitert oder verkleinert sich das Feld. So würden bei der Orientierung am materiellen Polizeibegriff auch Organisationen wie Ordnungsämter, Bauämter, Gewerbeaufsicht und Feuerwehr dazuzählen, da auch sie für öffentliche Sicherheit und Ordnung zuständig sind. Wenig Eindeutigkeit wird aber auch mit dem institutionellen Polizeibegriff erreicht, da dann z.B. Hilfspolizeien, Wachpolizeien u.a. mit hinzugezählt werden können – und teilweise müssen. Der formelle Polizeibegriff zeigt dort seine Grenzen, wo aufgrund der Zuständigkeiten der Länder und der damit verbundenen abweichenden Kompetenzzuweisungen Heterogenität entsteht. Was in dem einen Land eine polizeiliche Aufgabe ist, wird in einem anderen Land vom Ordnungsamt bewältigt.

„Polizei ist Ländersache!“ – Politik der Inneren Sicherheit

71

So bleibt eine eher pragmatische Lösung, die trotz der Diversität einem formellen Polizeibegriff folgt und das Kriterium des physischen Gewaltmonopols mit aufnimmt. Polizei ist, was Polizei heißt. Gemäß dieser Definition gibt es auf der Bundesebene und im Verantwortungsbereich des Innenministers die Bundespolizei und das Bundeskriminalamt. Weitere wichtige Träger polizeilicher Kompetenzen auf Bundesebene sind zudem die Polizei beim Deutschen Bundestag1 sowie Einheiten des Zolls, die dem Bundesfinanzminister unterstehen. Die Feldjäger sind die Polizei der Bundeswehr. Auf der Länderebene bestehen 16 eigenständige Länderpolizeien. Je nach Ausgestaltung der jeweils gültigen Polizei- und Ordnungsgesetze (die Bezeichnungen in den einzelnen Ländern sind unterschiedlich) gehören verschiedene Aufgaben, z.B. der öffentlichen Ordnung, in die Kompetenz der Polizei oder anderer Landesbehörden oder der Kommunen.2

2

Länderpluralismus der Polizeien

Jedes Land hat seine Kompetenzen zur Ausgestaltung der Polizei, die sich auf die Organisation beziehen oder auch die inhaltliche Aufgabenstellung bestimmen. So entsteht eine recht bunte Polizeilandschaft, die bislang durch eine gleiche Uniformierung (beige/grün) für die Bürgerinnen und Bürger verdeckt wurde. Aber seitdem einzelne Länder die dunkelblaue Dienstbekleidung und silber-blaue Streifenwagen einsetzen, ist auch diese Uniformität verloren.3

2.1 Polizeiorganisation Bei der Organisation ist einerseits der Aufbau auf der Landesebene zu betrachten und andererseits die Ausgestaltung auf der örtlich zuständigen Behördenebene. Nahezu jedes Land verfolgt hier eine eigene Linie, die hier alle vorzustellen den Rahmen sprengen würde (vgl. dafür Groß/Frevel/Dams 2008). So können hier nur Grundtypen exemplarisch vorgestellt werden.

1 Diese Polizei untersteht dem Bundestagspräsidenten (vgl. Art 40 Abs. 2 GG) und ist überall dort zuständig, wo der Bundestag oder die Bundesversammlung arbeiten. Die sonst regional zuständige Länderpolizei ist an diesen Orten nicht selbstständig einsatzbefugt. So soll die Unabhängigkeit der Legislative gegenüber der Exekutive gewahrt werden. 2 Nach Abschluss der Wiederverstaatlichung kommunaler Polizeien ab den 1960er Jahren (die Kommunalpolizei Münchens war 1975 die letzte Kommunalpolizei, die in eine Landespolizei eingegliedert wurde) gibt es zurzeit keine Kommunalpolizei in Deutschland. Eine Ausnahme besonderer Art bildet allerdings – ausgerechnet in einem Stadtstaat – die Polizei in Bremerhaven (vgl. Folz/Harlos 2008). 3 Da die Hauptpolizeifarbe Europas blau ist, könnte sich hier die zunehmende Bedeutung europäischer Strukturen in der Inneren Sicherheit symbolisch ankündigen.

72

Bernhard Frevel und Hermann Groß

Organisationsmodelle auf Länderebene Die Polizei untersteht in allen Bundesländern dem jeweiligen Innenminister bzw. Innensenator. Hier ist die politische Verantwortung für die Polizei im demokratischen Rechtsstaat angesiedelt und hier liegt die Schnittstelle zwischen der Politik und der Polizeiverwaltung innerhalb der Exekutive. Dann hören die Gemeinsamkeiten zwischen den Bundesländern und dem Bund schon auf. Prinzipiell lassen sich Systeme mit einer Sonderverwaltung für die Polizei von solchen, bei denen die Polizei in die allgemeine innere Verwaltung integriert ist, unterscheiden. Steht im ersten Fall zumeist ein Landespolizeipräsidium an der Spitze der Polizeihierarchie, bildet im zweiten Fall eine Ministerialabteilung die Kompetenz für Polizei auf Ebene der obersten Landesbehörden ab. Am Beispiel von Nordrhein-Westfalen (Einheitsverwaltung) und Hessen (Sonderverwaltung Polizei) sollen die beiden Grundtypen der Organisation nun näher dargestellt werden. In NRW besteht zurzeit ein dreiteiliger Verwaltungsaufbau der Polizei. Die Abteilung 4 im Innenministerium bildet nach der politisch-ministeriellen Führung die administrative Spitze. Auf der nächsten Ebene bestanden bis zum Sommer 2007 Polizeiabteilungen bei den fünf Bezirksregierungen sowie das Landeskriminalamt als funktionale Sonderbehörde. Nach deren Ausgliederung wurden die Aufgaben auf die teilweise neu geschaffenen bzw. in ihrer Funktion erweiterten Landesämter für Zentrale Polizeiliche Dienste sowie Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei verlagert. Für den operativen Polizeidienst sind die Polizeipräsidien (zumeist in kreisfreien Städten) und die Landratsbehörden in den Kreisen zuständig. Einige dieser Behörden haben als Kriminalhauptstellen nicht nur für ihren engeren Präsidialbereich, sondern auch für benachbarte Landratsbehörden Zuständigkeiten bei besonderen Delikten (Mord, Geiselnahmen etc.). Fast 50 Behörden sind in dem einwohnerstärksten Bundesland aktiv. In Hessen unterstehen seit der Polizeireform aus dem Jahr 2001, als dieses Bundesland von der Einheitsverwaltung zur Sonderverwaltung Polizei wechselte, dem Landespolizeipräsidium zehn Polizeipräsidien und die Polizeischule als zentrale Fortbildungsinstitution. Bei den Polizeipräsidien handelt es sich um sieben regional zuständige Behörden („Flächenpräsidien“), die das Gesamtterritorium Hessens erfassen, sowie die funktional für ganz Hessen zuständigen Präsidien für Technik/Logistik/Verwaltung und Bereitschaftspolizei sowie das Hessische Landeskriminalamt. Das Verhältnis von 50 Behörden in NRW zu zehn Behörden in Hessen macht deutlich, dass es unterschiedliche Polizeiphilosophien und Vorstellungen zur politischen Führung und Organisation gibt. In Hessen (Ähnliches gilt auch für die anderen Länder mit Flächenpräsidien) wird die Ansicht vertreten, dass es eine klare politische und polizeiliche Steuerungs- und Führungsstruktur geben solle, dass hierfür auf eine Hierarchiestufe verzichtet werden kann und dass die polizeiliche Aufgabenbewältigung flexibler und sachnäher gestaltet werden kann. In NRW wurde und wird zumindest von einigen Parteien die Ansicht vertreten, dass die Anbindung an die Landräte bzw. auch die Präsidiumsorientierung an den Stadtgebieten eine größere Problemnähe, eine dichtere politische Verantwortung und überschaubarere Einheiten mit sich bringe. Auch sei die Kooperation der Polizei mit den kommunalen Behörden sowie den gesellschaftlichen Gruppen besser zu bewerkstelligen. Versuche, diese historische Aufbauorganisation mit Kreispolizeibehörden aufzuheben, wur-

„Polizei ist Ländersache!“ – Politik der Inneren Sicherheit

73

den auch in NRW wie in anderen Flächenstaaten unternommen, scheiterten jedoch bislang (vgl. Frevel 2002: 87ff.).

Organisationsmodelle auf Behördenebene Auch auf der Behördenebene werden unterschiedliche Vorstellungen gehegt und gepflegt. Erkennbar sind auch hier zwei Grundorientierungen – die jedoch nicht in Reinform existieren. Zu unterscheiden sind das Regionalprinzip und das Funktionalprinzip. Regionalprinzip bedeutet, dass die Behörde in örtlich zuständige Untereinheiten zergliedert wird. In den Landratsbehörden in NRW beispielsweise bestehen bislang in der Abteilung Gefahrenabwehr/Strafverfolgung mehrere Polizeiinspektionen. Diesen Polizeiinspektionen sind Polizei(haupt)wachen nachgeordnet, die insbesondere für den Streifendienst zuständig sind. Zudem stehen den Inspektionen in den einzelnen Orten Bezirksdienstbeamte auf Quartiersebene als Ansprechpartner zur Verfügung. In Hessen gliedern sich die sieben Präsidien in 21 Direktionen mit 80 Stationen und 36 Revieren sowie weiteren 29 Polizeiposten. Im Funktionalprinzip steht die Orientierung an den polizeilichen Fachlichkeiten im Vordergrund, wobei häufig unterschieden wird zwischen Verwaltung, Einsatz, Kriminalitätskontrolle, Verkehrsangelegenheiten und anderen Diensten (z.B. eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei, ein Spezialeinsatzkommando oder die Autobahnpolizei). In der Behördenrealität existieren jeweils Kombinationen beider Prinzipien, so dass beispielsweise in NRW neben den Polizeiinspektionen auch die Zentrale Kriminalitätsbekämpfung als Unterabteilung besteht und die Direktion Kriminalität auch über Regionalkommissariate verfügt. Der Blick in die Organigramme der Länderpolizeien macht aber deutlich, dass zwischen den Polizeien der Länder kaum Übereinstimmung bei den Begrifflichkeiten der Untergliederungen besteht. Unterstehen dem hessischen Landespolizeipräsidenten die Polizeipräsidien, so heißt diese Ebene in Niedersachsen oder Baden-Württemberg Polizeidirektion. Eine Polizeidirektion ist im nordrhein-westfälischen Polizeisprachgebrauch jedoch eine Untergliederung eines Polizeipräsidiums. Hat in Niedersachsen die Inspektion Leer/Emden die Verantwortung in den Kreisen Leer, Aurich und der kreisfreien Stadt Emden und damit die Größe mehrerer Kreispolizeibehörden in NRW, so ist die Polizeiinspektion in NRW meist nur für einen Teil eines Kreisgebiets zuständig. Eine Polizeihauptwache in NRW heißt in Niedersachsen Kommissariat – was aber in NRW die Untergliederung der ZKB ist. Ein Polizeiposten wie in Hessen existiert in NRW gar nicht mehr. Der Wach- und Wechseldienst in NRW – genannt WWD – heißt in Niedersachsen ESD für Einsatz- und Streifendienst. Während der Ansprechpartner im Wohnquartier im einen Land ein Bezirksdienstbeamter ist, wird er in einem anderen Kontaktbereichsbeamter genannt. Nicht ganz verstanden? Dieser begriffliche Wirrwarr erschwert auch Polizeiinsidern die Kommunikation. Aber: Polizei ist ja Ländersache. Die verwirrenden Begrifflichkeiten sind klarer Ausdruck der Organisationshoheit der Länder, die es ihnen erlaubt, nicht nur verschiedene Organisationsmodelle zu wählen, sondern auch unabhängig über Bezeichnungen zu entscheiden.

74

Bernhard Frevel und Hermann Groß

Ausbildung und Karriere in der Polizei Als hoheitliche Einrichtung beschäftigt die Polizei für den Vollzugsdienst fast ausschließlich Beamte. Für die Beamten gilt (noch) eine weitgehend identische und im deutschen Beamtentum allgemein übliche Laufbahngliederung, die sich aufteilt in den einfachen, den mittleren, den gehobenen und den höheren Dienst. Während der einfache Dienst schon lange in der Polizei nicht besetzt ist und nicht für ihn ausgebildet wird, war lange Zeit und bis in die 1990er Jahre die polizeiliche Regel, dass nach der Ausbildung für den mittleren Polizeivollzugsdienst an der Polizeischule und der anschließenden Tätigkeit in der Hundertschaft oder im Streifendienst ein Leistungs- und Bewährungsaufstieg möglich war. Bei besonderen Leistungen konnte nach einem Studium an einer Polizeifachhochschule die gehobene Laufbahn vollzogen und Leitungsfunktionen übernommen werden. Besonders befähigte Polizisten konnten dann an der Polizei-Führungsakademie einen Ratslehrgang besuchen und nach dessen Abschluss dem höheren Dienst angehören. Die Masse der Polizistinnen und Polizisten gehörte dem mittleren Dienst an, schon deutlich weniger waren im gehobenen Dienst und nur eine kleine Spitze von unter zwei Prozent der Beamten zählte zum höheren Dienst. Interessant dabei ist, dass Bund und Länder bei der Ausbildung für den mittleren und gehobenen Polizeivollzugsdienst die volle Souveränität für sich beanspruchen, bei der Ausbildung für den höheren Polizeivollzugsdienst, also die quantitativ geringe Polizeielite, sich aber eines Bund-Länder-Abkommens bedienen, um zumindest in diesem Bereich eine Gleichförmigkeit zu erzielen. Ein Jahr des Studiums wird an der Deutschen Hochschule der Polizei (früher Polizei-Führungsakademie) in Münster-Hiltrup absolviert, ein zweites Jahr ist in den jeweiligen Entsendeländern mit bundeseinheitlichem Curriculum vorgeschaltet. Auf Drängen der Polizeigewerkschaften gab die nordrhein-westfälische Landesregierung der Unternehmensberatung Kienbaum den Auftrag, die schutzpolizeiliche Arbeit hinsichtlich der Eingruppierung zu untersuchen. Im Sommer 1991 wurde dieses Gutachten vorgelegt (Kienbaum 1991). Es besagte u.a., dass die Einsatzanforderungen auch des Streifenpolizisten so hoch und die Tätigkeiten so anspruchsvoll seien, dass die Regeltätigkeit der Polizei den Kriterien des gehobenen Dienstes entspreche. Dieses Urteil erschütterte die Polizeien. Einige Länder (Hessen, Niedersachsen, NRW) zogen die Konsequenz, den mittleren Dienst auslaufen zu lassen, nicht mehr für ihn auszubilden, dessen Angehörige auf verschiedene Weise in den gehoben Dienst zu befördern und den Polizeinachwuchs nur noch an Polizeifachhochschulen auszubilden, auf dass dieser nach der Staatsprüfung als Kommissar in den Dienst geht (vgl. Groß 2003: 143). Hier besteht die zweigeteilte Laufbahn. Andere Länder, wie z.B. Baden-Württemberg, Bayern und die meisten ostdeutschen Länder, entschieden sich gegen diese Variante und behalten die dreigeteilte Laufbahn bei. Gründe für dieses Festhalten sind einerseits polizeifachlicher Art (Polizei sei ein Erfahrungsberuf, verschiedene Tätigkeiten im Objektschutz und in Hundertschaften erfüllten nicht die Kriterien des gehobenen Dienstes, praxisorientierte Ausbildung sei besser möglich) und andererseits finanzieller Art, denn die Verlagerung des Beschäftigungsschwerpunkts vom mittleren in den gehobenen Dienst erhöht die Personalkosten immens. Während in den Ländern mit zweigeteilter Laufbahn nun die Einstiegsvoraussetzung zum Polizeistudium das (Fach-)Abitur ist und Realschulabgänger kaum noch den Weg in die Polizei finden, wird dieses Reservoir in den Ländern mit dreigeteilter Laufbahn noch

„Polizei ist Ländersache!“ – Politik der Inneren Sicherheit

75

genutzt. Aber auch in diesen Ländern besteht die Möglichkeit des so genannten Seiten- oder Direkteinstiegs von (Fach-)Abiturienten in das Studium für den gehobenen Polizeidienst – jedoch nur für deutlich weniger Nachwuchskräfte. Tendenziell favorisierten sozialdemokratisch geführte Landesregierungen (auch unter Beteiligung grüner und liberaler Koalitionspartner) dabei die zweigeteilte Laufbahn, während unionsgeführte Landesregierungen am „alten“ Modell der Polizeiausbildung festhielten. Eine genaue Analyse der Einführung der zweigeteilten Laufbahn ergibt aber, dass hinter diesem Prozess weniger Parteien und Regierungen mit ihrer ideologischen Färbung zu verorten sind, sondern die mächtigen Polizeigewerkschaften, denen es in einigen Ländern gelang, politische Akteure für ihre Idee zu gewinnen. Die verschiedenen Laufbahnmodelle verändern das Polizeigefüge deutlich. Und in allen Ländern besteht die Diskussion über die Einführung oder auch die Abschaffung der zweigeteilten Laufbahn fort. Betonen die einen die Hochwertigkeit der Polizeiarbeit und die Anforderungen der Gesellschaft als Gründe für die zweigeteilte Laufbahn, erkennen andere verzerrte Karrierewege und -vorstellungen, Rekrutierungsprobleme angesichts des demografischen Wandels und Grenzen der Finanzierbarkeit des Polizeiapparats (vgl. Groß/ Schmidt 2005).4

Sonderformen der Polizei: Wachpolizei und freiwilliger Polizeidienst Neben der Vollzugspolizei existieren in einigen Ländern „Angestelltenpolizeien“ mit eingeschränkten Befugnissen und einem begrenzten Aufgabenspektrum sowie eine Möglichkeit des ehrenamtlichen Bürgerengagements im Bereich Innere Sicherheit. Diese Randsektoren der Polizeiarbeit sind ein weiterer Ausdruck der Polizeihoheit der Bundesländer. Hauptamtlich tätige Angestelltenpolizeien finden sich in Berlin (Angestellte im Polizeidienst), Hamburg (Angestellte im Wachdienst), Sachsen und Hessen (Wachpolizei). Neben ihrem statusrechtlichen Unterschied zu den Polizeivollzugsbeamten verfügen sie über eine kürzere Ausbildung (9-14 Wochen im Vergleich zu rund 3 Jahren) und eingeschränkte Kompetenzen. Sie werden überwiegend für Bewachungs- und Kontrollaufgaben (z.B. Objektschutz; Verkehrskontrolle oder Gefangenentransporte) eingesetzt. In rechtlicher Hinsicht sind Angestelltenpolizeien weitgehend mit den in vielen Bundesländern bekannten Hilfspolizeien vergleichbar, im Gegensatz zu den organisatorisch bei den örtlichen Ordnungs- und Verwaltungsbehörden angebundenen Hilfspolizeien mit überwiegend Kontroll- und Überwachungsaufgaben (z.B. der Gewerbe- oder Straßenverkehrsordnung) sind sie hier jedoch Teil der allgemeinen Aufbauorganisation von Polizeibehörden. Tendenziell handelt es sich um eine Organisationsidee konservativer Polizeipolitik um kostengünstig und flexibel Polizeipräsenz zu erhöhen und den Polizeivollzugsdienst von „einfachen“ Tätigkeiten zu entlasten. In Hessen wurde dementsprechend die Wachpolizei auch nach dem Regierungswechsel von einer rot-grünen zu einer bürgerlich-liberalen Koalition 1999 zunächst als Modellversuch eingeführt und dann verstetigt und ausgebaut (vgl.

4 Im Kontext des Bologna-Prozesses ändern sich im Übrigen auch die Ausbildungsstrukturen in der Polizei, vgl. Frevel/Liebl 2007.

76

Bernhard Frevel und Hermann Groß

Groß/Schmidt 2002). Auch der Rechtspopulist Ronald Schill setzte in seiner Zeit als Hamburger Innensenator (2001-2003) auf dieses Instrument, um seine unrealistischen, kurzfristig beim Wähler aber überzeugenden Vorhaben zur drastischen Verringerung der Kriminalität zu verwirklichen (Prätorius 2006: 328). Auch das ehrenamtliche Engagement von Bürgern zur Verbesserung der Inneren Sicherheit in Form von „Laienpolizeien“ ist eine vorwiegend von konservativen Parteien und Regierungen verfolgte Strategie der Polizeipolitik. In Hessen, Baden-Württemberg und Berlin firmiert dieses Instrument unter „Freiwilliger Polizeidienst“, in Bayern und Sachsen unter „Sicherheitswacht“ und in Brandenburg als „Sicherheitspartner“. Hier wird versucht, die Bereitschaft von Bürgern, sich im Rahmen ihrer Kommune für Sicherheitsaufgaben zu engagieren, zu nutzen, um präventiv das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu verstärken. Am weitesten geht dabei Baden-Württemberg, wo ehrenamtliche Laienpolizisten gemeinsam mit Polizeivollzugsbeamten auf Streife gehen (und bewaffnet sind). In den übrigen Ländern fungieren die Angehörigen der freiwilligen Polizei als Ansprechpartner für Bürger. Sie zeigen Präsenz, in öffentlichen Räumen, denen sich die Vollzugspolizei nicht widmen kann. In Gefahrenlagen sollen sie die professionelle Polizei schnell herbeirufen. Die Verbesserung der Polizeipräsenz wird dabei mit einer Entprofessionalisierung5 der Polizeiarbeit erkauft, da der Freiwilligenpolizei nur wenig Basiswissen zur Verfügung gestellt wird. Das Land Hessen schließt dabei mit Kommunen, die einen Freiwilligen Polizeidienst einrichten wollen, Abkommen, finanziert die Ausbildung und organisiert den Einsatz, während die Kommunen für die Aufwandsentschädigung der Angehörigen des Freiwilligen Polizeidienstes aufkommen müssen (vgl. Kreuzer/Schneider 2002; Ehm 2005). Eine zwiespältige Haltung nehmen Polizeigewerkschaften gegenüber den Entprofessionalisierungstendenzen in der Polizeiarbeit ein. Insbesondere gilt dies gegenüber den Angestelltenpolizeien, die sie aus prinzipiellen Gründen ablehnen, deren Interessen sie aber auch dann vertreten müssen, wenn deren Angehörige selbst Gewerkschaftsmitglieder werden.

2.2 Polizeirecht Das deutsche Polizei- und Ordnungsrecht ist ein Beispiel für strukturelle Zwänge eines föderalistischen Staatsaufbaus, der zwar die prinzipielle Polizeihoheit den Ländern zuweist, ohne ein Mindestmaß an Einheitlichkeit aber negative Auswirkungen auf die Innere Sicherheit vergegenwärtigen muss. Daneben hatten und haben historische Traditionen im Polizeirecht einen großen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung von Rechtsnormen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde (insbesondere in Norddeutschland) an das Preußische Polizeiverwaltungsgesetz von 1931 mit seiner allgemeinen Handlungsermächtigung angeknüpft,6 während in Süddeutschland lokale Polizeirechtstraditionen fortgesetzt wurden. Im Rahmen der Entpolizeilichung, also der Auslagerung von Kontroll- und Überwachungsaufgaben aus der Polizei auf spe5 Behr formuliert hier begrifflich kritischer und bezeichnet diesen Prozess als Laisierung und Deprofessionalisierung (2002: 93). 6 Auch in den Anfangszeiten des nationalsozialistischen Regimes und auch in der DDR wurde auf diese Rechtsgrundlage zurückgegriffen, bevor diese totalitären Regime eigene Polizeigesetze erarbeiteten.

„Polizei ist Ländersache!“ – Politik der Inneren Sicherheit

77

zielle Behörden (z.B. Gewerbeaufsicht, Feuerwehr, Pass- und Meldewesen) wurden in allen Bundesländern ab den 1950er Jahren eigene Polizeigesetze geschaffen, die sich materiell nur wenig voneinander unterschieden, in der Polizeiorganisation und im Aufgabenspektrum aber Differenzen zeigten.

Vereinheitlichungstendenzen im Polizeirecht Polizeiarbeit im repressiven Bereich der Strafverfolgung ist bundeseinheitlich insbesondere über die Strafprozessordnung geregelt. Hier fungieren Polizeibeamte als „Ermittlungspersonen“ der Staatsanwaltschaft, die das Verfahren leitet, die tatsächliche Arbeit aber von der Polizei erledigen lässt. Bundesgesetze garantieren in diesem Bereich die Rechtseinheit Deutschlands und die „Gleichheit vor dem Gesetz“. Die Ausdifferenzierung des Polizeirechts in den einzelnen Bundesländern und die damit verbundene detaillierte Normierung polizeilicher Eingriffsbefugnisse im präventiven Sektor der Polizeiarbeit, also der Verhinderung von Straftaten und der Aufrechterhaltung öffentlicher Sicherheit, sowie die Zunahme länderübergreifender Polizeieinsätze ab den 1960er Jahren erhöhten den Druck, polizeirechtliche Grundlagen zu vereinheitlichen. Polizeigesetze der Länder sollten sich annähern. Als Instrument einer „freiwilligen Selbstkoordination“ (Boldt 2001: 34) der Länder bot sich die Innenministerkonferenz an (vgl. Kap. 3.2), die einen Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes 1976/1977 verabschiedete, diesen aufgrund des Volkszählungsurteils (1983) mit dem darin zum Ausdruck kommenden Recht auf informationelle Selbstbestimmung 1986 nochmals überarbeitete, und der sich als Grundlage für Polizeigesetze der Länder durchsetzte. Formal war damit die Gesetzgebungshoheit der Länder nicht tangiert worden, den Landesparlamenten blieb im stark exekutiv dominierten Politikfeld Innere Sicherheit aber nur wenig Spielraum eigene Akzente zu setzen. Ein von Rechtswissenschaftlern verfasster liberaler Alternativentwurf für ein einheitliches Polizeigesetz fand wenig Zuspruch. Neben den gesetzlichen Grundlagen bilden Polizeidienstvorschriften (PDV) detaillierte und verbindliche Anweisungen für die Polizeiarbeit. Sie werden von den Innenministerien erlassen, sind größtenteils nicht-öffentlich und regeln den Dienstbetrieb bei der Polizei. Eine Vorschriftenkommission der Innenministerkonferenz erarbeitet diese Polizeidienstvorschriften (etwa PDV 100 „Führung und Einsatz der Polizei“ oder PDV 382 „Bearbeitung von Jugendsachen“) und sorgt damit für eine bundes- und ländereinheitliche Polizeiarbeit. In Form von (geringen) länderspezifischen Zusätzen wird aber den Bedürfnissen einzelner Länder Rechnung getragen.

Unterschiede im Polizeirecht der Länder Die generelle Weiterentwicklung des Polizeirechts ab den 1980er Jahren von der klassischen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung hin zum operativ-integrierten Eingriffsrecht (Bäuerle 2005: 58f.) lässt sich für ganz Deutschland feststellen. Mit der Ausdifferenzierung und der

78

Bernhard Frevel und Hermann Groß

rechtlichen Präzisierung verbunden sind aber auch Unterschiede in den Polizei- und Ordnungsgesetzen der Länder. Im Polizei- und Ordnungsrecht der Länder lassen sich zwei Systeme unterscheiden: Die Polizei- und Ordnungsbehörden werden entweder einheitlich als Polizeibehörden organisiert wie in Baden-Württemberg (Einheitsprinzip) oder getrennt als Polizeibehörden und Ordnungsbehörden wie etwa in Hessen oder Bayern (Gusy 2003: 33). In allen Polizeigesetzen der Länder wird die „öffentliche Sicherheit“ als Auftrag der Polizei erwähnt. Sie umfasst den Schutz der Rechtsordnung und der Rechtsgüter des Einzelnen sowie den Schutz staatlicher Einrichtungen. Der Schutz der „öffentlichen Ordnung“ als Summe ungeschriebener Normen für ein Zusammenleben in der Gesellschaft wird hingegen in einigen Ländern (etwa Bremen oder Niedersachsen) als Auftrag überhaupt nicht mehr genannt, hat in einer pluralistischen Gesellschaft aber auch an Bedeutung verloren. Am Beispiel des finalen Rettungsschusses, also eines gezielten polizeilichen Todesschusses, sollen Unterschiede in Detailregelungen polizeilicher Befugnisse in den einzelnen Bundesländern aufgezeigt werden. Das in den 1970er Jahren konzipierte Prinzip des finalen Rettungsschusses findet sich in den Polizeigesetzen von zehn Bundesländern im fast identischen Wortlaut. Hamburg und Bremen nehmen diese Möglichkeit vom Weisungsrecht aus, womit der einzelne handelnde Polizist entscheiden muss und der finale Rettungsschuss nicht angeordnet werden kann. Vier Länder (Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, SchleswigHolstein und Nordrhein-Westfalen) verzichten auf eine Regelung. In diesen Ländern wird auf allgemeine Notwehr- und Notstandsrechte zurückgegriffen. Tendenziell haben konservative Landesregierungen schneller (oder überhaupt) eine Regelung zum „finalen Rettungsschuss“ erlassen als Regierungen anderer Couleur. So wurde beispielsweise in Hessen eine gesetzliche Regelung erst unter einer CDU-Regierung getroffen, während sozialdemokratische Landesregierungen darauf verzichtet hatten und eine indirekte Lösung über Erlasse wählten. Auch an anderen polizeirechtlichen Maßnahmen wie der Videoüberwachung des öffentlichen Raums, den verdachtsunabhängigen Kontrollen (Schleierfahndung), die zuerst in Bayern 1995 ermöglicht wurden, oder der Dauer des Unterbindungsgewahrsams (präventive Festnahme einer Person zur Verhinderung von Straftaten) ließen sich Unterschiede zwischen den Bundesländern demonstrieren, die zum Teil auf parteipolitischen Differenzen beruhen. Interessant dabei ist, dass dies aber immer vor dem Hintergrund der „politischen Grundstimmung“ einer Epoche passiert, wie Liberalisierungstendenzen in den 1960er und insbesondere 1970er Jahren ebenso belegen wie „Verschärfungstendenzen“ in den 1990er Jahren und vor allem im Zusammenhang mit der weltweiten Terrorismus-Diskussion nach 2001.

2.3 Polizei- und Eingriffsphilosophie Auch in der polizeilichen Taktik und Eingriffsphilosophie lassen sich neben generellen Trends, die alle deutschen Polizeien betreffen, Unterschiede zwischen den Bundesländern ausmachen, wobei ein klarer Nachweis noch schwerer fällt als bei Unterschieden im Polizeirecht. Generelle Entwicklungen waren etwa die Entmilitarisierung der Polizei oder die im

„Polizei ist Ländersache!“ – Politik der Inneren Sicherheit

79

Zusammenhang mit einem zunehmenden Protestgeschehen ab den 1960er Jahren (und darauf bezogenen höchstrichterlichen Urteilen) entwickelte Deeskalationsstrategie bei Demonstrationen. Es lässt sich eine klare Entwicklung von einer Staatspolizei zu einer Bürgerpolizei feststellen. War bis Ende der 1960er Jahre eine autoritär geprägte und auf den Schutz des Staates ausgerichtete Polizeiphilosophie vorherrschend, prägte nach einer Phase des Umbruchs ab den 1970er Jahren eine stärkere Orientierung an der Verfassung und am Schutz der Grundrechte die Polizeiarbeit. Aber selbst innerhalb dieses Großtrends lassen sich dann Unterschiede oder zumindest Variationen feststellen, wie etwa bei der Handhabung des Vermummungsverbotes (vgl. Winter 1998) oder dem polizeilichen Umgang mit der Drogenproblematik. Gerade beim letzten Thema ergeben sich aber Interaktionsprozesse mit der Justizpolitik, da sich die Polizei in ihrer Arbeit auch am Verhalten der Justizbehörden und der Urteilspraxis orientiert.

3

Einheit oder Vielfalt?

Aus den obigen Ausführungen wird deutlich, dass es sowohl ein beachtliches Maß an Einheitlichkeit in der Polizei und ihrer Aufgabenerfüllung der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung als auch signifikante Unterschiede bei der Organisation und der Aufgabengestaltung gibt. Das Spannungsverhältnis von Einheit und Vielfalt hat verschiedene Gründe, die im Folgenden nur skizziert werden können.

3.1 Gründe für die Vielfalt Bei dem Versuch die verschiedenen Polizeistrukturen zu erfassen und zuzuordnen, als Polizeigeografie darzustellen und Begründungen zu finden, ergeben sich drei wesentliche Ansätze: Geschichte, Parteipolitik/Polizeiideologie sowie besondere Einsätze.

Geschichte Wie bereits in Kapitel 1.1 angesprochen, legten die alliierten Besatzungsmächte nach dem Zweiten Weltkrieg in ihren Besatzungszonen verschiedene Konzepte für den Aufbau der Polizei zugrunde. Diese Konzepte wurden von den Ende der 1940er Jahre gegründeten Bundesländern fortentwickelt. In den britischen Besatzungszonen orientierte man sich zunächst an folgenden Kriterien: (1) ein dezentraler Gesamtaufbau, (2) die Kontrolle der Polizeibehörden durch zivile Gremien, (3) die Beschränkung der Aufgaben der Polizei auf die Gefahrenabwehr und die Strafverfolgung, (4) keine Ausrüstung mit Schusswaffen, (5) die Einheitslaufbahn und (6) das Verbot der politischen und gewerkschaftlichen Betätigung (Noethen 2003: 69f.), wobei das vierte und sechste Kriterium schon bald aufgegeben wurden. In Rheinland-Pfalz, das unter französischer Aufsicht stand, galt, dass Orte mit einer Bevölkerung von mehr als 5.000 Einwohnern unter Leitung des Bürgermeisters eine Ortspolizei (Verwaltungs-, uniformierte Ordnungs- und Kriminalpolizei) einrichten durften. In den

80

Bernhard Frevel und Hermann Groß

Landkreisen wurde unter der Polizeigewalt des Landrats die Gendarmerie für schutz- und kriminalpolizeiliche Aufgaben eingesetzt. Hierin spiegelt sich das in Frankreich bestehende System von police municipal und der gendarmerie, die im ländlichen Raum die Polizeigewalt ausübt. Den Amerikanern waren die Trennung polizeilichen Handelns von anderen staatlichen Aktivitäten und eine Rekommunalisierung der Polizei besonders wichtig. Aufgaben, die nicht im engeren Sinn mit Sicherheit und Ordnung als „Dienst am und für den Bürger“ zu tun haben, wurden aus dem Polizeirecht genommen und an andere Verwaltungseinheiten verwiesen. Getrennt wurde die Polizei von der politischen Arbeit, und noch heute gilt in Bayern ein politisches Mäßigungsgebot für Polizisten. Weiterhin ist es der Polizei nicht gestattet, Anordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen sowie in richterlicher Eigenschaft zu handeln. Aufbauend auf diesem Grundsatz ist es beispielsweise Polizeivollzugsbeamten auch heute noch verwehrt, ein Schöffenamt wahrzunehmen. Je nach Besatzungsmacht wurde die Polizei also nach heimatlichen Aufbau- und Kompetenzprinzipien neu gestaltet und nachhaltig geprägt.

Parteipolitik/Polizeiideologie Die aus den politischen Strömungen des Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus im 19. Jahrhundert entwickelten Parteiideologien prägen das jeweilige Staats- und Menschenbild, die Vorstellung vom Zusammenleben in der Gesellschaft und damit auch die Haltung zur Rolle der Polizei. Ohne hier auf die Ideologien näher eingehen zu können (vgl. Göhler/ Klein 1991), lassen sich gleichwohl einige polizeiliche Wirkungen der Prinzipien erkennen (Frevel 2006: 39): ƒ

ƒ

ƒ

In eher liberalen Vorstellungen wird dem Staat und dessen Polizei eine Funktion des Schutzes zugewiesen, bei dem jedoch die Gesellschaft ihr Schutzbedürfnis formuliert, und dabei darauf achtet, dass die Freiheitsrechte der Bürger möglichst weitgehend erhalten bleiben. Die Gefahr eines staatlichen Machtmissbrauchs wird wahrgenommen, so dass weitreichende Abwehrrechte, z.B. in Form von Datenschutz und anderen Persönlichkeitsrechten, vorgesehen werden. In eher konservativen Vorstellungen wird unter Verweis auf das Gemeinwohlprinzip und die hierarchische Ordnung der Gesellschaft die besondere Bedeutung der Exekutive hervorgehoben. Abweichendes Verhalten stört dieser Sicht zufolge das Gemeinwohl, so dass dieses Verhalten mittels Kontrolle und Strafen eingedämmt bzw. sanktioniert wird. Die individuellen Rechte müssen demnach hinter den kollektiven Rechten der Gemeinschaft zurücktreten. Der Polizei werden von Konservativen mehr Eingriffsund Kontrollrechte in der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung zuerkannt als von den Liberalen. In eher sozialdemokratischen Vorstellungen wird abweichendes Verhalten häufig als Folge sozialer Probleme und sozialer Ungleichheiten gesehen und gleichwohl die staatliche Eingriffs- und Steuerungskompetenz betont. Dies führt dazu, dass die Politik der Inneren Sicherheit i.d.R. auf den beiden Pfeilern einer präventiven und intervenierenden Sozialpolitik und einer repressiven, aber nicht die Täter ausgrenzenden und stig-

„Polizei ist Ländersache!“ – Politik der Inneren Sicherheit

81

matisierenden Polizeistrategie ruht. Die Sozialdemokraten setzen in beiden Feldern jedoch auf den ‚starken Staat’, statt auf die liberalen Vorstellungen weitgehender Selbstregelungskräfte der Gesellschaft. Die von diesen ideologischen Prinzipien beeinflussten Polizeibilder spiegeln sich auch in den Polizeigesetzen der Länder, sind dort aber mehr als Grauschattierungen denn als Schwarz-weiß-Dichotomien zu erkennen. Sie betreffen vor allem Detailregelungen, wie am Beispiel des „finalen Rettungsschusses“ aufgezeigt wurde, oder den Zeitpunkt der Einführung von Neuerungen, wie sich mit der Aufnahme von Frauen in die (uniformierte) Schutzpolizei belegen lässt. Hier war Bayern das letzte Bundesland, das 1990 Frauen für den Dienst in der Schutzpolizei zuließ, während Berlin schon 1978 damit begann (Murck/Werdes 1996: 1269).

Besondere Einsätze In der Geschichte der Polizeien gab und gibt es auch immer wieder besondere Einsätze, die dann polizeiintern, politisch und auch juristisch aufbereitet wurden und werden und Wirkungen auf Einsatzplanung, Ausbildung und das landesspezifische Polizeirecht haben. Solche Einsätze betrafen z.B. das polizeiliche Vorgehen bei den Studentendemonstrationen in den „1968er Jahren“, das noch quasi-militärisch war und in Forderungen nach einer deutlich zivileren Ausbildung und demokratiefreundlichen Einsatzgestaltung mündete. Bedeutsam für die Polizeientwicklung waren auch die Anti-AKW-Demonstrationen in Brokdorf, bei denen die Polizei mit hoher Gewaltanwendung agierte und sich schließlich vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 69, S. 315ff.) erklären lassen musste: „In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chancen, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im allgemeinen nur eine kollektive Einflussnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen.“ Deshalb dürfe die Polizei nur einen geringst möglichen Eingriff in die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit vornehmen. Auch die Verarbeitung des RAF-Terrors (1970/80er), der Einsätze an der Startbahn West in Frankfurt und an der Wiederaufbereitungsanlage im bayerischen Wackersdorf (1984-1987), die Bewältigung des Geiseldramas von Gladbeck (1988) oder des Übergriffs auf Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen (1992) beeinflussten die Polizei und führten zu Veränderungen in der Ausstattung, zu Änderungen in der taktischen Gestaltung, aber auch der politischen und ethischen Ausbildung von Polizisten, zu neuen Führungsprinzipien und veränderten polizeilichen Leitbildern. Diese Einsätze wirken dabei zunächst im betroffenen Bundesland, strahlen aber auch auf andere Polizeien aus, nicht zuletzt durch länderübergreifende Einsätze.

82

Bernhard Frevel und Hermann Groß

3.2 Koordinierung der Vielfalt: Die Rolle der Innenministerkonferenz in der deutschen Polizeipolitik Die seit 1954 existierende „Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder“, so die offizielle Bezeichnung der in Kurzform als „Innenministerkonferenz“ (IMK) bezeichnete Institution, ist das zentrale Koordinations- und (Vor-)Entscheidungsorgan im Politikfeld Innere Sicherheit, mit dem Bundesländer versuchen horizontal untereinander und vertikal im Verhältnis zum Bund konsensuell und informell einheitliche Lösungen für Fragen der Inneren Sicherheit zu erarbeiten. Neben einer rein administrativen Koordination der Innenministerien soll eine in ihren Ergebnissen, nicht aber in ihrer Arbeit öffentlichkeitswirksame politische Absprache der Länderinnenminister erreicht werden. Obwohl formal nur Gast, nimmt das Bundesinnenministerium eine entscheidende Rolle innerhalb der IMK ein. Zwar kann der Bundesinnenminister keine Beschlüsse verhindern, eröffnet aber mit einem Vortrag zur innenpolitischen Sicherheitslage zumeist die Innenministerkonferenz und stellt deren Ergebnisse zusammen mit dem Vorsitzenden der IMK dar. Seit einer Organisationsreform 1997 wechselt der Vorsitz jährlich (zuvor zweijähriger Turnus), wobei dem Innenminister oder -senator, der den Vorsitz in der IMK hat, ein Sekretariat zur Seite steht, das bis 1997 im jeweiligen Innenministerium angesiedelt war, seitdem aber im Bundesrat als Dauereinrichtung arbeitet, ohne formal-rechtlich an die zweite Parlamentskammer angebunden zu sein. Allerdings sind die Mitglieder der IMK im Regelfall auch Mitglieder des Innenausschusses des Bundesrates, wobei die wesentlichen Entscheidungen zur Politik der Inneren Sicherheit nicht dort fallen, sondern in und zwischen den Ländern bzw. zwischen den Ländern und dem Bund ausgehandelt werden. Auf europäischer Ebene tritt auf deutscher Seite der Bundesinnenminister zusammen mit dem Vorsitzenden der IMK auf, der damit die Position der Länder im Prozess einer europäisierten Politik der Inneren Sicherheit vertreten kann. Die IMK tagt in zwei ordentlichen Sitzungen im Frühjahr und Herbst eines jeden Jahres, wobei zwei Teilsitzungen zu unterscheiden sind. Ein größeres Gremium aus ca. 150 (Innen-)Politikern und Ministerialbeamten verabschiedet in meist zweitägigen Treffen die Vorlagen der administrativ-exekutiv geprägten Ergebnisse der Arbeitsebene. Den inneren Kreis der IMK bilden allein die Innenminister und -senatoren der Länder, die strategische oder politisch brisante Themenbereiche in ‚Kamingesprächen’ erörtern. Unterhalb der politischen Ebene koordinieren und erarbeiten sechs Arbeitskreise (AK) alle Themen der Innenpolitik. Für das Politikfeld „Innere Sicherheit“ zentral sind dabei im Polizeibereich der AK II sowie im Geheimdienstsektor der AK IV. Die Leitung dieser Arbeitskreise, die ebenfalls einer turnusmäßigen Rotation (meist alle zwei Jahre) zwischen den Bundesländern unterliegt, übernimmt dabei fast immer der Abteilungsleiter der betreffenden Ministerialabteilung im Land. Im AK II repräsentiert sind neben den 16 Bundesländern als beratende Mitglieder ohne Stimmrecht das Bundesinnenministerium, das Bundeskriminalamt als national koordinierende Kriminalpolizei und die Deutsche Hochschule der Polizei. Die eigentliche Arbeit, damit stark an eine ministerielle Organisation erinnernd, findet in ständigen „Unterausschüssen“ statt, die flexibel und themenbezogen Projektgruppen oder permanente Arbeitsgruppen und Kommissionen für Spezialthemen bilden. Im Arbeits-

„Polizei ist Ländersache!“ – Politik der Inneren Sicherheit

83

kreis II gibt es aktuell drei Unterausschüsse, die sich mit Führung, Einsatz und Kriminalitätsbekämpfung (UAFEK), Führungs- und Einsatzmitteln (UAFEM) und Recht und Verwaltung (UARV) beschäftigen und damit den Dreiklang Einsatz-Technik-Organisation innerhalb der Polizei abbilden. Geleitet werden sie wiederum alternierend von Ministerialbeamten der Länder, die damit im Sinne von Fachbruderschaften Entscheidungen technokratisch und weitgehend ohne politische Kontrolle präjudizieren. Mit der Vorschriftenkommission, die sich um die Fortschreibung von Polizeidienstvorschriften (PDV) und Leitfäden kümmert, der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes und insbesondere der AG Kripo existieren drei weitere Untergliederungen des AK II, die funktional als Unterausschuss zu werten sind. Die AG Kripo ist dabei ein Zusammenschluss der Leiter der Landeskriminalämter sowie des Bundeskriminalamtes (BKA) und kümmert sich insbesondere um die operative Bekämpfung konkreter Kriminalitätsphänomene, die national oder international koordiniert werden müssen. Sie kontrastiert dadurch mit den von Ministerialbeamten dominierten anderen Unterausschüssen. Anhand eines zentralen Dokuments zur Inneren Sicherheit Deutschlands, dem „Programm Innere Sicherheit“ (1974 bzw. Fortschreibung 1994), wird die auf Konsens und Kompromiss basierende, technokratisch geprägte Arbeitsweise der IMK deutlich: Auf 34 Seiten werden in der Fortschreibung kriminalpolitische Maßnahmen skizziert, polizeiliche Aufgaben im Straßenverkehr beschrieben, die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern abgegrenzt, die Europäisierung der Inneren Sicherheit thematisiert, Ausbildungs- und Personalstrukturprobleme in der Polizei aufgezeigt sowie für eine einheitliche Informationsund Kommunikationstechnik geworben. Es handelt sich dabei um keinen Gesetzestext und es liegt in der Verantwortung des einzelnen Landes (und des Bundes) dieses Programm umzusetzen. Da es aber von allen Ländern verabschiedet wurde (selbst wenn einzelne Länder in Form von Fußnoten „abweichende Positionen“ vertraten ohne den Gesamtkompromiss in Frage zu stellen), haben die demokratisch legitimierten Länderparlamente kaum noch Möglichkeiten, das „Programm Innere Sicherheit“ insgesamt oder Grundsätze daraus abzulehnen. Ein Beispiel ist der von der IMK 1976 verabschiedete „Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder“, der die Länderpolizeigesetze zunächst im Westen und nach der deutschen Wiedervereinigung auch im Osten maßgeblich beeinflusste. Der Vorteil einer auf fachliche Expertise aufbauenden Politikentwicklung im Bereich Innere Sicherheit, die überparteilichen Konsens voraussetzt und auf eine Parteipolitisierung weitgehend verzichtet, besteht in einer effektiven Koordination föderalistischer Strukturen in der Innenpolitik. Der Preis, der dafür gezahlt wird, ist eine aufgrund der intensiven Geheimhaltung der IMK verhinderte Beteiligung der Länderparlamente und der Öffentlichkeit. Fragen der Inneren Sicherheit und der Polizeipolitik werden in der IMK, die weder in der Verfassung noch in anderen Gesetzen als Organ auftaucht, soweit vorentschieden, dass Parlamente gegenüber der Exekutive kaum noch Mitwirkungsmöglichkeiten haben und Innenminister unter Verweis auf Beschlüsse der IMK auch unpopuläre Maßnahmen in einem Bundesland implementieren können.

84

Bernhard Frevel und Hermann Groß

3.3 Einheit in Vielfalt Trotz vieler länderspezifischer Unterschiede zwischen den Polizeien besteht dennoch ein nicht unbeachtliches Maß an Gemeinsamkeiten, was die Polizei für die Bürgerinnen und Bürger zu einem insgesamt doch verlässlichen Akteur und Ansprechpartner macht. Maßgeblich für die Ausgestaltung der ‚Einheit in Vielfalt’ ist zunächst der materielle Polizeibegriff (s. Abschnitt 1.2). Die Gefahrenabwehr ist eine Aufgabe, für die die Polizei in wesentlichen und für die Bürger relativ klar zu bestimmenden Feldern zuständig ist. Zudem besteht überall die polizeiliche Kernaufgabe der Strafverfolgung. Auch hier gelten in allen Ländern fast identische Voraussetzungen, da sowohl die Definition von Straftaten in den Strafgesetzen und strafrechtlichen Nebengesetzen als auch die Regeln für zentrale Anforderungen an die Strafverfolgung in der Strafprozessordnung und der Katalog von Ordnungswidrigkeiten (OWiG) sowie für Verkehrsfragen (Fahrerlaubnisverordnung, Straßenverkehrsordnung etc.) bundeseinheitlich sind. Im Bereich der normativen Voraussetzungen polizeilichen Handelns sind zudem die Polizeidienstvorschriften von großer Bedeutung. Die PDVen sind zu einem erheblichen Teil für alle Länder verbindlich und können dann mit spezifischen Landesteilen ergänzt und somit an die landeseigenen Polizeigesetze und die landeseigene Polizeipolitik angepasst werden. Neben den o.g. normativen Klammern gibt es zudem auch ein die Polizeien verbindendes politisches Band. Die Innenministerkonferenz ist das zentrale Forum für die überregionale Abstimmung von Innenpolitik und damit auch polizeipolitischen Themen. Mit den Bereitschaftspolizeien der Länder, die ab 1951 mit Hilfe von Verwaltungsabkommen zwischen Bund und den einzelnen Bundesländern geschaffen wurden, sichert sich der Bund über seine eigenen Polizeien hinaus Einfluss auf die Länderpolizeien: Der Bund finanziert dabei die Sachausstattung der Bereitschaftspolizei, während die Länder die Personalkosten zu tragen haben. Im Gegenzug hat der Bund Zugriffsrechte auf die Bereitschaftspolizei und kann sie zu Einsätzen verpflichten. Das dritte verbindende Element der Polizeien ist die bundeseinheitliche und gemeinsame Ausbildung der Polizeiführer im höheren Dienst an der Deutschen Hochschule der Polizei. Sie fördert das Verständnis für andere Polizeiorganisationsmuster und Polizeigesetze, unterstützt die polizeiliche Netzwerkbildung und schafft ein weitgehend gemeinsames Polizeiverständnis. Die DHPol ist auch für die Fort- und Weiterbildung der Polizeiführungen verantwortlich, womit wiederum die Gemeinsamkeiten ausgebaut und die Schnittstellen zwischen den Länderpolizeien verbessert werden.

4

Aktuelle Herausforderungen deutscher Polizeien

Im Rahmen der Föderalismusreform erhielten die Bundesländer weitgehende Kompetenzen für Regelungen im Beamtenrecht und können damit abweichend von Vereinheitlichungstendenzen über eigene Beamtengesetze auch spezielle Regelungen für ihre Polizei schaffen. Gibt es heute schon Unterschiede in der Wochen- und Lebensarbeitszeit von Polizeibeamten, werden in Zukunft auch länderspezifische Besoldungsordnungen Unterschiede in Bezahlung oder auch Karrierestufen ermöglichen.

„Polizei ist Ländersache!“ – Politik der Inneren Sicherheit

85

Versuche, die Polizei mit Hilfe betriebswirtschaftlicher Instrumente zu steuern und Innere Sicherheit zu ‚produzieren’, haben ihren Höhepunkt überschritten und werden im Hinblick auf ihre Brauchbarkeit für das Gut öffentliche Sicherheit nun realistischer bewertet. Der Spardruck, dem die Polizei insbesondere in finanzschwachen Ländern ausgesetzt ist, hat die Polizei zwar erreicht, Ansprüche der Bevölkerung an die Sicherheitslage verfehlen aber (zumindest vor Landtagswahlen) ihre Wirkung auf politische Akteure unabhängig von ihrer parteipolitischen Ausrichtung nicht. Entscheidende Veränderungen für deutsche Polizeien gehen von der Europäisierung und Internationalisierung der Polizeiarbeit aus. So bilden sich in Europa mit Europol und den weiteren Formen der Polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen als dritter Säule der EU neue Sicherheitsstrukturen. Weiterhin sind Polizeieinsätze im Ausland als neue Polizeiaufgabe hinzugetreten. Die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit sind in Zeiten von Organisierter Kriminalität und Terrorismus nicht mehr so klar strukturiert wie noch vor wenigen Jahren. Damit verbunden ist auch ein stärkerer Kooperationsbedarf mit anderen Akteuren der Sicherheitspolitik wie der Bundeswehr, Geheimdiensten oder privaten Sicherheitsdiensten. Die deutsche Polizei kann dabei auf das hohe Ansehen, das sie in der Bevölkerung genießt,7 zurückgreifen, um auf dieser Legitimationsbasis aufbauend Veränderungsprozesse in einer sicherheitspolitisch entgrenzten Welt zu bewältigen.

5

Zusammenfassung

Ausweislich der einschlägigen Grundgesetznormen in Art. 70 und 73 ist der polizeiliche Part der Inneren Sicherheit im Wesentlichen Angelegenheit der Länder. Diese wichtige Kompetenz der Gliedstaaten der Bundesrepublik Deutschland ist jedoch nicht nur normativ bestimmt, sondern seit dem 18. Jahrhundert historisch gewachsen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg der staatliche Neuaufbau von den Alliierten beeinflusst wurde, war das Prinzip der dezentralen Polizeistruktur – zumindest in der späteren Bundesrepublik – unstrittig. In den verschiedenen Besatzungszonen wurden zunächst Polizeistrukturen aufgebaut, die von den jeweiligen „heimischen“ Konzepten geprägt waren, aber mit vielfältigen Polizeireformen in den Ländern verblassten diese Orientierungen. Zumindest im organisatorischen Bereich entwickelte sich in den 16 Bundesländern ein pluralistisches Bild. So besteht die Polizei in einigen Ländern als „Sonderverwaltung“, während sie in anderen Ländern in die Einheitsverwaltung – und hier bei den Innenministerien bzw. -senaten – eingegliedert ist. Dank – oder besser: infolge – der Länderhoheit sind die Aufbaumuster sowie auch die Organisationsbegriffe zwischen den Ländern höchst unterschiedlich. Mal sind Behörden als „Flächenpräsidien“ oder „Polizeidirektionen“ wie in Hessen oder Niedersachsen sehr groß, mal als Kreispolizeibehörden in NRW flächenmäßig recht klein. Mal wird die Arbeit entsprechend des Regionalprinzips mehr an räumlichen

7 Sowohl in den Untersuchungen zum Institutionenvertrauen (vgl. Gabriel/Zmerli 2006) als auch zum Berufsprestige (Institut für Demoskopie 2005) liegen die Polizei als Organisation sowie der Polizist auf den vordersten Plätzen der Anerkennung.

86

Bernhard Frevel und Hermann Groß

Kriterien ausgerichtet, mal sind fachliche Kriterien nach dem Funktionalprinzip prägend. Mal wird die Polizeiarbeit als hochqualifizierte Fachaufgabe verstanden, die nur von Absolventen eines Fachhochschulstudiums geleistet werden könne, mal wird für viele Aufgabenbereiche eine einfachere Berufsausbildung als hinreichend angesehen, und auch die Ergänzung der Polizei durch angelernte Mitarbeitende in Wachpolizeien oder Freiwilligen Polizeidiensten ist in einigen Ländern vorzufinden. Pluralismus der Polizeien in Deutschland zeigt sich auch in den verschiedenen Polizeigesetzen, die in Einzelbereichen, wie z.B. dem finalen Rettungsschuss, der Videoüberwachung des öffentlichen Raumes, der verdachtsunabhängigen Kontrolle oder des Unterbindungsgewahrsams vielfältige Differenzen zeigen. Dennoch zeigt sich die Polizei in Deutschland in der Ausgestaltung der täglichen Arbeit nicht sehr heterogen. Hier sind es vor allem die für alle Polizeien geltenden Strafgesetze und die Strafprozessordnung des Bundes oder auch die Normen im Verkehrsbereich, die standardisierend wirken. Von nicht zu unterschätzender Wirkung für die Einheitlichkeit der Polizei ist zudem die gemeinsame Aus- und Fortbildung des höheren Dienstes an der Deutschen Hochschule der Polizei, vormals Polizei-Führungsakademie. Von besonderer Bedeutung sind aber bundeseinheitliche Polizeidienstvorschriften sowie die von der Innenministerkonferenz beschlossenen Rahmenplanungen und Programme. Das Wirken der Innenministerkonferenz beeinflusst die Polizei in wesentlichen Punkten, was auch dazu führt, dass parteipolitische Prägungen eher schwach ausfallen und dass die Länderparlamente nur geringe Einflussmöglichkeiten auf die materielle Polizeipolitik haben. Parteipolitische Färbungen der Polizeipolitik zeigen sich häufig mehr in der Schnelligkeit oder Verzögerung bei der Einführung von erweiterten oder neuen Gefahrenabwehroder Strafverfolgungsinstrumenten, bei der Laisierung der Polizeiarbeit oder bei Nuancen in der Gewichtung von Repressions- und Präventionstätigkeiten. Bei einem hohen Druck hinsichtlich der Einheitlichkeit der Polizei, um einer Sicherheitslage gerecht werden zu können, die sich nicht an Länder- oder Staatsgrenzen orientiert, sind es also eher Differenzen in der Polizeiorganisation, die das Diktum bestätigen, Polizei sei Ländersache.

Literatur Bäuerle, Michael, 2005: 25 Jahre Recht der hessischen Polizei, in: Distler, Jürgen/Lorei, Clemens/Reinstädt, Karl-Heinz (Hg.): Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Verwaltungsfachhochschule in Wiesbaden. Frankfurt, 49-59. Behr, Rafael, 2002: Rekommunalisierung der Polizeiarbeit: Rückzug oder Dislokation des Gewaltmonopols? Skizzen zur reflexiven Praxisflucht der Polizei, in: Prätorius, Rainer (Hg.): Wachsam und kooperativ? Der lokale Staat als Sicherheitsproduzent. Baden-Baden, 90-107. Boldt, Hans, 32001: Geschichte der Polizei in Deutschland, in: Lisken, Hans/Denninger, Erhard (Hg.): Handbuch des Polizeirechts. München, 1-38. Dams, Carsten, 2006: Historische Polizeientwicklung in Deutschland, in: Frevel, Bernhard u.a.: Politikwissenschaft. Studienbuch für die Polizei. Hilden, 110-124. Ehm, Marcus, 2005: Der Freiwillige Polizeidienst in Baden-Württemberg. Eine Institution zwischen Aufstockung und Abschaffung. Frankfurt.

„Polizei ist Ländersache!“ – Politik der Inneren Sicherheit

87

Folz, Thomas/Harlos, Wolfgang, 2008: Bremen und Bremerhaven, in: Groß, Hermann/Frevel, Bernhard/Dams, Carsten (Hg.): Handbuch der Polizeien Deutschlands. Wiesbaden. Frevel, Bernhard, 2002: Polizei und Organisation, in: Frevel, Bernhard/Asmus, Hans-Joachim/Groß, Hermann/ Lamers, Jörg/Liebl, Karlhans: Soziologie. Studienbuch für die Polizei. Hilden, 74-100. Frevel, Bernhard, 2006: Politische Theorie und polizeiliche Kompetenz, in: Frevel, Bernhard/Asmus, HansJoachim/Dams, Carsten/Groß, Hermann: Politikwissenschaft. Studienbuch für die Polizei. Hilden, 2647. Frevel, Bernhard/Liebl, Karlhans (Hg.), 2007: Empirische Polizeiforschung IX: Stand und Perspektiven der Polizeiausbildung. Frankfurt am Main. Fürmetz, Gerhard/Reinke, Herbert/Weinhauer, Klaus (Hg.), 2001: Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945-1969. Hamburg. Gabriel, Oscar W./Zmerli, Sonja, 2006: Politisches Vertrauen: Deutschland in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Heft 30-31, 8-15. Göhler, Gerhard/Klein, Ansgar, 1991: Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, in: Lieber, Hans-Joachim (Hg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart. Bonn, 259-656. Groß, Hermann, 2003: Fachhochschulausbildung in der Polizei. Lehrgang oder Studium? In: Lange, HansJürgen (Hg.): Die Polizei der Gesellschaft. Zur Soziologie der Inneren Sicherheit, 141-155. Groß, Hermann, 2006: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, in: Frevel, Bernhard/ Asmus, Hans-Joachim/Dams, Carsten/Groß, Hermann: Politikwissenschaft. Studienbuch für die Polizei. Hilden, 48-101. Groß, Hermann/Frevel, Bernhard/Dams, Carsten (Hg.), 2008: Handbuch der Polizeien Deutschlands. Wiesbaden. Groß, Hermann/Schmidt, Peter, 2002: Die Hessische Wachpolizei: Evaluation eines Modellprojektes, in: Bornewasser, Manfred (Hg.), Empirische Polizeiforschung III. Herbolzheim, 151-161. Groß, Hermann/Schmidt, Peter, 2005: Kann man Polizei studieren? In: Distler, Jürgen/Lorei, Clemens/Reinstädt, Karl-Heinz (Hg.): Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Verwaltungsfachhochschule in Wiesbaden. Frankfurt, 93-107. Gusy, Christoph, 52003: Polizeirecht. Tübingen. Institut für Demoskopie Allensbach, 2005: Ärzte vorn. Allensbacher Berufsprestige-Skala 2005, Allensbach: http://www.ifd-allensbach.de/news/prd_0512.html (letzter Abruf: 21.09.2007). Jaschke, Hans-Gerd/Neidhardt, Klaus, 2004: Moderne Polizeiwissenschaft als Integrationswissenschaft. Ein Beitrag zur Grundlagendiskussion, in: Polizei und Wissenschaft 5 (4): 14-24. Kienbaum Unternehmensberatung GmbH (Hg.): Funktionsbewertung der Schutzpolizei. Studie im Auftrag des Innenministers Nordrhein-Westfalen, 8.7.1991. Kreuzer, Arthur/Schneider, Hans, 2002: Freiwilliger Polizeidienst in Hessen – Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung des Pilotprojekts. Frankfurt. Liebl, Karlhans/Ohlemacher, Thomas (Hg.), 2000: Empirische Polizeiforschung. Interdisziplinäre Perspektiven in einem sich entwickelnden Forschungsfeld. Herbolzheim. Lindenberger, Thomas, 2000: Öffentliche Polizei im Staatssozialismus: Die Deutsche Volkspolizei, in: Lange, Hans-Jürgen (Hg.): Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Deutschland. Opladen, 89128. Lüdtke, Alf, 1982: „Gemeinwohl“ und „Festungspraxis“. Staatliche Gewaltsamkeit und innere Verwaltung in Preußen 1815-1850. Göttingen. Murck, Manfred/Werdes, Bärbel, 1996: Veränderungen in der Personalstruktur der Polizei. Altersaufbau – Frauenanteil – Ethnische Minderheiten, in: Kniesel, Michael/Kube, Edwin/Murck, Manfred (Hg.): Handbuch für Führungskräfte der Polizei. Lübeck, 1255-1302. Nitschke, Peter, 2000: Polizei im NS-System, in: Lange, Hans-Jürgen (Hg.): Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Deutschland. Opladen, 51-63.

88

Bernhard Frevel und Hermann Groß

Noethen, Stefan, 2003: Alte Kameraden und neue Kollegen. Polizei in Nordrhein-Westfalen 1945-1953. Essen. Prätorius, Rainer, 2006: Sicherheitspolitik der Länder, in: Schneider, Herbert/Wehling, Hans-Georg (Hg.): Landespolitik in Deutschland. Wiesbaden, 316-334. Pütter, Norbert, 2000: Föderalismus und Innere Sicherheit. Die Innenministerkonferenz zwischen exekutivischer Politik und politisierter Exekutive, in: Lange, Hans-Jürgen (Hg.): Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Deutschland. Opladen, 275-289. Pütter, Norbert/Kant, Martina, 2000: Ehrenamtliche PolizeihelferInnen. Polizeidienste, Sicherheitswachten und Sicherheitspartner, in: Bürgerrechte&Polizei/CILIP 66: 16-30. Schenke, Wolf-Rüdiger, 2004: Polizei- und Ordnungsrecht. Heidelberg. Winter, Martin, 1998: Politikum Polizei. Macht und Funktion der Polizei in der Bundesrepublik Deutschland. Münster.

Gewaltkriminalität: Zur Bedeutung von Politikproduktion und parteipolitischer Färbung der Landesregierungen Gewaltkriminalität

Christoph Birkel

1

Einleitung1

Das Ziel des vorliegenden Beitrages ist ein Dreifaches: Zunächst soll das Aufkommen von Gewaltkriminalität in den deutschen Bundesländern im Querschnitt und im Zeitverlauf dargestellt werden, wobei sich die Betrachtung auf die westlichen Länder (einschließlich Westberlin) in der Periode zwischen 1971 und 2004 konzentriert.2 Über die Deskription hinausführen soll eine Analyse der Bedeutsamkeit potentiell politisch beeinflussbarer Faktoren für die Entwicklung der Gewaltkriminalität. Schließlich wird auch geprüft, inwieweit diese Größen von der parteipolitischen Zusammensetzung der Landesregierungen beeinflusst werden. Im Gegensatz zur üblichen Praxis der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung (vgl. Schmidt 1993) interessieren hier weniger Entscheidungen über Ressourcenallokation und Programme sowie ihre Umsetzung („output“) und schließlich ihr Einfluss auf adressierte Akteure („impact“), sondern v.a. die Wirkungen von Politikergebnissen in der Umwelt des politischen Systems („outcome“) (zur Begrifflichkeit vgl. Schubert 1991: 28-32). Die Frage ist also: „Does output matter?“ Gleichwohl wird durch Untersuchung der Frage, ob sich die parteipolitische Färbung der Landesregierungen auf das „output“ auswirkt, ein Bezug zur Staatstätigkeitsforschung im herkömmlichen Sinne hergestellt. Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Im zweiten Abschnitt erfolgt eine Darstellung der Gewaltkriminalität in den westlichen Bundesländern, wobei eine Einbettung in den übergreifenden historischen Kontext erfolgt. Im dritten Abschnitt werden politische Entscheidungsvariablen auf der Ebene der Bundesländer identifiziert und operationalisiert, und zwar unter Rückgriff auf drei theoretische Erklärungsansätze. Nach einem kurzen Referat vorliegender Befunde zur Bedeutung der Entscheidungsvariablen und einer knappen Beschreibung von Daten und Analyseverfahren folgt die Präsentation der Ergebnisse erster eigener statistischer Auswertungen von Raubraten. Daran schließen weitere Analysen zum 1 Der Autor dankt den Herausgebern sowie Helmut Thome und Robert Reisz für hilfreiche Anmerkungen zu einer früheren Fassung des Beitrages. 2 Vor 1993 sind keine zuverlässigen Daten für die neuen Bundesländer verfügbar. Da mir an einer Betrachtung langfristiger Entwicklungen über Jahrzehnte gelegen ist, können die östlichen Bundesländer daher nicht berücksichtigt werden, abgesehen von der Deskription der Gewaltkriminalität im Querschnittsvergleich in Abschnitt 2.3.

90

Christoph Birkel

Einfluss der Kabinettszusammensetzung auf die Entscheidungsvariablen an. Eine Diskussion der Befunde schließt den Aufsatz ab.

2

Aufkommen und Entwicklung von Gewaltdelikten in den westlichen Bundesländern 1971-2004

2.1 Untersuchungsgegenstand und Datenquelle Unter dem Begriff der Gewaltkriminalität subsumiere ich physische Zwangshandlungen sowie Handlungen, bei denen Zwang durch die Drohung mit Gewalt ausgeübt wird, die sich als Verstoß gegen Rechtsnormen beschreiben lassen.3 Darstellung und Analyse konzentrieren sich aus Platzgründen auf die Kategorie der Raubdelikte. Hierbei handelt es sich um eine Deliktkategorie mit einer sehr dynamischen Entwicklung im Beobachtungszeitraum. Da der Tatbestand physischen Angriff und materielle Schädigung beinhaltet, ist von einer im Vergleich etwa zu Körperverletzungsdelikten recht hohen und wenig volatilen Anzeigebereitschaft auszugehen. Daneben wird noch kursorisch das Aufkommen von Tötungsdelikten (Mord, Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge) sowie von gefährlichen und schweren Körperverletzungsdelikten betrachtet.4 Als Datenquelle dienen die polizeilichen Kriminalstatistiken der Bundesländer.5 In diesen werden die von der Polizei untersuchten Straftaten registriert. Diese Statistiken weisen einige Quellen von Messfehlern auf. Dieser Problematik wird, soweit dies möglich ist (vgl. dazu Birkel 2003: 70-75; Birkel/Thome 2004: 37), sowohl bei der Darstellung wie in den multivariaten Analysen Rechnung getragen.

2.2 Der kriminalgeschichtliche Kontext Bei der Interpretation der folgenden Darstellung ist zu beachten, dass die langfristige Entwicklung der Gewaltkriminalität in Deutschland seit der frühen Neuzeit U-förmig verlief, mit einem Umkehrpunkt in der Mitte des letzten Jahrhunderts, wobei sich die Homizidraten inzwischen wieder stabilisiert haben (Eisner 2002; Thome/Birkel 2007). Der im vorliegenden Beitrag betrachtete Zeitraum liegt also innerhalb einer Periode, in welcher die Trendumkehr bereits vollzogen und dabei der Anstieg der Tötungsdelinquenz schon weitgehend abgeschlossen war, das Wachstum der anderen Gewaltdelikte sich dagegen erst voll entfaltete.

3 Für eine ausführlichere Diskussion des Begriffs s. Birkel/Thome (2004). 4 Zu den juristischen Tatbestandsdefinitionen vgl. Birkel/Thome (2004). 5 Die Daten ab 1987 wurden vom Bundeskriminalamt geliefert, für die Jahre davor und die neuen Bundesländer teilweise den veröffentlichten Jahresbänden der Polizeilichen Kriminalstatistiken für die einzelnen Bundesländer entnommen, teilweise von den Landeskriminalämtern zur Verfügung gestellt. Der Verfasser bedankt sich bei den Mitarbeitern des Bundeskriminalamtes und der Landeskriminalämter für ihre Unterstützung.

91

Gewaltkriminalität Tabelle 1:

Häufigkeitsziffern (Fälle pro 100.000 Einwohner) für verschiedene Gewaltdelikte (Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2004)

Bundesland

Tötungsdelikte

Tötungsdelikte (vollendet)

Raub

Gefährliche und schwere Körperverletzung

Berlin

5,5

2,4

248,6

349,5

Bremen

8,5

2,4

263,3

263,7

Hamburg

5,6

2,1

281,8

232,5

Baden-Württemberg

3,0

1,0

34,8

117,6

Bayern

3,1

1,0

27,2

120,9

Hessen

4,3

1,3

72,3

142,0

Niedersachsen

4,3

1,6

63,9

156,0

Nordrhein-Westfalen

2,7

1,2

78,2

168,0

Rheinland-Pfalz

3,6

1,3

42,5

158,2

Saarland

2,9

1,1

52,1

176,8

Schleswig-Holstein

3,5

2,1

75,1

156,6

Brandenburg

3,7

-

66,9

128,1

Mecklenburg-Vorpommern

4,7

2,0

81,7

149,6

Sachsen

2,1

1,1

53,1

102,8

Sachsen-Anhalt

4,0

1,5

90,0

176,0

Thüringen

3,4

1,9

46,7

134,8

Quellen: s. Text.

2.3 Das Aufkommen an Gewaltkriminalität im Querschnittsvergleich Ehe ich mich der langfristigen Entwicklung der Raubdelikte in den westlichen Bundesländern zuwende, soll kurz ein Vergleich des Aufkommens der Gewaltkriminalität in allen 16 Bundesländern vorgenommen werden. Tabelle 1 zeigt für jedes Bundesland die auf die Einwohnerzahl bezogene Häufigkeit der oben genannten Delikte im Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2004.6 Wie zu erkennen ist, variiert das Aufkommen an Gewaltdelikten regional erheblich: die Stadtstaaten weisen ein deutlich höheres Niveau an Gewaltdelinquenz als die Flächenstaaten auf, insbesondere bei Raubdelikten.7 Bei einigen Delikten (Raub, Körperverletzung) deutet sich ein Nord-Süd-Gefälle in dem Sinne ab, dass die Raten in Bayern und Baden-Württemberg die niedrigsten sind. Schließlich zeigen die östlichen Bundesländer große Unterschiede bei den Raten der hier betrachteten Gewaltdelikte: Bei einigen Delikten 6 Es werden langfristige Durchschnitte präsentiert, um den Einfluss kurzfristiger Fluktuationen zu neutralisieren. 7 Bei den Tötungsdelikten reduziert sich die Streuung allerdings sehr stark, wenn die Betrachtung auf vollendete Taten beschränkt wird, was aufgrund der unsicheren Abgrenzung von versuchten Delikten – die mit Tötungsvorsatz begangen worden sind, aber nicht zum Tod des Opfers führten – gegenüber konkurrierenden Tatbeständen (Kreuzer 1982) ratsam ist. Vom Brandenburgischen Landeskriminalamt wurden leider keine separaten Angaben zu vollendeten Delikten übermittelt. Wenn im Folgenden unqualifiziert von „Tötungsdelikten“ die Rede ist, sind damit die Tötungsdelikte einschließlich der versuchten Taten gemeint.

92

Christoph Birkel

(Tötungsdelikte, gefährliche/schwere Körperverletzung) weist Sachsen ähnlich niedrige Werte wie die süddeutschen Länder auf, während Mecklenburg-Vorpommern und SachsenAnhalt unter den Flächenländern die höchsten Niveaus bei Tötungsdelikten bzw. Raub haben. Es könnte freilich sein, dass die regionale Heterogenität des Aufkommens an polizeilich registrierten Gewaltdelikten weniger auf Unterschiede der realen Verbrechenshäufigkeit, sondern eher auf Variationen im Anzeigeverhalten der Bevölkerung und im Registrierungsverhalten der Polizei zurückzuführen ist (Wetzels/Pfeiffer 1996).8 Aufgrund dieser Unsicherheit konzentriere ich mich im Folgenden auf eine Längsschnittsbetrachtung, die von regionalen Unterschieden bei Anzeigeverhalten und polizeilichem Handeln weniger stark beeinträchtigt werden sollte, da es sich bei diesen um in der Zeit stabile Differenzen handeln dürfte, auf die die Variation der Raten im Zeitverlauf nicht zurückzuführen sein kann.

2.4 Die Entwicklung der Raubdelikte in den westlichen Bundesländern, 1971-2004 Die Untersuchungsperiode für die folgende längerfristige Darstellung beginnt mit dem Jahr 1971, in dem wesentliche Änderungen bei der Erfassungsprozedur für die Polizeiliche Kriminalstatistik wirksam wurden, und endet 2004, dem Jahr, für das i.d.R. letztmals Daten für die bei den multivariaten Analysen berücksichtigten Kovariaten vorliegen. Bezüglich Berlin beziehen sich die Angaben bis 1990 auf den Westteil, ab 1991 auf die gesamte Stadt. Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Raubdelikte in den westlichen Bundesländern. In allen Bundesländern war ein Anstieg der Inzidenz zu beobachten, wobei hier die Unterschiede zwischen den Bundesländern recht ausgeprägt waren. Die einheitliche Skalierung der y-Achsen führt dazu, dass die Grafik für Baden-Württemberg und Bayern weitgehende Stabilität suggeriert. Proportional hat es aber auch in diesen beiden Bundesländern einen spürbaren Zuwachs an Raubdelikten gegeben. Den schwächsten proportionalen Anstieg wies dennoch Bayern (von 13 auf 20 (= 54 Prozent), zwischenzeitlich 23, vollendete Delikte pro 100.000 Einwohner) auf, den stärksten Bremen (von 41 auf 220, oder 437 Prozent) und Hamburg (von 45 auf 190 (= 322 Prozent), zwischenzeitlich um 300). In den letzten Jahren war eine Stabilisierung oder Abnahme der Raten zu beobachten. Wie zu erkennen ist, stiegen bei den Raubdelikten die Häufigkeitsziffern einschließlich Versuche schneller als diejenigen für vollendete Straftaten, proportional allerdings in vergleichbarem oder geringerem Umfang, sodass der Anteil der versuchten Delikte an der Gesamtziffer ungefähr gleich blieb oder sogar sank. Sofern Veränderungen des Versuchsanteils mit Schwankungen der Anzeigebereitschaft in Zusammenhang stehen, weisen sie hier also nicht auf einen Anstieg der Anzeigeneigung hin. Festzuhalten ist also der Befund eines deutlichen, in seinem Ausmaß aber sehr unterschiedlichen, Anstiegs in allen Bundesländern, der inzwischen beendet zu sein scheint. Im Bemühen um das Verständnis der Hintergründe der beschriebenen Entwicklungen gilt mein

8 In Opferbefragungen fallen regionale Variationen im Kriminalitätsgeschehen oft schwächer aus, teilweise kehrt sich das regionale Muster auch um. Wetzels/Pfeiffer (1996) kommen zu dem Schluss, dass es innerhalb Westdeutschlands bei Gewaltdelikten tatsächlich kein regionales Gefälle gebe.

93

Gewaltkriminalität

weiteres Interesse der Bedeutung eines spezifischen Variablenkomplexes: dem kriminalpolitischen Output der politischen Systeme der Bundesländer.

2000

1970

1980

1990

2000

Fälle/100.000 Einwohner 0 200 400

Fälle/100.000 Einwohner 0 200 400

1980

2000

Fälle/100.000 Einwohner 0 200 400

Fälle/100.000 Einwohner 0 200 400

1990

1980

1970

1980

1990

2000

1970

1980

1990

Jahr

2000

1970

1980

1970

1980

1990

2000

1990

2000

Jahr

2000

Jahr

Saarland

Jahr

1990

Niedersachsen

Jahr

Rheinland-Pfalz

1980

1970

Bremen

Jahr

Hessen

Jahr

1970

2000

Jahr

Hamburg

1970

1990

Berlin

Fälle/100.000 Einwohner 0 200 400

1990

Jahr

Fälle/100.000 Einwohner 0 200 400

1980

Fälle/100.000 Einwohner 0 200 400

1970

Bayern

Fälle/100.000 Einwohner 0 200 400

Baden-Württemberg

Fälle/100.000 Einwohner 0 200 400

Häufigkeitsziffern für Raubdelikte, 1971-2004 Fälle/100.000 Einwohner 0 200 400

Fälle/100.000 Einwohner 0 200 400

Abbildung 1:

Nordrhein-Westfalen

1970

1980

1990

2000

Jahr

Schleswig-Holstein

1970

1980

1990

2000

Jahr

Raubdelikte, vollendet Raubdelikte einschl. Versuche

Quellen: s.Text

3

Entscheidungsvariablen

Faktoren, welche als „output“ politischer Prozesse auf Landesebene betrachtet werden können und theoretisch Einfluss auf das Aufkommen von Gewaltkriminalität haben sollten, bezeichne ich (in Anlehnung an Becker 1968) als „Entscheidungsvariablen“. Bei der Identifikation von Entscheidungsvariablen wird auf drei Ansätze zur Erklärung der Entwicklung der Gewaltkriminalität zurückgegriffen.

94

Christoph Birkel

3.1 Erklärungen für die Entwicklung der Gewaltkriminalität Erosion des staatlichen Gewaltmonopols Helmut Thome hat einen theoretischen Bezugsrahmen vorgeschlagen, der konzeptionelle Elemente von Durkheim und Elias aufgreift (Thome/Birkel 2007).9 Für meine Fragestellung ist insbesondere die an EliasЮ Theorie des Zivilisationsprozesses (vgl. Elias 1976) anknüpfende Argumentationslinie relevant. Thome vermutet in Anschluss an von Trotha (1995) und Garland (1996), dass das staatliche Gewaltmonopol erodiert, weil der Staat im Zuge von Ökonomisierungsprozessen und der Globalisierung zum einen nicht mehr über die nötigen Ressourcen und Steuerungskapazitäten verfügt, um es durchzusetzen. Zum anderen gerät der Staat aufgrund technologischer Entwicklungen ins Hintertreffen gegenüber bestimmten Kriminalitätsformen und Tätergruppen, gegen die er oft nur mit Maßnahmen vorgehen kann, welche seine rechtsstaatliche Legitimität unterminieren. Die Folge beider Entwicklungen ist neben verbesserten Gelegenheiten für kriminelles Handeln eine Umorientierung der Kriminalpolitik. Sie wird umgestellt von Prävention durch Rehabilitation und Bekämpfung von Kriminalitätsursachen auf Tatverhinderung durch „Gefahrenabwehr“, d.h. Maßnahmen zur Überwachung und Kontrolle ganzer Bevölkerungsgruppen zwecks Identifikation potentieller Täter sowie zu ihrer Abschreckung. In Abkehr vom Ziel des Schutzes individueller Freiheitsrechte wird dabei verstärkt in Grundrechte eingegriffen, was möglicherweise zwar die Effektivität des Sicherheitsapparates steigert, aber die Legitimität des Staates und damit die Bereitschaft zur Respektierung seines Gewaltmonopols unterminiert. Weiterer Bestandteil der Umstellung auf eine „oligopolistisch-präventive Sicherheitsordnung“ (Trotha 1995) ist die in einen umfassenderen Prozess der Vermarktlichung eingebettete Ökonomisierung der Kriminalpolitik, einschließlich einer teilweisen Privatisierung der Strafverfolgung. Dies führt zu einer zunehmenden Ungleichheit des Zugangs zum Rechtssystem und sozialräumlichen Segregationsprozessen, und dadurch auch tendenziell zur Rückkehr zur Selbsthilfe sowie einer teilweisen Normalisierung von Gewalt. Begleiterscheinung dieser Entwicklung ist ein emotionalisierter öffentlicher Kriminalitätsdiskurs, in dem ein zunehmendes Strafbedürfnis (Punitivität) artikuliert wird, auf das politische Entscheidungsträger mit einer entsprechenden symbolischen Politik der Strafverschärfung reagieren (Garland 1996).

Kriminalität und rationale Klugheitswahl Ausgangspunkt der ökonomischen Kriminalitätstheorie ist die Annahme, dass sich Personen dann für kriminelle Handlungen entscheiden, wenn der Nutzen dieser Handlungen den Nutzen anderer Handlungen übersteigt (Becker 1968). Ob dies der Fall ist, ist von der Wahrscheinlichkeit der Bestrafung einer solchen Handlung, den durch eine Bestrafung entstehenden Kosten, sowie einer Reihe anderer Variablen, wie dem Nutzen alternativer legaler

9 In Ermangelung eines besseren Etiketts werde ich diese Perspektive auch kurz als den „modernisierungstheoretischen Ansatz“ bezeichnen.

Gewaltkriminalität

95

oder illegaler Handlungen (vgl. Ehrlich 1973) abhängig. Dementsprechend gilt auf aggregierter Ebene, dass die Kriminalitätsrate von der durchschnittlichen Sanktionierungswahrscheinlichkeit, der durchschnittlichen Strafhärte und den durchschnittlichen Werten der anderen Größen abhängt. Der ökonomische Ansatz bezieht sich nicht nur auf Delikte, welche mit einem materiellen Gewinn verbunden sind, sondern auch auf Gewaltdelikte ohne derartigen Nutzen (vgl. Ehrlich 1973: 532f. und 539, Fn. 28): Es wird unterstellt, dass Gewalttäter in gleicher Weise auf Änderungen der Sanktionierungswahrscheinlichkeit und Strafschwere reagieren wie andere Straftäter. Strafrechtliche Repression stellt nach dieser Perspektive demnach ein wesentliches Instrument dar, über welches das politische System das Aufkommen an Gewaltkriminalität beeinflussen kann.

Wandel von Alltagsroutinen und Gelegenheitsstrukturen Cohen und Felson (Cohen/Felson 1979; Felson 2002) haben vorgeschlagen, die Variation der Raten von Kontaktdelikten10 in Abhängigkeit vom Wandel alltäglicher Lebensroutinen zu betrachten, welche die Gelegenheiten zu kriminellem Handeln strukturieren. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass es zum Zustandekommen einer kriminellen Handlung des raum-zeitlichen Zusammentreffens eines motivierten Täters, eines geeigneten Opfers und der Abwesenheit eines „Wächters“ („guardian“), also einer dritten Person, welche Einschreiten könnte, bedarf. Im Weiteren sieht die Perspektive von Schwankungen im Aufkommen motivierter Täter ab und fokussiert auf Veränderungen in den Strukturen der Lebensführung, welche bei gleich bleibendem Angebot an motivierten Tätern für sich genommen bereits zu Variationen der Kriminalität führen können. Für die vorliegende Fragestellung ist in erster Linie der Faktor „guardianship“ von Interesse. Hierfür sind private und öffentliche Ausgaben für Verbrechensverhinderung und -bekämpfung von Bedeutung, insofern sie (über die Verfügbarkeit von „Wächtern“) die Möglichkeiten zur Verbrechensbegehung verringern. Allerdings schätzt Marcus Felson die Bedeutung von Polizeipräsenz und Strafverfolgung als sehr gering ein (Felson 2002: 4f.), da durch die Polizei auch bei großem Personaleinsatz nur ein minimaler Teil des öffentlichen Raums ständig überwacht werden könne, und nur ein sehr geringer Teil der „motivierten Täter“ durch Strafverfolgung ausgeschaltet werde. Der wesentliche Faktor ist seines Erachtens die durch Passanten, Nachbarn etc. im Rahmen von Alltagsroutinen ausgeübte „guardianship“.

3.2 Entscheidungsvariablen und ihre Operationalisierung Relevant für das Aufkommen an Gewaltkriminalität ist aus Sicht aller drei Erklärungsansätze eine ganze Reihe von Politikfeldern, in denen die Bundesländer aktiv sind.11 Ich be10 Also Straftaten, bei denen es zu unmittelbarem physischem Kontakt zwischen dem Täter und seinem Opfer kommt. 11 Zu denken ist dabei v.a. an die Felder der Arbeitsmarktpolitik und der Sozialpolitik, aber auch das der Wirtschaftspolitik (s. die Beiträge von Schmid/Hedrich, Rothgang/Wessel und Müller in diesem Band).

96

Christoph Birkel

schränke mich auf die Politikfelder „Innere Sicherheit“ und „Justizpolitik“, in deren Bereich die Verfolgung und Sanktionierung von Straftaten fällt und die weitgehend dem Zuständigkeitsbereich der Länder zugeordnet sind.12 Es lassen sich folgende Entscheidungsvariablen identifizieren: a.

b.

Die Sanktionierungswahrscheinlichkeit: Aus Sicht des modernisierungstheoretischen Ansatzes (vgl. oben Abschnitt 3.1) ist die Effektivität des Gewaltmonopols, an die dessen Legitimität wechselseitig gekoppelt ist, weitgehend gleichbedeutend mit der Sanktionierungswahrscheinlichkeit. Ein Absinken der Sanktionierungswahrscheinlichkeit wäre nach der These einer kriminogenen Erosion des Gewaltmonopols zu erwarten. Die ökonomische Kriminalitätstheorie betrachtet die Sanktionierungswahrscheinlichkeit dagegen im Wesentlichen als Determinante der mit einer Straftat verbundenen Kosten für den Täter.13 Vertreter der gelegenheitsstrukturellen Perspektive halten es zwar prinzipiell für denkbar, dass strafrechtliche Sanktionen die Motivation zu kriminellem Handeln verringern können, sind aber der Ansicht, dass sich die Sanktionierungswahrscheinlichkeit faktisch unterhalb eines Wertes bewegt, der für einen solchen Effekt notwendig wäre (Felson 2002: 5). Die Sanktionierungswahrscheinlichkeit lässt sich wiederum zerlegen in die Wahrscheinlichkeit, dass ein Tatverdächtiger zu einer Straftat ermittelt wird, und die Wahrscheinlichkeit, dass dieser auch sanktioniert wird. Aus Gründen der Datenverfügbarkeit ziehe ich hier nur einen Indikator für die erstgenannte Wahrscheinlichkeit, die Aufklärungsquote (Verhältnis der Anzahl der in einem Jahr aufgeklärten Fälle einer Deliktkategorie zur Anzahl der im betreffenden Jahr registrierten Straftaten) heran.14 Die Strafhärte: Die nach Trothas These vom Übergang zu einer „oligopolistisch-präventiven Sicherheitsordnung“ zu erwartende zunehmende Punitivität sollte sich in härteren Strafen niederschlagen. Als Indikator für die Strafneigung ziehe ich hier (wie z. B. auch Beckett/Western 2001) die Inhaftierungsrate (Rate der Gefangenen und Sicherungsverwahrten pro 100.000 Einwohner) heran.15 Aus Sicht der ökonomischen Kriminalitätstheorie handelt es sich bei der Gefangenenrate dagegen um einen Indikator der Sanktionsschwere (s. z. B. Saridakis 2004), der zweiten Determinante der Kosten einer Straftat für den Täter. Allerdings ist zu bedenken, dass inhaftierte Personen keine Straftaten außerhalb des Gefängnisses begehen können („Ausschaltungseffekt“).16 Ein Ausschaltungseffekt sollte aber (aus Sicht der ökonomischen Theorie) einen temporären Charakter haben, da die Zahl der aktiven

12 Zur Abgrenzung der beiden Politikfelder vgl. Lange (2003). Schmidt (1980: 31f.) ordnet die Innere Sicherheit den Politikfeldern zu, in denen die Bundesländer die größte relative Autonomie aufweisen. 13 Strenggenommen kommt es auf die wahrgenommene Sanktionierungswahrscheinlichkeit an, die dem objektiven Sanktionierungsrisiko nur bedingt entspricht (Kleck et al. 2005). Praktisch gibt es aber mangels Daten keine Alternative zu Indikatoren des objektiven Sanktionierungsrisikos. 14 Als Datenquelle für die empirischen Analysen dienten die polizeilichen Kriminalstatistiken, vgl. oben. Details zum Umgang mit einigen Problemen bezüglich dieser und anderer Daten vgl. Birkel (2008). 15 Datenquellen: Statistisches Bundesamt (versch. Jahre a; versch. Jahre b; versch. Jahre c); Brings (2007). 16 Wobei sich dies nach Felson aber nicht spürbar auf das Kriminalitätsaufkommen auswirken sollte, da nur ein kleiner Teil der motivierten Täter ausgeschaltet wird, vgl. oben.

Gewaltkriminalität

c.

4

97

Straftäter bald wieder ihr Ausgangsniveau erreichen sollte (Ehrlich 1981). Der Abschreckungseffekt sollte daher überwiegen. Polizeistärke: Die Effektivität des staatlichen Gewaltmonopols, die hier durch die Aufklärungsquote gemessen wird, sollte durch die Polizeistärke (operationalisiert hier als Beschäftigte im Bereich Polizei pro 100.000 Einwohner) beeinflusst werden.17 Die Polizeistärke sollte sich einerseits auf die Aufklärungsquote auswirken, andererseits ist auch ein Einfluss auf das Sicherheitsgefühl oder die Zufriedenheit der Bürger mit der Polizeiarbeit denkbar (insofern bspw. eine höhere Polizeidichte eine höhere öffentliche Präsenz von Polizeibeamten ermöglicht), was wiederum Legitimitätsüberzeugungen positiv beeinflussen sollte. Insofern sollte die Polizeistärke aus modernisierungstheoretischer Sicht auch bei Kontrolle der Aufklärungsquote einen negativen Effekt auf die Häufigkeit von Gewaltdelikten haben. Aus Sicht der ökonomischen Kriminalitätstheorie ist ebenfalls sowohl mit einem direkten Abschreckungseffekt (durch sichtbare Polizeipräsenz, welche das wahrgenommene Ergreifungsrisiko bei Taten im öffentlichen Raum erhöht) als auch einem indirekten, über eine tatsächlich höhere Sanktionierungswahrscheinlichkeit vermittelten Effekt der Polizeistärke zu rechnen (Corman/Mocan 2000: 585). Anders aus gelegenheitsstruktureller Perspektive, die gegebenenfalls primär einen direkten Effekt im Sinne von mehr „guardianship“ vorsieht. Indirekt können Ausschaltungseffekte wirken, insofern eine größere Polizeistärke die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung zu einer Haftstrafe erhöhen könnte. Wie erwähnt, halten Vertreter dieser Perspektive beide Effekte aber für vernachlässigbar. Insofern wäre nach dem Routine-Aktivitäten-Ansatz für die Polizeistärke kein Effekt zu erwarten.

Forschungsstand

Auf eine ausführliche Vorstellung und Diskussion vorhandener Befunde verzichte ich aus Platzgründen. Die vorliegenden Ergebnisse18 lassen sich wie folgt zusammenfassen: Für die Aufklärungsquote finden sich meist negative Effekte auf das Kriminalitätsaufkommen. Für die Gefangenenraten ergibt sich meist ebenfalls eine inverse Beziehung. Die Befunde für andere Indikatoren der Sanktionshärte sind nicht eindeutig. Es finden sich allerdings kaum Hinweise darauf, dass zunehmende Punitivität einen kriminogenen Effekt hat, oder dieser zumindest Abschreckungseffekte überwiegt. Die personelle Ressourcenausstattung der Polizei hat i.d.R. keinen oder allenfalls einen leichten kriminalitätsdämpfenden Effekt. Aus policyanalytischer Sicht ist schließlich noch der Befund von Interesse, dass die Aufklärungsquoten bei Regierungsbeteiligung von CDU/CSU höher sind, ein nicht über die Aufklärungsquote vermittelter Effekt auf die Belastung mit Delinquenz aber nicht anzunehmen ist (Entorf 1996; Entorf/Winker 2005).

17 Quellen waren: Statistisches Bundesamt (versch. Jahre d; versch. Jahre e) und Häussler (2007). 18 Vgl. die Diskussion in Birkel (2008); dort finden sich auch Literaturnachweise.

98

5

Christoph Birkel

Empirische Analysen

5.1 Zielsetzung Bei den im Folgenden dargestellten Analysen gilt mein Hauptinteresse der Frage, ob die oben genannten Entscheidungsvariablen einen Einfluss auf das Aufkommen an Raubdelikten haben. Daneben werden auch Ergebnisse von Berechnungen mit den Entscheidungsvariablen als abhängiger Variable präsentiert. Diese sollen ein Licht auf die von Manfred G. Schmidt (1980) seinerzeit auch im Hinblick auf das Politikfeld Innere Sicherheit diskutierte Frage, ob die parteipolitische Zusammensetzung der Landesregierungen relevant für Politikergebnisse (hier: die Entscheidungsvariablen) ist, werfen.

5.2 Vorgehensweise Meinen Analysen liegt ein Datensatz zugrunde, der für N=11 Bundesländer jeweils bis zu T=34 jährliche Beobachtungen aufweist. Es handelt sich also um ein „Panel“ (gängig ist auch die Bezeichnung „Pooled Time-Series Cross-Section“). Die Analyse derartiger Daten erfordert die Anwendung spezifischer Modelle. Auf methodologische Details werde ich hier nicht weiter eingehen.19 Nach verschiedenen vorgeschalteten Analyseschritten wurden in Regressionsmodellen nach dem Prinzip des „dynamischen OLS-Schätzers“ („Dynamic Ordinary Least Squares“ (DOLS))20 die sogenannten Kointegrationsparameter geschätzt, welche die langfristige Reaktion der abhängigen Variablen auf dauerhafte Veränderungen des Niveaus der erklärenden Variablen angeben und analog zu unstandardisierten Regressionskoeffizienten zu interpretieren sind. Geschätzt wurde folgende Gleichung:

yit = Į i + ȕ1t + ȕ 2 x1it + ... + ȕ d x kit + c11ǻx1it + c12ǻx1it −q + c13ǻx1it +q + ... + c kj-2ǻx kit + c kj-1ǻx kit −q + c kjǻx kit +q + İ it wobei i ein Index für die Untersuchungseinheiten, t ein Index für die Beobachtungszeitpunkte, k ein Index für die Regressoren, d ein Laufindex für die Ά-Koeffizienten, j ein Laufindex für die Koeffizienten der 1.Differenzen der Regressoren und q ein Index für die Ordnung der Verzögerung der Differenzen der Regressoren ist. NJ ist der sogenannte Differenzen-Operator: NJxit=xit-xit-1. Die Differenzen gehen auch als zukünftige Werte in die Schätzgleichung ein, um Verzerrungen durch mögliche Endogenität der Regressoren (im Sinne von Rückwirkungen der abhängigen Variablen auf die unabhängigen) zu reduzieren – was notwendig ist, da derartige Effekte in gegenläufiger Richtung vielfach plausibel sind und in der einschlägigen Forschungsliteratur breit thematisiert werden. Die Gleichung enthält schließ19 Eine ausführliche Diskussion methodologischer Probleme und eine detailliertere Darstellung der Vorgehensweise finden sich in Birkel (2008). 20 Vgl. Stock/Watson (1993) für einzelne Zeitreihen sowie Kao/Chiang (2000) für nicht-stationäre Panels.

Gewaltkriminalität

99

lich auch den Zeitindex t als Regressor, da nicht auszuschließen war, dass einige der beteiligten Reihen neben einer stochastischen auch eine deterministische Trendkomponente („drift“) enthalten. Das Modell wurde für die Raubraten sowohl gepoolt, d.h. in einem gemeinsamen Modell für alle Länder, als auch separat für die einzelnen Bundesländer geschätzt. Bei den Modellen mit den Entscheidungsvariablen als abhängigen Variablen wurden jeweils nur gepoolte Modelle geschätzt.

5.3 Analysen der Raubraten Hypothesen Die Überlegungen in 3.2 lassen sich in folgenden Hypothesen zusammenfassen, welche in den empirischen Analysen geprüft werden sollten: a.

Aufklärungsquote: Aus Sicht sowohl der modernisierungstheoretischen Perspektive als auch der ökonomischen Kriminalitätstheorie ist ein negativer Zusammenhang zwischen Aufklärungsquote und Gewaltkriminalität zu erwarten. Beide legen also folgende Hypothese nahe: H1a: Je höher die (deliktspezifische) Aufklärungsquote, desto niedriger die (deliktspezifische) Kriminalitätsrate. Aus Sicht des Routine-Aktivitäten-Ansatzes ist zu erwarten, dass die Nullhypothese aufrechtzuerhalten ist. H1b: Der Effekt der Aufklärungsquote auf die (deliktspezifische) Kriminalitätsrate ist nicht von Null verschieden.

b.

Polizeistärke: Auch hier konvergieren ökonomische Kriminalitätstheorie und Modernisierungstheorie hinsichtlich des erwarteten Zusammenhangs mit dem Kriminalitätsaufkommen, wobei unterschiedliche kausale Mechanismen angenommen werden: H2a: Je höher die Polizeistärke, desto niedriger die (deliktspezifische) Kriminalitätsrate. Nach dem Routine-Aktivitäten-Ansatz ist hingegen anzunehmen, dass die Nullhypothese keines Zusammenhanges nicht verworfen werden kann. H2b: Der Effekt der Polizeistärke auf die (deliktspezifische) Kriminalitätsrate ist nicht von Null verschieden.

c.

Gefangenenrate: Aus modernisierungstheoretischer Perspektive stellt die Inhaftierungsrate einen Indikator für Punitivität dar und es ist mit einem verstärkenden Effekt auf die Inzidenz von Gewaltdelikten zu rechnen. H3a: Je höher die Inhaftierungsrate, desto höher die (deliktspezifische) Rate an Gewaltdelikten. Zu einer gegenläufigen Erwartung führt die ökonomische Kriminalitätstheorie:

100

Christoph Birkel H3b: Je höher die Inhaftierungsrate, desto niedriger die (deliktspezifische) Rate an Gewaltdelikten. Ein nicht von Null verschiedener Effekt entspräche der gelegenheitsstrukturellen Perspektive. H3c: Der Effekt der Inhaftierungsrate auf die (deliktspezifische) Kriminalitätsrate ist nicht von Null verschieden.

Kontrollvariablen Neben den oben (3.2) genannten Strafverfolgungsindikatoren wird eine Reihe von Kontrollvariablen berücksichtigt, die potentiell die Beziehung zwischen den Entscheidungsvariablen und den Raubraten beeinflussen könnten:21 a.

b.

c.

d.

Der prozentuale Anteil der 15-24-jährigen Männer an der Gesamtbevölkerung (jeweils am 31.12.).22 Die Kriminalitätsbelastung ist bei jungen Männern am höchsten, sodass die Kriminalitätsrate mit ihrem Anteil an der Bevölkerung variieren wird. Es ist zudem denkbar, dass sich Entscheidungen über die personelle Ausstattung der Polizei auch an der Stärke dieser Altersgruppen orientieren. Die Anzahl der Bezieher laufender Hilfe zum Lebensunterhalt (kurz: Sozialhilfeempfänger) außerhalb von Einrichtungen pro 100.000 Einwohner.23 Hierbei handelt es sich um einen groben Armutsindikator. Von Armut sollte aus modernisierungstheoretischer Sicht ein kriminogener Effekt ausgehen. Zudem ist zu erwarten, dass die Prozesse, welche für Punitivitätstendenzen verantwortlich sind, auch zu einem Anstieg der Armut führen sollten. Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (Preise von 1995).24 Die Wirtschaftskraft könnte einen Effekt auf das Kriminalitätsaufkommen haben, insofern sie einen Indikator für legale und illegale Einkommensmöglichkeiten darstellt. Die Arbeitslosenquote.25 Viele kriminologische Theorien lassen einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalitätsaufkommen erwarten. Gleichzeitig wird seit Rusche/Kirchheimer (1939) die Annahme diskutiert, dass strafrechtliche Sanktionen in kapitalistischen Systemen der Bewältigung eines Überangebots an Arbeitskräften dienen und daher die Gefangenenraten positiv mit den Arbeitslosenquoten assoziiert sein sollten (vgl. auch Sutton 2004).

21 Zu Problemen mit Brüchen bei einigen der Variablen vgl. Birkel (2008). 22 Quelle: Statistisches Bundesamt (2006a). 23 Datenquellen: Bartsch (2006) und Statistisches Bundesamt (2006b). 24 Datenquellen: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (2004; 2006). 25 Quellen: eigene Berechnungen auf Basis von Statistisches Bundesamt (versch. Jahre f; 2006c); Moser (2006).

101

Gewaltkriminalität Ergebnisse

Tabelle 2 zeigt die Koeffizienten des Panel-DOLS Modells nach schrittweiser Eliminierung nicht signifikanter Koeffizienten:26 Tabelle 2:

Parameterschätzer im Panel-DOLS-Modell (abhängige Variable: Ln(vollendete Raubdelikte pro 100.000 Einwohner))

Variable Ln(Anteil der 15-24-jährigen Männer an der Bevölkerung)

Ά

Standardfehler

t-Wert

p

1,46

0,404

3,61

0,000

Ln(Aufklärungsquote)

-1,44

0,113

-12,72

0,000

Ln(Gefangenenrate)

-0,34

0,113

-3,02

0,003

0,05

0,005

9,42

0,000

Zeittrend Zeitraum: 1974-2002, Anzahl der Beobachtungen: 319

Wie zu sehen ist, ergibt sich für die Aufklärungsquote ein signifikanter negativer Effekt. Die Rate der vollendeten Raubdelikte wird demnach langfristig um 1,4 Prozent sinken, wenn die Aufklärungsquote um 1 Prozent zunimmt. Im Beobachtungszeitraum bewegten sich die Aufklärungsquoten in dem Bundesland mit der größten Spannweite (HH) zwischen 29 und 61 Prozent. Demnach impliziert der ermittelte Koeffizient eine Abnahme der Raubrate um etwa 50 Prozent, wenn die Aufklärungsquote in einem Bundesland von einem Jahr auf das andere vom Minimum zum Maximum springen und die Werte aller anderen Variablen unverändert bleiben würden. In Übereinstimmung mit den meisten vorliegenden Ergebnissen ergibt sich für die Gefangenenrate ebenfalls ein – allerdings nur näherungsweise signifikanter – negativer Effekt, was eine abschreckungstheoretische Interpretation nahelegt. Die Häufigkeitsziffer für Raubdelikte würde bei einem Sprung der Gefangenenrate vom Minimum (118 Gefangene pro 100.000 Einwohner) zum Maximum (222) demnach um 20 Prozent abnehmen. Außerdem beeinflusst auch der Anteil der 15-24-jährigen Männer an der Bevölkerung (Veränderung der Raubrate um +44 Prozent bei einem Anstieg über den gesamten beobachteten Wertebereich) die langfristige Entwicklung der Raubdelikte. Bei den individuellen DOLS-Modellen27 zeigt sich eine große Heterogenität der Koeffizienten, insbesondere bei denjenigen für den Anteil der 15-24-jährigen Männer an der Bevölkerung und das reale BIP pro Kopf. Die Koeffizienten für die Rate der Sozialhilfeempfänger weisen – sofern signifikant – mit zwei Ausnahmen (RP, SH) alle das gleiche inhaltlich plausible positive Vorzeichen auf. Auffällig ist, dass sich das Vorzeichen des Koeffizienten für die Gefangenenrate im Vergleich zum gepoolten Modell mit nur einer Ausnahme (HH) 26 Die Parameter der verzögerten und zukünftigen Differenzen der Regressoren (c-Koeffizienten in der DOLSGleichung) sind nicht wiedergegeben, da sie ausschließlich der Beseitigung des Endogenitätsbias dienen und nicht inhaltlich interpretierbar sind. Alle Variablen gingen logarithmiert in die Schätzgleichung ein, die Koeffizienten geben jeweils die proportionale Veränderung der abhängigen Variablen in Reaktion auf eine proportionale Veränderung des entsprechenden Regressors an. 27 Die Ergebnisse der individuellen DOLS-Modelle sind in Birkel (2008) dokumentiert..

102

Christoph Birkel

umkehrt. Da die Instabilität der Koeffizienten im Moment nicht erklärt werden kann, verbieten sich inhaltliche Aussagen über den Zusammenhang zwischen Gefangenenraten und dem Aufkommen von Raubdelikten. Heterogen sind auch die Ergebnisse für die Aufklärungsquote, für die ebenso viele signifikante Kointegrationsparameter mit positivem Vorzeichen wie mit negativem Vorzeichen ermittelt werden. Zudem ist der Kointegrationsparameter für zwei Bundesländer nicht signifikant.

Zwischenfazit Welche der oben formulierten Hypothesen können als vorläufig bestätigt betrachtet werden? Da sich in den empirischen Analysen meist ein negativer Zusammenhang zwischen Aufklärungsquote und Aufkommen an Raubdelikten ergab, kann H1a trotz der Heterogenität der Ergebnisse für die einzelnen Länder vorläufig angenommen werden.28 Die Polizeistärke hatte hingegen keinen Einfluss auf die Raubraten, H2a findet also keine Bestätigung und H2b ist aufrechtzuerhalten. Kein klares Bild ergibt sich aus den Ergebnissen zum Effekt der Gefangenenrate, der je nach gewähltem Modell negativ oder positiv ist. Insofern scheint im Moment die Aufrechterhaltung der Hypothese keines Zusammenhangs (H3c) die vorsichtigste Deutung der Befunde. Dies bedeutet für die Frage nach der Bedeutsamkeit des kriminalpolitischen „outputs“ – soweit es sich in den hier verwendeten Indikatoren niederschlägt – für die Kriminalitätsentwicklung Folgendes: „output does matter“, insofern die Sanktionierungswahrscheinlichkeit für die Kriminalitätsentwicklung relevant zu sein scheint. Die Bedeutsamkeit der Politikproduktion im Bereich der inneren Sicherheit, soweit sie sich in der personellen Ausstattung der Polizei und dem Gebrauch von Haftstrafen materialisiert, ist allerdings vorerst als gering einzustufen. Allerdings sind indirekte Auswirkungen der Polizeistärke, etwa vermittelt über die Aufklärungsquote, denkbar. Der Frage nach derartigen indirekten Effekten galten (auch) die Analysen zu den Determinanten der Entscheidungsvariablen, die im nächsten Abschnitt vorgestellt werden.

5.4 Analysen der Entscheidungsvariablen: „Do parties matter“? Daten und Hypothesen Die folgenden Analysen gelten der Frage, ob sich die parteipolitische Zusammensetzung der Landesregierungen auf die hier in Form der Entscheidungsvariablen gemessene Politikproduktion im Bereich der Inneren Sicherheit und Justizpolitik auswirkt. Es geht hier also um einen Test der sogenannten Parteiendifferenzhypothese (Schmidt 1993: 374), nach der es einen solchen Zusammenhang geben sollte. Als Indikator für die parteipolitische Färbung

28 Analysen unter Verwendung einer alternativen Analysestrategie (vgl. Birkel 2007) ergeben für die Aufklärungsquote einen signifikanten negativen Effekt auf die Raubrate.

Gewaltkriminalität

103

der Landesregierungen verwende ich den Anteil der einzelnen Parteien (SPD, CDU, FDP, Grüne) an den Kabinettssitzen der jeweiligen Landesregierung, berechnet auf Tagesbasis.29 Aus den oben referierten Erklärungsansätzen lassen sich nicht unmittelbar Hypothesen darüber ableiten, wie sich die Beteiligung bestimmter Parteien an einer Landesregierung auswirken sollte. Ich folge hier Schmidt (1980: 49f.), der davon ausgeht, dass die Unionsparteien bestrebt sind, viele Ressourcen für die Politik der Inneren Sicherheit aufzuwenden, nicht aber die SPD: H4a: Je höher der Kabinettssitzanteil der Unionsparteien (in Relation zur SPD), desto höher ist die Polizeistärke.30 Den beiden kleinen Parteien – FDP und Grüne – ist eine libertäre und eher anti-etatistische Orientierung sowie eine liberale kriminalpolitische Linie gemeinsam.31 Es ist daher zu vermuten, dass beide Parteien zu einer schwächeren Personalausstattung der Polizei als die Unionsparteien, aber auch die SPD tendieren: H4b: Je höher der Kabinettssitzanteil der FDP in Vergleich zu dem der Union, desto niedriger ist die Polizeistärke. H4c: Je höher der Kabinettssitzanteil der FDP in Vergleich zu dem der SPD, desto niedriger ist die Polizeistärke. H4d: Je höher der Kabinettssitzanteil der Grünen in Vergleich zu dem der Union, desto niedriger ist die Polizeistärke. H4e: Je höher der Kabinettssitzanteil der Grünen in Vergleich zu dem der SPD, desto niedriger ist die Polizeistärke. Schmidt bezieht sich auf den Ressourceneinsatz, und nicht auf Ergebnisse wie die Aufklärungsquote. Der oben (4.) referierte Befund von Entorf und Mitarbeitern, dass die Aufklärungsquoten bei Regierungsbeteiligung von CDU/CSU höher sind, legt aber folgende Hypothesen nahe: H5a: Je höher der Kabinettssitzanteil der Unionsparteien (in Relation zu dem der SPD), desto höher ist die Aufklärungsquote. H5b: Je höher der Kabinettssitzanteil der FDP (in Relation zu dem der Union), desto niedriger ist die Aufklärungsquote. H5c: Je höher der Kabinettssitzanteil der Grünen (in Relation zu dem der Union), desto niedriger ist die Aufklärungsquote.

29 Die entsprechenden Daten wurden mir freundlicherweise vom Institut für Politische Wissenschaft (Lehrstuhl Manfred G. Schmidt) an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg zur Verfügung gestellt. Namentlich gilt mein Dank Frieder Wolf für die Übermittlung der Daten. 30 Eine äquivalente Formulierung wäre: „Je höher der Kabinettssitzanteil der SPD (in Relation zur Union), desto niedriger ist die Polizeistärke.“ 31 Zu den Programmatiken von FDP und Grünen vgl. Vorländer (1992) und Müller-Rommel/Poguntke (1992).

104

Christoph Birkel

Bezüglich der Gefangenenrate kann vermutet werden, dass konservative Parteien aufgrund ihrer „law-and-order“-Orientierung versuchen werden, auf einen stärkeren Gebrauch von Haftstrafen hinzuwirken, während sozialdemokratische Parteien in ihrer Kriminalpolitik einen eher sozialstaatlich-rehabilitativen Ansatz verfolgen und eine geringere Präferenz für Haftstrafen haben dürften (s. Sutton 2004 mit passender empirischer Evidenz). Daraus kann gefolgert werden: H6a: Je höher der Kabinettssitzanteil der Unionsparteien (in Relation zu dem der SPD), desto höher ist die Gefangenenrate. FDP und Grüne betonen in ihren Programmen die Rechtsstaatlichkeit und präferieren eine liberal-reformistische Kriminalpolitik, wobei sie den erstgenannten Aspekt stärker als die SPD betonen. Insofern ist anzunehmen, dass von Haftstrafen weniger intensiv Gebrauch gemacht wird, wenn eine dieser beiden Parteien an der Regierung beteiligt ist (und zwar in Vergleich zu beiden Volksparteien): H6b: Je höher der Kabinettssitzanteil der FDP in Vergleich zu dem der Union, desto niedriger ist die Gefangenenrate. H6c: Je höher der Kabinettssitzanteil der FDP in Vergleich zu dem der SPD, desto niedriger ist die Gefangenenrate. H6d: Je höher der Kabinettssitzanteil der Grünen in Vergleich zu dem der Union, desto niedriger ist die Gefangenenrate. H6e: Je höher der Kabinettssitzanteil der Grünen in Vergleich zu dem der SPD, desto niedriger ist die Gefangenenrate. Bei der Modellschätzung wurden neben den Kabinettssitzanteilen (hier konnten aufgrund hoher Multikollinearität nicht beide Volksparteien simultan aufgenommen werden) schrittweise Blöcke von Kontrollvariablen eingeführt: a.

b.

c.

sozioökonomische und demographische Variablen (reales BIP/Kopf, Sozialhilfebezugsquote und Anteil der 15-24-jährigen Männer an der Bevölkerung, im Falle der Gefangenenrate auch die Arbeitslosenquote) von denen vermutet werden kann, dass sie der abhängigen Variablen und der Zusammensetzung der Landesregierungen vorgelagert sein könnten, die jeweils anderen Entscheidungsvariablen und die Polizeiausgaben32 (bei den Modellen für die Polizeistärke wurde die Aufklärungsquote nicht berücksichtigt, da ein Effekt unplausibel erschien), welche potentielle Mediatoren eines Parteieneffektes darstellen, Indikatoren für Kriminalitätsaufkommen und -struktur sowie die sonstige Arbeitsbelastung der Strafverfolgungsbehörden (Raubrate, Anteil der versuchten Fälle an den Raubdelikten, Bevölkerungsdichte, Bestand an zugelassenen Kraftfahrzeugen je Ein-

32 Ausgaben für den Aufgabenbereich Bundesgrenzschutz/Polizei in Mio. Euro pro 10.000 Einwohner in Preisen von 2000; Quellen: Statistisches Bundesamt (versch. Jahre a; 2006d).

Gewaltkriminalität

105

wohner33; die letzte Variable wurde bei den Analysen für die Gefangenenrate nicht berücksichtigt). Diese Auswahl stützt sich auf die vorgängigen Kointegrationstests und Plausibilitätsüberlegungen, die hier aus Platzgründen nicht vorgetragen werden. In die Regressionsgleichungen ging die abhängige Variable jeweils in Niveaus ein, während die unabhängigen Variablen teilweise logarithmiert wurden. In letzterem Fall geben die Koeffizienten die absolute Reaktion der zu erklärenden Variable auf proportionale Veränderungen der unabhängigen Variable an.

Ergebnisse34: Polizeistärke Bivariat ergibt sich eine positive Assoziation zwischen Polizeistärke und Kabinettssitzanteil der Unionsparteien, sowie eine negative zwischen dem Anteil der von den Grünen gestellten Ministerposten und der Polizeidichte. Demnach würden pro zusätzlichem Prozent Kabinettssitzanteil der Union (relativ zu dem der SPD) 0,14 Polizisten mehr pro 100.000 Einwohner kommen, während 1 Prozent mehr „grüne“ Minister mit einer um etwa 1,4 niedrigeren Polizeidichte verbunden wären. Der FDP-Kabinettssitzanteil relativ zu dem der Union wirkt sich geringfügig negativ auf die Polizeistärke aus. Bei der schrittweisen Einführung von Kontrollvariablen schwächen sich die Parteien-Effekte (insbesondere derjenige der Union) jeweils ab, wenn die anderen Entscheidungsvariablen und Indikatoren für den Bedarf an Polizisten aufgenommen werden, bleiben aber signifikant, bis auf den Koeffizienten für die FDP.35 Es zeigt sich also, dass die parteipolitische Zusammensetzung der Landesregierungen durchaus einen Effekt auf die personelle Ausstattung der Polizei hat, der möglicherweise teilweise durch die Polizeiausgaben vermittelt wird (die mit 77 zusätzlichen Polizisten pro zusätzlicher Mio. Euro – dieser Betrag entspricht der Spannweite der beobachteten Werte – zu Buche schlagen). Wesentlich wichtiger sind aber Größen, welche als Indikatoren für die polizeiliche Arbeitsbelastung gelten können, wie das Deliktaufkommen und der Motorisierungsgrad. Bei einem Anstieg der Anzahl der zugelassenen Kfz pro Einwohner vom niedrigsten zum höchsten beobachteten Wert wäre beispielsweise ein Anstieg der Polizeistärke um nicht weniger als 108 pro 100.000 Einwohner zu erwarten, ein Anstieg des Unions-Kabinettssitzanteils von 0 auf 100 Prozent (relativ zu dem der SPD) hätte dagegen einen direkten Effekt von 11 zusätzlichen Polizisten pro 100.000 Einwohner (ohne Kontrolle relevanter Drittvariablen: + 14 Polizisten je 100.000 Einwohner).

33 Die Zulassungszahlen wurden freundlicherweise vom Kraftfahrtbundesamt zur Verfügung gestellt. 34 Aus Platzgründen werden die Ergebnisse nur sehr knapp und in Auswahl berichtet. Ausführlicher sind sie in Birkel (2008) dokumentiert. 35 Ähnliche Ergebnisse kommen zustande, wenn statt dem Unions-Kabinettssitzanteil derjenige der SPD im Modell ist, nur dass der Koeffizient für die sozialdemokratische Regierungsbeteiligung negativ ist.

106

Christoph Birkel

Ergebnisse: Aufklärungsquote Werden neben den Kabinettssitzanteilen keine anderen Variablen berücksichtigt, ergibt sich hier ein signifikanter positiver Koeffizient des Anteils der von der FDP gestellten Minister (relativ zum Anteil beider Volksparteien). Werden schrittweise verschiedene Kontrollvariablen für sozioökonomische Rahmenbedingungen und das Deliktaufkommen sowie die anderen Entscheidungsvariablen eingeführt, schwächt sich der FDP-Effekt allerdings stark ab – und zwar dann, wenn Deliktaufkommen und -struktur konstant gehalten werden. Dafür wird bei Aufnahme aller Kontrollvariablen der positive Koeffizient des UnionsKabinettssitzanteils signifikant, während der Grünen-Kabinettssitzanteil, die anderen Entscheidungsvariablen und auch die Polizeiausgaben keinen Einfluss auf die Aufklärungsquote haben. Die Polizeistärke hat also auch keinen indirekten, über die Aufklärungsquote vermittelten, Effekt auf das Kriminalitätsaufkommen.36 Einen stärkeren Einfluss als die Kabinettszusammensetzung auf die Aufklärungsquote haben schließlich – bei einem gegebenen Deliktaufkommen – sozioökonomische und demographische Variablen (v.a. Kfz-Dichte, Sozialhilfebezugsrate). So würde ein Anstieg der Sozialhilfebezugsrate vom beobachteten kleinsten Wert zum größten Wert (entsprechend einer Veränderung um 508 Prozent) eine Abnahme der Aufklärungsquote von über 7 Prozent erwarten lassen. Dagegen ist der Effekt eines Anstiegs des Unions-Anteils an den Ministerposten (relativ zu dem der SPD) von 0 auf 100 Prozent mit einer Steigerung der Aufklärungsquote um etwa 2 Prozent vergleichsweise bescheiden.

Ergebnisse: Gefangenenrate Die Ergebnisse für die Gefangenenrate ähneln denjenigen für die Polizeidichte: Es scheint – bei gegebenem Kriminalitätsaufkommen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen – eine Auswirkung der Zusammensetzung der Landesregierungen in dem Sinne zu geben, dass die Anzahl der Strafgefangenen und Verwahrten pro 100.000 Einwohner mit dem Anteil der Kabinettssitze, welche von den Unionsparteien belegt werden, steigt, bzw. mit dem entsprechenden Anteil der SPD sinkt, und zwar in der Größenordnung von 0,05 mit jedem zusätzlichen Prozent Unions- bzw. SPD-Minister in Relation zum Anteil der jeweils anderen Volkspartei (was eine Veränderung um 5 pro 100.000 Einwohner bei einem Anstieg des jeweiligen Anteils von 0 auf 100 Prozent bedeutet). Der Anteil der beiden kleinen Parteien an den Ministerposten wirkt sich dagegen nicht auf die Gefangenenraten aus. Die (schwer interpretierbaren) Koeffizienten von Polizeistärke und Polizeiausgaben (mit entgegengesetztem Vorzeichen) sind etwas stärker (mit einer implizierten Veränderung der Gefangenenrate um etwa + 21 bzw. - 18 bei einem Anstieg vom beobachteten Minimum zum Maximum). Dabei handelt es sich allerdings im Vergleich zu anderen Größen um vernachlässigbare Effekte. So ist ein proportionaler Zuwachs der Sozialhilfebezugsrate um ein Prozent mit 0,36 zusätzlichen Gefangenen pro 100.000 Einwohnern verbunden, so dass ein Anstieg vom niedrigsten 36 Wird der Kabinettssitzanteil der Union durch denjenigen der SPD ersetzt, ergibt sich für diesen ein betragsmäßig fast identischer negativer Koeffizient, und derjenige des FDP-Anteils ist nicht mehr signifikant (d.h. der Unterschied zur Union ist nur noch sehr gering).

Gewaltkriminalität

107

zum höchsten beobachteten Wert eine Zunahme der Gefangenenrate um über 65 erwarten ließe. Interessanterweise fand sich schließlich für die Arbeitslosenquote nicht der – nach Rusche/Kirchheimer zu erwartende – positive Zusammenhang mit der Gefangenenrate.

Zwischenfazit Die zweite Serie von Auswertungen erbringt eine Bestätigung der Parteiendifferenz-Hypothese: mit dem Anteil der Unionsparteien an den Ministersesseln steigen Aufklärungsquote, Polizeistärke und Gefangenenrate – umgekehrtes gilt für das Ausmaß, in dem die SPD an Landesregierungen beteiligt ist. Insofern können die Hypothesen H4a, H5a sowie H6a als vorläufig bestätigt betrachtet werden. Dies passt gut zu den in 4. erwähnten Befunden zum Zusammenhang von Regierungszusammensetzung und Aufklärungsquote, aber weniger zu Schmidts (1980) Ergebnis, dass es die SPD ist, die mehr Ressourcen für das Politikfeld der Inneren Sicherheit bereitstellt. Es kann freilich durchaus sein, dass sich bei SPD-Landesregierungen mit dem konjunkturellen und fiskalischen Kontext (Schmidts Studie bezog sich auf die Periode bis Ende der 70er Jahre) auch die Prioritätensetzung im Verhältnis zu anderen Politikfeldern verschoben hat. Andere Erklärungen wären ideologische Veränderungen bei der SPD oder der Wettbewerb mit den Grünen um Wähler, die eine repressiv orientierte Kriminalpolitik ablehnen.37 Weniger unplausibel ist das Ergebnis, dass entsprechend H4d und H4e Landesregierungen mit Beteiligung der Grünen weniger Polizisten beschäftigen, während die inhaltliche Bedeutung eines möglichen positiven Effekts – entgegen H5b – einer Regierungsbeteiligung der FDP auf die Aufklärungsquote unklar ist. Die übrigen Hypothesen zum Einfluss der Regierungsbeteiligung der kleinen Parteien (H4b, H4c, H5c, H6b-H6e) finden in den vorliegenden Ergebnissen keine Unterstützung. Bezüglich der Beziehungen unter den Entscheidungsvariablen ist als wichtigstes Ergebnis festzuhalten, dass die Aufklärungsquote nicht durch die Polizeistärke (und damit nicht auch indirekt von der Regierungszusammensetzung) beeinflusst wird, sie kann also im Moment als irrelevant für das Aufkommen an Raubdelikten betrachtet werden (was übrigens auch für die Polizeiausgaben gilt). Insgesamt lässt sich damit sagen, dass es einerseits durchaus angebracht sein könnte, die hier verwendeten Indikatoren für das Politik-Output im Bereich der Inneren Sicherheit als Entscheidungsvariablen zu bezeichnen, da ihre Varianz nicht ausschließlich durch Größen zu erklären ist, die „Sachzwänge“ repräsentieren, sondern auch von der Regierungszusammensetzung beeinflusst wird, was auf Entscheidungsspielräume verweist. Andererseits scheinen diese Spielräume gering zu sein – denn unter den Einflussfaktoren dominieren nach meinen Ergebnissen die „nicht-politischen“ Größen.

