Das Buch In Arizona wird die fünfzehnjährige Jennifer Davis entführt, die Eltern werden ermordet aufgefunden. Die Ermittlungen leitet der nach Phoenix versetzte brillante Querkopf und FBI-Agent Mark Beamon. Bald stellt sich heraus, dass Jennifer die Enkelin von Albert Kneiss ist, dem Anführer einer weltweit operierenden, mächtigen Sekte namens »Church Of Evolution«. Plötzlich findet sich Beamon in eine Angelegenheit von nationaler Bedeutung verstrickt, da ihn Gläubige der Kirche in einflussreichen Positionen bedrohen und selbst vor Mord nicht zurückschrecken. Beamon muss auf eigene Faust gegen die internationale Organisation antreten, um das Leben des entführten Mädchens zu retten. Nach Der Auftrag, dem furiosen Beginn der Thrillerserie um Mark Beamon, liefert der amerikanische Erfolgsautor erneut Action und Spannung auf höchstem Niveau.
Der Autor Kyle Mills, Jahrgang 1966, lebt in Jackson Hole, Wyoming, wo er sich neben dem Schreiben von Thrillern dem Skifahren und Bergsteigen widmet. In den USA ist Kyle Mills mit seinen Romanen regelmäßig in den Bestsellerlisten zu finden und gilt neben Tom Clancy, Frederick Forsyth und David Baldacci als Erneuerer des intelligenten Politthrillers.
KYLE MILLS DIE SPUR Roman Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Die Originalausgabe STORMING HEAVEN erschien 1998 bei HarperCollinsPublishers
Redaktion: Werner Bauer Deutsche Erstausgabe 02/2005 Copyright © 1998 by Kyle Mills Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2005 Umschlagillustration: Corbis/Lester Lefkowitz Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 3-453-43014-X
Wissenschaft ohne Religion ist lahm. Religion ohne Wissenschaft ist blind. Albert Einstein
EINS
Tragischer Herzanfall im zarten Alter von fünfzehneinhalb, dachte Jennifer Davis. So würde es morgen in der Zeitung heißen. Sie stellte sich in die Pedale, musste sich aber wieder setzen, als das Hinterrad ihres Mountainbikes die Bodenhaftung verlor. Über die Hälfte der letzten Steigung hatte sie zwar geschafft, doch langsam hatte sie das Gefühl, ihre Lungen seien mit heißem Teer gefüllt, und noch schlimmer war, dass das unverkennbare Knirschen von Reifen immer näher kam. Jennifer blickte über die Schulter, ohne den prachtvollen Sonnenuntergang zu beachten, der selbst den Smog über Phoenix durchdrang, und schaute nur auf das Gesicht ihres Verfolgers. Erfreulich, dass er in schlechter Form zu sein schien. Sein Mund stand weit offen, und trotz der trockenen Kälte in der Wüste strömte ihm der Schweiß buchstäblich die Nase hinunter. Weniger erfreulich war, dass sie sich so fühlte, wie er aussah. Der Anstieg wurde etwas flacher, und Jennifer stand wieder auf. Diesmal blieb der Reifen am Boden, und sie schaffte es mit letzter Kraft, ein wenig zu beschleunigen und die Führung zu halten. Das Keuchen hinter ihr wurde lauter, was bedeutete, dass 7
es ihrem Verfolger gelungen war, die Distanz zwischen ihnen zu verringern. Jennifer lenkte widerwillig etwas nach rechts, um ihm Platz zu machen, senkte dann den Kopf und trat entschlossen in die Pedale. Ungefähr fünfundzwanzig Meter vor dem Gipfel war er nur noch wenige Zentimeter hinter ihr – und gab plötzlich auf! Sie hörte einen erstickten Fluch und das unverkennbare Klicken, als er in einen niedrigeren Gang schaltete. Jennifer blieb in den Pedalen stehen für den Fall, dass es nur ein Trick war oder er sich noch mal fing, aber bei einem raschen Blick über die Schulter sah sie, dass er vom Rad gestiegen war und es langsam bergauf schob. Endlich hatte sie den Gipfel erreicht. Sie stützte ihre Arme auf den Lenker und sauste vorsichtig den schmalen Weg hinab, den rechts und links eine kleine, aber begeisterte Zuschauermenge säumte. Ihre Eltern kamen zu ihr gelaufen, als sie unter dem karierten Zielbanner hindurchfuhr. Jennifer schlang einen Arm um die Schultern ihres Vaters und glitt vom Rad. Völlig erschöpft sank sie zu Boden. »Prima gemacht, Jen! Ich dachte schon, dieser Kerl würde dich beim Anstieg noch erwischen!« Sie schloss die Augen und hörte, wie ihr Vater das Rad aufhob und es von der Bahn schob. »Schatz? Alles in Ordnung?« Jennifer blinzelte in das rundliche Gesicht ihrer Mutter, die sich über sie beugte. »Bestens, Mom, alles klar. Was hab ich geschafft, Dad?« »Vierter Platz, wie mir scheint. Ganz knapp an einem Preisgeld vorbei.« 8
Mit einem leisen Stöhnen stand Jennifer auf und drängte sich durch die Menge, schüttelte etliche Hände, wechselte ein paar Worte mit einigen Freunden und scherzte mit anderen Rennteilnehmern. »Wir haben eine Überraschung für dich, Schatz«, sagte ihr Vater, als sie schließlich weiter zum Parkplatz gingen. Jennifer blieb misstrauisch stehen. Ihr Vater war nicht der Typ, der ohne besonderen Anlass etwas schenkte. Überraschungen verhießen gewöhnlich nichts Gutes. Ihr Blick fiel auf einen weißen Ford Explorer. Daneben standen drei Leute. Zwei davon winkten. »O nein, Dad. Das ist nicht wahr!« »Wieso? Die Taylors haben sich wirklich darauf gefreut, dich mal fahren zu sehen.« »Ja, das stimmt, Schatz.« Ihre Mutter nickte lächelnd. Die Taylors lebten schon, solange sich Jennifer erinnern konnte, zwei Häuser weiter, und solange sie sich erinnern konnte, versuchten die beiden Familien, sie mit Billy zu verkuppeln, dem Sohn der Taylors, einem ausgemachten Idioten, der nichts anderes als Football spielen im Kopf hatte, hinter Cheerleadern her zu sein und Budweiser zu kippen. Mrs. Taylor eilte mit weit geöffneten Armen auf Jennifer zu, überlegte es sich allerdings noch einmal anders beim Anblick ihres verdreckten Trikots. Statt sie zu umarmen, rückte sie sich ihr ziemlich hochtoupiertes Haar zurecht und entschied sich für ein angedeutetes Küsschen auf die Wange aus sicherer Distanz. »Nein, war das beeindruckend, Jennifer. Wirklich sehr aufregend.« Sie wandte sich zu ihrem halb vertrottelten Sohn um. »Nicht wahr, Billy?« Er erwachte lange 9
genug aus seiner stumpfsinnigen Starre, um ein schwaches Lächeln hervorzubringen. Alle warteten schweigend, ob er tatsächlich sprechen würde, aber es kam nichts. »Wir haben uns gedacht, wir gehen irgendwohin zum Essen, ehe wir zurück nach Flagstaff fahren«, sagte ihr Vater. »Was meinst du dazu, Jen?« »Machst du Witze? Schau mich mal an!« Jennifer nahm ihren Helm ab und breitete die Arme aus. Sie war von Kopf bis Fuß mit Dreck bespritzt. Aus einer Wunde am Knie, die von einem Sturz bei der ersten Abfahrt stammte, sickerte immer noch ein wenig Blut. Und die Krönung war, dass der Helm ihre Haare vollkommen platt gedrückt hatte. Ihren Vater schien das allerdings nicht weiter zu stören. »Wir sagen einfach, du hast bei einem MountainbikeRennen mitgemacht. Sie werden es schon verstehen.« Vermutlich meinte er damit den arroganten Oberkellner eines total hochgestochenen Restaurants, der sie anschauen würde wie eine Pennerin, um ihnen dann widerstrebend einen Tisch zuzuweisen, weil ihr Vater der größte Autohändler in Arizona war. Seufzend ging Jennifer hinüber zum Cadillac ihrer Eltern, griff in das offene Fenster und zog einen kleinen Rucksack heraus, in dem Unterwäsche zum Wechseln, ein paar Shorts und ein Sweatshirt waren. »Bin gleich wieder zurück«, sagte sie und eilte zu einem weißen Bus, auf dem in roten Buchstaben SERVICE stand. »Funktioniert’s?«, fragte sie den jungen Mann, der vor dem Bus in einem Liegestuhl saß. Er legte das hoffnungslos verbogene Rad zur Seite, das er gedankenvoll betrachtet hatte, und griff nach dem Schlauch, der neben ihm lag. 10
»Klar, Jen. Willst du dein Bike abspritzen?« »Meine Eltern wollen mit mir zum Essen gehen.« Er musterte sie kritisch und angelte sich ein Bier aus seiner Kühltasche. »Ist aber bestimmt ganz schön kalt.« Sie warf ihren Rucksack durch das Fenster des Busses und nickte entschlossen. »Mach’s trotzdem.« »Okay, jetzt bin ich fertig.« Jennifer trug ihre sauberen Kleider und rubbelte sich den Kopf mit einem ziemlich fleckigen Handtuch trocken, das ihr Freund mit dem Bus ihr geliehen hatte. Sie beugte sich vor und schüttelte ihr unnatürlich blondes Haar aus. »Na, Billy, auch ein bisschen Fettschmiere für deine Frisur?« Ihre Frage hatte den gewünschten Effekt: Billy starrte sie entsetzt an. »Also, ich fand, es war ein sehr netter Abend.« Jennifer verdrehte die Augen. »Pass auf die Straße auf, Schatz«, warnte ihre Mutter. »Sonst zieht man dir am Ende noch Punkte bei deiner Führerscheinprüfung ab.« Jennifer griff zum Radio und schaltete es aus. »Mom, Billy und ich kennen uns unser ganzes Leben lang. Er ist ein Idiot. Und er hält mich für einen Idioten. Mein Geschichtslehrer sagt, dass die meisten Menschen, die mit einem gemeinsamen Feind zu tun haben – in diesem Fall unsere werten Eltern –, wenigstens ein winziges bisschen Freundschaft entwickeln. Du hast sicher bemerkt, dass das bei uns nicht so ist.« Ihre Mutter senkte den Kopf. »Sie sind so eine nette Fa11
milie. Ich begreife gar nicht, warum du dermaßen störrisch bist …« Jennifer wandte sich zu ihrem Vater um, der hinten saß. »Jetzt hilf mir doch mal, Dad.« Er gab jedoch keine Antwort, sondern studierte eifrig die Straßenkarte auf seinem Schoß, obwohl sie nur noch eine halbe Meile von zu Hause entfernt waren. Folgsam schaute Jennifer wieder auf die Straße, als ihre Mutter erneut über ihre Fahrweise meckerte. »Versuch mir mal zu folgen, Mom. Billy mag Mädchen vom Typ Cheerleader – mit langen roten Nägeln, die in genau der richtigen Höhe quietschen können, wenn er ein Touchdown schafft. Außerdem habe ich einen Freund. Und der ist nicht gehirnamputiert.« Jennifer setzte den Blinker und bog in die gewundene Auffahrt ein. Zügig fuhr sie bis zum Haus und flüchtete aus dem Auto, ehe ihre Mutter wieder von vorn anfangen konnte. Sie hob ihr Rad vom Wagendach und versuchte, weder auf die Kälte noch auf ihre Mutter zu achten, die schmollend im Haus verschwand. Na, das würde eine tolle Stimmung heute Abend werden. Seufzend schob sie das Rad in die offene Garage und lehnte es gegen die Wand. »Soll ich den Wagen reinfahren, Mom?«, brüllte sie durch die Tür, die in die Küche führte. Keine Antwort. Also wieder mal das alte Spiel, mir Schuldgefühle zu machen, dachte sie, und sprang die kleine Treppe hinauf. Im Haus brannte immer noch kein Licht. »Haben wir wieder einen Kurzschluss? Dad? Soll ich mal im Sicherungskasten nachgucken?« 12
»Lauf, Jennifer!« Sie erstarrte bei dem erstickten Ruf ihres Vaters, und ihr Herz begann so laut zu pochen, dass es ihr in der Stille fast in den Ohren dröhnte. Zögernd ging sie die letzte Stufe hinauf und schlich bis zur Waschmaschine. Von dort aus konnte sie in die Küche schauen. »Dad?« Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen nach dem Licht der grellen Glühbirne in der Garage an das Halbdunkel in der Küche gewöhnt hatten, wo nur der Mond, der durch das Fenster über dem Waschbecken schien, für etwas Helligkeit sorgte. Ein Mann in einem dunklen Anzug zerrte gerade ihre Mutter hinüber zum Wohnzimmer. Er hatte eine Hand auf ihren Mund gepresst und drückte ihr mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu. Jennifer widerstand dem Drang, zu ihr zu laufen und diese Hand von ihrem Gesicht zu reißen. Stattdessen wich sie zurück und wäre fast die Stufen hinuntergefallen. Als sie sich hastig an der Wand abstützte, entdeckte sie ihren Vater. Ein ebenfalls dunkel gekleideter Mann drückte ihn gegen die Küchentheke. Sein kräftiger Unterarm schnürte ihm die Kehle zu, und eine Waffe an seinem Kopf hatte ihren Vater zum Schweigen gebracht. Loslaufen und Hilfe holen war das Einzige, was sie tun konnte, schoss es ihr durch den Kopf. Also wirbelte sie herum und sprang mit einem Satz die Stufen in die Garage hinunter. Im Auto steckte immer noch der Schlüssel. Die Hand, die hinter der Werkbank hervorkam, bemerkte 13
sie erst, als diese sie am Sweatshirt packte; sie spürte nur, wie der Stoff sich plötzlich über ihrer Brust spannte und die Füße unter ihr wegrutschten. Ehe sie zu Boden fiel, schlang sich ein kräftiger Arm um ihre Taille, und kurz darauf drückte ihr jemand Mund und Nase zu. Sie schlug wild um sich, als ihr die Luft abgeschnitten wurde. Der Angreifer hatte offenbar nicht mit so viel Gegenwehr gerechnet und geriet ins Stolpern. Jennifer griff nach seinem Arm und bekam etwas zu packen, das sich wie ein dickes Armband aus Metall anfühlte. Doch es war hoffnungslos. Panik und Luftmangel machten sie benommen, und sie spürte, wie sie schwächer wurde, während sie dagegen ankämpfte, die Besinnung zu verlieren. Der Mann hatte rasch sein Gleichgewicht wieder gefunden und hob sie hoch, so dass sie keinerlei Halt mehr hatte. Sie versuchte noch, sich am Türrahmen festzuklammern, als sie ins Haus getragen wurde, doch ihre verschwitzten Finger glitten kraftlos daran ab. »Warte!« Jennifer hörte die Frauenstimme, hatte aber keine Ahnung, woher sie gekommen war. Sie spürte, wie ihre Füße wieder den Boden berührten. Der Mann hielt sie zwar immer noch fest um die Taille gepackt und drückte ihr weiter den Mund zu, doch sie bekam wenigstens wieder Luft durch die Nase. Sie holte tief Atem und merkte, dass ihre Benommenheit etwas nachließ. Eine Frau kam aus der dunklen Ecke hinter dem Kühlschrank auf sie zu und gab dem Mann einen Wink, seine Umklammerung noch ein wenig mehr zu lockern. Sie war ungefähr zehn Zentimeter kleiner als Jennifer mit 14
ihren einsfünfundsiebzig und hatte kurz geschnittenes Haar mit einem Seitenscheitel wie ein Junge. Ihre Haut musste sehr hell sein, da sie im Licht des Mondes direkt fahl leuchtete. Die Frau blieb einen Schritt vor ihr stehen und hob die Hand. »Du musst ganz still und ganz ruhig sein«, sagte die Frau und strich Jennifer übers Haar. Jennifer stieß einen Schrei aus, der durch die Hand auf ihrem Mund gedämpft wurde. Sie versuchte, in den Augen der Frau irgendwas zu finden, das ihr verriet, was hier geschah, aber sie wirkten nur unergründlich schwarz. Die Frau trat einen kleinen Schritt nach rechts, damit das Mondlicht ihr Gesicht traf. »Schau mich an, Jennifer. Du wirst ruhig sein, nicht wahr?« Ihre leise Stimme klang sanft, doch ihre Augen waren kalt und grausam. Jennifer wollte schreien, als der Mann seine Hand von ihrem Mund nahm, doch war sie wie gebannt von diesem starren Blick. »So ist es gut.« Die Frau streichelte ihr über die Wange und den Arm. »Komm mit.« Sie fasste ihr Handgelenk. »Ich will, dass du dir etwas ansiehst.« Sie zog Jennifer in Richtung Wohnzimmer. Jennifer wollte sich losreißen, weglaufen und Hilfe holen, aber sie hatte viel zu viel Angst. Nicht vor dem Mann, der sie überfallen hatte, oder den beiden anderen, die ihre Eltern überwältigt hatten, sondern vor dieser kleinen, bleichen Frau, deren Augen ihr verrieten, dass sie zu allem fähig war. Widerwillig ließ sie sich zu dem kleinen Zweisitzer in einer Ecke des Wohnzimmers führen, wo dank der beiden zusätzlichen Dachfenster das Licht besser war. Jennifer setzte sich auf das Sofa, auf dem sie so viele Aben15
de vor dem Fernseher verbracht, Hausaufgaben gemacht, telefoniert hatte, und schaute starr zu ihren Eltern und den Männern, die sie am anderen Ende des Raums mit vorgehaltener Waffe bedrohten. Die Frau ließ sie los, ging zu ihnen hinüber und begann leise mit ihren Eltern zu reden. Jennifer beugte sich vor, um vielleicht etwas aufzuschnappen, aber eine Hand packte ihre Schulter und zog sie grob zurück. Die Zeit schien stillzustehen. Wegen des Halbdunkels war es schwierig, ihre Gesichter zu erkennen, doch an der Körperhaltung sah sie, wie die Anspannung langsam von ihren Eltern wich. Ihr Vater war der Erste, der sich von der Wand löste, dann ging ihre Mutter auf die kleine Frau zu, schlang ihre Arme um sie und begann, erstickt zu schluchzen. Es klang, als weine sie halb aus Schmerz und halb aus Freude. Genau so hatte sie schon einmal geweint – als ein enger Freund der Familie nach einem langen qualvollen Kampf gegen Knochenkrebs gestorben war. Jennifer entspannte sich ein wenig. Die kalte Grausamkeit, die sie in den Augen der Frau gesehen hatte, war bestimmt nur eine Täuschung in dem diffusen Licht gewesen. Ihre Eltern kannten sie offenbar. Wer weiß, vielleicht kannten sie sich seit Jahren. Vielleicht hatte auch die Frau Angst. Vielleicht war sie hier, weil sie ihre Hilfe brauchte. Als der Mann, der neben ihrem Vater stand, ihm seine Waffe reichte, stieß Jennifer einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Mörder und Vergewaltiger hatten ganz sicher nicht die Angewohnheit, ihre Opfer zu bewaffnen. Vielleicht waren sie und ihre Familie in irgendeiner Gefahr, und diese Leute waren hier, um sie zu beschützen? Ihr Vater strich sich mit dem Hemdsärmel über die Au16
gen, ehe er die Waffe nahm. Jennifer sah, wie er sie voller Unbehagen in der Hand hielt. Dann richtete er sie plötzlich auf den Hinterkopf ihrer Mutter und drückte ab. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, in einem dunklen Kino zu sitzen und einen Film anzuschauen. Ein Ruck ging durch den Körper ihrer Mutter, ehe sie zu Boden stürzte und eine dunkle schimmernde Flüssigkeit die Wand bespritzte. Jennifer wollte aufspringen und vom Sofa flüchten, aber der Mann hinter ihr riss sie zurück. Der Raum begann sich um sie zu drehen, ihr Magen verkrampfte sich, und ihr wurde übel. »Daddy!«, schrie sie und versuchte sich loszureißen, als ihr Vater sich die Waffe unters Kinn drückte. Ihre Stimme schien ihn aus seiner Trance zu wecken, und er zögerte für einen Moment. »Ich weiß, das ist hart, Schatz. Aber du gehörst nicht zu uns. Du hast nie zu uns gehört.« Erneut krachte ein Schuss, und das Fenster hinter ihrem Vater zersplitterte von oben bis unten in einem Muster wie ein Spinnennetz, während er zusammensackte. Schnell wandte Jennifer den Blick ab, um dieses Bild nicht mehr sehen zu müssen, und spürte, wie sie alle Kraft verlor. Sie sank nach vorn und wusste einen Moment lang nicht einmal mehr, wie man atmete. Ihr Gehirn schien sich einzig und allein darauf zu konzentrieren, das zu begreifen, was gerade geschehen war. Ihre Eltern waren beide Einzelkinder gewesen, und ihre Großeltern waren seit Jahren tot. Vor einem Sekundenbruchteil hatte sie noch zu einer glücklichen Familie gehört, und nun war sie vollkommen allein. Es musste ein Traum sein, ein Albtraum. Ja, bestimmt war es bloß ein Traum. 17
Sie hörte nicht, dass die Frau näher kam, und bemerkte kaum, als sie vor ihr niederkniete. Jennifer sah kurz das Aufblitzen der Spritze in ihrer Hand und spürte, wie sie mit dem Gesicht in die Kissen gedrückt wurde. Eine Hand glitt unter ihren Bauch, knöpfte ihre Shorts auf und zog sie zusammen mit dem Slip herunter. Es folgte ein scharfer Einstich, und eine unnatürliche Hitze überflutete sie. Dann wurde alles dunkel.
ZWEI »Putten ist kein Golf«, erklärte Mark Beamon und beförderte mit einem behutsamen Stoß endlich seinen Ball über die letzten sieben Zentimeter ins Loch. »Ich schätze, das müssten – na ja, sieben gewesen sein?« »Acht«, verbesserte der Mann mit der Scorekarte. »Wenn Sie nicht so hart schlagen würden, bräuchten Sie Ihre Ergebnisse nicht mit dubiosen Rechenkünsten zu verbessern.« Beamon zog seine rotgrün karierten Hosen hoch und holte den Ball aus dem Loch. »Ich glaube, Sie wissen einfach die genialen Feinheiten meines Spiels nicht zu schätzen, Dave.« »Und ob, Mark. Diese Genialität ist der Grund, dass ich im Clubhaus für keinen Drink mehr zahlen musste, seit Sie nach Arizona gezogen sind.« Er nickte einem großen, stämmig gebauten Mann zu, der am Rand des Grüns stand. »Sie sind dran, Jake.« Mark Beamon schob den Putter in seine Tasche und ließ 18
sich auf den Fahrersitz des Carts fallen, um Jacob Layman, seinem neuen Boss, beim Putten zuzuschauen. Es war ein ganz einfacher Schlag, und Beamon versuchte, ihn mit Gedankenkraft zu unterstützen, aber der Ball ging um gute acht Zentimeter daran vorbei. Wieder ein brillanter Plan zum Teufel gegangen, dachte er und sah, dass eine ärgerliche Röte Laymans Wangen färbte. Layman stammte offenbar aus einer der »guten« Familien Virginias – was immer das bedeutete. Er hatte die richtigen Schulen besucht und eine erfolgreiche, wenn auch nicht außergewöhnliche Karriere beim FBI gemacht. Aufgrund dieser Tatsache und obwohl er nicht gerade wahnsinnig unterhaltsam war, hatte er es zu respektablem Ansehen in der besseren Gesellschaft von Arizona gebracht. Ständig ließ er scheinbar beiläufig einfließen, wen er alles kannte, und sorgte auf diese Weise dafür, dass niemand seine Stellung vergaß. Mark Beamon dagegen war ein übergewichtiges und schlecht gekleidetes Produkt des staatlichen texanischen Schulsystems. Liebste Freizeitbeschäftigung: auf Partys zu viel essen und noch mehr trinken und dann die Gäste beleidigen. Aber Beamon hatte im Lauf der Zeit einige der kompliziertesten Fälle des FBI gelöst, die enorme Beachtung gefunden hatten. Sein Gesicht war im Fernsehen gewesen, in Zeitschriften und allen möglichen Lokalzeitungen. Mit solchen Erfolgen machte man sich mächtige Freunde. Trotz des beinahe schon von ihm gepflegten Mangels an Umgangsformen und der Tatsache, dass er erst vor einem Monat nach Arizona gezogen war, hatte er sich bereits mit einigen der einflussreichsten Persönlichkeiten angefreundet 19
und war plötzlich das, was seine Sekretärin einen »Partygast der Kategorie A« nannte. Anfänglich hatte er seinen neuen Status mit Humor akzeptiert. Warum auch nicht? Klar, die Leute waren manchmal Blender oder tödlich langweilig, aber das Essen war gut, und die Getränke gab’s umsonst. Er hatte allerdings angefangen, die Sache anders zu sehen, als er eine deutliche Abkühlung in Laymans Haltung ihm gegenüber bemerkt hatte. Zuerst hatte er geglaubt, sein neuer Boss habe herausgefunden, dass einige seiner Leute ihn übergingen und direkt zu Beamon kamen, um sich in komplizierten Fällen Rat zu holen – wozu er sie keineswegs ermutigte, im Gegenteil. Aber dann wurde ihm klar, dass es gar keine berufliche Eifersucht war. Jake hatte einfach das Gefühl, dass Beamon seinen naturgegebenen sozialen Status übertreten hatte. Und deshalb waren sie nun hier. Vor ein paar Jahren hätte er die ganze Sache schulterzuckend ignoriert und schließlich für seine Weigerung, sich an die Spielregeln zu halten, die Quittung bekommen. Aber inzwischen war er der neue, verbesserte Mark Beamon. Er hatte seinen Zigarettenkonsum um die Hälfte reduziert, hatte mit Sport angefangen, war tapfer und leidlich erfolgreich von Bourbon auf Bier umgestiegen und fest entschlossen, sich keine weiteren Gehirnerschütterungen mehr zu holen, indem er mit dem Kopf gegen die politische Backsteinwand des FBI rannte. Zu der heutigen Golfpartie gehörten der Bürgermeister von Flagstaff und der Star eines Krimis, den Fox gerade in Tuscon drehte. Keiner war besonders begeistert gewesen 20
über Beamons Drängen, seinen neuen Boss einzuladen, um die Viererrunde zu komplettieren. Und nun lieferte Layman das vermutlich schlechteste Spiel seines Lebens. Beamon wandte sich um und warf seine leere Bierdose in die Kühltasche, zog eine neue heraus und öffnete sie. »Machen Sie es beim nächsten wieder gut, Jake«, sagte er, als Layman seinen Putter in die Tasche stieß und sich auf den Sitz neben ihn sinken ließ. Irgendwie sah es nicht so aus, als ob er seine Worte als Friedensangebot verstand – wie sie gemeint gewesen waren. Beamon trat aufs Gaspedal und sauste den Weg hinunter. Der kalte Wind drang durch sein Golfhemd, und er bemühte sich, nicht daran zu denken, dass der Mann neben ihm wahrscheinlich gerade überlegte, wie er auf irgendeine Art und Weise das Wort »Arschloch« in seiner nächsten Beurteilung unterbringen konnte. Am nächsten Loch nahm Beamon seinen Driver und ging zum Tee, während Layman schmollend im Cart sitzen blieb. Als ihre Partner näher kamen, ertönte das unverkennbar Zirpen eines Piepsers. Layman schaute auf seinen Gürtel und der Bürgermeister auf seine Tasche, aber Beamon hielt seinen bereits triumphierend hoch. »Meiner.« Er ließ den Driver fallen, ging zurück zum Cart und kramte in der Tasche nach seinem Handy. Mit ein wenig Glück hatten Terroristen ein Stadion voller Collegestudenten gestürmt und alle als Geiseln genommen. Andernfalls würde er sich wahrscheinlich in den Fuß schießen müssen, damit er um die letzten sechs Löcher herumkam.
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DREI Abgesehen von den gelegentlichen Golfausflügen nach Phoenix war Arizona in der Realität vollkommen anders, als man es sich allgemein vorstellte. Mark Beamon hob unbewusst die Füße, als sein Wagen durch eine fünfzehn Zentimeter tiefe Schneeverwehung pflügte, die das Fahrzeug regelrecht vom Boden hob. Glücklicherweise war sie auch nur ungefähr genauso breit, und er schaffte es trotz eines kleinen Schlenkers, die Kontrolle zu behalten. »Gottverdammt!«, sagte er laut zu sich selbst. »Angeblich schneit es doch nicht in Arizona!« Er war seit ungefähr einem Monat der Assistant Special Agent in Charge des FBI-Büros in Flagstaff. Und in diesem Monat als ASAC hatte er etwas gelernt: Es schneite sehr wohl in Arizona. Ja, es gab sogar regelrechte Schneestürme in Arizona. Die Bilder, die man aus dem Fernsehen kannte, wo irgendein Typ im Schatten eines sechs Meter hohen Kaktus an einer Margarita nippte, waren vermutlich in Kalifornien aufgenommen worden. Oder an der Südspitze von SaudiArabien. Trotzdem musste er zugeben, dass er es alles in allem nicht übel getroffen hatte: Er leitete endlich sein eigenes Büro, und er hatte einige gute Jungs unter seinen Leuten. Jetzt musste er es bloß noch schaffen, nicht wieder alles durch sein eigenes Verhalten zu versauen. Beamon nahm den Fuß vom Gas, schaltete das Innenlicht ein und fuhr im Kriechtempo weiter. Die Häuser in dieser noblen Gegend von Flagstaff lagen versteckt hinter dichten Kiefernwäldchen und fast anderthalb Meter hohen Schnee22
wällen, die zu beiden Seiten der ruhigen Straße aufgehäuft waren. Laut der Wegbeschreibung, die er sich auf den Rücken einer leeren Scorekarte gekritzelt hatte, müsste er allerdings die nächste Abzweigung nehmen. Auf der rechten Seite entdeckte er im Schnee eine schmale Lücke, fuhr darauf zu und kam in eine lange gewundene Auffahrt. Er merkte, dass er richtig war, als die Spitzen der verschneiten Bäume hinter einer kleinen Anhöhe rot, blau und wieder rot leuchteten. Kurz darauf erreichte er die Quelle dieses Lichterspiels – zwei Streifenwagen, die zwischen drei zivilen Fahrzeugen in der Auffahrt eines großen, aus Baumstämmen erbauten Hauses eingekeilt waren. Er nahm einen Kaugummi aus dem Päckchen, das neben ihm auf dem Beifahrersitz lag, und schob ihn zu den beiden anderen, die er bereits im Mund hatte. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass der Geruchssinn nachließ, wenn man älter wurde, aber das Glück hatte er bislang noch nicht gehabt. Der Geruch von Blut, das einige Tage alt war, führte bei ihm mit jedem Jahr zu mehr Übelkeit. Kaugummi war sein neuestes Gegenmittel. Beamon bremste vorsichtig, damit der Wagen nicht ins Rutschen geriet, und hielt an. Beim Aussteigen fröstelte er in der kalten Luft. Er trug nur dünne Golfhosen und einen Sweater, da er direkt vom Golfplatz aus losgefahren war, der in der wesentlich wärmeren Wüste von Phoenix lag. Nach zweieinhalbstündiger Fahrt war er jetzt in den verschneiten und um einige hundert Meter höher gelegenen Wäldern von Flagstaff gelandet. Zwei Polizisten kamen auf ihn zu. Beamon winkte ihnen 23
kurz und beugte sich wieder in seinen Wagen. Vom Rücksitz zog er seinen neu erworbenen roten Daunenparka und schlüpfte hinein. Bei der Party zur Feier seiner Beförderung und Versetzung nach Arizona – und nach nicht weniger als acht Bourbon – hatte er seine gesamten Wintersachen auf einmal angezogen und einen gekonnten Striptease auf dem Esszimmertisch seines Freundes vollführt. Sein Wollmantel war das Erste gewesen, was er in die johlende Menge geworfen hatte. Im Nachhinein gesehen vermutlich keine so tolle Idee. »Können wir Ihnen helfen, Sir?«, fragte einer der beiden Beamten und trank einen Schluck aus einem Pappbecher. Sein nächster Atemzug stieg als dichte Dampfwolke in die Luft. »Vielleicht.« Beamon hob den rechten Arm, an dessen Ärmel ein großes Preisschild baumelte. »Hat einer von euch Jungs zufällig eine Schere dabei?« Der Bulle mit dem Kaffee deutete in die fünfhundert Meter lange Auffahrt. »Sir, hier finden polizeiliche Ermittlungen statt. Ich schlage vor, Sie steigen wieder in Ihren …« »Mark!« Chet Michaels tänzelte an den Absperrungen vorbei und bahnte sich einen Weg durch den tiefen Schnee. »Schon in Ordnung. Das ist mein Boss.« Die beiden Beamten murmelten eine Entschuldigung und gingen wieder zurück zu ihrem Streifenwagen. »Tut mir Leid, dass ich Sie vom Golfplatz wegholen musste, Mark, aber ich dachte, das würden Sie sich ansehen wollen.« Chet Michaels war mit fünfundzwanzig als einer der 24
jüngsten Agenten zum FBI gekommen – eine Ehre, die er sich durch seinen Collegeabschluss mit neunzehn und das Bestehen seines Kurses in Wirtschaftsprüfung im ersten Anlauf verdient hatte. Allen Berichten zufolge war er zudem ein verdammt guter Sportler – ein Ringer – gewesen, was man sich allerdings nur sehr schwer vorstellen konnte. Mit seinem karottenroten Haar und den unzähligen Sommersprossen auf der Nase sah er eher aus wie ein harmloser Schulbub. Beamon nahm seine karierte Golfmütze ab und wollte sie in den Wagen werfen, überlegte es sich aber anders. Die Sonne war hinter den Bergen untergegangen, und die Sterne begannen am dunkelblauen Himmel zu funkeln. Es würde wieder eine kalte Nacht werden. »Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass das der einzige Lichtblick an diesem Tag für mich ist, Chet«, versicherte Beamon und folgte dem jungen Agenten zum Haus. Ein gelbes Band sperrte die Eingangstreppe ab und zwang sie zu einem Umweg durch eine tiefe Schneewehe. Beamon trug immer noch seine Golfschuhe, die mit ihren Spikes zwar für hervorragende Bodenhaftung sorgten, aber leider jämmerlich dünn waren. »Mit Fußspuren werden Sie wohl nicht viel anfangen können, Chet«, meinte er und versuchte erfolglos, in den Abdrücken zu bleiben, die etliche Leute vor ihm hinterlassen hatten. »Es hat seit ein paar Tagen nicht geschneit, und hier sieht’s aus, als sei ein komplettes Fußballteam zehnmal diese Treppe rauf- und runtergerannt.« »Da haben Sie vermutlich Recht, aber wir dachten, wir holen trotzdem ein paar Experten her, um sie sich mal anzuschauen.« 25
Beamon zuckte die Schultern und ging durch die Eingangstür ins Haus. Drinnen war es nicht viel wärmer als draußen, deshalb schob er das Preisschild in den Ärmel und schaute Michaels hinterher, der im Laufschritt nach links eilte und hinter einer handgeschnitzten zweiflügeligen Tür verschwand. Diese ganze Aufregung, dachte Beamon kopfschüttelnd. Vergeblich versuchte er sich daran zu erinnern, wie es ihm bei seinem ersten großen Fall ergangen war. Die Einzelheiten wusste er noch, als wäre es erst gestern gewesen; sie waren in seinem Gehirn gespeichert, und er konnte bei Gelegenheit darauf zurückgreifen, doch dieses Hochgefühl, Mitte zwanzig zu sein und erfüllt von der Aufgabe, die Welt zu retten, hatte schon vor langer Zeit aufgehört. Beamon griff in den Ausschnitt seines Sweaters und zog eine Lesebrille aus der Hemdentasche. Sie beschlug sofort, deshalb hielt er sie bloß in der Hand und spähte in den angrenzenden Raum. Die Wände bestanden aus massiven Baumstämmen, sicher fast einen halben Meter im Durchmesser, und waren in einem unregelmäßigen Dunkelbraun gestrichen, wodurch sie wie natürlich gealtert wirkten – was gut zu den Steinplatten des Bodens passte. Ein Kronleuchter aus einem Elchgeweih tauchte den Raum in ein sanftes Licht, das immer wieder von grellen Blitzen durchbrochen wurde, da man nebenan Fotos machte. Zwei Schritte über einen verblichenen Navajo-Teppich, dann blieb Beamon vor einem kleinen antiken Tisch stehen. Er war voller Bilder in allen erdenklichen Größen und Formen mit schlichten Rahmen aus Gold oder Silber. 26
Offenbar eine Sammlung von Familienfotos. Die Aufnahmen im Hintergrund waren verblichene Schwarzweißbilder, die Personen trugen durchweg steife Anzüge oder Röcke mit Petticoats, und alle starrten mit dem gleichen ernsten Ausdruck in die Kamera. Beamon trat einen Schritt zurück, stutzte und griff nach einem Foto am Rand des Tischs, um es genauer zu mustern. Diesen Mann in dem gelbbraunen Pullover kannte er. Erst vor ein paar Wochen hatte er Eric Davis auf einer Cocktailparty getroffen. Beamon erinnerte sich nicht, dass auch die große, stämmige Frau dabei gewesen war, die an seiner Seite stand, vermutete aber, dass es sich um Mrs. Davis handelte. Sein Blick wanderte zu dem Mädchen, das vor den beiden im Laub saß. Ihr gelbes Haar war offensichtlich gefärbt und kontrastierte mit ihrer sportlichen Bräune. Auf ihrem linken Nasenflügel glitzerte etwas, das wohl ein Piercing war. Ein hübsches kleines Ding, vielleicht sechzehn oder siebzehn – obwohl das wirklich nur geraten war. Er hatte sich absichtlich nie besonders viel mit Kindern abgegeben. »Mark, wo stecken Sie denn? Sie sind hier drin!«, rief Michaels aus der Tür zum Wohnzimmer. »Schon gut, schon gut.« Beamon stellte das Foto wieder auf den Tisch. »Gehen Sie voraus. Ich komme diesmal mit. Versprochen.« Er folgte Michaels in einen großen Raum, der etwa die Form eines Achtecks hatte. Ringsum waren ungefähr viereinhalb Meter hohe Fenster, und das Zentrum bildete ein enormer Baumstamm, der die hohe Decke stützte. Heute 27
Abend war das Zentrum aller Aufmerksamkeit jedoch ein anderes. Beamon schob seine Hände in die Taschen und betrachtete die beiden Leichen. Michaels stand daneben mit der stolzen Miene eines Bildhauers, der seine neueste Arbeit präsentierte. »Wir nehmen an, dass es sich bei den Toten um Eric und Patricia Davis handelt. Das Hausmädchen, das sie gefunden hat, hat sie anhand ihres Körperbaus und der Kleidung identifiziert. Natürlich kann sie es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen.« Beamon nickte und schaute auf die untersetzte Frau in dem dicken eierschalenfarbenen Sweater. Er kauerte sich hin und achtete darauf, dass der Saum seiner neuen Jacke nicht in die Pfütze aus halb geronnenem Blut geriet. Ihre Gesichter schienen unverletzt, doch das getrocknete Blut und das Hirngewebe, das darauf klebte, hatte ihre Züge verzerrt. Beamon hätte nicht darauf geschworen, dass sie das Paar auf dem Bild waren, aber die Vermutung war wohl nicht falsch. »Mr. Davis war vierundvierzig Jahre alt, Mrs. Davis war vierzig«, las Michaels von einem kleinen Block ab, den er aus der Tasche gezogen hatte. »Offensichtlich besaß Mr. Davis eine Reihe von Autohäusern.« »Größter Händler in Arizona«, sagte Beamon. »Bitte?« »Jemand hat mir erzählt, er sei der größte Autohändler in Arizona. Ich habe ihn vor ein paar Wochen auf einer Party getroffen. Nur flüchtig.« Beamon stand auf und trat vorsichtig über die Pfütze aus Blut. Die Plastikspikes unter seinen Golfschuhen, die im Schnee ganz nützlich gewesen waren, 28
erwiesen sich auf dem polierten Eichenboden als etwas tückisch. Er kauerte sich erneut hin und betrachtete die Szene aus einem etwas anderen Winkel. Die Kugel schien die Frau in den Hinterkopf getroffen zu haben. Das Blut hatte eine Lache gebildet und war auf ihrem Haar getrocknet, sodass es aussah wie eine dicke Schorfschicht. Aufgrund der Lage ihrer Leiche konnte Beamon nicht sehen, ob es eine Austrittswunde gab. Eric Davis’ Leiche bereitete ihm etwas mehr Kopfzerbrechen. Ihr Zustand und das Muster des ausgetretenen Bluts ließen darauf schließen, dass ihn ein Schuss unters Kinn getroffen hatte. Beamon deutete auf das zerbrochene Fenster. »Hat die Kugel dieses Fenster zerschmettert? Eigentlich hätte sie doch senkrecht nach oben fliegen müssen.« »Ich denke, das ist sie auch. Anscheinend hat ein Stück von Mr. Davis’ Schädel das Fenster zerbrochen.« »Entzückend.« Beamon stand auf und schob sich noch einen Kaugummi in den Mund. »Was ist mit dem Mädchen?« »Jennifer Davis ist fünfzehn Jahre alt. Blond. Groß – ungefähr einen Meter fünfundsiebzig. Den Nachbarn zufolge, mit denen wir geredet haben, hat sie gestern Nachmittag an einem Radrennen in der Nähe von Phoenix teilgenommen. Sie – die Nachbarn – waren dort, um zuzuschauen, und gingen danach mit ihnen zum Essen. Die Familie Davis müsste gegen zehn heimgekommen sein.« Beamon ließ sich aufs Sofa fallen und stopfte sich einen fünften Kaugummi in den Mund. »Also, was ist hier passiert, Chet?« Der junge Agent erwiderte zuversichtlich seinen Blick. Er arbeitete seit einem Monat mit Beamon zusammen und hatte 29
ihn offensichtlich gut genug kennen gelernt, um mit dieser Frage gerechnet zu haben. »Sie haben auf sie gewartet.« »Wer?« »Die Verbrecher.« »Wieso?« »Die Garagentür ist immer noch auf, und der Wagen der Davis’ steht draußen. Ich stelle es mir so vor: Die Verbrecher wurden von einem Komplizen abgesetzt, der danach durch die Nachbarschaft gefahren ist.« »Warum hat er nicht irgendwo geparkt?« »Mr. und Mrs. Davis wären misstrauisch geworden, wenn ein fremdes Auto in ihrer Auffahrt gestanden hätte. Und wegen des Schnees kann man nicht am Straßenrand parken.« Beamon hob seine Augenbrauen und wiegte nachdenklich den Kopf – einzig und allein, um den jungen Agenten nervös zu machen. Michaels hatte vermutlich Recht, aber er musste lernen, unter Druck zu arbeiten. Außerdem, was war der Spaß daran, König zu sein, wenn man seine Untergebenen nicht gelegentlich ein bisschen foltern konnte? »Okay, Chet, weiter.« Seine kleine Pantomime hatte den gewünschten Effekt, und Michaels wirkte nicht mehr ganz so sicher. »Also, die … die beiden kommen durch die Garage herein und werden in der Küche überfallen.« »Na gut.« Beamon stand auf und ging durch die offene Glastür, die in die Küche führte. Dort lag ein leichter Dunst von Graphitstaub in der Luft, und ein Mann in einem blauen Anzug hatte sich über das Waschbecken gebeugt, das er heftig mit einem weichen Pinsel bearbeitete. 30
Auf dem Boden lag ein Bild in einem Kranz aus Glasscherben, vor dem Kühlschrank ein zerbrochener Teller, und der Tisch war schräg gegen die Wand geschoben. »Ich würde sagen, die Hypothese, dass das Ehepaar Davis hier mit unseren Freunden zusammentraf, ist ganz gut«, stimmte Beamon zu. Michaels wirkte erleichtert und fuhr fort: »Okay, dann sind alle rüber ins Wohnzimmer, wo man Mr. und Mrs. Davis an die Wand gestellt und abgeknallt hat. Über Handy rufen die Täter danach ihren Komplizen an und lassen sich von ihm abholen.« Beamon spähte in den Vorratsraum, der auch als Waschküche diente, und durch die offene Tür in die Garage. »Was ist, wenn es ein Wagen war, den sie erkannten?« »Wie bitte?« »Familie Davis kommt heim, und jemand, den sie alle kennen, steht in ihrer Auffahrt. Sie schwatzen miteinander, während Jennifer ihr Rad vom Dach hebt, und dann zieht einer von ihnen eine Waffe. Sie gehen durch die Garage in die Küche, und Mr. Davis versucht, sich die Waffe zu schnappen. Es gibt einen Kampf, den er letztlich verliert. Man zerrt sie ins Wohnzimmer und erschießt sie.« Enttäuschung zeichnete sich auf dem Gesicht des jungen Agenten ab, und er senkte den Blick. »Ich schätze, so könnte es auch gewesen sein …« »Wie wäre es damit?«, fuhr Beamon fort. »Mr. und Mrs. Davis kommen ins Haus, während Jennifer ihr Rad vom Dach nimmt. Sie hat noch keinen Führerschein, kann daher das Auto nicht reinfahren, und ihre Eltern haben keine große Lust, noch mal raus in die Kälte zu gehen, deshalb lassen sie 31
es erst mal stehen. In der Zwischenzeit kommen unsere Verbrecher hergefahren und klopfen an die Haustür.« Michaels schaute wieder auf. »Aber warum hat dann der Kampf in der Küche stattgefunden? Sie liegt nicht zwischen der Haustür und dem Wohnzimmer.« »Vielleicht wurden sie dazu gezwungen, ihnen Omeletts zu machen.« Beamon grinste und gab Michaels einen spielerischen Stoß gegen die Brust. »Ihre Theorie ist am besten, Junge. Sie sollten einfach nur nicht so verdammt sicher sein. Immer offen bleiben für alle Möglichkeiten – aber auch wieder nicht so offen, dass das Hirn rausfällt, klar?« Helles Scheinwerferlicht streifte die Wohnzimmerfenster, und Michaels spähte zur Küchentür hinaus. »Das muss der Gerichtsmediziner sein.« Mark Beamon nickte. »Nur zu, führen Sie ihn herum. Ach, noch was. Sorgen Sie dafür, dass jemand mit einer Taschenlampe draußen rings ums Haus nach Fußspuren Ausschau hält. Das Ganze könnte nichts weiter als ein verpfuschter Raubüberfall sein, und wenn das kleine Mädchen Sportlerin ist, ist sie vielleicht in den Wald geflüchtet. Sie wird sich den Hintern abfrieren, falls sie irgendwo dort draußen hockt.« Beamons Kiefern schmerzten allmählich wegen des großen Klumpens Kaugummi in seinem Mund, und er merkte, dass der Leichengeruch demnächst die Pfefferminzbarriere durchdringen würde. Zeit für Plan B. Er stieg über den Burschen, der Fingerabdrücke abnahm und jetzt mit den Unterschränken beschäftigt war, und versuchte die Hintertür zu öffnen. Der vereiste Schnee auf der Terrasse blockierte sie allerdings schon nach wenigen Zen32
timetern. Bekümmert schaute Beamon auf die schmale Lücke und seinen Bauch. Es würde nicht leicht sein, aber was war im Leben schon leicht? Er packte den Rand der Theke und den Türrahmen und zwängte sich durch die Öffnung. Es war ein wundervolles Plätzchen mit einer fast unwirklichen Atmosphäre. Durch hohe Tannen schimmerte das Sternenlicht auf dem frischen weißen Schnee, es war windstill, und die gedämpften Stimmen der Ermittlungsbeamten, die durch das zerbrochene Wohnzimmerfenster drangen, wurden fast vollständig vom Wald verschluckt. Bedächtig holte Beamon ein Päckchen Tabak und Blättchen aus seiner Jacke und begann, eine Zigarette zu drehen. Seine Finger waren vor Kälte beinahe taub, wodurch die ganze Prozedur noch schwieriger war als normalerweise. »Was machen Sie hier?« Beamon fuhr zusammen und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Er ließ die halb gedrehte Zigarette in den Schnee fallen, stützte sich gegen die Hauswand und schaute sich um. Kaum drei Meter entfernt saß in einem Liegestuhl eine kleine Frau, offenbar eine Lateinamerikanerin, die sich in eine dicke Wolldecke gehüllt hatte. »Sind Sie ein Polizist?« Er schaute an sich herab und grinste. Mit seinen grünrot gemusterten Hosen und dem neuen Parka sah er wahrscheinlich aus wie ein übergroßer Weihnachtsschlumpf, der sich einen Joint drehte. »Mein Arzt hat mir gesagt, ich solle mit der Qualmerei aufhören, deshalb habe ich angefangen zu drehen. Das ist so lästig, dass ich nur noch halb so viel rauche.« Die Frau zog eine Hand unter der Decke hervor und deutete auf den verstreuten Tabak zu Beamons Füßen. »Aber die 33
haben keinen Filter und sind vermutlich zweimal so schlimm.« Beamon überlegte einen Moment. »Tja, so was wie eine perfekte Lösung gibt es eben nicht.« Er ging zu ihr und reichte ihr die Hand. »Ich bin Mark Beamon und arbeite für das FBI. Ich wusste nicht, dass jemand hier draußen ist.« »Carlotta Juarez. Ich bin das Hausmädchen der … ich war das Hausmädchen der Familie Davis.« »Ihre Hände sind kalt wie Eis, Carlotta. Möchten Sie gern ins Haus?« Sie schüttelte den Kopf. »Wie wäre es, wenn Sie sich in mein Auto setzen? Sie könnten die Heizung laufen lassen.« »Nein, ich bin gern hier draußen.« Ihr Blick wanderte in Richtung eines Espenhains, dessen rötliches Laub im Sternenlicht schimmerte. »Ich komme aus Bogota. Dort habe ich viele schreckliche Dinge gesehen.« Beamon nickte und schwieg fast eine Minute lang. »Wie lange haben Sie für die Familie Davis gearbeitet?«, fragte er schließlich. »Acht Jahre.« »Leben Sie hier im Haus?« »Nein. In der Stadt mit meinem Mann und fünf Söhnen. Ich komme aber jeden Tag.« »Fünf Söhne? Die halten Sie bestimmt ganz schön auf Trab.« »Manchmal.« »Haben Sie schon Gelegenheit gehabt, sich etwas umzuschauen, Carlotta? Sieht es so aus, als ob irgendwas fehlt?« 34
»Nichts, was mir aufgefallen ist … nur Jennifer.« Beamon schaute hinauf zu den Sternen. »Erzählen Sie mir von ihr.« »Sie ist ein wundervolles Mädchen. Klug, freundlich, aufmerksam … Wie kann jemand nur so etwas tun?«, fragte sie leise. Er gab keine Antwort. Das hatte er sich selbst schon an Tatorten im ganzen Land gefragt und nie eine gute Antwort darauf gefunden. »Hat sie einen Freund?« »Jamie Dolan. Er geht in dieselbe Highschool wie Jennifer und ist im letzten Schuljahr.« »Ist kürzlich irgendwas Ungewöhnliches gewesen, Carlotta? Merkwürdige Telefonanrufe? Sind Leute hergekommen, die Sie nicht gekannt haben?« Sie schüttelte den Kopf. »Wie war das Verhältnis zwischen Jennifer und ihren Eltern? Waren sie aus irgendeinem Grund wütend auf sie? Mochten sie vielleicht ihren Freund nicht?« »Mrs. Davis wollte immer, dass Jennifer sich mit dem Nachbarssohn Bill anfreundet. Aber ich glaube nicht, dass sie etwas gegen Jamie hatte.« Beamon stemmte sich von der vereisten Hauswand ab. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Carlotta. Oh, und ich entschuldige mich im Voraus dafür, dass man Ihnen nachher noch mal genau die gleichen Fragen stellen wird.« Er wandte sich um und zerrte an der Tür zur Küche. »Erfrieren Sie nicht hier draußen, okay?« Bei ein paar kurzen, ziemlich grauenhaften Expeditionen in das Zimmer seiner Schwester hatte sich Beamon vor Jahr35
zehnten seinen bislang einzigen Einblick darüber verschafft, wie ein weiblicher Teenager lebte. Offensichtlich sah das mittlerweile jedoch völlig anders aus. Statt Regale voller Puppen und riesengroßer Poster von Shaun Cassidy an den Wänden, wie er es halbwegs erwartet hatte, hingen Fahrradteile von der Decke und an den Wänden Poster von Männern, die wie Obdachlose aussahen. Eine nähere Inspektion klärte ihn auf, dass es Musikgruppen waren mit Namen wie Gas Huffer oder Mudhoney. Beamon schlenderte durch den Raum, wich Kleidungsstücken und Handtüchern aus, die auf dem Boden verstreut waren, und blieb gelegentlich stehen, um in eine Schublade oder Schachtel zu schauen. Nichts erschien ihm auf Anhieb besonders bedeutsam, deshalb ging er weiter ins angrenzende Bad. Die Regale standen voller Tuben und Tiegel, über die er als ewiger Junggeselle nur verwirrt den Kopf schütteln konnte. Er trat über das Kabel eines Föhns und zog ein paar blonde Haare aus dem Waschbecken, wickelte sie in etwas Toilettenpapier und machte sich wieder auf den Weg nach unten. »Ich bin hier draußen, Chet!«, rief Beamon von der Haustür. Michaels kam aus dem Wohnzimmer gelaufen, als er über das abgesperrte Gebiet auf der vorderen Veranda schlurfte. »Sie wollen nicht bleiben?« Er schien ganz entgeistert, dass irgendjemand lieber einen Abend daheim verbringen wollte, wenn sich einem die Gelegenheit bot, in einem Haus voller Blut und Tod herumzustreunen. 36
Nur zu gern verließ Beamon das abgesperrte Gebiet und eilte schnurstracks auf sein Auto zu. »Sie scheinen doch alles unter Kontrolle zu haben, Chet. Rufen Sie mich daheim an, falls Sie auf wirklich weltbewegende Probleme stoßen. Für jeden Kleinkram bin ich allerdings erst wieder morgen früh verfügbar. In Ordnung?«
VIER Mark Beamon betrat das FBI-Büro von Flagstaff, gerade als die Wand einstürzte. Er musterte die Gesichter der jungen Agenten, die in dem kleinen Raum zusammengepfercht waren und halb resigniert, halb verärgert schützend die Hände über Kaffeetassen und Computertastaturen hielten. Hinter einer weißen Wolke aus Gipsstaub, die langsam durch den Raum schwebte, kamen zwei Männer in Overalls zum Vorschein. Beamon stieg über einen Stapel von Isoliermaterial und ging kopfschüttelnd auf sein Büro zu. Direktor Calahan war wirklich kein guter Verlierer. Nur widerwillig hatte er ihn in eine leitende Position befördert, aber da ihm nichts anderes übrig geblieben war, hatte er sich etwas einfallen lassen – und solche durch und durch idiotischen Einfälle waren leider das Markenzeichen seiner Amtszeit geworden. Er hatte eine kleine Außenstelle etwas vergrößert, damit die Presse nicht stutzig wurde, und Beamon die Leitung übertragen. In seiner Vorstellung war der neu konstruierte Titel eines ASAC-Flagstaff ein guter Witz, durch den Bea37
mon allgemein zum Gespött wurde. Und es hatte den zusätzlichen Vorteil, dass es ihn von seiner alten Verbündeten Laura Vilechi trennte, ehe er sie hinüber auf die »dunkle« Seite ziehen konnte. Unglücklicherweise würde die Erweiterung des Büros die Steuerzahler etliche hunderttausend Dollar kosten, und eine ganze Reihe von Agenten, die Häuser in Phoenix besaßen, waren zu vollkommen sinnlosen langen Pendelfahrten gezwungen. Willkommen beim FBI. »Meinen Sie, wir sollten das Büro in ›Jericho‹ umtaufen, D.?«, fragte Beamon, der die Tür zu seinem Vorzimmer ignorierte und durch eine Lücke in der Mauer eintrat. Seine Sekretärin stand auf und folgte ihm. Beamon ging direkt zur Kaffeemaschine neben seinem Schreibtisch. »Brauchen Sie auch einen, D.?«, fragte er und häufte ein paar Teelöffel Zucker in seine Tasse. »Nein, danke. Wie war das Golfspiel?« Beamon ließ sich in den abgewetzten Ledersessel hinter seinem Schreibtisch fallen. »Jake hat ungefähr vierhundert Schläge gebraucht.« Seine Sekretärin zog eine Grimasse. »Und das für zwölf Löcher. Ich bin weg, ehe sie zum dreizehnten kamen.« »So geht es eben, wenn man besonders clever sein will, Mark. Der Mensch denkt und …« Er winkte frustriert ab und griff nach der ordentlich zusammengefalteten Zeitung auf seinem Schreibtisch. »Zwei Sachen liegen an, Mark. Erstens, Sie müssen endlich den veranschlagten Etat für dieses Jahr überprüfen und abzeichnen. Das ist längst überfällig.« 38
Er unterdrückte ein gequältes Seufzen. Bislang hatte er einfach nicht die Willenskraft aufgebracht, sich durch dieses Papiergebirge zu wühlen. »Zweitens ist Chet Michaels in der letzten Stunde alle fünf Minuten vorbeigekommen. Er sieht aus, als würde er gleich platzen. Soll ich ihn reinschicken?« »Zehn Minuten, D. Halten Sie ihn noch zehn Minuten zurück, damit ich wenigstens die Chance habe, die Zeitung zu überfliegen und meinen Kreislauf mit etwas Koffein in Schwung zu bringen. Und ich verspreche Ihnen, ich nehme mir den Etat heute Abend zu Hause vor.« Sie nickte und wollte wieder zurück an ihren Schreibtisch. »Ach übrigens, D.?« Mit einem verschlagenen Grinsen wandte sie sich zu ihm um. Seit seinem ersten Tag in Flagstaff versuchte Beamon, den Vornamen seiner Sekretärin herauszufinden, da sie lieber nur mit dem Anfangsbuchstaben gerufen werden wollte und sich strikt weigerte, ihm mehr zu verraten. Natürlich hätte er in ihrer Personalakte nachschauen können, aber dann wäre es ja kein Spaß mehr gewesen. »Ich habe heute auf dem Weg zur Arbeit diesen Song von Johnny Cash gehört …« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Leider daneben, Mark, es ist nicht Delia.« Beamon seufzte und tippte ärgerlich auf die Zeitung. »Bei diesem Geschreibsel kriegt man direkt Mordgedanken.« Chet Michaels, der in der Tür stand, nahm es als Zeichen, dass die Zeiten, in denen niemand den Chef stören durfte, vorbei waren. 39
»Schauen Sie sich diese idiotische Schlagzeile an – FBI steht vor einem Rätsel angesichts Doppelmord/Entführung.« »Stimmt es etwa nicht?« Michaels setzte sich auf einen der drei Stühle, die vor Beamons Schreibtisch standen. »Es gibt einiges, was mir rätselhaft ist, Chet. Serienmörder? Gelegentlich. Frauen? Meistens sogar.« Beamon schaute auf den fleckigen Betonboden seines Büros. »Warum hat man meinen alten Teppich rausgerissen, wenn der neue erst in ein paar Wochen kommt? Das ist ganz eindeutig ein Rätsel für mich. Aber Entführungen? Überhaupt nicht. Schlimmstenfalls bin ich kurzzeitig ratlos.« Michaels verschränkte die Hände und lehnte sich zurück. »Nun, dann haben die Journalisten vermutlich mich gemeint. Falls dieser Fall für Sie schon klar ist, wäre es nett, wenn Sie mir ein bisschen mehr verraten würden.« Beamon drehte die Zeitung herum und schlug mit der Hand auf das Bild von Jennifer Davis. »Voilà.« »Was heißt das?« »Na, ist doch logisch! Sie war’s.« Michaels hob seine rötlichen Augenbrauen. »Das kleine Mädchen?« »Ehrlich, Chet. Manchmal finde ich Ihren mangelnden Zynismus einfach furchtbar. Beantworten Sie mir eine Frage: Warum entführt man jemanden?« »Ich weiß nicht. Gibt eine Menge Gründe, schätze ich.« »Nein. Es gibt nur drei. Geld, Erpressung, oder man will das Kind haben. Natürlich gibt es bei jedem dieser Punkte ein oder zwei Unterkategorien.« Michaels schwieg, während Beamon einen Schluck Kaffee 40
trank. »Okay, Chet, fangen wir mit Nummer drei an – man will das Kind. Warum?« »Na ja … Lösegeld?« Beamon schüttelte den Kopf. »Das fällt unter den Punkt Geld. Nein, meistens will man das Kind, weil man auf legale Weise kein Adoptivkind bekommt. Aber dafür ist Jennifer ein bisschen zu alt – niemand raubt ein Kind, das man in ein paar Jahren durchs College bringen muss. War das übrigens die erste Ehe für Mr. und Mrs. Davis?« Michaels schaute auf den blauen Ordner, der in seinem Schoß lag, öffnete ihn aber nicht. »Ich glaube.« »Damit kommen wir zu Unterkategorie zwei – irgendein verrückter Perverser. Was meinen Sie?« Michaels überlegte kurz. »Bezweifle ich. Die Fakten sprechen gegen die Theorie, dass es eine Einzelperson war. Und Sexualstraftäter arbeiten gewöhnlich nicht im Team.« »Richtig«, stimmte Beamon zu. »Außerdem haben Sie mir erzählt, dass dieses Mädchen Radrennen fährt. Wenn ich ein solcher Spinner wäre, würde ich sie mir einfach schnappen, wenn sie ganz allein auf irgendeinem Waldweg unterwegs ist.« Beamon schlug ein dickes Kabel, das von der Decke herabhing, zur Seite und legte die Füße auf den Schreibtisch. »Also weiter. Kategorie Nummer zwei – Erpressung. Was meinen Sie dazu?« »Einen Toten kann man nicht erpressen.« »Exakt. Dann Nummer eins – Geld. Lösegeld?« »Ist schlecht möglich in diesem Fall.« Der Chef grinste. »Allerdings. Also, wer profitiert von der Sache?« 41
Sein junger Kollege beugte sich vor und stützte seine Ellbogen auf die Knie. »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Mark. Dass Jennifer ihre Eltern erschossen hat, damit sie das Geld erbt. Dass sie in ein paar Tagen wieder auftauchen und irgendeine wilde Geschichte erzählen wird.« Er schüttelte den Kopf. »Rein vom Gefühl her halte ich das aber für unwahrscheinlich.« Beamon deutete erneut auf das Zeitungsfoto. »Machen Sie Witze? Schauen Sie sich das Mädchen mal an!« Michaels lachte. »Kommen Sie, Mark. Meine Freundin hat auch ein Nasenpiercing. Und ein paar Tätowierungen. Hat gar nichts zu bedeuten. Es ist bloß … na ja, Mode.« Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht. »Ihre Eltern haben damals vermutlich auch gesagt, Sie sähen verkommen aus, als Sie mit einem Pfund Brillantine im Haar aufgekreuzt sind und die Zigaretten in den Ärmel Ihres T-Shirts gestopft hatten.« Beamon verdrehte die Augen. »Hören Sie mal, ich bin erst dreiundvierzig.« Er beobachtete für einen Moment, wie zwei Männer im Vorzimmer versuchten, ein Gerüst über einige Aktenschränke zu heben. »Okay, es ist keine besonders tolle Theorie«, gab er zu, »aber die beste, die mir einfällt. Könnte sein, dass es bloß ein Raubüberfall war, der eskaliert ist. Die Gangster waren gerade erst ins Haus gekommen und hatten noch keine Zeit gehabt, irgendwas einzusacken, als die Familie heimkehrte. Sie haben die Eltern erschossen und dann beschlossen, das Mädchen mitzunehmen, um ein bisschen Spaß mit ihr zu haben.« Michaels horchte auf. »Das wäre möglich.« »Ich weiß nicht. Ein Haus, das man von der Straße aus nicht sehen kann … man müsste es beobachtet haben. Es 42
gibt kein Anzeichen dafür, dass sich jemand gewaltsam Eintritt verschafft hat, was darauf hindeuten würde, dass es Profis waren. Familie Davis war den ganzen Tag lang weg. Unsere Freunde brauchten also lediglich zu warten, bis das Hausmädchen um fünf Feierabend gemacht hat, und hätten Zeit gehabt, alles auszuräumen und sich auf dem riesigen Fernseher im Wohnzimmer noch in Ruhe ein Fußballspiel anzuschauen.« Irgendwo im Büro fing eine Säge an zu kreischen. »Wann kriegen wir die Berichte der Spurensicherung und der Autopsie?«, rief Beamon, um den Lärm zu übertönen. »Sollten morgen reinkommen«, brüllte Michaels zurück. »Okay. Denken Sie weiter darüber nach, Chet. Irgendwas haben wir übersehen, und ich bin im Moment etwas ratlos, was es ist.« Michaels stand auf und wollte gehen. »Ach ja, Chet, sagen Sie dem Kerl da draußen, wenn er diese Säge nicht abstellt, schnappe ich sie mir und amputiere ihm die Füße!«
FÜNF Eine Hitzewelle überflutete Jennifer Davis, dass ihr der Schweiß ausbrach. Sie trat die Bettdecke zur Seite, und für einen Moment linderte die kühle Luft auf ihrer feuchten Haut die Übelkeit, mit der sie schon seit dem Aufwachen kämpfte. Wie lange war das her? Eine Stunde? Zwei? 43
Für gewöhnlich sah sie das schwache Leuchten der Uhr auf ihrem Nachttisch und hörte das leise Knarren im Haus, das von den gewaltigen Baumstämmen kam, die sich langsam setzten; der Schnee vor ihrem Fenster schimmerte hell, oder es drang Licht unter der Tür hindurch – aber hier war nichts, gar nichts. Nur diese bedrückende Finsternis. Jennifer spürte, wie eine weitere Hitzewelle sie überkam. Sie rollte auf die Seite und biss die Zähne zusammen, um sich nicht übergeben zu müssen. Langsam kehrten die Erinnerungen zurück. Sie sah gesichtslose Schatten, die sich in ihrem Elternhaus bewegten, spürte die starken Arme, die sie festhielten – und die Panik, als eine verschwitzte Hand ihr die Luft abschnitt. Es dauerte nicht lange, bis die Umrisse schärfer wurden und Farbe bekamen. Die bleiche Frau mit den dunklen Augen. Die Schatten, die über das Gesicht ihres Vaters flackerten, als er die Waffe auf ihre Mutter richtete. Das Krachen der Pistole und der Ruck, der durch ihren Körper ging, ehe sie wie eine Puppe zu Boden fiel. Nein. Das konnte nicht passiert sein. Es war bloß ein übler Traum. Sie hatte sich bestimmt vor dem Rennen irgendeinen Virus eingefangen, und weil sie danach so erledigt gewesen war, hatte sie sich im Schlaf mit solchen wirren Träumen herumgequält. Sie tastete nach der Lampe neben dem Bett, doch ihre Hände griffen ins Leere, wie sie es insgeheim gewusst hatte, nur hatte sie es sich einfach nicht eingestehen wollen. Sie war nicht in ihrem Zimmer. Aber sie hatte auch keine Ahnung, wo sie sonst war. Unwillkürlich schrie sie gequält auf, als neue Bilder in der 44
Dunkelheit vor ihr aufstiegen. Sie sah ihren Vater, wie er sich den Lauf der Waffe unters Kinn drückte, und hörte seine letzten Worte, die sie noch immer nicht verstand. Dann spürte sie wieder den Einstich der Nadel, alles begann sich zu drehen, und sie fiel ins Nichts. Eine Träne lief über ihre Wange. Dann noch eine. Und noch eine. Nachdem sie einmal angefangen hatte zu weinen, wurden ihre Schluchzer immer heftiger, bis sie einen richtigen Weinkrampf bekam und schließlich so erschöpft war, dass sie wieder das Bewusstsein verlor. Als sie das nächste Mal aufwachte, tat ihr der Kopf weh, und ihr Hals war völlig ausgetrocknet, aber wenigstens war die Übelkeit verschwunden. Wieder stieg das Bild ihrer toten Eltern vor ihr auf, doch sie verdrängte es diesmal mit aller Macht. »Hallo?« Ihre Stimme klang wie ein raues Flüstern; trotzdem schien sie erschreckend laut in der stillen Dunkelheit. Sie wartete auf irgendeine Antwort, irgendein Anzeichen, dass sie nicht vollkommen allein auf der Welt war, doch es kam nichts. Mühsam räusperte sie sich. »Ist hier jemand?« Diesmal klang ihre Stimme normaler, aber immer noch wie die eines verängstigten kleinen Mädchens. Langsam setzte sie sich auf. Ihre Füße berührten den kalten Boden, und ihr Kreislauf schien verrückt zu spielen. Sie musste sich für einen Moment vornüberbeugen, um nicht ohnmächtig zu werden. Nach ein paar Sekunden hob sie den Kopf und rutschte vom Bett. Unsicher kroch sie vorwärts, aber die blauen Flecken und 45
die Wunde am Knie, die sie sich beim Rennen geholt hatte, taten auf dem harten Boden so weh, dass sie sich umdrehen musste und auf dem Hinterteil weiterrutschte, bis sie gegen eine Wand stieß. Sie tastete sich daran entlang und spürte schließlich das glatte Holz eines Türrahmens, zog sich an der Klinke hoch und fand gleich darauf den Lichtschalter. Schützend hielt sie sich eine Hand vor die Augen und knipste mit der anderen das Licht an, das grell durch ihre Finger drang. Langsam ließ sie die Hand sinken und schrie entsetzt auf. Dicht neben dem Bett, in dem sie geschlafen hatte, saß eine schwarz gekleidete Frau regungslos auf einem Stuhl. Langsam wandte sie den Kopf zu ihr um. Jennifer wich in die andere Ecke des Raums zurück. Die Frau stand auf. Sie zitterte, ihr Herz hämmerte, und sie hatte kaum die Kraft, die Hände zu heben und sie sich vors Gesicht zu schlagen. Die Frau ging zur Tür, warf ihr einen wortlosen Blick zu, und dann war sie verschwunden. Jennifer hörte, wie das Schloss zuschnappte, und zwang sich, wieder ruhiger zu atmen. Es war dieselbe Frau gewesen, die ihre Eltern in den Wahnsinn getrieben und sie mit irgendwelchen Drogen betäubt hatte. Warum hatte sie dort in der Dunkelheit gesessen? Warum hatte sie ihr keine Antwort gegeben? Hastig kroch Jennifer auf die Tür zu und schaltete das Licht aus. So ist es besser, dachte sie, als die Dunkelheit sie wieder umfing. Lieber gar nichts sehen. 46
SECHS »Alles in Ordnung?«, brüllte Mark Beamon. Das brandneue Fenster in der Wand zwischen dem Vorzimmer und seinem Büro war fast völlig mit weißer Farbe zugeschmiert. Nur durch eine etwas hellere Stelle konnte er auf der anderen Seite das eingestürzte Gerüst sehen und zwei leicht benommene Anstreicher. Seufzend stand Beamon auf und ging zur Tür. Im Zuge der Umbauarbeiten hatte es eine Katastrophe nach der anderen gegeben, aber die beiden Männer schienen mehr oder weniger unverletzt zu sein. Dafür waren zwei PCs und drei FBI-Agenten, die in der Nähe gesessen hatten, frisch gestrichen worden. Er winkte Chet Michaels und dachte mit einem leisen Seufzer daran, dass es jetzt sein Job war, bei der Baufirma Schadenersatz für die ruinierten Computer und die Anzüge einzutreiben. Jahrelang hatte er sich abgestrampelt, um eine Führungsposition zu bekommen. In Zukunft würde er vorsichtiger damit sein, was er sich wünschte. »Ich habe neue Informationen im Fall Davis.« Michaels trippelte auf Zehenspitzen über den farbverschmierten Boden. In den Händen hatte er eine große Schachtel und unter dem Arm einen blauen Ordner. »Haben Sie Zeit?« Beamon setzte sich wieder in seinen Sessel, während einer der Anstreicher sich mit einem Mopp über den Boden seines Büros hermachte. »Ja. Setzen Sie sich.« Der junge Agent stellte die Schachtel neben seinen Sessel und klappte den Ordner auf seinem Schoß auf. »Fangen wir mit Eric und Patricia Davis an.« »Nur zu.« 47
»Sie sind gar nicht Jennifers Eltern. Das Mädchen ist adoptiert worden.« »Scheiße, ehrlich?« Beamon schnippte mit den Fingern. »Na bitte! Grund Nummer drei, Unterkategorie eins.« »Wie?« »Kommen Sie, Chet, wir haben doch gestern darüber geredet. Was ist Grund Nummer drei für eine Entführung?« »Hm … Lösegeld?« »Nee, das ist Grund eins. Versuchen Sie es noch mal.« »Oh, Moment mal – man will das Mädchen haben.« »Jedenfalls das Entführungsopfer. Und warum?« »Ich … ich dachte, weil man geschieden ist und kein Pflegekind kriegt.« »Genau. Adoption ist nur eine Variante dieses Punkts. Finden Sie die biologischen Eltern, und Sie haben das Mädchen.« Beamon hob seinen Becher und trank einen Schluck Kaffee auf seine geniale Scharfsinnigkeit. »Haben wir bereits, Mark. Sie sind tot. Vor Jahren bei einem Brand umgekommen.« »Pech«, seufzte Beamon enttäuscht. »Dann wieder zurück zu Jennifer.« Michaels blätterte eine Seite in seinem Ordner um. »Bislang haben wir nichts besonders Auffälliges bei der Familie Davis gefunden. Die Nachbarn und Freunde haben uns erzählt, dass Jennifer ein ganz normales Mädchen sei und keine besonderen Probleme mit ihren Eltern gehabt habe. Sie ist eine hervorragende Schülerin, sportlich, zwar nicht gerade allseits beliebt, aber jeder mag sie. Wie Sie ja auch schon bemerkt haben, ist sie ein bisschen schrill angehaucht. Und übrigens eine ziemlich gute Mountainbikerin.« 48
Mit dem Zeigefinger tippte Beamon gegen seine Vorderzähne. »Das Hausmädchen hat mir erzählt, Jennifers Mutter sei nicht übermäßig begeistert von ihrem Freund gewesen. Hat sie auf Jennifer Druck ausgeübt, sich von ihm zu trennen? Liebe ist meist ein genauso starkes Mordmotiv wie Geld.« »Glaube ich in diesem Fall nicht, Mark. Ich habe zwar auch gehört, dass Mrs. Davis es gern gehabt hätte, wenn sie mit dem Sohn ihrer besten Freunde zusammengekommen wäre, aber das ging schon lange Zeit so, und sie wusste wahrscheinlich, dass es nie was werden würde.« »Warum nicht?« »Ich habe den Jungen kennen gelernt – Billy heißt er. Die beiden wären überhaupt nichts füreinander gewesen, glauben Sie mir.« Wortlos forderte Beamon ihn auf fortzufahren. »Man braucht sich nur mal Jennifers Zimmer anzuschauen. Sie hört Naked Raygun, liest Kerouac und Burroughs, baut sich ihre eigenen Radaufhängungen … Dagegen ist dieser Junge dumm wie Bohnenstroh. So eine typische Footballdumpfbacke.« Beamon lachte und schüttelte den Kopf. »Mann, Sie geben mir das Gefühl, langsam alt zu werden, Chet. Ich habe absolut keine Ahnung, was Sie gerade gesagt haben.« »Soll ich’s Ihnen erklären?« »Nein, muss nicht sein.« Beamon winkte ab. »Ich nehme einfach Ihr Wort dafür. Was ist mit dem Jungen, den sie mochte?« »Jamie Dolan. Gesprochen habe ich noch nicht mit ihm, das mache ich heute Nachmittag. Allerdings fällt er wohl als Verdächtiger aus. Er ist Schlagzeuger in einer Band und hat 49
an diesem Abend gespielt. Wahrscheinlich gibt es jede Menge Zeugen, die ihn – grob geschätzt – zwischen zehn Uhr abends und drei Uhr morgens gesehen haben. Ich glaube nicht, dass er irgendeine Möglichkeit hatte, sich zwischendurch hinauszuschleichen, aber vielleicht ist er in aller Herrgottsfrühe aus dem Haus und zu der Davis-Familie. Morgen weiß ich mehr.« Beamon schaute auf den Mann, der rings um das Fenster zum Vorzimmer mit einem Lappen die Farbe weiter verschmierte. »Aber wie passt das zu den Fakten? Das Ehepaar Davis wurde im Wohnzimmer erschossen und trug dieselben Kleider, in denen man sie beim Essen gesehen hat, richtig? Er müsste sie aus dem Bett gescheucht und dazu gezwungen haben, sich wieder anzuziehen, ehe er sie nach unten getrieben und umgelegt hat. Aber möglicherweise ist er so clever. Kann er an eine Waffe gekommen sein?« »Auf den Namen seiner Mutter ist keine registriert, aber wer weiß?« »Was ist mit den Opfern?« »Auch nicht, und keiner ihrer Freunde, mit denen wir geredet haben, wusste, ob sie eine Waffe besaßen.« »Scheiße.« Beamon tippte rhythmisch mit den Knöcheln auf seinen Schreibtisch. »Sie machen es mir wirklich nicht leicht, Chet. Wie sieht es mit Spuren aus?« »Der Autopsiebericht lässt noch auf sich warten, Fingerabdrücke und Fasern werden noch untersucht, und die Überprüfung der Telefonanrufe hat bisher nichts gebracht. Es gab jedenfalls kein Anzeichen für einen Einbruch oder Raub. Oh, und Jennifer hatte eine Kreditkarte.« Er blätterte ein paar Seiten in seinem Ordner um. »Zum letzten Mal 50
wurde sie Mitte vergangenen Monats benutzt. Wir halten Ausschau, ob sie wieder verwendet wird.« Beamon lehnte sich über seinen Schreibtisch. »Was ist in der Schachtel?« »Ach, wir haben endlich den Safe der Familie Davis öffnen können.« Er legte den Ordner beiseite und hob die Schachtel auf seinen Schoß. »Und, was war drin?« Michaels hielt einen roten Samtbeutel hoch, der mit einem Band zugebunden war. »Dieses Beutelchen mit Gold und Diamantschmuck. Reicht für einen glanzvollen Abend oder um eintausend Obdachlose einen Monat lang zu füttern.« »Sie Kommunist.« Der junge Agent legte den Beutel mit gespielt gekränkter Miene auf Beamons Schreibtisch. »Pässe für alle drei, ungefähr viertausend Dollar in bar, ein paar Wertpapiere, das Collegezeugnis von Mr. Davis, die Geschäftsberichte der Firma …« »Wie sieht es damit aus? Vielleicht hat er sich von den falschen Leuten Geld geborgt?« »Mir scheinen sie eigentlich ziemlich solide, aber sie könnten natürlich gefälscht sein.« Beamon verzog das Gesicht. »Vielleicht. Aber warum sollte man Fälschungen in seinem Safe aufbewahren? Partner?« Michaels schüttelte den Kopf. »Seine Firma gehörte ihm zu einhundert Prozent.« »Aha. Weiter.« »Mal sehen. Geburtsurkunden von allen dreien und eine Kopie des Testaments.« »Wie sieht das aus?« 51
»Wir haben einen Anwalt, der es gerade durchgeht, aber von einigen Kleinigkeiten abgesehen, läuft es im Wesentlichen darauf hinaus, dass Jennifer alles kriegt, sobald sie ein gewisses Alter erreicht hat. Bis dahin sind Vorkehrungen für ihre Lebenshaltungs- und Ausbildungskosten getroffen.« »Was ist, wenn sie stirbt?« »Wird der gesamte Besitz in eine wohltätige Stiftung umgewandelt. Es sind aber keine speziellen Wohltätigkeitsorganisationen oder irgendwelche Leute namentlich benannt.« Beamon lehnte sich in seinem Sessel zurück, faltete die Hände über seinem Bauch und schwieg fast eine Minute lang, während Michaels ihn aufmerksam beobachtete. »Ich weiß nicht, Chet. Ich komme immer wieder auf Jennifer und Jamie zurück. Wir haben ein junges verliebtes Paar, eine Mutter, die den Freund nicht mag, und einen für sie ziemlich günstigen letzten Willen. Wann wollen Sie los, um diesen Jungen zu treffen?« »Gegen Mittag. Ich fahre zur Highschool, um mit ihm und ihren Freunden zu reden.« »Nehmen Sie sich als Erstes Jamie vor. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich mitkomme?« »Überhaupt nicht.«
SIEBEN Beamon musterte bedrückt das niedrige gelbe Backsteingebäude, während Michaels auf einen freien Parkplatz einbog und neben einem voll gepackten Fahrradständer hielt. 52
