C. H. Guenter
Die Ritter vom Eisernen Tor
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
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C. H. Guenter
Die Ritter vom Eisernen Tor
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1. In einer eisigen Februarnacht dieses Jahres verließ Lubenku sein Versteck. Er wurde gejagt und fürchtete, daß man ihn eines Tages finden würde. Deshalb hatte er sein Aussehen geändert. Mit dem Paß eines Engländers und einer Jaguarlimousine aus dem Fuhrpark der ehemaligen Regierung fuhr er über die spiegelglatten Straßen vo n Bukarest nach Westen. Er und seine Freunde konnten nur dann überleben und wieder zur Macht kommen, wenn es ihm gelang, seinen Auftrag durchzuführen – denn Unvorstellbares war geschehen. Eine ungarische Zeitung, die man jetzt wieder kaufen konnte, schrieb: Der Monat Dezember hat nicht nur Schnee und Kälte gebracht, sondern auch totale Veränderungen am Balkan. In Rumänien ist das Volk aufgestanden und hat das grausamste aller Regime gestürzt, den Führer liquidiert, seine Helfer zum Teufel geschickt. Deshalb hat der Winter auch das Feuer der Hoffnung geschürt. Doch überall im Land schwelten noch Nester des Widerstandes, wenn auch unsichtbar. In einem dieser Nester hatte Lubenku gesessen und gewartet. Gestern war endlich der Kurier gekommen und hatte ihm die Nachricht gebracht. „Noch ist die alte Garde nicht tot“, hatte der Kurier ihm übermittelt. „Tausende unserer Kameraden leben im Untergrund. Hier ist der Plan, Lubenku, und der Befehl. Lies ihn und verbrenne ihn. Und dann, Sieg oder Tod.“ „Sieg oder Tod“, hatte Lubenku geantwortet. Der Kurier, gekleidet in die Uniform eines Stromablesers, war wieder verschwunden. Lubenku hatte die Papiere aus der Hülle geholt, hatte sie durchgelesen und rasch begriffen, worauf es ankam. Er sollte versuchen, mit dem vorbereiteten Gepäck, mit dem 3
vorbereiteten Automobil und dem Paß des längst toten Engländers das Land zu verlassen. Erste Station war Zürich. Zweite Station London. Die Operation führte den Namen Orion, was immer das bedeuten mochte. Lubenku verbrannte den Einsatzbefehl – er war noch auf dem Papier und mit der Schreibmaschine des Geheimdienstes ausgestellt – im Kamin. Das Feuer wärmte nur wenig, aber der Gedanke, daß von ihm alles abhing, um die alten Zeiten zurückzuholen, wirkte in ihm stärker als eine Flasche Wodka Jetzt war es 23.00 Uhr. Lubenku fuhr durch Bukarest zur Straße nach Pitesti. Über Pitesti führte der kürzeste Weg nach Ungarn. An der Arges-Brücke standen Kontrollen. Er zeigte den Presseausweis des Engländers, den britischen Paß und das Akkreditiv der Exregierung. Die jungen Soldaten, bei denen fraglich war, ob sie überhaupt lesen konnten, ließen ihn durch. Sie salutierten und traten wieder an ihr Holzfeuer. Blaues Mondlicht lag über den verschneiten Ebenen der Walachei. Lubenku schätzte, daß es draußen minus fünfzehn Grad hatte. Die Heizung des Jaguars wurde mit dieser Kälte kaum fertig.
Hinter Arad, am rumänisch-ungarischen Grenzübergang, geriet Lubenku in ernsthafte Schwi erigkeiten. Der Wachhabende, ein junger Leutnant mit den fixen scharfen Augen einer Kanalratte, blätterte die Papiere durch, schlich um den Jaguar herum und befahl: „Aussteigen!“ „Bitte“, fügte Lubenku britisch arrogant hinzu und folgte dem Offizier ins Wachlokal. Bei Kerzenlicht – entweder war wieder der Strom ausgefallen, 4
oder die Leitungen waren nach der Revolution noch nicht geflickt worden – las der Offizier im Paß, als wäre er ein Schauerroman. „Ihr Visum ist abgelaufen“, stellte er fest. „Deshalb fahre ich nach Hause.“ „Es ist schon seit einem Monat abgelaufen. Warum fuhren Sie nicht schon im Januar nach Hause, Sir?“ Der angebliche britische Reporter versuchte es zu erklären: „Sie wissen doch, Leutnant, der Umsturz, die Schießereien, es gab kein Benzin. Hinzu kommt noch, daß ich unbedingt dabei, Augenzeuge sein wollte, wie das Volk sich gegen diese Verbrecherclique erhebt.“ „Um mit ihren Berichten nach London tüchtig Geld zu verdienen“, warf der Offizier ein. „Das ist so legitim“, entgegnete Lubenku, „wie Sie Ihr Geld verdienen, indem Sie britische Staatsbürger lächerlichen Ve rhören unterziehen.“ Der Leutnant studierte nun den Presseausweis sowie das Akkreditiv, mit dem die alte Regierung noch die Arbeit des Journalisten genehmigt hatte. Dann rief der Leutnant ins Nebe nzimmer. Ein Sergeant tauchte auf. Der Leutnant reichte ihm die Papiere. „Überprüfen, ob was vorliegt. Aber schnell.“ Dann wandte er sich wieder an Lubenku. „Warum führt Ihr Wagen eine britische Nummer, Mister… Mister Simpson?“ „Nun, weil ich Engländer bin.“ „Sie hielten sich laut Einreisestempel sieben Monate in Bukarest auf. Nach dem alten, noch immer gültigen Gesetz ist jeder Besucher verpflichtet, sich nach spätestens zwölf Wochen anzumelden und gegebenenfalls ein rumänisches Kennzeiche n zu erwerben, das er neben dem Kennzeichen seines Landes zu führen hat.“ „Okay“, räumte Lubenku geschickt taktierend ein. „Zugegeben, das ist eine Unterlassung. Aber im Dezember, als es losging, 5
brachte ich meinen Jaguar in eine Garage und rührte ihn nicht mehr an.“ „Ach, deshalb glänzt er wie frisch aus dem Laden.“ „Es ist ein neues Fahrzeug. Ich kaufte es, als ich den Job als Korrespondent in Bukarest bekam.“ Der Sergeant erschien wieder. „Da liegt nichts vor, Leutnant.“ Offenbar schweren Herzens gab der Offizier dem Engländer die Papiere zurück, fragte aber noch: „Wie kommt es, daß Sie so gut unsere Sprache sprechen?“ „Ich habe sie studiert, Leutnant, in Oxford. Ich bin Rumänologe.“ Der Offizier durchsuchte eigenhändig den Jaguar, den Kofferraum und auch die schweren gelben Schweinslederkoffer. Dies alles im Licht einer Taschenlampe, deren Batterien zusehends schwächer wurden. Dann wünschte er nur noch: „Gute Reise.“ Der Posten am Schlagbaum bekam einen Wink. Er schwenkte die Stange nach oben. Der Jaguar wurde gestartet und ve rschwand in der Dunkelheit. Bis zur ungarischen Grenze waren es mehrere Kilometer auf einer kurvigen Straße. Warum „Auch“? Die Rücklichter des Jaguar gerieten rasch außer Sicht. Kaum war der Leutnant wieder in seinem Wachlokal, legte Reisig und nasses Holz im Ofen nach, da vernahm er aus dem Nebenraum einen Fluch. Sein Sergeant stand in der Tür mit einer alten Zeitung in der Hand. „Ich wußte es“, rief er. „Es fiel mir nur leider nicht gleich ein.“ „Dann wußten Sie auch nichts“, bemerkte der Offizier. „Und was fiel Ihnen ein, Sergeant?“ „Hieß dieser Engländer nicht Simpson? Edward Simpson?“ „Sie hatten doch seinen Paß in der Hand.“ „Von Daily Dispatch in London?” „Von Daily Dispatch, so stand es in seinem Presseausweis.“ 6
Der Sergeant legte dem Wachoffizier die Zeitung mit einer langen Liste von Toten vor. Dabei handelte es sich um Namen all jener Ausländer, die bei den Kämpfen in Temeschwar umgekommen waren. „Er starb schon Ende Dezember. Durch eine MPi-Salve der Securitate. Die zwei Buchstaben S und J bedeuten: sichere Identifizierung.“ Die Zeitung war ungefähr eine Woche alt. „Verdammt“, fluchte der Leutnant. „Wir müssen ihn kriegen. Das ist einer von diesen Hundesöhnen vom Geheimdienst, die jetzt ins Ausland fliehen.“ Der Leutnant kurbelte am Feldtelefon. Sie hatten die Leitung zu den Ungarn gestern in Ordnung gebracht. Aber bei den Ungarn hob keiner ab. Also schickte der Leutnant zwei Soldaten los, von denen er wußte, daß sie unter Stahlhelm und Gewehr den Kilometer in weniger als drei Minuten liefen. Doch als die Rumänen bei dem ungarische n Grenzposten angekeucht kamen, war der Jaguar schon über alle Berge.
In einer rasanten Nachtfahrt durchquerte Lubenku Ungarn. Vor Budapest ging sein Benzin zu Ende. Er schüttete den Inhalt der zwei Reservekanister in den Tank. Leider hatte der Jaguar den Zwölfzylindermotor, und der verbrauchte mühelos achtzehn Liter auf hundert Kilometer. Bis zur Grenze zur CSFR wäre er ohne weiteres gekommen. Aber durch die Entwicklungen in Prag erklärte sich die neue Regierung mit Bukarest solidarisch, und Lubenku wollte kein unnötiges Risiko eingehen, geschnappt zu werden. Also fuhr er weiter in Richtung österreichische Grenze. In Györ brannte das rote Warnlicht in der Benzinstandanzeige. Er suchte und fand eine Tankstelle. Sie war geschlossen. Mit gewohnter 7
Rücksichtslosigkeit trommelte Lubenku den Tankwart aus dem Bett. Der Ungar rief aus dem Fenster: „Wir öffnen um sieben, im Winter um acht. Hau ab, Mann, oder ich trete dir in den Arsch.“ „Ich bezahle mit Dollar “, sagte Lubenku, „und einen Fünfziger extra.“ Verschlafen, eine Pelzjacke über dem Schlafanzug, kam der Ungar herausgestolpert, sperrte seine Zapfstelle auf und füllte den Jaguartank. Immer noch mürrisch nahm er die heißbegehrten Dollar entgegen. Den Rest der 390 Kilometer von Bukarest bis Österreich brachte Lubenku hinter sich, ehe der Morgen richtig graute. An der Grenze winkten die Ungarn ihn nur durch. Auch die Österreicher warfen nur einen schiefen Blick auf seinen britischen Paß. Gegen Mittag erreichte Lubenku Wien. Er fuhr um die Stadt herum bis zur Westautobahn. Dort stellte er den Jaguar auf einen Parkplatz. Er war hundemüde und schlief sofort ein. Als er den Liegesitz wieder geradestellte, ging es auf 16.00 Uhr. Am nächsten Rasthaus nahm er einen leichten Imbiß und fuhr weiter. Es war schon dunkel, als er bei Freilassing in die Bundesrepublik Deutschland einreiste. Die Autobahn war trocken, aber Nebel kam auf. Der Nebel wurde mitunter sehr dicht und schlug sich auf der Fahrbahn als Nässe nieder. Lubenku hatte das Radio an und hörte Musik. Die Ansagen zwischendurch verstand er nicht, denn er sprach kein Deutsch. Er konnte Englisch und Spanisch, aber kein Wort Deutsch. Deshalb entging ihm die Glatteiswarnung auf der Verkehrsfunkwelle. Hinzu kam, daß Lubenku seit Wien das erste Mal auf einer Autobahn und deshalb viel zu schnell fuhr. Der Jaguar lief mühelos zweihundert, mit Zweidrittelgas noch hundertsiebzig. Der starke 8
Motor drehte fast lautlos, und die schnittige Karosserie verursachte wenig Windgeräusche. So bekam Lubenku keinen Eindruck von der tatsächlichen Geschwindigkeit. In einer langgezogenen Rechtskurve geriet der Jaguar auf überfrorene Nässe. Da die Streufahrzeuge noch nicht durchgekommen waren, drückte die Fliehkraft, die Summe aus Tempo und Gewicht, den Jaguar nach links. Zunächst schrammte er etwa fünfzig Meter an der Leitplanke entlang, dann packte die stählerne Hand voll zu. Vermutlich geriet ein Stück der Planke unter die Hinterachse. Jedenfalls bäumte der Jaguar sich auf, überschlug sich und wälzte sich rasend schnell auf die Gegenfahrbahn. Dort kam ihm ein Tanklastzug entgegen. Der schwerbeladene Sattelschlepper war nicht mehr rechtzeitig zu bremsen. Er zermalmte den Jaguar unter der Wucht seiner achtundvierzig Tonnen. Der Fahrer des Jaguar starb, noch ehe der Rettungshubschrauber landete.
Der BND-Agent Robert Urban hatte Überstunden in jeder Länge und Breite. Ihre fünfstellige Zahl war nur noch mit dem Taschencomputer zu berechnen. Alle Stunden nach Chirurgentarif umgerechnet, hätten leicht den Kauf des neuen BMW-Coupés ermöglicht. Aber das Problem war nicht akut. Noch lief der alte. Akut war das Eis in Urbans Terrassenschwimmbecken . Natürlich hatte er im Herbst das Wasser abgelassen. Aber dann hatte es geregnet und Laub hatte den Ablauf verstopft. Das Wasser stand bald handbreit hoch, und in den kalten Januarnächten war es gefroren. Es gab nur zwei Alternativen. Raus mit dem Eis oder hinnehmen, daß das Eis erst die Fliesen beschädigte und dann den Pool sprengte. 9
Also war Urban hinabgeklettert und hatte mit dem Pickel nahe der Beckenwand eine Rinne geschlagen. Das nahm den Druck aus dem Eis. Während er, noch schwitzend, dasaß, eine MC rauchte und nachdachte, ob dem Problem nicht mit moderner Technik beizukommen sei, vielleicht durch einen Schweißbrenner oder chemisch oder mit einer Schlauchleitung, die heißes Wasser vo m Haus in den Pool leitete, gab es plötzlich eine n Knall und Risse im Eis. Urban kletterte wieder hinunter, hebelte die scharfkantigen Eisplatten weg und warf sie hinaus. Er rackerte sich halb tot. Endlich hatte er es geschafft. Die Eisplatten lagen auf der Terrasse. – Im nächsten Herbst würde er den Pool mit einer Plastikplane abdecken. Das schwor er sich. Gerade dabei, nun auch noch den Abfluß vo n Laub und Moder zu reinigen, schrillte im Penthous e das Telefon. „Keine Zeit“, schrie er hinein. Aber das Telefon gab sich damit nicht zufrieden. Es hörte auf zu klingeln, fing jedoch gleich wieder an. „Sorgen haben diese Leute.“ Urban fluchte. „Verdammt, als ob es auf der Welt Wichtigeres gäbe als dieses scheiß Schwimmbekken.“ Er ging hinein und faßte mit dreckigen Fingern zum Hörer. „Hier bei Urbanski.“ „Stell dich nicht so an, Bob, ich kenne deinen Tenor.“ „Hier spricht der Kanalreiniger bei Urbanski.“ „Na schön, dann spricht hier die Putzfrau im Bundeskriminalamt. Hör zu, Urban, von Putzfrau zu Putzfrau: Da läuft eine Sache aus unserer Kompetenz.“ „Werde es Herrn Urbanski berichten“, erwiderte Urban. Der Kollege machte unverdrossen weiter. „Ein Engländer hatte, von Salzburg kommend, einen tödlichen Unfall.“ 10
„Bin ich bei der Autobahnpolizei?“ „Der Engländer“, fuhr der BKA-Kollege fort, „ist möglicherweise kein Engländer. Se in Jaguar stammt möglicherweise aus Ceausescus Fuhrpark.“ „Und wegen möglicherweise störst du mich bei einer lebenswichtigen Tätigkeit. War bei dir noch nie das Abflußrohr verstopft?“ Der BKA-Kollege ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Der Engländer, dem der Paß gehörte, ist im Dezember in Rumänien umgekommen. Das Nummernschild gehört zu einem Jaguar, der in Southampton läuft. Über Interkrim Bukarest hörten wir, daß ein Mann, auf den die Beschreibung des Toten paßt, geflohen sein könnte. Möglicherweise war er hoher SiguranzaOffizier.“ Schon wieder ein Satz mit möglicherweise. Urban sparte sich jedoch die Erwähnung. „Danke, daß du noch zuhörst“, sagte der Anrufer. „Ich fürchte, hier hört unsere Zuständigkeit auf, und die des BND fängt an.“ „Warum wendest du dich nicht an mein Hauptquartier in Pullach?“ „Urban…“ Der Mann seufzte deutlich. „Wenn du eine Frau brauchst, läßt du sie dir dann vom Gesundheitsministerium ve rschreiben?“ Sie wechselten noch ein paar freundliche Worte. Urban erfuhr, wo der Tote und das Fahrzeugwrack lagen. Dann ging er wieder hinaus, um den Abfluß zu reinigen. Dabei hatte er das Gefühl, daß diese Arbeit in Kälte und Nässe mit Dreck hinauf bis zum Ellbogen möglicherweise ein genußvoller Vorgang war gegen das, was auf ihn zukam. „Schon wieder möglicherweise“, murmelte er vo r sich hin. Endlich fand er die Ursache der Verstopfung, Ein Präservativ hatte sich so unglücklich über den Schmutzfilter gelegt, daß nichts 11
mehr durchging. Aber genau dafür waren Präservative gebaut, daß nichts durchging. – Urban rätselte nur daran herum, wie er in den Pool kam. Vielleicht war es auch ein Stück Gummi vo n einem gelben Luftballon. 2. Captain Halifax war für Glockenschlag 11.00 Uhr ins Kriegsministerium beordert. Er kleidete sich sorgfältig an und riß, ehe er sein Haus nahe der Kensington Street verließ, den Kalender ab. Es war Mittwoch, der 5. August 1914, und der Krieg mit dem deutschen Kaiserreich genau vierundzwanzig Stunden alt. Vor seinem Haus wartete eine Pferdedroschke. Die von Pferden gezogenen Kutschen waren langsamer als die neuen, die mit Be nzinmotoren angetrieben wurden. Das wirkte sich aber nur dann aus, wenn man aufs Land fuhr. In der City kam die höhere Geschwindigkeit der Motortaxis kaum zum Tragen. – Außerdem stanken sie, und es kam häufig vor, daß sie aus irgendwelchen technischen Gründen nicht mehr funktionierten. Pferde stanken zwar auch, aber sie legten eine Strecke von ungefähr dreißig Meilen am Tag mit allergrößter Wahrscheinlichkeit problemlos zurück, egal, ob man sie ritt oder sich von ihnen ziehen ließ. Für den Weg bis zum Ministerium am Hydepark entlang und dann nach Westminster hinüber brauchte eine Pferdedroschke in der Regel fünfundzwanzig Minuten. Bei Nebel etwas mehr, bei Nacht etwas weniger. Captain Halifax meldete sich pünktlich zur festgesetzten Zeit im Vorzimmer eines Generals, dessen Namen er nicht kannte. Er brauchte nur kurz zu warten. Die Flügeltür wurde geöffnet. Aus dem großen Stabsbüro, eine m Raum, holzgetäfelt mit we ißem Marmorkamin, glänzendem Parkett und schweren grünen Samtvorhängen, kam der General ihm entgegen. Sie waren sich 12
noch nie begegnet. Trotzdem begrüßte der General ihn wie einen alten Freund. „Hallo, Captain Halifax!“ rief der General, ein schneidiger Reitertyp. „Schon in Uniform?“ „Bekam meinen Gestellungsbefehl vor einer Woche, Sir“, sagte Halifax im lässigen Ton eines Mannes, der seine Karriere an der Börse begonnen hatte, und nicht durch Männchenmachen in irgendeinem Offizierskasino. Der General fragte nach seinen Wünschen. „Tee, Kaffee, Scotch?“ „Vom Tee komme ich gerade, Scotch erst, wenn ich weiß, was man von mir will, Sir.“ Der General nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Captain Halifax im Sessel davor. Neben dem Kamin hing eine riesige Wandkarte. Sie reichte über Europa hinweg bis weit in den Osten und Südosten hinein. Die Länder derjenigen Staaten, die sich bis zur Stunde mit Deutschland im Krieg befanden, waren rot schraffiert. – Das Kaiserreich und die k. und k. Monarchie sahen schon leicht umzingelt aus. „Sie sind Pionieroffizier, Captain Halifax“, begann der General. „Der Reserve, Sir.“ „Im Zivilberuf Börsenmakler.“ „An der Warenbörse, Sir“, verbesserte Halifax. Er schlug die Beine übereinander, was ihm trotz der engen Hose und der hohen Stiefel leichtfiel, denn ohne sportlich zu sein, hatte er doch die Figur eines Athleten. Im Grunde waren er und der General einander ähnlich, beide groß, hager, mit kantigen Gesichtern und jener Haut, die schnell rot wurde, wenn es draußen kalt war. „Hauptsächlich an der Ölbörse“, zeigte der General sich informiert. Sofort machte der Captain eine Einschränkung. 13
„Sagen wir, ich makle mit Energie, mit Petroleum, Kohle, Brennholz. Neuerdings auch mit Raffinerieprodukten, Teer und Schmierstoffen.“ „Richtig.“ Der General äußerte es, als habe Halifax ihm damit nichts Neues erzählt. „Und Sie kennen die wesentlichen Erdölgebiete dieser Erde , im amerikanischen Mittelwesten, im südlichen Mitteleuropa, in Rußland.“ „In etwa, Sir.“ Der Captain hoffte, daß sein Gegenüber endlich zur Sache käme, als der General zu einer längeren Ausführung ansetzte. „Unser Kriegsgegner, das deutsche Kaiserreich“, erklärte er, „ist eine Industrienation. Sie benötigt Energie. Täglich, stündlich. Den Eigenbedarf deckt sie vorwiegend mit Kohle, Wasserkraft und Petroleum. Deutschland hat auch eine starke Armee und eine beachtliche Flotte. Auch sie benötigen Energie, darstellbar in Kohle und Benzin. Abgesehen vo n den jetzt aufkommenden Dieselmotoren, die brauchen Petroleum. Unser Gegner besitzt Kohle im Überfluß, Petroleumquellen hingegen kaum. Sein Petroleum bezieht er vorwiegend aus rumänische n Ölfeldern. Wenn wir ihm den Zugang zu ihnen sperren, dann liegt unser Gegner binnen kurzem auf dem Boden.“ Halifax bezweifelte dies. Bis vor wenigen Monaten noch dachte man, man brauche einen Gegner nur von den Salpeterlieferungen abzuschneiden und er könne kein Schießpulver für seine Granaten mehr herstellen. Dann hatte die deutsche chemische Industrie künstlichen Salpeter erfunden und stellte ihn nun in genügenden Mengen her. Die Deutschen fanden vielleicht auch einen Weg, ihr Petroleum zu synthetisieren. „Aber das dauert Jahre“, versuchte der General den Einwand zu entkräften. „Bei rumänischem Petroleum“, gab der Captain zu bedenken, „werden die Transportwege sich kaum stören lassen. Sie befinden sich weitgehend im Machtbereich Österreich-Ungarns. Man müß14
te also die Quellen… Aber dazu brauchen Sie nicht mich, General.“ Der General hatte offenbar schon ein fertiges Konzept. „Sie sind Erdölfachmann, Halifax, und kennen die Ölfelder um Ploesti sowie die Ölhä fen.“ „Ich war nur ein einziges Mal dort, Sir.“ „Und Sie sind Pionieroffizier, ausgebildet im Umgang mit Sprengstoffen, Zündern aller Art et cetera und, wie man mir ve rsichert, sind Sie ein mutiger Mann mit großem Einfallsreichtum und Improvisationstalent.“ „Danke, Sir“, sagte Halifax. „Das dürfte aber wohl nicht ausreichend sein, um die nötigen Orts-, Sprach- und Detailkenntnisse zu ersetzen.“ Der General goß nun zwei Gläser mit Scotch voll. „Vormittags“, gestand er, „trinke ich ihn am liebsten. Da zeigt er noch Wirkung. – Aber weiter! Natürlich sind Sie nicht allein, Halifax. Sie kriegen zwei Experten zugeteilt. Einen Franzosen und einen Italiener. Beide wurden sie von den Geheimdiensten uns befreundeter Generalstäbe ausgesucht. Der Franzose ist Fachmann für Schiffahrt, Häfen und Binnenwasserstraßen. Der Italiener kennt Rumänien wie seine Hosentasche. Er hat die Erdölindustrie dort mit aufgebaut. Sie werden sich also wunderbar ergänzen.“ „Hoffentlich, Sir.“ Halifax dachte mit Schaudern daran, daß er weder Französisch noch Italienisch sprach. „Und morgen geht es los“, fügte der General noch hinzu. „Was, bitte, Sir?“ erkundigte Halifax sich, denn er schätzte klare Zielrichtungen. „Langfristig gesehen die Unterbindung der Petroleumlieferung Rumäniens an Kaiser Wilhelm und Kaiser Franz Josef. Kein Tropfen darf Rumänien verlassen. So lautet unsere Forderung.“ Nichts schwerer als das, dachte Captain Halifax. Es bedeutete 15
das gleiche, als würde man zum Donner sagen, hör auf zu dröhnen, zum Wind, hör auf zu wehen, und zu den Wolken, hört auf zu ziehen. Weil Halifax verstummt war, sagte der General noch: „Sie haben jede Unterstützung.“ „Danke, Sir.“ „Zuständig für Sie ist die Abteilung Mitteleuropa Schrägstrich Südost, das ist römisch sieben Strich Cäsar, glaube ich, sowie der Lord-Außenminister. Das war alles. Guten Morgen, Halifax.“
Es dauerte bis ins Jahr 1915 hinein, ehe Captain Halifax mit Unterstützung des französischen und italienischen Experten eine schlagkräftige Organisation aufgebaut hatte. In der Zwischenzeit verhandelten die Diplomaten des Foreign Office mit dem König der Rumänen. Es ging um die Entschädigung für geplante Zerstörungen, Die beträchtliche Summe, zahlbar in Gold, wurde vertraglich festgelegt Abgesehen von einigen Sabotageakten auf die Bahnlinien und die Donauschiffahrt, welche die Öltransporte kaum beeinträchtigten, ereignete sich im Jahre 1915 nicht allzuviel. Erst im dritten Kriegsjahr, 1916, schlug das Dreierteam Halifax-Lerand-Fabiani richtig zu. Bohrtürme wurden reihenweise gesprengt, Raffinerien nachhaltig sabotiert, Tankanlagen in die Luft gejagt. Diese umfangreichen Zerstörungen im rumänischen Erdölgebiet brachten Deutschland und Österreich um einen großen Teil des Petroleumnachschubs, den sie für die Kriegsführung benötigten. Im Jahre 1917 gingen die Lieferungen bis auf fünfzehn Prozent zurück, und es war abzusehen, wann die Petroleummotoren der deutschen Unterseeboote, die Fokker-Dreidecker des Manfred von Richthofen und die Panzer an der Westfront keinen Treibstoff mehr haben würden. 16
Nicht zuletzt führte auch dieser Mangel 1918 zur Kapitulation. Nach dem Krieg, den die drei Akteure überlebten, wurden Halifax, Lerand und Fabiani hoch geehrt. Fabiani, inzwischen Oberst, diente weiterhin in der italienischen Armee. Lerand wechselte ins Pariser Ministerium für Wirtschaft, und Colonel Halifax ging wieder an die Börse. Diesen drei Männern, die während des Krieges erfolgreich die rumänischen Öllieferungen unterbunden hatten, haftete bald ein legendärer Ruf an. In eingeweihten Kreisen nannte man sie Die Ritter vom Eisernen Tor. 3. Von offizieller Stelle wurde es nicht bekanntgegeben, aber es sickerte durch. – Einen Tag später stand es in allen rumänischen Zeitungen. Die Überschrift, fett und dreispaltig, bestand nur aus einem Wort: ULTIMATUM! Der nachfolgende Text erläuterte, wie das Ultimatum lautete und wer es an wen gerichtet hatte. Die Übergangsregierung in Rumänien wurde aufgefordert, unverzüglich die Verfolgung ehemaliger Geheimdienstangehöriger einzustellen. Sie wurde weiterhin aufgefordert, alle Gefangenen, die der ehemaligen Securitate angehört hatten, auf freien Fuß zu setzen sowie laufende Prozesse einzustellen. Dafür gewährte man der Regierung eine Frist von einer Woche oder sieben Tage oder einhundertachtundsechzig Stunden. – Sollten jedoch Armee, Regierung und Volk auf diese Forderung nicht eingehen, würde das Land in eine unvorstellbare Katastrophe gestürzt, die einmalig war in seiner Geschichte. Unterzeichnet war das Ultimatum mit dem Namen Sieg oder Tod. 17
Der BND-Agent Nr. 18, Robert Urban, erfuhr davon über Autotelefon, als er nach Traunstein unterwegs war. Vor der Polizeigarage, wohin man das Jaguarwrack geschleppt hatte, erwartete ihn ein Kriminalbeamter, Typ Jäger von Kurpfalz. „Schon von diesem Ultimatum gehört?“ fragte der Polizist „Wenn das keine Sauerei ist.“ „Bekam es eben durch.“ „Ob der Unfall damit zusammenhängt?“ „Deshalb bin ich hier.“ „An dem Schrotthaufen finden Sie aber nichts, Oberst Urban.“ „Das fürchte ich. Muß ihn aber trotzdem sehen.“ „Klaro. Gefühlsmäßig ist das wichtig.“ Der Jaguar sah aus, als hätte man ihn durch die Maschine für eiserne Bandnudeln gedreht und dann zusammengeknüllt. Die Fachleute hatten sich scho n darum gekümmert. Sie hatten alles Wichtige wie Bremsen, Lenkung, Tank, Räder und Bereifung überprüft. „Sabotage lag nicht vor“, sagte der Kriminalobermeister. „Vielleicht vom lieben Gott“, meinte Urban, „in Form von Glatteis.“ „So wird es wohl gewesen sein. – Oder auch anders.“ „Was war im Gepäck?“ „Das Übliche. Maßanzüge, Wäsche, Hemden, Socken, Schuhe. Alles erste Qualität, versehen mit englischen Etiketten.“ „Ist es auch britische Ware?“ „Nur zum Teil.“ „Zu welchem Teil?“ „Nun, die Etiketten sind echt.“ Urban schlich um den Haufen edlen Jaguarschrotts herum und fragte zwei wichtige Stationen ab, sein Hirn und seinen Bauch. Von beiden kam das Signal: bringt nichts. Negativ. Er steckte sich eine Goldmundstück-MC an und wandte sich an den Kriminalbeamten. 18
„Jetzt die Leiche.“ Der Polizist fuhr voraus, Urban hinterher. Es ging nur um ein paar Ecken, bis zum Kreiskrankenhaus. Dort hatten sie den Rumänen in einem kühlen Keller liegen. Als sie vor der Leiche standen, sagte der Kriminalbeamte: „Im Grunde bin ich enttäuscht von Ihnen, Oberst Urban.“ „Das sind alle, die mich näher kennen.“ „Ihnen geht ein Ruf voraus, der Stein und Eisen bricht. Sie aber stehen herum, Lulle zwischen den Zähnen, Hände in der Tasche, wie mir scheint völlig desinteressiert.“ „Ich bin hier fehl am Platz“, gestand Urban. „Der Schein trügt also nicht.“ „Warum kommen Sie dann her.“ „Eine berechtigte Frage, denn der BND hat im Inland keine Kompetenzen.“ „Gehen wir wieder?“ „Moment noch“, bat Urban. „Es handelt sich hier um eine grenzüberschreitende Angelegenheit.“ „Klar, der Mann kommt aus Rumänien.“ Urban ersuchte den anwesenden Arzt, den Toten aufzudecken. „Nur bis zum Nabel“, wünschte Urban. „Und würden Sie bitte den linken Arm des Toten so zur Seite bewegen, daß die Achsel sichtbar wird.“ Die Leichenstarre war längst vorbei. Der Ar m ließ sich bewegen. Die Achsel kam frei. Urban deutete auf eine Tätowi erung. Es handelte sich um drei Punkte, angeordnet wie ein Dreieck. „Fiel uns gar nicht auf, sagte der Kriminalbeamte. „Man findet es nur, wenn man davon weiß.“ „Sie wissen davon?“ „Man hat mir während eines Einsatzes in Rumänien davon erzählt.“ „Gefangene im KZ hatten auch solche Tätowi erungen.“ „Ebenso SS-Leute. Man stempelte damit seine Elite ab.“ 19
„Und was ist die Dreipunkteelite?“ fragte der Arzt. „Alle Agenten der rumänischen Securitate“, eröffnete Urban ihnen. Damit war endgültig klar, daß dieser angebliche Engländer namens Simpson ein Kurier des rumänischen Geheimdienstes gewesen war. „Wir vermuteten es“, bemerkte der Kriminalbeamte ein wenig altklug. „Nun wissen wir es“, stellte Urban fest. „Aber was bringt es uns?“ „Die Annahme, daß dieser Mann unterwegs war, um einen Auftrag durchzuführen.“ „Der mit dem Ultimatum in Bukarest zusammenhängt?“ Urban wußte es nicht, schaute sich den Toten jetzt aber sehr genau an. „Was fand man bei seinen Papieren?“ „Nichts von Bedeutung.“ „Eine Anlaufadresse in Westeuropa vielleicht?“ „Weder noch. Er hatte lediglich mehrere tausend Dollar, Franken und D-Mark an Devisen bei sich.“ Urban bat um eine Lampe und leuchtete in das schüttere Haar des Toten. Weder dort noch direkt auf der Kopfhaut hatte er etwas verborgen. Der Arzt erriet Urbans Gedanken. „Ich habe ihn untersucht“, erklärte der Pathologe. „Überall. In allen Körperöffnungen, sogar in den Ohren. Er hat nichts containiert, auch nicht im Darm.“ Urban nickte nur und betrachtete den hellen Streifen, den die Uhr am linken Handgelenk hinterlassen hatte. „Die Uhr und alles andere ging zum Landeskriminalamt“, äußerte der Kriminalbeamte. „Und von dort zum BKA“, ergänzte Urban. „Ergebnis natürlich negativ.“ 20
Automatisch wanderte Urbans Blick von den Armen zu den Händen des Toten, weiter zum Ende der Hände und zu den Fingernägeln. Sie hatten dunkle Färbung angenommen. Bis auf einen. „Was ist mit dem da?“ Urban deutete auf einen Fingernagel der rechten Hand. „Unterschiede in der Verfärbung kommen vor“, meinte der Arzt. „Wieso?“ „Angenommen, es liegt eine Verletzung vor oder schon einige Zeit zurück, dann können sich gewisse Hautstrukturen verändert haben, und die Verfärbung verläuft anders. Sie tritt langsamer ein oder gar nicht.“ Urban bat um die Lupe. Ohne die Leiche zu berühren, betrachtete er den deutlich helleren Nagel des rechten Zeigefingers, reichte die Lupe zurück und stellte fest: „Über dem gewachsenen, also natürlichen Fingernagel befindet sich ein künstlicher.“ Arzt und Kripobeamter überprüften es und bestätigten zögernd Urbans Behauptung. „Gutes Auge, Oberst“, lobte der Kriminalbeamte. „Was jetzt?“ Als nicht einmal zuständiger Beobachter bat Urban den Arzt, er möge den aufgedoppelten Fingernagel ablösen. Der Arzt verschwand und kam mit einem Chirurgenbesteck wieder. Es dauerte einige Zeit, bis er mit dem scharfen Skalpell den falschen vom echten Nagel gelöst hatte. Mit der Pinzette hielt er Urban das Stück hin. „Plastik. Nichts sonst“, befand der Kripobeamte. „Wozu dann die Prozedur?“ murmelte Urban zweifelnd. „Zum Zweck der Schönheit. Der alte Nagel sieht recht jämmerlich aus. Oder aus purer Eitelkeit, Was weiß ich?“ Urban nahm den Kripobeamten beiseite. „Muß der Nagel zu den Asservaten?“ 21
„Sie meinen, ob ich es für wichtig erachte, ihn an das Landeskriminalamt weiterzuleiten?“ „Genau in diesem Sinne,“ Der Beamte hielt den Nagel ans Licht. Es war nur ein rosagefärbtes Plastikding. „Ich schenke es Ihnen, Oberst Urban.“ „Danke.“ Urban legte den künstlichen Fingernagel zwischen zwei Lagen eines frischen Papiertaschentuches. Als sie sich draußen verabschiedeten, fragte der Beamte: „Was versprechen Sie sich von diesem Stück Hartplastik?“ „Wenig“, erwiderte Urban. „Ist nur ein Souvenir. Von allen nicht weiterverfolgten rätselhaften und ungelösten Fällen lege ich eine Sammlung von Erinnerungsstücken an. Als ständigen Hinweis darauf, wo unsere Grenzen liegen.“ „Sie sind mir schon einer!“ rief der Traunsteiner Kriminalbeamte hinter ihm her. Urban fuhr nach München zurück. Im BND-Hauptquartier brachte er den Fingernagel sofort ins Stralman-Labor.