37 Hierauf haben die Herausgeber hingewiesen.

108

6

Christoph Birkel

Diskussion

Das Resümee in 5.3 zur ersten Serie von Analysen lautete, dass zwar immerhin eine der Entscheidungsvariablen für das Aufkommen von Raubdelikten bedeutsam ist, und somit die Ausgangsfrage – „Does output matter?“ – bejaht werden kann. Die zweite Reihe von Analysen hatte zu dem Ergebnis geführt, dass die Entscheidungsvariablen diesen Namen verdienen, insofern sie von einem genuin politischen Faktor, d.h. der Regierungszusammensetzung, beeinflusst werden – „parties do matter“. Beide Befunde waren jedoch dahingehend zu relativieren, dass andere Faktoren jeweils von teilweise weit größerer Bedeutung sind, und zwar sowohl für das Kriminalitätsaufkommen als auch insbesondere die Strafverfolgungsindikatoren. Es stellt sich nun die Frage, was dies alles a) für den Status der Kriminalitätstheorien, auf die im ersten Teil zurückgegriffen worden war, und b) für die Parteiendifferenzhypothese bedeutet. Zu a): Das identifizierte Muster an Zusammenhängen entspricht den Erwartungen keiner der drei hier herangezogenen theoretischen Perspektiven exakt. Sowohl die modernisierungstheoretische als auch die ökonomische Perspektive sind mit den Befunden zu Polizeistärke und Gefangenenrate nicht kompatibel. Allerdings findet sich für Letztere in anderen empirischen Studien oft ein negativer Effekt entsprechend der ökonomischen Kriminalitätstheorie und im Widerspruch zur modernisierungstheoretischen Vermutung, dass sich eine höhere Punitivität kriminogen auswirkt. Dieser Sachverhalt sollte aber nicht zusammen mit der Zurückweisung von H3a als ein Argument gegen die Punitivitätsthese verbucht werden. Denn zum einen könnte es sein, dass Gefangenenraten einen problematischen Indikator für das Konstrukt der Punitivität darstellen, die nicht unbedingt in einer größeren Gefangenenpopulation zum Ausdruck kommen muss (vgl. die Diskussion bei Frost 2006: 103ff.). Möglicherweise hat aber auch die Punitivitätsthese Gültigkeit, konnte aber mit dem vorliegenden Untersuchungsdesign nicht bestätigt werden, da es hier um sehr langfristige Effekte geht, die erst mit großer zeitlicher Verzögerung wirksam werden – und zwar erst in der Zukunft, da Tendenzen in Richtung höherer Punitivität in Deutschland erst in jüngerer Zeit eingesetzt haben. Der ermittelte kriminalitätsdämpfende Effekt der Aufklärungsquote läuft schließlich der gelegenheitsstrukturellen Sichtweise zuwider – freilich nur der starken Hypothese, dass sich Strafverfolgung nicht im Sinne eines Ausschaltungseffektes auf das Angebot an motivierten Straftätern auswirkt. Diese ergibt sich jedoch keineswegs zwangsläufig aus den Prämissen des Routine-Aktivitäten-Ansatzes (die keine Aussagen zum Angebot an motivierten Tätern enthalten), sondern fußt auf Plausibilitätsüberlegungen, wonach die Anzahl der durch Strafverfolgung faktisch sanktionierten Täter im Verhältnis zu ihrer Gesamtzahl so klein sein sollte, dass sich daraus nur ein sehr geringer Effekt auf das Kriminalitätsaufkommen ergeben sollte (Felson 2002: 5). Das schließt nicht aus, dass er dennoch statistisch nachweisbar ist. Unter den diskutierten Ansätzen gibt es also nach Maßgabe der dargestellten Analysen keine klaren „Gewinner“ oder „Verlierer“ – eine entschiedene Aussage über ihre jeweilige Leistungsfähigkeit erlauben sie also nicht. Zu b): Was sind die Implikationen des Befundes, dass Aufklärungsquote, Polizeistärke und Gefangenenrate von der parteipolitischen Färbung der Landesregierung (im Vergleich

Gewaltkriminalität

109

zu anderen Faktoren) nur schwach beeinflusst werden und sich auch nur teilweise und mäßig auf das Deliktaufkommen auswirken? Zunächst sprechen sie für eine geringe Relevanz der parteipolitischen Färbung der Landesregierungen für das interessierende „outcome“, d.h. auch der Parteiendifferenzhypothese, wenn es darum geht, Politikergebnisse zu erklären. Dies kann natürlich daran liegen, dass das entscheidende „output“ gar nicht auf Landes- sondern auf Bundesebene produziert wird, wo z.B. die Zuständigkeit für die Strafgesetzgebung angesiedelt ist. Zudem ergeben sich Gestaltungsmöglichkeiten für die großen Parteien wahrscheinlich – wie von Schmidt betont – weniger aus der bloßen Regierungsbeteiligung, sondern v.a. dann, wenn sie eine Hegemonialstellung einnehmen, also über einen längeren Zeitraum ununterbrochen als stimmenstärkste Partei regieren, ohne eine Große Koalition einzugehen (Schmidt 1980: 46). Dies wurde in meinen Analysen nicht durch entsprechende Indikatoren berücksichtigt. Selbst wenn der Befund eines schwachen Parteieneffektes auch in Analysen auf Bundesebene und mit besseren Indikatoren Bestätigung fände, würde dies aber vielleicht weniger die Bedeutung der Parteiendifferenzhypothese, sondern eher diejenige der Politikfelder Innere Sicherheit und Justiz relativieren. Denn es ist denkbar, dass Auswirkungen der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierungen in anderen Politikfeldern – wie der Sozial- und der Arbeitsmarktpolitik (vgl. dazu die Befunde bei Rothgang/Wessel und Schmid/Hedrich in diesem Band) – relevanter für das Kriminalitätsaufkommen sind. Aus der Forschungsliteratur bekannte Ergebnisse zur Bedeutung von Einkommensungleichheit (Messner 2002) und Sozialausgaben (Gartner 1990) sind jedenfalls ein Hinweis darauf, dass Franz von Liszts vielzitierter Satz „Sozialpolitik [ist] die beste und wirksamste Kriminalpolitik“ (von Liszt 1905: 246, zitiert nach Naucke 1982: 542) Gültigkeit haben könnte. Abschließend sei noch die Vorläufigkeit aller Schlussfolgerungen aus den präsentierten Befunden betont. Denn die Ergebnisse der meisten Analysen weisen eine hohe Empfindlichkeit gegenüber der gewählten Modellierungsstrategie und Spezifikation der Schätzgleichung auf, hinzu kommen Brüche und einzelne fehlende Beobachtungen bei einigen Variablen – Problematiken, die hier nicht weiter diskutiert werden konnten. Darüber hinaus zeigte sich bei der Analyse der Raubraten eine hohe Heterogenität der Zusammenhänge über die Bundesländer hinweg, was die Frage danach aufwirft, welche Variablen die Effekte der hier analysierten Variablen konditionieren könnten.

Literatur Bartsch, Anja, 2006: Persönliche Mitteilung vom 21.06.2006. Statistisches Bundesamt. Wiesbaden. Becker, Gary S., 1968: Crime and Punishment: An Economic Approach, in: Journal of Political Economy 76: 169-217. Beckett, Katherine/Western, Bruce, 2001: Governing Social Marginality. Welfare, Incarceration, and the Transformation of State Policy, in: Punishment & Society 3: 43-59. Birkel, Christoph, 2003: Die Polizeiliche Kriminalstatistik und ihre Alternativen. Datenquellen zur Entwicklung der Gewaltkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. Forschungsberichte des Instituts für Soziologie. Der Hallesche Graureiher 2003, 2003-1, Halle.

110

Christoph Birkel

Birkel, Christoph, 2008: Gewaltkriminalität: Zur Bedeutung von Politikproduktion und parteipolitischer Färbung der Landesregierungen. Ms. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (erscheint voraussichtlich in der Reihe „Der Hallesche Graureiher“). Birkel, Christoph/Thome, Helmut, 2004: Die Entwicklung der Gewaltkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, England/Wales und Schweden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Forschungsberichte des Instituts für Soziologie. Der Hallesche Graureiher 2004, 2004-1, Halle. Brings, Stefan, 2007: Persönliche Mitteilung vom 15.01.2007. Statistisches Bundesamt. Wiesbaden. Cohen, Lawrence E./Felson, Marcus, 1979: Social Change and Crime Rate Trends: A Routine Activity Approach, in: American Sociological Review 44: 588-608. Corman, Hope/Mocan, H. Naci, 2000: A Time-Series Analysis of Crime, Deterrence, and Drug Abuse in New York City, in: American Economic Review 90: 584-604. Ehrlich, Isaac, 1973: Participation in Illegitimate Activities: A Theoretical and Empirical Investigation, in: Journal of Political Economy 81: 521-565. Ehrlich, Isaac, 1981: On the Usefulness of Controlling Individuals: An Economic Analysis of Rehabilitation, Incapacitation and Deterrence, in: American Economic Review 71: 307-322. Eisner, Manuel, 2002: Langfristige Gewaltentwicklung: Empirische Befunde und theoretische Erklärungsansätze, in: Heitmeyer, Wilhelm/Hagan, John (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden, 58-80. Elias, Norbert, 1976: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt a.M. Entorf, Horst, 1996: Kriminalität und Ökonomie: Übersicht und neue Evidenz, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 116: 417-450. Entorf, Horst/Winker, Peter, 2005: Investigating the Drugs-Crime Channel in Economics of Crime Models. Empirical Evidence from Panel Data of the German States. Darmstadt Discussion Papers in Economics 165. Technische Universität Darmstadt. Felson, Marcus, 32002: Crime and Everyday Life. Thousand Oaks u.a. Frost, Natasha, 2006: The Punitive State: Crime, Punishment, and Imprisonment Across the United States. New York: LFB Scholarly Publications LLC. Garland, David, 1996: The Limits of the Sovereign State: Strategies of Crime Control in Contemporary Society, in: British Journal of Criminology 36: 445-471. Gartner, Rosemarie, 1990: The Victims of Homicide, in: American Sociological Review 55: 92-106. Häussler, Silvia, 2007: Persönliche Mitteilung vom 15.01.2007. Statistisches Bundesamt. Wiesbaden. Kao, Chihwa/Chiang, Min-Hsien, 2000: On the Estimation and Inference of a Cointegrated Regression in Panel Data, in: Baltagi, Badi H. (Hg.), Nonstationary Panels, Panel Cointegration, and Dynamic Panels. Amsterdam, 179-222. Kleck, Gary/Sever, Brion/Li, Spencer/Gertz, Marc, 2005: The Missing Link in General Deterrence Research, in: Criminology 43: 623-659. Kreuzer, Arthur, 1982: Definitionsprozesse bei Tötungsdelikten, in: Kriminalistik 36: 428-430, 455, u. 491495. Lange, Hans-Jürgen, 2003: Das Politikfeld Innere Sicherheit, in: Grunow, Dieter (Hg.), Verwaltungshandeln in Politikfeldern. Opladen, 225-272. Liszt, Franz von (1905). Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Zweiter Band 1892 bis 1904. Berlin. Messner, Steven F., 2002: Gewaltkriminalität im Ländervergleich, in: Heitmeyer, Wilhelm/Hagan, John (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Opladen, 875-895. Moser, Hannelore, 2006: Persönliche Mitteilung vom 08.08.2006. Statistisches Bundesamt Wiesbaden. Müller-Rommel, Ferdinand/Poguntke, Thomas, 1992: Die GRÜNEN, in: Mintzel, Alf/Oberreuter, Heinrich (Hg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen, 319-361. Naucke, Wolfgang, 1982: Die Kriminalpolitik des Marburger Programms 1982, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 94: 525-564.

Gewaltkriminalität

111

Rusche, Georg/Kirchheimer, Otto, 1939: Punishment and Social Structure. New York. Saridakis, George, 2004: Violent Crime in the United States of America: A Time-Series Analysis Between 1960-2000, in: European Journal of Law and Economics 18: 203-222. Schmidt, Manfred G., 1980: CDU und SPD an der Regierung: ein Vergleich ihrer Politik in den Ländern. Frankfurt a.M. Schmidt, Manfred G., 1993: Theorien in der international vergleichenden Staatstätigkeitsforschung, in: Héritier, Adrienne (Hg.), Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung. Opladen, 371-393. Schubert, Klaus, 1991: Politikfeldanalyse. Opladen. Statistisches Bundesamt, 2006a: GENESIS-Tabelle: bevnag6704. Bevölkerung: Bundesländer, Stichtag, Geschlecht, Altersjahre. GENESIS-Online-Datenbank. http://www.destatis.de (Abruf vom 07.08. 2006). Statistisches Bundesamt, 2006b: Gesundheitsberichterstattung des Bundes (Online-Datenbank). Empfänger/innen von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt in und außerhalb von Einrichtungen (Anzahl). Gliederungsmerkmale: Jahre, Region, Alter, Geschlecht, Nationalität, Einrichtung. http:// www.gbe-bund.de/ (Abruf vom 30.08.2006). Statistisches Bundesamt, 2006c: GENESIS-Tabelle: arbeitslschwer. Arbeitslose: Bundesländer, Jahr, Monate, Arbeitslosigkeit nach Schwerpunkten. GENESIS-Online-Datenbank. http://www.destatis.de (Abruf vom 31.03.2006). Statistisches Bundesamt, 2006d: Fachserie 14 Reihe 3.1 Öffentliche Finanzen. Rechnungsergebnisse des öffentlichen Gesamthaushalts 2004. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Statistisches Bundesamt, versch. Jahre a: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart. Statistisches Bundesamt, versch. Jahre b: Fachserie 10 Reihe 4.2 Strafvollzug – Anstalten, Bestand und Bewegung der Gefangenen. Stuttgart. Statistisches Bundesamt, versch. Jahre c: Fachserie 10 Reihe 4 Strafvollzug. Stuttgart. Statistisches Bundesamt, versch. Jahre d: Fachserie L, Finanzen und Steuern. Reihe 4, Personal von Bund, Ländern und Gemeinden. Stuttgart. Statistisches Bundesamt, versch. Jahre e: Fachserie 14, Finanzen und Steuern. Reihe 6, Personal des öffentlichen Dienstes. Stuttgart. Statistisches Bundesamt, versch. Jahre f: Bevölkerungsstruktur und Wirtschaftskraft der Bundesländer. Stuttgart. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, 2004: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder – VGR d L. (Internetdokument). http://www.vgrdl.de/Arbeitskreis_VGR/ (Abruf vom 13.12.2004). Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, 2006: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder – VGR d L. Ergebnisse vor der Revision 2005 (Internetdokument). http://www.vgrdl.de/Arbeits kreis_VGR/ (Abruf vom 13.04.2006). Stock, James H./Watson, Mark W., 1993: A Simple Estimator of Cointegrating Vectors in Higher Order Integrated Systems, in: Econometrica 61: 783-820. Sutton, John R., 2004: The Political Economy of Imprisonment in Affluent Western Democracies, 19601990, in: American Sociological Review 69: 170-189. Thome, Helmut/Birkel, Christoph, 2007: Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität. Deutschland, England und Schweden im Vergleich, 1950 bis 2000. Wiesbaden. Trotha, Trutz von, 1995: Ordnungsformen der Gewalt oder Aussichten auf das Ende des staatlichen Gewaltmonopols, in: Nedelmann, Brigitta (Hg.), Politische Institutionen im Wandel. Opladen, 129166. Vorländer, Hans, 1992: Die Freie Demokratische Partei, in: Mintzel, Alf/Oberreuter, Heinrich (Hg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen, 266-318.

112

Christoph Birkel

Wetzels, Peter/Pfeiffer, Christian, 1996: Regionale Unterschiede der Kriminalitätsbelastung in Westdeutschland – Zur Kontroverse um ein Nord-Süd-Gefälle der Kriminalität, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 79: 386-405.

Deutscher ist, wer die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat […] besitzt. (§ 1 RuStAG 1998)

Integrationspolitik in den Bundesländern? Christian Henkes

1

Einleitung1

Das Staatsangehörigkeitsrecht und die Einbürgerungspolitik sind auf den ersten Blick klassische Domänen zentralstaatlicher Kompetenz, auch in föderalistischen Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland. Trotzdem stand bis zur Jahrtausendwende der oben zitierte Artikel als Erster im ausschlaggebenden Gesetz. Seine praktische Relevanz war zwar sehr gering, er verweist aber zumindest symbolisch auf die Bedeutung der föderalen Gliederung.2 Die umfassende politische Debatte um die Neuformulierung von Staatsangehörigkeits- und Zuwanderungspolitik in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung von 1998 bis 2005 hat aber gezeigt, dass die Bundesländer bzw. die jeweiligen Landesregierungen wichtige Akteure auf diesem Feld sind. In diesem Beitrag soll es vorrangig um Integrationspolitik der Länder im Hinblick auf langansässige Migranten gehen. Integrationspolitik meint die Gesamtheit der Politikinstrumente, die darauf gerichtet sind, Personen, die nach bestimmten Status-Kriterien (besonders Staatsangehörigkeit und Ethnizität) noch nicht der „vorgestellten Gemeinschaft“ (Anderson 1996) angehören, den Prozess der Eingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern. Zielsetzung des Beitrags ist es aber zunächst, Integration als Politikfeld in der Staatstätigkeitsforschung zu positionieren und entsprechende Anknüpfungspunkte aufzuzeigen. Dabei kann aus Platzgründen Zuwanderungspolitik – besonders Flüchtlingspolitik – nicht, bzw. nur am Rande, behandelt werden, auch wenn sich die Forschungsrichtung am besten unter dem Begriff „Migrationsforschung“ zusammenfassen lässt und sich Integration und Zuwanderung in der politischen Debatte faktisch überlagern. 1979 legte der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung seinen Bericht zur Lage der Ausländer in Deutschland vor (Kühn 1979). In diesem Bericht wurde erstmals „Ausländerpolitik“ nicht mehr als arbeitsmarktpolitische, sondern als gesellschaftspolitische – d.h. 1 Der Beitrag hat wesentlich von der Arbeit des Autors im DFG-Projekt „Kulturelle Heterogenität als Herausforderung“ unter der Leitung von Prof. Wolfgang Merkel (WZB) profitiert. Besonderen Dank schulde ich Heiko Giebler, der immer wieder hilfreiche Kommentare und Recherchen beisteuerte. Es konnten nur Gesetzesänderungen berücksichtigt werden, die vor dem 1.08.2007 verabschiedet wurden. 2 Nach 1945 hat kein Bundesland eine eigenständige „Landesbürgerschaft“ eingeführt. Auch die in der bayerischen Verfassung genannte Staatsbürgerschaft ist mangels entsprechenden Gesetzes gegenstandslos.

114

Christian Henkes

integrationspolitische – Aufgabe gesehen. In diesem Bericht wurden alle Themenfelder und entsprechenden Politikinstrumente behandelt, die die nächsten 25 Jahre die Debatte bestimmen sollten. Anfang der 1980er Jahre folgten dann fast alle westdeutschen Bundesländer mit entsprechenden Berichten, in denen Leitideen konzeptionalisiert wurden, wie mit der sich langfristig niederlassenden ausländischen Bevölkerung umgegangen werden sollte (Meier-Braun 1988: 148ff.). In den folgenden zwei Dekaden bestimmte die Frage den politischen Diskurs, ob und wie die „ausländischen Mitbürger“ in den Bürgerverband aufgenommen werden sollten – also die Fragen nach Bürgeridentität und Partizipation. Durch die Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes 1999 und das neue Zuwanderungsgesetz 2005 wurde die Handhabung der politischen Integration zu einem vorläufigen Ende gebracht und der Diskurs verlagert sich auf Fragen der kulturellen Integration, d.h. welche Folgen die zunehmende kulturelle Heterogenität für die öffentliche Sphäre hat. Für beide Integrationsdimensionen ist die leitende Fragestellung des vorliegenden Beitrags, ob und warum sich Differenzen zwischen den Bundesländern finden lassen. Im folgenden Kapitel (Kap.2) soll das Verhältnis zwischen Integrationspolitik, Föderalismus, Integrationsmodellen und der Staatstätigkeitsforschung beleuchtet werden. Dies geschieht ausführlich, weil gerade diese Zusammenhänge in der Migrationsforschung bisher unterbelichtet blieben. Dann müssen Aspekte des strukturierenden nationalen Handlungskontextes geklärt werden (Kap.3), ehe die Einbürgerungs- und Anerkennungspolitik der Bundesländer vergleichend analysiert wird (Kap.4). Ein kurzes Fazit schließt den Beitrag ab.

2

Analytische Vorüberlegungen

2.1 Integrationspolitik in föderalistischen Staaten Die institutionelle Staatsstruktur der jeweiligen Aufnahmeländer und die Bedeutung subnationaler Ebenen hat in der Migrationsforschung bemerkenswert wenig Beachtung gefunden, obwohl die Mehrzahl der Länder, die nach 1945 Zuwanderung erfahren haben, föderalistisch verfasst ist.3 Empirische wie theoretische Studien konzentrieren sich dagegen meist auf einen Vergleich zwischen Nationalstaaten oder ausgewählten Kommunen (z.B.: Joppke/Morawska 2003, Martiniello 2000, als Ausnahme: Akgün/Thränhardt 2001). Wirklich überzeugende Gründe lassen sich für die Vernachlässigung der subnationalen Ebene nicht finden.4 Sie verwundert umso mehr, da Politikbereiche, die für Integration relevant sind, oft nicht in der alleinigen Verfügung der nationalstaatlichen Ebene stehen. Für die Integrationspolitik lassen sich vier Regelungsmodi im Nation-Region-Verhältnis unterscheiden (Thränhardt 2001: 31):

3 Zu nennen sind hier z.B. die USA, Kanada, Australien, Deutschland, die Schweiz und Österreich. 4 Thränhardt (2001: 27f.) vermutet, dass die Migrationsforschung hier der öffentlichen Debatte folgt. Da diese in erster Linie beim Überschreiten nationaler Grenzen Probleme sehe und generell in nationalen Kategorien denke, sei eine Konzentration auf Nationen nicht verwunderlich.

Integrationspolitik in den Bundesländern? ƒ ƒ ƒ ƒ

115

Ein autonomes Handeln der Länder, wenn die Kompetenz bei den subnationalen Einheiten liegt; die Nutzung von Auslegungsspielräumen, wenn die untergeordneten Einheiten die Implementationshoheit für nationale Gesetze besitzen; die Mitwirkung auf nationaler Ebene, wenn integrationspolitisch relevante Entscheidungen von der Zustimmung einer zweiten Kammer abhängig sind; denkbar ist außerdem eine symbolische Politik, um das Thema und damit die politische Agenda entsprechend zu beeinflussen und zu strukturieren.

Für einen Vergleich zwischen den Bundesländern sind besonders die ersten beiden Aspekte interessant. Da der konkrete Inhalt der Politik von den Integrationsvorstellungen der handelnden politischen Akteure abhängig ist, bedarf es zunächst einer Konzeptionalisierung integrationspolitischer Leitbilder.

2.2 Konzepte der Integration Integrationsinstrumente korrespondieren oft mit generalisierenden, nationalstaatlichen Bürgerschaftsregimen, die von der Forschung konstatiert werden (Sackmann 2004: 174ff.). Es werden nationale Typen angenommen, welche die Zugehörigkeitsregeln grundlegend prägen. Klassisch ist die von Brubaker (1992) analysierte Dichotomie zwischen einer inklusiven, politischen Nation und einer exklusiven, ethnischen Nation, die sich diametral sowohl beim Bürgerverständnis als auch bei den Zugehörigkeitsregeln unterscheiden – wobei Deutschland Prototyp der exklusiven Nation sei. Fasst man Bürgerverständnis und Zugehörigkeitsregeln zusammen und verwendet als zweites Kriterium die Anerkennung kultureller Heterogenität in der öffentlichen Sphäre, dann finden sich auch in anderen Arbeiten (z.B.: Castles 1995, Freeman 1995, Koopmans et al. 2005) entsprechende Typologien, wobei sich im Allgemeinen drei Modelle identifizieren lassen: (1) Ein exklusives Modell, das die Nation und den Bürger auf ethnischer und kultureller Grundlage definiert und das Beitreten zur Nation extrem erschwert. (2) Ein assimilatorisches Modell, das die Nation politisch begreift, in die grundsätzlich beigetreten werden kann, wenn die politische Zustimmung vorhanden ist. Allerdings wird meistens doch eine Anpassung an kulturelle Leitbilder erwartet. (3) Ein pluralistisches Modell, das die Nation und den Bürger ebenfalls politisch begreift und hinsichtlich kultureller Heterogenität keine Anpassung an ein Leitbild erwartet. In unterschiedlichem Ausmaß wird hier kulturelle Vielfalt auch in der öffentlichen Sphäre verankert. Die Bürgerschaftsmodelle beeinflussen als Leitideen auch die jeweilige Integrationspolitik, da deren konkrete Politikinstrumente von den normativen Zielvorstellungen geprägt sind. Ein solcher Modell-Ansatz verspricht immer noch einen heuristischen Gewinn, allerdings widersprechen immer wieder einzelne Maßnahmen dem jeweiligen nationalen Modell. Deshalb sollte man, Entzinger (2000) folgend, in der Integrationspolitik zumindest drei Dimensionen einer Gemeinschaft identifizieren, die das Mitgliedsein definieren. Zum einen die (rechts-)staatliche Dimension, auf der der Bürgerstatus und die wichtigsten politischen Rechte verliehen werden. Davon abzugrenzen ist die nationale Ebene, auf der kulturelle Aspekte des Zusammengehörigkeitsgefühls definiert werden und festgelegt wird, welchen Sta-

116

Christian Henkes

tus „Kultur“ im öffentlichen Raum erhält. Schließlich die ökonomische Dimension, in der die Instrumente zur Integration in den Markt einzuordnen sind. Innerhalb der Dimensionen lassen sich Ansätze danach unterscheiden, ob sie sich auf ein Individuum oder auf ein Kollektiv richten. Ergänzt wird hier (Entzingers Modell erweiternd) ein gruppenspezifischer Ansatz, der die neueren Überlegungen der Multikulturalismus-Debatte aufnimmt. Nicht jede Form der Anerkennungspolitik ist auf ein Kollektiv ausgerichtet (Kymlicka 1995, 2001). Aufgrund spezifischer Gruppeneigenschaften bekommt ein Individuum – nicht die Gruppe – Rechte, wodurch diese Differenz beachtet wird. Kulturelle Heterogenität äußert sich in westlichen Verfassungsstaaten aufgrund der Existenz von zugewanderten Gruppen sowie von autochthonen (nationalen) Minderheiten in zwei Formen. Die politische Theorie des Multikulturalismus hat gute Gründe der Gerechtigkeit eingeführt, warum für Migranten nur ein individueller oder gruppenspezifischer Ansatz zu legitimieren ist (Kymlicka 2001, Kap. 7). Inklusivität und Exklusivität einer Integrationspolitik lässt sich dann daran messen, welche – und wie viele – Bedingungen von Seiten der Einwanderer erfüllt werden müssen, um Teil der gemeinsamen Nation und des Staates zu werden. In ein solches heuristisches Schema lassen sich auch die Politiken der Bundesländer einordnen, denn gerade in föderalistischen Staaten müssen nicht alle Untereinheiten dem gleichen Ansatz folgen.5 Abbildung 1:

Dimensionen der Integrationspolitik6

Quelle: Eigene Darstellung nach Entzinger 2000: 107

5 Ausgeblendet wird in diesem Beitrag trotz ihrer Bedeutung die sozio-ökonomische Integration. Hier wären dann auch Mitgliedschaftsregeln unterschiedlicher Wohlfahrtsstaaten relevant. 6 Grau unterlegt sind die Felder, die in diesem Beitrag analysiert werden.

Integrationspolitik in den Bundesländern?

117

2.3 Theorien der Staatstätigkeit Wie lassen sich nun die Ansätze der klassischen Staatstätigkeitsforschung (Zohlnhöfer 2007) fruchtbar machen für ein Politikfeld wie die Integrationsforschung? Die Verknüpfung der Erklärungsansätze mit der Integrationspolitik geschieht im Folgenden ausführlicher. Zum einen, weil dies in der bisherigen Forschung kaum geschehen ist und der jeweilige Zusammenhang nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist. Zum anderen, um die dann zu untersuchenden Faktoren begründet auszuwählen. Angesichts der relativ ähnlichen ökonomischen und sozialen Situation der ausländischen und eingebürgerten Wohnbevölkerung in den Bundesländern hat der Ansatz der sozio-ökonomischen Determination möglicherweise geringe Erklärungskraft für Differenzen in der Integrationspolitik der alten Bundesländer. Möglich wäre allerdings ein Einfluss aufgrund der Differenzierung der ausländischen Wohnbevölkerung nach Nationalität, Religion oder regionaler Konzentration.7 Internationalisierung gewendet auf die Integrationspolitik findet sich vor allem im großen Strang der Transnationalismusforschung (Soysal 1994, Kleger 1997). Dieser Theoriestrang argumentiert, dass die Steuerungssouveränität der Nationalstaaten aufgrund internationaler Menschenrechtsregime und ihrer Durchsetzung im Schwinden begriffen sei. Kritisch wird allerdings eingewendet, dass die Steuerungskapazität des Nationalstaates unterschätzt wird (Freeman 1998). Unabhängig davon lassen sich Differenzen innerhalb eines Nationalstaates angesichts ähnlicher internationaler Einbindung kaum erklären. Um den Machtressourcen-Ansatz sinnvoll zu integrieren, wäre die Annahme zu treffen, dass es sich bei Anerkennungspolitik im Kern um eine Verteilungspolitik handelt, die unter die Konfliktlinie Kapital-Arbeit subsumiert werden kann. Jedoch sind die Interessenlagen hier nicht klar zu trennen. Integrationsthemen liegen oft quer zur materiellen Konfliktlinie und es erscheint besonders bei kulturellen Fragen ungeeignet, Gegensätze entsprechend zu strukturieren. Besonders ergiebig könnte eine Analyse des Einflusses von Parteien, ihrer ideologischen Leitmotive und der Klientelinteressen auf die Integrationspolitik sein. In der politischen und kulturellen Dimension ist Integrationspolitik eine Anerkennungsfrage und weniger eine Verteilungsfrage.8 Parteipolitische Forderungen nach bestimmten Maßnahmen haben also nicht unbedingt finanzielle Implikationen. Das wiederum kann bedeuten, dass die von den Parteien verfolgte Politik ihren ideologischen Leitmotiven hier eher folgen kann als auf anderen Feldern. Es dürfte in der verfolgten Politik eine Rolle spielen, inwieweit eine Partei ethnisch-exklusive Vorstellungen einer Bürgerschaft vertritt und welchen Stellenwert kulturelle Vielfalt für sie besitzt. Die Besonderheit im Falle der Integrationspolitik ist die, dass lange Zeit die Betroffenen nicht als Wähler auftraten, die entsprechend ihre Interessen zum Ausdruck bringen konnten. Dieser Zustand wurde – anders als in klassischen Einwande-

7 Sozio-ökonomische Determination wird hier etwas unorthodox nicht auf Staaten, sondern auf die sozialen und ökonomischen Aspekte der betroffenen Gruppe bezogen, da diese Aspekte möglicherweise bei ähnlicher Ausprägung auch eine ähnliche Integration nach sich ziehen könnten. 8 Erst in einem zweiten Schritt wird dies relevant: Nämlich dann, wenn staatliche Unterstützungsmaßnahmen für Integrationsprozesse beschlossen oder verändert werden sollen (z.B. beim Streit um die Finanzierung der Integrationskurse nach dem neuen Zuwanderungsgesetz).

118

Christian Henkes

rungsländern – durch die Kombination aus Abstammungsrecht und restriktiver Einbürgerungspraxis perpetuiert. Parteien, die für mehr Anerkennung eintraten, taten dies als „gutwilliger Anwalt“ entsprechend eigener Überzeugung und weniger aus Gründen der Stimmenmaximierung bei den Betroffenen.9 Parteieffekte sind oftmals von weiteren Bedingungen wie Institutionen und Vetospielern abhängig, gerade auch bei einem Vergleich der deutschen Bundesländer. Für den hier untersuchten Fall lässt sich die klassische Annahme, dass substaatliche Institutionen den nationalen Regierungen Kompetenzen vorenthalten, umdrehen. Durch welche (zentralstaatlichen) Arrangements werden Länderregierungen in der Integrationspolitik in ihren Handlungsoptionen begrenzt? Zwei Akteure sind dabei von besonderer Bedeutung: Zum einen die Bundesregierung und die sie tragende Koalition. Dies betrifft in erster Linie Gesetze und allgemeine Verwaltungsvorschriften im Staatsangehörigkeitsrecht und im Ausländerrecht. Entscheidungen und – noch wichtiger – Nicht-Entscheidungen konstituieren maßgeblich den Handlungsraum von Landesregierungen. Zum anderen das Bundesverfassungsgericht, das ggf. auch die Entscheidungen von Landesregierungen prüfen kann. Durch Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen in der Vergangenheit konstituiert sich Pfadabhängigkeit und ein bestimmtes Politikerbe. In der Integrationspolitik hat diese Pfadabhängigkeit mehrere Aspekte. Es geht hier weniger um Interessengruppen, die einmal eingeführte Programme verteidigen (wiewohl auch das vorkommt), als vielmehr um Nichtentscheidungen voriger Regierungen. Diese Nichtentscheidungen lassen den Problemdruck möglicherweise erst entstehen und sie verringern aufgrund der verstreichenden Zeit die Handlungsoptionen. Das deutsche (Reichs- und) Staatsangehörigkeitsrecht ist ein Beispiel für ein Politikerbe, das zukünftige Entscheidungen präjudizierte und das Problem staatsbürgerlich nicht integrierter Inländer der zweiten und dritten Generation überhaupt erst produzierte, was die zukünftige Politik signifikant beeinträchtigte.

2.4 Schlussfolgerungen Die bisherigen allgemeinen Überlegungen hinsichtlich Föderalismus, Integrationsmodellen und Staatstätigkeitsforschung bedeuten für die vorzunehmende Analyse Folgendes: a.

b.

Es sind Politikfelder zu untersuchen, bei denen die Länder entweder autonom handeln können oder die Verwaltungssteuerung übernehmen. Ausgewählt werden zum einen die Umsetzung der Einbürgerungen in den Bundesländern als Beispiel für die Nutzung von Ermessensspielräumen eines national vorgegebenen Gesetzes, zum anderen eine Analyse der Anerkennung kultureller Differenz – d.h. religiöser Symbole – in den Bundesländern als Beispiel einer eigenständigen Landespolitik aufgrund der Kulturhoheit der Länder. Um Leitideen in der Integration auch in unterschiedlichen Ländern zu erkennen, müssen Maßnahmen betrachtet werden, deren Zielrichtung möglicherweise unterschiedli-

9 Trotzdem gibt es zumindest in Deutschland Muster der Parteipräferenz von Migranten bzw. Neubürgern, die in die Strategieüberlegungen der Parteien einfließen können (Wüst 2002).

Integrationspolitik in den Bundesländern?

c.

119

chen individuellen oder kollektiven Leitbildern folgt. Die beiden gewählten Aspekte der Integration (Einbürgerung und kulturelle Anerkennung) sind geeignet, diese Leitbilder zu identifizieren, da zwei der drei Integrationsdimensionen von ihnen erfasst werden. Auf der Suche nach erklärenden Variablen sollten in erster Linie Parteien, Institutionen und Vetospieler in den Blick genommen werden. Auch die Beeinträchtigung durch die nationale Ebene gilt es zu berücksichtigen.

Da die Frage der Einbürgerungen in der deutschen Politik schon deutlich länger auf der politischen Agenda steht, bietet sich über diese Ebene der politischen Integration (d.h. die rechtliche Gleichstellung) eine vergleichende Perspektive über einen längeren Zeitraum an. Demgegenüber lassen sich in der Anerkennungspolitik kultureller Identitäten die Strategien der Bundesländer nur für die letzten Jahre analysieren. Beide Aspekte werden von vorangegangenen Grundsatzentscheidungen und „Erblasten“ beeinträchtigt, die den Handlungskorridor der politischen Akteure maßgeblich konstituieren.

3

Spezifische Aspekte des deutschen nationalen Kontexts

Zu nennen ist hier der so genannte „nationale Mythos“ und das damit verbundene Bürgerverständnis. Unter diesem Begriff versteht Hollifield (2000: 162f.) die in einem Land vorherrschenden Bilder nationaler Identität, d.h. identitäre, kulturelle und historische Aspekte, die sich dann auch in den Gesetzen finden lassen. Dieser nationale Mythos ist erkennbar an die oben dargestellten nationalen Modelle angelehnt und bestimmt das Bürgerbild der Aufnahmegesellschaft. Im öffentlichen Diskurs war das Bild der deutschen Nation über lange Zeit von Vorstellungen einer ethnischen Abstammungsgemeinschaft geprägt (Brubaker 1992: 50ff.). Nicht nur in den entsprechenden Gesetzen findet sich diese Vorstellung, sie beeinflusste auch das Denken und die Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung, der handelnden Menschen in Politik und Verwaltung sowie natürlich auch die Angehörigen der zugewanderten Minderheit.10 Ein solches exklusives Zugehörigkeitsdenken strukturiert auch die als möglich erachteten Politikoptionen. Das Bürgerverständnis wird von politischen Parteien aufgegriffen und in Politikansätze umgesetzt. In den Anfangsjahren der BRD vertraten alle Parteien, vor allem aber die CDU/CSU, ein entsprechendes exklusives Verständnis vom Bürger. Geht es um Zugehörigkeitsbedingungen, so kann davon ausgegangen werden, dass die Anforderungen an Einbürgerungswillige eher höher denn niedriger waren. In den 1980er Jahren löste sich zumindest die sozialdemokratische Partei teilweise von einer solchen Vorstellung, nicht zuletzt durch den Wettbewerb mit den Grünen, die eine partizipative und liberale Integrationspolitik vertraten.11 Möglicherweise lassen sich diese Unterschiede beim Inklusionsverständnis in der Einbürgerungs- und Anerkennungspolitik finden.

10 Bezeichnend ist die „typische“ Frage an in Deutschland geborene „Ausländer“, woher sie „kommen“. 11 Traten die Sozialdemokraten allerdings nachdrücklich für eine Liberalisierung ein, dann war die Gefahr groß, von der Union im Kampf um Wählerstimmen unter Druck gesetzt zu werden – besonders, wenn Integration und innere Sicherheit thematisch verknüpft wurden.

120

Christian Henkes

Die Anwerbungspolitik bestimmt als Politikerbe maßgeblich die Integrationspolitik bis heute. Ab 1955 hatte die Bundesrepublik zur Behebung des Arbeitskräftemangels eine aktive Anwerbungspolitik in den Ländern des Mittelmeerraums betrieben, die nicht als dauerhafte Zuwanderungspolitik gedacht war. 1973 wurde die Anwerbung aufgrund einer sich verschlechternden Arbeitsmarktlage beendet und ein Anwerbestopp verhängt. Recht bald zeigte sich, dass es nicht zu einer vollständigen Rückkehr kommen würde, vielmehr verfestigte sich der Aufenthalt. Zudem vergrößerte sich der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung durch die Familienzusammenführung. Die seit 1982 regierende konservativ-liberale Regierung verständigte sich dann auf drei Essentials für die Ausländerpolitik: (1) Deutschland ist kein Einwanderungsland, (2) die Rückkehr der hier lebenden Ausländer soll gefördert werden und (3) die verbleibende ausländische Wohnbevölkerung soll verstärkt integriert werden. Hindernis für die Umsetzung des dritten Punkts war allerdings, dass eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts an der Unionsfraktion scheiterte und damit besonders die politische Integration behindert wurde. Landesregierungen agierten also in einem eher ungünstigen Umfeld für Integrationspolitik. Mehrere Aspekte sind besonders hervorzuheben: ƒ ƒ ƒ

ƒ ƒ

Die Unentschiedenheit zwischen Rückkehr oder Integration behinderte kohärente Politik; Sowohl den Immigranten als auch der Mehrheitsbevölkerung wurde damit Zuwanderung immer noch als vorübergehender Zustand suggeriert; Die Art der Anwerbung hatte die Zusammensetzung der Immigrantenbevölkerung beeinflusst. Es handelte sich eher um bildungsferne Personen, die in den industriellen Sektoren der deutschen Wirtschaft beschäftigt waren. Deindustrialisierungsprozesse würden diese Gruppe stark treffen;12 An eine irgendwie geartete kulturelle Integration wurde angesichts der Fokussierung auf arbeitsmarktbezogene Fragen kaum gedacht; Ohne Änderungen auf Bundesebene konnten Landesregierungen nur in einem engen Bereich eigene Vorstellungen verfolgen.

Die Frage ist nun, wie die Bundesländer in diesem Kontext agierten und eine differenzierte Politik verfolgten. Eine wichtige Einschränkung ist allerdings zu treffen: Der Vergleich wird sich auf die elf alten Bundesländer beschränken, denn eine Zuwanderung nach Ostdeutschland zwecks Arbeitsaufnahme und langfristiger Niederlassung hat bis heute kaum stattgefunden, und der Anteil der ausländischen Bevölkerung liegt auch heute noch unter zwei Prozent. Da es sich dabei vorwiegend um Zuwanderung aufgrund von Flüchtlingszuweisungen handelt, ist ein Vergleich von Politiken mit den alten Ländern kaum möglich, auch weil die hier behandelten Politikfelder kaum Relevanz haben (Weiss 2006).

12 Dieser Aspekt ist für das Feld der hier nicht behandelten sozio-ökonomischen Integration von hoher Bedeutung.

Integrationspolitik in den Bundesländern?

4

121

Die Politik der Bundesländer

4.1 Die politische Dimension: Einbürgerung Das Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland war Gegenstand umfangreicher – auch international vergleichender – Forschung und dafür verantwortlich, dass Deutschland als Idealtyp der exklusiven, ethnischen Nation charakterisiert wurde (Brubaker 1992, Freeman 1995). In der BRD galt seit Gründung das 1913 beschlossene Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStAG) weiter (Rittsteig 1992: 157ff.). Die Besonderheit liegt nicht so sehr im verankerten Abstammungsrecht (ius sanguinis) – dieses haben alle europäischen Länder – sondern im Fehlen eines zusätzlichen Territorialrechts (ius soli). Zudem sind die Bedingungen zum Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung sehr allgemein gehalten.13 Erst 1977 einigten sich die Länderinnenminister bzw. deren zuständige Referenten auf Konkretisierungen zur Anwendung. Diese so genannten Einbürgerungsrichtlinien (EinbürgRiLi) folgten zwei grundlegenden Leitlinien: Die aufgeführten Bedingungen waren sehr restriktiv ausgerichtet, und wenn nicht, dann grenzten sie den Ermessensspielraum der zuständigen Behörde kaum ein. Sie sind sichtbarster Ausdruck des exklusiven Assimilierungsgedankens in der deutschen Einbürgerungspolitik. Einbürgerung sollte die Ausnahme sein, die Interessen des Bewerbers spielten – expressis verbis – keine Rolle, und eine umfassende Hinwendung zur deutschen Kultur war Bedingung. Diese „Hinwendung“ wurde von der zuständigen Behörde „im Lichte des Gesamtverhaltens“ des Ausländers bewertet. Die Quoten solcher „Ermessenseinbürgerungen“ nach § 8 RuStAG blieben in allen Bundesländern extrem niedrig. Topos der integrationspolitischen Debatte war immer wieder die Erleichterung der Einbürgerungen. Umstritten war dabei der Stellenwert der Einbürgerung für die Integration. Vertreter einer restriktiven Linie sahen in der Einbürgerung den Schlusspunkt einer bereits abgeschlossenen individuellen Assimilation an eine herrschende Kultur und vertraten die bestehende Handhabung. Erst durch die Neufassung des Ausländergesetzes 1990 wurde zumindest für bestimmte Gruppen ansässiger Migranten ein Rechtsanspruch verankert. Durch die Paragrafen 85-87 AuslG wurde für Ausländer unter 23 Jahren und für seit 15 Jahren rechtmäßig Ansässige ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung geschaffen, sofern weitere Bedingungen erfüllt waren.14 Verblüffend ist nun, dass trotz gleicher Rechtslage die Einbürgerungsquoten in den Bundesländern in den 1990er Jahren stark differierten (Tabelle 1).15 Es gilt zu prüfen, welche Erklärungsfaktoren für solche Differenzen verantwortlich sein könnten.

13 Formuliert wurde eine „Kann-Bestimmung“, die als Kriterium die Geschäftsfähigkeit und den legalen Aufenthalt nannte. Zusätzlich werden ein „Unterkommen“ und die Unterhaltsfähigkeit genannt (RuStAG § 8 (1)). 14 Deren Wichtigste waren für die älteren Berechtigten der Nachweis des Lebensunterhaltes und für die Jüngeren ein achtjähriger Schulbesuch in Deutschland. Beide Gruppen mussten auf die alte Staatsangehörigkeit verzichten. 15 Die Differenzen der Werte in Tabelle 1 sind deutlich, da berücksichtigt werden muss, dass Einbürgerungsquoten auch in klassischen Einbürgerungsländern selten einen Wert von 6 übersteigen.

122

Christian Henkes

Tabelle 1:

Einbürgerungsquoten der Bundesländer (ausgewählte Jahre)16

Baden-Württemberg

1995

1996

1997

2001

2002

2003

2004

0,86

1,17

1,17

2,17

1,76

1,51

1,25

Bayern

0,63

0,76

0,83

1,71

1,46

1,24

1,13

Berlin

1,71

1,55

1,33

1,42

1,51

1,48

1,43

Bremen

0,77

0,95

0,95

2,32

2,34

1,97

2,41

Hamburg

1,29

1,79

1,56

3,77

3,03

2,67

1,98

Hessen

1

1,27

1,31

2,68

2,47

2,46

2,16

Niedersachsen

1,27

1,42

1,54

2,76

2,39

2,16

2,05

Nordrhein-Westfalen

1,12

1,35

1,27

3,05

2,52

2,26

2,06

Rheinland-Pfalz

0,85

1,1

0,97

2,50

2,39

2,21

2,11

Saarland

0,68

0,66

0,72

1,39

1,43

1,63

1,39

Schleswig-Holstein

1,05

1,12

1,16

3,34

3,34

2,82

3,08

Quelle: Hagedorn 2001, eigene Berechung

Tabelle 2:

1996

Einbürgerungsquoten türkischer Staatsangehöriger 1996 BW

BY

BE

HB

HH

HE

NI

NW

RP

SL

SH

2,27

1,54

3,5

1,65

3,98

1,82

2,53

2,35

1,93

1,02

1,97

Quelle: Hagedorn 2001: 102

a.

Denkbar ist erstens eine Wirkung eines hohen Anteils von EU-Bürgern auf die allgemeine Einbürgerungsrate, da deren Einbürgerungsrate aufgrund ihres Rechtsstatus17 sehr niedrig ist. Es zeigt sich tatsächlich ein negativer Zusammenhang (Abbildung 2).

16 Es wurden bewusst Werte von Jahren mit einem gewissen zeitlichen Abstand vor und nach der StAG-Reform (1999) ausgewählt. Auch die Zusammenhänge (Abbildungen 2 bis 4) werden aufgrund der Veränderungen jeweils für die Zeit vor 1998/99 gebildet. Das Jahr 1999 wurde ausgelassen, da es damals zu Änderungen der Erfassung kam, was die Vergleichbarkeit beeinträchtigt. Die Einbürgerungsquote wird gebildet, indem die Zahl der Einbürgerungen prozentual zur Zahl der Ausländer berechnet wird. Relevant ist hier die Feststellung der Differenzen – d.h. die Rangfolge der Länder. Auch bei Dornis (2001: 139) findet sich aufgrund ähnlicher Zahlen eine solche Reihenfolge. Der exakte Wert kann je nach Untersuchung leicht schwanken. So ist z.B. der verwendete Nenner (Ausländerzahl) unterschiedlich, je nach dem, ob man die Zahlen des Ausländerzentralregisters oder aus der Bevölkerungsfortschreibung nimmt. Differenzen können auftauchen aufgrund eines unterschiedlichen Stichtags. Der Wert ist grundsätzlich als Illustration zu sehen, denn nicht die Ausländer dürften der Nenner sein, sondern die „einbürgerungsberechtigten“ Ausländer (Bultmann 1999), angesichts der disparaten Datenlage vor 2000 auf diesem Feld ein sehr aufwändiges Verfahren – mit grosso modo dem gleichen Ergebnis. 17 Der Status von EU-Bürgern entspricht paradigmatisch dem „Denizen“, den Hammar (1990) für langansässige Ausländer in westlichen Staaten konzeptionalisiert. Ein „Denizen“ hat eine Position, die dem des „Citizens“ entspricht, abgesehen von dessen politischen Beteiligungsrechten.

Integrationspolitik in den Bundesländern? Abbildung 2:

123

Einbürgerungsquoten im Verhältnis zum Anteil der EU-Bürger 1997*

*Anmerkung: In diesem wie in den folgenden Punktdiagrammen handelt es sich bei den eingezeichneten horizontalen und vertikalen Geraden um den Durchschnittswert der Länder der jeweiligen Variablen. Bei der eingezeichneten Trendlinie handelt es sich zwar um eine Regression, diese ist aber aufgrund der wenigen Fälle nur bedingt statistisch valide und dient in erster Linie der Illustration. Die Korrelation der beiden Indikatoren beträgt -0,51, ist jedoch – maßgeblich bedingt durch die Sensitivität des Assoziationsmaßes auf geringe Fallzahlen – nicht unterhalb der 10%Grenze signifikant.

Dieser Trend relativiert sich aber etwas, wenn die Einbürgerungsquoten nur einer Nationalität – z.B. der türkischen Bevölkerung – betrachtet werden. Mit einer Ausnahme (Rangtausch zwischen BW und HE) ändert sich an der allgemeinen Reihenfolge der Länder nichts (Tabelle 2). Neben dem Einfluss des Anteils der EU-Bürger muss es weitere Faktoren geben, welche die Einbürgerungsquoten der Bundesländer beeinträchtigen. b.

Ein „üblicher Verdächtiger“ wäre die parteipolitische Zusammensetzung der jeweiligen Landesregierungen, wobei unterstellt wird, dass CDU/CSU-Regierungen eine restriktivere Politik verfolgen als SPD-Regierungen, d.h. die möglichen Gesetzesauslegungen strenger handhaben und Einbürgerungen nicht politisch vorantreiben. Da Einbürgerungsverfahren teilweise nicht direkt einer Landesregierung unterstehen, sondern in der Kompetenz kommunaler Verwaltungen liegen, muss der indirekte politische Einfluss auf den kommunalen Akteur erfasst werden. Dies geschieht hier durch die Anzahl der Regierungsjahre der konservativen Parteien von 1955 (Beginn der Anwerbung) bis 1997, da eine entsprechend lange Regierungszeit mittelbar auch das Handeln untergeordneter Akteure, besonders der Verwaltung, beeinflusst.

124

Christian Henkes

Abbildung 3:

Einbürgerungsquoten im Verhältnis zur Regierungszeit der CDU/CSU*

*Anmerkung: Die Korrelation zwischen der durchschnittlichen Einbürgerungsquote und den Regierungsjahren der CDU/CSU seit 1955 beträgt -0,54 und ist auf dem 10%-Niveau signifikant.

Hier zeigt sich ein deutliches Bild: Tatsächlich haben die Bundesländer mit langer konservativer Regierungszeit tendenziell niedrigere Einbürgerungsquoten im Gegensatz zu SPD-dominierten Ländern. Der einzige – nicht zu klärende – Ausreißer ist Bremen, wodurch auch ein möglicher genereller Stadtstaaten-Effekt zweifelhaft wird. c.

Ein weiterer Aspekt des jeweiligen Verwaltungshandelns sind die Einbürgerungen unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit, die dem Grundsatz der „Vermeidung von Mehrstaatigkeit“ widersprechen. Gerade in der politischen Debatte wird gerne behauptet, dass für viele Einwanderer die Pflicht zur Aufgabe ihrer bisherigen Staatsangehörigkeit einer der Hauptgründe sei, trotz Erfüllung aller Voraussetzungen die Einbürgerung nicht zu beantragen. Möglicherweise ist die unterschiedliche Bereitschaft der Bundesländer, die Bestimmungen großzügig auszulegen, verantwortlich für die Differenz bei den Einbürgerungsquoten. Tabelle 3 zeigt die Einbürgerungen unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit als Prozent-Anteil an allen vollzogenen Einbürgerungen.

125

Integrationspolitik in den Bundesländern? Tabelle 3:

Einbürgerungen unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit

Baden-Württemberg

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

13,8

10,7

45,7

46,3

30,8

24,1

28,6

50,4

Bayern

8,4

6,7

41,0

41,5

20,2

21,3

24,7

53,4

Berlin

11,9

9,8

20,0

43,7

43,9

37,5

35,0

52,0

5,6

11,8

23,5

40,9

46,2

50,5

51,2

53,3

60,5

61,5

55,6

51,7

54,2

52,9

52,8

57,7

55,6

53,0

49,1

53,0

Bremen Hamburg Hessen

34,7

30,0

Niedersachsen

16,8

15,0

53,5

57,4

57,1

52,2

52,6

51,2

Nordrhein-Westfalen

25,0

14,0

41,7

43,5

39,0

39,6

44,8

52,0

Rheinland-Pfalz

13,1

14,6

43,6

47,4

40,7

41,0

42,3

51,1

Saarland

13,5

12,2

36,4

48,6

53,6

52,1

53,2

47,6

Schleswig-Holstein

21,5

16,6

53,5

54,2

49,2

43,7

46,7

48,2

Insgesamt

19,9

14,3

44,9

48,3

41,5

40,7

43,5

51,8

Quelle: Statistisches Bundesamt, gerundet

Der Zusammenhang zwischen der Hinnahme von Mehrstaatlichkeit und der Einbürgerungsquote ist nicht wirklich deutlich (siehe Abbildung 4), und er wird erkennbar von einem Extremwert (Hessen) beeinflusst, an dem sich zeigen lässt, dass in der Integrationspolitik landestypische Spezifika eine bedeutende Rolle spielen können. Das Beispiel für ein solches Spezifikum ist die völlig abweichende Quote in Hessen 1998 und 1999 (siehe Tabelle 3). Bestimmte Staatsangehörige werden aufgrund erschwerender, nicht individuell zu verantwortender Gründe immer unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit eingebürgert – so z.B. marokkanische Staatsangehörige. Hessen hatte in den Jahren 1998 und 1999 sehr hohe Antragszahlen aus dieser Gruppe, auch weil marokkanische Staatsangehörige in der Bundesrepublik regional sehr konzentriert wohnten (1997 wohnten in Hessen 30,6% aller in der BRD lebenden marokkanischen Staatsbürger), und wies deshalb im Ländervergleich die mit Abstand höchste Einbürgerungsquote unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit auf.18

18 Persönliche Information aus dem hessischen Ministerium des Inneren und für Sport.

126 Abbildung 4:

Christian Henkes Einbürgerungsquoten im Verhältnis zur Hinnahme von Mehrstaatigkeit 1997/9819*

*Anmerkung: Zwischen den beiden Indikatoren besteht ein positiver, jedoch nicht signifikanter Zusammenhang; die Korrelation weist einen Wert von 0,51 auf.

Ein anderer Fall wäre das Bundesland Berlin. Die hohe Einbürgerungsquote (v.a. der türkischen Bevölkerung) setzt sich nicht in einer ähnlich hohen „Hinnahmequote“ fort – diese ist sogar unterdurchschnittlich. Dies widerspricht den Annahmen über die Bedeutung der Mehrstaatigkeit für das Einbürgerungsinteresse. Allerdings war es diesen neu Eingebürgerten aufgrund einer entsprechenden Formulierung im RuStAG20 möglich, ihre türkische (oder andere) Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen ohne die deutsche zu verlieren. Diese Möglichkeit wurde in der eng vernetzten und aktiven türkischen Verbändelandschaft in Berlin auch entsprechend kommuniziert. Nach der Verabschiedung des neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes hätte man annehmen können, dass regionale Differenzen abnehmen werden, da nun die Bedingungen für den Anspruch eindeutig geregelt waren.21 Es wurde ein genereller Anspruch auf Einbürgerung nach acht Jahren rechtmäßigem Aufenthalt eingeführt, sofern die anderen qualifizierenden Bedingungen durch den Bewerber erfüllt werden. Zusätzlich wurde eine bundes19 Da Zahlen zur Hinnahme für 1997 nicht vorliegen, muss als „Näherungswert“ hier der Wert von 1998 verwendet werden. 20 Der § 25 (1) RuStAG lautete: „Ein Deutscher, der im Inland weder seinen Wohnsitz noch seinen dauernden Aufenthalt hat, verliert seine Staatsangehörigkeit mit dem Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit […].“ Für Deutsche im Inland war dieser Paragraf nicht anwendbar. 21 Ein Problem der Einbürgerungspolitik ist die Verteilung der einschlägigen Paragrafen auf mehrere Gesetze. Die Ermessenseinbürgerung ist in § 8 des RuStAG (ab 1.1.2000 StAG) geregelt. Die erleichterte Einbürgerung junger und langansässiger Ausländer (Anspruchseinbürgerung) war hingegen in den §§ 85 bis 87 des Ausländergesetzes geregelt. Durch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wurde im RuStAG das jus soli integriert und die §§ 85-87 AuslG neu formuliert (generelle Anspruchseinbürgerung). Mit dem Zuwanderungsgesetz wurden dann 2005 diese Paragrafen 8587 AuslG als §§ 10-12 in das StAG aufgenommen.

Integrationspolitik in den Bundesländern?

127

einheitliche Verwaltungsvorschrift für das Gesetz erlassen. Die Einbürgerungsquoten für die Jahre 2001 bis 2004 zeigen zwar eine Erhöhung in allen Bundesländern, allerdings bleibt die Spreizung fast vollständig erhalten. Die Zusammenhänge zwischen Einbürgerungsquote und EU-Bürgern, Regierungspartei oder Hinnahme von Mehrstaatigkeit verändern sich für die Jahre 2001 bis 2004 im Vergleich zu den dargestellten Zeitpunkten in den 1990er Jahren kaum.22 Veränderungen lassen sich erneut eher auf länderspezifische Faktoren zurückführen. So zeigt sich nach dem Jahr 2000 ein generell ansteigender Trend bei den Quoten der Hinnahme doppelter Staatsangehörigkeit und die Werte gleichen sich zwischen den Bundesländern relativ schnell bei über 40% an.23 Allerdings ist es auffällig, dass sich in den Jahren 2002 bis 2004 die Zahlen aller Bundesländer gleichmäßig entwickeln, sich nur in Bayern und Baden-Württemberg die Quote jedoch halbiert. Hinsichtlich der doppelten Staatsangehörigkeit wurde im StAG unter Paragraf 12 folgender Absatz 2 eingefügt: § 12 (2) Von der Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 [die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit als Einbürgerungsbedingung, C.H.] wird ferner abgesehen, wenn der Ausländer die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedsstaates der Europäischen Union besitzt und Gegenseitigkeit besteht.

Gegenseitigkeit bedeutet, dass EU-Bürger nicht zur Aufgabe ihrer alten Staatsangehörigkeit verpflichtet sind, wenn dies in ihrem jeweiligen Herkunftsland für Deutsche ebenfalls gilt. Um die Einbürgerungsquote langansässiger EU-Bürger zu erhöhen und unter der Berücksichtigung der schon existierenden gemeinsamen Unionsbürgerschaft wurde der oben zitierte Absatz einfügt. Bei der Auslegung zeigte sich der restriktive Grundzug der südlichen Bundesländer. Die Mehrzahl der Bundesländer ging bei der Feststellung der Gegenseitigkeit von der Rechtsfolgenseite aus, d.h. von der Frage ob Bundesbürger bei Einbürgerung in einem EU-Mitgliedsstaat faktisch ihre deutsche Staatsangehörigkeit behalten konnten. Sowohl Bayern als auch Baden-Württemberg vertraten aber den Standpunkt, dass es vielmehr auf die Rechtstatbestände der Einbürgerungen ankäme. So sei es unerheblich, ob Deutsche ihre Staatsangehörigkeit behalten könnten, solange dies im Wege der Ermessensentscheidungen geschähe und nicht dem „Wortlaut“ der deutschen Anspruchseinbürgerung entspräche. In diesem Falle bestünde dann keine Gegenseitigkeit (siehe z.B.: Bayerischer Landtag: Drs. 14/12291). Dies betraf neben einigen anderen Nationalitäten in erster Linie Einbürgerungsbewerber aus Italien und Griechenland, also ehemaligen Hauptanwerbeländern. In den Einbürgerungsverfahren verfuhren die zuständigen Stellen demgemäß äußerst restriktiv und verlangten auch von EU-Bürgern weiterhin die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit. Ein griechischer Staatsbürger in Bayern klagte gegen die Verweigerung seiner Einbürgerung am 18.01.2001 vor dem Verwaltungsgericht Ansbach. Die bayerische Landesregie-

22 Aus Platzgründen wurde hier auf eine zu den Abbildungen 2 bis 4 analoge grafische Darstellung für die Jahre 2001 bis 2004 verzichtet. 23 Diese Zunahme ist neuen Rechtsansprüchen bestimmter Personengruppen geschuldet. Neben den bisherigen Staaten, bei denen Mehrstaatigkeit hinzunehmen sei (z.B. Iran, Marokko), haben nun auch Flüchtlinge und die Gruppe von EU-Bürgern aus Staaten mit Gegenseitigkeit einen solchen Anspruch.

128

Christian Henkes

rung – vertreten durch den zuständigen Regierungsbezirk und die Landesanwaltschaft als Vertreterin des öffentlichen Interesses – hielt dagegen an der oben dargestellten Position fest. In Baden-Württemberg gab es zwar keine Verfahren, die Landesregierung machte aber in Antworten auf Anfragen der Opposition im Landtag deutlich, dass sie die Entscheidung des bayerischen Falls abwarten wollte (Landtag von Baden-Württemberg: Drs. 13/382; Drs. 13/1648). Der Fall zog sich über drei Jahre hin, da die bayerische Landesanwaltschaft durch Berufung und Revision den Fall durch alle Instanzen verfolgte. Sowohl das Verwaltungsgericht Ansbach (15.05.2002) als auch der bayerische Verwaltungsgerichtshof (3.04. 2003) und schließlich der Bundesverwaltungsgerichtshof (19.05.2003) gaben dem griechischen Einbürgerungsbewerber in vollem Umfang Recht. In der Zwischenzeit hatten sich die Einbürgerungszahlen von Bürgern aus EU-Staaten mit Gegenseitigkeit in den anderen Bundesländern – ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau – verdoppelt und verdreifacht, nur in Bayern und Baden-Württemberg stagnierten sie. Das parteipolitisch motivierte Justizverfahren hatte den verzögernden Effekt. Allerdings zeigt diese Entscheidung, dass der Handlungsspielraum der Länder zumindest verengt worden ist. Bestanden vor 1999 Steuerungsmöglichkeiten aufgrund des Verwaltungshandelns bei der Implementationspraxis, deren Nutzung parteipolitisch erklärt werden kann, so wird dies nun erschwert. Zwar existieren immer noch Möglichkeiten der Differenzierung, wie etwa beim Sprachtest,24 neu ist aber, dass die Parteien auf Bundesebene gewissermaßen die Agendakontrolle übernommen haben und unabhängig von der politischen Ausrichtung einen Rahmen vorgeben. Zwar bestehen auch hier parteipolitische Differenzen, wie z.B. die Leitkulturdebatte zeigt (Klusmeyer 2001), das neue „republikanische“ Bürgerbild (Gerdes/Faist 2006) wird aber unabhängig davon als Bundesaufgabe begriffen, durch die Aspekte wie z.B. die sprachlichen Voraussetzungen geregelt werden sollen.

4.2 Die kulturelle Dimension: Anerkennungsfragen Zunehmend wird Integration im Bereich der kulturellen Dimension zum Topos der Debatte. Demokratien, die auf der Basis vorgefundener ethnischer und kultureller Gegebenheiten ihre Institutionen, Gesetze und Verfahrensweisen gründeten, müssen aufgrund der Zuwanderung der letzten Jahrzehnte für gegeben gehaltene Grundlagen neu reflektieren (Kymlicka 1995: 108ff.). Entsprechend den oben ausgeführten Ansätzen kann dies in Form der Verweisung solcher Fragen in den privaten Raum geschehen, durch die Institutionalisierung kulturell-religiöser Separatsysteme oder durch religiös/kulturell gerechtfertigte Ausnahmeregelungen für den öffentlichen Raum. Hier soll nicht die Frage verfolgt werden, ob bestimmte Verfahrensweisen moralisch zu rechtfertigen sind. Vielmehr soll es darum gehen, ob Unterschiede zwischen den Bundesländern festzustellen sind. Nach 1991 (erleichterte Einbürgerung) und nach 2000 (Staatsangehörigkeitsrecht) nahm die kulturelle Heterogenität der 24 Ein Anspruch auf Einbürgerung besteht nicht, wenn „der Einbürgerungsbewerber nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt.“ (StAG § 11, Abs. 1; Hervorhebung C.H.). Wenn ein Einbürgerungswilliger keinen der im Gesetz genannten Nachweise über die Sprachfähigkeit besitzt, dann prüft die zuständige Behörde die Kenntnisse der deutschen Sprache. Es ist umstritten, was ausreichende Kenntnisse im Sinne des Gesetzes sind, und die Tests differieren zwischen den Bundesländern und den Kommunen erheblich.

Integrationspolitik in den Bundesländern?

129

deutschen Bürgerschaft zu, aber schon aufgrund der Zahl der potentiell betroffenen Bürger lässt sich das Thema verengen auf die Frage nach dem Umgang mit der muslimischen Minderheit. Die BRD ist zwar ein säkularer, aber kein laizistischer Staat, was bedeutet, dass der Staat Religionen – wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind – Freiraum und Unterstützung auch im öffentlichen Raum einräumt. Dies bedeutet unter anderem, dass Religionsgemeinschaften25 innerhalb staatlicher Institutionen tätig werden können (Religionsunterricht, Militärseelsorge, theologische Fakultäten, private staatlich anerkannte Schulen, etc.). Die zunehmende religiöse Heterogenität wirft nun die Frage auf, unter welchen Bedingungen muslimische Gemeinschaften diese Rechte ebenfalls in Anspruch nehmen können. Viele dieser religionspolitischen Fragen liegen in der Regelungskompetenz der Bundesländer26, so z.B.: ƒ ƒ ƒ

Der Umgang mit muslimischen Symbolen bei Angestellten im öffentlichen Dienst, vor allem im Schuldienst; die Zulassung und Gestaltung islamischen Religionsunterrichts in den Schulen; die Einrichtung islamischer Fakultäten an den Universitäten.

Besonders in der Debatte stehen die ersten beiden Punkte. So wurde die „Kopftuchfrage“ nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24.09.2003 über die Verfassungsbeschwerde der muslimischen Lehramtsbewerberin F. Ludin (BVerfG 2 BvR 1436/02) für die Bundesländer politisch bedeutsam. Zwar gab das Gericht der Verfassungsbeschwerde statt, d.h. das Land Baden-Württemberg hatte kein Recht, die Aufnahme Ludins in den Schuldienst aufgrund des Kriteriums „Kopftuch“ zu versagen. Grundlage der Entscheidung war aber nicht die Grundrechtswidrigkeit, sondern die fehlende landesrechtliche Grundlage eines möglichen Verbots. Damit liegt es bei den Landesregierungen bzw. -parlamenten, entsprechende Gesetze zu erlassen. Das Thema war auf der politischen Agenda und die Parteien mussten sich positionieren (Liedhegener 2005). Dabei erschwerte gerade die ambivalente Bewertung des Kopftuchs den Parteien eine eindeutige Positionierung im politischen Wettbewerb. SPD und Grüne sehen einerseits die Möglichkeit, muslimische Bürger gleichberechtigt in die öffentlichen Institutionen zu integrieren und dem Ziel einer interkulturellen Öffnung der Verwaltung näher zu kommen. Andererseits müssen sie berücksichtigen, dass große Teile ihrer Wählerschaft das Kopftuch als ein Symbol weiblicher Unterordnung ansehen und sensibel auf die Möglichkeit sozialen Drucks auf Frauen und Mädchen reagieren. Als Partei, die ihr christliches Fundament immer betont, Homogenitätsvorstellungen der deutschen Identität noch nicht ganz abgelegt hat und zudem Wählergruppen vertritt, die in ausländerpolitischen Fragen eher restriktiv eingestellt sind, müsste es der Union leichter fallen, entsprechende – restriktive – Gesetze zu verabschieden. Andererseits ist für die Union die öffentliche Beachtung von Religion konstitutiv. Es besteht für sie die Gefahr,

25 Die Frage, inwieweit Religionsgemeinschaften genau definiert sein müssen und ob sie einen Körperschaftsstatus benötigen, wird in den Bundesländern sehr differenziert geregelt und hier ausgeblendet. 26 Die Frage von muslimischen Friedhöfen und der Bau von Moscheen betrifft hingegen oft die kommunale Ebene.

130

Christian Henkes

dass Restriktionen für eine Religion zum Beginn der „abschüssigen Bahn“ in Richtung Laizismus werden. Davon könnten dann auch die christlichen Kirchen negativ betroffen sein. Nach dem Verfassungsgerichtsurteil waren es aber dennoch die unionsregierten Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg, die sofort entsprechende Landesgesetze ankündigten. Drei Jahre später zeigen sich in der „legislativen Landschaft“ folgende Differenzen zwischen den Bundesländern: Tabelle 4:

Bundesländer mit einem „Kopftuch-Verbotsgesetz“:

Bundesland

Datum der Verabschiedung

Parlamentarische Mehrheit

Baden-Württemberg

01.04.2004

CDU-FDP

Niedersachsen

29.04.2004

CDU-FDP

Saarland

23.06.2004

CDU (SPD-Opposition stimmt zu)

Hessen*

18.10.2004

CDU

Bayern**

23.11.2004

CSU

Berlin

27.01.2005

SPD-PDS

Bremen

28.06.2005

SPD-CDU

Nordrhein-Westfalen***

13.06.2006

CDU-FDP

* Das hessische Gesetz verbietet das Kopftuch im gesamten öffentlichen Dienst und nicht nur im Schuldienst. ** Erster Entwurf am 18.2.2004. ***Ablehnung eines Entwurfs der CDU-Fraktion am 17.3.2005

Tabelle 5:

Bundesländer ohne ein „Kopftuch-Verbotsgesetz“

Bundesland

Parlamentarisches Verfahren

Parlamentarische Mehrheit

Brandenburg

Ablehnung DVU-Antrag (02.03.2005)

SPD-CDU

Hamburg

Keine parl. Behandlung

CDU-Schill-FDP, CDU*

Mecklenburg-Vorpommern

Keine parl. Behandlung

SPD-PDS, SPD-CDU*

Rheinland-Pfalz

Ablehnung CDU-Antrag (30.11.2005)

SPD-FDP

Sachsen

Keine parl. Behandlung

CDU, CDU-SPD*

Sachsen-Anhalt

Keine parl. Behandlung

CDU-FDP, CDU-SPD*

Schleswig-Holstein

CDU-Antrag (14.11.2003)

SPD-Grüne, CDU-SPD*

Thüringen

Keine parl. Behandlung

CDU

*Anmerkung: Datum der Regierungswechsel: HH: 17.02.2004; MV: 07.11.2006; SN: 10.11.2004; ST: 24.04.2006; SH: 27.04.2005.

Eine erste Aussage kann aus fehlenden Verboten und Vorhaben in den fünf neuen Bundesländern gezogen werden, allerdings ist es schwierig, einen parteipolitischen Effekt zu kons-

Integrationspolitik in den Bundesländern?

131

tatieren. Aufgrund der kaum vorhandenen muslimischen Wohnbevölkerung und daraus folgendem mangelndem „Problemdruck“ durch Präzedenzfälle setzen auch CDU-geführte Regierungen wie in Sachsen oder Thüringen ein solches Projekt nicht auf die politische Agenda. Ein erster Erklärungsfaktor liegt also in der faktischen Existenz des Problems. Damit bleiben noch Rheinland-Pfalz, Hamburg und Schleswig-Holstein ohne Verbot. Hier regierten unterschiedliche Koalitionsvarianten, allerdings zwei mit CDU-Ministerpräsidenten. Eindeutiger sieht das parteipolitische Bild bei den „Verbotsländern“ aus: Bei fünf der sieben Länder handelt es sich um unionsgeführte Regierungen. Besonders sichtbar war der Parteieneffekt in Nordrhein-Westfalen: Der von der damaligen CDU-Opposition am 4.11. 2003 eingebrachte Gesetzesentwurf für eine entsprechende Novelle des Schulgesetzes wurde mit den Stimmen der SPD, Grünen und FDP am 17.03.2005 abgelehnt. Nach der Landtagswahl 2005 und der Neubildung einer unionsgeführten Landesregierung widersetzte sich die FDP einem entsprechenden Gesetz nicht mehr. Wollte man nun postulieren, dass CDU/CSU-regierte Länder entsprechende Gesetze verabschieden und SPD-geführte Regierungen dies nicht tun, dann ist für den Kreis der alten Bundesländer Folgendes erklärungsbedürftig: (1) Warum haben Hamburg und Schleswig-Holstein kein Verbot? (2) Wie lassen sich die Fälle erklären, in denen SPD-Fraktionen zustimmten (Saarland, Bremen und Berlin)? (3) Wie löst die CDU/CSU das Problem der „Laizitätsgefahr“? Die Antwort auf die letzte Frage findet sich in der inhaltlichen Konvergenz der Gesetze. In sechs der acht Bundesländer mit Verbotsgesetz (Ausnahme: Berlin und Bremen) findet sich eine Formulierung im Gesetzestext, die es auch in Zukunft ermöglichen soll, dass christliche und jüdische Religionssymbole nicht gegen das staatliche Neutralitätsgebot verstoßen. Meist geschieht dies durch den Verweis auf die Landesverfassungen, in denen oft von einem Bildungsauftrag der Schulen auf christlich-abendländischer Grundlage die Rede ist. Die Problematik der unterschiedlichen Behandlung von Religionen bestimmte die Debatte um Landesgesetze in den SPD-regierten Stadtstaaten Berlin und Bremen. In Berlin sprechen die von SPD und PDS beschlossenen Gesetze27 ausdrücklich von der „weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates“ (Pressemitteilung der PDS vom 31.03.2004). Damit ist gemeint, dass alle offensichtlichen religiösen Symbole nicht mit dem staatlichen Bildungsauftrag zu vereinbaren sind. Ähnliches lässt sich in Bremen finden. Dort legte die CDU-Fraktion am 27.01.2004 einen Antrag auf Änderung des Bremischen Schulgesetzes (BremSchulG) vor. Ein einzufügender Paragraf hätte religiöse Symbole bei Lehrkräften verboten, christliche davon aber ausgenommen.28 Eine solche Formulierung war aber in der Koalition nicht durchsetzbar und die Formulierung im endgültigen Gesetz ist sehr zurückhaltend und stellt alle religiösen Symbole unter ‚Prüfverdacht’ (§ 59b Abs.4 BremSchulG). In Schleswig-Holstein lässt sich Ähnliches mit einem anderen Ausgang beobachten. Der Ent27 Gesetz zur Weiterentwicklung des bedarfsgerechten Angebotes und der Qualität von Tagesbetreuung (Kindertagesbetreuungsreformgesetz) vom 23.06.2005 (GVBl. S. 322) und Gesetz zur Schaffung eines Gesetzes zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin und zur Änderung des Kindertagesbetreuungsgesetzes vom 27.01.2005 (GVBl. S. 92). 28 Formulierung: „Ausgenommen hiervon bleiben Symbole, die wegen ihrer Verwurzelung in der christlich geprägten abendländischen Kulturtradition oder die im Hinblick auf ihr zurückhaltendes Erscheinungsbild die Erwartung rechtfertigen, dass durch sie keine Spannungen in die Schule getragen und religiöse oder weltanschauliche Empfindungen der Schüler und Schülerinnen nicht gestört werden.“ (Antragsentwurf der CDU-Fraktion vom 27.01.2004, in: http://www.uni-trier.de/~ievr/kopftuch/kopftuch.htm (abgerufen am 8.4.2007)).

132

Christian Henkes

wurf der CDU-Fraktion enthielt eine entsprechende Ausnahme für christliche Symbole. Diese Ungleichbehandlung wurde vom Koalitionspartner SPD aber nicht akzeptiert, und unter Berücksichtigung erneut eingereichter Klagen in anderen Bundesländern verzichtete die Landesregierung gleich ganz auf ein spezielles Gesetz. Unter Berücksichtigung des erkennbaren Parteieneffekts ist somit nur das Saarland ein wirklich abweichender Fall, da die SPD-Opposition dem CDU-Entwurf zustimmte, obwohl dieses Gesetz und seine Begründung explizit christliche Symbole mit Verweis auf Landesverfassung und Tradition ausnimmt (Landtag des Saarlands Drs. 12/1072, Amtsbl. S. 1510, Nr. 33). Möglicherweise übertrumpften hier Überlegungen des vote seeking solche des policy seeking angesichts der nahenden Landtagswahl am 05.09.2004. Begreift man die Anerkennung des Kopftuchs im öffentlichen Dienst als Teil von Integrationspolitik, so lässt sich in dieser Dimension ein klarer Parteiendifferenzeffekt feststellen. SPD-Regierungen präferieren entweder kein Gesetz oder ein für alle Religionen gültiges, die CDU/CSU hingegen eines, welches für „autochthone“ Religionen besondere Regelungen verankert. Gewissermaßen wird hier ein poly-religiöses Ausnahmerecht29 für die Angehörigen der einen Gruppe geschaffen, die aufgrund „althergebrachter“ kultureller Prägung bevorzugt werden soll. Abzuwarten bleibt, ob dies auch vor dem mächtigen Vetospieler „Justiz“ Bestand haben wird.

5

Fazit

Vier Faktoren (Strukturen und Akteure) und deren länderspezifisches Zusammenspiel bestimmten bisher die Integrationspolitik der einzelnen Bundesländer. Landesregierungen mit entsprechenden parteipolitischen Ausrichtungen (erster Faktor) agierten vor dem Hintergrund der nationalen und sozio-strukturellen Zusammensetzung der ausländischen Wohnbevölkerung (zweiter Faktor). Gerade in der Einbürgerungspolitik wurde der Handlungsraum der Landesregierungen von der Integrationspolitik der Bundesregierung – dem dritten Faktor – signifikant erweitert oder begrenzt. Nutzt diese ihren Spielraum im Staatsangehörigkeits- und im Aufenthaltsrecht extensiv und präzise (durch Verwaltungsvorschrift), so verbleiben der einzelnen Landesregierung wenige Möglichkeiten, eine eigene Politik zu verfolgen. Sie ist dann auf die Einflussnahme mit verbündeten Landesregierungen über den Bundesrat verwiesen – was ebenso machtvoll sein kann. Allerdings handelt es sich dabei um ein Instrument, das eher vereinheitlichend wirkt. So sollen z.B. länderspezifische Integrationstests oder „Gesinnungstests“ in bundeseinheitliche Ansätze überführt werden.30 Sollten sich nun mittelfristig trotzdem die Differenzen bei den Einbürgerungen erhalten, dann müssten die Gründe dafür entweder in von der Politik nicht zu beeinflussenden Faktoren gesucht werden oder aber jeweils sehr spezifische, fast situative Bedingungen in den Ländern benannt werden.

29 Siehe zu diesem Begriff Kymlicka 1995: 107ff. 30 Beschluss der Innenministerkonferenz vom 5.5.2006 (http://www.berlin.de/imperia/md/content/seninn/imk2007/ beschluesse/060505_imk_180.pdf (abgerufen am 30.5.2007)).

Integrationspolitik in den Bundesländern?

133

Ganz anders sieht dies zurzeit noch auf dem Feld der kulturellen Integrationspolitik aus. Eine eigenständige Politik der Bundesländer wird durch die grundgesetzlich geschützte Kulturautonomie ermöglicht. Die Differenzen in der Anerkennungspolitik (hier verdeutlicht am Beispiel des Kopftuchs) lassen sich durchaus noch auf einen Parteieneffekt zurückführen. Die Behandlung religiöser Symbole im Staatsdienst dürfte dabei nur der Anfang sein. Das Abhalten religiösen Unterrichts könnte der nächste Topos parteipolitischer Auseinandersetzung werden. Hier kommt nun aber ein vierter Faktor ins Spiel, der auch schon auf dem Feld der politischen Integration eine Rolle spielte. Unabhängige Gerichte mit dem Bundesverfassungsgericht an der Spitze agieren auch in diesem Politikfeld als „konditionale Vetospieler“ (Kneip 2007: 221), die bestimmte Rechte definieren und dadurch die Politik einer Landesregierung konterkarieren können. Im Feld der Einbürgerungspolitik war dies sichtbar in der Definition des so relevanten Begriffs der „Gegenseitigkeit“. In der kulturellen (religiösen) Anerkennungspolitik könnte dies über die Frage, wie Religionen eigentlich gleich behandelt werden, auch der Fall sein. Gerichte bzw. die durch sie stattfindende Durchsetzung national festgesetzter Rechte auch für Migranten wurden schon früh als ein Bestimmungsfaktor in der Integrationspolitik angesehen (Hollifield 2000). Dadurch wird die Differenzierung zwischen den Bundesländern auch in Zukunft begrenzt. Zusätzlich gilt es zu bedenken, dass sich eine Rahmenbedingung länderspezifischer Politik grundlegend geändert hat. Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht und dem Zuwanderungsgesetz ist es zu einem Paradigmenwechsel in der Integrationspolitik gekommen. Damit ist nicht nur der inhaltliche Wechsel hin zu einem inklusiveren, republikanischen Bürgerschaftsverständnis gemeint. Für den hier behandelten Kontext ist von noch größerer Bedeutung, dass Integrationspolitik von allen relevanten politischen Akteuren nunmehr als gesamtstaatliche Aufgabe verstanden wird, wie dies 2006/2007 im laufenden Prozess der Entwicklung eines nationalen Aktionsplans deutlich wurde. Im neuen Jahrtausend begreift sich die Bundesregierung viel stärker als steuernder Akteur in der Integrationspolitik, was von Bedeutung für eine ländereigene Integrationspolitik ist. Das Thema der Integration von Zuwanderern ist in den letzten Jahren gewissermaßen auf Bundesebene „angekommen“ und bleibt dort – unabhängig von der parteipolitischen Zusammensetzung der Bundesregierung – offenbar auf der Agenda. Mit den im Zuwanderungsgesetz enthaltenen Integrationsmaßnahmen und der Umstrukturierung des BAMF zu einer stark steuernden Institution ist die Integrationspolitik nun neben dem Staatsangehörigkeitsrecht Bundesangelegenheit. Die von der Bundesregierung für einen längeren Zeitraum installierten Institutionen wie die Integrationskonferenz oder die Islamkonferenz könnten auch in einem Bereich wie der kulturellen Anerkennung, die eigentlich den Bundesländern vorbehalten ist, einen vereinheitlichenden Effekt haben. Möglicherweise geht die Zeit differierender – politisch zu erklärender – Integrationsansätze in den Ländern zu Ende.

Literatur Akgün, Lale/Thränhardt, Dietrich (Hg.), 2001: Integrationspolitik in föderalistischen Systemen. Münster. Anderson, Benedict, 1996: Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt a.M./New York.

134

Christian Henkes

Brubaker, Rogers, 1992: Citizenship and Nationhood in France and Germany. Cambridge/London. Bultmann, Peter F., 1999: Lokale Gerechtigkeit im Einbürgerungsrecht. Berlin. Castles, Stephen, 1995: How nation-states respond to immigration and ethnic diversity, in: New Community 21, 293-308. Dornis, Christian, 2001: Einbürgerung in Deutschland: Ihre Rolle bei der Integration von Zuwanderern und die Verwaltungspraxis im Regionalvergleich. Aachen. Entzinger, Han, 2000: The Dynamics of Integration Policies: A Multidimensional Model, in: Koopmans, Ruud/Statham, Paul (Hg.): Challenging Immigration and Ethnic Relations Politics, Oxford, 97-118. Freeman, Gary P., 1995: Modes of Immigration Politics in Liberal Democratic States, in: International Migration Review 29, 881-902. Freeman, Gary P., 1998: The Decline of Sovereignty? Politics and Immigration Restriction in Liberal States, in: Joppke, Christian (Hg.): Challenge to the Nation-State. Oxford/New York, 86-108. Gerdes, Jürgen/Faist, Thomas, 2006: Von ethnischer zu republikanischer Integration. Der Diskurs um die Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, in: Berliner Journal für Soziologie 16, 313-335. Hagedorn, Heike, 2001: Föderalismus und die deutsche Staatsangehörigkeit: Die Einbürgerungspolitik der Bundesländer, in: Akgün, Lale/Thränhardt, Dietrich (Hg.): Integrationspolitik in föderalistischen Sstemen, Münster, 91-117. Hammar, Tomas, 1990: Democracy and the Nation State: Aliens, Denizens and Citizens in a World of International Migration. Aldershot. Hollifield, James F., 2000: The Politics of International Migration: How Can We „Bring the State Back In”?, in: Brettell, Caroline/Hollifield, James F. (Hg.): Migration Theory: Talking across Disciplines. New York/London, 139-185. Joppke, Christian/Morawska, Ewa (Hg.), 2003: Towards Assimilation and Citizenship: Immigrants in Liberal Nation-States. Basingstoke/New York. Kleger, Heinz (Hg.), 1997: Transnationale Staatsbürgerschaft. Frankfurt/New York. Klusmeyer, Douglas, 2001: A „guiding culture” for immigrants? Integration and diversity in Germany, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 27, 519-532. Kneip, Sascha, 2007: Anschieber oder Bremser? Das Bundesverfassungsgericht und die Reformpolitik der rot-grünen Bundesregierung, in: Egle, Christoph/Zohlnhöfer, Reimut (Hg.): Ende des rot-grünen Projektes. Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002-2005. Wiesbaden, 215-238. Koopmans, Ruud/Statham, Paul/Giugni, Marco/Passy, Florence, 2005: Contested Citizenship. Minneapolis/ London. Kühn, Heinz, 1979: Stand und Entwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland. Memorandum des Beauftragten der Bundesregierung. Bonn. Kymlicka, Will, 1995: Multicultural Citizenship: A Liberal Theory of Minority Rights. Oxford. Kymlicka, Will, 2001: Politics in the Vernacular: Nationalism, Multiculturalism, and Citizenship. Oxford. Liedhegener, Antonius, 2005: Streit um das Kopftuch: Staat, Religion und Religionspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 15, 1181-1202. Martiniello, Marco, 2000: The Residential Concentration and Political Participation of Immigrants in European Cities, in: Body-Gendrot, Sophie/Martiniello, Marco (Hg.): Minorities in European Cities: The Dynamics of Social Integration and Social Exclusion at the Neighbourhood Level. Basingstoke, 119-128. Meier-Braun, Karl-Heinz, 1988: Integration und Rückkehr? Zur Ausländerpolitik des Bundes und der Länder, insbesondere Baden-Württembergs. Mainz/München. Rittsteig, Helmut, 1992: Deutsches Ausländerrecht, Kommentar. München. Sackmann, Rosemarie, 2004: Zuwanderung und Integration: Theorien und empirische Befunde aus Frankreich, den Niederlanden und Deutschland. Wiesbaden.

Integrationspolitik in den Bundesländern?

135

Soysal, Yasemin, 1994: Limits of Citizenship: Migrants and Postnational Membership in Europe. Chicago/ London. Thränhardt, Dietrich, 2001: Zuwanderungs- und Integrationspolitik in föderalistischen Ländern, in: Akgün, Lale/Thränhardt, Dietrich (Hg.): Integrationspolitik in föderalistischen Systemen. Münster, 15-34. Weiss, Karin, 2006: Einwanderung in die Transfergesellschaft: Probleme und Erfolge der Integration in Ostdeutschland, in: Baringhorst, Sigrid/Hollifield, James F./Hunger, Uwe (Hg.): Herausforderung Migration – Perspektiven der vergleichenden Politikwissenschaft. Münster, 53-78. Wüst, Andreas, 2002: Wie wählen Neubürger? Politische Einstellungen und Wahlverhalten eingebürgerter Personen in Deutschland. Opladen. Zohlnhöfer, Reimut, 2008: Stand und Perspektiven der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung, in: Janning, Frank/Toens, Katrin (Hg.): Die Zukunft der Policy-Forschung. Wiesbaden, 157-174.

Sozialpolitik in den Bundesländern Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

1

Einleitung

Der Wohlfahrtsstaat Deutschland sorgt für Diskussionsstoff: Gesundheitsreform, Rente mit 67, Mindestlöhne, Hartz IV. Die Gründe für die Diskussion um den Wohlfahrtsstaat sind vielfältig. Die alten Wohlfahrtsstaaten treffen auf neue Risiken und veränderte gesellschaftliche Realitäten: Das Normalarbeitsverhältnis wird ausgehebelt, eine diskontinuierliche Erwerbstätigkeit dominiert in Zukunft, das Konzept vom male bread-winner und der Hausfrauenehe verliert an Bedeutung. Auch die demografische Entwicklung1 sowie die hohe Arbeitslosigkeit stellen immer größere Herausforderungen an den Wohlfahrtsstaat (vgl. Kaufmann 1997). Die sich ändernden Rahmenbedingungen erfordern eine Anpassung der sozialstaatlichen Arrangements. Dabei stellt sich die Frage, welche Faktoren eine solche Anpassung fördern und welche sie hemmen. Die insbesondere auf Arbeiten von Tsebelis zurückgehende Vetospieler-These (Tsebelis 1995, Tsebelis/Money 1997, Tsebelis 2002) lässt dabei vermuten, dass der Föderalismus als ein zusätzlicher Veto-Punkt den Ausbau von Wohlfahrtsstaaten gehemmt hat. Tatsächlich bestätigen Obinger/Leibfried/Castles (2005) in einer internationalen Vergleichsstudie, dass föderale Strukturen den Aufbau des Wohlfahrtsstaates hemmen können, im Zeitalter des „retrenchment“ zugleich aber seinem Abbau entgegenstehen. Für Deutschland stellt Schmidt hingegen fest: „Der Föderalismus hier zu Lande hat den Auf- und Ausbau eines auch im internationalen Vergleich ungewöhnlich weit entwickelten Sozialstaats nicht wesentlich behindert, sondern mitunter sogar gefördert“ (Schmidt 2000: 6).2

Wenn damit auch allgemeine Aussagen über die Wirkung des Föderalismus auf das Gesamtniveau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen vorliegen, fehlen entsprechende Untersuchungen über die relative Bedeutung der Länder und des Bundes in der Sozialpolitik ebenso wie Vergleiche auf Bundesländerebene. Die Analyse der Sozialpolitik im Bundesländerver1 Durch konstant niedrige Geburtenrate und steigende Lebenserwartung verändert sich auch das Verhältnis zwischen Personen im erwerbsfähigen Alter und Rentnern. 2 Schmidt führt dies zum einen auf die Finanzierungsart durch Sozialversicherungsbeiträge und zum anderen auf die Koexistenz von zwei großen Sozialstaatsparteien zurück. „Die Gründe dafür liegen unter anderem darin, dass die Finanzierungsweise des deutschen Sozialstaats, die zu rund zwei Drittel aus Sozialbeiträgen der Arbeitsgeber und Arbeitnehmer erfolgt, die unmittelbaren steuerpolitischen Interessen der Länder nicht tangierte, sondern gleichsam an ihnen vorbei durchgesetzt werden konnte. Aber noch wichtiger war der Antrieb, den Deutschlands Sozialpolitik von der Koexistenz und dem Wettbewerb zweier großer Sozialstaatsparteien erhielt […]“ (Schmidt 2000: 4).

138

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

gleich bleibt damit weiterhin „relativ unbefriedigend“ (Schmid 2002: 280). Dies ist nicht spezifisch auf das Politikfeld Sozialpolitik zurückzuführen. Wehling stellt für die Politik der Länder grundsätzlich fest: „Länderpolitik im allgemeinen, Landespolitik im Einzelfall werden in der Öffentlichkeit, in den Medien und auch in der Wissenschaft in ihrer Bedeutung unterschätzt“ (Wehling 2006: 7). Vor diesem Hintergrund versucht der vorliegende Beitrag mehr Licht in die Rolle der Länder in der Sozialpolitik zu bringen. Dem Bereich der Sozialpolitik, hier verstanden als „jene politischen Institutionen, Vorgänge und Entscheidungsinhalte, die […] auf Schutz vor Not im Sinne der Garantie eines Existenzminimums und […] auf Sicherung gegen jene Wechselfälle des Lebens oder Risiken, welche die Kräfte des Einzelnen und seiner Nächsten übersteigen […]“ sowie „die Kontrolle und Eindämmung sozialer, also nicht natürlicher, Ungleichheit“ (Schmidt 2005: 15),

werden mehrere Politikfelder wie zum Beispiel Arbeitsmarktpolitik (vgl. den Beitrag von Schmid/Hedrich in diesem Band), Familienpolitik, Gesundheitspolitik oder Pflegepolitik zugeordnet. In der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung wird der Bildungsbereich ebenfalls dem Wohlfahrtsstaat zugerechnet. Nach deutschem Verständnis zählt Bildungspolitik aber nicht zur Sozialpolitik, sondern wird einer eigenständigen Sphäre zugeordnet (vgl. den Beitrag von Wolf in diesem Band). Diese Bereiche erfüllen die klassische Schutzfunktion vor sozialen Risiken, die der Sozialpolitik zugeschrieben wird. In diesem Beitrag wird zunächst die historische Entwicklung der sozialpolitischen Gesetzgebung im Kontext des Föderalismus beschrieben, um die Wurzeln des Systems zu verdeutlichen (Abschnitt 2). Anschließend wird das institutionelle Arrangement der Sozialpolitik im Spannungsgefüge von Bund und Ländern dargestellt und es werden verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen aufgezeigt (Abschnitt 3), um dann der konkreten Fragestellung nachzugehen, ob und gegebenenfalls welche Differenzen in der Staatstätigkeit zwischen den Bundesländern hinsichtlich sozialpolitischer Aktivitäten gegenwärtig bestehen (Abschnitt 4). Dazu wird eine Beschreibung der Länder hinsichtlich ihrer sozialpolitischen Aktivitäten erfolgen. Abschnitt 5 diskutiert Ansätze zur Erklärung der festgestellten Unterschiede zwischen den Bundesländern. Abschnitt 6 wendet sich dann der Frage zu, inwieweit sozialpolitische Aufgaben durch die Föderalismusreform in die Zuständigkeit der Länder übergehen. In Abschnitt 7 werden die zentralen Ergebnisse der Untersuchung noch einmal abschließend zusammengefasst.

2

Historische Entwicklung

Sozialpolitische Handlungen gab es bereits vor der Einführung der ersten gesetzlichen Sicherungssysteme Ende des 19. Jahrhunderts. Die Formen anfänglicher sozialpolitischer Aktivitäten bezogen sich dabei auf die kommunale Armenfürsorge, welche besonders durch den Druck des Pauperismus, also die mit der Industrialisierung einhergehende Massenarmut zu Beginn des 19. Jahrhunderts, im Zuge der Industrialisierung wuchs. Das Heimatprinzip der Kommunen, welches eine strikte Begrenzung des fürsorgerischen Einzugsbe-

Sozialpolitik in den Bundesländern

139

reichs und eine dezentrale Organisation der Armenfürsorge bewirkte,3 wurde durch das „Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege für das Gebiet des Deutschen Bundes“ Mitte des 19. Jahrhunderts weitestgehend abgelöst. Dies markiert zwar den Beginn einer zentralen Staatstätigkeit im Rahmen der Armenpolitik, allerdings führten Handlungsspielräume der Länder immer noch zu Differenzen in der Ausgestaltung der Armenfürsorge. Auch das Unterstützungswohnsitzgesetz aus dem Jahr 1870, welches armenrechtliche Regelungen über die Anspruchskriterien für Hilfebedürftige festlegte, vereinheitlichte lediglich Grundzüge der Armenpflege, die Ausführungsgesetze erließen die Bundesstaaten.4 Alber beschreibt Transformationsprozesse Europas im 19. Jahrhundert, die zu der Entwicklung „vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat“ führten. Charakteristisch für die Einführung von Sozialversicherungssystemen sind dabei unter anderem das Bevölkerungswachstum, welches zu einer Verschärfung von Sicherungsproblemen beitrug, die Urbanisierung und Industrialisierung sowie die neue Interpretation von sozialen Notlagen als gesellschaftliche Aufgaben (Alber 1987: 29ff). Die Gründung des deutschen Bundesstaates und die Einführung der ersten Gesetze zur sozialen Sicherung Ende des 19. Jahrhunderts sind auf Bismarck zurückzuführen. Kompromisse zwischen Reich und Ländern in der Ausgestaltung des institutionellen Arrangements und in der Finanzierung sind prägend für die Entstehungszeit der Sozialgesetze: Bismarck konnte seine zentralistischen Ideen gegen Opponenten aus dem Bundesrat, die in allen Angelegenheiten das absolute Veto besaßen, nicht durchsetzen. Dennoch wurden die neuen Sozialversicherungszweige nicht ausschließlich föderal gestaltet (vgl. Manow 2005: 227). Insgesamt kann zusammenfassend für die Einführung der Sozialgesetze im Bezug auf das Verhältnis von Reich und Bundesländer festgehalten werden, dass „[...] eine Ausweitung der Reichskompetenzen auf einem Gebiet, das zwar bis dahin auch von den Einzelstaaten nicht beansprucht worden war, das aber ‚nach der Natur der Sache’ durchaus ihnen hätte zugeordnet werden können,“ gelang (Münch 1997: 60).

Während der Fürsorgebereich5 auch künftig vorwiegend in den Kompetenzbereich von Ländern und Kommunen fiel, war das Reich nunmehr für die Arbeiterpolitik zuständig. Während des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik sind immer weitere Zentralisierungstendenzen in der Sozialpolitik festzustellen. Mit der Steuerreform 1920 hatte die Zentralregierung zum ersten Mal das Recht, Steuern zu erheben und damit eigene Mittel, um (sozial)politisch aktiv zu werden. Dies hatte insofern Auswirkungen auf die Sozialpolitik der Länder, als ihnen eine zusätzliche Steuererhebung verboten wurde. 1927 wurde der vierte Sozialversicherungszweig, die Arbeitslosenversicherung, eingeführt. Diese wurde, im Gegensatz zu den anderen drei zuvor gegründeten Sozialversicherungszweigen (Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884) und Renten-/Erwerbsunfähigkeitsversiche-

3 „In Deutschland war zu Beginn des 19. Jahrhunderts überall der Grundsatz durchgeführt, dass die Gemeinde verpflichtet ist, ihre Ortsarmen zu erhalten und zu versorgen“ (Sachße/Tennstedt 1980: 196). 4 Vgl. dazu Münch 1997: 46ff. Vgl. zur Geschichte der Armenfürsorge besonders Sachße/Tennstedt 1980. 5 Die kommunale Fürsorge wurde keineswegs durch die neu eingeführten Versicherungszweige ersetzt. Die Sozialgesetzgebung war nur an Arbeitnehmer gerichtet, nicht erwerbstätige Personen wurden weiterhin von der kommunalen Fürsorge unterstützt.

140

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

rung (1889)), zentral als Reichsanstalt organisiert. Manow erkennt daher klare Zentralisierungstendenzen: „From the very start, German federalism had a strong bias in favour of national unity and legislative centralization […]” (Manow 2005: 236) und „In Germany, social legislation was deliberately used as an instrument of national unification and was explicitly designed to prevent a federalist fragmentation of living conditions” (Manow 2005: 238).

Im Nationalsozialismus wurde der Versuch einer Einheitsversicherung nicht realisiert. Auch die Gleichschaltung der Länder im Jahr 1934 konnte gewachsene Strukturen der Organisation des Sozialversicherungswesens nicht beseitigen (vgl. Frey/Frerich 1993: 289). Aufgrund der Zentralisierung und der institutionellen Verflechtung wird Deutschland als „unitarischer Bundesstaat“ charakterisiert (vgl. dazu Lehmbruch 2002). Der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze ist dabei von 41,8% in der ersten Wahlperiode (1949 bis 1953) auf knapp über 50% in der 15. Wahlperiode (2002-2005) immer weiter angestiegen6 (vgl. Georgii/Borhanian 2006: 8) und war Anlass für die Föderalismusreform 2006. Ziel der Föderalismusreform I ist es, den Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze zu reduzieren und damit den Einfluss der Bundesländer bei der Bundesgesetzgebung zu verringern und auf der anderen Seite die eigenständigen Gesetzgebungskompetenzen der Länder zu vergrößern. Damit soll eine Entflechtung des deutschen Föderalismus bewirkt werden. Bedeutende Auswirkungen auf die Sozialpolitik hat die Föderalismusreform bei der Herauslösung des Heimrechts aus der konkurrierenden Gesetzgebung sowie bei Änderungen des Kinderund Jugendhilferechts (vgl. hierzu Abschnitt 6).

3

Sozialpolitische Aufgabenverteilung im deutschen Bundesstaat

Nachdem die historische Entwicklung sozialpolitischer Aktivitäten im Bund-Länder-Verhältnis bis zur aktuellen Föderalismus-Diskussion skizziert wurde, wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wie die entsprechenden sozialpolitischen Kompetenzen in der Gesetzgebung im Bundesstaat Deutschland verteilt sind. Das Sozialstaatsprinzip, welches bei Gründung der Bundesrepublik im Grundgesetz nicht neu erdacht wurde, sondern auf die beschriebenen Hauptmerkmale sozialer Sicherung aus der Vergangenheit, die Sozialversicherung und die Fürsorge, zurückgeführt werden kann, ist verfassungsrechtlich in Art. 20 Abs. 1 GG festgeschrieben. Danach ist Deutschland ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat“. In Art. 28 Abs. 1 GG wird dieses Prinzip nochmals für die Bundesländer festgelegt, indem es heißt, dass die verfassungsmäßige Ordnung der Länder „den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates“ entsprechen muss. Soziale Grundrechte sind im Allgemeinen nicht im Grundgesetz enthalten. Lediglich Art. 6 Abs. 4 GG, das Recht der Mutter auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft, kann als soziales Grundrecht gewertet werden. Damit ist im

6 Zustimmungspflichtige Gesetze sind von der Zustimmung des Bundestages als auch des Bundesrates abhängig, wobei der Bundesrat das Gesetz mit einem absoluten Veto verhindern kann.

141

Sozialpolitik in den Bundesländern

Grundgesetz der Bundesrepublik „minimalistisch wenig Soziales“ (Igl/Welti 2007: 23) verankert. Die Verfassungen der Länder bekennen sich genauso ausdrücklich zum Sozialstaat wie das Grundgesetz. Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die Verankerung des Sozialstaatsprinzips beispielhaft für die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Saarland. Tabelle 1:

Beispiele für die Integration des Sozialstaatsprinzips in fünf Landesverfassungen

BadenWürttemberg

Bayern

Hamburg

MecklenburgVorpommern

Saarland

Artikel 23 Abs. 1

Artikel 3 Abs. 1

Art 3 Abs. 1

Artikel 2

Artikel 60 Abs. 1

Das Land BadenWürttemberg ist ein republikanischer, demokratischer und sozialer Rechtsstaat.

Bayern ist ein Rechts-, Kulturund Sozialstaat. Er dient dem Gemeinwohl.

Die Freie und Hansestadt Hamburg ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat

MecklenburgVorpommern ist ein republikanischer, demokratischer, sozialer und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichteter Rechtsstaat

Das Saarland ist eine freiheitliche Demokratie und ein sozialer Rechtsstaat in der Bundesrepublik Deutschland

Quelle:Landesverfassungen.

Zudem enthalten die Landesverfassungen teilweise auch soziale Grundrechte wie zum Beispiel das Recht auf Arbeit, Wohnung und Bildung. Demnach ist in den Landesverfassungen ein weitergehender sozialpolitischer Anspruch als im Grundgesetz erkennbar. Die Bundesländer haben heute mehrere Möglichkeiten, sozialpolitisch aktiv zu werden. Zum einen besagt Art. 70 Abs. 1 GG, dass die Länder das Recht der Gesetzgebung haben, „soweit dieses Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse verleiht.“ Dies gilt grundsätzlich auch für den Bereich der Sozialpolitik. Nur ist dieser durch die konkurrierende Gesetzgebung, in dem der Bund den Vorrang gegenüber den Ländern hat, maßgeblich eingeschränkt. Die Länder können im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nur gesetzgeberisch aktiv werden, solange der Bund dies unterlässt. Dabei können besonders folgende Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 Abs. 1) der Sozialpolitik zugeordnet werden: die Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen (Nr. 6), die öffentliche Fürsorge ohne das Heimrecht (Nr. 7), die Kriegsschäden und die Wiedergutmachung (Nr. 9), die Kriegsgräber und Gräber anderer Opfer des Krieges und Opfer von Gewaltherrschaft (Nr. 10), das Arbeitsrecht sowie die Sozialversicherung (Nr. 12), Ausbildungsbeihilfen (Nr. 13) und die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und die Regelung der Krankenhauspflegesätze (Nr. 19a). Wegen inhärenten Abgrenzungsschwierigkeiten können die Steuergesetzgebung (Art. 105 Abs. 2 GG) und auch der Wirtschaftsbereich (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) ebenfalls bedeutende Auswirkungen auf die Gestaltung der Sozialpolitik haben. Aber auch in diesen Bereichen hat der Bund Vorrang in der Gesetzgebung.

142

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

Sozialrecht ist damit heutzutage im Kern Bundessozialrecht, vor allem da der Bund weitestgehend von seinem Vorrangsrecht Gebrauch gemacht hat (vgl. Igl/Welti 2007: 18). Münch führt dies auf die Wahrnehmung des Auftrags zur Wahrung der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ (Art. 106 Abs. 3 GG) zurück: „Gerade bei der sozialpolitischen Gestaltung entwickelte diese Bedürfnisklausel [Art. 72 Abs. 1 GG, Anmerk. der Verfasser] aber kaum eine bzw. sogar gar keine Wirkung, da die Notwendigkeit einer Bundesregelung durch das Kriterium der ‚Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse’ gerechtfertigt werden konnte“ (Münch 1997: 96).

Die Länder können grundlegend auf zwei Wegen legislativ tätig werden. Erstens können sie ergänzend zu den Regelungen des Bundes sozialpolitisch aktiv werden und dort landesrechtliche Regelungen schaffen, wo der Bund dies unterlassen hat. Das Blindengeld sowie der Familienleistungsausgleich, wie zum Beispiel das Landeserziehungsgeld, Familiengeld oder Geburtsbeihilfen, sind Beispiele für Materien des Sozialrechts, welche in die Regelungskompetenz der Länder fallen. Die Länder können ebenfalls ergänzend zu den Regelungen des Bundes aktiv werden, wenn der Bund die Länder ausdrücklich zur Gesetzgebung auffordert, wie zum Beispiel im Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG), im Pflegerecht (Sozialgesetzbuch, SGB XI) und in der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII). Die Planung und Förderung der entsprechenden Institutionen, also zum Beispiel das Leistungsangebot der Träger fördern und finanzieren, spielen eine wichtige Rolle (vgl. Igl/Welti 2007). Zu den Sozialleistungsgesetzen, die von den Ländern ausgeführt werden, gehören das Sozialhilferecht (SGB XII), das Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) und die Kriegsopferversorgung. Die Länder können außerdem dort sozialpolitisch aktiv werden, wo der Bund das bisherige Bundesgesetz aufhebt und kein neues erlässt, wie zum Beispiel derzeit in der Herauslösung des Heimrechts aus der öffentlichen Fürsorge (siehe Abschnitt 6.1). Zweitens haben die Länder die Möglichkeit im Bereich ihrer ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz, wie zum Beispiel der Bildungspolitik, sozialpolitische Aufgaben im Bundesstaat wahrzunehmen.7 Zudem haben die Exekutiven der Länder die Gelegenheit, im Bundesrat sozialpolitischen Einfluss auf die Politik des Bundes zu nehmen. Neben legislativen Maßnahmen sind Maßnahmen außerhalb des gesetzgeberischen Prozesses von Bedeutung. Nicht zu vernachlässigen ist beispielsweise die Tatsache, dass Länder Vollzugsorgane der eigenen wie auch der Bundesgesetzgebung sind. Dabei können die Bundesländer „selbstverantwortliche Entscheidungen treffen, die die Ausgestaltung von sozialpolitischen Maßnahmen im einzelnen beeinflussen“ (Münch 1997: 120). Schmid und Blancke beschreiben die Bedeutung der Leistungsverwaltung, ein weiteres Instrument, mit dem die Länder freiwillige Leistungen, auf die kein Rechtsanspruch besteht, gewähren (vgl. für eine schematische Übersicht der Sozialpolitik in der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern Schmid/Blancke 2006: 297).

7 Viele Länder beziehen diese Kompetenz nur auf das Schulwesen. Bayern betrachtet auch Kindergärten und Kindertagesstätten als bildungspolitische Einrichtungen und integriert diesen Bereich in die ausschließliche Gesetzgebung des Landes (Münch 1997: 115).

Sozialpolitik in den Bundesländern Abbildung 1:

143

Sozialbudget 2005 – Prozentualer Anteil der Finanzierung nach Finanzierungsquellen

Anmerkungen: Andere = Sozialversicherung, private Organisationen, übrige Welt. Quelle: BMAS 2006b.

Wie sich diese Kompetenzverteilung in sozialpolitische Aktivitäten umsetzt, kann anhand der Ausgaben für sozialpolitische Aufgaben untersucht werden. Eine Übersicht über die Gesamtheit der sozialen Sicherung gibt das Sozialbudget, welches die Sozialleistungen und deren Finanzierung darstellt. Abbildung 1 zeigt den Anteil der Finanzierung des Sozialbudgets nach Finanzierungsquellen. Demnach sind die Gebietskörperschaften mit insgesamt 45% an der Finanzierung des Sozialbudgets 2005 beteiligt, wobei die Länder 11% finanzieren. Unter den Gebietskörperschaften dominiert der Bund eindeutig. Bei den Entschädigungssystemen (soziale Entschädigung, Lastenausgleich, Wiedergutmachung und sonstige Entschädigung), den Förder- und Fürsorgesystemen (Sozialhilfe, Jugendhilfe, Kindergeld, Erziehungsgeld, Ausbildungsförderung, Wohngeld und Förderung der Vermögensbildung) sowie den indirekten Leistungen sind nur die Gebietskörperschaften an der Finanzierung beteiligt. Abbildung 2 zeigt den Anteil von Bund, Ländern und Gemeinden an diesen ausgewählten sozialpolitischen Leistungen, die lediglich von den Gebietskörperschaften finanziert werden. Demnach wird besonders die Dominanz der Kommunen bei der Finanzierung der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Sozialhilfe deutlich. Dies ist auf die historische Entwicklung des Fürsorgesystems, welches seine Wurzeln in der kommunalen Armenfürsorge hat, zurückzuführen. An der Finanzierung des Kindergeldes ist nur der Bund beteiligt, dessen Vormachtstellung auch in allen anderen Bereichen deutlich wird.

144

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

Abbildung 2:

Prozentualer Anteil der Gebietskörperschaften an der Finanzierung nach ausgewählten Institutionen am Sozialbudget 2005

Quelle: BMAS 2006b.

4

Bundesländervergleich im Rahmen sozialpolitischer Aktivitäten

Im Folgenden werden im Bundesländervergleich sozialpolitische Bereiche vorgestellt, an denen die Länder, wie die Darstellung der sozialpolitischen Aufgabenverteilung im deutschen Bundesstaat gezeigt hat, beteiligt sind. Es wird analysiert, ob und gegebenenfalls welche Variationen in der Gestaltung bestehen, und anschließend zu jedem relevanten sozialpolitischen Sektor ein Aktivitätsindex gebildet. Abschließend wird daraus ein Gesamtindex entwickelt, der einen zusammenfassenden Überblick über das sozialpolitische Aktivitätsniveau der einzelnen Bundesländer bietet. Tabelle 2 identifiziert relevante sozialpolitische Bereiche anhand der Kriterien Gestaltungsspielraum und quantitative Bedeutung. Weisen die einzelnen Sektoren einen hohen Gestaltungsspielraum auf, werden sie in der folgenden Analyse deskriptiv vorgestellt. Wenn zusätzlich die quantitative Bedeutung in den sozialpolitischen Bereichen hoch ist, wird der Bereich in den Gesamtindex aufgenommen: Der Gesamtindex setzt sich somit aus den Bereichen zusammen, die sowohl in ihrer quantitativen Bedeutung als auch im Gestaltungsspielraum große Relevanz für die sozialpolitischen Aktivitäten der Länder aufweisen.

145

Sozialpolitik in den Bundesländern Tabelle 2:

Politikfelder im Rahmen der Sozialpolitik

Politikfeld

Gestaltungsspielraum

Arbeitsmarkt

Quantitative Bedeutung

Hoch

Hoch

Blindengeld

Hoch

Niedrig

Krankenhausfinanzierung

Hoch

Hoch

Pflege

Hoch

Hoch

Öffentliche Fürsorge: Kinder- und Jugendhilfe

Hoch

Hoch

Niedrig

Hoch

Öffentliche Fürsorge: Sozialhilfe

Das Politikfeld Arbeitsmarkt wird in diesem Band von Schmid/Hedrich analysiert, weshalb sich die Beschreibung auf die verbleibenden Bereiche konzentriert. Die Ausgaben für die Sozialhilfe sind weitgehend bundesgesetzlich festgelegt, so dass Unterschiede in den Ausgaben der Länder weniger auf den jeweiligen Gestaltungswillen der Länder als vielmehr auf die sozioökonomischen Rahmendaten (Arbeitslosigkeit, Einkommensverteilung etc.) zurückgehen. Aufgrund dessen wird der Bereich der Sozialhilfe in diesem Beitrag nicht weiter

BW

TH

BY

SN

RP

NI

BB

MV

SH

ST

SL

NI

HE

HH

Ausgaben für soziale Sicherung, soziale Kriegsfolgeaufgaben, Wiedergutmachung pro Kopf in € im Jahr 2003

HB

BE

Abbildung 3:

Anmerkung: Soziale Sicherung, soziale Kriegsfolgeaufgaben, Wiedergutmachung = Sozialverwaltung, Sozialversicherung einschließlich Arbeitslosenversicherung, Familien- und Sozialhilfe, Förderung der Wohlfahrtspflege u.Ä. (darunter Sozialhilfe und soziale Einrichtungen, Jugendhilfe einschließlich Einrichtungen, soziale Leistungen für Folgen von Krieg und politischen Ereignissen). Dargestellt ist die Summe von Landes- und Kommunalausgaben. Quelle: Statistisches Bundesamt 2006.

146

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

vergleichend untersucht.8 Das Blindengeld wird beispielhaft für eine freiwillige Maßnahme der Bundesländer dargestellt. Da es keine hohe quantitative Bedeutung aufweist (vgl. Abschnitt 4.1), wird das Blindengeld aber nicht in den Gesamtindex aufgenommen. Außerdem können andere sozialpolitische Aktivitäten im Rahmen freiwilliger Maßnahmen, die ebenfalls keine hohe quantitative Bedeutung aufweisen (wie zum Beispiel Familiengeld, Geburtsbeihilfen), in diesem Beitrag nicht analysiert werden, so dass eine Einbeziehung des Blindengeldes in den Gesamtindex das Bild verzerren könnte. Der Gesamtindex setzt sich damit aus folgenden Bereichen zusammen: Arbeitsmarkt, Krankenhausfinanzierung, Pflege sowie Kinder- und Jugendhilfe. Abbildung 3 gibt einen ersten Überblick über die Variationen hinsichtlich des Ausgabenniveaus im Bereich der sozialen Sicherung. Die Abbildung zeigt, dass beachtliche Schwankungen zwischen den Ländern bei den Ausgaben für soziale Sicherung pro Kopf bestehen. Die Stadtstaaten geben – mit beträchtlichem Abstand – am meisten aus, gefolgt von Hessen und Nordrhein-Westfalen. Baden-Württemberg hat die geringsten Ausgaben pro Kopf.

4.1 Landesblindengeld Das Landesblindengeld ist eine freiwillige Maßnahme der Bundesländer. Es wird zum Ausgleich der behinderungsbedingten Mehraufwendungen als eine einkommens- und vermögensunabhängige monatliche Leistung in allen Bundesländern gewährt. Die Blindenhilfe nach Bundesrecht ist im Rahmen der Sozialhilfe geregelt und damit an eine Bedarfsprüfung gebunden (§ 72 SGB XII). Sie kann ergänzend zum Landesblindengeld bezogen werden, sofern die Voraussetzungen zum Bezug von Sozialhilfe erfüllt sind und zudem das Landesblindengeld geringer ist als die Blindenhilfe nach SGB XII. Der Begriff der Blindheit ist sowohl im SGB XII als auch in den Landesgesetzen derselbe. Danach sind Personen, deren Sehschärfe nicht mehr als ein Fünfzigstel beträgt, oder bei denen dem Schweregrad dieser Sehschärfe gleichzustellende Störungen des Sehvermögens vorliegen, blinden Personen gleichgestellt. Zwischen den Bundesländern bestehen beträchtliche Unterschiede in der Ausgestaltung der Landesgesetze, zum einen hinsichtlich der Leistungshöhe und zum anderen bezüglich des anspruchsberechtigten bzw. des ausgeschlossenen Personenkreises. Diese Differenz wird bereits in der Namensgebung des jeweiligen Landesgesetzes deutlich: Wird in den meisten Ländern von „Blindengeld“, bzw. „Blindenhilfe“ gesprochen (BW, BY, HH, HE, MV, NI, RP, SL, SH, TH), verweist bereits der Name „Landespflegegeld“ (BE, BB, HB) oder „Landesblindengeld und andere Nachteilsausgleiche“ (SN), sowie „Blinden- und Gehörlosengeld“ (NW, ST) auf einen breiteren berechtigten Personenkreis. Damit sind in einigen Ländern ebenfalls hochgradig Sehbehinderte (Sehschärfe nicht mehr als 1/20) (BE, HE, MV, NW, ST, SN), Gehörlose (BE, BB, NW, ST, SN) oder auch schwerbehinderte Personen/Kinder (BB, HB, SN) von den jeweiligen Landesgesetzen erfasst. Die expliziten Zielgruppen der

8 Die Aufgaben der Länder im Rahmen der Sozialhilfe werden in § 7 SGB XII festgeschrieben. Dabei wird besonders auf die Förderungs- und Unterstützungsleistung der Bundesländer hingewiesen.

Sozialpolitik in den Bundesländern

147

Landesgesetze variieren damit sehr stark. Dessen ungeachtet wird Blindengeld in allen Ländern gezahlt. Bayern begründet seine Einschränkung auf die Gewährung von Blindengeld wie folgt: „Der Verlust des Augenlichts hat im täglichen Leben zumeist wesentlich größere Auswirkungen als der Verlust der Hörfähigkeit“ (Drs. 15/6125, 02.08.2006, Bayerischer Landtag). Grundsätzlich ist festzustellen, dass alle Landesgesetze ihren Anspruch auf Unterstützung an den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im jeweiligen Bundesland binden. Andere Leistungen, die blinden Personen durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen nach anderen Rechtsvorschriften zustehen, werden auf das Landesblindengeld angerechnet. Beispielsweise werden Leistungen der Pflegeversicherung in Abhängigkeit von der Pflegestufe bei der Berechnung des Blindengeldes berücksichtigt. Abweichungen zwischen den Landesgesetzen bestehen auch bezüglich des Anspruchs: Die Länder Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen knüpfen beispielsweise den Anspruch auf Unterstützung an die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, einer Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung. Unterschiede bestehen ebenfalls für blinde Personen, die in Heimen leben. Rheinland-Pfalz und Brandenburg bewilligen diesen Personen keine Leistungen, in anderen Ländern wird ein gekürzter Betrag gewährt. Bei der Finanzierungsart haben sich einige Länder (BY, BE, HB, NW) für eine Bindung an § 72 SGB XII entschieden und damit für eine Veränderung der Leistungshöhe jeweils zu dem Zeitpunkt und in dem Umfang, wie sich der aktuelle Rentenwert in der gesetzlichen Rentenversicherung ändert (§ 72 Abs. 2 SGB XII), während andere einen Festbetrag im Landesgesetz verankert haben. Bremen hat sich dabei für eine Mischform entschieden, indem es einen Festbetrag im Gesetz erwähnt, diesen aber nach § 72 SGB variieren lässt. Die Variation in der Leistungshöhe der Bundesländer ist beachtlich. Die Beträge der Leistungshöhe sind gesetzlich durch die Länder vorgeschrieben. Blindengeld für Volljährige variiert von 220 € (Niedersachsen) bis zu 585 € (Nordrhein-Westfalen). Tabelle 3 enthält die jeweiligen Beträge und ein darauf beruhendes Ranking, wobei sich ein aussagefähiger Vergleich aufgrund der starken Differenzen in der Ausgestaltung als schwierig erweist. Die Länder Bayern, Berlin und Hamburg gewähren allen Altersgruppen die gleiche Leistungshöhe, während die Höhe in den Ländern Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Thüringen an (jeweils verschiedene) Altersgrenzen gebunden ist. Alle anderen Bundesländer differenzieren die Leistungshöhe nach dem Merkmal volljährig versus minderjährig. Bezüglich der Leistungshöhe bleibt noch festzustellen, dass grundsätzlich die Höhe für Minderjährige, bzw. Jüngere, geringer ist, außer in Niedersachsen. Dort erhalten blinde Menschen bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres einen um 80 € höheren Betrag. Zudem wird angemerkt, dass die Leistungshöhe für hochgradig Sehbehinderte, Gehörlose oder Schwerbehinderte unterhalb der Höhe des Landesblindengeldes liegt.9

9 Schleswig-Holstein stellt zusätzlich für einen Fonds einen jährlichen Sockelbetrag in Höhe von 400.000 € (2006 bis 2010) für Maßnahmen und Projekte im öffentlichen Raum zur Herstellung der Barrierefreiheit für Blinde und Sehbehinderte zur Verfügung (§ 1 Abs. 3).

148 Tabelle 3: Land

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel Landesblindengeld und Aktivitätsindex für Volljährige Landesblindengeld in Euro

Aktivitätsindex 16

NW

585

MV

546,10

15

HE

503,10

14

BY

497

13

BE

486

12

HH

448

11

SL

438

10

RP

410

9

BW

409,03

8

SH

400

7

ST

350

6

SN

333

5

HB

332,50

4

BB

266

3

NI

220

2

(300)

1

(TH)

Anmerkungen: NW: bis 60. Lebensjahr, danach 473 €; BY, BE, HH: keine Altersgrenze. Betrag gilt für alle Blinden; SN: ab 14. Lebensjahr, davor 249,75; NI: Nach Vollendung des 25. Lebensjahres, davor 300 €; TH: nur bis zum 27. Lebensjahr Blindengeld, deshalb hier an letzter Stelle in Klammern dargestellt. Aktivitätsindex: Rangfolge der Leistungshöhe. Hervorhebungen markieren den höchsten und niedrigsten Wert. Dieser Aktivitätsindex wird nicht in den Gesamtindex integriert. Quelle: Landesgesetze, Stand: 01.04.2007

In Thüringen erhalten seit dem 01.01.2006 nur noch Personen Blindengeld, die das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Blinde, die das 27. Lebensjahr vollendet haben, sind gegebenenfalls für Blindenhilfe nach § 72 SGB XII anspruchsberechtigt oder erhalten in besonderen Fällen gemäß § 11 Thüringer Blindengeldgesetz finanzielle Unterstützung aus dem Härtefonds. Diese selektive Abschaffung des Blindengelds wird zum Januar 2008 voraussichtlich wieder rückgängig gemacht, da eine Wiedereinführung des Blindengelds in Höhe von 220 € beabsichtigt wird.10 Damit einher geht jedoch eine deutliche Kürzung, da das Blindengeld vor der Abschaffung für volljährige Blinde 400 € betrug. Eine ähnliche Situation zeigt sich in Niedersachsen, wo das Landesblindengeld zunächst gekürzt und ab dem 01.01.2005 nur noch für Personen bis zum 25. Lebensjahr in Höhe von 300 € gewährt wurde. Hier ist ebenfalls eine selektive Abschaffung zu erkennen gewesen. Am 01.01.2007 wurde das Landesblindengeld allerdings wieder für alle blinden Personen eingeführt. Damit erklärt sich die Besonderheit, dass jüngere Blinde in Niedersachsen einen höheren Betrag erhalten: Die Wiedereinführung gewährt den Älteren, wie in Thüringen ab Januar 2008, 10 Pressemitteilung des Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit vom 14.03.2007, http://www.thueringen.de/ de/tmsfg/aktuell/presse/26226/uindex.html.

Sozialpolitik in den Bundesländern

149

nur noch eine niedrige Leistungshöhe. Im Bundesländervergleich gewähren beide Länder nach der Renaissance des Blindengeldes den geringsten Betrag von 220 €. Abschließend kann an dieser Stelle zusammengefasst werden, dass 16 Landesgesetze für 16 Bundesländer bestehen und die darin festgelegten Leistungen nur bedingt vergleichbar sind. Es finden sich identische Elemente in den Landesgesetzen, aber kein Gesetz stimmt mit einem anderen vollkommen überein. Eine Konvergenz der Landesblindengelder wird in einem Aspekt deutlich: im Kürzungsbereich. In den meisten Bundesländern wurden Kürzungen des Blindengeldes innerhalb der letzten Jahre durchgeführt, aber eine Abschaffung und damit der Verweis auf Blindenhilfe im Rahmen der einkommens- und vermögensabhängigen Sozialhilfe konnte sowohl in Niedersachsen als auch in Thüringen nicht dauerhaft durchgesetzt werden. Damit kann, auch bei weiteren Kürzungen, angenommen werden, dass eine Abschaffung des Landesblindengeldes in keinem Bundesland innerhalb der nächsten Jahre ohne weiteres durchgeführt wird.11 Auf der anderen Seite lässt die Orientierung Thüringens am Beispiel Niedersachsen jedoch auch vermuten, dass bei der Streichung des Landesblindengeldes in einem Bundesland andere Länder diesem Muster folgen könnten.