Wenn ihn sein Gedächtnis nicht täuschte, hatte in den siebziger Jahren eine Wirtschaftsflaute in Amerika geherrscht. Es war nur rätselhaft, warum alle öffentlichen Gebäude aussahen, als seien sie während dieser Zeit erbaut worden. »… ist dieser Junge ziemlich helle …« Auf dem flachen Dach der Schule lag dicker Schnee, und Beamon beobachtete einen großen Farbigen, der vorsichtig zum Rand ging und mit einer Schaufel auf eine besonders große Schneewächte einzustechen begann. »Mark! Hören Sie mir zu?« »Entschuldigung, Chet.« Beamon öffnete seinen Sitzgurt. »Ich war gerade woanders. Was haben Sie gesagt?« »Jamie Dolan ist siebzehn und macht dieses Jahr seinen Abschluss. Überaus kluger Bursche – hat tausendfünfhundertachtzig bei seinem SAT erreicht, diesem Intelligenztest, den alle Studienanfänger ablegen müssen …« »Ist das gut?« »Allerdings. Achthundert ist Durchschnitt. Sechzehnhundert ist perfekt.« »Aha.« »Seine Eltern haben sich getrennt, als er zehn war. Offensichtlich hat sein Vater getrunken und war wohl auch gewalttätig. Jetzt lebt Jamie mit seiner Mutter in einer Wohnwagensiedlung ungefähr zehn Meilen von hier. Sie ist Kellnerin, und er arbeitet in einem Videoclub, um etwas dazuzuverdienen.« Seufz. Das klang, als sei der Junge sehr in Ordnung. Stark genug, um die schlechten Karten wettzumachen, die ihm das Leben zugeteilt hatte. War er möglicherweise ungeduldig geworden und wollte endlich ein bisschen mehr haben? … 53
»Alles klar, Mark?« »Ja, ja.« »Ich habe mit einigen seiner Lehrer telefoniert, und sie haben ihn alle so ziemlich gleich beschrieben. Sehr klug. Reif über sein Alter hinaus. Hält nicht gerade viel von Autoritäten.« Beamon öffnete die Wagentür und hielt sich am Gepäckträger fest, als seine Füße unter ihm wegrutschten. Er wusste, wie er diese Sache angehen musste, und bedauerte es im Grunde, weil er kein besonders gutes Gefühl dabei hatte. Obwohl alles darauf hindeutete, dass Jennifer und Jamie im vorliegenden Fall die Mörder waren, warnte ihn sein Bauch, dass er sich möglicherweise irrte. Das Problem war nur, dass er nicht sagen konnte, ob er dieses Bauchgrimmen hatte, weil sie wirklich unschuldig waren oder weil er einfach nicht glauben wollte, dass sie die Täter waren. Es war nicht besonders befriedigend, zwei verliebte Teenager zur Strecke zu bringen. Man fühlte sich bloß mies danach und hatte Mitleid mit den Kindern. »Okay, Chet. Bringen wir es hinter uns.« Beamon trippelte unsicher über eine zugefrorene Pfütze, bis er wieder Schnee unter den Füßen hatte und relativ sicher die Tür erreichte. Die Schule sah drinnen nicht viel besser aus als von draußen. Die Wände waren in einem stumpfen Orange gestrichen und mit Malereien verziert, denen man ansah, dass sie von den Schülern stammten. Die Gänge waren leer und die Türen zu beiden Seiten geschlossen. Ein Schild mit der Aufschrift BÜRO verwies sie nach rechts, und Beamon öffnete die erste Tür, auf die sie trafen. Hinter der hohen Theke saß eine Frau an einem Schreib54
tisch. Sie sprang auf und schaute Beamon erwartungsvoll an. »Kann ich Ihnen helfen?« »Ich hoffe.« Beamon kramte seinen Ausweis aus der Jacke. »Ich bin Special Agent Mark Beamon, und das ist mein Kollege Chet Michaels. Man hat uns gesagt, wir könnten einen Ihrer Konferenzräume benutzen, um mit einigen Schülern zu reden.« Traurig senkte sie den Blick. »Ich weiß Bescheid, aber ich kann es immer noch nicht glauben. Mr. und Mrs. Davis waren so nette Leute. Und Jennifer … Haben Sie schon irgendwelche Spuren?« »Wir tun, was wir können«, antwortete Beamon, der es eilig hatte, die Sache hinter sich zu bringen und dieses muffig riechende Gebäude wieder zu verlassen, ehe ihn noch Erinnerungen an seine eigene Highschoolzeit überfielen. »Es tut mir Leid, aber wir sind ein bisschen in Eile …« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verschwand durch eine Tür. Einen Moment später kehrte sie mit einer stämmigen grauhaarigen Frau in einem Tweedkostüm zurück. »Mr. Beamon, ich bin hier die Direktorin. Louise Darren.« »Nett, Sie kennen zu lernen, Mrs. Darren. Das ist mein Partner Chet Michaels.« Sie schüttelten sich die Hände. »Jamie und seine Mutter sind bereits in meinem Büro«, erklärte Mrs. Darren. »Sie können gern dort mit ihnen reden.« Beamon schaute auf die billige Tür aus dünnem Holz, die sich viel zu dicht beim Schreibtisch der Sekretärin befand. »Danke für Ihr Angebot, aber ich möchte Sie nicht vertreiben. Es dürfte außerdem bequemer sein, wenn wir einen Raum hätten, der etwas abgelegener ist, wo wir ungestört sind.« 55
Nach kurzem Überlegen deutete sie auf einen schmalen Korridor, dessen Wände mit Bekanntmachungen und Listen gepflastert waren. »Ganz am Ende dieses Gangs gibt es ein Zimmer, das wir eigentlich nicht mehr benutzen. Es ist allerdings voller Gerümpel.« Beamon lächelte. »Kein Problem. Sie sollten nur mal mein Büro sehen.« »Hier lang, Jamie.« Beamon öffnete die Tür des verlassenen Büros und trat zur Seite. In der Mitte des Raums stand ein staubiger alter Schreibtisch voller Papiere und zerfledderter Bücher, und an den Wänden waren unzählige Stühle aufgestapelt. »Du und Chet könnt schon mal ein paar Stühle für uns aufstellen. Ich bin sofort wieder da.« Beamon legte Jamies Mutter behutsam eine Hand auf die Schulter, ehe sie eintreten konnte, und schloss die Tür. »Ich möchte gern kurz mit Ihnen sprechen, wenn’s recht ist … Mrs. Dolan, stimmt das?« Sie schüttelte den Kopf. »Rodriguez. Ich habe nach der Scheidung wieder meinen Mädchennamen angenommen.« »Entschuldigung – Mrs. Rodriguez.« Er kannte diesen beunruhigten Blick, mit dem sie zu ihm aufschaute. Dieser Blick hatte weniger mit der konkreten Situation zu tun, sondern spiegelte die Angst, die viele arme Lateinamerikaner vor weißen Gesetzeshütern empfanden. Und er würde dieses Gefühl rücksichtslos ausnutzen. Was für ein Kerl er doch war. »Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, wenn wir mit Jamie allein redeten? Manchmal macht es Kinder nervös, 56
wenn die Eltern dabei sind, und es ist wichtig, dass Jamie ganz unbefangen ist, damit er nichts vergisst, das uns helfen könnte, Jennifer zu finden. Ich mache das jetzt schon seit etlichen Jahren, und ich kann Ihnen sagen, dass gerade die Kleinigkeiten oft entscheidend sind.« Er tischte ihr seine Lügen betont langsam und deutlich auf, da Mrs. Rodriguez’ Englisch nicht gerade perfekt war. »Setzen Sie sich doch am besten dort ins Vorzimmer des Direktionsbüros. Es dauert auch nicht lange.« Während sie davonging, sagte er sich zum tausendsten Mal, dass das Ergebnis manchmal die Mittel rechtfertigte – was er tatsächlich glaubte, nur hatte er selbst noch nie eine Situation erlebt, in der es auch gestimmt hätte. Er wandte sich um, ging zurück ins Zimmer und schloss die Tür. »Tut mir Leid, dass du warten musstest, Jamie. Deine Mom hat beschlossen, lieber draußen zu bleiben.« »Okay.« Beamon setzte sich dem Jungen gegenüber und musterte ihn aufmerksam. Seine Gesichtszüge waren eher typisch europäisch, obwohl er Haut- und Haarfarbe von seiner Mutter geerbt hatte. Er hatte hellbraune Augen, die manchmal dunkelgrün zu schimmern schienen, wenn er sich bewegte. Seine Kleidung war überwiegend schwarz oder dunkelgrau, und die Sachen sahen aus, als stammten sie aus einem Secondhandladen, wie bei allen jungen Leuten heutzutage – obwohl es bei ihm vielleicht weniger ein Modetick war, sondern finanzielle Gründe hatte. »Ich schätze, Sie haben Jennifer noch nicht gefunden«, sagte er leise. Er wirkte für sein Alter erstaunlich ruhig und fast ein wenig abgeklärt. 57
Langsam schüttelte Beamon den Kopf, gab aber keine Antwort. »Wissen Sie denn schon, wer es getan hat?« Beamons stummer Blick hatte den gewünschten Effekt. Der Junge wurde zunehmend nervöser. »Abgesehen von dir? Nee.« Jamie schaute ihn ungläubig an und öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, überlegte es sich dann aber offenbar anders und schwieg. »Warum sollte ich Jennifer entführen?«, fragte er schließlich. »Sie war doch schon meine Freundin. Sie können sich ruhig bei jedem erkundigen. Wir haben nie einen Streit gehabt, so gut wie nie jedenfalls.« Beamon nickte bedächtig. »Ich glaube nicht, dass du sie entführt hast, Jamie. Ich denke, du und Jennifer habt das Ganze gemeinsam durchgezogen. Du hast dein kleines Konzert beendet und bist heim, dann bist du aus dem Haus geschlichen und zu Jennifer gefahren, wo du ihren Eltern ein paar Kugeln verpasst hast, dass ihr Hirn durchs Wohnzimmer gespritzt ist. Dann hast du Jennifer irgendwohin gebracht, wo wir sie nicht finden, und bist wieder heim.« Er beobachtete seinen jungen Gegner sorgfältig. Der Junge zitterte, aber sein Blick war fest, und er dachte offenbar gründlich über die eben gehörten Worte nach. Unwillkürlich musste er ihn bewundern – er hatte schon erwachsene Männer erlebt, die bei geringeren Anschuldigungen schluchzend zusammengebrochen waren. Jamie holte tief Luft. »In der Zeitung stand, dass man Mr. und Mrs. Davis in den Kleidern gefunden hat, die sie an diesem Tag anhatten. Ich könnte frühestens um vier Uhr morgens dort gewesen sein – es gibt hundert Leute, wildfremde 58
Leute, die das beschwören würden. Sie müssten also in ihren Kleidern geschlafen haben.« Beamon zuckte die Schultern. »Wie ich höre, bist du ein intelligenter Bursche, Jamie. Ich muss sagen, ich wäre ein wenig enttäuscht, wenn du sie einfach im Bett erschossen hättest. Nein, Jennifer hat ja genau gewusst, was sie getragen haben, und du hast sie gezwungen, sich anzuziehen und nach unten zu gehen. Meine Hochachtung. Nicht übermäßig kreativ, aber gar nicht schlecht für einen Jungen in deinem Alter. Ich meine, immerhin hast du nicht die Uhr zerschossen, um eine falsche Spur im Hinblick auf die Todeszeit zu legen, weißt du?« Mit einer Hand strich sich Jamie durch sein langes schwarzes Haar. Etwas Schweiß löste sich von seiner Stirn. Beamon beobachtete, wie er ihm übers Gesicht rann. »Vielleicht war das keine so gute Idee. Vielleicht sollte meine Mom …« »Wenn du alt genug bist, zwei Menschen abzuknallen, bist du wohl auch alt genug, um mit uns ohne deine Mommy zu reden, oder?« »Warum? Warum hätte ich sie umbringen sollen?«, rief Jamie. »Ich hatte doch gar nichts gegen sie. Und es hätte mir überhaupt nichts genutzt. Ich riskiere doch nicht wegen nichts und wieder nichts meine Zukunft!« Beamon lehnte sich in seinem Stuhl zurück und kratzte einen imaginären Schmutzfleck unter seinem Daumennagel weg. »Ach, komm schon, Jamie, mach mir nichts vor. Patricia Davis war nicht gerade begeistert von dir. Sie hätte vielmehr gern gesehen, wenn Jennifer einen anderen Freund gehabt hätte. Du profitierst also nicht nur in einer Hinsicht. Du 59
bist Patty los, und Jennifer entkommt in ein paar Wochen auf wundersame Weise ihren Kidnappern, um ihr Erbe anzutreten.« »Nein!«, protestierte Jamie. »Mrs. Davis mochte mich. Diese Geschichte mit Billy ging doch schon seit Jahren. Jennifer war aber nicht an ihm interessiert.« »Da hab ich was anderes gehört, mein Sohn. Wie es heißt, soll ihre Mutter sie ganz schön unter Druck gesetzt haben. Und dich soll sie gehasst haben. Sie war offenbar der Meinung, ihre Tochter habe was Besseres verdient als einen …« Beamon hielt unmerklich inne, da es ihm schwer fiel, den Satz zu beenden. »Einen Halblatino, der in einem Wohnwagen haust.« Jamie wurde rot vor Zorn. »Sie Scheißkerl.« Er sprang auf und versetzte einem Buch, das vor ihm auf dem Tisch lag, einen heftigen Schubs, aber Beamon stoppte es mühelos, ehe es ihn treffen konnte. »Setz dich«, befahl er und wurde zum ersten Mal während des Gesprächs etwas lauter. Der Junge funkelte ihn wütend an. »Ich sage es nicht noch mal. Setz dich!« Jamie schaute Michaels an, der mit unbewegtem Gesicht seinen Blick erwiderte, und sank wieder auf den Stuhl. »Schau, Jamie. Du bist noch minderjährig. Du liebst Jennifer. Vielleicht hat sie dich sogar dazu angestiftet? Hat man alles schon erlebt. Es ist schwer, einer Frau, die man liebt, was abzuschlagen. Fang an zu reden, und ich tue alles, um dir zu helfen. Ich glaube, wir können dafür sorgen, dass die Sache noch vors Jugendgericht kommt und du nicht nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt wirst.« Beamon beugte sich 60
dichter zu ihm. »Wenn du allerdings weiter so verstockt bist, lasse ich nicht eher locker, bis ich dich drangekriegt habe. Du bist ein kluger Junge. Du kannst in der Bücherei ruhig ein paar Artikel über mich nachschlagen. Dann wirst du sehen, dass alle, die sich mit mir angelegt haben, für den Rest ihres Lebens im Gefängnis gelandet sind. Oder sie sind tot.« Ganz plötzlich schossen dem Jungen Tränen in die Augen. »Ich habe es nicht getan, Mann! Glauben Sie, ich will nicht auch, dass sie wieder zurückkommt?« Er rannte an ihnen vorbei und zur Tür hinaus. Beamon ließ ihn laufen. »Mensch, Mark«, flüsterte Michaels betroffen. »Sie haben gerade gedroht, dieses Kind zu töten!« »Habe ich das?« Beamon rieb sich die Nase und versuchte das Gefühl abzuschütteln, dass er sich wie ein verfluchter Gestapo-Agent aufgeführt hatte. Einen siebzehnjährigen Jungen derart anzugehen, der einen gewalttätigen Vater gehabt hatte und vermutlich nachts nicht schlafen konnte aus Angst, dass seine Freundin gerade irgendwo vergewaltigt und gequält wurde – das war genauso, wie aus Spaß kleine Seehunde zu erschlagen. Es gab Zeiten, in denen er seinen Job wirklich hasste. »Und – was meinen Sie, Mark?« »Nun, ich habe ein schlechtes Gefühl, was diesen Jungen angeht.« Beamon seufzte. »Wirklich? Sie glauben, er war es?« Beamon schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre ein gutes Gefühl. Es würde bedeuten, dass ich unseren Täter gefunden hätte und über kurz oder lang auch Jennifer finden würde. Ich fürchte, er hat nichts damit zu tun. Und wenn das 61
stimmt, habe ich keinen verfluchten Schimmer, wo dieses Mädchen ist.«
ACHT Mark Beamon bremste abrupt und schlidderte mit seinem Wagen in eine Kieferngruppe. Obwohl es nur ein leichter Rums war, prasselte der Schnee von den Bäumen und begrub die Motorhaube unter sich. Als Texaner hatte man einfach entschieden zu wenig Fahrpraxis auf Schnee. Die Wohnanlage, in der er seit ein paar Monaten lebte, glitzerte, da die Flutlichter sich in den vereisten Wänden spiegelten. Es war die erste Wohnung gewesen, die der Immobilienmakler ihm gezeigt hatte, und er hatte gleich zugegriffen. Das FBI hatte ihn öfter versetzt, als er sich erinnern konnte – jemand hatte kürzlich sogar darauf hingewiesen, dass er wahrscheinlich langsam den Rekord hielt. Und mit derart vielen Umzügen auf dem Buckel war ihm die lästige Sucherei nach einer Unterkunft inzwischen unerträglich. Natürlich konnte er niemand anderem außer sich selbst die Schuld an seiner Karriere als reisender Gesetzesvertreter geben. Es gab immer irgendein neues Büro, das darauf brannte, den Mann anzuheuern, der im Ruf stand, der scharfsinnigste Ermittler des FBI zu sein. Und es gab immer ein Büro, das genauso darauf brannte, den Mann loszuwerden, der den Ruf hatte, der größte Querkopf beim FBI zu sein. Aber das war der alte Mark Beamon gewesen. Inzwischen war er der neue, gewaltig verbesserte Mark Beamon. Er stieg 62
aus und überzeugte sich, dass er seinen Wagen am nächsten Morgen wohl wieder aus dem Schnee herauskriegen würde, ehe er einen der pedantisch freigeschaufelten Pflasterwege entlangging, die das Verwaltungsbüro, den zugefrorenen Swimmingpool und die vierzig Wohnungen miteinander verbanden. In jedem Gebäude befanden sich zwei Apartments oben und zwei unten, alle mit Blick auf Rasenflächen, Bäume und Blumen – zumindest hatte man ihm das erzählt. Bei seiner Ankunft im Januar war jedoch alles unter dem Schnee begraben gewesen. Er verlangsamte seine Schritte ein wenig, als er wie erwartet Chet Michaels auf der Treppe zu seiner Wohnung sitzen sah – zweifellos seit exakt fünfzig Minuten. Sie hatten sich vor einer Dreiviertelstunde treffen wollen, und Michaels kam zu jeder Verabredung immer genau fünf Minuten früher. Das war jedoch nicht weiter tragisch, viel schlimmer war das kleine Mädchen, dem er fröhlich Schneebälle zuwarf. Und noch schlimmer war die Frau mit rötlichbraunem Haar und stahlblauen Fausthandschuhen, die ihm eine Tasse mit irgendeinem dampfenden Getränk reichte. »Chet! Sie sind früh dran«, rief Beamon. »Ich hatte sieben Uhr gesagt.« Michaels stand auf und streifte den Schnee von seinen Jeans. »Sechs hatten Sie gesagt, Mark.« Er deutete auf Beamons rechte Hand. »Sie haben es sich auf den Handrücken geschrieben.« »Ach, stimmt, hab ich. Tut mir Leid.« Er wandte sich an die Frau, die neben Michaels stand. »Danke, dass Sie ihn vor dem Erfrieren bewahrt haben.« 63
Carrie Johnstone lächelte verschmitzt und kauerte sich neben ihre Tochter. »Was machen wir, wenn Mr. Beamon heimkommt, Emory?« Das kleine Mädchen rannte zu ihm und klammerte sich an seine Beine. »Hallo, Mr. Beamon«, nuschelte sie durch ihre Zahnlücken. »Ich versuche gerade, etwas dafür zu tun, dass Mark eine bessere Beziehung zu Kindern bekommt«, erklärte Carrie, während Beamon sich bemühte, sein Bein aus Emorys Griff zu befreien. »Es hat sich als eine der größten Herausforderungen meiner Karriere herausgestellt, aber ich denke, langsam zermürbe ich ihn.« »Was machen Sie beruflich, Carrie?«, fragte Michaels. »Ich bin Psychiaterin.« »Wirklich? Das ist ja toll.« Michaels gab ihr die kaum angerührte Tasse Kaffee zurück und ging die Stufen zu Beamons Wohnung hinauf. Ungefähr auf halbem Weg blieb er stehen. »Wissen Sie, sämtliche Mitarbeiter Marks wären Ihnen ewig dankbar, wenn Sie ihn ein bisschen umgänglicher machen könnten. Für eventuell anfallende Honorarkosten könnte ich bestimmt im Büro eine Sammlung veranstalten.« Beamon funkelte den jungen Agenten wütend an. »Danke für den Kaffee.« Michaels grinste und verschwand die Treppe hinauf. »Könnte ich noch kurz mit Ihnen reden, Mark?«, fragte Carrie und wirkte plötzlich ein wenig nervös. »Ja. Ja, klar. CHET!« Der junge Agent spähte über das Geländer und konnte es gerade noch verhindern, dass Beamons Schlüssel ihn ins Ge64
sicht trafen. »Gehen Sie schon mal rein. Ich komme sofort nach.« Carrie schaute ihn ein wenig missbilligend an. »Sie sollten Ihre Angestellten wirklich nicht stundenlang warten lassen. Der arme Kerl wäre fast erfroren, Mark; und er wollte nicht mal zu mir reinkommen, weil er meinte, das sei Ihnen nicht recht.« Beamon runzelte die Stirn. Michaels hatte offensichtlich sein harmloses Bubengesicht ausgenutzt, um Carries Mitleid zu wecken und ihn als Ungeheuer hinzustellen. Er musste daran denken, ihm mindestens für die nächste Woche das Leben ordentlich zur Hölle zu machen. »Ging nicht anders.« Carrie schwieg einen Moment unsicher. »Ich … ich habe diese Einladung zu einer Hochzeit am Samstag bekommen, und sie ist für Carrie Johnstone und Begleiter.« Sie zog einen Umschlag aus ihrer Manteltasche und hielt ihn ihm hin, als habe er einen Beweis verlangt. »Wahrscheinlich wird es ganz nett, und ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht mitgehen möchten.« Beamon spürte, dass er vor lauter Verblüffung ein ziemlich dummes Gesicht machte, und riss sich hastig zusammen. Er hatte Carrie am Tag seines Einzugs kennen gelernt und war sofort von ihr angetan gewesen. Sie war intelligent, lustig und hatte einen Sinn für Sarkasmus, der zwar noch unterentwickelt, aber sehr ausbaufähig war. Den ganzen letzten Monat über hatte er sich bemüht, irgendeinen geschickten Vorwand zu finden, um sie etwas näher kennen zu lernen, aber bislang hatte ihn sein normalerweise so einfallsreiches Hirn kläglich im Stich gelassen. 65
»Ist das etwa eine Einladung, mit Ihnen auszugehen?«, fragte er mit einem verstohlenen Lächeln. »Ich … ich weiß nicht, ob ich es nun gerade so nennen würde. Ich dachte nur, es wäre … lustig.« Er nickte nachdenklich und ging in die Hocke, sodass er auf Augenhöhe mit ihrer Tochter war. »Was meinst du, Emory? Soll ich annehmen, auch wenn es keine echte Verabredung ist? Oder soll ich auf einer richtigen Verabredung bestehen?« Emory kicherte. »Richtige Verabredung!« Beamon schaute auf. »Ihre Tochter scheint zu meinen, ich verdiente sämtliche Rechte und Privilegien einer ordentlichen Verabredung.« Carries Gesicht war zwar ernst, doch er merkte, dass sie sich ein Lachen verkneifen musste. »Wir besprechen lieber noch, was Sie unter ›sämtliche Rechte und Privilegien‹ verstehen, aber vorläufig bin ich zu einem Kompromiss bereit. Nennen wir es eine ordentliche Verabredung auf Probe.« »Schön, damit kann ich leben.« Beamon trat ein paarmal heftig gegen den Türrahmen, um sich den Schnee von seinen Stiefeln zu klopfen, und warf seinen Mantel auf den Boden. Irgendwie sah das Leben auf einmal zumindest ein bisschen erfreulicher aus. Er hatte zwar immer noch keinen Schimmer, wo die verschwundene Jennifer Davis steckte, aber dafür eine Verabredung mit Carrie – und nicht mal selbst die Initiative ergreifen müssen. Nicht jeden Tag kriegte man was umsonst. »Okay, Chet, was gibt’s Neues?« Michaels lehnte sich zurück und legte seine Füße auf die 66
große Schachtel vor dem Sofa, die Beamon als Tisch diente. »Sie ist wirklich cool. Und hübsch. Dazu noch Akademikerin. Und sie mag Sie, glaube ich.« Beamon öffnete den Kühlschrank und nahm zwei Bier heraus. »Wir reden über Jennifer Davis.« Er öffnete die Flaschen und ging hinüber zu Michaels. »Ich habe Carrie gemeint.« Beamon setzte sich in einen Sessel, der dem Sofa gegenüberstand, und trank einen kräftigen Schluck. »Aha, Sie haben also kein Interesse daran, Ihren Job zu behalten.« Chet grinste. Er zog zwei Ordner aus dem Rucksack zu seinen Füßen und hielt sie hoch. »Die Autopsie oder Jennifers leibliche Eltern. Womit wollen Sie anfangen?« Beamon leerte sein Bier und ging in die Küche, um Nachschub zu holen. »Die Todesursache waren mit ziemlicher Sicherheit Kopfschüsse, deshalb fangen wir mal mit den Eltern an.« »Gut. Sie hießen James und Carol Passal. James leitete ein Lebensmittelgeschäft in Portland, Oregon; Carol war Hausfrau und Mutter, soweit wir wissen. Beide kamen ums Leben, als ihr Haus niederbrannte. Jennifer war damals zwei Jahre alt.« »Und sie konnte gerettet werden?« »Man fand sie draußen auf dem Rasen.« »Sie war draußen beim Spielen, als es brannte?« Michaels schüttelte den Kopf. »Das Feuer fing gegen Mitternacht an.« »Mitternacht, hm. Was war die Ursache?« »Der Bericht ist ziemlich merkwürdig. Man hat ein Verbrechen ausgeschlossen, aber warum, lässt sich nicht sa67
gen, da es keine näheren Angaben gibt. Und man scheint auch nie herausgefunden zu haben, wie Jennifer auf den Rasen kam.« »Interessant.« »Es wird noch viel besser. James hatte einen Bruder. Er lebte in Salem, bis er die Stadt unter recht zweifelhaften Umständen verlassen hat.« »Und die wären?« »Kidnapping Kategorie Nummer drei. Verdacht auf sexuelle Belästigung von Kindern.« Beamon ließ sich mit seinem neuen Bier wieder in den Sessel fallen. »Na, das wird ja immer interessanter. Ging es dabei um Jennifer?« »Möglich, kann ich aber nicht mit Sicherheit sagen. Die Polizei hat kurz ermittelt, doch dann verschwand David, und ich schätze, sie hatten nie etwas konkret gegen ihn in der Hand, um ihn per Haftbefehl suchen zu lassen.« »Wo ist er jetzt?« »In der Nähe von Kanab, Utah.« »Wo?« »Liegt an der südlichen Grenze des Staates. Eigentlich gar nicht so weit weg von hier. Ich versuche noch, seine Adresse zu kriegen, aber der Sheriff dort hat gesagt, er lebe irgendwo oben in den Bergen. Scheint so was wie ein Einsiedler zu sein.« »Wir müssen ihn finden, Chet. Und zwar gleich.« »Ich habe die Jungs angerufen, die für dieses Gebiet zuständig sind, sie …« Beamon schnitt ihm das Wort ab. »Das ist schön und gut, Chet, aber ich kann mich nicht auf andere verlassen. Morgen 68
will ich diesen Kerl von Angesicht zu Angesicht sehen. Verstanden?« Michaels senkte den Blick und nickte. »Okay. Falls Sie auf irgendwelche Probleme stoßen, rufen Sie hier an oder alarmieren Sie mich über meinen Piepser. Ich bin für diese Sache vierundzwanzig Stunden am Tag verfügbar. Was haben Sie sonst noch für mich?« Michaels schien zu zögern. »Kommen Sie, Chet. Raus damit.« »Wir konnten bisher nicht herausfinden, wer Carol Passal war.« »Wie das? Hat man bei der Sozialversicherung ihren Mädchennamen verschlampt?« Michaels griff nach seinem Bier, das vor ihm auf dem Schachteltisch stand. »Nein, ihren Mädchennamen haben wir problemlos rausgekriegt. Und auch eine frühere Identität, aber wer sie wirklich war, wissen wir noch nicht.« »Ach? Soll das heißen, sie hatte sich eine andere Identität zugelegt?« Er nickte. »Dazu gibt’s nur einen Grund – man will nicht gefunden werden«, sagte Beamon. »Überprüfen Sie per Computer, ob es irgendwelche ausstehenden Haftbefehle für jemanden gibt, auf den ihre Beschreibung passt. Vielleicht war sie auf der Flucht vor dem Gesetz. Erkundigen Sie sich auch bei der Finanzbehörde. Kein Mensch zahlt gern Steuern. Könnte auch sein, sie hat versucht, vor einem durchgeknallten ExEhemann oder Lebenspartner zu flüchten. Sonst noch was?« Michaels schüttelte den Kopf und kritzelte Beamons Anweisungen auf die Rückseite des Ordners. 69
»Okay. Dann der Autopsiebericht. Nur die Höhepunkte – es wird langsam spät.« »Mr. und Mrs. Davis wurden mit derselben Fünfundvierziger erschossen, Mrs. Davis traf die Kugel rechts in den Hinterkopf und Mr. Davis unters Kinn. Um Mund und Nase hatte Mrs. Davis leichte Prellungen, die darauf hindeuten, dass jemand dort mit ziemlicher Kraft zugepackt hat.« Er legte seine Hand über den Mund und drückte sich die Nase mit Daumen und Zeigefinger zu, um es zu illustrieren. »Bei Mr. Davis wurden verschiedene Prellungen und ein paar frische Schnitte gefunden, die ebenfalls auf einen Kampf hindeuten.« »Richtig, wir haben die Folgen ja in der Küche gesehen.« »Genau. Gab aber keine Spuren, dass einer von ihnen zu irgendeiner Zeit gefesselt war, und keine Anzeichen, dass eine der beiden Leichen nach dem Tod bewegt wurde.« »Todeszeit?« »Zwischen acht Uhr abends und drei Uhr morgens.« »Das ist eine ziemliche Zeitspanne. Das Fenster?« »Ja. Da die Zimmertemperatur gesunken ist, nachdem das Fenster zerbrochen war, lässt sie sich nur schwer eingrenzen.« Beamon nickte. »Wenn wir die Aussagen der Nachbarn einbeziehen, also zwischen zehn und drei.« »Ja. Es wäre zwar knapp für den Jungen gewesen, aber ich glaube nicht, dass wir ihn aufgrund dieser Ergebnisse völlig ausschließen können.« »Stimmt«, seufzte Beamon. »Wenn er und Jennifer es waren, kann ich mir allerdings nur schwer einen Tatverlauf vorstellen, zu dem die Fakten passen würden. Hat Jennifer ihre Mutter festgehalten, während Jamie mit ihrem Vater kämpf70
te? Fand der Kampf zu unterschiedlichen Zeiten statt? Waren mehrere Jugendliche daran beteiligt? Keine Ahnung.« Beamon sprang aus seinem Sessel auf und klatschte so laut in die Hände, dass der junge Agent zusammenschrak. »Okay, Chet, und nun raus mit Ihnen. Es ist Freitagabend, und diese junge Dame mit den Tätowierungen, die Ihnen so gefallen, will wahrscheinlich zum Essen ausgeführt werden.« »Schon in Ordnung, Mark. Wenn Sie gern, na ja … ein paar Bier trinken wollen und noch einige Theorien durchspielen möchten …« Beamon übersah bewusst seinen fast hoffnungsvollen Blick und deutete nur zur Tür, während er zum Kühlschrank ging. Er durfte noch drei weitere Bier trinken, ehe er sein selbst auferlegtes Tageslimit erreicht hatte. »Danke, Chet, aber Sie sollten heute Abend ausgehen und sich amüsieren, weil Sie dieses Wochenende nämlich was tun?« »David Passal finden«, murmelte Michaels und sammelte seine Ordner ein. »Ach, Mark. Ich habe übrigens heute Nachmittag eine Nachricht vom Labor für Sie entgegengenommen. Sie liegt auf Ihrem Schreibtisch, aber sie lautet ungefähr: ›Haar von einem Jahr, keine Drogen.‹ Ergibt das irgendeinen Sinn?« »Ja, danke«, sagte Beamon und ließ sich aufs Sofa fallen, nachdem Michaels die Tür hinter sich geschlossen hatte. Mit einem Fuß angelte er nach seinem Parka, den er auf den Boden geworfen hatte, und zog das Päckchen Tabak aus der Brusttasche. Die Nachricht bedeutete, das Haar, das er aus dem Waschbecken von Jennifer Davis mitgenommen hatte, war ein Jahr lang gewachsen und wies keine Drogenrückstände auf. Sie war clean. 71
Was übersehe ich, fragte er sich, während er sich eine Zigarette drehte. Weshalb sollte jemand Jennifer Davis entführen? Was nutzte sie nach dem Tod ihrer Eltern? Jedes Mal, wenn ihm eine plausible Antwort einfiel, gab es zwei oder drei Fakten, die nicht dazu passten. Nachdem seine Zigarette fertig war, betrachtete er sie einige Augenblicke lang sehnsüchtig. Keine Qualmerei im Haus. Das war eine weitere seiner neuen eisernen Regeln. Dank dieser Regel – und durch das ziemlich unwirtliche Wetter – hatte er es geschafft, seinen Zigarettenkonsum von zwei Päckchen pro Tag auf fünf oder sechs Selbstgedrehte zu reduzieren. Seine Eingangstür klapperte, da draußen ein eisiger Wind wehte. Beamon legte die Zigarette auf seinen Bauch und entschied, dass er für heute Abend seine Laster dadurch befriedigen würde, sie anzuschauen und noch ein paar Bier zu trinken.
NEUN Ungeduldig kramte Beamon in den Personalakten, die auf seinem Sofa gestapelt waren. Natürlich steckte die gesuchte genau in der Mitte. Er wollte sie mit einem energischen Ruck herausziehen, doch leider prasselte dabei der ganze Stapel auf den Boden. Er schob die Ordner mit dem Fuß hinüber zur Wand und fragte sich zum hundertsten Mal, ob er wirklich das Zeug dazu hatte, ein Büro zu leiten. Die ganzen letzten Wochen 72
hatte er versucht, sich über seine neuen Mitarbeiter zu informieren – was eigentlich eine simple Aufgabe war. D. hatte ihm die Akten gegeben, und er bräuchte sie bloß durchzublättern. Warum lagen sie dann zwei Wochen später immer noch ungelesen bei ihm zu Hause herum? Die Antwort war so offensichtlich wie beunruhigend: Seine bisherigen Erfolge verdankte er zum Großteil der Fähigkeit, alles um sich herum zu ignorieren und sich völlig auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Eine hervorragende Eigenschaft bei einem Ermittler, eine beschissene Eigenschaft bei einem Vorgesetzten. Eine untergeordnete Position war nichts für ihn, das hatte er oft genug festgestellt, also war es an der Zeit, zu beweisen, dass er einen verdammt guten Chef abgab. Sonst sah es wirklich übel aus. Beamon setzte sich seine Brille auf, öffnete den Ordner auf seinem Schoß und betrachtete das Bild des jungen Mannes, das an die Innenseite des Deckels geheftet war. Er war ein Agent im Innendienst – begabt, gewissenhaft, fleißig. Zumindest war er das bis vor ungefähr einem Monat gewesen. Dann war seine Frau mit dem Typen davongerannt, der ihren Pool reinigte. Beamon hatte zuerst gedacht, das sei ein Standardwitz, mit dem man alle neuen Büroleiter begrüßte. Aber die Dame war tatsächlich auf und davon – mit dem gottverdammten Burschen, der den Swimmingpool putzte! Und als der neue Assistant Special Agent in Charge von Flagstaff war das nun sein Problem. Er musste sich überlegen, wie er diesen Jungen wieder auf die Reihe brachte, ehe er etwas tat oder eben nicht tat, womit er sich seine ganze Karriere verpfuschte. Sollte er ihm sagen, nimm’s wie ein 73
Mann? Such dir ein nettes Hobby? Nein, Sekunde – wie wäre es mit: »Auch andere Mütter haben hübsche Töchter?« Beamon ließ den Ordner auf die Couch fallen und begann, wieder über das Problem Jennifer Davis nachzudenken. Während er sich mit dem Sexualleben seines Personals beschäftigte, lief ihre Zeit unbarmherzig ab. Die Statistiken bei derartigen Verbrechen waren eindeutig – mit jedem Tag verringerten sich seine Chancen, sie lebend zu finden, um die Hälfte. »Oh, ich hatte eigentlich Mark Beamon erwartet. Was kann ich für Sie tun?«, fragte Carrie Johnstone und trat einen Schritt zurück, um ihn besser mustern zu können. Beamon zupfte unbehaglich an den Revers seines seidenweichen Anzugs. »Kommen Sie, Carrie. Machen Sie sich nicht noch lustig über mich. Ich fühle mich sowieso schon komisch genug.« »Komisch? Warum denn das? Sie sehen phantastisch aus! Ich glaube nicht, dass ich Sie je in einem Anzug gesehen habe, der gut sitzt und keine Löcher hat.« »War ein Geschenk«, entgegnete Beamon befangen. »Ich meine, es ist ein toller Anzug, aber ich sehe darin aus, als hätte ich einen europäischen Touristen überfallen und ihm die Klamotten geklaut.« Sie griff in den Kragen seines Jacketts und warf einen Blick auf das Etikett. »Hugo Boss? Jemand hat Ihnen einen Anzug von Hugo Boss geschenkt?« »Ja. Ein Mafiaboss aus New York.« »Verstehe.« Carrie setzte sich an einen kleinen Sekretär im Wohnzimmer und fing an, eine Notiz zu schreiben. »Muss 74
ich mir Sorgen machen, dass ich mit meinen Steuerdollars das Gehalt eines FBI-Agenten finanziere, der teure Geschenke vom organisierten Verbrechen entgegennimmt?« »Sieht so aus.« Sie trug ein kastanienbraunes Kleid, das magischerweise die Farbe zu wechseln schien, wenn sie sich bewegte. Seide von höchster Qualität, dachte Beamon anerkennend. Er war so etwas wie ein Experte für Stoffe geworden, seit er einmal diverse Textilien identifizieren musste im Zuge einer Ermittlung, bei der eine Bombe in einem Koffer voller Kleidung platziert worden war. Viel mehr interessierte ihn jedoch, dass es sich perfekt um ihren Körper schmiegte. Es saß nicht zu knapp, betonte aber genau die richtigen Stellen. Während sie schrieb, betrachtete er ihren schmalen Nacken, den ihr weiches rotbraunes Haar umspielte. Sie sah viel jünger aus als in diesen strengen Kostümen oder den dicken Pullovern, die sie normalerweise trug, und er nahm sich vor, im Laufe des Abends irgendwie möglichst geschickt ihr Alter rauszukriegen. »Seit wann tragen Sie eine Brille, Mark?«, fragte Carrie. »Ich hab sie vor ein paar Monaten gekriegt, aber ich setze sie nur selten auf. Kann mich irgendwie nicht recht dran gewöhnen.« Carrie war mit ihren Notizen fertig und wandte sich um. »Stacey! Wir gehen jetzt«, rief sie in den Korridor. »Ich habe aufgeschrieben, was du mit dem Zeug im Ofen machen musst, und meine Handynummer notiert, falls es irgendwelche Probleme gibt. Ruf mich aber nur im Notfall an, okay? Ich bin nämlich in einer Kirche.« 75
Aus irgendeinem Zimmer kam eine gedämpfte Antwort. Carrie, die offenbar damit zufrieden war, nahm ihre Tasche und hängte sich bei ihm ein. »Warum?« »Warum was?« Beamon hatte etwas Mühe, seine Gedanken unter Kontrolle zu halten, als er sie so dicht neben sich spürte. »Warum fällt es Ihnen schwer, sich daran zu gewöhnen? Ich finde, sie steht Ihnen ausgezeichnet.« »Oh, es ist nicht die Brille an sich, es liegt eher daran, dass ich mir gar nicht so sicher bin, ob ich die Welt wirklich in aller Deutlichkeit sehen möchte.« Beamon öffnete die Tür. »Habe ich übrigens schon erwähnt, wie unglaublich wundervoll Sie aussehen?« »Nein, haben Sie noch nicht.« »Das liegt bestimmt daran, dass ich versucht habe, einen besseren Ausdruck dafür zu finden.« Sie lächelte. »Ich glaube, die meisten Frauen wären mit ›unglaublich wundervoll‹ sehr zufrieden.« Irgendwo hatte Beamon einmal gelesen, dass die Konstruktion einer Kirchenbank eine recht heikle Kunst sei. Einerseits musste sie möglichst unbequem sein, damit die weniger eifrigen Gottesdienstbesucher nicht einschliefen; andererseits sollte sie den ergonomischen Erfordernissen entsprechen, damit die andächtig Frommen keine Dauerschäden an der Wirbelsäule davontrugen. Nach einer vollen Stunde schien die Zeremonie immer noch kein Ende nehmen zu wollen. Beamon gelang es, eine Position zu finden, bei der die Schmerzen in seinem Rücken 76
nachließen und sich die Verkrampfungen etwas lockerten. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Zeremonie zu, die sehr lehrreich gewesen war, wie er zugeben musste. Obwohl die noch junge Kirche der Evolution ihr Hauptquartier direkt in seinem neuen Revier hatte, wusste er sträflich wenig über sie oder ihren Führer Albert Kneiss; nur dass es die am schnellsten wachsende Religionsgemeinschaft der Welt war und dass die deutsche Regierung ihnen erhebliche Schwierigkeiten machte. Ansonsten hatte er lediglich hier und da einmal etwas aufgeschnappt, aber keine Ahnung, ob es stimmte oder lediglich Gerüchte waren. Er hätte sich wirklich längst gründlicher informieren sollen. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass die Zahl der Kneissianer weltweit inzwischen auf über elf Millionen angewachsen sei. Durch die Kirche waren zahllose neue Jobs in dieser Gegend entstanden, sie hatte Krankenhäuser gebaut, Schulen und Museen, und ihr Einfluss in Arizona und besonders auf Flagstaff wurde stetig größer. Er hätte von Carrie gern gewusst, wann dieser Zirkus endlich vorbei war, aber sie schien ganz in Gedanken versunken und kritzelte eifrig in ihr Notizbuch. Er seufzte leise und schaute sich um. Die Kathedrale war erst vor kurzem vollendet worden, doch aufgrund des Baustils und der sorgfältig gewählten Materialien wirkte sie wie ein Gebäude, das bereits Hunderte von Jahren alt war. Die komplexen Stützbögen der Decke bestanden aus einem leichten Holz und waren mit geometrischen Schnitzereien verziert, die wie Stalaktiten in den Raum ragten. Diese skandinavisch angehauchte Verspieltheit bilde77
te einen auffälligen Kontrast zu den schweren Steinen des Mauerwerks; an einigen Stellen floss Wasser über moosbedeckte Wände und wurde in Marmorbecken aufgefangen. Trotz ihrer Größe war die Kirche voll besetzt. Von ein paar Ausnahmen abgesehen war die Gemeinde konservativnüchtern gekleidet und so adrett, wie es alle Welt inzwischen von den Kneissianern kannte. Am Altar führten Braut und Bräutigam gerade feierlich ihre Hände durch die Flamme einer verzierten Kerze, die ein Mann mit frommer Miene ihnen hinhielt, während er irgendwas von Reinigung schwafelte. Beamon schaute zu Carrie hinüber, die immer noch eifrig kritzelte, und beschloss, sie zu unterbrechen. Er hatte noch nie viel von langen religiösen Spektakeln gehalten. Inzwischen lechzte bestimmt selbst Gott nach ein paar steifen Drinks oder wenigstens einem kleinen Cocktailwürstchen. »Nette Feier«, flüsterte er. Carrie schaute von ihrem Notizblock auf und nickte. »Übrigens … wie lange dauert das denn hier so im Allgemeinen?« »Weiß ich wirklich nicht, Mark. Ich bin noch nie bei einer solchen Zeremonie dabei gewesen.« »Wirklich? Sie meinen, Sie sind kein …« »Eine Kneissianerin? Nein.« Nachdem er sie schon zum Reden gebracht hatte, wollte er die Gelegenheit auch nutzen, um endlich seine Neugier zu stillen. »Was schreiben Sie denn da dauernd?« Sie schaute sich verstohlen um und flüsterte ihm leise ins Ohr: »Ich mache eine Untersuchung darüber, ob die Mitgliedschaft in religiösen Gemeinschaften einen Einfluss auf die 78
Entstehung von Psychosen hat. Und da ich kaum etwas über diese Sekte weiß, dachte ich, hier könnte ich was lernen.« Beamon brauchte einen Moment, um diese Neuigkeit zu verdauen. »Was für ein Glück, dass Sie einen Kneissianer kannten, der zufällig dieses Wochenende heiratet«, meinte er hoffnungsvoll. Ihr Gesicht verriet ihm die Wahrheit. »Wir haben uns hier eingeschlichen, nicht wahr, Carrie?« »Na ja, so würde ich es nicht gerade …« Den Rest ihres Satzes verstand er nicht mehr, da die Gemeinde ihre Bibeln zur Seite legte und mit raschelnden Kleidern aufstand. Beamon lächelte nickend dem jungen Paar zu, das strahlend und gefolgt von seinen Verwandten den Gang herunterkam. »Ein nettes Paar«, flüsterte er Carrie zu. »Und was für eine schöne Hochzeit. Ich freue mich schon auf den Empfang.« »Eigentlich hatte ich nicht vor, dorthin zu gehen. Ich finde, das wäre dann doch ein bisschen zu unverschämt.« »Machen Sie Witze?« Er schaute auf seine Uhr. »Ich hocke doch nicht hier eine Stunde und zwanzig Minuten lang rum und gehe dann nicht mal zum Hochzeitsempfang.« »Ich … ich könnte Sie vielleicht stattdessen irgendwo zum Essen einladen«, schlug sie etwas unsicher vor. Beamon schüttelte den Kopf. »Wäre kein angemessener Ersatz, oder?« Beamon hatte richtig Spaß an der Sache und fühlte sich bereits vollständig für diese endlose Zeremonie entschädigt. 79
Der Konferenzsaal des Radisson war mit bunten Ballons und Luftschlangen geschmückt, und an zahllosen runden Tischen saßen angeheiterte Hochzeitsgäste. Die Kapelle am anderen Ende des Raums stimmte die ersten Akkorde von »Louie Louie« an, und etliche Gäste eilten auf die Tanzfläche. Carrie und er blieben allein an ihrem Tisch zurück. Zufrieden tunkte Beamon einen Shrimp in Frischkäse. Eins musste er diesen Kneissianern lassen – sie verstanden es zu feiern: tolles Essen, eine enorme Auswahl erstklassiger Getränke, und alle waren unglaublich freundlich! Mindestens fünfundzwanzig Leute waren auf sie zugekommen und hatten sie in ein Gespräch verwickelt. Zum Glück hatte ihn nicht einer als den Mann erkannt, auf den sich nach dem Verschwinden von Jennifer Davis die gesamte Presse gestürzt hatte. Entweder lag das an seinem tollen Anzug und der Brille oder an dem trüben Licht und dem Alkohol. Sicherheitshalber hatte er aber auch alle möglichst rasch abgewimmelt und erzählt, er sei schwerhörig; Carrie sei eine uralte Freundin der Braut, er dagegen nur ihr Begleiter. Damit hatte ein ziemlich langer und qualvoller Abend für Carrie Johnstone begonnen. Beamon hatte in der letzten Stunde mit diebischem Vergnügen ihrem nervösen Gelächter gelauscht, wenn sie über die Kindheit und das bisherige Leben der Braut gesprochen hatte und sich dabei in unzählige Lügen verhedderte. Die blauhaarige Frau, die mit Carrie geschwatzt und dabei ständig gelächelt hatte, als seien ihre Lippen eingefroren, stand endlich auf, winkte Beamon zum Abschied zu und schlängelte sich durch die Menge in Richtung Bar. 80
»Einen Shrimp?«, fragte Beamon und hielt Carrie ein käsegetränktes Schalentier hin. »Das werden Sie mir büßen, Mark. Ich weiß zwar noch nicht, wie und wann, aber das zahle ich Ihnen heim.« Beamon setzte sein unschuldigstes Lächeln auf. »Sie haben gerade eine Stunde in aller Ruhe mit Ihren Versuchskaninchen reden können, Carrie. Da müssten Sie mir eigentlich dankbar sein.« Sie streckte mit einem finsteren Blick die Hand aus. »Geben Sie mir den Shrimp.« Mit einem halben Glas Wein spülte sie ihn hinunter. »Kommen Sie, Carrie. Dieser Empfang hat Ihnen doch garantiert viel mehr gebracht als die Trauung. Ich habe bloß dabeigesessen und schon dadurch enorm was gelernt. Um Leute zu beobachten, sind Hochzeitsempfänge genauso ideal wie …« Ein Stripschuppen, hätte er um ein Haar gesagt, aber er fing sich gerade noch. »Ein öffentlicher Park.« Sie trank einen weiteren Schluck Wein. »Ich habe auch was gelernt, nämlich dass man Ihnen nicht trauen kann. Wenn ich meine Gesprächspartner richtig verstanden habe, haben Sie den Leuten erzählt, Sie seien bloß mein Begleiter und kennen hier niemanden.« »Ich … glaube, ich habe das Wort Bettgespiele benutzt. Ach, und dann noch die Sache mit meiner Taubheit.« »Stimmt, einige haben Ihr kleines Gehörproblem erwähnt. Ich habe sie natürlich darüber aufgeklärt, dass es sich dabei um die Folgen einer verschleppten Syphilis handelt.« Das erklärte vermutlich die merkwürdigen Blicke, die ihm manche verstohlen zugeworfen hatten. »Touché«, sagte er und war ungemein erleichtert, als ein 81
wunderschönes Lächeln auf ihrem Gesicht erschien. Er hatte keine Ahnung gehabt, wie sie diesen kleinen Streich aufnehmen würde. Manche Frauen schienen absolut perfekt, aber dann merkte man auf einmal, dass sie nicht über sich selbst lachen konnten. Beamon schob seinen Stuhl dichter zu ihr und schaute sich um, ob niemand in Hörweite war. »Geschieht Ihnen recht. Den ahnungslosen Chef des hiesigen FBI-Büros dazu zu verleiten, sich mit Ihnen bei einer Hochzeit einzuschleichen. Erzählen Sie mir wenigstens, worum es bei Ihrer Untersuchung geht.« »Um den Einfluss von Religion auf die psychische Gesundheit von Menschen«, entgegnete sie mit sichtlicher Begeisterung. Noch ein Plus für Carrie Johnstone. Er mochte Menschen, die sich für etwas begeistern konnten. Wofür, spielte eigentlich keine Rolle. »Wie meinen Sie das?« »Nun, bei einem sehr gläubigen Menschen beeinflusst die Religion auch seine Einstellungen und Empfindungen. Vergleichen wir mal eine strenggläubige Muslimin mit einer gläubigen Kneissianerin. Für viele Muslime sind Frauen Menschen zweiter Klasse. Das könnte beispielsweise Probleme mit der Selbstachtung zur Folge haben.« Beamon dachte einen Moment darüber nach. Klang logisch. »Und eine Kneissianerin?« »Nun, die Kneissianer sind in dieser Hinsicht das genaue Gegenteil; sie kennen keinen Chauvinismus. Dafür hat bei ihnen der finanzielle und gesellschaftliche Erfolg einen sehr hohen Stellenwert. Eine Kneissianerin könnte also genauso schwere Selbstachtungsprobleme haben, die aber beispiels82
weise auf fehlenden Erfolg im Beruf zurückzuführen wären.« »Sehe ich ein.« »Das ist natürlich ein sehr vereinfachtes Beispiel. Hier ist ein besseres: Wie alt sind die Braut und der Bräutigam, was glauben Sie?« Beamon zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Mir kommen sie wie halbe Kinder vor, aber das geht mir auch so bei der Hälfte meiner Mitarbeiter.« »Ich schätze mal, dass sie gerade die Highschool hinter sich haben. Aus irgendeinem Grund heiraten die Kneissianer sehr jung und haben eine extrem hohe Scheidungsrate.« Beamon nickte nachdenklich. »Anwerbung.« »Bitte?« »Das ist der Grund, warum sie früh heiraten und sich wieder scheiden lassen. Mitgliederwerbung.« »Ich verstehe nicht ganz.« Beamon schnappte sich noch einen Shrimp. »Wozu braucht man Religion?« »Das ist eine ziemlich komplizierte Frage. Damit der Mensch sich weniger allein fühlt?« Beamon zog eine Grimasse. »Nein. Dazu braucht man vielleicht Gott. Religion dient einfach dazu, alle zu einer bestimmten Denkweise zu zwingen.« »Aber Mark, Sie sind ja ein Zyniker. Das hätte ich nie gedacht.« Beamon ignorierte ihre Stichelei. »Im Ernst. Die Kirche der Evolution betont bei jeder nur denkbaren Gelegenheit, dass sie die am schnellsten wachsende Religion in der Welt ist. Was meinen Sie, wie sie das zuwege bringen?« Sie schob ihren Teller beiseite und stützte ihr Kinn in die 83
Hände. »Ich glaube, sie haben ein ziemlich attraktives Glaubenssystem geschaffen, das viele …« Bei Beamons Gesichtsausdruck hielt sie inne. »Sie finden, dass ich viel zu kompliziert denke, nicht wahr?« Er nickte lächelnd. »Genau. Sie wachsen nämlich rascher als irgendwelche anderen Sekten, weil sie die Mitgliederwerbung technisch effektiver angehen. Nehmen Sie unser junges Hochzeitspaar. Denken wir uns mal ein perfektes Szenario im Sinne der Kirche: Der Junge war … was weiß ich … Buddhist. Er ist konvertiert, um das Mädchen zu heiraten, das zu den Kneissianern gehörte. Sie bekommen ein paar Kinder und lassen sich … meinetwegen in fünf Jahren … scheiden. Unser Bräutigam hat Gefallen an der Kirche gefunden und bleibt dabei. Beide sind einige Jahre lang Single, dann findet er eine nette Baptistin, die er heiraten möchte, und sie konvertiert. Genauso geht es unserer Braut, aber vielleicht bringt sie einen Protestanten dazu, zu ihnen überzutreten. Die beiden neuen Paare haben zwei weitere Kinder – und damit haben wir gerade wie viele neue Kneissianer geschaffen?« Carrie zählte an ihren Fingern nach. »Neun?« »Stimmt wohl.« Sie hob ihr Glas und trank ihm zu. »Ich muss schon sagen, Mark, das war so zynisch, wie ich selten etwas gehört habe.« »Danke. Sind Sie bereit, mich zum Abendessen auszuführen?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schaute ihn mit festem Blick an. »Das Abendessen war statt dieses Empfangs gedacht, nicht noch als Bonus obendrein. Außerdem – Sie müssen doch bereits mindestens hundert Shrimps verspeist haben.« 84
Die kleinen Fältchen in ihren Augenwinkeln, wenn sie lächelte, waren wirklich hinreißend. Er war auch gar nicht wirklich hungrig – und die vielen Shrimps mit Frischkäse vertrugen sich ganz und gar nicht mit dem Diätplan des neuen, verbesserten Mark Beamon – aber er wollte einfach nicht, dass der Abend schon endete. »Na ja, bloß waren sie nicht sehr gut.« Das gedämpfte Licht im Raum ließ ihr Seidenkleid verführerisch schillern, als sie aufstand. »Okay, Mark. Sie haben gewonnen. Da Sie anscheinend Zynismus zu einer Religion erhoben haben, denke ich, ich kann die Kosten von der Steuer absetzen.«
ZEHN »Hallo?«, rief Beamon und schaute sich in dem leeren Empfangsbereich des Sheriffbüros von Kane County in Utah um. Niemand antwortete. Er streckte den Kopf durch das halb geöffnete Fenster zum Nebenraum. »Hallo! Jemand da? Ich bin Mark Beamon vom FBI.« »Warten Sie im Konferenzzimmer«, befahl eine Stimme. Beamon drehte sich um und betrachtete die Plakate an der Wand, auf denen Vermisste abgebildet waren. Eines davon zeigte auch Jennifer Davis, die etwas unsicher lächelnd neben einem Fahrrad posierte, um dessen Sattel eine große rote Schleife gebunden war. Die anderen verlorenen Seelen hatten ähnlich fröhliche Gesichter und standen neben übermütigen 85
Hunden, neuen Motorrädern oder geliebten Menschen – und keiner ahnte etwas davon, welches Schicksal ihn erwartete. Meistens waren diese Bilder das Einzige, was von ihnen übrig blieb. Nur wenige würde man jemals wieder finden, und wenn, dann höchstens, weil irgendein verirrter Wanderer über ihre sonnengebleichten Knochen stolperte. »Hier ist es.« Chets Stimme weckte ihn aus seiner Versunkenheit. Er deutete auf eine offene Tür im Flur. Sie warteten fast zwanzig Minuten lang, ehe der Sheriff schließlich in den großen Konferenzraum stolzierte, flankiert von zwei Deputies, was vermutlich ein schlechtes Zeichen war. Es war Sonntagnachmittag, und er brauchte lediglich die Wegbeschreibung zum Aufenthaltsort von David Passal, die er sich eigentlich auch telefonisch hätte geben lassen können. Aber er hatte sich angewöhnt, immer die zuständigen Gesetzeshüter zu treffen, ehe er in ihrem Zuständigkeitsbereich herumstreunte. Einer der Hilfssheriffs setzte sich auf die Theke, die rund um den Raum lief, und klopfte mit der Hand rhythmisch auf den Rand eines Waschbeckens. Der andere lehnte sich gegen den Türrahmen und versuchte, so imposant wie möglich auszusehen. »Sie sind Beamon?« Der Sheriff blieb neben dem Konferenztisch stehen und musterte sie kritisch. Beamon hatte absichtlich alte Jeans angezogen und Cowboystiefel, die er seit seiner Zeit als Schießausbilder bei der Polizei von Nevada nicht mehr an den Füßen gehabt hatte, da er wusste, dass es nichts brachte, wenn man wie eine 86
Kreuzung zwischen Steuerfahnder und Bestattungsunternehmer daherkam. Das verschreckte die Leute nur unnötig. »Ja. Nennen Sie mich ruhig Mark.« Beamon überlegte, ob er aufstehen und ihm die Hand reichen sollte, aber dann deutete er nur auf Chet, der zu seiner Rechten saß. »Mit Chet haben Sie ja gestern schon telefoniert.« Der Sheriff nickte kurz. Er hatte diesen Körperbau, den man häufig im ländlichen Amerika sah. Sein Gesicht, die Arme und Beine waren schlank, fast dünn, doch über seinem Ledergürtel wölbte sich ein so gewaltiger Bauch, dass die verzierte Schnalle darunter völlig verschwand und das graubraune Hemd aus der Hose gerutscht war. »Was will das FBI von Dave Passal?« Beamon hatte keine besondere Lust auf großartige Erklärungen oder irgendwelche Machtspielchen mit dem Ortssheriff, aber er hatte keine andere Wahl. Erstens wusste er nicht, wie er Passal finden sollte, und zweitens konnte es durchaus sein, dass sie bewaffnete Unterstützung brauchen würden. »Wissen Sie, wo er ist?« »Nee. Er kommt nicht oft in die Stadt. Könnte überall stecken.« Sein Hilfssheriff schnaufte leise. »David ist der Onkel von Jennifer Davis. Ihr einzig lebender Verwandter«, sagte Beamon. »Ich dachte, er weiß vielleicht etwas, das uns helfen könnte.« Der Sheriff – der sich immer noch nicht vorgestellt hatte – war sichtlich verblüfft. »Sie glauben, Dave hat was mit dieser Sache zu tun?« »Ich bezweifle, dass er die ganze Strecke gefahren ist, um ein Mädchen zu entführen, das er seit zwölf Jahren nicht ge87
sehen oder gesprochen hat«, erwiderte Beamon mit möglichst gleichgültiger Miene. Es entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber er hatte keine Ahnung, ob der Sheriff nicht womöglich Passals Jagdgefährte, Schwager oder bester Freund war. »Wir hatten vor einer Weile hier einen Bankraub«, knurrte der Sheriff. »Unser Kassierer wurde getötet. Netter Junge. Ein Trupp von euren Leuten kam aus Salt Lake her und hat sich die halbe Stadt vorgeknöpft. Wissen Sie, was sie am Ende rausgefunden haben?« »Keine Ahnung«, sagte Beamon. »Nichts. Haben erst einen Riesenzirkus veranstaltet, dann bloß ihren Kram zusammengepackt und sind wieder abgehauen.« »Hören Sie, Sheriff …?« »Parkinson.« »Sheriff Parkinson. Erstens sind Chet und ich ganz allein hier, und zweitens wollen wir nur sehen, ob Passal vielleicht irgendwas weiß. Dann machen wir uns sofort wieder vom Acker. Mit ein bisschen Glück gleich heute schon.« Parkinson nickte wortlos. Sein Misstrauen war ihm immer noch deutlich anzusehen, aber zumindest wirkte er nicht mehr feindselig. »Dave lässt sich selten blicken, aber ich schätze, er haust immer noch da oben.« »Wo da oben?«, fragte Michaels gespannt. Der Sheriff deutete lässig in östliche Richtung. »Hat sich in den Bergen eingerichtet, ungefähr eine Stunde außerhalb der Stadt. Kommt nur ab und zu her, um einzukaufen.« »Könnten Sie uns sagen, wie wir dorthin kommen?« 88
»Ich gebe euch ein paar von meinen Jungs mit.« Er schaute in das unschuldige Gesicht von Chet Michaels. »An den Papierkram, der mir blüht, wenn euch FBI-Jungs am Ende noch der Arsch weggeschossen wird, will ich nämlich lieber gar nicht erst denken.« Michaels lehnte sich vor. »Sie glauben also, er ist bewaffnet?« »Ja, mein Junge, das ist er. Lebt ja von der Jagd. Und außerdem hat er so was wie einen Verfolgungswahn, wenn Sie mich fragen. Er glaubt, hinter jedem Baum lauert ein Russe. Und viele Besucher kriegt er bestimmt nicht. Was ihm nur recht ist.« Beamon seufzte leise. Wenn Passal mit der Sache zu tun hatte, waren ein paar Männer des Sheriffs, die insgeheim auf seiner Seite standen, das Letzte, was er brauchte. »Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, Sheriff, aber das ist wirklich nicht nötig. Wir sind nicht hinter Passal her, wir wollen bloß ein paar Minuten mit ihm reden, und dann sind wir wieder weg.« Der Sheriff schien komischerweise zufrieden, dass Beamon sein Angebot ablehnte. Vielleicht war er gespannt darauf, was Passal mit den Stadtfritzen aus Flagstaff machen würde. »Wie Sie wollen«, sagte er mit einem herablassenden Schulterzucken. Beamon war dabei, die Wagentür zu öffnen, aber der Wind blies so kräftig, dass er es nicht schaffte. Chet Michaels Lachen verstummte, als ihm seine Tür aus der Hand gerissen wurde und irgendwo gegenschlug. »Mann, passen Sie ein bisschen auf! Ich zahle diese Karre immer noch ab.« Beamon stemmte seine Schulter gegen die 89
Tür und zwängte sich aus dem Wagen, ehe der Wind sie wieder zudrückte. Sie hatten kurz vor einer Anhöhe gehalten. In einiger Entfernung stieg aus dem dichten Kiefernwald eine kräuselnde Rauchsäule in den Himmel, der allmählich dunkler wurde. Beamon hielt es für besser, den Rest des Wegs zu Fuß zu gehen, um möglichst nahe an Passal heranzukommen, ehe er die Chance hatte, seinen Granatwerfer abzustauben. »Okay, Chet, Sie gehen die Straße rauf und sehen mal nach, ob jemand daheim ist.« Der junge Agent schien etwas beunruhigt. »Und Sie?« »Ich setze mich wieder ins Auto und rauche eine. Es ist eiskalt hier draußen.« Beamon grinste. »Nein, keine Panik. Ich gehe durch den Wald und bin direkt hinter Ihnen. Nur für alle Fälle.« Michaels griff nach seiner Waffe, aber Beamon winkte ab. »Denken Sie positiv, Chet. Nicht unnötig die Leute verschrecken. Sie klopfen bloß bei ihm, um sich eine Portion gedörrtes Hirschfleisch zu borgen, klar?« Zögernd schob Michaels seine Waffe wieder unter den Pullover und versuchte die Entfernung bis zu der verwehenden Rauchsäule abzuschätzen. »Warten Sie ungefähr drei Minuten, dann gehen Sie los, okay?« Beamon spürte, wie die Kälte seinen Parka durchdrang, und wollte in Bewegung kommen, ehe er noch ganz erstarrte. »Nein, wenn ich mir’s überlege, geben Sie mir ungefähr zehn Minuten. Hab keine Lust auf einen Gewaltmarsch.« Michaels nickte, während Beamon sich seine neue Brille aufsetzte und seinen Revolver herauszog. 90
Durch den ständigen Sonnenschein in Utah waren die Straßen und die endlosen Flächen mit dichtem Beifuß relativ schneefrei, doch zwischen den Bäumen sah das anders aus, deshalb kam er nur langsam voran. Er konzentrierte sich auf jeden Schritt und prüfte sorgsam den Boden. Nachdem er etwa die Hälfte der Strecke hinter sich hatte, sah er in der bleichen Sonne etwas glitzern. Genau damit hatte er gerechnet. Zwischen einem kleinen Bäumchen und einem dichten Strauch war in ungefähr sieben Zentimetern Höhe ein dünnes Stück Angelschnur gespannt. Beamon kniete sich auf den Boden, den ein Teppich aus gefrorenen Kiefernnadeln bedeckte, und schob behutsam einen morschen Ast beiseite. Darunter entdeckte er einen simplen Zündmechanismus, der zweifellos ein Leuchtsignal auslöste und einen Benzinkanister zur Explosion brachte. Er stand auf, stieg vorsichtig über den Angeldraht und hielt aufmerksam Ausschau nach weiteren Fallen. Die Sonne versank hinter einem Berg im Westen, und es wurde zunehmend dunkler. Beamon ging rascher, als es vernünftig war, aber Michaels war jetzt schon seit fast einer Minute unterwegs. Und wenn er ihn allein mit einem Mann ließ, der offensichtlich keine Skrupel hatte, jeden Besucher in Brand zu setzen, hätte er definitiv keine Chancen mehr im Wettbewerb um den Chef des Jahres. Zwei Minuten und einen weiteren Stolperdraht später entdeckte Beamon auf einer Lichtung einen alten Wohnwagen und blieb hinter einer verkrüppelten Kiefer stehen. So ungefähr hatte er sich Passals Behausung vorgestellt. Der kleine Wagen sah aus, als sei er mit Sperrholz und Kle91
beband zusammengeflickt, und etliche Autoreifen sorgten dafür, dass das Dach nicht wegflog. Ungefähr fünfundzwanzig Meter entfernt gab es noch einen Schuppen, der aus alten Holzschildern zusammengezimmert zu sein schien. Das leise Summen und das Kabel, das sich hinüber zum Wohnwagen schlängelte, verrieten ihm, dass darin ein Generator untergebracht war. In diese menschenleere Gegend führten wohl kaum Stromleitungen. Beamon blickte prüfend über die Lichtung, als Michaels vorsichtig um die Ecke gebogen kam und auf den Wohnwagen zuging. Nichts. Nur der Wind trieb etwas Staub und einige Schneeflocken durch die Luft. Michaels war fast an der Tür, als Beamon bemerkte, wie sich einer der Reifen auf dem Dach bewegte. Zu spät griff er nach seiner Waffe. Ein Mann in Tarnhosen und einem schwarzen Sweatshirt war bereits heruntergesprungen und auf einem sehr überraschten Chet Michaels gelandet. Die Wucht des Aufpralls kippte die behelfsmäßige Treppe um, auf der Michaels gestanden hatte, und beide Männer stürzten zu Boden. Beamon wollte ihm zu Hilfe eilen, aber David Passal hatte den jungen Agenten schon hochgezogen und drückte ihm eine Pistole an den Hals. Klasse. »Was wollen Sie?«, brüllte Passal. Beamon war immer noch einer der besten Schützen im FBI, aber hier konnte er einfach nichts machen. Die Entfernung betrug gute zwanzig Meter, dazu herrschte starker Wind, und Passal riss Michaels wie eine Lumpenpuppe hin und her. Unter solchen Umständen hätte es sogar Annie Oakley schwer gehabt. 92
»Ich habe niemandem was gesagt! Ihr habt versprochen, mich in Ruhe zu lassen!« Passal nahm seine Pistole von Michaels’ Nacken und richtete sie misstrauisch auf den Waldrand. Beamon spürte, wie sein Herzschlag sich erhöhte. Er musste irgendwas tun. Aus seiner Deckung herauszutreten war vermutlich keine so tolle Idee. Passal schien völlig außer sich und würde ihn garantiert ohne viel Federlesen abknallen. Zu seiner Verwunderung wirkte Michaels gar nicht besonders verängstigt; seine Stimmung schwankte eher zwischen Gereiztheit und Verärgerung, soweit er es auf die Entfernung erkennen konnte. »Kommt raus«, brüllte Passal. »Los! Kommt raus, damit ich euch sehen kann. Ich bringe ihn um, ehe ihr mich erledigen könnt!« Die Situation war verfahren und würde wahrscheinlich auch nicht besser werden. Beamon hob seine Waffe, zielte knapp an Passals Ohr vorbei und holte tief Atem. Hoffentlich bewies Michaels jetzt, dass er zwar aussah wie ein Bubi, aber zu Recht den Ruf hatte, im College ein Ringerchampion gewesen zu sein. Er drückte ab. Die Kugel zerschmetterte das Vorderfenster des Wohnwagens, und Passal duckte sich automatisch. Michaels reagierte augenblicklich. Mit einer Hand packte er die Waffe, mit der anderen schlug er gegen Passals rechtes Bein, sodass er zu Boden fiel. Als Beamon herbeigerannt kam, hatte Michaels ihm die Gliedmaßen derart verdreht, dass er aussah wie ein Schlangenmensch. Ein Schlangenmensch mit beträchtlichen Schmerzen. 93
Beamon hob Passals Waffe auf, sicherte sie und schob sie in seinen Hosenbund. »Für eine Sekunde hatte ich mir schon Sorgen gemacht, Chet.« Mit einer subtilen Drehung seiner Hüfte, bei der Passal vor Schmerz aufschrie, zog Michaels ihn auf die Füße. »Tut mir Leid. Ich hatte nicht aufs Dach geschaut.« »War mein Fehler. Ich hatte den besseren Überblick.« Er wandte sich zu Passal um, der verängstigt zurückwich. »Was wollen Sie? Ich habe getan, was Sie gesagt haben! Lassen Sie mich in Ruhe!« Mit einer schnellen Bewegung packte Beamon ihn am Hals und drängte ihn gegen den Wohnwagen. »Da haben wir aber was anderes gehört, David. Nämlich dass du mit Leuten geredet hast, mit denen du nicht reden solltest.« Aus den Augenwinkeln sah er Michaels’ verwirrtes Gesicht. Klar, das war nicht gerade eine vorschriftsmäßige Verhörmethode, aber er musste unbedingt erfahren, für wen Passal sie hielt. Beamon drückte ein wenig fester zu. Gerade genug, um ihn einzuschüchtern, aber nicht so fest, dass er ihm nicht mehr antworten konnte. Passal packte nach seinem Handgelenk, doch statt sich zu wehren, schien er plötzlich zu stutzen und schob den Ärmel des Parkas hoch. »Wer zur Hölle seid ihr?«, fragte er dann, und seine ganze Panik schien wie weggeblasen. Beamon ließ ihn los und fragte sich, woher dieser abrupte Umschwung kam. Er zog seinen Ausweis aus der Innentasche seines Parkas. »FBI?«, fragte Passal. »Was zur Hölle wollen Sie hier? Verschwinden Sie von meinem Grundstück!« 94
»Wir wollen bloß kurz mit Ihnen reden und wären längst wieder weg, wenn Sie nicht beschlossen hätten, wie Superman vom Dach zu segeln.« Passal grunzte und schaute zu Michaels hinüber. »Was haben Sie geglaubt, wer wir sind?«, fragte Beamon. »Ich muss Ihnen gar nichts sagen, Mann.« Passal fröstelte. Sein Sweatshirt war viel zu dünn bei diesem eisigen Wind. Beamon richtete mit einem Tritt die Treppe wieder auf. »Es sind schon gute fünf Minuten her, seit ich meine Zehen gespürt habe, Dave. Warum laden Sie uns nicht in Ihre gute Stube ein?« Er balancierte die wackeligen Stufen hinauf. Im Innern des Wohnwagens war es nicht viel wärmer als draußen. Der alte Eisenofen in der Ecke kam gegen den kalten Wind, der durch das zerschossene Fenster wehte, einfach nicht an. Beamon schaute sich um und inspizierte die behelfsmäßigen Regale an den Wänden, auf denen große Dosen mit Obst und Gemüse gestapelt waren. Auf Holzlatten hingen einige Felle zum Trocknen, in der Ecke gab es ein Bett. Die einzige Waffe, die er fand, war eine ungeladene Schrotflinte, sofern er nicht das Beil mitzählte, das auf einer leeren Farbdose lag. »Kommen Sie rein, Dave. Es ist kalt da draußen.« Sicherheitshalber schob er das Gewehr und das Beil unters Bett, damit beides außer Reichweite war. Passal kam die Stufen hoch und blieb in der Tür stehen, als betrete er eine völlig fremde Wohnung. Beamon deutete auf einen der beiden Stühle an einem resopalbeschichteten Klapptisch und legte ein paar Holzscheite in den Ofen. Als die Flammen ordentlich loderten, wandte er sich zu Michaels 95
um, der in der Tür stand. »Warum schauen Sie sich nicht ein bisschen um, während wir reden? Bleiben Sie aber aus dem Wald raus – präparierte Fallen. Nur rund um den Wohnwagen und das Generatorhäuschen. Vorsichtig.« »He, das will ich nicht, er soll hier bleiben!«, rief Passal. Beamon setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Er ist schon unterwegs.« Passal lebte so, wie Beamon es sich gedacht hatte, aber er selbst war anders als erwartet. Zwar hauste er in einer behelfsmäßigen Unterkunft und trug fadenscheinige Kleider, doch schien er kein Dummkopf zu sein, und sein Haar war verhältnismäßig gepflegt. Üblicherweise hatten Leute, die ein solches Leben wählten, wilde lange Locken oder militärisch kurz geschorene Stoppeln. Er erwiderte etwas besorgt, aber doch ruhig und nachdenklich seinen Blick. Beamon überlegte, wie er vorgehen sollte. »Ich möchte gern über Ihre Nichte mit Ihnen reden.« »Meine was?« »Ihre Nichte Jennifer.« Passals Gesichtsausdruck wurde für einen Moment weicher. »Hab schon lange nicht mehr an sie gedacht. Sie war zwei, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Müsste jetzt vierzehn sein.« »Fast sechzehn.« Passal nickte. »Was will das FBI von einem fünfzehnjährigen Mädchen?« »Sie finden. Sie ist vor einigen Tagen entführt worden. Das Paar, das sie adoptiert hat, wurde mit Kopfschüssen getötet. Verdammte Schweinerei.« Passals Züge verhärteten sich, und er biss die Zähne zu96
sammen. »Da haben Sie sich gedacht, dass es vielleicht der Typ war, der Kinder belästigt hat. Scheißkerl.« »Keine Ahnung, wer es war, Dave. Dachte nur, Sie könnten mir vielleicht helfen. Womöglich haben Ihr Bruder oder Ihre Schwägerin irgendwelche Feinde gehabt.« »Sie sind beide tot«, entgegnete Passal. »Falls sie Feinde hatten, sollten sie zufrieden sein, finden Sie nicht?« »Wissen Sie was Genaueres?« Passal schien immer nervöser zu werden. »Nein. Gab keine Feinde.« »Sicher?« »Ja.« »Was können Sie mir über Ihre Schwägerin erzählen?« »Was meinen Sie?« »Es klingt merkwürdig, aber wir hatten es schwer, herauszufinden, wer sie war. Sieht so aus, als hätte sie mehrmals ihren Namen geändert und sei etliche Male umgezogen. Wissen Sie zufällig was darüber?« »Nein.« Beamon zog ein Päckchen Tabak aus der Tasche und begann sich eine Zigarette zu drehen. »Vielleicht erinnern Sie sich, wo sie herstammte? Hat sie je was von ihrer Familie erzählt?« »Nein.« Passal verheimlichte ihm etwas, doch sein verschlossenes Gesicht verriet Beamon, dass er bei ihm nicht mit herkömmlichen Methoden weiterkommen würde. Er überlegte, ob er ihn mitnehmen sollte, aber das wäre zwecklos und möglicherweise gefährlich. Falls er Jennifer doch hier versteckt hatte, würde sie wahrscheinlich sterben, wenn er sie 97
nicht mehr versorgte. In Utah wurde es nachts empfindlich kalt. Beamon zündete sich die Zigarette an und überlegte, welche Möglichkeiten er hatte. Eigentlich so gut wie keine. Im Grunde konnte er sich nur wieder verziehen und hoffen, dass das Glück auf seiner Seite war. Er stand so abrupt auf, dass Passal zusammenzuckte. »Okay, tut mir Leid, dass wir Sie belästigt haben. Können wir Sie irgendwie erreichen, falls wir was rausfinden?« Passal senkte den Blick. »Sie werden nichts rausfinden.« Für einen Moment blieb Beamon in der Tür stehen. »Muss hier oben manchmal ziemlich einsam sein. Weiß nicht, ob ich das aushalten würde.« Passal schaute ihn müde an. »Vielleicht kriegen Sie noch Gelegenheit, es auszuprobieren. Ungefähr eine Meile weiter gibt es am Bach ein freies Stück Land. Ich werde es mal für Sie reservieren.« Beamon musterte ihn nachdenklich und wollte etwas sagen, überlegte es sich aber dann anders. Er würde schon erfahren, was Passal wusste. Er brauchte nur irgendwas, mit dem er ihn ein bisschen unter Druck setzen konnte. »Chet, ich bin hier draußen«, rief Beamon. Michaels stolzierte mit so langsamen Schritten, dass es fast komisch wirkte, durch das Beifußgestrüpp westlich von Passals Wohnwagen und hielt die Augen auf den Boden geheftet. »Was gefunden?«, fragte Beamon, als er umkehrte und seinen eigenen Spuren wieder zurück zur Straße folgte. »In dem Schuppen da drüben sind nur ein Schneemobil und ein Generator, sonst nichts. Der Wohnwagen steht auf 98
ein paar zusammengemauerten Holzblöcken. Ich habe druntergeschaut – nichts bis auf etwas altes Holz. Wie war’s bei Ihnen?« »Er weiß was, aber er will nicht das Maul aufmachen.« »Sie glauben also, er hat mit der Sache zu tun?« »Entweder das, oder er ahnt, wer es war.« Am Himmel begannen die ersten Sterne zu funkeln, und Beamon zog den Reißverschluss seines Parkas zu. »Haben Sie den Wetterbericht für heute Nacht gehört?« »Ja. Der Wind soll nachlassen. Ansonsten klar und kalt.« »Gutes Flugwetter.« »Sie wollen zurück nach Flagstaff fliegen?« Der Wind trug das Geräusch von Hammerschlägen zu ihnen herüber. Michaels wandte sich um, aber Beamon ging einfach weiter. Passal reparierte sein zerbrochenes Fenster. »Nein, wir bleiben noch ein wenig.« »Und beobachten Passal?« »Und verbessern unsere Beziehung zu Sheriff Parkinson.« »Aber was ist, wenn er sie hat? Er überlegt sich vielleicht gerade, wie er sie sich vom Hals schafft!« »Möglich«, erwiderte Beamon zögernd und versuchte, nicht unwillkürlich an sein spektakulärstes Versagen zu denken. »Aber wenn wir einen Haufen Leute hinzuziehen, um ihn zu beobachten, würde er es merken. Und heute könnten wir uns sowieso nicht mehr an ihn ranschleichen.« Vor vielen Jahren war in einem heißen Sommer in Texas ein zehnjähriges Mädchen aus El Paso entführt worden. Er hatte Bill Meyers, seinen Hauptverdächtigen, von insgesamt zehn Agenten beobachten lassen, und zwar so, dass er es auch merkte. 99
Ein paar Wochen später hatte er das Mädchen gefunden. Sie lag ungefähr eine Meile von Meyers Haus entfernt gefesselt in einer Grube. Die Erinnerung daran, wie sie ausgesehen hatte mit dem starren Blick, der schwarz verfärbten Haut und der geschwollenen Zunge, die zwischen ihren Lippen hervorquoll, machte ihm immer noch zu schaffen. Meyers hatte dem Mädchen kein Essen und kein Wasser mehr gebracht, nachdem Beamons Männer angefangen hatten, ihn zu beobachten. Laut der Aussage des Gerichtsmediziners war ihr Tod ziemlich qualvoll gewesen.