Es war einfach, beinah primitiv. Erwärmung machte die Schrift mit unsichtbarer Tinte erkennbar. „Kleine Flöhe für einen Chemiker“, belächelte es der Professor Stralman, der Veränderliche, heute trug er das Haar wie Einstein und den Goldrandzwicker wi e Molotow, trat aus dem Labortrakt in sein Büro, In einer Porzellanschale hatte er den Fingernagel. Er setzte sich erst einmal hin, dann erklärte e r todernst: „Eigentlich würde ich sagen, das ist der Fingernagel von Marilyn Monroe oder einer dreißigjährigen Blondine, die tadellos beisammen ist, nur leider einen zu großen Busen hat.“ 22
„Aber…“, setzte Urban nach. „Leider ist es nur ein Stück zeigefingernagelförmig gebogenes, zugeschnittenes und eingefärbtes Hartplastik, passend auf eine Proletenhand.“ Erst jetzt erzählte Urban ihm, woher das Ding stammte. Stralman, der BND-Oberingenieur, nahm den Nagel mit der Pinzette und hielt ihn an die Lichtquelle seiner Schreibtischlampe. Mit bloßem Auge erkannte Urban jetzt die winzigen Zeichen darin. Es waren Punkte, Striche und kleine Haken. Stralman benutzte zur Entzifferung die Lupe. „Erste Zeile: Orion. – Zweite Zeile: MS-Halifax. – Dritte Zeile: Z-Burrli. Die dritte Zeile ist schwe r zu entziffern.“ „Das andere ist für mich mindestens ebens o schwer decodierbar.“ Stralman reichte Urban Lupe und Objekt. Urban konnte die Angaben des Professors nur bestätigen. „Orion ist ein Sternbild“, sagte er. „MS-Halifax klingt britisch. MS bedeutet Majestic Ship. Gibt es ein Kriegsschiff der Royal Navy mit dem Namen Halifax?“ Ehe sie sich der Bedeutung von Zet zuwandten, wurde im Lloyd’s Schiffsregister nachgeblättert. „Die Halifax ist ein uralter Zerstörer. Baujahr anno vierundzwanzig. Er schützte im letzten Krieg noch Geleitzüge, wurde aber bald außer Dienst gestellt und verschrottet.“ Urban ließ seiner Phantasie freien Lauf. „Der Tote ist Rumäne. Er war Angehöriger des Geheimdienstes Securitate und fuhr einen Jaguar, der laut Auskunft des Herstellerwerkes letzten Sommer an Ceausescu geliefert wo rden war. Der tote Agent reiste mit einem britischen Paß. Dü rfen wir also annehmen, daß er nach England unterwegs war… oder gehen wir damit schon zu weit?“ „Angenommen, er war nach England unterwegs“, kombinierte Stralman weiter. „War er dann auch in der Sache Orion unterwegs?“ 23
Urban fiel das Ultimatum ein. Möglicherweise hatte Orion etwas damit zu tun. Aber was? „Dann bedeutet MS-Halifax etwas anderes“, vermutete er. „Halifax als Name eines Mannes etwa?“ „Und MS ist die Adresse. Was kann MS bedeuten?“ Sie wälzten erst einmal britische Telefonbücher, dann ein Heft mit Postleitzahlen und am Ende die Liste mit den Vorwahlnummern der verschiedenen Grafschaften. Einer von Stralmans Mitarbeitern fand etwas heraus. „MS“, rief er. „Ich hab’s! Maidstone, Sussex.“ Urban erinnerte sich. Maidstone lag südöstlich von London auf den Ärmelkanal zu, aber in der Grafschaft Kent. „Liegt Maidstone nicht in Kent?“ „Kann sein. Moment mal. – Ja, richtig, aber Kent grenzt an Sussex. Ein Bursche vom Balkan kann sich leicht mal um zehn Meilen vertütern, oder?“ „Und Zet?“ fragte der Professor. „Was ist Zet? Ich meine, wo wir schon auf der heißen Spur sind.“ „Zet wie Ziegenkäse.“ „Bleiben wir doch bei der Geographie“, schlug Urban vor. „Zet wie Zoppau.“ „Der falsche britische Reporter Simpson kam von Bukarest und benutzte in der Bundesrepublik die Autobahn Salzburg-München. Frage: Wenn er nach London wollte, wäre er da nicht über Passau-Regensburg-Nürnberg-Würzburg-Frankfurt schneller durchgekommen? Fuhr er über München, weil er vorher nach Zet wo llte? Dann ist Zet weder Zoppau noch Zotzenheim noch Zimmerschied, sondern Zürich.“ Urbans Theorie fand keinen Widerspruch. Nur Stralman bohrte: „Und Bum?“ „Bleiben also Orion und Burri. Kümmert euch darum, Amigos.“ Urban wollte das Basement verlassen, doch der Professor hielt ihn zurück. 24
„Neues Produkt meiner Schwarzbrennerei“, flüsterte er ve rschwörerisch. Aus seinem Chiemgauer Bauernschrank, der so gar nicht in das Stahl-Glas-Leder-Büro paßte, nahm er eine Flasche mit völlig schwarzem Inhalt. Er goß die tintige Brühe in zwei Gläser und prostete Urban zu. Urban zögerte noch. „Was ist das? Kaffernsaft?“ „Mein kleines Geheimnis.“ Der Professor trank. Wenn er es zu sich nahm, mußte es nicht unbedingt tödlich wirken. Also kippte auch Urban das giftige Gesöff. Es war absolut geschmacklos und ungefähr so hochprozentig wie Quellwasser. „Erstklassiger Stoff, wie?“ fragte Stralman lauernd. „Na fabelhaft. Das kann man auch einem Säugling mit dem Lutscher geben.“ Stralman lächelte. „Aber nur in der Verdünnung eins zu X-Y-Zet.“ Den Rest hatte Urban schon nicht mehr gehört. Vom Magen her loderte eine Stichflamme nach allen Seiten. Die Hitze trieb ihm das Wasser aus den Poren. Er wankte, mußte sich festhalten und dann hinsetzen. Was er mit den Augen und den Ohren aufnahm, wurde unscharf. Doch es ging rasch vorbei. „Das war die Verdünnung eins zu hundert“, sagte Stralman, „keine KO-Tropfen. Haut aber Elefanten um. Ohne Nebenwirkungen. Du trittst die Reise ins Land der Träume an und kehrst nach Belieben wieder.“ „Wann? Eines Tages, nächstes Jahr?“ ,,Kommt auf die Verdünnung an.“ Urban schob die Flasche beiseite. „Die Farbe ist noch verbesserungswürdig.“ „Daran arbeite ich“, versicherte Stralman. „Aber das dauert. Inzwischen haben wir in der Bundesrepublik einhundertsechzig 25
Feiertage, und es werden immer mehr. Bleibt mir fast keine Zeit mehr zu arbeiten. – Woran arbeitest du, mein Junge?“ „Woran schon“, antwortete Urban. „Es ist immer dasselbe. Eine Mischung aus Wirtschaft, Politik und Verbrechen übt die wahre Macht auf Erden aus.“ „Und das Böse ist ein Gigant.“ Merkwürdig, diese schwarzen KO-Tropfen. Sie brachten einen hoch, als hätte man eine Prise Kokain eingezogen. Die Euphorie des BND-Agenten Nr. 18 erhielt einen nachhaltigen Dämpfer, als der Chef der wissenschaftlichen Abteilung ihm folgendes e rklärte. „Der Tod dieses Rumänen ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Die Annahme, daß er und seine Hintermänner mit dem Ultimatum zu tun haben, liegt nahe. Eine Rückkehr der alten Verhältnisse in Rumänien kann sich auf die We nde im Ostblock verheerend auswirken. Deshalb sind wi r gefordert.“ Der einzige Trost, der Urban blieb, war der Umstand, daß er die Sache so angehen konnte, wi e er solche Sachen immer anging. Erst nörgelte er noch herum, dann ließ er einen Flug nach London buchen, inklusive Leihwagen ab Heathrow. 4. „Seit heute morgen vier Uhr wird zurückgeschossen.“ Diese Worte Adolf Hitlers am 1. September des Jahres 1939, über den Großdeutschen Rundfunk verbreitet, waren kaum ve rklungen, da rollten die Armeen von Schlesien, Westpreußen und über die Slowakei nach Polen hinein. Da Frankreich und Großbritannien mit Polen zweiseitige Garantieverträge abgeschlossen hatten, zog Hitlers Angriff die sofortigen Kriegserklärungen aus London und Paris nach sich. Sie erfolgten am dritten September. Die deutschen Truppen nahmen Polen in einem wahren Blitz26
krieg. Nach drei Wochen kapitulierte Warschau. Genau siebenunddreißig Tage nach Beginn der Offensive erlosch der letzte polnische Widerstand. Der 6. Oktober war in Paris ein sonniger Tag. Vor einem Cafe am Boulevard St. Michel saß Alain Dumont. Er war Reserveoffizier und Capitaine der französischen Eisenbahn-Artillerie, aber dem Geheimdienst zugeteilt. Er trug also Zivil und benahm sich auch so. Er hatte ein rundes Gesicht, kleine Ohren und wirkte tapsig wie ein Bär. Daß er dem Geheimdienst angehörte, verdankte er seiner Erfahrung als Eisenbahnexperte. Dumont rauchte ununterbrochen Maispapierzigaretten. Erst spielte er mit seinen Streichhölzern, dann ließ er die Schachtel so stehen, daß sie mit der Schmalseite nach oben zeigte. Der Garcon kam. Dumont bestellte ein Glas Rotwein und eine Portion heißen Zwiebelkuchen. Dann tat er, als genieße er, zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen, den warmen Herbsttag. Dabei beobachtete er die anderen Tische, Drüben links saß ein Bursche, ungefähr seines Alters, aber vom Typ her eher ein eleganter Intellektueller. – Der konnte es sein. Dumont irrte sich nicht. Der Mann bekam Rotwein mit Zwiebelkuchen und stellte seine Streichholzschachtel ebenfalls aufrecht hin. Fehlte noch der dritte. – Wo blieb der dritte Mann? Längst hatte Dumont seine Quiche lorraine ve rdrückt und seinen Rotwein getrunken, doch der dritte Mann kam nicht, und der zweite, auf welchen Dumonts Blick gefallen war, begann unruhig zu werden. Er schaute immer häufiger auf die Uhr. Schließlich trat jemand von hinten an Dumonts Tisch. Er sah aus wie ein Naturbursche und trug einen Anzug aus Manchesterstoff. Mit linkische n Bewegungen stellte er seine Streichholzschachtel neben die von Dumont. 27
„Zwiebelkuchen ist leider ausverkauft“, sagte er in niederländisch gefärbtem Französisch. „Van Daam?“ fragte der Franzose. „Aus Leyden.“ „Ich bin Dumont.“ Der Holländer machte eine Kopfbewegung zu dem Tisch links. In seinen Augen war zu lesen, daß er listig sein konnte und trickreich. „Ist das unser Partner. Wollen wir ihn rüberholen?“ Ohne die Meinung Dumonts abzuwarten, ging der Holländer hinüber, bat um Feuer, nahm die Streichhölzer, steckte seine Pfeife an und stellte die Schachtel wieder aufrecht hin. „Das sind nicht meine Streichhölzer“, sagte der elegante Intellektuellentyp im englischen Tweedanzug. „Sie irren sich.“ „Nein, das sind holländische.“ Van Daam öffnete seine Hand. „Und das sind britische, Mister Gregory. Oder soll ich sagen Major Gregory?“ Der Engländer reagierte mit der Andeutung eines Lächelns. Die drei Herren bezahlten und schlenderten dann den Boulevard St. Michel hinunter in Richtung Seinebrücke. Dort gab es eine Bar mit Nischen, wo man ungestört war.
Jeder der drei wußte, woher die anderen kamen und wer sie hier zusammengeführt hatte. Van Daam galt als Fachmann für Kanäle, Binnenwasserstraßen, Deich- und Hafenbau. Der Engländer war ein in der Welt herumgekommener Spezialist für Ölraffinerien. – Das Team vervollständigte sich durch den Eisenbahn- und Brücken-Ingenieur Dumont. Zusammengebracht hatten sie die Aufklärungsabteilungen 28
der Generalstäbe auf Anregung eines gewi ssen Oberst Halifax. Dieser, ein älterer Reserveoffizier der britischen Armee, hatte schon im ersten Weltkrieg an geheimer Front gekämpft und war mittlerweile um die fünfzig. „Wie“, fragte der Holländer ein wenig ratlos, „komme ich als Neutraler eigentlich zu dieser Ehre?“ „Sie werden nicht mehr lange neutral bleiben“, fürchtete Dumont. „Wir stehen im Krieg mit Deutschland. Wenn die Deutschen uns je angreifen, machen sie es wieder nach dem alten Schlieffenplan. Mit starkem rechten Flügel schwenken sie um die Drehachse Aachen und putzen erst einmal Holland, Belgien und Luxemburg weg.“ ,,Dazu zwingt sie die Maginotlinie“, bemerkte der Holländer. „Frontal können sie nicht gut angreifen.“ Der Engländer bremste die Diskussion. „Das kann so kommen, muß aber nicht, Gentlemen. Wir hingegen sind dazu ausersehen, etwas beizutragen, damit Hitler so schnell wie möglich die Luft wegbleibt, sprich das Rohöl.“ Bevor sie in Einzelheiten gingen, wollte der Franzose wissen, wer das ganze Projekt angeregt hatte. „Lag es sozusagen in der Luft, oder gibt es dafür Pläne? Lagen sie schon in den Schubladen der Generalstäbe?“ „Schon seit dem ersten Weltkrieg“, erklärte der Engländer. „Im Londoner Kriegsministerium wies ein gewisser Oberst Halifax darauf hin, wie ungeheuer wichtig dieses Projekt sei.“ „Halifax?“ der Franzose schüttelte den Kopf. „Wer ist dieser Knabe?“ „Er ist nur Kriegshistorikern ein Begriff, und zwar unter der Markenbezeichnung: Der Ritter vom Eisernen Tor.“ Der Engländer erzählte von den drei Männern und ihrem Einsatz 1914 bis 1918 am Balkan. „Dann sind wir also die Erben der Ritter vo m eisernen Tor“, stellte van Daam fest. 29
„Nein“, äußerte der Brite. „Wir sind die nächste Generation und, wie ich hoffe, ebenso erfolgreich wie diese alten Knacker. Wie war’s mit three cheers auf unsere Vorgänger – und dann reden wir nicht mehr von ihnen.“ Der Garcon brachte Cognac. Sie tranken. Vo n jetzt an ging es nur noch um die aktuellen Probleme des Jahres 1939.
Die Pläne des neuen Teams fußten auf den Erfahrungen der alten Ritter-Garde. „Inzwischen sind aber zwanzig Jahre ins Land gegangen“, warnte der Engländer. „Da unten am Balkan hat sich inzwischen doch eine Menge verändert.“ Sie trafen sich täglich im Hauptquartier des Deuxièmebureau und brüteten über Land-, See- und -Eisenbahnkarten. „Diesmal muß es besser laufen“, forderte der Franzose. „Ruck, zuck! Vor allem müssen die Zerstörungen gründlicher und nachhaltiger durchgeführt werden.“ „Eine Streitmacht wie die Hitlers braucht täglich Tausende von Tonnen Benzin und Diesel.“ „Seine Vorräte reichen nach Agentenmeldungen nur für vierundzwanzig Tage.“ „Aber er destilliert in Leuna Kohlenwasserstoffe aus Kohle“, wandte van Daam ein. „Nicht genug.“ „Nur so zwingt man ihn auf die Knie. Sein Erz holt Hitler aus Schweden, Bauxit für Aluminium hat er selbst genug, ebenso Kohle. Aber was ihm in der Hauptsache fehlt, ist Rohöl.“ Auf Basis der Erkenntnisse, welche die Ritter vom eisernen Tor mit Sabotagen im rumänische n Erdölgebiet gesammelt hatten, entstanden die neuen Strategien. „Wichtig ist vorerst die Störung des Transportes“, erklärte der Franzose. 30
„Aber was gar nicht erzeugt wird“, wandte der Engländer ein, „kann auch nicht transportiert werden.“ „Weder zur See noch auf der Donau“, steuerte der Holländer bei. So kam man überein, daß es wichtig sei, an allen Fronten anzugreifen. Diesmal würde man gleichzeitig den Transportweg, die Ölfelder und die Raffinerien auszuschalten versuchen. „Die ganze Infrastruktur, fordern die Generalstäbe.“ „Wie schlagen wir bei den Bohrfeldern zu?“ „Man sprengt die Türme und setzt die Quellen in Brand.“ „Dann kommen die Raffinerien.“ „Man organisiert Streiks, zerstört Kraftstationen und Hydrierwerke.“ „Wie geht man bei den Tanklagern vor?“ „Mit Brandsätzen.“ „Und bei den Transportwegen?“ „Durch Sprengung der Eisenbahnbrücken.“ „Weil sie dann alles auf Schleppzüge und Tankschiffe umladen, muß auch die Donau dichtgemacht werden“, erwähnte van Daam. „Wie und wo?“ „Zumindest eines weiß ich“, äußerte der Holländer. „Der Name Die Ritter vom Eisernen Tor kommt daher, daß unsere Vorgänger einen eisernen Riege l vorschoben. Und wo macht man das? – Dort wo die Donau am engsten ist.“ Binnen weniger Wochen waren die Pläne samt Kosten ausgearbeitet. Jetzt mußte nur noch Rumänien, dessen Schutzmacht England ebenfalls war, überzeugt werden. Aber mit dem geld- und machtgierigen König Carol würde man wohl fertig werden. Noch im November des Jahres 1939 stimmten hochgestellte französische und englische Politiker und Generäle den Plänen der drei Experten zu. 31
Der Oberbefehlshaber des französischen Heeres, General Gamelin, der französische Außenminister und der britische Premier Arthur Neville Chamberlain erklärten sich einverstanden. 5. Sein erster Weg in London führte Robert Urban zu einem Postamt, in dem alle Telefonbücher der Insel auflagen. Im Bereich Sussex gab es kein Maidstone. Also suchte er es im Bereich von Kent. Dort lebten jede Menge Halifax. Sie alle zu überprüfen war wie eine Examensarbeit über Wald- und Wiesengräser, von denen es Zehntausende gab. Das hätte ihn wochenlang beansprucht. Also bediente er sich der Hilfe der Kollegen vo n MI-5, des britischen Inland-Geheimdienstes. Dessen Zentrale lag im Leconfield-House zwischen den feudalen Nachtclubs der Curzon Street und Scotland Yard. Bei MI-5 verwies man Urban an einen Mann namens Hamlock, den Chef der Personenaufklärung. Hamlock, ein blaßgesichtiger, geschniegelter Bursche im 500-Pfund-Maßanzug, parfümiert wi e eine Operettendiva, war so schlank, daß der Ve rdacht aufkam, er trage ein Korsett. Aber wenn man ihm diese Position anvertraute, war er wohl ein As. Urban trug ihm sein Anliegen vor. Hamlock zeigte sich ungeheuer hilfsbereit „Es geht also um einen oder eine Halifax aus Maidstone. – Sollte zu finden sein.“ „Es gibt leider ein paar hundert davon.“ Für den Engländer war dies eine Selbstverständlichkeit „Halifax ist weder ein ausgefallener Name noch ein alltäglicher. Also in keiner Weise außergewöhnlich. Hätten Sie vielleicht noch ein paar Kriterien, mit deren Hilfe…?“ „Leider nein“, bedauerte Urban. „Wir wissen nicht, ob es ein 32
Ding, eine Sache oder ein Mensch ist, ob der Mensch jung oder alt, Mann oder Frau ist Nur soviel ist bekannt, daß dieser Halifax möglicherweise einmal mit Rumänien zu tun hatte.“ „Rumänien.“ Über das aalglatte Gesicht des Engländers zuckte es erst, dann entwickelte sich daraus ein arrogantes Grinsen. „Und deshalb kommen Sie extra zu mir?“ „Wie darf ich das verstehen?“ „Colonel Halifax, den strahlenden Helden, de n Ritter vom eisernen Tor, den kennt doch jedes Kind.“ „Möglicherweise jedes britische Kind“, schränkte Urban ein und wartete auf Einzelheiten. Hamlock belehrte ihn umgehend. „Colonel Halifax, mit höchsten Orden ausgezeichnet – er wurde sogar geadelt –, gehörte im ersten Weltkrieg zu jenen drei Mä nnern, die die rumänischen Erdölfelder zerstörten und Kaiser Wilhelm dadurch den Petroleumhahn zudrehten. Das hat den Krieg verkürzt, Hunderttausenden vo n Soldaten den Tod erspart. Man nannte Halifax und seine Kameraden auch Die Ritter vom Eisernen Tor, was wohl mit der Donauenge zu tun hatte, die sie sperrten.“ „Und wer waren die anderen zwei Ritter?“ „Ach, irgend so ein Franzose und ein Italiener“, erwiderte Hamlock herablassend. „Halifax war es auch, der im zweiten Weltkrieg die rumänische Ölkiste wieder in Schwung brachte. Sicher hatte er gute Freunde in Bukarest.“ „Vielleicht hat er jetzt auch schlechte Freunde“, mutmaßte Urban. Der MI-5-Beamte winkte lässig ab. „Nein, wohl eher gar keine Freunde mehr. Soviel ich weiß, ist Colonel Halifax verstorben. Bei Beginn des ersten Weltkrieges war er Reservecaptain und zählte mindestens fünfundzwanzig Lenze. Dann wäre er heute… Moment…« Der Engländer griff zu seinem Taschenrechner. „Hundert“, sagte Urban. „Na ja, hundertundzwei Jahre ungefähr. So alt wird nicht einmal 33
ein Maidstoner, von denen man sagt, sie würden so alt, daß man sie irgendwann erschlagen muß.“ Es war kein ganzes Ergebnis und kein halbes. Immerhin bekam Urban die Adresse des alten Ritters und den Namen des Cottage, wo er seine letzten Jahre verbracht hatte. Hamlock telefonierte sie aus dem Archiv zusammen. Dann wünschte er Urban viel Glück.