4.2 Pflegepolitik Mit der Einführung der sozialen Pflegeversicherung zur Mitte der 1990er wurde das Risiko „Pflegebedürftigkeit“ durch einen neuen, eigenständigen Zweig der Sozialversicherung abgesichert (§ 1 SGB XI). Damit wurde ein neues bundesweites Leistungssystem in ein Feld eingeführt, dass zuvor von landespolitischen Aktivitäten dominiert war. So haben die Länder in den 1960ern Mängel in der stationären Altenhilfe aufgedeckt und mit der Förderung und Modernisierung des Heimbaus begonnen. Außerdem wurden von Ländern damals bereits Bedarfspläne ausgearbeitet. Auch in der ambulanten Altenpflege waren die Länder aktiv, subventionierten sie doch häusliche Pflegedienste bereits in den 1950ern (vgl. Schölkopf 1998). Ausführungsgesetze der Länder zum Pflegeversicherungsgesetz unterscheiden sich nicht nur in Detailregelungen, sondern auch hinsichtlich ihrer zugrunde liegenden Philosophien (Eifert/Rothgang 1997). Dabei spielt besonders die „Tradition in der Altenpolitik“ (vgl. hierzu Schölkopf 1998) der einzelnen Bundesländer in der Gestaltung und Formulierung eine Rolle, was sich bereits – wie auch beim Landesblindengeld – in der Namensgebung bemerken lässt. Während die Länder Bayern, Bremen, Hessen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ihre Landesgesetze als „Ausführungsgesetze“ bezeichnen, verdeutlichen die anderen Länder ihre Möglichkeiten der Gestaltung und Wirkung bereits in einer ausdrücklicheren Namensgebung als Landespflegegesetze. Die Rolle der Länder im Pflegeversicherungsgesetz wird in § 9 SGB XI definiert:

11 Beispiel für Kürzungen: Drs. 15/6713 BY: Im Nachtragshaushalt 2004 wurde das Blindengeld um 15% gekürzt. Drs. 5/136 MV: Absenkung des Landesblindengeldes immer wieder in der Diskussion. Im Saarland betrug das Blindengeld ursprünglich 585 € für Volljährige, wurde zum 01.01.2005 auf 470 € und mit Wirkung zum 01.01.2006 auf 438 € gekürzt. In Rheinland-Pfalz beträgt das Blindengeld 529 € bei Anträgen, die bis zum 30.04.2003 gestellt wurden (Bestandsschutz), also ebenfalls eine deutliche Kürzung (§ 2 Abs. 1 LBlindenGG RP).

150

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel „Die Länder sind verantwortlich für die Vorhaltung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen Versorgungsstruktur. Das Nähere zur Planung und zur Förderung der Pflegeeinrichtungen wird durch Landesrecht bestimmt. Zur finanziellen Förderung der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen sollen Einsparungen eingesetzt werden, die den Trägern der Sozialhilfe durch die Einführung der Pflegeversicherung entstehen.“

Damit sind den Ländern die Vorhaltung einer geeigneten Versorgungsstruktur als Ziel und zu dessen Ausführung zwei Instrumente, die Planung und Investitionsförderung, zugeschrieben. Eine Planungskompetenz sowie die Kompetenz zur Investitionsförderung wurden erst auf Druck der Bundesländer in das Gesetz aufgenommen. Der Entwurf des PflegeVersicherungsgesetzes sah diese nicht vor und schrieb den Ländern lediglich eine marginale Rolle zu. § 9 SGB XI bietet den Ländern damit die Gelegenheit, selbst steuernd in die Infrastrukturentwicklung einzugreifen. Da der Sicherstellungsauftrag nach § 69 SGB XI bei den Pflegekassen liegt, haben die Länder nur wenige Pflichten. Ferner besteht keine rechtliche Verbindlichkeit für die Länder die Investitionen der Pflegeeinrichtungen zu fördern. Damit hat § 9 lediglich einen „appellativen Charakter“ (vgl. Eifert/Rothgang 1999: 451). Hinsichtlich der Rechtsstellung der Länder hinterlässt diese Norm Unklarheiten. Die Bedarfsplanung der Länder steht im Spannungsverhältnis mit der Wettbewerbsorientierung, welche an anderen Stellen im Pflegegesetz verankert ist (siehe dazu ausführlich Rothgang 2000b). Bei ihrer Analyse der Landespflegegesetze kommen Eifert und Rothgang zu dem Ergebnis, dass sich die Länder zunächst weitgehend dafür entschieden haben „die Kompetenzzuweisungen des § 9 SGB XI dahingehend zu nutzen, mittels Planung und Investitionsförderung einen Kontrapunkt zur ausschließlichen Marktkoordinierung zu setzen und die Infrastruktur auf Länderebene aktiv zu beeinflussen“ (Eifert/Rothgang 1999: 455). Die Bundesländer haben in Novellierungen der Landespflegegesetze ihre Förderpolitik jedoch neu gestaltet (vgl. BMFSFJ 2006: 55). Im Folgenden wird auf die Bedarfsplanung und Investitionsförderung der Länder im Bereich Pflege eingegangen. Die Bedarfsplanung der Länder steht in engem Zusammenhang mit der Investitionsförderung. Die ersten verbindlichen Langfristplanungen in der stationären Altenhilfe können, wie bereits beschrieben, bis Anfang der 1960er Jahre zurückverfolgt werden. Die Stadtstaaten, Baden-Württemberg, Bayern und Hessen waren damals Vorreiter, wobei Hessen mit Abstand die höchsten Fördermittel pro Person für die stationäre Altenhilfe gewährte (Schölkopf 1998: 151, 158). Die Länder regeln die Zuständigkeit der Investitionsförderung unterschiedlich. In den Flächenstaaten sind meist die Länder und Kommunen für die Gewährung von Fördermitteln verantwortlich, in Baden-Württemberg und dem Saarland die Landkreise und kreisfreien Städte. In den Stadtstaaten ist die zuständige Landesbehörde an der Förderung beteiligt. Notwendige Fördervorrausetzung ist in fast allen Bundesländern die Aufnahme in einen Bedarfsplan, ein Pflegeverzeichnis oder ein Investitionsprogramm (BMFSFJ 2006: 53). Erstinvestitionen (Herstellung und Ausstattung) und Folgeinvestitionen (Wiederbeschaffung, Ergänzung, Instandhaltung, Instandsetzung) kennzeichnen den Fördergegenstand bei einer als Objektförderung ausgerichteten Investitionsförderung. Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen fördern im Rahmen der Folgeinvestitionen nicht die Wiederbe-

Sozialpolitik in den Bundesländern

151

schaffung und Ergänzung, Bayern, Saarland und Sachsen-Anhalt fördern nicht die Instandhaltung und Instandsetzung. Rheinland-Pfalz fördert den gesamten vollstationären Bereich nicht, weder Erstinvestitionen noch Folgeinvestitionen. Für in der Vergangenheit getätigte Investitionen, die noch nicht abgeschrieben sind und für die noch Kredite bedient werden müssen, fallen ebenfalls Kosten an. Diese ‚alte Last’ wird in keinem Bundesland direkt gefördert. Allerdings werden die entsprechenden Investitionskosten in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein mittels eines Pflegewohngelds, einem ergänzenden bewohnerbezogenen Aufwendungszuschuss, übernommen (vgl. BMGS 2004). Das Pflegewohngeld wird immer gewährt, wenn Hilfe zur Pflege im Rahmen des SGB XII bezogen wird oder aufgrund der gesondert in Rechnung gestellten Investitionskosten ansonsten bezogen würde. Das Pflegewohngeld, das auf alle Investitionskosten, also nicht nur die alte Last, abzielt, wird deshalb bedarfsgeprüft gewährt (Eifert/Rothgang 1999: 452). Regelungen zum Pflegewohngeld finden sich in Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Saarland und Schleswig-Holstein (vgl. BMGS 2004). Den neuen Ländern wurden bis 2002 nach Art. 52 PflegeVG Finanzhilfen vom Bund gewährt. Zu den Förderbereichen in den Landespflegegesetzen gehören die ambulanten Pflegeeinrichtungen sowie teil- und vollstationäre Einrichtungen. Die Förderung geschieht in sehr unterschiedlicher Weise. Erstinvestitionen im vollstationären Bereich finden nicht in Rheinland-Pfalz und nur bei Kurzzeitpflegeplätzen in Niedersachsen statt. Hier wird die Bedeutung des ambulanten Sektors hervorgehoben. Der ambulante Bereich wird in Baden-Württemberg, Berlin und im Saarland nicht gefördert. Tabelle 4 gibt einen Überblick über die Förderbereiche nach den Landespflegegesetzen, wobei festzustellen ist, dass die Länder Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Thüringen keine Ausnahmen hinsichtlich der Förderbereiche bestimmen und sowohl vollstationäre und teilstationäre Einrichtungen als auch ambulante Pflegedienste fördern. Der Förderansatz, unterteilt in Objekt- und Subjektförderung, variiert ebenfalls zwischen den Bundesländern, wobei eine Dominanz der Objektförderung zu erkennen ist. Eine Subjektförderung findet in den Ländern Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, NordrheinWestfalen, im Saarland und in Schleswig-Holstein statt. Nur die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Schleswig-Holstein weisen neben der Subjektförderung eine Objektförderung auf, haben also ein Mischsystem. Die Objektförderung fördert die Entstehung von Plätzen, also die Erst- und/oder Folgeinvestitionen, unabhängig von deren Belegung. Die subjektbezogene Förderung wird nur für belegte Plätze gewährt. Damit wird das Belegungsrisiko auf die Einrichtungsträger (zurück-)verlagert. Weiterhin wird das Pflegewohngeld nur für den finanziell bedürftigen Teil der Pflegebedürftigen gewährt. Differenzen gibt es ebenfalls bei der Ausgestaltung der Fördermethoden. Projektförderung im ambulanten Bereich gibt es in Hamburg und Bremen, Pauschalförderung in Thüringen, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern und Einzelförderung in Berlin. Einzelförderung spricht dabei für einen stärkeren Gestaltungswillen der Länder als Pauschalförderung. Letztlich bleiben die Möglichkeiten der Länder, die pflegerische Infrastruktur mittels Pflegebedarfsplanung und Investitionsförderung zu steuern, aber begrenzt – nicht zuletzt, weil die geförderten Investitionskosten einen kleinen Teil des Gesamtpreises ausmachen

152

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

(Rothgang 2000a: 1013). Demnach darf der Gestaltungsspielraum der Länder in dieser Frage nicht überbewertet werden. Tabelle 4:

Förderbereiche nach Landespflegegesetzen

Land

Vollstationäre Einrichtungen Herstellung, Erstausstattung

Wiederbeschaffung, Ergänzung

Instandhaltung, Instandsetzung

BW

Ja1

Nein

Ja2

Nein

Ja

Nein

BY

Ja

Ja

Nein

Nein

Ja

Ja

BE

Ja

Ja

Ja

Nein

Ja

Nein

HB

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

HH

Ja

Ja

Ja

Einkommensabhängige Einzelförderung

Ja

Ja

HE

Ja

Nein

Ja

Nein

Ja

Ja

MV

Ja

Ja

Ja

Nein

Ja

Ja

NI

Ja

Nein

Ja

Ja

NW

Ja

Ja

Ja

Ja4

Ja

Ja

RP

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Ja

SL

Ja

Ja

Nein

Ja4

Ja

Nein

ST

Ja

Ja

Nein

Grundsätzlich möglich

Ja

Ja

SH

Ja

Ja

Ja

Ja4

Ja

Ja

TH

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

3

Ja

3

3

Alte Last

TeilAmbustationär lant

Ja

Anmerkungen: keine Erstausstattung, Ja, aber nicht von Einrichtungs-, Ausstattungsgegenständen, nur bei Kurzzeipflegeplätzen, 4 mittels Pflegewohngeld BB: keine Förderung mehr; SN: Das Sächsische Pflegegesetz ist zum 31.12.2002 außer Kraft getreten. Quelle: BMFSFJ 2006: 18 (Anlagen). 1

2

3

Die unterschiedlichen Förderarrangements haben zu einer unterschiedlichen pflegerischen Infrastruktur in den Bundesländern geführt. Tabelle 5 gibt einen Überblick über die pflegerische Infrastruktur in den Bundesländern. Zunächst ist zu erkennen, dass Bremen und Sachsen-Anhalt einen hohen Anteil an Pflegebedürftigen aufweisen, während Baden-Württemberg im Vergleich zu den anderen Ländern eine niedrige Pflegequote hat. Bezieht man die Zahl der verfügbaren Heimplätze auf die Einwohner, lässt sich die stationäre Versorgung im Vergleich darstellen. Dabei wurde lediglich die Bevölkerung im höheren Lebensalter als Bezugsgröße herangezogen. Die Versorgungsdichte im stationären Bereich beträgt durchschnittlich 116 Heimplätze je 1.000 Einwohner ab 75 Jahren. Mit 158,6 verfügbaren Heimplätzen pro 1.000 Einwohner über 75 Jahre hat Schleswig-Holstein die höchste Versorgungsdichte, Hessen hat im Vergleich die

153

Sozialpolitik in den Bundesländern Tabelle 5: Land

Pflegerische Infrastruktur in den Bundesländern im Jahr 2005

Anteil der Pflege- Zahl der verfügba- Pflegepersonal in den Infrastrukturindex bedürftigen an der ren Heimplätze pro ambulanten Pflege(Summe der Ränge und – Bevölkerung in % 1.000 Einwohner ab diensten je 1.000 Ein- in Klammern – der Rang 75 Jahren wohner über 75 Jahren im Gesamtindex)

BW

2,1

120 (12)

32,5 (8)

20 (10)

BY

2,43

115,2 (10)

28,6 (4)

14 (6)

BE

2,83

131,2 (14)

62,5 (16)

30 (16)

BB

2,91

115,1 (9)

41,2 (13)

22 (11)

HB

3,06

101,7 (4)

49,9 (14)

18 (9)

HH

2,38

108,8 (7)

58,5 (15)

22 (11)

HE

2,68

94,7 (1)

28,5 (3)

4 (1)

MV

3

134,9 (15)

38,1 (12)

27 (15)

NI

2,85

128,4 (13)

32,9 (10)

23 (13)

NW

2,54

108,1 (6)

29,0 (5)

11 (4)

RP

2,41

101,6 (3)

23,8 (1)

4 (1)

SL

2,7

117,8 (11)

26,8 (2)

13 (5)

SN

2,81

107,1 (5)

34,0 (11)

16 (8)

ST

3,06

110,7 (8)

29,8 (7)

15 (7)

SH

2,74

158,6 (16)

32,8 (9)

25 (14)

TH

2,87

101,4 (2)

29,7 (6)

8 (3)

Anmerkung: Hervorhebungen markieren den höchsten und niedrigsten Wert. Rangfolge ist in Klammern dargestellt. Die Ränge sind so gebildet, dass schwach ausgebaute Infrastruktur einen niedrigen Rang bewirkt. Quelle: Statistisches Bundesamt 2007 und eigene Berechnungen.

niedrigste Versorgungsquote. Für den ambulanten Bereich lässt der Indikator „Pflegepersonal“ eine Beurteilung der Versorgungsdichte zu. Dabei liegt Berlin erheblich über dem Bundesdurchschnitt von etwa 36 Personen Pflegepersonal je 1.000 Einwohner über 75 Jahren. Dies stellt Schölkopf bereits für die 1980er fest (vgl. Schölkopf 1998: 281). Aber auch die anderen Stadtstaaten sowie Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern liegen über dem Durchschnitt, während Rheinland-Pfalz, Bayern, Hessen und das Saarland eine niedrige Versorgungsdichte im ambulanten Bereich aufweisen. Der Infrastrukturindex gibt eine Übersicht der Strukturdaten der einzelnen Länder unter Einbeziehung der Indikatoren „Verfügung von Heimplätzen“ für den stationären Bereich und „Pflegepersonal“ für den ambulanten Bereich an. Er spiegelt die geronnene Förderaktivität der Bundesländer im Pflegebereich wider, das heißt, dass Investitionen der Vergangenheit mit diesem Indikator erfasst werden. Es wird deutlich, dass Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein einen hohen Aktivitätsgrad aufweisen, während Hessen, Rheinland-Pfalz und Thüringen die Schlusslichter bilden.

154

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

4.3 Krankenhausfinanzierung Grundlage der Krankenhausfinanzierung und Krankenhausplanung ist seit 1972 das Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG). Dessen Ziel ist „die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser, um eine bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit leistungsfähigen, eigenverantwortlich wirtschaftenden Krankenhäusern zu gewährleisten und zu sozial tragbaren Pflegesätzen beizutragen“ (§ 1 Abs. 1 KHG). Nach § 6 KHG Abs. 1 sind die Länder verpflichtet, Krankenhauspläne (ursprünglich: „Krankenhausbedarfspläne“) und Investitionsprogramme aufzustellen, um die Ziele des § 1 zu verwirklichen.12 Der Krankenhausplan des jeweiligen Landes sollte zum „entscheidenden Steuerungsmittel für Art, Umfang und Ausmaß der künftigen Krankenhausversorgung“ werden (BT-Drs. 6/1874: 11f., zitiert in: Simon 2000: 77). Dabei hat ein Krankenhaus nur Anspruch auf Förderung, sofern es im Krankenhausplan aufgenommen ist (§ 8 Abs. 1 KHG). Außerdem ist eine Absprache mit allen beteiligten Ländern hinsichtlich der Krankenhausplanung erforderlich, sofern ein Krankenhaus nicht nur für die eigene Bevölkerung von Bedeutung ist, sondern ebenfalls die Bevölkerung benachbarter Länder versorgt (§ 6 Abs. 2 KHG). Plankrankenhäuser, also Krankenhäuser, die in einen Krankenhausplan aufgenommen sind, sind automatisch zur Versorgung von GKV-Patienten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zugelassen (§ 108 SGB V). Krankenhäuser, die nicht in den Krankenhausplan aufgenommen sind, können Leistungen nur dann zu Lasten der GKV erbringen, wenn ein Versorgungsvertrag mit den Landesverbänden der Krankenkassen abgeschlossen wurde – was in der Praxis auf Ausnahmefälle beschränkt ist.13 Die Aufnahme in den Krankenhausplan ist damit die entscheidende Stellschraube für die Kapazitätsplanung im Krankenhausbereich. Im Folgenden werden beide Bereiche, die Krankenhausplanung und die Investitionsförderung, im Bundesländervergleich dargestellt.

Krankenhausplanung In der Krankenhausplanung werden Bedarfsrechnungen zur bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung aufgestellt. Ausgangspunkt ist eine Ist-Analyse, auf der dann Prognosen aufbauen. Bedarfsprognosen werden in fast allen Bundesländern nach derselben Methode (Hill-Burton-Methode) ermittelt. In den Krankenhausplänen der einzelnen Länder werden Schwerpunkte auf verschiedene Themengebiete gelegt und besondere strukturelle Festlegungen für verschiedene Versorgungsbereiche getroffen. In Baden-Württemberg haben bei12 Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zum Pflege-Versicherungsgesetz. In einer Grundgesetzänderung wurde dem Bund 1969 die konkurrierende Gesetzgebung für die „die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und die Regelung der Krankenhauspflegesätze“ (Art. 74 Abs. 1 Ziffer 19a GG) übertragen. Auf Basis dieser Kompetenzzuweisung konnte der Bund die Länder im KHG zur Investitionsförderung der Krankenhäuser verpflichten. Für Pflegeeinrichtungen verfügt der Bund hingegen nicht über eine solche Kompetenz und kann in § 9 SGB XI daher nur an die Länder appellieren, die Investitionskosten für Pflegeeinrichtungen zu fördern, aber keine verbindliche Verpflichtung aussprechen. 13 Neben den Plankrankenhäusern sind auch Hochschulkliniken im Sinne des Hochschulbaufördergesetzes (Universitätskliniken) unmittelbar zur Behandlung von GKV-Patienten zugelassen.

Sozialpolitik in den Bundesländern

155

spielsweise Mukoviszidose-Patienten, die Palliativmedizin, Tumorzentren und medizinischtechnische Großgeräte besondere Beachtung gefunden. Des Weiteren finden Kooperationen und Gespräche bei der Krankenhausplanung nach § 6 Abs. 2 KHG besonders zwischen Berlin und Brandenburg, sowie zwischen Hamburg und Niedersachsen und Hamburg und Schleswig-Holstein statt, wobei zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein ein Abkommen geschlossen wurde. Bei der Krankenhausplanung in den Ländern wirken verschiedene Akteure mit. Während in den meisten Ländern ein Ausschuss zur Krankenhausplanung (BW, BY, HE, NI, NW, RP, SN, TH) oder eine Landeskonferenz wie in Brandenburg, Hamburg, Hessen und dem Saarland einberufen wird und in Berlin, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt von „unmittelbar Beteiligten“ nach § 7 Abs. 1 KHG gesprochen wird, ist in Bayern, Brandenburg, Hessen und Sachsen-Anhalt eine Vielzahl von Akteuren beteiligt, wie zum Beispiel in Bayern das Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen sowie die Staatsministerien des Inneren und der Finanzen. Die Krankenkassen sind in allen Ländern an der Krankenhausplanung beteiligt. Ferner werden in den Krankenhausplänen Aussagen zu verschieden Themengebieten wie Ausbildungsstätten (Berlin macht als einziges Bundesland dazu keine Angaben), teilstationären Einrichtungen oder zur Frührehabilitation gemacht. Diese Aussagen differieren zwischen den Ländern. Weisen einige Länder (BW, BY, HH, MV und SH) beispielsweise Plätze zur Frührehabilitation pro Krankenhaus aus, machen Berlin, Brandenburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen hierzu keine Angaben. Es zeigt sich also, dass die Krankenhauspläne der Bundesländer im Detail sehr variieren. Der vorgegebene Auslastungsgrad (Zielgröße) in der Krankenhausplanung unterscheidet sich allerdings nur minimal und liegt in allen Bundesländern bei etwa 85%, wobei Ausnahmen, zum Beispiel bei der Kinder- oder Augenheilkunde, bestehen. Diese Ausnahmen weichen sowohl nach oben (Psychiatrie bis zu 90%) als auch nach unten (Kinderheilkunde 75%) ab.

Investitionsprogramme Die Gesamtförderung besteht aus der Einzelförderung und der Pauschalförderung. Die Fördertatbestände werden in § 9 KHG beschrieben. Die Pauschalförderung erfolgt mit einem pauschalen Betrag je Bett und Jahr und richtet sich nach der Größe des Krankenhauses. Die Einzelförderung erfolgt für größere Investitionsmaßnahmen. Die Einzelförderung kann mit mehr Gestaltungswillen der Länder, die Pauschalförderung mit mehr Delegation gleichgesetzt werden. Die Schwerpunktlegung der einzelnen Länder hinsichtlich der Pauschalund Einzelförderung verdeutlicht massive Unterschiede. Bremen ist das einzige Land, welches beide Varianten zu gleichen Anteilen fördert. Die Länder Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und das Saarland bevorzugen eine Pauschalförderung, während Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen die Bedeutung auf die Einzelförderung legen (DKG 2006: 80ff.).

156

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

NW

NI

SN

SL

RP

BW

HE

HB

HH

BY

BE

SN

BB

TH

ST

Fördervolumen je aufgestelltem Bett in EUR 1995 bis 2005

MV

Abbildung 4:

Anmerkungen: Nicht berücksichtigt wurden: 1. Investitionsmittel der Hochschulkliniken, 2. Investitionsmittel der Vertragskrankenhäuser, 3. Eigenmittel der Plankrankenhäuser, 4. Mittel zur Restfinanzierung noch nicht ausfinanzierter Maßnahmen, 5. Finanzierung von Zins und Tilgung noch offener Darlehensbeträge. Quelle: Umfrage der Arbeitsgruppe für Krankenhauswesen der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG), in: DKG 2006; Statistisches Bundesamt, Grunddaten der Krankenhäuser, diverse Jahrgänge, eigene Berechungen. Barwertberechnung zum Basisjahr 1995 mit einem angenommenen Zinssatz von 3%.

Abbildung 4 zeigt die Förderung je aufgestelltem Bett im Zeitraum von 1995 bis 2005 und verdeutlicht die Differenzen in der Höhe der Fördersumme. Demnach hat MecklenburgVorpommern mit Abstand die höchste Fördersumme in diesem Zeitraum zur Verfügung gestellt und liegt mit etwa 108.049 € weit über dem Durchschnitt von etwa 66.311 €. Auch die anderen Ostländer liegen über dem Durchschnitt, während Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen die geringsten Fördersummen aufweisen. Die deutliche Dominanz der ostdeutschen Länder ist auf das Aufbauprogramm für die Krankenhäuser nach der Wiedervereinigung zurückzuführen. Der Bund hat, wie im Bereich der Pflege (vgl. oben), den neuen Ländern sowie Ost-Berlin von 1995 bis 2001 eine jährliche Finanzhilfe zur Verfügung gestellt, und zwar im Krankenhausbereich in Höhe von rund 358 Mio. Euro (vgl. BMVBS 2006: 124). Werden die KHG-Fördermittel je aufgestelltes Bett nur für das Jahr 2005 betrachtet, liegen die Beträge der ostdeutschen Länder immer noch höher, allerdings ist die Differenz zu den westdeutschen Ländern nicht mehr so deutlich. Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und das Saarland bilden im Jahr 2005, wie im Zeitraum 1995 bis 2005, das Schlusslicht. Aus der Höhe der Fördermittel lässt sich ein Aktivitätsindex für die Krankenhausfinanzierung entwickeln, wobei, wie bereits erwähnt, die ostdeutschen Länder aufgrund der Finanzhilfen des Bundes das höchste Aktivitätsniveau aufweisen. Wird das Aktivitätsniveau, also die Fördersumme nur für das Jahr 2005, betrachtet, ergeben sich nur leichte Verschiebungen. Demnach fördern die ostdeutschen Länder auch nach den Finanzhilfen des

157

Sozialpolitik in den Bundesländern

Bundes am meisten, wie Tabelle 6 zeigt. In den Gesamtindex wird der Aktivitätsindex 19952005 integriert. Tabelle 6: Land

Aktivitätsindex für den Bereich Krankenhausfinanzierung Aktivitätsindex 1995-2005

Aktivitätsindex 2005

BW

6

4

BY

10

8

BE

11

7

BB

13

12

HB

8

10

HH

9

13

HE

7

11

MV

16

15

NI

2

1

NW

1

3

RP

5

5

SL

4

2

ST

15

16

SN

12

9

SH

3

6

TH

14

14

Anmerkung: Hervorhebungen markieren den höchsten und niedrigsten Wert. Die Ränge sind so gebildet, dass ein niedriges Aktivitätsniveau einen niedrigen Rang bewirkt.

Da die Länder nach § 6 KHG eine bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung gewährleisten sollen, also für die Schließung von Versorgungslücken und die Verhinderung von Überangeboten verantwortlich sind (vgl. Rothgang 2000a: 1006), wird im Folgenden die Versorgungsstruktur der Länder dargestellt. Niedersachsen hat die geringste Bettendichte. Zudem ist die Versorgungsdichte bezüglich des Ärztepersonals im Bundesländervergleich am niedrigsten und auch das Pflegepersonal je 10.000 Einwohner ist sehr gering. Obwohl Niedersachsen eine geringe Bettendichte aufweist, ist zu erkennen, dass die Bettenauslastung nicht hoch ist. Daneben haben BadenWürttemberg, Schleswig-Holstein, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern im Vergleich zu den anderen Ländern eine geringe Bettendichte. Bremen weist die höchste Bettendichte je Einwohner auf. Dies darf aufgrund der Tatsache, dass Bremen ein Stadtstaat ist, nicht überbewertet werden. Dennoch muss berücksichtigt werden, dass der Versorgungsgrad bezüglich der Bettendichte der beiden anderen Stadtstaaten, Berlin und Hamburg, nicht annähernd so hoch ist. Thüringen und Nordrhein-Westfalen haben ebenfalls eine hohe Bettendichte.

158

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

Tabelle 7: Land

Versorgungsstruktur in Krankenhäusern 2005

Krankenhäuser insgesamt

Betten je 100.000 Bettenauslastung Krankenhausärzte Krankenhausje 10.000 Einpflegepersonal je Einwohner in % wohner 10.000 Einwohner

BW

305

572

73,8

14,1

33,9

BY

385

643

74,1

14,7

35,9

BE

71

600

80,6

19,9

37,8

BB

47

602

79,9

12,7

34,1

HB

14

854

75,8

21,9

57,5

HH

52

661

78,7

20,1

42,5

HE

175

609

73,2

13,1

35,4

MV

34

597

81,1

16,6

36,9

NI

204

552

77,9

12,4

33,6

NW

444

705

74,6

15,5

38,9

RP

97

631

72,3

13,2

35,4

SL

26

694

79,4

17,3

46,8

SN

85

644

79,0

14,4

36,5 42,7

ST

50

690

77,5

15,5

SH

104

574

77,0

13,7

32,4

TH

46

709

75,8

14,8

38,1

Quelle: Statistisches Bundesamt 2006, Grunddaten der Krankenhäuser, eigene Berechungen.

4.4 Öffentliche Fürsorge: Kinder- und Jugendhilfe Bei der Darstellung des Sozialbudgets konnte gezeigt werden, dass die Kommunen finanziell sowohl bei der Jugendhilfe als auch bei der Sozialhilfe in bedeutendem Umfang beteiligt sind. Zu beiden Gebieten erlassen die Länder Ausführungsgesetze, wobei sie in den Bundesgesetzen aufgefordert werden „anzuregen“, „zu unterstützen“ und „zu fördern.“ Wie bereits eingangs von Abschnitt 4 ausgeführt, wird aufgrund mangelnden Gestaltungsspielraums an dieser Stelle nicht weiter auf den Bereich der Sozialhilfe eingegangen. Die Kinder- und Jugendhilfe ist kompetenzrechtlich Teil der öffentlichen Fürsorge und hat ihre Wurzeln in der staatlichen Armenfürsorge. „Doch handelt es sich weit mehr um eine bedarfsorientierte gehobene Fürsorge als um eine bedürftigkeitsorientierte einfache Fürsorge“ (Igl/Welti 2007: 322). Das Gesetz enthält ein breites Spektrum an Leistungen sowohl für junge Menschen als auch für ihre Familien. Dabei stehen nicht materielle Leistungen im Vordergrund, „sondern die Deckung eines strukturellen oder individuellen Defizits an familialen Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsleistungen“ (BMAS 2006a: 446). Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) ist ein Bundesgesetz, welches die Länder zu sozialpolitischen Handlungen an mehreren Stellen auffordert. Das KJHG regelt unter anderem Jugendarbeit, Förderung der Erziehung in der Familie und Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen. Insgesamt machen vier Landesrechtsvorbehalte (§§ 15, 26, 49, 89g SGB

159

Sozialpolitik in den Bundesländern

VIII) explizit auf die Regelungsmöglichkeiten der Länder aufmerksam.14 Daneben wird im Gesetzestext immer wieder auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Länder hingewiesen. Das Wort „Landesrecht“ wird im gesamten Gesetz 50 Mal genannt (darunter auch als „Landesrechtsvorbehalt“ und „landesrechtlich“).15 §§ 11ff. SBG VIII regeln die Leistungen der Jugendhilfe, also Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, erzieherischer Kinder- und Jugendschutz. Dabei sind dies nur weitgehende Rahmenregelungen. Das Nähere über Inhalt und Umfang regelt Landesrecht. Das sechste Kapitel des SGB VIII beschreibt zentrale Aufgaben der Länder (§ 82 SGB VIII) und des Bundes (§ 83 SGB VIII). Demnach hat die oberste Landesjugendbehörde die Tätigkeit der Träger der öffentlichen und der freien Jugendhilfe und die Weiterentwicklung der Jugendhilfe anzuregen und zu fördern. Außerdem haben die Länder auf einen gleichmäßigen Ausbau der Einrichtungen und Angebote hinzuwirken und die Jugendämter und Landesjugendämter bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu unterstützen. Im Rahmen der Vorgaben des Bundes können die Länder weiterführende Regelungen treffen.

BY

SH

NI

BW

TH

NW

SN

SL

HE

RP

ST

MV

BB

HB

Ausgabenvolumen für die Kinder- und Jugendhilfe je Einwohner in 1.000 Euro 1995 bis 2005

HH

BE

Abbildung 5:

Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe, Ausgaben und Einnahmen, diverse Jahrgänge. Barwertberechnung zum Basisjahr 1995 mit einem angenommenen Zinssatz von 3%.

14 Beispiel: § 15 „Das Nähere über Inhalt und Umfang der in diesem Abschnitt [Zweites Kapitel, erster Abschnitt: Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, erzieherischer Kinder- und Jugendschutz, Anmerk. d. Verf.] geregelten Aufgaben und Leistungen regelt das Landesrecht.“ 15 Zum Vergleich: Im SGB XI wird das Wort „Landesrecht“ (o.ä., siehe oben) 18 Mal erwähnt, im SBG XII 11 Mal.

160

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

Alle Bundesländer haben in Ausführungsgesetzen das Kinder- und Jugendhilfegesetz des Bundes konkretisiert. Darüber hinaus haben alle Länder spezielle Gesetze zum Bereich der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Tagespflege erlassen. Von einigen Bundesländern wurden außerdem für den Bereich der allgemeinen Jugendförderung spezielle Ausführungsgesetze erlassen.16 Die Kindertagesstättengesetze der Länder regeln die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Anspruchs für alle Kinder, die das dritte Lebensjahr vollendet haben. Dabei ist eine deutliche Differenz zwischen den neuen und den alten Bundesländern zu erkennen, gewähren die alten Bundesländer doch durchweg nur Halbtagsplätze. Die neuen Bundesländer stellen hingegen im Bedarfsfall Ganztagsplätze zur Verfügung. Der Versorgungsgrad der Kindergartenkinder beträgt 2004 in den westlichen Ländern 79,1%, in den neuen Ländern 86,3% (vgl. BMAS 2006a: 448). Im Folgenden wird auf die Unterschiede der Ausgaben, Maßnahmen und Teilnehmer der Kinder- und Jugendhilfe eingegangen. Abbildung 5 zeigt die Differenzen hinsichtlich der Ausgaben für die Jugendhilfe. Berlin, gefolgt von den beiden anderen Stadtstaaten, hat die höchsten Ausgaben für die Jugendhilfe je Einwohner. Neben den Stadtstaaten haben die Länder Rheinland-Pfalz, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und SachsenAnhalt ebenfalls hohe Ausgaben für die Jugendhilfe. Den geringsten Betrag wendet Bayern auf. Tabelle 8: Land

Aktivitätsindex Kinder- und Jugendhilfe 1995-2005 Aktivitätsindex

BW

4

BY

1

BE

16

BB

13

HB

14

HH

15

HE

9

MV

12

NI

3

NW

6

RP

10

SL

8

ST

7

SN

11

SH

2

TH

5

Anmerkung: Hervorhebungen markieren den höchsten und niedrigsten Wert. Die Ränge sind so gebildet, dass ein niedriges Aktivitätsniveau einen niedrigen Rang bewirkt.

16 Aufgelistet in der BT-Drucksache 13/6371.

161

Sozialpolitik in den Bundesländern

Tabelle 8 beschreibt den Aktivitätsindex im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der das Ausgabenvolumen 1995 bis 2005 berücksichtigt. Rheinland-Pfalz und Hessen bieten – bezogen auf die Bevölkerung – die meisten Maßnahmen der Jugendarbeit im Jahr 2004 an, Sachsen-Anhalt, Bremen und Thüringen die wenigsten. Bremen weist ebenfalls die geringste Anzahl der Teilnehmenden an Maßnahmen auf, wobei die beiden anderen Stadtstaaten viele Teilnehmende verzeichnen. Daran wird der Zusammenhang zwischen den beiden Variablen „Anzahl der Teilnehmer“ und „Anzahl der Maßnahmen“ deutlich. Je mehr Maßnahmen ein Land im Jahr 2004 angeboten hat, desto mehr Teilnehmende konnte es verzeichnen.

4.5 Zwischenfazit: Sozialpolitische Aktivitäten in den Bundesländern Zu jedem sozialpolitischen Bereich, der im Rahmen dieses Beitrags vorgestellt wurde, wurde ein Aktivitätsindex entwickelt. Dies erlaubt es, nun zu prüfen, inwieweit Unterschiede im sozialpolitischen Engagement der Länder auf Ländereffekte oder auf Sektoreneffekte zurückzuführen sind. Tabelle 9 stellt den Zusammenhang der Aktivitätsindizes der einzelnen Bereiche dar. Tabelle 9:

Zusammenhang zwischen den Aktivitätsindizes Pflege

Krankenhaus

Kinder- und Jugendhilfe

Arbeitsmarkt

1,000

,180

,240

,081

Krankenhaus

,180

1,000

,388

,412

Kinder- und Jugendhilfe

,240

,388

1,000

,310

Arbeitsmarkt

,081

,412

,310

1,000

Pflege

Anmerkung: Rang-Korrelationskoeffizient nach Spearman: Das Maß gibt den Zusammenhang zwischen den beiden Verteilungen an. Der Wertebereich des Korrelationskoeffizienten liegt zwischen -1 und 1. Das Vorzeichen gibt die Richtung des Zusammenhangs an, der Absolutwert dessen Stärke.

In allen Bereichen ist eine positive Korrelation zu erkennen. Damit sind eindeutig Ländereffekte von Bedeutung: Die Länder, die ein hohes Aktivitätsniveau in einem Bereich aufweisen, weisen ebenfalls ein hohes Aktivitätsniveau in anderen sozialpolitisch relevanten Bereichen auf. Die unterschiedliche Stärke des Zusammenhangs deutet gleichzeitig darauf hin, dass zusätzlich auch Sektoreneffekte zu beachten sind. Der höchste Zusammenhang ist zwischen den Sektoren Krankenhaus und Arbeitsmarkt zu identifizieren, der niedrigste zwischen Pflege und Arbeitsmarkt.

162 Tabelle 10: Land

BW

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel Zusammenfassender Überblick Pflege 2005

Krankenhaus 1995-2005

Kinder- u. Jugendhilfe 1995-2005

Arbeitsmarkt 1980er-1997

Gesamtindex

Ranking

4

1

21

3

10

6

BY

6

10

1

5

22

4

BE

16

11

16

11

54

15

BB

11

13

13

8

45

13

HB

9

8

14

11

42

11

HH

11

9

15

13

48

14

HE

1

7

9

2

19

1

MV

15

16

12

12

55

16

NI

13

2

3

7

25

7

NW

4

1

6

16

27

8

RP

1

5

10

4

20

2

SL

5

4

8

6

23

6

SN

8

15

7

15

45

13

ST

7

12

11

11

41

10

SH

14

3

2

4

23

6

TH

3

14

5

15

37

9

Anmerkung: Der Index „Arbeitsmarkt“ ist von Schmid/Blancke (2006: 307) übernommen. Er stellt den Innovationsgrad der Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer dar und beinhaltet folgende Indikatoren: Ausgaben, Marktnähe, Verknüpfung mit anderen Politikfeldern, Integration von Qualifikation und Beschäftigung, Prävention, Zielgruppen, institutionelle Flankierung und sonstiges. Schmid und Blancke bilden drei Kategorien (1 bis 3) und schätzen damit den Innovationsgrad der Bundesländer ein. Wir haben für jedes Bundesland die Werte der einzelnen Indikatoren zusammengerechnet, so dass sich unser „Arbeitsmarkt-Indikator“ ergibt. Es wurde der Zeitraum seit Ende der 1980er bis 1997 betrachtet. Der Wert 16 steht für den höchsten Aktivitätsindex, der Wert 1 für den niedrigsten.

In Tabelle 10 wird ein zusammenfassender Gesamtüberblick über das Aktivitätsniveau der Bundesländer in den vorgestellten sozialpolitischen Bereichen gegeben. Die Tabelle 10 stellt nochmals die Aktivitätsindizes der einzelnen Bereiche dar und zeigt den Indexwert für das gesamte Spektrum. Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass Mecklenburg–Vorpommern den höchsten Gesamtindex ausweist, gefolgt von Berlin, Hamburg und Brandenburg. Hessen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg weisen in der Gesamtübersicht einen niedrigen Indexwert auf. Die Übersicht verdeutlicht dabei den zentralen Befund: Die Aktivitäten der westlichen Flächenländer sind unterdurchschnittlich, während die neuen Bundesländer und die Stadtstaaten überdurchschnittliche Aktivitäten aufweisen. Diese Aufteilung lässt sich auch anhand eines Dendrogramms veranschaulichen: Während die Stadtstaaten und die Ostländer eine Gruppe bilden, wird von den Westländern eine zweite Gruppe erzeugt. Außerdem lässt sich erkennen, dass in den ersten Schritten der Agglomeration ein Cluster aus Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland, ein Cluster aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg, ein Cluster aus Sachsen und

Sozialpolitik in den Bundesländern

163

Thüringen, ein Cluster aus Bremen, Hamburg, Brandenburg und Sachsen-Anhalt, sowie ein Cluster aus Berlin und Mecklenburg-Vorpommern geformt wird. Abbildung 6:

5

Dendrogramm zum Aktivitätsniveau der Bundesländer

Erklärungsansätze der Variationen

Nachdem sozialpolitische Aktivitätsbereiche der Bundesländer deskriptiv vorgestellt wurden und dabei festgestellt werden konnte, dass Differenzen bestehen, wird nun der Fragestellung nachgegangen, welche Faktoren diese Variationen erklären können. Hierbei wird auf zwei politikwissenschaftliche Erklärungsansätze rekurriert: die Parteiendifferenzhypothese und funktionalistische Ansätze. Dabei lässt die Parteiendifferenzhypothese vermuten, dass sozialpolitische Aktivitäten dort am höchsten sind, wo der Anteil linker Parteien an den Kabinettssitzen hoch ist. Dagegen deutet der Funktionalismus politische Aktivitäten „als politische Reaktion auf veränderte wirtschaftliche Gegebenheiten bzw. auf soziale Probleme und Verwerfungen“ (Lessenich 2000: 43). Demnach wird davon ausgegangen, dass sozialpolitische Aktivitäten dort höher sind, wo der sozioökonomische Problemdruck hoch ist (Problemdruck-Variante). Die „wirtschaftlichen Gegebenheiten“ können allerdings auch darin bestehen, dass eine höhere ökonomische Potenz gesteigerte Sozialausgaben ermöglicht (ökonomische Potenz-Variante). Beide Erklärungsansätze werden im Folgenden untersucht, wobei die Parteiendifferenzthese mit dem SPD-Index (Anteil der SPD an Kabinettssitzen 1990 bis 2005) operationalisiert wird und der sozioökonomische Problemdruck mit den Variablen Arbeitslosenquote und Seniorenquote. Zusätzlich wird das BIP pro Einwohner als Indikator für die ökonomische Potenz integriert.

164

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

Tabelle 11 enthält vier einfache Regressionsmodelle, bei denen die Sozialausgaben der Bundesländer im Jahr 2003 durch die genannten unabhängigen Variablen (SPD-Index, Arbeitslosenquote, BIP/Einwohner, Seniorenquote) erklärt werden sollen. Dabei wird von Modell I bis Modell IV jeweils eine weitere unabhängige Variable ergänzt. Die Reihenfolge, in der zusätzliche Variablen in das Modell hinein genommen werden, folgt dabei der Erklärungskraft dieser Variablen in einer bivariaten Analyse. So wurde als erstes die unabhängige Variable aufgenommen, deren Erklärungskraft in einer bivariaten Analyse am größten ist (BIP/Einwohner) und als letztes diejenige, deren Erklärungskraft am geringsten ist (SPDIndex). Dem Modell zufolge haben sowohl die Arbeitslosenquote als auch das BIP/Einwohner durchgehend einen signifikanten positiven Einfluss auf die Ausgaben und weisen zudem die größte Erklärungskraft auf. Mit höherer wirtschaftlicher Leistungskraft eines Landes wird demnach mehr in soziale Bedürfnisse investiert. Gleichzeitig führt eine hohe Arbeitslosigkeit über den damit erzeugten Problemdruck ebenfalls zu höheren Sozialausgaben. Es ist erkennbar, dass Modell III und Modell IV keine zusätzlichen relevanten Einflussvariablen aufweisen. Die Seniorenquote sowie der SPD-Index können damit kaum zur Erklärung der Variationen beitragen und sind zudem insignifikant. Für die Seniorenquote ist dies auch nicht anders zu erwarten – kann sie sich doch funktionalistisch allenfalls auf einzelne Teilbereiche der Sozialausgaben auswirken (insbesondere Senioren- und Pflegepolitik sowie mit Abstrichen auch Gesundheitspolitik), die aber nur einen Teil der gesamten Sozialausgaben ausmachen. Tabelle 11:

Stufenmodell zu den Determinanten der Sozialausgaben 2003 Modell I

Modell II

Modell III

Modell IV

,024* (1,807)

,049*** (4,077) [,891]

,047*** (3,832) [,856]

,047*** (3,864) [,853]

Arbeitslosenquote

–

64,166*** (3,574) [0,781]

65,524*** (3,612) [,797]

68,026*** (3,763) [,828]

Seniorenquote

–

–

-6003,449 (-,906) [-,168]

-6197,251 (-,945) [-,174]

SPD-Index

–

–

–

3,072 (1,126) [,201]

Konstante

-152,985 (-,433)

-1608,636*** (-3,327)

-476,749 (3,612)

-613,520 (-,461)

R2

,189

,591

,617

,657

N

16

16

16

16

BIP/Einwohner

*** p < 0,01; ** p < 0,05; * p < 0,10 In der ersten Zeile ist jeweils der nicht standardisierte Koeffizient angegeben, darunter die t-Statistik in runden Klammern und in der dritten Zeile der standardisierte Koeffizient in eckigen Klammern. Ausgaben: Ausgaben für soziale Sicherung, soziale Kriegsfolgeaufgaben, Wiedergutmachung pro Kopf in € im Jahr 2003. Es ist die Summe von Landes- und Kommunalausgaben dargestellt. Quelle: Statistisches Bundesamt. Siehe Abbildung 3 in diesem Beitrag.

165

Sozialpolitik in den Bundesländern

Wird der Einfluss der Arbeitslosenquote als der stärksten Determinante der Ausgaben für soziale Sicherung näher betrachtet, lassen sich drei Ländergruppen identifizieren: Die Stadtstaaten, die westdeutschen und die ostdeutschen Flächenländer (Abbildung 7). Die Stadtstaaten unterscheiden sich von den Flächenländern durch ein deutlich höheres Ausgabenniveau.17 West- und ostdeutsche Flächenländer haben vergleichbare Ausgabenniveaus, bilden Abbildung 7:

Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Ausgaben für soziale Sicherung im Jahr 2003

1500,00 BE HB

1200,00

HH

Ausgaben

900,00

600,00

300,00

RP BY BW

ST

TH

SL

BB MV SN

NI

HE NW

0,00 6,00

9,00

12,00

15,00

18,00

21,00

Arbeitslosenquote Anmerkungen: Arbeitslosenquote bezogen auf alle abhängig zivilen Erwerbspersonen 2003. Ausgaben: Ausgaben für soziale Sicherung, soziale Kriegsfolgeaufgaben, Wiedergutmachung pro Kopf in € im Jahr 2003. Es ist die Summe von Landes- und Kommunalausgaben dargestellt. Quelle: BA und Statistisches Bundesamt. Siehe Abbildung 3 in diesem Beitrag.

17 Die unterschiedlichen Mittelwerte der Sozialausgabenniveaus verdeutlichen die Differenz zwischen den Stadtstaaten und den Flächenländern. Die Stadtstaaten haben im Jahr 2003 durchschnittlich ein Ausgabenniveau von 1.288,90 Euro/Einwohner, die ostdeutschen Länder von 337 Euro/Einwohner und die westdeutschen Länder von 228,20 Euro/Einwohner. Damit betrug das Ausgabenniveau der Stadtstaaten knapp das 4-fache der Ausgaben der ostdeutschen Länder und das 5,6-fache der westdeutschen Länder.

166

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

in Bezug auf die Arbeitslosenquote aber zwei getrennte Cluster. Auch der positive Zusammenhang zwischen Ausgaben und Arbeitslosenquote ist innerhalb der drei Cluster größer: Je höher die Arbeitslosenquote war, desto höher waren ebenfalls die Ausgaben. Abbildung 7 veranschaulicht den Zusammenhang. Damit können die Unterschiede zwischen den Ausgaben für soziale Sicherung im Jahr 2003 mit der Funktionalismus-These zum Gutteil erklärt werden. Je höher der Problemdruck in einem Bundesland (hier nur Arbeitslosigkeit), desto höher sind die Sozialausgaben. Außerdem trägt – so die positiv gewendete Funktionalismusthese – die Wirtschaftskraft zur Erklärungskraft des Modells bei. Die Parteiendifferenzthese spielt bei den Ausgaben für soziale Sicherung keine bedeutende Rolle. Welche Erklärungskraft haben die betrachteten Faktoren nun für die einzelnen Politikbereiche? Tabelle 12 gibt einen Überblick über die Zusammenhänge zwischen den Einzelindizes und den erklärenden Variablen. Tabelle 12:

Zusammenhang zwischen den Einzelindizes und den erklärenden Variablen Pflege

SPD-Index Arbeitslosenquote

Krankenhaus

,130

-,459

Kinder- und Jugendhilfe

Gesamtindex

,250

-,040

,422

,499*

,149

,794**

Seniorenquote

,-222

,288

-,203

,158

BIP/Einwohner

-,247

-,291

,209

-,433

Anmerkung: ** p < 0,01; * p < 0,05; Alle Variablen sind ordinal skaliert. Korrelation nach Spearman. 1) Variable „Pflege“ (Infrastrukturindex im Bereich Pflege im Jahr 2005), Variable „Krankenhaus“ (für den Bereich Krankenhausfinanzierung im Jahr 2005) und Variable „Jugendhilfe“ (Ausgaben Jugendhilfe je Einwohner im Jahr 2005): SPD-Index 1990 bis 2005; Arbeitslosenquote für das Jahr 2005; Seniorenquote für das Jahr 2005; BIP/Einwohner für das Jahr 2005. 2) Variable „Gesamtindex“ (Index aus „Pflege“, „Krankenhaus“, „Kinder- und Jugendhilfe“ und „Arbeitsmarkt“): SPD-Index 1990 bis 2005; durchschnittliche Arbeitslosenquote 2005; Seniorenquote für das Jahr 2005; BIP/Einwohner für das Jahr 2005.

Der SPD-Index hat im Bereich Pflege und Jugendhilfe einen positiven Einfluss, im Bereich Krankenhaus einen negativen (!) Einfluss und für den Gesamtindex ist kaum ein Einfluss festzustellen. Damit kann die Parteiendifferenzthese für die Erklärung der Varianz in der Sozialpolitik der Bundesländer allenfalls für bestimmte Bereiche herangezogen werden. Die Arbeitslosenquote hat insgesamt einen starken und teilweise signifikanten Einfluss auf alle untersuchten Bereiche, während die Seniorenquote wiederum positive (Krankenhaus, Gesamtindex) als auch negative (Pflege, Kinder- und Jugendhilfe), aber durchgängig nicht signifikante Einflüsse aufweist. Bemerkenswert ist hierbei insbesondere der negative Zusammenhang zwischen Seniorenquote und Pflegeinfrastruktur, der darauf hinweist, dass die Problemdruckthese für diesen Politikbereich nicht zutreffend ist. Die Wirtschaftskraft hat einen positiven Einfluss im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, das heißt, je höher das BIP je Einwohner im Jahr 2005, desto höher waren ebenfalls die Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe. In allen anderen Bereich ist der Zusammenhang zwischen Wirtschaftskraft und sozialpolitischem Aktivitätsbereich negativ. Dies kann ein Indiz dafür sein, dass höhere

Sozialpolitik in den Bundesländern

167

ökonomische Potenz vor allem in solchen Bereichen wie der Kinder- und Jugendhilfe zum Tragen kommt, in denen funktionale Notwendigkeiten weniger sichtbar sind. Insgesamt zeigt sich, dass alle erklärenden Variablen sowohl positive als auch negative Einflüsse für die unterschiedlichen Sektoren der Sozialpolitik aufweisen. Lediglich der Zusammenhang zwischen der Arbeitslosenquote und den Einzelindizes ist ausnahmslos positiv. Für den Gesamtindex lässt sich feststellen, dass ein positiver Zusammenhang mit den Variablen des sozioökonomischen Problemdrucks (Arbeitslosenquote und Seniorenquote) besteht, ein starker negativer Zusammenhang mit der Wirtschaftskraft des Landes und kaum ein Zusammenhang mit dem Kabinettssitzanteil der SPD. Damit kann abschließend festgehalten werden, dass sowohl bei den Ausgaben für soziale Sicherung als auch bei dem Gesamtindex, der in diesem Beitrag entwickelt wurde, die Parteiendifferenzthese nicht zur Erklärung der Variationen beitragen kann. Der sozioökonomische Problemdruck – und hier insbesondere die Arbeitslosenquote – hat zur Erklärung der Variationen mehr Aussagekraft. Wurde am Ende von Abschnitt 4 insbesondere festgehalten, dass politikfeldübergreifende Ländereffekte zu erkennen sind, weisen die Analysen dieses Abschnitts nochmals darauf hin, dass zugleich auch politikfeldspezifische Eigenheiten zu beachten sind.

6

Föderalisierung sozialpolitischer Aufgaben

Wie bereits in Abschnitt 2 angesprochen, wird das Kompetenzgeflecht zwischen Bund und Ländern derzeit gerade neu zugeschnitten. Wie verändert sich also der Gestaltungsspielraum der Bundesländer in der Sozialpolitik durch diese Reform? Hierfür ist die Herauslösung des Heimrechts aus der öffentlichen Fürsorge und damit aus der Bundeskompetenz von besonderem Interesse, da sich an dieser Stelle neue Handlungsspielräume im Bereich der Sozialpolitik für die Bundesländer ergeben. Dies gilt ebenfalls für den Bereich der Kinderund Jugendhilfe, da die Länder hier Abweichungsmöglichkeiten zu den Regelungen des Bundes erhalten. In welcher Weise die Länder ihre neuen Gestaltungsspielräume nutzen werden, kann derzeit noch nicht abschließend beurteilt werden, an dieser Stelle sollen jedoch die wichtigsten neuen Gegebenheiten vorgestellt werden.

6.1 Heimrecht Mit Inkrafttreten der Föderalismusreform 2006 wurde die Gesetzgebungszuständigkeit für den öffentlich-rechtlichen Teil des Heimrechts aus der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 72 Abs. 1 Nr. 7 GG herausgelöst und auf die Länder übertragen. Nach Art. 125a Abs. 1 GG gilt Bundesrecht so lange fort, bis es durch Landesrecht ersetzt wird. Die Überführung des Heimrechts in die Kompetenz der Länder wurde bereits in der öffentlichen Anhörung (BT 2006b) zur Föderalismusreform auch von Experten kritisiert. Zum einen ist eine Verlagerung rechtlich nicht ohne weiteres möglich, da sich das Heimrecht aus unterschiedlichen Rechtsmaterien zusammensetzt. So muss das Heimvertragsrecht Bundesrecht bleiben, da es dem bürgerlichen Recht zugeordnet ist. Durch die Bundesverantwortung für das Zivilrecht kann damit nicht das gesamte Heimrecht föderalisiert werden

168

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

(vgl. Igl und Klie in BT 2006b: 7f.). Auch nach Inkrafttreten der Föderalismusreform ist jedoch nicht eindeutig, welche Kompetenzen beim Bund bleiben und welche den Ländern übertragen werden. Hermann Kues, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, stellte im Oktober 2006 fest, dass der öffentlich-rechtliche Teil des Heimrechts an die Länder übertragen worden ist und der privatrechtliche Teil in der Kompetenz des Bundes verbleibt. Das Heimrecht ist „nicht vollständig auf die Länder übertragen worden […]. Nach Auffassung der Bundesregierung bedarf es allerdings der raschen Klärung, welche Teile des Heimrechts weiterhin in den Kompetenzbereich des Bundes gehören“ (BT 2006a: 5434). Aber auch hinsichtlich inhaltlicher Gesichtspunkte wurden Bedenken geäußert. Demnach wird mit einer Qualitätsminderung gerechnet, besonders da Baden-Württemberg bereits 2004 einen Gesetzesantrag in den Bundesrat einbrachte, der eine Verringerung der Fachkraftquote vorsieht (BR-Drs. 709/04). Kritiker sehen die Sicherung bundeseinheitlicher Qualitätsstandards gefährdet und befürchten zudem eine Regelungsunklarheit sowie überflüssige Bürokratie (vgl. Stellungnahmen von Klie und Igl, in: BT 2006b: 119ff.). Befürworter der Übertragung der Heimrechtskompetenzen sehen dagegen einen Bürokratieabbau, da der Bund entlastet wird. Zudem wird kein Qualitätsverlust aufgrund der Wettbewerbsorientierung von Ländern und Einrichtungen befürchtet und ebenfalls kein Transparenzverlust erwartet (vgl. dazu Stellungnahme von Dr. Eduard Kunz, Leitender Ministerialrat a.D., in: BT 2006b: 134ff). Auf der Arbeits- und Sozialministerkonferenz im November 2006 haben sich die Länder mit der Erörterung von Elementen zur Vorbereitung von Heimgesetzen der Länder beschäftigt (vgl. ASMK 2006). Leitgedanken und Inhalte für Länderregelungen zur Ablösung des Heimgesetzes wurden zusammen von den Sozialressorts der Länder Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein erarbeitet, um Gemeinsamkeiten festzustellen und Handlungsmöglichkeiten für die Diskussion in den Landesparlamenten für das Jahr 2007 zu entwickeln. Nordrhein-Westfalen hat bereits Eckpunkte für ein Landesgesetz ausgearbeitet (Presseerklärung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales vom 02.04.200718) und möchte bis 2009 ein Heimgesetz für NRW schaffen. Auch das bayerische Kabinett hat im März 2007 Eckpunkte eines neuen Heimgesetzes beschlossen (vgl. BT-Drs. 16/4847). Es ist davon auszugehen, dass andere Länder bald folgen werden.

6.2 Kinder- und Jugendhilfe Das Kinder- und Jugendrecht bleibt unverändert Bestandteil der konkurrierenden Gesetzgebung im Rahmen der öffentlichen Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG). Damit ist sowohl die Bundesebene als auch die Länderebene aufgrund der Ausführungsgesetze weiterhin an der Gestaltung der Kinder- und Jugendhilfe beteiligt. Allerdings wirken sich die Änderungen des Art. 84 Abs. 1 GG auf diesen Bereich hinsichtlich der Behördenregelungen aus. Durch die Neufassung verzichten die Länder auf 18 http://www.mags.nrw.de/06_Service/001_Presse/001_Pressemitteilungen/pm2007/070402/index.html.

Sozialpolitik in den Bundesländern

169

erhebliche Mitwirkungsrechte durch den Bundesrat. Zugleich erhalten sie aber die Möglichkeit, vom Bundesrecht abweichende Regelungen zu treffen. Auch in dieser Neugestaltung sehen Experten sowohl Vor- als auch Nachteile: Wabnitz rechnet mit „bundesweit sehr ungleichen Rechtssituationen“ (Stellungnahme, in: BT 2006b: 168) und befürchtet eine mögliche Abschaffung der Jugendämter sowie der Jugendhilfeausschüsse, der Landesjugendämter und -hilfeausschüsse sowie den Wegfall bundeseinheitlicher Verfahrensbestimmungen. Diese Überlegungen führt er auf mehrere Gesetzesinitiativen der Länder aus den vergangenen Jahren zurück (vgl. Stellungnahme von Wabnitz in BT 2006b: 168 und Münder, ebd. 146ff.). Pitschas sieht demgegenüber das Potenzial und die Vorteile in der Neufassung. „Schädliche Auswirkungen sind durch die demgemäße Neugestaltung des Art. 84 GG (neu) nicht zu befürchten. Vielmehr wird in richtiger Weise dem gliedstaatlichen Wettbewerb in der Kinder- und Jugendhilfe institutioneller Raum eingeräumt“ (vgl. Stellungnahme von Pitschas, in: BT 2006b: 158). Die Aufgabe des staatlichen Wächteramtes nach Art. 6 GG muss in jeden Fall erfüllt werden. Auf der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister bekräftigten die Länder, dass sie „die neue Abweichungsmöglichkeit sorgsam nutzen werden“ (ASMK 2006: 23).

7

Schlussbemerkungen

Die Darstellung der historischen Entwicklung von Föderalismus und Sozialpolitik hat kontinuierliche Zentralisierungstendenzen offenbart, infolge deren die Bundesländer eigenständige Gesetzgebungskompetenzen verloren haben. Gleichzeitig ist der Einfluss der Länder in der (Bundes-)Gesetzgebung aber gestiegen, nicht zuletzt weil in den letzten Jahren gegenläufige parteipolitische Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat eher die Regel als die Ausnahme waren. Diese Situation hat nach vorherrschender Meinung zu einer Selbstblockade des föderalen Systems geführt, der durch die Föderalismusreform begegnet werden soll. Die Föderalismusreform I soll eine Entflechtung bewirken, indem zum einen den Ländern weniger Einfluss durch den Bundesrat zugesprochen wird. Zum anderen werden den Ländern jedoch neue Gesetzgebungszuständigkeiten übertragen. Vorstehend konnte gezeigt werden, dass die Bundesländer diese neuen Zuständigkeiten im Bereich der Sozialpolitik wahrnehmen werden und aktiv ausgestalten. Insgesamt haben die Bundesländer allerdings lediglich einen geringen verfassungsrechtlichen Spielraum im Rahmen der Sozialpolitik. Dieser Spielraum wird jedoch intensiv genutzt und die Sozialpolitik auf Länderebene differenziert ausgestaltet. Die Ausgestaltungsmöglichkeiten wurden anhand der relevanten sozialpolitischen Aktivitätsbereiche dargestellt. Dabei wurde das Blindengeld als Beispiel für eine freiwillige Maßnahme der Bundesländer, die Langzeitpflege, die Krankenhausfinanzierung sowie die Kinder- und Jugendhilfe vorgestellt. Zu jedem sozialpolitischen Aktivitätsbereich, der sowohl in seinem Gestaltungsspielraum als auch in der quantitativen Bedeutung einen hohen Einfluss aufweist, wurde ein Aktivitätsindex gebildet. Diese positiv miteinander korrelierten Indizes wurden zu einem Gesamtindex zusammengezogen, der sich aus den Bereichen Pflege, Krankenhausfinanzierung, Kinder- und Jugendhilfe und – zusätzlich – Arbeitsmarkt zusammensetzt und der das Aktivitätsniveau der Bundesländer in den für die Fragestellung relevanten

170

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

Sozialpolitikfeldern widerspiegelt. Es wurde festgestellt, dass sich anhand des Gesamtindexes zwei Ländergruppen unterscheiden lassen: die westdeutschen Flächenländer und die Ostländer mit den Stadtstaaten. Zusätzlich wurde gezeigt, dass nicht nur Ländereffekte, sondern auch sektorspezifische Effekte von Bedeutung sind. Zur Erklärung der differierenden Aktivitätsniveaus der Bundesländer wurde zum einen die Parteiendifferenzhypothese herangezogen, die jedoch allenfalls in geringem Umfang zur Erklärung der unterschiedlichen Aktivitätsniveaus der Länder für einzelne Sektoren beiträgt, für die Erklärung des Gesamtindex und der Ausgaben für soziale Sicherung jedoch keine Rolle spielt. Die zum anderen zur Erklärung herangezogene Funktionalismus-These greift bei der Erklärung der Variationen im Bundesländervergleich besser. Die unabhängigen Variablen BIP/Einwohner und Arbeitslosenquote erklären in einem Stufenmodell zu den Determinanten der Sozialausgaben 2003 die Varianz am besten. Für die Einflüsse auf den Gesamtindex zeigte sich insbesondere die Arbeitslosenquote als Indikator für den ökonomischen Problemdruck als besonders prägend, während der Einfluss der Seniorenquote als Ausdruck des demographischen Problemdrucks und das BIP/Kopf als Ausdruck der ökonomischen Potenz des Landes keine signifikanten Einflüsse auf Einzelindizes oder den Gesamtindex aufweisen.

Literatur Alber, Jens, 1987: Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa. Frankfurt. Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK), 2006: 83. Konferenz der Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder am 16./17. November 2006 in PerlNennig, Ergebnisprotokoll, Internet: http://www.berlin.de/imperia/md/content/mk/asmk/asmk_ 83_2006.pdf. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), 2006a: Übersicht über das Sozialrecht 2006. Bonn. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), 2006b: Sozialbudget 2005. Bonn. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), 2006: Erster Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend über die Situation der Heime und die Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner, Stand: 15.08.2006. Bundesministerium für Gesundheit (BMGS), 2004: Dritter Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung, November 2004. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), 2006: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2006. Bundesrat, BR-Drs. 709/04, 16.09.2004. Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), 2006: Bestandsaufnahme zur Krankenhausplanung und Investitionsfinanzierung in den Bundesländern, http://www.dkgev.de/pdf/1047.pdf. Deutscher Bundestag (BT), 2006a: Plenarprotokoll 16/56, 18.10.2006. Deutscher Bundestag (BT), 2006b: 19. Sitzung, Gemeinsame öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, Berlin, 2. Juni 2006. Deutscher Bundestag, 2007: BT-Drs. 16/4847, 28.03.2007. Eifert, Barbara/Rothgang, Heinz, 1997: Die Koordinierung der beteiligten Akteure im Pflege-Versicherungsgesetz und in den Landespflegegesetzen, in: Zängl, Peter/Rosendahl, Bernhard (Hg.): Umsetzung des Pflege-Versicherungsgesetzes – Erfahrungsberichte aus kommunalen Pflegekonferenzen

Sozialpolitik in den Bundesländern

171

in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, 17-31. Eifert, Barbara/Rothgang, Heinz, 1999: Marktliche und planerische Elemente bei der Umsetzung des PflegeVG auf Länderebene, in: Zeitschrift für Sozialreform 45, 447-464. Frey, Martin/Frerich, Johannes, 1993: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. München. Georgii, Harald/Borhanian, Sarab, 2006: Zustimmungsgesetze nach der Föderalismusreform. Wie hätte sich der Anteil der Zustimmungsgesetze verändert, wenn die vorgeschlagene Reform bereits 1998 in Kraft gewesen wäre? Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Deutscher Bundestag, WD 3-37/06 und 123/06. Igl, Gerhard/Welti, Felix, 2007: Sozialrecht. Ein Studienbuch. Neuwied. Kaufmann, Franz-Xaver, 1997: Herausforderungen des Sozialstaates. Frankfurt a.M. Lehmbruch, Gerhard, 2002: Der unitarische Bundesstaat in Deutschland: Pfadabhängigkeit und Wandel, in: Benz, Arthur/Lehmbruch, Gerhard (Hg.): Föderalismus. Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive. PVS, Sonderheft 32/2001. Wiesbaden, 53-110. Lessenich, Stephan, 2000: Soziologische Erklärungsansätze zu Entstehung und Funktion des Sozialstaats, in: Allmendinger, Jutta/Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang (Hg.): Soziologie des Sozialstaats. Weinheim/München, 39-78. Manow, Philip, 2005: Germany. Co-operative federalism and the overgrazing of the fiscal commons, in: Obinger, Herbert/Leibfried, Stephan/Castles, Francis G. (Hg.): Federalism and the Welfare State New World and European Experiences. Cambridge, 222-262. Münch, Ursula, 1997: Sozialpolitik und Föderalismus: zur Dynamik der Aufgabenverteilung im sozialen Bundesstaat. Opladen. Obinger, Herbert/Leibfried, Stephan/Castles, Francis G. (Hg), 2005: Federalism and the Welfare State New World and European Experiences, Cambridge. Rothgang, Heinz, 2000a: Pflegebedarfsplanung in Deutschland. Gegenstand, Bilanz und Perspektiven, in: Zeitschrift für Sozialreform, 46, 1003-1021. Rothgang, Heinz, 2000b: Wettbewerb in der Pflegeversicherung, in: Igl, Gerhard (Hg.): Das Gesundheitswesen in der Wettbewerbsordnung. Wiesbaden, 147-172. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian, 1980: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Stuttgart. Schmid, Josef, 2002: Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat in Bundesstaaten, in: Benz, Arthur/Lehmbruch, Gerhard (Hg.): Föderalismus. Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive. PVS, Sonderheft 32/2001. Wiesbaden, 280-305. Schmid, Josef/Blancke, Susanne, 2006: Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den Bundesländern. Randerscheinung oder Laboratorium?, in: Schneider, Herbert/Wehling, Hans-Georg (Hg.): Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder. Wiesbaden, 295-315. Schmidt, Manfred G., 2000: Thesen zur Reformpolitik im Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland. ZeS-Arbeitspapier Nr. 4/2000, Universität Bremen. Schmidt, Manfred G., ³2005: Sozialpolitik in Deutschland: Historische Entwicklung und internationaler Vergleich. Wiesbaden. Schölkopf, Martin, 1998: Altenpflegepolitik in der Bundesrepublik Deutschland: Zwischen Bedarfsdeckung und Marginalisierung. Eine Analyse der Expansion der Pflegedienste im Bundesländervergleich. Dissertation, Universität Konstanz. Simon, Michael, 2000: Krankenhauspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Historische Entwicklung und Probleme der politischen Steuerung stationärer Krankenhausversorgung. Opladen/Wiesbaden. Statistisches Bundesamt, 2005: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe, Maßnahmen der Jugendarbeit 2004.

172

Heinz Rothgang und Anna Caroline Wessel

Statistisches Bundesamt, 2006: Statistisches Jahrbuch 2006 für die Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden. Statistisches Bundesamt, 2007: Pflegestatistik 2005, Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung, Ländervergleich – Pflegebedürftige, Pflegeheime, ambulante Pflegedienste. Wiesbaden. Statistisches Bundesamt, o.J.: Grunddaten der Krankenhäuser, diverse Jahrgänge. Statistisches Bundesamt, o.J.: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe, Ausgaben und Einnahmen, diverse Jahrgänge. Tsebelis, George, 1995: Decision Making in Political Systems: Veto Players in Presidentialism, Parliamentarism, Multicameralism and Multipartyism, in: British Journal of Political Science 25, 289-325. Tsebelis, George, 2002: Veto Players: How Political Institutions Work. New York. Tsebelis, George/Money, Jeannette, 1997: Bicameralism. Cambridge. Wehling, Hans-Georg, 2006: Landespolitik und Länderpolitik im föderalistischen System Deutschlands – zur Einführung, in: Schneider, Herbert/Wehling, Hans-Georg (Hg.): Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder. Wiesbaden, 7-21.

Finanzpolitik in den Ländern Achim Hildebrandt

1

Einleitung

In den vergangenen Monaten hat sich in der Debatte um die Länderhaushalte ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Infolge des konjunkturellen Aufschwungs stiegen die Steuereinnahmen und die Haushaltslage begann sich zu entspannen. Paradigmatisch hierfür steht Berlin: Noch im Oktober 2006 wurde Berlins Klage auf Hilfe in einer Haushaltsnotlage vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt (vgl. Abschnitt 6), bereits für das Jahr 2009 plant das Land einen ausgeglichenen Haushalt.1 Diese Entwicklung steht in einem scharfen Gegensatz zur fiskalischen Situation der vergangenen Jahre: Noch 2004 befand sich die Kreditaufnahme in zehn von sechzehn Landeshaushalten oberhalb der von den Verfassungen definierten Regelgrenze (vgl. Abschnitt 4). Die Regierungen dieser Länder führten mitunter außergewöhnliche Begründungen an. So griff der nordrhein-westfälische Finanzminister Linssen mit der objektiven Unmöglichkeit2 auf einen Terminus des Privatrechts zurück und führte in den Haushaltsverhandlungen aus: „Es ist uns nach wie vor objektiv unmöglich, unsere in der Landesverfassung verankerten Aufgaben zu erfüllen und gleichzeitig die Regelobergrenze der Kreditaufnahme einzuhalten“ (Linssen 2006). Diese Veränderungen in der Wahrnehmung verdeutlichen die Konjunktursensibilität der Haushalte und zeigen die Notwendigkeit einer längerfristig angelegten Analyse der Länderfinanzen auf. Der Beitrag widmet sich dieser Analyse anhand zentraler haushaltswirtschaftlicher Kennziffern. Grundlage der Untersuchung muss zunächst eine begriffliche Klärung sein. Unter dem Begriff der Finanzpolitik wird die „Gesamtheit politisch-administrativer Entscheidungsprozesse und Maßnahmen, die sich auf die Gestaltung der Staatsfinanzen beziehen“, gefasst (Thibaut 2004: 237). In analytischer Hinsicht kann zwischen Entscheidungen über die Höhe und die Struktur von Einnahmen und Ausgaben differenziert werden. Finanzpolitik unterscheidet sich grundlegend von anderen Politikfeldern: Ihr Gegenstand ist nicht ein Objektbereich der wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Umwelt des politischen Systems, der politisch gesteuert oder gestaltet werden soll, wie etwa bei der Wirtschafts- oder Umweltpolitik (Bräuer 2005: 24). Die Finanzpolitik dient vielmehr der Extraktion und Bereitstellung 1 http://www.berlin.de/sen/finanzen/presse/archiv/20070515.1400.77969.html, Zugriff am 6.08.2007. 2 „Die innerhalb eines Schuldverhältnisses zu erbringende Leistung ist unmöglich, wenn sie vom Schuldner endgültig nicht erbracht werden kann […]. Bei der Unmöglichkeit einer Leistung ist zwischen objektiver U. (die L. ist niemandem möglich, z.B. die Sache ist untergegangen) und subjektiver U. (auch Unvermögen genannt, die L. ist nur dem Schuldner unmöglich, z.B. die Sache gehört einem Dritten) […] zu unterscheiden“ (Creifelds 1997: 1306).

174

Achim Hildebrandt

der notwendigen finanziellen Ressourcen, um die Steuerungsbemühungen in den anderen Politikfeldern zu ermöglichen. Aufgrund des Querschnittscharakters der Finanzpolitik könnten sich potentiell vielfältige Überschneidungen mit anderen Beiträgen dieses Bandes ergeben, welche die Ausgaben in den jeweiligen Politikfeldern analysieren (siehe die Beiträge von Rothgang/Wessel, Schmid/Hedrich, Schöller/Ruhrort und Wolf in diesem Band). Daher fokussiert dieser Beitrag auf die Einnahmenseite der Länderhaushalte.

2

Finanzpolitik im föderalen System

Einer Analyse der bundesstaatlichen Finanzverfassung muss eine Analyse der bundesstaatlichen Aufgabenverteilung vorausgehen, da die Finanzverfassung nur sekundären Charakter hat: Sie hat die Aufgabe für eine angemessene Finanzausstattung aller Glieder der bundesstaatlichen Gemeinschaft zu sorgen, wobei die Angemessenheit an den von der Verfassung übertragenen Aufgaben zu messen ist. Aufgrund ihrer dienenden Funktion wird die Finanzverfassung auch als Folgeverfassung bezeichnet (Bräuer 2005: 23). Hinsichtlich der bundesstaatlichen Aufgabenverteilung soll an dieser Stelle nicht noch einmal das sattsam bekannte Phänomen der historisch gewachsenen, funktionalen Aufgabenverteilung im deutschen Verflechtungsföderalismus ausgeführt werden, mit seiner weitgehenden Konzentration der Gesetzgebung auf Bundesebene und der korrespondierenden Gesetzesausführung auf Landesebene (Lehmbruch 2002). Stattdessen wird nur auf zwei fiskalisch wirksame Folgen dieser Verflechtung hingewiesen: (1) Die Verantwortlichkeit für Gesetzesausführung und Verwaltung impliziert einen im Vergleich zum Bund deutlich höheren Personalbedarf bei den Ländern, wie ein Blick auf die Personalkostenquote verdeutlicht, d.h. den prozentualen Anteil der Personalkosten an den Gesamtausgaben. In den Jahren 1995 bis 2004, dem Untersuchungszeitraum dieses Beitrages, betrug die Personalkostenquote im Bund ca. 10%, in den aggregierten Haushalten3 von Ländern und Gemeinden jedoch 38%. Da Personalausgaben deutlich weniger kurzfristig beeinflussbar sind als Sach- und Investitionsausgaben ergibt sich eine erste Rigidität der Länderhaushalte, beziehungsweise ein begrenzter finanzpolitischer Handlungsspielraum der Landesregierungen. (2) Bei einer funktionalen Trennung von Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeit muss in der Verfassung geklärt werden, wer die Kosten einer Maßnahme trägt. Derjenige, der sie veranlasst (Gesetzgebungskausalität) oder derjenige, der sie ausführt (Vollzugskausalität). Das Grundgesetz normiert in Art. 104 a I GG die Vollzugskausalität. Jede föderale Einheit hat die finanziellen Lasten zu tragen, die sich aus der jeweiligen Aufgabenzustän-

3 Hier, wie auch bei der folgenden Analyse der Pro-Kopf-Verschuldung und der Primärsaldi werden die Haushaltsdaten der Länder und ihrer Kommunen aus zwei Gründen aggregiert. Zum einen um die Vergleichbarkeit zwischen Flächenländern und Stadtstaaten herzustellen, da die Stadtstaaten Land und Kommune zugleich sind. Zum anderen aber auch um die Vergleichbarkeit innerhalb der Flächenländer abzusichern, da die Flächenländer unterschiedliche Kommunalisierungsgrade aufweisen, d.h. in variierendem Ausmaß ihren Gemeinden Aufgaben und Finanzmittel zuweisen (Hennecke 2000: 370).

Finanzpolitik in den Ländern

175

digkeit ergeben. Das Grundgesetz sieht zwar eine Reihe von Ausnahmen vor,4 im Prinzip aber gilt: „Nicht wer bestellt bezahlt, sondern umgekehrt, wer ausführt trägt die Kosten“ (Renzsch 2005: 15). Die Vollzugskausalität ermöglicht es dem Bund den Ländern durch Gesetz neue Aufgaben zuzuweisen, beziehungsweise bestehende Aufgaben auszuweiten, ohne zugleich für die finanziellen Folgen aufkommen zu müssen (Katz 2006: 59). Die Vollzugskausalität zeitigt somit ebenfalls massive Rigiditäten der Länderhaushalte. Auch wenn der Bund nicht unmittelbar finanziell betroffen ist, so steht er doch mittelbar in der Pflicht, den Ländern eine hinreichende und weitgehend homogene Finanzausstattung zu gewähren, damit sie die bundeseinheitlich definierten Aufgaben bewältigen können (Renzsch 2005: 10). So wirkt die bundesstaatliche Aufgabenverteilung indirekt auch auf die Einnahmenseite der Länderhaushalte, und das heißt, da der moderne Staat ein Steuerstaat ist (Schuppert 2003), auf die Verteilung der Steuereinnahmen. Hinsichtlich der Steuerpolitik im Bundesstaat kann zwischen Steuergesetzgebungs-, Steuerertrags- und Steuerverwaltungskompetenzen unterschieden werden (Hennecke 2000). Da sich dieser Beitrag mit politischen Entscheidungsprozessen beschäftigt, bleiben die Steuerverwaltungskompetenzen unberücksichtigt.5 Die Verteilung der Steuergesetzgebungskompetenzen folgt dem dominanten Muster einer Zentralisierung auf der Bundesebene. Den Ländern verbleibt nur ein kleiner Spielraum, den sie für quantitativ unbedeutende Steuern nutzen, welche primär Lenkungszwecken dienen, wie etwa die Zweitwohnungssteuer oder die Verpackungssteuer auf Einweggeschirr in der Gastronomie (Kesper 1998: 96; Weinzen 2000: 188ff.). Die Länder können somit faktisch nicht autonom über Art und Umfang der Steuern entscheiden, die auf Ihrem Territorium erhoben werden. Sie haben jedoch Mitentscheidungsrechte über den Bundesrat: „Bundesgesetze über Steuern, deren Aufkommen den Ländern oder den Gemeinden (Gemeindeverbänden) ganz oder zum Teil zufließt, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates“ (Art. 105 III GG). Hinsichtlich der Steuerertragskompetenzen ist zu konstatieren, dass der Steuerverbund aus Gemeinschaftssteuern wie etwa der Lohn- und der Umsatzsteuer quantitativ deutlich überwiegt. Der Ertrag dieser Gemeinschaftssteuern wird zwischen Bund, Ländern und Gemeinden aufgeteilt, im Jahr 2004 machten sie 66,9% des gesamten Steueraufkommens aus. Nur 4,5% des Steueraufkommens besteht aus Steuern, deren Ertrag ausschließlich den Ländern zusteht. Zu diesen Ländersteuern gehören vor allem die Kfz- und die Grunderwerbssteuer.6 Das Steueraufkommen der Länder wird in dem vielfach beschriebenen und stark kritisierten (Homburg 1994, Huber/Lichtblau 1998) föderalen Ausgleichssystem massiv umverteilt. Die Ratio des Ausgleichssystems liegt zum einen in der zuvor beschriebenen bundeseinheitlichen Aufgabenzuweisung an die Länder, welche eine weitgehend homogene Finanzausstattung erforderlich macht. Zum anderen liegt sie in dominanten, unitarischen Ordnungsvorstellungen, welche in dem Postulat der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnis-

4 So etwa die Bundesauftragsverwaltung (Art. 104a II GG), sowie eine Beteiligung des Bundes an Geldleistungen, die Länder aufgrund von Bundesgesetzen zu erbringen haben (Art. 104 a III GG). 5 Siehe dazu: Hennecke 2000: 307-315. 6 19,1% des Steueraufkommens besteht aus Bundessteuern (u.a. Mineralöl- und Tabaksteuer), 8,8% aus Gemeindesteuern (z.B. Gewerbe- und Grundsteuer). Alle Angaben beruhen auf eigenen Berechnungen auf Basis der kassenmäßigen Steuereinnahmen (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2006: 288).

176

Achim Hildebrandt

se“ (Artikel 106 III GG) beziehungsweise „der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (Art.72 II GG) im Grundgesetz Niederschlag fanden.7 Der Ausgleich vollzieht sich in drei Stufen:8 (1) Dem Umsatzsteuervorwegausgleich, bei dem maximal ein Viertel des Länderanteils an der Umsatzsteuer an finanzschwache Länder transferiert wird.9 Diese Stufe ist weitgehend unbekannt, gerade für die ostdeutschen Länder jedoch von einer hohen Bedeutung: So hebt der Umsatzsteuervorwegausgleich beispielsweise Mecklenburg-Vorpommern von 39% auf 91% der durchschnittlichen Finanzkraft aller Länder (Finanzministerium Mecklenburg-Vorpommern 2005: 8). (2) Der horizontale Länderfinanzausgleich, bei dem derzeit fünf Geberländer Transfers an die übrigen elf Länder leisten. Der horizontale Ausgleich war Gegenstand einer Reihe von Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht (1986, 1992, 1999). Eine detaillierte Betrachtung der Lastenverteilung unter den Geberländern fördert das überraschende Ergebnis zu Tage, dass die stärkste Belastung pro Einwohner nicht etwa bei den schärfsten Kritikern aus Baden-Württemberg oder Bayern vorliegt, mit einer durchschnittlichen jährlichen Belastung von 166 Euro bzw. 146 Euro pro Einwohner, sondern bei Hamburg (194 Euro) sowie mit weitem Abstand Hessen (317 Euro).10 (3) Die dritte Stufe bilden Bundesergänzungszuweisungen, die im Jahr 2004 mit einem Volumen von 15,4 Milliarden Euro mehr als doppelt so hoch waren wie die beiden vorangegangenen Ausgleichsstufen zusammen genommen.11 Die Organisationsprinzipien des Ausgleichssystems sind zum einen der Ausgleich unterdurchschnittlicher Finanzausstattung, zum anderen die Berücksichtigung besonderer finanzieller Bedarfe einiger Länder. Hierbei werden vor allem die ostdeutschen Länder und die Stadtstaaten berücksichtigt (vgl. Abschnitt 5). In welchem Ausmaß das Transfersystem die Steuereinnahmen umverteilt und einer politisch definierten Gestaltung unterzieht, zeigt ein Vergleich der Pro-Kopf-Einnahmen nach Ländergruppen. Im Untersuchungszeitraum hatten die westdeutschen Flächenländer durchschnittliche jährliche Einnahmen in Höhe von 3709 Euro pro Kopf (=100), die ostdeutschen Länder von 4280 Euro (=115), die drei Stadtstaaten hingegen von 4932 Euro (=133). Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Steuereinnahmen für die Länder letztlich ein extern gesetztes Datum sind. Als autonom gestaltbare Einnahmequellen verbleiben den Bundesländern im Wesentlichen die Einnahmen aus Vermögensveräußerungen sowie die Kreditaufnahme. Die Einnahmen aus Vemögensveräußerungen sind jedoch keine dauerhaften Einnahmen, da sie ja

7 Häde (2006) weist zu Recht darauf hin, dass „eine ausdrückliche und allgemeine Forderung der Verfassung nach einheitlichen und gleichwertigen Lebensverhältnissen im Bundesgebiet“ (Häde 2006: 565) nicht existiert. Die einheitlichen beziehungsweise gleichwertigen Lebensverhältnisse werden vielmehr als Kriterien für die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens und für die konkurrierende Gesetzgebung erwähnt. Auch wenn die beiden Prinzipien formalrechtlich auf diese Detailregelungen des Grundgesetzes limitiert sind, so können sie doch im politischen Diskurs eine größere Geltung als quasi-allgemeine Prinzipien des deutschen Föderalismus beanspruchen. 8 Zum 1.01.2005 wurde der Länderfinanzausgleich in Reaktion auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts reformiert (Bräuer 2005: 257ff.). Im Folgenden wird nur die Grundstruktur des Ausgleichssystems skizziert, die von der nicht sehr tiefgreifenden Reform unberührt blieb. 9 Das übrige Aufkommen der Umsatzsteuer wird nach der Einwohnerzahl auf die Länder verteilt. 10 Deutlich geringer ist die relative Belastung von Nordrhein-Westfalen mit einem durchschnittlichen jährlichen Betrag von 62 Euro pro Einwohner. Alle Angaben beziehen sich auf die Jahre 1995 bis 2004 und beruhen auf eigenen Berechnungen auf Basis von Daten des Statistischen Bundesamtes. 11 Umsatzsteuervorwegausgleich: 6,5 Milliarden Euro, horizontaler Ausgleich 6,8 Millarden Euro, Quelle: Statistisches Bundesamt.

177

Finanzpolitik in den Ländern

aus der Auflösung eines Kapitalstockes resultieren. Die Kreditaufnahme kann hingegen in moderatem Ausmaß über einen längeren Zeitraum als Einnahmequelle genutzt werden. Für den finanzpolitischen Handlungsspielraum der Landesregierungen hat sie eine janusköpfige Bedeutung: Kurzfristig erhöht sie den Handlungsspielraum, langfristig schränkt sie ihn jedoch ein aufgrund der Belastungen des Schuldendienstes. Wegen ihrer zentralen Bedeutung als autonom gestaltbare Einnahmequelle und wegen ihrer potentiell negativen Auswirkungen bei übermäßiger Nutzung steht die Kreditaufnahme im Zentrum der folgenden Untersuchung.

3

Die fiskalische Situation der Länderhaushalte

Die Pro-Kopf-Verschuldung in Euro (siehe Spalte 2 in Tabelle 1) zeigt, dass die Länder in der Vergangenheit die Kreditfinanzierung in höchst unterschiedlichem Ausmaß genutzt haben. So ist Bremen fast siebenmal so hoch verschuldet wie Bayern. Generell weisen die drei Stadtstaaten eine deutlich höhere Verschuldung auf als die dreizehn Flächenländer, Tabelle 1:

Finanzielle Situation der Bundesländer

Land Bayern Sachsen Baden-Württemberg Hessen Niedersachsen Brandenburg Mecklenburg-Vorpommern Rheinland-Pfalz Nordrhein-Westfalen Thüringen Schleswig-Holstein Sachsen-Anhalt Saarland Hamburg Berlin Bremen Ø Westländer (N=8) Ø Ostländer (N=5) Ø Stadtstaaten (N=3) Ø Alle (N=16)

Pro-Kopf-Verschuldung in € (2006)1

Ø Primärsaldi in € (1995-2004) 2

3070 3778 4479 6224 7053 7357 7383 7443 7583 7978 8568 9154 9262 12367 17354 20149 6710 7130 16623 8700

-86 -49 -78 -48 -53 -214 -319 -107 -60 -252 -31 -297 -207 -240 -805 -859 -84 -226 -635 -232

1 Pro-Kopf-Verschuldung in Euro am 31.12.2006 (Kreditmarktschulden im weiteren Sinne), Quelle: Statistisches Bundesamt. Die Werte beziehen sich auf die aggregierten Haushalte von Ländern und Kommunen. 2 Durchschnittliche Pro-Kopf-Primärsaldi in Euro 1995-2004. Eigene Berechnungen auf Basis von Daten des Statistischen Bundesamtes. Die Werte beziehen sich auf die aggregierten Haushalte von Ländern und Kommunen.

178

Achim Hildebrandt

wobei sich die westlichen und östlichen Länder bei einem leichten Vorsprung der Letzteren kaum unterscheiden. Diese geringen Unterschiede überraschen insofern, als dass die ostdeutschen Länder bei ihrer Gründung im Jahr 1990 praktisch schuldenfrei waren. Innerhalb der Gruppe der ostdeutschen Länder zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen dem niedrig verschuldeten Sachsen und den übrigen vier Ländern. Insgesamt verweist die Betrachtung dieses Indikators auf eine hohe, erklärungsrelevante Varianz. Für die theoriegeleitete, makroquantitative Analyse der Finanzpolitik ist die Pro-KopfVerschuldung allerdings kein geeigneter Indikator, da der Schuldenstand der ostdeutschen Länder aufgrund ihrer viel späteren Gründung nicht sinnvoll mit dem der übrigen Länder verglichen werden kann. Daher muss der Untersuchungszeitraum auf die neunziger Jahre begrenzt werden, genauer gesagt auf die Jahre nach 1995. Bis 1994 erhielten die ostdeutschen Länder Zuweisungen aus dem Fonds Deutsche Einheit, einem überwiegend kreditfinanzierten Sondervermögen des Bundes. Diese Zuweisungen reichten bei weitem nicht aus, um den hohen Finanzbedarf in den ersten Jahren nach der Vereinigung zu decken, so dass in diesem Zeitraum die Verschuldung der neuen Länder und auch Berlins rapide anstieg. In Berlin wurde in diesen Jahren der Bundeszuschuss, die traditionelle Subvention des Bundes an das alte Westberlin, zügig abgebaut. Diese vorübergehende „Unterfinanzierung“ (Seitz 2001) war politisch gewollt, da angesichts der geringen (Berlin) beziehungsweise praktisch inexistenten Verschuldung (neue Länder) die Bundesregierung massive Verschuldungsspielräume zur Finanzierung der Vereinigungslasten wahrnahm (vgl. Seitz 2001: 111). Die Unterfinanzierung der ostdeutschen Länder wurde 1995 beendet durch die volle Integration in das System des Länderfinanzausgleichs und weitere Transfers in Rahmen des Solidarpakts I (Bräuer 2005: 167ff.). Als Ende der Untersuchungsperiode wurde das Jahr 2004 gewählt, da die Arbeitslosenquote einer der Erklärungsfaktoren ist, und sich mit den 2005 eingeführten Hartz-Reformen erklärungsrelevante Faktoren der Finanzierung der Arbeitslosigkeit massiv veränderten (vgl. Abschnitt 5). Innerhalb dieser Periode von 1995 bis 2004 werden im Folgenden die durchschnittlichen Primärsaldi pro Kopf in Euro analysiert. Sie unterscheiden sich von den einfachen Haushaltssaldi, welche als Einnahmen abzüglich der Ausgaben definiert sind, durch einige Anpassungen, die für eine aussagekräftige Kausalanalyse notwendig sind: Bei der Berechnung der Primärsaldi werden die Zinszahlungen nicht berücksichtigt, da sie aufgrund der Verschuldung in der Vergangenheit entstanden sind, und daher nicht auf Faktoren zurückgeführt werden können, die in der Untersuchungsperiode wirksam sind. Um die finanzielle Situation der Länder möglichst realistisch zu erfassen, werden ausschließlich dauerhafte Einnahmen berücksichtigt, die Einmaleffekte durch Vermögensveräußerungen werden daher herausgerechnet. Ebenfalls unberücksichtigt bleiben die Sanierungszuweisungen an Bremen und das Saarland, denn diese Transfers waren zeitlich begrenzt und überdies zweckgebunden zur Schuldentilgung.12 Ein Blick auf die Verteilung der Primärsaldi (Spalte 3 in Tabelle 1) zeigt dramatisch verschärfte Disparitäten im Vergleich zur Pro-Kopf-Verschuldung sowie zwei deutliche Ausreißer: Berlin und Bremen. Die vergleichsweise hohen Primärdefizite der beiden Länder

12 Die Primärsaldi errechnen sich somit als Einnahmen (ohne Einnahmen aus Vermögensveräußerungen und Sanierungszuweisungen) abzüglich der Ausgaben (ohne Zinsausgaben).

179

Finanzpolitik in den Ländern

können zunächst einmal auf den Ausschluss der Sanierungszuweisungen zurückgeführt werden sowie auf die Nichtberücksichtigung von Einnahmen aus Vermögensveräußerungen – gerade Berlin hatte in den neunziger Jahren mit Privatisierungserlösen die Kreditfinanzierung begrenzt. Abbildung 1:

Primärausgabenquoten von Berlin, Bremen und dem Saarland (1991-2004)

130 125

Primärausgabenquote in %

120 BERLIN

115 110 105

SAARLAND

100 1991 95

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

BREMEN

90

Jahre

Für eine detaillierte Betrachtung der Entwicklung, die zu der dramatischen Situation in den beiden Ländern geführt hat, wird in Abbildung 1 auf die Primärausgabenquote zurückgegriffen. Zu Vergleichszwecken wird mit dem Saarland auch das zweite Haushaltsnotlagenland betrachtet. Die Primärausgabenquote wird als Primärausgaben geteilt durch Primäreinnahmen multipliziert mit hundert berechnet. „Diese Kennzahl drückt aus, um wie viel Prozent ein Land – unabhängig von der in der Vergangenheit aufgehäuften Verschuldung – ‚über seinen Verhältnissen’ lebt, welche von seinen regelmäßigen Einnahmen einschließlich Länderfinanzausgleich bestimmt werden“ (Färber 2005: 238). Ein Wert von hundert signalisiert einen ausgeglichenen Primärhaushalt, jeder Punkt jenseits der hundert kann als ein Prozent primärer Ausgabenüberhang interpretiert werden. Infolge des sinkenden Bundeszuschusses steigen die Primärdefizite in Berlin zu Beginn der neunziger Jahre stark an und erreichen im Jahr 1995 ihr Maximum mit einem primären Ausgabenüberschuss in Höhe von 29%. Die darauf folgenden Jahre sind von erfolgreichen Konsolidierungsbemühungen gekennzeichnet, die im Jahr 2001 durch die finanziellen Folgen der Krise der Bankgesellschaft Berlin jäh unterbrochen werden. In der Folgezeit wurden die Primärdefizite wieder deutlich zurückgeführt. Die in der Einleitung erwähnte positive Entwicklung des Berliner Haushalts deutete sich somit bereits im Untersuchungszeitraum an. Bremen hingegen wies 1992 noch einen Primäreinnahmenüberschuss auf, in den zwölf Jahren danach verschlechterte sich die Primärausgabenquote bei leichten Schwankungen. Am Ende der Untersuchungsperiode hat Bremen einen primären Ausgabenüberhang von 26%. Färber (2005) weist auf die Koinzidenz dieser Entwicklung mit der Entscheidung des

180

Achim Hildebrandt

Bundesverfassungsgerichts vom 27.05.1992 hin, die eine Haushaltsnotlage von Bremen und dem Saarland feststellte: „Bremen und das Saarland zeigten im Vorfeld der Verfassungsklage und im Zuge der Verhandlungen um den Staatsvertrag, über den die Gewährung der Haushaltsnotlagendotationen abgesichert wurden, scharfe Haushaltsdisziplin“ (Färber 2005: 237). Beide Länder, besonders jedoch Bremen, verließen den Konsolidierungskurs, als die Sanierungshilfen eintrafen. Infolge des Auslaufens der Sanierungshilfen im Jahr 2003 kann Bremen in den nächsten Jahren in massive Schwierigkeiten geraten, besonders dann, wenn – wie allgemein erwartet – die Verfassungsklage auf weitere Sanierungszuweisungen scheitern sollte (vgl. Abschnitt 6). Bevor in Abschnitt 5 die Determinanten der Primärdefizite aller sechzehn Länder analysiert werden, gilt es zunächst zu klären, weshalb einige Länder sich derartig verschulden konnten, obwohl in allen Landesverfassungen eine Begrenzung der Kreditaufnahme normiert ist.

4

Institutionelle Defizite: Die Länderverfassungen und der Vertrag von Maastricht

Die Regelungen zur Kreditbegrenzung in den sechzehn Landesverfassungen folgen dem einschlägigen Paragraphen 115 des Grundgesetzes. Dieser Paragraph wurde im Zuge der großen Finanzreform 1969 verändert. Bayern, Hamburg und Hessen haben diese Veränderung bisher noch nicht nachvollzogen und folgen daher in ihren Landesverfassungen der alten Regelung des Grundgesetzes, in sechs Ländern wurde die neue Fassung identisch oder sinngemäß übernommen, sieben Länder haben sie mit Modifikationen versehen (vgl. Tabelle 2). Tabelle 2:

Kreditbegrenzungsregeln in den Landesverfassungen

Artikel 115 (a.F.) bis 1969: „Im Wege des Kredits dürfen Geldmittel nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken […] beschafft werden.“ a) Entsprechung: BY, HE, HH (3) Artikel 115 (n.F.) seit 1969: „Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.” b) Entsprechung: BE, BW, HB, RP, SN, NW (6) c) Übernahme mit Modifikationen: BB, MV, NI, SH, SL, ST, TH (7) Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Pestalozza (2005)

Finanzpolitik in den Ländern

181

Die Regelungen in allen Landesverfassungen folgen der so genannten „goldenen Regel“ (Ter-Minassian 1997: 20), nach der die Kreditaufnahme an die Höhe der Investitionsausgaben gebunden wird:13 Ihr liegt die Ratio zugrunde, die Investitionsfinanzierung durch Kreditaufnahme und Tilgung über einen längeren Zeitraum zu strecken, um eine übermäßige Steuererhöhung zum Zeitpunkt der Anschaffung zu vermeiden, sowie um alle Nutzer eines längerfristigen Investitionsgutes über den Zeitraum der Nutzung hinweg an der Finanzierung zu beteiligen („pay as you use“, Bajohr 2003: 220). Als derartig kostspielige Investitionen können in den modernen Flächenländern fast ausschließlich die Beseitigung von Schäden durch Kriege und Naturkatastrophen angesehen werden sowie die gewaltigen Transitionskosten im Zuge der deutschen Einheit. In der Haushaltspraxis jedoch umfasst der Investitionsbegriff aufgrund niedriger Wertgrenzen bereits die „Anschaffung von Kantinengeschirr“.14 In der Grundgesetzänderung von 1969 wurde dem keynesianischen Zeitgeist gemäß der Ausnahmetatbestand der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in die Kreditbegrenzungsregel eingefügt. Die Abwehr einer solchen Störung rechtfertigt das Überschreiten der Regelgrenze, welche durch die goldene Regel definiert wird. Das stellt insofern einen Paradigmenwechsel in der Finanzpolitik dar, als dass die Finanzpolitik nicht mehr allein der Deckung der veranschlagten Ausgaben dienen sollte, sondern auch als Instrument der Konjunktursteuerung (Höfling 1993: 106).15 Die Kreditbegrenzungen der Landesverfassungen haben sich als faktisch bedeutungslos erwiesen, und dies aus einer Vielzahl von Gründen. Staatliche Investitionen können im Gegensatz zu privatwirtschaftlichen Investitionen nicht genau definiert werden: Wenn unter Investitionen der „Einsatz von Produktionsfaktoren zur Erhaltung, Erweiterung oder Verbesserung eines Produktionsmittelbestands“ (Brockhaus 1983: 272) verstanden wird, so stellt sich die Frage, was der Staat produziert und welche Produktionsmittel er verwendet. Die Frage kann jenseits der bloßen Metapher öffentlicher Güter nicht eindeutig beantwortet werden. Diese begriffliche Unschärfe kann in strategischer Absicht zu Inflationierung der ausgewiesenen Investitionsausgaben genutzt werden.16 Darüber hinaus können die Verfassungsregeln durch komplexe Finanzierungsinstrumente umgangen werden. Die emittierenden Banken bewerben die Fähigkeit zum Umgehen von Haushaltsregeln zum Teil explizit, Belege hierfür liegen für die europäischen Haushaltsregeln vor (s.u.). Ottnad zitiert den

13 In der alten Fassung des Grundgesetzes wird anstelle des Investitionsbegriffes der altertümliche Ausdruck der werbenden Zwecke verwendet. 14 So der sächsische Ministerpräsident Milbradt in einem Interview mit der Südddeutschen Zeitung vom 6.03.2007 („Notfalls muss man die Autonomie eines Landes begrenzen“), siehe zur Frage der Wertgrenzen auch Schemmel 2006: 148. 15 Zwei der drei Länder, in denen noch die alte Fassung des Grundgesetzes gilt, haben diesen Paradigmenwechsel mitvollzogen. In Hamburg und Hessen werden in der Haushaltspraxis die „Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ unter den Begriff des „außerordentlichen Bedarfs“ subsumiert (Höfling 1993: 406ff., David 1994). 16 Der in Deutschland gültige Investitionsbegriff wird in § 10 des Haushaltsgrundsätzegesetzes definiert. Er ist nicht trennscharf und manipulationsfest und führt zu zweifelhaften Systematisierungen. So zählt auch der „Erwerb von Beteiligungen an Unternehmen“ zu den Investitionen. Faktisch handelt es sich dabei häufig um staatliche Subventionen für marode Unternehmen. Im Jahre 2001 beispielsweise stiegen die ausgewiesenen Investitionsausgaben Berlins rasant. Ursache hierfür war eine Kapitalzuführung in Höhe von 1,8 Milliarden Euro an die kriselnde Bankgesellschaft Berlin (Kitterer/Groneck 2006: 561).

182

Achim Hildebrandt

Slogan der „Maastricht-Unschädlichkeit“ einer Finanzierung (Ottnad 2002: 23), die Deutsche Bank bietet beim „Formulieren der Gründe für diese Art des Risikomanagements mit Blick auf Eurostat Hilfestellung“17 an. Diese Finanzierungsinstrumente sind nicht nur komplizierter, sondern in der Regel auch teurer als gewöhnliche Kredite,18 sie führen somit zu einer noch stärkeren Belastung der Haushalte. Die Regeln können ebenfalls durch Haushaltsausgliederungen umgangen werden, hierbei wird die Erfüllung öffentlicher Aufgaben inklusive der zugehörigen Finanzwirtschaft mehr oder minder selbständigen Einrichtungen übertragen. Die Haushaltsausgliederungen rückten ins öffentliche Interesse im Zuge der Finanzierung der Deutschen Einheit durch Sondervermögen des Bundes (Schwinn 1997), Haushaltsausgliederungen werden jedoch auch in den Ländern und vor allem in den Gemeinden vollzogen. In den Gemeinden haben sie ein Ausmaß angenommen, dass in der Literatur bereits als „Skelettierung“ (Faiß et al. 2002: 657) des Haushalts bezeichnet wird. So konnte der sächsische Rechnungshof nachweisen, dass die tatsächliche Pro-Kopf-Verschuldung der sächsischen Gemeinden inklusive der Verschuldung von Eigenbetrieben und Eigengesellschaften, Beteiligungsgesellschaften und Krankenhäusern im Jahr 2001 287% des offiziell ausgewiesenen Wertes betrug (Rechnungshof des Freistaates Sachsen 2002: 395).19 Angesichts dieser und weiterer Schlupflöcher scheint es kaum möglich, dass die Länder gezwungen sein sollten, die Regelgrenze der Kreditaufnahme zu überschreiten. Tatsächlich lagen jedoch in der Untersuchungsperiode 31% der Länderhaushalte oberhalb der Regelgrenze.20 Diese erhöhte Kreditaufnahme wird zumeist im Rückgriff auf den Ausnahmetatbestand einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts legitimiert. Trotz der Auflagen des Bundesverfassungsgerichts, welches dem Haushaltsgesetzgeber eine explizite Darlegungs- und Begründungslast auferlegte, existiert hier ein großer Spielraum zur Legitimation der Kreditaufnahme, welcher einer strengen Begrenzung widerspricht. Alternativ dazu wird eine Kreditaufnahme oberhalb der Regelgrenze in Berlin, Bremen, Niedersachsen und dem Saarland mit einer extremen Haushaltsnotlage begründet (Kitterer/Groneck 2006: 560, Niedersächsisches Finanzministerium 2006: 14). Nordrhein-Westfalen griff – wie in der Einleitung erwähnt – auf den Terminus der „objektiven Unmöglichkeit“ zurück, und Schleswig-Holstein schließlich verzichtete gänzlich auf eine Begründung und bekannte sich stattdessen zu dem Ziel „so bald wie möglich wieder einen verfassungskonformen Haushalt“ vorzulegen (Finanzministerium des Landes Schleswig-Holstein 2006: 16). Somit interpretieren die Landesregierungen die Verfassungsregeln faktisch als bloße Kann-Bestimmung, deren Einhaltung wünschenswert, aber leider unter obwaltenden Bedingungen nicht immer

17 „Das griechische Modell“, in: Die Zeit vom 21.10.2004. 18 Weinzen erläutert dies am Beispiel der Forfaitierung des dritten Bauabschnitts der Berliner Messe. „Wenn ich mir von einem anderen für eine Milliarde ein Haus bauen lasse, dieser jetzt von einem Dritten dafür bezahlt wird, ich aber den Dritten erst in einigen Jahren bezahle und der sich das Geld auch erst leihen mußte, dann werde ich dem Dritten wohl etwas mehr für seine Mühe und Geduld zahlen müssen, als ich aufwenden muß, wenn ich selbst und ohne Zwischenhändler einen Kredit aufnehme” (Weinzen 2000: 421). 19 Aufgrund der hohen Komplexität und Intransparenz der Ausgliederungen liegen keine vergleichbaren Daten für die Bundesländer vor. Es besteht allerdings kein Grund für die Annahme, dass derlei Praxis allein auf Sachsen beschränkt wäre. 20 Von 160 Haushaltsjahren (16 Länder x 10 Jahre) lagen 50 über der Regelgrenze (eigene Berechnungen auf Basis von: Kitterer/Groneck 561f., Schemmel 2006: 41f).

Finanzpolitik in den Ländern

183

möglich ist. Diese Missachtung der Verfassung wurde durch die geringe faktische Sanktionsgewalt ermöglicht. Die Kreditaufnahme in den Landeshaushalten kann im Zuge der abstrakten Normenkontrolle überprüft werden.21 Die Verfassungsgerichte können einen Haushalt für verfassungswidrig erklären und die verfassungswidrige Kreditaufnahme untersagen. Weitergehende Sanktionen können sie nicht treffen. Faktisch besteht das Abschreckungspotential für den Haushaltsgesetzgeber vor allem in dem drohenden Imageverlust in der Öffentlichkeit, wenn die Verfassungswidrigkeit eines Haushaltes festgestellt wurde. Ohne auf empirische Ergebnisse zurückgreifen zu können, lässt sich vermuten, dass angesichts der Vielzahl von nicht verfassungskonformen Haushalten diese Abschreckung nicht sehr effektiv ist. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Kreditbegrenzungsregeln in den Landesverfassungen auf vielfältige Arten umgangen und sogar praktisch sanktionslos gebrochen werden können. Das erklärt, warum die Verfassungsregeln die starke Verschuldung einiger Länder nicht begrenzen konnten. Mit dem Vertrag von Maastricht und nachfolgenden Verordnungen wurden zusätzliche Kreditbegrenzungsregeln implementiert, die für alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Gültigkeit besitzen. Aufgrund ihrer vergleichsweise späten Einführung kann hier nur die Frage gestellt werden, ob die europäischen Haushaltsregeln die Länderverschuldung in Zukunft begrenzen können. Die europäischen Regeln normieren das mittelfristige Ziel eines nahezu ausgeglichenen Haushaltes und begrenzen das maximal zulässige Defizit auf 3%, den maximal zulässigen Schuldenstand auf 60% des Bruttoinlandsproduktes. Es liegt eine Vielzahl von Belegen vor, dass diese Begrenzungen durch Haushaltstricks umgangen werden (Dafflon/Rossi 1999, Zänker 1996). Melloan spricht gar von einer „creative accounting Olympiad in Europe“ (Melloan 1997: 16). Wenn das Defizit eines Mitgliedslandes die zulässige Grenze überschreitet, kann nach Berücksichtigung einer Vielzahl von Faktoren – unter anderem der „mittelfristigen Haushalts- und Wirtschaftslage des Mitgliedsstaates“ (Art. 104(3) EG-Vertrag) – ein Verfahren eingeleitet werden, an dessen Ende auch finanzielle Sanktionen verhängt werden können (Art. 104 (11) EU-Vertrag).22 Die Entscheidung über das Verfahren und mögliche Sanktionen werden jedoch nicht von einem unabhängigen Akteur getroffen, sondern vom Rat der Finanzminister. Die Finanzminister der übrigen Länder verfügen über ähnliche Situationsdeutungen wie der Finanzminister eines Landes, das gegen die Haushaltsregeln verstößt, und obendrein verbindet die Finanzminister eine ähnliche Interessenlage: Wer sich in der Gegenwart permissiv gegenüber der Haushaltspolitik anderer Länder zeigt, darf in der Zukunft auch auf das Entgegenkommen der anderen rechnen, falls das eigene Budget in Schieflage geraten sollte (Peffekoven 2004: 11). Wegen der Manipulationsanfälligkeit und der geringen 21 Die Entscheidung hierüber treffen in fünfzehn Bundesländern eigene Landesverfassungsgerichte, allein SchleswigHolstein verzichtet auf ein eigenes Gericht und weist die Kompetenz dem Bundesverfassungsgericht zu (Pestalozza 2005). 22 Der Rat entscheidet, ob ein übermäßiges Defizit in einem Mitgliedsland vorliegt, und beschließt Empfehlungen für den Abbau dieses Defizits. Wenn das Mitgliedsland diese Empfehlungen missachtet, kann der Rat Sanktionen verabschieden, unter anderem eine unverzinsliche Einlage in Höhe von maximal 0,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes des betroffenen Staates. Die Einlage wird in eine Geldbuße umgewandelt, wenn das übermäßige Defizit zwei weitere Jahre fortbesteht. Für Deutschland beträgt die höchstmögliche Strafe derzeit 11 Milliarden Euro (Art. 104 EU-Vertrag, Verordnung(EG) Nr. 1467/97 vom 7.07.1997).

184

Achim Hildebrandt

Sanktionswahrscheinlichkeit ist nicht davon auszugehen, dass die europäischen Haushaltsregeln in Zukunft eine übermäßige Verschuldung der Bundesländer begrenzen können.

5

Die Determinanten der Länderdefizite

Nachdem geklärt wurde, warum die Kreditbegrenzungsregeln in den Länderverfassungen die hohe Verschuldung einiger Länder nicht verhindern konnten, steht nun die Frage im Zentrum, welche Faktoren die hohe Verschuldung verursacht haben. Aus dem Theorienarsenal der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung werden dabei die Parteienherrschaftstheorie und die Theorie der sozioökonomischen Determination herangezogen. Im Rahmen der Parteienherrschaftstheorie wurde die These aufgestellt, dass es einen rechten und einen linken Weg in die Verschuldung gibt (Wagschal 1996, Wagschal 2003). Der linke Weg führt über höhere Ausgaben für Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, der rechte Weg über niedrigere Einnahmen infolge von Steuersenkungen. In den Bundesländern ist der rechte Weg mangels autonomer Steuergesetzgebungskompetenzen institutionell versperrt, daher kann allein der linke Weg beschritten werden. Somit ist mit höheren Defiziten unter Linksregierungen zu rechnen.23 Von einer sozioökonomischen Determination der Länderhaushalte ist vor allem im Hinblick auf die Arbeitslosenquote auszugehen: Eine hohe Arbeitslosigkeit kann auf drei Arten zu höheren Defiziten führen: (1) durch Ausgaben für die finanzielle Unterstützung von Arbeitslosen und ihren Angehörigen, (2) durch Ausgaben für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und (3) durch Einnahmenverluste infolge von Bevölkerungsabwanderung. Zu (1): Bis zu den Hartz-Reformen im Jahr 2005 erhielten Arbeitslose Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt), wenn sie aufgrund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustands nicht mehr vermittelbar waren (Lampert/Althammer 2001: 309), oder wenn sie noch keine Ansprüche erworben hatten und auch nicht innerhalb ihrer Familie abgesichert waren (Hauser 1990: 35). Die Hilfe zum Lebensunterhalt ist von den Kommunen zu finanzieren, somit waren die Stadtstaaten bis 2004 unmittelbar an der finanziellen Unterstützung der Arbeitslosen beteiligt, die Flächenländer hingegen mittelbar, durch das Gebot eine aufgabengerechte Finanzausstattung der Kommunen zu sichern (Hennecke 2000: 285). Zu (2): Höhere Ausgaben für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit werden vor allem in der regionalen Wirtschaftspolitik und in der aktiven Arbeitsmarktpolitik getätigt. Da diese Politikfelder in diesem Band von Müller sowie von Schmid und Hedrich detailliert untersucht werden, wird an dieser Stelle auf nähere Ausführungen verzichtet. Zu (3): Länder mit einer dauerhaft hohen Arbeitslosigkeit verlieren Einwohner durch Abwanderung an wirtschaftsstärkere Bundesländer.24 Da die Steuer- und Einnahmenvertei23 Als linke Parteien werden SPD, Grüne und PDS bezeichnet, als rechte (bürgerliche) Parteien CDU/CSU, FDP, Schillund Statt-Partei. Die parteipolitische Zusammensetzung wird in Anlehnung an Schmidt (1992) mit einem fünfstufigen Indikator erfasst: (1) Bürgerliche Hegemonie (eine oder mehrere bürgerliche Parteien), (2) Bürgerliche Dominanz (CDU mit mindestens einer kleinen linken Partei), (3) Große Koalition, (4) Linke Dominanz (SPD mit mindestens einer kleinen bürgerlichen Partei), (5) Linke Hegemonie (eine oder mehrere linke Parteien). 24 Der Zusammenhang zwischen der durchschnittliche Arbeitslosenquote (1991-2004) und dem Bevölkerungssaldo im selben Zeitraum beträgt r=,089*** (p<0,01).

Finanzpolitik in den Ländern

185

lung im Bundesstaat dominant nach der Einwohnerzahl erfolgt, verlieren die Länder mit jedem Einwohner Geld.25 Neben der Staatstätigkeitsforschung ist vor allem die Public Choice-orientierte Politische Ökonomie in der Erforschung der Verschuldungsursachen hervorgetreten. Dieser Ansatz fokussiert vor allem auf die Machtkonzentration: „Machtzersplitterung, in welcher Form auch immer, erhöht die Wahrscheinlichkeit einer kurzsichtigen, zeitlich inkonsistenten Budgetpolitik, deren finanzwirtschaftliche Folgen typischerweise auf dem Rücken der Staatsverschuldung ausgetragen werden“ (Weizsäcker 1997: 146). Hierbei kann zwischen synchroner und diachroner Machtverteilung differenziert werden: Die synchrone Analysedimension fokussiert auf die Machtverteilung zwischen mehreren Parteien und ihrer Wählerklientel. Je größer die Wählerklientel einer Regierung ist, desto größer sind die Ausgaben, die im Interesse dieser Wählerklientel getätigt werden und desto größer sind daher die Defizite (Roubini/Sachs 1989, Drazen/Grilli 1993).26 Die diachrone Analysedimension greift die Machtverteilung zwischen unterschiedlichen Parteien im Zeitverlauf auf. Bei unsicheren Wiederwahlaussichten steigt der Anreiz für Regierungen mit zusätzlichen Staatsausgaben auf Stimmenfang zu gehen.27 Zugleich sinkt der Zeithorizont der Regierung: Wichtige Projekte müssen noch in dieser Legislaturperiode auch zulasten steigender Ausgaben finanziert werden, da unklar ist, ob in der nächsten Legislaturperiode überhaupt noch die Möglichkeit zu ihrer Umsetzung besteht. Die zukünftigen Kosten der Verschuldung – die notwendige Konsolidierung – werden diskontiert, da unklar ist, ob man die Kosten selbst tragen muss. Sollte es zu einem Machtwechsel kommen, würde die heutige Verschuldung zudem den Handlungsspielraum der Nachfolgeregierungen einschränken (Alesina/Tabellini 1990, Persson/Svensson 1989, Persson/Tabellini 2000).28 Neben diesen theoretisch abgeleiteten Erklärungsfaktoren werden noch zwei Kontrollvariablen eingefügt, um die besonderen Probleme der Stadtstaaten und der ostdeutschen Länder zu erfassen. Die besonderen Belastungen der Stadtstaaten resultieren aus den spezifischen Mehrausgaben einer Großstadt im Vergleich zu kleineren Gemeinden. Hierbei kann zwischen agglomerationsbedingten Lasten und den Kosten der Bereitstellung zentralörtlicher Leistungen für das Umland differenziert werden. Zu den agglomerationsbedingten 25 Die Flächenländer erhalten jährlich pro Einwohner 2300 Euro, die Stadtstaaten 2500 Euro (Quelle: Experteninterviews des Verfassers in mehreren Länderfinanzministerien). 26 Die synchrone Machtverteilung wird durch eine gewichtete Anzahl der Regierungsparteien (gAR) gemessen: Alleinregierungen bekommen den Wert 1. In Koalitionsregierungen bekommt die größte Partei den Wert 1, für jede weitere Partei wird eine Zahl hinzu addiert, die sich an der Größe der weiteren Koalitionsparteien orientiert. Diese Zahl wird durch den Koeffizienten zwischen dem prozentualen Stimmenanteil der kleineren Partei(en) und dem der größten Partei berechnet. Beispiel: Zwischen 1991 und 1995 wurde Bremen von einer Ampelkoalition aus SPD (38,8%), Grünen (11,4%) und FDP (9,5%) regiert: gAR = 1 + 11,4/38,8 + 9,5/38,8 = 1,54. 27 Schneider (2007) argumentiert hingegen, dass die Wähler höhere Defizite bei Wahlen bestrafen, die Regierungen diese Reaktion antizipieren und daher vor Wahlen die Defizite absenken. Dagegen kann eingewendet werden, dass die Bürger zwar die zusätzlichen öffentlichen Güter bemerken, die Kreditfinanzierung dieser Güter jedoch aufgrund systematischer Informationsdefizite kaum wahrgenommen wird. Selbst wenn die Kosten der Kreditfinanzierung wahrgenommen werden sollten, ist aufgrund der Diskontierung zukünftiger Lasten nicht davon auszugehen, dass die Kreditfinanzierung abgelehnt und damit auf die zusätzlichen öffentlichen Güter verzichtet wird. 28 Die diachrone Machtverteilung wird mit einem Indikator erfasst, bei dem von der Zahl eins ein HerfindahlKonzentrationsindex abgezogen wird (vgl. Skilling/Zeckhauser 2002). Ein Land, das in allen Jahren nur von CDU/CSU oder SPD regiert wurde, erhält somit den Wert null. Eine detaillierte Beschreibung der Operationalisierung findet sich in Hildebrandt 2008.

186

Achim Hildebrandt

Lasten zählen vor allem höhere Sozialausgaben und erhöhte Ausgaben für die Kriminalitätsbekämpfung (Vesper 2001). Als zentralörtliche Leistungen werden die Bereitstellung und Finanzierung von Hochschulen, Krankenhäusern, Museen und Theatern etc. bezeichnet, die auch von den Bewohnern der umliegenden Flächenländer genutzt werden (Scharpf/ Benz 1991: 42ff.). Aufgrund dieser Mehrbelastungen gibt es die Einwohnerwertung im horizontalen Länderfinanzausgleich, bei der die Einwohner der Stadtstaaten mit 1,35 gewichtet werden. Damit werden die Transferzahlungen zugunsten der Stadtstaaten modifiziert. Da jedoch nicht a priori davon ausgegangen werden kann, dass die Mehrbelastung der Stadtstaaten vollständig kompensiert wird, wird ein Stadtstaaten-Dummy in die Analyse aufgenommen. Die wirtschaftlichen Probleme Ostdeutschlands werden bereits mit dem Prädiktor Arbeitslosenquote erfasst. Darüber hinausgehende fiskalische Belastungen der neuen Länder können in den Ausgaben für die Beseitigung der Umweltschäden und für den Ausbau der Infrastruktur gesehen werden.29 In die Kausalanalyse gehen somit je zwei Variablen aus der Staatstätigkeitsforschung (parteipolitische Zusammensetzung der Regierung und Arbeitslosenquote), der Politischen Ökonomie (synchrone und diachrone Machtverteilung), sowie zwei Kontrollvariablen ein (Stadtstaatendummy und West-Ost-Dummy). Aufgrund der extremen Ausreißer Berlin und Bremen wird die Analyse sowohl mit (N=16) als auch ohne die beiden Länder (N=14) durchgeführt, um mögliche Verzerrungen aufzudecken. Tabelle 3:

Determinanten der Primärdefizite (bivariate Regressionen) N = 16

N = 14

Parteipolitische Zusammensetzung

-,10

-,10

Arbeitslosigkeit

-,47*

-,67***

Synchrone Machtverteilung

-,85***

-,77***

Diachrone Machtverteilung

-,57**

-,67***

Stadtstaatendummy

-,79***

West-Ost-Dummy

,10

,60**

Standardisierter Regressionskoeffizient; *** p < 0,01; ** p < 0,05; * p < 0,10

Die bivariaten Regressionen zeigen, dass alle Zusammenhänge in die theoretisch postulierte Richtung weisen. Die Ergebnisse für die vier theoretisch begründeten Variablen bleiben auch nach Ausschluss der beiden Ausreißer stabil. Die parteipolitische Zusammensetzung übt überhaupt keinen Einfluss aus: Dieses Ergebnis widerlegt eines der gängigsten finanzpolitischen Klischees, nämlich: „Sozialdemokraten werden es nie lernen, mit Geld umzugehen, eher legt ein Hund einen Wurstvorrat an.“30 Die drei übrigen theoretisch begründeten Variablen weisen alle moderat starke bis sehr starke Zusammenhänge auf. Den stärksten

29 Dagegen kann jedoch eingewendet werden, dass den neuen Ländern im Rahmen des Solidarpaktes erhebliche Mittel zugewiesen werden, um diese Belastungen zu kompensieren. 30 So der Bremer CDU-Politiker Nölle, zitiert nach: Dannemann 2002: 9.

187

Finanzpolitik in den Ländern

Effekt erzeugt die synchrone Machtverteilung. Unter den beiden Kontrollvariablen weist der Stadtstaaten-Dummy den zu erwartenden starken Zusammenhang auf. Nach Ausschluss von Berlin und Bremen bleibt allein der Stadtstaat Hamburg übrig, daher wurde diese Variable bei der verringerten Fallzahl nicht noch einmal analysiert. Unter Einschluss der beiden Ausreißer wird der Effekt des West-Ost-Dummies durch die hohen Defizite im westdeutschen Bremen und im mehrheitlich westdeutschen Berlin verdeckt.31 Angesichts von nur sechzehn Fällen ist es für die multiple Regression unerlässlich, die Zahl der unabhängigen Variablen zu begrenzen. Daher wurde die parteipolitische Zusammensetzung mangels Erklärungsbeitrag von vornherein aus der Analyse ausgeschlossen.32 Der Ost-West-Dummy wurde ebenfalls nicht berücksichtigt, er korreliert sehr stark mit der Arbeitslosenquote (r = 0,88***, N=16), somit wird die besondere Lage der ostdeutschen Länder mit der Arbeitslosigkeit hinreichend erfasst. Die theoretisch wenig ertragreiche Dummyvariable muss daher nicht verwendet werden.33 Tabelle 4:

Determinanten der Primärdefizite (multiple Regression) (N=16) B

(N=14) Beta

B

Beta

-287,90**

-,57

-191,90*

-,38

Synchrone Machtverteilung

- 543,80***

-,57

Stadtstaaten

- 252,83**

-,40

Diachrone Machtverteilung Konstante Korr. R2

525,72**

259,06** ,77

,64

B unstandardisierter Regressionskoeffizient, Beta standardisierter Regressionskoeffizient *** p < 0,01; ** p < 0,05; * p < 0,10 N = 16, Ausgeschlossene Variablen: Arbeitslosigkeit, Diachrone Machtverteilung N=14, Ausgeschlossene Variablen: Arbeitslosigkeit

Überdies wird die Regression rückwärts durchgeführt: Zunächst werden alle verbliebenen unabhängigen Variablen in das Modell aufgenommen, danach werden schrittweise alle Variablen ausgeschlossen, die nicht das zehnprozentige Signifikanzniveau erreichen (Brosius 2004: 593). Die daraus resultierenden, sparsamen Erklärungsmodelle sind in Tabelle 4 aufgeführt. Im Vergleich zu den bivariaten Ergebnissen bestätigt sich die zentrale Bedeutung der synchronen Machtverteilung. Ihr Einfluss bleibt auch nach Ausschluss der beiden Ausreißer stabil. Neben ihr kann nur der Stadtstaaten-Dummy beziehungsweise die diachrone Machtverteilung einen signifikanten, aber deutlich schwächeren Erklärungsbeitrag leisten. Bemerkenswert ist, dass der Effekt der Arbeitslosenquote nach Kontrolle um weitere Faktoren nicht mehr signifikant bleibt. Die zentrale Bedeutung der synchronen Machtverteilung legt einen genaueren Blick auf die zugrunde liegenden Wirkungsmechanismen nahe. In Tabelle 5 wird die synchrone Machtverteilung nach Koalitionstypen aufgeschlüsselt. Der in der 31 Für den West-Ost-Dummy bekommt Berlin gemäß der Bevölkerungsverteilung zwischen Ost- und Westberlin den Wert 0,63 zugewiesen. Die westdeutschen Länder haben eine null, die ostdeutschen eine eins. 32 Mögliche Suppressoreffekte (Kühnel/Krebs 2001: 481) wurden in separaten Analysen ausgeschlossen. 33 Aus methodischer Sicht wäre überdies die Integration beider Variablen in eine multiple Regression wegen zu hoher Multikollinearität unzulässig gewesen.