ELF »Okay, ich bin also immer noch hinter dem Baum. Ich meinte zwar, ich hätte den Kerl durchs Autofenster erwischt, aber sicher war ich nicht. Und ich musste was tun, weil der Baum schon keine Rinde mehr hatte, dermaßen hatte dieses Arschloch mit seiner Maschinenpistole darauf geballert.« Beamon schob mit einem Fußtritt einen Stuhl zurecht, um damit den Baum zu markieren. »Ich konnte ja nicht bis in alle Ewigkeit dort hocken bleiben.« Mark Beamon war ein Künstler, das stand fest. Sheriff John Parkinson und drei seiner Hilfssheriffs saßen regelrecht gebannt um den alten Holztisch und waren völlig fasziniert von seiner dramatischen Erzählung. Chet Michaels lehnte sich zurück, trank einen kleinen Schluck von seinem Budweiser, an dem er seit einer Stunde schon nuckelte, und musterte das Gesicht seines Chefs. Jeder, 100
der ihn nicht kannte, würde ihn für einen plumpen kleinen Bullen aus Texas halten. Dabei war dieser Mann überdurchschnittlich intelligent, stand durch die hohe Erwartungshaltung der Presse unter einem ziemlichen Druck, dazu kamen der ärgerliche Kleinkram und die endlosen Ablenkungen, mit denen er sich als Leiter eines Büros herumschlagen musste. Und ohne Zweifel dachte er auch an das Mädchen, das höchstwahrscheinlich tot war oder gerade irgendwo starb. Doch das sah ihm niemand an. Chet hatte allerdings bemerkt, dass das alles keineswegs spurlos an ihm vorüberging. Wenn Beamon sich unbeobachtet glaubte, kaute er manchmal nervös an seiner Unterlippe und schaute mit leerem Blick in die Ferne. In diesen kurzen Momenten wirkte er wie ein völlig anderer Mensch. Michaels trank noch einen Schluck Bier, während er Beamons Vorstellung verfolgte. In den zwei Tagen, die sie jetzt in Kanab waren, hatte sich die Haltung des Sheriffs und seiner Männer grundlegend geändert. Aus dem anfänglichen Argwohn war regelrechte Bewunderung geworden. Er brächte so was nie fertig. Aber mit diesem gewissen Charisma musste man wohl einfach geboren sein. »Ich hab bestimmt fünf Minuten lang gewartet«, fuhr Beamon fort. »Hab gelauscht, ob der Kerl etwa aus dem Auto steigt. Nichts. Schließlich riskiere ich einen kurzen Blick. Scheiße, man kann nicht mal mehr in die verdammte Karre schauen, weil alle Fenster voller Blut sind. Sah aus, als wäre er da drinnen explodiert, wissen Sie?« Die Bullen nickten mit glänzenden Augen. »Ich gehe also hin. Kein Zweifel, der Kerl ist tot. Ich öffne die Tür, und er plumpst mit dem Gesicht nach unten auf den 101
Rücksitz. Ich packe ihn am Haar – er hatte so eine lange Mähne – und will die Leiche rausziehen.« Beamon machte eine dramatische Pause. »Da hab ich auf einmal seinen Kopf in der Hand. Die Schüsse hatten ihm völlig den Hals durchlöchert.« Die Bullen schwiegen einen Moment und brachen dann in Gelächter aus. Sheriff Parkinson schlug johlend mit der Faust auf den Tisch. »Die Geschichte ist ehrlich wahr.« Beamon lehnte sich zurück und leerte sein Bier. »Hab mir meine ganzen Schuhe voll gekotzt. War ein elender Papierkram, damit das FBI mir ein paar neue zahlte …« Das Schrillen seines Piepers ließ ihn mitten im Satz verstummen. »Hoppla, das gilt uns, John. Ich schätze, unser Fax kommt gerade.« Parkinson deutete auf das leere Bier. »Noch rasch eins für den Weg?« »Danke, nein«, sagte Beamon. »Wir müssen los.« »Ihr Jungs kommt doch zum Essen zu mir?« Michaels zog eine Grimasse. Er hatte gehofft, Parkinsons Einladung sei bloß eine höfliche Floskel gewesen. »Aber klar, gern.« Beamon nickte. »Echte Hausmannskost kriegt man schließlich nicht alle Tage. Sechs Uhr, in Ordnung?« »Was ist denn das?« Chet Michaels glättete das Papier auf dem Bett des Hotelzimmers, das er und Beamon sich in den beiden letzten Nächten geteilt hatten. Beamon überprüfte zweimal, dass seine Waffe geladen war, und kramte dann in seinem Koffer nach einem dickeren 102
Pullover. »Denken Sie drüber nach, Chet. Versuchen Sie sich in die Psyche eines paranoiden Hinterwäldlers zu versetzen.« Michaels musterte das Fax, das offenbar ein schlechtes oder noch nicht entwickeltes Foto zeigte. Er drehte es um, doch das half ihm auch nicht weiter. »Ich glaube, es ist beim Faxen versaut worden, Mark. Alles dunkel, nur hier und da sind ein paar helle Flecke.« »Wie gesagt, versetzen Sie sich in einen Hinterwäldler mit Verfolgungswahn. Wenn die roten Horden – oder viel wahrscheinlicher die Truppen der Bundespolizei – heranrücken und ihn umzingeln, nutzt ihm sein Wohnwagen überhaupt nichts. Was tut er also?« »In die Berge flüchten?« »Auf keinen Fall. Das wäre unamerikanisch. Er verschanzt sich in seinem Bombenschutzkeller.« Beamon hatte endlich den Pullover gefunden. Er streifte ihn über und deutete auf das Foto. »Ich habe diese Methode vor Jahren mal benutzt, als ich nach einem anderen vermissten Mädchen suchte. Was Sie da sehen, ist eine Luftaufnahme der Gegend, in der Passal lebt, aufgenommen mit einer Thermokamera. Sagen Sie mir, was Sie sehen.« Michaels studierte das Fax einige Zeit, dann deutete er auf einen rechteckigen weißlichen Klecks in der Mitte. »Das muss der Wohnwagen sein. Und das der Ofen.« »Würde ich auch sagen.« »Dieser kleine Punkt hier ist wahrscheinlich der Schuppen mit dem Generator.« »Aha.« Michael betrachtete weiter das Foto und stutzte bei einer Unregelmäßigkeit am Rand des Bilds. »Was ist das?« 103
»Eine Stelle, die nicht von der Sonne erwärmt wird. Es scheint, als sei darunter etwas anderes als normaler Erdboden.« Michaels hielt das Fax dicht an sein Gesicht. »Was glauben Sie, was es ist?«, fragte er aufgeregt. »Ich hoffe, Jennifer Davis, aber ich bezweifle, dass wir so viel Glück haben.«
ZWÖLF Jennifer drehte sich im Halbschlaf auf den Rücken, schob die Laken weg und holte tief Atem. Sie spürte durch ihre geschlossenen Lider, dass es hell war, und stellte sich vor, wenn sie gleich die Augen aufmachte, würde sie die Kiefernholzdecke ihres Zimmers mit dem großen schmiedeeisernen Kronleuchter sehen, der über ihrem Bett hing. Ja, ganz bestimmt würde sie heute endlich aus ihrem Albtraum aufwachen und wieder zu Hause sein. Jennifer holte noch einmal tief Atem und öffnete die Augen. Der helle Schein, der von der weißen Decke kam, blendete sie, genau wie die letzten fünf Male, als sie sich an dieses Gedankenspiel geklammert hatte. Sie schlug die Hände vors Gesicht, rollte auf die Seite und begann zu weinen. Warum passierte ihr das alles? Hatte sie irgendwas getan, wofür sie bestraft wurde? Vielleicht war sie bloß krank und das hier war ein Krankenhaus. Vielleicht hatte sie hohes Fieber und deshalb diese schrecklichen Träume? So was gab es – das hatte sie im Fernsehen gesehen. Das erklärte auch, wa104
rum sie allein war. Sie hatte irgendeine ansteckende Krankheit und befand sich in Quarantäne. Sie dachte einige Zeit darüber nach, wie sie es jeden »Morgen« in dem fensterlosen Raum tat, bis sie sich wieder einmal eingeredet hatte, dass es so sein musste. Dann stand sie auf und ging langsam in das angrenzende Bad, das keine Tür hatte, wusch sich das Gesicht und starrte auf die leere Wand über dem Waschbecken. Schließlich schaute sie wie immer an sich herunter. Das kurze weiße T-Shirt und die Baumwollunterhosen waren die einzigen Kleidungsstücke, die sie hatte, und ihre Haut war unnatürlich bleich geworden. Sie strich über die grünbraunen Flecken, die sie ständig hatte, seit sie Mountainbike fuhr. Auch sie verblassten allmählich. Dann kehrte sie zu dem Doppelbett zurück, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und starrte in den leeren Raum, bis sie schließlich auf die Matratze sank und in eine Art Trance fiel. Wenn sie aufwachte, stand immer ein Teller mit Essen neben der Tür, ein Handtuch lag dabei, ein sauberes T-Shirt und ein paar Unterhosen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon allein in diesem Zimmer war. Durch die schwere Holztür, von der sie nicht wusste, wohin sie führte, drangen keinerlei Geräusche, und einen Unterschied zwischen Tag und Nacht gab es nur, wenn sie den Lichtschalter anknipste. Manchmal überkam sie das Gefühl, dass sie in einem Würfel gefangen war, der auf einer weiten Wüstenebene stand. Wenn die Person, die ihr die Mahlzeiten hinstellte, eines Tages das Interesse verlor, würde sie mutterseelenallein verhungern und nie erfahren, warum ihr und ihrer Familie das alles pas105
siert war. Aber noch schlimmer war vielleicht der Gedanke, dass man ihr bis in alle Ewigkeit die Mahlzeiten hinstellte und sie mit der Zeit in Einsamkeit und Irrsinn versinken würde. Ein metallisches Knirschen kam von der Tür. Zuerst meinte sie, es sei ebenfalls nur Einbildung. Aber es war keine Sinnestäuschung. Der dicke Knauf drehte sich. Sie setzte sich auf und zog die Knie an die Brust. Die Aufregung vertrieb ihre dumpfe Verzweiflung, die fast zu einem Dauerzustand geworden war. Könnte das ihr Vater sein? Ja, bestimmt kam er sie jetzt endlich holen. Alles war bloß ein wirrer Fiebertraum gewesen. Nun ging es ihr wieder besser, und sie konnte endlich mit nach Hause. Die Tür öffnete sich langsam, und Jennifer stand rasch auf. Sie konnte es kaum erwarten, von ihrem Dad in die Arme genommen zu werden. »Hallo, Jennifer.« Entmutigt fiel sie zurück aufs Bett. Wieder diese Frau, die ihren Vater in den Wahnsinn getrieben hatte! Die Frau, die in der Dunkelheit neben ihrem Bett gesessen hatte, während sie geschlafen hatte. Hilflos versuchte Jennifer, nach ihr zu treten, aber es hatte keinen Sinn. Mühelos hielt sie ihre Beine fest und schob sie zur Seite. »Sei still.« Die Frau packte sie am Haar. Aus den Augenwinkeln sah Jennifer einen Mann mit einem dicken schwarzen Schnurrbart, der die Tür schloss und sie allein ließ. Dann spürte sie den durchdringenden Blick und wollte sich abwenden, aber die Frau hielt sie unbarmherzig fest. »Nein, du schaust mich an, Jennifer. Schau mich an.« 106
Jennifer hatte keine Kraft, sich zu wehren, und zudem das Gefühl, in einem Strudel zu treiben, gegen den sie einfach nicht ankämpfen konnte. »Weißt du, was passiert ist?«, fragte die Frau. Jennifer öffnete den Mund, aber sie hatte so lange nicht mehr gesprochen, dass sie fast Angst hatte, es gar nicht mehr zu können. »Weißt du, was passiert ist?« »Nein«, brachte Jennifer heraus. »Doch, du weißt es. Sag es mir.« Das Bild ihrer toten Eltern, das mit der Zeit endlich verblasst war, stand ihr plötzlich wieder mit beklemmender Deutlichkeit vor Augen. »Meine … Eltern«, stammelte sie. »Sie sind … tot.« »Das ist richtig, Jennifer. Sie sind tot. Und du weißt auch, wie es passiert ist, nicht wahr? Erzähl es mir.« Jennifer schlug die Hände vors Gesicht und spürte, wie die Tränen über ihre Wangen liefen. »Nein«, schluchzte sie. »Nein, zwingen Sie mich nicht dazu.« Die Frau zog ihr die Hände herunter und riss heftig an ihrem Haar. »Wie ist es passiert, Jennifer?« »Er hat sie getötet … dann hat er sich selbst erschossen. Was haben Sie mit ihnen gemacht? Was haben Sie mit meinen Eltern gemacht?« Sie spürte, wie die Frau eine Hand unter ihr T-Shirt schob und sanft über ihren Bauch bis hinauf zu ihren Brüsten strich. Jennifer versuchte wegzurutschen, aber sie konnte sich nicht bewegen. »Sie waren nicht deine Eltern, Liebes. Das weißt du. Nicht wahr?« 107
»Doch, das waren sie«, hörte Jennifer sich sagen. »Sie haben mich genauso geliebt, als wäre ich ihre eigene Tochter.« »Das solltest du denken, Jennifer«, entgegnete die Frau und schüttelte beinahe traurig den Kopf. »Ich hatte ihnen befohlen, dafür zu sorgen, dass du das glaubst.« »Sie lügen!« Die Frau lächelte fast spöttisch. »Warum hat dein Vater dich dann nicht gerettet? Immerhin hatte ich ihm eine Waffe in die Hand gegeben.« Jennifer presste die Augen so fest zu, dass sie kleine Lichtblitze vor sich sah. »Er hätte … er wollte …« Sie verstummte. Ja, warum hatte er es nicht getan? Warum hatte er ihr nicht geholfen? »Er hat nichts unternommen, weil du nicht sein Kind warst. Ich habe dich zu ihnen gebracht und ihnen gesagt, sie sollten sich um dich kümmern, bis es an der Zeit sei, dass du zu mir zurückkommst.« Die Frau zog ihre Hand unter dem T-Shirt hervor und stand auf. Willenlos ließ sich Jennifer von ihr ins Bad führen. »Ich bin die Einzige, die dich liebt, Jennifer. Ich bin die Einzige, die sich um dich kümmert.« Sie stellte das Wasser in der kleinen Dusche an und prüfte die Temperatur. Jennifer blieb regungslos auf den kalten Kacheln stehen und widersetzte sich nicht, als die Frau ihr das T-Shirt über den Kopf zog und danach den Slip abstreifte. Schweigend trat sie in die Dusche. Im dichten Dampf sah sie plötzlich wieder ihre toten Eltern. Sie schloss die Augen und bemühte sich, an etwas anderes zu denken. Während die 108
Frau begann, sie mit einem Waschlappen einzuseifen, dachte sie an ihr letztes Rennen, ihren Freund, der ihr mit einem Schlauch den Dreck abspritzte, an die entsetzten Gesichter ihrer Eltern, als sie sich den Kopf mit dem alten schmierigen Lappen trocken rieb. »Ich will nach Hause«, sagte sie so leise, dass ihre Worte fast vom Rauschen des Wassers verschluckt wurden. Die Frau warf den Waschlappen auf den Boden und streichelte ihren Rücken. »Du bist zu Hause, Liebes.«
DREIZEHN Der Ofen war fast kalt. Beamon hielt seine Hände über den Rost und versuchte, sich etwas zu wärmen, obwohl nur noch ein paar Kohlen in der Asche glühten. Die Konserven auf den Regalen ringsum waren von einer dünnen Eisschicht überzogen. Die Tür hatte weit offen gestanden, als sie gekommen waren. Beamon ging in die Hocke und schaute unters Bett. Das Gewehr und das Beil waren weg. »Haben Sie was gefunden, Chet?« Beamon stieg die Treppenstufen hinunter und blinzelte in die grelle Sonne, die aber kaum Wärme spendete. Michaels stieß mit schussbereiter Waffe die Tür zum Generatorschuppen auf, steckte den Kopf hinein und senkte die Waffe wieder. »Nichts.« »Verdammt, wohin ist der Kerl verschwunden?« Michaels kam zu ihm und schaute prüfend über die Lich109
tung. »Sein Laster ist noch da. Meinen Sie, er ist einfach in die Berge abgehauen?« Beamon schüttelte den Kopf. Er ärgerte sich über sich selbst, dass er Passal nicht im Auge behalten hatte. »Ich weiß nicht. Schauen wir uns das Fax noch mal an.« Es war schwierig, auf dem Infrarotbild Entfernungen genau abzuschätzen. Eher planlos stapften sie durch das mit Abfall durchsetzte Gestrüpp und versuchten, den Eingang zu der unterirdischen Kammer zu finden. »Sind Sie sicher, dieser Fleck auf dem Bild ist nicht vielleicht was ganz anderes?«, fragte Michaels und spähte unter einen dichten stacheligen Strauch. »Das frage ich mich langsam auch.« Beamon trat gegen ein verrottetes Stück Sperrholz, das sofort von einem starken Windstoß über die Lichtung getrieben wurde. »Aber ich kann mich sonst immer auf mein Gefühl verlassen.« Er versuchte, seine Stiefelspitze unter ein altes Schild zu zwängen, das jedoch am Boden festgefroren zu sein schien. Beamon bückte sich, um es hochzuziehen, und spürte am Rand eine ölige Angel. »Chet. Hier!« Michaels kam herbeigelaufen und musterte das alte Schild. »Das ist es?« Beamon nickte. »Glauben Sie, er ist da drin?« »Keine Ahnung. Sein Laster ist noch da, und es sieht aus, als seien fast alle seine Sachen noch im Wohnwagen. Andererseits – warum sollte er den Ofen ausgehen und die Tür offen stehen lassen?« Beamon trat einen Schritt zurück und zog seine Waffe. 110
»Mr. Passal! David! Hier ist Mark Beamon vom FBI. Ich habe noch ein paar Fragen an Sie. Wie wär’s, wenn Sie dort rauskommen?« Michaels spähte nervös zum Waldrand. Es war kein besonders angenehmes Gefühl, so ganz ohne Deckung in der Landschaft herumzustehen. »Dave! Kommen Sie! Los!«, rief Beamon und gab der Falltür einen festen Tritt. Nichts. Warum konnte nicht ein Mal etwas reibungslos laufen? »Bereit, Chet?« Michaels nickte entschlossen und richtete seine Waffe auf das Schild. »Aber schießen Sie mir nicht den Fuß ab.« Beamon fand eine Stelle, an der er seine Stiefelspitze unter die Sperrholzplatte zwängen konnte. »Okay, Dave. Kommen Sie raus.« Mit einem Tritt öffnete er die Falltür und wartete mit schussbereiter Waffe. Nichts. Beamon legte sich auf den Bauch und rutschte langsam näher zum Rand. Er bemühte sich, nicht daran zu denken, dass Passal dort unten mit dieser verdammten Flinte hockte, und schob seine Hand mit der Waffe in das Loch. Noch immer rührte sich nichts, deshalb reckte er vorsichtig den Kopf hinein. »Alles okay, Mark?«, fragte Michaels nervös. »Ist er da unten?« Beamon richtete sich auf und atmete tief durch. »Ja, ist er. Aber er hat schon bessere Tage gesehen.« David Passal schien von der Leiter gefallen zu sein. Ein 111
Bein hing unnatürlich verdreht zwischen den letzten Sprossen, und sein Kopf ruhte in einer großen Pfütze aus Blut, auf deren Oberfläche sich weiße Eiskristalle zu bilden begannen. Beamon wich etwas zur Seite, sodass die Sonne direkt auf Passals Gesicht fiel. Seine Haut war bläulich angelaufen, und seine starren Augen standen weit offen. »Was ist los, Mark?« »Der kann uns nicht mehr viel sagen.« »Was?« »Anscheinend ist er von der Leiter gefallen, hat sich den Kopf aufgeschlagen und ist erfroren.« Beamon zog sein Feuerzeug aus der Tasche, knipste es an und leuchtete in das Loch. Es war nur ungefähr drei Meter breit und vielleicht zwei Meter tief. An den Lehmwänden sah man hinter einigen hölzernen Regalen noch die Spuren des Spatens, mit denen es ausgehoben worden war. Beamon ließ sich vorsichtig hinuntergleiten und achtete darauf, Passals gebrochenes Bein nicht zu berühren. Die Regale waren etwas solider als die im Wohnwagen; vermutlich dienten sie nicht nur als Lagerplatz, sondern auch als Stützhölzer. Ordentlich waren darauf Dosen mit Fleisch und Gemüse gestapelt, und in der Ecke entdeckte er große Säcke mit Zucker und Mehl. Beamon beugte sich vor und überzeugte sich von seiner Diagnose. Ja, Passal war eindeutig tot. Er war auf einem Stapel alter Holzlatten gelandet. Aus einigen ragten etliche Nägel, und einer davon hatte sich direkt in seinen Hinterkopf gebohrt. Beamon hatte gewusst, dass er hier Waffen finden würde, und entdeckte auf einem breiten Regal zu seiner Linken tat112
sächlich eine schwarze M-16, die in einen Plastikbeutel gewickelt war. Das hätte schon genügt. Er hatte zwar nie wirklich geglaubt, dass Passal das Mädchen entführt hatte, nur dass er irgendetwas darüber wusste, und mit der Drohung, ihn wegen illegalen Waffenbesitzes dranzukriegen, hätte er ihn wahrscheinlich zum Reden bringen können. »Ist alles in Ordnung, Mark?«, rief Michaels. »Ja, klar.« Beamon setzte sich neben die Leiche. »Kommen Sie wieder hoch?« »Gleich. Ich muss mal kurz nachdenken.« Er lehnte sich fast zehn Minuten lang mit dem Rücken gegen die kalte Wand und schaute von Passal zur Leiter und wieder zurück. Der Kerl musste sie tausendmal hinuntergeklettert sein – er lagerte hier unten schließlich seine Lebensmittel. Warum war er heute gestürzt? Was war heute anders als an all den anderen Tagen? Nur eine Antwort fiel ihm darauf ein. Das FBI schnüffelte herum und stellte Fragen. Sheriff John Parkinson hob den Kopf. »Ja, er ist wohl tot. Sie sagen, er ist auf einen Nagel gefallen?« Beamon nickte. Die Männer des Sheriffs hatten die Lichtung abgesperrt, obwohl in dieser Gegend nicht gerade viel Verkehr herrschte. Nun standen alle herum und stapften in der Abendkälte von einem Fuß auf den anderen. »Direkt in den Hinterkopf«, sagte Beamon. »Verdammtes Pech.« »Solche Unfälle gibt’s nun mal, Mark. Die Leiter war vielleicht ein wenig vereist. Oder er hatte ein paar Kurze zu viel getrunken. Und ehe man sich’s versieht, ist man tot.« 113
»Sie haben vermutlich Recht.« Beamon gab ihm einen Klaps auf den Rücken, als sie zu den Wagen gingen, die den schmalen Weg blockierten. »Aber um sicher zu sein, lasse ich ein paar Leute herkommen, die sich die Sache mal genauer anschauen.« Parkinson schien darüber nicht gerade begeistert zu sein. »Chet und ich verschwinden allerdings wieder«, fuhr Beamon fort. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie und Ihre Jungs sich um alles kümmern, bis meine Männer hier sind.« »Klar, Mark, ist doch selbstverständlich.« »Okay. Sie haben ja meine Karte. Falls irgendeiner von unseren Leuten anfängt, Ihnen auf den Sack zu gehen, rufen Sie mich an.«
VIERZEHN Jennifer Davis umklammerte mit ihren immer noch feuchten Händen die dünnen Baumwollhosen, die man ihr gegeben hatte. Wie gebannt schaute sie auf die offene Tür und hinaus in den kahlen Korridor. Gebannt und verängstigt. Ihr ganzes bisheriges Leben war über Nacht zerstört worden, und das einzig Vertraute war jetzt dieser Raum. Was würde sie draußen finden? »Ich … ich kann nicht«, sagte sie unsicher. Die Frau schaute sie mit einem durchdringenden Blick an und legte ihr eine Hand in den Nacken. »Es gibt Leute, die es übel mit dir meinen, Jennifer. Ich werde mit allen Kräften verhindern, dass sie dir etwas tun, aber dazu musst du mir helfen.« 114
»Ich … ich habe Angst. Ich …« Die Frau war um sie herum gegangen. Sie schlang einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. »Ich bringe dich zu jemandem, der mit dir reden möchte, Jennifer. Er wird dir Fragen stellen, die du einfach und direkt beantwortest. Ehe du allerdings etwas sagst, will ich, dass du ihn dir sehr gut anschaust. Um zu sehen, wie schwach er ist. Er kann dich nicht schützen, Jennifer, das kann nur ich. Allerdings nur, wenn du meine Anweisungen ganz genau befolgst. Verstehst du?« Sie verstand nichts, überhaupt nichts. Sagte diese Frau die Wahrheit? Wann immer sie in ihrer Nähe war oder in ihre Augen schaute, empfand sie nur beklemmende Angst. Der Kopf tat ihr weh, sodass sie kaum denken konnte. »Ich …« Der Druck um ihre Taille wurde stärker, und sie verstummte. »Hast du verstanden?«, wiederholte die Frau. Jennifer schluckte ihre Tränen hinunter und nickte stumm. Im Gegensatz zu ihrem Zimmer war der Raum, in den man sie brachte, so riesig, dass man wohl rufen musste, um von jemandem auf der anderen Seite verstanden zu werden. Die Decke war mehr als neun Meter hoch und ringsum mit schweren Zierleisten geschmückt. Es gab nur ein einziges großes Fenster mit einer undurchsichtigen Glasscheibe, durch die gedämpftes Licht drang. Trotzdem merkte Jennifer, dass es Tag war, als die Frau sie zu einem kleinen Bett an der gegenüberliegenden Wand führ115
te, neben dem eine ganze Reihe irgendwelcher medizinischer Geräte stand. Jennifer schaute auf den Mann, der darin lag. War er tot? Er hatte die Augen geschlossen und war so hager, dass sie die Schädelknochen sehen konnte. Seine Haut war beinahe grau, nur hier und da zeigten sich ein paar hellrote wunde Stellen und einige geplatzte Äderchen, die wie zarte Spinnennetze wirkten. Sein Kopf war kahl bis auf einige lange weiße Haarbüschel, und die Haut schien papierdünn. Die Frau ließ Jennifer los und nahm von einem Stahltablett eine Spritze. Jennifer wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Aber die Spritze war nicht für sie bestimmt. Die Frau stieß sie in einen Schlauch, der am Unterarm des Mannes befestigt war. Jennifer beobachtete sein Gesicht, als die Töne des Herzmonitors unregelmäßiger und dann kräftiger wurden. Seine Lider flatterten, und schließlich öffnete er die Augen. Fast eine Minute lang war sein Blick vollkommen leer, bis er den Kopf zur Seite wandte und Jennifer anschaute. »Hab keine Angst«, flüsterte er. Seine Lippen waren aufgesprungen und rissig. »Komm.« Mühsam bewegte er seine linke Hand zum Rand des Betts, doch Jennifer rührte sich nicht, bis die Frau sie zu ihm schob. »Bitte. Ich tue dir nichts«, sagte er. Seine Stimme war ein wenig kräftiger geworden, verlor sich aber fast in dem riesigen Raum mit den summenden Geräten. Die Frau verstärkte ihren Druck. Jennifer nahm vorsichtig seine Hand. Sie fühlte sich wie ein kalter Sack mit Hühnerknochen an. »Ich bin so glücklich, dass du hier bist.« Jennifer unterdrückte ihre Angst und zwang sich, ihm in 116
die Augen zu schauen. Sie war überrascht, darin ein seltsames Leuchten zu sehen und trotz seines geschwächten Zustands eine unglaubliche Warmherzigkeit, Freundlichkeit, Stärke. Und Leid. »Das muss sehr, sehr schlimm für dich sein«, flüsterte er. »Deine Eltern verlassen zu müssen und hierher zu kommen, wo dir alles fremd ist. Aber bald wirst du es verstehen. Alles.« Er schaute zu der Frau, die neben ihr stand. »Hör auf Sara und die anderen. Sie können dich so vieles lehren. Ich wünschte, ich könnte mehr tun, aber ich bin zu müde.« Seine Stimme war immer schwächer geworden, und er schien wieder alle Kraft zu verlieren. Jennifer drückte ihm unwillkürlich die Hand. »Sara. Ich will mit dir und den anderen reden. Bald.« Jennifer wollte zur Seite weichen, als die Frau – Sara hatte er sie genannt – näher ans Bett trat, doch der alte Mann umklammerte fest ihre Hand, und sie hatte Angst, ihm wehzutun, wenn sie sich losriss. »Natürlich«, sagte Sara. »Sobald ich kann.« »Ich übergebe sie deiner Obhut, Sara. Du musst sie alles lehren.«
FÜNFZEHN Mark Beamon drehte den Schlüssel im Schloss und drückte mit der Schulter gegen die vereiste Tür seines Apartments. Sie rührte sich nicht. Natürlich begann ausgerechnet in diesem Moment das Telefon zu läuten. 117
Er ging einen Schritt zurück und versetzte ihr einen Tritt – nicht mit der gezielten Wucht, wie man es ihm in Quantico beigebracht hatte, sondern nur mit so viel Nachdruck, um die dünne Eisschicht zu zerbrechen, damit er die Tür aufstoßen und zum Telefon laufen konnte. »Beamon«, sagte er, noch ehe er den Hörer ganz am Ohr hatte. »Mark? Hier ist Trace.« Trace Fontain leitete das Labor des FBI und war nur ihm zuliebe widerwillig nach Utah gefahren, um die Bergung von Passals Leiche zu überwachen. »Trace! Wie geht es Ihnen?« In der Kälte von Utah ist aus Fontains Bronchitis jetzt bestimmt eine ausgewachsene Lungenentzündung geworden, dachte Beamon schuldbewusst. »Nicht so gut. Ich glaube, ich habe mir eine Lungenentzündung geholt.« Er hustete laut, und Beamons Gewissensbisse wurden noch größer, als er Fontains Inhalationsapparat hörte. »Tut mir wirklich Leid, Trace, aber es ging nicht anders. Ich habe hier dieses vermisste Mädchen und komme mit dem Fall einfach nicht weiter. Und Sie sind nun mal unser bester Mann.« Wieder hustete Fontain rasselnd. »Ich würde mit den Schmeicheleien warten, bis Sie hören, was ich zu sagen habe.« »Wie sieht’s denn aus?« »Wird Sie nicht gerade freuen.« »Kommen Sie, Trace. Sie müssen doch irgendwas haben.« »Ja, nämlich keine Ahnung, was hier passiert ist.« Beamon streifte mühsam seine schneeverkrusteten Stiefel ab und angelte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. »Wieso das?« 118
»Nun, ich kann nicht sagen, ob Ihr Mr. Passal ermordet wurde oder ob es ein Unfall war. Genauso wenig weiß ich mit Sicherheit, ob Jennifer Davis jemals hier war.« »Fangen wir mit dem ersten Punkt an. Warum ist es kein Mord?« »Dass es keiner war, habe ich nicht gesagt. Ich habe ein paar Matratzen in das Loch gelegt und ungefähr zwanzigmal einen der hiesigen Polizisten die Leiter runtergeschubst. Hab mir überlegt, wie man es anstellen könnte – jemand, der hinter der Leiter steht, packt seinen Fuß, ein anderer seinen Kopf und reißt ihn runter auf den Nagel. Wenn man die Technik erst mal raus hat, ist es gar nicht besonders schwer.« »Wären denn dann keine Spuren auf Passals Gesicht oder an seiner Jacke zu sehen … der Stoff müsste doch vielleicht überdehnt oder gerissen sein?« »Glaube ich nicht.« Wieder hustete er keuchend. »Das Opfer war ja sozusagen in der Luft, also brauchte man gar keine besondere Kraft aufzuwenden. Außerdem trug Passal eine dieser dicken Wolljacken, die man sicher nicht so leicht zerreißen kann.« »Es ist also möglich, dass es ein Mord war, aber wahrscheinlich eher ein Unfall.« »So wird es in meinem Bericht heißen.« »Dann weiter. Was ist mit Jennifer?« »Wir haben den Wohnwagen, das Generatorhäuschen und die Grube wirklich gründlich durchkämmt und nichts gefunden.« »Gar nichts?« »Nun, wir werten natürlich alles noch aus, wenn wir zurück sind, aber nach den ersten vorläufigen Untersuchungen 119
bezweifle ich, dass das Labor mir was anderes sagen wird. Nirgends auch nur ein blondes Haar. Vielmehr haben wir überhaupt keins gefunden, das nicht so aussah, als stamme es von Passals Kopf. Oder von irgendeinem Wild.« »Er hat gelebt wie ein Einsiedler«, sagte Beamon. »Scheint so. Mit ganz wenigen Ausnahmen haben wir alle Fasern irgendwelchen Sachen in seinem Schrank zuordnen können.« »Und die Ausnahmen?« »Sind offenbar älter. Stammen wahrscheinlich von Sachen, die er weggeworfen hat. Auf jeden Fall bezweifle ich sehr, dass wir irgendwelche entsprechenden Kleidungsstücke in der Garderobe eines fünfzehnjährigen Mädchens finden werden.« »Fingerabdrücke?« »Nur zwei, die nicht von ihm waren, auf dem Tisch im Wohnwagen und am Türknauf. Sie sind ziemlich frisch und deshalb denke ich, sie stammen …« Beamon beendete seinen Satz. »Von mir und Chet.« »Wahrscheinlich. Wir werden es nachprüfen, sobald wir zurück sind.« Ein Klopfen ließ Beamon aufschauen. »Trace, könnten Sie bitte einen Moment dranbleiben? Da ist jemand an der Tür.« Beamon ging auf Socken durch den Schnee, der auf seinem Teppich schmolz, öffnete die Tür und erblickte Carrie Johnstone. Sie trug eine Daunenjacke, Stiefel und helle Baumwollhosen; neben ihr stand Emory, die ähnlich gekleidet war, allerdings Schlafanzughosen trug. Carrie sah den Telefonhörer in Beamons Hand und die Schnur, die sich quer durch den Raum spannte. »Tut mir 120
Leid, Mark«, flüsterte sie. »Ich wusste nicht, dass Sie gerade telefonieren.« »Kein Problem. Bin gleich fertig. Kommen Sie rein.« Ihr sonst stets fröhliches Gesicht wirkte etwas angespannt. »Eigentlich wollte ich Sie um einen Gefallen bitten. Einer meiner Patienten hat … einige Probleme. Ich habe niemanden, der bei Emory bleiben könnte, und mich gefragt … na ja, könnten Sie für eine Weile auf sie aufpassen?« Beamon schaute auf das kleine Mädchen, das ihm fröhlich zulächelte. Er hob den Hörer wieder ans Ohr. »Eine Sekunde noch, Trace. Ich bin sofort wieder da.« Er nahm es zwar als gutes Zeichen, dass Carrie bereit war, ihm ihre Tochter anzuvertrauen, aber was wusste er schon über Kinder? »Na ja, Carrie, theoretisch mit Vergnügen, nur habe ich gar keinen Schimmer, wie man mit vierjährigen Mädchen umgeht.« »Ich bin fast fünf«, protestierte Emory. Er musste unwillkürlich lachen. So schwer konnte es ja wohl nicht sein. Man fütterte sie, ließ sie ein bisschen vor dem Fernsehen sitzen und steckte sie dann ins Bett. »Fast fünf?« Er trat einen Schritt zur Seite. »Na, dann komm doch herein.« Emory rannte an ihm vorbei und sprang auf die Couch. »In einer Stunde muss sie ins Bett, Mark«, sagte Carrie sichtlich erleichtert. »Sie hat schon gegessen und die Zähne geputzt – und ist bestimmt ganz brav.« Sie warf ihrer Tochter einen strengen mütterlichen Blick zu. »Das bist du doch, Schatz?« »Klar«, versicherte Emory und drückte wahllos die Tasten der Fernbedienung. 121
»Danke, Mark. Ich bin so schnell es geht wieder zurück«, sagte Carrie und eilte die verschneite Treppe hinunter. »Kein Problem, lassen Sie sich nur Zeit.« Emory hatte inzwischen den Einschaltknopf gefunden und zappte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Fernsehkanäle. »Tut mir Leid, Trace. Kleiner Notfall. Wo waren wir?« »Nirgends.« »Ach ja. Richtig.« »Jedenfalls habe ich Passals Leiche auf irgendwelche Kratzer oder Verletzungen untersucht, die möglicherweise darauf hindeuten könnten, dass er an einer Vergewaltigung beteiligt war. Nichts.« »Er hätte sie fesseln können, ehe er sie …« Beamon schaute hinüber zu Emory, die auf dem Sofa auf und ab hüpfte. »Ehe er, Sie wissen schon …« Fontain schwieg einen Moment verwirrt. »Ehe er sie vergewaltigt hat?« »Ja.« »Der einzig bequeme Platz dafür scheint das Bett im Wohnwagen zu sein. Es gab weder Spuren an den Bettpfosten noch irgendwo Fasern, die von einem Seil stammen könnten. Wir haben allerdings im Generatorschuppen ein Seil gefunden, auf dem eine Menge Blut war, aber ich vermute stark, dass es von einem Hirsch, einem Elch oder so was stammt. Positiv ist jedenfalls, dass dieser Kerl offenbar seit Wochen nicht geduscht hat. Wenn er also näheren Kontakt mit Jennifer gehabt hat, werden wir das feststellen können.« »Aber Sie haben nicht besonders viel Hoffnung.« 122
»Ich glaube nicht, dass sie hier war, Mark.« »Scheiße. Hören Sie, Trace. Sorgen Sie dafür, dass die Polizei ein weiträumigeres Gebiet durchkämmt. Und fordern Sie dieses Flugzeug für Infrarotaufnahmen an. Man soll noch einmal Fotos der Gegend machen. Passal streifte seit Jahren dort durch das Land. Er könnte sie ganz woanders versteckt haben. Ich denke zwar, Sie haben Recht, aber sicher ist sicher, okay?« »Danach kann ich heimfahren?« »Dann können Sie heimkommen.« Beamon legte das Telefon auf und beugte sich über die Theke. »Emory? Ich geb dir ein Plätzchen, wenn du für eine Weile auf Kanal Sieben schaltest.« Sie reckte ihren Hals, bis sie über den Rand der Sofalehne schauen konnte. »Was läuft denn da?« »Die Nachrichten.« »Iiiih«, sagte sie und rümpfte ihr Näschen. Verdammt. Er hatte gedacht, es sei eine narrensichere Methode, ihr einen Keks anzubieten. Was sollte er jetzt tun? »The Tick ist gerade dran«, sagte sie hoffnungsvoll. »Ich … ich würde lieber für ein paar Minuten die Nachrichten sehen.« Sie zuckte die Schultern und schaltete ohne weiteren Widerspruch auf Kanal Sieben. Beamon lächelte. Na bitte, das war ja ganz einfach. Ein Plätzchen für die Nachrichten, eins dafür, dass sie ins Bett ging, und er hätte immer noch genug, um ins Zuckerkoma zu fallen, während er auf Carries Rückkehr wartete. »Willst du auch Milch?«, fragte er. Emory wälzte sich auf dem Sofa herum, sodass er nur 123
noch ihre Füße sehen konnte, die über die Rückenlehne ragten. »Mom sagt, ich darf keine Plätzchen essen.« »Keine Plätzchen essen? Hätte ich mir denken können«, murmelte er. »Armes Kind.« Er holte sich ein Bier und setzte sich in den Sessel. Die Nachrichtensendung fing gerade an. »Warum bin ich ein armes Kind?« Beamon hätte sich fast verschluckt. Wahrscheinlich würde sie dieselbe Frage bei erster Gelegenheit auch Carrie stellen, die nicht lange brauchen würde, um herauszufinden, von wem das stammte. »Habe ich nicht gesagt.« Ehe Emory widersprechen konnte, kam ihm der Nachrichtensprecher zu Hilfe. »Mark Beamon wollte sich nicht über die laufenden Ermittlungen im Entführungsfall Jennifer Davis äußern …« Emory hatte bei seinem Namen aufgehorcht. Sie wälzte sich herum und rutschte so weit nach vorn, dass sie halb auf der Schachtel hing, die ihm als Tisch diente, und quietschte aufgeregt. Ein kurzer Filmbeitrag wurde gerade eingespielt, in dem eine Gruppe von Reportern ihn mit Fragen bestürmte, als er aus der Eingangstür seines Büros kam. »Das bist ja du! Du bist im Fernsehen!« »Bin ich.« »Mommy war auch mal im Fernsehen, aber das war richtig langweilig.« Auf dem Schirm erschien wieder der Nachrichtensprecher. Hinter ihm sah man ein großes Foto des Gebäudes, in dem das FBI-Büro von Flagstaff untergebracht war. Beamon stöhnte unterdrückt, als der Sprecher verkündete, man habe aus vertraulicher Quelle erfahren, dass möglicherweise ein 124
Mädchenhändlerring in der Gegend von Flagstaff sein Unwesen treibe. Der Hintergrund mit dem Bürogebäude verblasste gekonnt, stattdessen erschien ein Bild von Jennifer Davis in einem schwarzen bauchfreien Top und hautengen Radlerhosen, während der Nachrichtensprecher sich anzüglich über reiche Araber und ihre Vorliebe für knackige junge Blondinen ausließ. Beamon schüttelte ungläubig den Kopf. Es reichte den Medien nicht, dass ein fünfzehnjähriges Mädchen vermisst wurde und möglicherweise tot war. Nein, die ganze Sache musste mit etwas Sex aufgepeppt werden, um den Werbekunden noch dickere Schecks zu entlocken. Er schaute hinüber zu Emory und deutete auf den Fernseher. »Du glaubst doch nichts von dem, was du in diesem Kasten siehst, oder?« Sie schaute ihn an, als sei er verrückt geworden. »Klar.«
SECHZEHN »Hallo, D. Wie geht’s Ihnen an diesem gottlosen Morgen?« Beamon stieß seinen Schirm auf den Boden, um den Schnee abzuklopfen. »Mir geht’s gut«, entgegnete sie etwas zögernd. »Wie war es in Utah?« »Irre. Stimmt was nicht?« »Nun, ich habe gute Neuigkeiten, und schlechte.« Beamon zog eine Grimasse. D. hasste es, schlechte Neuigkeiten zu überbringen, also phantasierte sie sich immer ir125
gendwas Positives zurecht, um ihn wieder aufzumuntern. »Die schlechten Neuigkeiten zuerst, bitte.« »Ich konnte sie nicht mehr länger abwimmeln.« Beamon beugte sich etwas vor und spähte durch die offene Tür seines Büros. Ein hoher blonder Haarschopf ragte aus dem Sessel vor seinem Schreibtisch. »Ich nehme an, dieses Haar gehört zu Nell Taylor.« Sie nickte. »Tut mir Leid.« Nell und ihr Ehemann Tom waren die Nachbarn der Familie Davis und hatten mit ihren beträchtlichen finanziellen Mitteln eine private Suchaktion nach dem vermissten Mädchen und ihren Entführern gestartet. Sie hatte es offenbar zu ihrem Lebensinhalt gemacht, dafür zu sorgen, dass fast jede Stadt, jeder Ort und jede Kreuzung in den USA mit Plakaten gepflastert war, auf denen Jennifers Gesicht prangte. Dazu hatte sie eine regelrechte Armee von Privatdetektiven angeheuert, die überall in Flagstaff herumschwirrten. Und vor allem redete sie wahnsinnig gern mit der Presse. »Und was sind die guten Neuigkeiten?«, fragte Beamon. Seine Sekretärin deutete auf den Terminkalender. »Sie haben heute Morgen zwei Stunden frei. Ich habe ihr erzählt, Sie hätten fünfzehn Minuten.« Beamon betrat sein Büro mit einem breiten Lächeln. »Mrs. Taylor! Ich bin wirklich froh, dass wir es endlich geschafft haben, uns mal zu treffen.« Sie erhob sich aus dem Sessel. Als ihr rundliches Gesicht unter der Haarpracht zum Vorschein kam, streckte Beamon die Hand aus. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Mr. Beamon.« Ihr Ton war ausgesprochen kühl. 126
Beamon ließ Mantel und Schirm neben den Schreibtisch fallen und ging zur Kaffeemaschine. »Kann ich Ihnen eine Tasse anbieten, Mrs. Taylor?« »Nein, danke.« »Ich war vor ein paar Tagen in einer kleinen Stadt in Utah. Im Büro des dortigen Sheriffs hing ein Plakat mit Jennifers Bild«, sagte er und setzte sich in den Sessel neben ihr. »Ich nehme an, es war eines von Ihren. Eine ziemliche Leistung, die Plakate so rasch und derart weit zu verbreiten.« Sie überhörte das Kompliment. Zumindest reagierte sie nicht darauf. »Was kann ich denn für Sie tun, verehrte Mrs. Taylor?« Ungeduldig strich sie ihr graues Kostüm glatt und faltete die Hände über dem braunen Umschlag in ihrem Schoß. »Ich wollte hören, welche Richtung Sie bei diesen Ermittlungen einschlagen, Mr. Beamon.« »Mark, bitte.« Erneut reagierte sie gar nicht. »Wir machen uns einige Sorgen.« »Wir?« »Die Initiative ›Rettet Jennifer Davis‹.« »Die Initiative ›Rettet Jennifer Davis‹«, wiederholte Beamon. »Aha. Und was sind das konkret für Sorgen?« »Haben Sie gestern Abend die Lokalnachrichten gesehen? Kanal Sieben?« Beamon überlegte für einen Moment. »Ja, habe ich.« »Was wollen Sie in dieser Hinsicht unternehmen?« Beamon setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. »Nun, Mrs. Taylor, so gern ich es möchte, kann ich leider nicht einfach losziehen und Reporter erschießen.« 127
»Mr. Beamon«, erwiderte sie gereizt, »Sie finden das vielleicht sehr komisch, aber ich kenne Jennifer. Sie ist ein wundervolles Mädchen …« Abrupt verstummte sie und schien wieder zurückzuschalten zu ihrem offenbar vorher zurechtgelegten Text. »Wir sind sehr besorgt, dass Jennifer in diesem Moment womöglich auf schlimmste Weise von arabischen Terroristen … missbraucht wird, während das FBI einen unschuldigen siebzehnjährigen Jungen schikaniert.« Beamon fragte sich, ob dieser Fall eigentlich noch schlimmer werden konnte. Er hatte keinen einzigen vernünftigen Verdächtigen und fand nicht mal ein halbwegs plausibles Motiv, das zu den Fakten passte, und jetzt wollte ihm eine Frau mit Bienenkorbfrisur auch noch erklären, wie er seine Ermittlungen durchzuführen hatte. Früher hatte man mal so etwas wie Respekt vor einem FBI-Agenten gehabt. »Ich nehme an, Sie sprechen von Jamie Dolan«, sagte er. Sie nickte knapp, und ihre Frisur wackelte gefährlich. »Sie müssen verstehen, Mrs. Taylor, dass das FBI bei seinen Ermittlungen nicht bloß einer Spur nachgeht. Nur weil wir mit Jamie geredet haben, bedeutet das nicht, dass wir andere Spuren außer Acht lassen. Wir müssen eben alle nur denkbaren Aspekte berücksichtigen.« Mrs. Taylor schien etwas einwenden zu wollen, aber Beamon ließ sie gar nicht zu Wort kommen. »Ich muss Ihnen allerdings der Vollständigkeit halber sagen, bislang deutet nichts auch nur im Entferntesten darauf hin, dass ein Mädchenhändlerring im Gebiet von Flagstaff sein Unwesen treibt. Im Gegenteil, wenn man sich die Unterlagen anschaut, hat es relativ wenige unaufgeklärte Entfüh128
rungen von Mädchen und Frauen gegeben, die …« Er wollte gerade sagen, »gut verkäuflich gewesen wären«, überlegte es sich aber rechtzeitig anders. »Die dem Profil entsprechen würden. Offen gesagt, ich weiß nicht, woher man diese Story hatte. Ich vermute, das alles ist komplett erfunden.« Sie ergriff den Umschlag in ihrem Schoß und reichte ihn Beamon. »Ich habe in dieser Sache eine Psychologin zurate gezogen, Mr. Beamon. Sie ist eine der besten auf dem Gebiet. Und von ihr kam der Hinweis auf diese arabische Verbindung.« Diese arabische Verbindung. Was für ein aufgeblasenes Geschwätz. Beamon sah vor sich das Bild einer Frau mit einem grellbunten Kopftuch, die in eine Kristallkugel stierte. »Danke für die Information, Mrs. Taylor. Ich lasse sie sofort von meinen Leuten überprüfen.« Beamon winkte Chet Michaels, der seit fünf Minuten draußen vor seinem Büro lauerte. »Ehe Sie gehen, Mrs. Taylor, möchte ich Ihnen jemanden vorstellen. Das ist Chet Michaels. Er arbeitet mit mir bei dieser Ermittlung zusammen.« Sie stand auf und schüttelte seine Hand. »Nett, Sie kennen zu lernen, Mrs. Taylor«, sagte Michaels, dem anzusehen war, dass er wusste, mit wem er es zu tun hatte. »Ist mir ein Vergnügen.« »Mrs. Taylor ist die Vorsitzende der Initiative ›Helft Jennifer Davis‹.« »Rettet«, verbesserte sie. »Entschuldigung, das meinte ich natürlich. Chet ist mit allen Details des Falles vertraut, Mrs. Taylor. Und er ist wahrscheinlich sehr viel leichter zu erreichen als ich. Sollten Sie 129
irgendwelche Fragen oder ein Anliegen haben, rufen Sie ihn nur ungeniert an.« Erneut nickte sie kurz, ehe sie wortlos aus dem Zimmer stolzierte. »Herzlichen Dank, Mark. Ich habe so das Gefühl, dass ich mit dieser Dame noch sehr viel Zeit am Telefon verbringen werde.« Beamon reichte Michaels den Umschlag, den sie ihm gegeben hatte, und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Besser Sie als ich, mein Junge. Schauen Sie sich das Zeug in diesem Umschlag möglichst mal an. Ich schätze, die Dame wird Sie danach ausfragen, wenn sie heute Nachmittag anruft. Also, was haben Sie über Passal?« »Ich habe mit den Jungs in Utah noch nicht gesprochen …« »Aber ich. Durchweg negativ. Keine Spuren, dass Jennifer dort war, und nichts Eindeutiges, was seinen Tod betrifft.« »Wir haben von einem Mechaniker Passals Laster untersuchen lassen«, sagte Michaels. »Das Ding sieht aus, als habe es eine Spitzengeschwindigkeit von dreißig Meilen pro Stunde, und der Auspuff raucht wie ein Schlot.« »Irgendwelche Unterlagen, dass er einen Wagen gemietet hat?« »Nichts. Wir haben seinen Namen und die Personenbeschreibung bei allen Mietwagenfirmen in der Gegend verteilt. Nichts. Und keine der Unterschriften auf Mietverträgen während der fraglichen Zeitspanne passt zu seiner Handschrift. Der Kerl hatte nicht einmal eine Kreditkarte.« »Finden Sie raus, welche Straßen er nach Flagstaff genommen haben könnte, und rufen Sie die Verkehrspolizei an. Vielleicht erinnert sich irgendjemand an einen Kleinlas130
ter, der den Highway entlangkroch und Rauch spuckte.« Beamon lehnte sich in seinem Sessel zurück und klopfte rhythmisch mit seinem Stift auf den Schreibtisch. »Woran denken Sie, Mark?« »Ich würde jederzeit darauf wetten, dass Passal mehr wusste, als er uns gesagt hat. Aber was? Für wen hat er uns gehalten, und wie hat er plötzlich gemerkt, dass wir es nicht waren? Und warum zum Teufel hat er sich gerade diese Woche ausgesucht, um ins Jenseits abzuhauen?« »Sie glauben, er war vielleicht nicht direkt in die Sache verwickelt, aber er wusste etwas und wurde deshalb umgebracht?« Beamon zuckte die Schultern. »Wäre möglich. Ich meine, wir suchen ihn auf, um mit ihm zu reden, und kurz darauf fällt er von einer Leiter, die er schon tausend Male runtergestiegen ist. Wissen Sie, Chet, bei Todesfällen sind es eigentlich immer dieselben Ursachen, nämlich …« »Sekunde, das muss ich mir aufschreiben. Ich komme ja mit all Ihren Listen kaum mit.« »Was für Listen?« »Warum man jemand kidnappt, weshalb jemand stirbt …« Beamon lachte. »Mir war gar nicht klar, dass ich so viele habe. Aber diese Liste ist einfach. Sie finden es bestimmt selbst heraus. Es sind insgesamt vier Punkte.« Michaels kaute auf seinem Radiergummi. »Okay. Mord, Unfall, natürliche Ursachen – und … und …« »Selbstmord.« »Stimmt. Selbstmord.« »Damit es interessanter wird, schließen wir mal natürliche Ursachen aus. Ist zwar möglich, aber irgendwie langweilig.« 131
»Na ja … er hatte einen Nagel im Hinterkopf, Mark. Sind dadurch natürliche Ursachen nicht irgendwie automatisch ausgeschlossen?« »Nein. Was ist, wenn man bei der Autopsie herausfindet, dass er eine Herzattacke bekam, während er die Leiter hinunterkletterte, und tot war, bevor er auf den Boden traf?« Michaels schaute auf seine Schuhe. »Sie haben Recht.« »Wo war ich … ach ja. Selbstmord. Wäre durchaus denkbar – das FBI ist hinter ihm her, also bringt er sich um. Aber sich dazu rückwärts eine Leiter runter in einen Nagel zu stürzen, scheint mir ziemlich kompliziert. Wahrscheinlich würde man eher an Wundstarrkrampf sterben, bevor man den Nagel richtig trifft. Damit bleiben also Unfall und Mord. Und ein Unglücksfall ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt erscheint mir doch zu unwahrscheinlich.« Beamon seufzte und deutete auf den blauen Ordner, den Michaels beim Hereinkommen auf den Schreibtisch gelegt hatte. »Okay, genug von dieser geistigen Masturbation. Was ist da drin?« Michaels grinste. »Das wird Ihnen endgültig den Tag vermiesen, Mark. Wir haben die wirkliche Identität von Jennifers Mutter herausgefunden. Sie hatte vor der Heirat ihren Namen viermal geändert – und ist jedes Mal woanders hingezogen.« »Haben Sie nachgeprüft, ob sie gesucht wurde?« »Jawohl. Wurde sie aber nicht.« »Also, wer war sie?« Michaels machte eine dramatische Pause. »Ihr Name war Carol Kneiss.« Beamon stutzte. »Wie unser hiesiger Messias?« 132
»Ganz genau. Carol war nämlich seine Tochter, und Jennifer ist seine Enkelin.« Beamon schaute über die Schulter des jungen Agenten und beobachtete durch das Fenster, wie zwei Arbeiter mit einem dicken Bündel bunter Drähte hantierten, das von der Decke hing. »Was meinen Sie, Mark? Gibt es da eine Verbindung?« Beamon atmete tief durch und zuckte die Schultern. »Scheiße, ich habe keine Ahnung. Weiß nicht allzu viel über die Kneissianer, außer dass sie bei Hochzeiten gutes Essen servieren. Aber Sie sind doch aus Tuscon und müssten sich auskennen.« Michaels überlegte kurz. »Ich erinnere mich noch an den Wirbel, als sie Flagstaff zu ihrem Hauptsitz machten – da war ich in der Junior-Highschool. Es gab einen richtigen Aufstand der Wiedergeborenen Christen. Gotteslästerliche Sekte, Satanisten – eben das, was sie über jeden sagen. Aber dann verstummte plötzlich alle Kritik. Vielleicht fand man, es sei unchristlich, die Kneissianer zu vertreiben. Seither haben sie halb Arizona aufgekauft und drei Viertel von Flagstaff. Und über Kneiss’ Himmelfahrt wissen Sie ja sicherlich Bescheid.« Beamon verdrehte die Augen. Wenn man in Flagstaff lebte, hörte man mindestens einmal am Tag davon. »Er soll dieses Jahr seinen Platz zur Rechten Gottes einnehmen. Am Karfreitag, nicht wahr? Übersetzung: Sie können den alten Knacker nicht länger am Leben halten. Er muss … ungefähr hundertfünfzig sein, oder?« Michaels zuckte die Schultern. »Er ist ziemlich alt. Ich glaube, man hat ihn seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen.« 133
»Hat er irgendwelche lebenden Angehörigen, abgesehen von Jennifer?« »Nicht dass ich wüsste.« Beamon kippte den Rest seines lauwarmen Kaffees hinunter und stand auf, um seine Tasse nachzufüllen. »Ich weiß nicht, Chet, es lohnt sich vielleicht, der Sache nachzugehen. Was ist, falls irgendein kneissianischer Eiferer von Jennifers Existenz erfahren hat? Kneiss will in einem Monat sterben, und dieser Kerl kann damit nicht fertig werden, dreht durch und sagt sich, dass Jennifer wenigstens ein halbwegs passabler Ersatz für ihren Opa ist.« »Wäre denkbar«, nickte Michaels begeistert. »Religion hat schon manchen dazu getrieben, etwas zu tun, was er normalerweise nie tun würde.« »Okay, Chet. Sammeln Sie doch mal unauffällig einige Informationen über die Kirche. Nur, was ohne weiteres erhältlich ist, keine offiziellen Nachforschungen. Vielleicht bringt uns das tatsächlich auf eine Fährte.« Beamon wischte einen kleinen Kaffeespritzer mit dem letzten Papiertuch auf, während Michaels seine Ordner zusammenkramte. »Oh, noch was, Chet. Vorerst kein Wort darüber zu irgendjemandem. Wenn die Zeitungen davon Wind kriegten, würden sämtliche Irren Arizonas über mich herfallen.«
SIEBZEHN Beamon bog in die sorgsam freigeschaufelte Auffahrt ein und hielt neben einem alten, aber gepflegten Ford Explorer. Fast 134
eine halbe Stunde zu spät. Er eilte auf das kleine weiße Haus zu und tastete seine Taschen ab, ob er auch Block und Stift dabeihatte. Die Tür öffnete sich, noch ehe er klopfen konnte. »Mark Beamon. Wieso wusste ich, dass Sie zu spät kommen würden?« Er hatte Marjorie Dunham nur einmal vor Jahren bei einer Abschiedsparty zur Pensionierung eines gemeinsamen Freundes getroffen, aber sie hatte sich kein bisschen verändert. Ihr hellbraunes Haar war immer noch auf Schulterlänge geschnitten und ihr Gesicht fast gänzlich ohne Falten. Vermutlich, weil sie nur ungefähr einmal im Jahr lächelte. »Ich bin aus Texas«, entschuldigte sich Beamon. »In der arktischen Zone von Arizona habe ich beim Autofahren noch so meine Probleme.« »Aha. Nun, kommen Sie rein, ehe Sie erfrieren.« Beamon klopfte sich an einem Stein neben der Tür den Schnee von den Stiefeln und trat in das bescheidene Haus. Im nächsten Moment sprangen ihn zwei Labradors an. »Die beiden mögen Sie offensichtlich«, erklärte Marjorie. »Den meisten Besuchern beißen sie die Kehle durch.« Beamon streichelte die beiden Tiere und tappte Marjorie auf Socken hinterher, gefolgt von den Hunden, die ihn als bereitwilligen Streichler erkannt hatten. »Nehmen Sie Platz.« Marjorie deutete auf ein abgewetztes Sofa und setzte sich ihm gegenüber auf einen ziemlich unbequem aussehenden Stuhl. Die Hunde plumpsten zu seinen Füßen nieder, während er sich umschaute. Das Zimmer war ziemlich voll gestopft, aber offensichtlich hatte alles seinen Platz und seine Ordnung. 135
»Wie ich höre, haben Sie es bereits geschafft, in meinem alten Büro ein totales Chaos anzurichten«, sagte sie. Beamon seufzte und schüttelte den Kopf. Bis vor anderthalb Monaten war Marjorie die Vorsteherin des FBI-Büros von Flagstaff gewesen. Als sie in Pension gegangen war, hatte man es entsprechend aufgewertet, ohne dass ein Grund dazu bestand, außer dass es nun mit einem ASAC besetzt werden musste, was man ihm als Knochen vorgeworfen hatte. »Ich nicht. Dahinter stecken Layman und der Direktor. Zuerst habe ich gedacht, sie wollten nur, dass alles anständig aussieht, wenn ich endlich ein eigenes Büro kriege – aber mittlerweile glaube ich, sie wollen mich mit Farbdämpfen umbringen.« »Das würde ich ihnen zutrauen«, entgegnete sie, ohne eine Miene zu verziehen. »Also, was kann ich für Sie tun? Ich nehme nicht an, dass Sie Probleme damit haben, mit meinem Ablagesystem klarzukommen.« »Nein, D. hat alles ganz gut im Griff. Ich wollte mit Ihnen über die Kirche der Evolution reden.« »Aha? Warum beschäftigen Sie sich mit der Kirche?« Beamon hatte auf der Herfahrt lange darüber nachgedacht, was er ihr sagen sollte. »Ach, es ist nichts weiter. Wir beschäftigen uns mit einem Kerl, der möglicherweise Gelder von ihnen veruntreut hat, und dabei habe ich gemerkt, dass ich absolut keine Ahnung von der Kirche habe. Da fiel mir ein, dass Sie mir vielleicht helfen könnten. Sie waren … fünf Jahre hier, oder?« »Sechs. Ich hätte gedacht, Sie seien völlig mit dem Fall Jennifer Davis ausgelastet«, sagte sie und war offensichtlich erpicht darauf, mehr zu erfahren. 136
»Das bin ich auch. Aber da die Kirche hier in der Gegend politisch so gute Verbindungen hat, kann ich ihre Probleme nicht ganz ignorieren.« »Ja, das ist vermutlich klug. Was wissen Sie denn bislang über die Kirche?« »Fast nichts, muss ich zu meiner Schande zugeben.« »Kennen Sie irgendwelche Anhänger?« »Glaube nicht.« Beamon hatte auch wenig Lust darauf, irgendeinen Kneissianer näher kennen zu lernen. Ihr strahlender Optimismus und ihr frisch gebügeltes Aussehen gingen ihm ziemlich auf die Nerven. »Sie wissen also nicht einmal, was sie glauben?« Er zuckte die Schultern. »Dass dieser Kneiss Gott ist und nächsten Monat sterben und im Himmel herrschen wird oder so was.« »Falsch«, entgegnete Marjorie. »Die Kirche der Evolution lehrt, dass Gott alle zweitausend Jahre einen Boten zur Erde schickt, um der Menschheit seinen Willen zu verkünden.« »Und dieser Bote ist Albert Kneiss?« Sie nickte. »Jeder Bote Gottes war einst ein Mensch und auserwählt, Gott für eine gewisse Zeitspanne zu dienen, ehe er oder sie zur Belohnung in den Himmel aufgenommen wurde. Der Bote – nennen Sie ihn meinetwegen einen Erzengel –, den wir jetzt als Albert Kneiss kennen, erschien vor zweitausend Jahren als Jesus. Davor hatte er andere Namen, aber über seine früheren Inkarnationen haben sich keine Aufzeichnungen erhalten, abgesehen von ein paar Erwähnungen in der kneissianischen Bibel.« Beamon streichelte einem der Hunde mit dem Fuß den 137
Rücken und versuchte zu verdauen, was Marjorie ihm gerade erzählt hatte. »Also, Gott hat Kneiss hier runtergeschickt, und er hat eine neue Bibel geschrieben. Nur frage ich mich, wozu? Was stimmt denn nicht mit der alten?« »Die Sache ist ein wenig kompliziert.« Sie dachte kurz nach. »Mal sehen, wie ich Ihnen das erklären kann … Es ist einfach eine Sache des Kontextes. Wir Menschen sind immer noch zu beschränkt, um die Absichten Gottes ganz zu verstehen.« »Leuchtet mir ein.« »Aber wir sind nicht mehr so beschränkt wie die Menschen vor zweitausend Jahren zur Zeit Jesu.« »Das wage ich zu bestreiten«, warf Beamon ein. »Dann will ich es anders ausdrücken. Wir wissen mehr als sie – über uns selbst und die Welt um uns herum.« »Okay, das schon.« »Als der Erzengel, den wir unter dem Namen Albert Kneiss kennen, als Jesus erschien, musste er den damaligen Wissensstand berücksichtigen und Gottes Botschaft für … für Dumme verständlich machen. Das ist der Grund für die ganzen Paradoxien und Ungenauigkeiten in der herkömmlichen Version der Bibel.« Beamon rieb sich das Kinn. »Verstehe. Man kann den Urknall nicht Leuten erklären, die meinen, Blähungen würden von bösen Geistern hervorgerufen, die ihnen hinten reinkriechen.« Ein seltenes Lächeln huschte über Marjories Lippen, das jedoch viel zu rasch wieder verschwand, um Falten zu verursachen. »So hat es bestimmt noch niemand ausgedrückt, aber Sie haben völlig Recht.« 138
»Und nun ist Jesus als Albert Kneiss wieder erschienen und hat die Bibel entsprechend umgeschrieben, da wir in den letzten zweitausend Jahren ja doch einiges gelernt haben.« »Exakt. Der Kern von Kneiss’ Version unterscheidet sich nicht wesentlich von der traditionellen Bibel. Der radikale Unterschied besteht in seiner Auslegung und der Einbeziehung der modernen wissenschaftlichen, psychologischen und soziologischen Erkenntnisse.« »Sie ist inzwischen ganz schön gewachsen, nicht wahr?«, sagte Beamon. »Die Kirche? Sehr. Im Lauf des letzten Jahrzehnts ist die Mitgliederzahl ständig gestiegen, und nun sind es um die elf Millionen.« »Ziemlich eindrucksvoll.« Beamon nickte. »Eigentlich beispiellos. Anscheinend gibt es sehr viele Christen, die Probleme mit den offenkundigen Unstimmigkeiten in der herkömmlichen Bibel haben. Kneiss’ Botschaft, dass Gott sich nicht geirrt hat, sondern wir nur zu dumm waren, um gleich die ganze Wahrheit auf einmal zu erfahren, hat sich als sehr attraktiv erwiesen.« »Und beobachten wir sie?«, fragte Beamon. »Sie meinen das FBI? Nein. Warum sollten wir?« Beamon wusste, dass es dazu keinen Grund gab. Er war nur schon immer etwas misstrauisch gewesen gegenüber großen religiösen Organisationen mit Millionen fanatisch frommer Mitglieder. »Erinnern Sie sich noch, wie wir vor ein paar Jahren diese Leute von der Finanzbehörde festgenommen haben, weil sie ein bisschen allzu neugierig manchen Steuerzahlern hinterhergeschnüffelt haben? Das waren doch Kneissianer? Haben wir je in diese Richtung ermittelt?« 139
Sie schüttelte den Kopf. »Drei der vier Verurteilten waren Mitglieder der Kirche. Aber wenn sie nun zufällig Katholiken gewesen wären? Hätten wir uns dann den Vatikan vorgeknöpft?« »Ich vielleicht schon«, erwiderte Beamon. »Nun, wir nicht. So was ist politisch sehr gefährlich in einem Land, das seit seiner Gründung die Religionsfreiheit staatlich garantiert.« »Was ist mit den Deutschen?« Beamon hatte zahlreiche Artikel gelesen über die Verfolgung der Kneissianer in Deutschland. Anscheinend gefiel es der deutschen Regierung gar nicht, eine Organisation, die so reich und mächtig war und daher nicht zu kontrollieren, in ihrem Land zu haben. »Die Deutschen haben aus irgendeinem Grund ein direkt krankhaftes Misstrauen gegenüber der Kirche und schikanieren unverhohlen ihre Mitglieder. Es ist schon sehr beunruhigend, wie ihr Umgang mit den Kneissianern an die Behandlung der Juden während des Krieges erinnert.« »Kennen Sie vielleicht irgendjemanden bei der Deutschen Botschaft, den ich mal anrufen könnte? Es würde mich interessieren, ihre Ansicht zu hören.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ihre Haltung gegenüber der Kirche hat in den Staaten große Empörung hervorgerufen und für das Ansehen der Deutschen verheerende Folgen gehabt. Ich bezweifle, dass Sie jemanden finden werden, der bereit wäre, darüber zu reden.« »Sie haben wahrscheinlich Recht.« Beamon schaute auf seine Uhr und stemmte sich aus dem Sofa hoch. »Ich muss weiter, Marjorie. Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert 140
haben.« Er atmete tief durch. »Es riecht, als sei Ihr Essen gleich fertig.« Sie stand auf und schüttelte ihm die Hand. »Ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie nicht bleiben wollen. Mein Mann macht wundervolle Kalbsschnitzel im Parmesanmantel.« »Würde ich liebend gern, aber ich kann nicht. Es wird Sie nicht überraschen, dass ich bereits zu spät dran bin für mein nächstes Treffen.« »Nein, eher nicht. Aber fahren Sie vorsichtig.« Beamon war schon an der Tür, als ihm plötzlich einfiel, dass er während ihrer gesamten Unterhaltung von ihr kein einziges abfälliges oder auch nur kritisches Wort gehört hatte. »Noch eines, Marjorie: Sind Sie Mitglied in der Kirche der Evolution?« Sie zögerte, kauerte sich zu ihren beiden Hunden und streichelte sie. »Ja. Ja, das bin ich.«
ACHTZEHN Es war Nacht. Die hohen dunklen Fenster wirkten in der weißen Wand wie erloschene Augen. Sara blieb an der Tür stehen und kauerte sich neben sie. »Ich muss dir etwas sagen, Jennifer. Hörst du zu?« Jennifer nickte stumm. Sie schaute auf die Maschinen rings um das schmale Bett und dann auf den alten Mann, der regungslos darin lag. »Weißt du, wer er ist?«, fragte Sara. »Nein.« 141
»Sein Name ist Albert Kneiss. Du kennst den Namen, nicht wahr?« Natürlich kannte sie ihn, aber im Moment war sie viel zu durcheinander, um richtig denken zu können, deshalb versuchte sie sich daran zu erinnern, was sie über Kneiss und seine Kirche wusste. Sie hatte den Großteil ihres Lebens in Flagstaff verbracht; viele ihrer Freunde – einige ihrer besten Freunde – waren Kneissianer. »Ja«, sagte sie schließlich. »Gut. Das ist gut, Jennifer.« Sara nahm ihre Hand und streichelte sie sanft. Obwohl Jennifer sich sagte, dass diese Frau eine Lügnerin war – und gefährlich –, brachte sie es nicht fertig, sie wegzustoßen. Sie war so einsam, und Sara war alles, was sie hatte. In der abgeschlossenen Welt dieses kleinen Raums fiel es ihr schwer, Minuten von Stunden und Stunden von Tagen zu unterscheiden. Nur Saras Besuche erinnerten sie daran, dass die Zeit noch existierte und es eine Außenwelt gab. »Ich weiß, es ist schwer für dich, ganz allein in diesem Zimmer zu bleiben«, sagte Sara, als habe sie ihre Gedanken gelesen. »Aber du bist im Moment in großer Gefahr, und auf diese Weise kann ich dich am besten beschützen. Das verstehst du doch, nicht wahr? Du verstehst, dass ich dich bloß schützen will?« »Ja«, murmelte Jennifer verwirrt. Was wollte diese Frau? Und warum sollte sie noch einmal mit einem Mann sprechen, von dem viele Leute glaubten, er sei Gott? Sara stand auf und führte Jennifer an sein Bett. Er atmete noch mühsamer als das letzte Mal, und an dem leisen Klicken einer Maschine, das bei jedem Atemzug ertönte, merkte sie, dass es ihm nicht mehr aus eigener Kraft gelang. 142
Regungslos schaute Jennifer zu, wie Sara erneut eine Spritze in den durchsichtigen Schlauch stieß, der in seinem Arm steckte, und betrachtete die Maschinen. An die Rückseite des Herzmonitors waren Papiere geheftet – Kalenderseiten! Mit klopfendem Herzen ging sie leise ein Stückchen nach rechts. Sara war völlig in ihre Aufgabe vertieft und beobachtete nur das Gesicht des alten Mannes. Nach einem weiteren kleinen Schritt konnte sie die beiden Seiten lesen. Es waren die Monatsblätter Februar und März. Jennifer reckte sich etwas ängstlich vor und überflog die Eintragungen in den kleinen Kästchen, um dort vielleicht einen Hinweis zu finden, der ihr verraten würde, wo sie war und warum. Aber es waren nur Pläne für Medikamentengaben und Behandlungshinweise. Rasch ging sie doch noch etwas näher, als die Töne des Herzmonitors unregelmäßiger und schneller wurden. Auf dem Display stand: Donnerstag, 27. Februar, 19.32. Unauffällig kehrte sie an ihren Platz zurück. Auf das kurze Hochgefühl über ihren kleinen Triumph folgte im nächsten Moment dumpfe Verzweiflung. Sie war seit anderthalb Wochen hier! Die Lider des alten Mannes flatterten, und Jennifer beobachtete, wie sein graues Gesicht die maskenhafte Starre verlor, als seine Augen sich öffneten. Er atmete angestrengt, aber aus eigener Kraft, und streckte ihr die Hand entgegen. »Jennifer. Du ahnst nicht, welchen Frieden mir dein Anblick bringt.« Diesmal ging sie ohne Aufforderung zu ihm und nahm seine Hand. Trotz der Erinnerungen an ihre Eltern, trotz ih143
rer Einsamkeit und Verwirrung breitete sich ein Gefühl der Ruhe in ihr aus, als sie in das uralte Gesicht schaute. Mühsam hob er den Kopf aus den Kissen und schaute sich im Raum um. »Wo sind die anderen?« Sara kniete sich neben das Bett und legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter. »Wir haben einen Schneesturm, Albert. Niemand konnte kommen.« Die Falten auf seinem Gesicht wurden noch tiefer, während er offenbar überlegte. »Vielleicht wäre es dann am besten, zu warten. Sie müssen es alle hören. Sie müssen es alle verstehen.« Sara streichelte seinen fast kahlen Kopf. »Ich glaube nicht, dass wir noch länger warten können, denn du wirst immer schwächer. Wenn du etwas Wichtiges zu sagen hast, solltest du es jetzt sagen.« »Sara. Meine Sara.« Er lächelte schwach und schaute wieder zu Jennifer, die angespannt wartete. Jetzt würde sie endlich herausfinden, was mit ihr passiert war. Sie konnte es direkt spüren. »Du hast natürlich Recht«, sagte er. »Wie so oft. Du hast mehr für die Verbreitung meiner Botschaft getan, als ich je hoffen konnte. Ich bitte dich, mir noch einmal zu helfen.« Sie küsste seine Wange und ging zur Seite, wobei sie Jennifer mit einem Blick streifte, der ihr verriet, dass sie alles genau beobachten würde. »Du weißt, wer ich bin, nicht wahr, Kind?« Jennifer nickte. »Sie sind Albert Kneiss. Die Leute glauben, Sie seien von Gott geschickt worden.« Wieder lächelte er. »Das ist richtig. Gott hat mich wirklich hierher geschickt. Um die Menschen zu lehren, ihn besser zu verstehen. Und sich selbst.« 144
Sie konzentrierte sich auf das Gesicht des alten Mannes und vergaß den starken Geruch nach Staub und Desinfektionsmitteln, der von ihm auszugehen schien. »Sie sehen nicht aus wie ein Engel«, hörte sie sich sagen. Er lachte, doch in seinem geschwächten Zustand klang es wie ein ersticktes Keuchen. »Nein, vermutlich nicht.« Kneiss deutete mit seiner freien Hand auf ein abgegriffenes in Leder gebundenes Buch, das neben ihm lag. »Nimm das. Es gehört jetzt dir.« Jennifer setzte sich aufs Bett, beugte sich über den alten Mann und zog vorsichtig das Buch unter seiner Hand hervor. Sie hatte es schon viele Male gesehen. Im Fernsehen, in Buchläden, bei Freunden und Nachbarn. Die goldenen Lettern auf dem Einband waren fast ganz abgerieben, aber immer noch lesbar. Die Heilige Schrift Kneiss-Ausgabe Jennifer öffnete es und blätterte in den vergilbten Seiten. An den Rändern waren unzählige Notizen in einer eleganten Handschrift, die wahrscheinlich seine war. »Du wusstest wohl nicht, dass ich eine Tochter hatte, nicht wahr, Jennifer?« Sie schaute auf. »Ihr Name war Carol.« »Carol«, wiederholte Jennifer leise, während sie behutsam die Bibel schloss. »Und sie hatte ebenfalls eine Tochter«, fuhr der alte Mann fort. »Diese Tochter bist du.« 145
Jennifer sprang auf, wich langsam zurück und ließ das Buch zu Boden fallen. Man hatte ihr immer erzählt, dass ihre leiblichen Eltern tot seien und sie keine Verwandten habe. Aber jetzt wusste sie, dass das nur eine weitere Lüge gewesen war. Ihr gesamtes Leben hatte bloß aus lauter Lügen bestanden. Und nun stürzte das ganze Lügengebäude zusammen. »Als meine Tochter und ihr Ehemann starben – du warst damals noch klein –, wollte ich dich zu mir holen. Um dich in unserer Gemeinschaft großzuziehen. Um dich vorzubereiten.« Er schaute Sara an. »Sara hat mich davon überzeugt, dass das ein Fehler wäre. Dass es unmöglich für dich wäre, als ganz normales Kind aufzuwachsen, wenn du ständig umgeben wärst von Menschen, die wussten, wer du bist und was du werden würdest. Wenn ich dich jetzt sehe, weiß ich, dass sie Recht hatte.« Jennifer warf Sara einen kurzen Blick zu, während der alte Mann fortfuhr. »Eric und Patricia Davis waren zwei meiner ergebensten Anhänger. Und sie waren kinderlos. Wir entschieden, dass es das Beste für dich wäre, wenn du dich ganz natürlich entwickelst. Ohne meinen Einfluss oder den Einfluss der Kirche.« »Warum?«, stammelte Jennifer. »Warum haben Sie mir das angetan?« »Ich weiß, es ist hart, Jennifer, aber meine Zeit ist fast vorbei. Du verstehst das, nicht wahr? Dass ich nur noch kurze Zeit auf Erden habe?« Sie nickte benommen. Er sollte am Karfreitag sterben, genau wie Jesus. Das wusste jeder. »Nun, wenn ich nicht mehr bin, wird es an dir sein, die Kirche zu führen.« 146
NEUNZEHN »Entweder müssen Sie in Zukunft rechtzeitig heimkommen oder mir einen Schlüssel geben«, beschwerte sich Chet Michaels. »Ich bin von der Taille abwärts erfroren.« Beamon rückte die Sporttasche, die er über seine Schulter geworfen hatte, in eine etwas bequemere Position, während Michaels sich von der Treppe schälte. Seit seiner Highschoolzeit hatte er sich nicht mehr sportlich betätigt und auch dort eher als Ersatzmann seines Footballteams auf der Bank gesessen, doch im Zuge seines Programms zur Selbstverbesserung hatte er einen Privattrainer angeheuert und heute die erste Stunde absolviert. Allmählich ging ihm dieses neue Leben allerdings etwas auf die Nerven. Kein Nikotin, keine scharfen Drinks, dafür zitternde Beinmuskeln, dass er es vermutlich nicht mal mehr bis zu seiner Haustür schaffen würde. Ob sich eigentlich alle Gesundheitsfanatiker so beschissen fühlten und bloß gute Lügner waren? »Sie haben trainiert?«, fragte Michaels. »Wenn man sich den ganzen Alltagsstress mal gründlich rausschwitzt, fühlt man sich so richtig toll, nicht wahr?« Beamon warf ihm seine Sporttasche zu. »Klappe! Tragen Sie die lieber für mich hoch.« Michaels grinste und sprang geschmeidig die vereisten Stufen hinauf, während Beamon vorsichtig einen Fuß hob und nach dem Geländer fasste. »Alles in Ordnung, Mark?«, rief Michaels übermütig. Gott, wie er diesen jungen Kerl hasste. 147
Beamon spürte Michaels’ Blicke, als er durch sein Wohnzimmer zum Kühlschrank schlurfte. »Ich hatte vergessen, dass es Ihr erster Tag mit diesem Privattrainer war. Wie lief es denn? Ich finde ja, Sport ist großartig für …« Beamon warf Michaels einen stechenden Blick zu, woraufhin dieser lieber das Thema wechselte. »Mann, ich hätte heute Abend gut einen heißen Kaffee brauchen können. Ihre Nachbarin hat aber anscheinend beschlossen, diesmal kein Mitleid mit mir zu haben.« Beamon ließ sich aufs Sofa fallen und schob Michaels eine Flasche Bier zu. Der junge Agent zog einen Ordner aus dem kleinen Rucksack, den er über die Schulter geschlungen hatte. »Sie besucht ihre Mutter.« »Ach so. Wann kommt sie zurück?« »Weiß nicht«, log Beamon, der sehr genau wusste, dass sie übermorgen wieder daheim sein würde. Und wenn er bis dahin wieder einigermaßen humpeln konnte, hatte er die Absicht, seinen frisch gewaschenen Körper zu ihr hinüberzuschleppen und sie zu einer echten Verabredung einzuladen. »Fangen wir an, Chet. Ich will bloß noch ein paar Bier trinken und ins Bett.« »Wenn Sie müde sind, können wir auch …« »Nee, jetzt sind Sie schon mal hier, und ich fahre am Sonntag nach Washington. Bin nicht vor Montagnachmittag zurück.« »Was haben Sie denn dort vor?« »Nur eine Besprechung wegen unseres Etats«, log Beamon. 148
In Wahrheit musste er wieder einmal zu einer dieser sinnlosen Sitzungen im Zusammenhang mit einem Fall, den er vor fast sechs Monaten abgeschlossen hatte. Als eine Gruppe von gut organisierten Fanatikern beschlossen hatte, Amerikas Drogenproblem zu lösen, indem sie die Rauschgiftlieferungen vergifteten, war eines der ersten Opfer unglücklicherweise der Sohn eines einflussreichen Senators gewesen. Ursprünglich hatte man bei diesen Besprechungen darüber diskutieren wollen, wie man zukünftig verhinderte, dass noch einmal Tausende Süchtige starben. Inzwischen waren sie allerdings zu einem Forum für Senator James Mirth degeneriert, der lediglich irgendjemandem die Schuld an dem Tod seines Sohnes zuweisen wollte. Und wie es aussah, hielt er in erster Linie Beamon für verantwortlich. Michaels schien sich ein wenig unbehaglich zu fühlen, als er ihm einige Blätter reichte. Es waren kopierte Artikel, die über die Kirche der Evolution in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen waren. »Ich bin überwältigt«, sagte Beamon. »Wo ist der Rest?« »Im Moment gibt’s nicht mehr. Aber ich treibe bestimmt noch ein bisschen was auf.« Beamon überflog einen Artikel aus dem Wall Street Journal, in dem die Finanzkraft und der phänomenale wirtschaftliche Erfolg der Kirche beschrieben wurden, und blätterte die restlichen Artikel durch. In den meisten ging es um die Repressalien der deutschen Regierung gegen die Kneissianer. »Kommen Sie, Chet. Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass über eine Organisation mit elf Millionen Mitgliedern …« 149
Er warf einen Blick in den Journal-Artikel, »die ihr zehn Milliarden Dollar pro Jahr einbringen, ganze sieben Artikel geschrieben worden sind – von denen fünf über ihre Probleme im Ausland berichten? Das glaube ich nicht.« Michaels schien Beamons Skepsis vorausgesehen zu haben. »Ich bin die gesamte Kartei in der Bibliothek durchgegangen und habe nach der Kirche der Evolution gesucht, nach Albert Kneiss, Gott, Religionsgemeinschaften, Sekten, was Sie nur wollen.« »Und das ist alles, was Sie gefunden haben?« Michaels schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Es ist wahr, dass in Anbetracht ihrer Größe nicht viel über die Kirche geschrieben worden ist …« Er zog ein weiteres Blatt Papier aus der Tasche und reichte es Beamon. »Aber das ist vermutlich der Grund.« Es war eine Liste von Artikeln, die meist im Zusammenhang mit Verleumdungsklagen gegen verschiedene Medienkonzerne erwähnt wurden, unter anderem beispielsweise gegen ABC, die New York Times und Newsweek. »Na bitte«, sagte Beamon, »das ist eher das, was ich gesucht habe. Und wo sind diese Artikel?« »Weg.« »Weg?« »Ich bin in drei verschiedenen Bibliotheken gewesen. In den alten Ausgaben der Zeitungen und Zeitschriften fehlen die entsprechenden Seiten, und wenn sie auf Mikrofilm waren, fehlt der Mikrofilm. Ich habe Kopien direkt bei den Verlagen bestellt, aber das wird einige Zeit dauern.« Beamon nahm einen kräftigen Schluck Bier. »Ich schätze, wenn man elf Millionen ergebener Anhänger hat, ist es wei150
ter kein Problem, überall dort, wo die Öffentlichkeit darüber stolpern könnte, negative Artikel verschwinden zu lassen.« Michaels nickte. »Genau. Fällt Ihnen auf, dass die meisten, die ich finden konnte, mit den Deutschen zu tun haben?« »Das ist nur logisch«, erwiderte Beamon. »Amerika wurde von Menschen gegründet, die man wegen ihrer Religion verfolgt hat, und der Abscheu davor liegt uns geradezu in den Genen. Wenn ich die Kirche leitete, würde ich diese Geschichte auch nach Strich und Faden ausnutzen.« Das Telefon läutete, als Beamon gerade sein Bier austrank. Er hielt Michaels die leere Flasche hin und deutete auf die Küche in der Hoffnung, ein neues zu kriegen, ohne sich aus dem Sessel quälen zu müssen. Michaels nahm sie ihm ab und ging hinüber zum Telefon. »Eine Sekunde, bitte«, sagte er und reichte Beamon den Hörer. »Hallo?« »Mark? Jake Layman.« »Was kann ich für Sie tun, Jake?«, fragte Beamon zögernd. Sein neuer Chef hatte ihn noch nie zu Hause angerufen. Eigentlich hatten sie überhaupt nicht mehr miteinander gesprochen seit dieser unglückseligen Golfpartie. »Ich wollte mit Ihnen über den Fall Jennifer Davis reden, Mark. Mir ist heute eine recht beunruhigende Notiz auf den Schreibtisch gekommen.« Beamon hörte, dass Chet eine Flasche Bier öffnete, und streckte die Hand aus. »Was heißt beunruhigend, Jake?« »Angeblich sollen Sie im Zusammenhang mit diesem Fall die Kirche der Evolution unter die Lupe genommen haben.« 151
Beamon war etwas überrascht. »Von wem stammt denn diese Notiz?« »Das ist nicht weiter wichtig, Mark. Wichtig ist nur, ob es stimmt oder nicht.« Beamon spürte das kalte Glas der Bierflasche, die Michaels ihm in die Hand drückte. »Ich versuche, mehr über Jennifers familiären Hintergrund herauszufinden. Wie es aussieht, ist Albert Kneiss ihr einziger noch lebender Angehöriger – ihr Großvater.« Für einige Augenblicke herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Ich verstehe nicht, wieso das relevant für diese Ermittlungen sein soll, Mark.« Das überraschte Beamon nicht weiter. Layman verstand wahrscheinlich auch nicht, wieso Benzin dafür relevant war, dass sein Auto lief. »Na ja, da Kneiss nächsten Monat in den Himmel flattern soll, will sich vielleicht irgendein Irrer rechtzeitig seine Enkelin als Privatmessias sichern. Vielleicht hat sich Kneiss Feinde gemacht, oder womöglich hat die Kirche sogar …« »Hören Sie, Mark«, unterbrach Layman. »Ich weiß, es war hart für Sie, von Washington auf einen kleinen Posten in Flagstaff zu wechseln, aber Sie sind nun einmal hier gelandet und werden sich anpassen müssen. Wir haben es nicht mit einer religiösen Verschwörung zu tun, sondern mit einem Pädophilen oder einem verpfuschten Raubüberfall. Behalten Sie diese Linie im Auge. Die Medien verfolgen jeden unserer Schritte, und wir können uns keine Patzer leisten.« Beamon hielt den Hörer zu und atmete tief durch. Der alte Mark Beamon hätte jetzt darauf hingewiesen, dass seine Aufklärungsrate bei Entführungsfällen die beste beim gan152
zen FBI war und mindestens dreimal höher als die von Layman. Aber der neue Mark Beamon würde diese Situation gelassen und notfalls mit unverfrorenen Lügen meistern. »Ich wollte nur gründlich sein, Jake.« »Das ist auch ganz richtig, Mark. Ich weiß, Sie tun Ihr Bestes. Aber wir dürfen uns nicht in irgendwas verrennen. Nach den Vorfällen in Waco und Ruby Ridge möchte sicher niemand, dass die Presse wieder über uns herfällt. Bringen Sie das FBI nicht in Verlegenheit, klar, Sportsfreund?« »Ja, klar, Jake. Sie haben Recht.« »Also, rudern wir in eine Richtung?«, fragte Layman. Beamon verdrehte die Augen. Noch so eine Sportmetapher und er würde nach Phoenix fahren und Layman mit einem Hockeyschläger eins überbraten. »Na klar, Jake.« »Gut. Sehr gut. Ich wusste, ich kann mich auf Sie verlassen.« Beamon legte den Hörer auf und wandte sich zu Michaels um. »Was haben Sie sonst noch für mich?« »War das Layman?« »Mmmhm.« »Es gefällt ihm wohl nicht, dass wir die Kirche etwas unter die Lupe nehmen, was?« »War nicht begeistert darüber, nein.« »Dann lassen wir also die Finger davon?« »Warum? Wir haben ja gar nichts gemacht und schauen uns bloß alle Spuren an.« Beamon überlegte. »Trotzdem sollten wir bei sämtlichen Nachforschungen, die mit der Kirche zu tun haben, ein bisschen dezenter vorgehen. Okay?« Michaels nickte. »Also, wo waren wir?« 153
»Bei der Tatsache, dass kaum Infos über die Kirche aufzutreiben sind.« »Gibt’s nicht irgendein Buch über den Verein?« Beamon beugte sich eifrig in seinem Sessel vor. Ein schmerzlicher Stich schoss durch sein Kreuz. »Vielleicht von einem ehemaligen Kneissianer, der sauer darüber war, dass er nicht Gottes private Telefonnummer gekriegt hat oder so?« Michaels zog ein weiteres Blatt Papier aus seinem Rucksack und warf es auf die Schachtel, die als Tischchen diente. »Verrat an einem Messias: Albert Kneiss und seine Kirche. Von Ernest Willard.« »Ich wusste, Sie würden mich nicht enttäuschen, Chet. Wo ist es?« »Was?« »Das Buch.« »Seit Jahren vergriffen, und der Verlag existiert nicht mehr. Ich habe über einhundert Bibliotheken angerufen und vermutlich fünfzig Buchläden, die mit seltenen Büchern handeln – ohne Ergebnis. Selbst die Kongressbibliothek hat es geschafft, ihr Exemplar zu verlieren.« »Klasse. Was ist mit dem Autor?« »Hab überall nach ihm geforscht. Nichts. Ich habe es geschafft, seine Agentin aufzustöbern, doch sie hat seit Jahren nichts mehr von ihm gehört. Ich bleib aber an der Sache dran.« Michaels stand auf und zog seine Jacke an. »Daneben durchleuchten wir immer noch Passals Bekanntenkreis und ob Jennifer möglicherweise irgendeinen heimlichen Verehrer hatte. Außerdem überprüfen wir inzwischen auch Sexualstraftäter in benachbarten Bundesstaaten.« »Sind Sie in Eile?« 154
»Bin um halb neun mit meiner Freundin auf ein Bier verabredet. Wollen Sie nicht mitkommen? Es ist eine ganz nette Kneipe.« Er deutete auf die Flasche in Beamons Hand. »Und das Bier dort ist um Längen besser als dieses Gesöff.« Beamon schüttelte den Kopf. »Ich mag dieses Gesöff. Trotzdem, danke. Aber ich glaube, ich bleibe heute Abend lieber auf meiner Couch.« Seine Beine waren während ihres Gesprächs immer steifer geworden. Hoffentlich würden ein paar Bier seine armen Muskeln wenigstens so weit lockern, dass er es bis ins Schlafzimmer schaffte. »Dann bis morgen früh, Mark.« »Genau.« Beamon schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Sender, bis er auf dem Kanal der Kirche landete. Albert Kneiss stand auf einer indirekt angestrahlten Bühne und erläuterte, was Gott von den Menschen erwartete. »August 1969« lautete eine Einblendung in der unteren Ecke des Bildschirms. Die Qualität der Aufzeichnung war nicht besonders gut, es knisterte und rauschte; trotzdem wirkte Kneiss mit seinem ausdrucksvollen Gesicht und den bedächtigen Bewegungen ungemein faszinierend, und seine kräftige Stimme klang direkt hypnotisch. Selbst für einen alten Agnostiker wie ihn.