In dem efeubewachsenen Landhaus in Headcorn bei Maidestone in der Grafschaft Kent wohnten längst andere Leute. Die Erben des Colonel Halifax hatten es erst vermietet und dann, weil es immer nur Ärger mit den Mietern gegeben hatte, schließlich ve rkauft. Das erfuhr Urban, noch an der Tür stehend, von der jetzigen Eigentümerin. Sofort gewann er den Eindruck, daß die resolute, füllige Lady in der Küchenschürze eine Menge über das wußte, was man Tratsch nannte. Und sie gehörte zu jenen Frauen, die gern darüber sprachen, was sie wußten. Sie bat Urban herein. Erst bewunderte Urban ihre Arglosigkeit einem Fremden gegenüber. Doch rasch änderte er seine Meinung, als er vor dem Kamin das Riesentier vo n Dobermann sitzen sah. Der Dobermann brummte und fletschte die Zähne. „Brav sein, Baby!“ rief die Lady. Urban erfuhr alles über die Grafschaft und über das miese Wetter in Kent. Angeblich kam von hier all das, was England regen-, wind- und nebelmäßig berühmt machte. Dann erfuhr er alles über die Freunde der Lady. Er brauchte nur anzutippen, und schon erzählte sie von der Familie des Sir Halifax. „Er hatte Kinder und Kindeskinder, also Enkel. Lauter undankbares ausgeflipptes Gesindel. 34 Sie stürzten sich wie Geier
bares ausgeflipptes Gesindel. Sie stürzten sich wie Geier auf das Erbe und brachten das Vermögen durch. Alles verjubelt. Ich und mein Mann haben dieses Anwesen sehr billig geschossen. Man sagt doch geschossen, oder?“ Urban nickte. „Ja, Madam, Ringeltauben schießt man in der Regel.“ „Ach, Sie Scherzbold“, entzückte sich die Lady. Im Verlauf des Gespräches erfuhr Urban, daß der alte Sir Halifax sich die letzten Jahre vor seinem Tod nicht mehr aus Headcorn fortbewegt hatte. Höchstens bis Maidstone zu seinen Kumpels, in eine Bar, wo sie sich oft trafen und sich allmählich zu Tode soffen. „Mit Gin. Nicht einmal mit Whisky. Was für ein Sittenverfall, wenn Sie mich fragen.“ Bevor sie Urban den üblichen Tee und das bekannt steinharte englische Gebäck anbot, verabschiedete er sich höflich und warf dem Hundebiest noch einen bösen Blick zu. Der Hund knurrte hinter ihm her. Urban hörte die Lady sagen: „Nun sei aber bitte brav, Baby Darling, das war doch wirklich ein wohlerzogener feiner Gentleman.“
Der Pub war leicht zu finden. Jeder kannte den Iron Knight, den Eisernen Ritter – ein Backsteinhaus mit weißem Fachwerk. Urban schätzte, daß der Wirt seine Kneipe Sir Halifax zu Ehren so genannt hatte. Nachdem Urban seinen Miet-Rover draußen geparkt hatte, betrat er die niedrige Gaststube, schaute sich in der Düsternis um und entdeckte viel dunkles Holz, Leder und Messing. In der Ecke bei einer Ritterrüstung hingen massenhaft Bilder. Offensichtlich die Altarnische des Lokals. Urban nahm Platz. 35
Der Barmann kam zu ihm. Dann aber ging das Telefon. Der Barmann entschuldigte sich, machte kehrt und telefonierte erst einige Zeit. Indessen schaute Urban sich in der Traditionsecke des Iron Knight um. Vergilbte Fotos von ürigen Männern in Uniform hingen unter Glas in schmalen Teakholzrahmen. Sie waren alle mit gravierten Messingschildern versehen. Auf dem großen Foto stand Colonel Sir Thomas Halifax. Das Foto mit den drei Grufti-Typen war betitelt: Die Ritter vom Eisernen Tor 1918 nach dem Sieg. Darunter die Namen: Halifax, Lerand, Fabiani. In der mittleren Reihe hingen Fotos von zerbombten Tankanlagen, Brücken, Eisenbahngleisen und brennenden Öltanks. Dann kam wieder ein größeres Foto mit drei Herren. Sie waren aber bedeutend jünger; Die Fototechnik entsprach jener der vierziger Jahre. Das Messingschild nannte sie Die Söhne der Ritter vom Eisernen Tor. Ihre Namen zu entziffern, dazu kam Urban nicht mehr. Der Barmann baute sich vor ihm auf. „Sir?“ „Ein Bier!“ „Ale dunkel, Import, französisches, deutsches, Pilsener?“ „Nein, lieber einen Scotch.“ „Einfach, doppelt, mit Eis oder Wasser?“ „Nur pur, Scotch mit Scotch bitte.“ Der Barmann in der bodenlangen weißen Schürze, die eng um ihn herumgewickelt war und ihn gewiß beim Gehen behinderte, hatte offenbar noch ein Anliegen. „Haben Sie etwa keinen Scotch?“ „In jeder Menge, Sir. Aber Sir, dies hier ist de r Stammtisch der Veteranen. Er ist immer reserviert, Tag und Nacht. Sieben Tage in der Woche. Würde es Ihnen etwas ausmachen, anderswo Platz zu nehmen? Die Traditionen, Sir. Sie verstehen.“ 36
„Klar.“ Urban wechselte den Platz. Er ging an die Bar und versuchte, mit dem Keeper ins Gespräch zu kommen. Beim zweiten Scotch fürchtete er, daß ihm dies wohl nicht gelang. Nicht mit dem angeschlagenen Thema. Bei Pferden, Autos, Kricket und Frauen wäre das sicher mühelos geglückt, aber nicht beim Thema Colonel Halifax. „Ich bin neu hier“, erklärte der Barmann. „Arbeite erst seit elf Jahren in dem Laden. Ihre Frage kann nur der Chef beantworten.“ „Ich möchte ihn sprechen.“ „Der Chef ist zur Jagd.“ „Wann kommt er zurück?“ „Ach wissen Sie, Sir“, sagte der Keeper Gläser putzend, „nach der Jagd fährt er erst mal fischen.“ „Und nach dem Fischen?“ bohrte Urban geduldig. „Wie ich hörte, besucht er dann seine Tochter in Schottland.“ „Und im Sommer?“ fragte Urban, weil noch Winter war. Der Barmixer rief einer Putzfrau, die, hinter Urbans Rücken vorbeiging, etwas in einem Dialekt zu, den Urban nicht verstand. „Sie belieben zu scherzen, Sir“, sagte der Barmann. Urban blieb jedoch hautnah am Thema. „Und wer gehört alles zum Traditionsclub der eisernen Ritter?“ wollte er wissen. „Kommen Sie im Sommer wieder, Sir“, wich der Keeper aus. „Da ist dann der Chef selbst im Haus und gewiß gerne bereit, alle Ihre Fragen zu beantworten.“ Urban leerte den dritten Scotch. Er hatte das Gefühl, daß er hier auf Eisen stieß oder etwas an ihm vorbeilief. Als er bezahlt hatte und sich umdrehte, wußte er, was an ihm vorbeigelaufen war. In der Altarecke stand nur noch die Ritterrüstung. Alle Bilder waren abgehängt und entfernt worden. Von ihrer Existenz kündigten nur noch die hellen Flecke an der Tapete. 37
Da wußte Urban, daß er auf der richtigen Spur war. – Und er wußte auch, was er tun würde.
Selbst Kneipen mit Sondererlaubnis hatten hier um Mitternacht Polizeistunde. In seinem Miet-Rover sitzend, wartete Urban, bis es 1.00 Uhr schlug. Jetzt war dieses Viertel wirklich wie tot. Er stieg aus und ging den schmalen Weg an der roten Ziegelsteinmauer entlang, die den Hinterhof des Iron Knight umgab. Die Mauer hatte Lücken im Gefüge wie das Gebiß eines Neandertalers. Urban überwand sie mühelos. Drüben wuchs Gras, und er kam lautlos auf. Das hintere Stück des Iron Knight war eine Art Pferdestall mit massiven Pferdestalltüren. Sie knarrten, aber man kam leicht hinein. Drinnen stank es merkwürdigerweise nicht nach Pferden, sondern nach süßlichem Schweinemist. Und nach verschüttetem Bier. Aber auch nach einem tropfenden Whiskyfaß. Urban folgte dem Whiskyduft, wandte sich also nach links auf die Clubräume zu. Im Punktlicht seiner Kugelschreiberlampe sah er eine Tür. Grau, Massivstahl mit Kreuzvernietung. Sie hatte zwei Schlösser, tief eingelassen und in Sicherheitsausführung. Mit dem Dietrich, selbst mit dem modernsten thermoplastischen, fummelte man sich an diesen Dingern zu Tode. Es gab nur vier Arten, so eine Tü r ohne Schlüssel zu öffnen: Sägen, schwe ißen, sprengen oder mit dem Bagger. Darunter litt aber meist das ganze Haus, und es ging nicht geräuschlos ab. Urban drückte trotzdem die Klinke. – Nicht zu fassen. Die Tür war offen. Sie bewegte sich wi e geölt in den Angeln. Dahinter war ein Lagerraum mit Durchgang zum Iron Knight. Links Stapel von Kartons und Fässern, rechts Gestelle mit Weinflaschen, Schampus und Konserven. 38
Geradeaus ging es an der kleinen Küche vorbei in ein Clubzimmer, das offenbar privaten Zusammenkünften vorbehalten war. Gegenüber lag das Büro. Zumindest stand Büro und Privat an der Tür. Der Raum war verschlossen. Aber dieses Schloß stellte kein Problem dar. Es war eine Sorte, die man mit dem gekrümmten Zeigefinger aufbekam. Urban brauchte nicht mal eine Minute dazu. Nach einem Suchkreis fiel der Lichtkegel auf den Schreibtisch. Er war aufgeräumt, fast leer. Aber daneben lehnten die Bilder. Ihre Rücken waren staubig. Urban sortierte sie. Nur auf zwei Bilder kam es ihm an. Auf die mit den Gruppen der Ritter vom Eisernen Tor I und II. Da er annahm, daß die Mitglieder der Gruppe I samt und sonders unter dem Rasen lagen, der tote rumänische Geheimdienstmann über Halifax also an die zweite Gruppe heranzukommen versucht hatte, riß er dieses Foto kurzerhand aus dem Rahmen. Es zeigte drei Offiziere in verschiedenen Uniformen. Zwei davon kannte Urban, nämlich die französische und die britische. Den dritten Offizier identifizierte er anhand der Widmung auf der Rückseite: Die Erben der Ritter vom Eisernen Tor für den Patron vom Iron Knight. Gregory, Dumont, van Daam. Herbst 1945. – Dem Trinkfesten schlägt keine Stunde. Urban nahm das Foto an sich. Er würde es auswerten und dem Iron Knight auf irgendeine Weise wieder zustellen lassen. Dann verließ er das Haus auf demselben Weg, auf dem er es betreten hatte. Doch im Pferdestall war alles anders als vorher. Leuchtstoffröhren zuckten auf. Das Licht ging an. Urban sah den Schatten eines riesigen Mannes. Er sprang in eine Pferdebox in Deckung. 39
Über die dicken Holzbohlen schob sich etwas Schwarzes, Langes, und schon ballerte es los. Es war der Klang einer Maschinenpistole. Urban hechtete seitwärts ins Stroh und spürte, wie ihm wegfetzende Splitter die Haut an Hals und Wange aufrissen. Der Schütze wechselte den Standort. Eine neue Salve – dann klemmte offenbar der Verschluß. Der Schütze riß am Spannhebel und fluchte. Ein hartes Hämmern erfolgte. So als würde er mit einem Stein auf den Verschluß schlagen. Urban richtete sich auf, sah einen Sattel hängen und eine Mistgabel stehen. Er packte den Sattel und schleuderte ihn gegen den Schützen. Der wich aus, warf sich flach hinter Hafersäcke und richtete die Waffe wieder gegen Urban. Sie versagte erneut. Urban packte die Mistgabel und warf sie gegen den MPiSchützen. Im selben Moment hatte der Schütze seine Waffe wi eder feuerbereit. Sie gab noch ein, zwei Schuß von sich. Urban warf sich hin und schlug gegen einen Stützbalken. Er fürchtete, daß es ihn irgendwie erwischt hatte. Aber noch war er funktionsfähig. Er robbte zum Lichtschalter und drehte ihn um. In der Dunkelheit tastete er sich zur Stalltür. Sie war zu erkennen, weil eine Laterne Schlaglichter warf. Draußen hastete er über den Hof, an der Mauer entlang und mittels einer Abfalltonne darüberhinweg. Was jetzt, überlegte er. – Immerhin hatte er das Foto und die Namen. Er machte, daß er wegkam. Nur vor den Kopfschmerzen, hervorgerufen durch den brutalen Kontakt mit dem Stützbalken, konnte er nicht davonlaufen. Er faßte in die äußere Sakkotasche, in seine Apotheke. Sie enthielt nur ein Medikament, die Thomapyrin-Tabletten in der Plastikfolie. Urban drückte eine der weißen Perlen heraus. 40
Wie sagte doch der Student aus Halle: Meiner paßt für alle. – Das weiße Ding brachte sogar welke Blumen zum Blühen. – Er würgte es hinunter.
Der Excolonel Gregory befand sich trotz seiner Sechsundsechzig Jahre in guter Form. Er rief in Paris an und sagte zu seinem alten Kameraden Dumont: „Hör zu, Dumy, da muß was schiefgelaufen sein, oder es läuft schief.“ „Woran merkst du das?“ „Erzähle ich dir später.“ „Wo?“ „In Paris.“ „Heißt das, du bist im Anmarsch?“ „Sag auch van Daam Bescheid.“ „Was soll ich ihm sagen?“ „Daß er sich bereithält. Wir räumen den Schützengraben.“ „Für wie lange?“ „Bis die Offensive vorbei ist.“ „Was heißt Offensive?“ „Die eines unbekannten, aber leider nicht unbedeutenden Gegners.“ „Macht er schon Trommelfeuer?“ „Sagen wir so, er beginnt mit Artillerievorbereitung. Wie sich das steigert und wann er zum Sturmangriff bläst, ist nicht vorhersehbar. Aber ich denke, wir lassen ihn leerlaufen. Stell dir vor, er ballert pausenlos auf unsere Stellungen, tritt dann mit Panzern und Infanterie an und findet die Gräben leer.“ „Merde ist sein erstes Wort“, sagte der Franzose. „Bon, ich verständige van Daam. Wie ist die Lage in groben Umrissen?“ 41
„Erst mal dem Gegner wertloses Gelände überlassen. Rückzug, in Deckung gehen, abwarten.“ „Wann trifft dein Voraustrupp ein?“ „Spätestens morgen“, schätzte Gregory, „vielleicht schon heute abend, wenn ich noch einen Platz auf der Autofähre kriege.“ „Na ja, jetzt im Winter sollte es klappen.“ „Melde mich von Calais aus. Bis dann.“ „Bis dann!“ Dumont, pensionierter II. Staatssekretär des französischen Wirtschaftsministeriums und ehemaliger Ritter vom Eisernen Tor wunderte sich ein wenig.
Der schwarze Rolls-Royce war nur halb so alt wie Gregory. Die schwarzen Koffer hingegen stammten noch von seinem Vater. Er packte sie in Ruhe und sorgfältig, und zwar so, daß er mit dem Inhalt des kleinen Koffers eine Woche auskam, mit dem Inhalt des mittleren zwei Wochen, und wenn er den Inhalt des großen hinzunahm, einen Monat und länger. Er nahm nichts Überflüssiges mit, vergaß aber auch nichts von dem, was notwendig war. Jetzt, für den kalten Winter auf dem Kontinent, empfahl sich warmes Schuhzeug, der pelzgefütterte Ledermantel, die Angoraunterwäsche, dazu seine Tweedsachen, auch Flanellhose und Blazer, genug Hemden und Socken. Alles wurde militärisch präzise einsortiert. Koffer zu und hinaus in den Rolls. Dann noch der Brief mit den Anweisungen an seine Haushälterin. Letzter Gang durch die Villa. Strom, Heizung, Gas und Licht aus, Tür zu. In den Wagen einsteigen, anlassen. An einer Tankstelle auf Dover zu, wo man ihn nicht kannte, tankte er voll und ließ Öl, Wasser und Luft prüfen. Aber an einem Klasseauto fehlte normalerweise ja nichts davon. 42
Ohne Hast rollte er durch die Parklandschaft Südenglands nach Osten. Ein sonniger Tag, fast schon vorfrühlingshaft. Auf der Kanalfähre konnte er mühelos einen Platz buchen. Wenn in Küstennähe die Sonne schien und die hohen Federwolken rasch dahinzogen, herrschte auf See meist starker Wind. Die Townsend-Autofähre kämpfte hart gegen die Dünung. Der Bug krachte in die querlaufenden Wellen. Die Gischt schäumte über den Vordersteven bis zur Brücke. Man konnte sich nur im Salon oder achtern aufhalten. Gregory zog einen Drink an der Bar vor. Nach zwei Stunden fuhr er seinen schwarzen Rolls-Royce an Land, orientierte sich an den Verkehrsschildern bis zur Straße nach Paris und telefonierte bei der nächsten Gelegenheit. Dumont hatte wohl auf seinen Anruf gewartet. „Wo bist du?“ „Kurz vor der Autoroute Nummer fünfzehn.“ „Noch dreihundert Kilometer. Etwa drei Stunden.“ „Bei meiner Fahrweise eher vier Stunden.“ „Ich erwarte dich gegen neunzehn Uhr. Mit welchem Auto kommst du?“ „Mit meinem alten Phantom.“ „Der ist nicht gerade unauffällig“, meinte der Franzose. „Am besten, wir verstecken ihn. Ich fahre meinen CX auf die Straße, und du nimmst meine Tiefgaragenbox. Wie hoch ist der Rolls?“ „Nun ja, man kann den Zylinder aufbehalten.“ „Meine Garage ist knapp einsneunzig.“ „Dann paßt er gerade hinein.“ „Fahr vorsichtig.“ „Wer von uns fuhr denn immer wie eine Wildsau?“ fragte der Engländer süffisant. „Van Daam“, sagte Dumont. „Ich habe ihn angerufen. Er hat Probleme.“ „Womit?“ 43
„Mit dem Kommen.“ „Warum? Keinen Wagen, kein Geld?“ „Keinen Führerschein“, erklärte Dumont. „Du kennst ihn. Er ist zu eitel, um eine Brille zu tragen. Das war der eine Grund, warum sie seine Lizenz kassierten. Und der zweite Grund war wohl, daß er wieder mal stockbesoffen fuhr.“ „Es gibt ja noch Züge und Flugzeuge.“ „Verdammt umständliche Fahrerei von Rotterdam nach Paris. Ich deutete an, daß wir zu ihm kommen, über alles reden und dann gemeinsame Pläne wegen eines langen Urlaubs fassen.“ „Von mir aus“, sagte der Engländer. „Bis dann!“ Gregory hängte auf. Die Münzen fielen in den Sammelbehälter des Apparats. Der Himmel zog sich zu. So, wie es sich auch bei Gregory ein wenig zuzog. – Dieser van Daam war eine verrückte Type. Ein prima Kumpel und erstklassiger Fachmann, aber seit dem Tod seiner Frau soff er. Daß sie erst hinüber nach Rotterdam mußten, schmeckte Gregory nicht. Natürlich konnte nie alles immer nur glattgehen. Mit dem Anruf aus Bukarest hatte es begonnen, mit dem Auftauchen dieses BND-Agenten war es weitergegangen. Aber er fühlte sich noch jung und in bester Form und würde das schon hinkriegen.
In seiner Luxuswohnung in der Avenue Foche hatte Dumont das Abendessen vorbereitet. Serviert wurde das vielgängige Menü von einer hübschen schlanken Algerierin, die Gregory bestenfalls für achtzehn Jahre alt hielt. Das Mädchen hatte große vielversprechende Augen, kleine Brüste, die frech unter der Bluse tanzten, und lange Beine unterm Minirock. Sie machte ihre Sache perfekt, fast lautlos, schien aber 44
zu Dumont in einem intimen Verhältnis zu stehen. Gregory vermutete es, weil sie manchmal seine Hand berührte und weil Dumont, als sie den Braten vorlegte, von hinten zwischen ihre Schenkel faßte. Später, beim Kaffee in der Bibliothek, als die Zigarren brannten, sagte Dumont: „Das Gästezimmer ist bereit.“ „Bin nicht müde“, erwiderte der Engländer, „fast sogar aufgekratzt.“ „Möchtest du allein schlafen?“ „Mit wem sollte ich sonst wohl…“ Dumont machte eine Kopfbewegung in Richtung Küche, wo man die Spülmaschine laufen hörte. „Sie hat eine Schwester.“ „Kinder machen mich nervös“, redete Gregory sich erst einmal heraus. „Diese Kinder doch nicht. Ich habe dich anders in Erinnerung. – Diese algerischen Dienstmädchen scheinen für die Bedürfnisse wohlhabender älterer Herren geradezu gemacht zu sein.“ „Wie alt ist die Schwester?“ „Ein Jahr jünger. Soll Martine sie anrufen?“ „Nun ja“, sagte Gregory, „wenn sie ebenso hübsch ist, willig, keine Fragen stellt und kein Ungeziefer mitbringt.“ „Sie ist noch perverser als Martine.“ „Wie ist sie dann erst mit Dreißig.“ Dumont rief nach Martine und bestellte ihre Schwester wie ein Dessert. Martine ging hinaus, telefonierte und kam dann wieder. „Meine Schwester ist unterwegs, Monsieur“, meldete sie mit artigem Knicks. „Was kostet das?“ wollte Gregory wissen. „Nichts“, sagte der alte Ritter vom eisernen Tor. „Es wird ihr eine Ehre sein.“ 45
Als sie wenig später auftauchte, war Gregory ein wenig enttäuscht. Martines Schwester war zwar jung, aber auch lang. Sie hatte große Hände, große Füße und eine Brikettfrisur. Zu diesem Zeitpunkt hatte Gregory aber scho n soviel Chablis, Champagner und Cognac in sich, daß es darauf nicht mehr ankam. 7. Reichsmarschall Hermann Göring, der Erfinder von Dutzenden Aktionen, die das Reich unabhängig von Importen jeder Art machen sollten, besuchte im Januar 1940 mit großem Gefolge die Leunawerke. Seine Vierjahrespläne hatten Deutschlands Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln vorangetrieben, hatten ein Schutzdach über das Reich in Form einer modernen Luftwaffe errichtet und hatten mit den Hermann-Göring-Werken die Rüstung angekurbelt. Nun war es deutschem Erfindergeist auch noch gelungen, Benzin aus Kohle zu synthetisieren. Zum Gefolge Görings gehörten Männer wie Todt, der Erbauer des Westwalls, Professor Speer, der Architekt des Führers, mehrere Wehrwirtschaftsführer und im dritten Glied Admiral Canaris, Chef des Geheimdienstes. Um seinen Widerwillen für diese Besichtigungstour auszudrükken, hatte der Admiral seine schäbigste Uniform aus dem Schrank geholt. Andererseits mußte er nach dem kilometerlangen Rundgang durch das modernste Hydrierwerk der Welt die Leistung der Ingenieure anerkennen. Als man später beim Essen seine Meinung hören wollte, gab er dies auch unumwunden zu, hängte aber sofort eine Frage an. „Können uns Leuna- und die anderen Hydrierwerke auch voll mit Benzin versorgen, Herr Reichsmarschall?“ Göring, wie immer ein wenig unter Kokain stehend, aber witzig und kontergewandt, sagte: 46
„Mit Sicherheit, wenn Sie uns ein paar Tropfen Rumänienöl zusätzlich garantieren, verehrter Herr Admiral.“ Zuerst einmal entstand allgemeines Gelächter von Görings Hofstaat über den ungeheuren Scherz des Reichsmarschalls, aber sie applaudierten ja jedem Furz aus dem massigen Bauch ihres Abgotts. Der Admiral, von vornehmer und zurückhaltender Art, wurde immer stiller. Doch Göring provozierte ihn weiter. „Nun, wie sieht es aus, Admiralchen“, rief er, den Weinhumpen schwingend. „Nur ein paar Tropfen Rumänienöl. Kann Ihr Saftladen diesen Anforderungen gerecht werden?“ „Wir bereiten einiges vor, Herr Marschall“, erwiderte Canaris. „Was bereiten Sie vor, Admiralchen?“ Der Admiral schaute sich um. „Das ist nicht für tausend Ohren bestimmt.“ Mit dem Wort tausend charakterisierte er den Wert der etwa zwei Dutzend Anwesenden. „Alles Freunde, alles Kameraden vom Kriegespfad“, schwadronierte Göring. „Nur raus mit der Sprache.“ Der Admiral fühlte sich an die Wand gedrängt. „Bedaure, alles streng geheim, Herr Reichsmarschall.“ „Hier ist jeder vergattert.“ „Das hätte ich gern schriftlich“, beharrte der Admiral. Da winkte Göring seinem Adjutanten, einem Luftwaffenoberst. „Dieser Canaris“, flüsterte er, „ist ein Riesenarschloch. Den knöpfe ich mir vor. Machen Sie einen Termin in Berlin.“ Von da an behandelte Göring Canaris wie Luft und begann Witze zu erzählen. Sie handelten im wesentlichen von der Jagd – denn er war auch Reichsjägermeister – und aus seiner Zeit als Jagdflieger, als er den Pour-le-mérite-Orden erworben hatte. Lästerer behaupteten, Göring habe ihn 1917 nur bekommen, weil er die Abschüsse von 47
mehr feindlichen Flugzeugen gemeldet habe, als an der Westfront jemals aufgetaucht wären.
Vier Tage später stand Admiral Canaris bei Göring zum Rapport. „Deutschland siegt an allen Fronten“, empfing der Fettwanst ihn bissig. „Und was trugen Sie dazu bei, Admiralchen?“ Diese Anrede eines fetten Nazibonzen dem hochqualifizierten loyalen Canaris gegenüber war schon eine unsägliche Beleidigung. Darüber hinaus ließ Göring den Admiral im Stehen berichten. Canaris referierte. Göring unterbrach in oft mit zynischen Bemerkungen. „Wie wollen Sie den Nachschub an Öl garantieren, Canaris?“ „Ich habe keine Truppen, Herr Marschall.“ „Angeblich ersetzt Ihr Geheimdienst eine ganze Armee.“ „Wenn man auf ihn hört“, wandte Canaris ein. „Na schön, ich höre, bin ganz Ohr.“ „Der Balkan ist nicht in unserer Hand.“ „Polen ist in unserer Hand“, rief, der Dickbauch in der weißgoldenen Galauniform. „Norwegen ist demnächst dran, und dann Frankreich.“ „Rumänien ist Englands Schutzbefohlener. Sie haben Verträge“, erinnerte Canaris. „Der Balkan kommt nach Frankreich an die Reihe“, prophezeite Göring. „Dann sehe ich überhaupt kein Problem wegen des Öls“, erwiderte Canaris lächelnd, aber todernst. Göring schien einzulenken. „Der Vertrag mit Stalin klammert Rumänien leider aus. Der Balkan ist Interessengebiet der Italiener. Was Mussolini zuwege bringt, ist unklar. Könnte leicht sein, daß wir ihm irgendwann zu 48
Hilfe eilen müssen. Bis dahin muß die Ölversorgung reibungslos laufen. Was tragen Sie im Köcher, was für Pfeile, um sie mit Ihrem Bogen abzuschießen – wenn ich mich weidmännisch ausdrücken darf?“ Canaris hatte sich etwas aufgehoben, nun mußte er es in die Waagschale werfen. „Meine Balkanexperten, Reichsmarschall.“ „Daß ich nicht lache “, sagte Göring. „Und die Division Brandenburg“, stach Canaris sein letztes As. „Ja, ja, die Brandenburger“, murmelte Göring. „Unsere Feuerwehr für unerwartete Brände.“ „Wir sind dabei, eine Spezialeinheit aufzubauen.“ „Sie sind also dabei. Warum steht der Verein nicht längst schon Gewehr bei Fuß?“ „Wir haben Spezialisten für Transportwesen ausgesucht und in Zivil gesteckt.“ „Wann sind sie einsatzbereit?“ „Die Agentenschulung nähert sich dem Abschluß.“ Offenbar sah Göring keine Möglichkeit mehr, den Admiral weiter zu demontieren, und noch genoß Canaris an höchster Stelle Ansehen und Vertrauen. „Ich“, begann der Marschall und erhob sich, „bin dem Führer für die Energieversorgung verantwortlich. Enttäuschen Sie mich nicht, Canaris. Sichern Sie dem Reich den Nachschub an Rumänienöl. Wenn das klappt, werden Sie einen Freund in mir haben, Admiral.“ Der Admiral verzichtete gern darauf. Doch immerhin hatte er erreicht, daß Göring ihn nicht mehr Admiralchen titulierte. Der Abschied war so frostig wie die Begrüßung. Der Reichsmarschall und Reichsjägermeister fuhr zu seinem Gut Schorfheide, um Hirsche zu schießen. Admiral Canaris fuhr in die Zentrale am Tirpitzufer und erfüllte weiterhin seine Pflicht. Wie es aussah, stand ein unberechenbarer Kriegsgott weiterhin auf Seiten dieser wahnsinnigen Nazis. 49
8. Mit einem Verband am Unterarm, wo eine MPi-Kugel ihn getroffen hatte, betrat der BND-Agent Robert Urban das MI-5Hauptquartier in London und wenig später das Büro des parfümierten Mister Hamlock. Der Engländer starrte ihn an wie eine Geistererscheinung. „Sie schon wieder, Dynamit?“ „Damit haben Sie nicht gerechnet, wie?“ Urban zog sich, Unhöflichkeit gegen Unhöflichkeit, einfach einen Stuhl heran, setzte sich und steckte sich eine GoldmundstückMC an. „Sie haben sich verletzt?“ tat Hamlock scheinheilig. „Nur hingefallen.“ „Dann ist das an Ihrem Sakkoärmel kein Blut, sondern roter Schmutz.“ „Vermutlich“, sagte Urban. „Erstklassige Jacke“, bemerkte der Engländer. „Wo lassen Sie arbeiten?“ „Düsseldorf“, log Urban. „Sakko und Hose. Schuhe in Italien, Hemden in Zürich. Sonst noch eine Frage? Die Taschentücher erstehe ich im Kaufhaus. In einem Moskauer Gum.“ „Solchen Glencheck“, äußerte der Engländer, auf irgendeine Weise verlegen, „und solchen Gabardine, aus dem Ihre Hose ist, und dann dieses dunkle Marin, das kriegt man eigentlich nur bei uns.“ Urban hob das Handgelenk. „Und solche Streifschüsse auch. – Sie haben die Ritter informiert, Hamlock.“ „Richtig“, gestand der Brite ohne Zögern. „Warum?“ „Warum eigentlich nicht“, entgegnete der Engländer. „Diese überaus ehrenwerten Gentlemen mit irgendwelchen herbeikon50
struierten Dingen in Ve rbindung zu bringen schien mir einfach unzulässig.“ „Sie liegen Ihnen mehr am Herzen als der BND“, ergänzte Urban. „Diese ehrenwerten Gentlemen mit gewissen Vorgängen im heutigen Rumänien in Zusamme nhang zu bringen, etwa mit der Securitater mit diesem Ultimatum…“ „Das in vier Tagen abläuft“, warf Urban ein. „Sie damit in Zusammenhang zu bringen“, nahm Hamlock den Satz wieder auf, „das ist einfach unzulässig, eine Schnapsidee, unlogisch, reine Phantasie, böswillig.“ „Warum, bitte, schoß man dann auf mich?“ fragte Urban verwundert. „Ich kenne die Situation nicht, in der das passierte.“ Urban war sich völlig sicher, daß Hamlock es wußte. Er führte ihn aufs Glatteis. „Na schön, Mister Hamlock“, machte Urban weiter. „Wenn dieser Ritterclan wirklich so harmlos ist, warum ließ man mich dann auflaufen? Nennen Sie mir Namen und Adresse dieser Leute.“ „Wir sind verpflichtet, verdienstvolle Untertanen Ihrer Majestät vor derart unzumutbaren Nachforschungen zu schützen.“ „Vielleicht können diese Leute uns helfen, das Ultimatum zu unterlaufen.“ Hamlock lachte gequält. „Wie Sie sich das so vorstellen. Außerdem kenne ich diese Leute gar nicht. Okay, ich kannte Sir Halifax, aber die anderen… no, Sir.“ Urban zog das Foto aus dem Bilderrahmen aus seiner Sakkotasche. „Das sind die drei Hübschen.“ Hamlock wirkte jetzt verdattert. „Woher haben Sie das?“ „Geklaut.“ 51
Der Brite tat so, als würde er das Foto und die darauf abgebildeten Offiziere zum ersten Mal sehen. Urban nannte die Namen. „Gregory, Dumont und van Daam. Zunächst interessiert mich nur Gregory. Er muß irgendwo da draußen in Maidstone wo hnen.“ Hamlock stand abrupt auf und eilte hinaus. Von der Tür her rief er: „Ich lasse das überprüfen. Sofort.“ Nach wenigen Minuten kam er wieder. „Wie ich hörte, hat Gregory für einen längeren Urlaub die Insel verlassen.“ „Wo macht er Urlaub?“ „Keine Ahnung.“ „Gibt es irgendwelche Unterlagen über die Tä tigkeit der drei Ritter im zweiten Weltkrieg in Rumänien?“ „Darüber wurden dicke Bücher geschrieben“, erklärte Hamlock. „Ich meine amtliche Unterlagen, nicht Romane.“ „Wenn ja, dann sind die Akten geheim. Bei uns liegen solche Dokumente fünfzig Jahre lang unter Verschluß. Und dann wandern sie in den Reißwolf.“ „Nennen Sie das Kooperation?“ fragte Urban. „In Rumänien könnte eine Gegenrevolution alles, was erreicht wurde, rückgängig machen.“ Hamlock goß Tee ein, gab Kandiszucker hinzu, rührte um und trank mit gezierten kleinen Schlucken. „Ach wissen Sie, Dynamit“, erwiderte er, „Rumänien ist weit.“ So wenig Entgegenkommen bei Verbündeten hatte Urban bisher selten erlebt. Es gab nur drei Wege, um an Material zu gelangen. Er konnte sich an Hamlocks Vorgesetzten wenden. Das würde jedoch wenig bringen, denn offenbar arbeitete Hamlock auf höhere Weisung. – Dann konnte er Hamlock in den Hintern treten oder es noch einmal, aber ganz anders, versuchen. 52
Er wählte den dritten Weg. „Geben Sie mir einen Tip, Hamlock, damit ich weiterkomme“, bat Urban, obwohl ihm schon das Messer in der Tasche aufging. „Über wen? Halifax ist tot, Gregory sitzt irgendwo an einem südlichen Gestade, wo jetzt die Sonne scheint, um seine alten Knochen zu wärmen. Über die anderen zwei kann ich Ihnen beim besten Willen nichts sagen.“ „Hat Gregory Familie?“ „Nur einen Sohn, wie ich mal hörte.“ „Wo lebt dieser Sohn?“ Hamlock ging wieder hinaus. Diesmal dauerte es länger. Offenbar zog er bei einer anderen Abteilung Erkundigungen ein oder sprach mit Kollegen darüber, wie er Urban am besten loswerden würde. Als er wiederkam, strahlte er. „Kein Sohn, sondern eine Tochter namens Gwen, Gwendolyn Gregory.“ „Dann ist sie offenbar unverheiratet. Wo finde ich die Dame?“ „In Paris. Aber ich glaube nicht, daß sie Ihnen weiterhilft.“ „Möglicherweise hält sie Kontakt zu ihrem Vater. Soll ja manchmal vorkommen. Also, wo oder wi e finde ich sie in Paris?“ „Keine Ahnung.“ „Was wissen Sie von ihr? Alter, Aussehen, Beruf?“ „Parfumeuse.“ „Hat sie eine, oder ist sie eine?“ bemerkte Urban ein wenig zotig. Aber im Englischen gab das Wortspiel keinen Sinn. Zum Glück. „Parfumeuse, falls Sie wissen, was das ist.“ „Nein“, stellte Urban sich unwissend. „Das sind so Supernasen, die Düfte zu neuen Parfüms komponieren. Sie haben die Gerüche im Kopf und mischen sie meist allein durch reine Vorstellungskraft zusammen. Am Ende werden daraus Kreationen wie Chanel Nr. 5 oder Mitsouko.“ 53
„Oder Siebenundvierzig-elf’, ergänzte Urban. Hamlock knöpfte seinen Blazer zu und hob bedauernd die Schulter. „Ich muß zu einer Sitzung. Sie entschuldigen.“ „Darf ich davon ausgehen“, fragte Urban ironisch, „daß Sie auch Madame Gregory in Paris vo n meinem Kommen unterrichten?“ „Sie dürfen“, antwortete Hamlock. „Sie dürfen sogar sicher sein, daß Sie dürfen.“ Urban überlegte, warum er den Burschen zum Kotzen fand. Es lag nicht daran, daß er Hamlock für schwul hielt. – Heute war ja jeder, der etwas auf sich hielt, schwul oder gehörte einer anderen Minderheit an. Nein, daran lag es gewiß nicht.