188

Achim Hildebrandt

Regressionsanalyse verwendete Indikator der gewichteten Anzahl der Regierungsparteien wird zu Vergleichszwecken ebenfalls ausgewiesen: Tabelle 5:

Mittelwertvergleich der Primärdefizite nach Koalitionstypen

Koalitionstyp Alleinregierung Kleine Koalition 2 Parteien Kleine Koalition 3 Parteien Große Koalition Durchschnitt / nj N

N

Gewichtete Anzahl der Regierungsparteien

Primärdefizit pro Kopf in Euro

51 (51) 72 (68) 6 (6) 31 (15)

1,00 (1,00) 1,30 (1,27) 1,84 (1,84) 1,72 (1,67)

-138,30 (-138,30) -141,48 (-104,35) -364,34 (-364,34) -569,01 (-272,11)

160 (140)

1,31 (1,24)

-231,66 (-145,83)

Anmerkung: In Klammern steht in der zweiten Zeile der Wert unter Ausschluss von Berlin und Bremen

Es zeigt sich, dass der Effekt der synchronen Machtverteilung auf die Primärdefizite vor allem von den großen Koalitionen ausgeht – die Koalitionen mit drei Parteien werden aufgrund der geringen Fallzahl außer Acht gelassen. Der Vorsprung der großen Koalitionen vor den Alleinregierungen und den kleinen Koalitionen mit zwei Parteien verringert sich zwar nach Ausschluss von Berlin und Bremen, existiert jedoch weiterhin. Auf Basis dieser Ergebnisse kann die von Probst (2006) aufgeworfene Frage „Große Koalitionen als Sanierungsmodell?“ eindeutig verneint werden. Neben der schieren Größe der Wählerklientel könnte eine Ursache hierfür in dem antagonistischen Wettbewerbsklima in großen Koalitionen liegen: Beide Großparteien streben danach die jeweils Andere bei den nächsten Wahlen aus der Regierung zu verdrängen. Dies könnte zu verstärkten Profilierungsbemühungen führen, welche sich in höheren Ausgaben niederschlagen könnten. Eine Überprüfung dieser Hypothese kann jedoch nur in detaillierten Fallstudien zur finanzpolitischen Entscheidungsbildung in verschiedenen Koalitionstypen erfolgen.34

6

Fazit

Abschließend sollen die empirischen Ergebnisse dieses Beitrags vor dem Hintergrund neuerer Entwicklungen im deutschen Bundesstaat interpretierend eingeordnet werden. Von Relevanz sind hier vor allem die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Klage Berlins vom Oktober 2006 sowie in zweiter Linie die laufenden Verhandlungen über die Föderalismusreform II. 34 Die Ergebnisse von Kropps vergleichender Fallstudie zu den Haushaltsverhandlungen in drei Koalitionsregierungen deuten in Richtung der Hypothese. Kropp zufolge „weisen Wunschkoalitionen […] tendenziell eine geringere interne Polarisierung auf als Regierungsbündnisse, in denen die Parteien eine andere Verbindung bevorzugt hätten“ (Kropp 2001: 204).

Finanzpolitik in den Ländern

189

Am 19. Oktober 2006 lehnte das Bundesverfassungsgericht die Klage Berlins auf Sanierungszuweisungen aufgrund einer extremen Haushaltsnotlage ab (2 BvF 3/03). Die extreme Haushaltsnotlage „ist als finanzverfassungsrechtlicher Tatbestand eine Erfindung bzw. eine Entdeckung des Bundesverfassungsgerichts“ (Höfling 2004: 260). In seiner bereits erwähnten Entscheidung vom 27.05.1992 konstatierte das Bundesverfassungsgericht eine extreme Haushaltsnotlage in Bremen und dem Saarland, die die Hilfe der bundesstaatlichen Gemeinschaft erforderlich mache. Diese Hilfe manifestierte sich in den Sanierungszuweisungen des Bundes, die in den Jahren 1994 bis 2003 insgesamt 15,2 Milliarden Euro betrugen, ohne dass sich die Haushaltssituation in den beiden Ländern dauerhaft besserte. Nach Auslaufen der Zuweisungen klagten Bremen und Saarland auf ihre Fortsetzung, Berlin erhob zum ersten Mal Klage. Vor der Entscheidung im Oktober 2006 bestand weithin die Befürchtung, dass weitere Länder ebenfalls auf Hilfen Klagen würden; beispielsweise die ostdeutschen Länder mit Ausnahme Sachsens oder hoch verschuldete Westländer wie Niedersachsen, dessen Regierung ja bereits, wie in Abschnitt 4 ausgeführt, im Jahr 2006 die verfassungswidrige Kreditaufnahme im Landeshaushalt mit einer vermeintlichen Haushaltsnotlage rechtfertigte. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes hat diesen Befürchtungen weitgehend die Grundlage entzogen. Mit seinem kumultativen Kriterium einer relativen und absoluten Haushaltsnotlage hat das Gericht die Latte für die Gewährung von Sanierungszuweisungen sehr hoch, fast prohibitiv hoch gelegt (Scheller 2006: 25)35 – Berlin erfüllte laut dem Gericht im Jahr 2006 weder das Kriterium einer relativen noch einer absoluten Haushaltsnotlage. Den Klagen von Bremen und dem Saarland werden nun nur noch geringe Erfolgsaussichten bescheinigt. Die Entscheidung stärkt die fiskalische Verantwortlichkeit der Landesregierungen, da sie im Falle einer übermäßigen Verschuldung nicht mehr so leicht auf Bundeshilfen hoffen können. Sie ergibt überdies Sinn vor dem Hintergrund der vorgestellten empirischen Analysen. Hohe Defizite sind nicht primär die Folge von strukturellen Ursachen, wie etwa einer hohen Arbeitslosigkeit, die kaum von den Landesregierungen zu beeinflussen sind. Sie sind vielmehr vor allem eine Folge des demokratischen Parteienwettbewerbs. Eine Ausnahme bildet die hohe Verschuldung der Stadtstaaten, wobei allerdings vergleichende Fallstudien zu den drei Stadtstaaten erforderlich wären, angesichts der unterschiedlichen fiskalischen Leistungsfähigkeit von Berlin und Bremen einerseits und Hamburg andererseits. Unter den Einflüssen des Parteienwettbewerbs ist in erster Linie die synchrone Machtverteilung zu nennen, die parteipolitische Zusammensetzung der Regierungen spielt hingegen keine Rolle. Dieser Nichtbefund steht im Einklang mit zwei Vorgängerstudien (Galli/ Rossi 2002, Seitz 2000) und widerspricht zwei weiteren (Schneider 2007, Wagschal 1996). Der Nichtbefund könnte auf einen ideologischen Wandel sozialdemokratischer Parteien in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückzuführen sein (Giddens 1999, Merkel et al. 2006), der sie dem Ausgabeverhalten christdemokratischer Regierungen ähnlicher gemacht haben

35 Für die Gewährung von Sanierungszuweisungen müssen „kumulativ die Voraussetzungen einer ‚relativen’, auf das Verhältnis zu den anderen Ländern bezogenen, und einer ‚absoluten’, auf die Fähigkeit zur Erfüllung der verfassungsmäßig vorgegebenen Aufgaben bezogenen Haushaltsnotlage erfüllt sein“ (BVerfG 2 BvF 3/03 vom 19.10.2006, Absatz-Nr. 172). Wenn also mehrere Länder sich in einer absoluten Haushaltsnotlage befinden, verfehlen sie zugleich das relative Kriterium im Verhältnis zu den anderen Ländern!

190

Achim Hildebrandt

könnte. Zur Überprüfung dieser Annahme wäre jedoch ein Vergleich der Finanzpolitik sozialdemokratisch geführter Landesregierungen über einen längeren Zeitraum notwendig. Die finanzpolitischen Rahmenbedingungen der Länder könnten in den nächsten Jahren im Zuge der zweiten Stufe der Föderalismusreform verändert werden. Sie widmet sich der Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, Gegenstand der Verhandlungen sind unter anderem die Vorbeugung und die Bewältigung von Haushaltskrisen (Scheller 2006: 24). Da gegenwärtig noch verhandelt wird, bleibt die Evaluation der Ergebnisse einer späteren Studie vorbehalten.

Literatur Alesina, Alberto/Tabellini, Guido, 1990: A Positive Theory of Fiscal Deficits and Government Debt, in: Review of Economic Studies 57, 403-414. Bajohr, Stefan, 2003: Grundriss Staatliche Finanzpolitik. Eine praktische Einführung. Opladen. Bräuer, Christian, 2005: Finanzausgleich und Finanzbeziehungen im wiedervereinten Deutschland. Wiesbaden. Brockhaus, 181983: Artikel „Investition“, in: Der Große Brockhaus. Kompaktausgabe, Band 10. Wiesbaden, 272-273. Brosius, Felix, 2004: SPSS 12. Bonn. Bundesministerium der Finanzen, 2006: Finanzbericht. Stand und voraussichtliche Entwicklung der Finanzwirtschaft im gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang. Berlin. Creifelds, Carl et al. (Hg.), 141997: Rechtswörterbuch. München. Dafflon, Bernard/Rossi, Sergio, 1999: Public accounting fudges towards EMU: A first empirical survey and some public choice considerations, in: Public Choice 101, 59-84. Dannemann, Günter, 2003: Bremische Finanzpolitik 1970-2020. Erfahrungen und Herausforderungen. Bremen. David, Klaus, 1994: Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg. Kommentar. Stuttgart et al. Drazen, Allan/Grilli, Vittorio, 1993: The Benefit of Crises for Economic Reform, in: American Economic Review 83, 588-608. Faiß, Konrad et al., 72002: Kommunales Wirtschaftsrecht in Baden-Württemberg. Systematische Darstellung zur Finanzwirtschaft der Kommunen. Stuttgart. Färber, Gisela, 2005: Haushaltsnotlagen in der deutschen Finanzverfassung – Ursachen, Abhilfe und Präventionsmaßnahmen, in: Hrbek, Rudolf (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2005 – Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa. Baden-Baden, 230-252. Finanzministerium des Landes Schleswig-Holstein 2006: Finanzplan des Landes Schleswig-Holstein 20062010. Kiel. Finanzministerium Mecklenburg-Vorpommern 2005: Finanzielle Situation des Landes. Schwerin. Galli, Emma/Rossi, Stefania P.S., 2002: Political Budget Cycles: The Case of the West German Länder, in: Public Choice 110, 283-303. Giddens, Anthony, 1999: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt/Main. Häde, Ulrich, 2006: Rechtliche Grenzen für die Staatsverschuldung der Länder, in: Wirtschaftsdienst 86: 563-567. Hauser, Richard, 1990: Sozioökonomische Aspekte der Sozialhilfe, in: Kitterer, Wolfgang (Hg.): Sozialhilfe und Finanzausgleich. Heidelberg, 23-41. Hennecke, Hans-Günter, 22000: Öffentliches Finanzwesen Finanzverfassung. Eine systematische Darstellung. Heidelberg.

Finanzpolitik in den Ländern

191

Hildebrandt, Achim, 2008: Die finanzpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesländer. Determinanten, institutionelle Defizite und Reformoptionen, Universität Stuttgart: Dissertation. Höfling, Wolfram, 1993: Staatsschuldenrecht. Rechtsgrundlagen und Rechtsmaßstäbe für die Staatsschuldenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg. Höfling, Wolfram, 2004: Die sog. extreme Haushaltsnotlage. Anmerkungen zu einem ungeschriebenen Begriff des Finanzverfassungsrechts, in: Brink, Stefan (Hg.): Gemeinwohl und Verantwortung. Festschrift für Hans Herbert von Arnim zum 65. Geburtstag. Berlin, 259-270. Homburg, Stefan, 1994: Anreizwirkungen des deutschen Finanzausgleichs, in: Finanzarchiv n.F. 51: 312330. Huber, Bernd/Lichtblau, Karl, 1998: Konfiskatorischer Finanzausgleich verlangt eine Reform, in: Wirtschaftdienst 78, 142-147. Katz, Alfred, 2006: Bundesstaatliche Finanzbeziehungen und Haushaltspolitik der Länder unter Einbeziehung der Föderalismusreformdiskussion, in: Schneider, Herbert/Wehling, Hans-Georg (Hg.): Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder. Wiesbaden, 50-86. Kesper, Irene, 1998: Bundesstaatliche Finanzordnung: Grundlagen, Bestand, Reform. Baden-Baden. Kitterer, Wolfgang/Groneck, Max, 2006: Dauerhafte Verschuldungsregeln für die Bundesländer, in: Wirtschaftsdienst 86, 559-563. Kropp, Sabine, 2001: Regieren in Koalitionen: Handlungsmuster und Entscheidungsbildung in deutschen Länderregierungen. Wiesbaden. Kühnel, Steffen/Krebs, Dagmar, 2001: Statistik für die Sozialwissenschaften. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Reinbek bei Hamburg. Lampert, Heinz/Althammer, Jörg, 62001: Lehrbuch der Sozialpolitik. Berlin. Lehmbruch, Gerhard, 2002: Der unitarische Bundesstaat in Deutschland: Pfadabhängigkeit und Wandel, MPIfG Discussion Paper 02/2, Köln. Linssen, Helmut 2006: Rede von Finanzminister Dr. Helmut Linssen zur Einbringung des Nachtragshaushalts 2006 vom 16.11.2006, http://www.fm.nrw.de/cgi-bin/fm/custom/pub/visit.cgi?lang=1& ticket=guest&oid=1099, Zugriff am 15.3.2007. Melloan, George, 1997: Hot do you qualify for the Euro club? By cheating, in: The Wall Street Journal Europe vom 28. Januar 1997. Merkel, Wolfgang/Egle, Christoph/Henkes, Christian/Ostheim, Tobias/Petring, Alexander, 2006: Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie. Herausforderungen und Bilanz der Regierungspolitik in Westeuropa. Wiesbaden. Niedersächsisches Finanzministerium, 2006: Mittelfristige Finanzplanung Niedersachsen 2006-2010. Hannover. Ottnad, Adrian, 2002: Die Finanzpolitik von 1998 bis 2002: Ein ernüchternde Bilanz, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 93, 20-24. Peffekoven, Rolf, 2004: Muß der Stabilitäts- und Wachstumspakt reformiert werden? in: Wirtschaftsdienst 84, 7-11. Persson, Torsten/Svensson, Lars E., 1989: Why a Stubborn Conservative Would Run a Deficit: Policy with Time-Inconsistent Preferences, in: Quarterly Journal of Economics 104, 325-345. Persson, Torsten/Tabellini, Guido, 2000: Political Economics: Explaning Economic Policy. Cambridge. Pestalozza, Christian, 82005: Verfassungen der deutschen Bundesländer. München. Probst, Lothar, 2006: Große Koalitionen als Sanierungsmodell? Erfahrungen aus Bremen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 37, 626-640. Rechnungshof des Freistaates Sachsen, 2002: Jahresbericht 2002. Dresden. Renzsch, Wolfgang, 2005: Finanzverfassung und finanzielle Schieflagen von Ländern unter besonderer Berücksichtigung der Haushaltsnotlage des Saarlandes. Gutachten im Auftrag des Ministerium der Finanzen des Saarlands. Magdeburg.

192

Achim Hildebrandt

Roubini, Nouriel/Sachs, Jeffrey, 1989: Political and Economic Determinants of Budget Deficits in the Industrial Democracies, in: European Economic Review 33, 903-933. Scharpf, Fritz W./Benz, Arthur, 1991: Kooperation als Alternative zur Neugliederung? Zusammenarbeit zwischen den norddeutschen Ländern. Baden-Baden. Scheller, Henrik, 2006: Die Reform der Finanzverfassung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 50, 24-30. Schemmel, Lothar, 2006: Staatsverschuldung und öffentliche Investitionen: Im ersten Schritt Schlupflöcher beseitigen – auf mittlere Sicht Kreditfinanzierung verbieten. Berlin. Schmidt, Manfred G., 1992: Regierungen: Parteipolitische Zusammensetzung, in: Schmidt, Manfred G. (Hg.): Die westlichen Länder. Lexikon der Politik, Band 3. München, 393-400. Schneider, Christina J., 2007: Politischer Oppurtunismus und Haushaltsdefizite in den westlichen Bundesländern, in: Politische Vierteljahresschrift 48, 221-242. Schuppert, Gunnar Folke, 2003: Staatswissenschaft. Baden-Baden. Schwinn, Oliver, 1997: Die Finanzierung der deutschen Einheit. Eine Untersuchung aus politisch-institutionalistischer Perspektive. Opladen. Seitz, Helmut, 2000: Fiscal Policy, Deficits and Politics of Subnational Governments: the Case of the German Laender, in: Public Choice 102, 183-218. Seitz, Helmut, 2001: Finanzierung und Finanzprobleme der neuen Länder, in: Informationen zur Raumentwicklung 29, 109-118. Skilling, David/Zeckhauser, Richard J., 2002: Political Competition and Debt Trajectories in Japan and the OECD, in: Japan and the World Economy 14, 121-135. Ter-Minassian, Teresa, 1997: Intergovernmental Fiscal Relations in a Macroeconomic Perspective: An Overview, in: Ter-Minassian, Teresa (Hg.): Fiscal Federalism in Theory and Practice. Washington, 324. Thibaut, Bernhard, 22004: Artikel „Finanzpolitik“, in: Nohlen, Dieter/Schultze, Rainer-Olaf (Hg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe. München, 237-238. Vesper, Dieter, 2001: Die Einwohnerwertung der Stadtstaaten im Länderfinanzausgleich – mehr als gerechtfertigt, in: DIW-Wochenbericht 78(11/12), 173-185. Wagschal, Uwe, 1996: Staatsverschuldung. Ursachen im internationalen Vergleich. Opladen. Wagschal, Uwe, 2003: Wer ist schuld an den Schulden? Zur Politischen Ökonomie der Staatsverschuldung, in: Obinger, Herbert/Wagschal, Uwe/Kittel, Bernhard (Hg.): Politische Ökonomie. Demokratie und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Opladen, 289-320. Weinzen, Hans W., 32000: Berlin und seine Finanzen. Eine Einführung in das Finanzwesen. Berlin. Weizsäcker, Robert von, 1997: Finanzpolitik, in: Hagen, Jürgen von/Welfens, Paul J.J./Börsch-Supan, Axel (Hg.): Springers Handbuch der Volkswirtschaftslehre, Band 2: Wirtschaftspolitik und Weltwirtschaft, Berlin et al., 123-180. Zänker, Alfred, 1996: Keine Tricks beim Euro, in: Die Welt vom 11. Oktober 1996.

Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik in den Bundesländern: Differenzierungen und Differenzen Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik

Josef Schmid und Horst Hedrich

1

Einleitung

In den meisten Debatten und Analysen zur jüngsten deutschen Arbeitsmarktpolitik werden die Reformpakete, die mit dem Schlagwort „Hartz I - IV“ abgekürzt werden können, behandelt. Mit dieser vorherrschenden Konzentration der politischen und der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit auf die Bundesebene geraten jedoch die Aktivitäten der Länder gänzlich aus dem Blick (generell zu diesem Defizit Wehling/Schneider 2006). Gleichwohl sind diese nicht zu unterschätzen, denn sie weisen in den vergangenen Jahrzehnten ein enormes Wachstum, eine hohe Anpassungsfähigkeit und eine beachtliche sachliche Differenzierung auf. Dies gilt für parteipolitische Aussagen, Policy-Programme und Ausgaben gleichermaßen. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es daher, die Entwicklungen und Unterschiede in der Performanz der Arbeitsmärkte und die der darauf bezogenen Maßnahmen und Ausgaben der aktiven Arbeitsmarktpolitik nachzuzeichnen und zu erklären. Damit wird zugleich der Versuch unternommen, verschiedene Projektergebnisse der letzten 10 Jahre zu synthetisieren und auf den politikwissenschaftlichen Gehalt zu fokussieren (vgl. J.Schmid u.a. 2004, J.Schmid/Blancke 2001 sowie ein aktuelles Gutachten für die Bertelsmann-Stiftung 2007). D.h. es wird versucht, die etablierten Konzepte und Erklärungsmuster der vergleichenden Policy-Analyse (vgl. dazu Schmidt 1993 und Zohlnhöfer 2008) für den Blick auf die Bundesländer zu nutzen und zugleich einige politikfeldspezifische Ergänzungen vorzunehmen. Dazu zählt v.a. ein angemessenes Set an Daten und Bewertungsindikatoren, die den Möglichkeiten und Grenzen der Länder Rechnung tragen.

2

Das Problem: Arbeitslosigkeit als massives, aber differenziertes Phänomen

Seit dem Ende der siebziger Jahre ist die Arbeitslosigkeit in der BRD zum Massenschicksal geworden; über 5 Mio. Menschen waren im Jahr 2006 bundesweit arbeitslos. Ob die jüngste Belebung am Arbeitsmarkt eine tiefgreifende und nachhaltige Verbesserung erwarten lässt, bleibt abzuwarten. Da der Zustand des Arbeitsmarktes maßgeblich bestimmt, wer zu welchem Anteil am wirtschaftlichen Wohlstand einer Gesellschaft teilhaben kann, ergibt sich

194

Josef Schmid und Horst Hedrich

eine hohe politische Brisanz sowie eine Notwendigkeit zur staatlichen Intervention (Abraham/Hinz 2005). Die Frage ist jedoch, wer und mit welchen Mitteln dabei am Werk ist (vgl. J.Schmid u.a. 2004). Im Rahmen der föderativen politischen Ordnung der BRD empfiehlt es sich, das Problem der Arbeitslosigkeit nicht nur im Aggregat bzw. auf der nationalen Ebene zu betrachten, sondern sozial und regional zwischen Teilarbeitsmärkten zu differenzieren. Auf der Ebene der Bundesländer zeigen sich bemerkenswerte Disparitäten, die sich als Gefälle zwischen Ost-West und Nord-Süd charakterisieren lassen. Die folgende Abbildung stellt dies anschaulich dar.1 Abbildung 1:

Arbeitslosigkeit in den Bundesländern (SMOP, Mittelwerte 2001-2006)

Quelle: eigene Berechnung

Noch interessanter ist freilich ein Blick auf die einzelnen Indikatoren, die eine differenzierte Beschreibung des Problems erlauben: Neben der hohen Arbeitslosigkeit im Aggregat, die erwartungsgemäß den bekannten Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland folgt, zeigt sich eine erhebliche Relativierung bei der Erwerbsquote, was v.a. auf die höhere weibliche Beschäftigung in den neuen Ländern zurückgeführt werden kann. Zum Beispiel ran1 SMOP steht für „Surface Measure of Overall Performance“. Die Werte werden durch ein Benchmarking mit RadarCharts berechnet, wobei die Größe der Flächen als Bezug gilt (vgl. J.Schmid u.a. 2004). Die Daten wurden aus Tabelle 1 entnommen.

195

Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik

giert Baden-Württemberg bei der Arbeitslosenquote auf Platz 1 mit dem niedrigsten Wert, während Brandenburg auf Platz 13 liegt. Bei einem ersten Blick auf die Erwerbsquoten verschiebt sich jedoch das Bild beachtlich; hier liegt Brandenburg vorne und Baden-Württemberg nur auf Rang 7. Tabelle 1:

Arbeitslosigkeit in den Bundesländern (Mittelwert 2001-2006)

Durchschnittswerte 2001-2006 SMOP

ALQ

FALQ

JALQ

LZALQ

EQ

Westdeutschland

1,34

9,45

8,91

8,92

32,56

72,06

Baden-Württemberg

2,18

6,7

6,7

5,8

29,0

74,7

Bayern

2,24

7,6

7,4

7,0

26,3

75,3

Hessen

1,46

9,1

8,5

8,6

32,1

73,0

Niedersachsen

0,83

11,0

10,4

10,5

35,3

71,0

Nordrhein-Westfalen

0,72

11,3

10,4

9,9

39,1

69,7

Rheinland-Pfalz

1,48

8,6

8,3

8,6

30,5

71,9

Saarland

0,74

10,4

9,9

10,1

36,2

68,2

Schleswig-Holstein

1,09

10,9

9,7

11,0

32,0

72,8

Stadtstaaten

0,63

15,36

13,23

13,92

36,01

72,39

Berlin

0,18

19,8

17,1

19,4

37,7

73,3

Bremen

0,39

15,1

13,1

12,9

39,9

70,5

Hamburg

1,31

11,2

9,5

9,4

30,5

73,4

Ostdeutschland

0,20

19,73

19,80

16,53

39,41

76,24

Brandenburg

0,18

19,5

19,1

17,5

40,4

77,1

Mecklenburg-Vorpommern

0,18

21,0

20,4

17,0

38,0

75,6

Sachsen

0,19

19,3

19,6

15,8

40,9

76,7

Sachsen-Anhalt

0,05

21,1

21,6

17,7

41,1

75,9

Thüringen

0,41

17,6

18,3

14,7

36,6

75,8

ALQ = Arbeitslosenquote, FALQ = Frauen-, JALQ = Jugend-, LZALG = Langzeit-, EQ = Erwerbsquote, SMOP = Surface Measure of Overall Performance, d.h. Zusammenfassung mehrerer Performanzindikatoren in nur einem Indikator durch die Berechnung der Fläche des Spinweb-Diagramms eines Radar Charts. Quelle: Bundesagentur für Arbeit.

3

Die Lösungen: Zentrale Begriffe und Konzepte der Arbeitsmarktpolitik

Um die Problematik angemessen zu analysieren, ist es ferner notwendig, einige Begriffe zu klären. Hier soll von Beschäftigungspolitik dann die Rede sein, wenn das Gesamtniveau der

196

Josef Schmid und Horst Hedrich

Beschäftigung Ziel der Intervention ist, also all jene Maßnahmen zum Einsatz gelangen, die sowohl die Höhe der Beschäftigung als auch die regionale und sektorale Beschäftigungsstruktur durch wirtschafts- und wachstumsfördernde Instrumente verbessern sollen (vgl. J.Schmid u.a. 2006). Arbeitsmarktpolitik zielt hingegen auf ƒ ƒ ƒ

die Gestaltung der Arbeitsmärkte und ihrer Rahmenbedingungen (Arbeitsmarktordnungspolitik) Lohnersatzleistungen, um den Lebensunterhalt zu sichern (passive bzw. kompensatorische Arbeitsmarktpolitik). den Ausgleich von Arbeitskräfteangebot und -nachfrage, etwa durch Arbeitsvermittlung, Betreuung und Beratung, Zuschüsse zu Lohnkosten, Qualifizierung sowie Förderung von Existenzgründungen und beruflicher Mobilität (aktive Arbeitsmarktpolitik).

Für die aktive Arbeitsmarktpolitik wird derzeit gut 1% des BIP ausgegeben. Zugleich ist ihre Wirkung umstritten, da es zu negativen Verdrängungs- und Substitutionseffekten kommt; Positiv wird dagegen die Förderung der Mobilität und die Verbesserung der Qualifikation von Arbeitskräften bewertet (vgl. Kröger/van Suntum 1999, Konle-Seidl 2005, Caliendo/Steiner 2005, G.Schmid 2006). Bei der Beurteilung der Arbeitsmarktpolitik sind aber auch ihre Grenzen zu berücksichtigen. So ist die in der Öffentlichkeit ständig präsentierte aggregierte Arbeitslosenquote kein geeigneter bzw. ausreichender Indikator für die Beurteilung der Problemlagen und die Wirksamkeit der staatlichen Politik. Georg Altmann veranschaulicht das Problem so: „Die Arbeitsmarktpolitik anhand gesamtwirtschaftlicher Arbeitsmarktdaten wie der Arbeitslosenquote zu beurteilen, wäre daher so wenig sinnvoll wie die Beurteilung eines Bodenverlegers nach der Gesamtqualität eines Hauses, bei dessen Erbauung er für die Verlegung von Parkett und Fliesen zuständig war“ (Altmann 2004: 217).

Die Wirkungspotentiale der Arbeitsmarktpolitik werden besser und fairer bewertet, wenn man nicht nur die Aggregate, sondern ergänzend die Erwerbsquote sowie die Entwicklung der Problemgruppen am Arbeitsmarkt betrachtet. Hier eine Verbesserung zu erreichen, bildet eine angemessene Messlatte zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Arbeitsmarktpolitik – v.a. auch der Länder. Dahinter stehen grundsätzliche sozialtheoretische Überlegungen zur Rolle von Risiko und Gerechtigkeit auf modernen Arbeitsmärkten. Wichtig ist als erstes die Unterscheidung von Risiko und Gefahr. Von Gefahr kann man – so Niklas Luhmann (1990) – nur dann sprechen, wenn der etwaige Schaden durch das Umfeld verursacht wird und kollektiv anfällt; Risiko dagegen impliziert, dass der Schaden auf das Verhalten, einschließlich des Unterlassens, der Betroffenen zurückgeführt werden kann und individuell anfällt. Das ist der Kern von „Fördern und Fordern“. Wichtig sind zweitens gerechtigkeitstheoretische Überlegungen, wie sie vor allem John Rawls (1990) postuliert hat. Er vertritt das sog. Differenzprinzip, wonach jede Ungleichheit gerechtfertigt ist, solange sie die Position der ökonomisch am schlechtesten gestellten Gruppe verbessert. Hier haben dann auch staatliche Maßnahmen anzusetzen, was in diesem Falle eine Konzentration auf die besonders betroffenen Teilgrup-

197

Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik

pen der Arbeitslosen impliziert (vgl. Tabelle 1). Das markiert den Unterschied zu den ökonomischen Wohlfahrtstheoretikern und Utilitaristen, die für die Maximierung des Durchschnitts eintreten (also für die Senkung der Arbeitslosenquote insgesamt), während Rawls sich für die Maximierung des Minimums ausspricht (vgl. G.Schmid 2004).

4

Der institutionelle Rahmen: Verteilung von Kompetenzen und Ressourcen der Arbeitsmarktpolitik im Bundesstaat

Die Kompetenz für die Arbeitsmarktpolitik liegt in Deutschland nach Art. 74 Nr. 12 GG im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung beim Bund. Demnach ist dieser für die Arbeitsvermittlung und die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung zuständig. Zentrale Institution ist neben dem Arbeitsministerium die Bundesagentur bzw. früher Bundesanstalt für Arbeit (BA). Die in der öffentlichen Debatte stattfindende Fokussierung auf die Aktivitäten der BA und des Bundes – v.a. des Arbeitsministeriums – greift allerdings entschieden zu kurz. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Mehrebenenpolitik, wie der Blick auf Geld und Programme zeigt: Bei einer rein monetären Betrachtung kann zum einen davon ausgegangen werden, dass der Bund bzw. die Bundesagentur mit rund ¾ der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik zwar den dominanten arbeitsmarktpolitischen Akteur darstellt, aber die Bundesländer – bei den hohen Summen – immer noch bemerkenswerte finanzielle Beiträge leisten, wobei ein immenses Wachstum der Ausgaben eingetreten ist. Ein Beispiel: Baden-Württemberg hat seine Mittelansätze für aktive Arbeitsmarktpolitik seit Ende der 60er Jahre von einer 1/2 Mio. auf inzwischen knapp 100 Mio. Euro gesteigert – und dabei zugleich erhebliche Verschiebungen zwischen struktur- und qualifizierungspolitisch sowie sozialpolitisch orientierten Ausgaben vollzogen. Eine solche Entwicklungsdynamik ist kaum in einem anderen Politikfeld anzutreffen. Tabelle 2:

Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik in Baden-Württemberg (in Mio. Euro, gerundete Prozentwerte ohne Sonstiges) 1968

1975

1987

2001

2006

struktur- und qualifizierungspolitische Ausgaben

0,33 (83%)

3,94 (29%)

10,35 (37%)

30,0 (44%)

23,63 (24%)

sozialpolitisch orientierte Ausgaben

0,07 (17%)

9,86 (71%)

17,42 (63%)

21,74 (32%)

56,59 (57%)

Gesamt (inklusive sonstige Ausgaben)

0,40

13,80

27,77

67,68

98,96

Quelle: eigene Erhebung aus den Landeshaushaltsplänen

Zum anderen liegt die Bedeutung der Bundesländer im konzeptionell-innovativen Bereich. Dies zeigt der Blick auf die Evolution des Politikfelds. In ihren Ursprüngen basiert die Landesarbeitsmarktpolitik auf drei Quellen. Eine erste bildet der Bereich der beruflichen Bil-

198

Josef Schmid und Horst Hedrich

dung, die besonders auf arbeitslose Jugendliche ausgerichtet war. Eine zweite, eng damit verbundene Linie hat sich im Rahmen der Sozialhilfe entwickelt und besteht aus Beschäftigungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose, sozialpädagogischer Begleitung und der Schaffung von zusätzlichen, gemeinnützigen Arbeitsmöglichkeiten. Eine dritte Quelle liegt in der „vorhaltende(n) staatliche(n) Arbeitsmarktpolitik“ (so Müller 1985 am Beispiel Bremen), d.h. Ausgaben zur Sicherung und Schaffung von dauerhaften Arbeitsplätzen durch Industrieansiedlung, Dienstleistungsförderung und direkte Arbeitsplatzbeschaffung. Die Orientierung liegt in diesem Falle im Bereich der Wirtschafts- und Strukturpolitik, während die ersten beiden Strömungen stärkere sozialpolitische Komponenten aufweisen. Eine gewisse Rolle spielt auch die Strategie der Personalausweitung in der Landesverwaltung, die hier aber – im Unterschied zu Studien von Schmidt (1980) – nicht als Arbeitsmarktpolitik betrachtet wird, allerdings die Arbeitsmarktperformanz der Länder durchaus beeinflussen kann. Diese historischen und konzeptionellen Besonderheiten der Landesarbeitsmarktpolitik wurden im Laufe der 70er Jahre durch die Aktivitäten des Bundes bzw. der Bundesanstalt/ Bundesagentur erheblich überlagert: Im Rahmen des AFG erfolgte die Ausweitung des Mitteleinsatzes und der Instrumente, was die Arbeitsmarktpolitik im Allgemeinen und die sozialpolitische Ausrichtung im Besonderen stärkte. Zugleich entstand in vielen Bundesländern eine enge sachlich-instrumentelle Anbindung an die Bundesanstalt/Bundesagentur durch das Komplementärfinanzierungsregime. Trotz dieser starken Rolle des Bundes und der Ausstrahlung seiner Programme auf die Länderaktivitäten bleibt allerdings noch genügend Spielraum für eigene Konzepte: Im „Schatten der Bundes“ bzw. der Bundesagentur haben die Bundesländer v. a. in den letzten Jahren eine Reihe innovativer Programme entwickelt und umgesetzt (Blancke 2004, J.Schmid/Blancke 2001). Einen wichtigen Faktor, der zu einer teilweisen Lockerung der Bindung an das AFG und damit an die Maßnahmen der Bundesanstalt/Bundesagentur führt, bildet seit Mitte der 80er Jahre die EU, v.a. mit dem Europäischen Sozialfonds. Dieses zweite, externe Förderregime weist sowohl rechtlich, konzeptionell als auch finanziell neue Möglichkeiten für die Länder auf. Dabei erweisen sich die Vorgaben der EU in der Regel als offener und autonomieschonender als die der Bundesagentur, was Innovationen auf Landesebene erleichtert. Schließlich sind die Kompetenzen- und Ressourcenverteilungen nach den Hartz-Reformen erheblichen Veränderungen unterworfen worden (vgl. J.Schmid 2007), so dass sich derzeit neue Muster herausbilden. Verstärkt wird der aktuelle Veränderungsdruck durch die absehbaren Einschränkungen, ja eventuell gar die Beendigung der EU-Förderung. Insgesamt gesehen zeigt sich, dass a) die Bundesländer in ihrem Politikfeld Arbeitsmarkt strukturell offen bzw. gekoppelt an unterschiedliche externe Systeme sind, was eine gewisse Flexibilität erlaubt. Ferner zeigt sich b) eine Komplementarität der Aktivitäten beider Ebenen, die auch als eine Art Kompensation von zentralstaatlichem Politikversagen durch die Länder begriffen werden könnte.

Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik

5

199

Differenzen zwischen politischen Ebenen: Stärken und Schwächen von Bund und Ländern

Der Vergleich der beiden Ebenen der Arbeitsmarktpolitik zeigt, dass die Länder einige Stärken besitzen bzw. der Bund einige Schwächen aufweist, die mit den institutionellen Bedingungen zusammenhängen: Für die Bundesländer spricht, dass sie in den letzten Jahren ihre Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik kontinuierlich erhöht und ihre Maßnahmen ausgeweitet haben, während die Bundesagentur und der Bund sich eher prozyklisch verhalten haben. Dabei spielt der Finanzierungsmodus eine wichtige Rolle, denn Maßnahmen der aktiven und der passiven Arbeitsmarktpolitik des Bundes werden aus dem Budget der Bundesagentur finanziert. Im Falle hoher Arbeitslosigkeit bleibt so nur wenig finanzieller Spielraum für aktive Maßnahmen, weil die Kompensationsleistungen (Arbeitslosengeld) schon den größten Teil des Budgets verbrauchen, was zu einer prozyklischen Aktivität geführt hat (G.Schmid/Reissert 1988). Eine solche Scherenentwicklung tritt bei der Steuerfinanzierung und den Fördermitteln der EU sowie dem aktiven Maßnahmenprofil der Länder nicht auf. Gleichwohl besteht angesichts der globalen Ressourcenverteilung eine gewisse materielle Abhängigkeit der Länder. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass im deutschen Föderalismus die Aktivitäten des Bundes eine bemerkenswerte Tendenz zu einer regional ausgeglichenen Verteilung der Ressourcen aufweisen. D.h. zwischen dem Problemdruck und der Mittelverteilung der Bundesanstalt/Bundesagentur besteht kein nennenswerter statistischer Zusammenhang. Offensichtlich hat sich gegenläufig zum problemorientierten Verteilungsmodus eines Teils der Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik (v.a. aus dem Eingliederungstitel) eine gegenläufige Tendenz der proportionalen Allokation eines anderen Teils eingebürgert, die die prosperierenden Länder und Regionen begünstigt (vgl. detaillierter J.Schmid u.a. 2004). Die Länder zeigen bei der Gestaltung der Maßnahmen mehr Flexibilität als die Bundesagentur – sowohl formal-organisatorisch als auch sachlich. Bei der Bundesagentur herrschen enge sozialrechtliche Vorschriften und eine bürokratische Organisationskultur vor; beides kann als Spill-over aus der traditionellen passiven Leistungsverwaltung interpretiert werden. Hinzu kommen Zentralisierungs- und Unitarisierungsimpulse durch die Tarifparteien, die im Rahmen der Selbstverwaltung der Bundesanstalt/Bundesagentur über beträchtlichen Einfluss verfügen – was in den meisten Ländern nicht der Fall ist (vgl. dazu Lehmbruch 2004, Heinze/J.Schmid 1994). Allenfalls NRW weist in der Arbeitsmarktpolitik (bis zum Regierungswechsel) gewisse korporatistische Züge auf. Auch die Verknüpfung mit strukturpolitischen Zielen (als originärem Tätigkeitsfeld der Länder) und die Unterstützung und Anregung innovativer Projekte ist ihnen eher möglich als der Bundesagentur oder dem Bundesministerium. Entsprechend konstatiert etwa Roland Czada: „Die rechtlich-institutionellen Grenzen der Bundesanstalt liegen vor allem dort, wo individuelle Arbeitslosigkeit aus regionalen Strukturproblemen resultiert, und deshalb industriepolitische Maßnahmen angebracht wären. Die Bundesanstalt verfügt über keinerlei industriepolitische Kompetenz, und ist auch in den von Banken, Landesregierungen, Gewerkschaften und Kommunen

200

Josef Schmid und Horst Hedrich beherrschten Netzwerken der Struktur- und Industriepolitik kaum vertreten. Geht es um beschäftigungsrelevante Großfusionen und Produktionsverlagerungen, so ist die Politik, insbesondere in Gestalt von Landesregierungen und Kartellbehörde oft stark beteiligt; die Bundesagentur hingegen ist hier kein relevanter Akteur“ (Czada 1990: 269).

Abbildung 2:

Stärken

Stärken-Schwächen-Analyse der Mehrebenenarbeitsmarktpolitik Arbeitsmarktpolitik der Länder

Arbeitsmarktpolitik des Bundes

ƒ ƒ ƒ

kontinuierlich erhöhte Ausgaben Flexibilität dezentrale, problemnahe Maßnahmen Verknüpfung mit Strukturpolitik

ƒ ƒ

hoher Mitteleinsatz bundesweite, einheitliche Aktivitäten („Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“)

geringes Mittelvolumen Abhängigkeit durch Kofinanzierung („Goldene Zügel“)

ƒ ƒ

tendenziell prozyklische Ausgaben proporz- statt problembezogene Verteilung der Mittel Bürokratisierung

ƒ Schwächen

ƒ ƒ

ƒ Quelle: eigene Darstellung

Neben den aktiven Maßnahmen können die Länder wichtige Steuerungs- und Koordinationsfunktionen übernehmen, z.B. die Einrichtung von Regionalstellen, mit denen die Kooperation der verschiedenen Akteure der Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik institutionalisiert wird. Hiermit kann nicht zuletzt auch den lauter werdenden Forderungen nach einer Regionalisierung der Arbeitsmarktpolitik Rechnung getragen werden. Davon wird sich eine bessere Berücksichtigung der Probleme vor Ort sowie die schnelle und flexible Antwort auf neue Herausforderungen versprochen.

6

Die Aktivitäten der Länder: Datenbasis und Vergleich

Im Folgenden wird die Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer nach den Mittelansätzen in den Haushalten beurteilt und verglichen. Grundlage bildet eine eigene Analyse der Haushalte der 16 Bundesländer in den Jahren 2001-2006, wobei nicht primär auf das System der Funktionskennziffern rekurriert wurde, weil dieses Verfahren erhebliche Ungenauigkeiten aufweist. Daher sind auch weitere, zum Politikfeld sachlich zuordenbare Positionen hinzugenommen worden bzw. sachfremde Haushaltspositionen wie die Schwerbehindertenabgabe herausgenommen worden (zum Vorgehen vgl. Schmid u.a. 2004, Kohler 2004). Nach unseren Beobachtungen weichen simple Darstellungen nach den traditionellen Funktionskennziffern oder auch nach offiziellen Verlautbarungen der Ministerien nicht selten rund 25% von den ermittelten Ausgaben ab. Solche Schwankungen treten auch im Längsschnitt auf – etwa im Mittelzufluß durch die EU – und erzeugen einen höheren Fehler als manche überraschende Varianz, die die vergleichende Policy-Forschung zu erklären versucht. Eine weitere Informationsbasis, die hier nicht systematisch präsentiert werden kann, bildet eine kleine Befragung relevanter Akteure in der Ministerialverwaltung der Länder (Abteilungs-/ Referatsleiter).

Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik Abbildung 3:

Schema der Erhebung und Zuordnung von Haushaltsdaten

Einnahmen 1

Bund und Bundesagentur für Arbeit

2 Europäische Mittel (ESF und andere sonstige europäische Fördermittel) Ausgaben: Einzelkategorien A Erstausbildung Bund/Länderinitiativen zur Förderung der Erstausbildung (Lehrstelleninitiativen), Landesprogramme zur Förderung der Erstausbildung, z. B. Zuschüsse zur Ausbildung an Unternehmen, Verbundausbildung, Lehrstellenberatung usw. B

Berufliche Qualifizierung

B1

Handwerk (überbetriebliche Lehrgänge Handwerk) und Unternehmen

B2

Landwirtschaft

B3

Modellversuche in der beruflichen Bildung (Bund)

B4 Förderung der Erwachsenenbildung und deren Infrastruktur (Weiterbildungsgesetze, investive und institutionelle Förderung) B5

Sonstige Qualifizierung (Zielgruppen)

C

Existenzgründungsförderung

D

Komplementärfinanzierung von Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit

E Integrationsmaßnahmen für besondere Zielgruppen einschließlich Beratungsstrukturen (z. B. Arbeitsloseninitiativen) F Umsetzungsstrukturen (Technische Hilfe, Evaluationen, Controlling u. Monitoring, Forschung, Verwaltung, usw.) G

Sonstiges

Auswertungskategorien I. Strukturpolitisch und qualifizierungs-/bildungspolitisch orientierte Ausgaben; Orientierung „Erster Arbeitsmarkt“ (A, B1–4, C, F) II. Sozialpolitisch orientierte Ausgaben Orientierung „Zweiter Arbeitsmarkt“ (B5, D, E) III.

Sonstige Ausgaben

Quelle: eigene Darstellung

201

202

Josef Schmid und Horst Hedrich

Die von uns verwendete Datenbasis erlaubt ferner, nicht nur die Ausgaben im Aggregat heranzuziehen, sondern darüber hinaus zwischen verschiedenen sachlichen Schwerpunkten zu unterscheiden. Wichtig ist v.a. die Differenzierung zwischen primär sozialpolitischen und eher wirtschafts- und strukturpolitischen Orientierungen bzw. Ausgaben in der Arbeitsmarktpolitik (siehe Tabelle 3). Zu den weiteren Variablen, mit denen operiert wird, gehören die Zugehörigkeit zu einer Ländergruppe (Ost-, West-, Stadtstaaten) und das für die Mittelverwendung zuständige Ministerium. Tabelle 3:

Durchschnittliche Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik im Landeshaushalt 2001-2006 Prozent-Anteil der sozialpolitischen Ausgaben an den Gesamtausgaben

Ausgaben pro Arbeitslosem (in Euro je Jahr)

Prozent-Anteil der strukturpolitischen Ausgaben an den Gesamtausgaben

Westdeutschland

360,9

25,8%

59,6%

Baden-Württemberg

265

33,07%

51,26%

Bayern

326

33,83%

44,23%

Hessen

276

51,88%

45,97%

Niedersachsen

315

8,24%

91,36%

Nordrhein-Westfalen

338

15,62%

83,42%

Rheinland-Pfalz

469

19,63%

53,11%

Saarland

579

20,59%

31,00%

Bundesland

Schleswig-Holstein

320

23,70%

76,30%

Stadtstaaten

888,5

18,8%

78,0%

Berlin

773

34,48%

63,78%

Bremen

836

12,53%

81,11%

1.593

20,67%

77,88%

Hamburg Ostdeutschland

856,0

16,5%

80,9%

Brandenburg

748

7,13%

85,11 %

Mecklenburg-Vorpommern

32,48%

67,33%

Sachsen

546

8,34%

86,52%

Sachsen-Anhalt

756

18,59%

81,41%

1.230

15,89%

84,11%

Thüringen

1.000

Quelle: eigene Erhebung/Berechnung

Welche Unterschiede treten auf der Basis dieser Daten zu Tage? Als erstes wird erkennbar, dass die Ausgaben zwischen den Bundesländern deutlich variieren; am höchsten sind sie in Ostdeutschland und in den Stadtstaaten. Hier wirken sich einerseits der hohe Problemdruck und anderseits die institutionellen Besonderheiten des Zusammenfallens von Landes- und kommunalen Aufgaben aus. Interessant sind zum zweiten auch die gravierenden Unterschiede zwischen a) sozial- und b) strukturpolitischen Ausgaben bzw. Orientierungen im

Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik

203

Rahmen der Arbeitsmarktpolitik der Länder: In allen Ländern überwiegen die sozialpolitischen Ausgaben, wobei der Vorsprung im Durchschnitt in den ostdeutschen Ländern und in den Stadtstaaten größer ausfällt als in Westdeutschland. Hinter diesen Haushaltsdaten stecken eine Fülle von Programmen und Maßnahmen, die hier nicht im Einzelnen beschrieben werden können (vgl. Schmid u.a. 2004 sowie Bertelsmann Stiftung 2007). Einige davon gelten als sehr innovativ und bestätigen den Charakter der Bundesländer als innovative Laboratorien. Sachsen-Anhalt geht zum Beispiel mit einem Modellversuch zur „Bürgerarbeit“ neue Wege in der Integration von Langzeitarbeitslosen und hat dadurch bundesweit Aufsehen erregt (Der Spiegel vom 8.1.2007: 16).

7

Die Erklärung von Varianzen: Determinanten der Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik im Ländervergleich

Da a) die Wirksamkeit arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen umstritten ist, b) den Bundesländern gewisse Stärken im Vergleich zum Bund zugesprochen werden und c) sowohl die Arbeitsmärkte als auch die aktive Arbeitsmarktpolitiken auf Landesebene bemerkenswerte Unterschiede aufweisen, lohnt sich eine statistische Analyse der Zusammenhänge. Die berechneten Regressionsmodelle bestehen aus einer Reihe von Determinanten, die sich aus der vergleichenden Policy-Analyse heranziehen lassen. Im Lichte der Heidelberger Schule (vgl. etwa Schmidt 1993, Zohlnhöfer 2008) sind dies v.a. der sozioökonomische Problemdruck, die Macht von Parteien an der Regierung und gesellschaftlicher Gruppen (hier Gewerkschaften), der Einfluss von Institutionen sowie das Politikerbe und die sog. internationale Hypothese; Letztere kann im Bezug auf die EU-Förderung durchaus beachtliche Erklärungserfolge erzielen. Ergänzend zu diesem Ansatz differenzieren wir stärker bei der Struktur der Arbeitslosigkeit sowie bei den Arten und der Ausrichtung der eingesetzten Haushaltsmittel; ferner berücksichtigen wir die administrative Umsetzung in Form der Fragmentierung (bzw. Konzentration) der Mittelverwaltung durch die Ministerien sowie das Ausmaß der Regionalisierung der Arbeitsmarktpolitik. Angesichts der aktuellen Debatten wird der Einfluss der Kinderbetreuung getestet. Schließlich unterscheiden wir zwischen Stadtstaaten und Flächenstaaten in Ost- und Westdeutschland. Damit wird wesentlichen historischen, institutionellen und wirtschaftsstrukturellen Unterschieden Rechnung getragen. Insofern ähnelt dies etwas der Unterteilung von Wohlfahrtsstaatsregimen nach Esping-Andersen, da hier jeweils andere Logiken der Staatsintervention zum Tragen kommen. Dabei gehen wir in zwei Schritten vor: In einer ersten Analyse wird versucht, die Abweichungen auf den Arbeitsmärkten zu erfassen, im zweiten Untersuchungsschritt konzentrieren wir uns darauf, die Unterschiede bei den Ausgaben zu erklären (vgl. die Regressionsmodelle im Anhang und Hedrich 2007).

204

Josef Schmid und Horst Hedrich

7.1 Untersuchung der Arbeitsmärkte Als abhängige Variablen im Bereich Arbeitsmarkt werden die Arbeitslosenquote, die Erwerbsquote sowie die Abweichungen der Teilgruppen an Arbeitslosen (Frauen, Jugendliche, Langzeitarbeitslose; s.o. Tabelle) herangezogen. Damit wird versucht, eine den Möglichkeiten und Grenzen der Arbeitsmarktpolitik angemessene Bewertung vorzunehmen, die auch den eingangs skizzierten strategischen und konzeptionellen Überlegungen entspricht. Die Analyse zeigt folgende Ergebnisse: Den wichtigsten Einfluss auf die Lage am Arbeitsmarkt übt das Wirtschaftswachstum aus: Mit einer Zeitverzögerung von vier Jahren werden die besten statistischen Ergebnisse erzielt2 und demnach senkt 1% Wachstum die Arbeitslosenquote um rund einen halben Prozentpunkt. Das belegt den hohen Einfluss ökonomischer Faktoren, allerdings auch deren relativ langsame Wirkung. Im Bezug auf die Angleichung der Teilgruppen am Arbeitsmarkt fällt die Wirkung etwas geringer aus, bleibt aber signifikant (– am stärksten bei einer Verzögerung von fünf Jahren). Hier gilt, dass Wachstum die Arbeitslosigkeit generell verringert und dann weniger Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt herrschen bzw. umgekehrt wachsen bei steigender Arbeitslosenquote einige Teilarbeitslosenquoten überproportional an, was dann zur stärkeren Ungleichheit führt. Die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik leisten durchaus einen Beitrag dazu, sowohl die Arbeitslosigkeit zu senken als auch bestehende Ungleichheiten zwischen Teilgruppen am Arbeitsmarkt abzufedern. Pro 100 Euro Mehrausgaben je Arbeitslosem verringert sich die Arbeitslosenquote um gut 0,3 Prozentpunkte; die kumulierten Abweichungen der Teilgruppen vom Durchschnitt im Lande sinken um 0,12 Prozentpunkte. Das belegt die Wirksamkeit der aktiven Arbeitsmarktpolitik der Länder (im Unterschied zu der des Bundes). Interessant ist dabei ferner, dass die strukturpolitischen Ausgaben einen deutlich größeren Beitrag zum Abbau von Ungleichheiten zwischen einzelnen Problemgruppen am Arbeitsmarkt leisten, während die sozialpolitischen Ausgaben wirksamer beim Abbau der Arbeitslosigkeit allgemein sind. Hier schlagen möglicherweise die überdurchschnittlich starken Aktivitäten im Bereich Jugend bzw. die niedrigen Aktivitäten bei den Langzeitarbeitslosen zu Buche.

2 Bei kürzeren zeitlichen Abständen sinken die statistischen Zusammenhänge leicht ab; der time lag ist allerdings auch in sachlicher Hinsicht richtig, denn die Maßnahmen brauchen Zeit, um zu wirken.

205

Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik Abbildung 4:

Übersicht über die Regressionsmodelle – nach verschiedenen Dimensionen differenziert

Gesamt

Arbeitslosigkeit

Chancengleichheit

Erwerbsquote

Strukturpolitische Ausgaben

Nicht signifikant

Signifikant: Deutlicher Effekt

Nicht signifikant

Sozialpolitische Ausgaben

Signifikant: Deutlicher Effekt

Signifikant: Marginaler Effekt

Nicht signifikant

Westdt. Flächenländer

Arbeitslosigkeit

Chancengleichheit

Erwerbsquote

Strukturpolitische Ausgaben

Signifikant: Sehr starker Effekt

Signifikant: Sehr starker Effekt

Signifikant: Sehr starker (negativer!) Effekt

Sozialpolitische Ausgaben

Nicht signifikant

Nicht signifikant

Nicht signifikant

Ostdt. + Stadtstaaten

Arbeitslosigkeit

Chancengleichheit

Erwerbsquote

Strukturpolitische Ausgaben

Nicht signifikant

Signifikant: Deutlicher Effekt

Nicht signifikant

Sozialpolitische Ausgaben

Signifikant: Deutlicher Effekt

Signifikant: Geringer Effekt

Signifikant: Deutlicher (negativer!) Effekt

Quelle: eigene Berechnung. Modelle siehe Anhang.

Entgegen den familienpolitischen Diskussionen sind in multivariaten Analysen keine positiven Effekte der Zahl der (Klein-)Kinderbetreuungsplätze bzw. der Betreuungsquote erkennbar; die Arbeitslosigkeit steigt sogar mit dem Angebot. Die leichte positive Wirkung auf die Erwerbsquote ist ein ostdeutscher Effekt; für den Westen gilt, dass der Spitzenreiter in der Arbeitsmarktperformanz, Baden-Württemberg, bei dem Indikator Betreuung hinten liegt, während das Saarland bei der Betreuungsinfrastruktur zwar vorne rangiert, aber bei der Performanz den zweitletzten Platz einnimmt. In politisch-institutioneller Hinsicht weisen Stadtstaaten nicht nur eine höhere Arbeitslosigkeit auf, zugleich ist hier die Betroffenheit nach Teilgruppen sehr unterschiedlich bzw. herrscht nach dem Rawls-Kriterium eine geringere Gerechtigkeit und Fairness. Darüber hinaus zeigen sich auch einige bemerkenswerte Wirkungsdifferenzen, wenn man Stadtstaaten, westdeutsche und ostdeutsche Flächenstaaten unterscheidet (s. Abbildung 4). Unter dem Blickwinkel des Policy-Learnings spricht dies für enge Grenzen der Übertragbarkeit bzw. komplexe Interaktionen zwischen Problem, Intervention und Kontext. Zudem wirkt sich die Art der Implementation aus: Diejenigen Länder, bei denen mehrere Ministerien beteiligt sind, also die Mittelverwaltung fragmentiert erfolgt, weisen eine bessere Performanz am Arbeitsmarkt auf. Hier spielt eine problemnähere Ausdifferenzie-

206

Josef Schmid und Horst Hedrich

rung der Maßnahmen ebenso eine Rolle wie die verbesserten Möglichkeiten, externe Mittel ins Land zu holen. Im Sinne der neuen politischen Ökonomie bzw. Theorie der politischen Konjukturzyklen hätten sich ferner erhöhte Ausgaben zur Verbeserung der Performanz vor Landtagswahlen erwarten lassen, allerdings erwiesen sich die Ergebnisse hierfür als statistisch insignifikant. Möglicherweise wirkt der Druck der Haushaltskonsolidierung gegenläufig und die politische Profilierung wird in der Sanierung der Landeshaushalte gesucht. Die Erklärungskraft der gerechneten Modelle fällt insgesamt gesehen sehr hoch aus; mit einem korrigierten R² von rund 0,9 (Arbeitslosigkeit) bzw. 0,7 (Ausgabe) können 90% bzw. 70% der Abweichungen bei der Arbeitslosigkeit erklärt werden.

7.2 Untersuchung der Länderausgaben im Politikfeld Als abhängige Variablen im Bereich Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik werden die Höhe sowie die Arten (struktur- vs. sozialpolitische Ausrichtung) differenziert. Zur Erklärung werden folgende Faktoren herangezogen: Der prozentuale Anteil der SPD-Sitze in den Landtagen, die Stärke der Gewerkschaften, der Einfluss von Landtagswahlen sowie die Gesamtperformanz der Bundesländer. Die Entwicklung der Bevölkerung und das Wirtschaftswachstum fungieren als Kontrollvariablen. Um die strukturellen Besonderheiten der ostdeutschen Länder und der Stadtstaaten zu erfassen, wurden zwei Dummy-Variablen benutzt. Die Analyse zeigt folgende Ergebnisse: Den wichtigsten Einfluss auf die Höhe und Struktur der Ausgaben üben die beiden Dummy-Variablen „Stadtstaat“ und „Ostdeutschland“ aus: Die strukturellen Unterschiede und Problemlagen sind derart schwerwiegend, dass unabhängig von anderen Variablen die Ausgaben pro Arbeitslosem durchschnittlich fast dreimal so hoch liegen wie in den westdeutschen Flächenländern. Die Strukturunterschiede sind zudem auch für den größeren Anteil der sozialpolitisch orientierten Ausgaben verantwortlich. Hier erweisen sich insbesondere die höheren ESF-Zuflüsse als ursächlich. D.h. das EU-Finanzierungsregime erhöht nicht nur die Autonomie von der Bundesagentur, sondern erzeugt durch die Einteilung in unterschiedliche Förderzonen erhebliche Variationen der Mittelflüsse. Der zweitgrößte Effekt auf die Ausgabenhöhe fällt auf die Gesamtperformanz (SMOP) der Bundesländer: Je besser die Lage auf dem Arbeitsmarkt, desto mehr Mittel werden verwendet. Hier zeigt sich eine Ausrichtung der Ausgaben, die offensichtlich nicht dem Problemdruck entspricht. Das entspricht den (Fehl-)Allokationen des Bundes bzw. der BA und relativiert einen komparativen Vorteil der Landesebene. Bei der Betrachtung von struktur- vs. sozialpolitischen Ausgaben zeigt sich der positive Einfluss der SPD-Regierungsbeteiligungen auf die Gesamtausgaben und die sozialpolitische Ausrichtung; ferner tendieren die (prosperierenden und meist CDU-regierten) Westländer dazu, strukturpolitische Maßnahmen zu fördern. Parteien machen demnach einen Unterschied, der freilich eng mit der sozioökonomischen Lage korreliert. Solche sachlichen Prioritätenunterschiede werden bei Fällen eines Regierungswechsels wie in NRW besonders deutlich; dort setzt die CDU-FDP Regierung „neue Akzente in der Arbeitsmarktpolitik“ im Sin-

207

Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik

ne einer Unterstützung der Programme für Jugendliche ohne Lehrstellen – zu Lasten anderer Problemgruppen (vgl. Landtag intern 13/2006). Abbildung 5:

Übersicht über die Regressionsmodelle – nach verschiedenen Dimensionen differenziert

Gesamt

Gesamtausgaben

Strukturpol. Ausg.

Sozialpol. Ausgaben

Wachstum BIP

Signifikant: + Deutlicher Effekt

Nicht Signifikant

Nicht Signifikant

Sitzanteil SPD

Signifikant: + Deutlicher Effekt

Nicht Signifikant

Signifikant: + Deutlicher Effekt

SMOP

Signifikant: + Sehr starker Effekt

Signifikant: + Starker Effekt

Signifikant: + Sehr starker Effekt

Westdt. Flächenländer

Gesamtausgaben

Strukturpol. Ausg.

Sozialpol. Ausgaben

Wachstum BIP

Nicht Signifikant

Signifikant: + Schwacher Effekt

Nicht Signifikant

Sitzanteil SPD

Nicht Signifikant

Nicht Signifikant

Nicht Signifikant

SMOP

Nicht Signifikant

Signifikant: + Deutlicher Effekt

Signifikant: Deutlicher (negativer!) Effekt

Ostdt. + Stadtstaaten

Gesamtausgaben

Strukturpol. Ausg.

Sozialpol. Ausgaben

Wachstum BIP

Nicht Signifikant

Nicht Signifikant

Nicht Signifikant

Sitzanteil SPD

Nicht Signifikant

Nicht Signifikant

Nicht Signifikant

SMOP

Signifikant: + Sehr starker Effekt

Signifikant: + Starker Effekt

Signifikant: + Sehr starker Effekt

Regionalisierung

Arbeitslosigkeit

Chancengleichheit

Erwerbsquote

Länder mit Regionalisierung

Nicht signifikant

Nicht signifikant

Nicht signifikant

Alle Länder ohne Stadtstaaten

Signifikant: + Geringer bis mittlerer Effekt

Signifikant: + Geringer bis mittlerer Effekt

Signifikant: + Geringer bis mittlerer Effekt

Fraktionalisierung

Arbeitslosigkeit

Chancengleichheit

Erwerbsquote

Alle Länder

Signifikant: Mittlerer Effekt

Signifikant: Mittlerer Effekt

Nicht signifikant

Westdt. Flächenländer

Signifikant: Mittlerer Effekt

Signifikant: Mittlerer bis starker Effekt

Signifikant: + Sehr starker Effekt

Ostdt. + Stadtstaaten

Signifikant: + Mittlerer Effekt

Nicht signifikant

Nicht signifikant

Quelle: eigene Berechnung. Die Modelle wurden aus Platzgründen nicht in den Anhang aufgenommen, sie sind bei den Autoren erhältlich.

208

Josef Schmid und Horst Hedrich

Einen deutlich geringeren Einfluss, der statistisch nur auf dem 10%-Level signifikant ist, besitzt das um ein Jahr verzögerte Wirtschaftswachstum: Hier führt ein Prozent Wachstum zu einer Steigerung der Mittelausgaben um immerhin 40 € pro Arbeitsloser. Das erklärt die relativ hohen Aktivitäten der süddeutschen Bundesländer. Auch der prozentuale Sitzanteil der SPD erweist sich als statistisch hochsignifikant: Ein ein Prozentpunkt höherer SPD-Sitzanteil erhöht die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik um durchschnittlich 10 €. Damit erweist sich die Parteiendifferenz-These noch einmal als bestätigt. Für den Einfluss der Landtagswahlen sowie den Organisationsgrad der DGB-Gewerkschaften konnten keine statistisch signifikanten Ergebnisse nachgewiesen werden. Möglicherweise sind die Gewerkschaften zu stark auf die Selbstverwaltung der Bundesanstalt/ Bundesagentur konzentriert. Dieses Ergebnis entspricht auch einer eigenen Erhebung bei den arbeitsmarktpolitischen Akteuren in den Ministerien (vgl. Bertelsmann Stiftung 2007).3

8

Fazit: Macht Landesarbeitsmarktpolitik einen Unterschied?

Im Lichte der präsentierten Daten und Analysen erweist sich die Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer als durchaus wirksames Instrument staatlicher Steuerung, was die Vermutung von komparativen Vorteilen dieser Ebene gegenüber der Bundespolitik samt der Bundesagentur stützt. Dies gilt sowohl nach den Kriterien der Wohlfahrtsökonomie, die auf eine Verringerung der Arbeitslosenquote abzielt, wie auch nach dem Rawls´schen Gerechtigkeits-Kriterium, wonach die Abweichungen der Teilgruppen an Arbeitslosen (Frauen, Jugendliche, Langzeitarbeitslose) im Sinne einer Verbesserung der Lage derer, die am negativsten Betroffen sind, zu bewerten ist. Diese beiden Kriterien sind gut geeignet, den Möglichkeiten und Grenzen der Landespolitik Rechnung zu tragen. Zugleich zeigt sich aus der Perspektive der vergleichenden Politikfeldanalyse, dass die differenzierte Betrachtung – nach a) der Performanz der Arbeitsmärkte, b) den Ausgaben und c) den Ländergruppen – einige Überraschungen bereit hält – etwa die bemerkenswerte Wirksamkeit der Ausgaben für aktive Arbeitsmarkpolitik der Länder (im Gegensatz zu denjenigen der BA!). Manches basiert auf dem großen Unterschied zwischen Ost und West – was die Bedeutung des Erbes politischer und ökonomischer Unterschiede belegt. Zudem wirkt sich der Einfluss der europäischen Förderung (gemäß der internationalen Hypothese) aus. Weniger stark schlägt die Wirkung der klassischen Faktoren Parteipolitik und Machtverteilung, v.a. der Einfluss der Gewerkschaften, durch. Hier spielen möglicherweise zwei Aspekte eine Rolle, die dazu führen, die politische Beeinflussung eher als U-Kurven-Phänomen zu interpretieren. Zum einen betreiben Länder ohne Problemdruck, aber mit vielen Ressourcen relativ betrachtet zu viel Arbeitsmarktpolitik: Der Überfluss erzeugt hier einen Druck zu Maßnahmen – unabhängig von der Präferenz der Regierungspartei. Umgekehrt werden die parteilpolitischen Einflüsse systematisch verzerrt in Ländern, in denen eine sehr hohe Arbeitslosigkeit herrscht. Hier fließen erhebliche Mittel des Bundes und der EU, die 3 Befragt wurden die Referats- und Abteilungsleiter, die für die Arbeitsmarktpolitik der Länder zuständig sind (Erhebungszeitraum: Dezember 2006, N =18).

Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik

209

dann kofinanziert und ergänzt werden müssen. Oder: Wo die Not am größten ist, endet die Entscheidungsfreiheit der Regierungsparteien. Der Umstand, dass die Bundesländer im Feld der Arbeitsmarktpolitik strukturell offen sind bzw. an externe Systeme bzw. Finanzierungsregime gekoppelt sind, relativiert nicht nur den Einfluss von landesinternen Faktoren erheblich, sondern zugleich kann die Wahl der Abhängigkeit im Sinne Luhmanns als Autonomie – oder skeptischer als struktureller Opportunismus – interpretiert werden. Zugleich erklärt dieser Umstand, warum die Länder gemäß unserer kleinen Befragung alle Ziele verfolgen: Nicht weil eine Zweck-Mittel-Relation vorliegt – wie man unter einer Steuerungsund Implementationsperspektive annehmen würde–, sondern eine System-Umwelt-Beziehung, die der Attrahierung von Ressourcen dient (vgl. dazu Luhmann 1968). Interessant und bemerkenswert sind die beobachteten Einflüsse unterschiedlicher Implementierungsformen, die hier als Fragmentierung und Regionalisierung der Mittelverwaltung betrachtet worden sind. Ähnliche Unterscheide bei den „Verwaltungsstilen“ sind im Übrigen in der Schweiz anzutreffen und spielen dort ebenfalls eine wichtige Rolle (Perret u.a. 2007). Insofern lässt sich die vergleichende Policy-Analyse durchaus noch ergänzen und stärker auf den spezifischen Untersuchungsgegenstand fokussieren – auch im Sinne einer Disaggregation und Differenzierung von Indikatoren und Hypothesen. Gezeigt haben sich erwartungsgemäß erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West, nicht nur im Hinblick auf die bekannte Performanzdifferenzen, sondern auch in der Stärke von Determinanten und der Wirkung von Interventionen. Gleichwohl ist diese Differenzierung zwischen Stadtstaaten und Flächenstaaten in West- und Ostdeutschland auch ambivalent: Der Bezug auf vergleichbare Fälle erhöht zwar die Übertragbarkeit von Strategien und Programmen und somit die politischen Lernpotentiale (so Blancke 2004, Schmid 2006), andererseits enthalten diese Gruppen komplexe Variablen und die Zahl der Fälle, die für statistische Berechnungen herangezogen werden, sinkt erheblich. Insofern handelt es sich um ein Dilemma zwischen der Betonung der politischer Praxis und der statistischen Signifikanz! Schließlich wird jenseits der Determinanten der vergleichenden Politikfeldanalyse die Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer ebenfalls geprägt von einer Art „Logik der Kompensation“. D.h. zwischen Bund und Ländern zeigt sich eine Komplementarität der Aktivitäten, was – eher skeptisch gesehen – auch als eine Art Kompensation von zentralstaatlichem Politikversagen durch die Länder begriffen werden kann. Aber auch innerhalb der Landesebene kommen der Arbeitsmarktpolitik einige Kompensationsfunktionen zu. So dient ein Teil der Maßnahmen für Jugendliche wohl nicht nur der gesellschaftlichen Erwartung nach einer Integration und Sozialisation in das Arbeitsleben, sondern auch der Bewältigung von Folgen eines defizitären Schulsystems. Noch kritischer wäre eine Interpretation im Anschluss an die Disparitätenthese von Claus Offe (1972): Die Bevorzugung der Zielgruppe Jugend – um bei dem Beispiel zu bleiben – folgt einer funktionalen Logik, wonach Maßnahmen sich besonders auf diejenigen Gruppen richten, deren Probleme durch das Versagen anderer staatlicher Systeme und der Funktionsweise einer kapitalistischen Wirtschaftsform erzeugt werden. Freilich sind dies spekulative Überlegungen und Ausblicke; sie deuten aber weitere Forschungsperspektiven auf diesem Feld an.

210

Josef Schmid und Horst Hedrich

Literatur Abraham, Martin/Hinz, Thomas (Hg.), 2005: Arbeitsmarktsoziologie. Probleme, Theorien, empirische Befunde. Wiesbaden. Altmann, Georg, 2004: Aktive Arbeitsmarktpolitik. Entstehung und Wirkung eines Reformkonzepts in der Bundesrepublik Deutschland. VSWG-Beihefte Nr. 176. Wiesbaden. Bertelsmann Stiftung, 2007: Die Bundesländer im Focus – Aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Gütersloh. Blancke, Susanne, 2004: Politikinnovationen im Schatten des Bundes. Policy-Innovationen und -Diffusionen im Föderalismus und die Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer. Wiesbaden. Caliendo, Marco/Steiner, Viktor, 2005: Aktive Arbeitsmarktpolitik in Deutschland: Bestandsaufnahme und Bewertung der mikroökonomischen Evaluationsergebnisse, in: Zeitschrift für Arbeitsmarkt-Forschung 38, 396-418 Caspari, Angelika/Dörhage, Walter (Hg.), 1990: Beschäftigung für die Region. Arbeitsmärkte im Strukturwandel. Berlin. Czada, Roland, 1990: Kuckuckspolitik gegen Arbeitslosigkeit, Institutionellen Schranken der Beschäftigungs- und Sozialpolitik, in: Caspari, Angelika/Dörhage, Walter (Hg.): Beschäftigung für die Region. Arbeitsmärkte im Strukturwandel. Berlin, 259-275. Hedrich, Horst, 2007: Determinanten und Wirkungsweise der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Eine Analyse der deutschen Bundesländer 1995-2005. Tübingen: Magisterarbeit. Heinze, Rolf G./Schmid, Josef, 1994: Mesokorporatistische Strategien im Vergleich: Industrieller Strukturwandel und die Kontingenz politischer Steuerung in drei Bundesländern, in: Streeck, Wolfgang (Hg.): Verbände und Staat. PVS-Sonderheft 25, 65-99. Kohler, Harald, 2004: Die Arbeitsmarktförderung der beiden Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen in den Jahren 1990-2000. Hamburg. Konle-Seidl, Regina, 2005: Lessons learned. Internationale Evaluierungsergebnisse zu Wirkungen aktiver und aktivierender Arbeitsmarktpolitik. IAB Forschungsbericht Nr. 9. Nürnberg. Kröger, Martin/Suntum, Ulrich van, 1999: Mit aktiver Arbeitsmarktpolitik aus der Beschäftigungsmisere? Ansätze und Erfahrungen in Großbritannien, Dänemark, Schweden und Deutschland. Gütersloh. Lehmbruch, Gerhard, 2004: Fragen an die Förderalismuskommission: Strategische Alternativen und Spielräume bei der Reform des Bundesstaates, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften (ZSE) 3, 82-93. Luhmann, Niklas, 1968: Zweckbegriff und Systemrationalität. Tübingen. Luhmann, Niklas, 1990: Risiko und Gefahr, in: Ders., Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Opladen, 131-169. Müller, Alfred, 1985: Vorhaltende staatliche Arbeitsmarktpolitik im Lande Bremen von 1970-1983. Forschungsbericht der Zentralen wissenschaftlichen Einrichtung „Arbeit und Betrieb“, Kooperation Universität Arbeiterkammer Bremen. Bremen. Offe, Claus, 1972: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur politischen Soziologie. Frankfurt. Perret, Virgile/Giraud, Olivier/Helbing, Marc/Battaglini, Monica, 2007: Les canons suisses face au chômage. Féderalisme et politiques de´l employ. Paris. Rawls, John, 1990: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/Main. Schmid, Günther, 2004: „Soziales Risikomanagement durch Übergangsarbeitsmärkte“. Diskussionspapier SP I 2004-110. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Schmid, Günther, 2006: Der kurze Traum der Vollbeschäftigung: Was lehren 55 Jahre deutsche Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik? In: Schmidt, Manfred G./Zohlnhöfer, Reimut (Hg.): Regieren in der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden, 177-201.

Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik

211

Schmid, Günter/Reissert, Bernd, 1988: Machen Institutionen einen Unterschied? Finanzierungssysteme der Arbeitsmarktpolitik im internationalen Vergleich, in: Schmidt, Manfred G. (Hg.): Staatstätigkeit. Opladen, 284-305. Schmid, Josef, 2006: Lernen im Wohlfahrtsstaat. Politische Innovation zwischen Macht und Routine, in: Bellers, Jürgen (Hg.): Polis und paida, 1/2006. Schmid, Josef, 2007: „Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik – Große Reform mit kleiner Wirkung?“ In: Egle, Christoph/Zohlnhöfer, Reimut (Hg.): Ende des rot-grünen Projekts. Bilanz der Regierung Schröder. Wiesbaden, 271-294 Schmid, Josef/Blancke, Susanne, 2001: Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer, Chancen und Restriktionen einer aktiven Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik im Föderalismus. Berlin. Schmid, Josef/Hörmann, Ute/Maier, Dirk/Steffen, Christian, 2004: Wer macht was in der Arbeitsmarktpolitik? Maßnahmen und Mitteleinsatz in den westdeutschen Bundesländern. Eine integrierte und vergleichende Analyse. Münster. Schmid, Josef/Buhr, Daniel/Roth, Christian/Steffen, Christian, 2006: Wirtschaftspolitik für Politologen. Paderborn. Schmidt, Manfred G., 1980: CDU und SPD an der Regierung. Ein Vergleich ihrer Politik in den Ländern. Frankfurt a.M./New York. Schmidt, Manfred G. (Hg.), 1988: Staatstätigkeit. Opladen. Schmidt, Manfred G., 1993: „Theorien in der international vergleichenden Staatstätigkeitsforschung“, in: Heritier, Adrienne (Hg.): Policy-Analyse , PVS Sonderheft 24, 371-394. Schmidt, Manfred G./Zohlnhöfer, Reimut (Hg.), 2006: Regieren in der Bundesrepublik Deutschland. Innenund Außenpolitik seit 1949. Wiesbaden. Wehling, Hans-Georg/Schneider, Herbert (Hg.), 2006: Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder. Wiesbaden. Zohlnhöfer, Reimut, 2008: Stand und Perspektiven der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung, in: Janning, Frank/Toens, Katrin (Hg.): Die Zukunft der Policy-Forschung. Theorien, Methoden, Anwendungen. Wiesbaden, 157-174.

212

Josef Schmid und Horst Hedrich

Anhang (Regressionsmodelle) Erklärung der Varianz der abhängigen Variablen „Arbeitslosenquoten in den Ländern 2001-2006“ (gepoolte Daten) Modell 1

Modell 2

Modell 3

Modell 4

Konstante

11,217*** (25,545)

10,743*** (21,114)

10,955*** (24,329)

10,966*** (24,576)

Stadtstaat

6,134*** (8,997)

4,494*** (6,230)

6,119*** (8,457)

6,117*** (8,595)

Ostdeutschland (ohne Berlin)

6,532*** (6,632)

4,628*** (4,075)

7,165*** (6,791)

6,748*** (6,230***)

Veränderung Einwohner1

-0,044*** (-4,911)

-0,037*** (-3,528)

-0,043*** (-4,648)

-0,041*** (-4,414)

Wachstum BIP2

-0,349*** (-2,975)

-0,468*** (-3,421)

-0,367*** (-3,015)

-0,374*** (-3,094)

Betreuungsquote3

0,118*** (4,256)

0,154*** (4,563)

0,103*** (3,553)

0,117*** (3,869)

Ausgaben pro Arbeitslosen4

-0,308*** (-7,404)

–

–

–

Strukturpol. Ausgaben pro Arbeitslosen4

–

-0,806*** (4,563)

–

-0,290 (-1,489)

Sozialpolitische Ausgaben pro Arbeitslosen4

–

-0,350*** (-6,704)

-0,301*** (-4,868)

Korr. R²

0,930

0,902

0,924

0,925

N

96

96

96

96

In Klammern: T-Werte; * / ** / *** = Signifikanzniveau von 10% / 5% / 1% 1 Angaben in 1000; 2 zeitverzögert um vier Jahre; 3 Betreuungsquote für Kinder unter 3 Jahren; 4 Ausgaben in 100 €

213

Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik

Erklärung der Varianz der abhängigen Variablen „Kumulierte Abweichungen der Teilgruppen von Arbeitslosen (gewichtet nach dem Anteil an der jeweiligen Erwerbsgruppe) 2001-2006“ (gepoolte Daten) Modell 1

Modell 2

Modell 3

Modell 4

Konstante

5,761*** (22,028)

5,553*** (22,329)

5,601*** (20,888)

5,639*** (22,610)

Stadtstaat

2,920*** (7,350)

2,530*** (7,163)

2,795*** (6,567)

2,874*** (7,255)

Ostdeutschland (ohne Berlin)

1,290** (2,227)

0,403 (0,727)

1,422** (2,270)

0,865 (1,434)

Veränderung Einwohner1

0,028*** (-5,452)

0,025*** (-4,833)

0,028*** (-5,177)

0,025*** (-5,003)

Wachstum BIP2

-0,173** (-2,622)

0,176*** (-2,697)

-0,171** (-2,470)

0,173*** (-2,680)

Betreuungsquote3

-0,012 (-0,742)

0,011 (0,684)

-0,016 (0,342)

0,003 (0,164)

Ausgaben pro Arbeitslosen4

0,123*** (-5,141)

–

–

–

Strukturpol. Ausgaben pro Arbeitslosen4

–

0,487*** (-5,318)

–

0,381*** (-3,543)

Sozialpolitische Ausgaben pro Arbeitslosen4

–

–

0,126*** (-4,145)

-0,061* (-1,814)

Korr. R²

0,679

0,684

0,646

0,694

N

96

96

96

96

In Klammern: T-Werte; * / ** / *** = Signifikanzniveau von 10% / 5% / 1% 1 Angaben in 1000; 2 zeitverzögert um fünf Jahre; 3 Betreuungsquote für Kinder unter 3 Jahren; 4 Ausgaben in 100 €

214

Josef Schmid und Horst Hedrich

Erklärung der Varianz der abhängigen Variablen „Erwerbsquoten in den Ländern 2001-2006“ (gepoolte Daten) Modell 1

Modell 2

Modell 3

Modell 4

Konstante

69,976*** (138,279)

69,844*** (143,528)

69,884*** (141,051)

69,874*** (140,134)

Stadtstaat

0,859 (1,117)

0,479 (0,693)

0,623 (0,792)

0,603 (0,449)

Ostdeutschland (ohne Berlin)

3,917*** (3,495)

3,751*** (3,454)

3,775*** (3,262)

3,917*** (3,250)

Veränderung Einwohner1

0,050*** (5,021)

0,049*** (4,910)

0,050*** (4,998)

0,049*** (4,854)

Wachstum BIP2

0,371*** (2,911)

0,369*** (2,887)

0,370*** (2,891)

0,370*** (0,005)

Betreuungsquote3

0,076** (2,447)

0,075** (2,357)

0,077** (2,448)

0,072** (2,160)

Ausgaben pro Arbeitslosen4

-0,029 (-0,627)

–

–

–

Strukturpol. Ausgaben pro Arbeitslosen4

–

0,059 (0,328)

–

0,097 (0,451)

Sozialpolitische Ausgaben pro Arbeitslosen4

–

–

-0,005 (-0,97)

-0,022 (-0,327)

Korr. R²

0,654

0,653

0,653

0,649

N

96

96

96

96

In Klammern: T-Werte; * / ** / *** = Signifikanzniveau von 10% / 5% / 1% 1 Angaben in 1000; 2 zeitverzögert um fünf Jahre; 3 Betreuungsquote für Kinder unter 3 Jahren; 4 Ausgaben in 100 €

Länderwirtschaftspolitik Markus M. Müller

1

Einleitung

Wirtschaftsminister und Wirtschaftspolitiker werden in Umfragen häufig als die bedeutendsten und einflussreichsten Politiker gesehen (Niejahr/Pörtner 2002). Auch wenn dies ihre tatsächliche Position überschätzen mag, so ist es doch ein Zeichen dafür, dass der Wirtschaftspolitik in der öffentlichen Wahrnehmung ein hoher Stellenwert zugemessen wird. Dabei ist das, was Wirtschaftspolitik sein soll, keineswegs fest umrissen. Das klassische Feld der Wirtschaftspolitik, das jenseits der ,Anarcho-Kapitalisten’ um Hans-Herrmann Hoppe (2003) allgemein als legitimer Bereich der Wirtschaftspolitik anerkannt wird, ist die Wirtschaftsordnungspolitik. Gemeint sind damit die staatliche Zuweisung von mit einem wirksamen staatlichen Sanktionsmechanismus versehenen Rechten und Pflichten an Private im Rahmen einer (Privat-)Rechtsordnung, mit der property rights definiert werden, sowie die Einrichtung von Institutionen zur Erhaltung wesentlicher, insbesondere für den Wirtschaftskreislauf zentraler Funktionen, wie Geldversorgung (durch eine Notenbank) oder die Sicherung des Wettbewerbs (durch Kartellbehörden). Der staatliche Eingriff in diejenigen Märkte, die dem ‚reinen’ Wettbewerb aufgrund ökonomischer Sonderbedingungen oder politischen Willens entzogen sind, ist schon nicht mehr unumstritten. Je nach Auffassung wird diese Regulierung als marktwirtschaftsfeindlich oder marktwirtschaftsfreundlich interpretiert. Ihre Geschichte weist bis ins 19. Jahrhundert zurück, zu besonderer Prominenz ist sie in Deutschland ebenso wie in anderen europäischen Ländern gekommen seit den 1990er Jahren im Zuge des Umbaus ehemaliger wettbewerblicher Ausnahmebereiche, vornehmlich in der so genannten Daseinsvorsorge, wie z.B. Energie, Telekommunikation und Post oder Schienenverkehr (ausführlich Müller 2002, 2006b). Einen weiteren großen Bereich nimmt die Subventionierung einzelner Branchen (z.B. Kohlebergbau, Landwirtschaft), Regionen (z.B. strukturschwache Gebiete in Ostdeutschland) oder Wachstum verheißender „Zukunftstechnologien“ (z.B. Biotechnologie, Nanotechnologie, Informations- und Kommunikationstechnologien) ein. Je nach Diskurs wird diese Politik als Subventionierung gegeißelt, die marktverzerrend wirkt und notwendige Anpassungen der Marktteilnehmer verzögert, oder als „Förderung“ gefeiert, die soziale Härten glättet und/oder in die Zukunft investiert. Der Subventionsbereich ist unübersichtlich geworden, und dies aus verschiedenen Gründen. Zum einen fehlt eine allgemein anerkannte Definition. Dementsprechend dienen die Konzepte den jeweiligen Zielen der Autoren und fallen unterschiedlich breit aus. Subventionen können in finanziellen Zuweisungen (Zuschüssen), in Verzicht auf Steuerzahlung (also als Steuersubventionen, z.B. Sonderabschrei-

216

Markus M. Müller

bungen) oder auch in der Verpflichtung Dritter zur Zahlung höherer Entgelte an den Subventionsempfänger (wie z.B. im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) für die Betreiber von Solaranlagen oder Windräder) bestehen. Zum anderen gibt es keinen allgemein anerkannten Kanon legitimer Subventionierungstatbestände. Hier finden unterschiedliche Kategorisierungen statt (Erhaltungssubvention vs. Anpassungssubvention; Nachteilsausgleich vs. Stärken stärken usw.). Wenn wir also in keine ideologische Falle treten wollen, so bleibt uns nichts anderes übrig, als jede Form des staatlich entschiedenen Ressourceneinsatzes zugunsten Dritter als Subvention mit einzubeziehen, unabhängig davon, welchen wirtschaftspolitischen Zwecken er im Einzelnen dient. Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass die Wirtschaftspolitik kein klar definiertes Politikfeld sein kann. Denn je nach Art und Zweck des regulierenden oder subventionierenden Eingriffs werden die Grenzen zu anderen Politikbereichen überschritten. So können die Arbeitsmarktpolitik (vgl. den Beitrag von Schmid/Hedrich i.d.B.), die Landwirtschaftspolitik, das öffentliche Auftragswesen, Umweltpolitik oder Wissenschaftspolitik (vgl. den Beitrag von Lanzendorf/Pasternack i.d.B.) immer auch als Teilbereiche der Wirtschaftspolitik gesehen werden; nämlich dann, wenn Anreize für Märkte neu gesetzt werden, sei es mittels Regulierung, sei es durch den Einsatz von Finanzmitteln. Dies spiegelt sich nicht zuletzt im Ressortzuschnitt der Wirtschaftsministerien auch auf Länderebene wider. Abgesehen von Aspekten der Sicherung von organisatorischen Mindestausstattungen und koalitionspolitischen bargains reflektiert die ministerielle Fusion der Wirtschaftspolitik mit der Wissenschaftspolitik (z.B. Schleswig-Holstein und Saarland), mit der Arbeitsmarktpolitik (z.B. Nordrhein-Westfalen) oder mit der Verkehrspolitik (z.B. Bayern und Niedersachsen) unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Arbeitsbereiche und Gestaltungsinstrumente geeignet sind, dem wirtschaftspolitischen Oberziel der Sicherung wirtschaftlicher Wohlfahrt zu dienen.

2

Wirtschaftspolitik der Länder in ihrem bundespolitischen und europapolitischen Umfeld

Es entspricht dem deutschen Verflechtungsföderalismus, dass das Spektrum der in den Ländern abgedeckten wirtschaftspolitischen Felder ausgesprochen breit, ihr autonomer Handlungsspielraum aber minimal ist. Die Länder nehmen zunächst einmal über den Bundesrat immer auch an allen bundespolitischen wirtschaftspolitischen Vorgängen, sofern gesetzgebungsrelevant, teil. Die Verfahren sind sattsam bekannt. Besonders schwierig ist es hingegen, einen verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen, gleichwohl aufs Engste mit dem Bundesratsverfahren verwobenen Weg der politischen Einflussnahme durch die Landesregierungen auf die Bundeswirtschaftspolitik systematisch zu beleuchten: die informelle Abstimmung zwischen Landes- und Bundesregierungen bevor im Bundesrat ein Entwurf zur Behandlung bzw. Entscheidung kommt. Eine solche inhaltliche Vor-Koordinierung beschränkt sich naturgemäß auf Fälle identischer oder zumindest teilidentischer Koalitionskonstellationen in einzelnen Bundesländern und zur Bundesregie-

Länderwirtschaftspolitik

217

rung. Angesichts der Dominanz von Koalitionsregierungen in den Ländern sowie im Bund sind hier verschiedene Koordinierungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. In den Fachausschüssen des Bundesrates, hier also insbesondere im Wirtschaftsausschuss, bereiten regelmäßig Fachbeamte der 16 Landesministerien entsprechende Vorlagen der Bundesregierung bzw. des Bundestages, aber auch eigene Initiativen zur Entscheidung durch das Plenum vor. Dieses Herzstück der entscheidungsvorbereitenden Bundesratsarbeit konfrontiert mindestens zwei Restriktionen1. Einerseits berät in der Regel nicht nur ein Fachausschuss die Materie vor der Entscheidung im Plenum. Insofern müssen Forderungen des Wirtschaftsausschusses zunächst mit abweichenden oder gar konträren Positionen der anderen Fachausschüsse kompatibilisiert werden. Da sich die Ausschüsse als fachpolitische Akteure verstehen, sind solche Widersprüche, etwa zwischen dem Wirtschafts- und dem Sozial-, Finanz- oder Innenausschuss (man denke nur z.B. an die Zuwanderungs- bzw. Fachkräftemangel-Debatte), vorprogrammiert. Es obliegt einem unter hohem Zeitdruck in den Landeskabinetten sowie zwischen Landesregierungen und Bundespolitik stattfindenden Abstimmungsprozess im Vorfeld von Plenarsitzungen des Bundesrates, verbleibende, meist politisch besonders bedeutsame Streitigkeiten zu entscheiden. Parteipolitische Konstellationen, relative, als solche von der politischen Entscheidungselite wahrgenommene Machtpositionen, Wahltermine und nicht zuletzt aktuelle Problem- und Stimmungslagen prägen diesen kontingenten Prozess von Aus- und Verhandeln, Überzeugen und Entscheiden. Andererseits entspricht es der Praxis der deutschen Ministerialverwaltung, dass gerade wesentliche gesetzgeberische Materien im Stadium des Referentenentwurfs von den Fachbeamten bereits in den Bund-Länder-Facharbeitskreisen ausgetauscht oder ganz unmittelbar an die Länderministerien zur Kommentierung versandt werden. Sofern bzw. insoweit als ein Gesetzgebungsprojekt keiner (partei-)politischen Prägung unterliegt, sorgt diese Form der (fachlichen) Politikverflechtung für ein Hochmaß an Koordinierung im Vorfeld der eigentlichen Gesetzgebung (Wagener 1979). Sie wird nur dann unterbrochen, wenn ein solches Projekt von Anfang an oder zu einem späteren Zeitpunkt von der high politics als Aktionsfeld aufgegriffen wird. Aus der Selbstsicht der Fachbürokratie ‚stört’ in diesem Falle die Politik die Facharbeit. Die Länder sind heute in kaum einem Bereich ihres wirtschaftspolitischen Handelns autonom. Selbst dort, wo ihnen Gesetzgebungs- und Vollzugszuständigkeiten zukommen, beim so genannten „Hausgut der Länder“2, nämlich der regionalen Wirtschafts-, Strukturund Industriepolitik (Sturm 1991), sind längst Rahmenvorgaben durch den Bund und die EU gesetzt. Seit 1969 ist die Regionalförderung, also die Unterstützung von strukturschwachen Gebieten durch öffentliche und staatlich geförderte private Investitionen zur Steigerung der Wirtschaftskraft, in den Wirkungsbereich des kooperativen Föderalismus aufgenommen. Mit der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur (im folgenden: GRW) nach Art. 91a I GG wurde ein Instrument der Bund-Länder-Koordinierung im Bereich der Regionalförderung geschaffen, bei dem Bund und Länder inhaltlich (also bei der Bestimmung von Förderkulissen und –zwecken) sowie finanziell (also im Wege der Mischfinanzierung) zusammenwirken, um die beschriebene Unterstützung für struktur1 Die europarechtliche Prädetermination wesentlicher wirtschaftspolitischer Vorlagen kommt z.B. als weitere, inhaltliche Restriktion hinzu. 2 Siehe hierzu BVerfGE 87, 181, 196

218

Markus M. Müller

schwache Gebiete zu leisten (ausführlich Stober 2002: 80f.). EU-Regeln im Rahmen der Einrichtung des Gemeinsamen Binnenmarktes (nämlich vor allem die so genannte BeihilfeKontrolle) sowie hierzu komplementierend ihre Vorgaben zum Ausweis von Fördergebieten, mitsamt dem Angebot von Fördermitteln aus den Strukturfonds (hier: EFRE und ESF), haben mittlerweile die gesamte Wirtschaftsförder- bzw. Regionalpolitik der Länder erfasst. Anders ausgedrückt: es gibt keinen von EU-Vorgaben bzw. –Restriktionen unberührten Bereich für die Länder mehr. Im Hinblick auf die Einbettung der Wirtschaftspolitik der Länder lässt sich zusammenfassen: Die Politikverflechtung ist von drei Faktoren geprägt. Erstens ist dies die Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung, die je nach Materie und Situation substanziell sein kann und von den Ländern in unterschiedlichem Maße als Teil des wirtschaftspolitischen Selbstverständnisses gesehen wird. Zweitens unterliegen die von den so genannten ‚Fachbruderschaften’, also den in Arbeitskreisen und Ausschüssen auf Bund-Länder- bzw. Länder-Länderebene zusammengeschlossenen Fachbeamten, bearbeiteten Materien einer erheblichen Koordinierung, die freilich einem permanenten politischen Vorbehalt unterliegt.3 Und drittens hat europäische Verflechtung, in Form der Europäisierung wirtschaftsrelevanter Politikfelder und Institutionen, selbst die ursprünglich den Ländern vorbehaltenen wirtschaftspolitischen Tätigkeitsbereiche de facto umfänglich erfasst.

3

Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Wirtschaftspolitik der Länder

Schichten wir nochmals die wirtschaftspolitischen Aktionsfelder ab: Auf der ersten Ebene stehen im weitesten Sinne ordnungspolitische Aufgaben, einschließlich der Geld- und Währungspolitik, der Wettbewerbs- und Kartellpolitik sowie der Regulierung. Hier kommen den Ländern jenseits der beschriebenen Mitwirkung an der Gesetzgebung im Bundesrat noch Verwaltungszuständigkeiten im Rahmen von Landeskartell- bzw. Landesregulierungsbehörden zu. Auf einer zweiten Ebene haben wir es mit originär wirtschaftspolitischen Aufgaben zu tun, die dem so genannten Hausgut der Länder zuzurechnen sind, also Zuständigkeiten, die nach Art. 30 GG (auch) im Rahmen der Gesetzgebung verbleiben. Dazu gehören, wie gesehen, die regionale Struktur-, Industrie- und Wirtschaftspolitik. Was bzw. welche Zielbereiche sich dahinter im Einzelnen verbergen, muss selbst Gegenstand der empirischen Betrachtung der Landeswirtschaftspolitiken sein. Augenmerk ist dabei darauf zu legen, dass Teilbereiche dieses Hausguts spätestens seit 1969 der Politikverflechtung, insbesondere im Rahmen der GRW sowie seit 1975 der europäischen Regionalpolitik, unterliegen. Diese ist gesondert zu betrachten. Auf einer dritten Ebene befinden sich Politikfelder, die über die Wirtschaftspolitik im engeren Sinne hinausweisen, etwa die Arbeitsmarkt-, die Steuer-, die Umwelt- oder die Verkehrspolitik. Das Aktivitätsniveau der Länder schlägt sich hier insbesondere in bundespolitischer Arbeit im Rahmen oder Vorfeld der Bundesratsbe3 Quantitativ spielt der Vorbehalt sicher keine überragende Rolle (dies lässt im Grunde auch schon Kingdons (1984) Multiple-Streams-Modell für den Zugriff der Politik auf Materien im Allgemeinen vermuten); für das wirtschaftspolitische Auftreten der Akteure, und damit auch der Landesregierungen, ist er gleichwohl absolut entscheidend.

219

Länderwirtschaftspolitik

fassung nieder, sofern nicht eigene Zuständigkeiten bestehen. (Mit der Föderalismusreform I sind nur wenige wirtschaftspolitische Bereiche aus der Bundes- in die Landeszuständigkeit übergegangen. Dazu zählen das Gaststättenrecht, das Wohnbauförder- sowie Teile des Raumplanungsrechts. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Länder-Länder-Abstimmung der entsprechenden fachpolitischen Arbeitskreise der Fachbeamten durch Vorfeld-Koordinierung der Ausdifferenzierung entgegenwirkt.) Zur Systematisierung seien im folgenden Beispielbereiche im Rahmen einer ViererMatrix nach den beiden Dimensionen diskretionär – regelgebunden und monetärer – nicht monetärer Politikbereich kategorisiert. Sie dient einer ersten Orientierung und soll uns erlauben, einen besseren Überblick über einige augenfällige Grundunterschiede der hier behandelten Materien zu erhalten. Abbildung 1:

Beispielbereiche für Länderwirtschaftspolitik Monetär

Nicht-monetär

Diskretionär

„HAUSGUT“ (Ausgestaltung der gewerblichen Wirtschaftsförderung)

ENTBÜROKRATISIERUNG

Regelgebunden

„HAUSGUT“ (Rahmenplan der GRW und EU-Fonds)

WETTBEWERBSPOLITIK & REGULIERUNG

Das Hausgut der Länder ist hier sowohl der Kategorie diskretionär als auch der Kategorie regelgebunden zugewiesen. Wir betrachten im Folgenden die regionale Wirtschaftsförderung unter zwei Blickwinkeln, wobei die so in den Fokus kommenden Kreise nicht ohne Schnittmenge sind. Unter der Überschrift „Wirtschaftsförderpolitik“ nehmen wir die Perspektive der Adressaten von wirtschaftsfördernden Maßnahmen ein und betrachten die hier dokumentierten Zwecksetzungen der Länder. Dies ist der konkretere, operationalisierte Teil der Wirtschaftsförderung der Länder. Demgegenüber betrachten wir unter der Überschrift „GRW und ihre Europäisierung“ den von Art. 91 a GG erfassten Politikbereich. Er ist der allgemeinere Teil der Wirtschaftsförderung der Länder. Beide Bereiche hängen mitunter zusammen, da die konkreten Programme zur Wirtschaftsförderung in unterschiedlichem Ausmaße aus der GRW finanziert sind. Dennoch ist die getrennte Analyse nicht redundant, da tatsächlich beide Perspektiven (die konkrete der Gewerbeförderung und die allgemeine der GRW) durchaus politisch getrennten Logiken folgen bzw. folgen können. So finanzieren die Länder Maßnahmen der Gewerbeförderung auch aus anderen Mitteln als der GRW, sofern dieser Weg verstellt, Alternativen gangbar und die entsprechenden Maßnahmen von politischer Wichtigkeit sind. Aus genau dieser Scheidung ergibt sich auch die Zuordnung in der Matrix: die (konkrete) Ausgestaltung der gewerblichen Wirtschaftsförderung ist vergleichsweise diskretionär, hier nimmt die Politik Entscheidungsspielräume wahr. Demgegenüber sind die GRW und ihr Hauptinstrument, der so genannte Rahmenplan, auf hochgradige Koordination vieler beteiligter Akteure angewiesen. Die GRW produzierte über die Jahrzehnte ein spezielles Regelwerk und gründet Weiterentwicklungen grundsätzlich auf Regelbindung.

220

Markus M. Müller

Die ‚Entbürokratisierung’, letztlich intendiert zur Entfesselung wirtschaftlicher Kräfte und Kostenentlastung für die heimische Wirtschaft, auch im Sinne (relativer) Standortvorteile im (internationalen) Wettbewerb, ist hingegen deutlich ein politisches Projekt. Hier bestehen grundsätzlich Entscheidungsspielräume. Bürokratieabbau ist politisch aus zwei Gründen interessant: Einerseits stellt er ein verfügbares politisches Handlungsinstrument in Zeiten begrenzter Finanzmittel dar (denn Bürokratieabbau kostet wenig oder kein Geld), andererseits entspricht er einem allgemein wahrgenommenen Bedürfnis der Wirtschaft nach Verringerung von Norm- und Regelvorgaben. Demgegenüber sind die Wettbewerbspolitik, also die Kartellaufsicht im Rahmen der Länderzuständigkeit nach § 48 GWB, sowie die Regulierung der Energiemärkte (Strom und Gas) im Rahmen des 2005 novellierten EnWG schon aufgrund der hohen fachlichen Spezifität der Materien und vor allem ihrer gerichtlichen Überprüfbarkeit, von der auch real massiv Gebrauch gemacht wird, der politischen Diskretion, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, entzogen. Wir wollen im Folgenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern und mögliche Ursachen für beide suchen. Sofern es sich um monetäre Politikbereiche handelt, also solche der Förderung bzw. Subventionierung von Branchen oder Regionen, wird auf die Betrachtung quantitativer Größen aufgrund ihrer mangelnden Aussagekraft bzw. mangelnden Eignung, zum Verständnis von Unterschieden oder Gemeinsamkeiten beizutragen, weitgehend verzichtet.4 Die durchschnittlichen Anteile der Wirtschaftsförderung mit Landesmitteln an den jeweiligen Jahresgesamthaushalten etwa der Flächenländer (BW, BY, NW, NI, RP, SN) schwankte im Zeitraum 1999 bis 2008 (laut Haushaltsplänen) für BW, BY, NW und NI zwischen 5,16 ‰ und 5,86 ‰. Die beiden Ausreißer nach oben (RP mit 8,07 ‰ sowie SN mit 17,08 ‰) bzw. nach unten (HE mit 2,52 ‰) lassen sich nicht parteipolitisch erklären. Für Sachsen ist auf die hohe Bedeutung der regionalen Strukturförderung (und damit zusammenhängend die anteilig zu erbringende Landesmittelfinanzierung) abzustellen, also letztlich die sozio-ökonomischen Bedingungen. Demgegenüber weisen weder Hes4 Zum einen geben Titelansätze in den Landeshaushalten keinen zuverlässigen Anhaltspunkt für das tatsächliche Ausgabeverhalten der wirtschaftspolitischen Akteure im Land. So sind bestimmte, monetär wirkende Instrumente, wie etwa Bürgschaften der Länder oder landeseigener Institutionen, die vor allem bis Ende der 1970er Jahre eine erhebliche, um nicht zu sagen dominante Rolle gespielt haben, nicht durchgängig transparent dokumentiert. Zum anderen handelt es sich bei Titelansätzen im Haushalt um Soll-Angaben, die von den tatsächlichen Verausgabungen abweichen. Allgemein gilt dabei: Der Haushaltsvollzug kann mitunter erheblich von den Budgetansätzen der verabschiedeten Haushalte im Hinblick auf Einzeltitel abweichen, die gegenseitige Deckungsfähigkeit erleichtert dies. Die flexible Handhabung so genannter Globaler Minderausgaben (GMA) erlaubt es, einerseits dem Mittelabfluss entsprechend, andererseits auch ressortbezogen politischen Prioritäten entsprechend, die jeweiligen Budgetansätze nicht auszuschöpfen und/oder im Wege überplanmäßiger Ausgaben, für deren Zulässigkeit in vielen Fällen das Einvernehmen mit dem Finanzressort ausreicht, in andere Arbeitsbereiche zu transferieren. Was im Einzelfall geschieht, wird grundsätzlich nicht öffentlich und unterliegt der ausschließlich intern kommunizierten Entscheidungsfindung. Da praktisch alle öffentlichen Haushalte seit Jahren mit dem Instrument der GMA eine haushaltspolitsche Konsolidierung oder wenigstens Teilbegrenzung des Ausgabenwachstums intendieren, kann das Instrument auch als ein Mittel der Prioritätenverschiebung begrenzt eingesetzt werden. Im Extremfall kann ein Haushaltsansatz als solcher nur noch von symbolischer Bedeutung sein. Generell ist ein Einzeletat jedenfalls nicht allein das Spiegelbild einer „Regierungslinie“, sondern auch das Ergebnis eines von Fall zu Fall variierenden, insofern also kontingenten, Abstimmungsprozesses zwischen Fachund Finanzressort, Fach- und Finanzausschuss des Parlaments sowie ggf. weiteren Einfluss nehmenden bzw. sich zu Wort meldenden Akteuren wie den Rechnungshöfen, betroffenen Kreisen sowie Medien. Nur detaillierte Studien zu einzelnen Titeln in den Ressortetats der Länder könnten die jeweilige Praxis und ihre Ursachen ans Tageslicht bringen (vgl. Sturm 1989).

Länderwirtschaftspolitik

221

sen noch Rheinland-Pfalz im Hinblick auf inhaltliche Schwerpunktsetzungen, die Bedeutung der GRW oder den Anteil von EU-Mitteln deutliche Sonderstellungen auf. Da RP einen deutlich kleineren Landeshaushalt als die übrigen (westlichen) Flächenländer aufweist, insbesondere die institutionelle Förderung (in den Bereichen Innovation/Technologie, Qualifizierung etc.) aber gewisse absolute Mindestfördergrößen mit sich bringt, scheint ein rein statistischer Effekt hier nicht ausgeschlossen. Bezieht man den Einsatz von Landesmitteln auf das BIP oder die Einwohnerzahl, dann relativiert sich in der Tat die Sonderstellung von RP, nicht hingegen der Ausreißer HE.

3.1 Wirtschaftsförderpolitik (gewerbliche Wirtschaftsförderung) Für die Analyse und Erklärung von Differenzierung in der Wirtschaftspolitik der Länder ist zunächst zu beschreiben, inwiefern überhaupt signifikante Unterschiede gegeben sind. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf gewerbliche Finanzierungshilfen der Länder im genannten Sinne. Dieses Feld umfasst mehr als die hier dargestellten Zwecke, z.B. auch den Bereich „Ausbildung und Weiterbildung“. Wir beschränken die Darstellung aber auf Zielbezüge mit deutlich „wirtschaftsfördernder“ Komponente. Methodisch erscheint die Auswahl des Bereichs der gewerblichen Finanzierungshilfen der Länder vor dem Hintergrund relativ gut dokumentierter Förderung über lange Zeiträume als zu rechtfertigen. Sie kann dabei nur als pars pro toto verstanden werden. Wenn wir von ihr auf das Gesamtbild schließen, dann müssen wir berücksichtigen, dass wir wesentliche Teile der Wirtschaftspolitik der Länder mit ihr nicht erfassen, insbesondere die institutionelle Förderung von Einrichtungen der Technologiepolitik (Scherzinger 1998).5 Um die Verlässlichkeit der Bestandsaufnahme zu erhöhen, betrachten wir nicht nur den Status quo (2006/2007), sondern auch die Jahre 1991/1992 sowie 1981. Wir wollen dabei auf den Bezug zu unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Zielen oder Leitbildern, sofern dokumentiert, abheben. Hierzu wurde eine Auswahl von topoi, ausgehend vom Status quo, rekonstruiert, die das Gesamtspektrum unterschiedlicher wirtschaftspolitischer Zielvorstellungen im Wesentlichen repräsentieren sollen. Die nachfolgenden Tabellen zeigen Unterschiede zwischen den Ländern auf und zeichnen dabei den Zeitverlauf seit 1981 nach. Es geht hier weniger um eine vollständige und akribische Rekonstruktion der Förderzwecke (und damit Prioritäten), als vielmehr um die erkennbare Konvergenztendenz.

5 Die hier abzuleitenden Thesen (v.a. „Konvergenztendenz“) sind dem Grundsatz nach allerdings auch für die institutionelle Förderung der Länder zutreffend. Entgegen manchen Vermutungen, die Technologiepolitik sei parteipolitisch geprägt, etwa im Sinne von Technologieskepsis bei der SPD und Technologiefreundlichkeit bei der CDU (siehe Schmid 1991), zeigt die reale Entwicklung ein hohes Maß an Konvergenz. Die Etablierung einer auf institutioneller Förderung basierenden Technologiepolitik wurde seit Mitte der 1970er Jahre auch gesetzlich in vielen Ländern etabliert (Sturm 1991). Aufgrund der gemeinsamen Finanzierung wichtiger Forschungseinrichtungen (z.B. Fraunhofer-Gesellschaft, Max-Planck-Gesellschaft, Helmholtz-Gesellschaft) von Bund und Ländern gibt bzw. gab es für die Länder einen starken Anreiz, sich um die Einrichtung von Forschungsinstituten mit gemeinsamer Finanzierung zu bemühen. Mit dieser Form des Vorhaltens einer (auch wirtschaftsnahen) Forschungsinfrastruktur haben die Länder die Technologiepolitik de facto auch als Ausweg aus dem Dilemma europarechtlicher Restriktionen (wie im folgenden Abschnitt näher beschrieben) genutzt (Sturm 1991; Sturm/Pehle 2005).

222

Markus M. Müller

Es fällt für die Zeiträume 2006/2007 und 1991/1992 ein hohes Niveau der Übereinstimmung auf, das zu dem Schluss deutlicher Konvergenz wirtschaftspolitischer Leitlinien führen muss. Dennoch gibt es Unterschiede, die aus der extrem reduzierten Darstellung dieser Tabellen nicht ersichtlich werden: Anfang der 1990er Jahre waren die Wirtschaftsförderprogramme vieler Länder noch breiter aufgestellt, d.h. sie waren häufig mit einer vor allem auf regional ausgewogene Entwicklung setzenden Zielrichtung ausgestattet. Insgesamt waren die Portfolios der Länder schmaler, insbesondere die Zahl der Programme geringer. Seither haben Cluster-Ansätze bzw. Ansätze der Förderung oder Stärkung bestimmter, als zukunftsträchtig angenommener Bereiche offenbar an Reiz gewonnen6.

BY

BE

BB

HB

HH

HE

MV

NI

NW

RP

SL

SN

ST

SH

TH

Zielbezüge der Wirtschaftspolitik der Länder (Finanzierungshilfen gewerbliche Wirtschaft) 2006/2007

1981 X

X

X

-

X

X

X

-

X

X

X

X

-

-

X

-

1991/92 X

X

X

*

X

X

X

*

X

X

X

X

*

*

X

X

2006/07 X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

1981 X

X

X

-

X

X

-

X

X

X

X

-

-

X

-

1991/92 X

X

X

*

X

X

X

*

X

X

X

X

*

*

X

2006/07 X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

1981 X

X

X

-

X

X

-

X

X

X

X

-

-

1991/92 X

X

X

*

X

X

*

X

X

X

X

*

*

X

2006/07 X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

1981 X

X

X

-

X

-

X

-

-

1991/92 X

X

X

*

X

X

*

2006/07 X

X

X

X

X

X

X

1981

X

-

X

X

1991/92 X

X

*

X

BW

Tabelle 1:

Existenzgründung, Unternehmensübernahmen und Folgenbewältigung

Liquiditätshilfen und Unterstützung für Unternehmen in Schwierigkeiten

Expansions- und Wachstumsförderung

Eigenkapital-, Risikokapital-, Mezzanine-KapitalFörderung1

Tourismusförderung

2006/07 X

X

X

X -

X -

X

X

X

*

*

X

X

X

X

X

X

X

X

X

-

X

X

X

X

-

-

X

-

X

*

X

X

*

*

X

X

X

X

X

6 Diese Aussage hat aber lediglich Tendenzqualität; denn z.B. Thüringen hatte, als einziges der neuen Bundesländer bereits mit einem reichhaltigen Spektrum an Wirtschaftsfördermaßnahmen ausgestattet, schon kurz nach 1990 ausgesprochen kleinteilig und spezifisch ausgerichtete Programme vor allem im Bereich der Technologieförderung installiert. Ebenso finden wir eine Reihe von Tourismusförderprogrammen noch zu Beginn der 1990er, die später entweder eingestellt oder aber in größere Programmzusammenhänge integriert wurden.

*

2006/07 X

X

X

Infrastrukturförderung, einschließlich Öffentlicher Personennahverkehr

X -

X

X

X

X

X

-

X

X

*

*

X

X

X

-

-

X

SH

X

SL

X

RP

X

-

X

X

-

X

X

*

X

X

X

*

X

X

X

X

*

*

X

X

2006/07 X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

-

-

*

*

-

-

X

*

*

1981 X

-

-

1991/92 X

*

* X

1981

X

-

1991/92

X

*

X

X

X X

*

-

-

X

X

X

X

-

-

1991/92 X

X

*

*

X

X

X

X

*

*

X

X

X

X

X

-

-

X

X

1981

-

X

1991/92

*

X X

2006/07 X

X

X

X

X

-

X

X

X

-

X

1981 X

2006/07 X Messeförderung, einschließlich Messebeteiligung

*

-

1991/92 X

2006/07 X Außenwirtschafts- und Standortförderung

X

X

2006/07 X Kunst- und Medienwirtschafts-Förderung

HE

HH

HB X

X

ST

X

-

SN

1991/92 X

NW

-

NI

X

MV

1981 X

1981 X Innovations- und Technologieförderung

BB

BE

BY

BW Umweltschutz- und Energiesparförderung

TH

223

Länderwirtschaftspolitik

X

X X

-

X

X

*

X

*

*

X

X

X

X

X

X

-

-

* Land führt Sonderprogramme des Bundes bzw. der Gemeinschaftsinitiative Aufbau Ost durch. Zur Situation der Regionalförderung bis 1993 in den neuen Ländern siehe auch Sturm/Pehle (2005). 1 Z.B. stille Beteiligung oder Wandelanleihen. Quelle: Zeitschrift für das Gesamte Kreditwesen, diverse Ausgaben (letzte Ausgabe: Stand Juli 2006, bearbeitet von Anneliese Winkler-Otto, Sonderausgabe 2006/2007).

Der Rückblick auf 1981 bestätigt die genannte Entwicklungstendenz: Damals waren die dokumentierten Programme der Zahl nach weniger, dafür deutlich breiter ausgelegt. Bankmäßige Instrumente (vor allem Kredit- und Bürgschaftsprogramme) dominieren noch stärker als in späteren Zeiträumen, und die Ausrichtung auf Sektoren und Bereiche, die nach 1990 in den Fokus der Aufmerksamkeit gerieten, war entweder noch nicht gegeben oder fiel deutlich gegenüber der Bewältigung von Kriegsfolgen (spezielle Förderprogramme für Vertriebene und Flüchtlinge) sowie der Bestandserhaltung (z.B. Dorfwirtschaften in Bayern oder Werften, Hafen und Fischerei in nördlichen Ländern bzw. Stadtstaaten, Steinkohlebergbau in NRW) zurück. Der letztgenannte Aspekt hängt freilich mit der Kategorienwahl

224

Markus M. Müller

dieser stark vereinfachenden Schematisierung zusammen, und erklärt sich dadurch, dass sie vom Status quo geprägt ist. Die hohe Bedeutung gerade von Landesbürgschaften scheint auch daher herzurühren, dass den Unternehmen des jeweiligen Landes Zugang zur Bundesförderung gewährt werden sollte. Auch dies ist ein Ausweis der seit 1969 etablierten Politikkoordination in der regionalen Wirtschaftspolitik von Bund und Ländern, auf die noch im Einzelnen einzugehen ist. Zur Darstellung sind im Hinblick auf die Datenlage einige weitere Anmerkungen anzubringen: Die Darstellung basiert auf Angaben der seit 40 Jahren erscheinenden Sonderausgabe zu den einschlägigen Finanzierungshilfen von Bund, Ländern und internationalen Organisationen der „Zeitschrift für das Gesamte Kreditwesen“. Die Angaben darin basieren offenbar im Wesentlichen auf Auskünften bzw. veröffentlichten Informationen der jeweiligen zuständigen Einrichtungen, insbesondere der abwickelnden Institutionen. Die Systematik der Programme bzw. Finanzhilfen ist nicht trennscharf, weder innerhalb der wirtschaftspolitischen Instrumente des jeweiligen Landes, noch zwischen den Programmen und Maßnahmen im Ländervergleich. Für die Darstellung der Jahrestabellen wurde das Vorliegen eines entsprechenden Zielbereichs dann bejaht, wenn darauf explizit oder zumindest deutlich erkennbar in den Angaben der Jahressonderausgaben Bezug genommen wurde. Würde man bei den allgemein ausgerichteten Programmen der Länder die impliziten Wirkungen (z.B. auf Tourismus-Betriebe oder die Medienbranche) miterfassen, wäre die festgestellte Konvergenz vermutlich noch erheblich deutlicher. Im Hinblick auf das genannte relativ hohe Maß an Gleichförmigkeit der Programmatik zeigt der chronologische Vergleich eine nicht unbedingt zu vermutende doppelte Konvergenz auf. Waren noch 1981 die Programme weitgehend breit ausgelegt – also: selten oder faktisch unerheblich branchenmäßig oder wirkungsmäßig (d.h. Innovationsförderung, Außenwirtschaftsförderung, Kooperationsförderung etc.) spezifiziert – und damit zwangsläufig einander im Ländervergleich relativ ähnlich, differenzierte sich die programmatische Kulisse bis in den aktuellen Berichtszeitraum deutlich. Das Förderspektrum ist vielfältiger, die Zahl der Programme bzw. wirtschaftspolitischen Maßnahmen im Durchschnitt größer. Dennoch konvergieren die Programme auch in ihrer Spezifizierung wieder in erstaunlichem Maße. Die Länder wählen in der Spezifizierung von wirtschaftspolitischen Therapien offenbar in beachtlichem Maße gleiche Strategien. Das ist deshalb erstaunlich, weil man ja annehmen könnte, die höhere Spezifizierung ginge auf eine bessere Berücksichtigung der jeweiligen Bedürfnislagen, also der jeweiligen sozio-ökonomischen Bedingungen, zurück. Wenn dem so wäre, dann wäre allerdings das Ergebnis hoher Konvergenz nicht zu erwarten: Vielmehr wäre eine Vielfalt von stark landesspezifisch ausgerichteten Programmen wahrscheinlich. Neben bzw. hinter der Konvergenz in der (wirtschaftspolitischen) Programmatik scheint also eine Konvergenz in der Einschätzung der jeweiligen Bedürfnislagen bzw. der dafür passenden Therapien zu existieren. Im Wege des Ausschlusses entfallen neben der sozio-ökonomischen Struktur als exogenem Anlass für Konvergenz als weitere mögliche Erklärung auch Korrelationen mit parteipolitischen Zusammensetzungen von Landesregierungen. Es scheint sich vielmehr in diesem Ausschnitt der Wirtschaftspolitik, der gewerblichen Wirtschaftsförderung, eine Beobachtung zu bestätigen, die Sturm/Müller (2005) bereits an anderer Stelle für die Deregulierungs- bzw. Entbürokratisierungspolitik der Länder und Müller (2008 i.E.) für die Wirtschaftspolitik der EU-Staaten formuliert haben. Wirtschaftspo-

Länderwirtschaftspolitik

225

litische Maßnahmen entwickeln sich in Situationen von Unsicherheit bzw. nicht gefestigtem Wissen über die (eigene) Situation und die Eignung von Therapien zur Problembearbeitung mitunter entlang quasi-modischer Verläufe und basieren häufig auf policy-learning erster Ordnung (Imitation), sind dabei oft eklektisch und ggf. auch als Resultat symbolischen Lernens anzusehen. Mit Schmid (1991) können wir hier auch von „Diffusion“ sprechen, zumal verschiedene Wege des Transfers, von der spontanen Adaption bis hin zu den inkrementalistischen Politikfortschreibungen in den Bund-Länder- oder Länder-Länder-Arbeitskreisen zu bestehen scheinen. Landesbezogene Besonderheiten existieren dennoch. So fördert im Zeitraum 2006/2007 etwa Bremen im Rahmen des Landesinvestitionsförderprogramms (LIP 2000) die Einrichtung von Frauenarbeitsplätzen, Berlin bietet Garantien für Arbeitnehmerbeteiligungen an, Hamburg kennt eine gesonderte Förderung für die Gründung von Kleinstunternehmen durch Erwerbslose und Brandenburg ein Bürgschaftsprogramm für Vorhaben in Polen. Die Beispiele zeigen, dass der Verflechtungs- und Koordinierungsmechanismus, etwa im Rahmen der GRW, keine vollumfängliche Uniformität zur Folge hat. Vielmehr belässt er für die konkrete Ausgestaltung der gewerblichen Wirtschaftsförderung den Ländern noch erkennbare Spielräume für politische Markierungen. Umgekehrt reichen Gemeinsamkeiten zum Teil bis hin zu begrifflichen Prägungen („Gründung und Wachstum“ in Baden-Württemberg, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen oder Thüringen; „Innovationsassistenten“7 in Baden-Württemberg, Brandenburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen oder Sachsen-Anhalt). Dabei wird zweierlei deutlich: Zum einen sind noch Spuren des policy-Transfer zu erkennen, die aus der unmittelbaren Nach-Wendezeit stammen. Damals lehnten sich die neuen Länder im Osten weitgehend an ihre jeweiligen Primär-Partner im Westen an. So waren etwa Baden-Württemberg und Bayern vor allem für den Freistaat Sachsen beim Aufbau wirtschaftspolitisch relevanter Einrichtungen prägend, Rheinland-Pfalz für Thüringen usw. Zum Teil ist das auch an damaligen speziellen Wirtschaftsförderprogrammen der westlichen Länder zur Unterstützung von (überbetrieblichen) Kooperationen einheimischer Unternehmen mit bzw. in den betreffenden neuen Ländern erkennbar. Darüber hinaus fand ein beachtlicher Personaltransfer auch in diesem Bereich statt. Zum anderen lassen die begrifflichen Ähnlichkeiten, gerade bei den „Innovationsassistenten“, auch auf einen Lernprozess zweiter Ordnung schließen: Funktionierende Förderschemata, die insbesondere auch europäischen Maßgaben (vom Beihilferecht bis hin zu, wo dies möglich ist, Bezuschussungen aus europäischen Mitteln – in diesem Falle dem ESF oder EFRE) genügen, werden in einer inkrementalistisch arbeitenden Ministerialbürokratie häufig fortgeschrieben und kopiert. Letzteres ist aufgrund der BundLänder- sowie Länder-Länder-Arbeitskreise der Fachbeamten auch ganz praktisch durch institutionalisierten Informationsaustausch sowie (vor-)politische Abstimmung organisatorisch vorprogrammiert.

7 Dabei handelt es sich um die finanzielle Bezuschussung von Experten, deren Aufgabe in der Vor-Ort-Unterstützung von Unternehmen in Fragen der Umsetzung von technologischen Entwicklungen (Innovationen) in deren Geschäftsfeldern besteht.

226

Markus M. Müller

3.2 GRW und ihre Europäisierung Die Regionalpolitik im Sinne der GRW ist ein Kind der Planungseuphorie der 1960er und 1970er Jahre. Der Grundgedanke, nach dem die Länder zwar inhaltlich Maßnahmen der Regionalentwicklung – in strukturschwachen bzw. dem Strukturwandel besonders unterworfenen Räumen – ausfüllen und durchführen sollten, der Bund aber Rahmenbedingungen, und als goldenen Zügel: finanzielle Mittel, bereitstellt, gehört einer Ära an, in der gemeinsame Planung und Abstimmung der Akteure als ideale Form der Politikgestaltung und auch der Wirtschaftspolitik galten. So wurde nach der entsprechenden Grundgesetzänderung 1969 ein so genannter Bund-Länder-Planungsausschuss eingerichtet, der beständig Förderkulissen und -bedingungen fortschreibt. Innerhalb der Vorgaben des Rahmenplans hinsichtlich der Kategorien, Höchstgrenzen, Gebietsabgrenzungen und Durchführungsbedingungen für regionale Wirtschaftsförderung sind die Länder frei in der Ausgestaltung. Bund und Länder finanzieren die GRW je hälftig. Die Festlegung der Gebietskulisse geschieht seit dem Ende der 1990er Jahre nicht mehr autonom, sondern muss in Einklang mit den Vorgaben der EU stehen. Die EU prägt diesen für die Wirtschaftspolitik der Länder ganz wesentlichen Prozess der Bestimmung von Fördergebieten in zweierlei Hinsicht. Erstens, indem die EU mittlerweile Kriterien für die Abgrenzung von Gebieten entwickelt hat, die so genannten Regionalleitlinien8, die nun vom Planungsausschuss zu berücksichtigen sind. Und damit zusammenhängend zweitens, indem eine Förderung von gewerblichen Unternehmen durch Bund oder Länder dann europarechtlich als Beihilfe grundsätzlich unzulässig wäre, wenn sie entweder nicht im Rahmen einer Freistellungsverordnung für bestimmte Branchen oder Bereiche allgemein ausgenommen9 oder im Wege der Notifizierung im Besonderen von der EU-Kommission genehmigt ist. Aus diesem Grund wurde auch die aktuelle Förderkulisse der GRW der EU-Kommission zur Genehmigung vorgelegt, um die beihilferechtliche Unbedenklichkeit zu garantieren.10 Zwar hat der Planungsausschuss selbst Kriterien für den Gebietszuschnitt entwickelt (insbesondere basierend auf regionalen Arbeitsmarkt-, Einkommens- und Infrastrukturdaten11). Dennoch hat er die Ergebnisse dieses Zuschnitts mit den Anforderungen der EUKommission an so genannte Plafonds (d.h. den zulässigen Umfang der Fördergebiete) der einzelnen Mitgliedstaaten zu kompatibilisieren. Bei der letzten Überarbeitung 2006 führte das insbesondere zu zwei Problemen: Eine Reihe von Fördergebieten, die vormals in der höchsten Förderstufe (so genannte „A“-Fördergebiete) eingruppiert waren, drohte aus der Förderung herauszufallen, weil die EU-Kommission mit der Anwendung einer neuen, so genannten „Ziel 1“-Förderkategorie als Schwellenwert für diese wirtschaftlich schwächsten Regionen vorgab, ihr BIP pro Kopf dürfe 75 Prozent des EU-25-Durchschnitts nicht überschreiten. Und außerdem führten die Vorgaben der EU-Kommission zum Erfordernis, die so genannten „C“-Fördergebiete insgesamt um ein Drittel gegenüber der Vorperiode zu verkleinern (siehe Bundesregierung 2007: 19). Das erste Problem („A“-Fördergebiete) löste man 8 Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung 2007 bis 2013, ABl. EG 54/13 vom 4. März 2006. 9 Z.B. für KMU, die Rettung notleidender Unternehmen u.a. Im Einzelnen siehe Bundesregierung (2007). 10 Die Genehmigung für die aktuelle Regionalfördergebietskarte für 2007 bis 2013 erfolgte am 8. November 2006 durch die EU-Kommission. 11 Vgl. hierzu im Einzelnen Bundesregierung (2007: 19).