ZWANZIG Das alles würde es ohne sie gar nicht geben. Nichts, gar nichts. Sara Renslier stand in der kleinen Hauskapelle von Albert 155
Kneiss, der in einem abgelegenen Zimmer seine letzten Tage auf Erden verdämmerte. Durch die großen Deckenfenster drang das Mondlicht, und sie betrachtete das drei Meter hohe Kreuz über dem Altar. Sogar dieses Kreuz war ihre Idee gewesen. Ein Symbol, unter dem sich die Menschen versammeln konnten. Es ähnelte einem herkömmlichen Kreuz, um die christliche Bevölkerung des mächtigsten Landes der Welt nicht zu befremden, gleichzeitig war es in seiner stilisierten Art auch für die viel größere Anzahl Andersgläubiger annehmbar. In Gedanken versunken strich sie über den unteren Kreuzbalken und den glatten Stein des Altars. Sie war katholisch getauft, hatte katholische Schulen besucht, war zweimal die Woche zur Messe gegangen, einmal im Monat zur Beichte und durch und durch katholisch gewesen. Noch heute konnte sie sich an ihre erste Kommunion erinnern. Welche Ehrfurcht hatte sie bei diesem uralten Ritual in der kalten Kathedrale empfunden, die von einer übernatürlichen Atmosphäre erfüllt zu sein schien. Sie hatte sich ein College ausgesucht, das nicht zu weit entfernt lag, sodass sie die Verbindung zu ihrer Heimatgemeinde in den vier Jahren halten konnte, die sie für einen Abschluss in Betriebswirtschaft brauchte – und hatte sich sogar noch mehr engagiert. Gegen Ende ihres ersten Jahres war sie Mitglied bei den meisten katholischen Organisationen gewesen und besuchte die Messe fast täglich. Während dieser Zeit hatte sie plötzlich immer deutlicher die Schwächen der katholischen Kirche gesehen. Viele der alten Dogmen und Vorschriften schienen noch aus längst vergangenen, abergläubischen Zeiten zu stammen. Die Pries156
ter, von denen sie immer geglaubt hatte, sie seien allen anderen Menschen spirituell überlegen, kamen ihr rückständig vor, und es schien sie gar nicht zu kümmern, dass die Kirche auf der Stelle trat. Immer mehr hatte sie im Lauf ihres Studiums die Idee fasziniert, eine Kirche nach Erkenntnissen der modernen Wirtschaftswissenschaften zu führen. Sie wählte sich dieses Thema für ihre Abschlussarbeit und schrieb eine ausführliche Analyse der Fehler, die alle großen Weltreligionen begangen hatten, um anschließend einen Plan – im Nachhinein gesehen eher eine rohe Skizze – zu entwerfen, wie man eine Kirche führen müsste, damit sie sozusagen eine marktbeherrschende Position einnahm. Ihr Professor, ein junger Mann mit Pferdeschwanz und runder Nickelbrille, der schon allein dadurch von den Studenten kaum zu unterscheiden war, hatte ihr die Bestnote gegeben. Daneben hatte er in dicken Buchstaben gekritzelt: »Spitze!« Kurz nach ihrem Abschluss hatte sie allen Mut zusammengenommen und ihrem Gemeindepfarrer ihre Ideen vorgelegt. Sie hatte ihm erklärt, dass die katholische Kirche durch eigenes Verschulden allmählich immer mehr Macht verlor, dass sie zu gleichgültig geworden sei und inzwischen längst keine Dienstleistung mehr anbot, an denen Menschen von heute noch interessiert waren. Er hatte ihr fast eine Stunde lang höflich zugehört, doch gar nichts begriffen, sondern lediglich mit irgendwelchen belanglosen Phrasen über Gottes Willen und die Weisheit des Vatikans geantwortet. Als sie ihm ihre Ansichten noch genauer erläutern wollte, hatte er ihr Hochmut und mangelnden Glauben vorgeworfen. 157
Hochmut und mangelnden Glauben! War es Hochmut gewesen, ihre Kirche retten zu wollen vor den rückwärts gewandten alten Männern, die sie zerstörten? War es mangelnder Glaube gewesen, alle Gaben nutzen zu wollen, die Gott den Menschen gegeben hatte, um seinen Willen möglichst effektiv zu erfüllen? Sara setzte sich auf die kalten Marmorstufen, die zum Altar führten. Sie war bitter enttäuscht gewesen, als sie das Pfarrbüro verlassen hatte, aber gleichzeitig wild entschlossen, dafür zu sorgen, dass man sie anhörte. Im Verlauf der nächsten Monate hatte sie buchstäblich Hunderte von Briefen an Kirchenführer und Laienorganisationen geschickt, in denen sie ihre Ideen erklärte und eindringlich um Reformen bat. Sie hatte kaum Antworten erhalten, meistens nur von Leuten, die sie kannte oder bei kirchlichen Veranstaltungen getroffen hatte. Ihre Briefe waren alle gleich – vorsichtig formuliert, voller Warnungen und Bedenken. Fast ein Jahr nach dem Gespräch mit ihrem zuständigen Gemeindepfarrer erhielt sie schließlich eine handschriftliche Mitteilung auf elegantem Briefpapier, dass der Bischof ihr eine Audienz gewähre. Richtig gut vorbereitet war sie zu diesem Termin gegangen, um ihn überzeugen zu können, aber sie hatte rasch entdeckt, dass es nicht um einen vertraulichen Austausch von Ideen ging, wie sie sich erhofft hatte. Fünf Kirchenfürsten hatten sie erwartet, gekleidet in die strengen Gewänder, die sich seit sechshundert Jahren nicht geändert hatten. Jeder hatte eine Kopie ihrer Abschlussarbeit vor sich liegen gehabt, die sie etlichen ihrer Briefe beigefügt hatte. Mit finsteren Mienen hatte man ihr einzelne, aus dem 158
Zusammenhang gerissene Punkte vorgehalten und sie des Atheismus beschuldigt. Am Ende hatte man vage mit Exkommunikation gedroht und angedeutet, falls sie ihre Sünden hier und jetzt bereuen würde, werde Gott ihr vergeben. Sie war wortlos gegangen. Ein paar Wochen später hatte sie alle Brücken hinter sich abgebrochen und einen Job in einer kleinen Wirtschaftsprüfungskanzlei im nördlichen Teil des Staates New York angenommen. Dort hatte sie begonnen, sich wie besessen mit Religion zu beschäftigen, und schließlich ihren Glauben verloren, nachdem sie zu dem Schluss gekommen war, dass die heutigen Religionen nichts weiter waren als ein Sammelsurium alter, primitiver Vorstellungen und nur dazu dienten, die Menschen zu unterdrücken. Die herrschenden Schichten hatten erkannt, dass Angst und gleichzeitig Hoffnung zu erzeugen eine wesentlich wirkungsvollere Methode war, als das Volk mit Schmerzen und Tod zu bedrohen. Im Lauf der Zeit war ihr Atheismus immer ausgeprägter geworden, und sie hatte angefangen, auf Menschen herabzusehen, die in ihrer Schwachheit den Glauben als Krücke brauchten, obwohl sie genau wussten, dass ihr kindisches Gottesbild eine Erfindung war, um sie fügsam zu machen. Aber sie hatten nicht den Mut, die Konsequenzen zu ziehen und sich davon zu befreien. Nein, sie fanden es leichter, sich mit den lächerlichen Widersprüchen der Bibel abzufinden und die Wahrheit zu ignorieren. Sie war rasch in der Firma aufgestiegen, machte beinahe permanent Überstunden und bildete sich in Abendkursen weiter. Ihr Chef, ein kleiner schwacher Mann mit beschränkten Fähigkeiten, übertrug ihr mehr und mehr Verantwortung. 159
Es war allgemein bekannt, dass er zu einer esoterischen kleinen Sekte gehörte, die in der Nähe von Lake Placid beheimatet war. Damals hatte sie so gut wie nichts gewusst über die junge Kirche oder ihren Führer Albert Kneiss, abgesehen davon, dass er behauptete, eine Reinkarnation von Jesus zu sein. Im Sommer 1975 war er kurz nach neunzehn Uhr mit einer Schachtel voller loser Blätter und Quittungen erschienen und hatte sie gebeten, die Führung der armseligen Konten der Kirche zu übernehmen. Obwohl sie nie über Religion gesprochen hatten, lud er sie zu einem Vortrag ein, den Kneiss in einem kleinen Saal in der Nähe hielt. Nur zögernd hatte sie angenommen, doch dieser Abend hatte alles verändert. Der Saal war nicht einmal halb gefüllt gewesen, und es hatte leicht nach Marihuana gerochen. Sie und ihr Chef – sie konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, obwohl sie meinte, sie habe kürzlich gelesen, dass er gestorben war – hatten sich auf zwei Klappstühle gesetzt, dann war das Licht gedämpft worden, und Albert Kneiss hatte die Bühne betreten. Langes weißes Haar umrahmte sein Gesicht, seine Bewegungen waren ruhig und abgemessen, und er sprach mit leiser Stimme. Trotz der schlechten Akustik drang sie jedoch deutlich bis zu ihrem Platz. Und es war alles andere als der bizarre und langweilige Abend gewesen, den sie erwartet hatte. Sie hatte damit gerechnet, dass ein größenwahnsinniger Spinner zusammenhangloses Zeug daherschwatzte, doch stattdessen vernahm 160
sie eine Botschaft, die das Christentum vom Aberglauben und allen dümmlichen Halbwahrheiten befreite und auf eine simple und elegante Weise Gott und die moderne Wissenschaft miteinander in Einklang brachte. Dieser charismatische Mann schien eine wundervolle Theologie mit einer ungeheuren Anziehungskraft entwickelt zu haben. Seine Ideen hatten das Potenzial, sich weltweit auszubreiten, da sie wie geschaffen waren für Menschen, die verzweifelt an etwas glauben wollten, sich aber genauso sehr wünschten, dass dieser Glaube die Welt widerspiegelte, in der sie lebten, und nicht eine längst vergangene Zeit. Sie erinnerte sich, dass ihr ein ungepflegter junger Mann an der Tür eine Taschenbuchausgabe von Kneiss’ Bibel gereicht hatte, als sie fast benommen in die kalte Nacht hinausgegangen war. Albert Kneiss hatte etwas getan, an das sie nie gedacht hatte. Er hatte genau mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft, die sie in ihrer Abschlussarbeit auf Religionsgemeinschaften übertragen hatte, ein völlig neues Gottesbild erfunden. Im Lauf der folgenden Jahre hatte ihr Chef alle ihre bisherigen Klienten an Kollegen übergeben, bis sie im Grunde ausschließlich für Kneiss und seine Organisation arbeitete, mit der sie sich immer intensiver beschäftigte, und sie begann, ihre Ideen zur Umgestaltung der katholischen Kirche so zu verändern, dass sie maßgeschneidert auf die unendlich flexiblere und fortschrittlichere Kirche der Evolution passten. Als sie schließlich ihr Konzept den sieben Ältesten präsentiert hatte, die der Kirche vorstanden, hatte sie gemerkt, dass sie genauso verbohrt waren wie die Priester, die sie mit Exkommunikation bedroht hatten. Zunächst hatte sie geglaubt, 161
es läge daran, dass sie kein Mitglied der Kirche war, deshalb war sie 1976 eingetreten, was allerdings nichts geändert hatte: Die Ältesten waren völlig unzugänglich geblieben. Bis in die letzten Einzelheiten konnte sie sich immer noch an den Tag vor fast zwanzig Jahren erinnern, als sie heimgekommen war und Albert Kneiss in ihrem Apartment vorgefunden hatte – der Mann, von dem manche glaubten, er sei der wiedergekehrte Jesus. Er trank eine Tasse Tee mit ihr und erzählte, Gott habe ihn angewiesen, sich ihre Ideen über die Zukunft seiner Kirche anzuhören. Schweigend und mit unbewegter Miene hatte er ihren Theorien über den Aufbau einer modernen Kirche gelauscht. Danach war er wortlos aufgestanden und zur Tür gegangen. Er hatte sie nicht hinter sich geschlossen, und sie vernahm seine Stimme aus dem Flur. »Sie werden meine Kirche ins nächste Jahrhundert führen, Sara.« Es hatte Monate gedauert, den Widerstand der Ältesten zu durchbrechen, die mit allen Mitteln gegen sie intrigierten. Als es ihr schließlich gelungen war, sich einen tieferen Einblick in die Struktur der Kirche zu verschaffen, war sie entsetzt gewesen. Es war eine Organisation, die am Rand des Bankrotts schwankte, angeführt von einer Gruppe unfähiger, zänkischer Esel, die nur um die Aufmerksamkeit ihres Messias buhlten und ihr völlig frei erfundene Finanzberichte vorgelegt hatten. Sie hatte Albert gemeldet, was sie herausgefunden hatte, doch er hatte nur ruhig gelächelt und gesagt, Gott habe ihn angewiesen, sich ganz seiner Aufgabe zu widmen, den Menschen die Wahrheit zu predigen. Es sei an ihr, die Kirche zu leiten, wie sie es für richtig halte. 162
Zuerst hatte sie ihm nicht geglaubt, aber er hatte wortlos dabeigesessen, als sie die Ältesten entlassen und durch erfahrene Leute ersetzt hatte, die sich beispielsweise mit Betriebswirtschaft, Psychologie und Marketing auskannten. Damals hatte sie zum ersten Mal gespürt, über welche Macht und welche Möglichkeiten sie verfügte. Dieser Tag war die eigentliche Geburt der Kirche der Evolution gewesen. Die Zahl ihrer Anhänger hatte sich auf ungefähr fünfundzwanzigtausend von locker verbundenen Mitgliedern belaufen, hauptsächlich im Nordosten der USA. Doch während der Stern des Katholizismus immer weiter sank, war ihre Kirche mittlerweile auf Millionen Mitglieder angewachsen und wuchs schneller als jede andere in der Welt. Die Priester hätten ihr besser mal zuhören sollen. Sara stand auf und wandte dem Altar den Rücken zu. Sie allein hatte diese Kirche zu dem gemacht, was sie war, und jetzt wollte Albert sie ihr wegnehmen. Sie hatte immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde und er vor seinem Tod aus reiner Sentimentalität Jennifer zu seiner Nachfolgerin bestimmen würde. Und sie hatte sich darauf vorbereitet, seit sie von der Existenz des Mädchens erfahren hatte. Im Verlauf der Jahre hatte sie Albert systematisch isoliert, bis niemand mehr seine Wünsche von ihren Wünschen unterscheiden konnte. Es war eigentlich ganz einfach gewesen. Albert widmete sich mehr und mehr stillen Betrachtungen und brauchte die Einsamkeit, um neue Wege zur Verbreitung seiner genialen Botschaft zu entwickeln. Dass er zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt eine Zusammenkunft sämtlicher Ältesten einberufen würde, statt seine Wünsche durch sie weiterzugeben, hatte sie nicht vo163
raussehen können. Bei diesem Treffen hatte er den anderen von Jennifer berichtet und Sara befohlen, sie zu ihm zu holen. Damals hatte sie keine Wahl gehabt als zu gehorchen. Ihre Macht war fast absolut, aber nicht so unerschütterlich, dass sie Alberts Wünsche gefahrlos ignorieren konnte. Aufgewühlt und voller Panik war sie in dieser Nacht hierher gekommen, doch nach und nach hatte sie sich einen Weg ausgedacht, um die Kontrolle über die Kirche zu behalten, und als ersten Schritt Eric und Patricia Davis davon überzeugt, es sei Alberts Wunsch, dass sie vor ihm zu Gott eingingen. Sie hatte dieses Ehepaar damals als Zieheltern ausgewählt, weil beide blinde Fanatiker waren, und es war eine gute Wahl gewesen. Jennifer war völlig aus dem Gleichgewicht geraten, nachdem sie miterleben musste, wie ihre Eltern sich umbrachten, und Albert hatte zum Glück den Ältesten nicht gesagt, dass er seiner Enkelin die Leitung der Kirche übergebe, sondern nur in zweideutigen Worten von ihr erzählt. Damit hatte sie leichtes Spiel. Wenn Albert und seine Enkelin tot waren, konnte die Kirche ungehindert weiter wachsen und immer einflussreicher werden. Und sie ebenfalls.
EINUNDZWANZIG »Zufällig haben Sie sich genau den richtigen Zeitpunkt ausgesucht, Mark«, sagte Hans Volker und verlangsamte das Tempo, bis sein riesiger BMW nur noch dahinkroch. Ge164
schickt manövrierte er ihn durch die dichte Menschenmenge, die sich auf der Straße drängelte. »Die Kirche der Evolution erwartet zu dieser Veranstaltung mehr als eine halbe Million Besucher. Wirklich erstaunlich – sie haben erst vor drei Wochen mit der Planung angefangen.« Trotz des bewölkten Himmels und gelegentlicher Regenschauer schien diese Schätzung eher noch untertrieben. In der Nähe des Capitol-Gebäudes drängten sich derart viele gut gekleidete Menschen, dass man nur gelegentlich mal ein Stückchen Asphalt oder Gras sehen konnte. Beamon hatte seine Sekretärin letzte Woche damit beauftragt, bei der Deutschen Botschaft nachzufragen, ob jemand bereit sei, mit ihm zu reden, und nicht locker zu lassen. Er hatte geglaubt, D. würde mindestens ein paar Tage brauchen; bis dahin würde er wieder aus Washington zurück sein, wo wieder einmal eine dieser elenden Senatsanhörungen stattfand. Er war ziemlich verblüfft gewesen, als sie ihn bereits nach zwei Minuten mit Hans Volker verbunden hatte, der für die deutsche Regierung die Kirche der Evolution in den USA beobachtete. Noch viel mehr hatte ihn überrascht, als Volker nicht nur sofort mit einem Treffen einverstanden gewesen war, sondern sogar anbot, ihn persönlich am Flughafen abzuholen. »Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für mich genommen haben, Hans.« Volker winkte ab. »Ich bin es, der Ihnen danken muss. Seit Sie Ihren Posten in Flagstaff angetreten haben, wollte ich mich schon mit Ihnen in Verbindung setzen. Ich hoffe nämlich, wir beide pflegen bessere Beziehungen als Ihre Vorgängerin Mrs. Dunham und ich.« 165
»Sie kannten Marjorie?« »O ja, leider. Ich hatte etliche Gespräche mit ihr wegen unserer Bedenken gegen die Kirche – bis ich irgendwann entdeckte, dass sie ebenfalls dazugehört und mich nur benutzte, um Informationen für Albert Kneiss zu sammeln. Wie Sie sich bestimmt vorstellen können, kühlte unser Verhältnis danach ziemlich ab.« »Ja, das kann ich mir denken.« Beamon erinnerte sich an sein Gespräch mit Marjorie Dunham und ihre Behauptung, die Deutschen wären sicher nicht bereit, mit ihm zu sprechen. Er schaute durch die getönten Scheiben nach draußen. Von allen Seiten wurden sie mit wütenden Blicken bedacht. Es war schwer zu sagen, ob es daran lag, dass ihr Auto sich als einziges durch die Fußgängermassen schob, oder daran, dass sie einen Wagen fuhren, der in Deutschland hergestellt worden war. »Dieser ganze Zirkus ist also Ihretwegen, Hans? Ich habe zwar gelesen, dass Kneiss besorgt sein soll über die Einstellung Ihrer Regierung, aber das hier sieht mir eher aus, als seien er und seine Anhänger gründlich verärgert.« »Verärgert? O ja, und ob. Die Kirche hat ziemlich lautstark ihre Kritik an der Behandlung der Kneissianer in Deutschland geäußert, und leider haben sie bei den Amerikanern eine bereitwillige Zuhörerschaft gefunden.« Er schwieg einen Moment. »Ich nehme an, dass Sie unsere Differenzen mit der Kirche kennen?« »Nur das, was man so allgemein hört. Wenn ich recht informiert bin, sind Kneissianer von Ämtern im Staatsdienst und einigen Regierungspositionen ausgeschlossen. Irgendjemand hat mir mal erzählt, dass sie auch nicht als Lehrer, 166
Erzieher und in ähnlichen Berufen arbeiten dürfen, bei denen es ihnen möglich wäre, junge Menschen zu beeinflussen.« »Das ist alles wahr«, nickte Volker. »Ich glaube, ich habe auch gehört, dass ein Kirchenmitglied, das eine Firma besitzt, auf seinem Briefkopf und den Geschäftskarten nicht erwähnen darf, dass er Kneissianer ist.« Volker bremste, um zu verhindern, einen Mann anzufahren, der ihnen gerade ein gelbes Flugblatt unter den Scheibenwischer schob. Der Text war nicht zu lesen, allerdings die Überschrift: GESTAPO-METHODEN. »Und was meinen Sie persönlich dazu, Mark?« »Ich sehe keinen Grund, Sie anzulügen. Ich finde, es klingt schon sehr vertraut.« Volker nickte. »Die Kirche hat äußerst geschickt reagiert und unsere Politik prompt mit der Verfolgung der Juden durch die Nazis verglichen. Es ist wirklich ironisch, denn wir wollen ja mit solchen Maßnahmen gerade verhindern, dass etwas Derartiges noch einmal in unserem Land passiert und die Kneissianer beispielsweise so mächtig werden, dass sie andere ausgrenzen können.« Volker verlangsamte das Tempo noch weiter und hielt schließlich vor einer aufgebrachten Gruppe junger Leute, die offenbar absichtlich ihren Weg blockierten. Beamon beobachtete, wie sie heftig miteinander diskutierten, sich gegenseitig Mut machten und schließlich irgendetwas skandierten, das eindeutig gegen sie gerichtet war, obwohl man die Worte nicht verstand. »Hans, ich danke Ihnen für die Fahrt, aber es wäre vielleicht an der Zeit, dass wir uns 167
aus dem Staub machen. Ich dachte ja, dieses deutsche Auto sei der Grund für die bösen Blicke, die man uns zuwirft, aber offenbar weiß man auch, wer es fährt.« »Da haben Sie schon Recht, Mark«, erwiderte Volker völlig unbekümmert. »Die Kirche sorgt dafür, dass ihre Mitglieder gut informiert sind.« Beamon drehte sich um und schaute aus dem Rückfenster auf die Menge, die sich hinter ihnen geschlossen hatte. »Hans, ich bin lange genug FBI-Agent, um mehr über Gruppendynamik zu wissen, als mir lieb ist. Wenn einer dieser jungen Hitzköpfe jetzt auch nur einen Papierknäuel auf uns wirft, ist das für die anderen wie ein Startsignal. Man wird diesen Wagen zerreißen und anschließend uns.« Volker lachte und rollte ein paar Zentimeter weiter. Erstaunlicherweise wich die Menge zur Seite. »Sie verstehen die Kneissianer nicht, Mark. Sie würden nie offen und vor aller Augen etwas gegen mich unternehmen – oder gegen irgendjemanden sonst. Das könnte ja negative Publicity zur Folge haben. Nein, sie arbeiten mit anderen Methoden. Und am liebsten mit Einschüchterungen. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Vor ein paar Jahren wurde mein Sohn in der Schule ständig von einer Lehrerin schikaniert. Es ging so weit, dass die Frau, die sich sonst stets tadellos verhalten hatte, verwarnt und schließlich entlassen wurde. Ihre Vorgesetzten entschuldigten sich überschwänglich bei mir und konnten das alles gar nicht begreifen.« »Sie schon, nehme ich an.« Volker nickte. »Wenige Wochen darauf nahm sie eine Stelle in einer Privatschule an, die den Kneissianern gehört. Zuerst überraschte es mich, dass eine Frau, die eindeutig Kinder 168
liebte, mein Kind schikanierte, um mir eins auszuwischen, doch nachdem ich mehr über die Kneissianer gelernt hatte, begann ich zu verstehen, wie gefährlich ihr Glauben und ihre Organisation tatsächlich sind.« »Ich weiß nicht, Hans.« Beamon kurbelte das Fenster runter und zog das Flugblatt unter dem Scheibenwischer hervor. »So neu ist das doch nicht. Schon immer haben die Menschen im Namen der Religion Andersgläubige angegriffen. ›Ich weiß ganz genau, was Gott will, und du – Hindu, Muslim, Jude, wer auch immer – nicht; deshalb bin ich gut, und du bist böse, nichts wert oder verdammt.‹« »Haben Sie eine Ausgabe der Kneiss-Bibel, Mark?« Beamon schüttelte den Kopf. »Ich rate Ihnen, sie mal zu lesen. Sie werden sehen, dass die Kneissianer ganz und gar zukunftsorientiert sind und viele der Traditionen, Lehren und Regeln älterer Religionen über Bord geworfen haben. Genau das macht sie so gefährlich. Dadurch konnten sie sehr rasch sehr viel Macht gewinnen. Und deshalb waren wir gezwungen, etwas zu unternehmen, ehe sie noch größer wurden und andere unter ihrem Fanatismus zu leiden haben.« Beamon runzelte die Stirn. Er hatte einmal gehört, dass sich ein schlechter Mensch nicht durch seine Taten von einem guten Menschen unterscheide, sondern nur durch die Absichten, die dahinter steckten. Er hatte lange darüber nachgedacht und war nicht sicher, ob dieser Ausspruch stimmte. Jedenfalls war es ziemlich leicht, religiöse Verfolgung zu rechtfertigen. Volker hielt den Wagen an und zog die Bremse. »Die Kneissianer haben einen Verfolgungswahn und nutzen hemmungslos ihre große Mitgliederzahl und ihre enormen Geldmittel, 169
um jeden zu vernichten, den sie als ihren Feind betrachten, und alle auszuspionieren, die etwas Kontrolle über sie ausüben könnten. Vermutlich sind sie sehr an Ihnen interessiert, Mark. Sie sind ziemlich misstrauisch gegenüber sämtlichen Behörden, ob es nun das FBI, der CIA, die IRS oder die NSA ist, und Sie, als Leiter des FBI-Büros von Flagstaff, stehen wahrscheinlich ganz oben auf ihrer Liste. Sie können mir glauben, dass sie kaum Skrupel kennen, es aber geschickt zu verhindern wissen, dass etwas über sie publik wird.« Volker öffnete seine Tür. Das Stimmengewirr der Menschenmenge wurde gelegentlich von einem schrillen Pfeifen übertönt, offenbar die Rückkoppelung der Beschallungsanlage, die man gerade testete. »Es überrascht Sie vielleicht, dass wir tagtäglich die Telefone in der Botschaft und bei mir zu Hause überprüfen müssen. Bereits dreimal haben wir Wanzen gefunden. Einmal hat die Polizei einen Mann erwischt, wie er eine davon anbrachte. Er war ein Kneissianer.« »Sollen wir nicht lieber im Wagen bleiben?«, fragte Beamon, als Volker ausstieg. Der Deutsche deutete in Richtung der großen Bühne. »Ich dachte, so wäre es einfacher für Sie, den Sprecher zu hören. Und vielleicht möchten Sie sich gern ein wenig, na ja, unters Volk mischen. Glauben Sie mir, es besteht keine Gefahr.« Irgendwie fühlte sich Beamon trotz seiner Versicherung nicht so ganz wohl. Immerhin waren sie umringt von einer unüberschaubar großen Menge von Menschen, die ihn für einen Erzfeind ihres Gottes hielten. Aber andererseits hatte er seit dem College keinen handfesten Krawall mehr erlebt. »Ich schätze, was immer mir passiert, passiert Ihnen zuerst«, sagte er und stieg aus dem Wagen. 170
Volker lächelte. »Meine Frau und ich werden ständig beschattet«, erklärte er mit lauter Stimme, um den Lärm ringsum zu übertönen, ohne sich um die bösen Blicke der Leute in Hörweite zu kümmern. »Die Kirche macht sich gar keine Mühe, es zu verheimlichen. Man hofft wohl, mich damit einzuschüchtern. Einigen meiner Mitarbeiter in Deutschland ist es sogar noch schlimmer ergangen. Einem wurde ein Verbrechen angehängt, mit dem er gar nichts zu tun hatte, und die Ehefrau eines anderen erhielt eine Serie ziemlich eindeutiger Fotos von ihm und seiner Geliebten.« Beamon hatte gerüchteweise davon gehört, dass die Kirche recht skrupellos sein konnte, aber nie hatte man irgendetwas konkret nachweisen können. Zwar traute er organisierten Religionen grundsätzlich fast alles zu, doch da es keine Beweise gab, hatte er immer geglaubt, es seien nur gezielt ausgestreute Verleumdungen von rivalisierenden Glaubensgruppen, die eifersüchtig auf den Erfolg der Kneissianer waren. Volker ergriff seinen Arm, aber Beamon rührte sich nicht von der Stelle. »Ich möchte mir nur ungern den Rückweg freischießen müssen, Hans. Mir wäre viel lieber, wenn wir dieses Gespräch bei einer Tasse Kaffee in Ihrem Büro beenden könnten.« »Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, Mark. Ich garantiere persönlich für Ihre Sicherheit.« Beamon zögerte noch einen Moment und gab dann nach. »Was können Sie mir über Albert Kneiss sagen?«, fragte er, während sie sich durch die Menschenmenge in Richtung Bühne drängten. »Eine faszinierende Persönlichkeit«, rief Volker. Ein Mann in einem dunklen Anzug hatte gerade das Podium betreten 171
und wurde mit ohrenbetäubendem Applaus empfangen. »Geboren am Weihnachtstag 1913 als Sohn eines frommen christlichen Predigers. Wissen Sie, dass seine Anhänger glauben, Kneiss werde dieses Jahr am Karfreitag in den Himmel auffahren?« »Ja. Geboren an Weihnachten, gestorben am Karfreitag. Genau wie Jesus.« Volker nickte. »Interessanterweise ist Kneiss nicht sofort den Fußstapfen seines Vaters gefolgt, sondern hat Anthropologie studiert und wurde später Professor an der Universität von Chicago. Er scheint ein kluger Kopf gewesen zu sein, aber seine Theorien waren ziemlich radikal für die damalige Zeit. Eine davon – dass einst verschiedene menschliche Spezies zur gleichen Zeit die Erde bewohnten – ist erst kürzlich von der Wissenschaft anerkannt worden. Unglücklicherweise waren seine Thesen zu viel für die Universität, er wurde schließlich entlassen – und zum Gespött in Fachkreisen.« Volker blieb neben einer kleinen Gruppe von Menschen in blauen Polohemden stehen, auf denen der Name ihrer Heimatgemeinde Spokane stand. Sie hielten ein großes Transparent in die Höhe mit der Aufschrift WIR FORDERN GLAUBENSFREIHEIT. »Das dürfte genügen.« Volker deutete mit einer Kopfbewegung zur Bühne. »Sie erkennen wahrscheinlich Senator Tompkins aus Massachusetts.« Beamon schaute genauer hin. Ja, es war tatsächlich Tompkins, der Deutschland wegen seines Umgangs mit den Kneissianern am schärfsten kritisierte. Mindestens einmal pro Woche sah man ihn im Fernsehen, wo er sich nachdrücklich für Religionsfreiheit aussprach. 172
»Und wie ging es dann weiter mit Kneiss?« »Bald nach seiner Entlassung starb seine Frau an Krebs. Sie hatten eine kleine Tochter. Etwa um diese Zeit verschwand er für etliche Jahre aus dem Blick der Öffentlichkeit und tauchte schließlich im nördlichen Teil des Staates New York mit seiner Bibel als Gottes Bote wieder auf.« »Er hat also einfach die beiden Fachbereiche, von denen er etwas verstand, miteinander kombiniert – Theologie war ihm durch seinen Vater vertraut, und die Wissenschaft war sein Beruf.« »So könnte man sagen.« »Wenn er 1913 geboren wurde, ist er jetzt Ende achtzig. Leitet er nach wie vor die Kirche?« Volker zuckte die Schultern. »Das halte ich für unwahrscheinlich. Es gibt eine Gruppe von sieben Ältesten, und diese Gruppe wird wiederum von einer gewissen Sara Renslier kontrolliert.« Er deutete auf die Bühne. »Sehen Sie diese zierliche Frau mit kurzem dunklem Haar, die im Hintergrund sitzt?« Beamon nickte. »Das ist sie. Ihre Berufung unter die Ältesten vor etwa fünfundzwanzig Jahren war der Wendepunkt für Kneiss und seine Anhänger. Eine gefährliche Person. Sie wird nach seinem Tod sicherlich das unumstrittene Oberhaupt werden.« Beamon zog einen Block aus seiner Tasche und schrieb sich den Namen auf, obwohl er von allen Seiten angerempelt wurde. »Aber wenn er am Karfreitag stirbt, müsste er dann nicht an Ostern wiederauferstehen, so, wie beim letzten Mal?« Volker lachte. »Das wäre eine beeindruckende Leistung, 173
nicht wahr? Aber die Antwort ist natürlich Nein. Für die Kneissianer hat die Auferstehung Jesu keinerlei Bedeutung, sondern war lediglich der letzte von zahlreichen Taschenspielertricks, zu denen Jesus – beziehungsweise Kneiss – in einer hoffnungslos abergläubischen Zeit gezwungen war.« »Und er ist also seit Beginn der Menschheit alle zweitausend Jahre wieder aufgetaucht, um seine Lehren dem aktuellen Wissensstand anzupassen?« Volker hob sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, als zwei Männer sich auf der Bühne die Hände schüttelten. »Sie sollten wirklich unbedingt ihre Bibel lesen, Mark. Aber die Antwort auf Ihre Frage lautet Nein. Sie glauben, dass der, den wir jetzt als Kneiss kennen, irgendwann in ferner Vergangenheit von Gott auserwählt wurde, um die Stelle des vorherigen Boten einzunehmen, der zur Belohnung seinen Platz im Himmel eingenommen hat. Und eines Tages wird ein anderer Bote auserwählt werden, um Kneiss zu ersetzen.« Die dröhnende Stimme von Senator Joseph Tompkins hallte aus den Lautsprechern. »Senator Tompkins profitiert ganz schön von dieser Geschichte, nicht wahr?«, rief Volker. »Die Kirche ermutigt nachdrücklich ihre Mitglieder, für seinen Wahlkampf zu spenden. Und welchem Amerikaner ist die Religionsfreiheit kein Herzensanliegen?«
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ZWEIUNDZWANZIG Beamon zog den Notizblock aus der Papiertüte und befestigte ihn mithilfe des Saugnapfs an seiner Windschutzscheibe. Dieser verdammte Volker machte ihn noch ganz verrückt. Er stöhnte leise, da seine Beine immer noch schmerzten, als er durch den Schnee zum Verwaltungsbüro stapfte. Es brannte noch Licht, und Beamon sah, dass die Hausmeisterin dabei war, Papiere in eine große Aktentasche zu stopfen, um endlich Feierabend zu machen. Er warf eine halb gerauchte Zigarette – seine erste für heute – in den Schnee und schlüpfte durch die Tür. »Tina! Wie geht es?« Sie lächelte, sodass ihre strahlend weißen Zähne blitzten und ihm ganz warm wurde. Sie war ein wirklich süßes kleines Ding, hatte gerade erst das College hinter sich und diese durch und durch gesunde Ausstrahlung, wie sie für die Bewohner dieser gebirgigen Gegend typisch zu sein schien. »Mr. Beamon! Was bringt Sie bei dem Wetter hierher?« »Ich wollte mal sehen, ob Sie mir mit ein paar Informationen helfen könnten.« »Haben Sie geraucht?«, fragte sie und schnüffelte. »Nur eine«, entgegnete Beamon stolz und verschwieg, dass er seit heute Morgen acht Uhr entweder in Hans Volkers Wagen, dem J.-Edgar-Hoover-Gebäude oder einem Flugzeug gesessen hatte – und überall hatte striktes Rauchverbot geherrscht. Sie schaute ihn mit gespielter Strenge an. »Na gut, das will ich noch mal durchgehen lassen. Aber bloß diese eine. Sie müssen unbedingt ganz aufhören. Okay?« 175
Er nickte unverbindlich. »Prima. Und was kann ich für Sie tun?« »Ich brauche einige Informationen über ein paar Mieter.« »Welche?« Beamon betrachtete die farbige Karte der Wohnanlage, die an die Theke geklebt war. »Über alle aus den Gebäuden A, C, F oder H.« »Das sind eine Menge Leute«, wandte sie ein. Offensichtlich wollte sie endlich nach Hause. »Dann will ich es etwas eingrenzen. Mieter, die vor mir hier eingezogen sind, interessieren mich nicht, nur Leute, die am fünfzehnten Januar oder danach Mietverträge für mindestens einen Monat abgeschlossen haben.« »Da haben Sie Glück. Ich hasse diesen Papierkram und schiebe es immer ewig vor mir her, alles ordentlich abzuheften.« Sie kauerte sich neben eine Schachtel, zog einen Stapel Ordner heraus und begann sie durchzublättern. Ein paar warf sie auf die Theke, die meisten jedoch zurück in den Karton. Fünf Ordner blieben übrig. »Das sind alle, die im Januar und Februar eingezogen sind.« Sie öffnete einen nach dem anderen und warf drei wieder zurück in die Schachtel. »Diese zwei sind die Einzigen, die für länger gemietet haben.« Beamon öffnete den ersten. Eine vierköpfige Familie hatte einen einjährigen Mietvertrag unterschrieben. Der zweite Mieter war ein allein stehender Mann. Robert Andrews. Ebenfalls für ein Jahr. Beamon schaute auf die Zeile »Arbeitgeber«. Dort hieß es nur »selbstständig«. »Könnte ich von denen eine Kopie kriegen, Tina?« »Klar.« Sie schaute ihn verschmitzt an. »Flüchtige Schwerverbrecher?« 176
Beamon lachte. »Nee. Denen hab ich bloß noch kein Los für die FBI-Tombola verkauft.« Wie gewöhnlich läutete das Telefon, als er gerade zur Tür hereinkam, sodass er nicht einmal Zeit hatte, die Schuhe auszuziehen. Auf seinem Teppich hatten Dreck und Schmelzwasser bereits eine deutliche Spur hinterlassen. »Ja, hallo?« »Mark! Hier ist Chet. Mann, ich versuche schon den ganzen Tag, Sie zu erreichen. Ich dachte, Sie wollten um zwei zurück sein.« »Es hat etwas länger gedauert als geplant. Was gibt’s?« »Ich habe Ihnen doch mal von meiner Freundin erzählt, die in der Gerichtsmedizin arbeitet, oder? Susan Moorland? Dieses Mädchen, mit dem ich in die Schule gegangen bin.« Beamon überlegte einen Moment, aber sein Gehirn war bereits im Schongang. Er wollte sich einfach nur noch seine Bierration genehmigen und dann ins Bett fallen. »Klar«, log er. »Haben Sie.« »Sie hat mich heute Morgen angerufen. Offensichtlich war sie bei der Obduktion von Jennifer Davis’ Eltern dabei. Sie will mit uns darüber reden.« Beamon schälte sich aus seinem Parka und klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter. »Ich habe den Bericht gelesen, Chet – und wir haben beide die Leichen gesehen. Wenn sie noch etwas abändern will, dafür sind Faxgeräte da.« »Sie hat den Bericht nicht geschrieben, Mark, sondern ihr Boss. Und sie ist mit seinen Schlussfolgerungen nicht einverstanden – ganz und gar nicht. Normalerweise zeigt er sich 177
offenbar ziemlich aufgeschlossen für ihre Einwände, aber diesmal ist er ausgerastet, als sie ihm widersprochen hat. Ich kann Ihnen deshalb garantieren, dass wir von ihr nichts schriftlich kriegen werden.« Beamon seufzte. »Lassen Sie mich raten. Sie will, dass ich mich mitten in der Nacht dorthin schleiche und in einem Kühlhaus voller Leichen rumstehe.« »Eigentlich … ja. Und zwar heute. Ich weiß, was Sie von Leichenschauhäusern halten, aber noch sind die beiden Toten da, bloß kann sie nicht für alle Zeit so tun, als hätte sie die nötigen Papiere verlegt. Kommen Sie, Mark – treffen wir uns um neun an der Hintertür? Bitte.« Beamon rieb sich die Augen. Er hätte liebend gern abgelehnt. Michaels’ kleine Freundin war zweifellos über irgendeinen Maulwurfshügel gestolpert und hatte es zu einem Berg aufgebauscht. Aber er wusste, dass der Junge grenzenlos enttäuscht wäre, wenn er ihm seine Bitte abschlug. »Na gut, neun Uhr. Sonst noch was?« »Nee, ich glaube nicht. Doch, warten Sie. Ich habe die Unterlagen über Jennifers Adoption. Nichts weiter Interessantes – lief alles glatt und reibungslos. Sie war erst ein paar Tage im Waisenhaus, als das Ehepaar Davis den Antrag stellte.« Beamon horchte auf. »Wirklich? Aber wie funktioniert so was? Ist das wie bei einem Autokauf? Wenn das Waisenhaus was reinkriegt und glaubt, das könnte einem gefallen, bietet man es telefonisch den Interessenten an?« Michaels lachte. »So ausgedrückt klingt es … fast schäbig. Ich weiß nicht, ob es üblicherweise so läuft, aber in diesem Fall war es anders. Mr. und Mrs. Davis hatten sich noch nie um eine Adoption bemüht.« 178
Beamon nickte. »Also typische Spontankäufer.« »Sie sind wirklich ein Zyniker, Mark. Ich weiß gar nicht, warum ich mich mit Ihnen abgebe.« »Ich unterschreibe Ihre Gehaltsschecks.«
DREIUNDZWANZIG Beamon stampfte von einem Fuß auf den anderen und vergrub seine Hände tiefer in die Taschen seines Parkas. Die Temperatur lag um die null Grad, was allerdings auch sein Gutes hatte, da die Kälte verhinderte, dass irgendwelche merkwürdigen Gerüche aus dem Müllcontainer drangen, den sie als Windschutz benutzten. Er wollte lieber gar nicht daran denken, was diese Leichenaufschlitzer dort alles reinwarfen. »Himmel noch eins, Chet«, seufzte er und starrte auf die verschlossene Seitentür des neu erbauten Leichenschauhauses von Flagstaff. »Wenn ich gewusst hätte, dass wir stundenlang hier draußen rumhängen, hätte ich ein paar Huskies und Feuerholz mitgebracht.« Michaels legte einen Finger an die Lippen, aber Beamon scherte sich nicht um den Wink. Er hatte schon vor fünf Minuten jedes Gefühl in den Zehen verloren. »Wissen Sie, Chet, man würde uns vielleicht auch zur Vordertür reinlassen, denn immerhin bin ich der gottverdammte Leiter des FBI hier.« »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass die Sache für Susan schon heikel genug ist«, entgegnete Michaels in einem übertriebenen Flüsterton. »Nachdem sie einen abweichenden Be179
richt geschrieben hatte, ist ihr Boss ausgerastet und hat ihn in den Schredder geworfen. Wenn er wüsste, dass sie uns angerufen hat, würde sie vermutlich ihren Job verlieren.« »Aha«, knurrte Beamon. Er zog Robert Andrews’ Mietvertrag aus seiner Tasche und reichte ihn Michaels. »Sehen Sie mal, ob Sie was über diesen Kerl rausfinden können, Chet. Ohne Riesenaufwand, nur ein kurzer Überblick.« Michaels versuchte den Vertrag zu lesen, was aber in dem trüben Schimmer der vereisten Lampe über der Tür unmöglich war. Er stopfte ihn in seinen Mantel. »Wer ist das?« »Er hat ein Apartment in der Nähe von meinem gemietet. Wahrscheinlich ein ganz harmloser Kerl. Ach, ich bräuchte außerdem Informationen über eine Sara Renslier. Offensichtlich leitet sie Kneiss’ Kirche. Aber ebenfalls ohne …« Das Knirschen eines Riegels, der zurückgeschoben wurde, unterbrach ihn. Ein Schwall warmer Luft drang aus der Tür, und er drückte sich ohne ein Wort an der etwas erschrockenen jungen Frau vorbei. Wenigstens war es drinnen ein bisschen wärmer. »Mark Beamon«, sagte er und schüttelte ihr die Hand, während Michaels die Tür hinter sich schloss. »Es tut mir Leid, dass Sie draußen warten mussten. Einige Leute im Büro haben noch Überstunden gemacht. Folgen Sie mir, und bitte seien Sie so leise wie möglich.« Es schien immer kühler zu werden, je tiefer sie in das Gebäude kamen – obwohl er sich das wahrscheinlich nur einbildete. Er hatte in seinem Leben so viele Zigaretten geraucht, zahllose Bourbons getrunken und massenhaft Chili Dogs verzehrt, dass er in Leichenschauhäusern immer ein etwas ungutes Gefühl bekam. 180
Die Frau blieb stehen, als sie auf einen anderen Gang stießen, und streckte vorsichtig den Kopf um die Ecke. Sie war klein – nicht mehr als eins sechzig groß – und hatte langes dunkles Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, der unter dem Halsriemen ihrer grünen Schürze steckte. Irgendwie erinnerte sie ihn an Carrie. Vielleicht war es der zielstrebige Gang oder … »Hier links geht’s weiter, Mr. Beamon. Es ist möglich, dass der Nachtwächter vorbeikommt. Wenn Sie ihn hören, huschen Sie einfach in ein Zimmer.« Sie eilte voraus, und Beamon flüsterte Michaels zu: »Ich finde langsam, das ist etwas unter meiner Würde, Chet.« Der junge Agent grinste nur und huschte auf Zehenspitzen weiter, nachdem Susan ihnen ein Zeichen gegeben hatte, dass die Luft rein sei. Er schien einen Riesenspaß an der Sache zu haben. Das war doch mal ein echtes Räuber-undGendarm-Spiel! Glücklicherweise erreichten sie nach wenigen Minuten ohne Störung ihr Ziel, und Susan schloss die Tür des Untersuchungsraums. »Prima. Wir haben es geschafft!« Michaels strahlte. Susan atmete tief durch. »Entschuldigen Sie diese Heimlichtuerei, aber die Sache könnte mich in ziemliche Schwierigkeiten bringen.« Beamon hockte sich auf die harte Platte eines Stahltisches und musterte prüfend die zahlreichen Metallfächer an der linken Wand. »Wir wissen zu schätzen, dass Sie ein solches Risiko eingehen, Susan«, sagte er unverbindlich. Sie sah aus, als habe sie erst vor einem Jahr das College verlassen. Vermutlich war das ganze Unternehmen bloß sinnlose 181
Zeitverschwendung. »Weshalb wollten Sie denn mit uns sprechen?« Sie ging zu der Wand und zog zwei Schubfächer auf, dann öffnete sie den Reißverschluss der Säcke, in denen die Leichen von Eric und Patricia Davis lagen. Von seinem Platz aus konnte Beamon das blutverkrustete Haar sehen, das an ihren Köpfen klebte, und die schwarzen Stiche, mit denen der Gerichtsmediziner sie wieder zusammengeflickt hatte. Er stopfte sich ein Stück Kaugummi in den Mund, während Michaels zu ihr ging und die Leichen betrachtete. Beamon musste anerkennen, dass der junge Agent es schaffte, angemessen ernst dreinzublicken, obwohl er ihm genau ansah, dass er wahrscheinlich am liebsten »Cool!« oder so was gerufen hätte. »Meiner Ansicht nach ist der vorliegende Autopsiebericht durch die uns bekannten Fakten beeinflusst worden«, sagte Susan. »Wie das?« Michaels bemühte sich, trotz aller Faszination wie ein abgeklärter Profi zu klingen. Beamon griff nach einem Kopf aus Styropor, der neben ihm auf dem Tisch stand. Ein Holzstab war wie ein Bratspieß vom Kinn bis zur Schädeldecke hindurchgeschoben worden. »Ich finde, wir sollten uns einfach die Leichen vornehmen, ohne etwas über den Fall zu wissen, und unsere eigenen Schlussfolgerungen ziehen«, erklärte Susan. »Wenn man die Fakten kennt, ist man bereits voreingenommen.« Beamon schaute auf die zusammengeflickten Leichen und die beiden jungen Profis, die sich darüber beugten. »Wollen Sie etwa behaupten, dass die Todesursache nicht die Schusswunden waren, Susan?« 182
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist eindeutig. Aber es gibt einige ziemlich überraschende Fakten hinsichtlich des Schützen, die nicht im Bericht stehen.« »Lady, Sie haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit.« Beamon hoffte, sie würde sich etwas beeilen. Ihm war gerade klar geworden, dass er seit fast zweiundzwanzig Stunden auf den Beinen war. Susan ging zu einer großen Wandtafel, auf die ein Strichmännchen gezeichnet war, das auf ein anderes zielte. Eine gepunktete Linie war von der Waffe bis zum Kopf des Opfers gezogen. »Meinen Berechnungen zufolge ist so Patricia Davis ermordet worden«, erklärte sie. Beamon zuckte die Schultern und nickte. »Wie Sie vielleicht aus dem Autopsiebericht wissen, war Mr. Davis nur 1,72 groß, und Mrs. Davis war größer – 1,77. Anhand der Pulverspuren am Kopf von Mrs. Davis kann man darauf schließen, dass die Kugel ungefähr aus einer Entfernung von siebenunddreißig Zentimetern abgefeuert wurde, und aus dem Winkel der Flugbahn errechnet sich, dass der Mörder eine Schulterhöhe von 1,41 Meter hatte.« Beamon runzelte die Stirn und sprang vom Tisch. Er nahm ein Stück Kreide, malte eine etwas kleinere Strichfigur, die weiter weg stand, und verlängerte die gepunktete Linie entsprechend. »Kommen Sie, Susan, diese Sache mit den Schmauchspuren besagt gar nichts. Sie könnten ohne weiteres um gute fünfzehn Zentimeter daneben liegen. Es könnte ein kleinerer Täter gewesen sein, der weiter weg war, oder ein größerer, der näher stand.« Susan wirkte etwas indigniert. »Ich glaube, meine Berech183
nungen sind ziemlich präzise, Mr. Beamon. Aber selbst wenn ich um fünfzehn Zentimeter daneben liegen sollte, können wir meiner Ansicht nach mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass der Täter kleiner war als Mrs. Davis.« Ruhig und selbstbewusst erwiderte sie seinen Blick. Beamon setzte sich wieder auf den Tisch und seufzte etwas ratlos. »Okay, Susan, das will ich Ihnen zugestehen. Ich habe nämlich absolut keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen.« Sie griff nach dem Styroporkopf, mit dem er zuvor gespielt hatte. »Dieser Holzstab zeigt den Einschusswinkel der Kugel an, die Mr. Davis getötet hat.« Dann zog sie eine ziemlich realistisch aussehende Plastikpistole aus einer ihrer Schürzentaschen und reichte sie Michaels. »Okay, Chet. Ich will, dass du auf mich schießt, und zwar so, dass die Kugel diesen Weg nimmt.« Sie zog einen zweiten Spieß aus ihrer Schürzentasche und hielt ihn sich an den Kopf. Michaels versuchte es, doch da sie beträchtlich kleiner war als er, konnte er die Waffe nicht einmal annähernd so halten, dass der Winkel gestimmt hätte. Die Kugel wäre vielmehr aus dem Hinterkopf ausgetreten. Sie stieg auf eine umgedrehte Kiste, die sie offensichtlich extra zu diesem Zweck aufgestellt hatte. »Jetzt bin ich ungefähr so groß wie Mr. Davis.« Nun stimmte der Winkel schon eher, war aber immer noch längst nicht korrekt. Normalerweise hätte Beamon über den Anblick einer kleinen Frau gelacht, die sich einen Bratspieß an den Kopf hielt und von einem Kerl mit einer Plastikwaffe bedroht wurde, der aussah wie ein harmloser Schuljunge. Aber langsam fand er die Sache interessant. 184
Michaels verdrehte so gut es ging sein Handgelenk, was jedoch nichts nutzte. Erst als er um sie herumging und ihr die Waffe von hinten unters Kinn hielt, stimmte der Winkel endlich. Susan sprang von der Kiste. »Genau das wollte ich Ihnen zeigen. Der Mörder müsste bei diesem Einschusswinkel hinter Mr. Davis gestanden haben, und ich denke, Sie werden mir zustimmen, dass man nicht so gern dicht hinter jemandem stehen möchte, dem gleich die Schädeldecke wegfliegt.« Michaels nickte eifrig. »Finden Sie es langsam spannend, Mr. Beamon?« »Mark, bitte.« Er zuckte die Schultern. »Das wäre vielleicht ein zu starkes Wort. Aber neugierig haben Sie mich gemacht, das gebe ich zu.« Sie warf ihm einen selbstbewussten Blick zu und ging hinüber zu den beiden Leichen. »Kommen Sie mal her. Ich möchte, dass Sie sich etwas ansehen.« Beamon sprang vom Tisch. Susan hob Mr. Davis’ rechte Hand hoch und deutete auf die bleiche Haut zwischen Daumen und Zeigefinger. »Sehen Sie diese parallelen Kratzer hier?« Beamon zog seine Brille aus der Tasche und setzte sie auf. Die Kratzer waren winzig, aber zu erkennen, wenn man darauf hingewiesen wurde. Er nickte. »Sie entsprechen genau dem Schlitten an einer Fünfundvierziger.« Sie zog ein Maßband aus ihrer anscheinend unerschöpflichen Schürzentasche und demonstrierte, dass Mr. Davis von den Füßen bis zur Schulter 1,41 Zentimeter maß. Beamon lächelte. »Aha.« 185
»Moment, ich habe noch etwas.« Sie eilte in das angrenzende Büro und kam mit einem Diagramm zurück, das einen Mann zeigte, der leicht zur Seite gewandt war und eine Waffe auf jemanden richtete, der nicht im Bild war. Auf seinen Körper waren mehrere rote Kleckse gezeichnet. Neben jedem waren rätselhafte Anmerkungen gekritzelt. »Ich habe das Blut getestet, mit dem Mr. Davis bespritzt war. Dieses Diagramm zeigt die Ergebnisse. Interessanterweise ist auf seiner rechten Hand überwiegend Blut von Mrs. Davis zu finden.« »Jetzt klingt die Sache wirklich spannend«, sagte Beamon. Susan nickte. »Nicht wahr? Es gäbe dafür auch andere Erklärungen. Ich habe diesen Test wirklich bloß gemacht, um zu sehen, ob er meine Theorie widerlegt.« Michaels schaute verwirrt auf das Diagramm. »Ich bin wohl etwas schwer von Begriff, Leute. Von welcher Theorie ist hier die Rede?« Beamon holte tief Atem. Die Luft roch nach Desinfektionsmitteln. »Anscheinend denkt Ihre Freundin, Mr. Davis hat seine Frau umgebracht und anschließend Selbstmord begangen.« »Was? Das gibt’s nicht!« »Warum nicht?«, entgegnete Susan. »Weil es irre ist, Susan. Es passt nicht einmal annähernd zu unseren Ermittlungsergebnissen.« Beamon achtete nicht weiter auf die hitzige Debatte zwischen Chet und Susan und griff erneut nach Eric Davis’ kalter Hand. Er hoffte, dass ihm bei genauerer Inspektion eine plausiblere Erklärung für diese Kratzspuren einfallen würde. Aber er fand beim besten Willen keine. 186
VIERUNDZWANZIG Sara Renslier schaute hinab auf die zusammengeschrumpfte Gestalt von Albert Kneiss und das Beatmungsgerät, das seine fast gelähmten Lungen mit Sauerstoff versorgte. Im Raum herrschte nahezu völlige Dunkelheit. Die großen Fenster waren zu Spiegeln geworden, die leise vibrierten, da draußen ein gewaltiger Sturm tobte. Nur das Licht des Herzmonitors warf einen flackernden Schimmer über das Bett. Sie sah, wie die Schatten in seinem Gesicht sich bewegten und er die Augen öffnete. »Sara?« Sie streckte die Hand aus und berührte seine kühle Stirn. Wie klein und hilflos er wirkte. Dieser verwelkte Körper ließ kaum noch erahnen, welch ungeheures Charisma er einmal ausgestrahlt hatte. »Sprich nicht, Albert.« Sie strich ihm über die spärlichen Haarsträhnen. Dann zog sie eine Spritze aus der Tasche und entfernte die Plastikkappe an der Injektionsnadel. »Was ist das, Sara?«, flüsterte er und verfolgte jede Bewegung mit seinen Blicken, als sie die Nadel in den Schlauch schob, über den er intravenös ernährt wurde. Im Halbdunkel konnte sie nicht sehen, wie die Flüssigkeit aus der Spritze in den Schlauch und weiter in seinen Arm floss, aber der unregelmäßigere Ton des Herzmonitors und ein leichtes Zucken des alten Mannes zeigten ihr, dass das Mittel in seinem Blut zirkulierte. Mühsam hob er den rechten Arm und griff nach der Nadel, die in seiner Vene steckte, aber Sara hielt sie fest. »Was … was machst du?«, fragte er verwirrt. Sie kniete sich neben das Bett und beugte sich dicht zu 187
ihm. »Die Kirche ist über ihren Propheten hinausgewachsen, Albert. Ich brauche jetzt jemanden, der in Zeiten der Bedrängnis zu seinen Kindern sprechen kann. Einer, der an ihren Sterbebetten erscheinen kann.« Das Aufputschmittel, das sie Kneiss injiziert hatte, trieb alle Organe seines gebrechlichen Körpers zu Höchstleistungen an, sodass diese welke Hülle schließlich überfordert sein würde. »Was machst du mit mir?«, wiederholte er mit kräftigerer Stimme, und sein Blick wurde klarer. »Du hast nie begriffen, was aus der Kirche geworden ist, nicht wahr, Albert? Wozu ich sie gemacht habe.« Ein Lächeln flog über ihre Lippen, während sie beobachtete, wie der alte Mann sich mühte, Atem zu schöpfen. »Wie hast du nur glauben können, ich ließe es zu, dass du mir alles wegnimmst?« »Was sagst du da, Sara? Du … du bist meine ergebenste Jüngerin gewesen. Du hast Jennifer geholfen. Nachdem meine Tochter gestorben war. Du wusstest, dass sie …« »Bist du wirklich so naiv, Albert? Deine Tochter ist nicht gestorben. Ich habe sie umgebracht. Sie hätte Jennifer gegen die Kirche aufgehetzt – und dann wäre sie nutzlos für mich gewesen.« Kneiss’ Herzschlag erhöhte sich etwas mehr. »Nein. Nein, das ist nicht wahr. Du bist doch ein gläubiger Mensch. Ich habe dir mein Vertrauen geschenkt. Meine Liebe.« Sara packte seinen Arm so fest, dass sie fühlen konnte, wie die Infusionsnadel im Takt seines Herzschlags vibrierte. »Das weiß ich, Albert. Und ich habe dir gegeben, was du dir am meisten gewünscht hast – ein großes Publikum.« Eine Träne rann über seine Wange, und sie wischte sie mit dem Daumen weg. »Ich dachte, ich würde Jennifer vielleicht eines Tages 188
brauchen, um die Kontrolle über die Kirche zu behalten. Aber ich habe bereits die Kontrolle, nicht wahr? Du hast sie mir gegeben. Sie würde jetzt nur Probleme verursachen, Albert, und meine Anhänger verwirren.« Kneiss hatte zunehmend Mühe zu sprechen. »Das kannst du nicht. Die anderen – sie wissen von ihr. Sie werden nicht zulassen, dass du ihr etwas …« »Du verstehst anscheinend immer noch nicht, Albert. Du bist am Sterben – und zwar jetzt. Nicht am Karfreitag. Jetzt. Was bedeutet das?« Er starrte sie nur an mit diesem tiefen Blick voller Schmerz und Verzweiflung, der so viele fasziniert und in seinen Bann gezogen hatte. Der Fels, auf den sie ihre Kirche gebaut hatte. »Du weißt es, nicht wahr, Albert? Es steht in deiner Bibel. Deiner brillanten Bibel. Wenn du vor Karfreitag stirbst, ist deine Zeit als Gottes Bote vorbei.« Sie lächelte. »Und ich habe ihm geholfen, deinen Nachfolger auszuwählen.« Kneiss packte ihre Hand, aber es war schwer zu sagen, ob es eine bewusste Geste war oder nur das letzte Zucken eines Sterbenden. »Nein. Sara, du weißt nicht, was du da tust. Besinn dich! Noch ist es Zeit.« »Es ist deine eigene Schuld, Albert. Wenn du deine Enkelin nicht ins Spiel gebracht hättest, hätte das alles nicht passieren müssen.« »Nicht sie, Sara«, keuchte er. »Bitte.« Er ließ ihre Hand los und heftete seinen Blick an die Zimmerdecke. »Es ist jetzt nicht mehr aufzuhalten, Albert. Deine Enkelin wird am Karfreitag deinen Platz einnehmen – als Gottes neuer Bote. Ich habe eine wundervolle Zeremonie 189
für ihre Himmelfahrt geplant. Ich glaube, es würde dir gefallen.« Sara stand auf und wandte sich ab. In der Dunkelheit lauschte sie auf die zunehmend unregelmäßigeren Töne des Herzmonitors. Jetzt gehörte die Kirche ihr. Ihr allein. Sie hörte ein leises Stöhnen und wandte sich um. Albert Kneiss hob mühsam ein letztes Mal den Kopf. »Ich habe für dich gebetet, Sara. Und auch für all die anderen.« Er sank zurück in die Kissen. »Aber jede Zeit muss wohl auch ihren Judas haben.« Die Töne des Herzmonitors wurden immer langsamer, und schließlich signalisierte ein regelmäßiges Pfeifen das Ende des Boten auf Erden und eine neue Ära für ihre Kirche.