Mit Hilfe seiner Freunde bei der Pariser Kripo und all den Fahndungsmöglichkeiten des Quai des Orfevres hatte Urban die Adresse binnen eines halben Tages in Händen. Von Kommissar Boulangers Büro in der Sûrete telefonierte er mit München. „Hat der Fingernagel-Code noch etwas Neues ergeben? Ich meine Z-Burri.“ „Sie arbeiten noch daran“, erklärte der Operationschef. „Auch an dem Code Orion. Übrigens, das Ultimatum wurde in scharfer Form wiederholt. Noch dreieinhalb Tage.“ „Ja, die Hälfte ist um.“ In Stichworten, die sie in Pullach zu ganzen Sätzen ergänzen konnten, berichtete Urban, daß er wenig bis nichts erreicht hatte. Er sei jetzt hinter einer gewissen Gwendolyn Gregory her, einer Tochter aus Ritter Gregorys Ehe, die er 1961 geschlossen hatte. „Sucht bitte folgende Leute“, bat er. „Die letzten Ritter vom Eisernen Ton van Daam und Dumont.“ 54
München wollte sich in seinem Hotel melden. Der lockenköpfige Boulanger hatte einiges aufgeschnappt. Dumont war Unterstaatssekretär im Wirtschaftsministerium, ist Mitglied der Ehrenlegion und inzwischen pensioniert. Eine unantastbare Heldenfigur der Grand Nation.“ Bevor Urban sich Gwendolyn Gregory näherte, fuhr er in der Avenue Foche vorbei. An der Tür de s eleganten großbürgerlichen Hauses gab es eine n Klingelknopf mit dem Namen Dumont Er läutete zweimal. Jemand meldete sich über die Sprechanlage. Es war die Concierge. „Monsieur ist verreist“, sagte die Hausmeisterin. „Seit heute?“ „Nein, seit gestern.“ „Plötzlich und unerwartet?“ Die Auskunftei stockte. Urban schob einen HundertfrancSchein durch das Klappfenster der Loge. „Ja, plötzlich und unerwartet“, sprang die Concierge wieder an. „So unverhofft zu verreisen ist nicht die Art von Monsieur.“ „Ein Trauerfall?“ „Weiß ich nicht. Er bekam Besuch, und die Messieurs fuhren gestern morgen weg.“ „Mit einem Taxi?“ „Mit Monsieurs Citroen, einem cremeweißen CX.“ „Sind Sie sicher?“ „Mais oui, Monsieur“, behauptete die Concierge, „denn ich mache auch die Tiefgarage sauber, und dort ist der Citroen nicht mehr. Aber…“ Urban schob noch einen Schein nach. „Aber ein anderer Wagen steht jetzt auf dem Platz.“ „Darf ich ihn sehen, Madame?“ Die Concierge schaltete ihr Telefon auf Beantworter und verließ ihre Loge im foyerartige n Erdgeschoß. Sie fuhren mit dem Lift zwei Stockwerke hinab in den Keller. 55
In der Garage mochten ein Dutzend Autos Platz finden. Ganz hinten sah Urban ein schwarzes Ungetüm von Limousine. Es war ein älterer Rolls-Royce, ein Phantom oder Silvercloud. Urban notierte die Nummer, Aber schon jetzt hatte er keinen Zweifel, daß es nur Gregorys Rolls sein konnte. Der Lack zeigte kaum Staub. Kein Wunder, er stand bestenfalls zwei Tage hier. „Sahen Sie den Engländer?“ fragte Urban. „Nur mal kurz.“ Urban zeigte ihr das Foto. – Den Engländer erkannte sie nicht, dafür aber den Offizier rechts von Dumont. „Das ist der Holländer“, sagte die Concierge. „Wieso Holländer?“ „In meinem Beruf – ich bin seit dreißig Jahren Hausmeisterin – hört man am Dialekt oder am Akzent, woher einer stammt. Dieser Mann ist Holländer. Er kommt ab und zu mal bei Mons ieur Dumont vorbei.“ „Wie oft ab und zu?“ „Vielleicht einmal im Jahr. Dann ziehen sie los, diese Lustgreise, als wären sie nochmal zwanzig. Stellen Sie sich vor, Monsieur beschäftigt ein blutjunges, algerisches Dienstmädchen. Ich habe einen Blick dafür: Eine Nutte ist das. Eine Nutte im schwarzen Kleid mit Spitzenhäubchen.“ „Kann ich die Kleine sprechen?“ „Wenn Monsieur verreist, bleibt sie bei ihrer Familie. Und wo diese Bande haust, das weiß der Teufel. Irgendwo in der Vo rstadt.“ „Ob die beiden Messieurs nach Holland fuhren?“ tippte Urban. „Fragen Sie mich, wie das Wetter an Ostern sein wird, Monsieur.“ „Merci, Madame“, sagte Urban.
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Mit Gwendolyn Gregory hatte er weniger Glück. Bei der Modefirma, wo sie als Parfumdesignerin arbeitete, lehnte sie es ab, ihn zu empfangen. Urban fragte herum und setzte sich dann in ihr Peugeot-Cabrio. Er wartete eine halbe Stunde bis Laborschluß. Sie kam mit Dragonerschritt anmarschiert, riß di e Tür auf, stieg ein, sah ihn sitzen und fluchte. „Raus! Verdammt, verlassen Sie sofort mein Auto, oder ich rufe die Polizei.“ „Die schickt mich ja“, antwortete Urban. „Ich habe nichts zu sagen.“ „Sie sind Gregorys Tochter.“ Ihr Blick konnte töten. „Meine Sache, oder?“ „Was haben Sie gegen mich, Madame?“ „Sie sind ein mieser deutscher SS-Typ, und meine Mutter war Jüdin.“ Sie saß da und wartete darauf, daß er ging. Urban dachte nicht daran, das Feld zu räumen. Also stieg sie aus. Er ging ihr nach. Sie hielt ein Taxi an und fuhr weg. Er winkte ebenfalls ein Taxi heran und folgte ihr. Gwendolyn Gregory fuhr Richtung Clichy, dann auf der Avenue Wagram wieder stadteinwärts. „Er will uns abhängen“, vermutete Urbans Taxifahrer. „Wenn er kann.“ „Er kann nicht, Monsieur“, sagte der Taxifahrer. „Aber am Arc de Triomphe verlieren wir ihn wahrscheinlich aus den Augen.“ Und so kam es auch. Im Kreisel lief der Verkehr fünfspurig, denn es war Stoßzeit. Doch dann sah Urban, daß sie in die Avenue Marceau abbogen. Unten an der Seine kurvte das Taxi nach rechts und hielt, da alles zugeparkt war, in der dritten Reihe vor einem Haus. 57
Offenbar hatte Gwendolyn Gregory schon bezahlt. Sie stieg eilig aus und schoß durch eine Tür. Das Taxi fuhr weiter. Urban blieb ihr weiter auf den Fersen. Drinnen im Haus hörte er den Lift gehen. Es war ein langsamer, alter Lift, also nahm Urban die Treppe. Sie wohnte in einem kleinen Appartement im dritten. Als der Lift ankam, und das Gitter schepperte, stand Urban im Dämmerlicht bereits vor ihrer Tür. Die Engländerin lief zu großer Form auf. „Mit mir machen Sie das nicht, Sie Scheißbulle.“ Er mußte ihr also etwas hinwerfen, das sie zum Nachdenken zwang. „Und Ihr Vater macht das nicht mit Rumänien“, entgegnete er. „Ein Volk schüttelt seinen Diktator ab und soll durch das Ultimatum von Verbrechern wieder in die Knechtschaft zurücksinken. Ihr ehrenwerter Vater verhilft diesen Mördern dazu.“ Sie starrte ihn an, erblaßte und sagte leise, fas t tonlos: „Das ist die infame Behauptung eines Nazischweins.“ „Höchstens die vom Sohn eines Nazischweines“, entgegnete er. „Aber zwingt Sie das, die Tochter eines Henkers zu sein?“ „Mein Vater war immer ein hochmoralisch denkender Mann.“ „Vielleicht ist er erpreßbar oder kaufbar.“ „Aber mich erpressen Sie nicht“, sagte sie. „Ich habe mit alldem nichts zu tun.“ Sie sperrte die Wohnung auf und schlug die Tür vor ihm zu. Drinnen legte sie die Kette vor und drückte die Riegel in die Sperrnasen. Darm drehte auch noch der Schlüssel im Schloß. Junge, dachte er, irgendwas hast du falsch gemacht Allerdings hatte er keine Schritte gehört. Ve rmutlich stand sie lauschend innen an der Tür. Also versuchte er es und fragte: „Was wissen Sie über Orion?“ Er wartete und wiederholte. „O-r-i-o-n.“ Von drinnen kam keine Reaktion. 58
9. Am 25. Oktober 1939 trafen der französische Eisenbahningenieur Dumont und der britische Erdölfachmann Gregory in Begleitung eines Holländers in Bukarest ein. Dort wohnten sie gemeinsam in einem Hotel, gingen aber getrennte Wege. Dumont begab sich zum französischen Botschafter Thierry. In der Botschaft traf er unter dem Personal einige altgediente Beamte. Sie hatten schon vor fünfundzwanzig Jahren hier gelebt und mit den Rittern der ersten Generation zusammengearbeitet. „Messieurs“, sagte Dumont „Die Probleme wiederholen sich. Nur werden wir diesmal schneller sein und wirkungsvoller. In erster Linie ist Rumänien für kommende Zerstörungen zu entschädigen.“ „Wir haben noch die alten Akten“, hieß es. „Bringen Sie die Zahlen auf den neuesten Stand und nehmen Sie Schätzungen vor, welche Summen oder Ersatzleistungen man Rumänien zum Ausgleich vorschlagen könnte.“ Die Arbeiten dazu wurden sofort aufgenommen. Bei dieser Gelegenheit machte Dumont auch die Bekanntschaft eines Herren, der das Eisenbahnwesen in Rumänien gut kannte, denn französische Ingenieure hatten es nach 1919 modernisiert. Der Experte erklärte sich bereit, mit Dumont die Hauptstrecken vom Erdölgebiet nach Norden abzufahren. Das machten sie in den nächsten Tagen sowohl mit Personenzügen als auch mit dem Kraftfahrzeug. Dumont verzeichnete die neuralgischen Punkte auf der Karte. „Wirksame Sabotage“, entschied Dumont, „macht nur an Brükken, Tunnels und Trassen, die an steilen Hängen entlangführen, Sinn.“ Getarnt als Wanderer, begab Dumont sich nun zu diesen Punkten und zog drei davon in die engere Wahl. Dabei handelte es sich um die große Eisenbahnbrücke von Konstanza über die Donau, 59
um die Karpatentunnels und die Trasse, die sich zum Predealpaß hinaufwand. Das alles fotografierte er, zog Bodenproben und stellte Messungen an. Wegen des früh einsetzenden Schneefalls gestaltete die Erkundung sich als außerordentlich schwierig. Am Wochenende kehrte Dumont nach Bukarest zurück.
Captain Gregory hatte seine Kontakte mit Hilfe des britischen Gesandten Sir Reginald Hoare hergestellt. Dieser brachte ihn mit gleichgesinnten rumänischen Ingenieuren zusammen. Auf ihre Einladung hin besichtigte Gregory das Erdölgebiet bei Ploesti. Die Besichtigung der Ölfelder mit ihren Wäldern von Fördertürmen, den meterdicken Ölleitungen zur Raffinerie und den Tanklagern, dauerte mehrere Tage. In dieser Zeit freundete Gregory sich mit den Rumänen an. Es kam zu Gesprächen im kleinen Kreis. „General Antonescu wird mit der rumänischen Armee an der Seite Hitlers gegen Rußland marschieren“, befürchtete der Engländer. „Nicht solange Carol König ist“, wurde gehofft. „Lange möge er leben!“ rief ein anderer. „Aber was, wenn Carol abdankt oder abgesetzt oder vertrieben wird?“ „Und die Russen sich nicht nur Bessarabien schnappen, wie es im Nichtangriffspakt mit Deutschland stehen soll, sondern auch die Walachei?“ „Man muß Hitler hier in Rumänien schlagen“, brachte der Engländer es auf den Punkt. „Macht ihn sein Leuna-Benzin aus Kohle nicht völlig unabhängig?“ 60
„Vielleicht in einigen Jahren. Wir werden scho n dafür sorgen, daß seine Hydrierwerke nicht in den Himmel wachsen. Aber anfangen müssen wir hier, Gentlemen.“ Nicht begeistert, allein der Not gehorchend, waren sie bereit, an das große Zerstörungswerk heranzugehen. Sie kamen überein, daß man die Produktion bei den Fördertürmen, bei den Pipelines in der Raffinierie und bei den Tanks am empfindlichsten traf. In der Planung gingen sie soweit, daß sie scho n die Menge der für jedes Objekt nötigen Sprengstoffe und die Vorlaufzeiten der Zünder berechneten. In der Stunde X sollten so wenig Menschen wie möglich gefährdet werden. „Und uns“, fürchtete einer der Ingenieure, „wird man dann jagen wie Ungeziefer.“ „Der britische Geheimdienst wird alle Schuld auf sich nehmen“, versicherte Captain Gregory. „Und später die Ehre.“ „Bis da“, fürchtete der Engländer, „ist es noch lange hin.“
Der Holländer van Daam hatte zwei getrennte Operationsgebiete zu bearbeiten: die Ölhäfen an der Schwarzmeerküste und die Donau. Er begann am Hafen von Giurgiu. Dort studierte er die See- und Flußkarten, die Wassertiefen bei den verschiedenen GezeitenVerhältnissen und prüfte, ob es möglich war, mit TNT gespickte Schiffe hineinzubringen und in die Luft zu sprengen. Dann mietete er ein Motorboot und fuhr donauaufwärts. Bald erkannte er, daß eine gründliche Sabotage der Donauschiffahrt nur an einem Punkt zu machen war. Nämlich zwischen Orschova und Turnu-Severin. Diese Donauengstelle, genannt Portile de Fier, hatte offenbar auch ihren Vorgängern den Namen 61
Ritter vom Eisernen Tor verliehen. Zwar war ihr Versuch im Jahre 1917, das eiserne Tor mit versenkten Lastkähnen zu sperren, mißlungen, aber heute verfügte man über andere technische Mö glichkeiten. Der Punkt eisernes Tor nahm fortan die erste Stelle auf van Daams Liste ein. Am Wochenende kehrte auch van Daam stets nach Bukarest zurück, um seine Freunde zu treffen. Jeder berichtete von seiner Arbeit und vom Fortschritt in Richtung auf das Ziel. Im großen und ganzen war man zuversichtlich. Man würde, wenn der Winter erst vorbei war, das Material erhalten haben und dann den großen Schlag landen. Nur Captain Dumont hatte eine schlechte Nachricht „Zunächst ist es nur ein Gerücht“, erzählte er, „Aber auf Seiten der Deutschen läuft etwas gegen uns. Geheimdienste vergessen nichts. Sie haben Gedächtnisse wie Elefanten. Bei den Deutschen erinnerte man sich an die Vorgänge in Rumänien im letzten Krieg. Der Mann, der der deutschen Abwehr vorsteht, Admiral Canaris, ist ein Glanzlicht, das sogar unser Deuxieme-Bureau zum Strahlen bringen würde.“ „Man behauptet, er sei äußerst fair und ein Gentleman der alten Schule“, bemerkte van Daam. „Trotzdem nicht weniger gefährlich. Ist doch egal, ob dir einer in den Rücken schießt oder in die Brust.“ „Und was plant Canaris?“ fragte der mißtrauische Brite. „Er gründete die sogenannte Ölschutzorganisation, auf deutsch OSO genannt.“ „Sind das Polizisten oder Gestapoleute ode r was?“ „Ich hörte nur das Wort Brandenburg.“ „Was ist das?“ „Eine deutsche Provinz irgendwo um Berlin herum“, meinte der Engländer. 62
„Division Brandenburg“, präzisierte der Franzose, der mit Botschafter Thierry über eine ausgezeichnete Quelle verfügte. „Was ist eine Division?“ fragte van Daam. „Ein Drittel eines Armeecorps etwa.“ „Wie viele Leute?“ „Keine Ahnung, vielleicht zehntausend.“ „Damned, shit!“ fluchte der Engländer. „Wenn die Hunde etwas machen, dann machen sie es gründlich, aber auch langsam. Also müssen wir schneller sein.“ „Erst ab Montag bitte“, wünschte der Holländer. „Ich möchte erst mal wieder baden, mich ausschlafen und was Anständiges zwischen die Zähne kriegen.“ „Okay“, entschied der Engländer. „Schätze, solange läßt uns Canaris noch Zeit.“ 10. Urban stand vor der geschlossenen Wohnungstür im dritten Stock des Hauses an der Avenue New York in Paris. Er kam sich weder vor wie hinbestellt noch wi e abgeholt. Er wollte schon gehen und überlegte gerade, ob er die Treppe oder den Lift benutzen sollte, als sich lautlos und millimeterweise die Tür öffnete. Erst nur einen Spaltbreit, dann ein bißchen mehr und dann so weit, daß Gwendolyns Gesicht Platz hatte. Das Gesicht gehörte zwar einer Engländerin, wirkte mit seinem Bubikopf aber absolut französisch. Das Kinn lag auf der massiven Schließkette. „Warten Sie!“ Die Tür ging zu, die Schließkette fiel. Die Tü r ging wieder auf. Diesmal so weit, daß man die knackige Figur von Gwendolyn Gregory sehen konnte, den knappen, doppelt bespitzten Pullover, den engen Rock und die langen Beine in hochhackigen Schuhen. 63
„Los, komm rein!“ flüsterte sie. Und als er drinnen war: „Aber keine Vertraulichkeiten.“ „Mylady, wo denken Sie hin!“ „Wie war das mit dem Ultimatum? Daran denke ich.“ Er sagte es ihr. „Was hat mein Vater damit zu tun?“ „Nur darum geht es uns.“ „Und was haben Sie damit zu tun?“ „Wir haben einen Unfalltoten, der in einer Sache, die sich Orion nennt, zu Halifax unterwegs war. Die Erben von Halifax sind die neuen Ritter vom Eisernen Tor, und einer davon ist Ihr Vater.“ Anfangs hatten sie noch englisch gesprochen, jetzt wechselten sie ins Französische über. „Mon dieu“, seufzte sie. „O mein Gott! Verschonen Sie mich mit diesem Geheimdienstquark.“ „So gut ich kann, Madame.“ Ihre Wohnung war klein, zwei Zimmer, Küche, Bad, und wohl auch nur deshalb in dieser exquisiten Lage für sie erschwinglich. Nach hinten ging ein Atelierfenster auf einen begrünten Hof hinaus. Sie zog die Vorhänge zu. Dabei dehnte sie sich über ein Sofa hinweg, und er sah, daß sie hübsche Kniekehlen und Oberschenkel hatte und einen runden Hintern. Die Tapete, der Teppich, die Möbel, auch die Bilder, alles war in Pastellfarben. Selbst ihr Teint, ihr Haar, ihre Augen und ihr Unterhöschen. Was Urban als zweites auffiel war die Geruchlosigkeit. Im Treppenhaus war alles noch vorhanden. Der Duft nach Bohnerwachs, nach Lysol und Ölfarbe. Hier duftete nichts. Selbst die Blumen und die Früchte in der Schale sind aus Plastik, stellte er fest. „Ich bin Parfümdesignerin“, erklärte sie. „Wenn ich nur eine Nacht lang in der Nähe von echten Blumen oder Früchten schlafe, ist meine Riechfähigkeit für den ganzen Tag beeinträchtigt.“ 64
„Im Sinne von dahin?“ fragte Urban. „Im Sinne des verkaterten Kopfes eines Mannes nach einer wüsten Trinkerei.“ „Wie halten Sie es dann mit essen?“ fragte er neugierig. „Kein Problem“, erläuterte sie. „Nie Knoblauch, wenig Gewürze, nichts allzu Scharfes.“ Kein Knoblauch, das machte sie sympathisch. Er durfte jetzt Platz nehmen. Der Sessel war ein wenig durchgesessen. Seine Knie bildeten eine n ungünstigen Winkel. Bei ihr aber auch. Sie trug keine Strümpfe. – Da es in Paris zu kalt war, um sich mit nackten Beinen zu bewegen, mußte sie die Strümpfe ausgezogen haben. – Auch die Bluse hatte sie tief geknöpft, „Fangen wir an?“ fragte er. Sie nickte. „Was wissen Sie über Orion, Madame?“ Die Antwort schien blitzschnell da zu sein, aber sie sprach sie nicht aus. „Nicht das Sternbild“, bat er. Sie senkte den Blick, doch dann sprudelte es wieder sehr schnell. „Eine rumänische Ölraffinerie. Mein Vater erzählte oft davon. Sie kennen das ja bei alten Kameraden von anno siebzigeinundsiebzig. Sie erzählen immer die gleichen Storys. Eben das, was sie im Leben am tiefsten beeindruckte. Abenteuergeschichten, Kriegserlebnisse. Er erzählte sie immer ein wenig anders, er malte sie aus. Ich hörte ihm stets geduldig zu. Die Erinnerungen, die alten Freunde bedeuteten alles für ihn. Eigentlich war es das einzige, was er hatte und was ihn noch interessierte. Deshalb sprach er oft von Rumänien, als sie das Erbe der Ritter antraten.“ „Und auch von Orion“, vergewisserte Urban sich. „Sprach Ihr Vater auch davon?“ „Orion war eine der Raffinerien, die sie in Brand setzten.“ Sie ging in die kleine Küche. Urban nahm an, daß sie mit etwas 65
Trinkbarem zurückkäme und war begierig zu erfahren, was man in Parfumeurkreisen an Alkoholischem zu sich nahm. Sie brachte aber nur ein Joghurt mit, das sie langsam und in kleinen Portionen löffelte. „Wenn in Paris Smogalarm herrscht“, sagte sie, „setzt der Gestank unsere Geruchsnerven lahm.“ „Ganz schön schwerer Beruf“, bemerkte Urban. „Wo machen Sie Urlaub? Auf einer einsamen Insel in der Südsee?“ „Hauptsache ohne Tiere“, antwortete sie. „Denn Tiere stinken ganz außerordentlich.“ Ob sie je mit einem Mann im Bett gewesen war, ohne daß sie ihn vorher geduscht, gebadet und abgeschrubbt hatte? – Er distanzierte sich besser von so übelriechenden Gedanken. „Wo ist Ihr Vater jetzt, Miß Gwendolyn?“ Sie ließ den Löffel im Joghurt stecken. „Wie alt sind Sie, Monsieur?“ lautete ihre Gege nfrage. „Etwas jünger als ich aussehe, Gnädigste.“ „Und ich bin etwas älter, als ich aussehe. Ich bin neunundzwanzig und Sie gewiß Mitte der Dreißig. Okay, wir sind keine Kids und keine Grufties. Sagen wir du zueinander.“ „Gerne, Gwen.“ Urban fuhr fort: „Ich traf deinen Vater in Kent leider nicht an.“ „Wann?“ „Vorgestern.“ „Kein Wunder. Da war er schon in Paris. Er rief mich an und warnte mich. Er ruft immer an.“ „Sein Rolls steht bei Dumont“, ergänzte Urban. „Aber wo sind die beiden jetzt?“ „Ich glaube, sie wollen in die Schweiz.“ „Zu Freunden?“ „Sie haben überall Freunde. Aber ich glaube, die Schweiz lag nur auf ihrem Weg in den Süden.“ Urban verarbeitete, was er erfahren hatte, ve rsuchte, Querver66
bindungen herzustellen, was noch schwierig war angesichts der wenigen Fakten, und forschte weiter: „Plagen deinen Vater Geldsorgen?“ Die Antwort darauf kam zögernd. „Jetzt wohl nicht mehr. Er hat, was er braucht. Nicht zuviel und nicht zuwenig.“. „Hatte er früher Geldprobleme?“ Sie erinnerte sich, daß ihr Vater vor vielen Jahren nahezu sein gesamtes Vermögen verspekuliert hatte. Er hatte enorme Mengen an Rohöl, ganze Supertankerladungen, gekauft. Dies in der Hoffnung, der Preisanstieg halte an. Aber die Weltmarktpreise waren gefallen. Er kam mit einem blauen Auge, nein, mit zwei blauen Augen davon. Er hatte keine Schulden, aber auch kein Vermögen mehr. Das war kurz nach dem Tod ihrer Mutter gewesen. Ihr Vater hatte lange gebraucht, um sich zu erholen. Sowohl vom Tod ihrer Mutter als auch von den geschäftlichen Verlusten. „Aber Geld akzeptiert er gerne “, schloß sie den Bericht. „Von wem auch immer.“ „Du solltest ihn und seine Freunde in Ruhe lassen“, sagte Gwendolyn. Wenn sie lachte, sah sie aus wie ein Schuljunge. „Ich würde sie gerne in Ruhe lassen“, versicherte Urban. „Aber ich muß deinen Vater sprechen. Nur kurz, aber ich muß wissen, warum man auf mich im Iron Knight schoß, warum man meine Arbeit behindert und was es zu verbergen gibt?“ „Und was glaubst du, will man verbergen?“ Urban kam auf das Ultimatum zu sprechen. „Die Möglichkeit, daß diese Massenmörder in Bukarest die Rittergilde mißbrauchen, ist denkbar. Das Ultimatum spricht von einer für Rumänien unvorstellbaren, nie dagewesenen Katastrophe. Gewiß will man sich der Ritter, oder dessen, was sie wissen, bedienen. Warum reiste der Securitate-Agent nach London?“ „Ist das auch sicher?“ zweifelte sie. 67
„Wir fanden bei dem toten Agenten Hinweise auf Orion, Halifax, Maidstone und so weiter.“ „Was bedeutet und so weiter?“ „Ein Hinweis auf Zet und ein paar Buchstaben.“ „Was bedeutet Zet?“ „Wir basteln daran.“ Das war es dann. Schluß des Gespräches. Er betonte noch einmal, daß es ihm überaus wichtig sei, ihren Vater zu sprechen. Wenn sie etwas von ihm hören sollte oder ihr einfiel, wo er zu finden sei, möge sie ihn anrufen. Er wohne im Hotel George V. Er sei für den kleinsten Hinweis dankbar. Zwar sei er sicher, daß man Gregory und Dumont auch so finden würde, aber möglicherweise erst, wenn es zu spät war. Er schaute auf die Uhr, las Zeigerstand und Datum. „In drei Tagen läuft das Ultimatum ab.“ „Und du glaubst, diese Verbrecher im Untergrund werden ihre Drohung verwirklichen?“ fragte Gwendolyn Gregory. „Allein schon deshalb“, antwortete Urban, „weil man sie alle kriegen und dann hinrichten wird, sehen sie darin die einzige Alternative.“ Sie löffelte ihr Joghurt weiter, brachte ihn dann zur Tür und blickte ihm nach. Der Blick, so kam es Urban vor, war nicht völlig antiseptisch.