Länderwirtschaftspolitik

227

über political bargaining mit der Kommission, denn unter dem Schlagwort des „statistischen Effekts“ wurde für diese Gebiete eine Übergangsregelung (so genannter „Phasing-Out-Status“) geschaffen12. Das zweite Problem wurde im Grunde ohne die EU-Kommission gelöst, indem der Planungsausschuss eine neue Kategorie „D“ für Fördergebiete schuf, die außerhalb der von der EU-Kommission akzeptierten Kulisse liegen. Da hier nun allerdings das Beihilferecht der EU Subventionen grundsätzlich ausschließt, wurden die Förderbedingungen entsprechend der so genannten de minimis-Regel ausgearbeitet. Das heißt, hier werden Unternehmen lediglich bis zu 200.000 € Subventionswert innerhalb von drei Jahren gefördert. So wird diese Freistellung im Rahmen der „Geringfügigkeitsregelung“ des EU-Beihilferechts genutzt, um eine größere Förderkulisse aufrecht zu erhalten. Dahinter steht ein eminent politisches, wenngleich parteiübergreifendes Interesse der Länder am Erhalt einer möglichst großen Förderkulisse. Dabei hat sich ein gewisser Stimmungswechsel unter den deutschen Ländern ereignet. Standen und stehen sie im Prinzip auch weiterhin den regionalpolitischen Ambitionen der EU relativ positiv gegenüber (weil die EU-Kommission die Regionen als Ansprechpartner entdeckte und ihnen neues Gewicht als Partner der europäischen Regionalförderung gab), so sehen die Länder schon seit einiger Zeit die Kehrseite der EU-Regionalförderung in Form restriktiver Beihilfekontrolle (Sturm/Pehle 2005: 319). Länder, die von der europäischen Förderung relativ gering profitieren (und aufgrund ihrer Vorgaben wenige oder gar keine Fördergebiete mehr ausweisen können), sind in ihrer regionalen Wirtschaftsförderpolitik extrem eingeengt. Denn das Beihilferecht schränkt sie (auch und gerade) außerhalb der Regionalförderung hinsichtlich ihrer wirtschaftsfördernden Maßnahmen dezidiert ein. Der Umfang der Fördermittel, die hälftig vom Bund und dem jeweiligen Land zur Verfügung gestellt werden, richtet sich nach der Größe der jeweiligen Fördergebiete und ihrer Zuordnung in die Kategorien „A“ (einschließlich „vom statistischen Effekt betroffene Gebiete“), „C“ und „D“ bzw. den dort jeweils geltenden Subventionsbedingungen. Für den Zeitraum 1991 bis 2006, also die Periode seit der Wiedervereinigung, können wir feststellen, dass 10 Prozent der bewilligten GA-Mittel in den alten Bundesländern und 90 Prozent in den neuen Bundesländern verausgabt wurden. Die prozentualen Anteile stellen sich wie folgt dar:

12 Die ‚vom statistischen Effekt betroffenen Gebiete’ wurden bis 2010 in ihrem alten Förderstatus (also als Höchstfördergebiete) belassen, soweit sie die 75-Prozent-Schwelle im EU-15-Vergleich erfüllen. 2010 wird eine Überprüfung durchgeführt, so dass ab 2011 die Möglichkeit der Herabstufung droht. Siehe hierzu auch Schorlemmer (2007: 305).

228 Tabelle 2:

Markus M. Müller Anteile GRW nach Ländern (in Prozent) Land

Anteil

BE

6,3

BB

16,2

BY

0,9

HB

0,3

HE

0,5

MV

9,9

NI

2,8

NW

3,2

RP

0,6

ST

18,0

SL

0,8

SH

0,9

SN

26,1

TH

13,5

Quelle: Statistik der BAFA, Stand 27.2.2007 und eigene Berechnung. Nach der Statistik der BAFA standen Baden-Württemberg und Hamburg im Berichtszeitraum keine GRW-Mittel zur Verfügung.

Diese Verteilung reflektiert die sozio-ökonomische Situation der Länder, allerdings unter den Bedingungen reduzierter Handlungsspielräume aufgrund der Europäisierung der regionalen Wirtschaftspolitik. Diese Durchdringung ist für das Verständnis der Regionalpolitik in Deutschland von zentraler Bedeutung. Die europäische Regionalpolitik hat seit 1975 in zweierlei Hinsicht zunehmend Einfluss auf die deutsche regionale Wirtschaftsförderung entwickelt: Zum einen über die Einrichtung des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), zum anderen über das Binnenmarktprojekt und, wie gesehen, eines seiner wirkungsmächtigen Kernelemente, das Beihilferecht. Beide Aspekte bilden in der Integrationslogik zwei Seiten einer Medaille, wenngleich mit unterschiedlichen Entwicklungsstadien (siehe auch Lammers 2007; Sturm/Pehle 2005). Mit dem EFRE sollte politisch ein Ausgleichsmechanismus für die Umverteilungsfolgen der europäischen Landwirtschaftspolitik geschaffen werden (Rudzio 2000: 112) Der Charakter eines „gebundenen Finanzausgleichs“ (Lammers 2007: 102) blieb bis 1985 dominant, auch wenn die Kommission seit 1979 5 Prozent der Mittel für eigene Förderinitiativen verwenden konnte. In Deutschland flossen die Mittel in die GRW, eine inhaltliche Prägung im Sinne einer Europäisierung der deutschen regionalen Wirtschaftsförderung war aber noch nicht gegeben. Das änderte sich 1988. Da ergab sich aus zwei Entwicklungssträngen massiver Europäisierungsdruck für die GRW: Die Kommission bereitete seit 1985 eine Binnenmarktinitiative vor, die in der „Einheitlichen Europäischen Akte“ mündete. Sie stellte u.a. auf die Abschaffung aller (binnen-)marktverzerrenden Regeln und Einflüsse, auch mit Hilfe des Beihilferechts und damit der Zurückdrängung staatlicher Subventionen für heimische Marktakteure, ab. Und gleichzeitig wurde über den Beitritt von Spanien und Portugal zur Union verhandelt. Um die Zustimmung dieser und anderer relativ armer Mitgliedsländer (also Griechenland, Italien oder Irland) zum Binnenmarktprogramm zu erhalten, wurde auf deren Forderung nach finanzieller

Länderwirtschaftspolitik

229

Hilfe zur Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit mit der Aufnahme eines neuen Titels in den Gründungsvertrag „Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt“ und damit der Kohäsionspolitik eingegangen. Nun wurden EFRE, Sozialfonds (ESF) und Agrarfonds, Abteilung Ausrichtung, explizit auf das Kohäsionsziel ausgerichtet und stärker als bisher in die Kompetenz der Kommission gelegt (Lammers 2007: 102; Rudzio 2000: 164). So wurde der Marktoptimismus des Binnenmarktprojektes, demzufolge Wohlstandswachstum für die Mitgliedstaaten aus freiem Handel und Wettbewerb resultiert, mit dem relativen Marktpessimismus der Kohäsionspolitik kombiniert, demzufolge der freie Wettbewerb für schwache Mitgliedstaaten eher ein Problem darstellt und durch Transfermittel kompensiert werden muss. Mit dieser Paradoxie lebt die europäische Regionalpolitik spätestens seit Ende der 1980er Jahre. Daran ändert auch die seit der Förderperiode 2007 bis 2013 fundamentale Ausrichtung der Kohäsionspolitik an der so genannten Lissabon-Strategie nichts. Letztere hat aber ihrerseits, via Europäisierung, auch zu einer „Lissabonisierung“ der deutschen Regionalpolitik geführt. Denn die Bindung von Kohäsionsmitteln an die Zwecksetzungen der Lissabon-Strategie wirkt über die gestiegene quantitative Bedeutung europäischer Fonds-Mittel an den Gesamtmitteln der deutschen Regionalpolitik (von 17,2 % im Zeitraum 2000-2004 auf 19,3 % im Zeitraum 2004-2008, s. Sturm/Pehle 2005: 327) auf die Praxis der GRW. Auf diesem Wege verstärkt damit die Europäisierung der regionalen Wirtschaftspolitik in zweierlei Hinsicht die Konvergenz in der Landeswirtschaftspolitik. Zunehmende inhaltliche (Zweck-)Bindungen durchdringen steigende Anteile der (regionalen) Wirtschaftsförderung, und gleichzeitig verhindert das europäische Beihilferecht weitgehend eigenständige Landeswirtschaftsförderung jenseits der Fördergebiete der GRW. Experimente, neue Instrumente etc. müssen im Wesentlichen im Rahmen der Kohäsionspolitik bzw. unter Berücksichtigung der Restriktionen europäischen Rechts durchgeführt werden.

3.3 Landeskartellbehörden und Landesregulierungsbehörden Nach Art. 48 GWB führen die Länder bestimmte Verfahren des Wettbewerbsrechts selbst durch. Hierzu haben sie Landeskartellbehörden eingerichtet, regelmäßig bei den Wirtschaftsressorts. Seit 2005 haben die Länder darüber hinaus die Zuständigkeit für die Regulierung im Energiesektor, sofern bestimmte Größengrenzen der Energieversorger unterschritten werden (ausführlicher Müller 2006a). Hier haben die Länder die Möglichkeit, entweder eigene Landesregulierungsbehörden einzurichten (ebenfalls regelmäßig bei den Wirtschaftsressorts) oder aber diese Aufgabe der entsprechenden Bundesbehörde, der Bundesnetzagentur in Bonn, zu übertragen. Unabhängig von den damit verbundenen rechtlichen Fragen handelt es sich bei Letzterem um eine institutionelle Entlastung der Länder. Die Regelung dürfte ihre Berechtigung vor allem der Existenz von Ländern bzw. Stadtstaaten verdanken, in denen eine sehr geringe Zahl von zu regulierenden Energieversorgern aktiv ist, für deren Regulierung die Einrichtung einer eigenen Landesbehörde keinen Sinn ergibt. Es zeigt sich nun allerdings, dass von der Regelung auch Flächenländer Gebrauch gemacht haben. Die nachfolgende Tabelle gibt eine Übersicht.

230 Tabelle 3:

Markus M. Müller Länder mit Landesregulierungsbehörde (LRB) und Länder, die ihre Zuständigkeiten auf die Bundesnetzagentur (BNA) übertragen haben (Stand: 2007)

LRB

BW

BY

BB

HE

NW

RP

SL

BNA

BE

HB

HH

MV

NI

SH

TH

SN

ST

Unter den Ländern, die für eine Aufgabenübertragung an die BNA votierten, finden sich Regierungen aller parteipolitischen Konstellationen. Selbst wenn man die Stadtstaaten einmal außer Acht lässt, gibt es hier kein offensichtliches Muster. Es ist nahe liegend zu vermuten, dass eine Pfadabhängigkeit besteht: je nachdem, ob Länder im funktionalen VorgängerÄquivalent der Energieregulierung, nämlich der so genannten Strompreisaufsicht, vor 2005 engagiert waren, sind sie es auch in der Energieregulierung. Für Länder mit besonders intensiver Strompreisaufsicht, insbesondere Nordrhein-Westfalen, ist dies zwar zutreffend. Demgegenüber hat das einzige Bundesland, das bereits 2000 die Strompreisaufsicht einstellte, Baden-Württemberg, nach 2005 eine Landesregulierungsbehörde geschaffen. Die institutional legacy erklärt insofern nicht allein die Wahl zwischen beiden Optionen.

3.4 Bürokratieabbau Der Abbau bürokratischer Hemmnisse und Belastungen für Unternehmen (und Bürger), als Teilbereich von Deregulierungsbemühungen, ist spätestens seit den 1980er Jahren ein Thema politischer Auseinandersetzungen. Er reicht von simpler Rechtsbereinigung (formelle Außer-Kraft-Setzung von unbeachtlichen, mitunter „vergessenen“ Rechtsnormen) bis hin zu materieller Verringerung öffentlicher Anforderungen an privates Handeln im Rahmen von Genehmigungen, Förderungen etc. (ausführlich Sturm/Müller 2005). Die nachfolgenden Tabellen auf dieser und der nächsten Seite geben einen Überblick über Verfahren und Zielsetzungen des Bürokratieabbaus in den Ländern. Die Tabellen weisen, ebenso wie in der gewerblichen Wirtschaftsförderung, ein weitgehend ähnliches Profil im Ländervergleich auf. Hier ist von Politikdiffusion auszugehen, wenngleich der Mechanismus nicht abschließend beurteilt werden kann. Die Wirkung der ‚Fachbruderschaften’, hier insbesondere im Rahmen der Arbeitskreise auf Beamtenebene zur Vorbereitung der Fachministerkonferenzen (Wirtschaftsministerkonferenz, Innenministerkonferenz sowie möglicherweise auch Ministerpräsidentenkonferenz), scheint eher begrenzt. Denn wiewohl die Maßnahmen und Ziele materiell deutlich konvergieren (siehe Tabelle), gibt es eine Tendenz zur eigenständigen Titulatur und vor allem erhebliche Differenzen bei der Ressortzuordnung der Federführung (im Detail siehe Sturm/Müller 2005). Das spricht dafür, dass ein (auch) wirtschaftspolitisches Thema mit an sich parteiübergreifendem Konsens dennoch politisch erkennbar signiert werden soll und entsprechend unterschiedlich organisatorisch verortet wird.

231

Länderwirtschaftspolitik Tabelle 4:

BW BY BE BB HB HH HE MV NI NW RP SL SN ST SH TH

Verfahren des Bürokratieabbaus und Maßnahmen gegen die Entstehung neuer Bürokratie in den Ländern (Stand 2004)

Eingaben1 + + + + + + + + + + + + + +

Intern2 Expertenrat + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +

Beteiligung Verbände3 + + + + + + + + + + + + + + + +

Sunset4

GFA5

+ + + + + + + + + + + + + +

+ + + + + + + + + + + + +

Normprüfung6 + + + + + + + + + + + + + +

Abbau7 Statistik + + + + + + + +

Aufgabenkritik + + + + + + + + + + + + + + + +

Eingaben von Unternehmen und Bürgern Verwaltungsinterne Verfahren 3 Beteiligung von Verbänden, Gewerkschaften und Kommunen 4 Begrenzung der Geltungsdauer von Rechtsnormen 5 Gesetzesfolgenabschätzung 6 Notwendigkeitsprüfung und/oder zentrale Normprüfung 7 Abbau von Statistikpflichten Quelle: Überarbeitete Darstellung auf Grundlage von Sturm/Müller (2005: 26-7) 1 2

Tabelle 5:

BW BY BE BB HB HH HE MV NI NW RP SL SN ST SH TH

Ziele des Bürokratieabbaus (Stand 2004) Entlastung der Wirtschaft + + + + + + + + + + + + + + + +

Quelle: Sturm/Müller (2005: 29)

Bürgerfreundlichkeit und Bürgernähe + + + + + + + + + + + + + + + +

Effizienz und Transparenz der Verwaltung + + + + + + + + + + + + + + + +

Einsparungen + + + + + + + + + + + + + + +

Lösung von Problemen aus dem Zusammenspiel mit Bundes- und EU-Recht + + + + + -

232

Markus M. Müller

Die fehlende parteipolitische Prägung lässt sich beispielhaft an zwei Indikatoren feststellen. Hierzu formulieren wir zunächst als Hypothese, dass sich partisan politics in der normativen Bezugnahme zu parteipolitisch verfestigten Konzepten, Leitbildern oder Kategorien niederschlagen müsste. Als in Frage kommende Wertbegriffe seien für die sozialdemokratische Prägung das Leitbild des „aktivierenden Staates“, welches seit den späten 1990er Jahren entwickelt und unter der Regierung Schröder in unterschiedlicher Form diffundiert wurde, gewählt, für die christdemokratische Prägung das „Subsidiaritätsprinzip“ aus der katholischen Soziallehre, hier insbesondere auch verstanden als Kommunalisierungsgebot von Verwaltung und Verwaltungsentscheidungen. Eine Momentaufnahme 2004 (Sturm/Müller 2005: 24) ergab ein Bild beinahe vollständiger Uniformität. Lediglich im Bereich „Subsidiarität/Kommunalisierung“ verneinten die Stadtstaaten Berlin und Bremen, dass dieser topos für sie von Bedeutung sei – fraglich bleibt, weshalb nicht auch Hamburg. Eher kurios zu nennen ist das affirmative Votum Bayerns zu dem sozialdemokratisch geprägten Leitbild des „aktivierenden Staats“. Diese auf einer schriftlichen Umfrage 2004 basierende Momentaufnahme in den jeweils federführenden Ressorts der Länder deutet jedenfalls darauf hin, dass auch jenseits der in hohem Maße konvergierenden instrumentellen und institutionellen Aspekte des Bürokratieabbaus keine klandestinen normativen Bezüge parteipolitischer Prägung bestehen.

4

Fazit

Diese Analyse ausgewählter wirtschaftspolitischer Felder deutet darauf hin, dass ein Höchstmaß an Konvergenz in den zum Einsatz kommenden Instrumenten und Mitteln sowie eine deutliche Tendenz zur Konvergenz bei Zielen und Zwecken in den Ländern erkennbar sind. Wo Unterschiede bestehen, fällt es mitunter schwer, deutliche UrsacheWirkungs-Zusammenhänge zu destillieren. In der regionalen Wirtschaftsförderpolitik ergeben sich aus der Anpassungsnotwendigkeit an europäische Vorgaben, verschärft um die Restriktionen des Beihilferechts in allen anderen wirtschaftsfördernden Politikbereichen, Unterschiede insbesondere in der quantitativen Mittelausstattung sowie der Größenbemessung von Förderkulissen. Der policy transfer zwischen den Ländern (im Bereich der GRW auch zwischen Ländern und Bund) ist stark institutionalisiert. Wiewohl die Ressourcenausstattung sowie die Benennung von Fördergebieten stark politisierte Fragestellungen darstellen, laufen wesentliche Entscheidungen innerhalb der Fachzirkel der Arbeitsebenen ab. Die durch diese und andere Koordinationsmechanismen erleichterte, vielleicht auch provozierte Konvergenz schlägt sich in Wellenbewegungen von Leitideen bzw. Grundausrichtungen von Wirtschaftsförderpolitik nieder. Länder übernehmen Ideen gleichzeitig oder mit kleinen zeitlichen Verzögerungen voneinander. Das wird etwa im Bereich der Technologiepolitik mit einer Reihe von zeitlich nahe beieinander liegenden Landesgesetzen (Ende der 1970er Jahre), der Einrichtung von Institutionen der Technikfolgenabschätzung in den 1980er und 1990er Jahren oder der Zur-Verfügung-Stellung von Mitteln für dezidierte Instrumente (wie z.B. die so genannten „Innovations-Assistenten“) sichtbar. Mit der Zunahme der Bedeutung europäischer Mittel, die bei sinkenden eigenen Landesmitteln in steigendem Maße dann auch Inhalte prägen, wenn sie, wie zuletzt mit der „Lissabon-Strategie“, an spezifische Ziel-

Länderwirtschaftspolitik

233

setzungen gebunden sind, beschleunigen sich solche Diffusionsprozesse von an sich neuartigen Politikideen. Denn „politische Pioniere“, die erfolgreich neue Instrumente entwickeln, die sich als „europatauglich“ (also aus europäischen Mitteln förderwürdig bzw. beihilferechtlich unbedenklich) erweisen, senken die politischen Innovationskosten aller Imitatoren. Dies könnte zumindest partiell auch einen Erklärungsbeitrag für die Tendenz zur „Spezifizierung“ von wirtschaftsfördernden Programmen in allen Ländern bei gleichzeitiger Konvergenz dieser Spezifizierung leisten. Wurde noch in den 1970er Jahre relativ unspezifisch im Rahmen der Regionalförderung vor allem nach dem Prinzip des Nachteilsausgleichs gefördert, entwickelten sich später zunehmend kleinteilige und auf dezidierte wirtschaftspolitische Ziele ausgerichtete Instrumente und Spezialprogramme. Die erwähnte LissabonStrategie markiert hier insofern einen Wendepunkt, als sie nach der Leitidee des „Stärken stärken“ auf die Weiterentwicklung von wirtschaftsstarken Zentren als (regionalen) Motoren der wirtschaftlichen Entwicklung setzt. Eine solche Förderstrategie bedarf viel stärker der Identifikation von Clustern und Entwicklungspfaden; sie steht insofern in großem Gegensatz zum althergebrachten Nachteilsausgleich durch mehr oder minder materiell spezifizierten Finanztransfer in wirtschaftsschwache Gebiete. Während die Konvergenz von Instrumenten und Zwecksetzungen auch ein deutliches Merkmal des politisch forcierten, wenngleich parteipolitisch kontingenten Bürokratieabbaus ist, zeigen sich, entgegen naiver Erwartung, Differenzen (auch) in organisatorischen Angelegenheiten. So wählte beinahe die Hälfte der Länder die Übertragung der Energieregulierung auf die Bundesnetzagentur, während die übrigen eigene Behörden einrichteten. Es lassen sich keine parteipolitischen Präferenzen erkennen; auch von Pfadabhängigkeit im Sinne der funktionsäquivalenten Fortsetzung der ehemaligen Stromaufsicht kann nicht stringent gesprochen werden. Dasselbe gilt für die Flächenland-Stadtstaat-Dichotomie. Offenbar sind gerade institutionelle Regelungen einer Vielzahl von Faktoren geschuldet, die aufgrund der geringen Fallzahl und seltenen Gelegenheiten eines fassbaren Vergleichs (wie z.B. der Ersteinrichtung einer Sonderbehörde) mitunter für den wissenschaftlichen Zugriff kontingent erscheinen.

Literatur Bundesregierung, 2007: Sechsunddreißigster Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2007 bis 2010“, in: Deutscher Bundestag, Drs. 16/5215 vom 27. April 2007. Hoppe, Hans-Herrmann, 2003: Demokratie – der Gott der keiner ist. Leipzig. Kingdon, John W., 1984: Agendas, Alternatives, and Public Policies. New York. Lammers, Konrad, 2007: Europäische Regionalpolitik – Treibende Kraft für Aufholprozesse?, in: Wirtschaftsdienst 87 (2), 101-105. Müller, Markus M., 2002: The new regulatory state in Germany. Birmingham. Müller, Markus M., 2006a: Consolidating the New Regulatory State in Germany. The New Energy Regime of 2005, in: German Politics 15 (3), 269-283. Müller, Markus M., 2006b: Staat und Wirtschaft, In: Kastendiek, Hans/Sturm, Roland (Hg.): Länderbericht Großbritannien. Bonn, 434-455.

234

Markus M. Müller

Müller, Markus M., i.E.: Wirtschaftspolitik, in: Gabriel, Oscar W./Kropp, Sabine (Hg.): Die EU-Staaten im Vergleich. Wiesbaden. Niejahr, Elisabeth/Pörtner, Rainer, 2002: Joschka Fischers Pollenflug und andere Spiele der Macht. Wie Politik wirklich funktioniert. Frankfurt a.M. Rudzio, Karl, 2000: Funktionswandel der Kohäsionspolitik unter dem Einfluss des Europäischen Parlaments. Baden-Baden. Scherzinger, Angela, 1998: Die Technologiepolitik der Länder in der Bundesrepublik Deutschland – ein Überblick, DIW – Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Diskussionspapier Nr. 164. Berlin. Schmid, Josef, 1991: Industriepolitik der CDU – Innovation, Variation, Diffusion, in: Jürgens, Uwe/Krumbein, Werner (Hg.): Industriepolitik der Bundesländer. Berlin. Schorlemmer, Ingo, 2007: Osterweiterung und Lissabonisierung: Die neue EU-Strukturpolitik und deren Folgen für die Bundesrepublik Deutschland, in: GWP 56 (3), 303-310. Stober, Rolf, 2002: Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht. Stuttgart. Sturm, Roland/Müller, Markus M., 2005: Institutionelle und politische Voraussetzungen für erfolgreiche Deregulierung in den Ländern, in: Empter, Stefan/Frick, Frank/Vehrkamp, Robert (Hg.): Auf dem Weg zu moderner Regulierung. Eine kritische Bestandsaufnahme. Gütersloh, 11-47. Sturm, Roland/Pehle, Heinrich, 2005: Das neue deutsche Regierungssystem. Wiesbaden. Sturm, Roland, 1991: Die Industriepolitik der Länder und die europäische Integration. Unternehmen und Verwaltungen im erweiterten Binnenmarkt. Baden-Baden. Sturm, Roland, 1989: Haushaltspolitik in westlichen Demokratien. Baden-Baden. Wagener, Frido, 1979: Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, in: Verhandlungen des Vereins der Deutschen Staatsrechtslehrer 37, 215-266. Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, diverse Ausgaben: Die Finanzierungshilfen des Bundes, der Länder und der internationalen Institutionen. Gewerbliche Wirtschaft, diverse Ausgaben. Frankfurt a.M.

Länderverkehrspolitik Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort

1

Das Politikfeld Verkehr

In der öffentlichen Wahrnehmung erscheint die Verkehrspolitik nicht eben als eine „klassische“ Domäne der Landespolitik. Der folgende Beitrag stellt die Frage, inwieweit diese Wahrnehmung berechtigt ist bzw. bis zu welchem Grad den Bundesländern im Bereich der Verkehrspolitik doch eine gestaltende Rolle zugemessen werden kann. Dabei gehen wir von der Beobachtung aus, dass die Verkehrspolitik, nicht nur auf der Ebene der Bundesländer, ein von der Politikwissenschaft unterbelichtetes Feld darstellt. Um diese Randständigkeit zu erklären, wird die These entfaltet, Verkehrspolitik habe sich traditionell in erster Linie auf eine distributive Funktion beschränkt. Vorrangig bestand und besteht Verkehrspolitik demnach in der Verteilung beträchtlicher Finanzmittel, mit denen ausreichend Infrastruktur für den überbordenden Verkehrsbedarf der modernen Gesellschaft bereitgestellt werden soll. Diese grundsätzlich problematische Rolle der Verkehrspolitik mit bedenkend ist dann zu klären, über welche Handlungsspielräume für verkehrspolitische Gestaltung die Bundesländer im Kontext des politischen Mehrebenensystems verfügen. Dabei zeigt sich in vielen Bereichen ein hoher Grad an Politikverflechtung mit den Problemen von Steuerungsdefiziten und mangelnder lokaler Gestaltungsautonomie. In einigen Feldern finden sich aber dennoch Hinweise auf nicht unerhebliche Gestaltungsmöglichkeiten auf der Länderebene. Im Kontext der Verflechtungsproblematik werden die Versuche diskutiert, unter anderem im Rahmen der Regionalisierungsreform und aktuell der Föderalismusreform die Zuständigkeiten von Bund und Ländern neu zu ordnen und mehr Transparenz zu schaffen. Insgesamt ergibt sich die Diagnose begrenzter, aber nicht zu vernachlässigender Handlungsspielräume der Bundesländer im Bereich der Verkehrspolitik. Erste Anhaltspunkte dafür, inwieweit die Länder diese potentiellen Handlungsmöglichkeiten auch zu tatsächlichen Gestaltungsversuchen genutzt haben, sollen dann durch einen Blick auf einige einschlägige quantitative Indikatoren zu Verkehrsgeschehen und Verkehrsausgabenstrukturen in den Bundesländern zusammengetragen werden. Die wissenschaftliche Disziplin der Verkehrspolitik ist traditionell die Domäne der Wirtschaftswissenschaften (vgl. Schöller 2007). Vorausgesetzt wird bis heute ein enger Zusammenhang zwischen sich arbeitsteilig ausdifferenzierenden Gesellschaften und der damit einhergehenden Verkehrsentwicklung. Demnach ist das stetig steigende Verkehrsaufkommen in modernen kapitalistischen Gesellschaften sowohl Resultat wie auch Voraussetzung ökonomischer Entwicklung. Die mit der fortschreitenden Arbeitsteilung wachsenden Wegeketten provozieren ein Verkehrswachstum, zu dessen Bewältigung immer ausgefeiltere

236

Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort

Verkehrssysteme entwickelt werden müssen. Daraus wiederum resultiert eine enge Zusammenarbeit von Ökonomen und Ingenieuren. Während Erstere aus dem Wechselspiel von ökonomischer und verkehrlicher Entwicklung den jeweiligen Verkehrsbedarf ermitteln, besteht die Aufgabe Letzterer darin, im Rahmen des Verkehrssystems die technischen Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung des Verkehrsflusses zu schaffen (Schmucki 2001). Der postulierte enge Funktionszusammenhang1 zwischen wirtschaftlicher Dynamik und Verkehrsbedarf erlaubt kaum Handlungsspielräume und damit wenig Raum für Politik, denn politische Gestaltung würde ja die Wahlmöglichkeit zwischen zwei sich wenigstens teilweise widersprechenden Handlungsalternativen voraussetzen. Solange jedoch als übergeordnetes Ziel ökonomisches Wachstum angestrebt und Verkehr vor allem als eine davon abgeleitete Größe begriffen wird, sind die Handlungskorridore schmal und die politische Verhandlungsmasse entsprechend gering. Entweder erfordert eine wirtschaftliche Prosperitätsphase den Ausbau des Verkehrssystems, weil sie eine zusätzliche Verkehrnachfrage erzeugt, oder ein Zustand ökonomischer Stagnation begründet den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, um die Voraussetzungen für eine erneute ökonomische Wachstumsphase zu schaffen. In beiden Fällen wird Verkehrspolitik auf eine schlichte Anpassungsplanung reduziert, die ihre wesentlichen Impulse zudem aus einem anderen Politikfeld erhält. Gegenüber dieser bis heute dominierenden verengten Perspektive auf das gesellschaftliche Phänomen Verkehr werden in jüngster Zeit immer stärker die sozialen und ökologischen Effekte thematisiert. Angestrebt wird eine integrierte Verkehrspolitik, die alle drei Dimensionen berücksichtigt und im Sinne einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung austariert. Insofern sich die unterschiedlichen Ziele der Trias Ökonomie, Soziales und Ökologie teilweise deutlich widersprechen, würde ihre prinzipiell gleichwertige Behandlung bei verkehrspolitischen Entscheidungen immer wieder Aushandlungsprozesse erfordern und damit neue politische Handlungsspielräume eröffnen (vgl. Schöller 2006). Die Schwierigkeit, das Politikfeld Verkehr aus politikwissenschaftlicher Sicht einzugrenzen, wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass neben der dominierenden und direkt Einfluss ausübenden Ökonomie indirekt noch eine Vielzahl anderer Politikfelder auf den Verkehrssektor einwirken. Das prominenteste Beispiel dieser ‚heimlichen Verkehrspolitik’ ist zweifellos die Raumordnungspolitik, wirkt sich doch die Siedlungsentwicklung, je nachdem ob sie sich durch Kompaktheit und damit verbundene kurze Wege auszeichnet oder weiträumig zerfließt, unmittelbar und sehr unterschiedlich auf das Verkehrsaufkommen aus. Wenn solche städtebaulichen Strukturen erst einmal entstanden sind, kann Verkehrspolitik wiederum nur noch Anpassungsleistungen vollbringen, ohne wirklich gestaltend einzugreifen.2 Ähnliches gilt für sozial-, finanz- oder wirtschaftspolitische Maßnahmen wie etwa die staatliche Subventionierung des öffentlichen Verkehrs, die Pendlerpauschale oder die Eigenheimzulage, welche jeweils auf spezifische Weise die Verkehrsentwicklung beeinflussen 1 Während die Generierung von Verkehr durch Wirtschaftswachstum empirisch nachzuweisen ist, war der Umkehrschluss schon früh widerlegt worden (vgl. GwvF 1978). Aber auch im Falle der Verkehrsentstehung als Folge von ökonomischem Wachstum wird seit langem diskutiert, inwieweit durch politisch induzierte Effizienzsteigerungen, ähnlich wie im Energiesektor, eine Entkopplung von Wirtschafts- und Verkehrswachstum erreicht werden kann (vgl. Peak 1994). 2 Aus diesem Grund wurden 1998 das Verkehrsministerium mit dem Ministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zusammengelegt. Dadurch erhoffte man sich eine bessere Abstimmung der beiden Politikfelder im Rahmen einer Integrationsstrategie, die eine nachhaltige Stadt- und Verkehrsentwicklung ermöglichen sollte.

Länderverkehrspolitik

237

und damit indirekt die verkehrspolitischen Handlungsspielräume einengen. Für die Politikwissenschaften gibt es hier offenbar nicht viel zu studieren, womit zumindest teilweise ihre weitgehende Abstinenz von diesem Politikfeld zu erklären ist.3 Insofern könnte man auch fragen, ob ein Beitrag über Verkehrspolitik überhaupt in eine im engeren Sinne politikwissenschaftliche Publikation gehört. Allerdings wird der auf den ersten Blick politisch weitgehend bedeutungslose Verkehrssektor auf der Bundesebene immerhin durch das Ministerium mit dem größten Investitionshaushalt repräsentiert. Gemessen an der ökonomischen Potenz würde man daher eine weitreichende politische Gestaltungsmacht erwarten. Tatsächlich zeichnet sich das Bundesverkehrsministerium jedoch nicht durch eine besonders innovative Politik aus. Vielmehr artikuliert der Verkehrsminister bis heute vor allem den eingangs skizzierten Beitrag des Verkehrs zur Wirtschaftsentwicklung (vgl. BMV 1992: 12, BMVBW 2003a: 8). Die Konterkarierung der Verkehrspolitik insbesondere durch die Wohnungs- und Städtebaupolitik konnte auch nicht durch die erwähnte formale Zusammenlegung mit dem Ministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau korrigiert werden, da beide Ministerien de facto weiterhin nebeneinander her existieren. Schließlich verhindert die interne Segmentierung des Verkehrsministeriums in mehrere weitgehend unabhängige Abteilungen, die jeweils einzelne Verkehrsträger repräsentieren, seit Jahrzehnten eine abgestimmte verkehrspolitische Strategie (vgl. Dienel 2007). Vor diesem speziellen Hintergrund im Politikfeld Verkehr erhält der Hinweis der Herausgeber, dass die Politik der Bundesländer bei der Politischen Wissenschaft bisher relativ wenig Aufmerksamkeit erfahren hat, in dem Themenfeld der Verkehrspolitik eine besondere Bedeutung. Nicht nur die Verkehrspolitik der Länder ist von der Politikwissenschaft bisher weitgehend unentdeckt geblieben, sondern die Verkehrspolitik insgesamt.4 Dementsprechend bescheiden muss die im Folgenden angestrebte vergleichende Bestandsaufnahme der Länderverkehrspolitiken ausfallen, kann sie sich doch kaum auf politikwissenschaftliche Vorarbeiten stützen. Die unbefriedigende Materiallage ist auch der Grund dafür, dass wir uns zur Durchführung einer Ad-hoc-Studie entschlossen haben, die sich aus einer quantitativen und einer qualitativen Erhebung zusammensetzt. So haben wir die auf Länderebene verfügbaren Datenbestände zur Verkehrsentwicklung sowie zu den Verkehrsausgaben der Bundesländer gesichtet und eine erste Übersicht über diese Kennzahlen erstellt. Mit aller gebotenen Vorsicht sollen von diesen Daten erste Rückschlüsse auf länderspezifische verkehrspolitische Orientierungen versucht werden. Dieser quantitative Eindruck wird ergänzt durch zehn Experteninterviews aus den Bereichen Verwaltung, Politik, Verbände, Wissenschaft sowie der Föderalismuskommission.5 3 Bis heute gibt es im deutschsprachigen Raum keinen Lehrstuhl für Verkehrspolitik, der von einem Politikwissenschaftler besetzt ist. 4 So bekannte jüngst erst Klaus von Beyme, auch er habe diesbezüglich „gesündigt“ (vgl. Beyme 2007: 125). 5 Bei den folgenden Interviewpartnern möchten wir uns für die gute Zusammenarbeit und wichtige Hinweise bedanken: Dr. Friedemann Kunst, Referatsleiter für Grundsatzangelegenheiten in der Verkehrspolitik und Verkehrsentwicklungsplanung bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung der Stadt Berlin; Hermann Blümel, Mitarbeiter im Referat Grundsatzfragen der Verkehrspolitik in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung der Stadt Berlin; Prof. Dr. Eckhard Kutter, Lehrstuhlinhaber für„Verkehrssysteme und Logistik“ an der TU Hamburg-Harburg (seit 2004 Emeritus); Daniel Bongardt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wuppertalinstitut für Klima, Umwelt, Energie; Dr. Werner Reh, Referent für Verkehrspolitik des BUND Bundesverbandes; Wolfgang Schwenk, Leiter des Hauptstadtbüros des

238

2

Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort

Landesverkehrspolitik im politischen Mehrebenensystem

Die aktuelle politische Verfasstheit des Verkehrssektors erklärt sich zum einen aus der spezifischen historischen Situation der Nachkriegszeit und zum anderen aus der Besonderheit des Politikfeldes Verkehr selbst. Die ökonomische Wachstumsphase in den 1950er/60er Jahren, das sog. ‚Wirtschaftswunder’, ging einher mit einem gewaltigen Anstieg des Verkehrsaufkommens. Die private Massenmotorisierung entwickelte sich ebenso wie der Güterverkehr in einem rasanten Tempo. Die gesamte westdeutsche Gesellschaft wurde auf diese Weise in bis dahin ungekanntem Maße mobilisiert. Um diese Verkehrsnachfrage zu bewältigen und die nationale Wirtschaftsentwicklung nicht zu gefährden, wurde ein umfangreicher Ausbaus der Verkehrsinfrastruktur für notwendig erachtet (vgl. Klenke 1993). Der unitarischen Staatsauffassung folgend (vgl. Hesse 1962) galt als Maßstab die in Art. 72 Abs. 2 GG ursprünglich formulierte „Gleichheit der Lebensverhältnisse“ in allen Teilen des Landes.6 In Verbindung mit dem rechtsphilosophischen Konzept der Daseinsvorsorge, demzufolge der Staat die Pflicht hat, bestimmte Gemeinschaftsaufgaben zu erfüllen, wie etwa ein angemessenes Mobilitätsangebot für jedes Gesellschaftsmitglied herzustellen, ergibt sich ein umfassender staatlicher Steuerungsanspruch (vgl. Gegner/Schöller 2005). Die Rechte des Bundes im Verkehrssektor bzw. des Bundesministeriums für Verkehr sind in Art. 85 GG als Teil der Bundesauftragsverwaltung geregelt (vgl. Hebeler 2002). „Diese sogenannte Bundesauftragsverwaltung ist durch ausgesprochen hierarchische Weisungs- und Kontrollbefugnisse des Bundes gegenüber den Ländern gekennzeichnet“ (Garlichs 1980: 25). Der Bundesverkehrsminister verfügt dementsprechend über weitreichende Befugnisse. Allerdings hat sich in Deutschland, anders als z.B. in der Schweiz, wo eine strikt hierarchische ‚Top-Down-Planung’ durchgeführt wurde, faktisch ein Planungsverfahren von unten durchgesetzt (vgl. Reh 1988: 29). So sammelt der Bund die von den Ländern angemeldeten Vorhaben und wählt sie nach bestimmten von ihm entwickelten Kriterien entsprechend ihrer Bauwürdigkeit und Regionalproporz aus. Über das 1971 verabschiedete Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) ist dann eine anteilige Finanzierungsbeteiligung von Bund, Ländern und Kommunen geregelt. Indem sich der Bund noch bis vor kurzem mit dieser Mischfinanzierung an den verschiedensten Verkehrsprojekten beteiligte, hat er versucht, Einfluss auf die Länderverkehrspolitik zu nehmen. Grundsätzlich verfolgt die Bundespolitik bei der Mittelvergabe jedoch eine Konfliktvermeidungsstrategie, indem sie sich bei der landesspezifischen Finanzierung an der Bevölkerungsgröße orientiert. Mit diesem ‚neutralen’ Kriterium sieht der Bund von einer inhaltlichen Begründung seiner Finanzierung ab und umgeht auf diese Weise eine ansonsten sachlich zu begründende Ungleichverteilung, die mit konflikthaften Aushandlungsprozessen verbunden wäre. Außerdem ist die Finanzierung durch den Bund an bestimmte fördeVerbandes Deutscher Verkehrsunternehmen; Prof. Dr. Rudolf Petersen, Wuppertalinstitut für Klima, Umwelt, Energie; Maria Krautzberger, Staatssekretärin für Verkehr bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung der Stadt Berlin; Wolfgang Drexler, stellvertretender Präsident des Landtags von Baden-Württemberg und Mitglied der Föderalismuskommission; Winfried Kretschmann, Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg für Bündnis 90/Die Grünen und Mitglied der Föderalismuskommission. 6 Seit 1994 zielt der Anspruch auf die „Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen“. Zum Unterschied zwischen Gleichheit und Gleichwertigkeit vgl. Barlösius/Neu 2007.

Länderverkehrspolitik

239

rungswürdige Tatbestände gebunden. Das heißt insbesondere, dass bis heute vor allem harte Infrastrukturmaßnahmen finanziert werden. Demgegenüber werden innovative Mobilitätsdienstleistungen nicht gefördert. Auf diese Weise wird nicht nur die quantitative Förderung auf ein Einheitsmaß nivelliert, auch qualitative Unterschiede werden damit weitgehend unterbunden. Schließlich hat sich diese intransparente Art der Politikverflechtung im Ergebnis immer wieder als ineffizient oder sogar kontraproduktiv erwiesen, weil die Länder sich zunehmend danach orientiert haben, wie sie Gelder vom Bund erhalten, unabhängig davon, ob sie die entsprechende verkehrliche Infrastruktureinrichtung benötigen (Scharpf/ Reissert/Schnabel 1976). Ein immer wieder dokumentiertes Beispiel sind finanziell besonders aufwendige Infrastrukturmaßnahmen, wie etwa der U-Bahnbau, die in vielen Fällen völlig überdimensioniert und den örtlichen Gegebenheiten nicht angemessen sind (vgl. Nuhn/Hesse 2006: 192). Da sie aber gleichsam unbesehen genehmigt wurden, konnten die Länder beim Bund auch für relativ kleine Städte die Finanzierung von U-Bahnen einfordern. Schon Scharpf, Reissert und Schnabel (1976: 151) haben darauf hingewiesen, dass eine stärkere Zurückhaltung des Bundes bei der Verkehrsfinanzierung womöglich dazu geführt hätte, dass sich Kommunen Gedanken über kostengünstigere Alternativen, wie etwa Straßenbahnen, gemacht hätten, anstatt diese systematisch zu demontieren. Abgesehen von den offensichtlichen Defiziten dieser koordinierten Verkehrspolitik im politischen Mehrebenensystem, die seit langem einhellig beklagt werden, ist bezogen auf die Verkehrspolitik bis heute weitgehend ungeklärt, wie groß die Steuerungsmöglichkeiten des Bundes sind und welche Handlungsspielräume den Ländern bleiben. Während Heinrich Mäding (1978) am Beispiel des Bundesfernstraßenbaus zu dem Ergebnis kam, der Bund verfüge über eine „hohe Steuerungskraft“ (ebd.: 152), konstatierte kurze Zeit später Dietrich Garlichs (1980) am selben Gegenstand die gegenteilige Auffassung. Diese beiden sich widersprechenden Thesen wurden zuletzt noch einmal von Werner Reh (1988) überprüft, der zu dem differenzierten Ergebnis gelangte, dass der Bund einerseits seine Richtlinienkompetenzen nicht ausschöpfe, andererseits jedoch über seine finanzielle Beteiligung („goldener Zügel“) auf Landes- und kommunaler Ebene in Bereiche vordringe, die von ihm kaum noch zu kontrollieren seien. Vielmehr könnten sich Länder und Kommunen auf vielfältige Weise den bundesstaatlichen Intentionen entziehen, ohne jedoch selbst wirklich aktiv werden zu dürfen. Die daraus resultierende Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit ergibt ein ambivalentes Bild der verkehrspolitischen Handlungskompetenz der Länder. Einerseits hat der Bund schon jetzt die formalrechtliche Handhabe, den Ländern und Kommunen im Planungsprozess einheitliche Vorgaben zu machen, um zu einer abgestimmten Gesamtplanung beizutragen, ohne diese Chance freilich zu nutzen (vgl. Reh/Heuser 2007). Andererseits hat er sein finanzpolitisches Engagement so weit ausgedehnt, dass er keine Möglichkeit mehr besitzt, inhaltlichen Einfluss geltend zu machen. Aufgrund der Vielzahl der mitfinanzierten Projekte und der daraus resultierenden Komplexität und Unübersichtlichkeit ist es dem Bund nicht mehr möglich, jedes Vorhaben einer individuellen Prüfung zu unterziehen, geschweige denn es angemessen zu würdigen. Die Ergebnisse der wenigen existierenden Untersuchungen des Politikfeldes Verkehr lassen vermuten, dass in der Vergangenheit weder der Bund eine kohärente Verkehrspolitik durchsetzte noch es den Ländern möglich war, sich durch ein eigenes verkehrspolitisches Engagement zu profilieren. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass sich die Verkehrsentwick-

240

Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort

lung in den Bundesländern durch ein relativ homogenes Panorama auszeichnet, das durch wirtschaftliche Notwendigkeiten geprägt und durch sozialräumliche Ausgleichsmaßnahmen modelliert wurde.

3

Landesverkehrspolitik im historischen Vergleich – Bayern, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen

Während sich die Politikwissenschaft dem Verkehrsthema bisher kaum gewidmet hat, wurde die Bundesverkehrspolitik der Vergangenheit von Historikern vergleichsweise gut aufgearbeitet (Wolf 1992, Klenke 1993, Südbeck 1994, Canzler 1996, Hascher 2006). Demnach wurde die bundesdeutsche Verkehrspolitik bis in die 1990er Jahre hinein von einer einseitig am Ausbau des motorisierten Individualverkehrs ausgerichteten Strategie bestimmt. Dies war einer der Gründe dafür, dass sich das Verhältnis von öffentlichem Verkehr und privatem Individualverkehr am gesamten Verkehrsaufkommen deutlich zugunsten des Letzteren verschob.7 In Bezug auf die Landesverkehrspolitik stellt sich die Frage, ob die Länder von dieser eindimensionalen Bundesverkehrspolitik abweichen konnten, wie das im Falle von anderen Politikfeldern nachgewiesen werden konnte (zur Wohnungsbaupolitik etwa vgl. Schöller 2005a: 65ff.). Leider stellt sich auch hier die Materiallage nicht gut dar. Immerhin liegen Arbeiten über die Geschichte der Verkehrspolitik der Bundesländer Bayern, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen vor und erlauben einen ersten vergleichenden Eindruck der Möglichkeiten und Grenzen landesspezifischer Ausprägungen in der Verkehrspolitik der Vergangenheit (vgl. Gall 2005, Plappert 1997, Bauhardt 1995). Dabei sind freilich die unterschiedlichen Strukturen der einzelnen Länder zu berücksichtigen, wobei für die Verkehrsentwicklung die Bevölkerungsdichte und der Urbanisierungsgrad als besonders relevante Kriterien gelten (vgl. Beckmann et al. 2006).8 Anhand dieser Merkmale können die Bundesländer Bayern, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen in drei Strukturtypen unterschieden werden. Gemessen am jeweiligen Bundesdurchschnitt des Urbanisierungsgrades (88 Prozent der Bevölkerung in Städten) und der Bevölkerungsdichte (230 Einwohner/ qkm) ist Bayern mit rund 34 Prozent Stadtbevölkerung und einer Bevölkerungsdichte von 177 E./qkm das von den drei genannten Bundesländern am stärksten ländlich geprägte. Demgegenüber steht Nordrhein-Westfalen mit einem Urbanisierungsgrad von rund 72 Prozent und einer Bevölkerungsdichte von 529 E./qkm als das am stärksten verstädterte Bundesland. Rheinland-Pfalz schließlich erreicht mit 30 Prozent Stadtbevölkerung einerseits einen vergleichbaren Urbanisierungsgrad wie Bayern, nimmt aber andererseits mit einer Bevölkerungsdichte von 204 E./qkm, die nahe dem Bundesdurchschnitt liegt, eine mittlere Position ein (vgl. Destatis 2005). Gemessen an diesen Strukturdaten wäre einerseits in Bay7 Während 1950 das Verhältnis von ÖV und MIV noch 64 zu 35% betrug, hat es sich seitdem nahezu umgekehrt und liegt heute bei 15 zu 84%. 8 Stark verdichtete Agglomerationsräume lassen sich besser mit dem öffentlichen Verkehr versorgen als ländliche Regionen, so dass in diesen Räumen der Anteil des öffentlichen Verkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen mit 30 bis 50% gemessen am Bundesdurchschnitt (15%) relativ hoch ist. Umgekehrt sieht es auf dem Land aus, wo die Menschen in besonderem Maße auf das Auto angewiesen sind. Für weitere relevante strukturtypische Merkmale, die sich auf die jeweils historisch-spezifische Entwicklung der Bundesländer zurückführen lassen, vgl. Wehling 2004.

Länderverkehrspolitik

241

ern mit einer stark am Auto orientierten Verkehrspolitik zu rechnen und andererseits im Falle von Nordrhein-Westfalen mit einer Politik zugunsten des öffentlichen Verkehrs. Rheinland Pfalz müsste dazwischen liegen. Tatsächlich jedoch betrieben alle drei Bundesländer jahrzehntelang eine Verkehrspolitik, die einseitig am motorisierten Individualverkehr (MIV) ausgerichtet war und sich in einem forcierten Straßenbau niederschlug.9 In Bayern ermöglichte der Bau „guter Straßen bis ins kleinste Dorf“ (Gall 2005), dass die Landbevölkerung heute in die industriellen Zentren pendeln kann, ohne den Wohnort wechseln zu müssen. Während sich Bayerns Bevölkerung einerseits in den drei großen Agglomerationsräumen München, Nürnberg und Augsburg konzentriert, hat andererseits die Landespolitik einer dezentralen Industriestruktur den Straßenbau weiter vorangetrieben. Eine dezentrale Industrie- und Siedlungsstruktur erklärt auch den massiven Straßenbau in Nordrhein-Westfalen. Die durch Klein- und Mittelstädte geprägte Landschaft bildet einen dispersen Flickenteppich, in dem einzelnen Agglomerationszentren wie Köln oder Düsseldorf im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ein relativ geringer Stellenwert zukommt. Daran wird deutlich, dass der Urbanisierungsgrad allein keine Aussage über die Siedlungsstruktur und damit über die konkreten Verkehrsbedingungen zulässt. Kompakte Siedlungsstrukturen, wie sie insbesondere die drei Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg aufweisen und die dort ein besonders umfangreiches Angebot des öffentlichen Verkehrs ermöglichen, finden sich auch in dem stark urbanisierten NRW relativ selten. Gemessen am Straßenbau wird das auch im Vergleich mit allen anderen Bundesländern überdurchschnittlich starke Engagement Bayerns zugunsten des MIV deutlich. Mit insgesamt 4.182.000 km steht das Land einsam an der Spitze, gefolgt von Nordrhein-Westfalen mit 2.966.000 km und Rheinland-Pfalz mit 1.849.000 km (vgl. DIW 2006: 109).10 Ein anderes Bild ergibt ein Blick auf die Straßendichte, also das Verhältnis der Straßenlänge zur Größe des Landes. Hier steht Rheinland-Pfalz, obwohl es eine ähnliche Siedlungsstruktur wie Bayern aufweist, an der Spitze aller Bundesländer, noch vor NRW, das an zweiter Stelle steht, während Bayern sich im bundesdeutschen Mittel bewegt (vgl. Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz 2005: 33). Am Beispiel von Rheinland-Pfalz zeigt sich, wie sehr etwa der Straßenbau auch von externen Einflüssen abhängig war und nicht auf die spezifischen Landesstrukturen zurückzuführen ist. Die besonders hohe Straßendichte von Rheinland-Pfalz erklärt sich aus seiner geographischen Lage im Bundesgebiet und der daraus resultierenden verkehrlichen Bedeutung der Nord-Süd-Achse sowie der Ost-WestVerbindung. Die spezifische Siedlungs- und Verkehrsentwicklung der drei Bundesländer wurde zudem überlagert von einem allgemeinen, in der gesamten Bundesrepublik gleichermaßen zu verzeichnenden Suburbanisierungsprozess. Dieser bewirkte, dass die Agglomerationszentren Bevölkerung an die Peripherie verloren und ihre Siedlungsstruktur ausfranste. Auch diese Entwicklung verstärkte die Abhängigkeit immer größerer Teile der Bevölkerung vom Auto, wobei sich die (hier nicht zu klärende) Frage stellt, inwieweit die arbeitsteilige 9 Die folgenden Ausführungen zu den drei Bundesländern stützen sich vor allem auf die Arbeiten von Gall 2005, Plappert 1997 und Bauhardt 1995. 10 Vgl. dazu im nächsten Kapitel die jeweiligen Verkehrsausgaben der Bundesländer im Verhältnis ÖV und MIV, die die eindeutige Dominanz des MIV bestätigen.

242

Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort

Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften notwendigerweise auf den flexiblen Autoverkehr angewiesen ist, oder ob vielmehr eine falsche Siedlungs- und Verkehrspolitik zu einem ‚überflüssigen’ Verkehrsaufkommen im MIV beigetragen hat. Auf der Grundlage des momentanen Wissenstandes kann zu den Handlungsspielräumen der Bundesländer festgehalten werden: Der historische Ländervergleich von Bayern, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zeigt eine einhellige verkehrspolitische Ausrichtung am MIV, die nur durch die Ölkrise Anfang der 1970er Jahre kurz irritiert, nach ihrer Überwindung aber nahezu bruchlos fortgesetzt wurde. Bis in die 1970er Jahre hinein wurde diese Straßenbaupolitik in den einzelnen Bundesländern von allen Parteien gleichermaßen favorisiert. Weder zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen den Bundesländern Bayern und Nordrhein-Westfalen, die jeweils jahrzehntelang von der CSU bzw. der SPD regiert wurden, noch verfolgten die jeweiligen Oppositionsparteien in den Bundesländern eine andere verkehrspolitische Programmatik als die Regierungsparteien. Erst mit dem Aufkommen der Umweltbewegung in den 1970er Jahren und der Thematisierung der negativen Effekte des Automobilverkehrs setzt sich die SPD zumindest programmatisch stärker für den öffentlichen Verkehr ein. Gleichwohl wurde die am MIV orientierte Verkehrspolitik fortgesetzt. Zwar wurde der Straßenneubau in den 1980er Jahren deutlich zurückgenommen, aber man konzentrierte sich dennoch auf die Optimierung der bestehenden Straßenverkehrsinfrastruktur. Erst in den 1990er Jahren setzt sich in allen drei Bundesländern ein Strategiewechsel durch. Seitdem verfolgen die Landesregierungen einhellig eine integrierte Verkehrspolitik. Hinter der einheitlichen Bezeichnung verbergen sich allerdings zum Teil erheblich divergierende Auffassungen darüber, was eine integrierte Verkehrspolitik auszeichnet. Das reicht von dem schlichten Verständnis der Verknüpfung der einzelnen Verkehrsträger untereinander, um den Übergang vom einen zum anderen zu vereinfachen, bis zu dem ambitionierten Anspruch ressortübergreifender Kooperationen mit dem Ziel, durch abgestimmte Politikkonzepte die Entstehung von Verkehr nach Möglichkeit schon dort zu vermeiden, wo er potentiell auftritt. Wie schwer es ist, ein anspruchsvolles Konzept einer integrierten Verkehrspolitik durchzusetzen, zeigt das Beispiel Nordrhein-Westfalen, das als erstes Bundesland seit Anfang der 1990er Jahre ein weitreichendes Konzept einer integrierten Verkehrspolitik verfolgt hat (vgl. Enquête-Kommission 2000). Seit den 1990er Jahren deutet sich mithin an, dass sich die vormals eindimensionale Perspektive auf das gesellschaftliche Phänomen Verkehr erweitert hat und dass dies womöglich dazu führt, dass einzelne Bundesländer stärker als in der Vergangenheit willens und in der Lage sind, eigene Akzente zu setzen. Ob das so ist und in welchem Maße die Bundesländer heute tatsächlich schon über verkehrspolitische Handlungsspielräume verfügen bzw. inwiefern sich diese im Gefolge der Föderalismusreform vielleicht sogar noch erweitern, das bedarf einer zukünftigen politikwissenschaftlichen Erforschung. Um die hier vorgetragenen Thesen jedoch schon im Rahmen dieses Beitrags einer ersten Überprüfung zu unterziehen, werden im folgenden Abschnitt die auf Länderebene verfügbaren quantitativen Datenbestände zu Verkehrsentwicklung und Verkehrspolitik untersucht.

Länderverkehrspolitik

4

243

Die Bundesländer im Vergleich: Quantitative Indikatoren für verkehrspolitische Gestaltung

Im Zentrum dieses Beitrags steht die Frage, ob die Länder im Bereich der Verkehrspolitik über nennenswerte Handlungsspielräume verfügen und wenn ja, in welchem Ausmaß sie diese in Anspruch nehmen, um verkehrspolitisch zu gestalten. Die Ausgangsthese lautet, dass Verkehrspolitik in der Bundesrepublik sich besonders durch eine einförmige Programmatik und das Fehlen genuin politischer Gestaltungsimpulse ausgezeichnet hat. Darauf fußt die Vermutung, dass weder auf parteipolitischer Ebene noch innerhalb der Gruppe der Bundesländer bedeutende Unterschiede in der verkehrspolitischen Ausrichtung zu finden sein werden. Um die These zu operationalisieren, liegt es nahe, die Verkehrspolitik an ihren eigenen Ansprüchen zu messen. Einer der wichtigsten Gestaltungsansprüche der Verkehrspolitik aller politischen Ebenen besteht seit Jahrzehnten in der Förderung eines „integrierten Verkehrssystems“, in dem die unterschiedlichen Verkehrsträger gemäß ihrer jeweiligen Stärken eingesetzt und kombiniert werden sollen.11 Die einseitige Dominanz des Straßenverkehrs im Güter- wie im Personenverkehr soll durch die Bemühungen um ein integriertes Gesamtsystem aufgebrochen werden. Vor dem Hintergrund dieses politischen Anspruchs lässt sich als Ausgangspunkt für eine quantitative Betrachtung die Frage formulieren, ob in den verschiedenen Bundesländern die einzelnen Verkehrsträger gleichermaßen gefördert wurden oder nicht. Auf der Suche nach quantitativen Indikatoren für Gestaltungsbemühungen der Länder im Verkehrsbereich wird zunächst deutlich, dass nur begrenzte Datenbestände überhaupt auf Länderebene verfügbar sind. Auf der einen Seite können dabei die Strukturen des Verkehrsgeschehens selbst in den unterschiedlichen Ländern als Indikatoren für länderspezifische Politikpfade in Betracht gezogen werden. So lassen sich beispielsweise die Anteile der unterschiedlichen Verkehrsträger am Gesamtverkehrsaufkommen als Indikatoren eines verkehrspolitischen policy impact interpretieren. Einer der zentralen Indikatoren für das Verkehrsmittelwahlverhalten fehlt allerdings auf der Länderebene: die Fahrleistung im MIV. Diese wird als bundesweite Kenngröße berechnet ohne dass es möglich wäre, diese Zahl auf die Ebene der Bundesländer herunter zu brechen. Als indirekten Maßstab für die relative Bedeutung des motorisierten Individualverkehrs ließe sich die PKW-Dichte heranziehen, die auf Länderebene verfügbar ist. In Bezug auf diesen Indikator zeichnet sich vor allem eine deutliche Differenz zwischen den Stadtund den Flächenstaaten ab. Davon abgesehen liegen die Werte aber in allen Flächenländern auf einem ähnlichen Niveau. Spitzenreiter ist das Saarland mit 602 PKW pro 1000 Einwohner, gefolgt von Rheinland-Pfalz, Bayern, Hessen und Baden-Württemberg, wobei Letzteres mit 574 PKW pro 1000 Einwohner nicht weit hinter den Spitzenreiter zurückfällt. Die mit Abstand niedrigste PKW-Dichte weist das Land Berlin auf: mit 360 PKW pro 1000 Einwohner ist sie annähernd halb so hoch wie im Saarland. Die anderen beiden Stadtstaaten fallen 11 So verspricht sich beispielsweise die Bundesregierung von ihrem Ansatz einer „Integrierten Verkehrspolitik“ eine „effizientere Kapazitätsauslastung der gesamten Verkehrsinfrastruktur und ein[en] damit verbundene[n] optimierte[n] Verkehrsfluss durch Integrationseffekte.“ vgl. BMVBS 2007.

244

Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort

ebenfalls noch deutlich hinter die Werte der letzten Flächenstaaten, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, zurück. Dieser Indikator liefert somit keinen Hinweis auf deutliche Profilbildungen der einzelnen Länder in der Verkehrspolitik. Selbst die plausible Annahme, in den dichter besiedelten Bundesländern müsste die PKW-Dichte niedriger sein, lässt sich anhand einer einfachen Regressionsanalyse der beiden Variablen nur noch mit Einschränkungen bestätigen: Inklusive der Stadtstaaten ergibt sich zwar ein sehr starker negativer Zusammenhang zwischen den beiden Variablen (R² = 0,78); nimmt man die Stadtstaaten aus, ist aber kein signifikanter Zusammenhang mehr messbar (R² = 0,10). Die Verteilung der Bundesländer auf dieser Skala legt allerdings die These nahe, dass zumindest die Varianz innerhalb der Gruppe der Flächenstaaten stärker auf das innerdeutsche Wohlstandsgefälle denn auf verkehrspolitische Gestaltungsanstrengungen zurückzuführen sein könnte. In der Tat lässt sich ein relativ starker Zusammenhang zwischen dem Bruttoinlandsprodukt bezogen auf das jeweilige Land und der PKW-Dichte messen (R² = 0,50), sofern man die Stadtstaaten ausklammert. Abbildung 1:

Wege nach Hauptverkehrsmitteln und Bundesländern12 Berlin

25%

Bremen

24%

17%

34%

26%

12%

41%

Mecklenburg-Vorpommern Brandenburg Sachsen-Anhalt

11%

26%

Thüringen Sachsen

Baden-Württemberg

23%

Hessen

22%

Rheinland-Pfalz

20%

Saarland

10%

8%

17%

6%

16%

7%

18%

7%

16%

5% 8%

17%

47%

5%

47%

18%

6%

48%

17%

7%

18%

7%

50%

3% 20%

15%

6%

8%

22% 0%

5%

46%

10%

23%

Bayern

5%

14%

46%

9%

21%

Schleswig-Holstein

15%

45%

7%

25%

Nordrhein-Westfalen

6%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

zu Fuß

8%

43%

44%

13%

21%

15%

44%

7%

26%

Niedersachsen

16%

42%

7%

30%

13%

12%

42%

17%

19%

19%

13%

34%

9%

22%

13%

30%

7%

28%

Hamburg

Fahrrad

MIV-Fahrer

MIV-Mitfahrer

Öffentlicher Personenverkehr

100%

Quelle: BMVBW 2003b

Eine wertvolle Quelle zum Vergleich des Verkehrsgeschehens in den Bundesländern bietet darüber hinaus die auf Befragungsdaten basierende Studie „Mobilität in Deutschland 2002“ (vgl. BMVBW 2003b). Abbildung 1 zeigt das Verkehrsmittelwahlverhalten auf allen Wegen13

12 Die Anteile der Verkehrsträger addieren sich aufgrund von auf- und abgerundeten Werten nicht immer auf exakt 100%. 13 Die vielleicht überraschend hohen Anteile von Fuß- und Radverkehr müssen vor dem Hintergrund der hier zugrunde gelegten Gesamtmenge verstanden werden: Die Verteilung der Verkehrsträger ändert sich stark, wenn statt der Anteile an den Wegen deren Anteile an den zurückgelegten Kilometern betrachtet wird. Naturgemäß fallen dann die nicht-motorisierten Fortbewegungsmittel gegenüber den motorisierten weniger stark ins Gewicht.

Länderverkehrspolitik

245

an einem Stichtag. Ebenso auffällig wie erwartbar ist hierbei wiederum die bedeutende Differenz zwischen Stadtstaaten und Flächenländern bei der Häufigkeit der Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel im Vergleich zum motorisierten Individualverkehr (MIV-Fahrer und -Mitfahrer). Innerhalb der Gruppe der Flächenländer schwankt diese Größe jedoch nur um wenige Prozentpunkte. Betrachtet man die Struktur der Verkehrmittelnutzung im Personenverkehr als Indikator für den verkehrspolitischen policy impact auf Länderebene, lassen sich aufgrund dieser Daten somit kaum Anzeichen erheblich unterschiedlicher Gestaltungsbemühungen der einzelnen Bundesländer ausmachen. Allerdings finden sich gerade im verkehrssoziologischen Diskurs gewichtige Argumente, welche politischen Maßnahmen zur Beeinflussung des Verkehrsmittelwahlverhaltens generell nur geringe Aussichten auf Erfolg zugestehen. Autoren wie Stephan Rammler (1999) postulieren eine „Wahlverwandtschaft“ zwischen Mobilität und Moderne, und Heine et. al. sowie die AutorInnen der Projektgruppe Mobilität gehen davon aus, dass das Automobil als Inbegriff einer maximalen selbstbestimmten Beweglichkeit zum Maßstab geworden sei, im Vergleich zu dem die Nutzung aller anderen Verkehrsmittel als zweite Wahl erscheinen müsse (vgl. Heine/Mautz/Rosenbaum 2001, Projektgruppe Mobilität 2004 sowie Schöller 2005b). Mehr Menschen zu einer verstärkten Nutzung der „Öffentlichen“ zu bewegen, erscheint vor dem Hintergrund dieser Argumentation als politische Wunschvorstellung ohne große Erfolgsaussichten. Auch ein noch so ausdrückliches politisches Engagement für den öffentlichen Verkehr würde sich demnach nicht unbedingt in einer spektakulären Verschiebung der Verkehrsmittelnutzung zuungunsten des Automobils niederschlagen. Vor dem Hintergrund dieser Argumente scheint es ratsam, die verkehrspolitischen Gestaltungsversuche der Bundesländer nicht allein anhand ihres tatsächlichen impacts zu messen. Als unmittelbarer Ausdruck verkehrspolitischer Gestaltungsentscheidungen auf Länderebene soll deshalb zusätzlich ein Blick auf die Strukturen der finanziellen Förderung der verschiedenen Verkehrsträger durch die einzelnen Bundesländer erfolgen. Der Übersicht halber werden hier nur die beiden Posten Straßenverkehr und öffentlicher Verkehr (ÖV) betrachtet, der Bereich Wasserstraßen jedoch ausgespart, zumal dieser nur für den Güterverkehr größere Relevanz besitzt14. Ein erster Blick auf die Ausgabenstruktur in den Jahren 2000-2004 bestätigt zunächst unsere Ausgangsthese: In Abbildung 2 ist der durchschnittliche Anteil der ÖV- bzw. der Straßenverkehrsausgaben am Gesamthaushalt jedes Landes für diesen Zeitraum dargestellt. Beim Vergleich der Bundesländer bezüglich der Anteile der beiden Posten für Straßenbzw. öffentlichen Verkehr an den Gesamtausgaben fällt die relative Gleichförmigkeit ins Auge. Der Anteil der Ausgaben für den Straßenverkehr übersteigt in den meisten Fällen den für den öffentlichen Verkehr aufgewendeten Anteil. Die einzige Ausnahme bilden die beiden Stadtstaaten Hamburg und Berlin. Nur sie zeigen den für die urbanen Siedlungsbedingungen erwartbaren Überschuss zugunsten des ÖV. Jenseits dieser generellen Diagnose geraten jedoch auch Unterschiede innerhalb der Gruppe der Flächenländer in den Blick: 14 Die Ausgaben für Wasserstraßen fallen in der Regel zudem vergleichsweise wenig ins Gewicht. Die Ausnahmen bilden Hamburg, wo diese sich zwischen 2000 und 2004 jeweils auf etwa 50% der Verkehrsausgaben belaufen, sowie Bremen. Dort schwankt der Anteil der Ausgaben für Wasserstraßen an den Verkehrsausgaben in diesem Zeitraum um die 15%.

246

Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort

Einige Länder, vor allem Bayern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen, zeigen dabei einen besonders großen Überschuss auf Seiten der Straßenverkehrsausgaben. Abbildung 2:

Durchschnittliche Anteile der Ausgaben für Straßen bzw. für öffentlichen Verkehr 2000-2004 an den Gesamtausgaben jedes Landes in Prozent

Anteile am Gesamthaushalt (Prozent)

5 4,5 4 3,5

Straßenverkehr

3 2,5 2 1,5

ÖV

1 0,5 0 BW

BY

BB

HE

MV

NI

NW

RP

SL

SN

ST

SH

TH

BE

HB

HH

Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnung

Eine weitere Differenzierung ergibt sich bei der Betrachtung der zeitlichen Entwicklung, die den Durchschnittswerten für die Jahre 2000 bis 2004 zu Grunde liegt. In Abbildung 2 ist als Kenngröße die Differenz zwischen den Anteilen für öffentlichen Verkehr und Straßenverkehr am Gesamthaushalt des jeweiligen Landes dargestellt. Je mehr die einzelnen Datenpunkte sich der X-Achse annähern, desto geringer ist die Differenz zwischen dem Ausgabenanteil für den öffentlichen Verkehr und den Straßenverkehr in dem entsprechenden Bundesland. Negative Werte stehen für einen ÖV-Anteil, der den Straßenverkehrsanteil übersteigt. Berlin illustriert dieses Verhältnis als das einzige Bundesland, das nach 2000 konstant einen höheren ÖV-Anteil aufweist. Sucht man nach Anhaltspunkten für eine unterschiedliche verkehrspolitische Profilbildung, ließe sich etwa auf die Differenz zwischen den beiden großen Flächenländern Bayern und Baden-Württemberg hinweisen. Während zwar auch Bayern einen deutlichen Trend zu einer Angleichung zwischen den Posten ÖV und Straße zeigt, ist der Anteil der Straßenverkehrsausgaben hier doch im Jahre 2004 noch ca. doppelt so hoch wie der Anteil der Ausgaben für den ÖV. Baden-Württemberg gehört dagegen zu den wenigen Flächenländern, die in Abbildung 3 für das Jahr 2004 einen negativen Wert aufweisen, also höhere Ausgaben für den ÖV als für die Straße tätigten.

247

Länderverkehrspolitik Abbildung 3:

Entwicklung der Differenz zwischen den Ausgaben für Öffentlichen Verkehr und Straßenverkehr (Anteile am Gesamthaushalt) 2000-2004

Differenz der Anteile ÖV/Straße (Prozentpunkte)

3

1,5

0 2000

2001

2002

2003

2004

BY SH RP BB SN NI MV BW TH ST NW HB SL HE HH BE

-1,5 Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnung.

Wie könnten die in der Abbildung sichtbaren Unterschiede zu erklären sein? Als eine Determinante kämen raumstrukturelle Faktoren in Betracht. In ländlich geprägten Ländern spielt der motorisierte Individualverkehr „naturgemäß“ eine größere Rolle (vgl. BMVBW 2003b), während in Ländern mit hoher Bevölkerungsverdichtung dem öffentlichen Verkehr eine bedeutendere Funktion bei der Bewältigung der Verkehrsbedürfnisse zukommt. Der Verweis auf die drei Spitzenreiter unter den weiteren Ländern mit besonders hohen Straßenverkehrsanteilen nach Bayern, die drei im Schnitt relativ dünn besiedelten Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, unterstützt diese Vermutung. Tatsächlich ergibt sich bei einer Regressionsanalyse der durchschnittlichen Differenz der Anteile auf die Bevölkerungsdichte zunächst ein starker negativer Zusammenhang (R² = 0,55). Klammert man jedoch die Stadtstaaten aus, so lässt sich kein eindeutiger Zusammenhang mehr messen (R² = 0,11). Möglicherweise müsste hier ein differenzierter Indikator für die Raumstruktur an die Stelle der schieren Bevölkerungsdichte treten, um die Unterschiede zu erklären. Verwendet man die Werte zum Urbanisierungsgrad gemäß der Gebietstypisierung von Eurostat, so ergibt sich mit Stadtstaaten ein R² von 0,41 für den (negativen) Zusammenhang zwischen dem Anteil der in verstädterten Gebieten ansässigen Bevölkerung und der Differenz der Anteile zugunsten des öffentlichen Verkehrs. Nimmt man die Stadtstaaten aus, wird der Zusammenhang aber wiederum insignifikant (bei einem R2 von 0,13). Als weitere Erklärungsfaktoren kommen die parteipolitische Prägung der Bundesländer sowie die Regierungsbeteiligung der einzelnen Parteien im jüngsten hier berücksichtigten Jahr (2004) in Betracht. Hier zeigt sich ein negativer Zusammenhang mit einem Be-

248

Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort

stimmtheitsmaß von R² = 0,19 für die Regression des obigen Indikators auf einen Indikator für die SPD-Prägung (und auch ein R² für den Indikator CDU-Prägung von 0,18). Dieser erscheint aber nicht hoch genug, um eine lineare Abhängigkeit zu unterstellen15. Auch der Anteil der jeweiligen Parteien an den Kabinettssitzen im Jahre 2004 zeigt keinen signifikanten Zusammenhang mit der Differenz der Verkehrsausgaben. Das Ergebnis dieser einfachen statistischen Untersuchung entspricht damit unserer These, dass zumindest die großen Volksparteien in der Bundesrepublik kein ausgeprägtes eigenes Profil im Feld der Verkehrspolitik entwickelt haben. Aber auch die Regierungsbeteiligung der Grünen weist überhaupt keinen messbaren Zusammenhang mit der Differenz der Ausgabenanteile für Straße bzw. öffentlichen Verkehr auf (R2 = 0,00). Keinerlei Zusammenhang lässt sich des Weiteren zwischen der Differenz der Ausgaben-Anteile für Straße und ÖV und der Wirtschaftskraft der Bundesländer, ausgedrückt im BIP pro Kopf, messen. Abbildung 4:

Entwicklung der Differenz zwischen den Ausgaben für Öffentlichen Verkehr und Straßenverkehr (Anteile am Gesamthaushalt) 1980 -2004 (Neue Länder ab 1995; bis 1995 Berlin nur West; bis 1990 nur Schienenverkehr)16

8

RP

7

BY

Differenz der Anteile ÖV/Straße (Prozentpunkte)

SH

6

BW NI

5

SL

4

HE NW

3

HB

2

HH BE

1

TH SN

0 1980

1985

-1 -2

1990

1995

2000

2004

BB MV ST

Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnung

15 Die Daten für die verwendeten Indikatoren der parteipolitischen Prägung (definiert als durchschnittlicher Kabinettssitzanteil seit Landesgründung), der Kabinettzusammensetzung 2004 sowie des BIP pro Kopf wurden uns von Frieder Wolf aus der am Lehrstuhl von Manfred G. Schmidt an der Universität Heidelberg geführten Datenbank zur Verfügung gestellt. 16 Erhoben wurden die Ausgaben-Werte für die Jahre 1980 bis 2000 in Fünf-Jahres-Schritten. 2004 wurde als das aktuellste verfügbare Jahr hinzugefügt. Dass die Datenpunkte für jedes Bundesland jeweils mit einer Linie verbunden sind, dient lediglich der übersichtlichen Darstellung. Daten von vor 1980 wurden nicht berücksichtigt, da die Darstellung in älteren Ausgaben der hier verwendeten Fachserie 14 „Rechnungsergebnisse des öffentlichen Gesamthaushalts“ laut Statistischem Bundesamt nicht mit späteren Ausgaben vergleichbar ist.

Länderverkehrspolitik

249

Versuche, die Ausgabendifferenzen zu erklären, bedürften sicherlich noch weiterer empirischer Unterfütterung. Für den vorliegenden Beitrag genügt zunächst aber der Hinweis darauf, dass sich zumindest innerhalb der Gruppe der Flächenländer ein relativ einheitliches Muster höherer Straßenverkehrsausgaben erkennen lässt. Betrachtet man die längerfristige Entwicklung der Verkehrsausgaben der Länder, wird dieser Eindruck weitgehend bestätigt. Abbildung 4 zeigt die Entwicklung des oben eingeführten Indikators Differenz der Ausgaben-Anteile für Straße und ÖV für die Jahre 1980 bis 2004. Zwar bewegen sich die Werte für die einzelnen Länder jeweils auf unterschiedlichem Niveau; die Entwicklung verläuft jedoch gemäß einem relativ einheitlichen Trend, der die in Abschnitt 3 skizzierte historische Entwicklungslinie nachzeichnet: Ausgehend von einer durchweg eindeutigen Dominanz des Straßenverkehrs mit den Spitzenreitern Bayern und Rheinland-Pfalz und der Ausnahme Berlin zeichnet sich eine länderübergreifende Tendenz zu steigenden Ausgaben für den ÖV und damit zu einer Angleichung zwischen den beiden Posten ab. Eine entscheidende Rolle bei der Verfestigung dieses Trends spielt hierbei zweifellos die 1996 erfolgte Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs, die mit erheblichen, von Seiten des Bundes durch die Regionalisierungsmittel finanzierten Angebotsausweitungen in diesem Segment des öffentlichen Verkehrs einherging (vgl. Karl 2007). Zwar scheint es durchaus lohnend der Erklärung der unterschiedlichen Ausgabenstrukturen weiter empirisch nachzugehen; allerdings müssen die Schlussfolgerungen von der Haushaltszusammensetzung auf die verkehrspolitischen Gestaltungsentscheidungen der Länder immer unter beträchtlichen Vorbehalten gezogen werden. So dürfen höhere Ausgaben für den Straßenverkehr nur unter Einschränkungen als Indikator für eine ÖVfeindliche Landespolitik interpretiert werden. Gegen eine solche Interpretation spricht, dass die Handlungsspielräume der Länder sich nicht nur im Bereich der Finanzverantwortung bewegen. Die von uns gesammelten qualitativen Expertenaussagen verweisen gerade im Bereich der Förderung des öffentlichen Verkehrs oder des Fahrradverkehrs immer wieder auf Handlungsfelder, die nicht in erster Linie finanzielles Engagement erfordern. So wurden beispielsweise von mehreren Gesprächspartnern die Bemühungen einzelner Länder um einen landesweiten integrierten Taktfahrplan als äußerst wirksame nicht-monetäre Form des Engagements für einen attraktiven öffentlichen Verkehr angesprochen. Andere Gesprächspartner nennen als Positivbeispiele für gestaltende Landesverkehrspolitik Bemühungen um eine transparentere marktkonforme Mittelverwendung im Bereich des öffentlichen Verkehrs: Hier haben einige Länder, unter ihnen Schleswig-Holstein, die Möglichkeiten neuer Governance-Instrumente wie der Ausschreibung von Verkehrsleistungen im Schienenverkehr, Hessen aber auch schon im straßengebundenen öffentlichen Nahverkehr, besonders konsequent angewendet, und damit in gewissem Umfang einen Mehrwert in Form von besseren Angeboten ohne Einsatz größerer finanzieller Mittel erzielt (zu dem Beispiel Hessen vgl. Wachinger 2006).17

17 Ein Beispiel dafür, wie sich die Länder über den bestehenden Rahmen hinaus pro-aktiv Handlungsspielräume erschließen können, ist die innerstädtische Geschwindigkeitsbegrenzung durch die Berliner Landesregierung. Während der Bundesgesetzgeber in der Straßenverkehrsordnung für Hauptstraßen eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h festgelegt hat, muss jede Abweichung davon gut begründet werden, um bei etwaigen Klagen gegen die Einführung von Tempo 30 (etwa von Taxifahrern) auch juristisch vor dem Gesetzgeber bestehen zu können. Das Land Berlin bereitet gerade eine entsprechende Eingabe vor, in der die partielle Einführung von Tempo 30 auf innerstädtischen

250

Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort

Zugleich ist zu beachten, dass sich hinter den hier vorliegenden Daten die Komplexität der föderalen Finanzbeziehungen verbirgt. Nicht in Bezug auf alle Gelder, die auf der Landesebene für den Verkehr ausgegeben werden, verfügen die Länder auch über die volle Ausgabenautonomie. Wie weiter oben bereits dargestellt, speisen sich die Verkehrsausgaben auf Länderebene aus verschiedenen Quellen, unter anderem aus zweckgebundenen Fördertöpfen des Bundes. So spielt der Bund eine entscheidende Rolle bei der Finanzierung des Verkehrs- und Infrastrukturangebots. Unter anderem werden auf der Länderebene die Gelder verteilt, die der Bund für die Realisierung von Projekten im Bundesverkehrswegeplan zur Verfügung stellt. Die Länder melden die Bedarfe für Ausbaumaßnahmen im Bereich der Verkehrsinfrastruktur an, wobei der Straßenbau und -ausbau zumeist einen erheblich höheren Anteil der Gelder vereinnahmt (vgl. Reh/Heuser 2007). Allerdings sind es bei den einzelnen Projekten häufig die Kommunen, die die konkreten Projekte vorschlagen und damit die Verteilung der Ausgaben auf die einzelnen Verkehrsträger vorstrukturieren. In dem Posten der Ausgaben für den öffentlichen Verkehr sind u.a. die Mittel nach dem Regionalisierungsgesetz enthalten. Da diese zweckgebunden für den öffentlichen Nahverkehr bestimmt sind, ist ihre Höhe nur indirekt Ausdruck länderspezifischer Entscheidungsprozesse. Allerdings bemisst sich der jedem Land zustehende Anteil an diesem aus Mitteln der Mineralölsteuer gespeisten Topf unter anderem an dem Umfang des bisher bereitgestellten öffentlichen Verkehrsangebots. Hohe Zuweisungen aus dem Regionalisierungsgesetz zeugen demnach zumindest mittelbar von einer ÖV-freundlichen Landespolitik. Daneben bemessen sich die Bundeszuschüsse im Bereich des öffentlichen Verkehrs allerdings auch nach Faktoren wie der Einwohnerzahl, die kaum durch politische Einflussnahme steuerbar sind (vgl. DIfU 2005). Die Länder fungieren zudem im Bereich der Verkehrsfinanzierung unter anderem als Verteilerebene zwischen Bund und Gemeinden. Dies bezieht sich z.B. auf die Mittel nach dem Entflechtungsgesetz, die durch das Land an die Kommunen weitergereicht werden. Im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs unterscheiden sich dabei die gesetzlich festgelegten Mechanismen zur Verteilung der Gelder an die Kommunen mitunter erheblich von Land zu Land. Welcher konkrete Einfluss auf die Mittelverwendung dabei der Länderebene zukommt, kann demnach sehr unterschiedlich sein (vgl. Berschin et. al. 2005). Resümierend lässt sich aufgrund dieser ersten, noch oberflächlichen Betrachtung der vorhandenen quantitativen Indikatoren festhalten, dass die hier aufgeführten Datenbestände verhältnismäßig wenige Anzeichen für eine ausgeprägte verkehrspolitische Profilbildung der einzelnen Bundesländer bieten. Am deutlichsten bestätigt sich diese These in der Betrachtung des Längsschnitts seit den achtziger Jahren, in der die Dominanz der Straßenverkehrsausgaben ähnlich durchgängig zu beobachten ist wie der einheitliche Trend zu einem höheren Anteil der ÖV-Ausgaben spätestens seit den 1990er Jahren. Für die jüngere Vergangenheit konnte jedoch auch gezeigt werden, dass die Ausgabenprofile durchaus Differenzierungen aufweisen: Während etwa Bayern bei relativ hohen Straßenverkehrsanteilen bleibt, sinken diese in Baden-Württemberg im Jahr 2004 unter die ÖV-Quote. Mithilfe der hier verwendeten einfachen statistischen Untersuchung konnten bisher allerdings kaum

Hauptverkehrsstraßen mit Effekten der Lärmminderung, der Reduktion von Luftemissionen und der gesteigerten Verkehrssicherheit begründet wird.

Länderverkehrspolitik

251

eindeutige Hinweise auf Faktoren gefunden werden, die diese z.T. unterschiedlichen Ausrichtungen erklären. Zusammen mit den nicht-monetären Gestaltungsmöglichkeiten geben die beobachteten Unterschiede Hinweise darauf, dass durchaus Handlungsspielräume für die Länder bestehen. Dass diese Handlungsspielräume jedoch auch konsequent zur verkehrspolitischen Profilbildung genutzt werden, ist mit Blick auf die relativ gleichförmige Dominanz der Straßenverkehrsförderung zumindest innerhalb der Gruppe der Flächenländer eher zu bezweifeln.

5

Aktuelle Entwicklungstendenzen und mögliche Konsequenzen der Föderalismusreform

Während die theoretischen Befunde der Politikverflechtungsstudien die geringe verkehrspolitische Handlungskompetenz der Bundesländer überzeugend begründen können und durch die empirischen Untersuchungen weitgehend bestätigt wurden, zeichnen sich seit den 1990er Jahren neue Entwicklungstendenzen ab, die möglicherweise zu grundlegenden Veränderungen im Politikfeld Verkehr beitragen werden. Manches spricht dafür, dass es zu einer Aufwertung der Verkehrspolitik kommt. Dabei spielen internationale Megatrends wie der Klimawandel, das zunehmend absehbare Ende fossiler Brennstoffe sowie die globalen Auswirkungen des Verkehrswachstums von Transformationsländern wie China und Indien ebenso eine Rolle wie auf nationaler und regionaler Ebene der demographische Wandel, die knappen öffentlichen Mittel und die mit einer fortschreitenden europäischen Integration verbundenen verkehrlichen Erfordernisse. Diese Herausforderungen provozieren immer mehr politischen Handlungsbedarf. Zugleich treten aber auch die bisherigen Grenzen verkehrspolitischer Handlungsfähigkeit immer deutlicher hervor. So wird im jüngst erschienenen Zwischenbericht der Europäischen Union zum Weißbuch Verkehr eine gemessen an den ursprünglichen Zielen einer nachhaltigen europäischen Verkehrsentwicklung gegenläufige Entwicklung attestiert und für die Zukunft prognostiziert, sollten sich die politischen Rahmenbedingungen nicht grundlegend ändern (vgl. KOM 2006). In Deutschland hat man seit Mitte der 1990er Jahre als Reaktion auf die Diskrepanz von verkehrspolitischem Anspruch und tatsächlicher Verkehrsentwicklung begonnen, die politischen Zuständigkeiten im Verkehrssektor zu reformieren. Mit der Bahnprivatisierung (1994) und der Regionalisierungsreform (1996) wurden erste Schritte unternommen, die überkommenen Organisations- und Finanzierungsstrukturen aufzubrechen, um für mehr Transparenz bezüglich der eingesetzten Mittel und erbrachten Leistungen im Schienenverkehr zu sorgen und zugleich innovative und kundenorientierte Angebotsentwicklungen anzustoßen (vgl. JdB 2004/05, 2006/07). Während die Bahnprivatisierung vor allem das Verhältnis der Bahn zum Bund berührte, zielte die Regionalisierungsreform auf eine Kompetenzverschiebung vom Bund auf die Länder. Diese haben heute im Schienenpersonennahverkehr deutlich mehr Freiheiten, ein ihrer spezifischen Nachfrage angemessenes Mobilitätsangebot zu entwickeln. Die Bilanz nach zehn Jahren fällt gemessen an wesentlichen Kennziffern durchweg positiv aus (vgl. Trost 2006). So konnte das Verkehrsaufkommen im Schienenpersonennahverkehr insgesamt deutlich gesteigert werden. Allerdings erhalten die Bundesländer

252

Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort

seit der Reform auch wesentlich mehr Bundesmittel, so dass nicht klar ist, in welchem Maße die positiven Effekte der politischen Strukturreform geschuldet sind, oder ob sie schlicht das Ergebnis massiv gesteigerter Finanzierungsmittel sind. Zudem waren viele Reformmaßnahmen schon vor der Regionalisierungsreform initiiert worden. Ein weiterer konkreter Schritt in Richtung mehr Transparenz, eindeutiger Kompetenzverteilung und klarer politischer Zurechnung ist das Ergebnis der Föderalismusreform I. Dort wurde die Aufhebung der seit Anfang der 1970er Jahre kritisierten Mischfinanzierung von Bund, Ländern und Gemeinden beschlossen. Mit der Streichung der §§ 2+3 des GVFG sind zahlreiche Förderbestimmungen weggefallen, die zuvor die Handlungsspielräume der Länder eingeschränkt hatten. Seit dem 1. Januar 2007 erhalten die Länder vom Bund einen Pauschalbetrag, über den sie im Rahmen der „aufgabenbereichsbezogenen Zweckbindung“ frei verfügen können. Darüber hinaus wurde vereinbart, dass im Jahr 2014 auch die aufgabenbereichsbezogene Zweckbindung wegfällt. Allerdings soll auch dann noch die investive Zweckbindung fortbestehen, wodurch die Länder weiterhin gezwungen würden, die Gelder zu investieren anstatt sie anderweitig einzusetzen, wenn ihnen dies sinnvoll erscheint. Damit würde ein seit langem beklagter Konstruktionsfehler im Finanzierungssystem über 2014 hinaus Fehlanreize zu teuren Großprojekten (U-Bahnen, Betriebshöfe etc.) produzieren, um die Finanztitel zu erhalten und ausgeben zu können. Die Ergebnisse der ersten Föderalismusreform werden von denjenigen besonders kritisch eingeschätzt, die schon an den Reforminitiativen zu Beginn der 1970er Jahre beteiligt waren (vgl. Scharpf 2006). Das mag auch daran liegen, dass der Beurteilung bis heute oftmals ein Planungsanspruch zugrunde liegt, der einer starken zentralstaatlichen Instanz den Primat einräumen will. Damit dominiert jedoch ein traditionelles Verständnis staatlicher bzw. politischer Steuerung, während die neueren (politik-)wissenschaftlichen Debatten im Rahmen der Governanceforschung in eine andere Richtung weisen (vgl. Scott 2004). Demnach bedarf es wahrscheinlich eines viel radikaleren Perspektivenwechsels, um die momentan sich vollziehenden Transformationsprozesse angemessen beurteilen zu können. Denn es zeichnet sich ab, dass die Governance im Verkehr in Zukunft nicht mehr allein den gewohnten Formen traditioneller Staatstätigkeit (Government) entsprechen wird. Ob das Ziel, der Politikverflechtungsfalle zu entkommen, durch eine Stärkung der zentralen Steuerungsinstanzen oder im Gegenteil durch eine verstärkte Autonomie der Bundesländer gegenüber dem Bund erreicht werden kann, wird sich wohl nicht für alle Politikfelder gleichermaßen bestimmen lassen. Im Verkehrsbereich gibt es allerdings gewichtige sachliche Argumente dafür, die weitgehend in regionalen Bezügen genutzte Verkehrsinfrastruktur dezentral zu planen, zu finanzieren und zu verwalten. Um das Ziel einer integrierten Verkehrspolitik zu erreichen bräuchte es einen Mittelweg zwischen allzu dezentralem kommunalem Kirchturmdenken einerseits und zentralistischer Planungseuphorie andererseits. Die Länder böten sich vor diesem Hintergrund als Steuerungsinstanz an. Allerdings ist es zugleich fraglich, inwieweit die Länder mit ihren historisch zufällig entstanden räumlichen Grenzen mit realen Verkehrsregionen zusammenfallen oder ob diese Grenzen, wie im Falle der Stadtstaaten und ihrem Umland oft beklagt, einen zusammenhängenden Verkehrsraum eher künstlich durchschneiden. Diese Problematik würde demnach eher für die Schaffung Ländergrenzen überlagernder Planungsregionen mit eigenständiger verkehrspolitischer Kompetenz sprechen (vgl. Gutsche/Kutter 2006).

Länderverkehrspolitik

253

Schließlich sei noch auf die wachsende Bedeutung der Europäischen Union für die nationale Verkehrspolitik verwiesen. So wird die deutsche Verkehrsgesetzgebung mittlerweile in 70 bis 80 Prozent der Fälle mehr oder weniger stark durch europäisches Recht beeinflusst (vgl. Plehwe 2007). Das bedeutet aber auch, dass sich relevante politische Entscheidungsprozesse im politischen Mehrebenensystem zunehmend auf die EU-Ebene verlagern oder in solche Politikarenen, in denen nationale und europäische Akteure gemeinsam verkehrspolitisch relevante Themen verhandeln (vgl. Bongardt 2007). Traditionelle Zuständigkeitsbereiche lösen sich auf, und nationale Verkehrspolitik kann immer weniger allein mit Blick auf die nationalen Akteure begriffen werden. In den Experteninterviews ist immer wieder deutlich geworden, dass sich die verantwortlichen Landesvertreter gezwungen sehen, neue politische Handlungsstrategien zu entwickeln, die den Herausforderungen einer europäisierten Verkehrspolitik gerecht werden. Denn für die Länder gilt ebenso wie für die Kommunen, dass es für sie auf EU-Ebene, abgesehen von dem mit unzureichenden Kompetenzen ausgestatteten Ausschuss der Regionen, kein institutionelles Gremium gibt, in dem sie ihre Interessen vertreten können (vgl. Rechlin 2004). Von wachsender Bedeutung ist daher das über die Länderbüros in Brüssel praktizierte informelle Lobbying.

6

Fazit

Die zukünftigen politikwissenschaftlichen Untersuchungen zur Landesverkehrspolitik sehen sich vor allem mit zwei Forschungslücken konfrontiert. Erstens ist bis heute aufgrund des geringen politikwissenschaftlichen Engagements zum Thema Verkehr und fehlender verkehrspolitischer Policy-Studien weitgehend unklar, welche Handlungsspielräume sich aufgrund der beschriebenen Spezifika des Politikfeldes überhaupt ausmachen lassen. Ist es vielleicht so, wie oft behauptet wird, dass es sich bei dem Verkehrssektor um ein Gravitationsfeld handelt, in dem zahlreiche Impulse aus anderen Politikfeldern zusammenschießen, worauf Verkehrspolitik dann nur noch nachvollziehend reagiert? Der Verkehrssektor wäre dann kein eigenständiges mit Gestaltungsmacht ausgestattetes Politikfeld. Zweitens konnte noch nicht gezeigt werden, dass die im Rahmen der Theorie der Politikverflechtung ausgemachten Steuerungsdefizite tatsächlich die Ursache für fehlende politische Gestaltungsspielräume im politischen Mehrebenesystem darstellen. Eine ganz andere Interpretation könnte lauten, dass die Theorie der Politikverflechtung nur den historischen Wandel der traditionellen politischen Herrschaft (Government) im Politikfeld Verkehr zu neuen Formen der Governance beobachtet hat. Dann wäre allerdings sowohl der diesem Ansatz zugrunde liegende Beurteilungsmaßstab zentralstaatlicher Steuerungskompetenz obsolet wie auch die daraus abgeleiteten Reformempfehlungen. Beide Forschungslücken hängen freilich eng miteinander zusammen. Sollte sich etwa herausstellen, dass im Politikfeld Verkehr aufgrund seiner Querschnittsfunktion zwischen anderen Politikfeldern die Politikverflechtung ein strukturelles Merkmal darstellt, dann wären keine erfolgreichen Reformmaßnahmen zu erwarten, die in Zukunft eine eigenständige Länderverkehrspolitik ermöglichen könnten. Es würde sich daher anbieten, die aktuellen Reformprozesse im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland zum Anlass zu nehmen, um erstmals im Rahmen einer politikwissenschaftlich angeleiteten Studie erweiter-

254

Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort

te Handlungsspielräume der Landesverkehrspolitik systematisch auf ihre konkreten Effekte hin zu erfassen. In Anbetracht der wachsenden Bedeutung der europäischen Ebene muss dabei freilich von Anfang an ein Forschungsansatz gewählt werden, der die heute noch übliche analytische Trennung von europäischer und nationalstaatlicher Ebene überwindet.18 Auf diese Weise würde sich die Politikwissenschaft mit der Verkehrspolitik ein neues Politikfeld erschließen und zugleich einen Beitrag zur vergleichenden Staatstätigkeitsforschung leisten.

Literatur Barlösius, Eva/Neu, Claudia, 2007: „Gleichwertigkeit – Ade?“ Die Demographisierung und Peripherisierung entlegener ländlicher Räume, in: PROKLA, 146, 77-92. Bauhardt, Christine, 1995: Stadtentwicklung und Verkehrspolitik. Eine Analyse aus feministischer Sicht. Basel. Beckmann, Klaus J./Hesse, Markus/Holz-Rau, Christian/Hunecke, Marcel (Hg.), 2006: StadtLeben – Wohnen, Mobilität und Lebensstil. Neue Perspektiven für Raum- und Verkehrsentwicklung. Wiesbaden. Berschin, Felix/Hickmann, Gerd/Karwiese, Eckhard/Schulze, Evelin, 2005: Reform der ÖPNV-Finanzierung im Bundesland Brandenburg. Bündelung der Mittel bei den ÖPNV-Aufgabenträgern und Einführung einer Erfolgsförderung, in: Der Nahverkehr 5, 46-52. Beyme, Klaus von, 2007: Verkehrspolitik als Feld der Staatstätigkeit – Ein Aufriss, in: Schöller, Oliver/Canzler, Weert/Knie, Andreas (Hg.): Handbuch Verkehrspolitik. Wiesbaden, 125-137. BMV – Bundesministerium für Verkehr, 1992: Bundesverkehrswegeplan – BVWP ´92 – einschließlich Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen. Bonn. BMVBS – Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, 2007: „Integrierte Verkehrspolitik“ für die Mobilität der Zukunft. (http://www.bmvbs.de/-,1407.13145/Integrierte-Verkehrspolitik. htm, Zugriff am 10. September 2007). BMVBW – Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, 2003a: Bundesverkehrswegeplan 2003. Grundlagen für die Mobilität der Zukunft in Deutschland. Bonn. BMVBW – Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, 2003b (Hg.): Mobilität in Deutschland – Ergebnisbericht. Projekt-Nr. 70.0736/2003. Bonn/Berlin. Bongardt, Daniel, 2007: Multi-Level-Governance und Europäische Umweltpolitik. Akteurskonstellationen und Interaktionen im politischen System der Europäischen Union, in: Brunnengräber, Achim/ Walk, Heike (Hg.): Multi-Level-Governance. Klima-, Umwelt- und Sozialpolitik in einer interdependenten Welt. Baden-Baden, 33-58. Canzler, Weert, 1996: Das Zauberlehrlings-Syndrom. Entstehung und Stabilität des Automobil-Leitbildes. Berlin. Destatis – Statistisches Bundesamt Deutschland, 2005: Gemeindeverzeichnis. Wiesbaden. Dienel, Ludger, 2007: Das Bundesverkehrsministerium, in: Schöller, Oliver/Canzler, Weert/Knie, Andreas (Hg.): Handbuch Verkehrspolitik. Wiesbaden, 200-224. DIfU – Deutsches Institut für Urbanistik (Hg.), 2005: Umweltfreundlicher, leistungsfähiger und attraktiver ÖPNV – Ein Handbuch. Berlin. DIW – Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, 2006: Verkehr in Zahlen 2006/2007. Hg. v. Bundesministerium für Verkehr. Berlin. Enquête-Kommission, 2000: Die Zukunft der Mobilität in Nordrhein Westfalen, Düsseldorf. Abschlussbericht der Enquête-Kommission „Zukunft der Mobilität“, Drucksache 12/4839. Düsseldorf.

18 Vgl. den Beitrag von Grasl in diesem Band.

Länderverkehrspolitik

255

Gall, Alexander, 2005: Gute Straßen bis ins kleinste Dorf. Verkehrspolitik in Bayern zwischen Wiederaufbau und Ölkrise. Frankfurt/New York. Garlichs, Dietrich, 1980: Grenzen staatlicher Infrastrukturpolitik. Bund/Länder-Kooperation in der Fernstraßenplanung. Königstein/Ts. Gegner, Martin/Schöller, Oliver, 2005: Der Verkehr des Leviathan – Zur Genese des städtischen Verkehrs im Rahmen der Daseinsvorsorge, in: Schöller, Oliver (Hg.), 2005b: Öffentliche Mobilität. Perspektiven für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung. Wiesbaden, 44-68. Gutsche, Jens-Martin/Kutter, Eckhard (Hg.), 2006: Mobilität in Stadtregionen. Akteursorientierte Planungsstrategien für verkehrseffiziente Ballungsräume. Berlin. GwvF – Gesellschaft für wirtschafts- und verkehrswissenschaftliche Forschung e.V., 1978: Regionale Wirkungen des Bundesfernstraßenbaus (Schriften des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau). Bonn. Hascher, Michael, 2006: Politikberatung durch Experten. Das Beispiel der deutschen Verkehrspolitik im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. Hebeler, Timo, 2002: Die Ausführung der Bundesgesetze (Art. 83 ff. GG), in: JURA 3, 164-172. Heine, Hartwig/Mautz, Rüdiger/Rosenbaum, Wolf, 2001: Mobilität im Alltag. Warum wir nicht vom Auto lassen. Frankfurt. Hesse, Konrad, 1962: Der unitarische Bundesstaat. Karlsruhe. JdB – Jahrbuch des Bahnwesens, 2004/05: Zehn Jahre Bahnreform in Deutschland. Erfahrungen, Bewertungen, Perspektiven. Hamburg. JdB – Jahrbuch des Bahnwesens, 2006/07: 10 Jahre Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs. Mit ausführlicher Chronik Nah- und Fernverkehr. Hamburg. Karl, Astrid, 2007: Öffentlicher Verkehr im Gewährleistungsstaat. Probleme des Übergangs zu einer modernisierten Daseinsvorsorge durch Wettbewerb. Dissertation, Berlin, unveröffentlichtes Manuskript. Klenke, Dietmar, 1993: Bundesdeutsche Verkehrspolitik und Motorisierung. Konfliktträchtige Weichenstellungen in den Jahren des Wiederaufbaus. Stuttgart. KOM – Kommission der Europäischen Union, 2006: Für ein mobiles Europa – Nachhaltige Mobilität für unseren Kontinent. Halbzeitbilanz zum Verkehrsweißbuch der Europäischen Kommission von 2001. Brüssel. Mäding, Heinrich, 1978: Infrastrukturplanung im Verkehrs- und Bildungssektor. Eine vergleichende Untersuchung zum gesamtstaatlichen Planungsprozeß in der Bundesrepublik Deutschland. BadenBaden. Nuhn, Helmut/Hesse, Markus, 2006: Verkehrsgeographie. Paderborn u.a. Peak, Stephen, 1994: Transport in Transition. Lessons from the History of Energy. London. Plappert, Rainer, 1997: Verkehr und Verkehrspolitik, in: Borck, Heinz-Günther (Hg.): Beiträge zu 50 Jahren Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz. Koblenz, 235-291. Plehwe, Dieter, 2007: Transformation Europäischer Governance: (Europa)Rechtliche Dimensionen. Eine quantitativ vergleichende Analyse heterogener Europäisierungsprozesse im Politikfeld Verkehr, WZB Discussion Paper SP III 2007-201. Berlin. Projektgruppe Mobilität, 2004: Die Mobilitätsmaschine. Versuche zur Umdeutung des Automobils. Eine sozialwissenschaftliche Unternehmung. Berlin. Rammler, Stephan, 1999: Die Wahlverwandtschaft von Moderne und Mobilität. Vorüberlegungen zu einem soziologischen Erklärungsansatz der Verkehrsentstehung, in: Buhr, Regina/Canzler, Weert/ Knie, Andreas/Rammler, Stefan (Hg.): Bewegende Moderne. Fahrzeugverkehr als soziale Praxis. Berlin, 39-72 Rammler, Stefan, 2001: Mobilität in der Moderne. Geschichte und Theorie der Verkehrssoziologie. Berlin. Rechlin, Sandra, 2004: Die deutschen Kommunen im Mehrebenesystem der Europäischen Union – Betroffene Objekte oder aktive Subjekte, WZB Discussion Paper SP IV 2004-101. Berlin.

256

Oliver Schöller-Schwedes und Lisa Ruhrort

Reh, Werner, 1988: Politikverflechtung im Fernstraßenbau der Bundesrepublik Deutschland und im Nationalstraßenbau der Schweiz. Frankfurt a.M. u.a. Reh, Werner/Heuser, Tilmann, 2007: Die Bundesverkehrswegeplanung, in: Schöller, Oliver/Canzler, Weert/ Knie, Andreas (Hg.): Handbuch Verkehrspolitik. Wiesbaden, 225-251. Scharpf, Fritz W., 2006: Föderalismusreform: Weshalb wurde so wenig erreicht? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 50, 6-11. Scharpf, Fritz W./Reissert, Bernd/Schnabel, Fritz, 1976: Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik. Kronberg/Ts. Schmucki, Barbara, 2001: Der Traum vom Verkehrsfluss. Städtische Verkehrsplanung seit 1945 im deutsch-deutschen Vergleich. Frankfurt a.M./New York. Schöller, Oliver, 2005a: Die Blockstruktur. Eine qualitative Untersuchung zur politischen Ökonomie des westdeutschen Großsiedlungsbaus. Berlin. Schöller, Oliver (Hg.) 2005b: Öffentliche Mobilität. Perspektiven für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung. Wiesbaden. Schöller, Oliver, 2006: Mobilität im Wettbewerb. Düsseldorf. Schöller, Oliver, 2007: Verkehrspolitik: Ein problemorientierter Überblick, in: Schöller, Oliver/Canzler, Weert/Knie, Andreas (Hg.): Handbuch Verkehrspolitik. Wiesbaden, 17-42. Scott, Colin, 2004: Regulation in the age of governance. The rise of the post-regulatory state, in: Jordana, Jacint/Levi-Four, David (Hg.), 2004: The Politics of Regulation. Institutions and Regulatory Reforms for the Age of Governance. Cheltenham, 145-169. Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz, 2005: Rheinland-Pfalz. Ein Ländervergleich in Zahlen. Bad Ems. Südbeck, Thomas, 1994: Motorisierung, Verkehrsentwicklung und Verkehrspolitik in der Bundesrepublik Deutschland der 1950er Jahre. Stuttgart. Trost, Dirk G., 2006: Zehn Jahre Regionalisierung des SPNVs. Eine Bilanz, in: Internationales Verkehrswesen 10, 450-456. Wehling, Hans-Georg (Hg.), 20043: Die deutschen Länder. Geschichte, Politik, Wirtschaft. Wiesbaden. Wolf, Winfried, 1992: Eisenbahn und Autowahn. Hamburg. Wachinger, Lorenz, 2006: Das Recht des Marktzugangs im ÖPNV. Genehmigung, Vertragsvergabe und Finanzierung im straßengebundenen ÖPNV nach deutschem und europäischem Recht. Berlin.

Naturschutzpolitik in den Bundesländern1 Axel Volkery

1

Einleitung

Ein Rückblick auf die Naturschutzpolitik der Bundesländer seit dem Beginn der 1970er Jahre zeigt eine interessante Entwicklung: Zu Beginn waren einzelne Bundesländer wie Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder Schleswig-Holstein Vorreiter bei der Entwicklung des Naturschutzrechts (Schmitz/Bröder 2002). In der Folgezeit haben einzelne Länder immer wieder innovative, weitergehende Regelungen eingeführt. Auffällig ist nicht nur das Innovationsverhalten der Bundesländer an sich. Auffällig ist auch die wechselnde Reihenfolge, in der einzelne Bundesländer die Rolle eines Vorreiters eingenommen haben. Dass der Naturschutz auf einem soliden gesetzlichen Fundament ruht, ist zu einem gewissen Maß also auch auf einen übergreifenden parteipolitischen Konsens zurückzuführen. Seit Beginn der 1990er Jahre zeigt sich dagegen ein ganz anderes Bild: Eine hohe Rate von Entscheidungskonflikten und eine ständige Vertagung von Reformvorhaben prägen den Alltag. Vom Innovationsverhalten der Anfangszeit ist wenig zu sehen. Stattdessen blockieren sich Bund und Länder jahrelang bei dem zentralen naturschutzpolitischen Reformvorhaben – der umfassenden Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes und der folgenden Anpassung des Landesnaturschutzrechts. Harte Konflikte um die Ausweisung von Nationalparks prägen Landtagswahlkämpfe. Deutschland findet sich aufgrund der Verletzung europäischen Naturschutzrechts wiederholt vor dem Europäischen Gerichtshof wieder. Im Mittelpunkt dabei: Die unzureichende Praxis der Ausweisungen von Fauna-FloraHabitat (FFH) Schutzgebieten durch die Bundesländer (Volkery 2007, m.w.N.). Wieso ist der Naturschutz zum „Stiefkind des deutschen Umweltschutzes“ geworden (Bick/Obermann 2001)? Die Länder sind aktiv in den Bereichen erneuerbare Energien, Nachhaltigkeitsstrategien oder Klimaschutzprogramme und gehen hier teilweise über das Niveau bundesrechtlicher Regelungen und Programme hinaus. Wieso findet sich kein ähnlicher Befund für den Naturschutz? Diese Entwicklung kann auf die Vermischung von mehreren Faktoren zurückgeführt werden. Die Problemstruktur des Schutzes von Natur und Landschaft hat sich geändert: Europäische Rechtsvorgaben – aber auch die erkennbaren Defizite nationaler Vorgaben – erfordern die Ausweisung größerer, besser vernetzter Schutzgebiete einerseits, eine Effektivierung von gesamträumlichen Planungsansätzen sowie Ansätzen zur Information, Beteiligung und Mitwirkung der Öffentlichkeit in Verwaltungsverfahren und damit verbundenen 1 Dieser Beitrag stellt keine offizielle Position der Europäischen Umweltagentur dar. Er gibt die Auffassung des Autors wieder.

258

Axel Volkery

Klagerechten andererseits. Während die Konzeption eines solchen „Naturschutzes auf der Gesamtfläche“ viele gesellschaftliche Interessen tangiert, lassen sich Erfolge nur bedingt mit technologischen Lösungen erreichen, die auch positive wirtschaftliche Effekte (neue Märkte, Arbeitsplätze) erbringen und somit die politische Umsetzbarkeit erleichtern. Dies erklärt Erfolge etwa im Bereich der erneuerbaren Energien. Im Naturschutz findet sich eine schwierigere Problemstruktur: Häufig sind re-distributive Maßnahmen in Form von Verhaltenseinschränkungen oder Nutzungsuntersagungen notwendig. Diese schwierige Problemstruktur wird durch die krisenhafte Entwicklung der öffentlichen Haushalte verkompliziert. Hinzu kommen die Schwierigkeiten der Entscheidungsfindung von Bund und Ländern in der Politikverflechtung. Eine relativ inkrementelle, oft unzureichende Politikentwicklung ist die Konsequenz. Der Beitrag stützt diesen Befund auf die vergleichende Analyse der Umsetzung des neuen Bundesnaturschutzrechts in den Bundesländern. Diese Fokussierung ist aus zwei Gründen sinnvoll: Erstens wird die Naturschutzpolitik auf Ebene der Bundesländer hauptsächlich durch europäische und nationale Rechtsvorgaben geprägt. Maßgeblich sind einerseits die Vorgaben der Europäischen Vogelschutz- und Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-Richtlinie), andererseits die rahmenrechtlichen Vorgaben des Bundesnaturschutzrechts, welche die Vorgaben der FFH-Richtlinie umsetzen. Die Politik der Bundesländer findet in diesem Rahmen statt. Somit ergibt sich ein guter Vergleichsrahmen: Welche Länder unterschreiten den Rahmen, welche überschreiten ihn? Welche Einflussfaktoren sind von zentraler Bedeutung? Die Naturschutzpolitik der Bundesländer kann nicht losgelöst von den Politiken auf Bundesund europäischer Ebene, ihren Akteuren und Handlungsstrategien analysiert werden. Zweitens erlaubt eine solche Analyse Schlussfolgerungen bezüglich der Kompetenzneuordnung von Bund und Ländern im Naturschutz: 2002 hat die rot-grüne Regierungskoalition das Bundesnaturschutzrecht nach mehrfachen Anläufen umfassend novelliert. Da die CDU-regierten Länder dem Gesetz die Zustimmung von vornherein verweigerten und die Mehrheit im Bundesrat hatten, wurde es als zustimmungsfreies Rahmengesetz gefasst. Viele Neuregelungen werden erst durch die Umsetzung in Landesrecht wirksam. Dabei verfügen die Länder über weit reichende Spielräume. Diese Situation ist der Konstellation unter der neuen Kompetenzverteilung von Bund und Ländern sehr ähnlich: Der Bund hat durch die Reform des Grundgesetzes im Jahr 2006 die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Naturschutzes und der Landschaftspflege erhalten. Im Gegenzug dürfen die Länder erstmalig von einem Großteil der Vorgaben des Bundesrechts abweichen. Der Beitrag stützt sich methodisch auf das kapazitätsorientierte Modell der Umweltpolitikanalyse, das von Martin Jänicke entwickelt worden ist (Jänicke 1997). Das Modell kombiniert mehrere Erklärungsvariablen – Akteure, ihre Handlungsstrategien, institutionelle Rahmenbedingungen, situative Einflussfaktoren und die Struktur des Problems – und analysiert die Ergebnisse politischer Entscheidungsprozesse als Resultat der Interaktion dieser Variablen. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Im folgenden Kapitel wird ein Überblick über die Naturschutzpolitik der Bundesländer im Kontext bundes- und europarechtlicher Vorgaben gegeben. Kap. 3 adaptiert dann – ausgehend von einer Diskussion verschiedener Sichtweisen der Funktionslogiken und Problemlösungskapazitäten des deutschen Föderalismus –

Naturschutzpolitik in den Bundesländern

259

das Modell der kapazitätsorientierten Umweltpolitikanalyse. Kap. 4 analysiert auf dieser Grundlage die Naturschutzpolitik von sieben Bundesländern2. Kap. 5 fasst die wesentlichen Erkenntnisse zusammen und stellt Schlussfolgerungen für die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern an.

2

Die Naturschutzpolitik der Länder im Kontext bundes- und europarechtlicher Vorgaben

Bis zum Juli 2006 war der Schutz von Natur und Landschaft hauptsächlich Zuständigkeit der Bundesländer (Art. 75 Abs. 1 Satz 3 GG). Entsprechend regelte das Bundesnaturschutzgesetz die Ziele, Objekte, Instrumente und Zuständigkeiten in Form von Rahmenvorgaben, welche durch die Bundesländer in eigener Verantwortung substanziell auszugestalten waren3. Im Kontext der Neuregelung der Kompetenzen von Bund und Ländern durch die Föderalismusreform im Sommer 2006 ist der Bereich des Naturschutzes und der Landschaftspflege in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz überführt worden; im Gegenzug haben die Länder das Recht erhalten, von einem Grossteil der Vorgaben des Bundesrechts abweichen zu dürfen. Die Unterschutzstellung von Gebieten ist nach wie vor das bedeutsamste Instrument des Naturschutzes, wobei sich das Schutzniveau an der Wertigkeit der Gebiete zu bemessen hat (Louis 2000). Zusätzlich bestehen mit der Landschaftsplanung und der Eingriffsregelung Instrumente, die auf die Berücksichtigung von Naturschutzbelangen in der gesamten Flächennutzung abzielen. Zu den Aufgaben der Landschaftsplanung zählen die Bewertung des Zustandes von Natur und Landschaft, die Erarbeitung von Schutz- und Entwicklungszielen und -maßnahmen. Ziel der Eingriffsregelung ist die Sicherstellung eines flächendeckenden Mindestschutzes von Natur und Landschaft. Verursacher von Eingriffen werden entsprechend verpflichtet, die Schäden auszugleichen oder zu ersetzen (Haaren 2004). Zusätzlich bestehen Vorschriften zur Mitwirkung und Beteiligung von Naturschutzverbänden in Verwaltungsverfahren, etwa zur Ausweisung von Schutzgebieten. Die Bundesländer haben diesen Rahmen unterschiedlich ausgefüllt, und dabei teilweise auch verschärft bzw. ausgeweitet. So bestand Ende der 1990er Jahre in 13 Ländern ein Verbandsklagerecht für Naturschutzverbände (Schmidt et al. 2004). In einzelnen Ländern bedürfen spezifische Maßnahmen der Zustimmung ehrenamtlicher Naturschutzbeiräte. Alle Länder haben freiwillig-kooperative Instrumente, etwa Vertragsnaturschutzprogramme, eingeführt (Güthler et al. 2003). Im Laufe der Entwicklung ist es dadurch zu einer Zersplitterung des Naturschutzrechts gekommen. Die Vielgestaltigkeit des Regelwerks bedingt eine Unübersichtlichkeit, worunter nicht nur die Verwaltungspraxis bei grenzübergreifenden

2 Dieser Beitrag basiert auf Ergebnissen, die im Rahmen einer Dissertation an der Freien Universität Berlin erarbeitet wurden (Volkery 2007). Bis zum Ablauf der gesetzlichen Umsetzungsfrist im April 2005 hatten erst sieben Bundesländer nennenswerte Anstrengungen unternommen. 3 Rahmenvorgaben unterlagen der Vorgabe, keine umfassenden Vollregelungen treffen zu dürfen, soweit es sich dabei nicht lediglich um Teilaspekte handelte, die aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zunehmend restriktiv ausgelegt wurde.

260

Axel Volkery

Vorhaben leidet. Sie erschwert auch die Umsetzung von europäischen Rechtsvorgaben (vgl. Koch 2004). Defizite in der inhaltlichen Ausgestaltung und der Umsetzung des Naturschutzrechts, aber auch die Vorgaben des europäischen Naturschutzrechts haben die Rufe nach einer weitgehenden Modernisierung des Naturschutzrechts seit Beginn der 1990er Jahre immer lauter werden lassen. So verpflichtet die EG-FFH-Richtlinie von 1992 die Mitgliedstaaten, ein EU-weites Verbundnetz von teils großflächigen, teils auch neuen Schutzgebieten mit dem Namen „Natura 2000“ bis zum Jahr 2004 zu schaffen (Gellermann 1998, Balzer 2000). Zusätzlich wurden weitere Forderungen laut, die sich auf den Abbau von Ausnahmeregelungen für die Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft, die Einführung eines bundesweiten Biotopverbunds oder die Einführung von Verbandsklagerechten für Naturschutzverbände bezogen. Die vielfältigen Appelle einer Leistungssteigerung der Naturschutzpolitik sind nicht unerhört geblieben. So stieg z.B. die Zahl der ausgewiesenen Naturschutzgebiete zwischen 1996 und 2003 von 2,1 auf 2,9 Prozent der gesamten Bundesfläche (BfN 2005). Allerdings fand keine grundlegende Weiterentwicklung des Naturschutzrechts statt, weder auf der Ebene des Bundes noch – von punktuellen Regelungen abgesehen – auf der Ebene der Länder. Zunächst scheiterte das Bundesumweltministerium in der 11. und 12. Legislaturperiode mit zwei Referentenentwürfen in der inter-ministeriellen Abstimmung. In der 13. Legislaturperiode wurde eine vollständige Novelle in den Bundestag eingebracht. Zwei Jahre später scheiterte diese nach konfliktreichen Verhandlungen im Vermittlungsausschuss am Widerstand der Mehrheit der SPD-geführten Bundesländer. Grund war die Absicht gewesen, die Länder auf Ausgleichszahlungen für Naturschutzleistungen der Landwirte zu verpflichten. Der Gesetzentwurf normierte zudem eine Privilegierung von freiwilligen gegenüber ordnungsrechtlichen Maßnahmen. Die SPD lehnte diese Neuorientierung der Naturschutzpolitik ab. Zum Ende der Legislaturperiode wurde das Gesetz nur in Teilen novelliert, einerseits um die FFH-Richtlinie umzusetzen, was angesichts einer drohenden Verurteilung durch den EuGH zwingend war, sowie andererseits um doch noch Ausgleichszahlungen vorzuschreiben, die allerdings nie Anwendung fanden (Volkery 2001). Die neue, rot-grüne Regierungskoalition verabschiedete erst im Mai 2001 einen Gesetzentwurf. Um eine Blockade durch den zu diesem Zeitpunkt bereits unionsdominierten Bundesrat zu umgehen, wurde das Gesetz als zustimmungsfreies Rahmengesetz konzipiert. Dennoch kam es zu einem Vermittlungsverfahren, da eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Länder den Gesetzbeschluss des Bundestags ablehnte. Durch Zugeständnisse an opponierende sozialdemokratisch regierte Länder wurde ein positiver Beschluss erreicht (siehe Volkery 2007).

Naturschutzpolitik in den Bundesländern

3

261

Analyse der Naturschutzpolitik der Bundesländer

3.1 Politikverflechtungsfalle oder dynamische Institutionenentwicklung? Die Entscheidung, eine Novelle des BNatSchG anzustreben, die nicht der Zustimmung des Bundesrats bedarf, ist als eine konfliktminimierende, kapazitätsschonende Strategie zu verstehen, die das Anspruchsniveau der Zielsetzung absenkt und Anforderungen an vorhandene Handlungskapazitäten und -spielräume anpasst. Sie neutralisiert den Zustimmungsbedarf der Länder und umgeht so die Gefahr einer Blockade im Bundesrat. Solche Strategien sind ein gängiges Mittel zur Sicherstellung der Entscheidungsfähigkeit in der Politikverflechtung: Gesetze werden in Einzelteile zerlegt und zustimmungspflichtige von zustimmungsfreien Teilen getrennt; Entscheidungsprozesse werden so angelegt, dass konfliktarme Entscheidungen zu Beginn getroffen werden und konfliktreiche Entscheidungen zum Schluss unter dem Druck stehen, die vorherigen Einigungen nicht obsolet werden zu lassen; bilaterale Verhandlungen werden mit einzelnen Fraktionen geführt oder umstrittene Inhalte werden über negative Koordination (Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner) entschärft (vgl. Scharpf et al. 1976). Dass diese Strategien eine Entscheidungsfähigkeit sicherstellen, ist unbestritten. Wie aber reagieren die Bundesländer auf eine solche Strategie? Unübersehbar trägt das neue Gesetz eine rot-grüne Handschrift, vor allem bei den Auflagen für die Landwirtschaft, die verschärft worden sind sowie bei der Vorgabe, einen Biotopverbund auf zehn Prozent der Landesfläche zu errichten. Allerdings ähnelt auch ein großer Teil der Neuregelungen den Regelungen des Gesetzentwurfs der konservativ-liberalen Regierungskoalition aus dem Jahr 1996 (Messerschmidt 2000). Da das Gesetz als zustimmungsfreies Rahmengesetz konzipiert ist, tritt ein Grossteil der Bestimmungen erst nach der Umsetzung in Landesrecht in Kraft. Zudem bedürfen viele Bestimmungen der weitergehenden Konkretisierung. Somit wird die Politikformulierung auf der Ebene der Bundesländer unter anderen Vorzeichen fortgesetzt. Bei der Verabschiedung des Gesetzes sind von vielen Beobachtern Zweifel geäußert worden, ob die gewählte Strategie tatsächlich sinnvoll sei: Abgesehen von den qualitativen Mängeln, die in Folge der reinen Rahmengesetzgebung in Kauf zu nehmen waren, wurde die Frage gestellt, wieso die Bundesländer ein Gesetz zeitnahe umsetzen und inhaltlich ausgestalten sollten, welches in ihrem Zuständigkeitsbereich ohne ihre Beteiligung verabschiedet worden ist und umstrittene Vorgaben enthält. Andere Beobachter wiederum warnten davor, die kooperativen Reserven der Politikkoordination von Bund und Ländern zu unterschätzen. Diese beiden Positionen spiegeln zwei politikwissenschaftliche Argumentationsstränge, die unterschiedliche Aussagen zur Tauglichkeit solcher konfliktmindernder Strategien und daraus ableitend bezüglich des Verhaltens der Bundesländer treffen. Die erste, eher pessimistische, Argumentation folgt der Theorie der Politikverflechtungsfalle (Scharpf 1985) und der Strukturbruchtheorie (Lehmbruch 1976, 2000): Bund und Länder orientieren sich zunächst an eigenen Interessen und stellen die Sicherung oder den Ausbau eigener Kompetenzen und Ressourcen in den Vordergrund (Czada 2003). Eine Einigung gelingt hauptsächlich in Fällen, wo zwischen den Beteiligten entweder eine inhaltliche Übereinstimmung herrscht oder wo Interessenkonflikte durch Verteilungslösungen oder Verzicht auf Eingriffe in etablierte Interessenstrukturen minimiert werden können. Wenn die

262

Axel Volkery

Bundesregierung die Länder von der Politikgestaltung in einem Politikfeld ausschließt, das in die Kompetenz der Länder fällt, gleichzeitig hier ein Dissens über die Politikgestaltung herrscht und keine Kompensation für die getroffenen Vorgaben an anderer Stelle geleistet wird, werden die Länder die Handlungsspielräume in der Umsetzung zur Wahrung und Durchsetzung ihrer eigenen Interessen nutzen. Parteipolitische Erwägungen kommen als weiteres Handlungsmotiv für eine abweichende Umsetzung hinzu: Dem politischen Gegner kann kein grundlegender Erfolg gegönnt werden. Insbesondere die unionsregierten Länder werden daher eher eine konfrontative Strategie der Umsetzung wählen. Die zweite, moderat-optimistische, Argumentation folgt der Theorie eines dynamischen Föderalismus (vgl. Wachendorfer-Schmidt 2005). Arbeitsgruppen von Bund und Ländern seien durch langfristige Zusammenarbeit, eine gemeinsame Sachlösungslogik, technische Kompetenz und eine de-politisierte Verhandlungsorientierung gekennzeichnet. Die technokratische Problemlösungsorientierung in diesen Gremien kann die politische Konfrontationsstellung zwischen Bund und Ländern weitgehend außer Kraft setzen: Die Fachleute sind sich im Grundsatz über die Ausgestaltung einig und finden einen Kompromiss, der keinesfalls immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner darstellen muss (vgl. Töller 2002). Die Verflechtung von Bund und Ländern erleichtert dezentrale Lern- und Diffusionsprozesse zwischen den Ebenen, insbesondere da viele Regelungen bereits Bestand auf Landesebene haben. Entsprechende Entscheidungsprozesse sind in dieser Perspektive in weitaus höherem Maße von sachorientierten Handlungskalkülen geprägt, als dies in der öffentlichen Debatte zumeist unterstellt wird. Hier wird die Möglichkeit einer dynamischen Institutionenentwicklung hervorgehoben, bei der dezentrale Innovationsprozesse einen Modernisierungsschub „von unten“ anstoßen. Nutzen die Länder den Handlungsspielraum entsprechend positiv im Sinne einer dynamischen, dezentralen Institutionenentwicklung? Oder negativ im Sinne einer Abschwächung von Standards und Vorgaben?