FÜNFUNDZWANZIG Mark Beamon beobachtete aufmerksam den jungen Mann durch das Fenster des Cafés. Er war makellos gekleidet – blauer Mantel, weißes Hemd, rotgrün gestreifte Krawatte – und hatte diese frische optimistische Ausstrahlung, die für Anhänger von Albert Kneiss typisch war und zu signalisieren schien: Ich weiß etwas, was du nicht weißt. Beamon kratzte den Rest Frischkäse auf, der von seinem Bagel getropft war, und verspeiste den letzten Bissen. Langsam gewöhnte er sich tatsächlich an die Dinger, auch wenn sie nur ein mickriger Ersatz für ein schönes Stück Schokoladentorte waren. Seit der junge Mann vor fast einer Stunde seinen Posten 190
vor dem Buchladen auf der anderen Straßenseite bezogen hatte, ging er immer nach demselben Muster vor. Augenkontakt mit den Fußgängern herstellen und ein paar freundliche Worte, dann überreichte er eine Broschüre, versuchte, ihnen die Hand zu schütteln und sie in ein Gespräch zu verwickeln. Wie es aussah, stand er regelmäßig an dieser Ecke. Er hatte mindestens hundert Leuten zugenickt, und alle, die offenbar jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit dort vorbeikamen, hatten schweigend seinen Gruß erwidert; mit einigen, die er gut kannte, hatte er ein wenig gescherzt, bei anderen sich bedankt, auch wenn sie eine Broschüre ablehnten, und jedem, der stehen blieb und Interesse bekundete, hatte er eine begeisterte Rede gehalten. Er machte seine Sache gar nicht schlecht. In der letzten Stunde hatte er immerhin drei Leute dazu gebracht, ihm durch die Milchglastür in den Buchladen zu folgen, der gleichzeitig ein Büro der Kirche der Evolution beherbergte. Nach wenigen Minuten war er dann allein wieder herausgekommen. Vielleicht waren sie inzwischen geopfert worden in irgendeinem hedonistischen Ritual, zu dem Schlangen und nackte Jungfrauen gehörten? Es gab nur einen Weg, es herauszufinden. Beamon kippte den Rest seines Kaffees hinunter und verließ das Café. Es war ein kühler Morgen, doch die Wolkendecke war aufgerissen, und die Sonne erwärmte allmählich die dünne Bergluft. Beamon setzte seine Sonnenbrille auf, während er über die Straße eilte und auf den widerlich gut gelaunten jungen Mann zuschlenderte. »Haben Sie schon das Neueste über die Evolution gelesen, Sir?«, fragte er und stellte bewusst Augenkontakt her. Beamon blieb stehen und nahm die angebotene Hoch191
glanzbroschüre. Der Umschlag bestand aus einer Reproduktion der Titelseite des neuesten National Geographic, das einen Artikel über die Entdeckung gebracht hatte, dass vor vielen Jahren verschiedene menschliche Arten die Erde bevölkert hatten. Am unteren Rand befand sich ein Zitat: Viele verschiedene menschliche Arten eiferten einst miteinander um die Gunst des Herrn. Doch nur eine, der Homo sapiens, machte sich auf den Weg zur Erkenntnis. Gott schickte den Menschen einen Gesandten, der ihnen seine Botschaft verkündete. Natur 3:14 Die Heilige Schrift / Kneiss-Ausgabe
Beamon blätterte durch den abgedruckten Artikel aus dem National Geographic, der gelegentlich mit kursiv gedruckten Passagen aus der Kneiss-Bibel durchsetzt war, in denen diese Theorien behandelt wurden. »Damals haben die Leute gelacht, als sie die Neue Bibel gelesen haben, genau wie sie Jesus und seine Lehren verspottet haben. Aber jetzt bestätigt die Wissenschaft, dass unsere Wahrheit die universelle Wahrheit ist.« Obwohl es nicht so wirkte, als spule der Junge einen einstudierten Text ab, vermutete Beamon, dass er bei einem Anwerbegespräch in Neuseeland oder sonst wo exakt die gleiche Ansprache gehört hätte wie hier in Flagstaff. Es klang weder überheblich noch herablassend, man berief sich auf die Wissenschaft, der die Menschen vertrauten, und verwies gleichzeitig geschickt auf Jesus, um keine überzeugten Christen abzuschrecken. 192
»Ja, ich habe vor einer Weile was darüber gelesen«, erwiderte Beamon mit möglichst ernster Miene. »Dann sind Sie mit unserem Glauben vertraut, Sir?« Beamon schüttelte den Kopf. »Nicht so ganz. Ich bin aus Kansas City und nur zu Besuch in Flagstaff. Schade, dass mir nicht mehr einfällt, wo ich es gelesen habe …« Der Junge strich sich nachdenklich übers Kinn. »Könnte überall gewesen sein. Es ist in letzter Zeit viel darüber geschrieben worden. Die Tatsache, dass die Wissenschaft sich um hundertachtzig Grad gedreht hat und nun der Bibel zustimmt, ist schließlich kein alltägliches Ereignis.« Er lachte ihn so selbstbewusst an, als teilten sie einen vertraulichen Scherz. »Albert Kneiss hat das also schon vor über fünfzig Jahren geschrieben?«, fragte Beamon und schaute hinab auf die Broschüre. »Stimmt, aber damit kennen sich meine Kollegen viel besser aus. Wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben für eine Tasse Kaffee, kann ich bestimmt jemanden auftreiben, der Ihnen gern alle Fragen beantwortet.« Beamon zuckte die Schultern. »Klar, Zeit habe ich.« Der Junge strahlte und führte ihn in den geschmackvoll eingerichteten Buchladen. »Dieser Herr würde gern mit jemandem über den Artikel sprechen«, sagte er zu der Frau hinter der Theke und schaute sich zu Beamon um. »Tut mir Leid, ich habe vergessen, nach Ihrem Namen zu fragen.« »Mark.« Er schüttelte ihm die Hand. »Todd.« Todd schwatzte ungezwungen mit ihm, bis eine Frau erschien und höflich das Ende ihrer Unterhaltung abwartete. 193
»Mark, das ist Cynthia«, sagte Todd. »Cynthia, Mark.« Beamon schüttelte ihr die Hand. »Sehr nett, Sie kennen zu lernen, Cynthia.« Sie war eine ziemlich bemerkenswerte Erscheinung mit einer langen geraden Nase und üppigem blondem Haar, das locker auf ihre Schultern fiel. Auf den ersten Blick hätte er sie auf Anfang dreißig geschätzt, aber ihre ganze Haltung ließ ihn seine Schätzung doch etwas nach oben korrigieren. Sie führte ihn in ein geräumiges Nebenzimmer mit antiken Möbeln und hübschen alten Teppichen. Nachdem er in einem weichen Ledersessel neben einem lodernden Kaminfeuer Platz genommen hatte, schob sie ihm ein Tablett zu, auf dem zwei Tassen mit heißem Kaffee standen. Dankend lehnte er Sahne und Zucker ab. »Genau wie ich«, lächelte sie. »Koffein pur – damit würde ich mich voll pumpen, wenn ich könnte.« Beamon probierte einen Schluck. Der Kaffee war ausgezeichnet, wie er es erwartet hatte. Er zog eine selbst gedrehte Zigarette aus der Tasche – hauptsächlich, um ihre Reaktion zu testen. »Darf ich?« »Aber sicher.« Sie schlug ein dickes Lederbuch auf und legte es auf den Tisch. »Möchten Sie sich gern in unser Gästebuch eintragen?« Er zögerte, wieder um ihre Reaktion zu sehen. »Lieber nicht. Noch nicht.« »In Ordnung«, nickte sie unbekümmert, schloss das Buch und legte es neben ihren Sessel. »Also, Mark, was wissen Sie denn über unsere Kirche?« »Nicht viel, Cynthia. Ich weiß, dass Sie glauben, Albert 194
Kneiss sei ein Bote Gottes, der alle paar tausend Jahre auf die Erde kommt, um den Menschen zu predigen.« »So ist es ungefähr. Wollen Sie eintreten?« Sie lachten beide. Beamon war überzeugt, dass ihre Bemerkung keineswegs so spontan war, wie sie geklungen hatte, sondern eine genau kalkulierte Antwort, um die Atmosphäre zu lockern und einem potenziellen Interessenten die Anspannung zu nehmen, die er vielleicht empfand. »Ernsthaft, Sie haben schon Recht«, fuhr sie fort. »Aber jeder gute Lehrer muss auch die Fähigkeiten der Schüler berücksichtigen. Niemand würde versuchen, einem Kleinkind Infinitesimalrechnung beizubringen.« Beamon nickte zustimmend. »Als Gottes Wort zum ersten Mal in zusammenhängender Form aufgeschrieben wurde – in der ursprünglichen Bibel –, wurden zahlreiche Gleichnisse und Bilder benutzt. Gott enthüllte den Menschen nur so viel, wie sie zur damaligen Zeit begreifen konnten.« Cynthia schien ein wenig irritiert von seinem Rauch, und Beamon warf die Zigarette in den Kamin. »Entschuldigung, ich kann es mir einfach noch nicht ganz abgewöhnen.« »Wir bieten wundervolle Kurse an, um Nichtraucher zu werden«, erklärte sie eifrig, »und haben die höchste Erfolgsrate weltweit.« Beamon trank einen Schluck Kaffee und spülte den Tabakgeschmack aus seinem Mund. »In Ihrer neuen Version der Bibel steht also die ganze Wahrheit, und sie erklärt uns ohne diesen abergläubischen Klimbim die Natur Gottes, was er von uns will, warum wir hier sind …« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »O nein. Wir haben uns 195
zwar in den letzten zweitausend Jahren sehr weiterentwickelt, doch leider sind wir immer noch nicht so weit, um Gott ganz zu begreifen. Albert hat Gottes Lehren einfach dem derzeitigen Wissensstand angepasst und wird in zweitausend Jahren unter einem anderen Namen zurückkommen. Bis dahin hat die Menschheit wieder mehr gelernt und kann deshalb Gott noch besser begreifen.« Beamon musste anerkennen, dass sie gut war. Sie wirkte ruhig und voller Selbstvertrauen und gab ihm das Gefühl, echte Sympathie für ihn zu empfinden, zudem war sie sehr attraktiv und ungefähr im passenden Alter. Wenn er eine Frau gewesen wäre, hätte man ihm als geistlichen Führer vermutlich einen gut aussehenden Kerl zugeteilt. »Ich habe ein paar Artikel darüber gelesen, dass man in Deutschland zu glauben scheint, Ihre Kirche halte sich nicht an das Gesetz und sei deshalb gefährlich.« Sie schaute einen Moment lang traurig ins Feuer. »Die Deutschen haben offenbar Schwierigkeiten damit, Andersgläubige zu akzeptieren, das ist ja bekannt. Unsere Anhänger hatten dort zu kämpfen, das ist wahr. Wir helfen ihnen so gut wir können, doch leider hat Freiheit nicht in allen Ländern einen so hohen Stellenwert wie bei uns.« Eine perfekte Antwort, dachte Beamon. Sie griff den Angreifer an, statt das Opfer zu verteidigen, und kam gleich auf den ziemlich vagen Begriff von Freiheit zu sprechen – ein Thema, das unter Garantie jeden Amerikaner in Wallung brachte. »Wissen Sie, wir sind eine ziemlich verschworene Gemeinschaft«, fuhr sie fort. »Die Kirche bietet Beratungsstellen für alle erdenklichen Probleme, Hilfe für Bedürftige, Ge196
sundheitsfürsorge, berufliche und geschäftliche Kontakte und noch vielerlei mehr. Haben Sie Kinder?« Beamon schüttelte den Kopf. »Schade. Wir haben einige Schulen gegründet, die zu den besten in unserem Land gehören. Die Erziehung liegt uns wirklich am Herzen – vielleicht mehr als alles andere.« »Ich höre, es ist ziemlich teuer, bei Ihnen Mitglied zu sein«, warf Beamon ein. »Nicht besonders«, entgegnete sie ein wenig misstrauisch. »Angesichts der vielen Dienste, die wir anbieten, und unseres starken sozialen Engagements bitten wir unsere Mitglieder natürlich um etwas Unterstützung.« »Erscheint Albert Kneiss je in der Öffentlichkeit?« Sie musterte ihn argwöhnisch. »Sind Sie Reporter?« Beamon war etwas überrascht über diese abrupte Frage, aber dann erinnerte er sich an Chet Michaels’ Schwierigkeiten, Presseartikel über die Kirche zu finden. »Reporter? Nein. Nein, das bin ich nicht.« Sie schwieg längere Zeit, dass er schon glaubte, das Gespräch sei beendet. »Albert meditiert«, sagte sie schließlich. »Wie Sie bestimmt schon gehört haben, ist er nur noch kurze Zeit bei uns.« Beamon stand auf und zog eine neue Zigarette aus der Tasche. »Ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben, Cynthia. Ich habe viel gelernt.« Er deutete auf einen Stapel von Bibeln neben ihrem Sessel. »Wenn Sie eine übrig hätten, würde ich mir gern eine davon mitnehmen.« Fast ein wenig zögerlich reichte sie ihm ein Buch. »Ich 197
hoffe, es berührt Sie genauso sehr wie mich beim ersten Lesen.« Beamon blätterte kurz durch die Seiten und lächelte. »Daran habe ich keine Zweifel.«
SECHSUNDZWANZIG Beamon bog auf seinen Parkplatz ein und schaffte es, den Wagen ausnahmsweise einmal rechtzeitig genug abzubremsen, ehe er gegen die Bäume rutschte. Er ließ den Motor laufen, während er sich eine Zigarette anzündete und seinen neuen Notizblock von der Windschutzscheibe zog. Nachdem er das Innenlicht angeschaltet hatte, blätterte er durch die Seiten. Er hatte Hans Volkers Warnungen nicht so ohne weiteres abtun wollen und angefangen, nach möglichen Verfolgern Ausschau zu halten. Jedes Mal, wenn er ein Auto sah, das öfter hinter ihm auftauchte, als dass es Zufall sein konnte, notierte er sich Farbe, Marke, Modell, die Nummer, die Zeit und den ungefähren Ort und überprüfte jeden Abend seine Aufzeichnungen. Bislang hatte sich nichts Aufregendes ergeben – abgesehen von der Tatsache, dass er beinahe zwei Fußgänger überfahren hätte und einen Bordercollie, als er gleichzeitig mit einer Zigarette, einem Becher Kaffee und dem Block jongliert hatte. Vier Wagen hatte er an diesem Tag eingetragen. Er blätterte ein paar Seiten zurück und stutzte bei einem Eintrag über 198
einen roten Taurus. Ein solcher Wagen war ihm auch heute aufgefallen. Die Nummer stimmte überein, aber im Grunde hatte das noch nichts zu bedeuten. Es könnte ein Nachbar sein, der zur gleichen Zeit wie er zur Arbeit losgefahren war. Er verglich die Tageszeit und den Ort: 9 Uhr morgens und 15.45 Uhr nachmittags; einmal zwischen seiner Wohnung und dem Büro, das zweite Mal allerdings in einer völlig anderen Gegend. Beamon lehnte sich zurück und blies einen Rauchring in die Luft. Es könnte natürlich ein Zufall sein, aber das schien unwahrscheinlich. Die eigentliche Frage war, ob es sich um Leute der Kirche handelte oder nicht, und wenn ja, ob es irgendwas mit Jennifer Davis zu tun hatte. Falls Hans Volker Recht hatte und die Kneissianer unter krankhaftem Misstrauen gegenüber Regierungsbehörden litten, schien es nur logisch, dass sie schon allein aus Prinzip den Leiter des FBIBüros von Flagstaff im Auge behielten. Beamon legte die Füße auf die Sofalehne und schob sich ein weiches Kissen unter den Kopf, ehe er die Kneiss-Bibel aufschlug. Sie schien in vier Bücher unterteilt zu sein – Natur, Altes Testament, Jesus und Die Zukunft. Jedes Buch hatte mindestens zwanzig Unterabschnitte. Die ganze Bibel umfasste geschlagene 1212 Seiten. Es war vermutlich besser, nur mal darin zu blättern. Er brauchte ungefähr eine Stunde, um die Bedeutung der einzelnen Bücher herauszufinden. Die Genesis war durch das Buch »Natur« ersetzt worden. Es beschrieb die Erschaffung des Universums, die Evolution des Menschen und der 199
»niederen Arten«, und zwar wissenschaftlich wesentlich genauer als die ursprüngliche Bibel. Kneiss zufolge hatte Gott Leben in die Ursuppe gehaucht, die es auf Erden gab – ebenso auf einer geheimen Anzahl anderer Planeten im Universum –, und dann gewartet, um zu sehen, was passierte. Allerdings hatte er es gelegentlich dann doch für angebracht gehalten, in den Evolutionsprozess einzugreifen, um so komplizierte Strukturen zu erschaffen wie beispielsweise Flügel oder die komplexen Organe, mit denen Spinnen ihre Netze erzeugten, sowie etliche andere Dinge, über die Anthropologen seit Darwin staunten und rätselten. An der Menschheit hatte er natürlich ein besonderes Interesse gehabt und den ersten Boten vor vielen Jahren gesandt, um dem Homo sapiens den Weg zu ebnen, da sich die Hominiden nicht gerade als Krone seiner Schöpfung erwiesen hatten. Der Abschnitt »Altes Testament« schien vor allem mit den klischeehaften Darstellungen der ursprünglichen Bibel aufzuräumen. Die Personen wurden mit psychologischem Einfühlungsvermögen gezeichnet, was sie menschlicher und daher glaubwürdiger machte. David wurde ein mörderischer, eitler Mann, der für Gottes Plan notwendig war; die Schwarzweißdarstellung der Römer wurde etwas differenziert, und Gottes Beweggründe wurden klarer und gleichzeitig mehrdeutiger. Ähnlich war es in den Kapiteln über Jesus. Viele der zentralen Momente seines Erdenlebens wurden aus seiner Sicht erzählt. Das Elend der damaligen Menschen sowie der Aberglaube, der ihre Existenz beherrschte, wurden so lebendig geschildert, dass Beamon die Frustration Jesu fast spüren 200
konnte bei seinem Versuch, Gottes Botschaft einer Bevölkerung zu verkünden, die nichts verstand und alles fürchtete. Der Abschnitt mit dem Titel »Die Zukunft« ersetzte die Offenbarung des Johannes und unterschied sich am stärksten vom Original. Darin wurde behauptet, dass das Ende der Menschheit noch nicht endgültig feststehe. Gottes Hoffnung sei, dass sich die Menschheit weiterentwickle bis zur völligen Erleuchtung, und nach diesem Kriterium würde sie beurteilt werden. Würde die Menschheit in der Lage sein, Aberglaube, Angst und Hass hinter sich zu lassen, um ihr ganzes Potenzial auszuschöpfen, durch das sie sich von den anderen Spezies unterschied? Beamon gähnte und legte das Buch auf seine Brust. Halb fünf morgens. Er zählte die leeren Bierflaschen auf dem Tischchen. Acht. Drei mehr, als er sich sonst täglich gestattete. Er hob die Kneiss-Bibel wieder auf und betrachtete den schwarzen Einband. Als literarisches Werk war sie wirklich erstaunlich: mit spürbarer Leidenschaft geschrieben, logisch, gut gegliedert, leicht lesbar; nahm den Engeln die Flügel ab und dem Teufel die Hörner, dafür zeigte sie der Menschheit ihr Potenzial auf und einen klaren Weg, um es zu nutzen. Sie bot Antworten für eine Welt, die verzweifelt nach einem Sinn suchte, und sich an Götter klammerte, die stehen geblieben waren, während ihre Schäfchen sich weiterbewegt hatten.
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SIEBENUNDZWANZIG »Ein Wunder!« Beamon blickte sich befriedigt in seinem Büro um. Gut, von der Decke baumelten immer noch Kabel, und überall lag nach wie vor diese unvermeidliche weiße Staubschicht, aber der Betonfußboden war endlich unter einem braunen Teppich verschwunden. Seine Sekretärin trat zu ihm und lehnte sich gegen den Türrahmen. »Ein Wunder, ach ja? Man erzählt sich, Sie hätten ein Gespräch mit dem Bauunternehmer gehabt und ihm gründlich die Hölle heiß gemacht. Wie ich höre, waren seine Leute die ganze Nacht hier drin.« »Morgen, Mark.« »Setzen Sie sich, Chet«, erwiderte Beamon, ohne von seiner Zeitung aufzuschauen. »Sie haben hoffentlich keine dreckigen Schuhe, oder?« »Nee. Hübscher Teppich.« »Eindeutig ein Bodenbelag, wie es einem Mann von meinem Rang gebührt.« Beamon überflog die letzten Zeilen des Artikels, den er gerade gelesen hatte, und warf die Zeitung auf den Schreibtisch. Michaels lachte. »Eindeutig.« »Was meinen Sie zu der Theorie Ihrer Freundin, Chet?« Michaels’ Gesicht wurde ernst. »Zuerst war es mir richtig peinlich, dass ich Sie dorthin geschleppt hatte. Aber dann konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen, wissen Sie? Der Einschusswinkel, die Kratzer auf seiner Hand … Susan ist wirklich ein kluges Mädchen.« 202
»Und attraktiv ebenfalls«, sagte Beamon. »Wieso haben Sie sich so jemanden entgehen lassen?« »Lesbisch.« »Nein.« »Doch.« »Na ja, es ist schwer, eine gute Frau zu finden. Manchmal muss man einfach kleine Unvollkommenheiten übersehen.« Beamon schaute auf den blauen Ordner, ohne den sein junger Schützling keinen Schritt zu machen schien. »Was haben Sie für mich?« »Sekunde mal, Mark. Sie können mich nicht so in der Luft hängen lassen. Was denken Sie über Susans Theorie?« »Dazu kommen wir noch, aber eins nach dem anderen«, antwortete Beamon und deutete auf die Ordner. Michaels warf zögernd einen von ihnen auf den Schreibtisch. »Das sind etliche Artikel über die Kirche, die ich von den Zeitungsverlagen bekommen habe. Manche sind ziemlich gut – eigentlich sogar die meisten. Sachliche Berichterstattung in den Medien scheint man mit jedem Jahr seltener zu finden.« »Ich lese sie heute Abend. In einer Stunde habe ich ein Treffen, das den ganzen Tag dauern wird. Steht irgendwas drin, das ich sofort wissen müsste?« »Eigentlich nicht. In einigen werden die Geschäftspraktiken der Kirche kritisiert und die Tatsache, dass sie juristisch gegen ihre Kritiker vorgehen. In anderen geht es darum, dass die Mitgliedschaft bei ihnen reichlich teuer ist … oh, und ein wirklich interessanter Artikel aus Psychology Today war ziemlich cool. Er beschäftigt sich damit, welchen Druck die Kirche auf ihre Leute ausübt, neue Mitglieder anzuwerben, 203
und was das für seelische Folgen hat. Also, was ist mit Susans Theorie?« »Wir kommen gleich dazu.« Beamon deutete auf den anderen Ordner. »Was ist das?« »Informationen, die ich über Ihren Nachbarn und Sara Renslier zusammengestellt habe.« Beamon nickte. »Die Kurzfassung, bitte.« »Robert T. Andrews. Fünfunddreißig Jahre alt, stammt aus Louisiana – Baton Rouge. Hat die militärische Laufbahn eingeschlagen, war bei einer Eliteeinheit der Luftlandetruppen und wurde im Juni 1995 als Sergeant ehrenhaft entlassen. Soweit ich feststellen konnte, ist er seither arbeitslos. Ich habe versucht, seine vorherige Adresse zu überprüfen – es ist ein Haus oben in den Bergen. Konnte allerdings nicht dorthin – die Straße ist zugeschneit.« Er schaute auf. »Sie glauben, dieser Kerl beobachtet Sie?« Beamon zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich nicht. War nur so ein Gefühl.« »Ich kann noch weiter nachbohren.« Beamon schüttelte den Kopf. Wenn die Kirche ihn tatsächlich beobachtete, war es besser, etwas vorsichtig zu sein. »Aber vielleicht könnten Sie möglichst unauffällig herausfinden, ob sonst noch jemand unter seiner früheren Adresse lebt, und wenn ja, besorgen Sie mir auch über den oder die Betreffenden einige Informationen. Was ist mit dieser Renslier?« »Sara Renslier ist einundfünfzig. Gibt die Kirche als ihren Arbeitgeber an und Kneiss’ Villa als ihren Wohnsitz. Anscheinend ist sie nach der Schule ein paar Jahre lang Buchhalterin gewesen und fing dann an, für die Kirche zu arbei204
ten. Keine Vorstrafen; keine Angaben darüber, welche Position sie innerhalb der Kirche einnimmt. Reden wir jetzt über die Selbstmordtheorie?« Beamon stand auf. »Jawohl. Holen Sie mir Theresa und James.« Diese beiden Agenten schienen ihm unter allen seinen Leuten neben Chet am flexibelsten und phantasievollsten zu sein. »Aber vorerst nichts über die Spur in Richtung Kirche, okay?« Michaels nickte etwas verwundert. Beamon folgte ihm zur Tür. »D. Sie hatten doch Schauspielerei als Hauptfach, nicht wahr?« »Ich habe aber auch einen Abschluss in Verwaltungsmanagement gemacht«, erwiderte sie etwas spitz. »Schon recht, aber jetzt brauche ich eine Schauspielerin. Taugen Sie was?« Sie schaute ihn misstrauisch an. »Es gibt schlechtere.« »Schließen Sie die Tür hinter sich, Chet«, befahl Beamon, als Michaels mit seinen beiden Kollegen hereinkam. »Okay, es geht darum: Chet und ich haben im Fall Davis eine Theorie und brauchen etwas Hilfe. Was ich Ihnen erzählen werde, bleibt strikt innerhalb dieser vier Wände. Ich meine es ernst. Falls ich höre, dass irgendwas durchgesickert ist, gebe ich nicht eher Ruhe, bis ich den Schwätzer ausfindig gemacht und dafür gesorgt habe, dass er oder sie aus dem FBI geschmissen wird. Klar?« Beamon musterte die Gesichter der jungen Agenten und seiner Sekretärin, die zustimmend nickten. »Gut. Wir haben Beweise, dass Mr. Davis möglicherweise seine Frau erschossen und danach Selbstmord begangen hat.« 205
Mit Ausnahme von Michaels schienen alle bestürzt und flüsterten leise miteinander, doch niemand sagte oder fragte etwas. Vielleicht waren sie zu eingeschüchtert von seiner kleinen Ansprache. »Also, mein Problem ist, dass ich keinen Tatverlauf herausfinden kann, der zu den Fakten passt. Und deshalb brauche ich Ihre Hilfe.« Beamon nahm ein paar Karteikarten aus seiner Schreibtischschublade und schrieb einige Namen darauf. »D. Sie sind Patricia Davis.« Er reichte ihr die entsprechende Karte, die sie sich an die Brust heftete. »Theresa – Sie sind Jennifer, ich bin Eric Davis. Und Chet und James sind die mutmaßlichen Verbrecher.« Er reichte ihnen Karten, auf denen »Nummer 1« und »Nummer 2« stand, dann lehnte er sich zurück und begutachtete seine Truppe. Irgendwas fehlte noch. Er reichte Michaels einen Papierhefter und James ein Lineal. »Das sind eure Waffen.« Kritisch musterte er danach Theresas ordentliche Frisur und das konservative blaue Kostüm, nahm eine Büroklammer und brach ein Drittel davon ab. Den restlichen Draht formte er zu einer Schlinge. »Stecken Sie sich das an die Nase.« Sie schaute ihn unsicher an. »Jennifer hat ein Nasenpiercing«, erklärte er ungeduldig. »Los, damit wir anfangen können.« Widerstrebend steckte sie sich den Draht an die Nase und betrachtete ihn schielend. »Jawohl, jetzt ist es richtig«, nickte Beamon. »Okay. Chet, möchten Sie unsere erste Theorie erläutern?« »Warten Sie mal, Mark«, unterbrach D. »Sie wissen alles 206
über Mr. Davis, und Jennifers Lebensgeschichte war nach ihrem Verschwinden in sämtlichen Zeitungen. Aber ich weiß gar nichts über meine Rolle.« Beamon nickte den anderen zu. »Das nenne ich Engagement. Nehmen Sie sich daran ein Beispiel.« Er stand auf, stellte sich mit dem Rücken gegen die Wand und winkte D. zu sich. »Patricia Davis ermöglicht ihrem Ehemann, das College zu besuchen, und unterstützt ihn bei seinen verschiedenen geschäftlichen Unternehmungen, hat aber nicht mehr gearbeitet, seit sie Jennifer vor dreizehn Jahren adoptierten. Sie ist aktiv im Elternbeirat und offenbar mit Leib und Seele Mutter – obwohl Jennifer sie … na ja, sagen wir, ein bisschen spießig findet. Daneben ist sie in etlichen Wohltätigkeitsorganisationen tätig und gehört einem Bridgeclub an. Jennifer ist ihr einziges Kind. Ein eigenes hatte sie nie.« D. nickte. »Das dürfte genügen.« »Okay, dann los. Chet, ich glaube, Sie wollten mich gerade dazu bringen, meine Frau zu töten und danach Selbstmord zu begehen.« Michaels packte Theresa und hielt ihr den Hefter an den Kopf. »Okay, Mr. Davis. Erschießen Sie Ihre Frau und töten Sie sich selbst, oder Ihre Tochter ist dran.« Schweigen. »Ich … ich habe keine Waffe, mein Junge«, sagte Beamon. »Gib ihm deine«, forderte Chet seinen Kollegen auf. »Auf keinen Fall«, protestierte James. »Ich erschieße ihn für dich, wenn du willst, aber wer weiß, was ein Kerl in seiner Situation tut, wenn er bewaffnet ist.« »Ja, du hast Recht.« Michaels ließ Theresa los. 207
»Sehr gut. Genau deshalb sind wir hier. Um unwahrscheinliche Möglichkeiten auszuschließen«, sagte Beamon. »Wie wäre es damit: Jennifer ist nie nach Hause gekommen. Ihr Vater ist aus irgendeinem Grund unterwegs durchgedreht und hat sie getötet.« Beamon nahm Michaels’ Hefter und zielte damit auf Jennifer. Er wollte gerade »abdrücken«, als seine Sekretärin ihn von hinten packte und anfing, ihn zu würgen. Bis er sich befreit hatte, war Theresa zur Tür gerannt. Beamon nickte seiner Sekretärin zu. »Sie haben Recht, es gab Anzeichen für einen Kampf.« Er packte sie und »erschoss« Jennifer. D. spielte eindrucksvoll die aufgelöste Mutter, warf sich neben ihrer Tochter auf die Knie – und hatte offensichtlich einen Riesenspaß an der ganzen Sache. »Okay, okay«, sagte Beamon. »Es ist wirklich mehr als unwahrscheinlich, dass er Jennifer getötet und die Mutter nichts unternommen hat, bis sie zu Hause waren. Ja, warum sollte er Mama überhaupt nach Hause bringen?« Theresa hob den Kopf vom Teppich. »Was ist, wenn sie daran beteiligt war? Und als sie nach Hause kamen, hat Mr. Davis die Reue gepackt.« Beamon war skeptisch. »Was meinen Sie, D.? Haben Sie das Gefühl, Sie haben dabei mitgemischt?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht. Dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Außerdem bleibt noch die große Frage – wo zur Hölle ist die Waffe geblieben?« Alle überlegten angestrengt. »Okay, versuchen wir mal eine andere Variante«, sagte Beamon und ignorierte die Zuschauer, die sich inzwischen 208
am Fenster zu seinem Vorzimmer versammelt hatten. »Dad dreht durch, und Jennifer entkommt.« Er wandte sich an D. »Patricia, jetzt reicht’s. Du hast schon wieder nicht die Zahnpastatube zugeschraubt. Peng.« D. stürzte zu Boden, und Theresa rannte auf die andere Seite des Raums. Beamon hielt den tödlichen Hefter an seinen Kopf und fiel zu Boden. Seine Augen waren geschlossen, aber er konnte hören, wie Theresa auf ihn zukam. »Es tut mir Leid, Mark, aber mir fällt beim besten Willen kein Grund ein, warum ich Ihnen die Waffe abnehmen sollte.« Beamon setzte sich auf. »Scheiße. Mir auch nicht. Streichen wir diese Variante.« »Was ist, wenn Jennifer hinter der Geschichte steckt?« Schulterzucken. Dann sagte Beamon: »Damit kämen wir wieder zum ersten Szenario. Selbst wenn sie einen Komplizen hatte, der ihr eine Waffe an den Kopf hielt, und sie flehte ihren Vater an, ihre Mutter zu töten und sich zu erschießen, glaube ich nicht, dass er es getan hätte. Außerdem – weshalb hat sie sich erst die Mühe gemacht, es als Mord zu tarnen, und anschließend die Waffe mitgenommen? Und warum ist sie nicht wieder aufgetaucht, um ihr Erbe zu kassieren? Und wo zur Hölle ist … Scheiße, ich weiß nicht …« »Was ist, wenn sie bei der Heimkehr Einbrecher überrascht haben?«, fragte Chet. »Sie schnappen sich Jennifer und sagen den Eltern, sie würden sie vergewaltigen und danach umbringen. Aus lauter Verzweiflung tötet der Vater sich und seine Frau.« Beamon schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Er hätte zumindest die Bullen angerufen und versucht, seine Tochter 209
zu retten. Und auch in diesem Fall bliebe die Frage, wo ist die Waffe?« »Was ist, wenn Jennifer schon früher getötet wurde?« »Was, bei dem Einbrecher-Szenario? Warum zur Hölle sollten sie dann die Leiche mitnehmen? Nekrophilie? Nee, das sind Phantastereien.« Damit stand Beamon auf und half seiner Sekretärin auf die Füße. »Okay, Leute, danke. Jetzt sehen wir zumindest klarer.« Sie verließen den Raum und diskutierten leise miteinander über weitere Möglichkeiten. Michaels schloss die Tür, während Beamon sich an seinen Schreibtisch setzte und einen Schluck kalten Kaffees trank. »Was machen wir mit Susans Theorie, Chet?« Michaels runzelte die Stirn. »Mir fällt einfach nichts ein, das wir übersehen haben. Ich meine, da ist diese Verbindung zur Kirche, aber ich kann mir absolut nicht vorstellen, was das damit zu tun haben sollte, dass Eric Davis seine Frau erschießt und sich selbst umbringt.« Beamon rieb sich die Schläfen und spürte ein dumpfes Pochen, das wahrscheinlich anhalten würde, bis diese Geschichte vorbei war. »Ich leider schon.« Völlig frustriert schaute Michaels ihn an. »Bitte, Mark. Diese Sache bringt mich um.« »Ich sage es noch einmal, Chet. Kein Wort darüber außerhalb dieses Raums, klar?« Michaels nickte eifrig. »Ich habe mit ein paar Leuten über die Kirche der Evolution gesprochen und selbst ein wenig recherchiert. Sie haben eine ziemlich beeindruckende Organisation aufgebaut – und ihre Anhänger sind regelrecht fanatisch. Betrachten wir mal 210
die Fakten in chronologischer Reihenfolge.« Beamon hob seinen Zeigefinger: »Erstens: Jennifers leibliche Mutter ändert mehrmals ihren Namen und wechselt wiederholt ihren Aufenthaltsort, obwohl wir keinen Grund dafür herausfinden konnten. Zweitens: Jennifers leibliche Eltern kommen bei einem mysteriösen Brand ums Leben, der mitten in der Nacht ausbricht, aber ihre zweijährige Tochter schafft es zu entkommen und wird draußen im Hof gefunden. Drittens: Das Ehepaar Davis, das ungefähr zur gleichen Zeit wie die Kirche nach Flagstaff gezogen ist und sich vorher nie um eine Adoption bemüht hat, taucht auf und nimmt Jennifer zu sich, gleich nachdem sie ins Waisenhaus gekommen ist.« Michaels schaute ihn mit einem etwas sonderbaren Gesichtsausdruck an. »Alles okay, Chet?« »Wie? Ja, ja. Es ist nur so, dass ich mir die ganze Arbeit mache und Informationen für Sie zusammentrage, Stunden damit verbringe, alles aufzuschreiben, es Ihnen jeden Morgen gebe, und, na ja … Sie scheinen immer nur mit halbem Ohr zuzuhören. Ich hätte nie gedacht, dass Sie sich tatsächlich an irgendwas erinnern würden.« Beamon lachte. Seine Mutter hatte ihn deshalb auch immer gescholten. »Wo war ich?« »Punkt vier.« »Genau: Albert Kneiss entscheidet, dass er dieses Jahr sterben wird, womit die Kirche keinen Führer mehr hat. Fünftens: Kneiss’ Enkelin verschwindet plötzlich, und ihre Adoptiveltern bringen sich um.« 211
Beamon stand auf und griff nach seiner Tasse. »Denken Sie mal über diese fünf Punkte nach, während ich mir einen neuen Kaffee hole.« Als Beamon sich wieder setzte, kritzelte der junge Agent noch immer wild auf einen Schreibblock. Schließlich legte er ihn auf den Schreibtisch, und Beamon sah, dass er die fünf Punkte fast wörtlich niedergeschrieben hatte. Michaels schaute zu ihm auf und sagte: »Ich denke noch.« Beamon legte seine Füße auf den Tisch und pustete in den Kaffeebecher. »Ist in Ordnung. Nur keine Eile.« Michaels stützte seine Ellbogen auf die Knie und starrte fast fünf Minuten lang regungslos auf seine Notizen. Schließlich hob er den Kopf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Okay. Ich hab’s, aber richtig scheint’s mir nicht.« »Nur raus damit.« »Jennifers leibliche Mutter war auf der Flucht vor der Kirche. Kneiss wollte, dass Jennifer einmal seine Nachfolgerin wird, aber seine Tochter wollte mit ihm und der Kirche nichts zu tun haben. Seine Anhänger haben ihr Haus niedergebrannt und dafür gesorgt, dass Jennifer nichts passierte, sie und ihr Ehemann kommen dagegen bei dem Brand um.« Er hielt inne und schaute ihn etwas unsicher an. »Bislang ist das ganz okay, nur weiter«, forderte Beamon auf. »Die Kirche beauftragt zwei ergebene Mitglieder, sie sofort zu adoptieren. Diese verheimlichen, dass sie ebenfalls Kneissianer sind, weil sie um keinen Preis wollen, dass irgendjemand einen Zusammenhang wittert. Schließlich verkündet Kneiss, dass es Zeit für seine Himmelfahrt sei. Die Kirche holt sich Jennifer und befiehlt ihren Adoptiveltern, Selbstmord zu begehen. Aus religiösen Gründen hat sich schon so 212
mancher freiwillig umgebracht – das hat die Geschichte oft genug bewiesen.« Daraufhin nickte Beamon nachdenklich. »Es gibt nur ein Problem, Mark. Warum mussten sie sich umbringen?« »Das war die einzige Möglichkeit. Überlegen Sie mal, Chet. Die Kirche muss die beiden loswerden – sie wären die Ersten gewesen, die ich mir nach Jennifers Verschwinden vorgeknöpft hätte. Und es hätte nicht lange gedauert, bis ihre Verbindung zur Kirche ans Licht gekommen wäre.« »Okay, da gebe ich Ihnen Recht. Aber warum hat man sie nicht einfach umgelegt? Sie sagen doch selbst immer, die simpelste Antwort ist gewöhnlich die richtige Antwort.« »Das hätte man machen können, aber bedenken Sie mal, was für Probleme das mit sich gebracht hätte. Jennifer hätte die Täter gehasst und wahrscheinlich nichts mit der Kirche zu tun haben wollen. Eine zweite Möglichkeit wäre es gewesen, Jennifer zu holen und danach die Eltern zu töten. Damit hätten sich aber gleich zwei Probleme ergeben: Jennifer würde glauben, sie habe eine Familie, zu der sie zurück könnte, und hätte sich womöglich geweigert, in die Kirche einzutreten. Und wenn sie schließlich doch erfahren hätte, dass sie tot sind, wäre durch den Schock möglicherweise die ganze sorgfältige Gehirnwäsche der Kirche zunichte gemacht worden.« Beamon trank einen Schluck Kaffee. »Ich hätte die beiden Eltern vor ihren Augen Selbstmord begehen lassen, damit sie sieht, wie viel ihnen die Kirche bedeutet, und dass sie keinerlei familiäre Unterstützung mehr hat. Ich meine, können Sie sich vorstellen, welche Folgen so etwas bei einem fünfzehnjährigen Mädchen hat?« 213
ACHTUNDZWANZIG Jennifer Davis schaute auf den tropfenden Wasserhahn und schätzte, dass es etwa zwischen halb drei und halb vier nachmittags am 6. März war. Ihre Uhr war eine simple Konstruktion. Sie hatte endlos gezählt – einundzwanzig, zweiundzwanzig – und unter dem tröpfelnden Wasserhahn eine Tasse gefüllt. Dann hatte sie Tasse für Tasse ins Waschbecken gegossen und sorgfältig mit einer Gabel Linien in das Porzellan gekratzt, bis sie sich eine Uhr gebastelt hatte. Dass sie endlich wieder ein Zeitgefühl hatte, war eine unglaubliche Hilfe gewesen, sich eine feste Routine anzugewöhnen: um zehn schlafen gehen, gegen acht aufstehen; tagsüber die Bibel studieren, die der alte Mann ihr gegeben hatte; am frühen Nachmittag etwas Gymnastik machen; abends weiterlesen. Dadurch hatte sie langsam wieder ins Gleichgewicht gefunden. Ihr erster Eindruck war richtig gewesen. Ihre Mahlzeiten wurden in völlig unregelmäßigen Abständen serviert: Manchmal kam die nächste schon nach knapp einer Stunde, manchmal dauerte es bis zu acht Stunden. Seit sieben Tagen hatte sie niemanden mehr gesehen oder gesprochen, und sie hatte in dieser Zeit viel nachgedacht. Sara war eine Lügnerin. Das sagte sie sich mindestens zehnmal am Tag. Der alte Mann – ihr Großvater – wusste bestimmt nichts davon, wie man sie behandelte. Sara wollte, dass sie vor lauter Angst und Einsamkeit durchdrehte, damit sie weiterhin die Kirche leiten konnte. 214
Als sie hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde, rannte Jennifer aus dem Badezimmer, damit man nicht ihren behelfsmäßigen Chronometer entdeckte, und schaffte es gerade rechtzeitig, ehe Sara hereinkam. »Es tut mir Leid, Jennifer. Es tut mir wirklich Leid, dass ich dich so lange allein lassen musste.« Jennifer fuhr zurück, als sie die Hand hob, um ihr übers Haar zu streicheln. Sara schaute sie bekümmert an. »Oh, Schatz. Ich weiß, wie einsam du dich fühlst, aber du musst mir vertrauen. Es gibt keinen anderen Weg.« Verstohlen spähte Jennifer an ihr vorbei und sah in der Tür den Mann mit dem auffälligen schwarzen Schnurrbart, der Sara immer zu begleiten schien. Bisher hatte sie ihn nie weiter beachtet, aber jetzt fiel ihr zum ersten Mal seine schlanke, drahtige Gestalt auf und die Narbe, die von der Oberlippe bis zu seinem rechten Auge verlief. »Was wollen Sie von mir?« Jennifer hatte Mühe, mit ihren wirren Gefühlen zurechtzukommen. Auch wenn sie genau wusste, dass Sara sie hier eingesperrt hatte, war sie andererseits der einzige Mensch, den sie sah, der einzige Mensch, der mit ihr sprach. Spät nachts ertappte sie sich dabei, wie sie sich eine Sara vorstellte, die sich um sie sorgte, und versuchte sich einzureden, dass das einzige menschliche Wesen, mit dem sie irgendeinen Kontakt hatte, es gut mit ihr meinte. »Du weißt, dass ich dich nur vor den anderen beschützen will, Jennifer. Es ist etwas kompliziert, du …« »Ich glaube Ihnen nicht«, entgegnete Jennifer. Sie hatte diesen Satz mindestens hundertmal in den letzten Tagen geübt, aber es war trotzdem nicht leicht, die Worte wirklich auszusprechen. 215
»Was hast du gesagt?« Jennifer hörte ihren gereizten Tonfall und spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Ihre Entschlossenheit geriet ins Wanken, und sie fühlte sich plötzlich wie ein kleines Kind, das seine Mutter verärgert hatte. Sie biss sich auf die Innenseite ihrer Wangen und konzentrierte sich ganz auf den Schmerz. Diesen Trick benutzte sie oft bei Radrennen, wenn sie einen Tiefpunkt hatte. »Ich glaube Ihnen nicht.« »Hör mir gut zu, Jennifer. Es ist wichtig, dass du verstehst, was ich sage. Hörst du zu?« Jennifer nickte. »Du bist zu lange hier drin allein gewesen, und ich weiß, dass das, was mit deinen Eltern passiert ist, dich völlig durcheinander gebracht hat. Im Moment kannst du offensichtlich nicht klar denken, aber du musst mir vertrauen. Ich bringe dich jetzt zu deinem Großvater. Es werden noch andere dort sein. Wichtig ist, dass du kein Wort sagst, es sei denn, ich stelle dir eine direkte Frage. Okay?« Sie streckte wieder die Hand aus, aber Jennifer stieß sie beiseite. »Nein. Es ist nicht okay.« Sara schaute für einen Moment zu Boden. Als sie den Kopf wieder hob, war ihr Blick kalt geworden. Jennifer wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als sie sah, dass der Mann ins Zimmer kam. Sie wich nach rechts aus, war jedoch nicht schnell genug. Er packte sie und warf sie mit dem Gesicht nach unten aufs Bett. »Lass mich los!«, schrie sie, als der Mann ihr die Arme auf den Rücken drehte, und eine heftige Wut überkam sie. Mit welchem Recht hatte man ihr junges Leben kaputtgemacht, 216
mit welchem Recht hielt man sie hier fest? Heftig trat sie um sich, doch es nutzte nichts. Mit einem scharfen Klicken schloss er Handschellen um ihre Arme, ehe er sie losließ. Hilflos und erschöpft drehte sie sich auf den Rücken. Der Mann trat zur Seite, und Sara griff nach der Kette zwischen den Handschellen. Jennifer schrie auf, als sie kräftig daran drehte, aber sie wagte es nicht mehr, sich zu wehren. »Sei still«, befahl Sara ruhig. Jennifer gehorchte und blieb regungslos liegen, während der Mann wieder seinen Posten vor der offenen Tür bezog. Sie hatte das Gefühl, als seien ihre Handgelenke gebrochen, und der Schmerz, die Angst und die Verbitterung trieben ihr Tränen in die Augen. Sie drückte ihr Gesicht in die Laken und wischte sie weg. »So ist es besser.« Der Druck auf die Handschellen ließ nach. »Siehst du, was passiert? Du brauchst nur zu tun, was ich dir sage, dann ist alles gut.« Sara schwieg eine Ewigkeit, wie es ihr vorkam, und Jennifer lauschte regungslos auf ihre Atemzüge. »Ich habe gesagt, dass ich dich zu Albert bringe und dass noch einige andere dort sein werden. Was habe ich sonst noch gesagt?«, fragte sie schließlich. Jennifers Kehle war völlig trocken, und sie hatte Mühe zu sprechen. »Dass … dass ich nur Ihre Fragen beantworten soll«, brachte sie unsicher heraus. »Das ist richtig, Jennifer.« Erneut gab es eine lange Pause, ehe sie weitersprach. »Du hast niemanden mehr außer mir, weißt du? Deine Eltern haben dich mir übergeben. Ich ver217
anlasse, dass man dir deine Mahlzeiten bringt, versorge dich mit sauberen Kleidern, mit Wasser. Du bist zum zweiten Mal eine Waise geworden, Jennifer. Es gibt niemanden mehr, den es kümmert, was mit dir passiert. Niemanden außer mir.« Jennifer drückte ihr Gesicht wieder in die Kissen und begann leise zu schluchzen. »Weine nicht, Liebes.« Sara strich sanft über ihre nackten Beine. »Weine nicht. Es wird alles gut.« Jennifer spürte die Abdrücke von Saras verschwitzten Fingern auf ihrem Schenkel. Sie fröstelte. Das Zimmer war völlig verändert. Das Glas der Fenster war nicht mehr dunkel getönt, und das Licht der bleichen Nachmittagssonne zeichnete breite Streifen auf den Boden. Die komplizierten medizinischen Apparate waren verschwunden, und das Bett des alten Mannes war in die Mitte des Raums geschoben worden. Zwei Frauen und drei Männer in dunkler Kleidung hatten sich darum versammelt. Jennifers Atem bildete Dampfwolken in der eisigen Kälte des Zimmers. Sie stockte, aber Sara legte ihr eine Hand in den Nacken und schob sie weiter. Die vollkommen regungslose Gestalt wirkte starr wie eine Statue. Erneut stiegen Tränen in ihre Augen, als sie erkannte, dass der alte Mann, dessen Blicke sie auf sonderbare Weise etwas getröstet hatten in ihrer Einsamkeit und Angst, tot war. Jetzt gab es wirklich nur noch Sara. Sara blieb ein paar Schritte vor dem Bett stehen. Der Mann, der sie immer begleitete, ging an ihnen vorbei und trat zu der kleinen Gruppe. »Jennifer«, sagte Sara mit erhobener Stimme, und ihre 218
Worte waren eindeutig eher an die anderen im Raum gerichtet. »Dein Großvater hat dir gesagt, dass Gott dich dazu bestimmt hat, seine Stelle einzunehmen. Erinnerst du dich?« Jennifer starrte wortlos auf den Toten. »Jennifer?«, wiederholte Sara mit einem scharfen Unterton in ihrer ruhigen Stimme. »Erinnerst du dich?« Unwillkürlich dachte sie an die schmerzenden Handschellen und Saras Drohungen. »Ja.« »Dann bist du bereit, deinen Platz einzunehmen?« Jennifer holte tief Atem, wandte den Blick von ihrem Großvater ab und versuchte erfolglos, etwas klarer zu denken. »Ja«, flüsterte sie. Was konnte sie sonst schon anderes tun? Einer nach dem anderen kam zu ihr und küsste sie schweigend auf die Wange. In allen Augen stand tiefe Ehrfurcht. Nur bei dem Mann mit dem Schnurrbart, der sie wie die anderen küsste, sah sie darin einen stillen Triumph. Kurz darauf war sie allein mit Sara, ihrem namenlosen Begleiter und den sterblichen Überresten des Menschen, der einst ihr Großvater und Gottes Bote auf Erden gewesen war. Jennifer schaute wieder auf die Leiche und spürte einen kleinen Hoffnungsschimmer in sich aufkeimen. Sara wollte sie nicht hier haben, das wusste sie. Und sie wollte mit ihrer Kirche gar nichts zu tun haben. Jamies Mutter würde sie bestimmt aufnehmen. Es waren keine zwei Jahre mehr, bis sie ins College ging, und dann konnte sie sich ihr eigenes Leben aufbauen, das nichts zu tun hatte mit Albert Kneiss oder Sara oder ihren Eltern. »Ich will das alles nicht«, sagte sie. »Holen Sie die anderen 219
wieder zurück und sagen Sie es ihnen. Sie können die Kirche haben. Sie gehört Ihnen.« Saras Mund verzog sich zu einem abfälligen Lächeln. »Ich glaube, du verstehst das nicht ganz, Jennifer.« »Doch! Mein Großvater wollte, dass ich seine Nachfolgerin werde und die Kirche leite.« Sara schüttelte den Kopf. »Er wollte sehr viel mehr von dir.« Einen Moment lang war Jennifer verwirrt. Sie wusste schließlich, was er gesagt hatte. »Albert hat Gott viele Jahre lang gedient«, erklärte Sara. »Und zur Belohnung hat Gott ihn zu sich genommen.« Sie ergriff Jennifers Hand. »Es geht nicht darum, dass du die Kirche leitest, Jennifer. Du bist vielmehr auserwählt, Gottes neuer Bote zu sein.« Jennifer versuchte zurückzuweichen, doch Sara hielt sie fest. Sie schaute auf die Leiche ihres Großvaters und begriff plötzlich. Karfreitag war erst in ein paar Wochen. Er dürfte noch gar nicht tot sein. »Bald ist es Zeit für dich, deinen Platz bei Gott einzunehmen, Jennifer.« »Nein!«, schrie Jennifer und riss sich los. Der Mann mit dem Schnurrbart packte sie, ehe sie ihm ausweichen konnte. »Das war nicht das, was er gewollt hat, das wissen Sie ganz genau! Mein Großvater wollte mir die Kirche übergeben!« »Dein Großvater ist tot, Jennifer«, entgegnete Sara. »Und woher willst du wissen, was er wollte?« Die Augen fest geschlossen, biss sie sich wieder auf die Innenseite ihrer Wange. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Sie hatte sich von Sara übertölpeln lassen und vor Zeugen gesagt, dass sie sterben wollte. 220
Obwohl sie wusste, dass es sinnlos war, wehrte sie sich gegen den Mann, der sie festhielt, und sank verzweifelt zu Boden. Es gab niemanden mehr, der ihr helfen konnte. Niemand kümmerte es mehr, ob sie lebte. Und Sara wollte nur, dass sie starb.
NEUNUNDZWANZIG Beamon nahm die Plastiktüte ab, die an seinem vereisten Türknauf hing, schloss auf und klopfte den Schnee von seinem Parka und der Aktentasche, ehe er die Tür fest hinter sich zuzog. Sie wechseln sich ab, dachte er, als er später seinen Notizblock durchblätterte. Und sie fuhren offenbar am liebsten Fords. Mit einem grünen Textmarker kennzeichnete er die Einträge über einen roten Taurus, der so oft hinter ihm aufgetaucht war, dass es kein Zufall sein konnte. Es waren also zwei Autos. Möglicherweise noch mehr, aber das ließ sich nach dieser kurzen Zeit noch nicht sagen. Fest stand jedenfalls, dass man ihn verfolgte. Und zu fünfundsiebzig Prozent war er inzwischen auch sicher, dass sein neuer Nachbar sich der Aussicht wegen in dieser Apartmentanlage eingemietet hatte – wegen der Aussicht auf seine Wohnung. In der Plastiktüte, die an der Tür gehangen hatte, steckte ein feuchter Umschlag. Er enthielt nur einen einzelnen gelben Notizzettel.
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Hatte noch gar keine Gelegenheit, Ihnen dafür zu danken, dass Sie auf Emory aufgepasst haben. Essen um sieben? Carrie Beamon schaute auf seine Uhr und dann auf die Aktentasche, die prall gefüllt war mit lauter blödsinnigem Papierkram. Er hatte sich seit Wochen davor gedrückt – was schadete dann schon ein Tag mehr? Er ging zum Kühlschrank und öffnete ihn, fand aber nichts weiter als ein paar Dosen Bier. Vermutlich würde es zu diesem frühen Zeitpunkt in ihrer Beziehung keinen besonders guten Eindruck machen, wenn er bei Carrie mit den Resten eines Zwölferpacks Bier auftauchte. Wahrscheinlich war es besser, mit leeren Händen zu gehen. Aber was wusste er schon von Frauen? Seine Erfahrungen waren in dieser Hinsicht nicht besonders beeindruckend. Wenn man nicht die eher berufliche Beziehung zwischen ihm und seiner Partnerin Laura Vilechi mitrechnete, aus der schon aufgrund der Entfernung nicht mehr geworden war, lag seine letzte Verabredung bereits fast zwei Jahre zurück. Ein Freund hatte sie arrangiert und ihm erzählt, die Frau sei intelligent und attraktiv, allerdings eine Hexe. Beamon hatte das nicht weiter gestört – ihn hielten auch manche für einen ausgemachten Teufel. Erst später hatte er gemerkt, dass »Hexe« keine Beschreibung ihres Charakters gewesen war, sondern ihre Religionszugehörigkeit meinte. Es war eine Qual gewesen. Zuerst war auf dem Weg zum Restaurant eine schwarze Katze vor ihnen herspaziert, dann hatte sich eine Frau mit einer enormen Warze auf der Nase 222
an den Nebentisch gesetzt, doch er hatte es tapfer geschafft, sich bis zum Hauptgang jede Bemerkung zu verkneifen. Dann hatte sie jedoch unbedingt eine Geschichte erzählen müssen, in der irgendwie ein Besen vorkam. Das Ende war gewesen, dass sie ihm ein Glas Rotwein über die Hose geschüttet und ihn sitzen gelassen hatte. Seither hatte er irgendwie nie Zeit für eine Beziehung gehabt. Immer irgendein Fall, bei dem es um Leben und Tod ging, der ihm keine Chance auf ein Privatleben ließ, oder irgendwelcher Verwaltungskram, der dringend erledigt werden musste, ehe sein Leben zur Hölle wurde. Bis vor kurzem hatte er sich immer vorgenommen, einfach so weiterzumachen, bis er ein paar Jahre vor der Pensionierung mit einem Herzanfall tot umkippte. Aber schließlich hatte er erkannt, dass das dumm war. Es gab mehr im Leben als den rasch abklingenden Adrenalinstoß eines spannenden Falls. Beamon ging ins Schlafzimmer und strich sich seine spärlichen Haare glatt. Wenigstens war durch den Gewichtsverlust sein Gesicht schmaler geworden, was schon eine bedeutende Verbesserung war, obwohl es immer noch ziemlich unwahrscheinlich schien, dass ihn jemand gut aussehend nennen würde. Wenn schon – er hatte schließlich andere Qualitäten. Beamon schaute auf seine Uhr und klopfte. Nur zehn Minuten zu spät. Carrie öffnete fast sofort, in Begleitung ihrer Tochter und umweht von einem Hauch Knoblauch. »Nehmen Sie mich auch mit leeren Händen auf, Carrie? Ich bin gerade erst von der Arbeit heimgekommen.« »Aber sicher. Kommen Sie rein.« 223
Dank des intensiven Trainings durch ihre Mutter klammerte sich Emory wie immer an seine Beine. »Sie reagieren zunehmend besser darauf, Mark«, sagte Carrie. »Ich glaube, mein Konditionierungsexperiment funktioniert.« Beamon hob Emory hoch in die Luft und wirbelte sie herum. »Ich erinnere mich noch an meine erste Autopsie. Es ist verblüffend, an was man sich alles gewöhnen kann.« Er setzte das kleine Mädchen wieder ab und tat, als hätte er Carries Grinsen nicht bemerkt. »Stimmt’s, Emory?« »Stimmt!« Sie nickte und hüpfte aufs Sofa. »Deine Sendung ist vorbei.« Beamon folgte Carrie etwas verwirrt in die Küche. »Emory scheint zu glauben, Sie hätten Ihre eigene Fernsehsendung«, erklärte Carrie und schenkte ihm ein Glas Rotwein ein. »Jeden Abend schaltet sie zur gleichen Zeit die Lokalnachrichten ein und hält nach Ihnen Ausschau. Sie haben gewaltigen Eindruck auf sie gemacht.« Beamon lächelte und trank vorsichtig einen kleinen Schluck; er hatte sich noch nie besonders viel aus Wein gemacht. »Schön zu wissen, dass ich einen Fan habe.« »Wie kommen Sie mit dem Fall voran, Mark? Ich habe von der Sache mit dem Mädchenhändlerring gehört. Das ist ja wirklich entsetzlich.« »Es gibt keinen gottver…« Beamon räusperte sich und fuhr mit gesenkter Stimme fort. »Es gibt keinen Mädchenhändlerring.« »Nein?« »Nein. Das hatte sich bloß irgendeine Irre zurechtgesponnen. Natürlich hat die Presse diese Geschichte sofort aufge224
griffen. Ein Verbrechen allein reicht ja nicht, es muss immer noch mit einer Prise Sex gewürzt sein.« Sie nahm eine Auflaufform aus dem Ofen und streifte sich ein paar knallbunte Küchenhandschuhe über, um ein Blech Muffins herauszuziehen. »So, ich glaube, wir können essen.« Carries Kochkünste waren unbeschreiblich. Trotz des kräftigen Knoblauchgeruchs und der dunkelroten Sauce schmeckten ihre überbackenen Auberginen … nach absolut nichts. Ebenso neutral wie der fast soßenfreie Salat. »Wissen Sie, Mark, irgendwann schreibe ich mal ein Kochbuch«, sagte Carrie wie auf ein Stichwort hin. »Ich schwöre Ihnen, in den Kochbüchern, die es heutzutage gibt, wimmelt es nur so von Rezepten mit saurer Sahne und Butter, dass es einen direkt umbringen kann, wenn man sie nur liest. Ich lasse das ganze Zeug einfach weg. Man merkt nicht mal einen Unterschied.« »Ich ganz bestimmt nicht«, log er und kaute tapfer an einem Muffin, der seinen Speichel schneller aufsaugte, als sein Körper ihn produzieren konnte. »Wie läuft es mit der Untersuchung, an der Sie arbeiten?« »Sehr gut, danke der Nachfrage. Ich bin fast fertig. Wie es aussieht, kann ich sie nächsten Monat veröffentlichen.« »Großartig, gratuliere. Demnach mussten Sie sich auf keine weiteren Hochzeiten mehr einschleichen, um Material zu sammeln.« Sie verzog die Lippen zu einem verführerischen Schmollen, das sie in eine völlig andere Frau verwandelte. »Sie sind doch nicht etwa immer noch deswegen wütend? Schließlich haben Sie dafür zwei kostenlose Abendessen gekriegt.« »Nein, nein, nicht wütend.« Beamon legte seine Gabel auf 225
den Teller und hoffte, es stand nicht noch ein Nachtisch auf dem Programm. »Fasziniert. Diese Kneissianer sind schon sehr interessant.« Emory fand dieses Gerede so langweilig, dass sie bat, aufstehen zu dürfen. Eilig verschwand sie in ihrem Zimmer, ehe Carrie etwas einwenden konnte. »Das stimmt. Es ist wirklich die erste Religion, bei der Glaube und Wissenschaft nicht im Widerspruch stehen. Die meisten Religionen vertragen sich auf die eine oder andere Art nicht so recht mit der modernen Welt. Das Wort Gottes blieb über die Jahrhunderte unverändert, während die Welt sich weiterentwickelte, was natürlich Konflikte verursachte. Zum anderen finde ich interessant, dass der kneissianische Glaube keine – wenn Sie das Wortspiel entschuldigen – in Stein gemeißelte Regeln kennt wie viele andere westliche Religionen. Es gibt nicht nur richtig und falsch, sondern eine große Grauzone. Für Kneissianer ist viel wichtiger, ganz das zu sein, was sie sein können.« Beamon nickte nachdenklich und schenkte sich etwas Wein nach. »Macht sie das gefährlich?« Sie überlegte für einen Moment. »Ich will nicht sagen, dass bei ihnen Moral keine so wichtige Rolle spielt – im Gegenteil, man braucht sie sich ja nur anzuschauen. Ich sage nur, dass ihre Bibel ihnen mehr Flexibilität erlaubt und deshalb nicht so schnell veraltet, während die Welt sich weiterentwickelt … wohin auch immer.« Sie stand auf und nahm Beamons Teller. »Warten Sie, ich helfe Ihnen«, sagte er. »Oh, ich will nicht aufräumen – nur rasch die Sachen wegbringen. Bin sofort wieder da.« 226
Sie trug braune Wollhosen und eine locker sitzende weiße Bluse, unter der man ihre verführerischen Kurven erahnen konnte. Beamon beobachtete sie voller Bewunderung, als sie in die Küche schwebte. Gleich darauf kehrte sie wieder zurück. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?« »Werde ich jetzt verhört?« »Überhaupt nicht – ich versuche nur, Sie abzulenken, um Sie betrunken zu machen.« »Na, dann ist es ja okay.« Sie setzte sich und griff nach ihrem Weinglas. »Fragen Sie.« »Warum ist vom psychologischen Standpunkt aus Religion heute nicht mehr so wichtig wie … sagen wir mal, vor tausend Jahren?« Sie schwenkte nachdenklich den Wein in ihrem Glas. »Wahrscheinlich erwarten Sie von mir, dass ich jetzt sage, wir brauchen sie einfach nicht mehr so sehr wie früher. Sicher hat man sich mithilfe der Religion Dinge erklärt, die man nicht verstand, und heute weiß man einfach wesentlich mehr. Früher war zudem das Leben so voller Leid, dass man sich mit einem Leben nach dem Tod zu trösten versuchte.« Sie trank einen Schluck Wein. »Aber ich weiß nicht, ob das die richtige Antwort ist. Bei der heutigen Hektik haben wir kaum noch Zeit für echte Freundschaft. Wir verlieren die Fähigkeit, uns anderen Menschen zu öffnen. Möglicherweise brauchen wir Gott heute mehr als je zuvor.« »Gott, ja. Aber Religion?« Sie zuckte die Schultern. »Ich glaube, ein Historiker könnte Ihre Frage viel besser beantworten als ein Psychologe. Sie sind doch Historiker, nicht wahr?« 227
Beamon lachte. »Ich habe zwischen etlichen Besäufnissen in Yale einen Abschluss in Geschichte gemacht, das stimmt. Aber ich würde mich deshalb niemals als Historiker bezeichnen.« In ihrem Blick lag etwas, das Zuneigung sein mochte; er konnte es nicht abschätzen, dafür waren seine Antennen auf diesem Gebiet viel zu stumpf. »Ich glaube fast, Sie sind zu bescheiden. Geben Sie mir die Antwort. Ich vermute mal, Sie stellen keine Fragen, auf die Sie nicht bereits die Antwort kennen. Warum ist Religion heute weniger wichtig als vor tausend Jahren?« Beamon holte tief Atem und tippte mit dem Zeigefinger gegen das Glas, sodass ein klarer heller Ton erklang. »Vielleicht liegt es nicht an den Gläubigen, sondern daran, dass Religionen sich sozusagen selbst im Weg stehen.« »Wie meinen Sie das?« »Mir scheint, bei allen organisierten Religionen gibt es einige Faktoren, die sie daran hindern, weiter an Macht und Einfluss zu gewinnen. Der offenkundigste ist der, über den wir gerade gesprochen haben – das rückständige Denken. Die Gebräuche und Lehren der älteren Weltreligionen waren auf die Zeit ihrer Entstehung zugeschnitten, aber jetzt, hunderte oder tausende Jahre später, bilden sie eher Hemmnisse, weil sie nicht mehr den Bedürfnissen der heutigen Gläubigen entsprechen. Die katholische Kirche in den Vereinigten Staaten ist dafür ein gutes Beispiel. Ihre Einstellung gegenüber Frauen, Abtreibung, Scheidung oder der Heirat von Priestern – das alles spiegelt eine längst vergangene Zeit wider.« Er schaute für einen Moment prüfend in ihr Gesicht, um sicherzugehen, dass sie seine Ausführungen nicht beleidi228
gend fand. Offenbar war das nicht der Fall. »Ein weiterer Faktor, besonders bei neueren Religionen, wäre ein sehr ungewöhnliches Glaubenssystem. Das gilt zum Beispiel für die Mormonen oder Scientologen. Ob ihre Lehren nun richtig oder falsch sind, spielt keine Rolle, sie sind einfach zu neu und knüpfen nicht an etwas an, mit dem die Menschen aufgewachsen sind und daher nicht infrage stellen.« »Was ist mit den asiatischen Religionen?« »Viele von ihnen sind eher Philosophien denn Religionen. Sie kennen keine zentrale Gottheit, die sie herumkommandiert, und sie scheinen auch nie ein echtes Interesse an politischer Macht entwickelt zu haben. Ihr Blick ist zu sehr nach innen gerichtet.« »Okay, und was ist bei den Kneissianern der Faktor, der verhindert, dass sie an Macht und Einfluss gewinnen?« Beamon griff nach der Weinflasche und schenkte sich noch einmal nach. »Das ist genau der Punkt. Mir fällt keiner ein.«
DREISSIG Im Verlauf des Wochenendes hatte sich ein deutliches Muster herausgeschält. Drei Autos, die sich täglich abwechselten; immer ein Ford Taurus – ein blauer, ein grüner, ein roter. Beamon hatte den roten vor fast einer Stunde in der Stadt abgehängt. Es war nicht besonders schwierig, einen Verfolger abzuschütteln; das Problem war, es so hinzukriegen, dass es wie ein Zufall wirkte. Irgendwann würden sie merken, dass 229
er Bescheid wusste, aber das wollte er möglichst lange hinausschieben. Noch einmal schaute er prüfend in den Rückspiegel. Die Straße war menschenleer, und auch in der flachen verschneiten Wüstenlandschaft war keine Bewegung zu sehen, deshalb beschloss er, die letzte Viertelmeile zu Fuß zurückzulegen, und bog an den Straßenrand. Trotz der Tatsache, dass alle Häuser in dieser friedlichen Wohngegend gleich aussahen, fand Beamon das gesuchte ohne größere Schwierigkeiten. Allerdings rührte sich nichts, obwohl er fast eine Minute lang mit wachsendem Nachdruck an die Tür klopfte. Er trat einen Schritt zurück, um nachzuschauen, ob die Hausnummer stimmte. Ja, er war richtig. Heute Morgen hatte ihn aus heiterem Himmel Ernest Willards ehemalige Literaturagentin angerufen und ihm mitgeteilt, dass der Mann, der das Enthüllungsbuch über die Kirche geschrieben hatte, mit einem Treffen einverstanden sei. Beamon glaubte, ein leises Geräusch aus dem Haus zu hören, und ging zurück auf die Veranda. »Hallo?« »Darf ich Ihren Ausweis sehen?«, ertönte eine gedämpfte Stimme. Beamon zückte seinen Ausweis, aber die Tür öffnete sich nicht. Erst jetzt fiel ihm ein Spion auf, der komischerweise ungefähr auf halber Höhe angebracht war. Er hielt seinen Ausweis dorthin, und kurz darauf wurde geöffnet. Im ersten Moment glaubte er, einen kleinen Panzer vor sich zu haben, der in ein mit Sonnenblumen bedrucktes Tuch gewickelt war. Die Frau war unglaublich fett und wirkte fast quadratisch in ihrem zeltartigen Gewand. Der Grund allerdings, warum 230
er geglaubt hatte, einen kleinen bunten Panzer vor sich zu haben, war der Rollstuhl, in den sie sich gezwängt hatte – und der Himmel mochte wissen, wie sie das zuwege gebracht hatte. »Entschuldigen Sie, Mr. Beamon. Ich war gerade hinten.« Sie rollte ein Stück zurück, damit er eintreten konnte, und deutete kurz auf den Stuhl. »Ich brauche ein wenig länger als früher, um an die Tür zu kommen.« »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, ich wollte nicht derart hämmern, aber ich war mir nicht sicher, ob mich jemand gehört hat«, sagte er und folgte ihr durch den Flur. »Ist Ernest Willard daheim?« Sie rollte in einen kleinen Raum am Ende des Gangs, der voll gestopft war mit Computerzubehör, Zeitschriften und Fachbüchern. Es gab keinen einzigen Platz, auf dem sich nicht verschiedene Kabel schlängelten, irgendein hochmodernes Gerät stand oder ein telefonbuchdicker Wälzer lag. »Ernest Willard«, wiederholte Beamon. »Er war einverstanden, mit mir zu sprechen.« »Ich bin Ernest Willard.« Die Frau drehte ihren Rollstuhl zu ihm um. »Na ja, tatsächlich bin ich Ernestine Waverly. Aber ich habe das Buch geschrieben, das Sie interessiert.« »Ein Pseudonym.« Beamon nickte. Er schob einen Stapel Computerdisketten von einem Stuhl und setzte sich ohne Aufforderung. »Das schien mir damals am besten.« »Ich bin jedenfalls froh, dass wir uns treffen. Als mein Partner vor einiger Zeit Ihre Agentin anrief, sagte sie ihm, sie habe seit Jahren nichts mehr von Ihnen gehört.« Sie lächelte. »Ich versorge sie mit Büchern – mittlerweile 231
mit Computerhandbüchern –, und als Gegenleistung schützt sie mich.« »Schützen? Wovor?« »Die Kirche … ist nicht besonders gut auf mich zu sprechen und sehr nachtragend. Ich habe mit niemandem mehr Kontakt.« »Aber mit mir wollten Sie sprechen.« Sie schwieg einen Moment. »Ich träume von Ihnen, Mr. Beamon.« Beamon fühlte sich etwas unbehaglich bei ihrem intensiven Blick. »Ich weiß jetzt, ehrlich gesagt, nicht, was ich darauf antworten soll.« »Es fing vor ein paar Monaten an«, erklärte sie. »Zuerst konnte ich Sie nur verschwommen wahrnehmen, aber mit jeder Nacht wurde Ihr Gesicht ein wenig deutlicher. Natürlich wusste ich nicht, wer Sie waren, bis ich Sie im Fernsehen gesehen habe.« »Und was mache ich in diesen Träumen?«, fragte Beamon, der gar nicht so sicher war, ob er es wirklich wissen wollte. »Verschiedenes. Sagen Sie, Mr. Beamon, glauben Sie an Gott?« »Das ist eine komplizierte Frage.« »Nein, das ist es nicht.« »Sagen wir mal, ich bin aufgeschlossen.« Seine Antwort schien sie zu befriedigen. »Das ist mehr, als die meisten Menschen von sich behaupten können. Also, was kann ich für das FBI tun?« Beamon unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung. Er hatte wirklich keine Lust, stundenlang mit einer Frau über Theologie zu debattieren, die nicht so ganz auf dem Boden 232
der Realität zu stehen schien. »Ich bin an der Kirche der Evolution interessiert, und man hat mir gesagt, Sie wüssten darüber wahrscheinlich mehr als jeder andere auf der Welt.« »Darf ich fragen, worum es Ihnen konkret geht?« »Eigentlich suche ich nur nach allgemeinen Informationen«, erwiderte Beamon, der das merkwürdige Gefühl hatte, dass sie es längst wusste. »Nun, ich habe tatsächlich umfangreiche Nachforschungen für mein Buch über die Kirche gemacht«, entgegnete sie und klang plötzlich wie ein Chirurg, der einem Patienten mitteilte, dass er noch eine Woche zu leben hatte. »Aber das war 1986 – vor mehr als einem Jahrzehnt.« Sie senkte den Blick und schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen heute noch behilflich sein kann …« »Bestimmt, Ernie«, versicherte Beamon und tätschelte ihre rundliche Schulter. Sie sah aus, als wolle sie aus irgendeinem Grund gleich anfangen zu weinen. »Ich bin sicher, Sie können mir eine große Hilfe sein.« Beamon hob ein altes Exemplar des Wall Street Journal auf, das auf dem Tisch neben ihm lag, und sah, dass es sich um die Ausgabe handelte, in der über die Geschäftspraktiken der Kirche berichtet worden war. »Mir scheint, Sie halten sich immer noch auf dem Laufenden.« »Nur oberflächlich. Ich habe mich von meiner Aufgabe ablenken lassen.« Sie versetzte sich einen Klaps auf den Oberschenkel. »Und von meinen eigenen dummen Problemen. Wenn ich nur früher geahnt hätte, dass Sie kommen …« Beamon betrachtete ein holzgerahmtes Foto, das auf dem Tisch neben ihm stand. Es zeigte eine fröhliche mollige Frau 233
inmitten einer Touch-Football-Mannschaft. »Sie?«, fragte er, um sie aus ihren trüben Gedanken zu reißen. »In glücklicheren Zeiten.« »Als Sie bei der Kirche waren?« Sie nickte langsam. »Als ich ein offizielles Mitglied der Kirche war.« »Was war der Grund, warum Sie dort eingetreten sind, Ernie?« Sie schwieg für einen Moment und deutete dann mit ihrer feisten Hand auf die Computer ringsum. »Ich bin Programmiererin, Mr. Beamon. Gelernte Mathematikerin und ehemalige Baptistin. Wahrscheinlich ging es mir wie so vielen anderen – es fiel mir schwer, sechs Tage die Woche in einer modernen, von Wissenschaft und Technologie geprägten Welt zu leben und dann am siebten Tag alles zu vergessen, sodass ich meinem Gott nahe sein konnte.« »Es war also die Mischung aus Wissenschaft und Theologie, die Sie angesprochen hat.« »Anfangs ja. Dann habe ich Alberts Bibel gelesen.« Beamon bemerkte den ehrfürchtigen Ton, mit dem sie Kneiss’ Namen aussprach. »Ich habe sie ebenfalls gelesen. Brillant, muss ich zugeben. Hat sogar mich ein paarmal angesprochen. Und das ist nicht leicht.« »Haben Sie ihn je persönlich gesehen, Mr. Beamon?« »Bitte nennen Sie mich doch Mark. Nur im Fernsehen.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Das lässt sich gar nicht miteinander vergleichen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand, der ihn persönlich erlebt hat, immer noch bezweifelt, dass er ist, wer er zu sein behauptet.« 234
»Gott?« »Gottes Bote. Aber das wissen Sie ja schon.« »Also war es seine Persönlichkeit, die Sie überzeugte.« »Das war es nicht allein, Mark«, sagte sie und bemühte sich, eine bequemere Position in ihrem Stuhl zu finden. »Es ist schwer, das einem Außenstehenden zu erklären. Zeigt man ein erstes Interesse, wird man bombardiert mit Einladungen zu Veranstaltungen und Picknicks, es werden einem wichtige Geschäftsverbindungen versprochen und die Bekanntschaft mit einflussreichen Persönlichkeiten. Wenn man Kinder hat, werden sie auf Jugendfreizeiten und zu anderen Unternehmungen eingeladen. Ich schätze, sie haben mir das Gefühl gegeben, dazuzugehören. Genau danach hatte ich mich immer gesehnt, es aber nie erlebt.« Beamon schaute wieder auf das Foto und die Gesichter, die ihm entgegenblickten. Alle strahlten diesen frischen Optimismus aus, der sie als Kneissianer kennzeichnete. »Wie lange waren Sie bei der Kirche?« »Als Mitglied? Vier Jahre.« »Wirklich?« »Warum überrascht Sie das?« »Ich hatte gedacht, sechs Monate oder so. Wenn ich recht verstehe, haben Sie ein ziemlich kritisches Buch geschrieben, und deshalb hatte ich angenommen, Sie seien eingetreten, hätten die Kirche gehasst und seien wieder gegangen.« Sie schüttelte den Kopf. »So tüchtig die Kneissianer bei der Anwerbung von Mitgliedern sind – noch besser verstehen sie es, die Leute zu halten. Wissen Sie, das gesamte Leben hat plötzlich irgendwie mit der Kirche zu tun. Ich war damals freiberufliche EDV-Beraterin. Nach wenigen Jahren waren 235
ungefähr achtzig Prozent meiner Kunden Kirchenmitglieder. Ich habe meinen Freund bei einer kirchlichen Veranstaltung kennen gelernt. Man lebt quasi nur noch in der Kirche. Und dann sind da natürlich die psychologischen Faktoren …« »Psychologische Faktoren?« Sie schaute ihn so eindringlich an, dass er sich wirklich unbehaglich fühlte. »Ist Ihnen bewusst, dass die Kneiss-Bibel nur einen Teil von Alberts Schriften enthält? Dass noch mehr Bücher existieren?« Beamon zog sein Jackett aus und nahm einen Block und einen Stift aus der Tasche. »Wenn Sie damit andere Abschnitte der Bibel meinen, nein, davon habe ich noch nie gehört. Was steht in ihnen drin?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wissen Sie, in der Kirche dreht sich alles um Ebenen. Wenn man eintritt, ist man ein Novize oder Ebene eins. Man wird ermutigt, Kurse zu besuchen und Beratungssitzungen, um seinen Rang – also die Ebene – zu verbessern. Natürlich sind sie ziemlich teuer, und man besteht sie selten das erste Mal.« »Wie viele Ebenen gibt es denn?« »Elf, zumindest war das der letzte Stand. Ich war eine Drei, als ich die Kirche verließ.« »Sie müssen also lernen, was in diesen geheimen Büchern steht, um weiter aufzurücken?« »Nicht direkt. Das Erreichen der Ebene zwei hat beispielsweise gar nichts mit Gott oder Religion zu tun. In dem Kurs, den man bestehen muss, geht es um – wie soll ich es beschreiben … Manieren? Allgemeines Auftreten?« Beamon hob die Augenbrauen. »Wie bitte?« »Das ist gar nicht so schwer zu verstehen, Mark. Die Kir236
che ist sehr daran interessiert, weiter zu wachsen, aber gleichzeitig legen sie großen Wert auf Mitglieder, die sich vom allgemeinen Durchschnitt abheben. Diesen ersten Kurs könnte man wohl ›Umgangsformen‹ nennen. Man lernt, wie man sich anzieht, sich einen festen Händedruck angewöhnt, dass man Menschen beim Reden in die Augen schaut, mit welcher Gabel man was in einem guten Restaurant isst … so was in der Art. Ich weiß, es klingt lächerlich, aber es funktioniert. Sie haben vielleicht bemerkt, dass die Kneissianer ein ziemlich einheitliches Bild abgeben.« Beamon nickte. »Es ist also nicht sehr schwer, Ebene zwei zu erreichen. Um in die nachfolgenden Ebenen aufzusteigen, sind weitere theologische Kurse und sehr anstrengende Beratungssitzungen notwendig. Sie sind so ähnlich wie die katholische Beichte. Aber natürlich gibt es noch andere Faktoren.« »Welche?« »Ich fühlte mich mit der Zeit etwas frustriert, als ich mich darum bemühte, in Ebene vier aufzusteigen. Ich bin zweimal durchgefallen, und es hat mich zwölftausend Dollar gekostet. Zu dieser Zeit verdiente ich ungefähr fünfundvierzigtausend Dollar pro Jahr und wohnte mit zwei anderen Frauen in einem Einzimmerapartment, weil mein ganzes Geld an die Kirche ging. Trotzdem war es nicht das Geld oder die verlorene Zeit, was mich störte, sondern die Leute, die bestanden. Viele von ihnen waren in den Kursen weitaus schlechter gewesen als ich.« »Reine Politik.« Beamon nickte. »Darauf läuft es immer hinaus.« »So ist es. Ich habe später herausgefunden, dass einige die237
ser Leute Ärzte, Anwälte und Politiker waren, ich dagegen nur eine kleine Programmiererin, also nicht so besonders nützlich für die Kirche.« »Und für Sie war es wichtig, in die weiteren Ebenen aufzusteigen?« »O ja. Das ist für jeden ungeheuer wichtig, Sie können sich das gar nicht vorstellen. Deine Ebene und wie lange du schon Mitglied in der Kirche bist, ist öffentlich bekannt, deshalb ist es wirklich peinlich, wenn man nicht vorwärts kommt. Zumal es alle möglichen Vorrechte gibt, je weiter man aufsteigt, und auf die ist jeder erpicht, deshalb sind alle förmlich besessen von Ebenen, was die Kirche natürlich fördert.« »Was ist mit diesen anderen Büchern der Bibel?« »Erst auf Ebene sieben darf man sie sich anschauen. Gerüchten zufolge sind es Abschnitte der Bibel, die der Menschheit bei der nächsten Rückkehr des Boten bekannt gegeben werden.« »Also in zweitausend Jahren?« Sie nickte. »Man muss sehr weit fortgeschritten sein, um sie zu verstehen. Leute der Ebene sieben oder höher werden wie königliche Hoheiten behandelt. Jeder möchte unbedingt erfahren, was in diesen Büchern steht.« »Der Sinn des Lebens«, meinte Beamon. »Vielleicht. Ich habe nur ganz wenige getroffen, die eine höhere Ebene als die Sechs erreicht haben. Die ›Beratungssitzungen‹ werden immer anstrengender und teurer. Es wurde sogar davon gemunkelt, dass auf höheren Ebenen dabei psychoaktive Drogen eingesetzt werden.« »Es fällt mir schwer zu glauben, dass irgendjemand das mit sich machen lassen würde.« 238