Es war spät, als das Telefon in seinem Hotelzimmer ging. Das Hauptquartier war in der Leitung. Einer der Assis aus der Operationsabteilung hatte Urban auftragsgemäß etwas zu übermitteln. „Wir haben Zet-Burri entschlüsselt.“ „Ich höre.“ „Sitzen Sie gut, Oberst Urban?“ 68
„Ich liege sogar.“ „Zet bedeutet Zürich“, erfuhr er, doch das war nichts Neues, „und Burri bedeutet Buerrli. Es wird Bu-errli ausgesprochen. Nicht Bürli, sondern Buerrli.“ „Ja, das scheint mir ungeheuer wichtig“, höhnte Urban. „Und was macht Buerrli?“ „Geld“, sagte der Assistent. „Er ist Direktor einer großen Züricher Bank. Er leitet in der Zentrale dieser Bank die Auslandsabteilung.“ Das Gespräch hatte nur eine Minute gedauert, doch es ließ Urban eine Stunde lang nicht einschlafen. Der rumänische Geheimkurier hatte diese Adresse bei sich gehabt. Buerrli in Zürich verwaltete vermutlich rumänische Bankkonten. Von diesen Konten hatte der Tote an der ChiemseeAutobahn bestimmte Summen abzuheben und sie nach England zu Halifax Erben zu bringen. – Für Geld erwartete man in der Regel Leistungen, Informationen. Die Ritter wußten über Orion Bescheid. Orion war Basis des Ultimatums. Der Ring schloß sich. Es war aber ebensogut möglich, noch andere Ringe darzustellen, die sich ebenfalls schlössen. War seine Kombination also richtig, abwegig oder total falsch? Urban rief eine Nummer in Zürich an. Sie gehörte einem Mann, der ab und zu noch – früher häufiger, jetzt seltener – für den BND arbeitete. Er war Broker, also Geld-, Aktien- und Devisenhändler. Urban mußte ihn wecken. Er ließ ihn erst einmal ausgähnen und schimpfen. Urban haßte Leute, die um Mitternacht schon pennten wie die Murmeltiere, und mußte seine Harne bremsen. Endlich war Brymora, Louis Brymora, ansprechbar. „Erzähl mir alles über Buerrli“, fiel Urban über ihn her. „Den Bänker?“ „Nicht den Pizzabäcker.“ Geschichten und Tratsch über die Branche zündeten bei Brymora, der halb Spanier und halb Italo war, immer. 69
„Also Buerrli“, wiederholte er. „Verdammt, zu Buerrli fällt mir gerade leider nichts ein.“ „Und zu seiner Bank? Verwaltet sie auch rumänische Gelder?“ „Keine Bank läßt irgendein Geschäft aus, egal ob mit Rumänien, mit Manila, mit Castro oder Lumumba, mit der Mafia, der Cosa Nostra oder dem Finanzministerium der Bundesrepublik Deutschland. Um was geht es, Robertino?“ „Um Rumäniengold.“ „Da schwirren Milliarden herum, heißt es.“ „Ein Securitate-Agent sollte Buerrli anlaufen. Ob da Geld auf Nummernkonten liegt?“ „Vermutlich.“ „Wie kommt man da ran?“ „Nie. So wenig wie an Gottvater persönlich.“ „Nicht das Geld interessiert uns“, betonte Urban, „sondern gewisse Zahlungen an gewisse Leute.“ „Von Nummernkonten nehmen Banken keine Überweisungen vor.“ Urban verstand ihn richtig. „Bei Nummernkonten kann man also nur abheben und in bar weitergeben.“ „Es sei denn“, schränkte der Experte ein, „man beauftragt die Bank, von einem solchen Kont o einen bestimmten Betrag zu nehmen und ihn in bar einem Empfänger auszuhändigen. Das ist möglich. Kommt natürlich auf die Vertragsvereinbarungen an.“ „Und dafür ist bei dieser Bank Buerrli zuständig.“ „Offenbar ja.“ „Und Buerrli schweigt.“ „Das Schweigen des Matterhorns ist hektische s Geschwätz gegen die Verschwiegenheit eines Züricher Bankiers.“ „Ob er, wenn es so einen Auftrag gibt, ihn in seiner Schreibtischschublade hat?“ „Oder in seinem Safe.“ 70
„Oder in seiner Brieftasche.“ „Dort gewiß nicht. Dann schon eher in seine m Kopf. Banker sind meist auch Gedächtniskünstler und ihre Köpfe so undurchdringlich wie der Montblanc.“ „Verdammt, wie übersetzt man Mist ins Schwyzerdütsch?“ fluchte Urban. „Ganz einfach mit Scheiße.“ „Ich muß an Buerrli heran“, forderte Urban. „Überleg dir was.“ „Unmöglich.“ „Es geht um Leben und Tod“, erwähnte Urban. „Bis morgen dann.“ Obwohl es spät war, rief er noch bei Gwe n Gregory an. „Noch wach?“ fragte er. „Bin eben mit meinem Joghurt fertig gewo rden.“ „Ich muß nach Zürich.“ „Wann?“ „Jetzt. Vielleicht finde ich deinen Vater dort.“ „Dann komme ich mit“, entschied sie. „Nehmen wir deinen Wagen oder meinen?“ „Meiner steht in München. Ich komme aus London.“ „Dann hole ich dich im Hotel George ab. Okay?“ „Wir stehen uns vielleicht im Wege “, gab er zu bedenken. „Du willst mich nicht dabeihaben. Stimmt’s?“ Er dachte an dies und das und auch an die Komplikation mit ihrer merkwürdigen Nicht-essen-nicht-trinken-nicht-rauchen Lebensführung. „Ich müßte mich zu sehr einschränken, und dazu habe ich wenig Lust“, gestand er. „Keine Sorge“, erklärte sie. „Wenn ich nicht arbeite, lebe ich so normal wie andere Schweine auch.“ Er packte die Reisetasche wieder ein, verlangte die Rechnung, ließ aber noch eine Flasche Bourbon auf sie setzen. 71
11. Im Februar des Kriegsjahres 1940 entbrannten bei den Stäben in Paris und London heiße Diskussionen. Sollte man das Startsignal für die erste Sabotage an den rumänischen Ölfeldern geben ode r sollte man abwarten. „Dadurch werden die Deutschen gewarnt“, sagten die Franzosen. „Das ist der Sinn der Sache“, erklärte London. „Sie werden scharfe Gegenmaßnahmen ergreifen.“ „Noch sind sie nicht die Herren am Balkan.“ „Man wird König Carol unter Druck setzen.“ „Sein Vertrauen in uns ist größer als der Druc k aus Berlin.“ „Carol ist unberechenbar.“ „Aber unsere Leute haben in Rumänien die Hand am Drücker. Die Vorbereitungen für die Sprengungen sind abgeschlossen. Sie warten nur auf grünes Licht.“ Es ging hin und her. Schließlich siegten die Engländer. Per Funk ging das vereinbarte Codewort an den Agentensender in Bukarest. Dumont entschlüsselte die Morsezeichen, die va n Daam aufgenommen hatte. Danach warf er den Bleistift weg und goß sich erst einmal Cognac ein. „Die spinnen vielleicht“, bemerkte er kopfschüttelnd. „Wir sind im Krieg, und jeder Krieg hat etwas Verrücktes an sich.“ „Sie befehlen nicht, schlag los, sondern sie stellen Forderungen auf.“ Gregory nahm den Klartext und überflog ihn. Nach den ersten Sätzen wirkte er noch zuversichtlich und konnte seinen Partner nicht verstehen. „Ist doch alles klar. Losschlagen. Sofort. Sofort heißt sofort.“ „Lies weiter!“ 72
Danach legte Gregory das Papier weg. „Leider“, stellte er fest, „muß ich dir rechtgeben. Die sind plemplem.“ „Sie fordern die Sprengung von ganz Ploesti. Wie bitte, soll man ein Industriegebiet mit den Abmessungen einer Stadt sprengen? Und dann die nächste Forderung: Veranlaßt Sperre der Donau.“ „Sie ist der bequemste und billigste Transportweg zwischen Rumänien und Deutschland.“ „Sperrt die Donau. Als ob das so leicht zu machen wäre. Sprengt Ploesti, sperrt die Donau. Wie stellen die sich das vor in Paris und in London? Wir sind drei Männekens mit einem lächerlichen Budget und sollen den Krieg allein gewinnen.“ „Entweder wir klotzen, oder wir lassen es. Kleckern bringt den Gegner nur auf die Palme.“ Der Holländer drehte aus langfaserigem Tabak eine Zigarette, klebte das Papier zusammen, riß die Enden glatt, schob sie zwischen die Zähne und zündete sie an. Die Tabakenden glühten auf. „Gib, was du hast“, sagte er. „Steht schon in der Bibel. Denn mehr, als du hast, so spricht der Herr, kannst du nicht geben. Aber gib es von Herzen.“ Dumont nahm das Blatt mit der Meldung aus London und verbrannte es im Kamin. Dann versteckte er den Spionagesender und begann, sich zu rasieren. „Er macht sich schon“, hämte van Daam. „Wozu?“ „Wenn die Unterstützung der rumänische n Regierung immer weniger wird, dann möchte ich heute abend zumindest die Damenwelt beeindrucken.“ „Wo?“ „Beim Empfang in der Botschaft. Sie geben so eine Art rumänisch-orthodoxes Karnevalsfest. Schlage vor, ihr bügelt eure Anzüge. Wir werden diese Nacht einige prima Alibis benötigen.“ „Er hat recht“, sagte van Daam. „Frack oder Smoking?“ 73
„Bloß nicht übertreiben“, riet der Engländer. „Und wer löst das Feuerwerk aus?“ wollte der Holländer wissen. „Ploesti ist von hier achtzig Kilometer entfernt.“ „Du mit deinen Kilometern. Wie viele Meilen?“ „Sechzig.“ „Die macht unser Citroen in einer Stunde.“ „Aber wer übernimmt es?“ „Dieser rumänische Ingenieur, Noblescu.“ „Dem traue ich nicht“, äußerte Dumont. „Dann also einer von uns“, schlug der Engländer vor. „Er bringt uns zur Party, fährt weiter nach Ploesti, betätigt die Zünder, fährt zurück, mischt sich unters Volk, als wäre er die ganze Zeit dagewesen, und um Mitternacht, beim Wiener Walzer, ertönt kaum wahrnehmbar in der Ferne ein feines Ping-päng-pong.“ „Wer macht es?“ fragte der Holländer. „Laßt uns würfeln.“ „Eine solche Entscheidung ist absolut unprofessionell“, protestierte van Daam. „Nein, wir benennen den Besten.“ „Wir sind alle gleich schlecht“, witzelte de r Franzose. „Schön, dann pokern wir“, schlug van Daam vor. „Pokern ist professionell.“ Das Ergebnis war, daß Gregory es zu erledigen hatte. Sie hatten van Daam fairerweise gewi nnen lassen, denn noch befand Holland sich nicht im Krieg mit Großdeutschland. Der Anschlag auf die Raffinerie Orion wurde ein totaler Reinfall. Zwei der Sprengsätze am Bohrfeld zündeten nicht. Der Brandsatz in der Raffinerie konnte von der Werksfeuerwehr gelöscht werden. Die TNT-Ladung unter dem großen Benzintank war zu schwach. Hinzu kam, daß der Tank nicht Benzin, sondern Dieselöl enthielt, welches das kleine Feuerwerk rasch löschte. Zwar wurde der Tank aufgerissen, doch bald war das Leckkommando zur Stelle. So machte der ganze Schaden nur wenige 74
tausend Liter aus. Die ganze Operation verlief so grandios, daß die rumänischen Zeitungen es nicht für nötig hielten, darüber zu berichten. Nur der französische Botschafter in Bukarest meldete seinem Außenminister in Paris eine n Erfolg. Doch dort hielt man entweder nichts davon, oder man enthielt sich enttäuscht jeden Ko mmentars. Die Folge des Ganzen war, wie von den Franzosen befürchtet. Die Deutschen waren jetzt gewarnt. 12. Louis Brymora galt in Zürich als eher kleiner Broker, aber als großer Frauenheld. Er liebte Frauen weniger, weil sie Frauen waren, sondern weil alle, die er sich auserkor, irgendwo in den Vorzimmern von Bankiers saßen und meist schon Tage oder Wochen vorher wußten, wie sich wichtige Aktien entwickelten. Im Vorzimmer von Dr. Buerrli hatte er leide r keine Freundin sitzen. Er kannte aber ein mollige Rothaarige in der Bank, die mit der Sekretärin Dr. Buerrlis befreundet war. Die überraschte er zum Frühstück mit Blumen, Champagner und einem echtgoldenen Kettchen, das sie sich hinhängen konnte, wohin immer sie wollte. Er mußte einen Quicky mit ihr veranstalten. Dabei polte er sie von minus auf plus, und gegen elf Uhr vormittags hatte er, was er brauchte. Urban meldete sich bei ihm, aus Paris komme nd, kurz vor Mittag. „Alles gebont“, berichtete Brymora. „Mehr war nicht drin. Dieser Bänker hat heute mittag ein Arbeitsessen mit Finanziers aus Kuweit. Dazu nimmt er seine Sekretärin mit. Die Araber haben etwas gegen Tonbandgeräte. Gegen hübsche stenographierende Mädchen haben sie schon weniger. Buerrlis Büro wird zwischen 75
Mittag und etwa vierzehn Uhr dreißig verwaist sein. Da liegt deine Chance.“ „Du kennst dich in Banken besser aus“, versuchte Urban zu delegieren. „Aber mit Sicherheit verliere ich meine Lizenz, wenn sie mich erwischen. Du hingegen bestenfalls deinen Kopf.“ „Wo hat Buerrli die Aufzeichnungen?“ „Wichtiges im Safe.“ „Und das ganz Wichtige?“ „In einem kleinen roten Notizbuch.“ „So klein“, fürchtete Urban, „daß er es immer bei sich trägt.“ „Oder so klein, daß er es für unsichtbar hält und es unter seinen Zigarren liegen hat.“ „Und die Havannas wiederum liegen im Safe.“ „Nein, im Schreibtisch.“ „Wann sehen wir uns?“ „Treffpunkt Mövenpick in der Bahnhofstraße. In einer halben Stunde.“ „Ich bin da“, versprach Urban. Wenige Minuten vor 12.00 Uhr, bevor die Bank schloß, brachte Brymora Urban auf einer Zufahrt, die nur wenigen Kunden bekannt oder zugänglich war, zum Personallift, Brymora hatte Urban den Weg skizziert. „Vierte Etage, dann rechts durch die Glastür um die Ecke. Die vorletzte Tür ist Buerrlis Sekretariat, die letzte Tür sein Büro. Einmal während der Mittagspause geht der Wächter die Runde.“ „Ich sehe mich vor.“ „Das ist alles illegal, Robertino.“ „Wenn schon illegal“, sagte Urban, „dann richtig illegal. Wenn ich Bankräuber wäre, dann würde ich nicht zehntausend mitnehmen, sondern zehn Millionen. Die Strafe ist die gleiche. Ergo: Es muß sich lohnen.“ Er verließ Brymoras Mercedes in der Tiefgarage. Mit dem Lift 76
fuhr er hinauf und nahm den beschriebenen Weg. Er fand die Türen weit offen und stand, verblüfft wegen der Leichtigkeit des Unternehmens, vor Buerrlis Schreibtisch. Routiniert suchte er ihn ab. Dann prüfte er die Safetür. Ein neues Modell. Ohne elektrische Hilfsmittel kam man nicht hinein. – Aber welcher Raucher deponierte schon seine Havannas in stählernen, also zu kühlen Safes? Urban zog die Schreibtischschubladen auf. Papiere, nur Papiere. Die unterste Schublade links war versperrt. Mit einer BuerrliVisitenkarte aus dem Ständer öffnete er sie. Da lagen die Zigarren in einem Thermobehälter. Nur Havannas, lang, dick und grün. Er brachte ihre Ordnung durcheinander und fand es, – Welch grandioser Tip! Das Notizbuch war rot und winzig, wie das lateinische Minilexikon, das er im Gymnasium zum Spicken verwendet hatte. Urban blätterte es durch. Erst nur leere Blätter, dann handschriftliche Notizen in einer winzigen Schrift, fast wi e gedruckt. Nummern, Kürzel, Codes, Zahlen. Schon im Begriff, das Ding mitzunehmen, um es auszuwerten, stieß er auf ein Blatt. Code Ru, wi e Rumänien, und Ziffern, gewiß von Nummernkonten, alle mit beeindruckenden Summen, natürlich in Dollars, und dann ein paar Bleistiftnotizen, die sich radieren, also ändern ließen. Ein Klopfen schreckte ihn auf. „Doktor Buerrli?“ „Ja.“ „Alles in Ordnung?“ „Gewiß.“ „Dachte, Sie seien schon weg.“ „Gleich.“ Der Wächter ging weiter auf seiner Mittagsrunde. 77
Urban kopierte die Eintragungen. Er schrieb nur auf, was wirklich wichtig war: Lubenku für G-D-V je 100 000 Dollar. Persönlich.“ Unbemerkt hinaus- war schwieriger als hineinzukommen. Der Wächter stand am Lift und rauchte eine Zigarette. Urban wartete. Der Wächter machte kehrt und kam ihm entgegen. O Madonna! Verstecken war unmöglich. „Grüezi“, sagte Urban. Der Wächter blieb stehen. „Grüezi!“ Der Wächter ging weiter. Minuten später saß Urban bei Brymora im Wagen. Er hatte am Limmat-Kai auf ihn gewartet. „Und?“ „Großes Merci.“ „Das ist weniger als auf die Hand gepißt.“ „Denk an die Zukunft, Junge.“ Brymora ließ an. „Ich habe eins bei dir gut.“ „Zwei“, versprach Urban. „Wohin?“ Urban nannte ihm das schmale Hotel draußen am Seeufer gleich rechts. „Was gibt es?“ fragte die geruchlose Schöne im weißen Bademantel. „Schlechte Nachrichten.“ Sie stand näher bei ihm als sonst. Offenbar kam sie gerade aus der Dusche. Sie legte die Arme um seinen Hals. „Schlechte Nachrichten auch für mich?“ „Wie man es nimmt.“ „Wie nimmst du es denn?“ 78
„Locker“, sagte er so zuversichtlich wie möglich. Dabei hütete er sich, sie ebenfalls zu umarmen. Bloß keine Vertraulichkeiten, hatte sie in Paris gefordert. „Dann nehme ich es auch cool.“ „Und wie ist cool bei dir?“ fragte er, als sie noch dichter aufkam. Sie lächelte mit ihrem frechen Schusterjungengesicht. „Heiß“, flüsterte sie. „In deinem Fall eher lauwarm. Bloß nicht schwitzen, lautet doch die Parole.“ „Denn schwitzen ist animalisch“, ergänzte sie, „und stört meine Geruchsnerven. Aber ich bin ja im Urlaub.“ Das klang schon nach etwas mehr als gar nichts. Da er zu gerne gewußt hätte, wo ihr Vater war, und er annahm, daß dies nur auf Basis des Vertrauens zu erfahren war, und Vertrauen sich durch Intimitäten rascher herbeiführen ließ, wich er dem Druck ihrer Hüften nicht länger aus. Im Gegenteil, er packte sie hinten und preßte sie an sich. „Vorher oder nachher?“ fragte er. „Das Schlechte immer nach dem Guten.“ „Und was wäre in unserem Fall das Gute?“ Sie verdrehte die Augen zum Bett hin. Es war aufgedeckt. „Was hältst du germanischer Hunnensohn vo m Bumsen?“ „Saublödes Wort. Sind wir Urwaldtrommeln?“ „Ja“, keuchte sie. „Ich schon. Trommle mich, Trommler.“ Er fing nicht gleich mit einem Riesenwirbel an, sondern streichelte erst einmal mit einem Jazzbesen zärtlich das gespannte Fell. Der Jazzbesen waren seine Fingerspitzen und das Fell ihre nackten Schultern unter dem Bademantel. Dann kam der Rücken dran mit seiner Mittelfurche, die später in eine tiefere Furche überging. Nun wanderten seine Fingerspitzen herum und hinauf zu ihren 79
Brüsten. Als alles an ihr vibrierte, ließ er die Finger wieder tiefer wandern. Sie umkreisten die Nabelkuhle, kreisten am Nabel zur Seite, wo das Tal der Lenden begann, zum Oberschenkel, um dessen Rundung und durch das Tal der Königin zu der Wölbung aller Wölbungen. Aus welchen Gründen auch immer, sie war dort so kahl wie unter den Achseln, was jede Intimität nur steigerte. Nur ahnten die meisten Frauen nichts davon. Der kahle speckige Hügel wölbte sich erst vor, dann zurück und endete in einer Spalte. Als er dort angelangt war, stöhnte sie nur noch. „Wenn du jetzt aufhörst“, drohte sie, „dann bringe ich dich um. – Das wird ein Doppelmord. – Erst dich, dann mich.“ „Mord hinterläßt stinkende Leichen.“ „Du darfst mich töten“, sagte sie rasend vor Wollust, „umbringen, foltern, quälen, aber laß es mich genießen.“ Genau das hatte er vor. Sie war nicht wunderbar, aber anders. Sie war nicht Fisch, nicht Fleisch, nicht Blütenhonig, nicht exotische Frucht, sie lieferte eine ziemlich sensationelle Show mit absolut geruchloser überdrehter Sinnlichkeit. Sie war der Berg und er die Maus, aber die Maus fand den Eingang und brachte den Berg zum Kreisen. Es war, als hätte man das Meer daran gehindert, Ebbe und Flut zu bilden, bis das Meer hochschäumte und in einer Springflut explodierte. Die Sturmflut nahm kein Ende. Sie hielt an, bis die Schatten länger wurden. Dann erst flössen die Ströme wieder ab ins Meer. ,,Du bist ein Teufel“, sagte sie völlig erschöpft. „Und du bist eine Zauberin, denn du duftest nach Jasmin.“ „Jasmin ist leider out“, flüsterte Gwendolyn Gregory.
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Als sie Champagner trank statt Mineralwasser und ein Steak mit Pommes verdrückte statt Bio-Joghurt, wurde alles ein wenig sachlicher. „Nun das Schlimme“, erinnerte sie ihn. Nach körperlichen Erschöpfungen neigte Urban zu Direktheit. „Was bedeutet G-D-V im Klartext?“ fragte er grob. „Geschlechtsverkehr durch Vagina“, antwortete sie. „Und wenn es im Notizbuch eines Bankiers steht, der über rumänische Geheimkonten verfügt?“ Sie leerte das Champagnerglas, lehnte sich zurück und bat um eine Zigarette. Erst dann sagte sie: „G-D-V, das sind Gregory, Dumont und van Daam, logisch, oder?“ „Gut. Und was bedeutet: G-D-V je hunderttausend Dollar?“ „Daß sich die alten Arschgeigen womöglich kaufen ließen“, erwiderte sie voller Entsetzen und Abscheu. „Von den Rumänen, logisch, oder?“ „Oder“, wandte sie hilfesuchend ein, „es ist eine hundsgemeine Unterstellung.“ „Was verbirgt sich hinter Orion?“ bohrte er weiter. „Alles Wahnsinn. Ultimatum, Erpressung, Bestechung, Orion, alles Wahnsinn.“ „Ich muß deinen Vater sprechen.“ Sie drückte die Zigarette aus. „Ende der Affäre!“ Dann ging sie ins Badezimmer. Als sie zurückkam, war sie angekleidet, warf alles in den Koffer, schlüpfte in den pelzgefütterten Trenchcoat und überzeugte sich durch einen Griff in die Taschen, daß ihr Autoschlüssel vorhanden war. „Adieu“, sagte sie. „Wohin gehst du?“ „Es war wunderbar, aber du bist ein unerträglicher Hunnensohn.“ 81
„Weiß ich.“ „Bulle bleibt Bulle. Du wirst dich nie ändern.“ „So wenig wie du.“ „Und genau deshalb“, rief sie. „Servus dann!“ Sie sagte nicht: genau deshalb gehe ich, sondern sie ging einfach. Urban stand am Fenster. Er sah Gwendolyn in ihr Cabrio steigen und wegfahren. – Aber gegenüber vom Hotel standen immer Taxis. Er griff den Burberrys und die Reisetasche und stürmte hinunter. Nach der Verschnaufpause raste er wieder hinter der Zeit her. Es war Nachmittag und ziemlich genau 44 Stunden vor Ablauf des Ultimatums. 13. Im Frühjahr 1940 besichtigte Admiral Canaris die Spezialeinheit der Division Brandenburg. Eine Woche später sickerten die ersten als Zivilisten getarnten Männer der Ölschutzorganisation in Rumänien ein. Ihr Einsatz wurde von Wien aus gesteuert und erwies sich insofern als schwierig, als es unmöglich war, mit einigen hundert Agenten alle gefährdeten Punkte zu sichern. Der Kommandeur der Rumäniengruppe der Division Brandenburg flog deshalb nach Berlin und traf den Chef des Geheimdienstes in dessen Büro. Es war ein kühler, klarer Morgen. Die Zentrale war das reinste Tollhaus und der Admiral der Antreiber. „Wie“, fragte der Kommandeur der Brandenburger, „bitte, soll ich mit meinen geringen Mitteln und den paar verfügbaren Mä nnern meinen Auftrag erfüllen, wenn vom Geheimdienst keine 82
Hinweise kommen. Das ist, als wollte man einen Bienenschwarm mit einem Fischernetz einfangen.“ Der General telefonierte auf drei Apparaten. Immer wieder kamen Offiziere herein, legten Meldungen auf den Tisch, gingen, andere kamen und baten um Befehle. Der Kommandeur der Division Brandenburg stand auf und trat ans Fenster. Hoch am Himme l donnerten Geschwader von schweren Transportflugzeugen nach Norden. „Was, zum Teufel, ist eigentlich los?“ fragte er schließlich den Admiral. „Die Meute“, sagte Canaris in seiner leisen Art, „ist los. Meine Agenten in London erfuhren, daß die Engländer Norwegen besetzen wollen. Hitler muß ihnen jetzt zuvorkommen, um die Nachschubwege für das schwedische Erz über Narvik zu sichern. In wenigen Stunden läuft unsere Flotte und alles, was wir an Soldaten auf Frachter bringen können, aus in Richtung Oslo. Fallschirmjäger werden abspringen, um die Häfen, die Flugplätze, die Kraftwerke und die Eisenbahnlinien in die Hand zu bekommen. – Ein neuer Blitzkrieg. Aber angenommen, meine Information, die ich ans Führerhauptquartier we itergab, erweist sich als Ente, dann machen sie mich einen Kopf kürzer. Und da fragen Sie mich, Generaloberst, was los ist. Die Hölle ist los.“ Der Admiral hatte also erheblich andere Sorgen. Er versicherte dem Kommandeur der Brandenburger Division jedoch, daß er binnen weniger Tage die gewünschten Einzelheiten liefern würde. Wie diese von heute auf morgen zu beschaffen waren, darüber konnte sich der Generaloberst keine Vo rstellung machen. Canaris deutete es an. „Genaugenommen sollte ich jetzt, zu dieser Stunde, in Venedig sein. Dort wartet ein Gewährsmann. Ich mußte die Reise ve rschieben, denke aber, daß uns diese Norwegensache nur für kurze Zeit zurückwirft.“ 83
In der ersten Maiwoche des Jahres 1940, in den wenigen Tagen zwischen Beendigung der No rwegenoperation und dem Beginn des Feldzuges im Westen, flog Admiral Canaris nach Venedig. Nach seiner Ankunft kleidete er sich in Zivil und traf in Harry’s Bar am Canal Grande einen Mann, dem er vorher nie begegnet war. Dieser Mann hieß Moruzow und war angeblich nicht zu übersehen. Er sei von stattlichem Wuchs, hieß es, habe eine hohe Stirn und große dunkle Augen unter schweren Lidern. Canaris besaß auch ein Foto vom Chef des rumänischen Nachrichtendienstes, konnte ihn aber in keiner Ecke der Bar entdecken. – Gewiß war er verhindert zu kommen. Andererseits galt Moruzow als zuverlässige Persönlichkeit, die Verabredungen und Abmachungen strikt einhielt. Canaris wartete weiter. Plötzlich fühlte der Admiral eine Hand auf der Schulter, und am Ohr vernahm er ein Flüstern. „Canaris?“ Er drehte sich um und erkannte den Rumänen sofort. „Moruzow!“ Wie alle bessergestellten Rumänen wirkte der Offizier hoch elegant. Er sah so gut aus, daß man ihm bei der Ufa in Babelsberg sofort eine Filmrolle angeboten hätte. Die Herren zogen sich in eine Ecke zurück. Sie nahmen Kaffee, dazu die kleinen Kuchen, die hier allgemein geschätzt wurden, und waren sofort bei der Sache. „Mein Problem ist“, klagte Canaris, „wie ich mit drei Kaffern eine Elefantenherde aufhalten kann.“ Obwohl allgemein behauptet wurde, Moruzow stehe auch mit dem sowjetischen Geheimdienst in Verbindung, verstand Canaris sich sogleich prächtig mit ihm. Auch der Rumäne war ein Mann, der die Fakten liebte. „Mein Geheimdienst“, sagte er, „hat über das ganze rumänische 84
Ölgebiet ein Netz von Vertrauensleuten gespannt. Was wir an geplanter Sabotage aufdecken, geht als Meldung an Sie. Die Gegenmaßnahmen sind dann Ihre Sache, Canaris.“ „Daß die ersten Anschläge der Briten und Franzosen danebengingen, war wohl mehr Zufall als Ihr Verdienst“, wandte Canaris ein. „Jetzt werden sie es auf die Eisenbahnlinien abgesehen haben. Organisieren Sie also eine Begleitung der Öltransporte auf der Schiene.“ Canaris schrieb keine Notizen, er verfügte über ein ausgezeichnetes Gedächtnis. „Ab sofort“, erklärte er, „wird auch jeder Öltanker, der in Richtung Deutschland fährt oder auf dem Rückweg nach Rumänien ist, von Agenten der Division Brandenburg begleitet. Wir tarnen sie als Angestellte der Donaudampfschiffahrtgesellschaft.“ „Verfügen Sie über genügend Leute?“ erkundigte Moruzow sich. „Ich hoffe“, äußerte Canaris vorsichtig. „Aber beim Einbau von Vertrauenspersonen als Werkmeister, Vorarbeiter und Wachpersonal bei den Raffinerien müssen Sie uns behilflich sein.“ Moruzow zeigte Verständnis für die deutsche n Interessen. Er war bereit, an deren Wahrung mitzuwirken, und Canaris fragte sich, warum er dies tat. Es gab nur eine Antwort: Moruzow vermutete, daß es irgendwann zu einem Angriff der Roten Armee auf Rumänien kommen würde. Dann wollte er seinen Freunden in Moskau die rumänische Ölindustrie möglichst unbeschädigt übergeben. Als Canaris und Moruzow sich in Venedig trennten, hoffte jeder von ihnen, für seine Pläne den Rücken freizuhaben.