3.2 Einflussfaktoren der Naturschutzpolitik der Bundesländer Der Erfolg oder Misserfolg von Politik lässt sich nicht hinreichend erklären, wenn die Analyse nur auf einzelne Einflussfaktoren, wie etwa spezifische Akteure oder Institutionen, fokussiert (vgl. Jänicke 1997). Vielmehr ist eine Vielzahl von Einflussfaktoren in Betracht zu ziehen, nämlich (a) die Stärke, Kompetenz und Konfiguration der Vertreter von Umweltschutzinteressen und (b) die systemischen Handlungsbedingungen, die eine Chancen- bzw. Hemmnisstruktur für die Akteure schaffen. Beeinflusst wird der Erfolg der Akteure des Weiteren (c) durch die Wahl von Handlungsstrategien und (d) durch die Chancenstruktur der situativen Handlungsbedingungen, die je nach den wechselnden politischen, gesellschaftlichen oder ökonomischen Ereignissen den Erfolg von Umweltschutz befördern oder erschweren kann. Ein weiterer Aspekt ist (e) die Problemstruktur, die über den „Schwierigkeitsgrad“ der Problemlösung bestimmt. Umweltpolitischer Erfolg erklärt sich dabei aus dem Zusammenspiel dieser Einflussfaktoren, wobei die organisatorische Stärke und der politische Einfluss der Vertreter von Umweltschutzinteressen und die Chancen- und Hemmnisstruktur der systemischen Hand-

Naturschutzpolitik in den Bundesländern

263

lungsbedingungen die umweltpolitische Handlungskapazität eines Landes ausmachen. Inwieweit diese erfolgreich zum Tragen kommt, hängt maßgeblich von den Handlungsstrategien der Vertreter von Umweltinteressen sowie den jeweiligen situativen Rahmenbedingungen ab. Die Struktur des Problems und das jeweilige Wohlstandsniveau des Landes bestimmen weiterhin darüber, welche Handlungskapazitäten für eine Problemlösung erforderlich und vorhanden sind. Diese Einflussfaktoren sind weiter zu unterteilen in zentrale und dezentrale Einflussfaktoren (Tabelle 1). Zentrale Faktoren gelten für alle Bundesländer gleichermaßen, dezentrale Faktoren variieren entsprechend den Bedingungen auf Landesebene. So besteht für alle Bundesländer ein Bundesgesetz, das einen Umsetzungsauftrag formuliert, dabei aber großen Handlungsspielraum belässt (geringe Verbindlichkeit, Fehlen von zentralen Sanktionsmechanismen, beschränkte Regel- und keine Monitoringkompetenz). Ein eindeutiger Rechtsrahmen auf übergeordneter Ebene gepaart mit Mechanismen für die Koordinierung und das Monitoring ermöglicht eine stärker einheitliche Politikentwicklung, schwächt andererseits aber auch Impulse für dezentrale Innovationen. Die Ausprägung der zentralen Einflussfaktoren lässt ein weitgehend uneinheitliches Verhalten der Bundesländer für die Umsetzung erwarten. Ausschlaggebend sind allerdings die jeweiligen Akteurskonstellationen und die strukturellen und situativen Rahmenbedingungen. Entsprechend ist das Augenmerk auf die Ausprägung der dezentralen Einflussfaktoren zu richten (Tabelle 2). Für die Analyse ist dabei zunächst von Interesse, ob es einen Unterschied macht, von welcher Partei bzw. Parteienkoalition das Land regiert wird (Indikator KOAL_ Zu). So ist davon auszugehen, dass eine Landesregierung, die von einer oder mehreren Parteien geführt wird, die auf Bundesebene in der Opposition sind, zu einer eher gegenläufigen Umsetzung tendieren wird, da ihre Interessen in der Phase der Politikformulierung wenig Berücksichtigung gefunden haben. Damit können sich Folgewirkungen verbinden: Umweltministerium und Naturschutzverbände sind dann nicht mehr Partner in einer Koalition, somit ist die Stabilität und Durchschlagskraft der Interessenkoalition des Naturschutzes gefährdet. Andererseits kann im Fall einer Regierungsbeteiligung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen werden, dass die Amtsführung des Umweltministeriums an einer ambitionierten Novelle interessiert ist, in der Folge die Interessen des Naturschutzes konfliktfähiger sind und es in der Folge auch zu einer engeren Allianz von Ministerium und Naturschutzverbänden kommt. Weiterhin können sich gar keine erkennbaren Einflüsse der Zusammensetzung der Regierungskoalition zeigen. Weiterhin ist zu analysieren, ob sich für Länder mit unterschiedlichen Umsetzungsergebnissen auch Unterschiede hinsichtlich des Einflusses der Naturschutzverbände ergeben. Deren organisatorische Stärke wird über den Indikator „Mitgliederanzahl der anerkannten Naturschutzverbände in den Ländern in Relation zur Landesbevölkerung“ erfasst (Indikator ORG_Verb, vgl. Tabelle 2). In der Prozessanalyse ist zudem das Verhältnis von Landesregierung und Naturschutzverbänden zu untersuchen: Regierungskoalitionen, an denen die Partei Bündnis 90/Die Grünen beteiligt ist, sollten den Interessen der Naturschutzverbände offener gegenüberstehen als andere Regierungskoalitionen.

264 Tabelle 1:

Axel Volkery Einflussfaktoren auf die Naturschutzpolitik der Bundesländer

Zentral

Variablentyp

Variable

Ausprägung

Eigenschaften des Mandats

ƒ ƒ

Koordinierungsmechanismen

ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Monitoringmechanismen

Akteurskonstellation

ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Dezentral

ƒ ƒ Ökonomisch-strukturelle Rahmenbedingungen Politisch-institutionelle Rahmenbedingungen Geographische Rahmenbedingungen

ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

rechtlicher Anpassungsbedarf Konkretisierungsgrad und Verbindlichkeit der Vorgaben Schwierigkeit der Ausgestaltung zentrale Sanktionsmechanismen Bereitstellung von Ressourcen zentraler oder dezentraler Mechanismus weit reichende oder beschränkte Regelkompetenz Grad der Zentralität Grad der Regelmäßigkeit Grad der Effektivität Anzahl / Grad der Beteiligung gesellschaftlicher Akteure Zusammensetzung der Landesregierung (gestellt von Regierungs- oder Oppositionsparteien auf Bundesebene) Grad der Zustimmung oder Ablehnung zum Vorhaben Kräfteverhältnis zwischen Befürwortern und Gegnern Wirtschaftskraft eines Landes Wirtschaftsstruktur eines Landes Rolle der Agrarwirtschaft Autonomiegrad der Vollzugsebene Zuschnitt von Ministerien Anteil großer unzerschnittener Räume Besiedelungsdichte Verkehrsinfrastruktur

Quelle: Volkery 2007

Im Umkehrschluss ist die wirtschaftliche Bedeutung der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft als Einflussfaktor heranzuziehen, die hier über den Indikator „Anteil der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft an der Bruttowertschöpfung des Landes“ erfasst wird (Indikator Ant_AG, vgl. Tabelle 2). Je größer die wirtschaftliche Bedeutung der Branche und der ihr vor- und nachgelagerten Bereiche ist, desto größer ist ihr Einfluss auf die Politikformulierung, so die Annahme. Interessant ist ferner, ob mit der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierungskoalition auch Unterschiede im Einfluss der Agrarwirtschaft einhergehen. Von großer Bedeutung können Unterschiede in den ökonomischen Rahmenbedingungen sein. So besteht ein wirtschaftliches Gefälle zwischen den Süd- und den Nordländern. Die Abbildung der Wirtschaftsleistung erfolgt dabei über den Indikator „BIP je Einwohner des Landes“ (Indikator BIP_Kopf, vgl. Tabelle 2.), die Abbildung der eher situativen wirt-

265

Naturschutzpolitik in den Bundesländern

schaftlichen Entwicklung über den Indikator „Durchschnittliches Wachstum des BIP des Landes“ für den Zeitraum der Jahre 2002-2004 (Indikator BIP_Wach, vgl. Tabelle 2). Die administrative Leistungsfähigkeit der Verwaltung zu erfassen wird aufgrund der methodischen Schwierigkeiten nicht angestrebt (Volkery 2007). Angenommen wird aber, dass keine grundlegenden Unterschiede bezüglich der Kompetenz und Stärke der Umweltadministration bestehen. Von Interesse ist indes, ob Länder, die Landwirtschafts- und Umweltministerium zusammengelegt haben, aktiver waren als Länder, in denen die Zuständigkeiten institutionell getrennt sind. Tabelle 2: Land

Überblick über die dezentralen Einflussfaktoren der Naturschutzpolitik (Bezugsjahre 2002-2005)

Regierungskoalition (KOAL_Zu)1

Organisationsgrad der Naturschutzverbände (ORG_Ver)2

BIP pro WachsKopf tumsrate (BIP_Kopf)3 BIP (BIP_ Wach)4 (in Euro) (in %,

(in %)

02-04)

Anteil Landwirtschaft an Bruttowertschöpfung (AG_BW5

Organisation des Ministeriums (MIN_ Org.)6

BevölkeAnteil unzerrungsdichte schnittener Räume an der (BEVGesamtfläche Dichte)7 (ANT_ Raum)8

(in %) BW

CDU/FDP

7,32

29.835

1,5

0,8

E+L*

299

9,31

BY

CSU

7,92

30.993

2,23

1,3

U+G+V

176

15,27

BE

SPD/PDS

1,75

22.988

0,5

0,1

S

BB

SPD/CDU

1,12

17.527

0,93

2,3

L+U+V

87

HB

SPD/CDU

4,78

35.592

1,26

0,3

B+U+V

1.640

HH

CDU/FDP

5,04

45.363

1,73

0,2

S+U

2.296

HE

CDU/FDP

3,02

32.056

1,23

0,6

U+L+V

3.800

– 49,62 – –

288

10,84

MV

SPD/PDS

4,66

17.256

0,93

4,3

U

75

52,89

NI

SPD/Grüne; CDU/FDP

4,42

23.111

1,23

2,2

U

168

21,47

NW

SPD/Grüne***

3,59

26.643

1,67

0,7

U+N+L+V

530

2,55

RP

SPD/FDP

5,00

23.507

2,16

1,4

U+F

204

15,43

SL

CDU

9,30

24.606

1,1

0,3

U

413

SN

CDU; CDU/SPD

0,85

18.539

2,53

1,4

U+L

235

12,62

ST

SPD/Grüne, CDU/FDP

1,43

18.245

2,3

2,5

L+U

123

31,95

SH

SPD/Grüne***

6,98

23.539

0,99

2,0

U+N+L**

179

11,29

TN

CDU

1,90

17.874

1,53

1,9

L+U+N

147

33,86

BRD

SPD/Grüne

4,56

26.388

1,63

1,1

U+N+R

231

20,61

–

Zusammensetzung der Regierungskoalition (2002-2005); 2 Anteil der Bevölkerung, die Mitglied in einem anerkannten Naturschutzverband sind; 3 BIP je Einwohner im Jahr 2003; 4 Durchschnittliches Wachstum des BIP über die Jahre 20022004; 5 Anteil der Land- und Forstwirtschaft an der Bruttowertschöpfung (2004); 6 Zuschnitt des zuständigen Ministeriums (Abkürzungen der Ministerien: B = Bauen, E = Ernährung, F = Forsten, G = Gesundheit, N = Naturschutz, L = Landwirtschaft, R = Reaktorsicherheit, U = Umwelt, S = Stadtplanung); 7 Anzahl der Einwohner pro km2 (2004); 8 Anteil der unzerschnittenen verkehrsarmen Räume in Prozent der Gesamtfläche des Landes (2003, die Stadtstaaten und das Saarland werden nicht gezählt); * zusätzliches Umweltministerium , ** Zuschnitt in der letzten Legislaturperiode , *** berücksichtigt nicht Regierungswechsel in NW und in SH in 2005 Quelle: Volkery 2007 1

266

Axel Volkery

Geographische Einflussfaktoren spielen eine große Rolle. In Flächenländern mit einem hohen Anteil an unzerschnittenen Räumen lässt sich z.B. Unterschutzstellung von zehn Prozent der Landesfläche leichter realisieren als in Bundesländern mit einer hohen Siedlungsdichte und einer entsprechend starken Konkurrenz unterschiedlicher Flächennutzungen. Insofern ist für die einzelnen Länder zu analysieren, wie die Indikatoren Anteil unzerschnittener Räume an der Gesamtfläche (Indikator ANT_Raum, vgl. Tabelle 2), und Bevölkerungsdichte, gemessen als Anzahl der Bewohner pro km2 (Indikator BEV-Dicht, vgl. Tabelle 2) ausfallen und ob Unterschiede in der Umsetzungsbilanz mit Unterschieden bei diesen Variablen einhergehen.

4

Die Naturschutzpolitik der Bundesländer – Analyse der Umsetzung des Bundesnaturschutzrechts in sieben Bundesländern (2002-2005)

Zum Ende der gesetzlich vorgeschriebenen dreijährigen Umsetzungsfrist (3. April 2005) hatten nur drei Landesregierungen die Landesnaturschutzgesetze an die Vorgaben des BNatSchG angepasst: Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt und Brandenburg. In NordrheinWestfalen wurde eine Gesetzesnovelle etwas verspätet verabschiedet. Rheinland-Pfalz und Saarland hatten zu diesem Zeitpunkt Gesetzentwürfe vorgelegt. Hessen hatte mit einer Teilnovelle bereits einige, aber nicht alle der neuen Bestimmungen umgesetzt. In allen anderen Bundesländern verzögerte sich die Erstellung von Gesetzentwürfen. Tabelle 3 gibt einen Überblick über den zeitlichen Verlauf der Anpassung des Naturschutzrechts in allen Bundesländern. In der Mehrzahl der Bundesländer ist es demnach zu keiner fristgerechten Umsetzung der Vorgaben des Bundesnaturschutzrechts gekommen. Eine wichtige Ursache in vielen Ländern ist zweifelsohne eine politisch motivierte Ablehnung vieler der neuen Bestimmungen, die zu einer entsprechend laxen Umsetzungsstrategie führte. Dies allein ist aber nicht ausschlaggebend. Ebenso ist ins Feld zu führen, dass vielfach auf Arbeitshilfen der Länderarbeitsgemeinschaft Naturschutz oder anderes Hilfsmaterial für die rechtliche Ausformulierung gewartet wurde oder aber Regierungswechsel in Folge von Landtagswahlen den Prozess verlangsamten. Die sieben Bundesländer, die fristgerecht Gesetze oder zumindest fertige Gesetzentwürfe vorgelegt haben, bilden das Untersuchungssample dieses Beitrags. Dabei ist zu analysieren, inwieweit sie den Rahmen umsetzen und im notwendigen Umfang konkretisieren oder diesen Rahmen nicht korrekt umsetzen oder unterschreiten, und welche Einflussfaktoren ihr Verhalten am besten erklären können.

Naturschutzpolitik in den Bundesländern Tabelle 3:

267

Anpassung des Landesnaturschutzrechts an das Bundesrecht

Bundesland

Datum der Bekanntmachung (Umsetzungfrist 3. April 2002 bis 3. April 2005)

BB

06.04.2004

BE

06.07.2006

BW

01.01.2006

BY

23.12.2005

HB

19.04.2007

HE

17.10.2005 (vorher Teilnovelle)

HH

03.04.2007

MV

14.07.2006

NI

partielle Änderungen, keine abschliessende Vollnovelle

NW

26.05.2005

RP

12.10.2005

ST

23.07.2004

SH

18.07.2003

SL

05.04.2006

SN

09.09.2005

TN

30.10.2006

Quelle: Recherche auf den Internetseiten der zuständigen Ministerien

Die vergleichende Analyse der sieben vorgelegten Landesnaturschutzgesetze bzw. Gesetzentwürfe zeigt zwei generelle Entwicklungslinien: ƒ

ƒ

Eine ausgeprägte Zurückhaltung bei der Konkretisierung der Rahmenvorgaben: Oft wird keine Konkretisierung der Rahmenvorgaben vorgenommen; vielmehr werden diese wortgleich übernommen. Ein partieller Rückbau von Regelvorgaben des Landesnaturschutzrechts in den meisten Ländern, der allerdings unterschiedlich weitgehend ausfällt. Unionsregierte Länder wie Hessen oder Sachsen-Anhalt haben die Novelle genutzt, ihr Naturschutzrecht in Teilen zu deregulieren. Dies trifft in Teilbereichen aber auch für SPD-regierte Länder wie Brandenburg oder Rheinland-Pfalz zu. Vielfach werden einstmals weitergehende Regelungsbereiche des Landesnaturschutzrechts auf das Rahmenrecht des Bundes zurückgestutzt, so etwa die Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte sowie Klagerechte der Verbände. Dieser Trend ist allerdings nicht durchgängig: In einzelnen Regelungsbereichen führt die Umsetzung auch zu der Einführung neuer Instrumente und zu Verschärfungen bestehender Regelungen, insbesondere beim Biotopverbund, bei der Landschaftsplanung oder im Gebietsschutz.

Diesem Beitrag liegt die Analyse von 45 Neuregelungen des Bundesnaturschutzrechts im Landesnaturschutzrecht zu Grunde. Eine einfache Zählung, welche Vorgaben vollständig umgesetzt worden, ergibt, dass Brandenburg die beste Bilanz bei der 1:1-Umsetzung aufweist. Dicht folgen Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Rheinland-Pfalz, Saarland

268

Axel Volkery

und Sachsen-Anhalt bilden eine Mittelgruppe, während Hessen auf dem letzten Platz rangiert (vgl. Tabelle 4). Weiterhin ist zu analysieren, inwieweit die Bundesländer die notwendige Konkretisierung der Rahmenvorgaben leisten. Schleswig-Holstein führt mit 20 von 48 potenziellen Konkretisierungen, gefolgt von Brandenburg und – mit dem damaligen Entwurf – dem Saarland. NRW rangiert im Mittelfeld. Hessen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt belegen die letzten Plätze (Tabelle 5). Tabelle 4:

Vergleichende Analyse der 1:1-Umsetzung des BNatSchG in sieben Bundesländern ZI

GR

BIO

GFP

UB

LP

EG

GB

MW

Gesamt

Gesamt

3

5

6

8

2

8

7

5

1

45

BB

3

5

6

6

2

6

7

5

1

38

SH

3

2

5

6

1

8

7

5

1

35

NW

3

5

6

6

2

3

7

5

1

35

ST

3

1

3

6

1

7

6

4

0

28

SL

0

2

4

5

1

7

6

1

1

27

RP

3

3

1

3

1

8

6

4

0

26

HE

2

0

1

0

0

4

2

2

0

9

ZI. = Ziele, GR = Grundsätze, BIO = Biotopverbund, GFP = Gute Fachliche Praxis, UB = Umweltbeobachtung, LP = Landschaftsplanung, EG = Eingriffsregelung, GB = Gebietsschutz, MW = Mitwirkung Quelle: Volkery 2007

Auffällig ist, dass die hier analysierten Länder vollständige Anpassungen in den Bereichen vorgenommen haben, in denen das Mandat klar formuliert war, in denen kein größerer Anpassungsbedarf bestand und in denen die Neuregelungen auf weitgehende Zustimmung stießen. Für Regelungsbereiche, die sich durch einen höheren Anpassungsbedarf auszeichnen, wie etwa die Verbandsklagerechte oder aber der Biotopverbund, ist dagegen eine inkonsistente Umsetzung zu verzeichnen. Bis auf die Vorgaben zur Eingriffsregelung weisen alle Neuregelungen, die einen weitergehenden Politikwandel intendieren, nur eine mittelmäßige bis schlechte Umsetzungsbilanz auf. Allerdings reicht die Analyse zentraler Einflussfaktoren nicht aus, um das Verhalten der Länder erklären zu können. Hierfür ist ein genauerer Blick auf die Ausprägung der dezentralen Einflussfaktoren notwendig. Dabei zeigt sich, dass weder die Variable „Niedrige Bevölkerungsdichte“ noch die Variable „Anteil unzerschnittener Räume an der Gesamtfläche“ die Unterschiede in der Leistungsbilanz erklären können, da Länder mit einer guten und schlechten Bilanz ähnliche Werte aufweisen. Ein ähnlicher Befund ergibt sich auch hinsichtlich der BIP pro Kopf-Werte und der Zuwachsraten des BIP (vgl. Tabelle 2). Dieses Ergebnis kann dahingehend erklärt werden, dass Unterschiede zwischen den Bundesländern zwar bestehen, der Naturschutz aber keinen ressourcenintensiven Bereich darstellt, so dass Differenzen nicht so stark ins Gewicht fallen.

269

Naturschutzpolitik in den Bundesländern Tabelle 5:

Vergleichende Analyse der ergänzenden Konkretisierungen des BNatSchG in sieben Bundesländern ZI

GR

BIO

GFP

UB

LP

EG

GB

MW

Gesamt

Gesamt

0

2

9

6

7

9

8

5

2

48

SH

0

1

3

1

1

5

7

2

0

20

BB

0

0

2

2

2

1

5

1

0

13

SL

0

0

1

1

3

3

3

1

0

12

NW

0

0

2

1

2

0

3

0

0

8

HE

0

0

0

0

0

2

3

0

0

5

RP

0

0

0

0

1

0

3

0

0

4

ST

0

0

1

1

0

0

3

0

0

4

ZI = Ziele, GR = Grundsätze, BIO = Biotopverbund, GFP = Gute Fachliche Praxis, UB = Umweltbeobachtung, LP = Landschaftsplanung, EG = Eingriffsregelung, GB = Gebietsschutz, MW = Mitwirkung Quelle: Volkery 2007

Unterschiede in der Umsetzungsbilanz lassen sich auch nicht mit dem organisatorischen Stärkegrad der Umweltverbände oder der wirtschaftlichen Bedeutung der Agrarwirtschaft begründen (vgl. Tabelle 2). Länder mit einem hohen Organisationsgrad der Naturschutzverbände stehen sowohl am Anfang als auch am Ende der Umsetzungsskala. Zudem scheint sich der Einfluss der Agrarwirtschaft in erster Linie nach der Zusammensetzung und Positionierung der Landesregierung zu richten, nicht nach der wirtschaftlichen Bedeutung der Branche. Allerdings ist der Branche eine Verhinderungswirkung zuzuschreiben. Die Verschiebung der Konkretisierung einzelner Vorschriften auf die untergesetzliche Ebene in allen Ländern ist ein Indiz dafür, dass die Länder Konflikte minimieren wollen. Gleichzeitig zeigt sich eine landwirtschaftsfreundliche Umsetzung in den beiden Ländern, in denen die Agrarwirtschaft eine besonders wichtige Rolle spielt: Rheinland-Pfalz (Weinbau) und Sachsen-Anhalt (intensive Landwirtschaft). Übrig bleiben die Analyse der politisch-institutionellen Rahmenbedingungen und die Analyse der Regierungskoalitionen auf Landesebene, die in den Zuschnitt des zuständigen Ministeriums und die parteipolitische Zusammensetzung der Regierungskoalition unterteilt worden war. Es zeigt sich, dass nicht so sehr der Zuschnitt des Ministeriums von Einfluss zu sein scheint als vielmehr die Parteizugehörigkeit der Amtsleitung: Die drei ersten Länder im Ranking weisen eine grüne Amtsleitung (Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen) bzw. eine sozialdemokratische Amtsleitung mit Umweltprofil (Brandenburg) auf. Innerhalb der gesetzlichen Umsetzungsperiode des Bundesnaturschutzrechts tendierten die unionsgeführten Landesregierungen klar zu einer gegenläufigen Umsetzungspraxis. Die Bilanz für Hessen, Sachsen-Anhalt und das Saarland ist je nach Regelungsbereich durchschnittlich bis schlecht. Andere unionsgeführte Landesregierungen haben innerhalb der Umsetzungsfrist keine ersichtlichen Anstrengungen für eine Anpassung des Landesnaturschutzrechts an die Vorgaben des BNatSchG unternommen. Dass dem kleineren Koalitionspartner Bedeutung zukommt, kann anhand der Unterschiede der Umsetzung in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz verdeutlicht werden: Die SPD unter Clement/Steinbrück (Nordrhein-Westfalen) und Beck (Rheinland-Pfalz) verfolgte in beiden Ländern einen pragmatischen, eher industrie- und landwirtschaftsfreundlichen

270

Axel Volkery

Kurs. Dass die Umsetzung in Nordrhein-Westfalen besser ausgefallen ist als in RheinlandPfalz, trotz schlechterer naturräumlicher Bedingungen, hängt zu einem Großteil damit zusammen, dass sich die Bündnisgrünen als Koalitionspartner in Nordrhein-Westfalen für eine anspruchsvolle Novelle eingesetzt haben, während die FDP als Koalitionspartner in Rheinland-Pfalz der Novelle des BNatSchG eher ablehnend gegenüber stand und sich entsprechend für eine weniger detaillierte und verbindliche Ausgestaltung der Novelle einsetzte. Die Zusammensetzung der Regierungskoalition wirkt sich auch auf den Einfluss der Umweltverbände und der Agrarwirtschaft im politischen Entscheidungsprozess aus. Die Bedeutung der Regierungskoalition zeigt sich gerade auch im Fall eines Regierungswechsels: Der Wechsel von SPD/Bündnis 90/Die Grünen zu CDU/FDP in Hessen und SachsenAnhalt hat zu einer programmatischen Neuausrichtung der Naturschutzpolitik geführt, die durch einen partiellen Abbau ordnungsrechtlicher Standards und den Vorrang kooperativer und freiwilliger Regelungsansätze gekennzeichnet ist. Allerdings bedarf es für die Analyse der praktischen Auswirkungen eines längeren Zeitrahmens. Vorbehaltlich der Einschränkung, dass diese Untersuchung nur sieben Bundesländer umfasst, ist dennoch festzuhalten, dass Unterschiede in der Umsetzungsbilanz von allen Einflussfaktoren am besten, wenngleich nicht ausschließlich, mit der Zusammensetzung der Regierungskoalition erklärt werden können.

5

Schlussfolgerungen

Die hier angestellte Analyse lässt insgesamt wenig Evidenz für einen Prozess der dynamischen, dezentralen Politikentwicklung auf der Ebene der Bundesländer erkennen. Während die Mehrheit der Bundesländer die Vorgaben des Bundesnaturschutzgesetzes nicht im Rahmen der vorgeschriebenen gesetzlichen Frist umgesetzt hat, zeigt sich für die Mehrheit der hier analysierten sieben Länder lediglich eine 1:1-Umsetzung vieler bundesrechtlicher Vorgaben. Dieses Umsetzungsverhalten ist insofern als problematisch zu bewerten, als die Rahmengesetzgebung zwingend auf die Ausformulierung durch die Länder ausgelegt ist und dieser geradezu bedarf. Der Abbau von Rechtsvorschriften bzw. die Übernahme von europäischen und bundesrechtlichen Vorschriften in einem 1:1-Verhältnis ist Bestandteil einer Strategie zur Reduzierung des Aufgabenspektrums der Landesverwaltungen. Wie der Sachverständigenrat für Umweltfragen unlängst festgestellt hat, konzentrieren sich die Bemühungen in vielen Ländern angesichts angespannter Haushaltslagen auf die Senkung von Kosten durch Abbau von Personal und eine Reduktion des Sachmitteleinsatzes, der sich in der unterschiedlich weit reichenden Zusammenlegung von Verwaltungseinheiten, Abschaffung von Ämtern, Privatisierung oder Kommunalisierung von Aufgaben ausdrückt (SRU 2007). Allerdings lassen die Prozesse der Verwaltungsreform und Haushaltskonsolidierung prinzipiell Spielräume für die Politikgestaltung. Vier Erwägungen lassen sich anführen, warum es indes zu keiner dezentralen dynamischen Institutionenentwicklung kommt: ƒ

Die Problemstruktur verengt den Handlungsspielraum: Technische Lösungsoptionen sind nur bedingt verfügbar; Marktprozesse und damit verbundene Anbieterinteressen

Naturschutzpolitik in den Bundesländern

ƒ

ƒ

ƒ

271

fallen weitgehend aus. Reformen im Naturschutzrecht lassen sich nur bedingt mit ökonomischen Vorteilseffekten verkaufen und sind deshalb politisch wenig attraktiv. Der parteipolitische Wettbewerb und geringe Konsensreserven im Parteiensystem setzen für Landesregierungen, die von einer der Oppositionsparteien auf Bundesebene geführt werden, starke Anreize, umstrittene bundesrechtliche Reformvorhaben nicht korrekt umzusetzen oder gar darüber hinaus aktiv zu werden, da dies den politischen Gegner besser stellen würde. Dies gilt insbesondere für die unterlassene Konkretisierung ausfüllungsbedürftiger Rahmenvorgaben, welche die Rahmengesetzgebung erfordert. Allerdings ist anzumerken, dass auch Landesregierungen, die von Regierungsparteien angeführt werden, zu diesem Umsetzungsverhalten tendieren. Der externe Handlungsdruck für die Länder, sich kooperativ zu verhalten, ist relativ niedrig: Impulse des europäischen Umwelt- und Naturschutzrechts sind bislang zu schwach, um die Blockademechanismen im föderativen System vollständig zu neutralisieren. Situative Ereignisfaktoren fallen bislang nicht relevant ins Gewicht. Zudem gibt es keine umweltorientierten Unternehmen, die sich für die Ausweitung des naturschutzrechtlichen Regelwerks einsetzen. Die Naturschutzbehörden als Akteure in den Interessenkoalitionen des Naturschutzes werden oft parteipolitisch neutralisiert oder können sich nur unter bestimmten Bedingungen in der Ressortabstimmung durchsetzen. Insgesamt zeigt der Prozess der Umsetzung den geringen politischen Stellenwert der Thematik auf. Da die Interessenkoalitionen des Naturschutzes hauptsächlich aus Vertretern von Naturschutzbehörden und -verbänden bestehen, bedeutet ihre Neutralisierung eine substanzielle Schwächung der Unterstützerkoalition.

Wie die Analyse aber auch zeigt, agieren die untersuchten Bundesländer keinesfalls in gleicher Weise. Einzelne Länder wie Schleswig-Holstein, Brandenburg oder NordrheinWestfalen haben im Zeitraum dieser Analyse (bis 2005) eine angemessene bis ambitionierte Landesnaturschutzpolitik betrieben und versucht, ihr Landesnaturschutzrecht über den Rahmen des Bundes zu heben, mit zum Teil erheblichem Erfolg. In allen untersuchten Ländern finden sich punktuell innovative Neuregelungen. Die Unterschiede in der Leistungsbilanz lassen sich am besten noch mit parteipolitischen Einflussfaktoren erklären, wie die vergleichende Analyse zeigt. Im Vergleich der untersuchten Länder schneiden Länder mit einer Regierungsbeteiligung von SPD und Bündnisgrünen durchschnittlich am besten ab. Dieser Befund widerspricht nicht unbedingt der Erkenntnis vergleichender OECD-LänderStudien, wonach der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierungskoalition geringere Bedeutung gegenüber anderen Einflussfaktoren wie wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Problemdruck oder Offenheit des politischen Systems beizumessen ist (vgl. für einen Überblick Weidner und Jänicke 2002). Unter ähnlichen Rahmenbedingungen (wie gleiche Verfassung, Verwaltungsstruktur und Akteurskonstellationen), die in Deutschland für Bund und Länder auszumachen sind, kommen Unterschiede in der Ausprägung der politischen Einflussfaktoren deutlicher zum Tragen als in Vergleichen von OECD-Ländern, wo die Rahmenbedingungen deutlicher differieren.

272

Axel Volkery

Die Strategie, den Bundesrat zu umgehen und das Naturschutzrecht dennoch abschließend zu modernisieren, ist also nicht vollständig aufgegangen; die Bundesländer bringen ihre Interessen im Prozess der Politikformulierung im eigenen Land zur Geltung. Was bedeutet dies für die Neuregelung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern im Bereich des Naturschutzes und der Landschaftspflege? Das deutsche Naturschutzrecht erlebt gegenwärtig vielerorts Prozesse der Rechts- und Verwaltungsvereinfachung. Andererseits besteht aber auch die Notwendigkeit der Anpassung an europäische Rechtsvorschriften. Dies betrifft nicht nur die FFH-Richtlinie, sondern ebenso andere Richtlinien, etwa zur Umwelthaftung, zur Umweltinformation, zur Öffentlichkeitsbeteiligung oder zur Strategischen Umweltprüfung. Mit der Neuregelung der Gesetzgebungskompetenzen im Kontext der grundlegenden Reform des Grundgesetzes im Sommer 2006 ist die Gesetzgebungskompetenz des Bundes durch die Überführung des Aufgabenbereichs des Naturschutzes und der Landschaftspflege in die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz gestärkt worden. Dabei haben die Länder das Recht erhalten, von Bundesvorschriften abweichen zu können, mit Ausnahme eines „abweichungsfesten“ Kerns von Bestimmungen, der allerdings nicht genau bestimmt ist (Fischer-Hüftle 2007). Dies birgt weiteres Streitpotenzial. War vormals der Umfang und die Reichweite der Rahmengesetzgebung des Bundes Anlass für Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern, so kann an diese Stelle nun die Unklarheit und der zu erwartende Streit über den Umfang und die erlaubte Reichweite der Abweichung von Bundesvorgaben treten.

Literatur Balzer, Stefan, 2000: Internationale Schutzgebietssysteme, insbesondere Natura 2000 als Bestandteil eines bundesweiten Vorrangflächenkonzepts, in: Ssymank, Axel: Vorrangflächen, Schutzgebietssysteme und naturschutzfachliche Bewertung großer Räume in Deutschland. Schriftenreihe für Naturschutz und Landschaftspflege. Münster, 147-168. BfN – Bundesamt für Naturschutz, 2005: Daten zur Natur 2005. Münster. Bick, Hartmut/Obermann, Horst, 2000: Stiefkind Naturschutz – Misere und Chancen des Naturschutzes in Deutschland. In: Köller, Henning von (Hg.): Umweltpolitik mit Augenmaß. Gedenkschrift für Staatssekretär Günter Hartkopf anlässlich seines 10. Todestages am 19. September 1999. Berlin. Czada, Roland, 2003: Der Begriff der Verhandlungsdemokratie und die vergleichende Policy-Forschung. In: Mayntz, Renate/Streek, Wolfgang (Hg.): Die Reformierbarkeit der Demokratie. Innovationen und Blockaden. Frankfurt a.M., 173-204. Fischer-Hüftle, Peter, 2007: Zur Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet „Naturschutz und Landschaftspflege” nach der Föderalismusreform, in: Natur und Recht 29 (2): 78-85. Gellermann, Martin, 1998: Natura 2000. Europäisches Habitatsschutzrecht und seine Umsetzung in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin. Güthler, Wolfram/Kretzschmar Christina/Pasch, Dieter, 2003: Vertragsnaturschutz in Deutschland: Verwaltungs- und Kontrollprobleme sowie mögliche Lösungsansätze. BfN-Skripten 86. Bonn. Haaren, Christina von, 2004: Werthintergrund, Ziele und Aufgaben der Landschaftsplanung, in: dies. (Hg.): Landschaftsplanung. Stuttgart, 32-70.

Naturschutzpolitik in den Bundesländern

273

Jänicke, Martin, 1997: The Political Systems Capacity for Environmental Policy, in: Jänicke, Martin/Weidner, Helmut (Hg.): National Environmental Policies. A Comparative Study of Capacity-building. Berlin u.a., 1-24. Koch, Hans-Joachim, 2004: Naturschutz und Landschaftspflege in der Reform der bundesstaatlichen Ordnung. Rechtsgutachten im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz. BfN-Skripten 109. Bonn. Lehmbruch, Gerhard, 1976: Parteienwettbewerb im Bundesstaat. Wiesbaden. Lehmbruch, Gerhard, 32000: Parteienwettbewerb im Bundesstaat. Regelsysteme und Spannungslagen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden. Louis, Hans-Walter, 22000: Bundesnaturschutzgesetz. Kommentar der unmittelbar geltende Vorschriften. Braunschweig. Messerschmidt, Klaus (Hg.), 2000: Bundesnaturschutzrecht. Kommentar und Entscheidungen zum Bundesnaturschutzgesetz einschließlich der Naturschutzgesetze der Länder. Loseblatt-Werk (Stand 2000). Heidelberg. Scharpf, Fritz W., 1985: Die Politikverflechtungsfalle. Europäische Integration und internationaler Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift, 26 (4): 323-356. Scharpf, Fritz W./Reissert, Bernd/Schnabel, Fritz, 1976: Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg/Ts. Schmidt, Alexander/Zschiesche, Michael/Rosenbaum, Marion, 2004: Die naturschutzrechtliche Verbandsklage in Deutschland. Praxis und Perspektiven. Berlin. Schmitz, Holger/Bröder, Moritz, 2002: Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes vom 3. April 2002. Angewandte Geographie (2): 76-80. SRU – Sachverständigenrat für Umweltfragen, 2007: Umweltverwaltungen unter Reformdruck: Herausforderungen, Strategien, Perspektiven. Sondergutachten. Wiesbaden. Töller, Annette, 2002: Komitologie. Theoretische Bedeutung und praktische Arbeitsweise von Durchführungsausschüssen in der Europäischen Union am Beispiel der Umweltpolitik. Opladen. Volkery, Axel, 2001: Die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes. Chancen und Restriktionen einer Neuorientierung der Naturschutzpolitik in Deutschland. Frankfurt am Main. Volkery, Axel, 2007: Föderalismus und Naturschutz. Anatomie eines Spannungsfelds. Wiesbaden. Wachendorfer-Schmidt, Ute, 22005: Politikverflechtung im vereinigten Deutschland. Wiesbaden. Weidner, Helmut/Jänicke, Martin, 2002: Summary: Environmental Capacity Building in a Converging World, in: Dies. (Hg.): Capacity-Building in Environmental Policy. Berlin et al., 409-443.

Verwaltungspolitik in den Bundesländern: Vom Stiefkind zum Darling der Politik Verwaltungspolitik in den Bundesländern

Jörg Bogumil und Falk Ebinger

1

Einleitung

In den letzten Jahrzehnten war die Verwaltungspolitik auf der Ebene der deutschen Bundesländer ein eher beschauliches Politikfeld. Nach den erfolgreichen Gemeindegebietsreformen und den mit unterschiedlicher Konsequenz umgesetzten Kreisgebietsreformen der 60er und 70er Jahre wurde bereits die damit zusammenhängende Funktionalreform in den allermeisten Ländern nur noch zaghaft angegangen1. Auch Debatten der 60er und 70er Jahre zur Verbesserung staatlicher Steuerungsfähigkeit und Anstöße zur Aufgabenkritik konnten dem Status Quo der Landesverwaltung nur wenig anhaben. Und die sich in den 90er Jahren intensivierende nationale und internationale Diskussion um Verwaltungsreformen unter dem „Paradigma“ des New Public Managements und des „Neuen Steuerungsmodells“2 wurde, anders als auf kommunaler Ebene, in den Landesverwaltungen vor allem in Form einzelner Vorzeigeprojekte aufgegriffen3. Diese eher magere Reformgeschichte bedeutete für die vergleichende Verwaltungswissenschaft, dass es wenig Gelegenheit für den Vergleich substanzieller struktureller Innovationen auf Landesebene gab. Dieser Befund einer statischen und in der Regel ständig wachsenden Landesverwaltung muss nun seit einigen Jahren grundlegend revidiert werden: Nicht nur, dass es den Ländern wie allen Verwaltungsebenen seit ihrer größten Ausdehnung Mitte der 90er Jahre gelang, in beachtlichem Umfang Personal abzubauen (vgl. Jann/Wegrich/Tiessen 2007). Auch in die Verwaltungspolitik der Länder kam Bewegung: Innerhalb weniger Jahre hat die große Mehrheit der Regierungen der Flächenländer mehr oder weniger einschneidende, zumindest jedoch erwähnenswerte Veränderungen in ihren Verwaltungsorganisationen vorgenommen oder leitete zumindest erste Schritte in diese Richtung ein. Vor dem Hintergrund bisheriger verwaltungswissenschaftlicher Erkenntnisse, nach denen Verwaltungsstrukturreformen und insbesondere damit verbundene personal- und haushaltswirksame Maßnahmen kaum in konsistenter und zielführender Form durchzusetzen seien, muss diese Geschäftigkeit überraschen. Noch weit verblüffender sind die Tragweite der einzelnen Reformmodelle und der große Erfolg bei ihrer Implementation. Die wie

1 Lediglich Nordrhein-Westfalen bildete eine gewisse Ausnahme, hier wurde durch eine Funktionalreform das Aufgabenportfolio der kommunalen Ebene signifikant vergrößert. 2 Vgl. Naschold/Bogumil 2000, Jann et al. 2004 und Bogumil et al. 2007. 3 Vgl. Reichard 2004.

276

Jörg Bogumil und Falk Ebinger

selbstverständliche Durch- und Umsetzung umfassender monolithischer Reformkonzepte erscheint wie aus einem verwaltungspolitischen Paralleluniversum. Der Schlüssel zur Erklärung dieses Phänomens liegt einerseits in dem höheren budgetären Druck, der auf den Landesregierungen lastet. Ermöglicht werden diese Maßnahmen jedoch zweifelsohne erst durch eine veränderte Strategie der Landesregierungen in der Konzeption und Durchsetzung ihrer Pläne. Dieser Strategiewechsel soll im Folgenden genauer untersucht werden. Dazu werden die Besonderheiten des Politikfeldes Verwaltungspolitik und die darin bedingten klassischen Reformhemmnisse dargestellt. Daran anknüpfend werden die neuen Reformkonzepte und die veränderten Implementationsstrategien vorgestellt und ihre tendenziellen Auswirkungen diskutiert.

2

Beständigkeit der Verwaltung

Wer sich erinnern möchte, wie Verwaltungsentwicklung vor dem Reformboom der letzten Jahre vonstattenging, kann dies bei Thomas Ellwein nachlesen. Der fasste nach seiner Emeritierung seine Erfahrungen mit Verwaltungsmodernisierungen in einem Gutachten folgendermaßen zusammen: „Arbeit an der öffentlichen Verwaltung, Verwaltungspolitik also, erfordert […] Perspektiven, also mehr oder weniger klare Zielvorstellungen, einen langen Atem und viel Geduld“ (Ellwein 1993: 2)4.

Wenn wir auf die Prozesse und die im besten Falle bescheidenen Ergebnisse der Reformbemühungen von den 70er bis zu den 90er Jahren zurückblicken, so wird deutlich, dass die beiden als wesentlich bezeichneten Elemente – klare Zielvorstellungen und Zeit – meist nicht vorhanden waren. Will man die genauen Gründe für die hohe Persistenz der öffentlichen Verwaltung verstehen, so muss das Politikfeld Verwaltungspolitik im Detail betrachtet werden. Verwaltungspolitik kann als der Versuch bezeichnet werden, Verwaltungshandeln durch Veränderungen der Strukturen des öffentlichen Sektors (Personal, Organisation und Verfahren) zu beeinflussen. Verwaltungspolitik ist im Vergleich zu anderen Politikfeldern von Besonderheiten geprägt, welche simple Reformstrategien unterlaufen und die beobachtete historische Statik verständlich machen. Zuallererst handelt es sich bei Verwaltungspolitik um eine sehr indirekte Form der politischen Steuerung. Das Politikfeld ist in seinen Wirkungszusammenhängen sehr komplex, bestenfalls kann ein mittelbarer Zusammenhang zwischen Institutionenpolitik und einem Outcome im Sinne gesellschaftlich spürbarer positiver Effekte hergestellt werden (Bogumil 2007: 112). Entsprechend fällt sowohl die Gestaltung als auch die Rechtfertigung derartiger Politiken schwer.

4 In seiner auch heute noch sehr lesenswerten Monographie Das Dilemma der Verwaltung von 1994 überschrieb er damals sehr treffend ein Kapitel mit „Merkmale der modernen Verwaltung: Dauerhaftigkeit, Selbständigkeit, Wachstum“ (Ellwein 1994: 39).

Verwaltungspolitik in den Bundesländern

277

Weiterhin ist die Reichweite von Reformkonzepten schon allein dadurch begrenzt, dass jede Umgestaltung während des laufenden Betriebs erfolgen muss. Der von der Politik zu verantwortende und von der Verwaltung leicht zu instrumentalisierende Funktionsverlust während des Umbaus verbietet deshalb weit reichende Konzepte oft von vorne herein. Neben diesen gelegentlich auch in anderen Politikfeldern auftretenden Problemlagen ist Verwaltungspolitik darüber hinaus von spezifischen Charakteristiken geprägt: Zu nennen ist die hohe Verflechtung mit anderen Arenen wie anderen föderalen Ebenen und einzelnen Sachpolitiken. Diese verkompliziert bereits kleinere Maßnahmen stark und schafft durch eine hohe Zahl an Akteuren und Profiteuren im staatlichen und nichtstaatlichen Bereich ein nicht zu unterschätzendes Vetopotential. Zweitens muss generell das hohe Widerstandspotential der unmittelbar betroffenen Verwaltungseinheiten (und ihrer Fachressorts) betont werden. Diese sind gleichzeitig Subjekt und Objekt von Verwaltungsreformen und können mittels überlegener Sachkenntnis und der Besetzung von Schlüsselpositionen intensiven Einfluss auf die Reformagenda, die Konzeptentwicklung und die Umsetzung nehmen (vgl. Schnapp 2004: 81f., Ellwein 1994: 55, 61f., 83ff.). Entsprechend müssen inhaltlich intelligente Reformkonzepte, d.h. Konzepte welche die Sachkompetenz der Verwaltung einbeziehen, einen umfangreichen Aushandlungs- und Abstimmungsvorgang durchlaufen und werden dabei in vielfältiger Form verändert. Schlussendlich hängt das Ausmaß, in dem es einer Fachverwaltung und ihrem Netzwerk gelingt, ein Reformkonzept zu „kapern“ und seine Auswirkungen zu relativieren oder umzuleiten maßgeblich davon ab, zu welchem Grad eine Regierung die Kontrolle nicht nur über den Ausarbeitungs-, sondern auch über den Umsetzungsprozess behält. Gerade in der Implementation liegen für die betroffenen Verwaltungen große Chancen zur Zielverschiebung (vgl. Pressman/Wildavsky 1973; Scharpf 1987; McCubbins/Noll/Weingast 1989; Schnapp 2004). Fachegoismen auf ministerieller Ebene, die bei Regierungskoalitionen übliche Inkonsistenz in Detailfragen und der für eine diskursive Konzeptentwicklung zwingend notwendige Verhandlungsspielraum geben gewieften Verwaltungschefs Raum zur Sicherung ihrer Organisationen. In diesen Punkten liegt der Schlüssel zum systemimmanenten Scheitern der üblichen Reformansätze: Die notwendige „klare Zielvorstellung“ der Politik kann in der Regel in dem dargestellten Verhandlungssystem nicht formuliert werden. Trotz dieser modernisierungsfeindlichen Charakteristiken fanden zahlreiche Veränderungsversuche und auch einige erfolgreiche Reformen in den Ländern statt. Auch wenn jeder einzelne Reformprozess und die dabei erzielten Ergebnisse von individuellen Bedingungen abhängen, so ließen sich aus einer Sichtung der Literatur (Ellwein, Scharpf, Naschold, Jann, Benz, Seibel) und eigenen Erfahrungen bisher doch eine Reihe von generellen Aussagen zu den Erfolgsfaktoren klassischer Reformvorhaben formulieren (vgl. Bogumil 2007). So bedingen die Charakteristiken und Aufgaben einer Verwaltungseinheit die Möglichkeiten ihrer Mitarbeiter, Reformvorhaben von vorneherein durch Geltendmachen ihrer fachlichen Autorität oder durch Zielverschiebung im Ausarbeitungs- oder Implementationsprozess scheitern zu lassen. Näher am Machtzentrum angesiedelte Verwaltungen – wie bspw. Ministerien – sind schwer, eher bürgernahe Verwaltungszweige wie bspw. Kommunalverwaltungen leichter zu reformieren. Grundsätzlich scheinen Rechtsnormen sowie Organisationsstrukturen von Verwaltungseinheiten „weichere“ Reformobjekte als der Personalbe-

278

Jörg Bogumil und Falk Ebinger

reich und die Finanzen zu sein (Seibel 1998). Großer Problem- oder Veränderungsdruck erhöht die Chancen der Reformumsetzung. Dabei übt verwaltungsexterner Druck stärkere Zwänge aus als verwaltungsinterner. Zentral ist weiterhin die Schaffung eines institutionellen oder individuellen Eigennutzes für die reformierte Verwaltung oder zumindest deren Koalition. Schließlich zeigte jahrzehntelange Erfahrung, dass „begrenzte“ Reformansätze eine weit größere Durchsetzungschance als umfassende Konzepte hatten. Je spezifischer einzelne Aufgaben und Institutionen angesprochen wurden, desto eher konnte der Widerstand der Reformgegner in der Verwaltung „wegverhandelt“ oder „gekauft“ werden. So standen am Ende meist wenig konsistente und wenig weitreichende Modelle. „Große Würfe“ und überhaupt nicht kompromissfähige Ansätze hatten bisher faktisch keine Umsetzungschance. Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass angesichts der bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen und der Akteurskonstellationen die Aussichten für umfassende Verwaltungsreformen prinzipiell begrenzt sind. Diese Tatsache war und ist den Akteuren in Politik und Verwaltung auch bewusst. Ellwein setzte für seine eigenen – und keinesfalls extremen – Reformvorschläge auf Landesebene einen Umsetzungszeitraum von 8 bis 10 Jahren nach Abschluss der politischen Willensbildung an (Ellwein 1993: 4). Für einen erfolgreichen Modernisierungsschritt mussten reformwillige Landesregierungen einen hervorragenden Überblick über die organisatorischen Zusammenhänge und Akteurskonstellationen, extreme Durchsetzungsfähigkeit und einen hohen, gewöhnlich eine Legislaturperiode übersteigenden Zeiteinsatz mitbringen. Erreicht wurden dabei in der Regel keine geplanten Problemlösungen, sondern im besten Fall inkrementalistische Weiterentwicklungen mit weitestgehend konsensualen Veränderungen, oftmals orientiert an historisch angelegten Lösungsmustern und betrieben von den Verwaltungen selbst. Diese Anforderungen und Perspektiven machten Verwaltungspolitik auch in den Ländern bis vor wenigen Jahren zu einem für die Politik extrem risikoreichen und damit wenig lohnenden, gar gefährlichen Politikfeld. Während die Mehrzahl dieser Erfahrungen auch heute noch Gültigkeit hat, wurden andere mit den neuen Verwaltungsreformen der Länder radikal widerlegt.

3

Neuere Verwaltungsreformen der Länder

Seit nicht einmal fünf Jahren steht die beschriebene, bisher so geregelte Welt der Verwaltungsreformen in den Bundesländern Kopf. Schon in den Jahren zuvor, seit dem Ende der 90er Jahre, waren erste bemerkenswerte Reformprojekte angestoßen worden. Dann griff der Reformeifer im Bereich der überkommenen Verwaltungsstrukturen wie ein Lauffeuer um sich. Mittlerweile haben – wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Instrumenten – fast alle Flächenländer Maßnahmen im Bereich der Verwaltungsstrukturreformen eingeleitet (vgl. Brenski 2004; Brenski/Liebig 2007). Damit stellen sie sich der schon lange von der Verwaltungswissenschaft eingeforderten Aufgabe, zu einer Konzentration und Straffung der unmittelbaren Staatsverwaltung zu kommen. Alle Reformprojekte verbindet die Zielsetzung, einen Beitrag zur Entlastung der Länderhaushalte zu leisten, deren dringend notwendige Konsolidierung nicht mehr weiter ignoriert werden kann. Insbesondere unter der Drohung unbezahlbarer Pensionslasten sowie in den östlichen Bundesländern in Vorausschau auf das Ende des Solidarpakts II und

Verwaltungspolitik in den Bundesländern

279

der absehbaren demographischen Entwicklung5 werden Mittel und Wege gesucht, die in allen Ländern mit einem Anteil von über 40 Prozent im Gesamthaushalt zu Buche schlagenden Personalkosten zu senken. Hier liegt ein gravierender Unterschied zu den „klassischen“ Reformprojekten: Es wird nicht mehr die Optimierung in funktionaler, sondern sehr offen jene in fiskalischer Hinsicht angestrebt. Daneben werden in den Ländern in unterschiedlicher Kombination weitere Ziele verfolgt, sei es die Veränderung der Machtkonstellationen zwischen Verwaltungsebenen bzw. die Schwächung bestimmter Veto-Spieler, sei es die ideologiegetriebene Beförderung marktliberaler Vorstellungen oder lediglich purer Aktionismus aus wahltaktischem Kalkül. Kurioserweise zitieren die Regierungen – trotz gegensätzlicher Parteikonstellationen und der höchst unterschiedlichen inhaltlichen Ausgestaltung der Modelle – die gleiche einfache Checkliste bei der Konzeptentwicklung. Danach sollen die Landesaufgaben dahingehend überprüft werden, ob sie erstens ersatzlos entfallen, zweitens privatisiert, drittens zumindest kommunalisiert und schließlich – wenn keine dieser Optionen politisch opportun erscheint – innerhalb der staatlichen Strukturen optimiert werden können. Wie zu zeigen sein wird, entspricht die Realität dieser eine ergebnisoffene Aufgabenkritik erfordernden Blaupause jedoch kaum. In der Praxis wird vorrangig versucht, Doppelstrukturen aus Sonderbehörden und Mittelinstanzen abzubauen und Verwaltungsträger mit festen Einsparquoten zu belegen. Die durchgeführten Kommunalisierungen und Privatisierungen sind Resultat einfacher politischer und ideologischer Zielvorstellungen, kaum durchdachter und funktional optimierter Konzepte. Zusammenfassend lassen sich in den 13 Flächenländern grob folgende Reformpfade unterscheiden: a.

b.

Staatliche und kommunale Konzentration im Rahmen der Zweistufigkeit: Kennzeichen der zweistufigen Konzentration ist es, dass es keine allgemeine Mittelinstanz mehr gibt (Schleswig-Holstein, Brandenburg, Saarland, Mecklenburg-Vorpommern) oder sie abgeschafft wird (Niedersachsen im Jahr 2005). Es wird versucht, die dadurch in stärkerem Ausmaß vorhandenen Sonderbehörden durch Zusammenführung (Konzentration) oder Umwandlung in Landesbetriebe zu reduzieren. Zudem wird eine Reduzierung des Umfangs der unteren Landesverwaltung angestrebt. Dies geschieht durch ihre Integration in obere Landesbehörden oder indem Aufgaben auf Kommunen und Kreise (als Auftragsangelegenheiten oder Pflichtaufgaben) verlagert werden. Die kommunale Konzentration ist in Mecklenburg-Vorpommern und im Saarland am fortgeschrittensten. Staatliche Bündelung im Rahmen der Dreistufigkeit: Dieses grundsätzliche Modell ist in Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Rheinland-Pfalz anzutreffen. Hier gibt es verschiedenste Formen von staatlichen Mittelinstanzen. Weder ihre Aufgabenwahrnehmung noch ihre Einbindung in die Verwaltungsstruktur sind bundesweit einheitlich. Grob lassen sich drei Typen unterscheiden: der dreistufige Aufbau mit Landesverwaltungsämtern in Sach-

5 Helmut Seitz erstellte zu dieser Problematik eine Reihe von Gutachten für ostdeutsche Bundesländer, in denen die Notwendigkeit zum Umsteuern sehr eindrücklich dargestellt wird, vgl. bspw. Seitz/Peters 1999, Seitz 2005.

280

Jörg Bogumil und Falk Ebinger sen-Anhalt6 und Thüringen7, der dreistufige Aufbau mit funktionalem Aufgabenzuschnitt in Rheinland-Pfalz8, der dreistufige Aufbau mit regional ausgerichteten Mittelinstanzen in Hessen, Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Nordrhein-Westfalen9. Ausgehend von diesem dreistufigen Aufbau wird im Zuge der Reformen in der Regel eine Fokussierung versucht, indem bisher wahrgenommene Aufgaben entsprechend politischer Leitlinien privatisiert oder auf die kommunale Ebene abgegeben und die Behörden z.T. neu ausgerichtet werden. Dabei ist durch die Integration von unteren und oberen Sonderbehörden häufig sogar ein Aufgabenzuwachs auf der Mittelebene zu beobachten.

Bei der Umsetzung der Reformmaßnahmen gehen die Länder sehr unterschiedlich vor. So können Bayern, Brandenburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, das Saarland und Thüringen aufgrund des geringen Umfangs oder der behutsamen Entwicklung und Umsetzung der Reformschritte derzeit als inkrementalistische Reformer bezeichnet werden. Baden-Württemberg, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, NRW, Sachsen und Sachsen-Anhalt hingegen verfolgen tendenziell eine Strategie eines „großen Wurfes“, versuchen also gegen starken Widerstand in wenigen Schritten große Reformpakete durchzusetzen. Zur Veranschaulichung dieser Vorgehensweise sollen hier die entscheidenden Erfolgsfaktoren der Verwaltungsstrukturreformen in den beiden Vorreiterländern Baden-Württemberg und Niedersachsen vorgestellt werden (vgl. Bogumil/Ebinger 2005; Bogumil/Kottmann 2006).

6 In Sachsen-Anhalt wurde zum 01.01.2004 ein Landesverwaltungsamt (LVwA) in Halle mit Außenstellen in Magdeburg und Dessau eingerichtet, weiterhin wurde die Zahl der Sonderbehörden stark reduziert. Zum 01.07.2007 wurden durch eine Territorialreform die Zahl der Kreise von 21 auf 11 gesenkt und Aufgaben kommunalisiert. 7 Von Stellung und Aufgaben her ähnelt das LVwA weitgehend den Regierungspräsidien bzw. Bezirksregierungen in anderen Ländern (Peter 2004: 307). Es ist jedoch für das gesamte Territorium des Freistaats Thüringen zuständig; insofern stellt es nach diesem Kriterium eine Landesoberbehörde dar (vgl. Helbing 1998: 76). 8 Rheinland-Pfalz verfügte bis zum Jahr 2000 über einen dreistufigen, an regionalen Kriterien orientierten Verwaltungsaufbau mit drei Bezirksregierungen in Neustadt an der Weinstraße, Koblenz und Trier. Diese wurden im Rahmen des Verwaltungsorganisationsgesetzes (VwORG) durch so genannte Direktionen mit funktionalem Aufgabenzuschnitt ersetzt (vgl. Stadelmaier/Konzendorf 2004: 730; Bogumil et al. 2004: 48). Die Standorte der Mittelbehörden blieben dabei erhalten, sie erhielten jedoch ortsweise andere Zuständigkeiten; außerdem wurden 30 Sonderbehörden in sie integriert. 9 In Hessen soll bis zum Jahr 2008 ein Gesamtkonzept umgesetzt werden, das zu einer Stärkung der drei Regierungspräsidien als Bündelungs- und Einheitsbehörden führen soll, indem eine organisatorische Straffung und Verschlankung der Behörden sowie eine Beschränkung auf die Kernfunktion der Bündelung realisiert wird (vgl. Brenski 2004: 192.). In Sachsen wurden nach einem Grundsatzbeschluss 2004 bereits 2005 zahlreiche staatliche Behörden fusioniert. In einem weiteren Reformschritt soll zum 01.07.2008 die Zahl der Kreise von 22 auf 10 und die der kreisfreien Städte von 7 auf 3 reduziert werden. Zeitgleich sollen umfangreiche Aufgabenblöcke kommunalisiert und die Regierungspräsidien in sog. „Landesdirektionen“ umgewandelt werden. Zu Baden-Württemberg und NRW vgl. Bogumil et al. 2004 und Bogumil/Ebinger 2005. In NRW strebt die neue Landesregierung eine Regionalisierung im Rahmen der Dreistufigkeit an, ein Modell, welches bislang in keinem Land praktisch umgesetzt wurde: Die Regierungspräsidien sollen abgeschafft werden. An ihre Stelle sollen Regionalverbände oder Regionalverwaltungen treten, die nicht mehr Teil der staatlichen Landesverwaltung wären, sondern selbständige Verwaltungsträger, die staatliche Aufgaben als Auftragsaufgaben ausführen. Diese Organe sollen ergänzt werden durch in direkter oder indirekter Wahl demokratisch legitimierte Versammlungen. In einem ersten Reformschritt wurden zum 01.01.2007 35 staatliche Sonderbehörden aufgelöst und zum größten Teil in die Bezirksregierungen integriert, für 2008 ist eine Funktionalreform mit dem Ziel weit reichender Aufgabenkommunalisierungen geplant.

Verwaltungspolitik in den Bundesländern

281

In Baden-Württemberg wurde noch während der Regierungszeit von Ministerpräsident Erwin Teufel beschlossen, zum 1.1.2005 350 Sonderbehörden abzubauen, zusammenzulegen oder in die allgemeine Verwaltung einzugliedern. Von den Maßnahmen waren ca. 20.000 Beschäftigte betroffen. In der Regel wurden die Aufgaben eigenständiger Fachbehörden in die allgemeine Verwaltung auf Ebene der Mittelbehörden und der Kommunen verlagert, so dass man sich hier eindeutig am Prinzip der konzentrierten Dreistufigkeit orientierte. In Niedersachen ist mit dem Regierungsantritt von Ministerpräsident Wulff der genau entgegen gesetzte Weg gegangen worden, indem die Auflösung der vier Bezirksregierungen und die Verteilung ihrer Aufgaben auf Ministerien, Sonderbehörden und Kommunen beschlossen wurde, eine klare und für ein Flächenland völlig neue Ausrichtung an der Zweistufigkeit. Im Folgenden sollen nun nicht die Zielsetzung der Verwaltungsstrukturreformen länderspezifisch dargestellt oder ihre individuellen Auswirkungen bewertet werden. Im Vordergrund steht vielmehr die Modernisierungsstrategie des „Großen Wurfs“, auf welcher der Erfolg der jüngsten Reformprojekte beruht. Deren Entwicklung konnte bei der Arbeit an diversen Studien, Gutachten und Stellungnahmen über die Reformentwicklungen beobachtet werden (vgl. Bogumil/Ebinger 2005; Bogumil/Kottmann 2006; Bauer et al. 2007; Sachverständigenrat für Umweltfragen 2007).10

4

Gründe für die neue Verwaltungspolitik

Der Wandel in der politischen Steuerung von Verwaltungspolitik lässt sich mit dem Zusammentreffen der folgenden Umstände erklären: Erstens führten die prekären Haushalte der Länder und das unaufhaltsam erscheinendes Wachstum der Personal- und insbesondere Pensionslasten dazu, dass die reformpolitische „Selbststeuerung“ der Verwaltung mehr und mehr an Glaubwürdigkeit verlor. Fast könnte man sagen, dass die Regierungen durch diese nicht mehr zu ignorierende Entwicklung aus dem sich öffnenden „Möglichkeitsfenster“ gestoßen wurden, da eine weitere Passivität in diesem Feld im Parteienwettbewerb nicht mehr zu vertreten gewesen wäre. Druck alleine wäre jedoch kein Grund für eine Befassung der Politik mit dem „heißen Eisen“ Verwaltungspolitik gewesen. Attraktiv für eine größere Zahl von Regierungen wurde das Politikfeld erst, als eine Möglichkeit zur Überwindung der oben ausgeführten Reformhemmnisse gefunden schien. Angesichts der Reformkaskade und der Ähnlichkeit der Ansätze kann davon ausgegangen werden, dass Landesregierungen voneinander lernen und erfolgreiche Konzepte innerhalb kurzer Zeit kopieren. Einmal in Gang gekommen wurde dieser Lernprozess dadurch forciert, dass große Verwaltungsreformen beinahe zum Pflichtprogramm jeder Regierung als Ausweis ihrer Handlungsfähigkeit und Reformorientierung wurden. Der Institutionenwandel kann entsprechend als Ergebnis eines länderunabhängigen institutionellen Isomorphismus interpretiert werden (DiMaggio/Powell 1983).

10 Vgl. zu Zielsetzungen und Strukturveränderungen neben den genannten Veröffentlichungen Brenski 2004; Brenski/Liebig 2007; Hesse/Götz 2003, 2004; Reichard 2004.

282

Jörg Bogumil und Falk Ebinger

Schließlich brachten oft länderspezifische Faktoren den Ausschlag, welche sich angesichts des großen Drucks und der zumindest scheinbaren Abhilfe durch Strukturreformen zu treibenden Kräften der Reformprojekte entwickelten. Hier ist zweifelsohne der noch nicht abgeschlossene Konsolidierungsprozess der Verwaltungsstrukturen in Ostdeutschland zu nennen. Insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen finanziellen und demographischen Herausforderungen werden die im Zuge der Wiedervereinigung geschaffenen, „unpassenden“ Strukturen der Landesverwaltungen und der territorialen Gliederung durch Verwaltungsumbau und teilweise durch Gemeinde- und Kreisgebietsreformen angepasst. Auch ist zu beobachten, dass Länder mit einschneidenden Regierungswechseln (wie in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen) zu starken Strukturveränderungen neigen. Die Politiker und Funktionäre der neuen Regierung stauten in teilweise langen Jahren der Opposition offensichtlich starke inhaltliche, aber auch politisch und ideologisch motivierte Vorbehalte gegen die überkommenen Verwaltungsstrukturen und ihr Personal auf. Nach den gewonnenen Wahlen manifestiert sich diese Kritik in einem enormen Handlungsdruck auf das Kabinett. Es wird erwartet, dass die oft radikalen Reformkonzepte der Wahlprogramme nun auch wirklich in die Tat umgesetzt werden. Schließlich können herausragende Akteure wie beispielsweise der ehemalige Baden-Württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel eine über das übliche Maß hinaus entscheidende Rolle in einem Reformprozess einnehmen11. Die Entwicklung des Reformprozesses in den einzelnen Ländern scheint generell nur mit einer Kombination der genannten Gründe erklärt werden zu können. Damit sind eine trennscharfe Einordnung und ein unmittelbarer Vergleich der Länder nicht möglich. So widersprechen die Fälle den sich aufdrängenden Hypothesen zu Reformgründen und -pfaden wie beispielsweise Parteikonstellation, Haushaltssituation oder Regierungswechsel. So leidet Baden-Württemberg weder an einer im Vergleich dramatischen Verschuldung noch fand eine Wahl, geschweige denn ein Regierungswechsel statt. Trotzdem war das Land neben Niedersachsen der Vorreiter in der Umsetzung eines „großen Wurfes“. Niedersachsen seinerseits kann zwar einen einschneidenden Regierungswechsel vorweisen, baute die Verwaltung jedoch in einem völlig gegensätzlichen Schritt zur Zweistufigkeit hin um und wählte trotz des größeren Drucks mit dem Grundsatz „Personal folgt nicht der Aufgabe“ ein finanziell zumindest mittelfristig weit weniger lukratives Reformmodell. Ein Großteil der Länder, welche gegenwärtig umfangreiche Verwaltungsreformen betreiben, könnten des Weiteren der Gruppe der imitierenden Laterunner zugeordnet werden, auch wenn sich die Ausgangslage wie auch die angestrebten Strukturen hier grundsätzlich unterscheiden.

5

Erfolgsfaktoren der neuen Verwaltungsreformen

Auch wenn die aktuellen Verwaltungsstruktur-Reformmaßnahmen sich in ihrer inhaltlichen Ausrichtung teilweise diametral gegenüber stehen, ähneln sich insbesondere die „Großen Würfe“ in der politischen Steuerung frappierend. Viele Charakteristiken der klassischen 11 Eine Darstellung der „Großen Verwaltungsstrukturreform“ in Baden-Württemberg und Erklärungsansätze für diesen spezifischen Fall finden sich in Bogumil/Ebinger 2005.

Verwaltungspolitik in den Bundesländern

283

und meist erfolglosen Reformansätze der Vergangenheit sind nicht mehr zu finden. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die die Konzeptentwicklung erschwerten und zur Stärkung der Beharrungskräfte der Verwaltung beitrugen, also direkt die von Ellwein betonten kritischen Faktoren klare Zielvorstellungen und Zeit betrafen. So wird erstens in der neuen Reformgeneration keine inkrementalistische, kleinschrittige und diskursive Evolution der Verwaltung angestrebt. Zweitens wird die Grobkonzeption nicht mehr von der Ministerialbürokratie selbst – in den Ressorts oder in ressortübergreifenden Gruppen – entwickelt, sondern es werden eine verwaltungsexterne politische Blaupause sowie ein Implementationskonzept und die zu erzielenden Einsparziele strikt vorgegeben. Drittens wird nicht mehr die intuitiv „richtige“ Reihenfolge mit einer Aufgabenkritik, daran anschließender Funktionalreform und schließlich einer differenzierten und optimal angepassten Strukturreform eingehalten. Stattdessen wird die Chronologie umgedreht und das grundlegende Strukturkonzept dogmatisch als Wert an sich durchgesetzt. Die Funktionalität der Strukturen ist dabei nachrangig. Viertens wird nicht mehr wie bei inkrementellen Reformen früher üblich um eines Kompromisses willen eine teure „Win-Win“Situation geschaffen. Im Gegenteil werden oft einseitig politische Klientelinteressen oder ideologische Wunschvorstellungen durchgesetzt. Inhaltlich setzt die neue Politik auf eine Verbindung von massiver (Personal-)Kostenreduktion mit radikalen politischen Strukturentscheidungen. Diese Vorgehensweise sorgt für klare Zielsetzungen und verbindet diese mit einer massiven Reduzierung der Zahl der Vetospieler. So werden selbst die Durchsetzung umfangreichster Reformen und das Aufbrechen historischer Strukturen möglich. Als Beispiele für den Erfolg dieser Strategie können vorrangig die Reformen in Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch die derzeitigen Entwicklungen in Nordrhein-Westfalen und in mehreren ostdeutschen Bundesländern dienen. Folgende Strategieelemente lassen sich unterscheiden: a.

b.

c.

Im Vorfeld der Neugestaltung werden auf politischer Ebene die Eckpunkte der Reform einschließlich der zukünftigen strukturellen Ausrichtung und der wirtschaftlichen Ziele beschlossen. Dies geschieht in Ad hoc-Komitees unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ohne eine detaillierte Aufgabenkritik und ohne eine intensive Einbeziehung der Verwaltungen. Damit werden Unruhe und Kritik der Verwaltung und eine Diskussion in der Öffentlichkeit während der Planungsphase vermieden. Die politisch vorgegebenen Eckpunkte der Reform werden als monolithische, nicht zu diskutierende Reformpakete dargestellt und entsprechend vermarktet. Mit dem Argument, dass die Reform nur als ganze umgesetzt und Ausnahmen nicht gemacht werden können, entziehen sich die Regierungen der bei inkrementalistischen Reformen üblichen, aufreibenden Kompromisssuche auf fachlicher Ebene. Nach den politischen Grundsatzentscheidungen werden die betroffenen Verwaltungseinrichtungen jeweils selbst beauftragt, zeitnah Vorschläge für die Umsetzung dieser Maßnahmen vorzulegen. Dies beinhaltet, dass die Ressorts eine Aufgabenkritik vornehmen und ein Konzept zur Implementierung der politischen Leitlinien entwickeln müssen. Man kann diesen Vorgang als „unechte“ Aufgabenkritik bezeichnen, da der Prozess nicht offen, sondern sowohl hinsichtlich der zukünftigen Verwaltungsstrukturen als auch in Bezug auf die zu erwirtschaftenden Einsparungen vorgegeben ist.

284

d.

e.

Jörg Bogumil und Falk Ebinger Normalerweise erarbeiten die einzelnen Verwaltungen in einer solchen Situation Hinweise, warum fachliche Belange die geplanten Reformmaßnahmen nicht zulassen. Dies wird hier durch gezieltes und institutionell abgesichertes Prozessmanagement (klare Aufgabenzuteilung und Verflechtung von Controllinginstanzen) verhindert. So werden prinzipiell nur Vorschläge akzeptiert, die auf der Linie des Gesamtpaketes liegen, egal ob sie inhaltlich angemessen sind oder nicht. Zudem werden den Verwaltungen keine weiteren Details vorgegeben, sondern ihnen wird – im Rahmen der generellen Leitlinien – die Umsetzung selbst überlassen. Damit wird die Verantwortung für die Entwicklung des Feinkonzepts den Ressorts selbst übertragen, was eine fachgerechtere Implementation ermöglicht und schwierige Aushandlungsprozesse wie auch die Verantwortung für die Funktionalität der gefundenen Lösungen von der Politik auf die Verwaltung verlagert. Umstrukturierungsmaßnahmen werden mit exakt festgelegten Einsparvorgaben versehen. In Baden-Württemberg ist in den betroffenen Verwaltungsbereichen binnen fünf Jahren eine „Effizienzrendite“ von 20% der Personalkosten des Jahres 2004 zu erwirtschaften. In Niedersachsen sollen durch festgelegte Stelleneinsparungen ebenfalls innerhalb von fünf Jahren Einsparungen in ähnlichen Dimensionen realisiert werden. Zentral ist bei diesen Vorgaben jeweils, dass die einzusparenden Mittel automatisch vom Land einbehalten werden, so dass Ausgabengrenzen nicht einfach ignoriert werden können. Solche Reformstrategien können natürlich nicht gegen die gesamte Landesverwaltung durchgesetzt werden, sondern es werden strategische Bündnisse verschiedener Verwaltungszweige gegen andere geschlossen. Beispielsweise verband sich in Baden-Württemberg Ministerpräsident Teufel mit den Landräten und den Regierungspräsidenten gegen die Ministerialverwaltung und deren nachgeordnete Geschäftsbereiche, in Niedersachsen wurde ein Bündnis der Landräte und der Ministerialverwaltung gegen die Bezirksregierungen realisiert.

In beiden Vorreiterländern ist es mit dieser Strategie gelungen, innerhalb nur eines Jahres die weit reichenden Reformpläne umzusetzen, so dass die Verwaltungen seit Anfang 2005 in den neuen Verwaltungsstrukturen arbeiten. Dieser – vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Erfahrungen unerwartete – Erfolg kann als Initialzündung für eine gänzlich neue Form der Aneignung von Verwaltungspolitik durch die Politik betrachtet werden. Im Folgenden sollen die Handlungsmuster und potentiell erklärenden Variablen dieser Entwicklung in den Ländern dargestellt werden.

6

Verwaltungspolitik – Erfolgreich durch Imitation?

Der immer deutlich sichtbar werdende Siegeszug der „großen Verwaltungsreformen“ kann als Reaktion und Folge eines Lernprozesses der Politik gedeutet werden. Zum einen erwiesen sich inkrementalistische Reformansätze als sehr zeitaufwändig und aufgrund ihrer Kompromissorientierung zudem oft als inhaltlich unbefriedigend. Zum anderen würdigen die Bürger als „Kunden“ der Politik inkrementalistische Reformansätze nur sehr bedingt. Für gewöhnlich gehen partielle und schleichende Reformbemühungen aufgrund ihrer

Verwaltungspolitik in den Bundesländern

285

Komplexität und ihres unspektakulären Charakters im politischen Tagesgeschäft unter. Die neue Politik der „Großen Entwürfe“ stellt eine Lösung für diese Schwierigkeiten des klassischen inkrementalistischen Reformprozesses dar. Erstens können durch einen Totalumbau der Landesverwaltung Vetopositionen „im Handstreich“ zerstört und Machtverhältnisse verändert werden. Damit entfällt der Zwang, die Vorschläge einer echten, d.h. fachlich und nicht ausschließlich politisch begründeten Aufgabenkritik berücksichtigen und Kompromisslösungen eingehen zu müssen. Des Weiteren können durch die Verlagerung nicht nur beträchtliche Einsparungen durchgesetzt werden – mit zusätzlichen Kompetenzen gelockte Verwaltungsebenen erkaufen diese i.d.R. gerne durch die Zusage einer günstigeren Erledigung. Die Realisierung der Kostensenkung wird durch die Kompetenzverlagerungen auch in die Hände Dritter – und damit weg aus der die Regierung direkt belastenden politischen Arena – verlagert. Das wesentliche Motiv für die großen Entwürfe ist die Absicherung einer wirklichen Einsparpolitik, die Stärkung politisch loyaler Verwaltungsebenen und das Verdeutlichen von Reformkompetenz – nicht so sehr ein neues Interesse der Politik für Verwaltungsstrukturen und -verfahren. Da man gelernt hat, dass durchgreifende Reformen mit der Verwaltung kaum zu machen sind, macht man diese gegen Teile der Verwaltung. Angesichts des externen Finanzdrucks und des schlechten Rufs der Bürokratie können inhaltliche Diskussionen um die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen ausgeblendet werden. Die Aufgabe der Reformgestaltung hat sich damit für die Regierungen maßgeblich geändert: Wurde früher nach dem „was“, also den Inhalten einer optimalen Verwaltungsorganisation gefragt, so liegt heute der Fokus auf dem „wie“ der Umsetzungsstrategie. Diese Ausblendung funktionaler und sachlicher Argumente kann aber in der Praxis durchaus zu Problemlagen führen (vgl. Bauer et al. 2007; Bogumil 2007). Die Eindeutigkeit und zeitliche Raffung des Prozesses stellt auch einen Glücksfall für die vergleichende Verwaltungsforschung dar, da Veränderungsprozesse beinahe unter Laborbedingungen untersucht werden können. Dabei scheint sich der in der sog. Skandinavischen Schule der Verwaltungswissenschaft entwickelte transformative approach zu bestätigen, nach dem Veränderungen durch drei Faktoren – Akteure, politisch-administrative Kultur und Tradition und schließlich diffundierende politisch-administrative Ideen – getrieben werden (Jann 2006: 133f.). So sind zum einen in den gewählten Zielstrukturen der Verwaltungsumgestaltung und in der Umsetzungsstrategie große Ähnlichkeiten zu beobachten. Eine Erklärung hierfür wäre eine Angleichung der Verwaltungsgestaltung durch Imitation und Legitimationsdruck, also eine auf mimetischem und normativem Isomorphismus beruhende Konvergenz. Andererseits kann insbesondere im Bereich der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung die bewusste Verfolgung länderspezifischer Sonderwege – aus personellen oder kulturellen Gründen – nachgewiesen werden. Betrachten wir zuerst die Zielstrukturen der Reformen. Als Zielstruktur setzt sich unter den Ländern mit traditionell dreistufigem Verwaltungsaufbau das Modell einer konzentrierten Dreistufigkeit, d.h. die Bündelung von sektoralen Zuständigkeiten in der Allgemeinen Verwaltung, mit bemerkenswerter Einheitlichkeit (einzige Ausnahme bildet hier Niedersachsen) durch. Weiterhin setzen alle Länder, auch solche mit einem traditionell zweistufigen Verwaltungsaufbau, auf eine horizontale Konzentration von Sonderbehörden und auf eine Dezentralisierung von Aufgaben auf die Landkreise und kreisfreien Städte. Diese

286

Jörg Bogumil und Falk Ebinger

Gleichgerichtetheit deutet einerseits auf eine weitgehende Übereinstimmung in der Bewertung der Rolle von Sonderbehörden und dem Willen zur Stärkung der kommunalen Ebene hin. Anderseits scheint man von der Avantgarde der Reformer gelernt zu haben, dass die Modellierung eines klaren Verwaltungsaufbaus, die Reduzierung der Behördenzahl und die generelle Orientierung an den Strukturen statt an den Aufgaben der Verwaltung deutliche Vorteile bei der Vermarktung und Umsetzung eines Reformprojekts mit sich bringt. Diese große Ähnlichkeit zwischen den Ländern setzt sich bei der Technik der Planung und Implementation fort; die politische Führung eignet sich die Verwaltungspolitik in Konzeption und Umsetzung vollständig an. Blaupause dieser Strategie ist die baden-württembergische „Große Verwaltungsreform“. Vom damaligen Ministerpräsident Erwin Teufel in Zusammenarbeit mit weiteren landespolitischen Akteuren entwickelt, zeigt sie bei genauer Betrachtung viele Elemente des von der KGSt in den 80er Jahren für die kommunale Ebene entwickelten Verwaltungsreformmodells der Haushaltskonsolidierung. Damals wurde zur Bewältigung der kommunalen Finanzkrise eine hierarchisch gesteuerte, intransparente „Leistungsausdünnung“ vorgeschlagen. Dabei sollten außerhalb der Verwaltung entwickelte Kürzungspakete unter Zeitdruck und strenger Kontrolle durch die Fachämter vollzogen werden (Holtkamp i.E.; vgl. Banner 1987). Erwin Teufel war zu Beginn seiner Karriere selbst acht Jahre Bürgermeister und hielt stets gute Beziehungen zu den führenden Akteuren in den Landkreisen und Städten. Die Übertragung des verhältnismäßig erfolgreichen KGStKonzepts auf die Not leidende Landesverwaltung war so vermutlich eine nahe liegende Idee. Angesichts der großen Unterschiede zwischen einer Kommune und einem Bundesland setzte dies jedoch eine hohe Transferleistung und exzellente Kenntnisse der machtpolitischen Verhältnisse im Land voraus. Für die politischen Entscheider aus anderen Ländern muss dieses Konzept, einmal ausgearbeitet und erfolgreich getestet, einen immensen Reiz entwickelt haben. Dies lag vermutlich nicht nur an potentiellen Einsparungen, sondern auch an der plötzlich durchsetzbar erscheinenden Option, Machtkonstellationen und Verwaltungsabläufe politisch zu modifizieren. Als machtpolitische Motive können hier das politische „Einfangen“ von für die Regierungen schwer steuerbaren Einheiten wie bspw. fachlich starken Landesbehörden, nachgeordneten Fachbehörden in der Fläche und in einem Einzelfall der Mittelinstanz genannt werden. Aus dieser Perspektive könnte die oben beschriebene Präferenz für eine „konzentrierte Dreistufigkeit“ in der Mehrzahl der großen Flächenländer lediglich eine Auswirkung der dort gegenwärtig dominanten Koalition zwischen Landesregierungen und der Kreisebene sein. Die konzentrierte Dreistufigkeit ist die einfachste Möglichkeit für die Regierungen, die Kommunen ohne Kreisgebietsreform zu stärken und gleichzeitig einen schlagkräftigen ressortübergreifenden Verwaltungsapparat zu behalten. Im Kontext des beschriebenen Wunsches nach besserer politischer Kontrolle der Verwaltung sehen praktisch erfahrene Politiker in den Reformen auch oft eine Möglichkeit zur Vereinfachung von Verfahrensabläufen. Indem inkompatible Fachpositionen durch die Integration in die Allgemeine Verwaltung und ihre Hierarchien sowie durch den Kontakt mit anderen Fachpositionen „kompromissfähiger“ werden, können sie gegebenenfalls leichter „weggebündelt“ werden. Im Gegensatz zu Zielstrukturen und Umsetzungsstrategie findet sich bei der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung der Reformkonzepte, d.h. der Anlagerung von Aufgaben im Verwaltungsgefüge, keine Ähnlichkeit. Der Gleichschritt der einheitlichen Zielstruktur er-

Verwaltungspolitik in den Bundesländern

287

weist sich schnell als Fassade. Selbst Regierungskoalitionen mit identischer Parteienkonstellation folgen keiner einheitlichen Linie und führen oft gegensätzliche Argumente für die Übertragung von Zuständigkeiten ins Feld. Ob bestimmte Aufgaben von der Landesverwaltung oder den Kommunen erledigt werden, ob sie in den Aufgabenbereich einer Landesbehörde, der Mittelinstanz, staatlicher Unteren Sonderbehörden, einem Landesbetrieb oder gar Dritten fallen, erscheint willkürlich. Es wird offensichtlich, dass landesspezifische Eigenheiten bei diesen Entscheidungen eine wesentliche Rolle spielen. Diese ergeben sich wie oben beschrieben augenscheinlich aus der politischen Positionierung der jeweils amtierenden Regierungen – insbesondere der Reputation einzelner Verwaltungsebenen, aus Akteurskonstellationen, Pfadabhängigkeiten in der Verwaltungsorganisation und der Haushaltssituation. Diese selektive Imitation ist bemerkenswert, zeigt sie doch die Fähigkeit entscheidender politischer Ebenen innerhalb kürzester Zeit von ihrer peer-group zu lernen, ohne dabei unreflektiert zu imitieren und politische Zwänge und Steuerungsziele aus den Augen zu verlieren. Neben einem politikwissenschaftlichen Lehrstück zum Stellenwert machtpolitischer Interessen im Regierungshandeln steuern die Reformen somit auch Erkenntnisse zum Verständnis von Modernisierungsprozessen in politischen Systemen bei.

Literatur Banner, Gerhard, 1987: Haushaltssteuerung und Haushaltskonsolidierung auf kommunaler Ebene – Ein politisches Problem, in: Zeitschrift für Kommunalfinanzen 36, 50-56. Bauer, Michael W./Bogumil, Jörg/Knill, Christoph/Ebinger, Falk/Krapf, Sandra/Reißig, Kristin, 2007: Modernisierung der Umweltverwaltung. Reformstrategien und Effekte in den Bundesländern, (Modernisierung des öffentlichen Sektors, Sonderband 30). Berlin. Bogumil, Jörg, 2007: Verwaltungspolitik im Bundesländervergleich – Große Entwürfe statt inkrementalistische Reformen?, in: Bandelow, Nils C./Bleek, Wilhelm (Hg.): Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien. Festschrift für Ulrich Widmaier. Wiesbaden: 111-123. Bogumil, Jörg/Ebinger, Falk, 2005: Die Große Verwaltungsstrukturreform in Baden-Württemberg. Erste Umsetzungsanalyse und Überlegungen zur Übertragbarkeit der Ergebnisse auf NRW. Schriftenreihe der Stiftung Westfalen-Initiative, Band 9. Ibbenbüren. Bogumil, Jörg/Grohs, Stephan/Kuhlmann, Sabine/Ohm, Anna K., 2007: 10 Jahre Neues Steuerungsmodell – eine Bilanz kommunaler Verwaltungsmodernisierung, Berlin. Bogumil, Jörg/Jann, Werner, 2005: Einführung in die Verwaltungswissenschaft. Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland. Wiesbaden. Bogumil, Jörg/Kottmann, Steffen, 2006: Verwaltungsstrukturreform in Niedersachsen. Die Abschaffung der Bezirksregierungen. Schriftenreihe der Stiftung Westfalen-Initiative, Band 11. Ibbenbüren. Bogumil, Jörg/Siebart, Patricia/Reichard, Christoph, 2004: Gutachten zur Verwaltungsstrukturreform in NRW. Schriftenreihe der Stiftung Westfalen-Initiative, Band 8. Ibbenbüren. Brenski, Carsten (Hg.), 2004: Aktivitäten auf dem Gebiet der Staats- und Verwaltungsmodernisierung in den Ländern und beim Bund. Speyerer Forschungsberichte 233. Brenski, Carsten/Liebig, Armin (Hg.), 2007: Aktivitäten auf dem Gebiet der Staats- und Verwaltungsmodernisierung in den Ländern und beim Bund 2004/2005. Speyerer Forschungsberichte 250. DiMaggio, Paul J./Powell, Walter W, 1983: The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields, in: American Sociological Review 48, 147-160.

288

Jörg Bogumil und Falk Ebinger

Ellwein, Thomas, 1993: Neuordnung der staatlichen und kommunalen Arbeitsebene zwischen der Landesregierung und den Städten und Kreisen des Landes Nordrhein-Westfalen. Gutachten im Auftrag der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe. Ellwein, Thomas, 1994: Das Dilemma der Verwaltung. Verwaltungsstruktur und Verwaltungsreformen in Deutschland. Mannheim/Leipzig. Helbing, Hans, 1998: Alternative Möglichkeiten der Neuordnung von Mittelbehörden. Speyerer Forschungsbericht 188. Speyer. Hesse, Joachim Jens/Götz, Alexander, 2003: Staatsreform in Deutschland – das Beispiel der Länder (I), in: ZSE 4/2003, 579-612. Hesse, Joachim Jens/Götz, Alexander, 2004: Staatsreform in Deutschland – das Beispiel der Länder (II), in: ZSE 1/2004, 106-143. Holtkamp, Lars, i.E.: Lob der Hierarchie? Erfolgsbedingungen effizienzorientierter Verwaltungsreformen, in: Verwaltungsarchiv. Jann, Werner, 2006: Die skandinavische Schule der Verwaltungswissenschaft: Neo-Institutionalismus und die Renaissance der Bürokratie, in: Bogumil, Jörg/Jann, Werner/Nullmeier, Frank (Hg.): Politik und Verwaltung. Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 37, 121-148. Jann, Werner/Bogumil, Jörg/Bouckaert, Gert/Budäus, Dietrich/Holtkamp, Lars/Kißler, Leo/Kuhlmann, Sabine/ Reichard, Christoph/Wollmann, Hellmut, 2004: Status-Report Verwaltungsreform – Eine Zwischenbilanz nach 10 Jahren. Berlin. Jann, Werner/Wegrich, Kai/Tiessen, Jan, 2007: Bürokratisierung und Bürokratieabbau im internationalen Vergleich – wo steht Deutschland? Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin. McCubbins, Mathew/Noll, Roger/Weingast, Barry, 1989: Structure and Process, Politics and Policy: Administrative Arrangements and the Political Control of Agencies, in: Virginia Law Review 75, 431-482. Naschold, Frieder/Bogumil, Jörg, 2000: Modernisierung des Staates. New Public Management in deutscher und internationaler Perspektive. Opladen. Peter, Antonio, 2004: Thüringen, in: Wehling, Hans-Georg (Hg.): Die deutschen Länder – Geschichte, Politik, Wirtschaft. Wiesbaden, 297-309. Pressman, Jeffrey Leonard/Wildavksy, Aaron, 1973: Implementation. How great expectations in Washington are dashed in Oakland. Berkeley. Reichard, Christoph, 2004: Verwaltungsmodernisierung in den Bundesländern, in: Jann, Werner/Bogumil, Jörg/Bouckaert, Gert/Budäus, Dietrich/Holtkamp, Lars/Kißler, Leo/Kuhlmann, Sabine/Reichard, Christoph/Wollmann, Hellmut: Status-Report Verwaltungsreform – Eine Zwischenbilanz nach 10 Jahren. Berlin, 87-100. Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), 2007: Umweltverwaltungen unter Reformdruck. Herausforderungen, Strategien, Perspektiven. Sondergutachten. Berlin. Scharpf, Fritz W., 1987: Grenzen der institutionellen Reform, in: Ellwein, Thomas/Hesse, Joachim J./Mayntz, Renate/Scharpf, Fritz W. (Hg.) Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1. Baden-Baden, 111-151. Schnapp, Kai-Uwe, 2004: Ministerialbürokratien in westlichen Demokratien: Eine vergleichende Analyse. Opladen. Seibel, Wolfgang, 1998: Verwaltungsreformen, in: König, Klaus/Siedentopf, Heinrich (Hg.): Öffentliche Verwaltung in Deutschland, Baden-Baden, 87-106. Seitz, Helmut/Peters, Wolfgang, 1999: Der finanzpolitische Anpassungsbedarf im Land Brandenburg und in anderen Ländern. Frankfurt/O. Seitz, Helmut, 2005: Die ökonomischen und fiskalischen Effekte der Verwaltungsreform in MecklenburgVorpommern. Gutachten im Auftrag des Innenministeriums Mecklenburg-Vorpommern. Stadelmaier, Martin/Konzendorf, Götz, 2004: Verwaltungsmodernisierung und Bürokratieabbau in Rheinland-Pfalz, in: Die Öffentliche Verwaltung 57, 729-733.

Kommunalverfassungspolitik der Bundesländer als lokale Institutionenpolitik Michael Haus

1

Einleitung

In diesem Beitrag geht es um die Rolle der Bundesländer für die Gestaltung der institutionellen Grundlagen der kommunalen Politik und Verwaltung. Kommunalverfassungspolitik ist dafür ein Kunstbegriff, der bislang praktisch keine Verwendung in der Politikwissenschaft wie der politischen Praxis findet – während die Entscheidungen, welche er umfasst, zu den wohl wichtigsten eigenständigen Politikmaterien der deutschen Länder gehören. Etwas gebräuchlicher ist der Ausdruck kommunale Landespolitik, nominell nennt sich das entsprechende Aufgabenspektrum auf Abteilungsebene im Verantwortungsbereich der Innenministerien meist kommunale Angelegenheiten. In einem weiten, „materiellen“ (Borchmann 1984: 271) Verständnis meint der Begriff Kommunalverfassung alle für die Kommunen geltenden Normen von grundlegender Bedeutung, d.h. auch solche, die nicht in den Gemeinde- und Kreisordnungen der Länder niedergelegt sind, wie es ein engerer Begriff nahelegt. Im Anschluss an Caulfield und Larsen (2002) lassen sich dann vier Dimensionen institutioneller Reformpolitiken unterscheiden: Neben Gebiets- und Funktionalreformen, also der Zuweisung spezifischer Zuständigkeiten an unterschiedliche Ebenen territorial verfasster Selbstverwaltungseinheiten im Rahmen staatlicher Aufsichtsmechanismen (in Deutschland auch äußere Kommunalverfassung genannt), gibt es noch politische Reformen, die sich auf die Verfahren zum Treffen wichtiger Personal- und Sachentscheidungen richten (Wahlen, direktdemokratische Entscheidungsmechanismen, Kompetenzen und Ressourcen der verschiedenen Organe) sowie schließlich administrative Reformen (Lenkung und Kontrolle der Verwaltung durch die Politik, Regelung des Aufgabenvollzugs, Personalmanagement, Vorgaben für das Haushaltsgebaren etc.) (auch innere Kommunalverfassung). Der Ausdruck Kommunalverfassungspolitik lehnt sich an den Begriff der Verfassungspolitik (constitutional policy) an, was insofern fragwürdig ist, als Verfassungspolitik immer ein Moment der Selbstkonstitution hat (insofern der Souverän über die Regeln der Souveränitätsausübung entscheidet) – während die Kommunen verfassungsrechtlich eben Geschöpfe der Länder als den (Mit-)Trägern von Staatlichkeit darstellen. Der Verfasser hat daher selbst an anderer Stelle von der lokalen Institutionenpolitik der Länder gesprochen (Haus 2005a). Damit wird deutlich gemacht, dass die Interpretation der Funktionsweise und des Sinns der politisch zu regulierenden Institutionen bereits Teil politischer Auseinandersetzungen ist, indem verschiedene ideologische Überzeugungen oder Diskurse um Durchset-

290

Michael Haus

zungsfähigkeit kämpfen. Die verfassungsrechtliche Ausgangslage (Abschnitt 2) versetzt die deutschen Bundesländer in eine Schlüsselrolle für lokale Institutionenpolitik, sie bringt jedoch auch rechtliche Grenzen (Selbstverwaltung der Kommunen) und funktionale Zwänge (Vollzug bzw. Befolgung von Bundesgesetzen) mit sich. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive erscheint nun die Frage zentral, wie innerhalb dieses institutionellen Rahmens (polity) machtbasierte Prozesse ablaufen (politics), die dann in Entscheidung und Umsetzung (oder auch: Nicht-Entscheidung) von Reformpolitiken (policies) münden. Diese Frage geht von der Annahme aus, dass sich die Kategorien und Fragestellungen der Policy-Forschung auch auf den hier thematisierten Politikbereich anwenden lassen (vgl. Jann 2001, Hesse/ Benz 1990). Neben der Perspektive der für die Akteure durch diesen Rahmen bedingten Anreize und Restriktionen für institutionenpolitisches Handeln ist dabei auch die von der interpretativen Policy-Forschung und lerntheoretischen Ansätzen aufgeworfene Frage nach der Bedeutung dominanter Problemverständnisse und -stilisierungen, Wirklichkeitskonstruktionen und Situationsdeutungen zu stellen (vgl. Nullmeier 2003). Beide Perspektiven werden bei der sich anschließenden Analyse der politisch erzeugten Angleichung der Kommunalverfassungen zu berücksichtigen sein (Abschnitt 3). Der Fokus liegt im Übrigen auf den Städten und Gemeinden, die Landkreise werden nur am Rande behandelt.

2

Kommunalverfassungspolitik und die Rahmenbedingungen des deutschen Föderalismus

2.1 Verwaltungsföderalismus und kommunale Selbstverwaltung als Ausgangspunkte der Kommunalverfassungspolitik Ein naheliegender Ausgangspunkt für eine Analyse des institutionellen Kontextes von Kommunalverfassungspolitik ist die Thematisierung der Stellung der Kommunen im Staat. In diesem Zusammenhang sind zwei konstitutionelle Grundmerkmale des deutschen politischen Systems hervorzuheben: neben der Einrichtung der kommunalen Selbstverwaltung auch die Konstruktion des „Verwaltungsföderalismus“ (vgl. Bogumil 2000: 123-126). Letzterer impliziert, dass der Bund nur über einen gering ausgebildeten eigenen Verwaltungsunterbau verfügt und zum Vollzug von Gesetzen auf die Verwaltung von Ländern und Kommunen angewiesen ist. Im Hinblick auf die Kommunen (Kreise, Gemeinden, Gemeindeverbände) garantiert das Grundgesetz deren Selbstverwaltung (Satzungs-, Organisations-, Planungs-, Finanz- und Personalhoheit) im Rahmen staatlicher Gesetze und verlangt die Einrichtung demokratisch gewählter Vertretungskörperschaften (Art. 28 GG), überlässt weitere Regelungsfragen aber den Ländern.1 Das Verhältnis von Verwaltungsföderalismus und kommunaler Selbstverwaltung ist nun dadurch geprägt, dass die Länder für den Vollzug von Bundesgesetzen wieder hauptsächlich auf die Beauftragung der Kommunen setzen. Das durch die erste Stufe der Föderalismusreform ins Grundgesetz aufgenommene Verbot der direkten Übertragung von Aufgaben auf die Kommunen durch den Bund (Art. 85 Abs. 1 1 Zu dieser Zuordnung gibt es, auch im Vergleich mit anderen Föderalstaaten (Schweiz, USA), durchaus ordnungspolitische Alternativen (Gabriel 1979: 27).

Kommunalverfassungspolitik der Bundesländer als lokale Institutionenpolitik

291

GG) hat diese Stufenfolge der Vermittlung durch die Länder bestärkt. Gleichwohl gilt für den gesamten Aufgabenbereich kommunaler Selbstverwaltung, dass die Kommunen im Rahmen zahlreicher und meist sehr umfänglicher Bundesgesetze entscheiden, wie etwa dem Baugesetzbuch bei Planungsentscheidungen (vgl. als Überblick Naßmacher/Naßmacher 2007: 115f.). In allen Flächenländern nehmen die Kommunen allein die Funktion der gesamten öffentlichen Verwaltung in ihrem Gebiet wahr, sofern nicht durch Gesetz anderes festgelegt wird (siehe z.B. Art. 78 II. der Verfassung von NRW). Indem sie demokratisch gewählte Vertretungskörperschaften verbindlich vorschreiben, anerkennen Grundgesetz und Landesverfassungen zugleich den besonderen, politischen Status der kommunalen Selbstverwaltung. Durch diese konstitutionellen Vorgaben ergibt sich eine potentielle Spannung zwischen (verwaltungs)rechtlichen und politischen Deutungen der kommunalen Politik- und Verwaltungsinstitutionen. Die Gegenüberstellung von ‚Staat’ (als Ort der Souveränität und genuiner Quelle des Rechts) und ‚kommunaler Selbstverwaltung’ (als vom Staat zugestandene Besorgung örtlicher Angelegenheiten in eigener Verantwortung) oder auch von ‚Politik’ und ‚Verwaltung’ ist eine kulturelle Konstruktion, die die Legitimität bestehender Strukturen und die Plausibilität von Reformvorschlägen stützt oder untergräbt, z.B. in der Frage der Parlamentarisierung der kommunalen Vertretungskörperschaften und der staatlichen Kommunalaufsicht. Vom Grundgesetz her sind aber gewiss verschiedene Interpretationsansätze möglich (siehe Gabriel 1999, Wollmann 1998). Gerade weil die kommunale Ebene stark von der Funktion der Verwaltung bestimmt ist, spiegeln sich indes in institutionellen Reformversuchen die allgemeinen verwaltungspolitischen Reformdiskussionen wider, welche zunehmend von internationalen Diskurs‚Moden’ geprägt werden (Jann 2002). Doch zugleich mildern Verwaltungsföderalismus und kommunale Selbstverwaltung, die Kompetenzdiffusion zwischen Bund, Ländern und Kommunen in der Ausgestaltung institutioneller Grundlagen sowie eine legalistische Verwaltungskultur die Wirkung dieser Reformströmungen auch wieder ab.

2.2 Prägende Akteurskonstellationen und -interessen Mit den Merkmalsbestimmungen des institutionellen Kontextes lokaler Institutionenpolitik in Deutschland gehen zunächst wichtige Unterschiede zu den unitarischen Staaten, aber auch zu stärker auf lokale Autonomie sowie föderale Vielfalt angelegten Bundesstaaten einher. Angesichts einer stark unitarisch geprägten politischen Kultur spielt sich Kommunalverfassungspolitik gleichsam im Schatten der landespolitischen Provinz ab: Sie wird in der Öffentlichkeit nicht als Teil kontroverser Modernisierungskonzepte oder Kommuneideologien debattiert. Man wird für Deutschland kaum dasselbe sagen können, was Gerry Stoker für Großbritannien unter den Regierungen Thatcher und Major feststellte: „Local Politics became one of the hottest topics in British politics“ (Stoker 1991: 17). Zugleich gilt jedoch, dass die Landespolitik selbst durchaus von Parteienkonkurrenz, ideologischem Wettstreit und Mehrheitsentscheiden geprägt ist (für ideologische Differenzen der Parteien hinsichtlich der Institutionen kommunaler Demokratie siehe etwa Derlien 1994). Außerdem können sich den politischen Akteuren in den Ländern in einem ansonsten wenig Aufsehen

292

Michael Haus

erregenden Umfeld und angesichts beschränkter Ressourcen mitunter dann Profilierungschancen als ‚Modernisierer’, ‚Demokratisierer’ und ‚politische Unternehmer’ bieten, wenn sich Einzelfragen publikumswirksam thematisieren lassen oder Output-Ziele im Lichte eines gesellschaftlichen Zielkonsenses mutmaßlich effektiviert werden können (etwa Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse durch professionalisierte Kommunalverwaltungen, Kosteneinsparungen in Zeiten knapper Haushalte).2 Diesen partiellen Profilierungschancen der Landesregierungen steht allerdings der hohe Einfluss der kommunalpolitisch aktiven Parteimitglieder innerhalb der Landesparteiorganisationen entgegen. Landespolitische Initiativen mit weitreichenden Auswirkungen für kommunale Institutionen sind oft hochgradig konfliktträchtig für parteiinterne Entscheidungsprozesse, weil sie kommunale Spielräume oder Routinen in Frage stellen. Für eine Landesregierung kann deshalb die eigene Stärke im Lande paradoxerweise ein strategischer Nachteil sein für die Durchsetzung kommunaler Restrukturierungsprogramme, weil parteiinterner Widerstand die Opposition gegen Veränderungen stärkt.3 Die Verwaltungslastigkeit der Landesebene hat Bedeutung für die Frage der diskursiven Rahmung institutionenpolitischer Entscheidungen. Vor dem Hintergrund der für den Vollzug vieler Gesetze unentbehrlichen Rolle der Kommunen prägt die Zuständigkeit der Innenministerien als einem klassischerweise mit der Ordnungsverwaltung verbundenen und von Juristen dominierten Ressort die Interessenlage der sich mit der Reform der kommunalen und regionalen Ebene befassenden Ministerialbürokratie. Es dominiert eine juristische oder ‚altinstitutionelle’ (also auf formal-rechtliche Normen, Steuerung durch Recht und ‚optimale’ Regelung ausgerichtete) Wahrnehmung von Problemen. Die Dominanz juristischer Diskurse zeigt sich auch in der wissenschaftlichen Debatte, die lange Zeit geradezu von einem „Monopol der Rechtswissenschaft“ geprägt wurde, welches in den 1970er Jahren zwar durch die von der Politikwissenschaft ausgehende lokale Politikforschung in Frage gestellt wurde, sich aufgrund des „für unsere Disziplin typischen Wissenschaftspluralismus“ (Gabriel 1999: 162) jedoch keinem kohärenten Gegendiskurs ausgesetzt sah. Für die Verwaltungspolitik insgesamt wurde festgestellt, dass diese nicht einheitlich formuliert und umgesetzt werden kann wie dies in Einheitsstaaten der Fall ist. Die Verwaltungspolitik der Bundesländer ist Teil eines allgemeinen „disjointed incrementalism“, also einer auf verschiedenen Ebenen ablaufenden schrittweisen Anpassung von Verwaltungsstrukturen (Wollmann 2002a: 507 mit weiteren Nachweisen). Mit dem Verweis auf die Ausnahme der in den 1960er und 70er Jahren durchgeführten Gebietsreformen (Hesse/Ellwein 1997: 355, Ellwein 1993: 58) wird indes angedeutet, dass die auf die kommunale Selbstverwaltung gerichtete Institutionenpolitik noch am ehesten über inkrementelle Anpassung hinausgehen kann. Die Reformwelle im Bereich der inneren Kommunalverfassungen in den 1990er Jahren bestärkt diese Einschätzung, wie unten gezeigt werden wird. Womit hängt diese Möglichkeit zur vorübergehenden Überschreitung inkrementeller Politikgestaltung zusammen? – Zum Ersten ist hier auf die ausschließliche Zuständigkeit der Länderebene für 2 Zur Präponderanz von Output-Kriterien bei Verwaltungsreformen in Deutschland vgl. Seibel 1997. 3 Das Phänomen der Schwächung zentraler Macht durch gleichzeitige Regierungsmehrheit auf staatlicher/regionaler und lokaler Ebene ist aus der internationalen Forschung bekannt, vgl. Keating 1995: 130 für das Beispiel Gebietsreformen; ein aktuelles Beispiel aus Deutschland ist die interne Opposition in der CDU Nordrhein-Westfalens gegen Einschränkungen ökonomischer Betätigungsmöglichkeiten kommunaler Betriebe.

Kommunalverfassungspolitik der Bundesländer als lokale Institutionenpolitik

293

die Kommunalverfassungspolitik zu verweisen, welche trotz der funktionalen Wechselwirkungen mit der übergreifenden Verwaltungspolitik von Lasten der Politikkoordination mit Bund und anderen Ländern entbindet. Zum Zweiten kann darauf verwiesen werden, dass bei bestimmten Reformvorhaben der lokalen Institutionenpolitik für wichtige landespolitische Akteure die Vorteile die Nachteile überwiegen und sie das stets fallenreiche Unternehmen der Umgestaltung bestehender Politik- und Verwaltungsinstitutionen besonders energisch in Angriff nehmen. In seiner monumentalen Studie zum „Staat als Zufall und Notwendigkeit“, einer Untersuchung der Entwicklung von Staatlichkeit am Beispiel eines Landkreises in Westfalen, kommt Thomas Ellwein im Gang durch die Jahrhunderte wiederholt zu der Einschätzung, dass Reformen in öffentlicher Verwaltung und kommunaler Selbstverwaltung in Deutschland entscheidend von Machtfragen bestimmt würden – und nur in sehr beschränktem Maße eine ‚rationale’ Antwort auf institutionelle Herausforderungen darstellen. Dort, wo sich rationale Designkriterien durchgesetzt hätten, hätten die Länder nur Widerstände der kommunalen Ebene, nicht aber Konflikte in den eigenen Reihen der Ministerialverwaltung überwinden müssen. Dies wird für Ellwein insbesondere an der „wichtigste[n] Reform, die es nach 1800 in Deutschland gegeben hat“, nämlich den erwähnten Territorialreformen der 1960er und 70er Jahre deutlich, bei denen die Länder sich zwar „als mächtig genug [erwiesen], um Gemeinden zusammenzulegen und ein ganz neues Konzept der gemeindlichen Ebene zu verwirklichen“, aber die eigenen Ministerien nicht zur Abgabe von Zuständigkeiten bewegen konnten (Ellwein 1993: 58). Die Abgabe von Kompetenzen muss freilich auch den politischen Eliten im Lande zumindest ambivalent erscheinen, weil sie auf eine Selbstentmachtung hinausläuft.4 Lokale und regionale Institutionenpolitik wird von Landesregierungen und -parlamenten betrieben, die angesichts einer umfassenden Zentralisierung von Gesetzgebungskompetenzen inzwischen nur noch in wenigen Politikfeldern über eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten verfügen; das legt die Vermutung nahe, dass sie über die ihnen verbliebenen Gestaltungsmöglichkeiten in Form von legislativen Restkompetenzen und Zuständigkeit für administrativen Vollzug besonders achtsam wachen werden. Dies schränkt die Bereitschaft zu Dezentralisierungs-, Regionalisierungs- und Autonomiepolitiken ein. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern sind institutionelle Selbstregelungsoptionen der kommunalen Ebene(n) in der Bundesrepublik nicht nennenswert ausgeweitet worden. Ellweins These ließe sich dahingehend verallgemeinern, dass die Zuständigkeit der Bundesländer in besonderer Weise den Interessen der Landesakteure Rechnung trägt. Es werden folglich nur Reformen verwirklicht, die diese nichts kosten bzw., wo Kosten unvermeidbar sind, diese möglichst schonend ausfallen lassen. Freilich gilt es auch zu beachten, dass auch die dezentrale Ebene nicht in jeder Hinsicht an ‚Dezentralisierung’ interessiert sein muss – denn in bestimmten Politikfeldern wie etwa der Sozialpolitik kann dies eine höhere finanzielle Belastung und damit eine Einschränkung von Autonomie bedeuten (vgl. Hesse/Benz 1990: 228f.). Während sich die Länder dem seit langem erhobenen Ruf nach 4 Diese Gefahr ist heute besonders groß im Falle von regionalen Ballungsräumen, welche nicht nur mitunter die ohnehin immer wieder in Zweifel gezogenen Landesgrenzen konterkarieren (und damit die territoriale Machtbasis der Landspolitiker gefährden), sondern auch zur territorialen Grundlage von Nebenregierungen gerade in den prosperierendsten Teilen der Länder zu werden drohen (siehe König 2004 für die Region Rhein-Main).

294

Michael Haus

einer ‚echten’ Kommunalisierung von Aufgaben, bei der sich der Staat tendenziell auf eine reine Rechtsaufsicht zurückziehen würde (Wollmann 1998, Banner 2000: 44), immer wieder entzogen, schieben sie Modernisierungsverantwortung für veränderte administrative Steuerungsformen und kostenbewusste Haushaltsführung an die machtpolitisch schwächeren Akteure ab. Auch mit den daraus resultierenden Konflikten muss auf lokaler Ebene umgegangen werden, wobei das bei Verwaltungsmodernisierungsschritten unabwendbar anfallende Risiko des Scheiterns dort, wo es sie gibt, fast gänzlich bei den direkt gewählten Bürgermeistern als Verwaltungschefs abgeladen wird (vgl. Banner 2000, Banner 2004: 21). Die Verbreitung des direkt gewählten Bürgermeisters als hauptamtlichem Verwaltungschef ist ihrerseits eine Hervorbringung politischer Reformen im Sinne von Caulfield und Larsen. Nach den Gebietsreformen der 1960er/70er Jahre kann die flächendeckende Übernahme dieser und weiterer Elemente der baden-württembergischen (und eingeschränkt der bayerischen) Kommunalverfassung als eine der wichtigsten politisch-administrativen Strukturreformen in der Geschichte der Bundesrepublik betracht werden. Im Folgenden soll näher auf die Entwicklung der Kommunalverfassungspolitik der Bundesländer eingegangen werden, die insgesamt als Angleichungsprozess dargestellt werden kann, aber von unterschiedlichen Faktoren vorangetrieben wurde. Es soll dabei insbesondere im Blick behalten werden, inwiefern eine über inkrementelle Anpassung hinausgehende Reformperspektive entwickelt werden konnte und inwiefern Ellweins Kritik auch für die zweite große Strukturreform, die Einführung der „plebiszitären Bürgermeisterverfassung“ (Bovenschulte/Buß 1996), zutrifft oder aber hierin ein unerwarteter, durch den Willen der Bürger erzwungener Triumph von Gemeinwohlbelangen im Rahmen der „einzige[n] große[n] Strukturreform der neunziger Jahre in der Bundesrepublik“ (Arnim 2000: 36, siehe auch Arnim 2002) zu verzeichnen war.

3

Der Weg zur Angleichung der Kommunalverfassungen

Während sich mit dem Föderalismus die Erwartung verbinden könnte, dass sich die kommunale Ordnung in den verschiedenen Ländern durch ein hohes Maß an Heterogenität auszeichnen würde und dies historisch in Deutschland auch der Fall war (Saldern 1998), erweist sich diese Annahme für die Bundesrepublik bei näherem Hinsehen als Täuschung. Im Bereich der äußeren Kommunalverfassung hat die Selbst-Angleichung früh eingesetzt (Weinheimer Entwurf von 1948). In Bezug auf die innere Kommunalverfassung hat sich dann in den 1990er Jahren eine weit reichende Angleichung vollzogen. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, spiegelt die Entwicklung der kommunalen Landespolitik in ihren Konvergenzdynamiken die allgemeine Entwicklung der Verwaltungspolitik in Deutschland wider (vgl. für Übersichten Jann 1999, Hesse/Ellwein 1997: 70-88, Gabriel 1999, sowie den Beitrag von Bogumil/Ebinger in diesem Band).

Kommunalverfassungspolitik der Bundesländer als lokale Institutionenpolitik

295

3.1 Phasen bis zu Beginn der 1990er Jahre a.

In einer ersten Phase zu Beginn der 1950er Jahre ging es um die Konsolidierung eines demokratischen Neubeginns im Rahmen einer grundsätzlichen Kontinuität des Prinzips der kommunalen Selbstverwaltung. Wie bei der Verwaltungspolitik allgemein stand die verfassungsrechtliche Einbindung der kommunalen Selbstverwaltung in den demokratischen Rechtsstaat auf der Tagesordnung, nicht zuletzt angesichts deren Versagens in der Spätphase der Weimarer Republik (Hesse/Ellwein 1997: 72f.). Mit der Auffassung, dass der kommunalen Selbstverwaltung zwar als politischer Verwaltung ein Sonderstatus zukomme, sie aber ansonsten als Teil der Landesexekutive zu betrachten sei, trat an die Stelle des noch in Weimar virulenten Dualismus zwischen Staat und Gesellschaft/kommunale Selbstverwaltung jener zwischen Politik und Verwaltung, der vor allem eine diskursive De-Legitimierung von ‚Parteipolitik’ zugunsten von ‚Sachpolitik’ mit sich brachte (Gabriel 1999: 158). In der „Kritik an der demokratisch-parteienstaatlichen Komponente der Kommunalpolitik“ sieht Gabriel zu Recht eine Konstante des institutionenpolitischen Diskurses in der Bundesrepublik (ebd.: 159). Die kommunale Landespolitik hatte in dieser ersten Phase hauptsächlich den Beschluss und die Ausgestaltung von Landesverfassungen und Gemeinde- bzw. Kreisordnungen zum Inhalt, in denen die Kommunen als allgemein zuständiger Träger der öffentlichen Verwaltung vor Ort bestimmt wurden, in Form der für Deutschland typischen Doppelstruktur neben Selbstverwaltungsaufgaben staatliche Aufgaben als Auftragsverwaltung zugewiesen bekamen und der Kontrolle durch staatliche Mittelinstanzen unterstellt wurden. In der Finanzverfassung wurden die in der Kriegsphase eingeführten Ausgleichsmechanismen beibehalten (Hesse/Ellwein 1997: 74) – im Gegensatz etwa zur weit reichenden Steuerautonomie skandinavischer Kommunen. Die Vielfalt im Bereich der inneren Kommunalverfassungen resultierte hingegen aus historischen Traditionen, z.T. aber auch (in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen) aus dem Einfluss der (ehemaligen) Besatzungsmächte (vgl. Grunow/Pamme 2000: 47-54). In der norddeutschen Ratsverfassung (Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen), der unechten Magistratsverfassung (Hessen, Städte in Schleswig-Holstein) und der Bürgermeisterverfassung (Rheinland-Pfalz, Saarland, kleinere Gemeinden in Schleswig-Holstein) verfügte allein der Gemeinderat über unmittelbare demokratische Legitimation. Mit der Trennung zwischen der repräsentativen Funktion des Bürgermeisters sowie der politischen Führungsposition des (Mehrheits-)Fraktionsvorsitzenden einerseits und dem ‚unpolitischen’ Gemeinde-/Stadtdirektor als professionellem Verwaltungsleiter andererseits war die norddeutsche Ratsverfassung als deutliches Abbild des Kommunalsystems der britischen Besatzungsmacht gedacht. Die Bürgermeisterverfassung war als rheinische in der deutschen Geschichte bekannt (Adenauer war in Köln während der Weimarer Republik eine der herausragenden Bürgermeisterpersönlichkeiten innerhalb der rheinischen Bürgermeisterverfassung), entsprach aber auch den Verhältnissen im Besatzungsland Frankreich und ging zudem historisch auf den französischen linksrheinischen und im Rheinbund geltenden Einfluss zurück. Die hessische Magistratsverfassung entstammt der von der Preußischen Städteordnung begründeten Tradition und konnte sich auf die ehemalige Zugehörigkeit von ca. zwei Dritteln des Landesgebietes

296

b.

Michael Haus zu Preußen berufen. In der süddeutschen Ratsverfassung (Baden-Württemberg, Bayern) wurde der Bürgermeister hingegen gemäß der regionalen Vorkriegstradition direkt von der Bürgerschaft gewählt und stand sowohl der Verwaltung als auch dem Gemeinderat (einschließlich sämtlichen seiner Ausschüsse) vor. Die Gemeindeordnung von Baden-Württemberg sah als einzige direktdemokratische Entscheidungsformen (Bürgerbegehren und -entscheide) vor. Bereits 1955 führte das CDU-regierte BadenWürttemberg zudem die Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens bei Gemeinderatswahlen ein. An diesen Grundzügen der äußeren und inneren Kommunalverfassung hat sich bis in die 1990er Jahre nichts Wesentliches verändert. In der Zeit von der Mitte der 1960er bis zum Ende der 1970er Jahre wurde auch die Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung von der wohlfahrtsstaatlichen Planungseuphorie als Ausdruck des Strebens nach reformpolitischer Gleichheit der Lebensverhältnisse, aber auch der Reaktion auf die erste Krisenerfahrung 1966/67 geprägt. Jann spricht von der Phase der „inneren Reformen und Aktiven Politik“ (vgl. Jann 1999: 528). Wirtschaftswissenschaftliche Theorien der Krisenbewältigung (Keynesianismus als Begründung von Maßnahmen gegen das prozyklische Ausgabenverhalten der Kommunen in Form von Investitionshilfen, Gemeinschaftsaufgaben, Finanzgesetzen), Planungstheorie, aber auch eine Öffnung für postmaterialistisch-demokratiepolitische Standpunkte reicherten die institutionenpolitischen Diskurse an. Es kam zu einem bewussten Einbezug der Kommunen in gesamtstaatliche Modernisierungspolitiken und eine „Hierarchie von Planungsstufen“ (Hesse/Ellwein 1997: 78). Die bereits erwähnten Gebietsreformen als herausragende und praktisch einzig dauerhaft wirksame Reformmaßnahme dieser Zeit sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Wie auch in anderen europäischen Ländern (am radikalsten in Großbritannien und Schweden) bedeuteten sie vor allem für den ländlichen Raum einen tief greifenden Wandel, wobei die Aussicht auf bessere Verwaltungsleistungen und höhere Gleichheit der Lebensverhältnisse unabhängig vom Wohnort mit der Abkehr von der Einheit von sozialer bzw. erlebter und juristischer Gemeinde ‚erkauft’ wurde. Ziel der Gebietsreformen war es, alle Kommunen in die Lage zu fachlich und juristisch professionellem Handeln zu versetzen und verlässliche Partner in gemeinsamen Planungsprozessen zu kreieren. Die Ergebnisse waren, wie bereits erwähnt, insgesamt durchgreifend,5 während die eigentlich komplementären Funktionalreformen in Ansätzen stecken blieben (siehe die Bilanz bei Laux 1998). Allerdings sind hier Unterschiede zwischen einzelnen Ländern zu vermerken. Während Nordrhein-Westfalen als Ausnahmefall eine „weitgehend konsequente Funktionalreform“ verwirklichte, war die Aufgabenübertragung im traditionell zentralistischen Bayern „kaum der Rede wert“ (Hesse/Ellwein 1997: 355). Dazu ist allerdings anzumerken, dass im SPD-regierten NRW auch die (in zwei Stufen erfolgte) Gebietsreform besonders radikal ausfiel, in Bayern hingegen sehr moderat.6 Beides spiegelt eine parteipolitisch verortbare Differenz ideologischer Überzeu-

5 Statt 33 Regierungsbezirken gab es nach den Reformen 25, statt 564 Kreisen/Kreisstädten 328, statt 24.282 Gemeinden 8.501. 6 In Bayern liegt die durchschnittliche Einwohnerzahl pro Kommune heute bei 6.000 Einwohnern, in NRW bei rd. 45.000.

Kommunalverfassungspolitik der Bundesländer als lokale Institutionenpolitik

c.

297

gungen im Hinblick auf das Wesen der Kommunen sowie den Wert des politischen Lokalismus gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Zielen der Verbesserung (Ausweitung, Professionalisierung und Planung) öffentlicher Leistungen wider. Insgesamt waren die Länder aber gewissermaßen die Getriebenen des expandierenden Wohlfahrtsstaats.7 Die Forderung nach einer Rahmengesetzgebung des Bundes im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung, wie sie der Deutsche Juristentag (Ständige Deputation des Deutschen Juristentags 1972), aber auch das Kommunalpolitische Grundsatzprogramm der SPD (Stargardt 1991: 147, siehe auch Naßmacher/Naßmacher 2007: 47) mit Blick auf die innere Kommunalverfassung erhoben, wurde freilich nicht erhört. Das Viergestirn der Kommunalverfassungstypen wurde erfolgreich gegen die unitaristischen Diskurse von Kommunalrechtlern und Reformpolitikern abgeschirmt. Gleichwohl war die Kommunalpolitik einem Wandel unterworfen. Mit der Vergrößerung der Kommunen wurde ein weiteres Betätigungsfeld der politischen Parteien in der Kommunalpolitik zumindest billigend in Kauf genommen, wenn nicht offen begrüßt, aber es kam nicht zu einer derartigen Professionalisierung der Ratsarbeit, durch die der Kompetenzvorsprung einer gewachsenen und professionalisierten Verwaltung hätte kompensiert werden können (Gabriel 1999: 161). Allerdings wurden immerhin einige Schritte zur ‚Parlamentarisierung’ des Kommunalsystems unternommen, so durch die Einführung der Abwahlmöglichkeit von Bürgermeistern und Gemeindedirektoren oder der Einbindung letzterer in einen Verwaltungsausschuss. Als kompensatorisches Element für den Verlust der Unabhängigkeit wurden unabhängig von parteipolitischen Mustern Stadtteilbezirke und Ortschaftsverfassungen eingeführt. Seit Mitte der 1970er Jahre kann allgemein von einer Phase des Bemühens um Verwaltungsvereinfachung, Staatsrückbau und Bürgernähe gesprochen werden, die zum Teil auf die neo-konservative Staats- und Bürokratiekritik und korrespondierende Selbstzweifel in der deutschen Sozialdemokratie zurückgeführt werden kann, aber auch an emanzipationsorientierte Kritiken des Wohlfahrtsstaates ‚von links’ anschließen konnte. Es bildeten sich Kommissionen zur Aufgabenkritik, Rechts- und Verwaltungsvereinfachung, deren Arbeit sich in der folgenden Zeit verstetigte, ohne dass es zur Verwirklichung weitergehender Vorschläge gekommen wäre. Es blieb vielmehr bei „ohnehin kontinuierlich notwendige[r] Rechtsbereinigung“ (Jann 1999: 530), die offensichtlich keine nachhaltigen Veränderungen gebracht hat. Für die Kommunen brachten die späten 1970er und 1980er Jahre keine umfassenden institutionenpolitischen Initiativen. Allerdings finden sich vor allem in NRW Anfänge einer Diskussion über eine tiefgreifende Reform der inneren Kommunalverfassung, die auch von der bürokratiekritischen Stimmung dieser Zeit geprägt waren (Banner 1982).

7 Wie die Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages 1977 feststellte, waren die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und der gestiegene Anspruch auf öffentliche Daseinsvorsorge „bestimmende Einflußgrößen“ der Reformpolitiken (zit. bei Hesse/Ellwein 1997: 78).