»Ich hätte es getan.« Beamon lehnte sich in seinen Stuhl zurück und kaute für einen Moment an seinem Stift. »Ich bin vor ein paar Tagen zu einer der Anwerbestellen gegangen. Die Frau, die man mir zugeteilt hatte, hatte ohne Zweifel diesen Kurs ›Umgangsformen‹ absolviert. Sie war sehr gut. Allerdings nicht sehr angetan von mir, fürchte ich.« Ernie lächelte und öffnete den kleinen Kühlschrank, neben dem sie ihren Rollstuhl geparkt hatte. »Eine Diätcola?« Beamon nickte, und sie reichte ihm eine eiskalte Dose. »Ich bin sicher, Sie haben in beiden Punkten Recht.« Sie öffnete die Dose und trank einen Schluck. »Erst wenn man mindestens eine Zwei ist, darf man potenzielle Interessenten betreuen. Und ich kann Ihnen fast garantieren, dass sie nicht sehr angetan von Ihnen war, wie Sie es ausdrücken.« Beamon schaute sie mit übertrieben bekümmerter Miene an. »Wie können Sie so was sagen? Alle Leute lieben mich.« Die dicken Falten in Ernies Gesicht verzogen sich zu einem flüchtigen Lächeln. »Glaube ich Ihnen, aber lassen Sie mich mal raten: Sie wollten sich nicht in das so genannte Gästebuch eintragen.« »Stimmt, das war wohl ein Patzer.« »Der Ihnen einen Punkt eingebracht hat. Haben Sie ein paar unangenehme Fragen gestellt? Haben Sie ihr gesagt, dass Sie einige negative Dinge über die Kirche gehört haben?« »Ja, habe ich.« »Nun, die erste negative Frage hat Ihnen einen zweiten Punkt eingebracht. Die zweite einen dritten. Falls Sie vier Punkte erreicht haben, hat sie gefragt, ob Sie ein Reporter seien.« 239
»Das stimmt!«, sagte Beamon beeindruckt. »Das hat sie mich tatsächlich gefragt.« »Sie hassen Reporter, weil sie Angst haben, die Presse könnte die Kirche ein bisschen zu kritisch durchleuchten.« »Sie haben sich ja selbst ziemlich kritisch damit auseinander gesetzt, Ernie. Was haben Sie dabei entdeckt?« »Den puren Verfolgungswahn. Als ich stutzig wurde, dass nur bestimmte Leute in höhere Ebenen aufrückten, fing ich an, mich umzuhören. Ich habe sowohl mit Kirchenmitgliedern als auch mit Menschen gesprochen, die aus dem einen oder anderen Grund ausgetreten waren. Nach und nach schälte sich das Bild einer Organisation heraus, die alles kontrollieren will – ihre Mitglieder, ihr Erscheinungsbild und immer mehr die restliche Welt.« Sie seufzte. »Es dauerte nicht lange, bis ich herausfand, dass manche der ehemaligen Kneissianer, mit denen ich geredet hatte, Spitzel waren mit dem Auftrag, Ausschau zu halten nach Mitgliedern, die nicht linientreu waren. Ich musste vor einen Ältestenrat meiner Gemeinde, und sie haben mir meine Ebenen aberkannt. Kurz darauf wurde ich hinausgeworfen.« »Und dann?« »Ich habe weiter nachgeforscht. Ich bin bestimmt zehntausend Seiten von Dokumenten durchgegangen und habe mit rund zweihundert Leuten geredet. Ich dachte mir, exkommuniziert haben sie mich bereits, was können sie mir sonst noch tun?« Sie lachte bitter. »Ich vermute, es gab noch einiges.« »Zuerst waren es nur drohende Telefonanrufe. Ich habe ständig meine Nummer geändert, aber es hat nie etwas genutzt. Dann fingen die Prozesse an. Ich bin so ungefähr we240
gen allem nur Denkbaren verklagt worden. Einmal hat mich ein Mann, den ich nie gesehen hatte, wegen sexueller Belästigung angezeigt.« »Aber Sie haben die Prozesse gewonnen.« »Klar, jeden einzelnen. Aber aufgrund der ganzen Anwalts- und Prozesskosten war ich schließlich völlig bankrott. Die Kirche veröffentlichte außerdem einige sehr intime Details aus meinen Beratungssitzungen – oder Beichten –, sodass jedermann sie lesen konnte. Diese Sitzungen werden nämlich routinemäßig auf Tonband aufgenommen.« »Das war aber alles, bevor das Buch erschien, richtig?« Sie nickte. »Danach ging es erst richtig los. Ein Mann klingelte bei mir und bedrohte mich mit einem Messer; ich wurde permanent verfolgt. Eine Frau, die sich mit mir angefreundet hatte, als ich an einem wirklichen Tiefpunkt war, gehörte ebenfalls zur Kirche und hatte den Auftrag erhalten, mich auf subtile Weise in den Selbstmord zu treiben, wie ich später herausfand. Beinahe hätte es funktioniert.« Sie trank einen weiteren Schluck Cola. »Ich bin zwölfmal umgezogen, seit ich dieses Buch geschrieben habe, und lebe nun seit acht Monaten hier. Aber sie werden mich bald finden. Dann fängt alles wieder von vorn an – die Autos, die betont langsam am Haus vorbeifahren, die Anrufe …« Sie wirkte plötzlich sehr bedrückt. »Was ist mit dem Buch passiert?« »Es kam nie in den Handel. Die Erstauflage von zweitausendfünfhundert Exemplaren wurde sofort von Kirchenmitgliedern aufgekauft und vernichtet. Dann wurde der Verlag von einer Firma übernommen, die nur zu diesem Zweck von der Kirche gegründet worden war. Damit hatten sie die 241
Rechte an dem Buch und sorgten dafür, dass es gar nicht in den Handel kam.« »Glauben Sie, dass die Kirche wieder zurück auf den richtigen Weg findet, wenn Albert Kneiss gestorben ist?« Sie schaute ihn völlig entgeistert an. »Warum sagen Sie so etwas?« »Nun, Albert …« »Albert weiß von all diesen Vorgängen nichts! Für ihn habe ich das Buch geschrieben, weil er überhaupt nicht ahnt, was in seiner Kirche geschieht.« »Aber er muss es doch wissen«, erwiderte Beamon. »Es ist schließlich seine Kirche.« »Da irren Sie sich, sie verheimlicht das alles vor ihm«, fauchte Ernie. »Und sie ist so raffiniert, dass er in seiner Gutherzigkeit nicht einmal einen Verdacht schöpft.« »Sie?« »Sara. Sara Renslier. Sie allein hat die Kirche derart pervertiert.« »Erzählen Sie mir von ihr.« »Sie ist böse.« »Könnten Sie das etwas konkreter ausdrücken?« »Sie übernahm vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren die Führung des Ältestenrats …« »Als die Mitgliederzahl der Kirche sprunghaft anzusteigen begann?« Ernie nickte widerstrebend. »Sie hat Albert systematisch isoliert, damit sie alles kontrollieren kann. Sie und ihr Handlanger Sines.« »Sines? Kennen Sie seinen Vornamen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich weiß nur, dass er vor 242
der Kirche beim Militär war. Er ist der Kopf der Sicherheitstruppe und hat zwischen Oberlippe und rechtem Auge eine Narbe, die er zum Teil hinter einem Schnurrbart versteckt. Es gibt Gerüchte, dass er eine Gruppe von ehemaligen Polizisten und Soldaten zusammengestellt hat, die Albert fanatisch ergeben sind.« »Das bedeutet also, sie unterstehen Sara«, sagte Beamon. Ernie nickte. »Sara nutzt die Angst vor dieser Gruppe, um die Mitglieder der höchsten Ebenen auf Linie zu halten.« »Kennen Sie zufällig einen von ihnen?« »Nein. Es sind vermutlich insgesamt weniger als zehn.« Sie deutete auf ihr Handgelenk. »Jemand hat mir mal erzählt, dass sie ein eisernes Armband an den rechten Arm geschweißt haben. Ein Zeichen ihrer Ergebenheit gegenüber Albert – der vermutlich nicht einmal von ihrer Existenz weiß.« Beamon kaute nachdenklich an seinem Stift und musste unwillkürlich an David Passal denken. Er erinnerte sich an seine Angst, bis er während des Kampfs nach Beamons rechtem Handgelenk gepackt hatte. Sofort hatte er danach aufgehört, sich zu wehren, und wissen wollen, wer sie waren. »Mark? Ist alles in Ordnung?« »Entschuldigung. Ich habe nur gerade überlegt. Was haben Sie gesagt?« »Ich sagte, dass die Kirche inzwischen viel raffiniertere und bessere Methoden hat. Sie müssen keine Verlage mehr aufkaufen, um zu verhindern, dass Bücher über sie veröffentlicht werden. Heute bezahlen sie die Leute einfach. Über ihre Mitglieder kontrollieren sie Unternehmen, von denen Sie es nie erwarten würden. Sie beeinflussen Politiker mit Spenden. Firmen, die Kirchenmitgliedern gehören, schnappen sich je243
den Regierungsauftrag, den die Ältesten interessant finden, indem sie bei öffentlichen Ausschreibungen einfach das niedrigste Angebot machen oder andere Unternehmen durch eine Sperrminorität blockieren.« Beamon blickte auf seine Uhr. Er hätte ihr gern noch hundert weitere Fragen gestellt, aber er war schon spät dran. Wieder einmal. »Ich würde Ihr Buch sehr gern einmal lesen, Ernie. Hätten Sie zufällig ein Exemplar, das Sie mir borgen könnten?« Er folgte ihr, als sie durch den Flur zu einer schmalen Treppe fuhr. Mühsam zwängte sie sich aus dem Rollstuhl und watschelte ächzend die Treppe hinunter in den Keller, wobei ihr Körper rechts und links an den Wänden entlang schabte. Ungläubig schüttelte Beamon den Kopf. Sie war überhaupt nicht verkrüppelt, bloß so monströs fett, dass sie ihr Körpergewicht nicht mehr allein tragen konnte. Im Keller stapelten sich noch weitere Unterlagen, Bücher und alte Computergerätschaften. Abgesehen von der schlechten Beleuchtung sah es nicht viel anders aus als in ihrem Büro. Beamon blätterte in einem fast einen Meter hohen Stapel von Computerausdrucken. »Ist das lauter Zeug über die Kirche?« »Das meiste«, sagte Ernie und mühte sich, aus einem hohen Regal ein staubiges Buch mit einem dunkelgrünen Einband zu ziehen. »Ich würde mir vielleicht mal gelegentlich was davon ausborgen, wenn es Ihnen recht ist.« Sie kam zu ihm gewatschelt und reichte ihm das Buch. »Das ist nur gesammeltes Material im Rohzustand. In meinem Buch habe ich ziemlich viel davon zusammengefasst.« 244
Er deutete auf den wackeligen Papierstapel zu seinen Füßen. »Was ist das?« »Eine Liste der Kirchenmitglieder seit 1981.« Beamon trat vorsichtig dagegen und versuchte, das Gewicht abzuschätzen. »Könnte ich mir diese Liste ausleihen?« Sie ging zu einem alten Computer, der auf einem Campingtisch stand, und Beamon zuckte zusammen, als sie sich auf den Klappstuhl setzte, doch er quietschte nur leicht und hielt ihrem Gewicht problemlos stand. »Ich glaube, das wäre keine so gute Idee, Mark. Es sind fast eine Million Namen. Ich speichere es Ihnen auf Diskette ab.« Sie drückte ein paar Tasten, und eine Liste mit alphabetisch geordneten Namen und anderen persönlichen Informationen erschien auf dem Schirm. »Können Sie auch nach ganz bestimmten Namen suchen?«, fragte er, während sie eine leere Diskette in den Computer schob. »Natürlich.« »Würden Sie es mal mit Jacob Layman probieren?« Sie tippte den Namen seines Chefs ein. »Kein Eintrag.« »Sind auch die Kinder der Mitglieder aufgelistet?« »Eigentlich schon.« »Versuchen Sie Chet Michaels.« »Für den habe ich einen Treffer.« Beamon schaute gespannt über ihre Schulter. »Geboren 1943, eingetreten 1980.« Sie deutete mit ihrem plumpen Zeigefinger auf den Monitor, und er stieß einen erleichterten Seufzer aus. Damit wäre dieser Michaels jetzt Mitte fünfzig. Es dauerte fast eine halbe Stunde, um alle Namen abzu245
speichern. Beamon verstaute den Stapel Disketten in den verschiedenen Taschen seines Mantels. »Danke, Ernie. Es tut mir Leid, dass ich mich jetzt so einfach mit dem ganzen Zeug davonmache, aber ich bin wirklich spät dran.« »Und wie steht’s inzwischen mit Ihrer Aufgeschlossenheit, Mark?« Er stand bereits auf der Treppe und wandte sich noch einmal um. »Bitte?« »Sie sagten, Sie seien aufgeschlossen, was Gott betrifft. Wie sieht es jetzt damit aus?« »Ich schätze, ich bin immer noch ein eingefleischter Skeptiker.« Sie lächelte ein wenig ironisch, und Beamon staunte darüber, wie ausdrucksvoll ihr Gesicht trotz der dicken Speckrollen war. »Was ist?«, fragte er. Ernie kämpfte sich mühsam aus dem Stuhl hoch und kam langsam zu ihm. Sie stützte sich auf das Geländer. »Was machen Sie mit den Informationen, die Sie von mir erhalten haben, Mark?« Beamon zuckte die Schultern. »Das Gleiche, was ich immer tue. Ich versuche, mit ihrer Hilfe die Wahrheit herauszufinden.« »Die Wahrheit über die Kirche?« »Vielleicht.« »Haben Sie je daran gedacht, dass Sie von Gott geleitet werden? Dass Ihre Ziele eigentlich seine Ziele sind? Drei Wochen bevor Albert seinen Platz beim Herrn einnehmen soll und Sara die unumstrittene Führerin der Kirche wird, kommen Sie plötzlich zu mir. Meinen Sie wirklich, das ist ein Zufall?« 246
Beamon verstand plötzlich ihre seltsamen Blicke und das Gerede über Träume. Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ehrlich gesagt, Ernie – wenn Gott wirklich keinen Besseren finden könnte als so eine Jammergestalt wie mich, dann sähe es wirklich übel aus.«
EINUNDDREISSIG »Wonach suchen Sie?«, fragte Chet Michaels. Beamon schob frustriert eine Schachtel zur Seite und kramte in den grünen Aktenordnern, die darunter gestapelt waren. »Das Zeug aus dem Safe von Eric und Patricia Davis.« Er deutete auf das wilde Durcheinander von Schachteln, die sich in seinem Büro stapelten. »Es ist einfach nicht da. Ich weiß nicht einmal, was in der Hälfte von diesen verdammten Kisten ist.« Michaels beugte sich über eine Schachtel, die Beamon bereits durchsucht hatte, und leerte sie sorgsam aus. »Voilà«, sagte er und zog ganz unten drei braune Umschläge heraus. »Wissen Sie, dass man diese Umschläge auch beschriften kann?«, schnaubte Beamon und stolzierte zurück zu seinem Sessel. Michaels schien ein wenig gekränkt, als er sich setzte und die Umschläge auf Beamons Schreibtisch ausleerte. »Sie suchen doch sonst nie selbst etwas, Mark. Ich dachte, wenn Sie was brauchen, würden Sie mich oder D. fragen.« Beamon knurrte unwillig. Michaels hatte natürlich Recht, 247
aber er war nicht in der Stimmung für unnütze Diskussionen. Klugerweise wechselte Michaels das Thema. »Wie lief Ihr Treffen mit Willard?« »Gut.« »Produktiv?« »Ja, durchaus.« Seine Gereiztheit verflog so rasch, wie sie gekommen war. »Es scheint, dass Sara Renslier tatsächlich die Kirche leitet. Ernie ist der Meinung, dass Kneiss gar nicht mehr weiß, was vor sich geht. Das könnte allerdings auch eine voreingenommene Sichtweise sein.« »Möglich wäre es schon. Der Kerl ist schließlich uralt, und, wie es heißt, er plant, in ungefähr drei Wochen zu sterben. Ich könnte mir denken, dass er inzwischen die Kirchenleitung weitgehend an jemand anderen übergeben hat.« »Möglich«, nickte Beamon. »Was hatte er sonst noch zu erzählen?« »Wer?« »Willard.« »Es ist eine Sie. Und sie heißt Waverly. Willard war ein Pseudonym. Sie hat mir ein ziemlich deutliches Bild der Kirche gezeichnet. Allerdings kein sehr attraktives.« »Wie das?« »Ihrer Meinung nach ist die Kirche paranoid und krankhaft darauf versessen, alles zu kontrollieren – ihre Mitglieder, vermeintliche Feinde, wen auch immer.« »Vielleicht ist sie diejenige, die paranoid ist. Sie ist der einzige Mensch, der je ein kritisches Buch über die Kirche geschrieben hat. Möglicherweise wollte sie ihnen irgendwas heimzahlen. Wie war sie denn so?« 248
Beamon zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht recht – bizarr, könnte man vielleicht sagen. Aber jedes Mal, wenn ich dachte, was sie erzählte, sei ein wenig arg überspannt, kam gleich darauf wieder etwas, das zu dem passte, was wir bereits rausgefunden hatten. Ich habe mal kurz in ihr Buch reingeschaut, das sie mir mitgegeben hat. Es scheint gut recherchiert, und alles wirkt ziemlich glaubhaft. Mein Bauch sagt, dass man ihr vertrauen kann.« Michaels nickte zufrieden. »Also haben wir eine erstklassige Quelle gefunden. Prima.« »Vielleicht«, erwiderte Beamon. »Wieso? Will sie nicht mehr mit uns reden?« Beamon schüttelte den Kopf. »Nein, ich schätze, sie würde uns alles erzählen, was wir wissen wollten. Mir sind nur ihre Beweggründe nicht ganz geheuer.« Michaels schaute ihn mit großen Augen an. »Sie meinen, sie ist ein Spitzel der Kirche und soll ganz gezielt falsche Informationen verbreiten? Cool …« »Mal halblang, Chet. Ich habe lediglich gemeint, dass sie Kneiss gegenüber immer noch loyal ist. Sie glaubt offenbar wirklich, dass er das ist, was er zu sein behauptet. Ihrer Ansicht nach ist allein diese Renslier für die ganzen Probleme verantwortlich.« Beamon beugte sich vor und kramte in den Dokumenten, die Michaels auf seinem Schreibtisch ausgebreitet hatte. »Außerdem denkt sie, ich sei von Gott dazu bestimmt worden, die Kirche wieder zurück auf Kurs zu bringen.« Michaels gab einen Laut von sich wie eine strangulierte Katze. »Nur zu«, sagte Beamon. »Lachen Sie ruhig.« 249
»Entschuldigung, Mark«, stöhnte Michaels, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. »Nicht dass Sie denken, ich hielte das für keine gute Wahl; ich glaube bloß, wenn Gott jemanden bräuchte, um für ihn auf Erden was zu erledigen, würde er sich nicht unbedingt jemanden aussuchen, der Christus und seine Jünger immer ›JC mitsamt Truppe‹ nennt.« Beamon fand, was er gesucht hatte, und warf es Michaels zu, der sich eine Träne aus den Augenwinkeln wischte. »Das habe ich in etwa auch zu ihr gesagt – nur nicht mit so vielen Worten.« Michaels grinste immer noch vor sich hin, während er auf die Wertpapiere schaute, die Beamon ihm zugeworfen hatte. »Was ist damit?« »Nehmen Sie mal diese beiden Firmen etwas unter die Lupe.« »Das sind nur Wertpapiere von Unternehmen, in die sich Davis eingekauft hat. Seine Beteiligungen waren allerdings eher unbedeutend. Sicherlich kein Grund, um ihn deswegen umzubringen.« Beamon stopfte die restlichen Sachen aus dem Safe wieder in die braunen Umschläge. »Ernie hat erzählt, die Kirche habe mit der Zeit etliche Firmen aufgekauft, über die sie möglicherweise an Informationen kommen oder die Kontrolle über Bereiche erhalten, die sie wichtig finden. Und das tun sie anscheinend nicht direkt, sondern dadurch, dass mehrere Kirchenmitglieder Aktien kaufen.« »Und dann sieht es so aus, als gehörte die Firma einem Haufen von Leuten, die nichts miteinander verbindet, aber in Wirklichkeit wird sie von der Kirche geleitet. Echt cool.« »Ich glaube nicht, dass man Jennifer entführt und das 250
Ehepaar Davis getötet hat wegen Erics Beteiligung an diesen beiden Firmen, aber vielleicht erfahren wir so etwas mehr über die Vorgehensweise der Kirche. Ist möglicherweise ganz nützlich.« Michaels warf einen Blick auf die Unterlagen. »Vericomm ist eine Telefongesellschaft und ein Internetprovider, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen.« »Vielleicht können Sie einige Informationen darüber von dieser Regulierungsbehörde, der FCC, kriegen. Machen Sie es aber unauffällig.« »Das geht noch einfacher – und ganz unauffällig. Im Arbeitszimmer von Mr. Davis liegen in einem Aktenschrank mindestens zwei Jahresberichte von Vericomm. Ich hole sie und schaue sie mir mal an.« »Was ist mit TarroSoft?« Michaels zuckte die Schultern. »Ich kann mich nicht erinnern, irgendwas darüber in den Unterlagen von Mr. Davis gesehen zu haben.« »Je von dieser Firma gehört?« »Nee.« Beamon stand auf. »Okay, Chet. Kümmern Sie sich darum und besorgen Sie mir außerdem alles, was Sie über einen Kerl namens Sines herausfinden können – er leitet die Sicherheitsabteilung der Kirche. Seinen Vornamen weiß ich nicht, aber er soll früher beim Militär gewesen sein, trägt einen Schnurrbart und hat eine Narbe im Gesicht. Und sehen Sie zu, dass er nichts davon mitkriegt, damit’s keinen unnötigen Ärger gibt, okay?« Ohne auf Michaels’ Antwort zu warten, öffnete er die Tür und schlängelte sich draußen an den Schreibtischen vorbei. 251
Überall lag noch Baumaterial herum, doch die groben Arbeiten waren endlich geschafft, und jetzt ging wenigstens alles etwas leiser vor sich. Mit ein bisschen Glück war der Spuk in ein paar Wochen ganz vorbei. Er steuerte auf eine kleine Nische an der gegenüberliegenden Wand zu, wobei er immer wieder von jungen Agenten aufgehalten wurde, die hier ihre Plätze hatten und denen stets unzählige Fragen auf der Zunge zu brennen schienen. In letzter Zeit war er kein besonders guter Chef gewesen und nahm sich deshalb fest vor, wenn er erst einmal den Fall Jennifer Davis im Griff hatte, würde er sich wirklich mehr um seine Leute kümmern. In der letzten Kabine saß Craig Skinner, ein junger Mann, der die Computersysteme des Büros betreute. »Craig, wie kommen Sie mit diesen Disketten voran?«, fragte Beamon ihn forsch. Skinner fuhr zusammen und drehte sich um. Er wirkte unter den anderen Agenten wie ein Paradiesvogel. Sein Haar reichte ihm bis weit über die Schultern, und was seine Kleidung betraf, war er offenbar der Ansicht, dass alles akzeptabel sei, solange man eine Krawatte dazu trug. Aber der Junge kannte sich mit Computern aus, und Beamon wollte ihn nicht verlieren, nur weil das FBI den Tick hatte, jeden als Erstes und für alle Zeit in einen dreiteiligen Anzug zu stecken. »Mensch, Mark. Was ist das? Eine Kopie des Telefonbuchs von Washington?« »Das braucht Sie nicht weiter zu kümmern. Sind Sie fertig?« »Ja, ich habe alle in eine Datenbank übertragen. Und nun?« 252
»Wie muss ich vorgehen, wenn ich einen Namen suche?« Der junge Mann klickte irgendwas mit seiner Maus an, und auf dem Bildschirm erschien eine Eingabeaufforderung. »Sie tippen ihn einfach hier ein. Nachname, Komma, Leerzeichen, dann den Vornamen.« »Und was ist, wenn ich noch einen weiteren Namen überprüfen will?« Skinner deutete auf den oberen Bildschirmrand. »Hier klicken, und das Kästchen ist wieder da.« Beamon nickte. »Wie wär’s, wenn Sie sich mal kurz eine Tasse Kaffee holen gingen?« »Ja … sicher«, sagte Skinner ein wenig verwirrt. Nachdem er verschwunden war, setzte sich Beamon auf seinen Platz und tippte den Namen Eric Davis ein. Der Cursor verwandelte sich für einen Moment in eine Eieruhr, dann erschienen tatsächlich das Geburtsdatum und die Angabe, dass Davis im August 1968 der Kirche beigetreten war. Das Hochgefühl, das ihn normalerweise überkam, wenn eine seiner Theorien sich als richtig erwies, wollte sich diesmal jedoch nicht einstellen angesichts der Tatsache, dass er sich mit der Kirche der Evolution und ihren elf Millionen Anhängern anlegen musste. Für solche Abenteuer wurde er allmählich zu alt und zu vernünftig. Er löschte seine Suche, wie Skinner es ihm gezeigt hatte, und probierte es mit »Davis, Patricia«. Auch sie hatte dazugehört, wie sich zeigte, und zwar seit Januar 1968. Demnach waren beide bei ihrem Eintritt noch Kinder ge253
wesen. Ihre Eltern mussten zu den ersten Anhängern von Kneiss gehört haben. Großartig. »Kann ich wieder reinkommen?«, rief Skinner von der anderen Seite der Trennwand. »Eine Sekunde«, sagte Beamon und zögerte. Er hasste sich selbst für sein Misstrauen, aber er konnte es nicht ändern. Wunderschöne Frauen mit Universitätsabschluss klopften normalerweise nicht einfach an seine Tür. Er tippte »Johnstone, Carrie« ein und hielt den Atem an. KEIN EINTRAG GEFUNDEN. BITTE ÜBERPRÜFEN SIE DIE SUCHPARAMETER.
»Kommen Sie rein, Craig.« Er stand auf und drehte den Stuhl um, damit Skinner sich setzen konnte. »Danke, Mark.« »Also, hören Sie zu. Ich möchte, dass Sie diese Liste mit der Personalliste des FBI vergleichen und nachschauen, ob Sie irgendwelche Übereinstimmungen finden. Ist das möglich?« »Klar, könnte nur einige Zeit dauern.« »Okay, aber wir wollen die Sache auf keinen Fall an die große Glocke hängen. Erzählen Sie niemandem etwas davon.« Skinner grinste. »Könnte ich gar nicht, selbst wenn ich wollte. Ich weiß ja nicht mal, worum es geht.« »Sie werden letzten Endes froh darüber sein, Craig. Glauben Sie mir.« »Kommen Sie, Mark. Geben Sie doch mir wenigstens einen kleinen Tipp. Suchen Sie nach Spionen?« 254
ZWEIUNDDREISSIG »Das kann nichts Gutes zu bedeuten haben«, seufzte Beamon und stellte eine große Schachtel mit Doughnuts auf den Schreibtisch seiner Sekretärin, die gerade telefonierte. Sie hielt eine Hand über den Hörer. »Tut mir Leid, Mark. Ich wollte Sie noch warnen.« Beamon beugte sich etwas vor, sodass er durch das Fenster in sein Büro schauen konnte. Jacob Layman hatte sich in seinen Sessel gepflanzt und studierte eifrig einen Ordner, den Beamon auf dem Schreibtisch liegen gelassen hatte. »Wie ist seine Stimmung?«, fragte er, als sie den Hörer auflegte. »Nicht so besonders, glaube ich. Er hat mich nicht einmal angeschaut, als er reinkam. Ist direkt an Ihren Schreibtisch marschiert und hat sich gesetzt.« Beamon seufzte und ging langsam auf sein Büro zu. »Wissen Sie, D. ich habe gestern ein Stück von Shakespeare gelesen …« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Nein, Desdemona heiße ich auch nicht.« »Na gut. Ich vertraue Ihnen meine Doughnuts an.« Er deutete auf die fettfleckige Schachtel. »Falls ich in einer Stunde nicht zurück bin, organisieren Sie einen Rettungseinsatz …« »Jake, wie geht es Ihnen? Was bringt Sie in unsere Breiten?« Layman schloss den Ordner und stupste einige Sekunden lang die herausragenden Blätter zurecht, ehe er ihn wieder auf den Schreibtisch legte. »Was treiben Sie eigentlich, Mark?«, fragte er, ohne aufzuschauen. 255
Ärgerlich verdrehte Beamon die Augen. Auf diesen typischen Ton eines Schuldirektors hatte er schon als Kind allergisch reagiert, und daran hatte sich im Lauf der letzten fünfunddreißig Jahre nichts geändert. »Ich gehe mir gerade eine Tasse Kaffee holen. Auch einen?« Layman warf einen Stapel Computerdisketten auf den Schreibtisch. »Was ist das?« Beamon schaute über seine Schulter und erkannte die Disketten, auf denen die Mitgliederlisten der Kneissianer gespeichert waren. Der Tag fing ja wirklich ungemein erfreulich an. Er setzte sich auf einen Stuhl, der seinem Schreibtisch gegenüberstand, und wartete. Layman schien sich nur mit Mühe zu beherrschen und starrte weiterhin auf den Ordner. »Hören Sie, Jake, wir sind beide viel beschäftigte Männer«, seufzte Beamon. »Sie wissen, was auf diesen Disketten ist, sonst wären Sie mit Ihrem Arsch in Phoenix geblieben. Also, was wollen Sie?« Beinahe sofort bereute Beamon seine Wortwahl, denn Layman sah aus, als würde er gleich platzen und seinen neuen Teppich ruinieren. »Worüber haben wir geredet, als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben?« Völlig ruhig trank Beamon erst einmal einen Schluck Kaffee. »Über den Fall Davis und dass Sie nicht glauben, die Spur zur Kirche habe irgendwas zu bedeuten.« »Nein, ich habe Ihnen ausdrücklich gesagt, Sie sollten die Kneissianer in Ruhe lassen, damit das FBI nicht wieder so unter Beschuss gerät wie damals wegen der Geschichte in Waco. Und Sie haben zugestimmt.« 256
»Ich habe zugestimmt, dass das FBI wegen Waco unter ziemlichem Beschuss gestanden hat. Ich habe nicht gesagt, dass diese Spur zur Kirche nichts zu bedeuten habe.« Das brachte das Fass zum Überlaufen. Layman sprang auf. »Es schert mich einen Dreck, was Sie gesagt haben oder nicht. Ich habe Ihnen einen Befehl gegeben, und ich erwarte, dass Sie ihn befolgen!« Beamon erwiderte ruhig seinen Blick. »Hören Sie, Jake, ich habe ein vermisstes fünfzehnjähriges Mädchen und zwei Erwachsene, denen das Hirn rausgepustet worden ist. Ich habe vierundzwanzig Stunden am Tag die Presse am Hals, die sich fragt, warum ich nicht meinem Ruf gerecht werde und den Fall endlich aufkläre. Sie können leicht irgendwelche idiotischen Anweisungen erteilen, weil die Verantwortung letztlich bei mir liegt. Falls ich etwas übersehe, geht’s mir an den Kragen, nicht Ihnen.« »Was bilden Sie sich eigentlich ein?« Layman beugte sich vor, und Beamon merkte, dass er bewusst laut genug sprach, damit seine Stimme durch die offene Tür nach draußen drang. »Ist Ihnen eigentlich klar, warum Sie in Flagstaff sind? Der Direktor musste Sie in eine leitende Position befördern, weil die Presse sonst über ihn hergefallen wäre. Es gab nur drei freie Büros, die klein genug waren, dass Sie keinen echten Schaden anrichten konnten. Wissen Sie, warum Sie hier gelandet sind?« Als Beamon einen weiteren Schluck von seinem Kaffee trank, stellte er fest, dass die Sahne schmeckte, als sei sie kurz vor dem Sauerwerden. »Sie werden es mir wohl gleich verraten.« »Klappe!« 257
Layman schnappte außer sich vor Wut nach Luft. »Sie sind hier, weil ich im Urlaub war. Das ist der Grund – ich war im Urlaub! Meine beiden Kollegen dagegen nicht, und sie drohten zu kündigen, falls Sie in ihren Bezirk kämen.« Er ließ sich wieder auf Beamons Sessel sinken. »Und was Ihren Ruf betrifft, so heißt es allgemein, dass Sie ein Säufer sind, der allen bloß auf den Wecker geht und zufällig bei einigen Fällen, die Aufsehen erregt haben, über die Lösungen gestolpert ist. Da würde ich mir an Ihrer Stelle keine allzu großen Sorgen machen, dass mein Image ein paar Schrammen bekommt.« Layman schwieg für einen Moment, aber Beamon gab keine Antwort. »Sie sind beruflich so ziemlich am Ende, Mark, und das wissen Sie selbst am besten«, sagte Layman, nun wieder in normaler Lautstärke. »Ich dagegen habe noch immer die besten Karriereaussichten, und die lasse ich mir nicht von jemandem versauen, der als besserer Bürovorsteher in Flagstaff gestrandet ist. Kapiert?« »Okay, ich denke, jetzt bin ich mal dran.« Beamon stellte seine Tasse so fest auf den Schreibtisch, dass der Kaffee überschwappte. »Ich bin also beruflich am Ende? Na gut, mag sein, dass ich seit Jahren das dreckige kleine Geheimnis dieses Ladens bin. Aber man erledigt manchen Job nicht immer nur dadurch, indem man in die richtigen Ärsche kriecht und einen Haufen von politisch korrektem Scheißdreck daherbrabbelt. Manchmal muss man einfach losziehen und sich den Dreckskerl schnappen, hinter dem man her ist. Es tut mir Leid, wenn es politisch für Sie ein wenig unbequem wird, aber mir scheint, das hier ist eine dieser Gelegenheiten. Warum lassen Sie mich also nicht einfach meinen Job ma258
chen? Vielleicht stolpere ich mit ein wenig Glück über die kleine Jennifer Davis, und wir gelten beide als Helden.« Layman stand auf und schnappte sich die Disketten. »Das ist Ihre letzte Chance, Mark. Wenn es nicht so viel Wirbel in der Presse verursachen würde, wären Sie jetzt raus aus diesem Fall. Ich schlage vor, Sie nehmen den Rest des Tages frei und machen sich ein paar ernsthafte Gedanken über Ihre Zukunft.« Beamon lehnte sich in seinem Sessel zurück, nachdem Layman hinausgestürmt war, und dachte über das Gespräch nach. Vielleicht hätte er sich ein bisschen diplomatischer verhalten sollen … ja, im Grunde hätte er sich eigentlich kaum dümmer verhalten können. So viel zum neuen, verbesserten Mark Beamon. Seufzend stand er auf und spähte zur Tür hinaus. Layman war verschwunden, doch seine Präsenz war immer noch an der gedämpften Stimmung zu spüren. Er winkte Chet Michaels und wandte sich an seine Sekretärin. »D. ich habe einen Job für Sie, aber Sie werden mich deswegen hassen.« Er deutete auf den Berg von Schachteln in seinem Büro mit den Unterlagen über den Fall Davis. »Sehen Sie diese Kartons?« Sie nickte zögernd. »Ich brauche eine Kopie von allem, was da drin ist.« »Bis wann?«, fragte sie argwöhnisch. »Oberste Priorität. Schließen Sie sich im Kopierraum ein und versuchen Sie, bis morgen Mittag fertig zu sein. Wer immer den Kopierer braucht, soll in den nächsten Copyshop gehen und sich eine Quittung geben lassen. Okay?« Sie nickte. »Ich fange gleich nach dem Mittagessen an.« »Danke, das ist prima.« Er trat zur Seite und ließ Chet Mi259
chaels, der etwas nervös aussah, an sich vorbei in sein Büro gehen. »Einige der Jungs sollen Ihnen die Schachteln in den Kopierraum tragen. Sie sind ganz schön schwer.« Beamon ging zurück an seinen Schreibtisch und setzte sich. »Wie kommen Sie weiter mit Verkomm und TarroSoft, Chet?« »So lala, Mark.« »Lala?« »Ich habe einiges über Vericomm, aber über Tarro konnte ich bislang nichts finden.« »Okay, dann Vericomm.« »Wie ich schon sagte, es ist eine Holdinggesellschaft; sie besteht hauptsächlich aus kleineren Telefonfirmen, die in ungefähr zwanzig Bundesstaaten vertreten sind. Das sind diese Anbieter, bei denen man vor einem Telefongespräch eine 800-Nummer wählt und dann seine persönliche Kennzahl eingibt, um einen günstigen Tarif zu kriegen.« Michaels zog einen Umschlag aus seiner Manteltasche und legte einige Hochglanzprospekte auf den Schreibtisch. »Das ist die Tochtergesellschaft von Vericomm in Arizona. Ich habe vor ungefähr einer Woche diese Werbebroschüre mit einem Angebot von ihnen bekommen. Zum Glück schiebe ich so was immer ewig vor mir her und habe es noch nicht abgeschickt.« Neugierig schaute Beamon sich den Prospekt an. Auf dem Begleitbrief prangte in leuchtend roten Buchstaben NickeLineAZ. »Das Angebot ist wirklich gut«, fuhr Michaels fort. »Fünf Cents die Minute, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Allerdings wundert mich, wie sie sich halten 260
können. Ich habe mir mal ihre Finanzberichte angeschaut. Sie sind irgendwie komisch.« »Komisch?« Beamon legte den Prospekt zur Seite und blätterte durch einen Stapel von NickeLine-Aufklebern und anderes Werbematerial. »Na ja, es ist keine sehr große Firma – unter dreißig Millionen Jahresumsatz.« »Ist das ungewöhnlich?« »Wenn man davon ausgeht, dass sie, sagen wir mal, in zwanzig Bundesstaaten vertreten sind. Das sind nicht sehr viele Kunden pro Staat.« Beamon zuckte etwas ratlos die Schultern. Von solchen Sachen hatte er absolut keine Ahnung, was er auch jederzeit bereitwillig zugab, aber Gott sei Dank war das FBI geradezu verseucht mit Wirtschaftsprüfern. »Es wird noch interessanter«, versicherte Michaels. »Sie machen Jahr für Jahr eine Menge Verluste. Es gibt zwar nicht sehr viele Unterlagen über solche Telefonfirmen, aber wenn man sie mit einigen Daten der RMA vergleicht, stehen sie wirklich ziemlich übel da.« »Ich kapiere kein Wort.« »Die RMA sammelt Daten von allen möglichen Firmen und erstellt daraufhin Statistiken. Man kann also beispielsweise den Jahresumsatz irgendeiner beliebigen Firma mit dem Durchschnittswert für diesen Unternehmenszweig vergleichen.« »Und bei ihnen sieht’s wackelig aus?« Michaels nickte. »Zum einen hat Vericomm überhaupt keine Schulden und finanziert alles – einschließlich ihrer Verluste – durch den Verkauf von Aktien.« 261
»Davon verstehe ich zwar nichts, aber es investiert doch kein Mensch mehr in eine Firma, die jedes Jahr Geld verliert, oder?« »Eben. Zum anderen ist komisch, dass sie ein viel zu großes Sachanlagevermögen haben.« »Wie bitte?« »Sie haben zu viel, na ja … Zeug. Alle Firmen haben diverse Vermögensgegenstände und Schulden. Eine Beratungsfirma hat beispielsweise keinen Lagerbestand wie ein Lebensmittelgeschäft mit Waren im Wert von etlichen zehntausend Dollar; ein Berater hat vielleicht einen Computer und einige Fachbücher.« »Ist klar.« »Nun, Vericomm hat ein verblüffend hohes Sachanlagevermögen. Sie sind ausgerüstet, als wären sie fünfmal so groß.« »Vielleicht rechnen sie mit einem plötzlichen Aufschwung?« »Vielleicht, aber das bezweifle ich. Es scheint, als hätten sie in den letzten drei Jahren kaum einen Kunden dazugewonnen.« »Okay, gute Arbeit, Chet. Ich hätte das alles nie und nimmer rausgekriegt. Tun Sie mir einen Gefallen und schreiben Sie mir das mal auf – aber so, dass ich es auch verstehen kann, okay?« Nachdem er allein war, zog Beamon seine Brieftasche aus der Jacke, kramte durch seine Kreditkarten und das andere Zeug, das sich darin angesammelt hatte, und fand schließlich die gelbe laminierte Karte. Sein Name und eine zehnstellige Nummer prangten darauf unter einem orangefarbenen Kästchen mit den hellroten Buchstaben »NickeLineAZ«. 262
DREIUNDDREISSIG So weit das Auge reichte, sah man nur verschneite Hügel und hier und da einige dichte Kieferngruppen. Beamon ließ das Auto vor einem großen Eisentor ausrollen und kurbelte widerstrebend das Fenster herunter, durch das sofort der feine Schnee hereinstob. Der Wächter, der aus dem kleinen Holzhäuschen kam, trug die Standardtracht aus blauen Hosen mit einem Streifen an der äußeren Naht, eine dunkelblaue Krawatte und einen Daunenparka, der durch seine Schulterklappen einer Uniformjacke ähnelte. Darunter konnte man seine gewaltigen Schultern erkennen, den kräftigen Oberkörper und die schmale Taille. Sein lässiger Gang besagte deutlich, dass er mehr war als ein angeheuerter Wachmann für acht Dollar die Stunde. Sehr viel mehr sogar. »Es tut mir Leid, Sir. Albert kann im Moment keine Besucher empfangen. Wenn Sie mir Ihren Namen geben und Ihre E-Mail-Adresse, richte ich ihm gern aus, dass er sich sobald wie möglich mit Ihnen in Verbindung setzen soll«, sagte er höflich und stützte sich auf den Rand des Wagenfensters. Beamon warf einen Blick auf das rechte Handgelenk und fragte sich, ob er vielleicht einer dieser Hüter des Glaubens war, von denen Ernie ihm erzählt hatte. Leider war der Ärmel zu lang, als dass man ein angeschweißtes Eisenband hätte sehen können. Seine wohl gesetzten Worte klangen irgendwie einstudiert. Wahrscheinlich hatte er diesen Spruch mindestens schon tausendmal heruntergeleiert, da vermutlich häufiger begeisterte Anhänger von Albert Kneiss hierher kamen und ver263
suchten, eine Audienz zu bekommen. Beamon musste zugeben, dass ihn die Reaktion auf seinen unerwarteten Besuch beeindruckte. Welche Kirche bot einem schon einen modernen Kontakt per E-Mail zu ihrem Messias an? Er griff in seine Jacke und bemerkte, dass der Wächter seine Bewegung aufmerksam und etwas angespannt beobachtete. »Ich bin Mark Beamon vom FBI.« Er klappte seinen Ausweis auf. »Ich möchte gern in einer offiziellen Angelegenheit mit Mr. Kneiss sprechen.« Der Wächter begutachtete den Ausweis sorgfältig. »Einen kleinen Moment, bitte.« Er ging zurück in sein Häuschen und griff nach dem Telefon. Beamon kurbelte das Fenster wieder hoch und wischte den Schnee weg, der sich auf dem Armaturenbrett angesammelt hatte. Er brauchte nicht lange zu warten. »Sir, wenn Sie auf dieser Straße weiterfahren, kommen Sie zum Haupthaus. Parken Sie einfach unter dem Säulenvorbau. Dort erwartet Sie jemand.« Dann trat er einen Schritt zurück, und Beamon fuhr durch das Tor. Erst nach fast einer halben Meile kam er über eine Anhöhe, von der aus man einen spektakulären Blick auf ein kleines Tal hatte, das beherrscht wurde von einer gewaltigen Villa im Tudorstil. Das Haus war ein wundervolles Gebäude und tadellos gepflegt, aber etwas unnatürlich in die Breite gezogen. Offenbar waren die weitläufigen Flügel zu beiden Seiten nachträglich angebaut worden. Etwas unsicher fuhr Beamon die verschneite Anhöhe hinunter und hielt unter dem breiten Säulenvorbau. Er stieg aus und ging die Treppe hinauf. In der Tür stand 264
eine Frau. »Mr. Beamon. Bitte, kommen Sie herein. Mein Name ist Sara Renslier.« Sie deutete auf eine wundervolle antike Garderobe aus Schmiedeeisen. Er hängte seine Jacke an einen Messinghaken und reichte ihr die Hand. »Mark Beamon.« Für eine Frau von solch kleiner Statur hatte sie einen erstaunlich kräftigen Händedruck. »Sehr nett, Sie kennen zu lernen, Mr. Beamon. Bitte, kommen Sie nur mit.« Beamon folgte ihr ins Innere des Hauses und schaute sich beeindruckt um. Überall sah man Kunstgegenstände aus der ganzen Welt, die auf sonderbare Weise harmonisch miteinander verschmolzen. Zweifellos waren es lauter irrsinnig kostbare Stücke, aber so sparsam angeordnet, dass trotzdem eine fast klösterliche Atmosphäre herrschte. Nichts wirkte auch nur im Entferntesten verdächtig, trotzdem fragte er sich unwillkürlich, wie hoch wohl die Chancen standen, dass er ganz in der Nähe von Jennifer Davis war. Vermutlich besser als fünfzig zu fünfzig. Zielstrebig führte Sara ihn in einen kleinen Raum am Ende eines Ganges. »Bitte, setzen Sie sich.« Sie deutete auf einen schweren Ledersessel vor einem lodernden Kaminfeuer. »Da können Sie sich ein bisschen aufwärmen.« Ihm fiel auf, dass der Raum vielleicht ein wenig feudaler war, aber ansonsten sehr dem Zimmer in der Anwerbestelle in Flagstaff ähnelte. Offensichtlich hatte die Kirche entdeckt, welche Umgebung für Gespräche mit Interessenten am günstigsten war, und hielt sich überall an dieses Schema. Sara hatte in einer prunkvollen Presse Kaffee gemacht und setzte sich in einen Sessel ihm gegenüber. Ihre Kurzhaarfrisur war nicht unelegant, aber in erster Linie praktisch. Sie 265
wirkte sehr gepflegt und war so ordentlich gekleidet, wie er es erwartet hatte von der Führerin der perfekt gepflegten und ordentlich gekleideten Horden, die Flagstaff beherrschten. Was er nicht erwartet hatte, war die Aura von Macht, die sie umgab, und ihre Selbstbeherrschung. Er hatte im Lauf seines Lebens einige der mächtigsten Männer in der Welt getroffen, und nur wenige strahlten eine solche Präsenz aus, dass der ganze Raum davon erfüllt zu sein schien. Es verwunderte ihn überhaupt nicht mehr, dass diese Frau es geschafft hatte, aus einer esoterischen Sekte die am schnellsten wachsende Religionsgemeinschaft der Welt zu machen. Dagegen wunderte ihn die Tatsache, dass sie sich mit ihm traf. Zweifellos würde sie ihm einen absolut einleuchtenden Grund nennen, weshalb er nicht mit Kneiss sprechen könne, aber warum gab sich eine Frau, die über eine religiöse Organisation herrschte, wie es sie in der Geschichte noch nicht gegeben hatte, persönlich mit einem kleinen ASAC ab? Sie schien darauf zu warten, dass er etwas sagte, deshalb trank er einen Schluck Kaffee und räusperte sich. »Wie ich am Tor schon erwähnte, hätte ich gern kurz mit Mr. Kneiss gesprochen.« »Darf ich fragen, worum es geht?« »Es ist eine private Angelegenheit im Zusammenhang mit einem Fall, den ich bearbeite.« »Jennifer Davis?« »Bitte?«, fragte er scheinbar verständnislos. »Dieses verschwundene Mädchen«, entgegnete Sara. »Die Zeitungen haben ja fast jeden Tag darüber berichtet.« Er überlegte, ob er lügen und ihr erzählen sollte, dass es ein anderer Fall sei, aber es war offensichtlich, dass sie genau 266
wusste, warum er hier war. Und noch offensichtlicher war, dass es sie absolut nicht kümmerte. Ihre ganze Haltung triefte geradezu vor Überheblichkeit – sogar die Art, wie sie an ihrem Kaffee nippte, wirkte grenzenlos herablassend. »Jennifer Davis, ganz recht.« Er zog einen Block aus seiner Tasche und tat, als suche er seine Notizen. »Sara Renslier. Sie leiten im Grunde die Kirche. Stimmt das?« Sie lächelte ihn an, als sei er ein Kind, das gerade zwei und zwei zusammengezählt und fünf herausbekommen hatte. »Nein. Das ist nicht ganz korrekt. Albert hat die Kontrolle über sämtliche Bereiche, ich führe lediglich seine Wünsche aus, so gut ich kann.« »Und was sind das für Wünsche?« »Das ist eine Frage, die ich nicht so ohne weiteres beantworten kann.« Sie stellte ihre Tasse auf ein Tischchen mit Ledereinlagen. »Albert widmet sich selbstverständlich sehr der Wohltätigkeit und der Verbreitung der Lehre, die er begründet hat. Ich helfe ihm, seine Ideen in die Realität umzusetzen, und kümmere mich um die profanen Details.« »Und werden Sie die Kirche übernehmen, wenn er stirbt?« »In den Himmel zurückkehrt«, verbesserte sie. »Richtig. In etwa zwei Wochen, nicht wahr?« Sie nickte höflich. »Er wird sich am Karfreitag, wie schon in der Vergangenheit, wieder mit Gott vereinen. Und wer danach die Kirche führen wird … das ist allein seine Entscheidung.« Es schien ihm mehr als unwahrscheinlich, dass sie nicht längst über diesen Punkt nachgedacht hatte, doch er beschloss, es dabei zu belassen. »Kann ich mit ihm sprechen?« »Ich fürchte, das geht nicht. Er meditiert in der Türkei.« 267
»Wirklich? In der Türkei? Wie lange ist er denn schon dort?« »Seit Januar. Er muss sich auf vieles vorbereiten.« »Ja, das kann ich mir denken.« Sara schlug die Beine übereinander und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Wenn Sie ihm etwas ausrichten möchten, leite ich es bei Gelegenheit gern weiter. Versprechen kann ich allerdings nichts.« Beamon nickte geistesabwesend und schaute in das flackernde Kaminfeuer. Es war so ungefähr die Antwort, die er erwartet hatte. »Hat Mr. Kneiss irgendwelche Angehörige?« »Nicht, soweit ich weiß. Er hat zumindest nie davon gesprochen.« Ihre Erwiderung kam so prompt, dass er merkte, sie war auf diese Frage vorbereitet gewesen. Jetzt musste er eine Entscheidung treffen, wie er sich verhalten sollte. Er könnte schlicht aufstehen, ihr für das Gespräch danken und gehen. Aber das schien irgendwie langweilig. Die andere Option war, auf Angriff zu gehen und zu sehen, ob er die Eisprinzessin ein wenig ins Schwitzen bringen konnte. Er entschied sich für die letztere Methode, das hatte bislang immer am besten funktioniert. »Ich fürchte, ich muss darauf bestehen, mit Mr. Kneiss zu sprechen.« »Und wie stellen Sie sich das vor?«, entgegnete Sara herablassend. »Er ist völlig von der Welt abgeschnitten und nicht zu erreichen. Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt.« »Dann sorgen Sie dafür, dass er schleunigst wieder Kontakt mit der Welt kriegt«, erwiderte Beamon und fragte sich nebenbei, ob Jake Layman ihn deswegen vor ein Erschießungskommando stellen oder sich eher für das traditionellere Aufhängen entscheiden würde. »Mir fällt es, ehrlich gesagt, ein 268
wenig schwer zu glauben, dass Sie keinerlei Kontakt zu Ihrem Messias haben. Ich schlage vor, Sie nehmen ein paar tausend Kröten von den zehn Milliarden, die Sie jedes Jahr einkassieren, mieten einen Hubschrauber und schicken ihm damit ein Handy auf den entsprechenden Berggipfel.« Er musste anerkennen, dass sie für eine Frau, mit der wahrscheinlich noch nie jemand in diesem Ton gesprochen hatte, bewundernswert die Selbstbeherrschung wahrte. Das leichte Zittern ihres Kinns und ein fast unmerkliches Zusammenkneifen der Augen verrieten Beamon allerdings, dass er gerade eine Grenze überschritten hatte. Jetzt würde es kein Zurück mehr geben. »Ich komme in ein paar Tagen noch mal vorbei, um mich zu erkundigen.« Er stand auf und reichte ihr die Hand. Wieder erschien dieses aufreizend arrogante Lächeln auf ihren Lippen. »Ach ja, wirklich?« »Ja, wirklich.« Beamon tippte mit einer Hand eine Nummer in sein Handy ein und versuchte mit der anderen, seinen Wagen um eine Kurve zu manövrieren, während er gleichzeitig überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis Layman von seinem Treffen mit Sara Renslier erfuhr. »Büro Mark Beamon.« »Hallo, D.! Holen Sie mir Ken Hirayami ans Telefon. Er ist unser Mann in Athen.« »In Griechenland?« »Genau. Sie müssen ihn wahrscheinlich unter seiner Privatnummer anrufen – ich glaube, dort ist es gerade mitten in der Nacht.« 269
»Okay. Das wird aber ein paar Minuten dauern.« »Kein Problem. Stellen Sie mich solange zu Chet durch.« »Chet Michaels, kann ich Ihnen helfen?«, ertönte nach einer kurzen Pause eine ernste Stimme. »Herrgott, Chet, Sie klingen wie der Kerl am Drive-inSchalter von McDonald’s.« »Besten Dank, Mark.« »Hören Sie zu, Sie müssen für mich mal die Passagierlisten aller Flüge in die Türkei im letzten Monat überprüfen, ob Sie darauf den Namen Albert Kneiss finden.« »Sie glauben, er ist aus dem Land geflohen?« »Kaum. Außerdem möchte ich wissen, ob die Kirche einen Privatjet hat. Wenn ja, rufen Sie unsere Jungs in Oklahoma City an, damit sie nachschauen, ob sie einen Flug in die Türkei angemeldet haben – dazu brauchen Sie die Flugzeugnummer.« »Und wie soll ich rausfinden, ob sie ein Flugzeug haben?« »Keine Ahnung, lassen Sie sich was einfallen. Sagen Sie meinetwegen, Sie seien vom Corporate Jet-Magazin und hätten gehört, sie hätten den dicksten Flieger der Stadt …« »D. winkt mir gerade, Mark. Ich glaube, ich muss Sie wieder zurückstellen.« »Lassen Sie alles stehen und liegen und machen Sie sich an die Arbeit, Chet. Ich will bis morgen früh Ergebnisse sehen, verstanden?« Es klickte erneut in der Leitung, und die Stimme seiner Sekretärin ertönte. »Mark, ich habe Ken.« »Prima. Übrigens, D. – wie kommen Sie mit diesen Kopien voran?« »Kriegen Sie schon noch, Mark.« 270
»Sie sind ein Goldstück.« »Gut, dass Sie das einsehen. Hier ist er.« »Ken!« Keine Antwort. »He, Ken!« »Mark? Ja, ich bin’s. Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?« Beamon schaute auf seine Uhr. »Halb fünf nachmittags.« »… loch.« Der erste Teil des Worts fiel zwar einer leicht verzögerten Übertragung zum Opfer, aber Beamon konnte unschwer erraten, was er gesagt hatte. »Ken, Sie müssen mir einen Gefallen tun. Eigentlich sogar zwei.« »Was?« »Sie müssen die Bullen in der Türkei dazu bringen, dass sie nachprüfen, ob ein Albert Kneiss im Januar eingereist ist.« »Haben Sie ein genaueres Datum?« »Nee.« »Dürfte trotzdem kein Problem sein. Jeder, der ins Land kommt, braucht ein Visum. Kriegt man entweder hier oder in einem der Konsulate. Bis wann brauchen Sie Bescheid?« »Gestern.« »Warum habe ich überhaupt gefragt?« »Es ist wirklich wichtig, Ken. Wenn ich bis morgen eine Antwort habe, falle ich bei unserer nächsten Begegnung vor Ihnen auf die Knie und küsse Ihnen die Füße.« »Ich denke über dieses Angebot nach. Was ist der zweite Gefallen?« »Ich melde mich deswegen noch mal bei Ihnen.« »Na gut. Dann gehe ich wieder ins Bett, Mark. Ich rufe Sie morgen an.«
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VIERUNDDREISSIG Mark Beamon drückte beide Hände ins Kreuz und dehnte seine schmerzenden Rückenmuskeln. Letzte Woche hatte er seinem Privattrainer gekündigt und aus lauter schlechtem Gewissen beschlossen, den Berg von Schachteln mit den Kopien der Davis-Akten selbst in sein Auto zu schleppen. Zufrieden stellte er fest, dass er sich wohl keinen Dauerschaden geholt hatte, und bahnte sich seinen Weg an den Schreibtischen vorbei zu Craig Skinners Kabine. Der junge Computerexperte sah ihn kommen und wollte rasch im Klo verschwinden. »Stehen bleiben!« Skinner erstarrte ein paar Schritte vor der Herrentoilette. Beamon packte ihn am Kragen und zerrte ihn zurück in seine Kabine. »Setzen. Was zur Hölle hatte ich Ihnen gesagt, Craig? Dass Sie niemandem was davon erzählen sollen. Dass Sie es nicht an die große Glocke hängen und das Maul halten sollen, oder? Was haben Sie getan? Bei der Personalabteilung angerufen und gefragt, ob Sie ihre Unterlagen downloaden können?« Nervös drehte Skinner eine Haarsträhne um seinen Zeigefinger. »Haben Sie eine Ahnung, wie lange ich dafür brauchen würde, die gesamte Personalliste des FBI einzuscannen? Ich dachte, so wäre es einfacher.« Beamon verschob seine Brille und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. »Okay, ich habe etwas anderes für Sie, Craig. Aber diesmal bleibt es wirklich unter uns. Und ich meine damit unter uns beiden, klar?« Skinner schaute ihn unsicher an. »Mensch, die haben ge272
dacht, ich sei ein Spion oder so was. Ich hatte ganz schöne Schwierigkeiten. Auf Laymans Befehl musste ich die gesamten Unterlagen löschen.« Seine Proteste interessierten Beamon absolut nicht. »Ich brauche sämtliche Informationen, die Sie auftreiben können, über eine Softwarefirma namens TarroSoft.« Nach kurzem Überlegen drehte Skinner sich zu seinem Computer um und griff nach der Maus. Auf dem Schirm erschien eine Seite von Yahoo, und er tippte das Wort TarroSoft ein. »Das ist ja irre.« »Was?« »Keinerlei Treffer. Sind Sie sicher, dass es eine Softwarefirma ist?« »Nicht hundertprozentig. Aber bei einem solchen Namen denke ich mir, sie haben entweder was mit Software oder Toilettenpapier zu tun – und ich vermute mal, dass es kein Toilettenpapier ist.« Skinner kaute an seinem Bleistift und schien ganz fasziniert von dem Problem. »Ich stelle mal ein paar Nachforschungen an und sage Ihnen dann Bescheid.« Die Antwort war ein strenger Blick. »Ganz still und heimlich«, versicherte Skinner kleinlaut. Beamon nickte zufrieden und ging in die Mitte des Büros, wo er auf einen Stuhl sprang, um sein nächstes Problem etwas weniger still und heimlich zu lösen. »Alle mal herhören, bitte! Hallo?« Das leise Stimmengewirr verstummte nach und nach, und alle Agenten schauten von ihren Schreibtischen auf. »Danke. Ich möchte, dass jeder hier – wirklich jeder – auf273
schreibt, welche Telefongesellschaft er oder sie bei Ferngesprächen benutzt. Bringen Sie die Zettel an Chets Schreibtisch.« Beamon sprang vom Stuhl, was ihm einen Stich im Rücken eintrug, und zog ihn hinüber zu Michaels’ Schreibtisch. »Wo haben Sie sich den ganzen Tag rumgetrieben, Chet?« Der junge Agent hatte immer noch Schneeflocken in seinem roten Haar. »Hab für Sie gearbeitet, Mark.« Hastig kippte Beamon Michaels’ Postkorb aus und deutete auf den leeren Behälter, als die ersten mit ihren Zetteln erschienen. »Und was genau haben Sie für mich getan?« »Mich schon vor sechs Uhr morgens auf einem privaten Flugplatz halb tot gefroren.« Beamon ließ sich nicht anmerken, wie beeindruckt er war. Dass Michaels derart schnell das Flugzeug der Kirche ausfindig machen würde, hätte er wirklich nicht gedacht. »Mal wieder bis zur letzten Minute gewartet, was? Haben Sie wenigstens was rausgekriegt?« »Sie haben tatsächlich einen Privatjet, der für einen Flug in die Türkei geeignet wäre. Ich habe die Nummer heute Morgen telefonisch ans Büro in Oklahoma durchgegeben. Sie erkundigen sich bei der Luftfahrtbehörde.« »Bis wann dauert das?« »Dürfte schnell gehen. Ich habe gesagt, es sei brandeilig.« Michaels nahm einen braunen Umschlag vom Schreibtisch und reichte ihn Beamon. »Außerdem habe ich einige der früheren Adressen Ihres neuen Nachbarn Robert Andrews überprüft. Interessant ist, dass noch sieben andere Männer seine letzte Adresse als ihren Wohnsitz angeben. Alle zwischen dreißig und vierzig Jahren. Alles ehemalige Soldaten 274
oder ehemalige Polizisten, jetzt freiberuflich tätig. Aber bestimmt wussten Sie schon, was ich rausfinden würde, oder?« Bevor er antwortete, schaute Beamon über seine Schulter. Der Kasten war voller Papiere, und alle Agenten hatten sich inzwischen wieder an ihre Arbeit gemacht. »Gewusst habe ich es nicht – es war nur eine Ahnung. Ernie hat mir erzählt, dass Sara Renslier eine spezielle Sicherheitsgruppe zusammengestellt habe. Fanatiker, die ihr bedingungslos gehorchen. Ich glaube, Sie haben sie gefunden.« Michaels wirkte ein wenig beunruhigt. »Wie mir scheint, Mark, sind das Leute, mit denen man sich besser nicht anlegt …« »Und daran sollten Sie denken. Was ist mit Sines?« »Scheint ebenfalls zu dieser Gruppe zu gehören. Einundvierzig Jahre alt, ehemaliger Soldat und kurz nach seiner Beförderung zum Major ohne ersichtlichen Grund ausgetreten. Gibt die Kirche als seinen Arbeitgeber an und das Haus von Kneiss als Wohnsitz. Keine Vorstrafen. Ich konnte nicht rauskriegen, welche Anstellung er bei der Kirche hat – nur dass er dort arbeitet. Das Gleiche bei Renslier.« Beamon öffnete den braunen Umschlag und schrieb sich sämtliche Namen auf ein Stück Notizpapier, dazu auch den Namen des Mannes, der seine Wohnung beobachtete. »Bin sofort wieder da.« Er ging durch das Büro und streckte den Kopf in Skinners Kabine. »He, Craig.« »Ich bin erst seit ein paar Minuten dran, Mark!« »Keine Panik, mein Junge.« Beamon reichte ihm das Blatt. »Sie sollen nur nachschauen, ob diese Namen auch auf der Liste stehen, die ich Ihnen gegeben hatte.« 275
»Ich habe doch gesagt, dass Layman mir befohlen hat, diese Unterlagen zu löschen.« Beamon verdrehte die Augen. Skinner hatte das Herz eines Hackers und deshalb diese Liste garantiert nicht gelöscht. »Prüfen Sie die verfluchten Namen nach, Craig.« »Nun … vielleicht gibt es einen Weg, die Sachen zu rekonstruieren.« Zögernd griff Skinner nach dem Blatt. »Aha«, nickte Beamon und ging wieder zurück zu Michaels’ Schreibtisch. »Was gibt’s sonst noch, Chet?« Michaels zuckte die Schultern. »Nichts, tut mir Leid, Mark. Die Suche nach Bekannten von David Passal war ein totaler Fehlschlag – und ich meine nicht, dass ich keinen finden konnte, auf den das Profil gepasst hätte –, ich konnte überhaupt niemanden finden. Der Kerl war ein totaler Einsiedler. Ansonsten gibt es in diesem Bundesstaat keine Sexualstraftäter, deren Handschrift auch nur annähernd passen würde oder die eine Gelegenheit gehabt hätten. Genauso ergebnislos war bislang unsere landesweite Suche nach Triebtätern oder solchen, die kürzlich auf Bewährung entlassen wurden. Und was Spuren angeht, haben wir ebenfalls nichts.« Beamon schaute den jungen Agenten verdutzt an. »Das ist ein bisschen viel Nichts. Also, wie sehen Sie die Sache?« Michaels atmete tief durch. »Vielleicht hat die Kirche doch nichts damit zu tun. Oder vielleicht war es bloß ein außergewöhnlicher Zufall.« »Wie das?« »Was ist, wenn Jennifers Vater einfach durchgedreht ist? Hat ihre Mutter getötet und danach sich selbst. Jennifer hat alles gesehen, gerät in Panik und rennt auf die Straße, wo sie 276
ein vorbeifahrendes Auto anhält. Es stellt sich raus, dass der Kerl, der sie aufliest, ein übler Geselle ist. Die Sache eskaliert, und er bringt sie um. Ich glaube langsam, dass wir sie wahrscheinlich irgendwo finden werden, wenn der Schnee taut.« »Warum hat sie nicht telefonisch Hilfe gerufen? Einen Rettungswagen zum Beispiel?« »Sie brachte es einfach nicht fertig, mit den Leichen ihrer Eltern im selben Haus zu bleiben.« »Klingt vernünftig. Warum hat sie die Waffe mitgenommen?« »Darüber habe ich auch nachgedacht. Sie ist völlig ausgeflippt. Fällt neben ihren toten Eltern auf die Knie und weint, weil sie jetzt völlig allein ist, da sie keine Verwandten mehr hat. Sie will vor lauter Verzweiflung ebenfalls Schluss machen, hebt die Waffe auf, hält sie sich an den Kopf, bringt es dann aber doch nicht fertig. Vergisst, sie fallen zu lassen, als sie aus dem Haus rennt.« »Warum ist sie nicht einfach zu einem Nachbarn gelaufen?« »Vielleicht hat der Typ mit dem Auto sie auf das Haus eines Nachbarn zulaufen sehen und angeboten, sie hinzufahren. Und sie ist bei ihm eingestiegen.« Das Telefon auf dem Schreibtisch begann zu läuten, doch Michaels ignorierte es. »Gut konstruiert, Chet«, erwiderte Beamon. »Aber mein Bauch sagt mir, es ist falsch.« »Meiner eigentlich auch. Damit bleibt die Kirche, nur hat Layman uns da ja einen dicken Riegel vorgeschoben.« Beamon hatte seinem jungen Kollegen absichtlich einiges verheimlicht, beispielsweise den Besuch bei Sara und viele 277
Informationen, die er von Ernestine Waverly erhalten hatte. Er hatte das Gefühl, dass Michaels letzten Endes umso besser dran war, je weniger er wusste. »Chet!«, brüllte D. und winkte mit dem Telefon. »Hier ist ein Kerl vom Büro in Oklahoma City am Apparat.« »Stellen Sie das Gespräch bitte durch?« Er hob beim ersten Läuten ab. »Hi, Terry. Nichts, was? Auch auf keinem Linienflug? Jedenfalls danke, dass du die Sache so schnell erledigt hast. Ja, sage ich ihm …« Beamon streckte die Hand aus und nahm Michaels das Telefon ab. »Terry. Hier ist Mark Beamon.« »Mr. Beamon. Wie geht es Ihnen, Sir?« »Gut. Ich wollte mich nur persönlich bei Ihnen bedanken, dass Sie uns so rasch geholfen haben.« »Wenn ich noch was für Sie tun kann, Mr. Beamon, lassen Sie es mich nur wissen.« »Da gäbe es tatsächlich etwas, Terry. Ich möchte, dass Sie morgen Nachmittag noch einmal nachschauen, ob ein Flug in die Türkei angemeldet wurde.« »Wir haben bisher nie Probleme gehabt mit der Bundesluftfahrtbehörde, Mr. Beamon, die Informationen waren immer korrekt …« »Ich bitte Sie trotzdem um diesen Gefallen. Es ist wichtig.« »Natürlich. Ich rufe Sie morgen Abend an.« »Danke, Terry. Dafür haben Sie bei mir was gut.« Beamon legte den Hörer auf und sah, dass Michaels ihn verwirrt anschaute. »Nur wieder so eine Ahnung«, erklärte er. »Chet, machen Sie wie bisher mit den Ermittlungen weiter, und passen Sie auf, dass wir nichts übersehen haben. Ich 278
konzentriere mich auf die Kirche. Da halten Sie sich raus. Okay?« Beamon sammelte die Zettel ein, die in Michaels’ Postkorb lagen, und ging zurück in sein Büro. Nachdem er alle überprüft hatte, blieben nur noch zwei übrig – mit dem Namen seiner Sekretärin und dem von Chet Michaels. Er schrieb sie auf einen Zettel – und seinen eigenen Namen dazu. »D.!«, brüllte er. Sie spähte zur offenen Tür herein. »Wann haben Sie sich bei NickeLine angemeldet?« »Ich weiß nicht mehr genau. Wahrscheinlich so um die Zeit, als ich hier angefangen habe. Vor ungefähr anderthalb Jahren.« Beamon hörte das Telefon auf ihrem Schreibtisch läuten, und sie verschwand. Gleich darauf schaute sie wieder zur Tür herein. »Ken Hirayami aus Athen.« »Stellen Sie ihn bitte durch.« Beamon hob ab. »Hallo, Ken! Was haben Sie herausgefunden?« »Keine Aufzeichnung, Mark. In der Türkei ist er nicht. Verraten Sie mir jetzt, was für einen zweiten Gefallen ich Ihnen tun soll?« »Aber klar. Ich möchte, dass Sie morgen Nachmittag die gleiche Überprüfung noch einmal machen lassen.« »Noch mal?« »Jawohl.« »Muss das wirklich sein, Mark? Ich glaube, das würde die Türken beleidigen. Es sähe ja so aus, als ob ich ihnen unterstellte, sie machten ihre Sache nicht ordentlich. Und das tun sie sehr wohl.« »Ken, ich setze fünfzig Mäuse darauf, diesmal finden sie eine Aufzeichnung, dass Kneiss ein Visum beantragt hat.« 279
»Was haben Sie denn da für eine Sache laufen, Mark?« »Machen Sie es?« »Ja, gut. Ich denke, ich treibe jemanden auf, der es überprüft und hoffentlich seinem Kollegen nichts davon erzählt.« »Danke, Ken. Oh, noch was!« »Ja?« »Ich will meine fünfzig Mäuse in amerikanischen Dollar.« Beamon drückte auf die Gabel und starrte sein Telefon an, als sei es eine Bombe. Er wusste, dass ihm einfach nichts anderes übrig blieb. Aber er wusste auch, dass er es ewig bereuen würde. Er blätterte durch sein Telefonverzeichnis, fand die gesuchte Nummer und wählte. »Sie sind verbunden mit Goldman Communications Consultants, hinterlassen Sie bitte eine Nachricht nach dem Piepton«, sagte eine mechanische Stimme. Beamon zog eine Grimasse. Goldman Communications Consultants. Wie vornehm das klang. Dabei steckte niemand anderer dahinter als Jack Goldman. Er hatte ihn kennen gelernt, als er gerade beim FBI angefangen hatte und Goldman kurz vor seiner Pensionierung stand. Goldman hatte bereits im Teenageralter angefangen, Telefone zu reparieren, als solche Apparate in Privathäusern noch eher die Ausnahme gewesen waren. Nachdem er entlassen worden war, weil er Wanzen für die Organisation von Al Capone angebracht hatte, hatte J. Edgar Hoover ihn unter seine Fittiche genommen, und Goldman war rasch der unumstrittene Abhörspezialist des FBI geworden. Bei ihrer ersten Begegnung war Goldman bereits älter als Methusalem gewesen. Und ein streitsüchtigeres Ekel, wie es 280
sicher selten eins auf dieser Welt gegeben hatte. Abgesehen davon war er allerdings ein wahres Genie. Er könnte selbst die Reißzähne eines tollwütigen Dobermanns verwanzen. Nie würde ihm jemand das Wasser reichen. Trotzdem wollte die Regierung nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten. Seine Firmenkunden fanden sich dagegen mehr als bereitwillig mit seiner derben Art ab, da er zuverlässig sämtliche Abhörvorrichtungen aufspürte, die jemals erfunden worden waren – und höchstwahrscheinlich auch solche Wanzen für sie anbrachte. »Mr. Goldman, hier ist Mark Beamon. Ich habe eine Frage, die vielleicht in Ihr Fach …« Es ertönte das Kreischen einer Rückkoppelung, und dann rief eine etwas zittrige alte Stimme: »Mark! Gottverdammt, Junge, ich hab ja seit Ewigkeiten nichts mehr von Ihnen gehört. Irgendjemand hat mir erzählt, dass Sie einmal zu oft diese Köter im Hauptquartier angepisst hätten und man Sie in die Wüste geschickt hat!« »Ja, hallo, Mr. Goldman.« Beamon bereute bereits den Anruf. »Ich bin jetzt in Flagstaff.« »Herrgott, Junge. Da hat man Sie aber in ein Kuhkaff versetzt. Was treiben Sie dort – Ladendiebe jagen?« »Na, so klein ist es gar nicht …« »Meinetwegen. Und was wollen Sie von mir? Sie wissen, dass ich ein viel beschäftigter Mann bin.« »Ja, Sir. Ich habe eine theoretische Frage. Wenn ich eine dieser Telefongesellschaften kaufen würde, bei denen man vor einem Ferngespräch eine 800er-Nummer wählt und seinen PIN-Code eingibt, könnte ich dann alle Anrufe mithören, die über diese Leitungen gehen?« 281
»Nein.« Beamon stutzte. Hatte er sich etwa geirrt? »Wirklich nicht?« »Scheiße, ich hab keinen Schimmer, ob das möglich ist oder nicht. Warum zur Hölle sollte man so was machen? Schalten Sie doch einmal in Ihrem Leben Ihr Hirn ein, Junge! Warum sollte jemand für etliche Millionen Dollar eine gottverdammte Telefongesellschaft kaufen, wenn man für ein paar tausend einen von meinen etwas skrupelloseren Kollegen kaufen kann? Und dann kriegte man die Ortsgespräche auch noch mit.« »Aber was ist, wenn man eine bestimmte Gruppe ausspionieren wollte, Mr. Goldman? Sagen wir mal, man hätte was … na ja, meinetwegen gegen Juden. Man könnte einflussreichen Juden brieflich einen besonders günstigen Tarif für Ferngespräche anbieten und sich auf diese Weise anhand ihrer Telefonate einen Überblick verschaffen, was sie machen …« »Sie meinen, wir jüdischen Geizhälse tun alles, um ein paar Cents zu sparen?« »Nein, Sir. Es war doch nur ein Beispiel.« »Glauben Sie, wir sind blöd?« »Nein, ich …« »Aber in der Theorie wäre die Sache wirklich raffiniert – das würde kein Mensch merken. Der einzige Haken wäre, dass man keine Ortsgespräche mithören kann. Ich muss mal nachforschen, aber so aus dem Stegreif fällt mir kein Grund ein, warum es technisch nicht möglich sein sollte. Natürlich müsste man schon ordentlich mit Computern ausgerüstet sein, um die ganzen Leitungen zu überwachen. Und ver282
dammt viel Speicherplatz haben, weil es unpraktisch wäre, die Gespräche in Echtzeit mithören zu lassen.« »Möglich wäre es also?« »Haben Sie was an den Ohren? Ich habe gesagt, ich muss darüber nachdenken. Ist schon eine interessante Idee, wirklich wahr. Vielleicht sollte ich kommen und mir die Sache mal vor Ort anschauen, dann wüsste ich besser, was Sache ist.« Beamon fuhr mit einem Ruck hoch. »Nein! Mr. Goldman … vielen Dank, aber ich kriege nie und nimmer eine Bewilligung für Ihr Honorar …« »Das ließe sich schon irgendwie regeln, Mark. Wissen Sie, ich habe es langsam satt, die Büros von irgendwelchen Geldsäcken nach Wanzen zu durchstöbern. Als ob irgendeiner dieser Idioten was zu sagen hätte, dass es sich lohnen würde, sie abzuhören! Ja, vielleicht komme ich und helfe Ihnen ein bisschen …« Beamon überlegte hastig und versuchte eine andere Methode. »Wissen Sie, Mr. Goldman, der Fall ist eigentlich kaum der Rede wert. Unterschlagung. Ich habe mir in den letzten drei Wochen fast die Augen ruiniert, weil ich einen dreißig Zentimeter hohen Papierstapel mit Millionen Zahlen durchlesen musste.« Er wartete, ob seine Worte irgendeine Wirkung gehabt hatten, und fügte dann sicherheitshalber hinzu: »Es geht nicht einmal um besonders viel Geld …« Goldman schien ihm überhaupt nicht zugehört zu haben. »Jawoll, am besten komme ich selbst, Sie scheinen ja wirklich Hilfe zu brauchen.« Damit wurde aufgelegt. Beamon ließ stöhnend seinen Kopf auf die Schreibtischplatte fallen. Konnte dieser Tag noch schrecklicher werden? 283
Als er wieder aufsah, erblickte er in seinem Vorzimmer Jake Layman, flankiert von zwei ziemlich ernst aussehenden Männern in dunklen Anzügen. Das beantwortete seine Frage. »Die da drüben.« Layman deutete auf die Schachteln, die an der Wand aufgestapelt waren. »Sind das alle Davis-Akten?«, fragte er Beamon. »Tag, Jake. Ich würde Ihnen gern einen Platz anbieten, aber mein Stuhl ist bereits besetzt.« »Sind das alle Akten?«, wiederholte er wütend. Beamon beobachtete, wie die beiden Männer sich mühten, die voll gestopften Schachteln hochzuheben. »Das sind alle.« Layman stützte sich auf den Schreibtisch und starrte Beamon finster an. »Travis Macon hat mich heute angerufen. Wissen Sie, was er gesagt hat?« Macon war einer der Senatoren Arizonas, so viel wusste Beamon. Er zuckte die Schultern. »Gestern hat sich ein Wähler, der zur Kirche der Evolution gehört, bei ihm über Sie beschwert. Sie sollen in eines ihrer heiligsten Gebäude eingedrungen sein und die Leute dort bedroht haben.« Beamon lächelte grimmig. Er bereute nicht, wie er sich bei seinem Treffen mit Sara Renslier verhalten hatte – irgendwie musste endlich einmal Bewegung in diesen Fall kommen –, aber er bereute allmählich sein Verhalten Layman gegenüber. Sein Boss war vermutlich kein schlechter Kerl. Er war nur übervorsichtig und hatte offenbar Angst, es ausbaden zu müssen, wenn er mal wieder jemandem auf die Zehen trat, 284
was ja schon oft genug vorgekommen war. Eigentlich konnte er ihm daraus keinen Vorwurf machen. »Hören Sie, Jake. Es tut mir Leid. Ich hätte nicht dorthin fahren sollen, ohne zuerst mit Ihnen zu reden; manchmal kann ich schon ein … ein richtiger Idiot sein. Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen einen Kaffee trinken, und ich erkläre Ihnen unter vier Augen die bisherigen Ermittlungsergebnisse. Ich glaube, wenn Sie erst mal gehört haben …« »Was Sie glauben, interessiert mich nicht«, brüllte Layman. »Ich habe mir gerade zwei Stunden lang von einem der mächtigsten Senatoren in diesem Land einen Vortrag über die Bedeutung der Religionsfreiheit anhören müssen! Sie sind raus aus diesem Fall, Beamon. Ich habe Ihnen zweimal gesagt – und zwar deutlich genug, dass selbst Sie es begreifen konnten –, Sie sollen die Kirche in Frieden lassen. Ich habe einen ausführlichen Bericht über Ihr Verhalten ans Hauptquartier geschickt, und Sie können mir glauben, dass Sie jetzt wirklich auf der Kippe stehen. Im Grunde können Sie von Glück sagen, dass Sie überhaupt noch einen Job haben.« Er musste wohl endlich der Tatsache ins Auge sehen, dass er einfach kein diplomatisches Talent hatte, erkannte Beamon plötzlich. Jedes Mal, wenn er versuchte, vernünftig zu sein und vielleicht sogar dem einen oder anderen ein wenig in den Hintern zu kriechen, bewirkte er bloß das Gegenteil – als schütte er Benzin in ein offenes Feuer. »Ob das ein Glück ist, weiß ich nicht so recht, Jake.« Layman stapfte hinüber zu den restlichen Schachteln und hob wortlos eine auf, die viel zu schwer für ihn war. Er erinnerte stark an einen Pinguin, als er schnaufend in Richtung Fahrstuhl schwankte. 285
FÜNFUNDDREISSIG Beamon hämmerte erneut an die Tür des kleinen Hauses, diesmal etwas fester. »Ernie! Hier ist Mark! Machen Sie auf.« Er wusste, dass sie daheim war. In der verschneiten Zufahrt waren keine Reifenspuren zu sehen, und zu Fuß oder in ihrem Rollstuhl hatte sie das Haus bestimmt nicht verlassen. Beamon bückte sich und hielt sein Gesicht dicht an den Spion, damit sie ihn sehen konnte. Kurz darauf hörte er eine Kette rasseln. »Ernie! Verdammt, ich fing schon an, mir Sorgen zu machen.« »Tut mir Leid, ich war unten«, sagte sie und rollte ein Stück zurück. Er folgte ihr durch den Flur und überlegte immer noch, was er tun sollte. »Ich habe Sie belogen, Ernie.« Sie blieb für einen Moment stehen, drehte sich jedoch nicht um. »Der Unterschied zwischen einem Heiligen und einem Heuchler besteht darin, dass der eine für seine Religion lügt, der andere wegen seiner Religion.« Sie schubste ihren Rollstuhl durch die Tür in ihr chaotisches Büro. »Albert Kneiss?« »Minna Antrim. Aber es war eines von Alberts Lieblingszitaten.« Sie griff nach einem dampfenden Stück Pizza, das auf dem Schreibtisch lag, und biss herzhaft hinein. »Ich habe Ihnen erzählt, dass die Fragen, die ich über die Kirche gestellt habe, nichts mit dem Fall Jennifer Davis zu tun hätten. Das stimmt aber nicht ganz.« 286
Sie schaute ihn wortlos an, doch ihr rundes Vollmondgesicht verriet nicht, was sie dachte. »Ich weiß«, sagte sie schließlich. Es klang so beiläufig, dass Beamon ihr aus irgendeinem Grund glaubte. »Wieso?« »Weil ich auch von ihr träume.« Zum fünften Mal, seit er sein Büro verlassen hatte, überkamen ihn Zweifel an seiner Strategie. Es schien eine ausgemachte Dummheit, einer krankhaft fetten Frau, die zu ekstatischen Visionen neigte, von seinem Verdacht zu erzählen. Aber was blieb ihm für eine Wahl? Offiziell konnte er nicht mehr gegen die Kirche ermitteln, dafür würde Layman schon sorgen. Und allein würde er es nicht schaffen. Er holte tief Atem und verdrängte seine Zweifel. Es gab nur diesen Weg. Aber wenn sie plötzlich noch Stigmata bekam, war er erledigt. »Wissen Sie, welche Verbindung zwischen Jennifer und der Kirche besteht, Ernie?« Sie schüttelte den Kopf. »Gott hat es nicht für richtig gehalten, mir das zu enthüllen. Ich nehme an, deshalb hat er Sie zu mir geschickt.« »Was ich Ihnen erzähle, bleibt strikt unter uns, Ernie, klar? Selbst die Jungs in meinem Büro wissen nichts davon. Nur Sie, ich und Gott.« »In Ordnung.« Beamon zögerte. Es war wirklich nicht fair, sie in diese Sache hineinzuziehen. Was zur Hölle hatte er sich nur dabei gedacht? »Was ist, Mark?« »Wissen Sie, Ernie, Sie haben sich schon einmal gegen die Kirche gestellt, und die Folgen kennen Sie ja selbst am bes287