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Hinweisen aus der Securitate verdankte die Division Brandenburg es, daß sie große Sabotageakte verhindern konnte. Sie störten die Alliierten-Kommandos, als sie einen Tunnel und ein Viadukt der Eisenbahnlinie von Ploesti nach Temeschwar zu sprengen versuchten. Es kam lediglich zu zwe i Zwischenfällen, wobei mehrere Ölwaggons entgleisten, explodierten und Rangieranlagen beschädigten. Die Schäden waren binnen weniger Tage behoben. Inzwischen hatte ein Korvettenkapitän namens Weiß den Ölschutz auf und entlang der Donau aufgebaut. – Zivilisten der Division Brandenburg entdeckten, wie in einem Betonwerk bei Orsova zwei Lastkähne mit Flüssigzement gefüllt wurden. Die Kähne machten bei Dunkelheit los und trieben donauabwärts auf das Eiserne Tor zu. Es war bekannt, daß mit zwei querstehenden Wracks diese Engstelle zu schließen sein würde. Im Morgengrauen, als die Betonkähne nur noch wenige Kilometer vom eisernen Tor entfernt dahintrieben, gelang es Männern der Division Brandenburg, sie zu entern. Sie überwältigten im Nahkampf das Personal an den Rudern, steuerten die Kähne aus der Fahrrinne und setzten sie in Ufernähe auf Kiesbänke. Wenig später wurde das gleiche mit einem Raddampfer versucht. Er sollte einen donauaufwärts fahrenden Schleppzug im eisernen Tor rammen. Es kam zu einem Zusammenstoß. Allerdings ein Stück weiter auf Negotin zu. Tausend Tonnen Benzin flössen in die Donau und brannten in einem Feuer ab, das zwar eindrucksvoll war, aber sonst nichts bewirkte. Am nächsten Tag erschien in der britischen Presse folgende Meldung: Im Krieg um das rumänische Öl gelang britischen Kommandoeinheiten binnen kurzem schon der vierte Anschlag: Donau gesperrt – Großbrand in Ploesti – Brücken, Bahnlinien und Hafenanlagen zerstört. 86
Zu diesem Zeitpunkt lief die rumänische Erdö lproduktion reibungslos und in einem Ausmaß wi e nie zuvor, um Hitlers Kriegsmaschinerie zu versorgen. Admiral Canaris mußte eine Niederlage ganz anderer Art einstecken. Antonescu, der nach der Abdankung König Carols in Rumänien die Regierungsgeschäfte führte, ließ Moruzow verhaften. Man betrachtete den Geheimdienstchef als unbequemen politischen Gegner. Als Canaris in Berlin davon hörte, eilte er nach Bukarest. Er wollte Moruzow als Mitarbeiter nicht verlieren. Notfalls war er bereit, Moruzow jeden Schutz und auch Asyl zu gewähren. Der rumänische Geheimdienstchef wurde zu Canaris’ Erleichterung freigelassen. Doch schon wenige Tage später erreichte den Admiral die Nachricht, daß Moruzow ermordet worden sei. Und zwar von einer Gruppe, die sich Die Ritter vom Eisernen Tor nannte. 14. Sie hatten in Dumonts Haus bei Wädenswil am Zürichsee Quartier genommen. Eine ältere Frau aus der Nachbarschaft versorgte sie. Auf van Daams Frage, wie es weiterginge, antwortete der Engländer: „Was glaubst du, warum ich aus Maidstone abgehauen bin?“ „Weil du auf einen Schnüffler geschossen hast.“ „Und warum habe ich das wohl?“ „Weil er hinter dir her war, denke ich.“ „Zunächst war er hinter Halifax her. Ich benutzte Halifax als Tarnung, um mit diesem Burschen aus Rumänien Kontakt aufzunehmen, sobald er eingetroffen war. Aber statt des rumänischen Geldkuriers kam ein Agent des BND.“ 87
„Das erklärt nicht ausreichend, warum wir hier sitzen und warten, bis er uns einholt.“ „Er ist hinter uns her“, sagte Dumont. „Aber er wird uns nicht finden. Und wenn er uns findet, sind wir längst jenseits der Alpen.“ Van Daam hatte nur eine Sorge. „Wann findet die Alpenüberquerung statt?“ Gregory telefonierte gerade. Er sprach mit einem Mann in Zürich. Dieser Mann wiederum gab offenbar eine Erklärung ab, die ihn zu beruhigen schien. „Wie lautet die genaue Anschrift dieses Hauses?“ wandte er sich an Dumont. Der Franzose sagte es ihm. Gregory gab es nach Zürich durch und traf eine Verabredung für den nächsten Vormittag. Am Abend erklärte er van Daam, was Dumont schon wußte, nämlich, daß es in Rumänien eine Gruppe von Leuten gab, die für gewisse Informationen bereit waren, eine Menge Geld hinzublättern. Die Ritter wurden von der Schweizer Haushälterin gut verköstigt. Später zogen sie sich in die Kaminhalle zurück, rauchten, schmiedeten Pläne und warfen ab und zu einen Blick auf die Fernsehröhre. Bei den Zwanzig-Uhr-Nachrichten erfuhren sie es zum ersten Mal. „Was war das, bitte?“ fragte der Holländer irritiert. „Keine Ahnung von der politischen Lage“, gestand Gregory. „Ich bin seit vier Tagen unterwegs.“ Auch Dumont zeigte sich völlig überrascht. „Was, zum Teufel, quasseln die da von einem Ultimatum?“ Sie schalteten auf andere Kanäle, hörten es um Mitternacht noch einmal genauer und verfolgten am Morgen im Radio den neuesten Stand der Dinge. 88
„Was sagt ihr dazu?“ fragte van Daam erschüttert. Seine Freunde schwiegen betreten. „Kommt darauf an, was man davon glauben darf.“ Ein Ultimatum Nationale Katastrophe für Rumänien, Sind wir es etwa, die diesen Gangstern bei der Durchführung helfen sollen? Sind wir etwa ihr Werkzeug…“ „Ändert das die Lage?“ fragte der Franzose. ,,Laßt uns darüber nachdenken.“ „Was gibt es da lange zu denken.“ „Laßt uns die Lage analysieren. Es war schon immer unser Wahlspruch: Hören, prüfen, abwägen, handeln.“ Daran hielten sie sich auch jetzt, nach fünfundvierzig Jahren noch. Am Ende faßte van Daam seine Meinung in einen Satz: „Menschen, die Henkerblut an den Händen tragen“, sagte er, „kann ich selbst auf große Entfernung nicht ertragen.“
Pünktlich auf die Minute fuhr der Wagen aus Zürich vor. Der Mann, der ausstieg, trug dunklen Anzug, Schlips und Kragen. Er hatte einen kantigen Schädel, ein energiegeladenes Kinn und trotz Glattrasur einen dunklen Schimmer um die Wangen. – Bei einem schwarzhaarigen Typ war das keine Seltenheit. „Das ist kein Schweizer Bankier“, behauptete Gregory, am Fenster stehend. Der Besucher eilte auf das Haus zu, setzte den Koffer ab und überlegte anscheinend, wie er den Eingang fand, ob er besser links oder rechts herumging. Er fand ihn und läutete. Die Schweizerin öffnete. Der Mann murmelte einen Namen, den sie nicht verstand. Sie meldete den Besucher beim Hausherrn, und schon stand der Mann aus Zürich mit seinem Koffer in der Halle. 89
„Mein Name ist Studenku.“ Er sprach englisch mit Balkanakzent. „Ich vertrete den leider verhinderten Lubenku. Wer von den drei Herren ist Colonel Halifax?“ Gregory hob die Hand. „Ich bin zuständig.“ Der Besucher hievte den Koffer auf den Tisch, öffnete ihn und nahm drei dicke braune Umschläge heraus. „Inhalt je hunderttausend Dollar“, sagte er, „wie abgemacht. Bitte abzuzählen, Gentlemen.“ Nun war es der Franzose, der ihm den Entschluß seiner Freunde mitteilte. „Behalten Sie Ihren Judaslohn, Studenku.“ „Was soll das heißen, Gentlemen? Wir haben Vereinbarungen getroffen mit einem Gentleman aus der Gilde der Ritter vom Eisernen Tor, wonach Sie uns Hinweise liefern werden.“ „Das hat sich erledigt“, erklärte Dumont eiskalt. „Vertrag ist Vertrag, Gentleman.“ „Los, packen Sie Ihre Blüten ein“, forderte van Daam, „und ziehen Sie Leine, bevor ich Sie mit einem Tritt in den Allerwertesten ins Freie befördere.“ Der Rumäne legte die Umschläge wieder in den Koffer zurück. Doch ehe er ihn schloß, holte er eine Armeepistole heraus und richtete sie gegen die drei Gentlemen. „So kommen Sie uns nicht davon.“ Es war wie in alten Zeiten, wenn sie in gefahrvolle Situationen gerieten. Sie spielten das bewährte Spiel. Van Daam trat nahe an den Mann mit der Pistole heran und fixierte ihn. „Noch einen Schritt und ich töte Sie“, warnte der Rumäne. „Dann mich und dann uns alle“, ergänzte Gregory. „Was ist dann erreicht, bitte?“ „Wenn einer von euch übrigbleibt, verrät uns das“, erklärte der Rumäne und preßte den Lauf der Waffe in van Daams Leib. 90
Doch hinter van Daam stand Dumont. Wie auf Verabredung kippte der Holländer den Kopf ein wenig zur Seite. Blitzschnell sauste die geballte Faust des Franzosen zwischen van Daams Hals und seiner Schulter nach vorn und traf den Rumänen so überraschend am Kinn, daß er keine Zeit zum Ausweichen mehr hatte. In Studenkus Kiefer krachte es bedenklich. Er taumelte nach hinten, zog aber durch. Die Kugel fuhr in die Decke. Schon waren sie über ihm, bearbeiteten ihn mit Tritten und Hieben, fesselten und knebelten ihn. Dann warfen sie ihn auf das Sofa und trafen schnelle Entscheidungen. „Nichts wie weg“, sagte van Daame. „Wohin?“ Dumont rief seine Haushälterin. „Ist der Gotthardpaß schon offen?“ „Ich glaube, sie haben ihn schneefrei gemacht und vor ein paar Tagen geöffnet.“ „Wenn wir jetzt gehen“, sagte Dumont zu der Schweizerin, „verschwinden auch Sie für einige Zeit. Am besten, Sie betreten das Haus in den nächsten Tagen überhaupt nicht.“ „Ich bringe nur dies und das in Ordnung.“ „Nicht in der Halle. Da ist Zutritt verboten.“ „Was sollte ich in der Halle, Monsieur“, tat sie beleidigt und verschwand, „Und das Geld?“ fragte der immer etwas klamme van Daam. „Dollar sind für alte Knaben“, zitierte Gregory, „eine von den besten Gaben.“ „Ich trinke auch gerne mit“, gestand Dumont, „ohne die Flasche zu bezahlen.“ Also bedienten sie sich und trugen ihre Sachen in den weißen CX. »Was machen wir mit ihm?“ fragte Gregory und meinte den Rumänen. 91
„Wir rufen die Polizei an, wenn wir in Italien oder in Spanien sind. Typen wie er halten das ein paar Tage aus. Er mag stinken wie eine rumänische Jauchegrube, aber er hält es aus. Wer fährt? Van Daam ist heute dran.“ Der Holländer winkte ab. „Ich fahre nur noch nachts, wenn es keiner sieht. Hab keinen Führerschein mehr.“ Also klemmte Dumont sich hinter das Lenkrad. Aber vorher brauchte er einen tüchtigen Schluc k Remy Martin.
Unter Absingen der alten Lieder vom Lagerfeuer, vom einsamen Soldaten am Wolgastrand und von der Landsknechtliebe fuhren sie auf der Autobahn über Zug, dann hoch am Vierwaldstätter See entlang nach Andermatt. In Andermatt hatte Dumont so viel Cognac intus, daß er Gregory den Citroen überließ. Aber auch der Engländer hatte nicht viel weniger geschluckt. Deswegen fühlten sie sich alle prächtig. Der Himmel zog sich zu, es regnete, und sie träumten von der Sonne Spaniens. „Muß mal wieder Palmen sehen“, sagte van Daam, „und den Flamenco-Mädchen unter die Röcke.“ „In deinem Alter?“ Sie tankten voll und besorgten Nachschub an Cognac. Die Autobahn begann, in Richtung Gotthard zu steigen. Tunnels kamen, Viadukte, wieder Tunnels. Als sie ziemlich nahe der Paßhöhe aus einem Tunnel rollten, war der Regen in Schnee übergegangen. Er fiel in dicken, nassen Flocken. Zunächst wurde der einarmige Wischer des Citroen noch damit fertig, aber bald schon wischte er den Schnee auf der Frontscheibe 92
hin und her. Der Matsch auf der Straße wurde fest. Die Reifen rollten lautlos ab. Man hörte nur noch den Motor. „Du hast ja wohl Winterreifen drauf“, sagte Gregory zu Dumont. „Wozu? In Paris liegt der Schnee so kurz wi e lang.“ „Fahren wir eben bis Barcelona durch“, rief van Daam und sang Lili Marleen. „Erst mal über den Paß.“ „Im Tessin scheint immer die Sonne.“ An Steigungen kamen sie immer mühsamer vo rwärts, doch der CX mit seinen Michelin-Reifen mahlte sich eisern durch, Mit einemmal begann der Wischer zu schrammen. „Scheiße“, fluchte Gregory, „Eis! Es friert.“ „Kein Wunder. Das darf es auf sechzehnhundert Meter Höhe.“ „Laß van Daam ran. Er fährt am besten.“ „Wenn ich jetzt anhalte, bleiben wir stecken.“ Van Daam schwenkte die Cognacflasche. Sie war fast leer. Er machte sie völlig leer. Bevor er die nächste Öffnete, sorgte er für Ordnung. Er kurbelte die Scheibe herunter, um die leere Flasche hinauszuwerfen und fluchte. „Er ist hinter uns.“ „Wer?“ „Schwarzer Mercedes.“ „Davon gibt es mehrere hier.“ „Züricher Nummer.“ „Der Bursche kam nicht so schnell aus den Fesseln. Der nicht.“ „Er ist ausgebildeter Securitate-Agent.“ „Kannst du sein Gesicht erkennen?“ „Nein, Ja. Oder doch nicht. Leg mal einen Zahn zu, gib zehn Umdrehungen mehr.“ Sie waren schon fast oben, und es wurde deutlich flacher. Gregory trat das Gaspedal durch. De r luftgefederte Citroen bahnte 93
sich den Weg jetzt durch den Neuschnee, der auf Eis lag. Man hatte den trügerischen Eindruck, er fahre auf Schienen. Jenseits der Paßhöhe, beim Abstieg auf Bellinzona zu, wurde der Citroen mit einemmal zu schnell. Gregory bremste und konnte ihn gerade noch fangen. Er schaltete zurück. Es half wenig. Beim Bremsen kam das Wagenhinterteil imme r wieder herum – Und der schwarze Mercedes war schon dichtauf. Enge Serpentinen kamen. Die Kurven waren über hohe Betonstreben geführt wie eine Achterbahn. Scharf links, scharf rechts. Der Wagen rutschte. „Aufpassen!“ schrie Dumont. Van Daam hielt sich krampfhaft fest. Gregory kurbelte, schaltete noch weiter herunter, kuppelte aus, bremste. Er tat, was er konnte, aber gegen Eis unter Schnee und ein zu hohes Tempo in der Kurve war er machtlos. Durch sein Gewicht – besetzt mit drei Mann, beladen mit Gepäck – und die überhöhte Geschwindigkeit drängte der CX nach außen. „Aufpassen!“ schrie Dumont erneut, als er sah, daß der CX nicht zu halten war und daß es vor ihnen senkrecht in ein wildes Tal mit steilen, felsigen Flanken an der Böschung hinabging. Fallwinkel achtzig Grad, Tiefe wenigstens zweihundert Meter. Der Citroen rutschte wie ein flach geworfener Kiesel über die Straße, kippte dann ab und schien hängenzubleiben. – Aber Gott der Allmächtige hielt diesmal seinen Daumen nicht dazwischen. Der schwere Motor verlieh dem CX Übergewicht nach vorne. Der Sturz in die Schlucht bestand vorwiegend aus Überschlägen und seitlichen Rollen. „N-nei-nn…!“ schrie van Daam gellend. Der Citroen prallte von einer Felsnase ab. Die hintere Tür ging auf. Der Holländer wurde herausgeschleudert. Die tonnenschwere Limousine wälzte sich über ihn und blieb liegen. 94
Stille. – Zischen von Kühlwasserdampf. – Ein Knistern im Auspuff. – Etwas tropfte. Wenn es Benzin war, dann stand in Sekunden alles in Flammen. 15. Urbans Taxifahrer hatte das Cabrio eingeholt. Urban sah es in Wädenswil in eine Seitenstraße abbiegen. Etwa zweihundert Meter weiter oben hielt es vor einem Haus. Gwendolyn Gregory stieg aus, eilte durch das Gartentor und die Treppen zu dem Haus hinauf. Urban wartete. Nach etwa fünf Minuten bezahlte er den Taxifahrer und folgte ihr. Oben an der Tür stieß er mit Gwendolyn zusammen. Sie kam schon wieder heraus und war in höchster Eile. „Sie sind weg.“ „Wohin?“ „Später.“ „Woher weißt du es?“ „Alles später!“ rief sie. „Komm mit, wir müssen hinterher.“ Sie stieg ein, stieg wieder aus und sagte: „Du fährst, ich bin zu aufgeregt.“ Urban ließ den 304-Motor an, wendete, fuhr zur Straße und zögerte. Sie packte seinen Arm. „Nach rechts, nach Süden runter.“ „Nach Süden geht es erst mal den Berg hinauf.“ „Du sollst jetzt verdammt keine Fragen stellen, sondern fahren.“ Nachdem sie eine Zigarette geraucht hatte, informierte sie ihn. „Es ist Dumonts Haus. Sie wollten hier ein, zwe i Tage bleiben. Mein Vater hatte noch ein Geschäft abzuwickeln.“ „Das mit dem Bankier Buerrli.“ „Mit wem auch immer.“ Sie verhaspelte sich. „Einer, ein Mann, kam mit einem schwarzen Dings, Mercedes. Es gab eine Ausein95
andersetzung. Dabei fiel auch ein Schuß. Sie fesselten den Mann und fuhren in Eile weg.“ „Wann war das?“ „Vor ein paar Stunden.“ „Wo ist der Gefesselte? Außerdem sah ich keine n Mercedes.“ „Die Haushälterin hat den Mann befreit. Sie fürchtete, er würde am Knebel ersticken.“ „Von hier aus können sie in mindestens vier Himmelsrichtungen gefahren sein“, sagte Urban. „Dumont fragte die Schweizerin, ob der Gotthard schneefrei sei. Los, fahr schneller Kumpel!“ Sie hoffte wohl, sie könnte die drei einholen. „Dumont hat einen weißen Citroen CX.“ Sie studierte die Straßenkarte. „Bis Como werden sie die Autobahn wohl nicht verlassen. Wohin sollen sie schon fahren, jetzt im Winter.“ „In den Süden, Kumpel“, sagte Urban. „Bis zur italienischen Grenze haben wir eine Chance, sie zu kriegen. Das sind dreihundert Kilometer.“ „Und sie haben drei Stunden Vorsprung.“ „Drum fahr schneller, du Klugscheißer, du germanischer.“ Urban überlegte. Er wußte, was er tun würde, wenn er sie erwischte. Was aber hatte Gwendolyn vor? „Und wenn wir sie haben“, tippte er an. „Deine Sache. Du bist seit London hinter meinem Vater her. Muß ich dir sagen, was du zu tun hast, wenn du vor ihm stehst?“ „Ich weiß es noch nicht“, log Urban. „Nur eines weiß ich. In weniger als vierzig Stunden läuft in Rumänien das Ultimatum ab.
In den Tälern hingen Nebelfetzen. Es hatte aufgehört zu regnen. Oben am Paß gleißte die Sonne auf dem Neuschnee, aber sie hing schon tief über dem Furka, als Urban und Gwendolyn aus dem 96
Tunnel fuhren. Räumkolonnen waren unterwegs. Weiter unten kreiste ein Hubschrauber. Nach zwei Kehren war die Straße gesperrt. Urban sah die Drehlichter von Rettungs- und Bergungsfahrzeugen. Polizeivolvos standen da, Schneefräsen, ein Lastwagen mit Streusalz und eine Reihe von Personenwagen. Die Leute waren ausgestiegen und gafften. Urban und Gwendolyn Gregory gesellten sich zu ihnen. „Wir fuhren einen guten Schnitt bis hierher“, sagte sie. „Aber wenn das hier länger dauert, sind die drei auf und davon.“ Unten in der Schlucht lag ein Fahrzeugwrack. Männer des Rettungsdienstes hatten sich an Stahlseilen hinabgelassen. Verletzte wurden in Ackjas, den alpinen Rettungsschlitten, hochgezogen. Ein zugedecktes Unfallopfer lag schon am Straßenrand. Eine Alufolie bedeckte sein Gesicht. Also war er tot. Da von Polizisten in der Regel wenig zu erfahren war, bat Urban den Fahrer der Schneefräse um Feuer für seine Monte Christo. „Was ist passiert?“ „Glatteis. Zu schnell gefahren. Er rutschte aus der Kurve. Keine Chance.“ „Haben Sie es beobachtet?“ „Ich gab es über Funk ins Tal.“ „Oder war noch ein anderer am Unfall beteiligt?“ „Ich sah nur kurz einen schwarzen Wagen. Schwere Limousine, Mercedes vielleicht. Er hielt an, fuhr weiter. Was sollte er tun.“ „Kennzeichen?“ „Es hat geschneit, mein Herr. Aber der Mercedes kam wohl aus Zürich.“ „Und der Wagen, der abstürzte?“ „Er war weiß, lang, flach. Heute sehen die Autos ja alle gleich aus, wie Schuhschachteln. Kann ein Audi hundert gewesen sein, ein Kombi, aber auch ein Citroen. Fragen Sie die Polizisten.“ 97
Im selben Augenblick fühlte Urban, wie sich Fingernägel in seinen Arm krallten. Trotz Hemd, Sakko und Mantel spürte er sie bis auf die Haut. Er drehte sich um. Gwendolyn Gregory stand da, kalkweiß, weißer als der Schnee ringsum, mit vibrierenden Lippen und Tr änen in den Augen. „Der Tote…“ Obwohl sie neu ansetzte, stotterte sie. „Der Tote ist Du-Dumont.“ „Bist du sicher?“ Sie zog ihn mit sich und hob die Alufolie vo n dem zugedeckten Unfallopfer. „Dumont.“ Ein Polizist kam hinzu. „Bitte gehen Sie weiter.“ „Ich kenne diesen Mann“, sagte sie tonlos. „Er und zwei Freunde waren in diesem Wagen unterwegs. Der eine ist mein Vater.“ „Interessant. Das nehmen wir ins Protokoll auf.“ Gerade jetzt kam die nächste Rettungswanne an der Motorwi nde heraufgefahren. Unter der Wärmefolie lag der Holländer. „Van Daam“, identifizierte Gwendolyn Gregory ihn. Der Notarzt schob sie zur Seite und untersuchte den Bewußtlosen. „Brandwunden und innere Verletzungen“, diagnostizierte er und rief über das Sprechfunkgerät den Rettungshubschrauber. Der landete an der oberen Kante, wo die Straße breit genug war. Sie trugen den Schwerverletzten hinauf. De r Hubschrauber startete und flog sofort Richtung Bellinzona Bald pendelte der letzte Ackja aus der Schlucht herauf. Der Arzt untersuchte den dritten Mann. Der Befund war unklar, also traf der Arzt die Anordnung, ihn in den Sankawagen zu schieben. „Tot?“ fragte Gwendolyn fassungslos. „Nein.“ „Verletzt?“ 98
„Kann ich nicht sagen, Gnädigste“, äußerte der Notarzt. „Wie es aussieht, hatte er unvorstellbares Glück. Nur ein starker Schock.“ Gwendolyn rannte hinter den Trägern her, faßte die Hand ihres Vaters, sagte ein paar Worte, aber Gregory starrte mit offenen Augen teilnahmslos zum Himmel. Er sah und hörte nichts. „Darf ich mitkommen?“ fragte sie den Fahrer. „Unmöglich.“ „Ich bin seine Tochter.“ „Können Sie sich ausweisen?“ Der Arzt kam hinzu. „Keine Konferenz hier, Leute. Bringt ihn ins Hospital, aber dalli. Ein Schock kann schlimme r sein als eine Verletzung. Bei älteren Leuten führt das oft zu Kreislaufzusammenbruch und Herzstillstand. – Los, ab die Post! Sie finden uns im Hospital in Bellinzona, Madame.“ Der Sanka fuhr weg. Ein Kranwagen stieß rückwärts an die Straßenkante, um das Wrack heraufzuziehen und zu bergen. Die Polizei hob die Sperre auf. Zuerst durften die Talfahrer durch. Gwendolyn stand da wie eine Puppe aus Pappmaché. Urban nahm sie bei den Schultern. Erst schüttelte sie seinen Arm ab, dann folgte sie ihm. Im Auto fing sie hemmungslos zu heulen an. „Er lebt“, tröstete Urban sie. „Er wird es überstehen.“ „Was ist da passiert?“ „Ein Unfall.“ „Und der schwarze Mercedes?“ Er schaltete das Radio ein. Musik kam. Gwendolyn schaltete es wieder aus. „Hast du Dumont gesehen?“ fragte sie. „Sein Kopf war ab. Sie haben den Kopf nur auf den Halsstumpf gelegt. Es war, als hätte 99
ein Granatsplitter ihm den Schädel abgeschnitten. Er hatte noch einen ganz verblüfften Blick, so, als könne er es nicht fassen.“ „Wie einer, dem so was zum ersten Mal passiert“, sagte Urban. „Da haben sie nun im Krieg gekämpft, nach dem Krieg ging der Kampf um die Existenz weiter, und jetzt, wo sie die Chance hatten, das Leben zu genießen…“ „Jetzt so was.“ „Jetzt begehen sie Dummheiten“, bemerkte Urban, „War es Übermut, Abenteuerlust?“ „Du glaubst nicht an einen Unfall?“ Er wußte nicht, woran er glauben sollte. Er sagte nun „Das Geschäft mit der Spionage, das Leben vo n Agenten, war schon immer gefährlich. Aber heute ist es brutal geworden. Erpressung, Folterungen, Mord sind die Regel. Früher arbeitete man noch mit Heuchelei, Bestechung und Überredungskunst, aber heute…“
Es war dunkel, als sie, in der Schlange fahrend, in Bellinzona ankamen. Sie mieteten sich in einem Hotel in der Nähe des Hospitals ein. Noch vor dem Abendessen gingen sie hinüber. Erst mußten sie warten. Endlich durften sie einen Blick in die Zimmer werfen. Van Daam lag ohne Bewußtsein da. Sein Körper war verdrahtet, sein Kopf steckte in Verbänden. Schläuche führten von der Nase, von Mund und von den Armen zu Apparaten. Sie maßen auch seinen Puls und seine Herztätigkeit. Auf dem Bildschirm des Oszillographen tanzte ein Punkt immer auf und ab. Dazu ertönte ein rhythmisches Piepen. „Keine Chance für ein Gespräch“, sagte der Arzt „Kam er schon zu sich?“ 100
„Ja, für kurz. Die Reflexe sind in Ordnung. Soweit man das bei Pupillen und Gehör feststellen kann. Jetzt schläft er. Wenn die Röntgenaufnahmen vorliegen, wird man weitersehen… ob er durchkommt.“ In Gregorys Zimmer durften sie hinein. Der Engländer lag mit offenen Augen unter der Decke. Er sah seine Tochter, lächelte, hob zum Zeichen, daß er sie erkannt hatte, die Hand. Sie setzte sich neben ihn und tupfte ihm mit einem Tuch die Stirn ab. „Wie geht es dir, Vater.“ „First class, Baby.“ „Was ist passiert?“ „Keine Ahnung. Mir fehlt jede Erinnerung. Vo m Tunnel ab fehlt mir jede Erinnerung, sowohl nach vorn wie nach rückwärts. Kannst du mir zufällig sagen, wie ich heiße?“ „Du scherzt, Vater.“ Er bewegte mühsam den Kopf. „Und wer ist dieser Gentleman? Etwa dein Freund? Ich hoffe es nicht. – Er kommt mir bekannt vor.“ „Er möchte mit dir sprechen, Vater.“ „Worüber?“ „Über Rumänien und die Ritter vom eiserne n Tor.“ „Wer sind die?“ „Van Daam, Dumont und du.“ Er schien sich zu erinnern. „Wie geht es ihnen?“ „Gut“, log sie. „Dann hat es, wie mir scheint, also nur den alten Gregory erwischt. Aber was, zum Teufel, ist eigentlich passiert? Wo sind wir hier?“ Sie sagten es ihm. Dann kam der Arzt. Er wandte sich flüsternd an Urban. 101
„Er braucht Ruhe.“ „Laß uns gehen“, sagte Gwendolyn. „Noch einen Versuch“, bat Urban. „Nein, ich muß sofort gehen. Nichts wie raus hier. Mir wird übel.“ „Schluck es runter.“ „Der eine“, flüsterte sie, „van Daam, stinkt nach Tod. Ich rieche es an der Ausdünstung seine s Körpers. Er wird sterben. Und mein Vater dampft nach dem Schweiß der Angst. Es sieht aus, als quäle die Angst ihn zu Tode. Ja, es ist Angst. Ich rieche auch das.“ Sie gingen zum Hotel hinüber. Auf dem Zimmer nahm Urban einen Imbiß zu sich. Gwendolyn Gregory trank nur Mineralwasser. Sie lag lange stumm da. Einmal sagte sie: „Komm her zu mir.“ Er legte sich neben sie. „Gibt es so etwas wie späte Sühne? Ich meine , wenn man gesündigt hat, muß man dann sofort büßen oder erst nach fünfzig Jahren?“ „Oder nie“, fürchtete er. „Die Sühneorganisation von Gottvaters Gerichtsbarkeit arbeitet nach seltsamen Regeln, Ich kannte Leute, die waren zu schade dafür, daß man ihnen auch nur einen Schluck Muttermilch reichte. Am besten hätte man sie nach der Geburt den Wölfen ausgesetzt. Sie führten ein Leben, das aus Lüge, Betrug, dem Quälen anderer Menschen, Gemeinheit, Mord und Totschlag bestand. Sie wurden uralt und starben friedlich im Bett. Dann kannte ich andere, die waren so, wie man sich einen guten Menschen vorstellt: gerade, sauber, hilfsbereit, bis in den Kern hinein anständig. Und sie kamen früh und auf hundsgemeine Weise um.“ „In welche Kategorie fallen die drei?“
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„In die ganz normale mittlere“, vermutete Urban. „In die, wo jeder eine Chance hat, den Mist, den er gebaut hat, beiseite zu schaufeln.“ „Mein Vater und van Daam, können sie dir helfen?“ „Ich hoffe“, äußerte Urban. „Wenn sie dem Securitate-Agenten nützlich sein konnten, warum nicht auch uns?“ „Wie es aussieht, kommt nichts mehr von ihnen.“ „Nur du bleibst uns erhalten.“ „Van Daam liegt im Koma, mein Vater im Schock.“ „Ja, die Zeit rennt.“ Er schaute nicht auf die Uhr. Er wußte, daß bis zum Ablauf des Ultimatums noch etwa sechsunddreißig Stunden fehlten. „Aber du bleibst uns erhalten.“ „Ein schwacher Trost.“ „Was weißt du noch?“ fragte er, den Kopf schiefgestellt. „Wie kommst du darauf, daß ich noch etwas verschwiegen haben könnte?“ „Du hattest zwanzig Jahre deines Lebens mit deinem Vater Kontakt. Und deine Frage vorhin war so merkwürdig, als wolltest du versuchen, etwas gutzumachen, wozu die Herren Ritter vielleicht nicht mehr in der Lage sind.“ „Ja“, sagte sie. „Ich weiß noch etwas.“ „Und ich werde dich nicht unterbrechen“, versprach er. 16. Frankreich war von Hitler geschlagen worden. Ein großer Teil der britischen Armee hatte sich aus dem Kessel von Dünkirchen nach England retten können. Während der Krieg sich auf dem Mittelmeerraum ausweitete, traten Rumänien und Bulgarien dem Pakt der Achsenmächte bei. Anfang September 1940 dankte der rumänische König Carol II. ab, und Antonescu übernahm als Conductator endgültig die Staatsführung. 103
Im darauffolgenden Frühsommer lief das Unternehmen Barbarossa an. Die Deutschen eröffneten ihre Rußland-Offensive. Daß der Ölnachschub aus Rumänien endlich spürbar beeinträchtigt wurde, war weiterhin eine der Hauptforderungen Londons. Aber für das Dreierteam Gregory-Dumont-van Daam wurde die Arbeit immer schwieriger. Antonescu ließ seine Armee gegen Rußland kämpfen und wahrte jetzt nachdrücklich die deutschen Ölinteressen. – Aus diesem Grund zogen die Ritter vom Eisernen Tor sich für einige Zeit aus Rumänien zurück. Auf Umwegen über die Türkei, Ägypten, Marokko und Portugal trafen sie im Oktober 1941 in London ein. Sie wurden sofort ins Kriegsministerium zitiert, Dort konnten sie einen ausgearbeiteten Plan vorlegen. Er war sehr kühn, aber sie sahen darin die einzige Chance für einen durchschlagenden Erfolg. Der Plan wurde geprüft. Die Navy lehnte ihn ab. Es kam zu heißen Diskussionen, denn auch die Airforce sah sich nicht in der Lage, die rumänischen Ölfelder zu bombardieren. „Noch steht uns kein Flugzeug mit der nötigen Reichweite zur Verfügung“, sagte der Luftmarschall. „Dachte, die Lancaster-Bomber kämen dreitausend Meilen weit“, warf der Lordadmiral ein. „Durchaus“, räumte der Luftmarschall ein. „Aber das genügt nicht. Unsere Einsatzbasen sind zu weit entfernt. Vergessen wir nicht, Kreta ist ausgefallen, ebenso Griechenland und Malta. Die Türken lassen uns nicht landen und auftanken. Wir müssen also von London, von Kairo oder vo m Libanon aus starten.“ Der Lordadmiral hatte die Entfernungen gut im Kopf. Er hatte lange Jahre östlich von Gibraltar eine Flotte kommandiert. „Von Kairo nach Rumänien sind es ziemlich genau dreitausend Meilen hin und zurück.“ 104
„Das schaffen wir leicht“, erwiderte der Luftmarschall. „Aber nur mit Zusatztanks und ohne ein Kilo Bomben an Bord. Und noch etwas kommt hinzu. Die Ölgebiete sind stark geschützt. Sowohl durch deutsche Flak als auch von Messerschmitt-Jägern. Da wir nur nachts angreifen können, ist die Erfolgsquote gering, die Verlustrate aber unangemessen hoch.“ Damit war die Entscheidung wieder dem Lordadmiral zugefallen. Schweren Herzens erklärte er sich bereit, die Operation ausarbeiten zu lassen, „Aber vorher muß mein Stab noch einmal mit diesen drei Experten sprechen“, entschied er.