298

Michael Haus

3.2 Reformdynamik ab Ende der 1980er Jahre: Auf dem Weg zur ‚plebiszitären Bürgermeisterverfassung’ In seinem Forschungsüberblick zur Verwaltungspolitik in Ostdeutschland nach der Wende macht Wollmann (2002b) neben der Imitation von Partnerländern/-kommunen auch endogene Entwicklungen aus, ja sogar bewusste Innovationen, die, wie der Verzicht auf Bezirksregierungen als mittlerer Verwaltungsebene in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, inzwischen leichte Ausstrahlungswirkung auf die anderen neuen, aber auch die alten Bundesländer zu haben scheinen (vgl. den Beitrag von Bogumil/Ebinger in diesem Band). Mit dem Verzicht auf Bezirksregierungen als Mittelinstanz sind zumindest einige der neuen Länder in der Gestaltung der äußeren Kommunalverfassung Forderungen nach einer ‚echten’ Kommunalisierung nahe gekommen (Wollmann 1997). Im Gegensatz zu den westdeutschen Gebietsreformen in den 1960er und 1970er Jahren kam es auf dem Boden der vormaligen DDR mit der Ausnahme von Sachsen jedoch zunächst nicht zu Gemeindegebietsreformen, weil dies demokratiepolitisch (im Hinblick auf lokale politische Identitäten) für unzumutbar erachtet wurde, auch wenn es mit einer Kommunalisierung der öffentlichen Verwaltung eher zusammengestimmt hätte. Stattdessen wurden immer wieder Kreise amalgamiert und – wie auch zuvor in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz – gemeinsame Ämter/Verwaltungsgemeinschaften eingerichtet, auf die sich heute neuerliche Reformbemühungen richten. Erst 2003 hat auch das von einer SPD-CDU-Koalition regierte Land Brandenburg eine Gemeindegebietsreform durchgeführt. Auch für die innere Gestaltung der kommunalen Selbstverwaltung trifft der im Allgemeinen konstatierbare weit reichende Institutionentransfer von West nach Ost nicht im selben Maße zu – was schon insofern erwartbar war, als hier in der alten Bundesrepublik wirklich noch föderale Vielfalt zu verzeichnen war. Die neuen Länder blieben zunächst bei der Kommunalverfassung der postsozialistischen DDR, die auf die Wahrung des Transformationserbes bedacht war. Dies gilt vor allem hinsichtlich der Einführung direktdemokratischer Beteiligungsmöglichkeiten in Form von Bürgerbegehren und -entscheiden, die als institutionenpolitische Konsequenz aus der demokratischen Revolution gedeutet wurden. Auch die alten Länder haben, beginnend mit Schleswig-Holstein bereits im Jahr der Vereinigung, allesamt direktdemokratische Verfahren in ihre Gemeindeordnungen geschrieben (in Bayern in der Folge eines Volksentscheids; vgl. auch den Beitrag von Magin/Eder/Vatter in diesem Band). Die Ausnahme war Baden-Württemberg, wo es die Möglichkeit von Bürgerbegehren und -entscheiden schon zuvor gegeben hatte, diese aber, nicht zuletzt aufgrund restriktiver Vorgaben, faktisch nur selten praktiziert wurden. Von größerer Bedeutung als Bürgerbegehren und -entscheide ist jedoch die flächendeckende Einführung der „plebiszitären Bürgermeisterverfassung“ (Bovenschulte/Buß 1996), die zuvor nur in Baden-Württemberg und Bayern gegolten hatte und einen fundamentalen Wandel der Gestalt der inneren Kommunalverfassung bedeutete, die bis dahin alle Reformdiskussionen unbeschadet überstanden hatte. Als Kern der plebiszitären Bürgermeisterverfassung (und des parallelen Modells in den Landkreisen) kann die Direktwahl des Bürgermeisters als politischem Repräsentanten und hauptamtlichem Verwaltungschef in einer Person gelten. Zudem wurde nach und nach fast flächendeckend das Kommunalwahlrecht personalisiert (Kumulieren und Panaschieren). Zusammen mit der erwähnten Einführung

Kommunalverfassungspolitik der Bundesländer als lokale Institutionenpolitik

299

direktdemokratischer Beteiligungsmechanismen (Bürgerbegehren und -entscheide) bedeutete dies eine weitgehende Annäherung an baden-württembergische Verhältnisse.

Prozessanalyse der Einführung der plebiszitären Bürgermeisterverfassung Das Beispiel Schleswig-Holstein (Hintergrund war hier die Barschel- bzw. Pfeiffer-Affäre) zeigt, dass direkte Demokratie i. S. v. Sachplebisziten auf kommunaler Ebene vor allem von SPD-geführten Landesregierungen als Mittel gegen die zunehmende Kritik an der politischen Klasse gesehen wurde, ohne dass dies notwendigerweise mit dem Personalplebiszit (Wahl des Verwaltungschefs) einhergehen musste. Beide Fragen wurden Anfang der 1990er Jahre noch recht deutlich voneinander getrennt. Im Folgenden wird die Analyse des Reformprozesses auf den Weg zur plebiszitären Bürgermeisterverfassung gelegt, weil hierin die wichtigste Veränderung gesehen werden kann. Die zunehmende diskursive und dann auch in Entscheidungen manifeste Verbindung der Urwahlfrage mit der Frage von direktdemokratischen Sachentscheidungen stellt jedoch in sich ein beachtenswertes Phänomen dar, weil sie eine bestimmte diskursive Rahmung der Kommunalverfassungsreformen erlaubte. Schaut man zunächst auf die Interessenlage der Landesparteien, so ist klar, dass die kleineren Parteien (einschließlich der freien Wählergemeinschaften) ein machtstrategisches Interesse an direkt gewählten Bürgermeistern hatten, weil sie nur so hoffen konnten, ihre eigenen Kandidaten in das höchste kommunale Amt zu bringen, sich dadurch allgemein kommunalpolitisch besser zu etablieren und auch bei Ratswahlen besser abzuschneiden. Interessanterweise ist die Haltung der Bündnisgrünen zu dieser Frage jedoch von Ambivalenz und tendenzieller Ablehnung gekennzeichnet gewesen, weil das ‚Wahlkönigtum’ des baden-württembergischen Bürgermeisters nicht einfach in die basisdemokratische Ideologie einzupassen war. Bei den großen Parteien lag eine Befürwortung der Direktwahl eines starken Bürgermeisters dann nahe, wenn sie allgemeinen ideologischen Überzeugungen entsprach (was eher bei der CDU der Fall war) oder wenn die Mehrheitsverhältnisse im Land geringe Aussichten für die erfolgreiche Rekrutierung eigener Kandidaten über repräsentative Entscheidungsfindung boten. Ideologisch war die Auseinandersetzung geprägt durch die Alternativen starke exekutive Führerschaft vs. parlamentarische lokale Demokratie als jeweiliger Option von CDU und SPD (vgl. Derlien 1994). Die CDU hatte also ceteris paribus größere Sympathie für das baden-württembergische Modell. Allerdings muss hervorgehoben werden, dass Parteiführungen und -basen durchaus unterschiedliche Auffassungen vertreten haben. Unter machtstrategischen Gesichtspunkten gilt, dass es in den unionsdominierten Ländern Baden-Württemberg und Bayern ohnehin die Direktwahl gab. Im klar SPD-dominierten NRW konnte die CDU hingegen ein großes Interesse daran haben, dass die Bürgermeister gestärkt und direkt gewählt würden. In den anderen Ländern lag Ende der 1980er/ Anfang der 1990er keine so deutliche Dominanz einer Partei vor. Ein Blick auf Reformprozesse in einzelnen Ländern kann nun den Zusammenhang zwischen der Veränderung diskursiver Praktiken und strategischen Reorientierungen zentraler Akteure verdeutlichen, durch die sich Policy Windows für die Reform der Kommunalverfassungen in der bereits skizzierten Entwicklungsrichtung der Konvergenz in Richtung

300

Michael Haus

des süddeutschen Vorbilds ergeben haben. Das erstaunlichen Ergebnis war, dass sich „in wenigen Jahren vollzog […], was seit Jahrzehnten vergeblich angestrebt wurde“ (Naßmacher/Naßmacher 2007: 47), nämlich die faktische Vereinheitlichung der Kommunalverfassungen – nicht durch Bundesgesetzgebung oder Absprache zwischen den Ländern wie zuvor angestrebt, sondern durch eigenständige, wenn auch untereinander beeinflusste landespolitische Prozesse. Insgesamt kann die Entwicklung so gedeutet werden, dass in einer größeren Gruppe von Ländern die Direktwahl durch die Drohung mit einem Volksbegehren und -entscheid seitens der (christdemokratischen) parlamentarischen Opposition durchgesetzt werden konnte. Am Beispiel Nordrhein-Westfalen lässt sich die Bedeutung dieses Drohmittels verdeutlichen. Demgegenüber war das Land Hessen nicht Getriebener, sondern Begründer dieser Dynamik, wenn auch Getriebener des Ministerpräsidenten. Schließlich gab es auch Länder wie Rheinland-Pfalz und die neuen ostdeutschen Bundesländer, welche in mehr oder weniger übergreifendem Konsens den Weg zur plebiszitären Bürgermeisterverfassung beschritten (für das Folgende vgl. mit weiteren Verweisen Holtkamp 2005, Arnim 2002, Haus 2005b). In Hessen betrieb Ministerpräsident Wallmann (CDU) entschieden die Einführung der Direktwahl, ohne dass diese Idee bereits in seiner eigenen Partei verankert gewesen wäre. In den Jahren zuvor waren es nur die kleinen Parteien gewesen, welche Unterstützung für die Urwahl der Bürgermeister zeigten. Bei der FDP und dem Landesverband der Freien Wählergemeinschaften war dies schon längere Zeit der Fall, die GRÜNEN nahmen 1988 eine entsprechende Forderung in ihr Landesprogramm auf, kritisierten dann jedoch den Entwurf der Landesregierung als Beförderung eines „Wahlmonarchentums“ (Stargardt 1991: 147). Mit dem „Sommerloch-Thema“ (ibid.: 146) gelang es Wallmann, die Landtagsfraktionen, einschließlich seiner eigenen, zu überrumpeln. Die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten machte in Hessen freilich eine Verfassungsänderung erforderlich. Skurrilerweise lag darin die einmalige Chance des Ministerpräsidenten: Während die Erhebung in den Verfassungsrang gemeinhin Veränderungen erschweren soll, führte sie in diesem Fall zu einem Abbau von Widerständen. Die Pointe lag darin, dass die hessische Landesverfassung für Verfassungsänderungen nur die absolute Mehrheit des Landtages, zugleich aber die Mehrheit in einem Volksentscheid vorsieht (Art. 123 II). Da die bürgerliche Mehrheit somit auch ohne die Opposition den Prozess der Verfassungsänderung in Gang bringen konnte, musste sich die Opposition fragen, ob sie in Antizipation des Volksentscheids mitziehen oder gegen das Vorhaben stimmen sollte. Die SPD entschied sich schließlich für die Unterstützung des Vorhabens. Im Jahr 1991 wurde der Volksentscheid abgehalten, bei dem sich über 80 % der Teilnehmer für die Urwahl aussprachen – der Ministerpräsident hatte zu Recht darauf spekuliert, dass der Wähler nicht auf das Angebot einer anscheinend erweiterten Machtausübung verzichten würde. Paradoxerweise steht der Reforminitiator Hessen heute als Ausnahmefall da, weil das Land zugleich an seiner traditionellen Magistratsverfassung (kollegiale Verwaltungsführung unter Beteiligung Ehrenamtlicher) festgehalten hat. Die weitere Entwicklung war entscheidend von dieser hessischen Erfahrung bestimmt: Da die Länderverfassungen im Gegensatz zum Grundgesetz allesamt direktdemokratische Elemente enthalten, standen Ablehner der Urwahl (vor allem auf Seiten der SPD) unter dem Damoklesschwert politischer Niederlagen, falls die Befürworter (in erster Linie auf Seiten der CDU, zum Teil aber auch unter Führungspersonen der SPD) es schafften, Volksbegeh-

Kommunalverfassungspolitik der Bundesländer als lokale Institutionenpolitik

301

ren zu initiieren (Holtkamp 2005). Dennoch sind Unterschiede zwischen den Ländern festzuhalten: Während der Prozess in Hessen praktisch ohne Vorgeschichte auf die Initiative des Ministerpräsidenten Wallmann als politischem Unternehmer zurückging, wurde in Rheinland-Pfalz und insbesondere in Nordrhein-Westfalen schon seit längerer Zeit über Korrekturen am geltenden Kommunalverfassungsrecht nachgedacht. Verlief dieser Diskussionsprozess in Rheinland-Pfalz weitgehend konsensual und wurde durch eine EnqueteKommission des Landtags begleitet, so war er in NRW stark von Konflikten zwischen und innerhalb der Landesparteien geprägt, bei denen die Androhung einer Abstrafung durch ‚den Souverän’ eine entscheidende Rolle spielte. Freilich war der beinahe overlapping consensus in Rheinland-Pfalz wohl nicht zuletzt durch eine einseitige Expertenbeteiligung (mit Hans-Georg Wehling, Gerhard Banner und Ministerialrat Engelken vom IM Baden-Württemberg – also ausschließlich Sympathisanten der süddeutschen Ratsverfassung) erreicht worden (LT-Drucksache 11/4707). In Rheinland-Pfalz wie in Hessen waren die GRÜNEN jedoch auch nach eingehender Diskussion gegen die Einführung der Urwahl von Bürgermeistern und Landräten, da nach ihrer Auffassung die starke Stellung eines direkt gewählten Bürgermeisters keineswegs mit ihren Demokratieidealen kompatibel zu sein schien.8 Für NRW können die wesentlichen Etappen wie folgt zusammengefasst werden: Auf die politische Agenda wurde das Thema Kommunalverfassungsreform durch den Nordrhein-Westfälischen Städtebund gesetzt, der in seiner Fachzeitschrift bereits 1987 einen Aufsehen erregenden Artikel veröffentlichte, welcher offensichtlich vor allem von den Hauptverwaltungsbeamten als drängend wahrgenommene Probleme des ‚Reibungsverlustes’ zwischen Politik und Verwaltung artikulierte (Kleinfeld/Nendza 1996: 82).9 Interessanterweise kam die Kritik also v.a. von jener Akteursgruppe, welche dafür verantwortlich gemacht werden kann, dass der von der britischen Besatzungsmacht intendierte Vorrang der (parlamentarischen) Politik nie konsequent vollzogen wurde (vgl. Naßmacher/Naßmacher 2007: 44). Eine umfassende Reform der Gemeindeordnung fand dann im zuständigen Innenminister Schnoor ihren politischen Unternehmer. Schnoor ließ u.a. im Jahr 1988 eine Umfrage nicht nur unter allen ehrenamtlichen Bürgermeistern, Hauptverwaltungsbeamten und Beigeordneten, sondern auch unter den ca. 19.000 Ratsmitgliedern und Mitgliedern der Bezirksvertretungen in NRW durchführen. Im Februar 1991 legte Schnoor seine Überlegungen zu einer Reform dar und befürwortete u.a. die Einrichtung eines Gemeindevorstandes, die Zusammenlegung der Ämter von Bürgermeister und Gemeindedirektor und lokale Referenden. Fragen wie die Amtsdauer und die Wahl des Bürgermeisters wurden relativ offen gehalten, eine gewisse Präferenz für die baden-württembergischen Regelungen war jedoch erkennbar. Da solche Vorstellungen bei der im Landtag mit absoluter Mehrheit regierenden und in den Kommunen dominierenden SPD zu dieser Zeit nicht durchsetzbar waren, erarbeitete die Landesregierung zu-

8 In dieser Ablehnung der Urwahl durch die rheinland-pfälzischen GRÜNEN – also der ehedem für Basisdemokratie angetretenen und noch immer referendumsfreundlichen Partei – kommt der Deutungskampf um das anerkannte Verständnis direkter Demokratie zum Ausdruck. Auch in wissenschaftlichen Publikationen wurde die Direktwahl des Bürgermeisters zunehmend als Form direkter Demokratie ausgegeben, obwohl besser von einer (Hyper-)Präsidialisierung gesprochen werden sollte. 9 Wie intensiv die Debatte bereits in dieser Frühphase – vor dem Umbruch in der DDR und der Neubewertung direktdemokratischer Momente – geführt wurde, belegt die Materialsammlung von Mombaur (1988).

302

Michael Haus

nächst einen äußerst moderaten Gesetzesvorschlag, der im Grunde nur Bürgerbegehren/ -entscheide als bedeutende Neuerung enthielt. Zu diesem Zeitpunkt (Februar 1993) schien die Reform gescheitert (vgl. Derlien 1994). Maßgeblich für die dann einsetzende Dynamik war der „radikale Kurswechsel“ (Kleinfeld/Nendza 1996: 86) der Landes-SPD, die bereits Mitte 1993 für die Abschaffung der Doppelspitze und die Direktwahl des Bürgermeisters eintrat. Zuvor hatte die CDU/FDP-Opposition im Landtag damit gedroht, ein Volksbegehren zu initiieren, um diese beiden Ziele durchzusetzen (was dann im September 1993 auch tatsächlich erfolgte). Sie machte sich damit das Beispiel der Geschehnisse in Hessen zunutze. Die drei westdeutschen Länder Hessen, Rheinland-Pfalz und NRW stehen damit für unterschiedliche Prozesse auf dem Weg zur Übernahme der plebiszitären Bürgermeisterverfassung (Haus 2005b): Marginalisierung von Parlament und Landesparteien durch einen Ministerpräsidenten (Hessen), deliberative Konsenssuche unter den Parteien (RheinlandPfalz) und kompetitives ‚Vorführen’ der Regierung durch die Opposition (NRW). Letzteres zeichnete sich auch in allen weiteren betroffenen Flächenländern der alten Bundesrepublik ab, wobei etwa in Niedersachsen die SPD auch von ihrem hausinternen Modernisierer Schröder unter Druck gesetzt wurde (Arnim 2002, Holtkamp 2005). Mit der Gemeindeordnung der DDR wurde versucht, aus den bereits existierenden Regelungen der anderen Bundesländer die „Schokoladenseiten“ (Kleinfeld/Nendza 1996: 115) zu übernehmen, wobei die massive Kritik am norddeutschen Ratsmodell bereits deutlich auf den Willensbildungsprozess in Ostdeutschland ausstrahlte (ibid.: 55). Die fünf neuen Länder legten sich 1993/94 in ihren Kommunalverfassungen auf die Direktwahl des exekutiven Bürgermeisters fest (in Mecklenburg-Vorpommern galt bis 1999 eine Übergangsregelung), wichen vom süddeutschen Modell allerdings durch plebiszitäre Abwahlregelungen ab. Das Vorbild der süddeutschen Gemeindeordnung wirkte sich besonders deutlich in Sachsen als dem Partnerland von Baden-Württemberg und Bayern aus (ibid.: 55). Im SPDgeführten Brandenburg setzten die Koalitionspartner FDP und Bündnis 90 die Direktwahl – gegen den Willen der Landes-SPD – durch (Holtkamp 2005: 28). Auch in den westlichen Ländern, etwa Nordrhein-Westfalen, schien zunächst einiges darauf hinzudeuten, dass man die Stärken verschiedener Kommunalverfassungsmodelle zu synthetisieren beabsichtigte. Die allgemeine Erkenntnis der regionalen Policy-Diffusionsforschung wie im Übrigen auch der Institutionentheorie, dass die Imitation weit wahrscheinlicher ist als die Synthese oder gar die Reinvention (Kern 2000: 263, Offe 1996: 211-214), wurde jedoch auch hier bestätigt. Dort, wo nach wie vor nennenswerte Abweichungen bestehen, kann ein beträchtlicher Druck konstatiert werden, sich auch in die letzten Anpassungen zu fügen. Intellektuelle Ressourcen werden dann vor allem in der Absicht mobilisiert, sich überhaupt noch in seiner Abweichung rechtfertigen zu können, wie das Beispiel Hessen deutlich macht.

Weiterführung und Vollendung der Baden-Württembergisierung der inneren Kommunalverfassung? Gemäß einer einflussreichen Situationsbeschreibung durch Kommunal(verfassungs)rechtler wie etwa Hans Herbert von Arnim war der Weg zur ‚optimalen Kommunalverfassung’ in zahlreichen Bundesländern nach der Reformwelle bis zur Mitte der 1990er Jahre noch nicht abgeschlossen (Arnim 1997). Alles, was den baden-württembergischen Verhältnissen wider-

Kommunalverfassungspolitik der Bundesländer als lokale Institutionenpolitik

303

sprach, wurde als Inkonsequenz angeprangert. So wurde in Hessen der Magistrat nicht abgeschafft; in Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein blieb es bei der Trennung zwischen Bürgermeisteramt und Ratsvorsitz; NRW und Niedersachsen beließen es zunächst bei identischen Amtsperioden von Bürgermeister und Rat. Das kommunale Wahlrecht wurde zunächst in NRW, Schleswig-Holstein, Thüringen, Rheinland-Pfalz und im Saarland nicht von Sperrklauseln befreit, und die Personalisierung der Ratswahlen nicht (NRW) bzw. nur zögerlich (mit insgesamt drei zu vergebenden Stimmen – in sechs weiteren Ländern) eingeführt (siehe Tabelle 1). Seitdem ist jedoch eine weitere Annäherung an baden-württembergische Verhältnisse festzustellen. Die Sperrklauseln wurden in NRW und Mecklenburg-Vorpommern durch Gerichtsurteile gekippt, während Hessen nach dem neuerlichen Regierungswechsel zugunsten des bürgerlichen Lagers im Frühjahr 1999 eine Wahlrechtsreform durchführte, die zur weitest möglichen Institutionalisierung von Kumulieren und Panaschieren und zur Abschaffung der Sperrklausel sowie einer weiteren Stärkung der Stellung der Bürgermeister und Landräte führte (v.a. durch Geschäftsverteilungsbefugnis im Verwaltungsorgan, Vertretung der Gemeinde in Gesellschaften). Dabei stimmten SPD und Bündnis 90/GRÜNE in Innenausschuss und Parlament gegen die Vorlage der Landesregierung (Landtag Hessen, Drucksache 15/896). Die Landesregierung unter Ministerpräsident Koch reagierte insbesondere auf das Problem drohender Handlungsunfähigkeit der Bürgermeister bei gegenläufigen Mehrheiten in den Stadtverordnetenversammlungen und Magistraten. Sie hat jedoch nicht, wie dies von den Anhängern des reinen baden-württembergischen Modells gefordert wurde, endgültig Abschied genommen von der Magistratsverfassung. In Niedersachsen kam es 2005 zur Entkopplung von Rats- und Bürgermeisterwahlen und der Verlängerung der bürgermeisterlichen Amtsperiode auf acht Jahre. Dies wurde (neben der Einführung von Kumulieren und Panaschieren) auch im Koalitionsvertrag von CDU und FDP in NRW 2005 festgelegt und von Parteitagen abgesegnet. Allerdings war im Anschluss beträchtlicher Widerstand der CDU-Basis zu verzeichnen (DIE WELT vom 10.09. 2006). SPD und GRÜNE standen dem Vorhaben von vornherein ablehnend gegenüber. Schließlich einigten sich die Regierungsfraktionen im Dezember 2006 auf die Wahlentkopplung und eine Amtsdauer von sechs Jahren, die der Landtag im darauf folgenden Jahr auch beschloss. An der gegenwärtigen Diskussion in Brandenburg kann die nach wie vor populäre Propagierung des Vorbilds Süddeutschland/Baden-Württemberg verdeutlicht werden. Nachdem das Land unter der SPD-CDU-Regierung im Jahr 2005 nun doch eine umfassende Gemeindegebietsreform auf den Weg gebracht hat, diskutiert das Eckpunktepapier vom November 2005 im Rahmen der Gesamtnovellierung der Gemeindeordnung auch die Abschaffung der Doppelspitze (Trennung von Bürgermeisteramt und Ratsvorsitz) sowie die Einführung formaljuristischer Qualifikationserfordernisse und weitere Schritte zur Stärkung der hauptamtlichen Verwaltungsspitze. Mit dem Kommunalwissenschaftlichen Institut (KWI) an der Universität Potsdam haben die Anhänger des baden-württembergischen Mo-

304

Michael Haus

dells wieder eine wichtige Think-tank-Einrichtung (siehe Nierhaus 2006).10 Die Positionen der Landesparteien sind jedoch auch hier differenziert und bisweilen uneindeutig.11 Tabelle 1:

Reformen der Kommunalverfassung im Überblick Personalisierung der Ratswahlen

Land

Kommunalverfassung vor Reformen

Plebiszitäre Bürgermeisterverfassung

Obligatorischer Ratsvorsitz des BM

Direktdemokratische Beteiligung

BB

Kommunalverfassung der DDR von 1990 süddeutsche Ratsverfassung süddeutsche Ratsverfassung ‚unechte’ Magistratsverfassung Kommunalverfassung der DDR von 1990 norddeutsche Ratsverfassung norddeutsche Ratsverfassung Bürgermeisterverfassung Kommunalverfassung der DDR von 1990 Magistratsverfassung (größere Städte) Bürgermeisterverfassung Kommunalverfassung der DDR von 1990 Kommunalverfassung der DDR von 1990

1993

-

+

Entkopplung Amtszeit BM/ Wahlzeit Räte in 1993

+

+

+

+

+

+

+

1995

-

+

1991/92

-

1992

1992**

1999

1994/1999

-

+

1994/1999

1993*

1996

-

1996

2005

+

1994

1994

1994

2007

-

1993

+

1993

1993**

+

1994

-

+

1994

1993*

1997

-

1990

1997

-

1994

+

1997

1994**

-

1993/94

1994

+

1994

1993*

1994

1994

+

1994

1994*

BW BY HE MV NI NW RP ST SH SL SN TH

1993*

+ Anfang der 1990er Jahre bereits vorhanden; – bislang nicht eingeführt * Das Kommunalwahlgesetz der postsozialistischen DDR sah die Vergaben von drei Stimmen vor, die aber nicht kumuliert oder panaschiert werden konnten. ** Zuvor Abwahlmöglichkeit durch den Rat trotz abweichender Amtszeit des BM. Quellen: Bogumil/Holtkamp 2006: 63 und 65, Schefold/Neumann 1996 sowie eigene Recherchen.

10 Das Themenheft des KWI zur Kommunalverfassungsreform in Brandenburg (KWI Info 7/2006) wird bezeichnenderweise durch Hans Herbert von Arnims Szenario der gegen die Interessen der ‚politischen KlasseȆ erzwungenen, aber aufgrund dieser Interessen noch nicht überall vollendeten ‚OptimierungȆ der Kommunalverfassungen durch die Übernahme baden-württembergischer Bestimmungen eröffnet (textidentisch mit Arnim 2002). 11 Die Positionen der Parteien werden ebenfalls in der Ausgabe 7/2006 der KWI Info dokumentiert.

Kommunalverfassungspolitik der Bundesländer als lokale Institutionenpolitik

305

Insgesamt ist festzustellen, dass alle Novellierungsentscheidungen nach Einführung der plebiszitären Bürgermeisterverfassung stets eine weitere Annäherung in Richtung süddeutscher bzw. baden-württembergischer Zustände mit sich brachten (wobei die 2002 von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in Schleswig-Holstein durchgesetzte Novelle zumindest die Tendenz einer „Stärkung des Ehrenamtes“ gegenüber dem Bürgermeister erkennen lässt, vgl. Schliesky 2003).

4

Schlussfolgerungen

Über die Jahrzehnte bundesrepublikanischer Geschichte hinweg kann insofern eine Veränderung im Fokus der Kommunalverfassungspolitik der Länder festgestellt werden, als Fragen der inneren Kommunalverfassung seit Ende der 1980er Jahre einen Aufmerksamkeitsgewinn erfahren haben, welcher dann zu zuvor kaum erwartbaren weitreichenden Entscheidungen führte. In dieser Verschiebung zeigt sich ein Wandel im Verständnis dessen, worin gute Kommunalpolitik aus Landesperspektive besteht: Stand über die ersten Jahrzehnte hinweg der Auf- und Ausbau administrativer Ressourcen im Zeichen der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse und professioneller Verwaltungsstandards im Vordergrund, so geht es in der jüngeren Vergangenheit zunehmend um Fragen des guten Regierens angesichts einer in Akzeptanznöte geratenen Parteiendemokratie. Insgesamt lässt sich feststellen, dass v.a. durch die plebiszitäre Bürgermeisterverfassung die „Kommunalvertretung als eindeutige Verliererin“ (Gabriel 1999: 165) dasteht. Eine möglichst ‚sparsame’, d.h. auf überschaubare strategische Anreize setzende, Erklärung von zunehmender Konvergenz und verbleibender Divergenz erfasst fraglos die wesentlichen Entscheidungen in den westdeutschen Ländern (vgl. Holtkamp 2005). Unter dem Druck des direktdemokratischen Damoklesschwertes und des Parteienwettbewerbs hatten es inhaltliche Vorbehalte gegenüber der Direktwahl des Bürgermeisters gewiss schwer, Gehör zu finden. Die oben dargelegte, von Ellwein und anderen präsentierte Argumentationslinie der Machtbasiertheit struktureller Reformen von Verwaltung und kommunaler Selbstverwaltung in Deutschland ließe sich dann so weiterführen, dass durch demokratiepolitische Profilierung politische Gelegenheiten genutzt wurden, ohne die Interessen der Landesverwaltungen zu verletzen (etwa durch ‚Uneinheitlichkeit’ der Verfasstheit kommunaler Gebietskörperschaften, die den auf Einheitlichkeit der Verwaltung fixierten Verwaltungseliten ein Dorn im Auge gewesen wäre) und ohne im eigenen Bereich politischer Willensbildung Konsequenzen ziehen zu müssen. Die Unterscheidung zwischen staatlicher Ebene und kommunaler Ebene konnte als Begründung dafür herhalten, dass eine Direktwahl der exekutiven Spitze nur für die Kommunen sinnvoll sei – zumal andernfalls die Repräsentation der Länder im Bundesrat zu kompliziert und konfliktträchtig würde. Damit wird dann zugleich der Zustand festgeschrieben, dass die Kommunen nur über Anhörungsmöglichkeiten, nicht über Mitbestimmungsbefugnisse als vollwertige dritte Ebene im Bundesstaat verfügen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Diskussion um eine Reformnotwendigkeit des norddeutschen Modells mit seiner Zweigleisigkeit von Bürgermeister und Stadtdirektor in Nordrhein-Westfalen bereits Ende der 1980er Jahre intensiv geführt wurde.

306

Michael Haus

Außerdem wurde in Rheinland-Pfalz bereits im März 1988 die Enquete-Kommission eingesetzt, welche sich mit Möglichkeiten von mehr Bürgerbeteiligung in den Kommunen befasste und dabei – bei selektiver Experteneinbeziehung – auch zu einer übergreifenden Befürwortung direkt gewählter Bürgermeister führte. Zu beachten ist auch, dass der Anstoß in Hessen nicht durch eine Volksinitiative kam. Ob es für den hessischen Ministerpräsidenten Wallmann strategisch sinnvoll war, mit der Initiative zur Direktwahl aufzutrumpfen, ist zweifelhaft – schließlich verlor er die zeitgleich mit dem Volksentscheid abgehaltene Landtagswahl. Die hessische CDU selbst war bis dato von ‚ihrem’ Kommunalverfassungssystem durchaus überzeugt und strebt auch jetzt nicht nach der Abschaffung der Magistratsverfassung. Es erscheint von daher geboten, die Entwicklung auch als übergreifende Durchsetzung einer bestimmten, hegemonial gewordenen Deutung der ‚guten’ oder ‚modernen’ Kommunalverfassung zu verstehen. Zumindest diente der (einseitige) Rückgriff auf wissenschaftliche Expertise der Überwindung skeptischer Einwände und gegenläufiger Interessen im parlamentarischen Raum. Eine wesentliche Rolle spielte eine Komplementaritätsrhetorik der gleichzeitigen Maximierbarkeit von politischer Partizipation und effizienter Sachpolitik, die bei vorangegangenen Reformdiskussionen so nicht zu finden war. Den Verfechtern des baden-württembergischen Modells gelang es, einen institutionenpolitischen Diskurs zu etablieren, welcher eine personalistische Einheit von Effizienz und demokratischer Mitbestimmung aufwies. So wurde die Direktwahl der Bürgermeister pauschal als ‚mehr Demokratie’ ausgewiesen, die direktdemokratischen Mitbestimmungsbefugnisse hingegen als adäquates Kontrollmittel gegenüber einem mit größeren Befugnissen ausgestatteten Bürgermeister bezeichnet (z.B. Wehling 1999).12 Kumulieren und Panaschieren konnten zugleich als Steigerung von Wahlmöglichkeiten des Bürgers (d.h. ‚mehr DemokratieȆ) als auch von Effizienz des lokalen Institutionengefüges ausgegeben werden, da die Zurückdrängung der Parteibindung parteipolitisch induzierte ‚Reibungsverluste’ mit dem direkt gewählten Bürgermeister unwahrscheinlicher machen würde (Banner 1989, Arnim 1997). Die Überzeugung, dass programmatischstrategische Funktionen besser durch Personen als durch Parteien gewährleistet werden können, ist ein zentraler Baustein in diesem belief system (Sabatier).13 Tatsächlich spricht hingegen einiges dafür, dass durch die Entkopplung von Rats- und Bürgermeister-Legitimation, aber auch durch den Wegfall von Sperrklauseln vor allem die Kosten der Herstellung politischer Mehrheiten gestiegen sind (vgl. Sack/Gissendanner 2007) und sich insgesamt Kommunalpolitik als unübersichtlicheres und damit auch risikoträchtigeres Geschehen erweist. Was die Input-Legitimation durch Partizipation betrifft, so sollte den Reformbefürwortern zu denken geben, dass die kommunale Wahlbeteiligung zum Teil dramatisch niedrige Werte angenommen hat. So erscheint selbst die Behauptung, dass die 12 Beide Behauptungen sind problematische Konstruktionen: Personalplebiszite gehören einer ganz anderen Entscheidungslogik an als direktdemokratische Sachentscheidungen; und dass die Bürgerbegehren und -entscheide die gestärkte Verwaltungsspitze wirksam kontrollieren könnten, ist ebenfalls nicht einsichtig. Gerade im süddeutschen Raum wurde kaum von diesem Instrument Gebrauch gemacht. 13 Einen wirklichen Leistungsvergleich der kommunalen Praxis im Rahmen unterschiedlicher Gemeindeordnungen unter Beachtung von Anforderungen der Vergleichbarkeit und Einbeziehung eines komplexen Evaluationsrasters hat es nicht gegeben, und dort, wo dies in Ansätzen unternommen wurde, stellten sich alle Annahmen eines signifikanten Zusammenhangs zwischen Gemeindeordnung und Performanz als unhaltbar heraus (siehe die vorzügliche Zusammenfassung bei Buß 2002: 40-52).

Kommunalverfassungspolitik der Bundesländer als lokale Institutionenpolitik

307

Direktwahl des Bürgermeisters nahezu einen gesellschaftlichen Konsens widerspiegelt, in einem fahlen Licht: Welchen Status hat eine vorherrschende Meinung in Bezug auf einen institutionellen Teilaspekt, wenn diesem keine institutionelle Gesamtfunktionstüchtigkeit korrespondiert? Statt von informiertem Konsens wäre wohl eher von der lautstarken, aber nicht immer sonderlich artikulierten vox populi zu sprechen. Übrigens: Bremerhaven ist heute die einzige deutsche Kommune mit autonomer Entscheidungsbefugnis über ihre innere Kommunalverfassung – und Verteidiger der Magistratsverfassung können darauf verweisen, dass die Stadt eben an diesem Modell festgehalten hat (Dreßler 2003: 133). Das Eintreten für eine Optionslösung böte freilich kaum Möglichkeiten der mit landespolitischen Themen stets schwierigen Profilierung vor den Wählern, weil sie keine Ressentiments gegenüber der politische Klasse bedienen, sondern im Gegenteil Vertrauen in die lokale Demokratie und deren repräsentative Organe voraussetzen würde. Unitarisierung gemäß einem gesellschaftlichen Antiparteien-Konsens erschien für die landespolitischen Akteure als bessere Alternative gegenüber Dezentralisierung.

Literatur Arnim, Hans Herbert von, 1997: Auf dem Weg zur optimalen Gemeindeverfassung?, in: Lüder, Klaus (Hg.): Staat und Verfassung. Fünfzig Jahre Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Berlin, 297-339. Arnim, Hans Herbert von, 2000: Strukturprobleme des Parteienstaats, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16/2000, 30-38. Arnim, Hans Herbert von, 2002: Die politische Durchsetzung der Kommunalverfassungsreform der neunziger Jahre, in: Die Öffentliche Verwaltung, 585-592. Banner, Gerhard, 1982: Zur politisch-administrativen Steuerung in der Kommune, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, Jg. 20, Bd. 1, 26-46. Banner, Gerhard, 1989: Kommunalverfassungen und Selbstverwaltungsleistung, in: Schimanke, Dieter (Hg.): Stadtdirektor oder Bürgermeister. Beiträge zu einer aktuellen Kontroverse. Basel, 37-61. Banner, Gerhard, 2000: Kommunale Verwaltungsreform und staatlicher Modernisierungsrückstand, in: Andersen, Uwe (Hg.): Gemeinden im Reformprozeß. Schwalbach/Ts., 34-45. Banner, Gerhard, 2004: Erfahrungen mit Changemanagement aus der Sicht der Kommunalverwaltung, in: Baacke, Eugen/Schröter, Welf (Hg.): Umbau zur Dienstleistungskommune. Changemanagement für Electronic Government. Mössingen-Talheim, 17-26. Bogumil, Jörg, 2000: Modernisierung der Landesverwaltungen – Institutionelle Ausgangslage, Implementationsstand und Zukunftsperspektiven, in: Kißler, Leo/Kersting, Norbert/Lange, Hans-Jürgen (Hg.): Politische Steuerung und Modernisierung der Landesverwaltung. Baden-Baden, 123-133. Bogumil, Jörg/Holtkamp, Lars, 2006: Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung. Eine policyorientierte Einführung. Wiesbaden. Borchmann, Michael, 1984: Kommunalverfassungssysteme, in: Voigt, Rüdiger (Hg.): Handwörterbuch zur Kommunalpolitik. Opladen, 271-274. Bovenschulte, Andreas/Buß, Annette, 1996: Plebiszitäre Bürgermeisterverfassungen. Baden-Baden. Buß, Annette, 2002: Das Machtgefüge in der heutigen Kommunalverfassung. Zur Machtverteilung zwischen Vertretungskörperschaft und Hauptverwaltungsorgan bei Urwahl der Bürgermeister. Baden-Baden. Caulfield, Janice/Larsen, Helge O., 2002: Introduction, in: Dies. (Hg.): Local Government at the Millennium. Opladen, 9-23.

308

Michael Haus

Derlien, Hans-Ulrich, 1994: Kommunalverfassungen zwischen Reform und Revolution, in: Gabriel, Oscar W./Voigt, Rüdiger (Hg): Kommunalwissenschaftliche Analysen. Bochum, 47-78. Dreßler, Ulrich, 2003: Kommunalpolitik in Hessen, in: Wehling, Hans-Georg (Hg.): Kommunalpolitik in den deutschen Ländern. Wiesbaden, 131-152. Ellwein, Thomas, 1993: Der Staat als Zufall und als Notwendigkeit. Die jüngere Vewaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe. Bd. 1: Die öffentliche Verwaltung in der Monarchie 1815-1918. Opladen. Gabriel, Oscar W., 1979: Die politische Stellung der Gemeinden im föderativen Verfassungssystem, in: Ders.: Kommunalpolitik im Wandel der Gesellschaft. Königstein/Ts., 25-61. Gabriel, Oscar W. 1999: Kommunale Selbstverwaltung in Deutschland, in: Ellwein, Thomas/Holtmann, Everhard (Hg.), 1999: 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen – Entwicklungen – Perspektiven. Wiesbaden, 154-167. Grunow, Dieter/Pamme, Hildegard, 2000: Städte und Gemeinden in verfassungsgeschichtlicher Perspektive, in: Bellers, Jürgen/Frey, Rainer/Rosenthal, Claudius (Hg.): Einführung in die Kommunalpolitik. München und Wien, 45-70. Haus, Michael, 2005a: Lokale Institutionenpolitik in Deutschland zwischen strategischen Entscheidungen und kulturellen Deutungsprozessen – Versuch einer konzeptionellen Annäherung, in: Ders. (Hg.): Lokale Institutionenpolitik in Deutschland. Zwischen Innovation und Beharrung. Wiesbaden, 7-54. Haus, Michael, 2005b: Lernen im Föderalismus? Die Reform der Kommunalverfassungen in Deutschland, in: Ders. (Hg.): Lokale Institutionenpolitik in Deutschland. Zwischen Innovation und Beharrung. Wiesbaden, 56-84. Hesse, Joachim J./Benz, Arthur, 1990: Modernisierung der Staatsorganisation. Institutionspolitik im internationalen Vergleich: USA, Großbritannien, Frankreich, Bundesrepublik Deutschland. BadenBaden. Hesse, Joachim J./Ellwein, Thomas, 81997: Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Band 1: Text. Wiesbaden. Holtkamp, Lars, 2005: Reform der Kommunalverfassungen in den alten Bundesländern – eine Ursachenanalyse, in: Bogumil, Jörg/Heinelt, Hubert (Hg.): Bürgermeister in Deutschland. Politikwissenschaftliche Studien zu direkt gewählten Bürgermeistern. Wiesbaden, 13-32. Jann, Werner, 1999: Zur Entwicklung der öffentlichen Verwaltung, in: Ellwein, Thomas/Holtmann, Everhard (Hg.), 1999: 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen – Entwicklungen – Perspektiven. Wiesbaden, 520-543. Jann, Werner, 2001: Verwaltungsreform als Verwaltungspolitik: Verwaltungsmodernisierung und Policy-Forschung, in: Schröter, Eckhard (Hg.): Empirische Policy- und Verwaltungsforschung. Lokale, nationale und internationale Perspektiven. Opladen, 321-344. Jann, Werner, 2002: Der Wandel verwaltungspolitischer Leitbilder: Von Management zu Governance?, in: König, Klaus (Hg.): Deutsche Verwaltung an der Wende zum 21. Jahrhundert. Baden-Baden, 279-303. Keating, Michael, 1995: Size, efficiency and democracy, in: Judge, David/Stoker, Gerry/Wolman, Harold (Hg.): Theories of Urban Politics. London, 117-134. Kern, Kristine, 2000: Die Diffusion von Politikinnovationen. Umweltpolitische Innovationen im Mehrebenensystem der USA. Opladen. Kleinfeld, Ralf/Nendza, Achim, 1996: Die Reform der deutschen Gemeindeverfassungen unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in Nordrhein-Westfalen und in den neuen Bundesländern, in: Kleinfeld, Ralf: Kommunalpolitik. Eine problemorientierte Einführung, unter Mitarbeit von R. Heidemann, A. Nendza und F. Treutler. Opladen, 73-156. König, Christine, 2004: Auf der Suche nach der Zukunft von Rhein-Main: Kommunikation ohne Ergebnis?, Darmstadt: http://cms.ifs.tu-darmstadt.de/fileadmin/ pg/media/papers/zukunft.pdf.

Kommunalverfassungspolitik der Bundesländer als lokale Institutionenpolitik

309

Laux, Eberhard, 1998: Erfahrungen und Perspektiven der kommunalen Gebiets- und Funktionalreformen, in: Wollmann, Hellmut/Roth, Roland (Hg.): Kommunalpolitik. Politisches Handeln in den Gemeinden. Bonn, 168-185. Mombaur, Peter M. (Hg.) (1988): Neue Kommunalverfassung für Nordrhein-Westfalen? Beiträge und Analysen aus der Praxis, Abhandlungen zur Kommunalpolitik Bd. 13, herausgegeben vom Nordrhein-Westfälischen Städte- und Gemeindebund. Köln. Naßmacher, Hiltrud/Naßmacher, Karl-Heinz, 22007: Kommunalpolitik in Deutschland. Wiesbaden. Nierhaus, Michael, 2006: Die Kommunalverfassung – monistisch muss sie sein!, in: KWI Info 7/2006, 1620. Nullmeier, Frank, 2003: Policy-Forschung und Verwaltungswissenschaft, in: Münkler, Herfried (Hg.): Politikwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg, 285-323. Offe, Claus, 1996: Designing Institutions in East European Transitions, in: Goodin, Robert E. (Hg.): The Theory of Institutional Design. Cambridge, 199-226. Sack, Detlef/Gissendanner, Scott S., 2007: Kein Geld, schwache Parteien, viele Netzwerke und ein Bürgermeister – Trends lokaler Steuerung in Deutschland, in: Städte im Umbruch, Nr. 4, 29-35. Saldern, Adelheid von, 1998: Rückblicke. Zur Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland, in: Wollmann, Hellmut/Roth, Roland (Hg.): Kommunalpolitik. Politisches Handeln in den Gemeinden. Bonn, 23-36. Schefold, Dian/Neumann, Maja, 1996: Entwicklungstendenzen der Kommunalverfassungen in Deutschland: Demokratisierung und Dezentralisierung? Basel u.a. Schliesky, Utz, 2003: Reform der Gemeindeordnung in Schleswig-Holstein, in: Schleswig-Holsteinische Anzeigen, Teil A, Nr. 5, 105-108. Seibel, Wolfgang, 21997: Verwaltungsreformen, in König, Klaus/Siedentopf, Heinrich (Hg.): Öffentliche Verwaltung in Deutschland. Baden-Baden: 87-106. Ständige Deputation des Deutschen Juristentags (Hg.), 1972: Verhandlungen des 49. Deutschen Juristentags in Düsseldorf. München 1972. Bd. II, 2. Teilbd., Abschn. D. Stargardt, Hans-Joachim, 1991: Stärkung der Kommunalparlamente oder kommunales ‚Wahlfürstentum’?, in: Verwaltungsrundschau, Jg. 37, Heft 5, 146-154. Stoker, Gerry, 21991: The Politics of Local Government. Basingstoke u.a. Wehling, Hans-Georg, 1999: Besonderheiten der Demokratie auf Gemeindeebene, in: Arnim, Hans Herbert von (Hg.): Demokratie vor neuen Herausforderungen. Berlin, 91-100. Wollmann, Hellmut, 1997: Transformation der ostdeutschen Kommunalstrukturen: Rezeption, Eigenentwicklung, Innovation, in: Ders./Derlien, Hans-Ulrich/König, Klaus/Renzsch, Wolfgang/Seibel, Wolfgang (Hg.): Transformation der politisch-administrativen Strukturen in Ostdeutschland. Opladen, 259327. Wollmann, Hellmut, 1998: Kommunalvertretungen: Verwaltungsorgane oder Parlamente?, in: Ders./ Roth, Roland (Hg.): Kommunalpolitik. Politisches Handeln in den Gemeinden. Bonn, 50-66. Wollmann, Hellmut, 2002a: Verwaltungspolitische Reformdiskurse und -verläufe im internationalen Vergleich, in: König, Klaus (Hg.): Deutsche Verwaltung in der Wende zum 21. Jahrhundert. BadenBaden, 489-524. Wollmann, Hellmut, 2002b: Verwaltung in der deutschen Vereinigung, in: König, Klaus (Hg.): Deutsche Verwaltung in der Wende zum 21. Jahrhundert. Baden-Baden, 33-58.

Trennen sich die Wege? Die Bundes- und Europapolitik der Länder1 Maximilian K. Grasl

1

Einleitung

Ein überraschendes Bild bot sich dem Beobachter am 7. März 2007 in Brüssel: Am Vortag des Frühjahrsgipfels des Europäischen Rates unter deutscher Präsidentschaft versammelten sich die 16 deutschen Länderchefs zur Ministerpräsidentenkonferenz erstmals in der Hauptstadt Europas. Das Zeichen, das dabei gesetzt werden sollte, war unverkennbar: Bevor die „großen“ Regierungschefs zusammenkommen, um über die Zukunft des Integrationswerkes zu beraten, symbolisiert dieses Treffen: Wir waren zuerst da! Und dies stimmt auch im übertragenen Sinne, denn aus Sicht der Länderchefs lagen viele der europäischen Themen und Zuständigkeiten vor geraumer Zeit noch in ihrem Aufgabenbereich. Wie z.B. die Umweltpolitik, die mit der Frage der CO2-Reduktion zum Hauptthema des Gipfels geworden war und die erst mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) zu einem europäischen Politikfeld wurde und innerstaatlich – trotz der bis zur Föderalismusreform bestehenden Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes – zu den letzten wichtigen Gesetzgebungsgegenständen der Länder gehört. Diesen Kompetenzverlust wollen die Länder wieder wettmachen und sich frühzeitig und vor Ort in die Politikgestaltung auf europäischer Ebene einmischen. Doch auf welchem Wege dies geschehen soll, darüber scheinen sich die Vorstellungen der Länder nunmehr zu teilen. Zwei Möglichkeiten stehen ihnen dazu prinzipiell offen: gemeinsamer Einsatz zum Erwerb institutionalisierter Mitentscheidungsrechte oder individuelles Lobbying informeller Art. Bis vor Kurzem waren die Länder noch einig in dem Bestreben, die durch Unitarisierung und den Europäisierungsprozess verlorenen Kompetenzen durch institutionelle Beteiligungs- und Mitentscheidungsrechte gemeinsam auf beiden Ebenen zurück zu erwerben. Inzwischen verfolgen die Länder jedoch nicht mehr alle das gemeinschaftliche Ziel: Die bestehende institutionelle Verflechtung, als kooperativer Föderalismus (Selbstkoordination zwischen den Ländern) oder als Politikverflechtung (enge Bund-Länderverflechtung, die zu Kooperationszwang führt) bezeichnet, wird nicht mehr von allen gut geheißen und ihre Vertiefung nicht mehr von allen begrüßt und unterstützt. Wie Scharpf ausführt, wurde sie früher angestrebt und lag im allgemeinen Interesse der Länder (vgl. Scharpf 1985: 328). Unter diesen mehren sich aber nun die Stimmen, diese Ver1 Bei den Herausgebern und den Teilnehmern der Autorenkonferenz am 4./5. Mai 2007 in Heidelberg möchte ich mich für die Diskussion und die wertvollen Hinweise bedanken.

312

Maximilian K. Grasl

flechtung aufzulösen und die kooperativen Strukturen zu einem Gestaltungsföderalismus hin zu entwickeln. Länder, die dies fordern, streben größere autonome Entscheidungsrechte an, weil ihnen die verbliebenen Handlungsspielräume zu begrenzt erscheinen. Sie müssen dieses Entflechtungsziel im bestehenden Mehrebenensystem auf beiden Etagen – der europäischen wie der bundesdeutschen – umsetzen, da beide Ebenen in der Gesetzgebung in weiten Bereichen funktional kooperieren und sich nicht mehr trennen lassen: Streben Länder nach autonomen Entscheidungskompetenzen, reicht es meist nicht, diese nur von der Bundesebene (über die Föderalismusreform) zu erhalten, weil dort selbst ca. 75-80% der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung von Brüssel determiniert werden. Dementsprechend muss die Bundes- und Europapolitik der Länder als integriertes Politikfeld aufgefasst werden, das beide Handlungsarenen vereint, wenn die Bestrebungen und Strategien der Länder zur Kompetenzumverteilung erfasst werden sollen. Auf die Frage nach den Entwicklungstendenzen des deutschen Föderalismus lassen sich drei mögliche Antworten geben (Wachendorfer-Schmidt 2005: 122): Erstens wird eine Stabilisierung und gar Vertiefung der kooperativen Verflechtungsstrukturen vorhergesagt. Ursache dafür sind vor allem zunehmende Konkordanzzwänge in Folge voranschreitender Europäisierung (Börzel 2002, Hrbek 2001). Zum Zweiten wird der Europäisierung genau die gegenteilige Wirkung zugeschrieben, nämlich dass sie den Wettbewerbsföderalismus innerhalb der Bundesrepublik befördern würde (Jeffery 1999, Knodt 2002), weil die Kompetenzübertragung an die EU durch vermehrte innerstaatliche Beteiligungsrechte bei den Ländern „erkauft“ würde. Als dritte Möglichkeit bleibt noch das Weiterbestehen des Status quo, wofür zwei Ursachen in Frage kommen: Das übereinstimmende Interesse am Festhalten daran oder die Unfähigkeit eine der anderen beiden Reformoptionen umzusetzen (Politikverflechtungsfalle). Da die Europäisierung nicht als Ursache für zwei gegensätzliche Befunde herangezogen werden kann, ist es wichtig kurz die Entwicklungsrichtung des Föderalismus in Deutschland herauszuarbeiten, um die Tendenz und die sie bestimmenden Faktoren zu beleuchten. Neben der voranschreitenden Europäisierung beeinflusst auch die Haltung der Bundesregierung und der einzelnen Länder die Entwicklung des Föderalismus. Es soll deshalb versucht werden die Länder nach ihren Vorstellungen zum deutschen Bundesstaat zu differenzieren. Dazu wird ein indirekter Weg gewählt, der versucht die Bundes- und Europapolitik der Länder anhand ihres föderalismusrelevanten Handelns zu erfassen. Der direktere Weg, die Aussagen der Länder zum Föderalismus, bietet nicht genügend Differenzierungspotential, da sich alle Länder zum Bestand eines kooperativen und solidarischen Föderalismus innerhalb der Bundesrepublik bekennen und die fortschreitende europäische Integration begrüßen. In welcher Form dies aber konkret geschehen soll, darüber äußern sie sich individuell zumeist nur vage und erlauben damit keine vergleichende Analyse. Als Fragestellung soll hier deshalb untersucht werden, welche Richtungstendenz des bundesdeutschen föderalen Systems sich aus der bisherigen Entwicklung ableiten lässt und welche Strategien und Instrumente die einzelnen Länder eingesetzt haben, um ihre individuellen Entwicklungsziele zu erreichen. Hier zeigen sich in den letzten Jahren Anzeichen eines Wandels, die es erlauben die sonst immer als homogene Gruppe wahrgenommenen Länder zu differenzieren. Wo verlaufen also die Risse im vormals geschlossenen Block der Länder, der sich dem doppelten Kompetenzverlust (Börzel 2002: 54) gegenübersieht?

Trennen sich die Wege? Die Bundes- und Europapolitik der Länder

313

Bislang wurden ganz überwiegend kooperative Strategien von den Ländern gemeinsam verfolgt. Sogar von der „Kartellisierung“ der Länder gegenüber dem Bund über Parteigrenzen hinweg war die Rede (vgl. Scharpf 1985: 328). Nun soll die Arbeitshypothese untersucht werden, dass sich die neuen kooperativen Entscheidungsstrukturen jedoch aus Sicht einiger Länder nicht bewährt haben, ja sogar als nutzlos erwiesen haben (Scharpf 2006: 10). Dies hat einen Strategiewandel verursacht, demzufolge einige Länder nun vermehrt auf individuelle Strategien setzen, also mehr eigene Autonomie bis hin zum Wettbewerbsföderalismus anstreben. Die tatsächliche Ausbildung und Formalisierung größerer autonomer und wettbewerblicher Rechte scheiterte aber bislang weitgehend an der erforderlichen Zustimmung der Gegner dieser Entwicklung. Deshalb setzen die Befürworter nun vermehrt auf informelle individuelle Aktivitäten, die mit Lobbying gleichzusetzen sind. Bei der Bundes- und Europapolitik der Länder handelt es sich um ein Querschnittspolitikfeld, das sich mit (fast) allen anderen Politikfeldern überschneidet. Eine umfassende Untersuchung aller Aspekte scheitert daher am Umfang der Materie. Querschnitts-Untersuchungen zu einzelnen Politikfeldern werden von einer Reihe anderer Beiträge in diesem Band vorgelegt. Hier soll hingegen zunächst eine Längsschnittsanalyse vorgenommen werden. Darin wird die historische Entwicklung der föderalen Beziehungen und des Mehrebenensystems kurz nachgezeichnet, um den Entwicklungsverlauf herauszuarbeiten. Parallel werden die von den einzelnen Ländern angewandten Strategien beschrieben, um – wiederum im Querschnitt – einzelne Ländergruppen unterscheiden zu können.

2

Interessen, Hoffnungen und Strategien der Länder

Die Strategien, die den Ländern zur Durchsetzung ihrer Interessen im Umfeld des Kompetenztransfers zur Verfügung stehen, lassen sich nach Duchacek (1970) mit „let us in“ und „leave us alone“ charakterisieren. Börzel (2002: 58) nennt das den Ländern prinzipiell zur Verfügung stehende Strategienpaar „rein in“ und „roll back“. Eine kurze Beschreibung beider Dichotomien macht die Übereinstimmung der Konzepte deutlich und erlaubt sie synonym zu verwenden. Die „let us in“-Strategie beschreibt die Bemühungen der Länder im Gegenzug für die abgegebenen Kompetenzen auf den höheren Entscheidungsebenen direkte Beteiligungsrechte zu erhalten. Im Bund-Länder-Verhältnis ist dies die Hauptursache für die Herausbildung des kooperativen Föderalismus (Scharpf 1985). Dieser Weg ist identisch mit der „rein in“-Strategie, nach der ein „Hausgut“ an Entscheidungsrechten von den Ländern verteidigt wird, aber durchaus Kompetenzen übertragen werden können, wenn im Gegenzug Mitentscheidungsrechte gewährt werden. Dieser Weg erhöht den Kooperationsbedarf zwischen Bund und Ländern sowie zwischen den Ländern. Die „leave us alone“-Strategie versucht die autonomen Handlungsspielräume der Länder zu erhalten oder zu erweitern. Neben der Forderung nach klarer Kompetenzabgrenzung kennzeichnen auch direkte (also nicht über den Bundesrat oder die Bundesregierung vermittelte) Zugänge zur europäischen Politikarena (z.B. über die direkte Beteiligung an der europäischen Gesetzgebung durch den Ausschuss der Regionen (AdR)) diese Strategie. Dem entspricht die „roll back“-Strategie, die zunächst auf eine Verteidigung der Länderkompetenzen abzielt und über eine einklagbare Kompetenzverteilung zwischen EU, Bund

314

Maximilian K. Grasl

und Ländern deren Abgabe abzuwehren versucht. Demnach müssen die Länder den direkten Weg zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) anstreben, um die Einhaltung der Kompetenzverteilung einklagen zu können. Sie würden nach dieser Strategie versuchen die Bundesregierung als Vermittlungsstufe zu umgehen und direkten Zugang zu europäischen Akteuren suchen (Börzel 2002: 58). Nach Börzel haben die Länder ausreichend Ressourcen, um beide Strategien zu verfolgen. Die Kooperation im Bundesrat ist eingeübt, und die Länder haben andererseits mit ihrer Erfahrung aus der Verwaltungspraxis auch interessante Informationen um auf der europäischen Ebene gehört zu werden. Nach Börzels Analyse wenden die Länder jedoch nur die „rein in“-Strategie an und konnten aufgrund ihres Vetorechts bei Vertragsratifikationen dahingehend immer mehr Beteiligungsrechte fordern. Die „roll back“-Strategie „was only seriously considered by the Länder in the 1980s and has never been carried through“ (Börzel 2002: 59). Im Folgenden soll dieser Einschätzung nachgegangen werden: Entspricht diese Aussage noch immer den Tatsachen, oder hat sich seit deren Formulierung ein Wandel vollzogen, so dass inzwischen einige Länder die „roll back“-Strategie wählen?

3

Historische Entwicklung

3.1

Länderbeteiligung an der Bundespolitik

Die Länder wirken nach Art. 50 GG über den Bundesrat an der Gesetzgebung und der Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Diese Mitwirkungsrechte waren im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik einem starken inhaltlichen wie quantitativen Wandel ausgesetzt, dessen Entwicklung zwar einhellig als negativ bewertet wurde, aber trotzdem nur bedingt korrigiert werden konnte. Die Faktoren, die diesen Wandel bestimmten, sollen im Folgenden kurz erläutert werden. Der bundesdeutsche Föderalismus ist ein historischer Kompromiss, der auf einmalige Weise den Ausgleich zwischen drei Konstitutionsprinzipien herstellt: zwischen den von vor allem von sozialdemokratischer Seite vertretenen Unitarisierungsbestrebungen, der Rückkehr zum exekutiv dominierten Föderalismus des Bismarckȇschen Kaiserreichs, wie sie von Bayern angestrebt wurde, und dem Prinzip des amerikanischen Trennföderalismus, das die Alliierten für den neu zu gründenden Staat vor Augen hatten (siehe hierzu detailliert: Wachendorfer-Schmidt 2000: 83). Der Kompromiss des Parlamentarischen Rates (Bundesratslösung mit disproportionaler Stimmenverteilung) etablierte einen fein austarierten Interessenausgleich, der spätere Anpassungen umso schwieriger machte. Doch blieben Anpassungserfordernisse nicht lange aus. Ein Hauptgrund war die Abweichung des zentralen föderalen Verfassungsorgans – des Bundesrates – von der von den Verfassungsvätern vorgesehenen Funktion: Sollte er doch, durch seine Besetzung mit Angehörigen der Länderexekutiven, als sachorientiertes Gremium der Verwaltungsexperten als inhaltliches Korrektiv gegenüber dem von parteipolitischen Konflikten geprägten Bundestag dienen und die getroffenen Entscheidungen sachverständig korrigieren. Zwei Faktoren verhinderten die vorgesehene Rolle des Bundesrates: Zum einen war er nicht immer die sach- und konsensorientierte Expertenkammer, sondern verfiel stärker als

Trennen sich die Wege? Die Bundes- und Europapolitik der Länder

315

erwartet auch der „parteipolitischen Instrumentalisierung“ (Fromme 1976, Lehmbruch 2000). Zum anderen hielten sich die Gesetze, die der Zustimmung des BUndesrates bedürfen, weil sie die Rechte der Länder berühren, nicht in den erwarteten engen Grenzen, sondern erweiterten sich auf bis zu 60% aller Vorlagen im Bundesrat (siehe Abbildung 1). Abbildung 1:

Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze

Quelle: Schindler 1999: 2430, eigene Fortführung

Die Ausweitung der zustimmungspflichtigen Gesetze geschah in erster Linie über das „Einfalltor“ des Art. 84 GG, dem zufolge die Länderverwaltungen die Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten ausführen. Sollten also Bundesgesetze Verwaltungsvorschriften enthalten, die die mit der Ausführung betrauten Länder betreffen, werden sie als Ganzes (nach der Einheitstheorie des Bundesverfassungsgerichtes seit 1958 (BVerfGE 8, 274)), und nicht etwa nur die Anwendungsvorschriften, im Bundesrat zustimmungspflichtig. Somit wurden die Mitentscheidungsrechte der Länder auf der Bundesebene im Vergleich zum erwarteten Ausmaß drastisch erweitert. Die zweite Entwicklung, die sich erheblich auf die Gestalt des deutschen Föderalismus auswirkte und den Handlungsspielraum der Länder einschränkte, war die extensive Nutzung der Möglichkeit, Materien der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 74 GG auf die Bundesebene zu ziehen und per Bundesgesetz zu regeln. Als Hauptargument wurde dafür die Erforderlichkeit bundeseinheitlicher Regelungen zur Herstellung „einheitlicher“ Lebensverhältnisse (nach Art. 72 GG a. F.) in der Bundesrepublik angeführt. Die Länder stimmten dieser Kompetenzabgabe in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik zu, da sie durch Mitbestimmungsrechte an der bundeseinheitlichen Lösung für ihren Autonomieverlust entschädigt wurden oder sogar ihre Entscheidungsbefugnisse bei günstigen Stimmenverhältnissen im Bundesrat ausdehnen konnten: Bei struktureller Mehrheit der CDU-geführten B-Länder im Bundesrat in den 60er Jahren konnten mit Hilfe der CDU-Bundesregierung CDU-Präferenzen über zustimmungspflichtige Bundesgesetze auch in SPD-geführten ALändern implementiert werden. Somit verstärkte sich die im Grundgesetz bereits angelegte Pflicht zur Zusammenarbeit von Bundes- und Länderebene und bildete einen eng verflochtenen kooperativen Föderalismus aus, in dessen Folge jede Ebene für sich alleine immer weniger handlungsfähig wur-

316

Maximilian K. Grasl

de. Unter der ersten großen Koalition (1966-1969) wurden zudem mit der Finanzverfassungsreform institutionelle Änderungen vorgenommen, die den Wandel vom Gestaltungszum Beteiligungsföderalismus aufgrund finanzieller Abhängigkeiten noch verstärkten. Zum einen wurden starke Verbundelemente in die Verteilung der aufkommensstärksten Steuerarten eingeführt, ein stark nivellierendes Finanzausgleichssystem etabliert und mit dem Ziel einer verbesserten wirtschaftlichen Globalsteuerung Mischfinanzierungsgegenstände eingeführt, in denen Bund und Länder in zentralen Aufgabenbereichen (Hochschulbau, Verbesserung regionaler Wirtschaftsstruktur, Verbesserung der Agrarstruktur und Küstenschutz sowie Forschungsförderung) über kofinanzierte Maßnahmen zusammenarbeiten (Art. 91a und 91b GG) bzw. der Bund den Ländern in Investitionsvorhaben Finanzhilfen gewährt (Art. 104a IV GG) (vgl. Schmidt 2007: 345ff.). Das Ausmaß der zustimmungspflichtigen Gesetze nahm von da an wiederum zu, und die Verflechtung der beiden Ebenen war nun so dicht geworden, dass es schwierig wurde, einseitig Reformen durchzuführen und Regierungsprogramme umzusetzen. Die bekannte Diagnose (Scharpf/ Reissert/ Schnabel 1976; Scharpf 1985) lautet: Der deutsche Föderalismus hatte sich in die Politikverflechtungsfalle manövriert. Bund und Länder, die sich gemeinsam in diese Situation gebracht hatten, konnten jedoch nicht den nötigen Konsens aufbringen, um sich wieder daraus zu befreien. Die 1969 ebenfalls unter der ersten großen Koalition verabschiedete Finanzreform etablierte einen umfassenden Länderfinanzaugleich, der – entsprechend der fehlenden Handlungsautonomien der Länder – ihnen nun auch einen einheitlichen Finanzrahmen überstülpte. Die strukturelle Mehrheit der Empfängerländer, die von diesem hoch nivellierenden Umverteilungssystem profitierten, hatte keine Veranlassung, in der Folge daran etwas zu ändern. Die Bundesrepublik war nun endlich im lange vorhergesagten „unitarischen Bundesstaat“ (Hesse 1962) angelangt. Ende der 80er bzw. Anfang der 90er Jahre erfassten zwei kontinentale Ereignisse die Bundesrepublik und erschütterten die alte föderale Ordnung: der Berliner Mauerfall und die sprunghafte Weiterentwicklung der europäischen Integration mit der Einheitlichen Europäischen Akte (1987) und dem Vertrag von Maastricht (1993). Mit dem Beitritt der fünf neuen Bundesländer geriet das föderale Finanzsystem aus den Fugen: Die alten Länder verweigerten dem Bund bis 1994 die Integration der ostdeutschen Länder in das bestehende Finanzsystem, da der erwartete Finanzbedarf bis dahin erst vom Bund aufgefangen und nicht von den alten Ländern getragen werden sollte. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme der alten Länder explodierte der Länderfinanzausgleich nach seiner Ausdehnung auf die ostdeutschen Länder (vgl. Scharpf 2006). In der Folge kam es zu einer Spaltung im Lager der Länder. Die Konfliktlinie verlief erwartungsgemäß zwischen den armen und reichen bzw. Empfänger- und Zahlerländern: 1998 erhoben drei Zahlerländer (Baden-Württemberg, Bayern und Hessen) Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, da sie die bestehenden Vorschriften des Länderfinanzausgleichs für unvereinbar mit dem Grundgesetzt hielten. Die Gegenposition wurde vor Gericht mit einem gemeinsamen Antrag Bremens, Niedersachsens und Schleswig-Holsteins eingebracht. An diesen Haltungen können beispielhaft die Schwierigkeiten der theoriegeleiteten Erklärung der Länderpositionen deutlich gemacht werden: Die Varianz im Verhalten lässt sich alternativ mit zwei Faktoren erklären und damit die Frage nach den Bestimmungsgründen nicht klären:

Trennen sich die Wege? Die Bundes- und Europapolitik der Länder

317

Ist die bestimmende Trennlinie sachlicher (Nettozahler/-empfänger) oder parteipolitischer Art (A/B-Länder: HB: SPD/CDU (A), NI: SPD (A), SH: SPD (A), BW: CDU/FDP (B), BY: CSU (B), HE: bis 1999 SPD (A))? Kann Hessen als SPD-geführtes Zahlerland allein ein Verwerfen der parteipolitischen Konfliktlinie rechtfertigen und die materielle Konfliktlinie bestätigen? Das BVerfG hat in seinem Urteil 1999 zwar das Hauptargument der Kritiker (Einhaltung des Halbteilungssatzes) verworfen, doch eine Konkretisierung der mit dem Länderfinanzausgleich angestrebten Ziele gefordert. Nach dem Inkrafttreten des dafür verabschiedeten Maßstäbegesetzes 2005 haben sich aber Umfang und Richtung des Länderfinanzausgleichs kaum geändert. In der Folge entbrannte eine Diskussion, ob nun die Abschaffung des kooperativen – hier als solidarisch aufgefassten – Föderalismus angestrebt werde. Tatsächlich gehen die Forderungen mancher Länder (besonders der großen, bevölkerungsreichen und finanziell leistungsfähigen) aber über Finanzfragen hinaus: Angestrebt wird nun von einigen die Erweiterung ihrer Handlungsautonomien, um mehr Lebensbereiche als bisher eigenständig regeln zu können. In der Folge fordern sie neben größeren finanziellen Spielräumen – wie mit der Reform des Länderfinanzausgleichs angestrebt, aber nicht verwirklicht – auch eigenständige Zuständigkeitsbereiche.

3.2 Die Föderalismusreform 2003-2006 und die Bundespolitik Besonders der Bund litt nun zum dritten Mal, wie zuvor bereits unter der sozial-liberalen Koalition sowie in den letzten Jahren der Regierungszeit Helmut Kohls, unter den negativen Folgen des Konsenszwanges im kooperativen Föderalismus. Es war ab 1999 wieder die Situation eingetreten, dass die Bundesregierung sich einer gegenläufigen Mehrheit im Bundesrat ausgesetzt sah: Die Oppositionsparteien zur Bundesregierung verfügten im Bundesrat über die Mehrheit der Stimmen und konnten so theoretisch alle zustimmungspflichtigen Gesetze blockieren. Diese Blockadeanfälligkeit (am augenscheinlichsten beim Scheitern der Steuerreformen 1998 und 1999, s. Zohlnhöfer 1999) wurde zu einem wichtigen Auslöser der Diskussionen um die Zukunft des deutschen Föderalismus (vgl. Lhotta 2003; Wagschal/ Grasl 2004). Den Gipfel aller Reformbestrebungen bildete die „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ die am 16./17. Oktober 2003 eingesetzt wurde. Diese als „Mutter aller Reformen“ (Edmund Stoiber) bezeichnete Initiative weckte viele Hoffnungen: Die Kompetenzverflechtung zwischen Bund und Ländern sollte weitgehend aufgelöst werden und damit ihre negativen Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten beider Ebenen und die mangelnde Reformfähigkeit der Bundesrepublik sowie die intransparenten Entscheidungsstrukturen mit den negativen Auswirkungen auf die Demokratiezufriedenheit der Bürger beseitigt werden. Durch klare Kompetenzzuordnung sollten der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze um rund die Hälfte auf ca. 25% reduziert und somit die Blockademöglichkeiten verringert werden (vgl. Burkhart/ Manow 2006; Georgii/Borhanian 2006). Doch die Ergebnisse der Föderalismuskommission, die am 1.9.2006, nach zwischenzeitlichem Scheitern, in der bislang umfangreichsten Grundgesetzreform in Kraft traten, werden nicht sehr positiv bewertet (Scharpf 2006: 6). Die Ergebnisse sind eher dürftig ausgefal-

318

Maximilian K. Grasl

len: Als wesentliche Ergebnisse lassen sich festhalten, dass die Rahmengesetzgebung abgeschafft wurde und einige Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung in die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes oder der Länder überführt und eine Regelung der Lastenverteilung bei Strafzahlungen an die EU vereinbart wurden. Ein Defizit der gesamten Reform war von Beginn an die gänzliche Ausklammerung aller Fragen zur Finanzverfassung. Damit konnte zwar der Weg in den Wettbewerbsföderalismus verhindert werden, doch war damit auch eine effektive Entflechtung der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern nicht möglich. Die Kommission war vor allem deshalb zu einer Minimalreform verurteilt, weil das Ergebnis im doppelten Konsens (mit 2/3-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat) verabschiedet werden musste. Die Länderinteressen sind aufgrund traditioneller Divergenzen so heterogen (Groß vs. Klein, Arm vs. Reich, Ost vs. West), dass nur ein Minimalkonsens gefunden werden konnte (s. Scharpf 2006: 6).

3.3 Länderbeteiligung an der Europapolitik Die Gefahr, dass auch der Prozess der Europäischen Einigung einen Kompetenzverlust bedeuten könnte, war den Ländern von Beginn an klar: So befürchtete der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Karl Arnold schon bei der Unterzeichnung des EGKS-Vertrages 1951, dass die deutschen Länder „zu reinen Verwaltungseinheiten herabgedrückt“ würden (zitiert nach: Klaus 1996: 9). Um dem entgegenzuwirken versuchten die Länder gemeinsam Beteiligungsrechte an der Europapolitik des Bundes zu gewinnen. Als „Hebel“ (Wachendorfer-Schmidt 2005: 152) konnten sie dazu die Ratifikationsverfahren zu den Europäischen Verträgen nutzen. Mit der Ratifikation der Römischen Verträge konnte die Bundesregierung dazu verpflichtet werden Bundestag und Bundesrat über europapolitische Entwicklungen zu unterrichten. Dies gab den Ländern die Möglichkeit Stellungnahmen abzugeben (altes Bundesratsverfahren), die zwar für die Bundesregierung nicht bindend waren, ihr aber aufgrund der von den Ländern eingebrachten Verwaltungserfahrung Entscheidungsalternativen anboten (Klaus 1996: 21). Um sich dabei von den Informationen der Bundesregierung unabhängig zu machen, setzten die Länder 1957 durch, dass ein Länderbeobachter als Mitglied der deutschen Delegation an den Ratssitzungen teilnehmen kann und vor allem aus diesen nicht öffentlichen Sitzungen als zusätzliche Informationsquelle dient. Zur gemeinsamen Aufarbeitung der gewonnen Informationen gründeten die Länder im Bundesrat einen Sonderausschuss Gemeinsamer Markt und Freihandelszone, der sich zum heute bestehenden Ausschuss für Fragen der Europäischen Union weiterentwickelte.2 In diesem Gremium bearbeitete der Bundesrat von 1957 bis Juli 2007 die stattliche Zahl von 8625 Vorlagen. Das entspricht etwa 173 beratenen Vorlagen pro Jahr. 1979 wurde aufgrund der Kritik am bestehenden Verfahren das Länderbeteiligungsverfahren eingeführt. Dieses war aber von dem Mangel geprägt, dass die Länder im Konsens entscheiden mussten,

2 Der Bundestag setzte hingegen erst 1983 eine Europakommission und 1992 den Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union ein.

Trennen sich die Wege? Die Bundes- und Europapolitik der Länder

319

was langwierige Abstimmungsprozesse verursachte oder gar keine Formulierung gemeinsamer Standpunkte zuließ (Große Hüttmann 2004: 208, Klaus 1996: 21). Mit der Ratifikation der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 bot sich den Ländern erneut die Gelegenheit ihre innerstaatlichen Mitentscheidungsrechte an der Formulierung der deutschen Verhandlungsposition auszuweiten. Das dabei entstandene Neue Bundesratsverfahren ist – neben der gesetzlichen Kodifizierung – davon gekennzeichnet, dass es der Bundesregierung drei Pflichten auferlegt: die Ausweitung der Informationspflicht, die Anhörungspflicht (d.h. ein Recht zur Stellungnahme für den Bundesrat) und eine „Berücksichtigungspflicht“ (vgl. Klaus 1996: 22). Am wichtigsten jedoch ist, dass das Bundesratsprinzip nun auch auf diese Stellungnahmen angewendet wird und die Länder mit Mehrheit entscheiden.3 Der Vertrag von Maastricht mit seinen weit reichenden Neuerungen veranlasste die Länder dazu, erneut ihre Mitentscheidungsrechte an der Europäischen Politik sicher zu stellen. Sie beschränkten sich nun nicht mehr nur auf die Zusicherung innerstaatlicher Beteiligungsrechte, sondern versuchten ein Europa der Regionen zu begründen und die direkte Beteiligung subnationaler Ebenen im Europäischen Institutionengefüge zu erreichen. Hauptsächlich auf Betreiben der deutschen Länder wurde mit dem Vertrag von Maastricht der Ausschuss der Regionen (AdR) gegründet. Jedoch wurde diesem nur eine beratende Rolle zugewiesen. Im Lauf der Entwicklung hat er sich sogar als sehr schwaches Instrument zur Durchsetzung spezifischer regionaler Interessen erwiesen. Ebenso wurde auf Drängen der Länder, aber auch der Nationalstaaten, die einen übermäßigen Kompetenztransfer an die EU befürchteten, das Subsidiaritäts-Prinzip im EU-Vertrag (Art. 1 EUV (ex Art. A EUV)) verankert (vgl. Gunlicks 2003: 365). Auf innerstaatlicher Ebene konnten die Beteiligungsrechte in einem wesentlichen Punkt erweitert werden, wenn auch nicht in dem Umfang, wie dies von den Ländern gewünscht worden war: Im neuen Europaartikel Art. 23 GG wird den Ländern jetzt die Mitwirkung an der deutschen Verhandlungsposition – die zuvor nur in einem einfachen Bundesgesetz normiert war – verfassungsrechtlich zugesichert. Gleichzeitig werden sie je nach Art der behandelten Materie in ihrer Reichweite abgestuft beteiligt: In jedem Falle müssen die Länder über den Bundesrat grundsätzlich über alle europapolitischen Angelegenheiten zum frühestmöglichen Zeitpunkt unterrichtet werden (Art. 23 Abs. 2 GG). Analog zur innerstaatlichen Zuständigkeit werden die Länder an der Willensbildung des Bundes in europapolitischen Fragen beteiligt, sofern sie innerstaatlich dafür zuständig wären (Art. 23 Abs. 4 GG): Im Falle ausschließlicher Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes werden die Stellungnahmen des Bundesrates von der Bundesregierung berücksichtigt. Wenn die betroffene Materie schwerpunktmäßig in die Gesetzgebungsbefugnis der Länder fällt oder die Einrichtung von Behörden oder die Verwaltungsvorschriften betroffen sind, werden die Stellungnahmen des Bundesrates sogar maßgeblich berücksichtigt (Art. 23 Abs. 5 GG). Die weitestgehende Mitwirkung am europäischen Entscheidungsprozess wird den Ländern immer dann eingeräumt, wenn schwerpunktmäßig Materien der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder verhandelt werden: In diesen Fällen kann ein vom Bundesrat ernannter Vertre-

3 Um die seit dem „neuen Bundesratsverfahren“ stark ausgeweiteten Kompetenzen wahrnehmen zu können, mussten die Länder die erforderlichen Strukturen aufbauen. Diese werden in Kapital 4 genauer betrachtet.

320

Maximilian K. Grasl

ter die Wahrnehmung der Rechte der Bundesrepublik, d.h. die Verhandlungsführung für die deutsche Delegation in den Beratungsgremien der Europäischen Union, übernehmen. Das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBLG) konkretisiert die Verfahren des Art. 23 GG.

3.4 Die Föderalismusreform 2003-2006 und die Europapolitik Die Föderalismuskommission sollte laut Einsetzungsbeschluss auch Fragen der Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung vor dem Hintergrund der Weiterentwicklung der Europäischen Union beleuchten, das heißt den Art. 23 GG zehn Jahre nach seiner Neufassung auf seine Folgen hin evaluieren und ggf. Vorschläge zur Stärkung der Europafähigkeit des deutschen Föderalismus erarbeiten. Dies war notwendig geworden, da auf Bundes- und Länderebene Unzufriedenheit mit der bestehenden Kompetenzverflechtung herrschte und von Experten die Effektivität der deutschen Interessenvertretung nach diesem Verfahren in Zweifel gezogen wurde (vgl. Scharpf 2003, Benz 2003). Die Bundesregierung sah sich in ihrer Position durch die Einschätzung der Kommissionsexperten bestätigt und brachte folgende Argumente vor, um die Forderung nach einer Rückdrängung der Beteiligungsrechte der Länder zu untermauern: Mit Zunahme der Mehrheitsentscheidungen in der EU werden Entscheidungspakete aus unterschiedlichen Sachbereichen und Ressorts zunehmen. Die deutsche Verhandlungsposition ist demnach geschwächt, wenn der deutsche Vertreter im Rat nicht die Kompetenz zur Verhandlung aller dieser Themenbereiche besitzt. Zum anderen erfordert die flexible Verhandlungsführung vertrauensvolle Zusammenarbeit und daher personelle Kontinuität. Eine Totalentflechtung, wie sie von den Ländern gefordert wurde (d.h. alleinige Entscheidungs- und Vertretungsbefugnis in ihren Zuständigkeitsbereichen) läuft der Vertretung Deutschlands mit einer Stimme entgegen und verhindert die effektive Interessenwahrnehmung (vgl. Geiger 2004; ebenso: Scharpf: 2003). Aus Sicht der Länder wurde dieser Haltung natürlich widersprochen. Kurt Beck legte ein Hintergrundpapier vor, demzufolge sich die Bund-Länder-Zusammenarbeit nach Art. 23 GG in der Praxis bewährt hat. So ist der ganz überwiegende Teil der Stellungnahmen des Bundesrates von der Bundesregierung nur zu berücksichtigen und deshalb rechtlich nicht bindend. Nur weniger als fünf Prozent der Stellungnahmen des Bundesrates sind entsprechend Art. 23 Abs. 5 und 6 GG maßgeblich zu berücksichtigen (im Zeitraum 1998-2003 37 von rund 900 Bundesratsstellungnahmen). 20 dieser Stellungnahmen hat die Bundesregierung widersprochen, aber nur in einem einzigen Fall kam es zum Streit über die inhaltlichen Differenzen, wobei sich aber die Bundesregierung durchsetzen konnte. Im gleichen Zeitraum wurde vom Bundesrat achtmal gefordert nach Art. 23 Abs. 6 GG einem Vertreter der Länder die Verhandlungsführung zu übertragen, weil der Verhandlungsgegenstand im Schwerpunkt ausschließlich Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betraf. Dem hat der Bund in drei Fällen widersprochen. Pragmatische Lösungen konnten jeweils gefunden werden und beide Seiten in den Verhandlungen zu Wort kommen. Diese Erfahrungen legen nahe, dass die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in der Regel gut funktioniert und einzelne Divergenzen pragmatisch und im gegenseitigen Einvernehmen gelöst werden (Beck 2004: 2f.). Die grundsätzliche Kritik, dass die deutsche Verhandlungsposition durch

Trennen sich die Wege? Die Bundes- und Europapolitik der Länder

321

das Sprechen mit mehreren Zungen effizientes Verhandeln verhindere und die Beteiligung von Ländervertretern die Kontinuität der deutschen Verhandlungsführung störe, bestätigt sich in der Praxis nicht. Doch gilt dieses Evaluationsergebnis nur für die bestehende Kompetenzverteilung. Bei der von den Ländern angestrebten Rückverlagerung von Kompetenzen würde sich der Umfang dieser Schwierigkeiten vergrößern. Dass keine Ideallösung gefunden werden kann, sondern ein Zielkonflikt zwischen Effektivität der Europapolitik, föderalem Prinzip und demokratischer Legitimation besteht, wurde in der Föderalismuskommission von Arthur Benz hervorgehoben (Benz 2004). Als Ergebnis der Föderalismusreform gibt es zum Zusammenwirken von Bund und Ländern in Fragen der EU nur zwei minimale Änderungen zu verzeichnen, die sich beide auf Art. 23 Abs. 6 GG beziehen: Nach der alten Fassung des Artikels „soll“ die Wahrnehmung der Rechte der Bundesrepublik in denjenigen Materien einem Vertreter der Länder zukommen, in denen „im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind“. Mit der Föderalismusreform wurden der davon betroffene Gegenstandsbereich durch Einfügung von „auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks“ konkretisiert und gleichzeitig zuvor bestehende Kompetenzen z.B. in der Forschungspolitik und der Inneren Sicherheit aufgehoben. Im Gegenzug wurde die Übertragung des Vertretungsrechtes in diesen Angelegenheiten mit der Formulierung „wird“ gegenüber dem bisher geltenden „soll“ eindeutiger gefasst und damit gestärkt (vgl. Jeffery 2007: 17). Angesichts der erhofften weit reichenden Reform des deutschen Föderalismus ist dieses Ergebnis als sehr bescheiden zu bewerten und folgt der für den deutschen Föderalismus kennzeichnenden Pfadabhängigkeit (Lehmbruch 2002). Die Gründe für diesen engen Kompromiss werden in den Verhandlungspositionen von Bund und Ländern gesehen, die beide Seiten jeweils mit Maximalforderungen (Abschaffung der Beteiligungsrechte der Länder bzw. Trennföderalismus und Handlungsautonomie in Teilbereichen) vertreten haben (vgl. Eppler 2006: 20, Jeffery 2007: 18, Scharpf 2006: 6), wobei sie die Stärkung der Europafähigkeit jeweils als Stärkung ihrer eigenen Handlungsautonomie interpretierten: Das Mitspracherecht der Länder und vor allem die Repräsentation des Bundes durch einen Vertreter der Länder würde nach Auffassung der Bundesregierung den Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung und damit die Verhandlungsposition der Bundesrepublik generell schwächen. So die Einschätzung vor allem der von der Kommission gehörten Experten (Dieter Grimm, 6. Sitzung 2004: 152, Scharpf 2003: 12). Nachdem die Beteiligungsrechte der Länder in der Praxis (wie die Fallzahlen zeigen) weniger materielle Bedeutung haben, liegt nahe, dass hier eine Prestigefrage gestellt wurde, die keine Abweichung seitens der Länder erlaubte.

4

Empirische Belege für den organisatorischen Strukturwandel innerhalb der Landesregierungen

Die Exekutive nimmt in der Politikgestaltung im europäischen Mehrebenensystem – und dies nicht nur in der Bundesrepublik – unumstritten die führende Rolle ein (vgl. Große

322

Maximilian K. Grasl

Hüttmann 2007: 40). Deshalb konzentriert sich die Untersuchung des Länderhandelns auf die Länderexekutiven. Zur Bestätigung der Hypothese des Strategiewechsels werden Strukturveränderungen in den Ressortzuständigkeiten und -organisationen gesucht. Die Länderexekutiven haben individuell wie auch gemeinschaftlich neue Institutionen ausgebildet, um auf die europapolitische Herausforderung reagieren zu können. Die Arbeitshypothese lautet, dass die Länder die gemeinsamen und kooperativen Institutionen (Europakammer des Bundesrates, Europaministerkonferenz) immer weniger nutzen und ihnen weniger Aufmerksamkeit schenken. Die Länder verwenden ihre Ressourcen vermehrt auf individuelle Strategien statt auf Institutionen des kooperativen Föderalismus. Ein deutlicher Wandel zeigt sich bei der Betrachtung der Bevollmächtigten der Länder beim Bund. Hierfür gibt es zwei Besetzungsmöglichkeiten: So kann die Vertretung eines Landes durch einen ranghohen, aber gleichwohl weisungsgebundenden Beamten erfolgen, oder durch einen Vertreter im Ministerrang. Im Unterschied zum Beamten ist der Minister an den Entscheidungen am Kabinettstisch beteiligt. Bei etwaigen Diskussionen im Bundesrat kennt er den Hintergrund der Entscheidungen und verfügt zudem über einen größeren Verhandlungsspielraum als ein Beamter: Er kann sich vor seinen Kollegen auf Augenhöhe für Abweichungen von den Kabinettsbeschlüssen rechtfertigen (Laufer/Wirth 1974). Tabelle 1: Land BW

Hierarchieposition der Bevollmächtigten der Länder beim Bund im Zeitverlauf Bevollmächtigte der Länder beim Bund mbmmmbbmm

BY

bbmmmmbmmbm

BE

bmbmbmmmmmmmmbmmmbbb

BB

mbbb

HB

bbmmmbbmbb

HH

mmmmmmbmmmmbmb

HE

bmmmmbmmbbbbmm

MV NI NW

bbbbbb bbbbbmmmmmmbb mmmmmmmmmmmmmmmbmmbbmbb

RP

bbbbbmmmmb

SL

bmmmbmbbmbbb

SN

mmbb

ST

bmbmb

SH

bbbbbmmmmbbbb

TH

mmbmb

Quelle: Bundesrat: Liste der Ständigen Vertreter (Stand: 1. April 2007).

Bei der Auswahl des Vertreters fällt eine interessante Entwicklungstendenz auf: In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik war in dieser Position ein Trend vom Beamten zum Minister zu konstatieren (Zumschlinge 1989): Befand sich 1949 unter zwölf Bevollmächtig-

323

Trennen sich die Wege? Die Bundes- und Europapolitik der Länder

ten nur ein Minister, so gab es 1986 unter elf Bevollmächtigten nur noch zwei Beamte. Aktuell sind jedoch von den 16 Bevollmächtigten wieder nur drei im Ministeramt. Die vorangehende Tabelle 1 zeigt den Rang (b= Beamter, m= Minister) jedes Bevollmächtigten in der Abfolge der Personen (die dieses Amt allerdings ganz unterschiedlich lange bekleideten). Die fetten Buchstaben am rechten Zeilenrand zeigen das Übergewicht der Beamten unter den gegenwärtig amtierenden Bevollmächtigten. Das neue Übergewicht der Beamten spricht für die These, dass die Verhandlungskompetenz bei der Exekutivspitze, sprich dem Ministerpräsidenten, verbleiben soll und nicht von einem Minister mit größerem Verhandlungsspielraum aufgrund seiner Ressortkompetenz ausgeübt werden soll. Die These, dass die Bundes- und noch mehr die Europapolitik zur Chefsache erklärt wurde, bestätigt sich noch viel deutlicher an einem anderen Indikator: der Frage, ob die Bundes- sowie die Europapolitik als eigenes Ressort einem Minister überantwortet wird. Um die Beteiligungsrechte am bundes- und europapolitischen Entscheidungsprozess effektiv wahrnehmen zu können, haben die Länder in der Vergangenheit institutionelle Maßnahmen getroffen und ab den 50er Jahren für die Bundespolitik sowie ab Ende der 80er Jahre für die Europapolitik Ressortzuständigkeiten auf der Ministerebene geschaffen (siehe Tabelle 2). Häufig wurden die Zuständigkeiten bei einem Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten zusammengeführt. Tabelle 2: Land

Bundes- und Europaressorts in den Ländern Bundesressort

Europaressort

Ende des eigenständigen Europaressorts (Eingliederung in die Staatskanzlei)

BW

1953

1988

2001

BY

1962

1988

1994

BE

1949

1991

1996

BB

1990

1994

1999

HB

1971

1995

–

HH

1953

1997

2001

HE

1963

1995

2003

MV

1990

1990

1998

NI

1964

1990

1998

NW

1949

1995

2000

RP

1981

1991

1994

SL

1968

1951

1990

SN

1997

1999

2004

ST

1990

1999

2004

SH

1979

1992

–

TH

1990

1990

1999

Quelle: eigene Erhebung von Kabinettslisten.

Verglichen mit dem Ministerium für Bundesangelegenheiten haben sich die Europaressorts ab 1988 in allen Ländern sehr schnell durchgesetzt. Doch scheinen sie ähnlich schnell wieder

324

Maximilian K. Grasl

aufgelöst zu werden, wie die vierte Spalte zeigt. Diese Spalte gibt an, wann die Europaressorts den Charakter von eigenständigen und von den Staatskanzleien unabhängigen Ministerien verloren haben. Die meisten Europaminister der Länder wurden inzwischen in die Dienststellen der Staats- bzw. Senatskanzleien integriert. Auf diese Weise können die Ministerpräsidenten ihren Einfluss auf die Europapolitik stärker geltend machen und ihren Führungsanspruch signalisieren. Dementsprechend konnte auch die einst mit großen Erwartungen zur horizontalen Koordination der Länder gegründete Europaministerkonferenz kein großes Gewicht entfalten. Dies belegt schon ein Blick auf den Sitzungsrhythmus dieses Gremiums: Mit anfangs nur vier Sitzungen im Jahr konnten hier weder weit reichende europapolitische Entscheidungen vorbereitet noch tagespolitische Routineabstimmmungen zwischen den Ländern herbeigeführt werden. Im Jahr 2006 fand dann gar keine Sitzung mehr statt. Es gab stattdessen nur zwei Umlaufbeschlüsse im schriftlichen Verfahren, obwohl es die deutsche Ratspräsidentschaft vorzubereiten galt. Die Untersuchung der Abstimmungsprotokolle der Europaministerkonferenz ergibt noch deutlichere Belege für den Bedeutungsverlust. Dazu wurden die tatsächlich gefassten Beschlüsse den Tagesordnungspunkten gegenübergestellt und deren Anzahl in Abbildung 2 abgetragen. Die eingezogenen Trendlinien zeigen den Entwicklungsverlauf der Bedeutung dieses Gremiums anhand des Umfangs der behandelten Tagesordnungen. Abbildung 2:

Beschlussfassung der Europaministerkonferenz

Quelle: www.europaminister.de, abgerufen am 3.8.2007

Obwohl die Interpretation dieses Kriteriums mit Vorsicht vorzunehmen ist4, belegt es doch die These vom Bedeutungsverlust dieses ursprünglich mit sehr großen Erwartungen gegründeten Gremiums (vgl. Gerster 1993). Dieser Befund wird auch bestätigt, wenn die inhaltliche Ebene der verhandelten Punkte betrachtet wird: Abzüglich der immer wiederkehrenden und 4 Die zur Verfügung stehenden Daten (www.europaminister.de, Abgerufen am 3.8.2007) sind teilweise unvollständig: In einigen Fällen liegt die tatsächliche Tagesordnung nicht vor. Ihr Umfang muss daher aus der Nummerierung der gefassten Beschlüsse rekonstruiert werden. In einem Fall (16. EMK am 25.6.1997) sind gar keine Unterlagen verfügbar. Ebenfalls ist zu berücksichtigen, dass die Anzahl von Tagesordnungspunkten von der Aufgliederung der behandelten Themen abhängt.

Trennen sich die Wege? Die Bundes- und Europapolitik der Länder

325

integrationspolitisch nicht entscheidenden Punkte (jährlicher Haushalt des Länderbeobachters, Organisation der Europawoche im Mai jeden Jahres und außergewöhnliche Koordinationserfordernisse in der Vorbereitung der deutschen Ratspräsidentschaften in der 2. Jahreshälfte 1994 und jeweils in der 1. Jahreshälfte 1999 und 2007) wurden vor allem die Themen institutionelle Weiterentwicklung der Union (in Zeiten der Regierungskonferenzen oder des Konvents) sowie die Beteiligung der Länder am innerstaatlichen Entscheidungsprozess behandelt. Zu kontroversen Themen, wie z.B. der Agenda 2000, konnten am häufigsten keine Beschlüsse gefasst werden. Auch in der Frage der innerstaatlichen Beteiligung zeigen sich Differenzen zwischen den Ländern: Bei den Beratungen über die Zwischenbilanz der Arbeit des Verfassungskonvents findet sich ein Hinweis auf die divergierenden Vorstellungen der Länder. Während die Länder noch einstimmig beschlossen, nach Vorlage des Verfassungsentwurfes „zu prüfen, ob im Zuge der Ratifizierung Änderungen des Länderbeteiligungsverfahrens notwendig werden“ (34. EMK am 5.12.2002, www.europaminister. de, abgerufen am 3.8.2007), gaben Berlin und Schleswig-Holstein zu Protokoll, dass sie die Formulierung „...im Zuge der Ratifizierung...“ nicht unterstützen (ebd.). Damit folgen diese beiden Länder nicht mehr dem bisher eingeschlagenen Weg, zur Ausweitung der innerstaatlichen Beteiligungsrechte die Vertragsratifikation im Bundesrat als Hebel zu benutzen. Anfang der 1990er Jahre, als unter den Ländern eine europapolitische Mitwirkungseuphorie bestand, hatte man die Sorge, dass der normale dreiwöchige Sitzungsrhythmus des Bundesrates in manchen oftmals eiligen europapolitischen Entscheidungen die notwendige Handlungsfähigkeit beschränke. Als Ausweg wurde durch eine Reform der Geschäftsordnung eine spezielle Europakammer eingesetzt, in der die Europaminister der Länder sich abweichend vom normalen Sitzungskalender kurzfristig zusammenfinden und als Stimmführer die ihrem Land nach Art. 51 GG zustehenden Stimmen alleine abgeben können, um sich schnell auf eine gemeinsame Position zu einigen. Diese Sorge hat sich jedoch als unbegründet erwiesen: Der normale Sitzungsrhythmus des Bundesrates war (bis auf eine Ausnahme) immer ausreichend, um die anliegenden europapolitischen Entscheidungen unter normalem Procedere treffen zu können. Die Europakammer musste seit ihrer Gründung deshalb zwischen 1992 und 2004 nur insgesamt achtmal einberufen werden. Der Führungsanspruch der Ministerpräsidenten ist auch abzulesen an der institutionellen Anbindung des wichtigsten Lobbying-Instrumentes, der Vertretung der Länder bei der EU (siehe Tabelle 3). Diese wurden gegründet, um die für die Nutzung der Beteiligungsrechte notwendigen Informationen zu beschaffen, aber auch um eigene Anliegen bei den europäischen Entscheidungsträgern direkt zu vertreten und dabei nicht mehr auf den Bund allein angewiesen zu sein. Um die Informationssituation der Länder zu verbessern und von den Informationen des Länderbeobachters und der Bundesregierung, die ihnen über den Bundesrat zugeleitet werden, unabhängig zu werden und sich einen Informationsvorsprung zu schaffen, wurden ab den späten 1980er Jahren neue Wege der Informationsgewinnung beschritten: 1985 eröffneten Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachen zusammen das „Hanse-Office“ als erstes Informationsbüro der Länder in Brüssel. Inzwischen hat sich dieses erfolgreiche Modell der Informationsbüros bewährt und flächendeckend durchgesetzt: Alle Länder haben bis 1992 diesen Schritt nachvollzogen und sind nun in Brüssel mit eigenen Büros vertreten (Hamburg und Schleswig-Holstein tragen noch zusammen das Hanse-Office), wobei Um-

326

Maximilian K. Grasl

fang und Ausstattung stark schwanken. So hat die kleinste Landesvertretung 5 und die größte 29 Mitarbeiter in Brüssel engagiert. Neun der 15 deutschen Länderbüros bezeichnen sich inzwischen als ‚Vertretungen’, was sie protokollarisch streng genommen nicht sind, was aber anzeigt, mit welchem Selbstverständnis sie eingerichtet und geführt werden. Tabelle 3: Land

Informationsbüros der Länder bei der Europäischen Union Gründung

Mitarbeiter

Bezeichnung

Zuordnung Staatsministerium

BW

1987

23

Vertretung

BY

1987

29

Vertretung

Staatskanzlei

BE

1987

9

Büro

Senatskanzlei

BB

1992

12

Vertretung

Staatskanzlei

HB

1987

7 2/3

Vertretung

Senator für Umwelt, Bau, Verkehr und Europa

HH und SH

1985

16

Hanse-Office

Senatskanzlei (HH), Ministerium für Justiz, Arbeit und Europa (SH) Staatskanzlei

HE

1989

10

Vertretung

MV

1991

6

Informationsbüro

Staatskanzlei

NI

1991

18

Vertretung

Staatskanzlei

NW

1986

25

Vertretung

Staatskanzlei

RP

1987

8

Vertretung

Staatskanzlei

SL

1985

7

Vertretung

Staatskanzlei

SN

1991

15

Verbindungsbüro

Staatskanzlei

ST

1992

12

Verbindungsbüro

Staatskanzlei

TH

1991

5

Büro

Staatskanzlei

Ständige Vertretung

Auswärtiges Amt

̕ Bund

202 2/3 1958

162

Quelle: Dagger/Schröder 2005: 40, eigene Erhebung

Verglichen mit dem Länderbeobachter ist das Aufgabenspektrum dieser Einrichtungen sehr viel breiter. Sie arbeiten explizit nicht nur als Informationseinbahnstraße, sondern versuchen auch Informationen und Anliegen aus dem betreffenden Land an die Adressaten in Europa weiterzuvermitteln und zudem aus weitaus mehr Quellen als nur den offiziellen EU-Organen Informationen zu beschaffen. Wichtige Ansprechpartner sind neben Rat, Kommission und Europäischem Parlament die zahlreichen Lobbyorganisationen sowie die Büros anderer Länder und Regionen. Die Informationsbüros werden auch dafür genutzt heimischen Unternehmen Hilfestellung bei der Gewinnung internationaler Kontakte zu geben sowie das Land kulturell zu repräsentieren und ihm in einem weiteren Kreis Bekanntheit zu verschaffen (vgl. Zumschlinge 1989; Zumschlinge/Sierigk 1994). Damit hat sich aus Sicht der Bundesregierung eine Konkurrenz in der Außenvertretung der Bundesrepublik aufgetan, die anfangs stark bekämpft wurde. Immerhin vertreten in allen Landesvertretungen zusammen 25 % mehr Mitarbeiter deutsche Interessen als in der Ständigen Vertretung beschäftigt sind. Auch wenn die Rivalität an manchen Stellen

Trennen sich die Wege? Die Bundes- und Europapolitik der Länder

327

noch zu spüren ist (die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der europäischen Union hält am Alleinvertretungsanspruch des Bundes fest), so zeigen sich auch Vorteile dieser als teure Doppelstrukturen gescholtenen Form bundesstaatlicher Organisation: Wegen ihrer Zuständigkeit für die Verwaltungsdurchführung verfügen die Länderbehörden in manchen Angelegenheiten über mehr und praxisnähere Sachkenntnis als die Bundesministerien. Der Bund profitiert von diesem Informationsvorsprung der Länder über die Beschlussfassung im Bundesrat und über die Beteiligung von Ländervertretern am Brüsseler Verhandlungstisch. Mittlerweile entsenden die Bundesländer rund 300 Beamte als Experten in Gremien der EU (Beck 2004: 4). Dies erhöht sicherlich die Problembearbeitungskapazitäten im Vergleich zur rein bundeszentrierten Behördenstruktur der Ständigen Vertretung. So arbeiten die Spiegelreferenten der Landesvertretungen nicht nur zum Nutzen der eigenen Landesregierung, sondern dienen mit ihrer länderübergreifenden Zusammenarbeit auch bundesweiten deutschen Interessen.

5

Fazit

Es lassen sich erste Hinweise darauf finden, dass die Ministerpräsidenten und Regierenden Bürgermeister die Kompetenz zur Gestaltung der Bundes- und Europapolitik ihrer Länder zur „Chefsache“ erklären und durch Ressortzuschnitt und Ämtervergabe die Entscheidungszentren in ihren Staatskanzleien bündeln. Die Europaminister wurden damit zu schwachen Akteuren und die Europakammer der Bundesrates zu einem Phantomorgan. Dass die Beteiligung der Länder an der Europapolitik über Bundesratsstellungnahmen doch so effektiv erfolgt, muss demnach mit der wirksamen Abstimmung der Länder auf der Arbeitsebene, oder im Streitfall auf der Ministerpräsidenten-Ebene, erklärt werden. Die Schwierigkeiten sich untereinander zu einigen haben die Regierungschefs der Länder 2004 im Zuge der Föderalismusreform durch die Lockerung der Entscheidungsregel entschärft. Sie wurde von Einstimmigkeit auf eine 13-Länder-Mehrheit gesenkt, um „die Handlungsfähigkeit der Ländergesamtheit zu stärken“ (Niedersächsische Staatskanzlei 2007). Die Konzentration der Entscheidungskompetenzen auf die Exekutivspitze kann aber auch dazu genutzt werden, die bestehenden Strukturen der Länderkoordination ganz zu verlassen und individuelle Interessen direkt auf den übergeordneten Entscheidungsebenen vorzubringen. Statt eine gemeinsame Länderposition zu vereinbaren, oder per Abstimmung herbeizuführen, kann ein Ministerpräsident sein spezifisches Länderinteresse direkt vertreten. Solange über eine Ausweitung von Beteiligungsrechten an der Bundes- und Europapolitik verhandelt wurde, bestanden gemeinsame Interessen aller Länder. Nachdem Beteiligungsrechte aber in solchem Umfang gegeben waren, dass manche Länder sie praktisch nicht mehr umfassend nutzen und wahrnehmen können, zerbricht der Konsens der Länder und eine zusätzliche Ausweitung wird nicht mehr von allen mitgetragen. Für einzelne Länder, vertreten durch ihre Regierungschefs, stellt sich dann nicht mehr die Alternative zwischen der „leave us alone“- oder der „let us in“-Strategie, sondern es bleibt nur noch die Möglichkeit des „do it yourself“. In bundespolitischer Hinsicht konnte während der Föderalismusreform I eine noch halbwegs geschlossene Länderposition gefunden werden, weil Fragen des Länderfinanzausgleichs ausgeklammert wurden. In der

328

Maximilian K. Grasl

Föderalismusreform II wird dies deutlich schwieriger. In der Europapolitik der Länder ist die „do it yourself“-Strategie bereits deutlich stärker ausgeprägt. Den Länderregierungen stehen mit den Ländervertretungen regelrechte Lobbying-Organisationen zur Verfügung, die neben der Koordination mit anderen Ländern auch zur Suche nach Verbündeten auf europäischer Ebene für politische Alleingänge genutzt werden können.5 Auf europapolitischer Ebene vollzieht sich daher schon leise ein Strategiewechsel weg von den formalen institutionalisierten und kooperativen Beteiligungsinstrumenten hin zum individuellen Lobbying einzelner Länderinteressen. Besonders den leistungsfähigen Ländern, die einen stärkeren Gestaltungsföderalismus anstreben, aber zusammen mit den anderen Ländern auf der Bundesebene nicht erreichen konnten, eröffnet sich hier ein Weg eigene Interessen zu verfolgen.

Literatur Beck, Kurt, 2004: Hintergrundinformationen der rheinland-pfälzischen Landesregierung zur Ländermitwirkung in EU-Angelegenheiten in Zusammenhang in Zusammenhang mit den Reformüberlegungen zu Artikel 23 GG, Kommissionsdrucksache 0034. Benz, Arthur, 2003: Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung am 12.12.2003, Kommissionsdrucksache 0010. Benz, Arthur, 2004: Zur „Europafähigkeit“ des deutschen Bundesstaates. Vorlage für die Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Kommissionsdrucksache 0043. Börzel, Tanja A., 2002: States and Regions in the European Union. Institutional Adaption in Germany and Spain. Cambridge. Burkhart, Simone/Manow, Philip, 2006: Was bringt die Föderalismusreform? Wahrscheinliche Effekte der geänderten Zustimmungspflicht, MPIfG Working Paper 06/6, Köln. Dagger, Steffen/Schröder, Till, 2005: Flagge zeigen: Landesvertretungen in Brüssel, in: Politik&Komunikation Februar 2005, 40-45. Duchacek, Ivo, 1970: Comparative Federalism. New York. Eppler, Annegret, 2006: Föderalismusreform und Europapolitik, in: APuZ 50/2006, 18-23. Fromme, Friedrich Karl, 1976: Gesetzgebung im Widerstreit. Wer beherrscht den Bundesreat? Die Kontroverse 1949-1976. Stuttgart. Geiger, Hansjörg, 2004: Position der Bundesregierung zu Art. 23 GG, Kommissionsdrucksache 0041. Georgii, Harald/Borhanian, Sarab, 2006: Zustimmungsgesetze nach der Föderalismusreform. Wie hätte sich der Anteil der Zustimmungsgesetze verändert, wenn die vorgeschlagene Reform bereits 1998 in Kraft gewesen wäre? Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste. Gerster, Florian, 1993: Die Europaministerkonferenz der deutschen Länder: Aufgaben – Themen – Selbstverständnis, in: integration 16 (2), 61-67. Grimm, Dieter, 2004: Stenografischer Bericht der 6. Sitzung der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, am 14.5.2004, 152B. Große Hüttmann, Martin, 2004: „Wir müssen aus dem Mischmasch raus“: Die Europafähigkeit des deutschen Föderalismus, in: Decker, Frank (Hg.): Föderalismus an der Wegscheide? Optionen und Perspektiven einer Reform der bundesstaatlichen Ordnung. Wiesbaden, 203-222. Große Hüttmann, Martin, 2007: Die Koordination der deutschen Europapolitik, in: APuZ 10/2007, 39-45. Gunlicks, Arthur, 2003: The Länder and German Federalism. Manchester/New York. 5 Jedoch können oder wollen nicht alle Länder die gleichen Ressourcen für dieses Instrument aufwenden.

Trennen sich die Wege? Die Bundes- und Europapolitik der Länder

329

Hesse, Konrad, 1962: Der unitarische Bundesstaat. Karlsruhe. Hrbek, Rudolf, 2001: Deutscher Föderalismus als Hemmschuh für die europäische Integration? Die Länder und die deutsche Europapolitik, in: Schneider, Heinrich/Jopp, Mathias/Schmalz, Uwe (Hg.): Eine neue deutsche Europapolitik? Rahmenbedingungen – Problemfelder – Optionen. Bonn, 267-298. Jeffery, Charlie, 1999: From cooperative federalism to a „Sinatra doctrine“ of the Länder, in: Ders. (Hg.): Recasting German Federalism. The Legacies of Unification. London, 329-342. Jeffery, Charlie, 2007: Towards a New Understanding of Multi-Level-Governance in Germany? The Federalism Reform Debate and European Integration, in: PVS 48 (1), 17-27. Klaus, Henning, 1996: Die deutschen Bundesländer und die Europäische Union. Die Mitwirkung der Länder am EU-Integrationsprozeß seit dem Vertrag von Maastricht. Greifswald. Knodt, Michèle, 2002: Europäisierung regionalen Regierens: Mit Sinatra zum „autonomieorientierten Systemwechsel“ im deutschen Bundesstaat?, in: PVS 43 (2), 212-234. Laufer, Heinz/Wirth, Jutta, 1974: Die Landesvertretungen in der Bundesrepublik Deutschland. Eine politologische Studie über Organisationsstruktur, Funktionen und Arbeitsweise der Landesvertretungen in Bonn. München. Lehmbruch, Gerhard, 32000: Parteienwettbewerb im Bundesstaat: Regelsysteme und Spannungslagen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden. Lehmbruch, Gerhard, 2002: Der unitarische Bundesstaat in Deutschland: Pfadabhängigkeit und Wandel. in: Benz, Arthur/Gerhard Lehmbruch (Hg.): Föderalismus. Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive, PVS-Sonderheft 32, 53-110. Lhotta, Roland, 2003: Zwischen Kontrolle und Mitregierung. Der Bundesrat als Oppositionskammer, in: APuZ 43/2003: 16-22. Niedersächsische Staatskanzlei, 2007: http://www.stk.niedersachsen.de/master/C26529998_N26479395_L 20_D0_I484.html, abgerufen am 26.7.2007. Scharpf, Fritz W., 1985: Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: PVS 26 (4), 323-356. Scharpf, Fritz W., 2003: Stellungnahme zur Anhörung am 12. Dezember 2003. Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Kommissionsdrucksache 0007. Scharpf, Fritz W., 2006: Föderalismusreform: Weshalb wurde so wenig erreicht?, in: APuZ 50/2006, 6-11. Scharpf, Fritz W./Reissert, Bernd/Schnabel, Fritz, 1976: Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik. Kronberg im Taunus. Schindler, Peter, 1999: Datenhandbuch zur Geschichte des deutschen Bundestages 1949-1999. BadenBaden. Schmidt, Manfred G., 2007: Das politische System Deutschlands. Institutionen, Willensbildung und Politikfelder. München. Wachendorfer-Schmidt, Ute, 2000: Collaborative Federalism in Germany: Keeping the System in the Eye of the Storm, in: Dies. (Hg.): Federalism and Political Performance. London, 81-111. Wachendorfer-Schmidt, Ute, 22005: Politikverflechtung im vereinigten Deutschland. Wiesbaden. Wagschal, Uwe/Grasl, Maximilian, 2004: Die modifizierte Senatslösung. Ein Vorschlag zur Verringerung von Reformblockaden im deutschen Föderalismus, in: ZParl 35 (4), 732-752. Zohlnhöfer, Reimut, 1999: Die große Steuerreform 1998/99: Ein Lehrstück für die Politikentwicklung bei Parteienwettbewerb im Bundesstaat, in: ZParl 30 (2), 326-345. Zumschlinge, Konrad, 1989: Die Informationsbüros der Bundesländer in Brüssel, in: Die Verwaltung Bd. 22, 217-236. Zumschlinge, Konrad/Sierigk, Annette, 1994: Die Auswirkungen der Wiedervereinigung Deutschlands und der Integration Europas auf die Vertretungen der Deutschen Länder in Bonn, Berlin und Brüssel, in: Die Verwaltung Bd. 27, 525-545.

Die Wahlsysteme der Länder Matthias Trefs

1

Einleitung

Über die Bedeutung von Institutionen für die Politikgestaltung ist die Policy-Forschung geteilter Meinung. Während die einen Institutionen als zentrale Einflussgröße betrachten, räumen ihnen die anderen nur eine marginale Wirkkraft ein. Dass aber selbst diejenigen Schulen der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung, die Institutionen für prinzipiell relevant halten, dem Wahlsystem, einer der grundlegendsten Institutionen demokratisch verfasster Systeme, eher eine nachgeordnete Wichtigkeit beimessen, überrascht. Es gibt bisher kaum Studien, die sich systematisch mit dem Einfluss des Wahlsystemtyps auf die Politik eines Staates beschäftigen (zu den wenigen Ausnahmen zählen Wagschal 1996 und 2003). Das Wahlsystem wird häufig als Teil eines bestimmten Demokratietyps gesehen, ohne dass seiner Rolle im Politikgestaltungsprozess eine herausgehobene Bedeutung beigemessen wird. Dabei liegt ein Wirkungszusammenhang zwischen Wahlsystem und Politikgestaltung auf der Hand. Folgt man der Darstellung Zohlnhöfers (2007), spielen sowohl im Rahmen der Parteiendifferenzhypothese als auch im akteurszentrierten Institutionalismus respektive dem Vetospielertheorem parteipolitische Akteure eine zentrale Rolle. Gerade im Vetospielertheorem ist die Anzahl der am Politikformulierungsprozess beteiligten Akteure eine entscheidende Stellgröße (Tsebelis 2002). Die Zahl der Vetospieler ergibt sich unter anderem aus der Anzahl von Parteien, welche die Politik eines Gemeinwesens mit gestalten können. Eine der ausschlaggebenden Variablen, welche die Menge der Parteien beeinflusst, ist das Wahlsystem (Nohlen 2004: 58). Entsprechend sollte die Ausgestaltung von Wahlsystemen im Rahmen der Policy-Forschung mehr Beachtung finden. Gerade die Systeme, die bei der Wahl der Parlamente der deutschen Bundesländer zur Anwendung kommen, sind jedoch nicht nur in Bezug auf Politikgestaltungsprozesse, sondern generell äußerst selten Gegenstand politikwissenschaftlicher Analysen (Pehle 1999: 251, Ausnahmen sind u.a. Woyke 2005 und Leunig 2007: 69-85). Über die Gründe hierfür kann nur spekuliert werden. Mag es das mangelnde Interesse an Landespolitik im Allgemeinen oder die vorherrschende Unkenntnis spezifischer Besonderheiten der Landtagswahlsysteme im Besonderen sein, keiner dieser Gründe rechtfertigt die weitgehende Nichtbeachtung dieses Themas durch die Politikwissenschaft. Dieses Kapitel widmet sich den Wahlsystemen der Bundesländer. Als erstes werden die 16 Wahlsysteme der Länder typologisch verortet. Dann werden die einzelnen Wahlsystemelemente betrachtet, insbesondere diejenigen Regelungen, die nicht dem nationalen Muster entsprechen. Im Anschluss daran werden die vier Landtagswahlsysteme vorgestellt,

332

Matthias Trefs

die am stärksten vom System auf der Bundesebene abweichen. Vorhandene Besonderheiten werden schließlich daraufhin untersucht, ob sie zu Abweichungen gegenüber den anderen Ländern beziehungsweise der Bundesebene führen können, die für die Staatstätigkeit des entsprechenden Landes relevant sind.

2

Wahlsystemanalyse

Die Analyse von Wahlsystemen wird auf vier aufeinander aufbauenden Ebenen vorgenommen (Nohlen 2002: 244-246). Die grundlegendste Unterscheidung wird anhand der Repräsentationsprinzipien, Mehrheitswahl oder Verhältniswahl, getroffen. Sie ist kategorialer Natur und bringt das demokratietheoretische Konzept, das hinter einem Wahlsystem steht, zum Ausdruck. Die nächste Ebene ist die der Wahlsystemtypen, auf der ungefähr zehn Typen unterschieden werden. Die genaue Typenzahl hängt nicht zuletzt von forschungspraktischen Gesichtspunkten ab. Diesen Typen sind auf einer weiteren Ebene die empirischen Wahlsysteme, also die jeweiligen Ausgestaltungen innerhalb der Grenzen eines Typs, zugeordnet. Um diese Ausgestaltungen adäquat erfassen zu können, muss auf der vierten Ebene eine detaillierte Betrachtung der einzelnen technischen Elemente eines Wahlsystems vorgenommen werden.

2.1 Das Repräsentationsprinzip Das Repräsentationsprinzip gibt den Zweck wieder, den ein Wahlsystem erfüllen soll, also entweder die möglichst getreue Abbildung des Wählerwillens im Parlament oder die Schaffung einer klaren, regierungsfähigen Mehrheit. In der Regel ist dieses Prinzip in der Verfassung oder dem Wahlgesetz des betreffenden politischen Systems festgehalten. Von den Bundesländern haben fünf das Repräsentationsprinzip in ihrer Verfassung verankert: Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Rheinland-Pfalz und das Saarland. In den übrigen Ländern wird es durch ein Gesetz bestimmt. Dieses formalen Unterschiedes ungeachtet folgen alle Landtagswahlsysteme dem Prinzip der Verhältniswahl und stimmen darin mit dem Wahlsystem zum Bundestag überein.

2.2 Typen und empirische Vielfalt Von den 16 Landtagswahlsystemen sind 14 vom selben Typ wie das Bundestagswahlsystem, der personalisierten Verhältniswahl (s. hierzu und zum Folgenden die Tabellen 1 und 2 am Ende des Beitrags). In den übrigen zwei Ländern, Bremen und dem Saarland, wird ein Verhältniswahlsystem in Mehrpersonenwahlkreisen angewandt. Von den 14 Wahlsystemen, die unter die Rubrik personalisierte Verhältniswahl fallen, weichen vier zum Teil deutlich vom bundespolitischen Muster ab, nämlich diejenigen von Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Das Hamburger Wahlsystem ist sogar so speziell, dass

Die Wahlsysteme der Länder

333

es nicht ohne Weiteres dem Typ der personalisierten Verhältniswahl zuzuordnen ist (s. Abschnitt 2.4). Warum sich die Landschaft der Landtagswahlsysteme aktuell so darstellt, lässt sich nicht pauschal erklären. Zwei gegenläufige Einflussgrößen scheinen jedoch von besonderer Bedeutung zu sein. Die Abweichungen einiger Systeme vom bundespolitischen Muster sind plausibel mit einer eigenständigen Institutionenpolitik der betreffenden Länder zu erklären. Die große Ähnlichkeit der Systeme hingegen ist einer Anpassungsdynamik geschuldet, in deren Verlauf die meisten Landtagswahlsysteme dem nationalen angeglichen wurden. Am direktesten hat sich diese in den neuen Bundesländern manifestiert, deren Wahlsysteme von Beginn an durchweg dem Bundestagswahlsystem entsprachen. Aber auch in den alten Bundesländern ließ sich ab 1949 eine Angleichung an das nationale Wahlsystem beobachten. Während in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein ab den ersten Landtagswahlen das System der personalisierten Verhältniswahl in Gebrauch war, wechselten andere Länder erst später von der Verhältniswahl mit Listen zu diesem System: Bayern bereits mit dem Wahlgesetz vom 29.03.1949, Hessen am 18.09.1950, das neu gegründete Baden-Württemberg am 27.04.1955, Berlin am 28.03.1958 und schließlich Rheinland-Pfalz am 30.11.1989 (Vogel et al. 1971: 192-195; Landeswahlgesetz für Rheinland-Pfalz vom 30.11.1989). Ein Kriterium, das vorrangig zu dieser Adaption beigetragen haben dürfte, ist die Einfachheit. Nohlen zufolge werden an ein Wahlsystem fünf Anforderungen herangetragen, die zueinander in einem trade-off-Verhältnis stehen: die adäquate und faire Repräsentation der Bevölkerung, die Konzentration der politischen Interessen der Wähler, die Möglichkeit zur Partizipation, die allgemeine Akzeptanz der Regeln und Ergebnisse sowie die Einfachheit des Systems (Nohlen 2004: 157-159). Im vorliegenden Fall bezieht sich die Forderung nach Einfachheit weniger auf das betreffende Wahlsystem an sich als vielmehr auf ein besseres Verständnis der verschiedenen Wahlmodi auf den unterschiedlichen Ebenen politischer Repräsentation in der Bundesrepublik. Mit anderen Worten wollte man dem Bürger wohl nicht allzu viele verschiedene Wahlsysteme zumuten und erhoffte sich eine höhere Akzeptanz des Wahlsystems gerade bei Landtagswahlen, indem man es dem Verfahren auf Bundesebene anglich. Zu welchen Verwirrungen das Beibehalten eines Wahlsystems führen kann, das trotz seiner Zuordnung zum Typ der personalisierten Verhältniswahl in seiner Funktionsweise vom nationalen System abweicht, zeigte sich in Baden-Württemberg: Im Vorfeld der Wahl im Jahr 1996 forderten die Grünen in Stuttgart die Wähler auf, mit ihrer Zweitstimme Grün zu wählen (Stuttgarter Zeitung vom 8.2.1996: 19). Das baden-württembergische Wahlsystem sieht pro Wähler jedoch nur eine Stimme vor (s. Abschnitt 2.4). Der Trend zu mehr Einheitlichkeit in Wahlsystemfragen ist aber nicht durchgängig. So wählt das Saarland seit jeher nach Verhältniswahl mit starren Listen. Gänzlich gegenläufig war die Entwicklung in Bremen und Hamburg. Beide Stadtstaaten hatten anfänglich ein System der personalisierten Verhältniswahl festgeschrieben. Bremen wechselte bereits am 9.09.1947 zur Verhältniswahl mit starren Listen, Hamburg am 6.12.1956 (Vogel et al. 1971: 193). Die jüngsten Entwicklungen im Hamburger Wahlrecht deuten auf einen Weg zwischen den beiden Typen der personalisierten Verhältniswahl und der Verhältniswahl rein nach starren Listen an (s. Abschnitt 2.4).

334

Matthias Trefs

2.3 Technische Elemente Der Mainstream der Wahlsystemforschung fokussiert seine Untersuchungsbemühungen häufig auf die technischen Elemente von Wahlsystemen. Zu ihnen zählen die Wahlkreiseinteilung, die Kandidaturform, die Stimmgebung, die Stimmenverrechnung sowie Sperrklauseln. Einerseits ist die eingehende Beschäftigung mit diesen Komponenten eines Wahlsystems für jede gründliche Analyse unerlässlich, weswegen sie auch hier nicht zu kurz kommen soll. Andererseits wird die Wirkkraft einzelner dieser Elemente oft überschätzt. Aus solchen Einschätzungen abgeleitete Wirkungshypothesen liefern zwangsläufig ein verzerrtes Bild der Realität. Daher sei hier darauf hingewiesen, dass die politischen Auswirkungen von Wahlsystemen meistens von der fallspezifischen Kombination dieser Elemente abhängen (Nohlen 2004: 77). Exemplarisch für eine solche Überbewertung eines einzelnen Elements ist die Fixierung der baden-württembergischen Wahlsystemreformdebatte auf die Stimmenverrechnungsformel (Spiegel-Online vom 13.01.20061). Gleichwohl ermöglicht die Feinabstimmung der technischen Elemente die Anpassung eines Wahlsystems an die spezifischen sozio-geographischen Gegebenheiten des jeweiligen politischen Systems. Das gilt insbesondere für die Einteilung der Wahlkreise. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass selbst die Landtagswahlsysteme, die mit dem bundesrepublikanischen Wahlsystem typenidentisch sind, im Detail von ihm abweichen.

Wahlkreiseinteilung Alle Systeme bis auf das Bremer Verhältniswahlsystem haben gemein, dass es zwei Arten von Wahlkreisen gibt. Außer in Hamburg und im Saarland ist das jeweilige Territorium zum einen in eine gewisse Anzahl Einmandatwahlkreise eingeteilt, zum anderen bildet das komplette Wahlgebiet einen so genannten nationalen Wahlkreis, dessen Größe der Zahl der zu wählenden Abgeordneten entspricht. Das Verhältnis der Direktmandate zur Gesamtzahl der Sitze eines Parlaments folgt keiner bestimmten Regel. Bis auf das Parlament in SachsenAnhalt machen die direkt vergebenen Mandate in den nach personalisierter Verhältniswahl gewählten Landtagen mindestens die Hälfte der Sitze aus. In Hamburg gibt es statt den Einerwahlkreisen, in denen die Kandidaten nach relativer Mehrheit gewählt werden, Mehrmandatwahlkreise, in denen nach Proporz auf offenen Listen gewählt wird. Ergänzt werden diese ebenfalls durch einen landesweiten Wahlkreis. Im Saarland gibt es neben dem nationalen Wahlkreis drei Mehrmandatswahlkreise.

Kandidaturform und Art der Stimmgebung Die meisten der Systeme ähneln sich gegenseitig und dem Bundestagswahlsystem darin, dass sie zwei Formen der Kandidatur und – damit verbunden – der Stimmgebung kombinieren. Die Einerwahlkreise erfordern die Einzelkandidatur, bei der der Wähler dem Kan1 Das Kreuz mit dem Kreuz, http://www.spiegel.de/politik/deutsch-land/0,1518,394914,00.html.