ten. Vielleicht war das Ganze keine so gute Idee.« Er stand auf. »Ich habe meine Meinung geändert. Dieser Fall ist allein meine Sache.« »Bitte, setzen Sie sich wieder, Mark. Glauben Sie mir, es ist genauso meine Angelegenheit. Ich war überzeugt, es sei Gottes Wille, dass ich mein Buch schreibe, um Albert die Augen darüber zu öffnen, was mit seiner Kirche passiert, und all die Jahre habe ich geglaubt, ich hätte Gott gegenüber versagt. Jetzt weiß ich, dass meine eigentliche Aufgabe war, hier zu sein für Sie.« Beamon zögerte und setzte sich schließlich wieder. Er kam sich fast wie ein Betrüger vor, der skrupellos den tiefen Glauben dieser Frau ausnutzte. »Okay, Ernie. Aber ich muss Ihnen noch mal sagen, dass ich nicht eine Sekunde lang glaube, Gott habe mich zu Ihnen geführt. Ich will einfach nur dieses Mädchen finden, damit ich wie ein Held dastehe und meinem Boss eins auswischen kann. Wenn dabei Sara Renslier eins auf den Deckel kriegt und Ihre Kirche den Kurswechsel, den sie Ihrer Meinung nach braucht, in Ordnung – aber im Grunde kümmert mich das nicht besonders. Es ist nicht mein Job, andere vor Dummheiten zu bewahren.« Sie lächelte. »Es spielt keine Rolle, was Sie oder ich glauben. Gott tut schon das Richtige.« Beamon zog seinen Parka aus und warf ihn auf den Boden, nachdem er seine Kneiss-Bibel aus der Tasche gezogen hatte. Zwischen den Seiten steckten ein paar gelbe Notizzettel, auf denen er die Theorie skizziert hatte, die ihn heute Nacht um zwei Uhr aufgeweckt hatte. Ernie konnte ihm bestimmt sagen, ob er Recht hatte oder sich irrte. 288
»Was ist das?«, fragte Ernie und reichte ihm ein Stück Pizza. Er nickte dankbar. »Nur ein paar Überlegungen, bei denen ich Ihre Hilfe bräuchte.« Sie reckte den Hals und schaute auf die Kritzeleien, die mit wirren Pfeilen untereinander verbunden waren. »So kann ich besser denken«, erklärte Beamon und biss in seine Pizza. »Ich gehe es mal der Reihe nach durch. Fakt Nummer eins: Jennifer ist Albert Kneiss’ Enkelin.« Ernie schüttelte den Kopf. »Carol Kneiss ist kinderlos gestorben.« »Nein, in dieser Hinsicht waren Ihre Nachforschungen nicht ganz korrekt. Carol Kneiss starb unter dem Namen Carol Passal bei einem Brand Anfang der achtziger Jahre. Sie hatte ihren Namen mehrfach geändert und war etliche Male umgezogen. Ich vermute, weil sie wusste, dass sie von der Kirche beobachtet wurde, und Angst um ihre Tochter hatte.« »Davon hatte ich keine Ahnung …« »Fakt Nummer zwei ist eigentlich eher eine Hypothese, für die es allerdings etliche Anhaltspunkte gibt. Eric Davis hat seine Frau getötet und Selbstmord begangen. Beide gehörten seit den späten Sechzigern zur Kirche der Evolution.« »Was … Warum?«, stotterte Ernie. »Sie haben Jennifer kurz nach dem Tod ihrer leiblichen Eltern adoptiert – vermutlich auf Anweisung der Kirche.« »Aber warum sollte er sich und seine Frau …« »Ich hatte geglaubt, die Kirche habe ihn dazu gezwungen, damit Jennifer ganz allein dasteht. Wenn man die beiden getötet hätte, hätte Jennifer nichts mehr mit der Kirche zu tun 289
haben wollen, aber man konnte ihre Eltern auch nicht leben lassen, weil sie dann geglaubt hätte, sie könne ja jederzeit zurück zu ihrer Familie. Außerdem gab es keinen besseren Weg, um Jennifer zu zeigen, welch starken Glauben ihre Eltern hatten und zu welchen Opfern sie für die Kirche bereit waren.« »Sie meinen also, man versucht sie einer Gehirnwäsche zu unterziehen, damit sie Alberts Stelle einnimmt?« »Das hatte ich geglaubt. Bis gestern Nacht war ich überzeugt, die Kirche würde nach seinem Tod der Welt verkünden, dass sie bei ihnen sei. Man würde ihr eintrichtern, zu sagen, sie habe die ganze Zeit über gewusst, dass Albert ihr Großvater war. Ihr Vater sei durchgedreht, habe ihre Mutter und sich selbst erschossen, und sie sei zu ihrem Opa gerannt – ihrem einzigen Verwandten. Die Kirchenältesten würden schwören, sie hätten nichts von all dem gewusst, bis Albert es ihnen auf dem Sterbebett erzählt habe.« Beamon biss noch ein Stück von der Pizza ab, die fast schon kalt war. »Dann wird Jennifer als Oberhaupt der Kirche eingesetzt, fertig. Ganz einfach.« »Nein, Sara Renslier wird niemals ihre Macht abgeben«, erklärte Ernie mit bitterem Hass in der Stimme. »Sie bildet sich ein, die Kirche gehöre ihr ganz allein, und weder Gott noch Albert spielten irgendeine Rolle.« »Ich habe Sara getroffen und hatte das gleiche Gefühl. Genau das hat mich letzte Nacht aufgeweckt – und die Tatsache, dass Albert bereits tot ist.« Ernie starrte ihn völlig entgeistert an. »Albert ist nicht tot. Das kann gar nicht sein. Nicht vor Karfreitag.« »Ich weiß, das ist ein schwerer Schlag für Sie, Ernie, aber 290
lassen Sie mich zu Ende reden. Ich habe vorgestern versucht, mit Albert zu sprechen. Sara hat mir erzählt, er sei in der Türkei und meditiere.« Ernie schien etwas einwenden zu wollen, aber Beamon fuhr bereits fort: »Es gibt allerdings keinerlei Unterlagen, dass er dort eingereist ist, sein Name taucht in keiner Passagierliste auf, und mit einem Privatflugzeug ist er auch nicht gelandet. Warum will Sara also nicht, dass ich mit ihm spreche? Mir fällt nur ein wirklich guter Grund ein – weil er bereits tot ist. Vorher muss er allerdings befohlen haben, dass man Jennifer holt, was sicherlich nicht in Saras Sinn war, aber sie musste gehorchen. Wir können also von der Hypothese ausgehen, dass er mindestens bis zu dem Tag von Jennifers Entführung noch gelebt hat – mehr oder weniger. Irgendwann danach ist er dann gestorben. Immerhin ging er auf die neunzig zu und ist seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen worden. Er hat im Grunde längst schon mit einem Bein im Grab gestanden.« »Aber er kann erst am Karfreitag sterben! So ist es Gottes Wille!«, wiederholte Ernie beinahe verzweifelt. »Es könnte doch sein, dass Sara ihn vollkommen isoliert und alles an sich gerissen hat …« Beamon zuckte die Schultern. »Vielleicht, aber wir wissen, dass er vor Jennifers Entführung noch Kontakt mit anderen gehabt haben muss. Den Befehl, das Mädchen zu holen, hat er ihr sicher vor Zeugen gegeben, wahrscheinlich den Ältesten, andernfalls hätte sie es einfach ignorieren können. Und es wäre schwierig gewesen, ihn in seinen letzten Tagen plötzlich zu isolieren, da in dieser Zeit doch alle auf seine Weisungen warteten, wie es danach mit der Kirche weitergehen soll, 291
nicht wahr? Nein, die einfachste Antwort ist in den meisten Fällen die beste. Er ist tot.« Beamon merkte, dass er Ernie mit seinen logischen Schlussfolgerungen nicht recht überzeugen konnte. Logik und Religion hatten sich schon immer schlecht vertragen. Er öffnete seine Kneiss-Bibel auf einer Seite, die er mit einem Notizzettel markiert hatte. »Ich glaube, ich habe auch eine mögliche Erklärung gefunden.« Sie schaute ihn mit leerem Blick an und schien völlig durcheinander. Auch wenn sie davon überzeugt war, dass Gott ihn zu ihr geschickt hatte, hatte sie offenbar Zweifel, ob sie ihm glauben konnte. »Es heißt hier, dass Kneiss nicht immer der Bote gewesen ist, richtig?«, fragte Beamon und versuchte, sie aus ihrer Starre zu wecken. Sie reagierte nicht. »Richtig?«, wiederholte er. »Ja. Ja, das stimmt. Unsere Bibel nennt namentlich drei Inkarnationen. Kneiss, Jesus und davor Persiah. Schließlich wird Gott ihn bei sich aufnehmen, und er wird durch einen anderen ersetzt, wie er seinen Vorgänger ersetzt hat.« Beamon blätterte zu einer weiteren markierten Seite und begann vorzulesen. »Ich war einst Fleisch wie du …« Ernie beendete das Zitat mit so leiser Stimme, dass er sie kaum hören konnte. »… voll von Angst, Zweifel und Hass …« Sie schaute zu ihm auf. »Dass der Bote einst ein Mensch war und mehr wurde, ist zentral für unseren Glauben – Beispiel und Ansporn für uns alle.« Beamon spürte, wie sich das ungute Gefühl in seinem Magen verstärkte. Er hatte offenbar wirklich Recht. »Versuchen Sie, mir zu folgen, Ernie. Kneiss ist tot, aber er ist 292
nicht am Karfreitag in den Himmel aufgestiegen. Das kann nur eines bedeuten, nicht wahr? Dass er Gott lange genug gedient hat und von ihm wieder zurückgerufen worden ist.« Noch immer schien sie ihm nur halb zuzuhören, aber sie nickte, und er fuhr fort. »Um Albert zu ersetzen, wird Gott nun einen würdigen Menschen auswählen, richtig?« Ernie nickte erneut. »Dass Sara, die ein Vierteljahrhundert lang die Kirche aufgebaut hat, sie nicht so ohne weiteres an ein halbwüchsiges Mädchen mit einem Nasenpiercing abgeben möchte, ist klar. Also muss sie Jennifer irgendwie aus dem Weg schaffen.« Beamon machte eine Pause. »Die Frage ist, wie weit würde Sara gehen?« Er sah, dass Ernie anfing zu begreifen. Sie packte seinen Arm. »Natürlich, das ist der einzige Weg, wie sie ihre Position halten kann. Wenn Albert tot ist, könnte sie den Ältesten alles Mögliche erzählen. Und wenn sie ihnen erzählt, dass Jennifer auserwählt worden sei …« Sie verstummte, und Beamon beendete ihren Gedanken. »Dann muss Jennifer am Karfreitag sterben.« Ernie umklammerte noch fester seinen Arm. »Und dann hat sie endgültig die Macht. Sie ganz allein!« Beamon biss sich auf die Lippe und wünschte, sein Instinkt hätte ihn ausnahmsweise einmal im Stich gelassen. Er hatte gehofft, er habe vielleicht irgendwas übersehen und Ernie mit ihren umfassenden Kenntnissen würde ihm womöglich einen Tipp geben, der auf eine ganz andere Spur führte. Er schaute auf die Datumsanzeige seiner Uhr. Noch fünfzehn Tage bis Karfreitag. Wenn er Recht hatte, und sein Bauch 293
sagte ihm, dass es so war, musste er Jennifer in den nächsten zwei Wochen finden, sonst würde er sie nie mehr finden. Beamon stand auf und tätschelte Ernie tröstend den Rücken, als sie zu schluchzen begann. Er fragte sich, ob sie um Jennifer weinte, oder weil sie endlich erkannt hatte, dass die Kirche, die ihr so viel bedeutete, sich von Gott abgewandt hatte. »Ernie. Ernie? Kommen Sie, wir können immer noch etwas ändern, wenn wir es gemeinsam versuchen.« Sie schluchzte nur noch lauter. »Auf das FBI kann ich nicht mehr rechnen, Ernie. Wir sind jetzt die einzige Chance, die Jennifer hat. Wir sind die einzige Chance für die Kirche.« Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, und ihr Schluchzen wurde leiser. »Ich möchte, dass Sie etwas für mich tun, Ernie. Sie müssen auf Ihrer alten Liste der Kirchenmitglieder nachprüfen, welche einflussreichen Leute sich darunter befinden, damit ich eine Vorstellung davon kriege, mit wem wir uns möglicherweise anlegen.« Sie schaute zu ihm auf. »Was … was für Leute?« »Ich weiß nicht genau. Politiker. Unternehmer, Neureiche … so was in der Art. Was immer Ihnen einfällt. Helfen Sie mir?« Sie nickte. »Aber als Gegenleistung müssen Sie auch etwas für mich tun.« »Klar.« »Beten Sie mit mir.« Sie zog an seinem Ärmel, bis er neben ihrem Rollstuhl auf die Knie sank, schloss fest die Augen und begann, lautlos ihre Lippen zu bewegen. Da er nicht so genau wusste, was er tun sollte, wartete er nur darauf, dass sie wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte. 294
SECHSUNDDREISSIG Er rückte seine Lesebrille auf der Nase zurecht und schob ein Auszahlungsformular und seinen Führerschein durch das Schalterfenster. »Ich möchte gern fünftausend Dollar von meinem Konto abheben.« Die Kassiererin schaute flüchtig auf die beiden Dokumente und tippte irgendwas in ihre Tastatur ein. »Einen kleinen Moment bitte, Sir.« Beamon empfand einen nervösen Stich, als sie durch eine Tür im Hintergrund verschwand. Seine Befürchtungen waren jedoch grundlos geworden, da sie gleich darauf wieder zurückkehrte und anfing, Hunderter auf die Theke zu zählen. Sie schob ihm einen Umschlag zu, in dem er das Geld verstaute. »Beehren Sie uns bald wieder, Sir.« Lächelnd verließ Beamon die Bank. Die Sonne war inzwischen untergegangen und hatte die Berge mit einem roten Schimmer überzogen. Langsam wurde es dunkler. Er atmete tief die kalte, trockene Luft ein und versuchte, sich ganz auf die Probleme zu konzentrieren, die vor ihm lagen. Davon gab es wahrhaftig genug – der Kampf gegen elf Millionen Kneissianer, die äußerst heikle Situation in seinem Job und die Tatsache, dass Jennifer Davis höchstwahrscheinlich nur noch zwei Wochen hatte, ehe Sara sie auf dem Altar ihrer Macht opferte. Beamon schob seine Hände tief in die Taschen des Parkas und eilte den Bürgersteig hinunter auf das trübe Neonschild eines Spirituosenladens zu. In den zwei Monaten, die er jetzt in Flagstaff lebte, war er 295
öfter in diesem Laden gewesen, als er gern zugab, aber heute ging er zum ersten Mal in die angeschlossene Bar. Sie war ungefähr so, wie er es sich vorgestellt hatte – dunkel, etwas schäbig, und es roch ein wenig nach Alkohol, was irgendwie beruhigend war. Nachdem seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah er, dass sie so gut wie leer war. Zu seiner Rechten saß eine Frau in einem dunklen Mantel, die vertraulich mit dem Barkeeper plauderte. Auf der anderen Seite des Raums entdeckte er in der Nische neben einer stummen Jukebox den dichten braunen Haarschopf seines Computerexperten. Skinner war ein wenig hysterisch seit dem Ärger mit Jake Layman wegen der Liste der Kneissianer und hatte darauf bestanden, sich außerhalb des Büros mit ihm zu treffen, um ihm seinen wahrscheinlich ziemlich belanglosen Bericht über TarroSoft zu geben. Beamon hatte diese Kneipe vorgeschlagen. Auf diese Weise sparte er sich einen Weg und konnte gleichzeitig seinen Biervorrat auffüllen. Er schlich sich an den jungen Mann heran. »Der blaue Elch heult den Mond an«, flüsterte er ihm ins Ohr. Skinner sprang auf und hätte fast seinen Drink umgestoßen. Grinsend setzte Beamon sich ihm gegenüber. »Herrgott, Mark! Ich hab fast einen Herzinfarkt gekriegt!« »Wenn Sie nicht mit der richtigen Parole antworten, muss ich Sie umbringen.« »Sie haben gesagt – kein Aufsehen!« Beamon nickte und zündete sich eine vorher gedrehte Zigarette an. »Stimmt. Was haben Sie für mich, Craig?« »Ich habe mit einigen Freunden gesprochen …« 296
Beamon hob seine Augenbrauen und warf ihm einen strengen Blick zu. Skinner hob beide Hände. »Ohne Aufsehen. Ich habe mich ganz unauffällig bei ihnen nach TarroSoft erkundigt. Es ist eine Holdinggesellschaft – BiblioNet gehört zum Beispiel zu ihnen. Sie stellen selbst keine Software her, sondern entwickeln Programme für die Telekommunikationsindustrie. Hauptsächlich für eine Gesellschaft namens Verkomm.« »Von Vericomm habe ich schon gehört, aber was ist BiblioNet?« »Diese Firma hat doch die Software für das landesweite Fernleihsystem entwickelt, wissen Sie?« Verständnislos schaute Beamon ihn an. »Haben Sie je in einer Bücherei ein Buch ausleihen wollen, das sie nicht hatten und deshalb bei einer anderen Bücherei bestellt haben?« »Ach so, verstehe.« »Das läuft eben über Fernleihe. Früher gab es das nur innerhalb der einzelnen Bundesstaaten, aber inzwischen landesweit. BiblioNet hat die Software dafür entwickelt und betreut sie im Auftrag der Regierung.« Beamon nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und musste sich ein ironisches Grinsen verkneifen. Seit Jahren drängte das FBI darauf, überwachen zu dürfen, wer welche Bücher kaufte oder auslieh, mit der durchaus vernünftigen Begründung, dass Bücher über Gifte, Bomben, Mord und so weiter in gewissen Händen gefährlich sein könnten. Leider bestand keine Aussicht, dass man in den Vereinigten Staaten eine Genehmigung für solche Big-Brother297
Methoden bekam. Jedenfalls keine Regierungsbehörde. Bei einer privaten Organisation sah das offenbar ganz anders aus. Chet Michaels hatte die Broschüre von NickeLine erhalten, kurz nachdem er in den Büchereien nach Informationen über die Kirche gestöbert hatte. Er hatte angenommen, dass Michaels einem aufmerksamen kneissianischen Bibliothekar aufgefallen war. Genau solche Fehler musste er sich schleunigst abgewöhnen, wenn er Jennifer Davis retten wollte, und wirklich stets mit allem rechnen, selbst wenn es noch so unwahrscheinlich oder weit hergeholt schien. »Ich kann bestimmt noch mehr rauskriegen«, fuhr Skinner fort. »Aber das geht nicht so unauffällig … Jedenfalls will ich nicht noch mal Ärger mit Layman haben, Mark. Ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben, aber ich passe eigentlich nicht so recht ins FBI. Sie sind, na ja … so was wie mein einziger Verbündeter.« »Danke, Craig, aber mehr Informationen brauche ich nicht.« Beamon warf ein paar Scheine auf den Tisch für Skinners Drink und stand auf. »Was war mit den Namen, die Sie mit dieser Datenbank vergleichen sollten?« »Alle positiv bis auf einen.« »Okay, danke. Dann bis morgen im Büro.« Beamon ging durch eine Tür neben der Theke in den angeschlossenen Laden, nahm sich einen Zwölferpack Pabst Blue Ribbon aus der Kühltruhe und schlenderte am Rotweinregal entlang. Unsicher musterte er ein paar Flaschen, doch die Etiketten sagten ihm nichts, deshalb beschloss er kurzerhand, der Theorie zu folgen »Je teurer, desto besser«. An der Kasse stand ein Mann mit einem großen Cowboyhut, 298
der gerade zu beweisen versuchte, dass nur die Kommunisten und Demokraten für die gestiegenen Kautabakpreise verantwortlich seien. Beamon verzichtete darauf, seinen wenig überzeugenden Ausführungen zu folgen, und dachte an Sara Renslier und ihre Kirche. Er hatte sie eindeutig unterschätzt. Obwohl er Ernies Buch gelesen hatte und trotz seines Gesprächs mit Hans Volker von der Deutschen Botschaft, hatte er den Ernst der Situation nicht erkannt. Jeder beim FBI wusste, dass manche Leute einfach überall Verschwörungen witterten. Immer wieder war er bei einer Party von Leuten angesprochen worden, die genau wussten, dass Außerirdische Kennedy getötet hatten und ein CIA/KGB-Team das Aids-Virus entwickelt hatte, was die Regierung natürlich vertuschte. Doch hier kämpfte er gegen eine Organisation mit Millionen Anhängern und einem Jahreseinkommen, auf das manches andere Unternehmen neidisch sein konnte. Sie überwachten, was andere Leute lasen, und belauschten vermutlich die Ferngespräche etlicher einflussreicher Persönlichkeiten des Landes. Und dann gab es da noch diese verrückte Gruppe ehemaliger Soldaten, die fanatisch genug waren, sich Eisenbänder um die Handgelenke zu schmieden. Beamon zog seine Kreditkarte aus der Brieftasche und stellte das Bier und den Wein auf die Theke, nachdem der Cowboy, immer noch murrend, den Laden verlassen hatte. »Wie geht es Ihnen heute, Mr. Beamon?«, fragte der Mann an der Kasse. »Ging schon mal besser, Barry. Und Ihnen?« Da er regelmäßig in diesem Laden einkaufte, galt er inzwischen als guter Stammkunde. Vermutlich würde er noch erleben, wie 299
Barrys Kinder Zahnspangen bekamen, ehe er versetzt oder gefeuert wurde. »Gut, Mr. Beamon. Danke der Nachfrage.« »Die Kinder?« Barry fuhr noch einmal mit Beamons Kreditkarte durch den Kartenleser. »Ihnen auch. Übers Wochenende bringe ich sie zu ihrer Mutter.« Mit gerunzelter Stirn betrachtete Barry den kleinen schwarzen Apparat neben der Kasse. »Probleme?«, fragte Beamon. »Das Ding scheint Ihre Karte nicht akzeptieren zu wollen. Könnte es sein, dass Sie Ihr Konto überzogen haben?« Beamon schüttelte den Kopf und reichte ihm seine zweite Karte, obwohl er schon Böses ahnte. »Wie kommen Sie im Fall der kleinen Jennifer Davis voran?«, fragte Barry, während er darauf wartete, wie das Gerät auf Beamons andere Kreditkarte reagierte. »Ich arbeite daran.« Barry nickte und musterte ein wenig verlegen den Kartenleser. »Die mag er auch nicht, Mr. Beamon. Mit dem Ding muss was nicht stimmen. Ich schreibe die Sachen auf Ihre Rechnung.« Beamon holte tief Atem. »Danke, Barry. Und legen Sie doch gleich noch eine Stange Marlboro dazu.« »Ich dachte, Sie drehen selbst.« Barry nahm eine Stange aus dem Regal und legte sie zu den Getränken. »Stimmt. Aber ich glaube, im Moment brauche ich die Zigaretten schneller, als ich sie drehen kann.«
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In seinem Auto knickte Beamon die Kreditkarten so lange, bis sie zerbrachen. Er betrachtete die bunten Plastikschnipsel auf dem Boden und überlegte, was die Kirche damit bezwecken wollte. Auf lange Sicht handelte sie sich doch nichts außer Schwierigkeiten ein, wenn sie durch ihre Handlanger die Kreditkarten eines FBI-Beamten manipulierten. Warum also gingen sie mit einem so durchsichtigen Manöver ein derartiges Risiko ein? Es gab eigentlich nur eine einzige Antwort: dass er mit seinen Vermutungen richtig lag. Sie mussten ihn einfach die nächsten zwei Wochen lang ablenken, bis Jennifers Leiche etwa im Zementboden irgendeiner ihrer neuen Kathedralen steckte. Danach hatten sie nichts mehr zu befürchten. Die Kirche verfügte über genügend Geld und Einfluss, um zu verhindern, dass etwas über ihre Schikanen gegen ihn bekannt wurde. Wenn es nicht anders ginge, würden sie sich notfalls entschuldigen, dass einige Mitglieder vielleicht etwas übereifrig gewesen seien, da sie ganz genau wussten, er hatte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die geringste Chance, ihnen nachzuweisen, dass sie etwas mit dem Tod von Jennifer und ihren Eltern zu tun hatte.
SIEBENUNDDREISSIG Beamon drehte noch einmal vorsichtig den Knauf seiner Wohnungstür. Er wusste genau, dass er morgens abgeschlossen hatte. Jetzt war die Tür offen. Unauffällig schaute er über die Schulter zu dem Apart301
ment hinüber, das der Schutzengel bewohnte, den die Kirche ihm so großzügig gestellt hatte. Wie gewöhnlich war alles dunkel, doch der Schnee reflektierte genug Licht, um zu sehen, dass die Gardine einen Spalt breit zurückgezogen war. Er konnte direkt spüren, dass er beobachtet wurde. Mit gezogener Waffe schob Beamon so leise wie möglich die eisverkrustete Tür auf. Der Raum war leer – keine Scharen von schwerbewaffneten religiösen Fanatikern, wie er es beinahe erwartet hatte. Als er durch das Wohnzimmer schlich, hörte er ein seltsames Summen aus seinem Schlafzimmer und erstarrte. Eine Bombe? Er überlegte, ob er die Wohnung wieder verlassen und Hilfe rufen sollte, aber wenn es nichts weiter war, würde Layman nur triumphieren und behaupten, das beweise ja wohl seinen Verfolgungswahn. Das musste wirklich nicht sein. Für einen Moment blieb er neben der Schlafzimmertür stehen und sprang dann mit einem Satz in den Raum. Der Mann neben seinem Bett schien ihn gar nicht zu bemerken und untersuchte weiter die Einzelteile des zerlegten Telefons, wobei er alle paar Sekunden auf den Bildschirm eines Laptops schaute. »Alles sauber, Mark«, knurrte er, während Beamon seine Waffe ins Halfter schob. Er hatte Jack Goldman vor über fünf Jahren zum letzten Mal gesehen, und die Zeit war nicht spurlos an dem alten Mann vorübergegangen. Sein weißes Haar hatte sich beträchtlich gelichtet, und durch die Runzeln auf seinem Schädel sah es aus, als sei die Haut eine Nummer zu groß für sei302
nen Kopf. Seine Brille schien mehr als doppelt so dick wie früher und schwer auf der knorrigen Nase zu lasten. Die Linsen verzerrten seine Augen so stark, dass sie zu schwimmen schienen, wenn er sich bewegte. »Mr. Goldman«, stöhnte Beamon. »Was machen Sie denn hier?« Der alte Mann begann, die Teile des Telefons wieder einzusammeln, die über das Bett verstreut waren. »Wie sieht’s denn aus, Junge? Ich schaue nach, ob Ihre verdammte Wohnung sauber ist. Und Sie könnten ruhig ein bisschen dankbarer sein. Normalerweise berechne ich für so was zweitausend Dollar – zuzüglich Spesen.« Das Telefon war ungefähr zu neunzig Prozent wieder zusammengebaut, als es anfing zu läuten, aber Goldman hatte Probleme, mit seinen zittrigen Händen die Leitung wieder einzustecken. Beamon ging zu ihm hin und wollte ihm helfen, doch Goldman packte seinen Stock und schlug ihm damit vors Schienbein. »Herrgott im Himmel«, keuchte Beamon. »Was zum Teufel soll das?« »Meinen Sie, ich kann kein Telefon mehr zusammensetzen? Ich habe Telefone zerlegt und wieder zusammengesetzt, seit …« Beamon ließ ihn reden und humpelte aus dem Zimmer. Zum Glück läutete das Telefon noch immer, als er den Apparat in der Küche erreichte. »Ja, hallo?« Er setzte sich auf einen Hocker und rieb sein malträtiertes Schienbein. »Ist dort Mark Beamon?«, fragte eine Stimme mit einem leichten Akzent. »Hier ist Hans Volker von der Deutschen Botschaft.« 303
»Hans! Was für ein unerwartetes Vergnügen. Wie geht es Ihnen?« »Mark. Gott sei Dank. Mir geht’s gut, aber was ist mit Ihnen? Ich habe einige sehr beunruhigende Sachen gehört.« »Beunruhigendes habe ich jede Menge erlebt. Was genau haben Sie gehört?« Volker zögerte ein wenig. »Sie müssen mir Ihr Wort darauf geben, dass das, was ich Ihnen sage, unter uns bleibt.« »Klar, Hans. Strikt unter uns.« »Wir haben ein paar … Informanten innerhalb der Kirche der Evolution. Das haben Sie bestimmt schon vermutet, aber Sie können sich denken, dass es … sehr peinlich für uns wäre, wenn das herauskäme.« »Wie gesagt, Hans, es bleibt unter uns.« »Ihre Ermittlungen gegen die Kirche verursachen einen ziemlichen Wirbel, Mark. Meine Informanten berichten, die Kirche sei überzeugt, dass Sie glauben, die Kneissianer hätten etwas mit der Entführung von Jennifer Davis zu tun. Genauso beunruhigt ist man über Ihre Versuche, mehr über die Kirche in Erfahrung zu bringen.« Beamon schnaubte. Es war zwar ärgerlich, dass die ganze Sache offenbar solchen Wirbel machte, aber daran konnte er verdammt wenig ändern. »Offen gesagt, Mark, ich mache mir langsam Sorgen um Ihre Sicherheit.« »Wieso das?« Volker räusperte sich nervös. »Die Kirche hat so ihre Methoden, um Außenstehende abzuschrecken, die allzu neugierig werden. Sie verstehen es hervorragend, sich abzuschotten. Aber das wissen Sie vermutlich schon.« 304
»Ich hab ein dickes Fell, Hans.« »Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter, Mark. Uns ist bekannt, dass die Kirche vermutlich eine Schutztruppe aufgestellt hat, um notfalls mit Gewalt gegen Leute vorzugehen, die mit den üblichen Methoden nicht von Nachforschungen abzubringen sind.« »Wissen Sie das genau?« »Nein, es ist eigentlich nur ein Gerücht«, gab Volker zu. »Aber falls diese Gruppe tatsächlich existiert und man glaubt, dass Sie nicht locker lassen, sind Sie möglicherweise in Lebensgefahr.« Beamon ging hinüber zum Kühlschrank und holte sich ein Bier. »Danke sehr für die Warnung, Hans. Ich bin auf der Hut und passe schon auf mich auf …« »Noch eines, Mark. Sie kennen doch einen gewissen Jacob Layman?« »Er ist mein Boss. Der SAC Phoenix.« »Einige Indizien deuten darauf hin, dass die Kirche möglicherweise auf Mr. Laymans Beförderung in diese Position Einfluss genommen hat.« Beamon schraubte die Bierflasche auf und warf den Deckel ins Waschbecken. Dieser Gedanke war ihm selbst schon gekommen. Immerhin unterstand Layman das Büro, das für den Bezirk zuständig war, in dem die Kneissianer ihren Hauptsitz hatten. Und es würde auch erklären, warum Layman ihm ausdrücklich untersagt hatte, gegen die Kirche zu ermitteln. »Ich danke für die Warnungen, Hans. Gibt es sonst noch etwas?« Beamon beobachtete, wie sein neuestes Problem ins Wohnzimmer humpelte. 305
»Wie wäre es, wenn Sie für eine Weile aus der Stadt verschwinden?« »Das kann ich nicht.« »Nun, dann seien Sie wenigstens vorsichtig. Ich will Ihnen gern helfen, so gut ich kann. Haben Sie noch meine Nummer?« »Immer bei mir.« »Viel Glück, Mark.« »He! Hans!« »Ja?« »Nur noch eine Frage. Welche Telefongesellschaft benutzen Sie für Ferngespräche?« Volker schwieg einige Zeit. »AT&T, glaube ich. Ich weiß es ehrlich nicht.« »Sie heben also einfach ab und wählen – oder müssen Sie vorher eine spezielle Kennziffer eintippen?« »Ich hebe einfach ab und wähle. Warum fragen Sie?« »Ach, ist nicht weiter wichtig, fiel mir nur gerade ein. Nochmals danke, Hans.« Beamon legte auf und kaute an seiner Unterlippe. Die Sache wurde langsam brenzlig, das spürte er förmlich. »Wozu der Stock, Mr. Goldman? Brauchen Sie ihn, oder ist er bloß eine Waffe?« »Hab mir beim Fallschirmspringen den Knöchel verknackst«, knurrte der alte Mann. Beamon lachte. Beim besten Willen konnte er sich nicht erinnern, dass er von Goldman je eine komische Bemerkung gehört hatte. Wenigstens keine absichtliche. »Worüber lachen Sie, Junge?« Beamon schaute auf den Knöchel des alten Mannes und 306
dann in sein mürrisches Gesicht. »Sie sind tatsächlich Fallschirm gesprungen? Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen?« Goldman zuckte die Schultern. »Hatte es noch nie gemacht. War allerdings dumm.« »Dumm?« »Rechts und links springen zwei Leute mit und verhindern, dass man eigene Entscheidungen trifft.« »Wann man die Reißleine zieht?« Goldman schüttelte den Kopf. »Ich bin gerade neunzig geworden, Mark. Da geht es nur noch darum, ob man überhaupt die Reißleine zieht.« Beamon hätte beinahe wieder gelacht, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass der alte Mann es ernst meinte. Er beschloss, das Thema zu wechseln. »Was haben Sie über Vericomm rausgefunden?« »Ist das die Telefonfirma, nach der Sie sich erkundigt haben? Nie von ihnen gehört.« »Es ist eine Holdinggesellschaft. Hier in der Gegend heißen sie NickeLineAZ.« Goldman humpelte hinüber zum Sofa und lehnte sich dagegen. »Ach ja. In New York NickeLineNY.« »Sind Sie bei ihnen Kunde?«, fragte Beamon. Der Gedanke war ihm jetzt erst gekommen. Goldman – der unumstrittene Spezialist für alles, was mit Lauschangriffen zu tun hatte – müsste eigentlich ganz oben auf der Kandidatenliste stehen. »Ich kriege immer mal wieder Angebote, aber warum sollte ich so dumm sein, für Ferngespräche zu zahlen?« »Haben Sie Zeit gehabt, Nachforschungen wegen meiner Frage anzustellen? Ob es möglich ist?« 307
»Dass eine kleine Telefongesellschaft bei Ferngesprächen mithört? Unwahrscheinlich bei einer normalen Firma. Sie mieten Kapazitäten von großen Unternehmen wie AT&T, aber die Anrufe laufen einfach durch irgendwelche Leitungen, die gerade verfügbar sind. Eine Firma, wie Sie meinen, arbeitet dagegen mit IP – das steht für Internet Protocol. Dabei werden analoge Signale komprimiert und über RouterSysteme zum Empfänger transportiert. Es wäre verdammt teuer, und man bräuchte eine irrsinnige Ausrüstung, aber dann könnte man bei Gesprächen mithören.« Beamon erinnerte sich an die verheerenden Bilanzen von NickeLine und die Tatsache, dass sie weit mehr Ausrüstung besaßen als nötig schien. Es sah aus, als habe er mit seinem Verdacht erneut ins Schwarze getroffen, und er konnte noch überhaupt nicht abschätzen, was das bedeutete. Wie viel wusste Sara? Vermutlich so gut wie alles. Wahrscheinlich war die Hälfte aller Firmen in den Vereinigten Staaten samt ihrer Führungskräfte Kunden bei NickeLine. Wesentlich interessanter war allerdings die Frage – wem konnte er eigentlich noch vertrauen? Selbst wenn Jake Layman kein Kneissianer war, hatte er möglicherweise bei irgendeinem Ferngespräch etwas gesagt, mit dem die Kirche ihn unter Druck setzen konnte. Während er einen tiefen Schluck aus der Bierflasche nahm, musterte er Jack Goldman. Was sollte er mit ihm machen? Er brauchte gar nicht erst zu probieren, ihn loszuwerden; das war zwecklos. Der alte Sturkopf tat, was er wollte. Und jetzt wollte er bei diesen Ermittlungen mitmischen. »Hinter wem sind wir eigentlich her?«, fragte Goldman. Beamon sagte sich, wenn er ihn schon auf dem Hals hatte, 308
könnte er auch das Beste daraus machen. Immerhin gab es wirklich keinen ausgefuchsteren Spezialisten als ihn. »Die Kirche der Evolution, Mr. Goldman. Ich glaube, sie haben mit der Entführung von Jennifer Davis zu tun.« »Die Kneissianer? Diese gottverdammten Spinner? Herrgott. Na, dann zahlen wir es ihnen mit gleicher Münze heim.« »Mit welcher Münze?« »Ich werde diesen Arschlöchern mal zeigen, wie man Telefone verwanzt. Danach können wir sogar mithören, wenn sie auf dem Klo sitzen.« Beamon winkte ab. »Es ist ausgeschlossen, dass ich dafür eine richterliche Genehmigung kriege, Mr. Goldman.« »Richterliche Genehmigung? Verflucht, was ist denn los mit Ihnen? Selbst ist der Mann!« Es klopfte an der Tür, und Beamon stand auf. »Ich bin immer noch FBI-Agent, Sir. Ein illegales Anzapfen von Telefonleitungen kommt nicht infrage.« Beamon öffnete die Tür. »Carrie!«, sagte er laut, um Goldmans Stimme zu übertönen. »Wenn Hoover noch lebte, könnte ich diesen Kerlen Drähte in die Ärsche raufschieben, dass sie sich beim Essen daran einen Zahn ausbeißen würden!« Beamon schlüpfte hastig nach draußen. »Wie geht es Ihnen?« Etwas verwirrt schaute sie auf die geschlossene Tür. »Wer war das denn?« »Was? Ach, nur mein Onkel. Besucht mich gerade. Nur kurz. Er ist ein bisschen verrückt – Entschuldigung, ich wollte nicht verrückt sagen. Älter als Methusalem, wissen Sie? Hat schon am Bau der römischen Aquädukte mitgearbeitet.« 309
Sie lächelte, dass ihm das Herz aufging. »Kann ich ihn kennen lernen?« Beamon schüttelte ein wenig zu heftig den Kopf. »Geht gerade nicht. Er trägt nie Hosen. Behauptet, seine Beine wollten auch atmen.« Carrie grinste und warf einen letzten argwöhnischen Blick auf die Tür. »Ich habe Sie nicht mehr gesehen, seit Sie zum Essen da waren. Gehen Sie mir aus dem Weg?« »Nein, ganz bestimmt nicht«, erwiderte Beamon mit Nachdruck. »Eigentlich hatte ich sogar vor, heute Abend zu Ihnen rüberzukommen, aber …« Er deutete auf die Tür. »Hatte nicht mit Besuch gerechnet.« Er griff nach dem Türknauf. »Ich bringe Onkel Jack bloß rasch in seine Unterkunft und komme gleich wieder zurück. Sie sind doch noch ein paar Stunden auf, oder?« »Er wohnt nicht bei Ihnen?« »Das … will er nicht. Hasst meine Wohnung. Und in mich ist er auch nicht so besonders vernarrt.« Sie wandte sich um und ging die Treppe hinunter. »Wenn Sie nach acht kommen, läuten Sie nicht. Emory schläft dann schon.«
ACHTUNDDREISSIG Das war eine heikle Aktion gewesen. Beamon hatte schon gedacht, er müsste Goldmans knorrige Finger mit einer Brechstange von seinem Sofa lösen. Aber notfalls hätte er es sogar getan. Er hatte bereits genug Prob310
leme ohne diesen launischen alten Knacker. Und irgendwann war das Maß einfach voll. Während der gesamten Suche nach einem Apartmentkomplex, der möblierte Wohnungen tageweise vermietete, hatte Goldman ihn mit Stillschweigen gestraft. Wortlos war er ihm gefolgt, als Beamon sein Gepäck in die einzig freie Wohnung geschleppt hatte, die sie finden konnten. Sie war etwas schmuddelig, und aus lauter schlechtem Gewissen hatte er ihn eingeladen, morgen zu seinem nächsten Treffen mit Ernie Waverly mitzukommen. Goldman hatte nicht einmal aufgeschaut. Beamon hängte seinen Parka neben die Tür und ging schnurstracks zum Anrufbeantworter. Während er das Band zurückspulte, angelte er nach der Weinflasche, die er an diesem Abend gekauft hatte. »Mr. Beamon. Hier ist Terry Bland aus dem Büro Oklahoma.« Trotz des Bandrauschens hörte man, dass Bland offenbar etwas verlegen war. »Ich habe die Flugpläne in die Türkei noch einmal nachgeprüft, und es wurde letzten Monat doch ein Flug angemeldet – für den fünfzehnten Januar … Ich weiß nicht, wie uns das passieren konnte, Mr. Beamon, tut mir wirklich Leid. Normalerweise unterlaufen uns keine derartigen Patzer. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie noch weitere Auskünfte brauchen … Und, wie gesagt, ich entschuldige mich für den Irrtum und hoffe, Sie hatten deswegen keine Probleme.« Beamon nahm sich vor, den Jungen anzurufen, wenn diese ganze Geschichte vorbei war, und ihm zu sagen, dass es nicht sein Fehler gewesen war. Nach einem Piepsignal ertönte eine etwas verzerrte Stim311
me. »Mark! Hier ist Ken Hirayami. Ich weiß nicht, wie Sie das geahnt haben, aber Sie hatten Recht, verdammt noch mal! Albert Kneiss hat tatsächlich ein Visum für die Türkei beantragt. Er ist am sechzehnten Januar angekommen und offensichtlich immer noch hier. Ich schicke Ihnen Ihre verfluchten fünfzig Kröten, wenn Sie mir verraten, woher Sie gewusst haben, dass da was faul ist. Meine türkischen Freunde hatten eigentlich geglaubt, ihr System sei ziemlich gut.« Beamon seufzte tief, klemmte sich die Weinflasche unter den Arm und ging zur Haustür. Binnen achtundvierzig Stunden hatte die Kirche auf dem Papier Kneiss’ angebliche Reise in die Türkei konstruiert. Er hatte gehofft, sie würden es nicht schaffen, offizielle Unterlagen zu fälschen, und wenn doch, dann höchstens bei der amerikanischen Luftfahrtbehörde. Dass es ihnen sogar in der Türkei gelungen war, zeigte ihm, dass die Arme der Kirche viel weiter reichten, als er geahnt hatte. Leise klopfte er an Carrie Johnstones Tür. Sie öffnete und kam rasch nach draußen. »Emory ist auf der Couch eingeschlafen«, erklärte sie. Beamon überreichte ihr den Wein, und sie schaute sichtlich überrascht auf das Etikett. Offenbar hatte sie nicht erwartet, dass ein eingefleischter Biertrinker einen solchen Wein aussuchte. »Wie wäre es mit Dienstag?« Beamon merkte erst, dass seine Frage keinen Sinn ergab, nachdem er sie schon ausgesprochen hatte. »Was am Dienstag?« »Abendessen. Ich dachte, wir könnten zum Essen ausgehen«, erwiderte er, obwohl ihm plötzlich mit Ernüchterung 312
klar wurde, dass er eigentlich den Kontakt mit ihr abbrechen müsste, bis er diesen Fall aufgeklärt hatte. Allein der Gedanke verursachte ihm Magenschmerzen, aber es gab einfach keinen anderen Weg. Nur wusste er beim besten Willen nicht, wie er ihr das sagen sollte, ohne dass sie den Eindruck bekam, er habe kein Interesse an ihr, sei völlig beziehungsunfähig, oder am Ende noch glaubte, alle FBI-Agenten seien so verkorkst, dass man besser die Finger von ihnen ließ. »Gern. Holen Sie mich um sieben ab.« Sie beugte sich zu ihm, küsste ihn rasch auf den Mund und verschwand in ihrem Apartment. Beamon starrte verblüfft auf die geschlossene Tür. Der frische, ein wenig tropische Duft ihres Haares hing immer noch in der Luft, und der Knoten in seinem Magen wurde noch ein wenig fester. Auf dem Weg zu seiner Wohnung verfluchte er die Kirche der Evolution. Hätte Kneiss nicht seinen Messiaszirkus letztes Jahr veranstalten und sterben können, ehe er hier eingezogen war und die tollste Frau kennen lernte, die er je getroffen hatte? Aber wie auch immer, er musste jedenfalls vorläufig den Kontakt zu Carrie abbrechen und konnte bloß hoffen, dass sie noch einmal von vorn anfangen könnten, sobald die Geschichte vorbei war. Das hieß, falls Sara Renslier noch was von ihm übrig ließ.
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NEUNUNDDREISSIG Es wurde immer schwieriger, seine Verfolger unauffällig abzuschütteln. Der blaue Taurus hatte heute so zäh an ihm geklebt, dass er etliche Male die Richtung wechseln und einen Abstecher in eine Autowaschanlage machen musste, um ihn loszuwerden. Beamon verlangsamte das Tempo ein wenig, als er an Ernestine Waverlys Haus vorbeikam, bemerkte das unbekannte Auto in der Auffahrt und hielt ungefähr einen Block entfernt. Die ärgerlichen Stimmen waren schon bis in die Auffahrt zu hören. Er griff nach seinem Revolver und drückte das Ohr gegen die Tür. »Um Himmels willen! Jetzt beherrschen Sie sich doch mal und lassen diese Pizza!« »Sie haben kein Recht, über mich zu urteilen! Das hat nur Gott!« »Wenn Sie so weiter fressen, ist er auch der Einzige, der noch fähig ist, Ihren Arsch aus diesem Stuhl zu wuchten!« Beamon richtete sich auf und öffnete die Tür. Das Auto in der Auffahrt und die Stimme gehörten natürlich Jack Goldman. Eigentlich hatte er Ernie etwas auf ihn vorbereiten wollen, aber nun war es wohl zu spät. »Na, Sie haben wohl verpennt?«, begrüßte Goldman ihn. »Der Morgen ist so gut wie vorbei.« Ernie funkelte Goldman wütend an, während er zu einem kleinen Tisch humpelte und sich schnaufend dagegen lehnte. Trotzig biss sie in ein Stück kalter Pizza. »Morgen, Ernie«, sagte Beamon. »Ich komme wohl gerade recht zum Frühstück?« 314
»Reden Sie nicht auch noch vom Essen, Mark«, krächzte Goldman. »Seien Sie still«, nuschelte Ernie und kaute eifrig. Na, bestens. Er war dabei, sich mit einer Organisation anzulegen, die Millionen fanatischer Anhänger hatte, fast unbegrenzte Geldmittel und die raffiniertesten technischen Möglichkeiten, um alle erdenklichen Informationen zu sammeln. Selbst wenn er das FBI hinter sich hätte, wäre er wahrscheinlich chancenlos. Aber er stand so gut wie allein. Seine einzigen Helfer waren ein Mann, der einen der allerersten Fords frisch vom Fließband gekauft hatte, und eine krankhaft fette Einsiedlerin, die glaubte, er sei so eine Art Racheengel. Energisch schob sich Ernie den Rest der Pizza in den Mund und zog unter ihrer Tastatur ein Blatt Papier hervor, knäuelte es zusammen und warf es Beamon zu. »Ich habe die alte Mitgliederliste der Kirche mit allen möglichen Listen und Verzeichnissen verglichen, die ich finden konnte. Das ist das Ergebnis.« Goldman schnaubte abfällig, während Beamon das Papier entfaltete und die Namen überflog. Es war ungefähr das, was er erwartet hatte. Die Präsidenten von zwei Hypothekenbanken – eine davon war vermutlich gerade dabei, ihm die Hypothek zu kündigen und ihn aus seinem Apartment zu schmeißen –, der Vorstand einer mittelgroßen Versicherungsgesellschaft, die Leiter von Vericomm und der Schwesterfirma Verinet; auf der politischen Seite drei Senatoren – von denen einer den Vorsitz des Finanzausschusses hatte – und elf Abgeordnete, dazu mehr als eine Hand voll hochrangiger Beamter. Interessanterweise allerdings keine Kreditkartenfirmen. 315
Aber seine Karten konnte wahrscheinlich jeder kleine Angestellte manipulieren. »Was soll das bringen?«, fragte Goldman. »Hören Sie, Jack«, erwiderte Ernie. »Mark schaut sich die Informationen an, die ich für ihn besorgt habe. Vielleicht halten Sie ausnahmsweise mal den Mund.« Goldman warf ihr einen gereizten Blick zu und zog einen Stapel Papiere aus einer Aktentasche, die genauso alt zu sein schien wie er. Er humpelte durch das Zimmer und breitete sie auf dem Tisch neben Beamon aus. Es schienen irgendwelche Karten oder Schaltpläne zu sein. »Da ist das Grundstück der Kirche, wo dieser Kneiss lebt.« Goldman tippte mit einem knorrigen Finger auf eine bunte Karte. »Sie haben acht Telefonleitungen, die wir hier an diesem Verteilerkasten, der ungefähr eine Meile entfernt ist, anzapfen können. Ernie hat vier Telefonanschlüsse. Wir können also die Gespräche hierher umleiten – geht über Mobilfunk. Außerdem können wir sicherheitshalber noch eine Weiterleitung in meine Wohnung installieren, darum kümmere ich mich heute Nachmittag.« »Wo zur Hölle haben Sie dieses Zeug aufgetrieben, Mr. Goldman?« Beamon schüttelte den Kopf. »Sie sind doch erst gestern hergekommen.« »Glauben Sie etwa, ich hätte keine Kontakte?« Beamon rollte die Karten zusammen und reichte sie Goldman. »Kontakte hin oder her. Ich habe vielleicht nicht mehr die Unterstützung des FBI, aber ich gehöre immer noch dazu. Es werden keine Telefonleitungen angezapft. Das ist mein letztes Wort.« »Herrgott, Junge! Sie wissen doch, mit welchem Gegner 316
Sie es hier zu tun haben. Diese Typen spielen nicht nach Ihren Regeln …« Ernie fiel ihm ins Wort, ehe er sich in Rage reden konnte. »So ungern ich es tue, Mark, aber ich muss ihm Recht geben. Gott interessiert die Gesetze der Menschen nicht. Wir müssen uns selbst fragen, was er von uns will. Der Herr hat uns die Fähigkeit zur freien Entscheidung gegeben.« Beamon rieb sich seufzend die Schläfen. »Ernie, Schatz, lassen Sie heute mal dieses religiöse Zeug beiseite. Ich bin bloß ein FBI-Agent, nicht Martin Luther.« Goldman grinste selbstgefällig. »Nun, ich würde jedenfalls sagen, es steht zwei zu eins.« Beamon schaute auf. »Aber meine Entscheidung ist die einzige, die zählt.«
VIERZIG Regungslos lag Jennifer Davis auf dem kalten Boden und stemmte die Füße gegen das Bett, das seit einem Monat das Zentrum ihres Lebens war. Das Brennen in ihrem Bauch ließ langsam nach, und sie begann eine zweite Serie von Sit-Ups. Sie zwang sich erbarmungslos zum Durchhalten und versuchte, sich von ihrer Wut, ihrer Einsamkeit und Angst abzulenken. Nach fünfundfünfzig Wiederholungen war sie völlig ausgepumpt. Sie kämpfte sich auf die Füße und ging zu dem Plastiktablett neben der Tür mit den Resten ihres Frühstücks. Nachdenklich hob sie den Löffel auf. Immer nur ein Löffel. Messer und Gabel hatte es seit dem Tag, an dem man sie 317
zu ihrem toten Großvater gebracht hatte, nie wieder gegeben. Diese bleiche Hexe glaubte anscheinend, sie würde sich umbringen und ihr diesen Spaß verderben. Jennifer stopfte den Löffel in den Bund ihrer Unterhose und rückte das schwere Bett von der Wand weg. Mit dem Stil kratzte sie eine kleine Linie in den Verputz neben einer Reihe ähnlicher Linien. 15. März. Sie schob das Bett wieder zurück und rechnete automatisch wie jeden Morgen nach, wie viel Zeit sie noch hatte. Zwölf Tage. Sie ließ den Löffel auf das Tablett fallen. Das metallische Klirren hallte durch den Raum, ehe es von der Stille, die sie umgab, verschluckt wurde. Keine zwei Wochen mehr. »Es ist egal«, sagte sie laut. Wie auch immer – sie würde hier rauskommen. Das Schwerste hatte sie schon geschafft, sie hatte ihre Angst in den Griff bekommen, hatte ihre Einsamkeit und die Erinnerung an den Tod ihrer Eltern verdrängt und stattdessen wieder Mut gefasst. Sie würde sich schon einen Weg ausdenken, um zu flüchten! Und sie war auch nicht allein. Sara wollte sie glauben lassen, sie habe niemanden mehr, aber das stimmte nicht. Jamie und seine Mutter würden sie aufnehmen, bis es Zeit für sie war, ins College zu gehen. Mit dem Geld, das ihre Eltern ihr wahrscheinlich hinterlassen hatten, könnte sie ihnen sogar ein Haus kaufen. Mrs. Rodriguez sollte nicht länger in dieser schrecklichen Wohnwagensiedlung festsitzen. Wie jedes Mal erschrak sie, als der Schlüssel sich im Schloss drehte, doch sie riss sich zusammen und blieb trotzig in der Mitte des Raums stehen. Sara kam allein herein, aber draußen sah Jennifer den 318
Mann, der sie stets begleitete und sich vor der Tür postierte. Sie würde nie an ihm vorbeikommen. Sie musste sich irgendwas anderes überlegen. »Die Ältesten möchten dich gerne noch mal sehen, Jennifer«, sagte Sara. »Du bist jetzt sehr wichtig für sie.« Jennifer unterdrückte mit Mühe ihre Wut. Sie konnte ihren Blick kaum losreißen vom Hals dieser Frau und fragte sich unwillkürlich, ob sie es schaffen würde, sie zu erwürgen, ehe der Schnurrbartmann hereingerannt kam und sie wegriss. »Sie haben sie belogen und ihnen verheimlicht, was mein Großvater wirklich wollte«, entgegnete Jennifer. Sara machte einen Schritt auf sie zu, blieb jedoch stehen, als Jennifer nicht zurückwich, und überzeugte sich mit einem raschen Blick zur Tür, dass ihr Begleiter an Ort und Stelle war. »Denke nach, Jennifer. Ich glaube, dann wirst du dich nämlich erinnern, dass es anders war. Du weißt doch, was du bist und was du werden wirst.« »Sie sind eine Lügnerin! Er hat mir die Kirche übergeben. Er wollte, dass ich sie leite.« Sara lächelte. »Du kannst es nicht verhindern, Jennifer, es ist Gottes Wille. Tief im Innern weißt du das auch, nicht wahr? Denk nur an deine Eltern. Sie waren so gläubig, dass sie für dich gestorben sind.« »Das ist nicht wahr!«, rief Jennifer. Sara versuchte nur, sie durcheinander zu bringen. Saras Augen blitzten zornig. »Ich dachte, du würdest vielleicht gern noch einmal diesen Raum verlassen. Aber jetzt sehe ich, dass es unmöglich ist.« Sie wandte sich um und ging hinaus in den Flur. »Auf Wiedersehen, Jennifer.« 319
»Nein! Warten Sie!«, hörte Jennifer sich rufen. Doch Sara hatte die Tür bereits geschlossen. Zitternd vor Wut und Verbitterung stand sie mitten im Raum. Sie musste hier raus, sonst hatte sie keine zwei Wochen mehr zu leben! Das war kein Spiel – Sara meinte es ernst. Sie ließ sich aufs Bett fallen und zog ihre Knie an die Brust. Zum ersten Mal seit einer Woche spürte sie, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Einen Monat war sie jetzt schon hier, und diese Irren würden sie bestimmt nie wieder rauslassen. Aber selbst wenn sie es schaffte, aus diesem Zimmer zu entwischen – was konnte sie schon tun? Gegen diesen Schnurrbartmann würde sie nichts ausrichten können, auch nicht mit aller Willenskraft und Entschlossenheit, die sie in den letzten Wochen mühsam zusammengekratzt hatte. Sie machte sich bloß selbst etwas vor. Ihre Situation war aussichtslos. In zwölf Tagen würden Sara und Schnurrbartmann zum letzten Mal durch diese Tür kommen. Sie würde sich vergeblich wehren, wenn sie ihr die Spritze verabreichten. Und dann war alles zu Ende.
EINUNDVIERZIG Einhundertfünfzig Meilen lagen zwischen ihren Büros, und dauernd hockte dieser Kerl hier in seinem Sessel. Beamon musterte seinen Chef durch das Fenster des Vorzimmers. Er blätterte gerade wieder einmal in den Papieren, die er auf dem Schreibtisch vorgefunden hatte, sah jedoch 320
nicht so wütend aus wie das letzte Mal. Ob das allerdings gut oder schlecht war, blieb abzuwarten. »Morgen, Jake«, grüßte Beamon und beschloss, erst mal auf seinen Kaffee zu verzichten, um Layman so rasch wie möglich wieder loszuwerden. »Welcher Tatsache verdanke ich den heutigen Besuch?« Layman schob ihm beinahe triumphierend ein zweiseitiges Fax zu. Es war die Kopie eines Zeitungsartikels. MARK BEAMON – DIENSTTAUGLICH? lautete in fetten Großbuchstaben die Überschrift. »Ich habe einen Freund beim Chronicle«, erklärte Layman. »Er war so freundlich, mir den zu schicken, ehe er morgen veröffentlicht wird.« Beamon hoffte, dass die Überschrift nur ein reißerischer Aufmacher und der Rest sachlicher war. Das war jedoch nicht der Fall. Der ganze Artikel schien sich im Wesentlichen um seine Trinkgewohnheiten zu drehen. Es wurde weder seine beachtliche Erfolgsquote im Beruf erwähnt noch was für ein lustiger Bursche er auf Partys war, stattdessen brachte er etliche Anekdoten aus vielen Jahren, um ihn als jämmerlichen Trinker hinzustellen, mit dem es stetig bergab ging. Er musste dem Verfasser allerdings zugestehen, dass der Artikel geschickt geschrieben und bestens recherchiert war. Die Fakten ließen sich nicht bestreiten, nur war eben alles völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Nach einer kurzen Einführung wurde Beamons Studentenzeit in Yale abgehandelt, samt einer detaillierten Beschreibung seiner Erfindung des Saufomats. 321
Mit einem bitteren Lächeln erinnerte er sich daran, wie er dieses Ding während der Examenszeit in seinem vorletzten Jahr aus einer alten Kühlbox und einer Bilgenpumpe zusammengebastelt hatte. Es war eine simple, aber geniale Vorrichtung gewesen. Man füllte die Kühlbox bis oben hin mit Bier, steckte sich den Schlauch in den Mund und drückte eine Klingel. Die Pumpe begann zu arbeiten, eine Sirene schrillte – und man wurde in ungefähr anderthalb Sekunden mit Bier abgefüllt. Soweit er wusste, wurde dieses Gerät immer noch in einem eigens konstruierten Glaskasten im Haus seiner alten Studentenverbindung aufbewahrt. Anschließend beschrieb der Artikel sein unheilvolles erstes Zusammentreffen mit dem Direktor des FBI, einem wiedergeborenen Christen, bei dem er vermutlich wirklich etwas zu viel Bourbon im Blut gehabt und noch sehr viel mehr Sarkasmus an den Tag gelegt hatte. Der Rest war banaler, aber genauso schlimm, zumal die Geschichten über rauschende Partys bis in den frühen Morgen und verkaterte Vormittage, die angeblich aus anonymen Quellen stammten, keineswegs frei erfunden waren. Der Text schloss mit dem abgedroschenen Geschwafel über die berüchtigten FBI-Amigos, die sein »Geheimnis« natürlich vertuschten. Beamon warf das Fax auf den Schreibtisch. »Interessanter Zeitpunkt für einen solchen Artikel.« »Wie bitte?« »Nichts.« Schweigend wartete er darauf, was sein Boss nun zu tun gedachte. Er brauchte nicht lange zu warten. 322
»Ich habe versucht, Sie zu schützen, Mark. Aber das kann ich nun nicht mehr.« Nur zu gern hätte Beamon gewusst, wie Layman versucht hatte, ihn zu schützen, doch es war wohl klüger, sich diese Frage momentan zu sparen. Layman tippte auf das Fax. »Gott sei Dank steht hier nicht drin, dass Sie getrunken hatten, als Sie nach der Entführung von Jennifer Davis den Tatort untersuchten, und dass Sie sogar betrunken waren, als Ihr Hauptverdächtiger irgendwie ums Leben kam.« Beamon brachte es nicht einmal fertig, in Wut zu geraten. Er fühlte sich einfach nur müde. Eigentlich hätte er mit so etwas rechnen sollen, und jetzt bekam er die verdiente Quittung dafür, dass er zu naiv und nicht besser auf der Hut gewesen war. »Kommen Sie, Jake. Ich hatte während unseres Golfspiels ein paar Bier getrunken – Sie waren ja selbst dabei.« Layman zuckte nur die Schultern. »Ich habe nicht aufgepasst und deshalb keine Ahnung, wie viel Sie an diesem Tag intus hatten. Aber mir liegt der Bericht von zwei Polizisten vor, die am Tatort waren, dass Sie wie eine Brauerei gerochen haben.« Beamon hatte seine Zweifel, dass die beiden irgendwas anderes gerochen hatten als Pfefferminz, da er ungefähr sechs Kaugummis im Mund gehabt hatte, als er aus dem Auto gestiegen war. »Ich vermute mal, es spielt keine Rolle, dass David Passal eine Leiter runtergefallen ist, während ich zwanzig Meilen entfernt war und versucht habe, die Vorurteile der dortigen Bullen gegen uns …« Natürlich spielte es keine Rolle. Es war Layman anzusehen, dass er sich jedes 323
Wort sparen konnte, er würde sich höchstens daran weiden, wenn er jetzt versuchte, sich zu verteidigen. »Okay, Jake. Kommen Sie zur Sache. Was bedeutet das für mich?« »Ich habe heute Morgen lange mit dem Direktor telefoniert.« Beamon schloss die Augen und holte tief Atem. Das klang nicht besonders gut. »Wir haben die ganze Angelegenheit besprochen und natürlich auch Ihre jüngsten Fehleinschätzungen …« »Fehleinschätzungen?« Beamon öffnete die Augen. »Ihre Ermittlungen gegen die Kirche der Evolution. Die Tatsache, dass Sie wie besessen von den Kneissianern sind und meine wiederholten Aufforderungen ignoriert haben, sich auf die Suche nach den Tätern zu konzentrieren.« »Kommen Sie, Jake, Sie haben sich ja nicht mal nach dem aktuellen Stand meiner Ermittlungen erkundigt. Wer sind Sie, dass Sie mir jetzt irgendwelche Fehleinschätzungen unterstellen wollen?« Layman lächelte boshaft. »Ich bin Ihr Boss, Mark. Wenn Sie daran gelegentlich mal gedacht hätten, wären Sie jetzt nicht in dieser Lage.« Beamon tippte auf das Fax. »Ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass das hier ganz typisch ist für die Kirche? Wahrscheinlich gehört ihnen der verfluchte Flagstaff Chronicle.« »Typisch? Sie reden hier über eine Organisation, die in ganz Amerika Krankenhäuser und Schulen gebaut hat, die sich um Obdachlose kümmert und jedes Jahr hunderte Millionen Dollar für wohltätige Zwecke ausgibt! Genau das 324
meine ich nämlich, Mark. Sie sind regelrecht paranoid geworden. Und wir sind der Ansicht, das liegt an Ihrer Trinkerei.« Er lehnte sich zurück und zupfte an einem Fingernagel. »Sie sind ein fähiger Agent, Mark, und wir wollen Sie nicht verlieren. Sie sollen jede notwendige Hilfe bekommen. Vielleicht schaffen Sie es ja sogar, Ihre Alkoholsucht zu überwinden, wenn Sie sich wirklich Mühe geben, und können wieder Ihren Dienst antreten.« Beamon schaute an die Decke, holte tief Atem und bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Bis auf weiteres sind Sie jedenfalls in bezahltem Urlaub – ab sofort.« Wortlos zog Beamon seinen FBI-Ausweis aus der Tasche und reichte ihn Layman, dem es nicht ganz gelang, ein Lächeln zu unterdrücken. »Sie melden sich am 25. März im Hauptquartier zu einer ärztlichen Untersuchung. Noch irgendwelche Fragen?« Beamon verdrängte jeden Gedanken an seine Suspendierung und dass ab morgen sein Ruf ruiniert war, indem er an Sara Renslier dachte. Diese Schlange würde schon noch merken, dass er nicht so leicht fertig zu machen war wie manche andere. »Welche Telefongesellschaft benutzen Sie für Ferngespräche?« Layman schaute ihn verblüfft an und stand kopfschüttelnd auf. Beamon packte seinen Arm. »Sie wollten wissen, ob ich noch irgendwelche Fragen habe. Nur diese eine – welche Telefongesellschaft benutzen Sie für Ferngespräche?« »Was soll dieser Unsinn, Mark? Sind Sie betrunken?« 325
Layman versuchte sich loszureißen, doch Beamon hielt ihn unerbittlich fest. »Ich weiß nicht«, sagte Layman schließlich. »Man wählt vorher irgendeinen Code. Es kostet fünf Cents die Minute.« »Mark, haben Sie das gesehen?« Chet Michaels kam hereingestürmt, ohne wie sonst kurz in der Tür zu zögern. »Ein Freund von mir hat mir gerade dieses Fax geschickt.« Er knallte eine schlechte Kopie des hinterhältigen Artikels auf den Schreibtisch. Beamon nickte und kramte weiter in seinen Schubladen. Gelegentlich ließ er einiges in die Schachtel zu seinen Füßen fallen. Viel Krimskrams hatte sich noch nicht angesammelt, dafür war er nicht lange genug hier gewesen. Gewöhnlich dauerte es Tage, seinen Schreibtisch zu räumen. »Dahinter steckt die Kirche, nicht wahr? Was wollen wir drauf wetten, dass der Kerl, der diesen Artikel geschrieben hat, ebenfalls dazugehört?« Beamon zuckte die Schultern. »Also, was sollen wir dagegen unternehmen?« Beamon schaute auf in das unschuldige Gesicht von Chet Michaels. »Nichts. Ich bin suspendiert worden. Es ist vorbei.« »Suspendiert? Das gibt’s nicht! Das können sie nicht machen! Sie sind der Beste, den wir haben, das weiß schließlich jeder.« »Danke, Chet. Tut gut, das zu hören.« Beamon stand auf und zog seinen Parka von der Stuhllehne. »Wir sehen uns sicher gelegentlich mal.« »Kommen Sie, Mark, es ist doch glasklar, dass die Kirche 326
diesen Mist lanciert hat. Wir dürfen jetzt nicht einfach aufgeben.« »Jennifer zu finden ist nicht mehr länger meine Aufgabe, Chet. Und Ihre auch nicht – Layman übernimmt den Fall.« »Aber er kann doch nicht …« »Chet! Lassen Sie es gut sein. Wenn Sie hier nicht anecken, können Sie noch reichlich andere Fälle lösen.« »Es geht nicht bloß um irgendeinen Fall, Mark, sondern um ein entführtes Kind, haben Sie das vergessen? Was ist mit Jennifer?« Beamon zuckte die Schultern und klemmte sich die Schachtel unter den Arm. »Nichts. Wachen Sie auf, Chet. Für mich ist jeder Fall nur ein Spiel. Und dieses habe ich verloren.«
ZWEIUNDVIERZIG Beamon drückte die Schachtel mit seinen persönlichen Sachen gegen die Wand und mühte sich, seinen Schlüssel aus der Tasche zu angeln. Über die Schulter blickte er auf das Apartment, das Robert Andrews bewohnte. Das Fenster sah genauso aus wie immer, die Gardinen waren bis auf einen kleinen Spalt zugezogen, und in der Wohnung war es dunkel. Doch Andrews stand diesmal nicht hinter den Gardinen versteckt, sondern auf dem Gehweg vor dem Gebäude. Er lehnte sich gegen das Geländer und erwiderte frech seinen Blick. Beamon konnte zwar sein Gesicht nicht richtig erkennen, 327
aber allein schon seine Haltung sprach Bände. Die Kirche wollte ihn wissen lassen, wer verantwortlich war für seine derzeitige Situation. Man signalisierte ihm, dass er am Ende war und ihr Spitzel sich nicht mehr länger zu verstecken brauchte. Beamon drehte den Schlüssel im Schloss und stieß die Tür auf, wobei ein Schauer von Schnee und Eis auf seinen Teppich rieselte. Er stellte die Schachtel auf die Akten des DavisFalles, die über sein Sofa verstreut waren, und zog eine Flasche Bourbon heraus. Mit gemischten Gefühlen betrachtete er sie einige Zeit, aber dann holte er seinen restlichen Biervorrat aus dem Kühlschrank und warf die Flaschen feierlich in den Müll. Er legte sich eine Stange Zigaretten griffbereit neben seinen Sessel, ehe er sich setzte und mit einer Hand die Flasche aufschraubte. Mit der anderen drückte er auf die Fernbedienung. Er hatte den Kanal der Kirche eingestellt, und eine junge Frau berichtete gerade, wie Kneiss’ Bibel ihr Leben verändert hätte. Beamon zündete sich die erste Zigarette an, der vermutlich noch viele folgen würden, und schaute dem Rauch hinterher, der durch die jungfräuliche Luft seiner Wohnung kräuselte. Sein Leben hatte sie ebenfalls verändert. Er war in seinem Beruf immer bis an die Grenzen gegangen, und es hatte ihm nur geschadet – persönlich und beruflich. Aber das war seine eigene freie Entscheidung gewesen, und statt die Karriereleiter hinaufzuklettern, hatte er für Vorgesetzte gearbeitet, die ihm von ihren Fähigkeiten her nicht das Wasser reichen konnten, und war von einem Büro zum nächsten herumgeschoben worden. 328
Er wusste selbst am besten, dass er mit seinem Verhalten oft aneckte, aber es lag ihm nun einmal nicht, sich zu verbiegen, und da er seine Aufgaben immer rascher und besser erledigt hatte als jeder andere, hatte man ihm vieles durchgehen lassen. Erst Sara Renslier hatte es geschafft, ihn zu Fall zu bringen. Und zwar verdammt gründlich. Ihm drohte höchstwahrscheinlich nicht nur die Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand, er würde das FBI auch noch mit einem Ruf verlassen, der ihm für den Rest seines Lebens anhängen würde. Die Hoffnung auf einen lukrativen Job in der Privatwirtschaft, den er bei seiner mickrigen Pension brauchen würde, konnte er sich jedenfalls abschminken. »Möchten Sie auch Fritten dazu?«, sagte er in den leeren Raum und hob mit einem aufgesetzten Grinsen sein Glas. Es schadete nichts, schon mal für einen neuen Job zu üben. Als er den ersten Schluck Bourbon seit seinem Umzug nach Arizona nahm, musste er an Jennifer Davis denken. Er war jetzt absolut sicher, dass die Theorie, die ihm zuerst so irrsinnig vorgekommen war, stimmte. Sara Renslier würde niemals zulassen, dass sie durch eine fünfzehnjährige Waise alle Macht verlor, die sie sich im Lauf von fünfundzwanzig Jahren angeeignet hatte und nun offenbar unumschränkt ausübte. Falls diese Theorie tatsächlich stimmte, war Jennifer bereits tot – dann würde man Sara nur schwer etwas nachweisen können –, oder Sara hatte es geschafft, die Kirchenältesten davon zu überzeugen, dass Jennifer der nächste Bote war. In diesem Fall würde sie irgendeine religiöse Zeremonie abhalten, dabei das Kind beseitigen und auf diese Weise sicherstellen, dass sie die Kontrolle über die Kirche behielt. 329
Beamon trank einen zweiten Schluck und spürte, dass sich der Alkohol bereits bemerkbar machte. Nachdem er wochenlang nur Bier getrunken hatte, vertrug er offenbar gar nichts mehr. Aber da er ohnehin als Säufer galt und wahrscheinlich als Penner enden würde, spielte das auch keine Rolle mehr. Wenn Jennifer bereits tot wäre, hätte die Kirche ihre Leiche inzwischen wahrscheinlich in einer Grube irgendwo in der hinteren Mongolei entsorgt, und Sara hätte ihm großmütig ihre Hilfe angeboten, da sie genau wusste, dass er ihr ohne Leiche nichts anhaben konnte. Aber stattdessen versuchte sie, ihn – einen FBI-Beamten in leitender Stellung – mit allen Mitteln fertig zu machen, womit sie ein verdammtes Risiko einging. Das konnte nur eins bedeuten: Sie spielte auf Zeit. Er schaute auf die Datumsanzeige auf seiner Uhr. Noch elf Tage. Daraus ergab sich ein weiterer beunruhigender Gedanke. Wenn der Karfreitag vorbei war, würde Sara garantiert nicht tatenlos abwarten, dass er sich hinsetzte und ein Buch über seine Erlebnisse schrieb. Nein, sobald die Leiche des Mädchens beseitigt war, würde er vermutlich auf einer vereisten Treppe ausrutschen und sich den Schädel einschlagen oder irgendeinen ähnlich banalen Unfall mit tödlichem Ausgang haben. Es klopfte an der Tür, doch Beamon rührte sich nicht und dachte weiter darüber nach, wie er Jennifer innerhalb der nächsten elf Tage finden sollte. Er trank erneut einen Schluck und spürte, wie die brennende Flüssigkeit in seinen Magen lief und die Wirkung sich sofort in seinem Kopf bemerkbar machte. 330
Langsam öffnete sich seine Eingangstür, und ein heller Lichtstrahl fiel in den Raum, in dem inzwischen dichter Rauch schwebte. »Mark?« Carrie spähte vorsichtig herein. »Da sind Sie ja! Warum antworten Sie nicht?« Beamon zündete sich an seiner Kippe eine neue Zigarette an. »Was machen Sie denn mitten am Tag zu Hause, Carrie?« Er wandte sich wieder zum Fernseher um, während Carrie leise die Tür hinter sich schloss. Ein gut gekleideter junger Mann bat um Spenden für hungernde Kinder in einem dieser armen Länder. »Chet hat mich angerufen und mir erzählt, was passiert ist. Er macht sich wirklich Sorgen um Sie.« Beamon ließ seinen Kopf auf die Sessellehne sinken, als er sich an den Ausdruck auf Michaels’ Gesicht bei seinen letzten Worten erinnerte. Was er gesagt hatte, war natürlich Blödsinn gewesen, aber so war es am besten. Der Junge wäre ohne weiteres bereit, mit ihm zusammen unterzugehen. »Alles in Ordnung?« »Es ist nicht so schlimm, wie es klingt, Carrie«, log er. »Bloß Politik, wissen Sie?« Sie setzte sich neben ihn auf die Sofalehne. »Von Bier auf Schnaps umzusteigen wird Ihnen aber auch nicht helfen«, sagte sie und deutete auf die Flasche in seiner Hand. »Mein Programm zur Selbstverbesserung scheint nicht gerade besonders viel gebracht zu haben«, entgegnete er mit einem bitteren Lachen. »Warum sich also weiter kasteien?« Carrie schwieg für einen Moment. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.« »Ich erinnere mich nicht, dass Sie eine gestellt haben.« 331
»Ob alles in Ordnung ist?« »Klar. Mir geht’s gut. Solche Sachen passieren nun mal.« Sie schaute ihn mitleidig an. »Sie waren nie verheiratet, Mark, oder?« »Bitte?« »Sie haben nie geheiratet. Warum?« Er zuckte die Schultern. War das jetzt so was wie ein bizarrer Themenwechsel, oder war er doch angesäuselter, als er gedacht hatte? »Ich schätze, ich habe nie die richtige Frau gefunden. In meinem Beruf gab es eigentlich eine Krise nach der anderen, da blieb einfach nie viel Zeit für ein Privatleben.« »Sie haben fünfzehn oder zwanzig Jahre alles andere für das FBI geopfert. Und das ist jetzt der Dank. Das muss hart sein.« Beamon grinste kopfschüttelnd. »Herrgott, Carrie. Haben Sie vielleicht einen Strick dabei? Jetzt bin ich nämlich wirklich deprimiert. Dabei habe ich gedacht, Psychiater sollten dafür sorgen, dass man sich besser fühlt.« »Das ist leider ein Gerücht. Wir helfen Menschen, ihre Probleme zu erkennen, und dann zwingen wir sie, sich ihnen zu stellen.« Beamon sah unwillkürlich das bleiche, ausdruckslose Gesicht von Sara Renslier vor sich. »Oh, ich habe mein Problem längst erkannt, Carrie. Ich habe nur noch keinen Weg gefunden, mich ihm zu stellen und mit heiler Haut davonzukommen.« Sie kniete sich neben seinen Sessel. »Wollen Sie mir davon erzählen?« Er stellte die Flasche ab und strich ihr sanft durchs Haar. 332
»Nicht jetzt. Ich muss einfach nur ein bisschen hier sitzen und nachdenken. Wir gehen aber trotzdem morgen zusammen aus, oder? Wir müssen wirklich unbedingt miteinander reden.« Sie drückte seine Hand an ihre Wange. »Und ich soll Sie wohl wieder einladen, was?«
DREIUNDVIERZIG »Wir kriegen diese Dreckschweine schon, mein Junge«, rief Jack Goldman und schwenkte seinen Stock so heftig, dass ein Stapel Bücher umstürzte. »Wären Sie bitte etwas vorsichtiger! Ich habe hier teure Geräte!«, brüllte Ernie. »Bitte, geht’s nicht ein bisschen leiser?«, stöhnte Beamon. Er hatte bei jedem lauten Ton das Gefühl, sein Kopf würde zerplatzen, und schlecht war ihm außerdem. Seufzend rückte er seine Sonnenbrille auf der Nase zurecht und begann die Bücher wieder aufzustapeln, wobei er daran denken musste, dass er das einzige Mitglied seines »Teams« war, das zu einer so simplen Aufgabe fähig war. »Wenn das Ihr neues FBI ist«, fuhr Goldman in etwas gemäßigterem Ton fort, »kann es mir gestohlen bleiben! Zu Hoovers Lebzeiten hätte niemand einem Mann übel genommen, dass er mal einen trinkt! Jetzt heuern sie bloß noch lauter Weicheier an, die keine Angst haben zu weinen, und schicken sie dann noch auf Seminare, wo sie lernen sollen, sensibler zu werden. Niemand hätte es früher gewagt …« 333
»Wo ist Ihr Bad?«, fragte Beamon, ehe Goldman sich allzu sehr in Rage redete. Ernie deutete in den Flur. »Die erste Tür rechts.« Sie wunderte sich offenbar, dass er sich wieder setzte und eine Hand voll Advils aus der Tasche kramte. Sein Magen verkrampfte sich schon bei dem bloßen Gedanken, irgendwas zu schlucken, aber er zwang sich trotzdem, ein paar Tabletten zu nehmen. »Ich wollte es nur für alle Fälle wissen«, erklärte er. »Mit Alkohol löst man keine Probleme, Mark.« Beamon lachte schroff. »Das habe ich vor fast zwanzig Jahren auch mal zu Mr. Goldman gesagt. Erinnern Sie sich, was Sie mir geantwortet haben?« »Dass Nüchternheit auch noch nie die Lösung war.« »Genau.« Goldman fuchtelte wieder mit seinem Stock herum, aber diesmal passte er wenigstens etwas auf. »Es ist Zeit, dass wir endlich was unternehmen, Mark. Wir lassen uns nicht einfach tatenlos fertig machen.« »Ich bin suspendiert«, sagte Beamon. »Und jetzt glauben die Kneissianer, sie hätten freie Hand.« »Sara«, verbesserte Ernie. Beamon nickte. »Das FBI wird die Spur zur Kirche nicht weiter verfolgen, deshalb bleibt nur eins – wir müssen selbst was tun. Ich bin offen für Vorschläge.« Ernie beugte sich in ihrem Rollstuhl so weit vor, wie es ihre massige Gestalt und ihr Gewand erlaubten, das heute mit Bananen bedruckt war. »Irgendwo muss die Kirche sie festhalten, Mark. Vielleicht könnte man herausfinden, wo.« »Ich kann Ihnen so ziemlich garantieren, dass Jennifer in der Villa von Kneiss ist, Ernie.« 334
»Warum versuchen wir dann nicht …« »Man bräuchte eine Armee, um dort reinzukommen«, warf Goldman ein. »Ich habe mir diesen Kasten angeschaut. Ist wie ein Hochsicherheitstrakt.« »Mr. Goldman hat Recht, Ernie. Dort kommen wir unmöglich rein. Könnte es sein, dass man sie vielleicht woanders hinbringt, denn wenn wir Recht haben, müsste sie doch sicher während irgendeiner Zeremonie sterben. Wo würde so was stattfinden?« »Dafür gibt es keinen besonderen Ort, Mark«, erwiderte Ernie. »Die Kapelle auf dem Grundstück wäre genauso geeignet wie jeder andere Platz.« »Aber sie würden sie bestimmt nicht auf diesem Grundstück vergraben«, sagte Goldman. »Der Boden ist sowieso gefroren. Vielleicht können wir sie auf frischer Tat erwischen, wenn sie ihre Leiche rausschaffen. Am Osterwochenende?« Beamon stand auf und begann im Zimmer hin und her zu laufen. Er merkte, dass sein Magen sich langsam ein wenig beruhigte. »Nein, ich will einfach nicht verantwortlich sein für den Tod dieses Mädchens. Wir müssen sie finden, ehe ihr was passiert.« »Dann bleibt uns nur Jacks Methode, ihre Telefone anzuzapfen«, sagte Ernie. Damit hatte sie Recht, das wusste Beamon. Er war fast sein ganzes Berufsleben lang mit seinen unkonventionellen und gelegentlich sogar hinterhältigen Methoden angeeckt. Aber er hatte nie irgendwas Illegales getan. »Wann, Mr. Goldman?« »Endlich werden Sie vernünftig, mein Junge! Morgen Nacht. Das wird ein Spaß!«
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Etwas mühsam öffnete Beamon seinen Sitzgurt und beugte sich aus dem Autofenster, um den Geldautomaten besser sehen zu können. Trotz des trüben Wetters trug er immer noch seine Sonnenbrille, was es nicht gerade einfacher machte, die kleinen Buchstaben zu lesen. VORGANG WURDE ABGEBROCHEN
Er versuchte es noch einmal – wieder dieselbe Meldung. Beamon bog auf einen Parkplatz dicht an der Tür und ging in die Bank. An einem Schalter schob er seine Karte einem jungen Mädchen mit hellrosa Haarspangen zu. »Ich kann kein Geld aus dem Automaten ziehen. Könnten Sie bitte mal mein Konto überprüfen?« »Natürlich.« Sie untersuchte seine Karte sorgfältig. »Manchmal ist der Magnetstreifen auf der Rückseite beschädigt. Bewahren Sie die Karte in der Schutzhülle auf?« Er schüttelte den Kopf, und sie tippte seine Kontonummer in ihre Tastatur ein. Sichtlich verwirrt schaute sie auf den Bildschirm, und Beamon seufzte unterdrückt. So was hatte er fast erwartet. »Das ist aber irgendwie komisch«, erklärte sie. »Warten Sie bitte eine Sekunde?« Sie holte eine ältere Kollegin, die Beamon kurz zulächelte und ebenfalls auf der Tastatur herumtippte. »Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen, Sir?«, fragte sie. Beamon folgte ihr in eine ruhige Ecke am Rand der Schalterreihe. »Mr. Beamon, Ihre Konten sind von der Finanzbehörde gesperrt worden. Man hat uns angewiesen, keinerlei Trans336
aktionen von irgendeinem Ihrer Konten durchzuführen.« Beamon biss unwillkürlich die Zähne zusammen und schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, war die Frau ein paar Schritte zurückgewichen. »Ich kann leider nichts weiter für Sie tun«, sagte sie nervös, »außer Ihnen die Nummer des hiesigen IRS-Büros zu geben, damit Sie diese Sache klären können.« Auf dem Parkplatz schaute Beamon sich verstohlen um. Er war sicher, dass ihm niemand zu Ernies Haus gefolgt war, doch in diesem belebten Teil der Stadt könnte sich leicht wieder ein Verfolger an ihn drangehängt haben. Er bemerkte allerdings nichts Verdächtiges. Zufrieden tastete er unter dem Sitz nach dem Umschlag, in dem die fünftausend Dollar waren, die er letzte Woche abgehoben hatte. Das ganze Geld, das er jetzt noch besaß. Unwillkürlich fragte er sich, ob er auch noch Gelegenheit haben würde, es auszugeben.