Der inzwischen zum Major beförderte Gregory referierte, an der großen Karte stehend. „Unsere Truppen haben in Afrika die Italiener zurückgedrängt und sie aus Tobruk wie aus Bengasi hinausgeworfen.“ „Aber jetzt kommt Rommel und bringt uns das Laufen bei“, wandte ein Armeegeneral ein. Als hätte das mit seinem Plan nichts zu tun, fuhr Gregory fort: „Beim Rückzug der Italiener fielen unserer Armee große Mengen an Kriegsmaterial in die Hände. Ich beziehe mich im weiteren nur auf Artilleriemunition, Flugzeugbomben, Minen und andere Sprengmittel. Das Material liegt nahe der Küste. Nach meinen Unterlagen handelt es sich um Tausende von Tonnen, die am Strand verrotten.“ „Munition verrottet nicht so schnell. Sie wird nach militärischen Kriterien produziert und ist nach Jahrzehnten noch verwertbar“, wurde eingeworfen. „Genau das meinte ich damit“, betonte Major Gregory, „und arbeitete es in meine Pläne ein. Gentlemen, beladen wir eines unse105
rer U-Boote bis zur Unterkante Oberluke mit Sprengstoffen. Das Boot wird von einer Minimalbesatzung von der Cyrenaika über das Mittelmeer durch die ägäischen Inseln, durch die Dardanellen, das Marmara-Meer bis Istanbul gebracht.“ „Dort fängt das Problem an“, bemerkte der Lordadmiral. „Die Türken lassen kein Kriegsfahrzeug durch.“ Gregory stellte nun eine kühne Behauptung auf. „Wie ist es dann möglich, daß deutsche U-Boote im Schwarzen Meer operieren.“ „Sie wurden auf der Donau dorthin verfrachtet.“ „Ja, die kleinen vielleicht, aber die großen Kampfboote? Es gibt nur eine Erklärung. Einfallsreiche Kommandanten müssen sie durch die Meerenge zwischen Istanbul und Üsküdar geschmuggelt haben.“ „Die Türken sperren doch den Bosporus.“ „Aber nur bei Nacht.“ „Bei Tag kommt kein U-Boot durch.“ „Und wie, bitte, kamen die Deutschen durch? Vermutlich getaucht im Kielwasser eines Frachters.“ „Der Bospurus ist zu seicht. Man kann da nicht tauchen.“ „Er ist tief genug für einen tüchtigen U-Boot-Kommandanten“, beharrte Gregory. „Und die Gezeiten, die Strömung? Wenn das Boot gesehen wird, war alles umsonst. Dann gibt es einen endlosen diplomatischen Hickhack, dann hagelt es Proteste.“ „Krieg ist Krieg, und Risiko ist Risiko.“ Der Lordadmiral, ein erfahrener Offizier, ging gern auf Nummer Sicher. Aber es gab keine Alternative. Von der Landseite war kein Angriff möglich. Bomber mit der nötigen Reichweite wie der amerikanische Liberator hatten erst das Teststadium erreicht. Wenn der Lordadmiral sich nicht blamieren wollte, mußte er dem Plan zustimmen. Er tat dies mit Einschränkungen. 106
„Na schön.“ Noch zögerte er. „Und wenn das Boot mit, sagen wir einmal, achthundert Tonnen Sprengstoff die rumänische Schwarzmeerküste erreicht hat, wie geht es dann weiter?“ Jetzt erteilte Major Gregory das Wort dem Holländer van Daam. Er stellte ihn als Experten für Binnen- und Seewasserstraßen, als den besten Kenner der rumänischen Ölhäfen nördlich von Konstanza vor. Van Daam erläuterte den Anwesenden, wie das Boot durch das Flußdelta in den Hafen zu bringen war, wo man es plazierte, also versenkte, und wann man sprengen mußte, um die größtmögliche, zerstörerische Wirkung zu erzielen. Van Daam kannte dort unten jede Flußbiegung, die Altwässer, die Wassertiefen, die Inseln, die Kies- und Schlickbänke. Er kannte die Molen und Verladepiers, die einsamen Buchten nahe der Raffinerie und der großen Tanklager. Er schloß seinen Vortrag mit folgenden Worten: „Achthundert Tonnen TNT, dort gezündet, Gentlemen, bedeuten für die rumänische Ölproduktion das totale Aus und für Hitler, daß er dann auf dem trockenen sitzt und sein Benzin für Panzer und Flugzeuge aus der Kohle quetschen muß.“ „Was unsere Bomber ihm tüchtig versalzen we rden“, ergänzte der Luftmarschall. „In sechs Monaten sind wir soweit. Dann schlagen wir zu.“ „Aber vorher ist Rumänien an der Reihe, Gentlemen.“ Einer der Generäle – offenbar hatte er Latein gelernt – sagte: „Oleum rumaenium esse delendam.“
Im Februar des Jahres 1942 war es soweit. Ein U-Boot der Elfhundert-Tonnen-Klasse wurde in einem abgelegenen Becken des Hafens von Alexandria bis auf den letzten Winkel mit TNT, Gra107
naten- und Bombensprengstoff beladen. Dabei handelte es sich im wesentlichen um italienische Beuteware. Das U-Boot, an dessen Rumpf man sorgfältig Nummer und andere Kennzeichen übermalt hatte, ging am Achtundzwanzigsten unter Commander Griffon in See. Zunächst marschierte es in Überwasserfahrt und wurde gegen Flugzeugangriffe von zwei Zerstörern geschützt. Zwischen Rhodos und Kreta, wo der ägäische Luft- und Seeraum von den Deutschen beherrscht wurde, verabschiedeten sich die Begleiter. Nun lief das U-Boot tagsüber getaucht. Erst bei Dunkelheit ging es an die Oberfläche, um seine Batterien aufzuladen und in schneller Dieselfahrt Meilen zu machen. Am 2. März passierte das U-Boot die Dardanellen, durchquerte das Marmara-Meer und legte sich nahe Istanbul auf Grund. Dort wartete Commander Griffon auf eine günstige Gelegenheit. Die Strömung mußte in Richtung Schwarzes Meer setzen, die Tide mußte hoch genug auflaufen, die Uhrzeit mußte stimmen. Dann brauchte er noch einen Lotsen, einen Frachter also, an den er sich anhängen konnte. Voller Ungeduld warteten sie vierzig Stunden, immer am Horchgerät sitzend, immer kurz das Sehrohr ausfahrend. Endlich, am 4. März abends, stimmte alles. Es war dunkel. Leichter Nebel lag auf, und ein dicker Frachter kam von der Prinzeninsel her. Commander Griffon wagte es. „Anblasen!“ befahl Griffon. „Auf zwölf Meter gehen. Tiefe halten. Beide Maschinen halbe Fahrt.“ Normalerweise hatte ein U-Boot dieser Größe fünfundsechzig Mann Besatzung. Sie war bis auf sechzehn unbedingt nötige Spitzentechniker alles erfahrene Leute mit bester Qualifikation – ausgedünnt worden. Die Männer am Tiefenruder fuhren absoluten Strich. – Es gab nur ein Problem. Der Frachter lief neun Knoten, und das erschöpfte die U-Boot-Batterien zu schnell. 108
Querab von Istanbul, man sah im Periskop schon die Lichter und die Autos auf den Straßen, meldete der Leitende Ingenieur, daß die Stromreserve für die hohe Geschwindigkeit nur noch wenige Minuten reichte. Das Echolot zeigte, daß das Wasser verdammt flach wurde. In dieser kritischen Lage traf Commander Griffon eine tollkühne Entscheidung. „Auftauchen!“ befahl er. Das Boot schob sich aus dem Wasser und folgte nun mit Dieselantrieb dem Frachter. Der erwies ihnen den Gefallen, weiter in Richtung Schwarzes Meer zu laufen. Sie beteten, daß man sie nicht hörte und weder von Land noch vom Frachter aus ihre Silhouette sah. Die Bosporus-Sperre war offen. Im Abstand vo n weniger als hundert Metern liefen sie an den Marinebarkassen, welche die Kettensperre bedienten, vorbei. Es waren Minuten, in denen ihnen das Herz stillstand. Jeden Augenblick konnten sie entdeckt werden, konnten Scheinwerfer sie erfassen, konnten sie beschossen werden. Sie sahen ein Blinksignal. Sie ignorierten es und kamen durch. Dann wanderten die Hochufer auseinander. Sie spürten die Meeresdünung. Noch blieben sie im Fahrwasser des Frachters. Doch der drehte bald nach Westen, nach Midye ab. Commander Griffon behielt den Nordkurs, der ihn auf kürzestem Weg an die rumänische Küste führte, bei. „Beide Maschinen große Fahrt!“ befahl er. „Noch zweihundertsiebzig Meilen“, meldete der Navigator. „Das schaffen wir bis zum Abend.“ „Bis genau zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig, Sir.“
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Ihr Anlaufpunkt war die Ansteuerungstonne vo n Giurgiu. Nun kam es auf Feinnavigation an. „Wie lange haben wir noch Dunkelheit?“ „Sechs Stunden, Sir.“ Der Commander wagte es. Er wollte es hinter sich bringen. Nach der Spezialkarte lief er ins Delta ein und flußaufwärts weiter. Er hatte mehrmals Grundberührung. Er kam frei und folgte den Biegungen des Flusses in seiner Tiefenrinne. Gegen 3.00 Uhr tauchte die Raffinerie auf und damit die Peilpunkte. Vorgesehen war eine schlammige Bucht dicht an der Raffinerie, wo das Kühlwasser eingeleitet wurde. Dort sollte das U-Boot auf Grund gesetzt werden. Man hatte berechnet, daß es im Schlamm einsinken und selbst bei Niedrigwasser nicht zu sehen sein würde. Vermutlich infolge der Strömung gerieten sie jedoch in ein enges Fahrwasser, das be i einer Bachmündung endete. Mit langsamer Rückwärtsfahrt tasteten sie sich heraus, wendeten und entdeckten die richtige Bucht erst im Morgengrauen. Nun setzte der Commander abermals alles auf eine Karte. Er lief mit dreimal äußerster Kraft aller Maschinen in die Bucht ein und rammte sein Boot, mit dem Steven voran, tief in den Mud. Dann ließ er seine Leute aussteigen und öffnete, allein mit dem Leitenden Ingenieur, die Entlüftungsklappen. Die Tanks bliesen ihre Luft ab. Wasser drang ein. Das Boot wurde schwer und fand im schlammigen Grund ein weiches Bett. Nun stiegen sie mit den Tauchrettern aus, nicht ohne vorher die Sprengsysteme, die Primer, die Vorlaufuhren und die Zünder zu aktivieren. Noch einmal prüften sie den Anschluß für die Zünder am Turm. Als der Leitende die wasserdichte Klappe schloß, dem Commander folgte, auftauchte und zu ihm ins Schlauchboot kletterte, sagte er: 110
„Jetzt brauchen sie nur noch den Vierundzwa nzig-VoltZündstrom anzuschließen und dann, fare well, Baby.“ „To the hell“, ergänzte Griffon. Aber das war Sache einer Spezialeinheit, die sich Die Ritter vom Eisernen Tor nannte. Dieses Kommando entschied über Stunde und Minute der Sprengung. Die U-Boot-Leute blieben eine Woche im Schütze der Wildnis des Deltas. Sie funkten nach London, daß sie den Auftrag durchgeführt hätten. London schickte ihnen einen Kutter mit einem britischen Agenten an Bord, der sie zu dem türkischen Fischerhafen Cide brachte. Von dort gelangten sie auf abenteuerlichem Weg quer durch Anatolien zu dem britischen Nahoststützpunkt an der Levanteküste.
Anfang Mai 1943 begaben Gregory, Dumont und van Daam sich wieder nach Rumänien, um dort alle Bemühungen mit einem Erfolg zu krönen. Anhand der Karten fanden sie das mit achthundert Tonnen Sprengstoff gefüllte U-Boot. Sie berechneten den optimalen Zeitpunkt für die Sprengung und bereiteten ihren Rückzug vor. Dumont zog tauchend die Kabelverbindung vo n der von einem Uhrwerk gesteuerten Batterie zu dem im Schlamm steckenden UBoot her. Dann stellten sie die Zündzeit ein und gingen auf Distanz. Um Mitternacht sollte die Ladung hochgehen wie ein Vulkanausbruch und die Raffinerie sowie das Tanklager in Fetzen reißen. Der Brand sollte die Ölfelder wie ein Feuersturm vernichten. Sie lagen da, die Uhren liefen. Es wurde Mitternacht, aber nichts ereignete sich. „Fehlzündung?“ 111
„Unmöglich.“ „Wo steckt der Fehler?“ fragte van Daam ratlos. Sie warteten weiter. Aber am Morgen wußten sie, daß es wohl zu einer Panne in der Technik gekommen sei. In der folgenden Nacht versuchten sie es wieder. Und dann, als sich auch dieses Mal nichts ereignete, versuchten sie, in das UBoot hineinzukommen. Das erwies sich als unmöglich, Sie funkten den Sachverhalt nach London und forderten Experten an. Doch dann wurden sie von einer Streife der Division Brandenburg aufgestöbert und hatten Mühe, sich vor deren Schäferhunden in Sicherheit zu bringen. Die Kriegsereignisse ließen später einen neuerlichen Sprengversuch nicht mehr zu. 17. Studenku hatte seinen schwarzen Mercedes in einer Seitenstraße von Bellinzona geparkt. Es ging auf 4.00 Uhr morgens. Er spazierte hinauf zum Hospital der Fromme n Schwestern, beobachtete durch die Glastür das Foyer und sah, daß der Empfang nicht besetzt war. Also ging er hinein und blätterte die Belegliste durch. Van Daam, Zimmer 24 – Gregory, Zimmer 25. Studenku nahm die Treppe zur ersten Etage. – Auch dort war niemand zu sehen. Offenbar glaubten die Schwestern, es würde genügen, wenn im ganzen Haus Licht brannte. Vor Zimmer 25 blieb Studenku stehen. Leise öffnete er die Tür. Neben dem Bett von Gregory saß eine Nachtschwester und las in einem Schmöker. Also ging er weiter zu Zimmer Nr. 24. Dort lag der Patient allein, an Kabeln und Schläuchen hängend. Der Herzrhythmusverstärker piepte, am Oszillographen zuckten Punkte und Kurven, eine Maschine pumpte seufzend Sekret aus der Nase. 112
Studenku trat ein. Der Holländer hatte die Augen geöffnet und nahm auch seine Umgebung wahr. Studenku entfernte die Dämpfung von der Lampe und richtete den Strahl in van Daams Gesicht. Seine Pupillen vergrößerten sich, um seine Augen zuckten Muskeln. „Hallo, van Daam!“ sagte der Rumäne. „Doktor“, flüsterte der Holländer. Nun drehte Studenku die Lampe so, daß er im Lichtkreis stand. „Nein, ich bin es, Studenku.“ Beinah schien es, als grinste der Schwerverletzte spöttisch. „Was…?“ setzte er an. „Alles!“ forderte der Rumäne lapidar. „Nichts“, entschied der Holländer. ,,Dann bringe ich dich um, van Daam.“ „Bin schon tot, Mann.“ „Du warst tot. Sie haben dich zurückgeholt, und sie flicken dich wieder zusammen. Du hast noch gute Jahre vor dir, wenn du klug bist. – Eine Frage nur.“ „Aber keine Antwort, du Hundesohn“, keuchte van Daam. Dann schloß er die Augen, so als würde er die Tür eines Zi mmers zuschlagen, um allein zu sein. Doch der Rumäne war zu allem entschlossen. Er riß das Laken bis zu van Daams Beinen weg. Der nackte Körper zeigte dort, wo man die Wunden durch Notoperationen versorgt hatte, frische, zum Teil durchblutete Verbände. Verteilt am Körper hingen Schläuche, Drainagen sowie aufgeklebte Meßsonden. Viele Stellen waren dunkel gefärbt von Blutergüssen. Sie schmerzten gewiß, wenn man sie berührte. Vorausgesetzt, van Daam stand nicht unter Morphium. Studenku berührte die Hand des Holländers. – Keine Reaktion. – Er suchte nach etwas Spitzem und sah in einer Glasschale das Thermometer. Das stach er in van Daams Hand. 113
Sie zuckte. Der Schwerverletzte stöhnte und bewegte sich, was noch stärkere Schmerzen auslöste. „Eine Frage“, drängte Studenku. „Keine Antwort“, beharrte van Daam. „Dann muß ich dir sehr weh tun“, erklärte der Rumäne mit gespieltem Bedauern. – Und es tat weh. Der Holländer empfand die Berührung des Thermometers an der gebrochenen Rippe wie einen Dolchstoß. Er bäumte sich auf, wollte um Hilfe schreien. Studenku preßte ihm ein Kissen auf den Mund. „Unten links schmerzt es noch besser“, sagte der Rumäne und wartete, bis van Daam wieder einigermaßen bei Sinnen war. „Los, sag es mir.“ „Was?“ „Wo liegt das sprengstoffgefüllte U-Boot?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete van Daam stockend. Da schlug der Henkersknecht erneut zu. Diesmal mit der Handkante und so, daß van Daam es kaum noch ertragen konnte. Erst nach Minuten öffnete er die Augen wieder. Tränen liefen über seine hohlen Wangen. „Frag die anderen“, sagte er fast tonlos. „Sie waren nur deine Helfer. Du bist der Experte. Es war dein Fachgebiet.“ „Frag die anderen“, wiederholte van Daam. „Die sind alle tot, Mann.“ „Dann schweige auch ich.“ Doch dann griff Studenku zu einer Methode, einer Spezialität aus den Verhörkellern der Securitate, so daß der Holländer aufgab. Er konnte es nur noch heraushauchen, aber er gab das letzte Geheimnis der Ritter vom eisernen Tor preis. Es dauerte lange, bis er es so präzise beschrieben hatte, wie Studenku es wollte. 114
Draußen hämmerten Schritte vorbei. Jemand ging zur Teeküche, um das Frühstück vorzubereiten. In Krankenhäusern wurde man schon um sechs Uhr geweckt. – Es ging bald auf fünf. „Und jetzt“, keuchte van Daam, „zum Teufel mit dir.“ „Nach dir!“ Der Rumäne riß ihm alle Schläuche heraus. Die aus den Venen, die aus der Nase. Er stellte den Motor des Pumpgerätes ab, und als wäre das noch nicht genug, preßte er ein Kissen auf van Daams Gesicht. Erst als der Holländer nicht mehr atmete, schaltete er die Systeme wieder ein, denn es sollte wi e Selbstmord aussehen. Dann verließ Studenku das Hospital über den Balkon. Sehr früh wurde Gwendolyn Gregory im Hotel angerufen, „Es ist etwas vorgefallen“, sagte der Stationsarzt. „Bitte kommen Sie rasch.“ Sie kleideten sich hastig an. Als sie wenig später das Hospital betraten, erwartete sie der Oberarzt. „Was ist mit meinem Vater?“ fragte Gwendolyn, das Schlimmste befürchtend. „Durch das erste Ereignis fiel er in den Schockzustand, das zweite Ereignis löste den Schock wieder.“ „Welches zweite Ereignis?“ Die Miene des Arztes schaltete auf Beileid. „Mijnheer van Daam ist tot.“ „Warum sagten Sie es meinem Vater? Van Daam war einer seiner besten Freunde.“ „Das Hin und Her, als man es entdeckte“, entschuldigte der Arzt sich. „Es ließ sich nicht vermeiden. Er fragte, und eine de r Schwestern antwortete ihm.“ „Hatte van Daam eine Chance?“ wollte Urban wissen. „Durchaus. Aber er zweifelte wohl daran. Irgendwann gegen vier Uhr erlebte er möglicherweise eine tiefe Depression und machte Schluß. Er gab sich selbst den Tod.“ 115
„War er in der Lage dazu?“ „Nun, wir pflegen unsere Patienten nicht ans Bett zu fesseln. Mijnheer van Daam zog die Infusionsschläuche, die Nasenklemme mit dem Sekretabsauger und den Herzrhythmusgeber ab. Dann ging es schnell. Als das Gerät Alarm schlug, war er schon tot.“ „War keine Herzmassage mehr möglich?“ „Nicht bei dem Zustand, in dem sich sein Brustkorb befand. Rippen gebrochen, Zwerchfellschaden, Milzriß und so weiter.“ „Ist Mord auszuschließen?“ erkundigte Urban sich. „Wer sollte das tun?“ „Darf ich ihn sehen?“ Van Daams Zimmer war schon geräumt. Er lag in einem Raum im Souterrain, wo man die Toten aufbewahrte, ehe die Obduktion vorgenommen wurde. Van Daams geschundenem Körper war nichts anzusehen, was auf eine zusätzliche Gewaltanwe ndung hätte schließen lassen. Der Hals zeigte keine Würgemale, es gab keine Stichverletzung. Die Schnitte, wo die Kanülen in seinem Körper gesteckt hatten, waren kaum noch erkennbar. Urban fragte erneut: „Eine Beimischung von Arsen, Strichnin, Curare, eine Überdosis Morphium ins Blutplasma, wäre das möglich?“ „Das wurde untersucht. Nichts dergleichen zu finden.“ „Fand man Giftstoffe in seinem Gewebe?“ „Negativ. Wir haben zwar nur den groben Test gemacht, aber außer der üblichen Medikamentenkombination wurde ihm nichts zugeführt.“ Urban beobachtete Gwendolyn Gregory. Sie ve rhielt sich merkwürdig. Erst war sie durch den Raum gegangen, als wandle sie im Traum. Nun beugte sie sich tief übe r den Toten. „Wurde eine unbekannte Person im Hospital gesehen?“ fragte Urban weiter. 116
„Uns liegt diesbezüglich keine Beobachtung vor.“ „Wurde die Polizei verständigt?“ „Der Chefarzt erachtete das als unnötig.“ „Sie stellen die Totenscheine hier selbst aus, oder?“ „Üblicherweise ja.“ Gwendolyn hatte sich lange über den Toten gebeugt, als suche sie etwas an ihm. Nun richtete sie sich wieder auf, nahm Urban beim Arm und zog ihn hinaus. „Danke, Doktor.“ Auf dem Weg zu ihrem Vater, sagte sie: „Der Mann.“ „Welcher?“ „Der gestern in Dumonts Haus am Zürichsee lag, den die Schweizerin befreite. Du erinnerst dich?“ „Was ist mit ihm?“ „Er trägt den Geruch von schwarzen Zigaretten und einer italienischen Haarpomade an sich. Außerdem lutscht er ständig Hustenbonbons.“ Er wußte, daß Gwendolyn eine fantastisch trainierte Nase hatte, und er ahnte auch, was jetzt kam. „Ich bemerkte es sofort, als ich Dumonts Haus betrat. Und jetzt ist es unverwechselbar an van Daams Körper. Der Rumäne muß bei ihm gewesen sein. Er muß ihn verhört haben. Das Nikotin de r schwarzen Zigaretten hing in seinem Anzug, die Pomade haftete an seinen Fingern und hinterließ einen penetranten Geruch. Und auch sein Mentho latem streifte van Daam.“ „Der Mann im Mercedes“, bemerkte Urban. „Mein Vater weiß gewiß mehr.“ „Du bist besser als ein Hund“, staunte er. „Ich bin eine Hündin“, sagte sie.