Die Wahlsysteme der Länder

335

didaten seiner Wahl seine Stimme gibt. Daneben wählen die Bürger – meist mit ihrer Zweitstimme – eine Liste. Diese ist in der Regel geschlossen. Die Ausnahmen hiervon sind jedoch zahlreich: Das baden-württembergische System kommt ohne Listen aus. Die Wähler haben eine Stimme, mit der sie gleichzeitig einen Kandidaten sowie dessen Partei wählen und Einfluss auf die Verteilung der so genannten Zweitmandate nehmen. In Bayern ist die Zweitstimme eine Präferenzstimme, kann also Einfluss auf die Reihenfolge der Kandidaten auf der gewählten Liste nehmen. In Bremen kann nur eine einzige Stimme für eine starre Liste abgegeben werden. Bis 2004 galt in Hamburg ebenfalls ein Verhältniswahlrecht mit starren Listen. Seit 2006 haben Hamburger Wähler jedoch sechs Stimmen. Fünf können sie für Wahlkreislisten abgeben. Dabei dürfen sie kumulieren und panaschieren. Die sechste Stimme geht an eine starre Landesliste. In Nordrhein-Westfalen können die Wähler ihre Stimme nicht splitten. Sie wählen automatisch die Partei des Kandidaten, dem sie in ihrem Wahlkreis ihre Stimme geben, wie es bis 1953 auch auf Bundesebene der Fall war. Die Saarländer haben ebenfalls nur eine Stimme, mit der sie jedoch eine starre Landesliste wählen und die gleichzeitig für die Mandatsverteilung in den Wahlkreisen verrechnet wird. In Schleswig-Holstein stand den Wählern bis zur Wahl im Jahr 2000 ebenfalls nur eine Stimme zur Verfügung. Seither gleicht das System dem zur Wahl des Bundestages.

Stimmenverrechnung Systeme der personalisierten Verhältniswahl vereinen prinzipiell zwei Stimmenverrechnungsarten. Die Mandatszuteilung in den Einerwahlkreisen erfolgt einheitlich nach relativer Mehrheitswahl. Unterschiede bestehen bei den Verrechnungsformeln der Verhältniswahl. Neun Länder wenden dieselbe Methode wie auf Bundesebene an, nämlich das Verfahren mathematischer Proportionen nach Hare-Niemeyer. Es gilt als etwas proportionaler als die Methode d´Hondt, die tendenziell die großen Parteien bevorzugt (vgl. Rechenbeispiel in Nohlen 2004: 112).2 Dessen ungeachtet ist die Formel d´Hondts, die bis einschließlich 1983 auch bei Bundestagswahlen verwendet wurde, in vier Ländern in Gebrauch. Gleichwohl ist auch die Anwendung von Hare-Niemayer nicht unproblematisch. Sie kann zu unlogischen Sprüngen beziehungsweise der Negativgewichtung von Stimmen führen (Das Parlament vom 28.03.1981: 26).3 Diese mitunter gravierenden Systemfehler tauchen bei Divisorverfahren wie der Methode d´Hondt nicht auf. Da diese an den bereits genannten Nachteilen leidet, bleibt das Divisorverfahren nach Sainte-Laguë, das von vielen Wahlforschern als sehr proportional favorisiert wird. Baden-Württemberg hat mit der Änderung des Landtagswahlgesetzes vom 7.03.2006 von d´Hondt auf die Methode Sainte-Laguë umgestellt, nach der seit einigen Jahren auch in den Stadtstaaten Bremen (seit dem 17.11.1998) und Hamburg 2 Während die Methode d´Hondt wie auch die Methode Sainte-Laguë Divisorenverfahren sind, d.h. die Stimmzahlen der Parteien nacheinander durch 1, 2, 3, 4, 5 etc. beziehungsweise 1, 3, 5, 7, 9 etc. geteilt werden und die Mandate nach dem jeweils größten Quotienten vergeben werden, ist die Methode Hare-Niemayer ein Quota-Verfahren, d.h. die Stimmen einer Partei werden durch die Gesamtzahl der gültigen Stimmen dividiert und anschließend mit der Zahl der zu vergebenden Sitze multipliziert. Die resultierende Zahl entspricht den der betreffenden Partei zustehenden Sitzen. So nicht vergebene Sitze werden bei Hare-Niemayer den Parteien mit den höchsten Nachkommawerten zugesprochen. 3 Sehr ausführlich und anschaulich wird die Problematik auf folgender Internetseite behandelt: http://www. wahlrecht.de/verfahren/paradoxien/index.html.

336

Matthias Trefs

(seit dem 5.07.2004) verrechnet wird. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass eine Veränderung der Verrechnungsformel eine tief greifende Auswirkung auf das Parteienspektrum in den Länderparlamenten hat. Die Empirie bietet hierfür keine Anhaltspunkte, gerade wenn man sich die genannten Veränderungen auf Bundes- und auf Landesebene vor Augen hält. Anders sieht es bei der Regierungsbildung aus. Wenn die Entscheidung knapp ist, kann die Verrechnungsformel durchaus den Ausschlag geben, wer als Koalitionspartner in Frage kommt. Nicht zuletzt deshalb drängten die baden-württembergischen Liberalen auf den genannten Wechsel (Müller 2004).

Sperrklauseln Mit wenigen Ausnahmen gilt auch in den Ländern die Fünf-Prozent-Hürde, die Parteien mit ihrem Stimmenanteil überschreiten müssen, um an der Sitzverteilung teilnehmen zu können. Zu den Besonderheiten zählt, dass in Berlin die ungültigen Stimmen in die Berechnung der Stimmanteile miteinbezogen werden. In Brandenburg und Schleswig-Holstein sind die ethnischen Minderheiten der Sorben respektive der Dänen von der Sperrklausel ausgenommen. Das kann unter Umständen bei einem knappen Wahlausgang zwischen den beiden großen Parteien Wahl entscheidend sein, wie die schwierige Regierungsbildung 2005 in Schleswig-Holstein gezeigt hat. Eine weitere Ausnahme besteht in Bremen, wo die Hürde in den beiden Wahlkreisen Bremen und Bremerhaven getrennt gilt. Eine Sperrklausel kann in manchen Fällen durch die so genannte Grundmandatsklausel umgangen werden. Das heißt, ab einer bestimmten Anzahl gewonnener Direktmandate, drei im Fall von Bundestagswahlen, nimmt eine Partei an der proportionalen Sitzverteilung teil, auch wenn sie insgesamt nicht auf fünf Prozent der Stimmen kommt. Diese Klausel kann naturgemäß nur in den Ländern mit personalisierter Verhältniswahl zur Anwendung kommen. Diese Option besteht in vier der 13 Länder. In Berlin, Brandenburg und SchleswigHolstein reicht ein gewonnenes Direktmandat, um an der Sitzverteilung nach Stimmenproporz teilzunehmen. Das Wahlrecht in Sachsen verlangt zwei Direktmandate. Solange eine Partei aufgrund zu geringer Sitzanzahl keinen Fraktionsstatus erhält, ist diese Option jedoch von begrenztem Nutzen, wie die eingeschränkte Wirkmöglichkeit der PDS-Abgeordneten im 15. Bundestag zeigte.4

Überhang- und Ausgleichsmandate Bei der personalisierten Verhältniswahl können so genannte Überhangmandate entstehen. Dabei handelt es sich nicht um ein technisches Element im eigentlichen Sinn, sondern um das Resultat einer Kombination verschiedener technischer Elemente und des Wahlverhal4 In Schleswig-Holstein müssen sich mindestens vier Abgeordnete zusammenschließen, um den Status einer Fraktion zu erhalten (ausgenommen die Partei der Dänen, der Südschleswigsche Wählerbund), ebenso in Brandenburg. In Sachsen beträgt die Mindestabgeordnetenzahl sechs, was fünf Prozent der regulären Sitze entspricht. In Berlin muss eine Fraktion ebenfalls mindestens über fünf Prozent der verfassungsgemäßen Mindestsitzzahl des Abgeordnetenhauses verfügen, also über sieben Sitze. Die Prärogativen von Landtagsfraktionen entsprechen denen der Fraktionen im Bund.

Die Wahlsysteme der Länder

337

tens. Im Prinzip ergeben sich Überhangmandate immer dann, wenn eine Partei mehr Direktmandate erringt, als ihr nach der proportionalen Zuteilung der Mandate Sitze im Parlament bzw. dem jeweiligen Wahlkreis zustehen. Da man die direkt gewählten Kandidaten nicht ihres demokratisch errungenen Sieges berauben möchte, werden diese Sitze zum stimmenproportionalen Sitzkontingent der Parteien hinzuaddiert. Im Gegensatz zum Bund werden diese Überhangmandate in den Ländern mit personalisierter Verhältniswahl durch so genannte Ausgleichsmandate für die anderen Parteien kompensiert, um den Gesamtproporz von Stimm- und Sitzanteilen zu wahren. In Baden-Württemberg und Bayern geschieht dies nicht wie in den anderen betreffenden Ländern landesweit, sondern nach Regierungsbezirken getrennt. Gerade diese Regelung kann zu einer beträchtlichen Aufblähung der Parlamente führen. In der Legislaturperiode von 1996 bis 2001 umfasste der baden-württembergische Landtag beispielsweise 155 statt 120 Abgeordnete, was einem Sitzzuwachs von knapp 30 Prozent entspricht (Trefs 2004: 88). Einer solchen Vergrößerung des Parlaments wird in Brandenburg ein Riegel vorgeschoben, indem die Obergrenze bei 110 Sitzen liegt. Wenn für einen proportionalen Ausgleich theoretisch eine Sitzzahl über diesem Limit nötig wäre, werden bestehende Überhangmandate zu Lasten des Proporzes im Parlament der Schaffung weiterer Ausgleichsmandate bei der Belegung der 110 Sitze vorgezogen. Auch in den übrigen Ländern kommen durchaus unterschiedliche Methoden der Ausgleichsmandatsvergabe zur Anwendung. In Hamburg werden Überhangmandate von Parteien, deren Liste die Fünf-Prozent-Hürde nicht überspringen, bei der Berechnung der proportionalen Sitzanteile vom Gesamtsitzkontingent abgezogen. In Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein wiederum wird die Gesamtsitzzahl um einen Sitz erhöht, falls durch Überhang- und Ausgleichmandate eine gerade Sitzzahl entstanden ist. In Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen wird beim Auftreten von Überhangmandaten das Gesamtsitzkontingent vergleichsweise kompliziert neu berechnet. In Niedersachsen und Sachsen-Anhalt wird die Gesamtsitzzahl um die doppelte Anzahl von Überhangmandaten erhöht und auf dieser neuen Basis die Sitzkontingente der Parteien festgestellt. Die übrigen Länder erhöhen die Zahl von Sitzen durch die Zuteilung von Ausgleichmandaten schlicht so lange, bis wieder ein zu den gültigen Stimmen proportionales Sitzverhältnis entsteht.

2.4 Die Sonderfälle Im Folgenden werden diejenigen Landtagswahlsysteme detaillierter vorgestellt, die deutlich vom nationalen Wahlsystem abweichen. Gerade das Wahlsystem Baden-Württembergs stellt eine auch international einzigartige Ausnahme dar.

Baden-Württemberg In Baden-Württemberg steht dem Wähler eine einzige Stimme zur Verfügung, mit der er sowohl einen Kandidaten in seinem Wahlkreis als auch automatisch dessen Partei wählt. Diese Stimme hat insgesamt drei Funktionen. Erstens trägt jede Stimme zum landesweit kumulierten Stimmanteil der jeweiligen Partei bei, der über den proportionalen Gesamtsitz-

338

Matthias Trefs

anteil dieser Partei im Parlament entscheidet. Die Sitze werden dann anteilig auf die vier Regierungsbezirke verteilt. Von diesen Sitzkontingenten werden die Mandate subtrahiert, welche die Kandidaten der betreffenden Partei in den Einerwahlkreisen direkt gewonnen haben. Die Gewinner dieser Direktmandate werden über die zweite Funktion der Wählerstimme ermittelt. Derjenige Wahlkreiskandidat, der die meisten Stimmen auf sich vereint, erhält das Mandat.5 Die dritte Funktion der Stimme dient schließlich dazu, die Gewinner der so genannten Zweitmandate festzustellen. Eine Partei erhält Zweitmandate, wenn sie in einem Regierungsbezirk weniger Direktmandate erringt, als ihr Sitze proportional zu ihrem Stimmenanteil zustehen. Die Zweitmandate gehen der Reihe nach an die absolut stimmstärksten Kandidaten der Partei, die kein Direktmandat erhalten haben. Mit anderen Worten zählt nicht der relative Erfolg eines Kandidaten, sondern die absolute Zahl der Stimmen, die er auf sich vereinigen kann. Da die Zahl der Wahlberechtigten pro Wahlkreis erheblich differiert, unterscheiden sich die Erfolgsbedingungen für ein Zweitmandat deutlich.6 Tendenziell ist also die Chance, ein solches zu erlangen, in wählerstarken Wahlkreisen merklich höher.7 Eine weitere Besonderheit, die allerdings selten zum Tragen kommt, ergibt sich für den Fall, dass einer Partei in einem Regierungsbezirk mehr Sitze zustehen, als sie dort Kandidaten aufweisen kann. Dann kommen die Stellvertreter der bereits siegreichen Kandidaten zum Zug, und zwar der Reihe nach gemessen an der absoluten Stimmzahl der Kandidaten, die sie vertreten.8 Obwohl mit dem Umstieg von der Methode d´Hondt auf Sainte-Laguë die gröbsten Verzerrungen abgemildert wurden, kann das Wahlsystem noch immer als eines der intransparentesten der Republik gelten. Zwar kann jede Stimme direkt zum Erfolg des gewählten Kandidaten beitragen. Aufgrund der Verrechnung auf mehreren Ebenen und der stark differierenden Größe der Wahlkreise ist es dem Wähler jedoch unmöglich, die Folge seiner Stimme für die Vergabe der Zweitmandate einzuschätzen. Da darüber hinaus keine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Kandidaten einer Partei besteht, kann die Abwesenheit geschlossener Listen nicht als ein Plus an Partizipation der Wähler gewertet werden.

Bayern Kaum weniger ungewöhnlich als das baden-württembergische Wahlsystem ist das so genannte „verbesserte Verhältniswahlsystem“ (Art. 19 Landeswahlgesetz vom 5.07.2002) Bayerns. Das Land ist in sieben Wahlkreise unterteilt, die seinen Regierungsbezirken entsprechen. Sie bilden jeweils die höchste Stimmenaggregationsebene. Eine landesweite Verrechnung findet nicht statt. Die 180 Mandate verteilen sich proportional zu den Wahlbevölkerungsanteilen auf die Wahlkreise. Die Wahlkreise sind wiederum in Einmandatswahlkreise, 5 Erlangt eine Partei in einem Regierungsbezirk mehr Direktmandate, als ihr nach der proportionalen Sitzzuteilung zustehen würden, erhält sie eine entsprechende Anzahl von Überhangmandaten. Die anderen Parteien erhalten im Gegenzug im jeweiligen Regierungsbezirk proportional zum Bezirksstimmenverhältnis Ausgleichsmandate. 6 Im Jahr 2001 unterschieden sich der größte Wahlkreis, Biberach, mit 132.271 und der kleinste Wahlkreis, Heilbronn, mit 77.069 um mehr als 55.000 Wahlberechtigte. 7 Das muss aber nicht immer der Fall sein. Gerade bei der Wahl 2001 erhielt in Biberach keine Partei ein Zweitmandat, da eine große Mehrheit der Wähler dort und im restlichen Regierungsbezirk für die CDU stimmte. 8 Das passierte zum Beispiel 1976, als zwei Ersatzkandidaten der CDU in den Kreisen Bodensee und Biberach ein Mandat erhielten.

Die Wahlsysteme der Länder

339

so genannte Stimmkreise, unterteilt, so dass mindestens die Hälfte der Mandate eines Wahlkreises auf Stimmkreiskandidaten entfällt. Entsprechend hat der Wähler zwei Stimmen, eine für die Wahl eines Stimmkreiskandidaten und eine weitere, die er entweder für einen bestimmten Kandidaten auf der Wahlkreisliste einer Partei, oder aber ohne Kandidatenpräferenz für eine bestimmte Wahlkreisliste abgibt. Zur Bestimmung des Sitzanteils, den eine Partei in einem Wahlkreis erhält, werden die Stimmen addiert, welche die Stimmkreisbewerber und die Wahlkreislisten einer Partei erhalten haben.9 Von den über das Hare-Niemeyer-Verfahren ermittelten Sitzkontingenten einer Partei werden die Sitze abgezogen, die ihre Stimmkreiskandidaten mit relativer Mehrheit gewinnen konnten. Die übrigen Sitze gehen an die Listenkandidaten mit den meisten Präferenzstimmen. Da das Gesetz festlegt, dass jeder Stimmkreisbewerber auch auf einer Wahlkreisliste kandidieren muss, genießen diese gegenüber ihren Parteikollegen, die nur auf der Liste antreten, einen Vorteil. Zwar wird ein siegreicher Stimmkreiskandidat bei der Vergabe der Wahlkreislistenmandate nicht mehr berücksichtigt. Aufgrund seines größeren Bekanntheitsgrades bei den Wählern hat er aber tendenziell bessere Chancen auf eine hohe Anzahl von Präferenzstimmen und damit ein Listenmandat, falls er im Stimmkreis unterliegt.10 Eventuell entstehende Überhangmandate werden auf Wahlkreisebene ausgeglichen.

Hamburg Bis vor wenigen Jahren wählten die Hamburger ihr Stadtparlament nach Verhältniswahlregeln mittels starrer Listen – ein System, das kein erwähnenswerter Sonderfall gewesen wäre. Im Jahr 2004 änderten sie das Wahlrecht jedoch per Bürgerentscheid in eines mit vergleichsweise hoher Partizipationsmöglichkeit.11 Jeder Wähler hätte nach dem von den Bürgern beschlossenen Entwurf zehn Stimmen zur Verfügung gehabt, die er kumulierend und panaschierend auf die Kandidaten der Listen seiner Wahl verteilen konnte. Dieses System konnte sich jedoch nie dem Test in der Praxis unterziehen. Die christdemokratische absolute Mehrheit in der Hamburger Bürgerschaft änderte das Wahlrecht 2006 erneut – offiziell, weil sie die Regeln für zu kompliziert hielt, inoffiziell, weil es den Einfluss der Parteien deutlich beschnitten hätte (Süddeutsche Zeitung vom 13.06.2006: 4, 7). Von den 121 Parlamentssitzen werden nun 71 in Mehrmandatswahlkreisen vergeben, deren Größe zwischen drei und fünf liegen muss. Die übrigen 50 Sitze werden über Landeslisten besetzt. Der Gesamtanteil einer Partei an den 121 Parlamentssitzen wird nach der Methode Sainte-Laguë auf der Basis der Landeslistenstimmen bestimmt. Für diesen Teil der Wahl hat jeder Wähler eine Stimme, mit der er eine starre Landesliste wählt. Darüber hinaus hat er fünf Wahlkreisstimmen, die er frei auf die offenen Wahlkreislisten verteilen kann. Die in den Wahlkreisen errungenen 9 Dadurch hebt sich das bayrische System deutlich von den anderen Systemen der personalisierten Verhältniswahl ab, die der proportionalen Sitzverteilung nur die Zweitstimmenanteile zugrunde legen. 10 Dieser Effekt wird dadurch abgemildert, dass ein Stimmkreisbewerber in seinem eigenen Stimmkreis nicht auf der Wahlkreisliste zur Wahl steht, d.h. er kann dort keine Listenstimmen in Form von Präferenzstimmen erhalten. 11 Der Bürgerentscheid war von der Bürgerinitiative „Mehr Bürgerrechte – ein neues Wahlrecht für Hamburg“ seit einigen Jahren angestrebt worden. Erklärtes Ziel war es, den Einfluss der Wähler auf die Wahl individueller Kandidaten zu erhöhen. Der zur Abstimmung vorgelegte Entwurf wurde von zwei Dritteln der Wähler unterstützt (http://www.wahlrecht.de/news/2004/14.htm).

340

Matthias Trefs

Mandate einer Partei werden von ihrem Gesamtkontingent subtrahiert. Die übrigen Sitze gehen an Kandidaten von den Landeslisten. Erlangt eine Partei dabei mehr Wahlkreissitze, als ihr insgesamt zustehen, behält sie die zusätzlichen Sitze in Form von Überhangmandaten. Zur Wahrung des Gesamtproporzes erhalten die anderen Parteien Ausgleichmandate.

Saarland Zwar handelt es sich beim saarländischen Wahlsystem um ein im Grunde konventionelles Verhältniswahlsystem, einige Besonderheiten rechtfertigen aber eine gesonderte Erwähnung. Ungewöhnlich ist die Unterteilung des Wahlgebiets in drei Mehrmandatswahlkreise, in denen die Kandidaten aber ebenfalls auf starren Listen antreten. Darüber hinaus hat der Wähler keine Möglichkeit, seine Stimme zu splitten. Mit der einen ihm zur Verfügung stehenden Stimme wählt er sowohl eine Wahlkreis- als auch die gleichfalls starre Landesliste einer Partei. Im ersten Schritt werden die Anteile der einzelnen Parteien an den 51 Parlamentssitzen auf Basis der für sie abgegebenen Wählerstimmen nach d´Hondt ermittelt. Dann werden die Anteile der Parteien an den 41 in den Wahlkreisen vergebenen Sitzen ermittelt. Die Differenz zwischen dem Gesamtsitzkontingent einer Partei und der Zahl der von ihr in den Wahlkreisen gewonnen Sitze wird mit Kandidaten von ihrer Landesliste besetzt. Hat eine Partei keine Landesliste präsentiert, gehen die übrigen Sitze ebenfalls an ihre Wahlkreislisten. Ist eine Liste erschöpft, werden die verbleibenden Sitze mit Kandidaten von den anderen Wahlkreislisten der Partei besetzt. Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass es bei der Stimmverrechnung zwischen Wahlkreisen und Land zur Entstehung von Überhangmandaten in den Wahlkreisen kommt. Interessanterweise sieht das saarländische Wahlrecht dafür jedoch keine Regelung vor.12

3

Bewertung der Wahlsysteme

Die Bewertung von Wahlsystemen kann immer nur im Rahmen ihres jeweiligen Kontextes erfolgen. Insbesondere müssen dabei die spezifischen Ziele berücksichtigt werden, die ein bestimmtes Wahlsystem erfüllen soll. Es gilt, festzulegen, welche der Anforderungen, die an ein Wahlsystem herangetragen werden, Priorität genießen sollen – Repräsentation, Konzentration, Partizipation, Einfachheit oder Legitimität (s.o.). Im Sinne des übergeordneten Themas dieses Sammelbandes interessieren vor allem die Folgen der Wahlsysteme, insbesondere diejenigen, die einen Effekt auf die Staatstätigkeit haben könnten. Der direkteste Wirkungszusammenhang, der sich dabei herstellen lässt, ist, wie eingangs erläutert, dem Vetospielertheorem entlehnt: Die Ausgestaltung eines Wahlsystems beeinflusst Zahl und Größe der Parteien in einem politischen System und damit mit-

12 Unter „Regelungslücke im Saarländischen Landeswahlgesetz“ erklären Martin Fehndrich und Andreas Schneider an einem fiktiven Beispiel, wie Überhangmandate im Saarland zustande kommen können (http://www.wahlrecht.de/ landtage/regelungsluecke-saarland.html).

Die Wahlsysteme der Länder

341

telbar auch die Zahl der Parteien, welche die Regierung bilden. Begünstigt ein Wahlsystem Koalitionsregierungen oder die Bildung großer heterogener Parteien respektive Parteienbündnisse, steigt die Anzahl der Vetospieler. Das heißt, die in diesem Zusammenhang interessanteste Funktion eines Wahlsystems ist die Konzentration. Sie gibt darüber Auskunft, wie stark das Wahlsystem gesellschaftliche Interessen aggregiert. Vergleicht man die Wahlsysteme der Länder mit demjenigen im Bund, muss man zum Schluss kommen, dass die Unterschiede hinsichtlich der Konzentration so minimal sind – alle Systeme sind letztendlich Verhältniswahlsysteme mit Sperrklausel–, dass die Wahlsysteme nicht für abweichende Strukturen der Parteiensysteme der Länder verantwortlich sein können. Die existierenden Unterschiede, beispielsweise die Dominanz der CSU in Bayern oder die Stärke der PDS im Osten, sind nicht auf das Wahlsystem zurückzuführen. Sie sind vielmehr durch Differenzen in den Cleavage-Strukturen zu erklären. Mit anderen Worten: die Landtagswahlsysteme haben von ihrer Wirkungsweise her einen ähnlichen Effekt auf die Rahmenbedingungen der Staatstätigkeit in den Ländern, wie dies das Bundestagswahlsystem auf nationaler Ebene hat. Politikwissenschaftlich interessant ist jedoch nicht nur die Frage des Einflusses der existierenden Wahlsysteme auf die Politik. Ebenso untersuchenswert sind Wahlsysteme als Ziel der Politik. Nicht erst seit Lipsets und Rokkans Aufsatz von 1967 ist klar, dass Politiker mitunter erheblich zur Gestaltung von Wahlsystemen beitragen. Insofern können Wahlsysteme also sehr wohl der Gegenstand von Institutionenpolitik sein. Einzelne Änderungen und ihre politischen Hintergründe hier im Detail darstellen zu wollen, würde jedoch den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Deshalb sollen nur einige der deutlichsten Beispiele aufgezeigt werden: Es wurde bereits angedeutet, dass sich das Gros der Systeme peu à peu dem Vorbild des Bundestagswahlsystems angepasst hat, zum Beispiel auch hinsichtlich solcher Details wie dem Wahlalter. Trotzdem kann gleichfalls konstatiert werden, dass auf Landesebene nach wie vor Raum für gewisse Experimente oder Besonderheiten besteht, der auch genutzt und gewahrt wird. So pflegt Bayern seine ‚verbesserte Verhältniswahl’, die den Wählern einen bemerkenswerten Partizipationsgrad ermöglicht. Hamburg wiederum erprobt gänzlich neue Formen der personalisierten Verhältniswahl, bei denen auch die Erststimmen der Wähler nach Proporz verrechnet werden. Gleichwohl überdauern in einigen Ländern auch Absonderlichkeiten, die auf nationaler Ebene eventuell stärkerem Protest ausgesetzt wären, zum Beispiel die intransparente Vergabe der Zweitmandate in Baden-Württemberg. Auch von der Methode d´Hondt hat man im Bund bereits seit geraumer Zeit Abstand genommen. Andererseits ist man dort noch nicht so weit wie in einigen Ländern, die das Verfahren Sainte-Laguë anwenden, das unter Experten allgemein als das proportionalste gehandelt wird (Benoit 2000; Lijphart 1994: 23). Hamburg und Baden-Württemberg sind aber auch Beispiele dafür, wie Politiker bestrebt sind, ihre Pfründe mit Hilfe institutioneller Weichenstellungen zu wahren. Die jüngste Geschichte der Wahlsystemreformen in Hamburg ist eine recht unrühmliche, wie bereits angedeutet wurde. Mit fadenscheinigen Argumenten wurde ein von einer Bürgerinitiative vorgeschlagenes, per Bürgerentscheid verabschiedetes und für Wählerpräferenzen sehr sensibles Wahlsystem von einer christdemokratischen Senatsmehrheit wieder einkassiert. Die CDU tauschte es gegen ein System, das den Einfluss der Parteien darauf, welcher ihrer

342

Matthias Trefs

Kandidaten ins Parlament zieht, wieder festigt. Ein Mangel an derartigem Einfluss stört die baden-württembergische CDU weniger, die bei Landtagswahlen ohnehin fast alle ihrer Kandidaten per Direktmandat ins Parlament bringt. Hier trifft die eingeschränkte Planungsmöglichkeit – es gibt keine Listen – viel eher die kleinen Parteien. Diese sind es auch, die gegen das bestehende System Sturm laufen – allen voran die FDP (Müller 2004). Die CDU hat jedoch wenig Interesse daran, ein System zu ändern, das ihre Position über die Jahre hinweg mit gefestigt hat. Nicht zuletzt hat die doppelte Anwendung der Methode d´Hondt die CDU als größte Partei bevorteilt. Der kürzlich vorgenommene Wechsel von d´Hondt zu Sainte-Laguë ist somit sicher ein Schritt in die richtige Richtung, aber hinsichtlich der Wählerpräferenzen und Machtverhältnisse im Land eher kosmetischer Natur (Spiegel Online vom 13.01.2006). Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Wahlsysteme der Länder eine größere Vielfalt aufweisen, als gemeinhin bekannt ist. Das macht sie vor allem in wissenschaftlicher Hinsicht interessant. Praktisch, also hinsichtlich ihres realpolitischen Effekts, sind sie aus besagten Gründen jedoch wenig beachtet – nicht zuletzt da Landtagswahlen immer häufiger nur noch in ihrer Bedeutung für die Bundespolitik wahrgenommen werden. Um tief greifende Veränderungen im Machtgefüge eines der Länder hervorzurufen, müssten massive Reformen durchgeführt werden. Das ist einerseits nur höchst selten im Sinne der regierenden Eliten und andererseits oft weder gesetzlich ohne Weiteres möglich noch politisch unbedingt wünschenswert. Wahlsysteme können nämlich durchaus einen Unterschied machen, der sich bis hin zur Staatstätigkeit auswirken kann. Das ist in der Regel aber nur möglich, wenn man massiv in ihre Funktionsweise eingreift. Einen solchen Schritt sollte man aber nur mit sehr gutem Grund tun. Selten sind die Folgen radikaler Wahlsystemreformen absehbar, dafür sind sie häufig mit völlig falschen Erwartungen verknüpft (Shugart/Wattenberg 2000). Denn das Wahlsystem eines Staates ist in seiner Wirkweise in eine Vielzahl von Kontextvariablen eingebettet, die seine Wirkweise – insbesondere so indirekte wie diejenige auf die Staatstätigkeit – schwer einschätzbar machen.

Literatur Benoit, Kenneth, 2000: Which Electoral Formula is the most proportional? A New Look with New Evidence, in: Political Analysis 8 (4), 381-388. Leunig, Sven, 2007: Die Regierungssysteme der deutschen Länder im Vergleich. Opladen. Lijphart, Arend, 1994: Electoral Systems and Party Systems. A Study of Twenty-Seven Democracies, 1945-1990. Oxford. Lipset, Seymour M./Rokkan, Stein, 1967: Party Systems and Voter Alignments. New York. Müller, Markus, 2004: Das Landtagswahlrecht in Baden-Württemberg. Oder: die Ohnmacht der Parteiendemokratie?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 2: 288-294. Nohlen, Dieter, 2002: Wahlen und Wahlsysteme, in: Lauth, Hans-Joachim (Hg.): Vergleichende Regierungslehre. Wiesbaden, 239-269. Nohlen, Dieter, 42004: Wahlrecht und Parteiensystem. Opladen. Pehle, Heinrich, 1999: Ist das Wahlrecht in Bund und Ländern reformbedürftig?, in: Gegenwartskunde 2, 233-256. Shugart, Matthew S./Wattenberg, Martin, 2000: Mixed-Member Electoral Systems: The Best of Both Worlds? Oxford.

343

Die Wahlsysteme der Länder

Trefs, Matthias, 2003: Voter Confusion in German Federal Elections: The Baden-Württemberg Electoral System as a Possible Alternative, in: German Politics 12 (3), 82-106. Tsebelis, George, 2002: Veto Players: How Political Institutions Work. Princeton. Vogel, Bernhard/Nohlen, Dieter/Schultze, Rainer-Olaf, 1971: Wahlen in Deutschland. Berlin. Wagschal, Uwe, 1996: Staatsverschuldung. Ursachen im internationalen Vergleich. Opladen. Wagschal, Uwe, 2003: Wer ist Schuld an den Schulden? Zur Politischen Ökonomie der Staatsverschuldung, in: Wagschal, Uwe/Obinger, Herbert/Kittel, Bernhard (Hg.): Politische Ökonomie. Opladen, 289-320. Woyke, Wichard, 112005: Stichwort Wahlen. Wiesbaden. Zohlnhöfer, Reimut, 2008: Stand und Perspektiven der vergleichenden Staatstätigkeitsfoschung, in: Janning, Frank/Toens, Katrin (Hg.): Die Zukunft der Policy-Forschung. Wiesbaden, 157-174. Weitere nützliche Quellen: ƒ Die Zeitschrift für Parlamentsfragen veröffentlicht seit vielen Jahren ausführliche Analysen zu praktisch jeder Landtagswahl. ƒ Zu jeder Landtagswahl erstellt die Forschungsgruppe Wahlen einen detaillierten Bericht über Ergebnis und Wählerverhalten. ƒ Die Seiten der Landeswahlleiter im Internet sind in der Regel sehr informativ, was Wahldaten und -gesetze angeht. ƒ Sehr hilfreich ist die Internetseite www.wahlrecht.de, die den Landtagswahlen einen breiten Raum widmet und sich kompetent mit dem Thema und damit verbundenen mathematischen Details auseinandersetzt.

Tabelle 1:

Die Landtagswahlsysteme, Teil I

Bundesland

Wahl- ManListensystem datszahl form (davon direkt)

Verrech- Stimnungs- men formel

5 ProzentHürde

Ausgleichsmandate

Grund- Wahlmandats- alter klausel aktiv / passiv

Legislaturperiode

BadenPVW Württemberg

120 (70)

keine Listen

S-L

eine

landesweit

Regierungs- keine bezirksebene

18 / 18

5 Jahre

Bayern

PVW

180 (91)

lose gebunden

H-N

zwei

landesweit

Regierungs- keine bezirksebene

18 / 18

5 Jahre

Berlin

PVW

130 (78)

starr

H-N

zwei

landesweit

Landesebene ab 1 Mandat

18 / 18

5 Jahre

Brandenburg

PVW

88 (44)

starr

H-N

zwei

landesweitd

Landesebene ab 1 Mandat

18 / 18

5 Jahre

Bremen

VW

83 (0)a

starr

S-L

eine

pro Wahlkreis

-

18 / 18

4 Jahre

Hamburg

PVW

121 (0)b

teilweise S-L offen

sechs

landesweit

Landesebene keine

18 / 18

4 Jahre

Hessen

PVW

110 (55)

starr

H-N

zwei

landesweit

Landesebene keine

18 / 21

5 Jahre

71 (36)

starr

H-N

zwei

landesweit

Landesebene keine

18 / 18

4 Jahre

Mecklenburg- PVW Vorpommern

-

Abkürzungen: PVW = Personalisierte Verhältniswahl, VW = Verhältniswahl, H-N = Hare-Niemeyer, S-L = SainteLaguë, d´H = d´Hondt a Bremen stellt 68 und Bremerhaven 15 Abgeordnete; b Von den 121 Abgeordneten werden 71 auf offenen Listen in Mehrmandatswahlkreisen gewählt, der Rest auf starren Landeslisten. d Die Parteien der ethnischen Minderheiten sind von der Sperrklausel ausgenommen, in Brandenburg die der Sorben (z.Zt. keine), in Schleswig-Holstein die der Dänen (SSW).

344

Matthias Trefs

Tabelle 2:

Die Landtagswahlsysteme, Teil II

Bundesland

Wahl- Mandats- Listensystem zahl form (davon direkt)

Verrech- Stimnungs- men formel

5 ProzentHürde

Ausgleichsmandate

Niedersachsen

PVW

155 (100) starr

d´H

zwei

landesweit

Landesebene keine

18 / 18

5 Jahre

NordrheinWestfalen

PVW

181 (128) starr

H-N

eine

landesweit

Landesebene keine

18 / 18

5 Jahre

RheinlandPfalz

PVW

101 (51)

starr

H-N

zwei

landesweit

Landesebene keine

18 / 18

5 Jahre

Saarland

VW

51 (0)c

starr

d´H

eine

landesweit

–

18 / 18

5 Jahre

Sachsen

PVW

120 (60)

starr

d´H

zwei

landesweit

Landesebene ab 2 Mandaten

18 / 18

5 Jahre

SachsenAnhalt

PVW

91 (45)

starr

H-N

zwei

landesweit

Landesebene keine

18 / 18

5 Jahre

SchleswigHolstein

PVW

69 (40)

starr

d´H

zwei

landesweitd

Landesebene ab 1 Mandat

18 / 18

5 Jahre

Thüringen

PVW

88 (44)

starr

H-N

zwei

landesweit

Landesebene keine

18 / 18

5 Jahre

Grund- Wahlmandats- alter klausel aktiv / passiv

–

Legislaturperiode

Abkürzungen: PVW = Personalisierte Verhältniswahl, VW = Verhältniswahl, H-N = Hare-Niemeyer, S-L = SainteLaguë, d´H = d´Hondt c 41 der 51 Abgeordneten werden in drei Mehrmandatswahlkreisen gewählt, die übrigen 10 auf Landeslisten. d Die Parteien der ethnischen Minderheiten sind von der Sperrklausel ausgenommen, in Brandenburg die der Sorben (z.Zt. keine), in Schleswig-Holstein die der Dänen (SSW).

Direkte Demokratie in den Bundesländern. Ein Vergleich der Institutionen und Anwendungsmuster1 Direkte Demokratie in den Bundesländern

Raphael Magin, Christina Eder und Adrian Vatter

1

Einleitung und Grundlagen

Die direkte Demokratie fristete in den deutschen Bundesländern traditionell ein Nischendasein. Seit der Deutschen Einheit hat sich indessen eine Trendwende vollzogen: Zum einen wurden die unmittelbaren Beteiligungsrechte merklich ausgebaut, wodurch eine vielfältige Institutionenlandschaft entstanden ist. Zum anderen kann eine intensivere Nutzung dieser Rechte beobachtet werden. In unserem Beitrag wollen wir auf diese Veränderungen eingehen und das direktdemokratische Instrumentarium in den deutschen Bundesländern sowie seine Inanspruchnahme seit 1990 aus einer komparativ-dynamischen Perspektive untersuchen. Dazu wird in Abschnitt 1 und 2 zunächst auf die Entwicklung und Ausgestaltung der direktdemokratischen Institutionen eingegangen. Abschnitt 3 gibt einen Überblick über die Nutzungsmuster der unmittelbaren Beteiligungsrechte. In Abschnitt 4 wird die Lage in den deutschen Bundesländern mit der Situation in den Kantonen der Schweiz verglichen. Abschließend erfolgt eine Einschätzung, wie sich die Föderalismusreform auf die Praxis der direkten Demokratie hierzulande auswirken könnte.

1.1 Entwicklung des direktdemokratischen Instrumentariums Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die direkte Demokratie in acht der elf alten Bundesländer eingeführt – lediglich in Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein standen den Bürgern keine unmittelbaren Beteiligungsrechte zur Verfügung. Zudem wurde in einigen Ländern die Verfassung auf direktdemokratischem Wege legitimiert (vgl. Tabelle 1). In Berlin, Baden-Württemberg und im Saarland kam es bis 1990 zu Veränderungen des direktdemokratischen Instrumentariums: In Berlin wurde die ohnehin nur theoretische Möglichkeit zur Durchführung der Volksgesetzgebung 1974 ganz gestrichen,2 sodass das einzig verbliebene Volksrecht im Abberufungsverfahren zur Auflösung des Abgeordneten-

1 Der vorliegende Beitrag wurde verfasst im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Forschungsprojekts „Demokratiemuster in den deutschen Bundesländern und ihre politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen“. 2 In Berlin war nie ein entsprechendes Ausführungsgesetz erlassen worden (Posselt 2005: 62).

346

Raphael Magin, Christina Eder und Adrian Vatter

hauses bestand. Im gleichen Jahr wurde in Baden-Württemberg die Volksgesetzgebung eingeführt – hier hatten vorher nur Plebiszit, arbitrierendes Referendum und Abberufung existiert (Wehling 2005: 15f.). Im Saarland wurde 1979 das fakultative Referendum durch die Volksgesetzgebung ersetzt (Wohlfarth 2005: 229f.). Bis auf Berlin und die drei genannten, rein repräsentativ regierten Bundesländer war somit die Volksgesetzgebung zum Ende der 1980er Jahre in allen Bundesländern vorgesehen. Tabelle 1: Land

Verfassungsabstimmungen und Einführung direktdemokratischer Elemente in den Bundesländern Volksabstimmung über die Verfassung

Einführung (Änderung) der direkten Volksrechte

BW

–

1953 (1974)

BY

1946

1946

BE

1950 / 1995

1950 (1974, 1995)

BB

1992

1992

HB

1947 / 1994

1947 (1994, 1997)

HH

–

1996 (2001)

HE

1946

1946

MV

1994

1993

NI

–

1993

NW

1950

1950

RP

1947

1947 (2000)

SL

–

1956 (1979)

SN

–

1992

ST

–

1992 (1995)

SH

–

1990

TH

1994

1993

Anmerkungen: Zusammengestellt nach Weixner (2002: 135ff.). Die angegebenen Volksabstimmungen wurden jeweils über vollständig neue Verfassungsdokumente durchgeführt. Lediglich in Bremen erfolgte 1994 eine Volksabstimmung über eine umfassende Verfassungsänderung.

Seit Beginn der 1990er Jahre kam es in den deutschen Ländern zu einem Ausbau unmittelbarer Volksrechte und einer beträchtlichen Zunahme der direktdemokratischen Praxis. Ein wesentlicher Impuls zur Reform war die Barschel-Affäre in Schleswig-Holstein, welche alle Aspekte des politischen Skandals in sich vereinte und den Ruf nach mehr Transparenz, Offenheit und Bürgermitsprache laut werden ließ. In der Folge dieser Ereignisse verabschiedete Schleswig-Holstein im Jahre 1990 eine reformierte Verfassung, in der nun erstmalig die direkte Beteiligung der Bürger vorgesehen war. Dem Volksgesetzgebungsverfahren wurde dabei die Volksinitiative vorgeschaltet, um so das Zusammenwirken von parlamentarischer und direkter Demokratie zu verbessern (Kellmann 2005: 285). Weiterhin wurde in allen Verfassungen der fünf ostdeutschen Bundesländer die unmittelbare Beteiligung der Bürger am politischen Prozess festgeschrieben – mithin eine Konsequenz aus der maßgeblichen Rolle des Aktivbürgertums während des Einigungsprozesses, die sich bei den wöchentlichen Montagsdemonstrationen unter der Losung „Wir sind das

Direkte Demokratie in den Bundesländern

347

Volk“ manifestierte (Schiller/Mittendorf 2002: 7). Zudem wurde in drei der fünf neuen Länder die Landesverfassung per Volksentscheid legitimiert. Im Zuge dieser Ereignisse wurde in den neunziger Jahren die direkte Demokratie auch in Hamburg und in Niedersachsen eingeführt – damit stehen den Bürgern nun in allen Bundesländern direkte Beteiligungsrechte zur Verfügung. In Bremen, Hamburg, NordrheinWestfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt wurden im selben Zeitraum die Beteiligungserfordernisse herabgesetzt. Außerdem wurde in Bremen 1994 das bedingt-obligatorische Verfassungsreferendum durch ein Verfassungsplebiszit ersetzt.

2

Institutionelle Ausgestaltung

Im Folgenden werden die Verfahrensmerkmale der Volksgesetzgebung und des obligatorischen Verfassungsreferendums im Ländervergleich vorgestellt. Diese beiden Institutionen bilden hierzulande die wichtigsten direktdemokratischen Beteiligungsrechte auf Landesebene.3

2.1 Obligatorische Verfassungsreferenden Müssen Verfassungsänderungen wie in Bayern und Hessen obligatorisch per Volksentscheid legitimiert werden, so gelten dabei keine besonderen Qualifizierungserfordernisse, sondern lediglich das Votum der einfachen Mehrheit der Abstimmenden. Die Qualifizierungserfordernisse dieser Volksabstimmungen sind damit wesentlich niedriger bemessen als für einfachgesetzliche Vorhaben in den meisten Bundesländern. In Berlin sind Volksentscheide hingegen nur dann obligatorisch, wenn die Bestimmungen der Landesverfassungen geändert werden sollen, welche die direkte Demokratie betreffen. Zur Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes bedarf es, ebenso wie auch in Bayern und Hessen, lediglich einer einfachen Mehrheit im Volksentscheid. Zusätzlich zum Ausgang des Volksentscheids müssen in Hessen die Hälfte und in Berlin und Bayern zwei Drittel der Landtagsabgeordneten die Vorlage unterstützen.

2.2 Volksgesetzgebung Die Volksgesetzgebung folgt in allen Bundesländern einem ähnlichen Ablaufschema: Vorgesehen sind grundsätzlich eine Einleitungsphase, ein Volksbegehren und ein Volksentscheid. In der Einleitungsphase müssen die Initiatoren einen Antrag einreichen, für welchen eine festgelegte Anzahl an Unterschriften nachzuweisen ist. Sodann folgt die Phase des Volksbegehrens, in welcher eine um ein Vielfaches höhere Zahl an Unterschriften als in der Einleitungsphase gesammelt werden muss. Bei Erreichen des entsprechenden Quorums 3 Auch die Direktwahl des Bürgermeisters wird mitunter als ein direktdemokratisches Beteiligungsverfahren eingeordnet (siehe dazu auch den Beitrag von Haus in diesem Band).

348

Raphael Magin, Christina Eder und Adrian Vatter

kommt es zum Volksentscheid und damit zur verbindlichen Abstimmung über den fraglichen Gegenstand. Der Landtag kann dabei einen Gegenvorschlag formulieren, den er dem Volk als Alternative im Volksentscheid unterbreitet.4 Der Hauptunterschied zwischen den Ländern besteht im Verhältnis der direkten zur parlamentarischen Gesetzgebung (Schaal 2002: 155): Entweder befasst sich der Landtag erst unmittelbar vor dem Volksentscheid mit der Vorlage der Initiatoren, oder aber er entscheidet bereits vor dem Volksbegehren über das Anliegen. a) Einleitungsphase: In der Einleitungsphase ist entweder ein klassisches Zulassungsverfahren oder eine Volksinitiative vorgesehen. In dem klassischen Zulassungsverfahren wird der Antrag lediglich auf materielle und formelle Mängel hin geprüft. Im Rahmen der Volksinitiative hingegen wird der Landtag bereits in diesem frühen Stadium mit dem Anliegen befasst und kann über eine Annahme oder Ablehnung entscheiden. Im Vergleich zum darauf folgenden Volksbegehren muss in der Einleitungsphase eine relativ geringe Zahl an Unterschriften in einem langen Zeitraum gesammelt werden, um den entsprechenden Antrag einreichen zu können. Tabelle 2: Land

Einleitung nach klassischem Zulassungsverfahren Einleitungsquorum Absolut

in %

Zulassungsfrist

BW

10.000

0,1

Keine Fristbeschränkung

BY

25.000

0,3

2 Jahre

BE

25.000

1,0

6 Monate

BB HB

Initiative statt Zulassung 5.000

HH

1,0

Keine Fristbeschränkung

Initiative statt Zulassung

HE

130.000

MV

Kein Quorum

3,0

Keine Fristbeschränkung

NI

25.000

0,4

6 Monate

NW

3.000

0,02

Keine Fristbeschränkung

RP

20.000

0,7

1 Jahr

SL

5.000

0,6

6 Monate

SN ST

Initiative statt Zulassung 8.000

SH TH Ø

0,4

Keine Fristbeschränkung

Initiative statt Zulassung 5.000

0,3

6 Monate

0,65

Quelle: Eigene Erhebung auf Basis von Landesverfassungen und Landesgesetzen Anmerkung: Außer in Hessen ist das Einleitungsquorum überall in absoluten Zahlen festgelegt. Die Berechnung der prozentualen Einleitungsquoren erfolgte aufgrund der Stimmberechtigtenzahlen der jeweils letzten Landtagswahl (nach www.election.de). 4 Die einzige Ausnahme bildet Bremen. Hier ist ein parlamentarischer Gegenvorschlag nicht möglich.

349

Direkte Demokratie in den Bundesländern

Bei klassischen Zulassungsverfahren variieren diese Einleitungsquoren zwischen 0,02% der Unterschriften der Stimmberechtigten in Nordrhein-Westfalen und 3% in Hessen, der Durchschnitt beträgt 0,65%. Die Sammelfristen betragen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren, in einigen Ländern unterliegen sie aber auch keinerlei Beschränkung. Bei Volksinitiativen liegen die Einleitungsquoren im Durchschnitt höher als beim klassischen Zulassungsverfahren. Sie reichen von 0,5% in Nordrhein-Westfalen bis 3,7% in Berlin – bei einem Mittelwert von 1,4%. Die Sammelfristen sind tendenziell kürzer bemessen. Sie beginnen in Nordrhein-Westfalen bei acht Wochen und reichen bis zu einem Jahr (in BB, NI, RP und SH). Wie auch beim klassischen Zulassungsverfahren sind in einigen Ländern keine Sammelfristen festgeschrieben. Tabelle 3: Land

Einleitung mit Volksinitiative Einleitungsquorum Absolut

in %

BW

Keine Initiative möglich

BY

Keine Initiative möglich

Frist

BE

90.000

3,7

BB

20.000

0,9

1 Jahr

HB

9.635

2,0

Keine Fristbeschränkung

HH

10.000

0,8

6 Monate

HE

6 Monate

Keine Initiative möglich

MV

15.000

1,1

NI

70.000

1,2

1 Jahr

NW

66.152

0,5

56 Tage

RP

30.000

1,0

1 Jahr

SL

Keine Fristbeschränkung

Keine Initiative möglich

SN

40.000

1,1

Keine Fristbeschränkung Keine Fristbeschränkung

ST

30.000

1,4

SH

20.000

0,9

1 Jahr

TH

50.000

2,6

6 Monate

Ø

1,4

Quelle: Eigene Erhebung auf Basis von Landesverfassungen und Landesgesetzen Anmerkung: Die Berechnung der prozentualen Einleitungsquoren erfolgte aufgrund der Stimmberechtigtenzahlen der jeweils letzten Landtagswahl (nach www.election.de). In Bremen und Nordrhein-Westfalen ist das Einleitungsquorum als Anteilswert festgelegt.

b) Volksbegehren: Auf der Stufe des Volksbegehrens variiert nicht nur die Höhe der zu sammelnden Unterschriften beträchtlich, sondern auch die Fristen, innerhalb derer diese zusammengetragen werden müssen. Die Zahl der erforderlichen Unterschriften reicht von 3,8% (Brandenburg) bis 20% der Stimmberechtigten (Hessen, Saarland), die Fristen betragen zwischen 14 Tagen (z.B. Bayern) und acht Monaten (Sachsen). Um die Quoren auf dieser Verfahrensstufe vergleichen zu können, schlägt Moser (1985) einen Index vor, für welchen

350

Raphael Magin, Christina Eder und Adrian Vatter Verfahrensanforderungen im Volksbegehren Unterschriften pro Tag

Sammlung

Tabelle 4:

Eintragungsfrist (in Tagen)

Mobilisierungskoeffizient in %

1990

2006

1990

1990

BW

16,7

16,7

14

14

1,2

1,2

90.000

Amt

BY

10

10

14

14

0,7

0,7

65.000

Amt

HBa)

20

10/20

9

90

2,2

0,1/ 0,2

500/ 1.000

frei Amt

Land

Quorum (Stimmberechtigte in %)

2006

2006

2006

Einführung der Volksgesetzgebung vor 1990

HE

20

20

14

14

1,4

1,4

62.000

NW

20

8

14

56

1,4

0,1

19.000

Amt

RP

20

9,8

14

60

1,4

0,2

5.000

Amt Amt

SL

20

20

14

14

1,4

1,4

12.000

Ø

18,1

13,5

13,3

37,4

1,4

0,7

36.000

Einführung der Volksgesetzgebung nach 1990 BE

10

60

0,2

4.000

BB

3,8

120

0,03

700

Amt

HH

5

21

0,17

2.900

Amt

MV

10

keine Frist

0

0

Amt/ frei

Amt

NI

10

180

0,06

3.300

frei

SN

12,7

240

0,05

1.900

frei

ST

11

180

0,06

1.300

frei

SH

5

180

0,03

600

Amt

THb)

8/10

60/ 120

0,13/ 0,08

1.600/ 2.600

Amt/ frei

Ø

8,6

122,3

0,1

1.900

10,8

85,2

0,4

17.000

Ø gesamt

Quelle: Eigene Erhebung auf Basis von Landesverfassungen und Landesgesetzen Anmerkungen: a) Für Bremen bezieht sich der jeweils zweite Wert auf verfassungsändernde Vorlagen; b) In Thüringen können die Initiatoren wählen, ob die Unterschriftensammlung frei oder in Amtsräumen erfolgen soll. Der erste Wert bezieht sich jeweils auf die Vorgaben für die Sammlung in Amtsräumen, der zweite Wert auf die freie Unterschriftensammlung. Die Quoren in Rheinland-Pfalz, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen sind in der jeweiligen Landesverfassung als Absolutwert festgelegt. Eigene Umrechnung auf der Grundlage der Stimmberechtigtenzahlen bei den letzten Landtagswahlen (laut www.election.de). In Mecklenburg-Vorpommern ist die Unterschriftensammlung grundsätzlich frei. Eine Sammlung in Amtsräumen kann jedoch für die Dauer von zwei Monaten zusätzlich beantragt werden, falls die Vorlage zuvor bereits als Volksinitiative eingebracht und vom Landtag zurückgewiesen wurde. Zur Berechnung der Durchschnittswerte des Mobilisierungskoeffizienten wurde für Bremen der Wert für einfache Gesetze herangezogen, für Thüringen wurden nur die Werte der freien Unterschriftensammlung berücksichtigt.

die Dauer der Fristen und die Anzahl der Unterschriften zum sogenannten Mobilisierungskoeffizienten kombiniert werden. Der Wert des Koeffizienten gibt an, welcher Prozentsatz

Direkte Demokratie in den Bundesländern

351

der Stimmberechtigten sich an jedem Tag der Sammelfrist eintragen muss, um das Quorum zu erfüllen.5 Ein hoher Koeffizient bedeutet damit eine vergleichsweise große Anzahl an täglich zu sammelnden Unterschriften und damit eine eher schwer zu überwindende Hürde. In den Ländern reichen die Werte von 0,03% in Schleswig-Holstein und Brandenburg bis zu 1,43% in Hessen und im Saarland.6 Das bedeutet, dass in den Ländern mit den höchsten Hürden im Volksbegehren jeden Tag fast 50 Mal mehr Unterschriften gesammelt werden müssen als in den Ländern mit den niedrigsten Hürden (vgl. Tabelle 4). Ein weiterer Unterschied besteht im Modus der Unterschriftensammlung: In den meisten Ländern werden die Eintragungslisten in Amtsräumen ausgelegt, im Gegensatz zur freien Unterschriftensammlung, welche nur in insgesamt sechs Ländern möglich ist. Der Aufwand bei der amtlichen Eintragung ist beträchtlich höher anzusetzen als bei der freien Unterschriftensammlung, müssen die Stimmberechtigten im ersten Fall doch zum Aufsuchen der Amtsräume bewegt werden und können nicht an der Haustür oder etwa beim Einkaufen unterschreiben. In Ländern mit hohem Mobilisierungskoeffizienten, wie BadenWürttemberg, Hessen oder dem Saarland, ist durchweg das amtliche Verfahren vorgeschrieben. An der Entwicklung des Mobilisierungskoeffizienten kann man die eingangs angesprochene Trendwende der 1990er Jahre besonders deutlich erkennen: Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung betrug das durchschnittliche Quorum 18,1% der Stimmberechtigten und die Eintragungsfrist dauerte im Schnitt 13,3 Tage, woraus ein Mobilisierungskoeffizient von 1,4% resultierte. Mittlerweile ist das Quorum im Bundesschnitt auf 10,8% gesunken und die Eintragungsfrist auf 85,2 Tage gestiegen, sodass der Koeffizient nur noch 0,4% beträgt. c) Volksentscheid: Im Volksentscheid differieren die Anforderungen nicht nur von Land zu Land, sondern auch danach, ob es sich um eine einfachgesetzliche oder um eine verfassungsändernde Vorlage handelt. Für Abstimmungen über die Verfassung sind die Schranken stets höher bemessen als bei einfachen Gesetzen und liegen zwischen 25% erforderlicher Zustimmung unter allen Stimmberechtigten in Bayern und 50% in Baden-Württemberg, Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Sachsen. In Nordrhein-Westfalen ist für Verfassungsänderungen auf direktdemokratischem Weg eine 2/3-Mehrheit der Abstimmenden bei einer Mindestbeteiligung von 50% der Stimmberechtigten erforderlich. Die Verfassungen Brandenburgs, Hamburgs, Mecklenburg-Vorpommerns, Sachsen-Anhalts und Schleswig-Holsteins schreiben nicht nur eine 2/3-Mehrheit der Abstimmenden, sondern auch eine absolute Mehrheit der Stimmberechtigten vor. Vergleichsweise niedrig nehmen sich dagegen die Bestimmungen für Volksentscheide über einfachgesetzliche Regelungen aus: Während in Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz und Sachsen die einfache Mehrheit der Abstimmenden über den Ausgang entscheidet, sind es in den übrigen Ländern zudem zwischen 15% und 33% der Stimmberechtigten, die der Vorlage zustimmen müssen. Einzige Ausnahme bildet das Saarland, wo selbst ein einfaches Gesetz von mindestens der Hälfte der Stimmberechtigten unterstützt werden muss. 5 Zur Berechnung dieser auch Moserindex genannten Messgröße wird das prozentuale Unterschriftenquorum durch die Dauer der Eintragungsfrist in Tagen geteilt. 6 In Mecklenburg-Vorpommern ist keine Frist vorgesehen. Für den Mobilisierungskoeffizienten wird daher der Wert Null angenommen.

352

Raphael Magin, Christina Eder und Adrian Vatter

Tabelle 5: Land

Quoren im Volksentscheid Verfassungsändernde Gesetze

Einfache Gesetze

BW

50%

33%

BY

25%

Einfache Mehrheit

BE

Nicht vorgesehen

33%

BB

2/3-Mehrheit der Abstimmenden bei einer Zustimmung von mind. 50%

25%

HB

50%

25%

HH

2/3-Mehrheit der Abstimmenden bei einer Zustimmung von mind. 50%

20%

HE

Nicht vorgesehen

Einfache Mehrheit

MV

2/3-Mehrheit der Abstimmenden bei einer Zustimmung von mind. 50%

33%

NI

50%

25%

2/3-Mehrheit der Abstimmenden bei mind. 50% Beteiligung

15%

RP

50%

Einfache Mehrheit

SL

Über die Verfassung nur Volksbegehren möglich, kein Volksentscheid

50%

SN

50%

Einfache Mehrheit

ST

2/3-Mehrheit der Abstimmenden bei einer Zustimmung von mind. 50%

25%

SH

2/3-Mehrheit der Abstimmenden bei einer Zustimmung von mind. 50%

25%

TH

40%

25%

NW

Quelle: Eigene Erhebung auf Basis von Landesverfassungen und Landesgesetzen Anmerkung: Zustimmungserfordernisse, soweit nicht anders angegeben. In Berlin entfällt bei mehr als 50% Beteiligung das Zustimmungsquorum für einfache Gesetze. In Rheinland-Pfalz ist bei einfachen Gesetzen zusätzlich zum Mehrheitserfordernis ein Beteiligungsquorum von 25% vorgesehen. In Sachsen-Anhalt entfällt das Quorum für einfachgesetzliche Abstimmungen, falls der Landtag einen Gegenvorschlag eingereicht hat.

3

Die direktdemokratische Praxis

3.1 Klassifikation der direktdemokratischen Verfahren nach Instrumenten und Ländern Wie hat sich die Praxis der direkten Demokratie auf Länderebene entwickelt? Mit dieser Frage werden sich die folgenden Abschnitte beschäftigen. Als Untersuchungszeitraum wurden die Jahre 1991 bis 2005 gewählt. Vor der Wiedervereinigung 1990 bestand, wie oben ausgeführt, nur in acht der elf westdeutschen Bundesländer die Gelegenheit zur direktdemokratischen Beteiligung. Nach 1990 änderte sich das Bild jedoch, so dass seit 1996 von der flächendeckenden Verfügbarkeit direktdemokratischer Instrumente in den Bundesländern gesprochen werden kann (vgl. Tabelle 1).

353

Direkte Demokratie in den Bundesländern

Betrachtet man die Entwicklung der direkten Demokratie auf Länderebene, so fällt auf, dass nicht alle Verfahrensarten gleichermaßen genutzt wurden. Von den insgesamt 129 direktdemokratischen Verfahren, bei denen im Zulassungsverfahren die notwendigen Unterschriften gesammelt werden konnten, sind 99 dem Bereich der Volksgesetzgebung zuzuordnen und 18 den Volksinitiativen. Des Weiteren wurden elf obligatorische Referenden initiiert.7 Die 99 Verfahren der Volksgesetzgebung verteilen sich wie folgt über die Länder: Abbildung 1:

Die Volksgesetzgebungsverfahren 1991-2005

18 16

16

14

14

12

12

10

10

10

8

8

8 6

4

4 2

4

3

3

2

2

2 1

0

0 BW

BY

BE

BB

HB

HH

HE

MV

NI

NW

RP

SL

SN

ST

SH

TH

Anmerkung: Eigene Zusammenstellung basierend auf der Datenbank der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie Marburg (www.forschungsstelle-direkte-demokratie.de). Ergänzungen auf der Basis von Weixner (2002), Jung (2005) und eigenen Recherchen.

Die häufigste Anwendung fand die Volksgesetzgebung in Bayern mit 16 Fällen, gefolgt von Brandenburg mit 14 und Mecklenburg-Vorpommern mit zwölf Verfahren. Schlusslichter sind Hessen, wo kein einziger Fall zu beobachten war, sowie das Saarland mit einer Anwendung. Um die Anwendungshäufigkeit besser vergleichen zu können, empfiehlt sich eine Betrachtung der durchschnittlichen Anzahl der jährlichen Volksgesetzgebungsverfahren seit der Aufnahme dieses Instruments in die jeweilige Landesverfassung.

7 Die obligatorischen Referenden hatten jeweils eine Änderung der Landesverfassung zum Gegenstand. Vier von ihnen fanden in Bayern, eines in Bremen und sechs in Hessen statt (vgl. Abschnitt 2.1).

354

Raphael Magin, Christina Eder und Adrian Vatter

Abbildung 2:

Durchschnittliche Volksgesetzgebungsverfahren pro Jahr seit Einführung (1991-2005)

1,2

1,11

1,06 1

1

1

0,8 0,67 0,6

0,57

0,53

0,4

0,33

0,3 0,2

0,33

0,25 0,13 0,13

0,13

0,07 0

0 BW

BY

BE

BB

HB

HH

HE

MV

NI

NW

RP

SL

SN

ST

SH

TH

Anmerkung: Für die Daten zur Einführung der direktdemokratischen Elemente siehe Tabelle 2.1. Für die Länder, die direktdemokratische Elemente bereits vor 1990 in ihrer Verfassung vorsahen, wird mit 15 Jahren gerechnet, für alle anderen ab dem Jahr der Aufnahme in die Landesverfassung. Eigene Berechnung.

Ein Vergleich der beiden Abbildungen zeigt, dass nicht Bayern, sondern Hamburg die meisten Verfahren pro Jahr aufweist, obwohl direktdemokratische Elemente in der Hansestadt erst 1996 in die Verfassung integriert wurden. Im Freistaat standen sie den Bürgern dagegen im gesamten Untersuchungszeitraum zur Verfügung. Es folgen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern mit jeweils einem Verfahren pro Jahr. Am anderen Ende der Verteilung befinden sich wieder Hessen und das Saarland, davor Baden-Württemberg, NordrheinWestfalen und Rheinland-Pfalz.

3.2 Erklärungsansätze zur unterschiedlichen Nutzung direktdemokratischer Instrumente Eine in der Literatur sehr populäre Hypothese besagt, dass es die institutionellen Rahmenbedingungen sind, die die Anzahl der durchgeführten direktdemokratischen Verfahren in einem Bundesland maßgeblich beeinflussen (vgl. Bugiel 1991: 30f.; Jürgens 1993: 205; Kampwirth 2003: 661; Pestalozza 1981: 20; Weixner 2002: 222). Moser (1987) konnte für die schweizerischen Kantone keine Bestätigung dieser Hypothese finden, und auch für die US-amerikanischen Bundesstaaten konnte kein entsprechender Zusammenhang nachgewiesen werden (California Commission on Campaign Financing

Direkte Demokratie in den Bundesländern

355

1992: 136). Nach Trechsel (2000: 84f., 93f.) haben die Verfahrenshürden im interkantonalen Vergleich zwar keinen signifikanten Einfluss auf die direktdemokratische Praxis, vergleicht man jedoch die Nutzungsfrequenz unmittelbarer Beteiligungsrechte vor und nach der Absenkung der Anforderungen, so lässt sich durchaus ein entsprechender Effekt nachweisen. Trotz fehlender systematisch-vergleichender Untersuchungen für die Bundesländer und widersprüchlicher Befunde aus anderen Ländern hält sich die These der institutionellen Determination direktdemokratischer Praxis in der deutschen Forschergemeinde. Anhand der hier zusammengetragenen Daten wird diese Hypothese nun einer Prüfung unterzogen. Als Indikator für die institutionellen Rahmenbedingungen wird der Mobilisierungskoeffizient nach Moser (1985) herangezogen (vgl. Tabelle 4).8 Korreliert man diese Werte nun mit der durchschnittlichen Anzahl der Verfahren pro Jahr seit der Einführung der Volksgesetzgebung, so erhält man für den Zeitraum zwischen 1991 und 2005 einen Koeffizienten von r=-0.55.9 Bei einem Signifikanzniveau von p<0.05 deutet dieses Ergebnis darauf hin, dass die Nutzung direktdemokratischer Verfahren tatsächlich auch von der Beschaffenheit der institutionellen Zugangsbeschränkungen abhängt. Eine erklärte Varianz von R²=0.30 weist jedoch darauf hin, dass es noch weitere Einflussfaktoren gibt. Einen weiteren möglichen Erklärungsansatz für die unterschiedliche Verfahrensanzahl in den Bundesländern bietet die Einstellung der Parteien gegenüber der unmittelbaren Volksbeteiligung. Susan Scarrow (1997) kommt in ihrem Beitrag zu dem Schluss, dass sich die politischen Parteien in Deutschland der direkten Demokratie allmählich geöffnet hätten. Diesen Wandel, der sich seit Mitte der 1980er Jahre vollzogen habe, belegt sie jedoch nicht am konkreten Engagement einzelner Landesverbände bei der Lancierung oder Unterstützung von Volksbegehren oder –entscheiden, sondern vielmehr an der Absenkung der institutionellen Zugangsbeschränkungen in den Bundesländern. Im Allgemeinen wird den linken Parteien eine stärkere Affinität zur unmittelbaren Volksbeteiligung nachgesagt als den übrigen Parteien (Luthardt 1994: 95). Aus einer Untersuchung der schweizerischen Kantone ergibt sich dem folgend, dass vor allem linke Parteien zu den Volksrechten greifen; die eigentlichen Abstimmungen gehen hingegen oftmals im Sinne rechter Parteien aus (Vatter 2002). Berechnet man nun für die Bundesländer den Einfluss der linken Parteien10 auf die Anzahl der direktdemokratischen Verfahren pro Jahr mittels ihrer Mandatsanteile, so erhält man einen Pearsonkoeffizienten von r=0.22, der jedoch nicht signifikant ist. Durch den Ausschluss von Bayern steigt der Koeffizient auf r=0.51 an,11 was bei einem Signifikanzniveau 8 Bei einer Änderung der Quoren und Fristen wurden die entsprechenden Regelungen nach ihrer Geltungsdauer in Jahren gewichtet. 9 Auf eine Korrelation der Werte vor der Wiedervereinigung wurde aufgrund der geringen Fallzahl verzichtet. Zur Möglichkeit der Verwendung von Signifikanztests bei Vollerhebungen siehe Diekmann (2005: 600) und Freitag (2005: FN 13). 10 Als linke Parteien werden SPD, Bündnis 90/Die Grünen, die PDS, die Parteien AFB (Wählergemeinschaft Arbeit für Bremen und Bremerhaven) und RSF (Radikalsoziale Freiheitspartei), die DDU (Deutsche Demokratische Union), die KPD, die SPS (Sozialdemokratische Partei Saar) und der SSW (Südschleswigscher Wählerverband) eingestuft (Shikano/Becker 2004; Schneider 2002). 11 Die politische Dominanz und Absorptionskraft der CSU lässt nur wenig Raum für andere Parteien, was sich besonders auf die SPD und die FDP negativ auswirkt. Die Grünen konnten sich dagegen als dritte Partei etablieren, erreichten jedoch immer noch weniger Mandatsanteile als in anderen Bundesländern (Zur Besonderheit des bayrischen Parteiensystems und der Rolle der Grünen siehe Mintzel 1987).

356

Raphael Magin, Christina Eder und Adrian Vatter

von p=0.05 auf einen positiven Zusammenhang zwischen der Stärke der linken Parteien im Landtag und der Verfahrensanzahl hinweist. Interpretiert man die Mandatsanteile als Proxy für die Einstellung der Wählerschaft, so werden die Aussagen von Luthardt (1994) durch diese Ergebnisse gestützt: Je stärker die linken Parteien und ihre Ziele in der Wählerschaft vertreten sind, desto eher greift die Bevölkerung zu direktdemokratischen Verfahren. Ein weiterer Erklärungsansatz für die Anwendungshäufigkeit direktdemokratischer Instrumente betrifft die gesellschaftliche Differenzierung. Es wird angenommen, dass die Integrationskraft des repräsentativen Systems mit der zunehmenden Individualisierung der Lebenssituation abnimmt und sich die Bürger daher alternative Wege der Interessenartikulation suchen, die sie in direktdemokratischen Institutionen finden (vgl. Fijalkowski 1993: 148ff.; Jung 1997: 135; Luthardt 1994: 95f.; Schmidt 1995: 621). Als Indikator für die Individualisierung wurde der Urbanisierungsgrad der Bundesländer, gemessen am Anteil der Bevölkerung in Städten über 50.000 bzw. 100.000 Einwohnern, verwendet. Korrelationen mit der Anzahl der Verfahren pro Jahr führen jedoch zu schwachen Koeffizienten und nichtsignifikanten Zusammenhängen.12 Die gesellschaftliche Differenzierung gemessen am Urbanisierungsgrad hat damit keinen Einfluss auf die Verfahrenshäufigkeit.

3.3 Klassifikation der Volksgesetzgebungsverfahren nach Thematik und Ergebnissen Ergebnisse Klassifiziert man die Volksgesetzgebungsverfahren wie in Tabelle 6 nach dem Ergebnis, so stellt man fest, dass nur die wenigsten tatsächlich die Phase des Volksentscheids erreichten. Von den 99 Verfahren scheiterten über 20% bereits an der rechtlichen Zulassung, zumeist, weil sie entweder das Finanztabu (siehe hierzu auch S. 358) verletzten oder eine unzulässige Verfassungsänderung zur Folge gehabt hätten. Die zweite große Hürde stellen die Unterschriftenquoren im Volksbegehren da, die etwa genauso viele Verfahren zum Ende brachten. Zum Volksentscheid kam es nur in elf Fällen: In Bayern 1991 für ein besseres Müllkonzept, 1995 für die Einführung des kommunalen Bürgerentscheids und 1998 für die Abschaffung des Bayerischen Senats; in Hamburg 1998 über die Einführung des bezirklichen Bürgerentscheids und den Abbau der Hürden beim Volksbegehren und 2004 über eine Reform des Wahlrechts und gegen die Privatisierung städtischer Krankenhäuser; in Sachsen 2001 gegen den Sparkassenverbund; in Sachsen-Anhalt 2005 für ein kinder- und jugendfreundliches Sachsen-Anhalt; in Schleswig-Holstein 1997 für die Wiedereinführung des Buß- und Bettages sowie 1998 gegen die Rechtschreibreform. Auffällig ist, dass eine beträchtliche Zahl an Vorlagen bereits während der Einleitungsphase vom jeweiligen Parlament übernommen wurde. Diese Vorlagen wurden als Volksinitiativen eingebracht und hatten nur eine Befassung des Parlaments mit dem Thema zur Folge, die Abgeordneten waren also nicht zur Annahme des Vorschlags gezwungen. Dennoch wurden, wie in der Tabelle 6 dargestellt, 19 der insgesamt 38 zugelassenen Anträge

12 Die Koeffizienten für den Zusammenhang zwischen der Verfahrensanzahl und dem Urbanisierungsgrad betragen in beiden Fällen r=0.14 bei p=0.60.

357

Direkte Demokratie in den Bundesländern

teilweise oder ganz übernommen, was einer Erfolgsquote von 50% entspricht. Diejenigen Anträge, die nach dem klassischen Zulassungsverfahren gestellt und genehmigt wurden, mündeten ohne eine formelle Behandlung durch den Landtag in ein Volksbegehren. Von den 39 Verfahren, welche die Phase des Volksbegehrens erreichten, waren 38% erfolgreich: Aus elf Volksbegehren wurden Volksentscheide, vier Volksbegehren wurden vom Parlament übernommen. Von den elf Fällen, in denen es tatsächlich zum Volksentscheid kam, wurden sieben und damit 63% von der Bevölkerung angenommen. Zieht man in Betracht, dass drei weitere Entscheide zwar das benötigte Beteiligungsquorum nicht erfüllen konnten, die Vorlage in diesen Fällen aber dennoch die Mehrheit der Stimmen erhielt, so erhöht sich die Erfolgsquote für Volksentscheide auf 91%.13 Tabelle 6:

Volksgesetzgebungsverfahren nach Ergebnis Ergebnis

Absolute Anzahl

Einleitungsphase Antrag wird nicht zugelassen aus rechtlichen Gründen

22

Antrag wird vom Parlament abgelehnt

19

Antrag wird vom Parlament übernommen

17

Antrag wird vom Parlament teilweise übernommen

2

Volksbegehren Volksbegehren erreicht zu wenige Unterschriften

23

Volksbegehren wird nachträglich für unzulässig erklärt

1

Volksbegehren wird vom Parlament übernommen

4

Volksentscheid Vorlage wird im Volksentscheid angenommen

6

Vorlage wird im Volksentscheid angenommen, Parlament lehnt ab

1

Vorlage scheitert im Volksentscheid trotz Mehrheit am Quorum

3

Gegenentwurf wird im Volksentscheid angenommen

1

Vorlage wird im Volksentscheid abgelehnt

0

Anmerkung: Die Daten entstammen hauptsächlich der Datenbank der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie Marburg (www.forschungsstelle-direkte-demokratie.de). Ergänzungen auf der Basis von Weixner (2002), Jung (2005) und eigenen Recherchen. Bei der Vorlage, die im Volksentscheid angenommen, vom Landtag jedoch abgelehnt wurde, handelte es sich um ein Volksgesetzgebungsverfahren gegen die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein aus dem Jahr 1998.

Thematik Wie Tabelle 7 zeigt, verteilen sich die 99 Volksgesetzgebungsverfahren auf eine Reihe von Themengebieten.

13 Beim letzten Fall, in dem der Gegenentwurf des Landtags angenommen wurde, handelt es sich um den 1991 in Bayern durchgeführten Volksentscheid zur Änderung des Abfallwirtschaftsgesetzes.

358 Tabelle 7:

Raphael Magin, Christina Eder und Adrian Vatter Volksgesetzgebungsverfahren nach Themengebiet

Themengebiet

Anzahl

Erfolgsquote in %

Bildung

34

18

Staatsordnung

29

28

Gesundheit und Soziales

14

57

Infrastruktur

8

37

Wirtschaft

7

71

Umwelt

4

25

Raumordnung Gesamt

3

0

99

35

Anmerkung: Eigene Zusammenstellung.

Etwa ein Drittel der Fälle beschäftigt sich mit der Bildungspolitik, was auf eine „unmittelbare Betroffenheit bei einem Großteil der Bevölkerung“ zurückgeführt werden kann (Weixner 2002: 244). Der zweite wichtige Bereich betrifft die Staatsordnung der Bundesländer und hierbei besonders die Möglichkeit der direkten Bürgerbeteiligung auf Landes- und Kommunalebene. Damit zeigt sich, dass nicht nur in der Schweiz „der Ausbau der Volksrechte mittels der Volksrechte eine der wichtigsten Wirkungen der Einführung direkter Demokratie […] darstellt“ (Vatter 2002: 260). Mit großem Abstand folgt der Bereich Gesundheit und Soziales. Wirtschaft, Umwelt und Raumordnung scheinen im Untersuchungszeitraum weniger von Bedeutung gewesen zu sein. Ein möglicher Grund für die stark variierenden Erfolgsquoten ist zum einen das in allen Bundesländern geltende Finanztabu, das direktdemokratische Verfahren mit erheblichen finanziellen Auswirkungen untersagt. Dabei ist unklar, wann von einem Gesetz solch erhebliche finanzielle Auswirkungen ausgehen: Der Erheblichkeitsbegriff wurde von den Gerichten in höchst unterschiedlicher Weise definiert.14 Allein im Themenbereich Bildung scheiterten neun von zehn Anträgen am Finanztabu. Auch zwei Verfahren aus den Bereichen Gesundheit und Soziales sowie Wirtschaft wurde die Zulassung aufgrund des Finanztabus verweigert.15 Damit wurde diese Regelung für elf Prozent aller Volksgesetzgebungsverfahren im Untersuchungszeitraum zur unüberwindbaren Hürde. Im Bereich Staatsordnung sind alle neun gescheiterten Anträge auf formalrechtliche Ablehnungen zurückzuführen: Die Anträge beinhalteten jeweils unzulässige Verfassungsänderungen.

14 In einem Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2000 wurde beispielsweise eine Obergrenze von 0,5% des Gesamthaushaltsvolumens definiert, jedoch unter Berücksichtigung der generellen Haushaltslage. Auch der Bayerische Staatsgerichtshof verwies 1976 auf die Umstände im jeweiligen Einzelfall, die zu berücksichtigen seien (Jutzi 2003: 283; Kertels/Brink 2003: 435). 15 Die beiden übrigen Anträge scheiterten aufgrund von Verfahrensfehlern.

Direkte Demokratie in den Bundesländern

4

359

Schlussfolgerungen

Die Volksgesetzgebung wird oftmals als alternativer Kanal zur Artikulation von Partikularinteressen bezeichnet. Durch ihre Eigenschaft als Bottom-up-Instrument der Politikgestaltung bietet sie den Bürgern die Möglichkeit, politische Entscheidungen nicht nur über das Repräsentativsystem indirekt zu beeinflussen, sondern auch an konkreten Sachentscheidungen mitzuwirken. Dadurch wird das politische System um einen innovativen Faktor erweitert. Je nach Ausgestaltung kann der direkten Demokratie eine strukturbildende Wirkung auf das jeweilige politische System zugeschrieben werden (Neidhart 1970). In der Schweiz stellen unmittelbare Beteiligungsrechte ein „Verhandlungspfand“ zwischen Regierung und Opposition dar, was zur Inklusion aller „referendumsfähigen Gruppen“ in den Entscheidungsprozess führt (Linder 2005: 246). So soll der Ablehnung von parlamentarischen Entscheidungen durch das Volk vorgebeugt werden. Das politische System der schweizerischen Kantone ist folglich durch die normgebende Trias von Volk, Parlamenten und Regierungen gekennzeichnet (Vatter 2002). Die direkte Demokratie in den deutschen Ländern vermag die Kompromissbereitschaft der politischen Akteure zwar ebenso zu erhöhen (Jürgens 1993: 229), von einem institutionellen „Konkordanzzwang“ wie in der Schweiz (Linder 2005: 246) kann indessen nicht gesprochen werden. Die Volksrechte erfüllen in den Bundesländern vielmehr eine Komplementärfunktion neben der faktisch rechtsetzenden Trias aus Regierungen, Parlamenten und Justiz. Das unterschiedliche Gewicht der unmittelbaren Volksrechte in den politischen Systemen der Kantone und Bundesländer spiegelt sich auch in der Ausgestaltung der direktdemokratischen Instrumente wider: Die Verfahrensregeln in den Bundesländern sind ungleich strenger bemessen als in den Kantonen. Die höchsten Anforderungen in der Eidgenossenschaft bewegen sich in etwa auf demselben Niveau wie die niedrigsten in den deutschen Ländern. Hinsichtlich der Nutzungshäufigkeit würden Hamburg und Bayern, die beiden Länder mit der intensivsten direktdemokratischen Praxis, in der Schweiz mit großem Abstand auf den letzten Plätzen rangieren. Die direktdemokratische Praxis in den deutschen Ländern bewegt sich damit (noch) nicht auf Augenhöhe mit den schweizerischen Kantonen. In einigen Bundesländern hat sich die Volksgesetzgebung inzwischen jedoch als ein durchaus häufig genutztes Partizipationsinstrument etabliert. Die wichtigsten Themen der unmittelbaren Beteiligung in den schweizerischen Kantonen sind Staatsordnung und Demokratie, Finanz- und Steuerpolitik sowie Gesundheit und Soziales (Vatter 2007). In den deutschen Bundesländern belegt die Staatsordnung und Demokratie hinter den Bildungsfragen Platz zwei, soziale Themen folgen mit weitem Abstand. Volksgesetzgebungsverfahren aus dem Bereich Finanz- und Steuerpolitik sind in der Bundesrepublik aufgrund des Finanztabus nicht möglich. Bei der Verteilung der inhaltlichen Schwerpunkte sind dennoch gewisse Übereinstimmungen zu beobachten: In den Gliedstaaten beider Föderalstaaten steht das Thema Staatsordnung weit oben auf der direktdemokratischen Agenda. Ein von ihren Gegnern häufig vorgebrachtes Argument besagt, dass die direkte Demokratie ein „scharfes mehrheitsdemokratisches Schwert“ sei und daher die Rechte von Min-

360

Raphael Magin, Christina Eder und Adrian Vatter

derheiten bedrohe (Schmidt 2000: 363). Während die Forschung in der Schweiz und den USA zu ambivalenten Ergebnissen gekommen ist (Frey/Goette 1998; Gamble 1997; Bolliger 2007), kann in den Bundesländern ein diskriminierender Effekt der direkten Demokratie ausgeschlossen werden: Seit der deutschen Einheit wurde lediglich ein Verfahren aus einem minderheitenrelevanten Bereich angestrengt, welches jedoch nicht die Einschränkung von Minderheitenrechten, sondern deren Sicherung und Ausweitung zum Ziel hatte.16 Welche Veränderungen sind schließlich in Folge der Föderalismusreform für die Bedeutung der direkten Demokratie in den deutschen Ländern zu erwarten? Durch eine Erweiterung der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen für Bund und Länder, durch den Wegfall der Rahmengesetzgebung sowie durch eine Beschränkung der Erforderlichkeitsklausel nach Art. 72 GG wurde mit der ersten Runde der Föderalismusreform eine Entflechtung zwischen Bund und Ländern angestrebt. Damit verfolgte die Reform die Rückgewinnung der Handlungsfähigkeit im Wesentlichen durch das Prinzip der Aufgabentrennung und durch die Zuweisung klarer Verantwortlichkeiten. Mit der generellen Stärkung und Ausweitung der Länderaufgaben erhöhte sich auch der potentielle Geltungsbereich direktdemokratischer Einflussnahme durch die Bevölkerung. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass die Bedeutung und Inanspruchnahme direktdemokratischer Verfahren in den Ländern in Zukunft noch weiter zunehmen wird. Während bei der in der Schweiz vor kurzem erfolgreich abgeschlossenen Föderalismusreform die Neugestaltung, Entflechtung und Dezentralisierung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Gliedstaaten im Zentrum stand, steht die Stärkung der fiskalischen Länderautonomie hierzulande noch auf der politischen Agenda und ist nun Gegenstand einer zweiten Reformrunde. Diese wird der eigentliche Prüfstein für die deutsche Föderalismusreform sein, da vom Fiskalsystem konstitutive Elemente eines künftigen Föderalismus abhängen, wie etwa die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Gebietskörperschaften und ihrer Bevölkerung sowie die institutionellen Anreize zur Zentralisierung oder Dezentralisierung politischer Aufgaben (Feld 2004; Linder 2007). Von besonderer Relevanz ist in diesem Zusammenhang, dass die schweizerischen Kantonen von einer stark ausgeprägten Finanz- und Steuerautonomie gekennzeichnet sind, während sich die deutschen Länder durch eine geringe fiskalische Autonomie auszeichnen und die wichtigsten Steuern (Lohn- und Einkommenssteuer, Körperschaftssteuer und Mehrwertsteuer) als bundesweit einheitliche Gemeinschaftssteuern von Bund und Ländern ausgestaltet sind. Während Abstimmungen zu Finanz- und Steuerfragen in den eidgenössischen Kantonen eine gewichtige Rolle spielen, ist eine direktdemokratische Partizipation in Finanzfragen hierzulande nach wie vor nicht möglich. Gerade in diesem Bereich können die Erfahrungen aus den schweizerischen Gliedstaaten aber als wegweisend gelten, wurde hier doch ein positiver Effekt der direkten Demokratie auf die Nachhaltigkeit der öffentlichen Haushaltswirtschaft nachgewiesen (Freitag et al. 2003; Vatter 2007): Gemäß den vorliegenden Befunden zu den Wirkungen der Volksrechte erweist sich in den schweizerischen Kantonen gerade das Finanzreferendum als ein wirksames Instrument, um aus der Sicht der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unnötige Ausgaben und Steuern zu verhindern, was

16 Es handelt sich dabei um das Verfahren „Chancengleichheit für Kinder bei der Förderung in einer Kindertageseinrichtung“ in Mecklenburg-Vorpommern von 1995 (Weixner 2002: 235).

Direkte Demokratie in den Bundesländern

361

sich schließlich positiv auf die Begrenzung der öffentlichen Verschuldung und auf die wirtschaftliche Leistungskraft auswirkt. Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit eine Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern auch ein Aufbrechen des Finanztabus für die direkte Demokratie in Deutschland bewirkt.

Literatur Bolliger, Christian, 2007: Als Minderheit sporadisch geschädigt, als Bürger oft geschützt. Tessiner und Romands in der schweizerischen Direktdemokratie, in: Freitag, Markus/Wagschal, Uwe (Hg.), Direkte Demokratie. Bestandsaufnahmen und Wirkungen im internationalen Vergleich. Münster, 419-446. Bugiel, Karsten, 1991: Volkswille und repräsentative Entscheidung. Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit von Volksabstimmungen nach dem Grundgesetz. Baden-Baden. California Commission on Campaign Financing, 1992: Democracy by Initiative. Shaping Californiaȇs Fourth Branch of Government. Los Angeles. Diekmann, Andreas, 2005: Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Reinbek. Feld, Lars P., 2004: Fiskalischer Föderalismus in der Schweiz – Vorbild für die Reform der deutschen Finanzverfassung? Bertelsmann Stiftung/Konrad Adenauer Stiftung. Gütersloh/Berlin. Fijalkowski, Jürgen, 1993: Erfahrungen mit Volksabstimmungen zu Sachfragen. Erfordernisse und Ergebnisse kategorialer Differenzierung, in: Klingemann, Hans-Dieter/Luthardt, Wolfgang (Hg.), Wohlfahrtsstaat, Sozialstruktur und Verfassungsanalyse. Opladen, 147-167. Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie der Universität Marburg, Datenbank: Direkte Demokratie in den Deutschen Ländern: www.forschungsstelle-direkte-demokratie.de; letzter Zugriff: 22.04.2007. Freitag, Markus/Vatter, Adrian/Müller, Christoph, 2003: Bremse oder Gaspedal? Eine empirische Untersuchung zur Wirkung der direkten Demokratie auf den Steuerstaat, in: Politische Vierteljahresschrift 44, 1-22. Freitag, Markus, 2005: Labor Schweiz: Vergleichende Wahlbeteiligungsforschung bei kantonalen Parlamentswahlen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 57, 667-690. Frey, Bruno S./Goette, Lorenz, 1998: Does the Popular Vote Destroy Civil Rights?, in: American Journal of Political Science 42, 1343-1348. Gamble, Barbara, 1997: Putting Civil Rights to a Popular Vote, in: American Journal of Political Science 41, 245-269. Jung, Otmar, 1997: Der Aufschwung der direkten Demokratie nach 1989, in: Schneider-Wilkes, Rainer (Hg.), Demokratie in Gefahr? Zum Zustand der deutschen Republik. Münster, 130-144. Jung, Otmar, 2005: Grundsatzfragen der direkten Demokratie, in: Kost, Andreas (Hg.), Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. Eine Einführung. Wiesbaden, 312-366. Jürgens, Gunther, 1993: Direkte Demokratie in den Bundesländern. Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Erfahrungen. Vorbildfunktion für den Bund? Stuttgart. Jutzi, Siegfried, 2003: Volksgesetzgebung und Verfassungsrechtssprechung. Zu verfassungsrechtlich und verfassungsgerichtlich bestimmten Grenzen der Volksgesetzgebung, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 18, 273-292. Kampwirth, Ralph, 2003: Der ernüchterte Souverän. Bilanz und Perspektiven der direkten Demokratie in den 16 Bundesländern und auf Bundesebene, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 34, 657-671. Kellmann, Klaus, 2005: Direkte Demokratie in Schleswig-Holstein, in: Kost, Andreas (Hg.), Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. Eine Einführung. Wiesbaden, 285-293.

362

Raphael Magin, Christina Eder und Adrian Vatter

Kertels, Jessica/Brink, Stefan, 2003: Quod licet jovi – Volksgesetzgebung und Budgetrecht, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 435-438. Linder, Wolf, 2005: Schweizerische Demokratie. Institutionen, Prozesse, Perspektiven. Bern. Linder, Wolf, 2007: Die deutsche Föderalismusreform – von außen betrachtet. Ein Vergleich von Systemproblemen des deutschen und des schweizerischen Föderalismus, in: Politische Vierteljahreschrift 36, 3-16. Luthardt, Wolfgang, 1994: Direkte Demokratie. Ein Vergleich in Westeuropa. Baden-Baden. Mintzel, Alf, 1987: Besonderheiten der politischen Kultur Bayerns. Facetten und Etappen einer politischkulturellen Homogenisierung, in: Berg-Schlosser, Dirk/Schissler, Jakob (Hg.): Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Politische Vierteljahresschrift Sonderheft 18. Opladen, 295-308. Moser, Christian, 1985: Institutionen und Verfahren der Rechtsetzung in den Kantonen. Bern. Moser, Christian, 1987: Erfolge kantonaler Volksinitiativen nach formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten, in: Schweizerisches Jahrbuch für Politische Wissenschaft 27, 159-206. Neidhart, Leonhard, 1970: Plebiszit und pluralitäre Demokratie. Eine Analyse der Funktion des schweizerischen Gesetzesreferendums. Bern. Pestalozza, Christian, 1981: Der Popularvorbehalt. Direkte Demokratie in Deutschland. Berlin. Posselt, Christian, 2005: Direkte Demokratie in Berlin, in: Kost, Andreas (Hg.), Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. Eine Einführung. Wiesbaden, 60-74. Scarrow, Susan E., 1997: Party Competition and Institutional Change. The Expansion of Direct Democracy in Germany, in: Party Politics 3, 451-472. Schaal, Diana, 2002: Das Verfahren zur Herbeiführung eines Volksentscheids als Filter am Beispiel eines Drei-Länder-Vergleichs, in: Schiller, T./Mittendorf, V. (Hg.), Direkte Demokratie – Forschung und Perspektiven. Wiesbaden, 153-164. Schiller, Theo/Mittendorf, Volker, 2002: Neue Entwicklungen der direkten Demokratie, in: Schiller, Theo/ Mittendorf, Volker (Hg.), Direkte Demokratie – Forschung und Perspektiven. Wiesbaden, 7-21. Schmidt, Manfred G., 1995: Wörterbuch zur Politik. Stuttgart. Schmidt, Manfred G., 2000: Demokratietheorien. Eine Einführung. Opladen. Schneider, Herbert, 2002: Parteien in der Landespolitik, in: Gabriel, Oskar W./Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (Hg.), Parteiendemokratie in Deutschland. Wiesbaden, 385-405. Shikano, Susumu/Becker, Axel, 2004: Empirische Überprüfung von akteurszentrierten Koalitionsmodellen mit KOALA. Paper präsentiert im AK Handlungs- und Entscheidungstheorie des DVPW in Bamberg, 9. Juli 2004. Universität Mannheim. Trechsel, Alexander, 2000: Feuerwerk Volksrechte. Die Volksabstimmungen in den schweizerischen Kantonen 1970-1996. Basel. Vatter, Adrian, 2002: Kantonale Demokratien im Vergleich. Entstehungsgründe, Interaktionen und Wirkungen politischer Institutionen in den Schweizer Kantonen. Opladen. Vatter, Adrian, 2007: Direkte Demokratie in der Schweiz: Entwicklungen, Debatten, Wirkungen, in: Freitag, Markus/Wagschal, Uwe (Hg.), Direkte Demokratie. Bestandsaufnahmen und Wirkungen im internationalen Vergleich. Münster, 71-113. Wehling, Hans-Georg, 2005: Direkte Demokratie in Baden-Württemberg, in: Kost, Andreas (Hg.), Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. Eine Einführung. Wiesbaden, 14-28. Weixner, Bärbel, 2002: Direkte Demokratie in den Bundesländern. Verfassungsrechtlicher und empirischer Befund aus politikwissenschaftlicher Sicht. Opladen. Wohlfarth, Jürgen, 2005: Direkte Demokratie im Saarland, in: Kost, Andreas (Hg.), Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. Eine Einführung. Wiesbaden, 228-245. www.election.de. Letzter Zugriff: 23.04.2007.

Sechzehn Länder, sechzehn Felder: Erträge des Vergleichs Frieder Wolf und Achim Hildebrandt

1

Vielfalt oder Einheitlichkeit?

Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge beinhalten für die jeweiligen Politikfelder eine Fülle von spezifischen Erkenntnissen, die an dieser Stelle nicht in ihrer ganzen Breite gewürdigt und wieder aufgegriffen werden können. Stattdessen soll es in diesem Synthesekapitel darum gehen, die Haupterträge des Vergleichs von sechzehn Politikfeldern (und als solchen behandelten Institutionen) in sechzehn Ländern in dreierlei Hinsicht zu bündeln: Zunächst kann die jüngst von Leunig (2007: 289) aufgeworfene Frage „Vielfalt in der Form, Identität in der Praxis?“ einerseits mit einem klaren Nein beantwortet werden. Es bestehen im Hinblick auf ihre Staatstätigkeit mannigfache Unterschiede zwischen den Bundesländern. Die Erklärungen für diese Variationen, die die einzelnen Kapitel herausgearbeitet haben, werden in Abschnitt 2 zusammengefasst. Andererseits gibt es aber auch Bereiche, in denen Übereinstimmungen bestehen und für die daher Leunigs Frage eher ein Ja verdient. Abschnitt 3 spürt den Ursachen dafür nach, dass die Länder ihre Kompetenzen hier gerade nicht in eine Vielfalt, sondern eine große Einheitlichkeit umsetzen. Die Aussagen, die bis dahin getroffen werden, stehen jedoch noch stärker als für (politik-)wissenschaftliche Erkenntnisse ohnehin üblich unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit. Denn im Zuge der Föderalismusreform wurden die Karten neu gemischt, und zum jetzigen Zeitpunkt sind über ihre Auswirkungen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Länderpolitiken lediglich erste Einschätzungen und Prognosen möglich. Im Zeichen derselben steht Abschnitt 4. Die aus unserer Sicht bedeutendsten fortbestehenden Forschungsdesiderata benennen wir jeweils am Ende dieser drei folgenden Abschnitte.

2

Die Ursachen der vorgefundenen Vielfalt

Die größten Unterschiede sind auf den meisten Feldern zwischen Ost- und West-Ländern sowie zwischen Flächenländern und Stadtstaaten festzustellen, und sie beruhen oft auf sozioökonomischen Unterschieden. So erklärt sich die Variation der Sozialausgaben der Bundesländer dem Beitrag von Rothgang/Wessel zufolge weitestgehend durch die unter-

364

Frieder Wolf und Achim Hildebrandt

schiedlich hohe (am BIP pro Kopf bemessene) wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und das Gefälle der Arbeitslosenquoten. Ebenso ist die Arbeitslosigkeit laut Schmid/Hedrich hauptverantwortlich für die Variation der arbeitsmarktpolitischen Ausgaben der Länder – ein Befund, der an sich nicht besonders überrascht, aber auffallend mit demjenigen zur Verteilung der arbeitsmarktpolitischen Ausgaben des Bundes kontrastiert. Zudem ist sie, wie Hildebrandt zeigt, assoziiert mit den Primärsaldi, also der finanzpolitischen Lage. Die ProKopf-Schulausgaben und die für Zwecke der schulischen Bildung aufgewandten Haushaltsanteile sind in wohlhabenderen Ländern höher, und die fortdauernde relative Schwäche der ostdeutschen Wirtschaft, so Wolf, spiegelt sich in der weitaus höheren Bedeutung der vollschulischen Berufsausbildung in den neuen Ländern wider. Schmidts Befund von der Parteiendifferenz in der Länderpolitik (1980: 130) kann auf der Basis der Kapitel des vorliegenden Bandes folgendermaßen bestätigt und differenziert werden: Die Polizeistärke fällt Birkel zufolge bei höherem CDU-Kabinettssitzanteil höher aus, sinkt dagegen mit dem Umfang der Regierungsbeteiligung von SPD und Grünen. Bei Aufklärungsquoten und Gefangenenraten bestehen ähnliche Unterschiede, hier sind allerdings Faktoren wie die Sozialhilfebezugsquote wirkmächtiger. Des Weiteren ist nach Belegen von Henkes die Einbürgerungspraxis von Unionsregierungen restriktiver, und sie neigen stärker zu Kopftuchverboten und kombinieren diese zudem meist mit Ausnahmen für christliche und jüdische Bekleidungsformen, was die SPD eher ablehnt. Im Polizeirecht und der Eingriffsphilosophie können laut Frevel/Groß konservative, liberale und sozialdemokratische Profile identifiziert werden. Sozialdemokratisch geführte Landesregierungen erheben dagegen, wie Lanzendorf/Pasternack darlegen, bislang keine allgemeinen Studiengebühren und zeigen sich (mit Ausnahme von Niedersachsen unter Wissenschaftsminister Oppermann) bei Hochschulsteuerungsreformen zurückhaltender. Die Parteiprofile werden in der Hochschulpolitik allerdings dadurch relativiert, dass es in allen maßgeblichen Parteien konservative, chancenausgleichsorientierte und marktliberale Strömungen gibt. Der Anteil derjenigen Schüler, die eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben, ist laut Wolf in SPD-Ländern höher, dafür fallen die Schulausgaben dort geringer aus. Einen positiven Effekt auf die Schulausgaben hat die Regierungsbeteiligung der FDP. Volkery diagnostiziert einen Einfluss der parteipolitischen Besetzung des Umweltressorts auf die Geschwindigkeit der Umsetzung von Vorgaben im Naturschutzbereich, wobei grüne Minister im untersuchten Fall am schnellsten handelten. Nimmt man Bayern aus, wo die direkte Demokratie eine Art von Ersatzopposition darstellt, können Magin/Eder/Vatter zudem demonstrieren, dass in Ländern mit stärkeren linken Parteien die direktdemokratischen Instrumente intensiver genutzt werden. Ausgerechnet im Bereich der Sozialausgaben sind die parteipolitischen Effekte im Vergleich zu denjenigen sozioökonomischer Variablen dagegen relativ gering, wobei das Aktivitätsniveau von SPD-geführten Landesregierungen Rothgang/Wessel zufolge in der Kinder- und Jugendhilfe höher, im Krankenhaussektor jedoch geringer ausfällt. In der Finanzpolitik findet Hildebrandt keine Effekte der parteipolitischen Couleur, sondern solche der synchronen und diachronen Machtverteilung, also der Koalitionsgröße und der Machtwechselhäufigkeit. Je größer beide Maße ausfallen, desto höher sind auch die Primärdefizite. Demographische Effekte sind hingegen kaum festzustellen, insbesondere nicht auf die Sozialausgaben. Auf den Umfang der pflegepolitischen Aktivitäten der Länder hat ein höherer Seniorenanteil gar negative Auswirkungen, wie Rothgang/Wessel bemerken, positive

Sechzehn Länder, sechzehn Felder: Erträge des Vergleichs

365

jedoch nur auf die krankenhauspolitischen. Die Schulausgaben immerhin fallen Wolf zufolge bei höheren Bevölkerungsanteilen von Kindern und Jugendlichen höher aus, und ihr Rückgang manifestiert sich in regional teilweise dramatischen Schulschließungen. Aber auch langfristige historische Pfadabhängigkeiten lassen sich belegen: Frevel/Groß zeigen auf, wie die Präferenzen der Alliierten in distinkten Profilen der Polizeiorganisation fortwirken, und Haus findet ähnliche Prägungen beim Vergleich der Kommunalverfassungen. Im Zuge der Wiedervereinigung führten die sogenannten Patenschaften, welche westdeutsche für die im Auf- und Umbau befindlichen ostdeutschen Länderexekutiven übernahmen, zu Gemeinsamkeiten der Schwerpunktsetzung, die quer zum sonst häufigen OstWest-Unterschied verlaufen. Müller etwa identifiziert diese in der Wirtschaftspolitik. Weitere, ganz verschiedene „critical junctures“ (Rokkan 2000: 367) liegen hinsichtlich der polizeilichen Strategien in Großeinsätzen wie bei der RAF-Fahndung und den Demonstrationen in Wackersdorf und an der Startbahn West (wiederum Frevel/Groß), hinsichtlich der Konjunktur für direkte Demokratie in der Barschel-Affäre und dem friedlichen Ende der DDR (Magin/Eder/Vatter), hinsichtlich des Trends zu im Vergleich zu den Ausgaben für den mobilisierten Individualverkehr wachsenden Fördermitteln für den ÖPNV in der 1996 erfolgten Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs (Schöller-Schwedes/Ruhrort) sowie hinsichtlich der Energieregulierung in der Strompreisaufsicht vor 2005 (Müller). Effekte politischer Institutionen konnten vor allem im Bereich der Integrationspolitik und bezüglich der Anwendung direktdemokratischer Instrumente identifiziert werden. So zeigt einerseits Henkes, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit zum bedeutenden Vetoakteur wurde und dass Inhaber der EU-Unionsbürgerschaft geringere Einbürgerungsquoten aufweisen. Zum anderen bestätigen Magin/Eder/Vatter die These, dass die institutionellen Rahmenbedingungen (hier in Gestalt des Mobilisierungskoeffizienten) einen Gutteil der Variation der Nutzungshäufigkeit direktdemokratischer Instrumente und das Finanztabu die meisten diesbezüglichen Misserfolge erklären können. Hildebrandt konnte hingegen keine institutionellen Effekte nachweisen, die Kreditbegrenzungsregeln in den Landesverfassungen konnten die hohe Verschuldung einiger Länder nicht stoppen: Ein Hinweis darauf, dass institutionelle Regeln in der Haushaltspolitik gebrochen werden, wenn sie nicht im Einklang mit den Präferenzen der Akteure stehen.1 Die Stärke organisierter Interessengruppen erwies sich in der Untersuchung der Naturschutzpolitik durch Volkery als bedeutsam, wo agrarische Interessengruppen die Umsetzung von Naturschutzvorgaben bremsen. Umweltverbände sind hingegen insbesondere dann einflussreich, wenn die parteipolitische Konstellation ihnen entgegen kommt. Der Urbanisierungsgrad als geographische Größe beeinflusst nach den Ergebnissen von Schöller-Schwedes/Ruhrort die Relation der Ausgaben für den mobilisierten Individual- und den öffentlichen Personennahverkehr. Die Verschuldungssituation wirkt sich Wolf zufolge negativ auf die Schulausgaben aus, und Bogumil/Ebinger argumentieren, dass sich erst durch die gravierenden Haushaltsprobleme der zu beobachtende Wandel in der politischen Steuerung der Verwaltungspolitik vollziehen konnte. Außerdem waren hierfür Strategien ausschlaggebend, die den Parlamenten die Reformen als unverhandelbare Pakete präsentierten und mit

Robert Reischauer, der ehemalige Leiter des Congressional Budget Office, formuliert diese These drastischer: „No budget process can force those engaged in it to commit what they regard to be political suicide“ (Reischauer 1990: 232).

1

366

Frieder Wolf und Achim Hildebrandt

einflussreichen Akteuren auf unteren Ebenen wie den Landräten abgestimmt waren. Des Weiteren spielten jedoch auch länderspezifische Aspekte wie einschneidende Regierungswechsel und Einflüsse von Einzelpersonen wie dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Teufel eine Rolle. In anderen Feldern lagen solche Sonderfaktoren in der Konzentration marokkanischer Staatsbürger in Hessen, die zu einer besonders hohen Einbürgerungsquote unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit führte, dem Wahltermin im Saarland, der die SPD-Opposition dazu bewog, dem Kopftuchverbot zuzustimmen (beide Beispiele stammen aus dem Beitrag von Henkes), den von der regierenden Union beibehaltenen bzw. trotz eines Bürgerentscheids nicht umgesetzten Wahlsystem-Besonderheiten in Baden-Württemberg und Hamburg (Trefs), den nur in Thüringen beibehaltenen Horten an Schulen, welche einen Teil der überdurchschnittlichen Schulausgaben des Landes erklären (Wolf), den besonders hohen Wirtschaftsfördermitteln in Rheinland-Pfalz und Sachsen sowie den besonderen Schwerpunkten auf der Förderung von Frauenarbeitsplätzen in Bremen oder Kooperationsprojekten mit Polen in Brandenburg (Müller), und schließlich den anderweitig nicht hinreichend erklärbaren unterschiedlichen verkehrspolitischen Schwerpunktsetzungen der strukturell und parteipolitisch ähnlichen Länder Baden-Württemberg und Bayern (SchwedesSchöller/Ruhrort). Somit trugen alle herangezogenen Schulen der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung zur Erklärung der Unterschiede zwischen den Politiken der Bundesländer bei. Sozioökonomische und parteipolitische Differenzen kristallisierten sich als wirkmächtigste Faktoren heraus, nur Letztere waren jedoch auf der Mehrzahl der Felder feststellbar. Neben die beträchtliche Varianz der Staatstätigkeiten zwischen den Bundesländern tritt also auch eine Varianz ihrer wichtigsten Determinanten zwischen den Politikfeldern. Diese noch genauer auszuloten sollte eines der Ziele der künftigen Bundesländer vergleichenden Forschung sein.2

3

Diffusion und Policy-Lernen im Bundesstaat

Neben dem dominanten Muster von recht stabilen Differenzen gibt es in einzelnen Feldern im Zeitverlauf auch Tendenzen zur Konvergenz zwischen den Ländern.3 Diese Tendenzen treten in vier unterschiedlichen Formen auf: Konvergenz zeigt sich erstens in einigen Fällen als zeitverzögerte Anpassung an die Politik eines Vorreiter-Landes oder einer solchen Ländergruppe – so etwa in der ‚Baden-Württembergisierung’ der Kommunalverfassung (Haus), in der Diffusion von Elementen der ostdeutschen Schulpolitik wie etwa des Abiturs nach 12 Jahren oder der Schule mit mehreren Bildungsgängen (Wolf) sowie in den tief greifenden Verwaltungsreformen, bei denen Baden-Württemberg und Niedersachsen eine Vorbildrolle eingenommen haben (Bogumil/Ebinger). In diesen Fällen kann von einem Policy-Lernen in dem Sinne gesprochen werden, dass „knowledge about policies, administrative arrange-

Ein etwas grundsätzlicheres Desiderat besteht in der Ausweitung des Vergleichs auf weitere landespolitische Felder, die in diesem Band nicht berücksichtigt werden konnten, wie etwa die Justiz- oder die Landwirtschaftspolitik. 3 Einheit und Vielfalt können allerdings auch innerhalb eines Politikfeldes bestehen, wie Frevel/Groß für die Polizeipolitik aufzeigen. 2

Sechzehn Länder, sechzehn Felder: Erträge des Vergleichs

367

ments, institutions etc. is used in the development of policies, administrative arrangements and institutions in another time and/or place“ (Dolowitz/Marsh 1996: 344). Derartige Lernprozesse zwischen den Ländern können auch von den bereits erwähnten Critical Junctures ausgehen. Magin/Eder/Vatter zeigen, dass die Ausweitung direktdemokratischer Elemente zwar von der friedlichen Revolution in der DDR und der Barschel-Affäre angestoßen wurde, gleichwohl aber nicht auf die ostdeutschen Länder und Schleswig-Holstein begrenzt blieb. Eine andere entscheidende Wegmarke, die Ergebnisse der Pisa-Studien, kann paradigmatisch für eine zweite Art von Konvergenz stehen: Trends, die (nahezu) alle Länder gleichzeitig erfassen, ohne dass im Einzelfall die Vorreiterländer klar zu identifizieren sind. Im Fall der Schulpolitik nach dem ‚Pisa-Schock’ lässt sich hier ein Bündel an Maßnahmen identifizieren, so etwa das Setzen von Bildungsstandards, die Einführung von früherem Fremdsprachenunterricht sowie von Ganztagsschulen etc. (Wolf). Derartige Trends zeigen sich ebenfalls in der Wirtschaftspolitik bei Bürokratieabbau und Wirtschaftsförderung (Müller) sowie in der Verkehrspolitik, und zwar sowohl in der jahrzehntelangen Bevorzugung des motorisierten Individualverkehrs als auch in der Abwendung von dieser Politik (Schöller-Schwedes/Ruhrort). Eine alle Länder übergreifende Entwicklung, die sich über mehrere Jahrzehnte verfolgen lässt, weist auch die Institutionalisierung der Bundes- und Europapolitik auf. Derzeit stehen die Zeichen auf Machtkonzentration in den Staatskanzleien: Die Bundes- und Europapolitik wird zur Chefsache erklärt (Grasl). Eine dritte Art von Konvergenz besteht in der sukzessiven Anpassung der Länder an das auf Bundesebene implementierte Modell: Trefs zeigt, wie die überwiegende Mehrzahl der Landtagswahlsysteme an das Bundestagswahlsystem angeglichen wurde. Die Ratio dieser Institutionenreform sieht er in der Hoffnung auf eine erhöhte Akzeptanz der Landtagswahlsysteme, wenn diese dem Bürger bereits vertraut sind. Von den zuvor diskutierten Konvergenztendenzen, welche auf eigenständigen – wenn auch interdependenten – Prozessen in den einzelnen Ländern beruhen, ist schließlich viertens eine Vereinheitlichung zu unterscheiden, die sich aus expliziter Koordination zwischen den Ländern auf Verhandlungsbasis ergibt: Diese institutionalisierte Selbstkoordination erfolgt gerade in den Bereichen, in denen die Länder über vergleichsweise große Handlungsspielräume verfügen. Neben der Kultusministerkonferenz ist hier vor allem die Innenministerkonferenz zu nennen, deren Rolle bei der partiellen Vereinheitlichung des Polizeirechts Frevel/Groß beleuchten. Diese institutionalisierte Selbstkoordination dient gerade auch dazu, den weit verbreiteten unitarischen Ordnungsvorstellungen in Deutschland vorauseilend entgegen zu kommen. Für die drei zuvor diskutierten Konvergenztendenzen können hingegen unterschiedliche Motive veranschlagt werden. Bogumil/Ebinger arbeiten als dominantes Motiv für die Verwaltungsreformen das Einsparen von Personalkosten heraus. Überall dort, wo derartige klare fiskalische Motive für die Übernahme von Politiken nicht vorliegen, steht die Forschung vor einer komplexen Gemengelage aus wahltaktischen Motiven und programmatisch-inhaltlichen Überzeugungen, wie sie Haus identifiziert. Neben der vertieften Analyse der Motive, die hinter der Diffusion von Politiken stehen, sollte sich die weitere Forschung aus unserer Sicht vor allem der Frage widmen, durch welche Mechanismen die Übernahmen konkret erfolgen.

368

4

Frieder Wolf und Achim Hildebrandt

Zu erwartende Folgen der Föderalismusreform 2006

Mit der Föderalismusreform 2006 haben die Länder an eigenständigen Kompetenzen gewonnen. Während hinsichtlich der Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung und ihrer Reformen hemmenden Wirkung nach anfänglich hohen Erwartungen (vgl. Georgij/ Borhanian 2006) bald vornehmlich zurückhaltende bis kritische Stimmen zu vernehmen waren (vgl. Burkhart/Manow 2006, Scharpf 2007, Zohlnhöfer 2007; siehe auch Grasl i.d.B.), gab es bislang kaum Einschätzungen dazu, wie die Länder wohl mit ihren erweiterten Spielräumen umgehen werden. Die Beiträge zum vorliegenden Band liefern dazu folgende Prognosen: Frevel/Groß erwarten, dass die neuen beamtenrechtlichen Zuständigkeiten der Länder zu einer größeren Bandbreite der Besoldung, Arbeitszeiten und Karrierewege bei den Polizeien führen werden, und diese Prognose lässt sich im Grunde auf alle Bereiche, in denen Landesbeamte eingesetzt werden, ausdehnen. Ähnliche Divergenztendenzen lassen die von Volkery beschriebenen Abweichungsrechte im Naturschutz erwarten, allerdings besteht hier noch (im Zweifel verfassungsgerichtlicher) Klärungsbedarf hinsichtlich der genauen Abgrenzung des ‚abweichungsfesten Kerns’ der bundesgesetzlichen Naturschutzbestimmungen, was zumindest vorerst die eine oder andere Landesinitiative bremsen könnte. In der Verkehrspolitik, so Schöller-Schwedes/Ruhrort, ersetzen pauschale Zuschüsse die Gemeinschaftsfinanzierung und erlauben den Ländern so künftig größere eigenständige Schwerpunktsetzungen. Erhalten bleiben jedoch bis 2014 die Aufgabenbereichs- und danach voraussichtlich die investive Zweckbindung, was die verkehrspolitische Profilbildung der Länder weiterhin einengt, wenn auch schwächer als bisher. In der Schulpolitik hatten die Länder keine Kompetenzen mehr zu gewinnen, und es wurde lediglich dem Bund die (umstrittene) Erlaubnis zur Finanzierung von Investitionsprogrammen genommen, sodass er nun, wie Wolf ausführt, die Länder nicht mehr am goldenen Zügel zu ihm vordringlich erscheinenden Vorhaben wie dem Ganztagesschulausbau dirigieren kann, was potenziell die vorzufindende Vielfalt zumindest nicht schmälern sollte. Bezüglich der Hochschulpolitik argumentieren Lanzendorf/Pasternack, dass zwar die Zuständigkeiten der Länder mit dem Wegfall des Hochschulrahmengesetzes spürbar erweitert wurden, dadurch aber nicht nur größere Unterschiede zwischen den Arten und Weisen zu erwarten sind, in denen sich die Länder im hochschulischen Standortwettbewerb zu profilieren suchen, sondern dass vor allem auch der Koordinationsbedarf nochmals anwächst. Im Bereich der Wirtschaftspolitik wurden den Bundesländern nur wenige neue Kompetenzen überlassen, und Müller hält es für derzeit noch offen, inwieweit Koordinierungsbemühungen einer Ausdifferenzierung der bisher recht homogenen Landeswirtschaftspolitiken entgegen wirken werden. Die Bereiche, in denen ein Ländervertreter die Rechte der Bundesrepublik im Rahmen der EU wahrnimmt, wurden mit der Föderalismusreform eingeschränkt und konkretisiert, dafür aber die entsprechende Soll- in eine Ist-Bestimmung umgewandelt. Der von Grasl identifizierte Trend hin zur eigenständigen Interessenvertretung der einzelnen Länder in Brüssel und zur Gestaltung der Europapolitik in den Staatskanzleien dürfte sich ungeachtet dessen fortsetzen. Die direktdemokratischen Instrumente werden Magin/Eder/Vatter zufolge angesichts der hinzugewonnenen Länderkompetenzen vermutlich häufiger genutzt werden. Dort, wo

Sechzehn Länder, sechzehn Felder: Erträge des Vergleichs

369

sie dank niedrigerer institutioneller Barrieren und parteipolitischer Prägungen schon bisher öfter genutzt werden, dürfte dieser Anstieg besonders stark ausfallen. Die Erfolgsaussichten von Volksgesetzgebungsverfahren hingegen würden nur dann merklich ansteigen, wenn das Finanztabu abgeschafft werden würde, das sich bisher als deren größtes Hindernis erwiesen hat. Ebenso wie die hier zusammengefassten Prognosen der Autoren dieses Bandes zu den Folgen der Föderalismusreform für die Staatstätigkeit der Bundesländer und ihre Unterschiede die zuvor dargestellten Ergebnisse des Vergleichs unter Vorbehalt stellen, sind sie selbst noch tentativ und bedürfen der Überprüfung. Der geeignete Zeitpunkt für eine Evaluation der Föderalismusreform und ihrer Folgen – sie ist unseres Erachtens das dritte größere Forschungsdesiderat – dürfte allerdings erst in zwei bis drei Jahren sein.

5

Fazit

Was bleibt? Ein differenziertes Bild von Einheit und Vielfalt der Staatstätigkeit in den Bundesländern, das – trotz der endemischen Kritik – als Stärke des deutschen Föderalismus gewertet werden kann: Die Länder haben genug Spielraum, um eigenständig differenzierte Politikprofile entwickeln zu können, zugleich aber diffundieren einzelne Politiken und institutionelle Problemlösungen über die Ländergrenzen hinweg. Dieser Wettbewerb um adäquate Problemlösungen ist die einzige Form des Wettbewerbsföderalismus, die in Deutschland realisierbar ist – angesichts der hartnäckigen ökonomischen Unterschiede zwischen Ost und West und der politischen Kultur in Deutschland verbietet sich beispielsweise ein Steuerwettbewerb wie in der Schweiz (vgl. Wagschal/Rentsch 2002). Ob eine Politik von anderen Ländern als adäquat angesehen und daher übernommen wird, hängt dabei nicht ausschließlich von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit innovativer Länder ab, wie etwa die Diffusion ostdeutscher Schulpolitik zeigt. Dieser Wettbewerb um Problemlösungen kann in Zukunft als Legitimationsgrundlage des deutschen Föderalismus durchaus noch an Bedeutung gewinnen, wodurch der Vergleich der Länderpolitiken über die bereits genannten Aspekte hinaus noch zusätzliche Aufmerksamkeit verdient.

Literatur Burkhart, Simone/Manow, Philip, 2006: Was bringt die Föderalismusreform? Wahrscheinliche Effekte der geänderten Zustimmungspflicht MPIfG Working Papers 06/6. Köln. Dolowitz, David/Marsh, David, 1996: Who Learns What from Whom: a Review of the Policy Transfer Literature, in: Political Studies 44:2, 343-357. Georgii, Harald/Borhanian, Sarab, 2006: Zustimmungsgesetze nach der Föderalismusreform. Wie hätte sich der Anteil der Zustimmungsgesetze verändert, wenn die vorgeschlagene Reform bereits 1998 in Kraft gewesen wäre? Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste. Leunig, Sven, 2007: Die Regierungssysteme der deutschen Länder im Vergleich. Opladen. Reischauer, Robert D., 1990: Taxes and Spending under Gramm-Rudman-Hollings, in: National Tax Journal 44, 223-232.

370

Frieder Wolf und Achim Hildebrandt

Rokkan, Stein, 2000: Staat, Nation und Demokratie in Europa. Die Theorie Stein Rokkans aus seinen gesammelten Werken rekonstruiert und eingeleitet von Peter Flora. Frankfurt a.M. Scharpf, Fritz, 2007: Nicht genutzte Chancen der Föderalismusreform, in: Egle, Christoph/Zohlnhöfer, Reimut (Hg.): Ende des rot-grünen Projektes. Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002-2005. Wiesbaden, 197-214. Schmidt, Manfred G., 1980: CDU und SPD an der Regierung. Ein Vergleich ihrer Politik in den Ländern. Frankfurt a.M. Wagschal, Uwe/Rentsch, Hans (Hg.), 2002: Der Preis des Föderalismus. Zürich. Zohlnhöfer, Reimut, 2007: The End of ‚Reformstau’? The Reform of German Federalism and Economic Policy-Making, Paper presented at the 31st Conference of the German Studies Association. San Diego.

Autorenverzeichnis

Christoph Birkel, M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kriminalsoziologie sowie empirischer Theorienvergleich. Prof. Dr. Jörg Bogumil ist Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Stadt- und Regionalpolitik an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte sind Lokale Politikforschung, Verwaltungswissenschaft und Public Sector Reform sowie Staats- und Regierungslehre und Politikfeldanalyse. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/joerg.bogumil/ Dipl.-Verw.-Wiss. Falk Ebinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Stadt- und Regionalpolitik an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte sind Vergleichende Institutionenpolitik, Verwaltungsorganisation und -reform und Politikfeldanalyse. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: http://www.ruhr-uni-bochum.de/regionalpolitik/Ebinger/ Dipl. Verw.-Wiss. Christina Eder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz im DFG-Projekt „Demokratiemuster in den deutschen Bundesländern und ihre politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Analyse und Vergleich politischer Systeme, insbesondere direkte Demokratie und Wahlsysteme. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: www.uni-konstanz.de/FuF/Verwiss/vatter Dr. rer. soc., Dipl. Päd. Bernhard Frevel ist Dozent für Sozialwissenschaften an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Münster und Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Forschungsschwerpunkte sind die Empirische Polizeiforschung sowie Sozialpolitik. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: www.empirische-polizeiforschung.de/autor3.html

372

Frieder Wolf und Achim Hildebrandt

Maximilian Grasl, M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Vergleichende Politikforschung, Politische Ökonomie und Empirische Politikforschung. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: http://www.politik.uni-hd.de/ Dipl.-Pol. Dipl.-Psych. Hermann Groß ist Fachhochschullehrer für Sozialwissenschaften an der Verwaltungsfachhochschule in Wiesbaden. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Empirische Polizeiforschung, Polizeipsychologie und Parlamentarismusforschung. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: http://www.empirische-polizeiforschung.de Dr. Michael Haus ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Lokale Politikforschung und Politische Theorie. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: http://www.politikwissenschaft.tu-darmstadt.de/index.php?id=404 Horst Hedrich, M.A., war am Lehrstuhl Politische Wirtschaftslehre und Vergleichende Politikfeldanalyse an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen beschäftigt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Arbeitsmarktpolitik, Bundesländer-Ranking und statistische Analyseverfahren. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: www.wip-online.org Christian Henkes, M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) in einem DFG-Forschungsprojekt zur „Kulturellen Heterogenität in Metropolen“. Seine Forschungsschwerpunkte sind Minderheiten-, Zuwanderungs- und Integrationspolitik sowie Vergleichende Demokratieforschung. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: http://www.wz-berlin.de/zkd/dsl/leute/christian_henkes.de.htm Dipl.-Pol. Achim Hildebrandt ist Akademischer Rat am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart. Seine Forschungsschwerpunkte sind vergleichende Staatstätigkeitsund Demokratieforschung sowie Föderalismus. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: http://www.uni-stuttgart.de/soz/pt/mitarbeiter/hildebrandt.html Dr. Ute Lanzendorf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Hochschulforschung der Universität Kassel und dessen derzeitige Geschäftsführerin. Sie wirkt unter anderem in einem Teilprojekt zur Hochschulgovernance innerhalb der DFGgeförderten Forschergruppe „Internationale Wettbewerbsfähigkeit und Innovationsfähigkeit von Universitäten und Forschungseinrichtungen – Neue Governanceformen“ mit.

Autorenverzeichnis

373

Dipl. Verw.-Wiss. Raphael Magin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Konstanz im DFG-Projekt „Demokratiemuster in den deutschen Bundesländern und ihre politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen“. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Analyse und Vergleich politischer Systeme, insbesondere direkte Demokratie und Wahlsysteme. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: www.uni-konstanz.de/freitag Dr. Markus M. Müller ist Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg sowie Leiter der Zentralstelle des Wirtschaftsministeriums Baden-Württemberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Vergleichende Regierungslehre, Politische Ökonomie sowie Policy-Forschung. E-Mail-Adresse: [email protected] Dr. Peer Pasternack, Staatssekretär a.D., ist Forschungsdirektor am Institut für Hochschulforschung (HoF) an der Universität Halle-Wittenberg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Hochschulorganisation und -steuerung, Qualitätssicherung und -management, Hochschulpolitik sowie ostdeutsche Wissenschaftsgeschichte. Prof. Dr. rer. pol. Heinz Rothgang, Dipl. Volksw., ist Professor für Gesundheitsökonomie und Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung am Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und -systemvergleich sowie Fragen der Pflege(ver)sicherung und der sozialen Sicherung. Dipl. Soz.-Wiss. Lisa Ruhrort ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und am Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) GmbH. Ihre Forschungsschwerpunkte sind sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung und Techniksoziologie. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: http://www.innoz.de/mitarbeiter.html Prof. Dr. Josef Schmid ist Professor für Politische Wirtschaftslehre und Vergleichende Politikfeldanalyse an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen sowie Vorstandsmitglied des Europäischen Zentrums für Föderalismusforschung (EZFF) und des Forschungsinstituts für Arbeit, Technik und Kultur (FATK). Er forscht zu Wohlfahrtsstaat, Arbeitsmarktpolitik, Landespolitik, Parteien und Verbänden. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: www.wip-online.org

374

Frieder Wolf und Achim Hildebrandt

Dr. Oliver Schöller-Schwedes ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Projektgruppe Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, wo er sich insbesondere mit Fragen der Stadt- und Verkehrspolitik beschäftigt. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: www.wz-berlin.de/ow/inno/people/schwedes.de Dr. Matthias Trefs ist Projektmanager bei der KfW Entwicklungsbank und war zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Seine bisherigen Forschungsschwerpunkte sind Parteienforschung und Wahlsystemforschung. Derzeit betreut er Projekte im Bereich Europa, Naher Osten und Nordafrika. E-Mail-Adresse: [email protected] Prof. Dr. Adrian Vatter ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Konstanz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Vergleichenden Institutionenund Demokratieforschung sowie der Policy-Analyse. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: www.uni-konstanz.de/FuF/Verwiss/vatter Dr. Axel Volkery ist Projektmanager für Politik- und Szenarioanalyse an der Europäischen Umweltagentur in Kopenhagen, Dänemark. Seine Arbeitsgebiete umfassen die vergleichende Politikanalyse und langfristige Strategieanalyse in den Bereichen Umwelt- und Naturschutz, Landwirtschaft und ländliche Entwicklung. Anna Caroline Wessel, BA, Politikwissenschaftlerin, studiert im Masterstudiengang „Sozialpolitik“ am Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind wohlfahrtstaatliche Entwicklung und Alterssicherung. Dr. Frieder Wolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Staatstätigkeit sowie die Arbeitsteilung zwischen Staat und privatem Sektor im internationalen und im Bundesländer-Vergleich, bislang vornehmlich im Bereich der Bildungspolitik. E-Mail-Adresse: [email protected] Internetpräsenz: http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~fwolf2/