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Gregory saß im weißen Korbstuhl am Fenster. Vo r sich hatte er das Frühstück. Er rührte es nicht an, sondern rauchte versonnen. „Van Daam stand es nicht durch“, sagte er. „Irgendwann stehst du es nicht mehr durch.“ Er schaute auf die Uhr. „Das Ultimatum“, fragte er. „Wie lange noch?“ „Ungefähr achtundzwanzig Stunden.“ Er drückte die Zigarette aus und gab sich einen deutlichen Ruck. „Ich sage alles, was ich weiß. Fragen Sie, Mister Urban.“ „Beschreiben Sie mir diesen Mann aus Zürich.“ Gregory tat es, so gut er konnte. „Groß, scharfkantiger Schädel, massiges Kinn, abstehende Ohren. Er heißt Studenku.“ Urban faßte nach und erfuhr noch mehr. Doch dann wunderte der Engländer sich. „War das alles? Ich erwartete eigentlich andere Fragen. Ganz andere.“ „Wo“, forschte Urban weiter, „liegt das U-Boot?“ Gregory schaute zu seiner Tochter hinüber. Gwendolyn nickte. Es schien ihn einerseits zu erleichtern, andererseits zu bedrükken. „Es liegt in einem Irrgarten“, erklärte er, „in einem Flußdelta, bestehend aus Tausenden von Wasseradern, Kanälen, Altwässern, Verzweigungen, Inseln, Kies- und Schlickbänken, so groß wie… wie die Grafschaft Kent. Van Daam war unser Fachmann dafür. Er wählte den Platz aus. Er führte uns hin. Nur er wußte die genaue Lage, die kleine Bucht in Sichtweite der Orion-Raffinerie.“ Wie Gregory behauptete, war die Orion-Raffinerie schon damals so groß wie halb London gewesen. Daher sei das Sprengstoff-UBoot mithin äußerst schwer zu finden. Außerdem war van Daam tot. – Vermutlich ermordet von einem rumänischen SecuritateMann. 118
Wahrscheinlich wußte Studenku jetzt von van Daam die Position des U-Bootes und war schon unterwegs nach Bukarest. „Schade“, bedauerte Urban. „Das nützt uns alles verflucht wenig. Ihnen wird nichts mehr geschehen, Gregory. Gute Besserung! Ich muß weg. Bin wirklich in Eile.“ Er verließ das Zimmer. Gwendolyn lief hinter ihm her. „Wohin gehst du?“ fragte sie. „Keine Ahnung.“ „Du wirst diesen Studenku niemals einholen.“ „Ich muß ihn abfangen.“ „Aber wie denn und wo denn?“ „Wenn ich das nur wüßte.“ „Ich komme mit.“ „Von mir aus“, sagte Urban, „mach was du willst.“ 18. Das BND-Hauptquartier, von Urban unverzüglich unterrichtet, sorgte für Zusammenarbeit innerhalb der NATO. Die Zweigstelle des italienischen Geheimdienstes SISMI in Mailand war zentral gelegen und vo n allen gut zu erreichen. Als Urban dort eintraf, zeigte seine Rolex 10.30 Uhr, die große Uhr an der Wand hingegen eine andere Zeit. Man hatte sie mit beiden Zeigern in Zwölf-Uhr-Stellung angehalten. Der italienische Kollege nannte Urban den Grund. „Morgen mittag läuft das Ultimatum ab.“ „Also noch fünfundzwanzig Stunden.“ „Diese Uhr wird heute um Mitternacht eingeschaltet. Wenn beide Zeiger wieder auf zwölf Uhr stehen, ist das Ultimatum abgelaufen.“ „Macht ziemlich nervös, fürchte ich“, wandte Urban ein. „Es ist aber auch eine ständige Mahnung.“ 119
Was Urban betraf, so brauchte er nicht ständig motiviert zu werden. Er hatte seit einer Woche getan, was er konnte. Nun trieb er die Maßnahmen noch einmal voran. Seine Ideen deckten sich mit den Vorstellungen der Kollegen aus England, Benelux, Italien und Frankreich. Die Franzosen hatte man eingeschaltet, obwohl sie nicht unmittelbar der NATO angehörten. Aber auch Frankreich wäre von einer Katastrophe in Rumänien betroffen gewesen. „Als erstes“, schilderte der Italiener, „wurden alle aus dem EGRaum nach Rumänien laufenden Telefonleitungen abgeschaltet. Solche, die man aus Gründen der Sicherheit nicht abschalten kann, werden abgehört und überwacht.“ „Und wenn Studenku ein Agentenfunkgerät benutzt?“ „Wir stören seit einer Stunde permanent die in Frage kommenden Frequenzen.“ „Wie sieht e s an den Grenzen aus?“ „Hier ist die Sperre noch im Aufbau. Die Beschreibung ging über Funk und Telex hinaus, und zwar an alle Grenzübergänge an Straßen, Bahnlinien, Flugplätzen und Häfen. Aber wirklich gefährdet sind nur die Flugplätze.“ „Studenku dürfte das Hospital in Bellinzona gegen fünf Uhr heute morgen verlassen haben. Inzwischen sind knappe sechs Stunden vergangen. Wenn er Rumänien schon erreicht hat, dann war das nur auf dem Luftweg möglich.“ „Und zwar von einem Flughafen im Umkreis vo n weniger als dreihundert Kilometer von Bellinzona“, schätzte der Italiener. „Dafür kommen nur Mailand und Zürich in Frage. Von dort gab es aber keine Rumänienflüge.“ „Wie steht es mit Charterflügen?“ fragte Urban. „Das wurde ebenfalls gecheckt. – Negativ.“ All dies war kein Grund, sich erleichtert zu fühlen. Dieser Studenku war ausgebildeter Agent und würde einen Weg finden, um Rumänien zu erreichen. Selbst wenn er sich ein Motorboot klauen 120
mußte, damit die Adria überquerte und danach ein Flugzeug stahl. Vielleicht reichte er die Information auch an einen anderen Agenten weiter. Sie warfen sich den Ball zu, gaben ihn weiter und am Ende suchte man den falschen Stürmer. Um keinen Fehler zu begehen, wurde europaweit nach dem schwarzen 280 SE mit dem Züricher Kennzeichen gesucht. – Wahrscheinlich hatte St udenku den Wagen gewechselt, aber dann mußte der schwarze Mercedes irgendwo auftauchen. „Allein in Italien“, versicherte der Italiener Urban, „haben Tausende von Polizisten und Carabinieri nur Augen für dieses Fahrzeug.“ Telefone schrillten, Fernschreiber hackten in der überhitzten SISMI-Zentrale. Im Nebenraum wurden Befehle und Anordnungen in Mikrofone vo n Funkgeräten und Sendern gesprochen. Es ging absolut hektisch zu. Urban saß auf einem Rollsessel und rauchte eine MC nach der anderen. Dann rief er in dem Hotel im Norden von Mailand an. Sie hatten sich für dieses entschieden, weil es nahe der Autobahnausfahrt lag. „Wie geht’s?“ fragte er Gwendolyn. „Habe mich eben hingelegt“, sagte sie. „Schon was Neues?“ „Fiel dir noch irgend etwas ein?“ „Leider nichts.“ „Na dann.“ Er legte auf. Von London kam ein meterlanges Fernschreiben. Es stammte von Experten der Royal Navy. Der Italiener überflog es und reichte es Urban. „Zwei Experten, vier Meinungen.“ Kopfschüttelnd las Urban den Text. „Eine fabelhafte Berechnung“, kommentierte er, „aber zu viele Wenn und Aber und Vielleicht.“ „Die U-Boot-Konstrukteure gehen davon aus, daß der Rumpf 121
des Typs neunhundert nicht übe r siebenundvierzig Jahre hinweg dicht sein kann. Sie behaupten, durch die Außenbordverschlüsse, durch die Wellenlager und den Ruderschacht dringe Sickerwasser ein. In den ersten Jahren nur wenige Liter, dann Hunderte, dann tonnenweise.“ Urban winkte ab. Er wußte es anders. „Zwanzig Jahre nach dem ersten Weltkrieg trieben noch vermißte U-Boote wie fliegende Holländer durch die Weltmeere. Sie waren auf Grund gelegt worden. Die Besatzung kam auf irgendeine Weise um, aber die Druckluft in den Stahlflaschen blies langsam aus und die Tauchtanks leer, bis sich das Boot allmä hlich hob und wie ein geheimnisvoller schwarzer Walfisch die Weltmeere verunsicherte. In halbwegs intakten U-Booten baut sich Innendruck auf, der das Eindringen von Wasser lange Zeit verhindert. – Zu lange.“ „Vergiß nicht, das Boot war bis obenhin voll mit Sprengstoff. Es hatte also starken Untertrieb.“ „Willst du es darauf ankommen lassen?“ fragte Urban. „Die Royal-Navy-Ingenieure meinen, daß eintretendes Seewasser den Sprengstoff erst durchnäßt und dann zersetzt habe. Es gab entsprechende Versuche. Seewasser zerstört langfristig sogar Kunststoffhüllen von TNT, Plastiksprengstoff C- sieben und so fort.“ „Wollen wir es darauf ankommen lassen?“ fragte Urban noch einmal. Gegen 14.00 Uhr kam eine neue Meldung herein. Der Mann am Telefon verkündete sie laut sprechend. „Der Mercedes ist gefunden worden, Signori.“ „Wo?“ „In Triest.“ „Dann ist er verdammt weit gekommen.“ „Ja, bis zur Jugo-Grenze. Der Wagen steht leer an der Straße nach Koper.“ 122
„Absuchen“, riet Urban. „Sie sind schon dabei.“ „Mich interessiert nur eines, ob Studenku ihn bis Triest gefahren hat oder ob er den Wagen zwecks Irreführung an einen Securitate-Kollegen übergab.“ Sie hatten leider keinen Fingerabdruck vo n Studenku. Da fiel Urban Gwendolyn Gregorys überdime nsionaler Geruchssinn ein. Mit Sicherheit würde sie Studenkus Anwesenheit in dem Fahrzeug, aber auch die eines anderen bestätigen können. Das würde eines gewisse Klarheit verschaffen und verzettelte ihre Kräfte nicht. Urban wollte sie gerade anrufen, als eine Hiobsbotschaft hereinkam. Etwas, womit keiner gerechnet hatte. „Das ist der Hammer“, sagte der SISMI-Kollege erblassend. „Als ob ich es geahnt hätte. – Eine Raffinerie, ein U-Boot mit Sprengstoff, das war mir alles um einen Drücker zuwenig. – Orion ist leider nicht nur eine Raffinerie.“ „Du willst damit sagen“, sondierte Urban, „die Zerstörung einer Raffinerie kann für Rumänien nicht die größte Katastrophe seiner Geschichte sein.“ „Ja, ich habe es die ganze Zeit geahnt“, gestand der Italiener. „Aber jetzt ist es bewiesen. Das ist nicht nur der Hammer, das ist der Überhammer.“ Urban bekam den Zettel mit der Notiz. Es war nur ein einziger nüchterner Satz, aber er verhieß die Hölle. Orion war auch der Name des einzigen Atomkraftwerkes in Rumänien. Es war still geworden in der Einsatzzentrale. Urban telefonierte mit München und ließ sich Professor Stralman geben. Er schilderte ihm das Problem. Stralman telefonierte Minuten später das Ergebnis nach Mailand. 123
„Orion ist ein Atomkraftwerk vom sowjetischen Typ WWERvierhundertvierzig.“ „Ist das nicht dieser morbide Tschernobyl-Schrott?“ „Vier Blöcke, also vier Kernreaktoren. In ihren Druckgefäßen geben dreihundert Tonnen Uran ihre Strahlungshitze ab.“ „Das sind mehrere hundert Atombomben.“ „Die Stromleistung von Orion beträgt zweitausend Megawatt“, erwähnte Stralman mit der Nüchternheit des Wissenschaftlers. „Und wie üblich, keine Betonabschirmung der Kuppeln.“ „Das ist bei WWER-vierhundertvierzig nicht vorgesehen“, bestätigte Stralman die Horrornachricht Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte. Orion war auf dem Gelände der alten Raffinerie erbaut worden, holte sein Kühlwasser aus dem Fluß und gab es weiter draußen ins Meer wieder ab. Wenn so ein Komplex hochging, dann ve rseuchte er ganz Ost-, Süd- und Mitteleuropa. Dann würden nicht nur in Rumänien die Lichter verlöschen. „Wenn der falsche Wind weht“, schränkte Urban ein. „Aber die vorherrschende Windrichtung ist leider falsch.“ „Ein Super-Gau tritt nur ein, wenn das U-Boot explodiert. Aber die britischen Kollegen garantieren doch…“ „Garantieren? Womit, bitte?“ „Mit ihren Expertisen.“ Der Mann wurde durch eine Handbewegung des Chefs der SISMI-Zentrale zum Schweigen gebracht „Man muß die rumänische Regierung informieren“, forderte er. „Die steht schon wegen des Ultimatums in Alarmbereitschaft.“ „Sie müssen das ganze Gebiet um Orion evakuieren.“ „Dort leben Hunderttausende von Menschen“, wandte Urban ein. „Und es herrscht dort der kälteste Winter seit Jahren. Die Rumänen haben kaum Fahrzeuge. Das führt doch zu einer Massenpanik unvorstellbaren Ausmaßes.“ 124
„Gibt es keine bessere Idee, die weniger kostet?“ fragte der inzwischen eingetroffene Franzose vo m SDECE „Man kann in den wenigen Stunden so viele Leute gar nicht auf die Beine und weit genug fortbringen, daß der Fallout sie nicht einholt.“ „Was zum Teufel, soll dann geschehen? Wollt ihr die Menschen alle krepieren lassen?“ „Abschalten!“ forderte Urban. „Die Reaktorblöcke müssen sofort abgeschaltet werden.“ „Das nützt doch wenig. Die Restwärme läßt die Kerne schmelzen.“ „Die Pumpen müssen Kühlwasser liefern, was das Zeug hält.“ „Mit welcher Energie, bitte, wenn ganz Orion keinen Dampf mehr für die Turbinen und Generatoren produziert.“ „Sie haben Notdiesel.“ Es wurde hin und her diskutiert und kostbare Zeit vertan, jetzt, wo es auf jede Minute ankam. Schließlich wurde eine Telefonleitung nach Bukarest geschaltet. Bis sie den zuständigen Minister erreichten, ging es auf 16.00 Uhr. Der Minister fühlte sich nicht kompetent. Er hielt die Maßnahme für übertrieben und unnötig, versprach aber doch, das Kabinett zu unterrichten. In Mailand starrten alle auf die Wanduhr mit den nach oben gerichteten Zeigern. „In sieben Stunden springt sie an.“ „Dann bleiben uns noch zwölf.“ „Wir müssen unsere Regierungen alarmieren“, riet Urban. „Sie sollen Druck machen, daß die Rumänen Orion abschalten und die Leute aus der gefährdeten Zone evakuieren. – Ich versuche doch noch, diesen Agenten zu kriegen.“ „Wie denn?“ Urban hoffte, die Nase von Gwendolyn Gregory könnte ihm in 125
Triest weiterhelfen. Er klammerte sich daran wie an einen Strohhalm und rief sie im Hotel an. Dort hieß es, die Signorina sei ausgegangen. Er raste mit seinem Dienstwagen hinaus. Aber nicht nur Gwendolyn war verschwunden, auch ihr Peugot-Cabrio war weg. „Hat jemand nach ihr gefragt?“ erkundigte er sich. „Ja, ein eleganter Signore, so groß wie Sie, aber höflicher als Sie, Signore.“ „Dunkel, kantiger Kopf, Hammerkinn, abstehende Ohren?“ „So, wie Sie ihn beschreiben.“ Studenku! – Urban war nicht mehr in der Lage zu fluchen. 19. Wenig später sah alles noch viel schlechter aus. Die Rumänen, uneins und zerstritten, mit kaum handlungsfähiger Regierung, weigerten sich, Orion abzuschalten. Das Atomkraftwerk lieferte fünfundzwanzig Prozent des gesamten Strombedarfs. Darauf war in diesen eiskalten Tagen nicht zu verzichten. Dann kam ein Anruf aus München. Das Stralman-Labor der technischen Abteilung des BND kam bei Sprengstoffen zu anderen Ergebnissen als die Ingenieure der Royal Navy in London. Aus Gwendolyn Gregorys Hotelzimmer sprach Urban mit dem Professor. „Wir haben da leider trübe Erfahrungen mit Munition, die bei Kriegsende in der Ostsee ve rsenkt wurde.“ „Sie wurde gehoben, an Land gebracht und gesprengt“, bemerkte Urban. „Mitunter kommt es aber vor, daß eine verrostete, verschlammte, veralgte und mit Muscheln bewachsene Granate den Tauchern in den Händen explodiert. Wir müssen also davon ausgehen, daß dieses Unterseeboot noch eine durchaus intakte Bombe ist.“ 126
„Ich habe das nie aus meiner Kalkulation ausgeschlossen“, äußerte Urban ein wenig zu hochdeutsch. „Danke, Professor.“ „Fürchte, da gibt es wenig zu danken. Wie läuft es?’ „Miserabelst.“ Urban legte auf und hatte einen starken Duft an der Hand, wie das Parfüm der modernen Frau, weniger süß als herb, weniger sanft als dynamisch und doch in einer Ecke romantisch. Er nahm den Hörer ab. Der Duft haftete daran. Das Parfüm konnte nur von Gwendolyn stammen. Sie, die selten eines benutzte, die sogar parfümierte Seife vermied, um ihre Geruchszellen in der Nase zu schonen, hatte Parfüm verwendet, – Und zwar ziemlich viel davon. Er suchte nach weiteren Spuren, denn er nahm an, daß sie damit etwas beabsichtigt hatte. – Im Bad fand er es dann. Ein Glasfläschchen lag zerbrochen am Boden. Auf den Fliesen stand eine Lache von zartroter, leicht Öliger Flüssigkeit. Es roch stark, man konnte sagen, es stank wie in einem Puff, nur edler. Urban setzte sich auf den Wannenrand und schaute sich um. – Kein Hinweis sonst. Er überlegte. Gwendolyn, eine Frau im Umgang mit Parfumflaschen geübt, ließ nicht ohne Grund ihren Flacon fallen. Es sei denn, sie war in Panik. – Na schön, in der mochte sie gewesen sein, weil draußen Studenku wartete und das Bad keine Fluchtmöglichkeit bot. Wenn man weiter davo n ausging, daß Studenku seine Absicht angedeutet hatte, sie als Tarnung für seine Flucht zu benutzen, dann wußte sie vielleicht noch mehr, möglicherweise sogar, wohin es ging. Urban sammelte die Glasscherben ein, tupfte das Parfüm mit Taschentüchern auf und stopfte alles in eine Plastiktüte, aus der er vorher die Watte entfernte. Er wollte die Tüte schon zubinden, als sein Blick auf die größte Scherbe fiel. Sie war deshalb nicht zersplittert, weil das Etikett sie zusammenhielt. Es handelte sich um ein goldenes Etikett aus 127
dickem Papier in Form eines Achtecks. Darauf stand nur der Name des Parfüms – Gwen – in japanisch stilisierten silbernen Buchstaben. Er starrte das Etikett an und wußte, daß etwas daran nicht stimmte. – Aber was stimmte nicht? Plötzlich überkam es ihn wie ein Blitz. Von den vier Buchstaben G-W-E-N war das W zerkratzt. Vermutlich in Eile mit dem Fingernagel, weil nichts anderes zur Hand war. Von Gwen blieb nur Gen übrig. Wenn er nun davon ausging, daß sie ihm das als Hinweis hinterlassen hatte, dann mußte er herausfinden, was Gen bedeutete. Er suchte noch intensiver, ging bis in die Mikro-Struktur des Hotelzimmers, fand aber nichts mehr. Deshalb fuhr er hinunter und fragte einen der Angestellten, wo das Cabrio mit der Pariser Nummer geparkt hatte. Die Stelle war inzwischen von einem Lieferwagen besetzt. Unter dem Lieferwagen entdeckte Urban etwas Weißes, zerknülltes Papier, ein Taschentuch. Es duftete nach Gwendolyns Parfumkreation. Es war ihr gelungen, die Spur bis hierher zu legen. Aber jetzt war wohl Schluß. Blieb nur noch der zerkratzte Buchstabe – Gen statt Gwen. Urban fuhr in die SISMI-Zentrale. Dort roch es deutlich nach Weltuntergangsstimmung, so als wäre der Todesengel bereits durch die Räume geschwebt. „Noch sechzehn Stunden“, empfing ein Kollege ihn. „Was“, fragte Urban den Italiener, „sagen dir die drei Buchstaben G-E-N? – Denk nicht lange nach, sprich es aus.“ Der Italiener überlegte trotzdem und haute daneben. „Ob es mit Genforschung zu tun hat? Mit einem militärischen Dienstgrad, mit General, mit Gentleman, mit Genosse, mit…“ „Mit einem Ort“, half Urban ihm, „einer Stadt, nicht weit von 128
hier. Paarhundert Kilometer, einer Hafenstadt. Am besten kommt man immer von der Küste aus weiter.“ „Genua!“ schrien die, die hinzugekommen waren. „Vielleicht“, schränkte Urban ein. „Studenku hat Gwendolyn Gregory gekidnappt, aber sie gab uns heimlich einen Tip. Gen… wie Genua?“ „Nichts wie hin“, entschied der Italiener und hängte sich ans Telefon. Über das Innenministerium kurbelte er in Genua eine große Suchaktion, verbunden mit Ringfahndung an. Dann wandte er sich an Urban. „Was brauchen wir noch?“ „Hubschrauber.“ „Es ist schon dunkel.“ „Sie sollen morgen früh beim ersten Schimme r starten.“ „Ob es dann nicht zu spät ist?“ „Hör zu, Studenku mag gerast sein wie Niki Lauda. Als er in Genua ankam, war es dort finster.“ „Züge gehen auch bei Nacht.“ „Er ist in Eile.“ „Auch Schiffe laufen im Dunkeln aus.“ „Aber er muß die Information, die er van Daam abpreßte, bis morgen mittag nach Bukarest me lden. Er sucht irgendeinen Weg, sei es einen weitreichenden Sender oder…“ „Dann besetzen wir das Funkhaus, die Post, die Radiostationen, die Fernsehstationen, die militärischen…“ „Und sie sollen Hunde mitbringen“, ergänzte Urban. Dann fuhren sie mit den schnellen Polizei-Alfas nach Süden, immer auf der Autostrada. Im Apennin, wo es Kurven gab, daß es einem den Magen umdrehte, und nur 80 km/h erlaubt waren, pendelten die Tachonadeln um Hundertsiebzig. Als sie in Genua ankamen, waren die Polizeisirenen heiser, und sie hatten noch zehn Stunden bis zum Ablauf des Ultimatums. 129
Eine Funkstreife hatte den Peugeot mit der Pariser Nummer in einem Parkhaus am Bahnhof entdeckt. Er war leer, der Motor angeblich noch handwarm. „Nichts berühren“, bat Urban. Sie fuhren hin. Unter dem Peugeot fand Urban ein parfümiertes Taschentuch. Inzwischen hatten die Polizisten den Nachtportier befragt. „Der Wagen kam kurz vor Mitternacht“, lautete dessen Auskunft. 155 „Kann er die Personen beschreiben?“ wollte Urban wissen. „Die Frau ist identisch, der Mann auch. Er fragte, ob noch ein Bus zum Flughafen gehe. Der Nachtportier antwortete, daß sie sich ein Taxi nehmen müßten.“ Bei den Tassisti herumzufragen, dauerte zu lange. Sie fuhren zum Aeroporto. Der Hundetrupp war auch schon eingetroffen. Urban ließ die Hunde am Taschentuch und am Plastikbeutel mit den Glasscherben schnuppern. „Das genügt“, erklärte der Hundeführer. „Die haben das jetzt kapiert. Es würde sogar mir genügen. Was ist das für ein Duft?“ „Gwen“, sagte Urban. „Etwa was Französisches?“ Urban wurde einer Antwort enthoben, denn die Hunde zogen an. Sie suchten erst dort, wo die Taxis standen. Bald hatten sie etwas erschnüffelt, zogen hinein in die Abfertigung, dann aber wi eder ins Freie. Sie hechelten an der Mauer entlang zu den Cargohallen, von da weiter und weiter bis zur Haupteinfahrt für LKW und noch gut und gerne einen Kilometer bis zu einem Loch im Zaun. Das Loch wurde mit Drahtscheren vergrößert. Die Hunde zerrten schräg über das Vorfeld zu einem Außenbereich, wo hohe Würfel in den Nachthimmel ragten. Es waren die Hangars. 130
Inzwischen war der Direktor des Flughafens zu ihnen gestoßen. „Das sind die Hallen für die Privatflugzeuge.“ Es gab aber auch im Freien geparkte Privatmaschinen. Urban vermutete, daß die beiden in einem der Flugzeuge, das Studenku geeignet schien, saßen. Der Rumäne würde Gwendolyn notfalls als Geisel benutzen. Wahrscheinlich wartete Studenku, bis der erste graue Schimmer des Tages den Start erlaubte. Der Chef der Flughafenpolizei bot alle verfügbaren Leute auf. Mit den Einsatzkommandos der Carabinieri, den Scharfschützen und den Hundeführern waren sie stark genug, um anzugreifen. Egal, was Studenku unternahm und wie er bewaffnet war, sie würden ihn kriegen. Fragte sich nur, ob die Engländerin das lebend überstand. Der Einsatzleiter erläuterte in kurzen Worten, wie man am besten ein startendes Flugzeug abfing, ohne in den Propeller zu geraten. „Immer auf die Reifen halten und auf die untere Seite des Motors. Dort sitzt die Ölwanne.“ Sie brachten noch ein paar Feuerlöschfahrzeuge auf die Beine, dann drangen die ersten in den Hangar ein. Urban wartete. Nach fünfzehn Minuten kamen die Männer wieder heraus. „Nichts. Da drinnen sind sie nicht.“ Es hätte Urban auch gewundert. Die schweren Hallentüren waren nur mit Motorkraft zu öffnen. Dazu gehörte Ortskenntnis und wohl auch ein Schlüssel für den Schaltkasten. Nun nahmen sie die paar Dutzend Kleinflugzeuge im Freien aufs Korn. Immer ein Mann schlich an eine Maschine heran und gab dann das verabredete Signal. Urban schnappte sich einen Hundeführer. Der begriff, um was es ging. Erst suchte der Hund herum, dann zerrte er auf eine zweimotorige Pipe r zu. 131
Der Hund hechelte ziemlich laut. Im Cockpit de r Piper ging mit einemmal Licht an. Der Polizist warf sich auf seinen Hund und hielt ihm die Schnauze zu. Urban näherte sich lautlos dem Rumpf der Zweimotorigen. Die Piper war das, was man früher als Tiefdecker bezeichnet hatte. Um in die Kabinen zu gelangen, stieg man erst auf die Tragfläche. Im Licht der Soffitte sah Urban zwei Personen, einen Mann und eine Frau. Der Mann saß auf dem linken Pilotensitz und war gut einen Kopf größer. Kein Zweifel, es handelte sich um Gwendolyn und Studenku. Studenku saß ungewöhnlich gerade, fast unbeweglich da. Roboterhaft drehte er den Kopf nach links. Urban überlegte, was zu tun sei. Gwendolyn hatte mit Sicherheit Fesseln, und Studenku war zuzutrauen, daß er sie als Druckmittel benutzte und sie notfalls auch tötete. Im selben Moment vernahm Urban einen Schrei. „Hilfe!“ Gwendolyn hatte also auch etwas gehört. Sie hob beide Hände als Zeichen, daß sie nur an den Gelenken gefesselt war. Sie hämmerte damit auf Studenku ein. Der saß immer noch steif da und bewegte sich nicht. Urban rannte auf die andere Seite. Er sprang auf die Tragfläche, riß die Kabinentür auf und zerrte, so gut er konnte, Gwendolyn Gregory ins Freie. Da sah er Studenkus Elf-Millimeter, eine von den hochkalibrigen rumänischen Armeepistolen. Der Lauf richtete sich erst auf Gwendolyn, dann auf ihn. Studenku sagte kein einziges Wort. Er hielt nur die Pistole in der Rechten, dann in zwei Händen, wie um sicher zu gehen, daß er seine Ziele nicht verfehlte. „Er wird nicht schießen“, keuchte Gwendolyn. 132
„Wer, verdammt, weiß das?“ „Er schießt nicht. Glaub mir.“ Sie warf ihre gefesselten Arme um Urbans Hals. Er riß sie aus der möglichen Flugbahn des tödlichen Projektils. In Deckung der Tragfläche keuchte Gwendolyn. „Er steht total unter Drogen.“ „Du riechst sogar das, Supernase.“ „Erst nahm er Pervitin, um den Streß durchzustehen, dann etwas anderes, um sich zu beruhigen und dann wieder Pervitin, um sich aufzuputschen. Verdammt, ich rieche es eben. Was kann ich dafür?“ Urban brachte Gwendolyn zu den Italienern und schilderte die Lage. Daraufhin näherte das Einsatzkommando – mit kugelsicheren Westen, Splittermasken und Stahlhelmen – sich dem Flugzeug. Der Rumäne nahm ihnen die Dreckarbeit ab. Den Polizisten die Arbeit, ihn zu überwinden und später das Protokoll zu schreiben, den Richtern die Arbeit, ihn in einem Prozeß zu verurteilen, und den Strafvollzugsbehörden, ihn einzusperren. Offenbar reichte Studenkus Energie noch aus, um sich zu töten. Er steckte den Lauf der Waffe in den Mund und riß den Abzug durch, Das war fünfeinhalb Stunden vor Ablauf des Ultimatums. Sie fuhren in die Stadt hinein und gingen in eine Bar. „Darüber kannst du einen Roman schreiben“, sagte Gwendolyn. Urban musterte lieber die Flaschen hinter der Bar. „Dazu braucht man eine Schreibmaschine “, sagte er, „und ein bißchen Zeit, wenn der Roman was werden soll.“ „Nimm sie dir.“ „Und ein nettes Mädchen“, weitete er seine Forderung aus. „Das kannst du haben, du Hunnensohn.“ 133
„Und was zu trinken.“ Sie kannte seine Lieblingsmarke und orderte eine Flasche Dom Perignon. Urban entschied sich gegen den Roman und für den Wein. Er horte, wie der Korken gezogen wurde und dann knallte. Es machte plopp. Wie eine schallgedämpfte Pistole. Den Rest erledigte Urban höchstselbst. Als sie die Bar verließen, ging die Sonne auf über dem ersten Tag vom Rest seines Lebens… ENDE
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