VIERUNDVIERZIG Beamon rückte nervös seine Krawatte zurecht und atmete tief durch. Wenn jemand mit ihm gewettet hätte, dass er sich einmal höllisch vor einer Verabredung mit Carrie Johnstone fürchten würde, hätte er eine Menge Geld verloren. Obwohl er sich weidlich den Kopf zerbrochen hatte, war ihm keine einzige gescheite Ausrede eingefallen, warum er für eine Weile den Kontakt zu ihr abbrechen musste. Es blieb ihm wohl nur, ihr mehr oder weniger die Wahrheit zu sagen 337
und zu hoffen, sie nicht endgültig zu verschrecken. Das hieß, falls der Artikel in der heutigen Morgenzeitung das nicht bereits getan hatte. Beamon klopfte erneut, diesmal ein bisschen fester. Emory konnte so früh noch nicht schlafen – Carrie war wahrscheinlich irgendwo im Haus und hatte einen Föhn laufen oder so was. »Komm schon, Carrie«, sagte er. Ihm wurde langsam kalt, und seine Nervosität steigerte sich mit jeder Minute. Endlich öffnete Carrie die Tür, gerade als er noch einmal klopfen wollte. Sie trug alte Jeans und einen Pullover, auf dem er einen Klecks verblasster Farbe entdeckte. »Ich bin zwar suspendiert, Carrie, aber mein Gehalt kriege ich trotzdem weiter. Eigentlich hatte ich vor, mit Ihnen in ein nettes Restaurant zu gehen.« Sie wich nur schweigend einen Schritt zurück, was ganz eindeutig keine Einladung war, hereinzukommen. Beamon bemerkte, dass ihre Augen etwas gerötet waren, als habe sie geweint. »Carrie, alles in Ordnung? Ist was mit Emory?« Bei seinen Worten zuckte sie förmlich zusammen und reichte ihm irgendeine Visitenkarte, die auf dem kleinen Tisch neben der Tür gelegen hatte. »Carrie, was ist los mit Ihnen?« Sie gab keine Antwort und wartete sichtlich angespannt, während er die Karte betrachtete, auf der in amtlichen schwarzen Lettern der Aufdruck Child Safety Administration stand. »Was soll das?« 338
»Zwei Männer kamen heute her«, entgegnete sie so schroff, dass ihre Stimme ganz fremd klang. »Sie haben mir erzählt, dass gegen Sie wegen Belästigung von Kindern ermittelt wird.« Eine maßlose Wut packte ihn, dass sein Herz zu rasen begann. »Carrie, das ist doch Schwachsinn! Hören Sie, ich ermittle gegen eine sehr mächtige Organisation, die mit allen Mitteln versucht, mich fertig zu machen. Ich wollte Ihnen heute Abend davon erzählen.« Er deutete auf die Karte. »Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass hier nicht mal eine Telefonnummer draufsteht?« Aber sie hörte ihm gar nicht zu und war noch einen Schritt zurückgewichen. Tränen schimmerten in ihren Augen. Er wusste genau, was sie dachte. Sie hatte ihre Tochter mit ihm allein gelassen. Dann sah er das Entsetzen in ihren Augen, die Schuldgefühle und ihre bittere Enttäuschung. Wieder überkam ihn die Wut. Dass die Kirche zu solch schäbigen Mitteln griff – und dass Carrie es auch noch glaubte. Aber dann erinnerte er sich an Jennifers Onkel. Aufgrund eines ähnlichen Vorwurfs war David Passal aus Oregon vertrieben worden. Und er hatte sich nicht für einen Moment gefragt, ob an diesen Anschuldigungen etwas dran war, sondern nur überlegt, wie und warum Passal sich Jennifer geschnappt haben könnte. Was hatte er noch mal bei ihrer letzten Begegnung gesagt? Es gebe ein Stück Land in der Nähe – er würde es für ihn freihalten. Schnell wandte Beamon den Blick ab, um Carries Gesicht nicht mehr sehen zu müssen. Die Karte schien in seiner Hand zu brennen. Passal war vermutlich ein guter Kerl gewesen. Höchstwahrscheinlich hatte er versucht, seinem Bru339
der und seiner Schwägerin zu helfen, und dafür hatte er büßen müssen bis zu seinem einsamen Ende in der bitteren Kälte der Berge von Utah. Beamon wurde klar, dass er sich jedes weitere Wort sparen konnte. Er schob die Karte in seine Tasche und wandte sich um. »Auf Wiedersehen, Carrie.« Langsam ging er über den verschneiten Weg. Irgendwann hörte er, wie Carries Tür geschlossen wurde. Einen Moment später fing das Lachen an. Er blieb stehen und sah Robert Andrews, der sich über das Geländer vor seiner Wohnung im ersten Stock beugte und dann in seinem Apartment verschwand. Zum ersten Mal seit seinem Einzug wurden die Gardinen ganz zugezogen. Eine eindeutige Botschaft – die Kirche sah ihn nicht mehr länger als Bedrohung. Die ganze Zeit über hatte er den Fehler gemacht, dass er diesen Fall wie eine ganz normale Entführung behandelt hatte. Dabei hatte er doch genau gewusst, mit welchem Gegner er es zu tun hatte: ein Gegner, der vor nichts, wirklich gar nichts zurückschreckte. Jetzt hatte er Carrie, seinen Job und seinen Ruf verloren – wahrscheinlich für alle Zeit. Er hatte keine Familie, die hinter ihm stand, und die meisten seiner Freunde würden sich unter diesen Umständen schleunigst aus dem Staub machen, um nicht selbst berufliche oder private Schwierigkeiten zu bekommen. Vor lauter Wut verlor Beamon jegliche Beherrschung. Er sprang über eine kleine Hecke, rannte im Laufschritt die Stufen zu Andrews’ Apartment hinauf und stieß die Eingangstür auf. Andrews saß ruhig auf dem Sofa und erwartete ihn offenbar. »Was für eine Überraschung«, sagte er gelassen. 340
Beamon riss seine Pistole aus dem Halfter. Er spürte, wie das Herz in seiner Brust hämmerte. »O je!« Andrews hob mit gespieltem Entsetzen die Hände hoch. »Ein verzweifelter Mann mit einer Waffe.« »Halt’s Maul, du Arsch!« Beamon trat auf ihn zu und hielt ihm den Lauf der Pistole fast unter die Nase. In Gedanken sah er, wie Andrews zu Carrie ging und ihr diese verfluchte Karte reichte. Und er sah den Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie prüfend ihrer Tochter in die Augen schaute. »Was genau wollen Sie eigentlich?« Andrews senkte lässig die Hände. Beamon blickte unwillkürlich auf das Band aus schwarzem Eisen um sein Handgelenk. Es war vielleicht zwei Zentimeter breit und einen guten halben Zentimeter dick. Auf der Haut prangte eine tiefe weiße Narbe, offenbar ein Souvenir des Schweißbrenners. Andrews bewegte den Arm, um das Symbol seiner Ergebenheit besser zur Geltung zu bringen. »Also? Was wollen Sie?« »Dir das Herz mit einem Löffel rausschneiden«, fuhr Beamon ihn an. »Und zwar möglichst langsam.« Andrews grinste nur. »Ich habe schon gehört, dass Sie zu melodramatischen Ausbrüchen neigen. Gehen Sie lieber heim, ehe Sie sich noch mehr Schwierigkeiten einhandeln.« Beamon drückte ihm die Waffe gegen die Stirn. »Hol Sara Renslier ans Telefon. Sofort!« Andrews musterte ihn abfällig. »Ich glaube nicht, dass sie mit Ihnen reden will.« Ohne Vorwarnung versetzte Beamon ihm mit dem Lauf des Revolvers einen Schlag auf den Mund, dass die Unterlippe aufplatzte. Außer sich vor Wut packte er den Hörer des 341
Telefons, das auf einem Tisch neben dem Sofa stand. »Mach schon!« Andrews presste seine blutenden Lippen zusammen und wollte aufstehen, aber als Beamon seine Pistole entsicherte, überlegte er es sich anders und blieb sitzen. »Du fängst besser an zu wählen, Junge!« Andrews nahm zögernd das Telefon und begann wütend die Nummer einzutippen. »Mrs. Renslier? Hier ist Robert Andrews.« Pause. »Er steht vor mir und hat eine Pistole auf mich gerichtet …« Er schaute Beamon direkt in die Augen. »Nein, ich bin nicht in Gefahr. Vor ihm braucht niemand mehr Angst zu haben.« Beamon entriss ihm den Hörer. »Was zur Hölle bilden Sie sich eigentlich ein?« Schweigen. »Antworten Sie mir!« »Ich fürchte, ich verstehe nicht recht, was Sie meinen, Mr. Beamon«, erwiderte Sara Renslier so langsam und deutlich, als wäre er ein etwas begriffsstutziges Kind. »Ich bin noch nicht mit Ihnen fertig, Sara, noch lange nicht. Hören Sie sich ruhig mal ein bisschen um. Ich habe bis jetzt noch jeden drangekriegt, hinter dem ich her war.« »O ja. Dafür war Special Agent Beamon berühmt. Aber Sie sind nicht mehr Special Agent Beamon, nicht wahr? Sie sind nur noch ein versoffener, arbeitsloser Pädophiler.« »Hexe!« Er konnte nicht sagen, ob es an der Leitung lag, dass ihr Gelächter so metallisch klang, oder ob sie immer so lachte. Aber ihm wurde plötzlich klar, dass sie richtigen Spaß an der Sache hatte. 342
Er ließ das Telefon sinken und schaute sich in der spärlich möblierten Wohnung um, die wie ein Spiegelbild seiner eigenen war. Das Hämmern in seinem Kopf begann nachzulassen, und er fühlte sich plötzlich so benommen, als wäre er gerade aus einem wirren Traum aufgewacht. Was zur Hölle war ihm nur eingefallen, in kopfloser Wut in dieses Apartment zu stürmen und lächerliche Drohungen auszustoßen. Andrews und Sara mussten ihn für einen kompletten Idioten halten, und genauso fühlte er sich auch. »Haben Sie noch irgendetwas zu sagen, Mr. Beamon?«, hörte er Saras Stimme. »Ich bin ziemlich beschäftigt.« Nein, er hatte wirklich nichts mehr zu sagen. Plötzlich wollte er einfach nur noch hier raus. »Ihr Gott ist bestimmt sehr stolz auf Sie, Sara …« Dass Sie die Enkelin von Albert Kneiss umbringen wollen, nachdem er jetzt tot ist, hätte er fast gesagt, aber er erkannte rechtzeitig, dass es nur ein kurzer Triumph gewesen wäre, ihr zu zeigen, dass er sie durchschaut hatte. Noch war es vielleicht Zeit, etwas zu tun. Das hieß, falls er es schaffen konnte, sich zusammenzureißen. »Haben Sie je daran gedacht, Mr. Beamon, dass Sie nicht so leicht zu zerbrechen gewesen wären, wenn Sie an Gott glauben und sich seinem Willen unterwerfen würden?« Beamon schaute zu Andrews hinüber, der ruhig auf der Couch saß, und schob seine Waffe ins Halfter. »Oh, ich bin noch nicht gebrochen. Bloß ein kleines bisschen zerdellt.« Der Spirituosenladen war leer, als Beamon hereinkam. Er ging zielstrebig an ein Regal, schnappte sich eine Flasche Bourbon und kehrte zur Theke zurück. 343
»Legen Sie auch noch eine Stange Marlboro dazu. Ich hab wirklich einen scheußlichen Tag gehabt.« Das Mädchen lächelte und holte eine Stange. »Schreiben Sie es auf mein Konto. Mark Beamon ist mein Name.« Er merkte, dass sie plötzlich sichtlich nervös wurde, und verdrehte die Augen. Was war jetzt schon wieder? Hatte die Kirche den verfluchten Schnapsladen gekauft und gewährte ihm keinen Kredit mehr? Eigentlich müsste es Sara doch nur recht sein, wenn er ordentlich trank. »Warten Sie bitte eine Sekunde?«, bat sie und verschwand. Kurz darauf kehrte sie mit dem Geschäftsführer zurück. »Hallo, Barry. Gibt’s ein Problem?«, fragte Beamon. »Einige Männer sind heute hier gewesen und haben Fragen über Sie gestellt.« Barry hielt ihm wütend eine weiße Karte hin. Beamon sparte es sich, einen Blick darauf zu werfen, und dachte daran, dass er sich bei jedem Einkauf nach Barrys siebenjähriger Tochter erkundigt hatte. »Es wäre mir lieb, wenn Sie nicht mehr herkämen, Mr. Beamon. Mit Leuten wie Ihnen wollen wir nichts zu tun haben.« Mit der Bourbonflasche klopfte Beamon gegen die Theke. »Lassen Sie mich Ihnen einen kleinen Rat geben, den mein Dad mir mal vor Jahren gegeben hat, Barry. Schlag einem schwer bewaffneten arbeitslosen Kinderschänder nie eine Flasche Schnaps und Zigaretten ab.« Barry wich einen Schritt zurück und kapierte offensichtlich, dass es klüger war, sich nicht mit ihm anzulegen. Dann ging er hinter die Theke und zog aus einem Fach eine Kartei344
karte, auf der vermutlich seine offenen Rechnungen notiert waren. Er zerriss sie und warf die Stücke auf die Theke. »Das geht aufs Haus. Und Ihre anderen Außenstände auch. Jetzt gibt es keinen Grund mehr, dass Sie noch mal herkommen.« Wütend schlug Beamon aufs Lenkrad. Es tat richtig gut, deshalb schlug er gleich noch einmal zu. Und noch einmal. Wenn die Lakaien der Kirche sogar den Schnapsladen aufgesucht hatten, in dem er regelmäßig einkaufte, hatten sie vermutlich mit jedem einzelnen Menschen gesprochen, den er je gekannt hatte. Er war erledigt, absolut erledigt. Seinen Job konnte er nun endgültig vergessen. Und wahrscheinlich stünden die Chancen besser, Christie Brinkley zu heiraten, als dass Carrie jemals wieder mit ihm redete. Was genauso für die wenigen anderen Freunde galt, die er hatte. Aber im Grunde spielte es sowieso keine Rolle. Sobald Sara das Mädchen aus dem Weg geräumt hatte, würde sie ihn endgültig fertig machen. Höchstwahrscheinlich würden er und Jennifer sich gemeinsam eine Grube in der hinteren Mongolei teilen. Er schlug ein letztes Mal aufs Lenkrad und spürte, wie der Schmerz durch seine Arme zuckte. Es reichte. Er hatte zehn Tage und kaum noch etwas zu verlieren – eigentlich nichts als sein Leben. Und das schien im Moment nicht mehr besonders viel wert. Beamon startete den Wagen und machte sich auf den Weg zu Jack Goldmans Apartment. Nachdem er sich bei Andrews wie ein kompletter Idiot aufgeführt hatte und Carrie glaubte, er habe ihre Tochter befummelt, war der Gedanke, nach Hause zu fahren, nicht gerade einladend. 345
FÜNFUNDVIERZIG »Langsamer, Junge. Ich sehe ja nichts, wenn Sie wie ein Irrer rasen.« Beamon nahm seinen Fuß vom Gas, schaltete das Fernlicht ein und fuhr mit zwanzig Meilen weiter. Es waren nur noch ein paar traurige Fingerbreit von der Flasche Bourbon übrig, die Beamon letzte Nacht zu Goldman mitgebracht hatte. Und er wollte lieber gar nicht erst daran denken, wie viel noch von der Stange Zigaretten übrig war. In den Lungen hatte er ein Gefühl, als habe jemand eine Dose Motoröl hineingeschüttet – und gleichzeitig eine alte Autobatterie in seinen Magen geleert. Außerdem schien ihm demnächst der Schädel aufzuplatzen. »Ich finde, Sie sollten mit ihr reden«, wiederholte Goldman zum hundertsten Mal. Trotz der Tatsache, dass der alte Mann ihm die ganze Nacht lang Drink für Drink und Zigarette für Zigarette Gesellschaft geleistet hatte, schien er keinerlei Nachwirkungen zu spüren. Musste wohl die Aufregung sein – oder die gesamten Nervenendungen des alten Knackers waren schon lange abgestorben. Beamon stöhnte. Leider hatte er ihm letzten Abend die Geschichte mit Carrie erzählt, nachdem der Bourbon ihm die Zunge gelockert hatte. »Konzentrieren wir uns lieber auf das, was wir vorhaben, okay?« Goldman warf ihm einen grimmigen Blick zu. »Lieber Junge, mir brauchen Sie nicht zu sagen, dass man sich konzentrieren muss, wenn man ein Telefon anzapfen will.« Hastig lenkte Beamon ein, ehe Goldman in eine seiner endlosen Tiraden ausbrach. Das würde er in seinem gegen346
wärtigen Zustand nicht ertragen. »Ich muss mich konzentrieren. Ich habe so was noch nie zuvor gemacht.« »Brauchen Sie auch heute nicht, bloß dastehen und mir die Sache überlassen.« Goldman spähte aus dem Fenster. »Ja, ich würde einfach zu ihr rübergehen und sie zwingen, mich anzuhören. So was lässt sich doch klären.« Das Hämmern in Beamons Kopf steigerte sich zu einem Discobeat. »Danke für den Rat, Mr. Goldman, aber Sie sind nie verheiratet gewesen. Deshalb …« »Angebote gab’s genug, das können Sie mir glauben. Junge, als ich in diesem Geschäft anfing, konnte ich einfach mitten am Tag in die Häuser der Leute marschieren und ihre Telefone verwanzen und kriegte noch ein kostenloses Mittagessen dazu. Heute wollen die Weiber ja bloß noch Karriere machen und mit den Männern mithalten, aber damals war das ganz anders. Diese kleinen Hausfrauen waren immer verdammt glücklich, mich zu sehen und …« »Und warum haben Sie dann nie eine anständige Frau aus einer dieser Damen gemacht?«, fragte Beamon und hoffte, dass Goldman ihm jetzt nicht noch sämtliche Einzelheiten seiner sexuellen Abenteuer berichtete. Das würde sein Magen wahrscheinlich nicht verkraften. »Warum eine ganze Kuh kaufen, wenn man die Milch umsonst kriegen kann? Hier links abbiegen.« Er warf Beamon einen kritischen Blick zu. »Aber Sie sind ein anderer Typ als ich, mein Junge. Sehen wir der Sache mal ins Gesicht – Sie sind nicht gerade der bestaussehende Kerl der Welt, ziehen sich schlampig an und … na ja, besonders beliebt sind Sie auch nicht. Soll keine Beleidigung sein.« »Schon recht.« 347
Goldman versetzte ihm einen Klaps auf den Bauch. »Na, wenigstens haben Sie ein bisschen abgenommen. Also, was ich sagen wollte …« »Dass ich nicht wie Sie bin«, seufzte Beamon. »Genau. Mein Junge, wenn eine intelligente, attraktive Frau an Ihnen interessiert ist, greifen Sie am besten schleunigst zu, ehe sie ihre Meinung ändert. So was findet man nicht gleich wieder hinter der nächsten Ecke.« »Ich glaube, sie hat bereits ihre Meinung geändert, Mr. Goldman.« »Ach, Sie haben einfach keine Ahnung von Frauen. Die Weiber ändern ihre Meinungen wie das Wetter.« Beamon unterdrückte einen weiteren Seufzer. Der Alte hatte leicht reden. Wenn eine Frau fand, man ziehe sich komisch an und schaue zu viel Football – da konnte man vielleicht was machen. Bei einer Frau, die glaubte, man habe heimlich kompromittierende Polaroids von ihrer vierjährigen Tochter gemacht, sah das jedoch ganz anders aus. »Ich werde es mit Blumen versuchen«, sagte Beamon. »Das ist die richtige Einstellung, Junge. Weiber lieben Blu… da ist der Verteilerkasten, dort drüben!« Beamon bremste und wollte an den Bürgersteig lenken. »Herrgott, Junge, nicht langsamer werden! Fahren Sie vorbei und parken Sie dort um die Ecke.« Goldman war bereits ausgestiegen, ehe er ganz angehalten hatte. Obwohl er keinen Stock dabeihatte, bewegte er sich erstaunlich flink. Im Licht der Scheinwerfer sah er zwar immer noch aus, als sei er gerade dem Tod von der Schippe gesprungen, doch als er auf dem Rücksitz seine Ausrüstung zu348
sammenkramte, wirkte er voller Tatendurst und um vierzig Jahre jünger. Er war wieder in seinem Element. Goldman reichte ihm einen großen Rucksack und drückte ihm anschließend einen hellroten Werkzeugkasten in die Hand. Beamon folgte ihm, ohne etwas sehen zu können, bis Goldman eine Stirnlampe über seine dicke Wollmütze streifte und nach rechts deutete. Ungefähr drei Meter von der Straße entfernt stand zwischen einigen Kiefern ein Metallkasten, der halb im Schnee versunken war. »Da müssen Sie wohl graben, Mark«, sagte Goldman und stapfte auf den Kasten zu. Seufzend zog Beamon eine zusammenklappbare Armeeschaufel aus dem Rucksack und machte sich daran, den vereisten Schnee vor den Türen zu entfernen. Ungefähr nach der fünften Schaufel überfiel ihn die Übelkeit mit voller Wucht. Er bemühte sich, gar nicht darauf zu achten, aber es half nichts, er musste einfach eine Pause machen, also öffnete er den Reißverschluss des Overalls, den Goldman ihm gegeben hatte, und spürte den kalten Wind auf seiner verschwitzten Brust. »Los, Junge, weiter. Wir haben keine Zeit für eine Kaffeepause.« Nachdenklich schaute Beamon auf die Schaufel und dann auf den Kopf des alten Mannes, ehe er zähneknirschend weitermachte. Zehn elende Minuten später waren die Türen frei. Während Goldman sie mit einem Schlüssel öffnete, ließ Beamon sich in den Schnee fallen. Vielleicht machte ihn die Kälte wieder etwas munterer, wenn er sie lange genug wirken ließ. 349
Der alte Mann fummelte wie ein geschickter Chirurg mit unglaublicher Fingerfertigkeit in dem Bündel von Drähten. Ab und zu schaute er dabei auf einen wirren Schaltplan, den er an die Innenseite einer Tür geheftet hatte. Ein Auto bog um die Ecke und kam in ihre Richtung gefahren. Beamon setzte sich hastig auf, um in Deckung zu gehen, doch Goldman ließ sich gar nicht stören. »Keine Panik, mein Junge. Wir sind bloß ein paar Techniker, die noch spät arbeiten. Jeder erwartet, dass sein Telefon reibungslos funktioniert, aber keiner verschwendet einen Gedanken an die Leute, die dafür sorgen. In fünf Minuten wird sich dieser Autofahrer nicht mal mehr dran erinnern, dass er uns gesehen hat.« Vermutlich hatte er Recht. Beamon ließ sich wieder im Schnee nieder und atmete tief die kühle Luft ein. Er versuchte, alles zu verdrängen und sich nur auf sein Atmen zu konzentrieren, aber immer wieder stiegen Gedanken an die Frauen in seinem Leben in ihm auf. Die Frauen in seinem Leben. Seine Mutter war seit Jahren tot, und seine Schwester hasste ihn, womit nur drei Frauen blieben, die einigermaßen wichtig waren. Jennifer Davis, ein fünfzehnjähriges Mädchen, das er nicht einmal kannte, und die vermutlich das zweite Mädchen sein würde, das er nicht retten konnte. Carrie Johnstone, eine Frau, die ihn für einen kranken Perversen hielt, der scharf auf ihre Tochter war. Und Sara Renslier, die ihn mit allen Mitteln vernichten wollte und ihm, wenn er völlig hilflos geworden war, zweifellos den Todesstoß versetzen würde. Gott. Wie traurig war das. 350
»Bohrer, Mark! Hören Sie auf zu träumen und geben Sie mir den Bohrer!« Beamon kramte aus dem Rucksack das batteriebetriebene Gerät, mit dem Goldman ein kleines Loch in die Seite des Metallkastens bohrte. Dann schob er einen Draht hindurch und machte mit seinen Hexereien weiter. »Mark, in dem Rucksack ist ein weißes Fiberglaskästchen. Ungefähr dreißig Quadratzentimeter groß.« Er deutete auf eine krumme Kiefer hinter dem Verteilerkasten. »Vergraben Sie es dort drüben irgendwo im Schnee. Die Seite mit den beiden Kabeln ist oben. Sorgen Sie dafür, dass das kürzere aus dem Schnee ragt, damit ich drankomme.« »Was ist mit dem langen Kabel?« »Das führen Sie unter dem Schnee bis zu dem Baum hinter Ihnen.« Wortlos nahm Beamon den Kasten und ging mit der Schachtel hinüber zu der Stelle, auf die Goldman gedeutet hatte. »Wie tief?« »So tief wie möglich. Aber sehen Sie zu, dass es nicht auffällt.« Er war gerade fertig geworden und glättete den Schnee ringsum, als er hörte, wie die Türen geschlossen wurden. Goldman nahm ihm die Schaufel ab und begann eine Rinne auszuheben bis zu dem Verteilerkasten, dann zwirbelte er die Drähte zusammen und verlegte sie ordentlich. »War’s das?«, fragte Beamon. Goldman schaltete seine Stirnlampe an. »Nee.« Er zog aus dem Rucksack ein zweites, etwas kleineres Kästchen in graubrauner Tarnfarbe. Er befestigte ein dünnes braunes Kabel daran und reichte es 351
Beamon zusammen mit einem Strick. »Klettern Sie so hoch es geht diesen Baum rauf und binden Sie das am Stamm fest.« Beamon musterte den schneebedeckten Baum. »Sie machen Witze, oder?« »Sie wollen doch, dass es funktioniert, oder?« Goldman deutete auf den Boden, wo Beamon das erste Kästchen vergraben hatte. »Wann immer die Leute von der Kirche jemanden anrufen oder angerufen werden, wird dieses Kästchen das Gespräch über Mobilfunk an uns weiterleiten, und wir kriegen jedes Wort mit. Die Anrufe laufen über Ernies Computer und sicherheitshalber noch auf einen Computer in meinem Apartment.« Er zeigte auf das Kästchen in Beamons Hand. »Das ist der Booster, also der Verstärker.« Seufzend machte Beamon sich daran, den Baum zu erklimmen. Schnee drang in jede Öffnung seines Anzugs. Auf einem stabil aussehenden Ast blieb er kurz stehen und wandte sich um. »Wer zahlt denn für diese ganzen Mobilfunkkosten?« Goldman verdrehte bloß die Augen, was im Mondlicht wegen der absurden Vergrößerung durch seine Brillengläser beinahe gespenstisch wirkte. Beamon kämpfte sich weiter den Baum hinauf. »Ich weiß, ich weiß – welcher Idiot zahlt schon für so was?«
SECHSUNDVIERZIG Beamon stieg aus seinem Auto und sah im Hof vor seiner Wohnung eine Frau und ihren kleinen Sohn, die im Schein 352
der Flutlichter gerade eine Schneeballschlacht machten. Als sie Beamon erkannte, eilte die Mutter auf den Jungen zu und flüsterte ihm leise etwas ins Ohr. Der Junge schaute auf und starrte ihn mit großen Augen an. Das traurige Schauspiel bestätigte ihm nur, was er bereits geahnt hatte. Er musste unbedingt hier weg, ehe seine Nachbarn noch anfingen, Kreuze auf seinem Rasen zu verbrennen. Wenn er blieb, würde es über kurz oder lang Wirbel geben. Rasch überquerte er den Hof und beschleunigte seine Schritte, als er an Carrie Johnstones Haustür vorbeikam. Nach Murphys Gesetz müsste sie sich exakt diesen Moment aussuchen, um in den Laden zu gehen oder den Müll rauszubringen, und im Moment konnte er einfach keine Begegnung mit ihr ertragen. Zum ersten Mal seit Wochen schien Murphys Gesetz jedoch außer Kraft gesetzt, und er erreichte ohne Zwischenfall die relative Sicherheit seines Wohnzimmers. In der Wärme begann er fast sofort zu schwitzen, was seinen Kater noch verstärkte, der nach zwölf Stunden immer noch nicht nachlassen wollte. Dann erinnerte er sich an das Bier, das er weggeworfen hatte, und kramte in seinem Mülleimer, bis er die Flaschen fand. Zwar kam er sich ziemlich jämmerlich vor, als er einige undefinierbare Gemüsereste davon abwusch, doch ein drastischer Kater erforderte drastische Heilmittel. Er schob eine Flasche in den Kühlschrank, drückte den Knopf seines Anrufbeantworters und öffnete die zweite Flasche. »Mark, hier ist Chet. Heben Sie ab, wenn Sie da sind.« Pause. »Hören Sie, ich weiß nicht, was Sie gerade machen, 353
aber hier ist wirklich langsam die Kacke am Dampfen. Ich bin fast den ganzen Tag lang von Jake Layman und ein paar seiner Leute in die Mangel genommen worden. Ich wusste, Sie würden nicht so einfach aufgeben. Rufen Sie mich an, ich will Ihnen helfen.« Beamon wollte schon nach dem Hörer greifen, doch dann zögerte er und löschte die Nachricht. Er musste Chet aus dieser Sache raushalten. Zumindest vorerst. Nach einem warmen Bier und einer kalten Dusche fühlte er sich langsam ein klein wenig besser. Vorhin wäre er vor lauter Zittrigkeit fast von dieser verdammten Tanne gefallen, doch nun ging’s wieder, und vor seinem geistigen Auge tauchten Bilder von Dennys Frühstücksbüfett auf. Ein sicheres Zeichen, dass der Heilungsprozess begonnen hatte. Das Telefon läutete, als Beamon sich gerade abtrocknete. Wahrscheinlich Goldman, der ihm hoffentlich sagen wollte, dass seine technischen Hexereien geklappt und sie die ersten Gespräche schon belauscht hatten. »Mark. Jake Layman.« Na klasse. »Was kann ich für Sie tun, Jake?« Beamon trocknete sich fertig ab und kramte in den Schubladen nach einem Paar Jeans. »Ich möchte, dass Sie nach Phoenix kommen. Heute Abend. Wir müssen reden.« Beamon klemmte sich den Hörer unters Kinn und stieg in seine Hosen. »Würde ich gern, Jake, aber im Moment habe ich einfach nicht die Zeit.« »Hören Sie, Mark, ich habe einige Gerüchte über Sie gehört. Wir …« 354
»Was für Gerüchte, Jake? Haben Sie vergessen, dass ich bereits suspendiert bin? Warum melden Sie also diese Neuigkeiten nicht einfach auch noch an die zuständigen Stellen weiter, damit Ihre Jammerliste vollständig wird?« »Hören Sie, Mark, das FBI darf nicht wieder …« »Was, Jake? Unter Beschuss geraten? Das hat schon mal jemand zu mir gesagt, und ich habe alles auf meine Kappe genommen. Wohin es mich gebracht hat, sehen Sie ja.« »Ich weiß, dass Sie verärgert sind, Mark, aber Sie müssen auch mich verstehen …« »Bei allem Respekt, Jake, darauf scheiße ich«, unterbrach Beamon ihn und knöpfte seine Hosen zu. »Ich habe im Moment genug Probleme und keine Zeit, auch noch an Ihre zu denken.« Damit legte er den Hörer auf. Kaum eine Minute später läutete es an der Tür. »Wenn Sie für das FBI arbeiten, kommen Sie rein«, brüllte er. »Wenn nicht, bin ich gleich da.« Er hörte, wie die Tür sich öffnete, und spähte ins Wohnzimmer. Die beiden jungen Agenten, die sich befangen ihre Füße abwischten, waren aus seinem Büro. Dieser elende Layman hatte nicht einmal den Anstand, ein paar von seinen Jungs zu schicken. »Wieso habt ihr so lange gebraucht?«, rief Beamon scheinbar unbekümmert, obwohl er gleichzeitig krampfhaft überlegte, was er machen sollte. »Ich ziehe mich gerade an. Dauert nur eine Sekunde.« Die beiden schauten drein, als würden sie vor Verlegenheit gleich im Boden versinken. »Mr. Layman hat uns gebeten, Sie … Sie nach Phoenix zu 355
fahren«, sagte Kate Spelling. Ihr Begleiter musterte angelegentlich einen schlecht gerahmten Druck an der Wand. Beamon verschwand wieder im Schlafzimmer, ließ jedoch die Tür offen. »Hab gerade mit ihm telefoniert, Kate. Will nur rasch mein Zeug holen.« »Klar. Lassen Sie sich Zeit.« Er hörte die Erleichterung in ihrer Stimme und ging ins Bad, von wo aus er zielsicher Toilettenartikel in einen Koffer auf dem Bett warf. Nachdem er Kleidung für eine Woche dazugepackt hatte, kniete er sich vor seinen Schrank und kramte einige Zeit in dem Durcheinander, bis er schließlich die Schuhschachtel fand, in der er Erinnerungsstücke an ehemalige Fälle aufbewahrte. Unter den alten Zeitungsausschnitten und Fotos war noch der gefälschte Führerschein, den er vor ein paar Jahren bei einem Auftrag als verdeckter Ermittler benutzt hatte. Er steckte ihn ein, dann nahm er ein Hemd von einem Bügel und streifte es sich über. An die Waffe war nicht so leicht heranzukommen – er musste sie behutsam unter einem Stapel Schachteln herauszerren. Er schaute sich kurz um, ob er unbeobachtet war, und überprüfte sie vorsichtig, und sah, dass sie nicht geladen war. Es dauerte eine weitere Minute, um die Schachtel mit Munition zu finden. Er warf sie über seine Schulter, traf exakt den Koffer und kroch endlich aus dem Schrank. Nachdem er den Koffer geschlossen hatte, streifte er seinen hellroten Parka über und atmete tief durch. Nach diesem Schritt würde es kein Zurück mehr geben. Wenn es ihm nicht gelang, Jennifer zu retten, konnte er genauso gut zu Sara Renslier gehen und ihr eine geladene Pistole reichen. 356
Beamon nahm den Koffer in eine Hand und die Waffe in die andere und ging hinaus ins Wohnzimmer. Die beiden jungen Agenten erstarrten. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich bereits eine Verabredung habe. Sagen Sie Jake, er muss sich noch etwas gedulden.« Stumm schauten sie ihm hinterher, als er aus der Küche ein Steakmesser holte. »Bitte … Mark. Mr. Layman war ziemlich aufgebracht. Sie müssen wirklich mit uns kommen.« »Nein, muss ich nicht, Kate. Ich bin nämlich derjenige, der eine Knarre hat.« Er ging zur Tür und schaute über die Schulter auf die beiden jungen Leute, die unglückselig in seinem Wohnzimmer standen. »Layman wird euch schon nicht den Kopf abreißen, dass ich euch entwischt bin. Sagt ihm, ich sei durchgedreht und hätte eine Waffe gezogen. Was hättet ihr tun sollen? Ihr konntet euch ja nicht in einem Wohnkomplex voller Menschen auf eine Schießerei mit mir einlassen. Jetzt wartet ihr ungefähr fünf Minuten lang hier, okay? Im Kühlschrank ist noch ein Bier. Könnt ihr euch teilen.« Er schloss die Tür und wusste, dass sie genau tun würden, was er ihnen gesagt hatte. Im Nachhinein musste er Layman dafür dankbar sein, dass er nicht seine eigenen Leute geschickt hatte. Bei erfahrenen Agenten wäre er nie damit durchgekommen, sondern hätte schändlich aus dem verdammten Fenster kriechen müssen. Ihr Dienstwagen stand nicht weit weg; er stieß das Steakmesser in die Reifen auf der Beifahrerseite, ehe er in sein Auto sprang und vom Parkplatz fuhr. Im Rückspiegel warf er einen letzten Blick auf die Wohnung, die in den vergangenen 357
zwei Monaten sein Zuhause gewesen war. Kurz darauf sah er hinter sich ein Auto der Kirche. Seine Verfolger wurden zunehmend hartnäckiger. Es würde zwar einige trickreiche Manöver erfordern, aber es war Zeit für ihn, endgültig unterzutauchen. Sein Handy begann zu läuten, als er eine Kurve nahm und in Richtung Highway raste. Sobald er die Kurve hinter sich hatte, griff er danach und schaltete es ab.
SIEBENUNDVIERZIG »Sind Sie sicher, dass da nichts ist?«, fragte Beamon und schaute sich misstrauisch auf dem leeren Parkplatz um. Jack Goldman verstaute irgendein geheimnisvolles Gerät auf dem Rücksitz seines Wagens. »Jawohl, bin ich. Hab’s sogar zweimal nachgeprüft. Ihr Auto ist sauber.« Dann hatte er es also geschafft. Bei seinem wahnsinnigen Fahrstil hätte ihm niemand folgen können, ohne dass er es gemerkt hätte, selbst wenn mehrere Fahrer, die über Handy miteinander in Kontakt standen, sich abgewechselt hätten. Beamon schaute hinauf zum Himmel. Es schneite dicke Flocken, und die Sicht war katastrophal. Unmöglich, ihn aus der Luft aufzuspüren. »Okay, dann lassen wir die Karre hier stehen, Mr. Goldman.« Er öffnete die Beifahrertür, holte aus dem Handschuhfach den Rest seiner fünftausend Dollar und hievte seinen Koffer vom Sitz. »Jetzt brauche ich Ihre Hilfe, um mir einen Wagen zu mieten.« 358
»Wo ist Ihre Kaffeekanne? Ich brauche dringend eine Dosis Koffein«, sagte Beamon und rückte einen wackeligen Stapel Teller zurecht, ehe alle ins Waschbecken kippten. Ernestine Waverly rollte zur Küchentür. »Ich trinke keinen Kaffee, Mark. Bekommt mir nicht. Im Kühlschrank ist Cola.« Beamon nahm sich eine Dose heraus und leerte sie fast in einem Zug. Es war nicht ganz das Richtige, aber besser als nichts. Dass er wieder angefangen hatte zu saufen, hatte den gewünschten Effekt gehabt – er dachte so gut wie nicht mehr daran, dass er innerhalb von zweiundsiebzig Stunden alles verloren hatte, was ihm etwas im Leben bedeutete. Problematisch war nur, dass es ihm fast unmöglich war, überhaupt noch geradlinig zu denken. »Alles okay, Mark?« »Geht schon, danke«, sagte er und folgte ihr ins Büro, wo Jack Goldman unruhig auf und ab tigerte. »Ich verstehe gar nicht, warum Sie so aufgebracht sind. Ihre Zauberkästchen arbeiten doch tadellos – wo liegt also das Problem?« »E-Mail«, knurrte Goldman mürrisch. »Hab nie viel damit anfangen können.« »Sie wissen aber, wie es funktioniert?«, fragte Ernie. »So ungefähr. Man tippt was in seinen Computer und schickt es auf den Computer von jemand anderem – wie ein Fax ohne Papier.« »Das ist im Wesentlichen richtig. Auf allen sechs Leitungen kriegen wir einwandfrei die Telefongespräche mit, die aus dem Haus von Kneiss kommen«, erwiderte sie mit einem anerkennenden Blick in Richtung Goldman. »Ich dachte, es wären acht Leitungen.« 359
»Sind es auch. Eine ist für das Sicherheitssystem, deshalb kommen dort keine Anrufe durch. Die andere ist für einen Computer. Über diese Leitung laufen die E-Mails.« »Und?« »Sie sind verschlüsselt. Wir können sie nicht lesen.« »Verschlüsselt? Sie meinen codiert?« Beamon sank auf einen Stuhl und stellte die halb leere Coladose auf den Tisch. »Was zur Hölle haben die vor?« »Im Grunde hat das gar nichts zu bedeuten«, erklärte Ernie. »Verschlüsselung ist nicht ungewöhnlich. Das Programm, das sie benutzen, ist sogar sehr verbreitet – man kriegt es beim Kauf der E-Mail-Software. Ich benutze es auch.« »Warum?« »Ich will doch nicht, dass die Hälfte der Leute im Internet meine Post liest.« Beamon kaute nachdenklich an seiner Unterlippe. »Ich habe einen ziemlich guten alten Freund beim Geheimdienst. Vielleicht ist er trotz allem immer noch bereit, mir zu helfen.« Ernie zupfte nervös an ihrem Kaftan, der heute mit Äpfeln und Birnen bedruckt war. »Ich glaube nicht, dass uns das was nutzen würde, Mark. Selbst mit ihren Mitteln würden sie Jahre brauchen, den Verschlüsselungscode zu knacken …« »Was? Der Geheimdienst soll ein Verschlüsselungsprogramm nicht knacken können, das ich in jedem Laden kaufen kann? Sie …« »Vergessen Sie es«, schnaubte Goldman. »Wir reden hier über einen Verschlüsselungscode, der mit Tausenden von Zeichen arbeitet, was buchstäblich unendlich viele von möglichen Kombinationen ergibt.« Ernie nickte zustimmend und schaute hoffnungsvoll zu 360
Beamon. Zweifellos wartete sie darauf, dass ihn eine göttliche Eingebung überkam. Aber leider fühlte er nicht den geringsten Funken einer Inspiration. »Kommen Sie, Mr. Goldman«, sagte Beamon. »Sie können doch sogar ein Gespräch zwischen zwei Toten aufzeichnen.« Goldman begann wieder auf und ab zu tigern. »Wenn ich dort reinkäme und ein bisschen Zeit hätte, mir ihre Computer vorzunehmen, könnte ich vielleicht was …« Beamon ließ seinen Kopf auf die Lehne des Sessels fallen und starrte an die Decke. »Ich habe mir fast den Hals gebrochen, als ich in einem Schneesturm einen vereisten Baum hochgeklettert bin, und jetzt wollen Sie mir erzählen, es war alles umsonst?« »Schneesturm, guter Witz«, brummte Goldman. »Außerdem kriegen wir die Telefongespräche.« »Bloß bestellen sie per Telefon wahrscheinlich höchstens mal eine Pizza. Aber gerade das, was für uns von Interesse wäre, läuft über E-Mail. Scheiße …« Was zur Hölle sollte er jetzt tun? Einen Panzer mieten und damit das Eingangstor zu Kneiss’ Anwesen niederwalzen? Wie er die Kirche kannte, stand dann vermutlich ein viel modernerer Panzer mit mehr Feuerkraft auf der anderen Seite und erwartete ihn schon. »Es gäbe was, das wir versuchen könnten«, meinte Ernie. »Ach, kommen Sie, Frau!«, schnaubte Goldman. »Für irgendwelche Experimente haben wir keine Zeit! Verkomm ist die Antwort. Da müssen wir ansetzen.« Beamon winkte nur ab. »Weiter, Ernie. Das wäre?« »Wir könnten der Kirche ein Update für die Verschlüsselungssoftware schicken.« 361
»Wie bitte?« »Ein Freund von mir ist ebenfalls Programmierer, und wir haben mal aus Spaß versucht, in den Computer des anderen einzubrechen, Botschaften zu hinterlassen, Ordner zu verschieben, so was in der Art. Nun, irgendwann kam ich auf die Idee, die Verschlüsselung seiner E-Mails zu knacken – es war das gleiche System, das die Kirche benutzt.« »Sie haben doch gesagt, das würde Jahre dauern.« »Mit normalen Mitteln schon. Aber ich habe mir die Verschlüsselungssoftware gekauft und sie ein wenig umprogrammiert.« »Umprogrammiert?« Sie nickte. »Ich habe sie so umgeschrieben, dass er mit jeder verschlüsselten E-Mail, ohne es zu merken, gleichzeitig sein Passwort mitschickt. Dann habe ich einen großen offiziell aussehenden Aufkleber gedruckt mit dem Hinweis, in der Version, die er gekauft habe, sei ein Programmfehler, der Computerabstürze verursache. Ich hab alles wieder eingeschweißt, damit es fabrikneu aussah, und es ihm dann geschickt.« »Und es hat funktioniert?« »N … nein.« Beamon seufzte und zerquetschte die Coladose in seiner Hand. »Also nicht.« »Aber ich weiß, warum. Wie ich schon sagte, mein Freund Rick ist Programmierer und wollte natürlich ganz genau wissen, was da nicht stimmte. Er rief die Softwarefirma an und fand heraus, dass es ein Schwindel war.« Beamon überlegte für einen Moment und wandte sich dann an Goldman. »Könnten Sie nicht so eine 800er-Leitung 362
installieren? Wir geben diese Nummer dann auf der Software an mit dem Hinweis, es sei eine spezielle Hotline für dieses kleine Problem.« Der alte Mann wirkte zunehmend gereizter. »Könnte ich, wenn es nicht komplette Zeitverschwendung wäre. Sie wissen doch genau, dass wir nur noch eine Woche Zeit haben, das haben Sie heute Morgen selbst gesagt! Falls die Kirche tatsächlich darauf reinfallen würde – wer weiß, wann sie sich bequemen, dieses gottverdammte Update zu installieren? Bis dahin ist das Mädchen wahrscheinlich längst tot und Sie wahrscheinlich auch.« »Mein Leben haben sie ziemlich rasch und gründlich ruiniert«, sagte Beamon. »Deshalb kann man wohl davon ausgehen, dass sie sich um ihre Computer mit der gleichen Sorgfalt kümmern. Also los, Ernie. Wir haben nichts zu verlieren.« »Herrgott im Himmel, Mark!«, rief Goldman. »Wachen Sie auf! Wir müssen uns auf Verkomm konzentrieren, damit wir was gegen diese Bande in die Finger kriegen.« Beamon zuckte die Schultern. »Ich bin Ihrer Meinung, Mr. Goldman, aber bislang habe ich keinen brauchbaren Vorschlag von Ihnen gehört. Sie haben selbst gesagt, dass es eine Armee von Spezialisten Ihres Kalibers erfordern würde, um ihnen auf die Schliche zu kommen. Und ich bezweifle, dass sie uns in ihre Zentrale einladen und ihre Bänder vorführen. Nein, falls Sie mir keinen konkreten Vorschlag machen können, ist Ernies Idee noch am besten. Ernie, können Sie dieses Zeug morgen abschicken?« »Ich habe es sogar noch hier. Wenn Sie es in die Stadt bringen und in Folie einschweißen lassen, können wir es ihnen heute schon schicken.« 363
Goldman packte ein halb volles Glas, das neben ihm auf dem Tisch stand, und schleuderte es wütend durchs Zimmer. Beamon duckte sich unwillkürlich, als es gegen die Wand knallte. »Wir können es uns nicht leisten, unnötig Zeit zu verplempern, sonst ist dieses kleine Mädchen tot! Wir müssen an Vericomm rankommen!« »Verdammt, Mr. Goldman! Was soll ich denn tun? Die Firma in die Luft sprengen? Das würde ich sogar, bloß würde es uns nicht mal was nutzen!« Goldman packte seinen Mantel und marschierte zur Tür. »Hier muss jetzt einer endlich mal seinen Hintern hochkriegen und was tun!«, knurrte er. »Jack, warten Sie«, rief Ernie, doch Goldman war bereits im Flur verschwunden. »Herrgott«, seufzte Beamon, als er die Haustür zuschlagen hörte. Ernie schaute ihn fast vorwurfsvoll an. »Was ist?« »Finden Sie nicht, Sie sind ein wenig hart mit ihm gewesen, Mark?« »Jetzt nerven Sie mich nicht auch noch, Ernie. Der Kerl ist ein elender Stänkerer, der bloß will, dass immer alles nach seinem Kopf geht.« »Er hat gerade eine schwere Zeit, Mark. Sie sollten wenigstens versuchen, ein bisschen netter zu sein.« Beamon traute kaum seinen Ohren. Sein Leben war komplett ruiniert, und er konnte von Glück sagen, wenn er sich nächsten Monat um diese Zeit nicht im Gefängnis wiederfand oder irgendwo verscharrt worden war. Und nun sollte er zu allem Überfluss auch noch nett zu Jack Goldman sein, diesem alten Ekel. 364
»Sie müssen verstehen, dass Jack zum ersten Mal in seinem Leben auf einen Gegner trifft, der ihm überlegen ist. So etwas ist ihm noch nie passiert, und er fühlt sich plötzlich alt.« »Er ist alt«, entgegnete Beamon. »Er tut sein Bestes, Mark, und er möchte so gern beweisen, dass er noch zu etwas nutze sein kann. Und er will Ihnen unbedingt helfen. Ich glaube, es ist Ihnen gar nicht klar, wie sehr er Sie bewundert und wie viel ihm an Ihnen liegt.« Beamon wollte etwas einwenden, doch sie ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. »Und er möchte Jennifer retten. Es ist schwer zu erklären, aber er hat ja keine eigenen Kinder und beinahe das Gefühl, wenn er Sie und das Mädchen retten kann, wäre das für ihn so ein kleines Stückchen Unsterblichkeit.« »Woher wissen Sie das alles, Ernie?« »Er unterhält sich gelegentlich mit mir und erzählt mir manches.« Beamon hatte noch nie gehört, dass Jack Goldman irgendjemandem etwas anderes erzählt hatte, als dass die ganze Welt voller Idioten sei. »Auf meine Weise mag ich diesen alten Kerl gern. Wirklich wahr. Aber ich weiß nicht, was er von mir will.« »Gar nicht viel, Mark. Ihren Respekt. Vielleicht ein bisschen Freundschaft.«
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ACHTUNDVIERZIG Das Gebäude, in dem sich die Zentrale von Vericomm befand, wirkte leer und verlassen. Im Lauf der letzten Stunde waren die meisten Lichter erloschen, und jetzt spiegelte sich in der dunklen Glasfassade nur noch der Schnee, der durch die dünne Bergluft wirbelte. Jack Goldman machte es sich ein wenig bequemer auf dem engen Autositz und ließ seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen, was er neuerdings immer öfter tat. Er dachte an die schlichte Eleganz analoger Telefonleitungen, als es noch keine digitalen Übertragungen, Verschlüsselungen und Computersysteme gab, die tausend Male schneller waren als er und zehnmal so gerissen. An die Zeit, als man auf Horchposten in irgendwelchen Kabinen hockte, die nach Kaffee, Tabak und Schweiß stanken, an die Spulentonbänder, auf denen die Stimmen von berühmt-berüchtigten Gangstern aufgezeichnet waren, die endlos mit ihren Weibergeschichten und ihrem Geld prahlten und damit angaben, wen sie umgelegt hatten. Das Gebäude von Vericomm war wie ein Denkmal des neuen Zeitalters, mit dem er nichts zu schaffen haben wollte. Es beherbergte ein so irrsinniges System, dass er es mit seinem uralten Kopf kaum begreifen und gegen das er mit all seiner Kunst nichts ausrichten konnte. Er war so tief in seine Gedanken versunken, dass er den Wächter erst bemerkte, als es ans Fenster klopfte. Ruhig kurbelte er die Scheibe ein Stück herunter und lächelte ihm großväterlich zu. »Hallo, junger Mann.« Obwohl er sich darüber ärgerte, dass man ihn für einen 366
harmlosen alten Knacker hielt, war es im Lauf der letzten zwanzig Jahre manchmal ganz nützlich gewesen – so auch diesmal. Der Wachmann wirkte eher besorgt als grimmig. »Sir, Sie können hier nicht halten, dieser Parkplatz ist reserviert.« »Tut mir Leid. Mir war nur gerade ein wenig übel, deshalb bin ich einfach hier eingebogen, um kurz auszuruhen. Ich habe nicht gemerkt, dass es verboten ist.« »Es ist nicht verboten«, sagte der Wächter ein wenig unsicher. »Der Platz ist nur reserviert. Sie können sich ruhig eine Weile ausruhen. Der Mann, dem dieser Platz gehört, kommt erst morgen früh.« »Ich will Ihnen keine Probleme machen«, erwiderte Goldman und sorgte dafür, dass der Wächter sah, wie seine Hand zitterte, als er nach dem Zündschlüssel tastete. »Ist wirklich kein Problem. Gibt es jemanden, den ich anrufen könnte? Vielleicht könnten Sie sich abholen lassen? Sie dürfen Ihren Wagen gern über Nacht auf einem der nicht reservierten Plätze abstellen.« Goldman schüttelte den Kopf. »Das ist nett von Ihnen, aber es geht schon wieder. In meinem Alter muss man nur ab und zu mal ein Päuschen einlegen.« Der Wächter richtete sich auf und klopfte auf das Wagendach. »Okay. Wenn Sie Ihre Meinung ändern oder Hilfe brauchen, ich bin da drin, gleich hinter der Eingangstür.« Der junge Mann war gerade wieder im Gebäude verschwunden, als ihn ein krampfartiger Schmerz überfiel. Goldman beugte sich über das Lenkrad und rang keuchend nach Luft. Die Attacken dauerten immer länger, und die Zeit zwischen ihnen wurde zunehmend kürzer, da der Krebs sei367
nen Magen fast zerfressen hatte und sich nun über die übrigen Organe hermachte. Vor zwei Jahren hatte er die düstere Vorhersage seines Arztes, dass ihm noch sechs Monate blieben, einfach ignoriert, doch jetzt spürte er, dass das Ende näher kam. Wenn der Schmerz für kurze Zeit aufgehört hatte, versank er jedes Mal in eine friedvolle Betäubung. Wahrscheinlich war das der Tod, der sich bemühte, ihn endgültig in seine Klauen zu kriegen. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Nur noch lange genug, um Mark aus dem Schlamassel zu holen, in dem er sich verfangen hatte. Und das Mädchen zu retten. Goldman lächelte, als er sich an den jungen Mark Beamon erinnerte. Ein smarter Bursche, weiß Gott, gescheit und mit einem scharfen Verstand, aber schon damals hatte er das Talent gehabt, sich dauernd in die Bredouille zu bringen. Und daran hatte sich bis heute nichts geändert. All diese Erinnerungen schüttelte Goldman schleunigst ab, als ein kleiner Mann mit einer Aktentasche aus der gläsernen Eingangstür des Gebäudes kam. Er kannte Eugene Marino, den Leiter der technischen Abteilung von Verkomm, zwar nicht, aber er hatte neben einem der wenigen Autos gehalten, die noch auf dem großen Parkplatz von Vericom standen. Auf der Bordsteinkante prangte in gelben Buchstaben, die teilweise vom Schnee verdeckt waren, das Wort »MARINO«. Goldman öffnete die Tür, stützte sich auf seinen Stock und stieg aus. »Mr. Marino?« Der Mann schaute auf und zog seine Schlüssel aus der Tasche. »Ja, ich bin Eugene Marino. Kann ich Ihnen helfen?« 368
Goldman humpelte mühsam über den vereisten Asphalt auf ihn zu, ohne auf den Schmerz in seinem Bein und den neuen Krampf in seinem Magen zu achten. »Ja, ich denke, das können Sie.« Er zog eine Waffe aus seiner Jacke. Marino starrte ihn an und wusste offenbar nicht, was er von der Situation halten sollte. »Ist das … ist das ein Überfall?«, fragte er ungläubig. Goldman konnte sich kaum das Lachen verkneifen. In seinem Alter den ersten Überfall zu begehen – das war wirklich eine denkwürdige Premiere.
NEUNUNDVIERZIG Jennifer Davis schaute auf den Teller in ihrem Schoß und zwang sich, noch einen Bissen zu essen. Sie kaute langsam, brachte ihn aber kaum hinunter. Es fiel ihr immer schwerer zu essen. Oder zu schlafen. Gymnastikübungen zu machen. Überhaupt irgendwas zu tun. Schon beim Aufwachen zitterte sie am ganzen Körper, und sie zitterte noch immer, wenn sie endlich das Licht ausschaltete und hoffte, dass sie rasch einschlief. Es schien, als habe sie alle Kraft und jeden Antrieb verloren und vegetiere nur noch so dahin. Dass die Zeit verging, merkte sie lediglich an ihrer behelfsmäßigen Uhr im Waschbecken. Je näher der Karfreitag kam, desto mehr ließ sie ihre innere Uhr, die ihr sagte, wann sie müde, wann sie hungrig war, im Stich. 369
Nur noch sieben Tage. Bis jetzt hatte sie durchgehalten, weil sie immer gehofft hatte, flüchten zu können. Inzwischen hatte sie diese Hoffnung verloren. Sie hatte keinen Menschen gesehen seit diesem Tag, an dem Sara von ihr verlangt hatte, die Ältesten zu treffen. Der Teller mit Essen erschien nur einmal alle vierundzwanzig Stunden – immer nachts, wenn sie schlief. Sie fiel zurück aufs Bett, schloss die Augen und versuchte, die Panik zu unterdrücken, die sie überkam. Wie konnte ihr das alles nur passieren? Sie war erst fünfzehn und hatte nie einem anderen Menschen irgendwas getan. In der letzten Woche hatte sie in ihren wachen Stunden versucht, ein gesamtes Leben zu leben in der Zeit, die ihr noch blieb. Ausführlich und in lebhaften Einzelheiten malte sie sich eine Zukunft aus, die sie nie haben würde. Sie stellte sich ihre Abschlussfeier an der Highschool vor, hörte die Stimme der Direktorin, die durch das Auditorium hallte, und sah die hellrosa Tennisschuhe, die unter ihrem schwarzen Talar hervorspähten. Sie konnte die Spätsommersonne auf ihrem Gesicht spüren, als sie ihr Auto belud und ins College fuhr. Sie stellte sich ihren Schlafsaal vor, die albernen Streitereien mit ihren Zimmergenossinnen, und erlebte, wie sie das erste Mal mit einem Jungen schlief. Dann wanderten ihre Gedanken weiter. Ihre Hochzeit. Der Schmerz bei der Geburt ihres ersten Kindes. Die Entdeckung der ersten grauen Haare. Und eines Nachts in ferner Zukunft ging sie leicht gebeugt zu ihrem Bett und legte sich hin, nachdem sie gerade mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn telefoniert hatte. De370
ren Sohn – ihr Enkel – erwartete sein erstes Kind. Sie würde das Licht ausschalten und lächelnd das letzte Mal die Augen schließen.
FÜNFZIG »Dieses Ding macht mich noch ganz verrückt, Mark«, stöhnte Ernie und hielt sich die Ohren zu. Beamon zog sein Handy aus der Tasche. Er hatte es vor ein paar Stunden endlich wieder angestellt – aus Sorge, etwas Wichtiges zu verpassen. Seither läutete es fast ununterbrochen. »Entweder gehen Sie dran, oder Sie stellen es wieder ab«, verlangte Ernie. Beamon seufzte und drückte einen Knopf. »Ja?« »Was zur Hölle treiben Sie eigentlich?!« Er hielt das Gerät unwillkürlich ein Stück von seinem Ohr weg. »Jake. Was kann ich für Sie tun?« »Kate Spelling hat mir erzählt, Sie hätten sie mit einer Waffe bedroht!« »Melodramatisch, aber korrekt.« »Hören Sie, Mark – ich weiß, Sie spielen gern den einsamen Wolf, aber diesmal sind Sie zu weit gegangen. Es geht jetzt nicht mehr bloß darum, dass Sie Ihren Job so gut wie los sind. Über kurz oder lang werden Sie per Haftbefehl gesucht, und dann kommt diese ganze Sache an die Öffentlichkeit. Der Direktor ist außer sich, und ich kann ihn kaum noch zurückhalten. Lassen Sie sich von mir helfen.« 371
Beamon verdrehte die Augen. »Sie wollen mir helfen?« »Jawohl, Mark. Ich weiß, Sie schätzen ein offenes Wort, deshalb will ich Klartext reden. Ich schere mich einen Scheiß um Sie und kriege direkt einen Ständer, wenn ich mir vorstelle, dass Sie von einem Bus überfahren werden. Aber trotzdem bin ich vermutlich der beste Freund, den Sie momentan haben.« Ist zwar traurig, aber möglicherweise wahr, dachte Beamon. »Keiner von uns will, dass diese Geschichte in sämtlichen Zeitungen breitgetreten wird. Ich will es nicht, weil ich mir dadurch die Aussicht auf eine Beförderung vermassele, und Sie wollen es nicht, weil Sie sich das ganze Leben vermasseln. Also, bewegen Sie Ihren Hintern hierher, damit wir versuchen können, dieses Chaos wieder in den Griff zu kriegen, ehe es zu spät ist.« »Ich weiß Ihre Ehrlichkeit zu schätzen, Jake, aber es ist bereits zu spät.« »Nein, ist es nicht, Mark. Nur …« »Beruhigen Sie sich, Jake. Das Leben als Flüchtling gefällt mir nicht so besonders.« »Na also. Und wann kommen Sie?« »Weiß ich noch nicht. Bald. Ich habe nur noch einiges zu erledigen.« »Das genügt nicht, Mark. Der Direktor kommt am Ersten hergeflogen, und dann ist es wirklich zu spät, darauf können Sie sich verlassen.« »Tun Sie, was Sie tun müssen, Jake.« Beamon beendete die Verbindung und schaute Ernie an. »Die Sache wird immer schlimmer. Ich glaube, es ist Zeit, dass wir beide uns trennen.« 372
Sie starrte ihn entsetzt an. »Nein! Wie können Sie so was sagen? Das alles geht mich genauso viel an wie Sie. Ich muss bei Ihnen bleiben.« »Weil Gott es Ihnen gesagt hat?« »Sie lachen hinter meinem Rücken über mich, das weiß ich. Jack auch. Aber ich habe nun mal meinen Glauben. Sind Sie sicher, dass es keinen Gott gibt? Und dass er uns nicht zusammengeführt hat, um seine Kirche zu retten?« »Bin ich nicht«, erwiderte Beamon ehrlich. »Und ich gebe auch zu, dass ich mit diesen Ermittlungen keinen Schritt weitergekommen wäre, wenn Sie nicht gewesen wären. Aber die Sache eskaliert immer mehr, und ich will nicht, dass Sie zu Schaden kommen.« Beamon deutete auf ihre Computer. »Wir können die Anrufe auch in Mr. Goldmans Apartment empfangen, wo ich wohne, und von dort aus sehen, was …« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Was können die Kneissianer mir denn noch antun, Mark? Schauen Sie mich an! Schauen Sie sich um! Ich habe dieses Haus nicht mehr verlassen, seit ich hier eingezogen bin. Und was ich mir selbst angetan habe, sehen Sie ja – ich kann kaum noch laufen. Sie und Jack sind vermutlich die besten Freunde, die ich auf der Welt habe – und ich habe Sie gerade erst kennen gelernt. Was kann mir schon noch passieren?« »Man könnte Sie umbringen, Ernie. Solange Sie atmen, können Sie etwas verändern und sich zurückholen, was man Ihnen genommen hat.« »Glauben Sie etwa, ich hätte Angst vor dem Sterben?«, fragte sie entrüstet. »Ich hoffe es, Ernie. Ich habe es jedenfalls.« Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Danke. Danke, 373
dass Sie sich um mich Sorgen machen. Aber das brauchen Sie wirklich nicht. Dieser Traum, den ich immer wieder habe, geht jede Nacht ein wenig weiter. Jetzt sehe ich auch Albert. Er wartet auf mich.« Beamon musterte sie besorgt. »Ernie, Sie machen mir langsam Angst. Sie werden nicht sterben.« »Das spielt keine Rolle«, erwiderte sie ruhig und gelassen. »Ich weiß, was ich tun muss, und ich weiß, warum. Eigentlich zum ersten Mal. Sie können sich nicht vorstellen, was das für ein Gefühl ist, mit absoluter Sicherheit zu wissen, dass es einen Gott gibt und dass man für ihn wichtig ist. Dass man von ihm auserwählt worden ist. Und Sie hat er ebenfalls ausgewählt, Mark. Aber Sie glauben es einfach nicht, stimmt’s?« »Ehrlich gesagt, ich habe nie viel mit Gott anfangen können, Ernie.« »Aber er mit Ihnen.« Sie rollte zu einem Tisch, auf dem sich sonst lauter Computerkram gehäuft hatte. Jetzt war alles beiseite geräumt, um Platz zu machen für ein neues blaues Telefon. »Das ist für die 800er-Nummer.« »Die angebliche Hotline wegen dieses E-Mail-Updates?«, fragte Beamon und war froh, dass sie das Thema wechselte. Ernie nickte. »Sie haben noch nicht angerufen. Aber ich habe dafür gebetet.« Beamon lächelte höflich. Was zur Hölle sollte er mit ihr machen? Sein Leben lang hatte er grundsätzlich immer getan, was er für richtig hielt – ganz egal, wie verheerend die Konsequenzen waren und selbst wenn er dadurch wie ein Arsch dastand. Aber was war in diesem Fall das Richtige? Er 374
könnte auf der Stelle gehen, von Goldman die Weiterleitung der Telefonate unterbrechen lassen und nie wieder Kontakt mit ihr aufnehmen. Dann wäre sie vermutlich in Sicherheit, aber würde er es ohne ihre Hilfe schaffen, Jennifer zu finden? Und war Ernie wirklich in Gefahr? Er hatte immer sehr darauf geachtet, dass ihm niemand hierher gefolgt war. Die Kirche wusste also gar nicht, dass sie sich kannten … Ein Telefon begann zu läuten, und Beamon schaute automatisch zu dem blauen Apparat auf dem Tisch. »Entschuldigung, Mark«, sagte Ernie und hob das grüne neben ihrem Computer ab. »Hallo? Oh, Sekunde mal, ich will nur rasch auf Lautsprecher umstellen.« Sie legte den Hörer zur Seite und tippte kurz auf ihre Tastatur. »Jack, können Sie mich hören? Mark ist auch hier.« »Laut und deutlich, Ernie. Wie geht’s, Mark?« Er klang irgendwie merkwürdig – richtig aufgekratzt, ja fast glücklich. Vielleicht lag das aber auch nur an den Computerlautsprechern. »Alles okay, Mr. Goldman. Wie ist es mit Ihnen? Sie klingen ein bisschen komisch.« »Mir geht’s prima. Hab einen wunderbaren Abend. Ernie, ich schicke Ihnen gerade was rüber auf Ihren Computer über die Nummer sieben-drei-vier-zwo. Können Sie bestätigen, dass es ankommt?« Ernie rollte zu einem anderen Computer und tippte mit ihrem Zeigefinger auf die Maus, worauf der Monitor aufleuchtete. »Ja, es kommt was.« »PHANTASTISCH!« Beamon hatte Goldman noch nie so gehört und fragte sich mit zunehmendem Unbehagen, ob er jetzt endgültig 375
übergeschnappt war. Wäre in seinem Alter kein Wunder. »Was schicken Sie denn da, Mr. Goldman?« »Einige sehr interessante Audiodateien. Wir hatten Recht mit Vericomm, Junge.« Beamon stand auf, ging zögernd zu Ernie und beugte sich dicht an das Mikrofon neben ihrem Computer. »Wie bitte?« »Vericomm hat tatsächlich die Ferngespräche von Nickeline aufgezeichnet. Ich schicke ihr Archiv auf Ernies Computer.« »Wollen Sie mich verarschen?« »Ganz und gar nicht.« »Mensch, Sie sind ein Genie, Mr. Goldman«, rief Beamon aufgeregt. »Hab ich schon immer gewusst. Der Beste, den es je gegeben hat.« »Ich fange an mit dem Zeug Eins-A-A«, sagte Goldman. »Wenn ich es schaffe, mache ich mich danach noch an die nicht ganz so wichtigen Bänder.« »Eins-A-A?« »O Mark, dieses System ist ein reines Wunder. Sie können sich das gar nicht vorstellen.« Seine Stimme klang auf einmal fast ehrfürchtig. »Alle Anrufe laufen durch das Computersystem hier im Zentralbüro von NickeLine. Anhand der PIN, die man eingibt, wissen sie gleich, wer der Anrufer ist, und das Gespräch erhält sofort einen speziellen Code. Priorität eins bedeutet, dass die Person wichtig ist. Sie zum Beispiel, als Leiter des Flagstaff-Büros, wären jemand mit Priorität eins. Ein Senator ebenfalls.« »Wofür stehen die Buchstaben?« »Der erste bezieht sich auf die Schlüsselwörter. Die Computer haben hier eine wirklich fabelhafte Spracherkennungs376
software, die auf bestimmte Worte reagiert. Bestechung, Sex, Töten, Kneiss, Evolution und Geld sind ein paar, dazu etliche Schimpfwörter. Sie misst außerdem die Lautstärke aufgrund der Tatsache, dass es vermutlich um was Interessantes geht, wenn die Leute brüllen. Falls bei einer wichtigen Person die richtigen Schlüsselbegriffe auftauchen, erhält das Gespräch den Code Eins-A, und es wird zu einer Gruppe von Mitarbeitern weitergeleitet, die es sich sofort anhören.« »Habe ich schon erwähnt, dass Sie ein Genie sind?« Beamon hatte zum ersten Mal seit einer Woche das Gefühl, dass er sich aus dieser Sache möglicherweise doch noch mal mit heiler Haut herauswinden könnte. »Wofür steht der letzte Buchstabe?« »Oh, der bedeutet, das Gespräch ist abgehört worden, und der jeweilige Buchstabe gibt an, wie interessant es gewesen ist.« »Also kriegen wir das allerbeste Material.« »Jawohl, und Sie werden staunen! Bleiben Sie mal eine Sekunde dran?« Beamon und Ernie fuhren zusammen, als ein lautes Krachen aus den Lautsprechern drang, dem ein gedämpftes Wimmern folgte. »Würden Sie bitte die Klappe halten? Herrgott, benehmen Sie sich doch wie ein Mann.« Goldmans Stimme, aber es war klar, dass er nicht mit ihnen sprach. »Mr. Goldman? Hallo? Mr. Goldman? Verdammt, was war das?« »Wie? Oh, Entschuldigung, Mark. Musste hier nur mal kurz für Ruhe sorgen.« Beamon wurde klar, dass er sich vor lauter Begeisterung 377
über Goldmans Coup überhaupt keine Gedanken gemacht hatte, wie der alte Knacker an dieses Material gekommen war. »Wo genau sind Sie eigentlich?« »Im technischen Zentrum von Verkomm. Warten Sie noch mal eine Sekunde.« Es krachte erneut, und Beamon wusste jetzt, dass es ein Schuss war. »Na, noch ein bisschen was gefällig? Streckt nur die Köpfe wieder rein!«, ertönte Goldmans höhnische Stimme über die Lautsprecher. »Was ist da los, Mark?«, fragte Ernie verwirrt. Er winkte ab, als Goldman sich wieder meldete und genauso ausgelassen klang wie vorhin. »Die Jungs der Sicherheitstruppe sind ganz schön aus dem Häuschen. Aber ich glaube, lange dauert’s nicht mehr, bis sie stürmen.« »Herrgott, Jack, verschwinden Sie dort«, brüllte Beamon. »Gibt nur eine Tür nach draußen, Mark, und Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass die schwer bewacht ist.« Die Schüsse, die durch die Lautsprecher kamen, klangen diesmal nach Maschinengewehrfeuer. »Verdammt!«, hörte er Goldman. Es raschelte, und irgendwas wurde offenbar umgestoßen, als der alte Mann in Deckung ging. »Jack, verflucht noch mal! Sie müssen sich doch einen Plan überlegt haben, ehe Sie dort rein sind«, rief Beamon verzweifelt. »Stimmt. Es war als Reise ohne Rückfahrkarte gedacht. Ich halte die Übertragung, so lange ich kann. War wunderbar, Sie zu kennen, mein Junge. Auf Wiedersehen, Ernie. Oh, Er378
nie? Nehmen Sie ein bisschen ab und suchen Sie sich einen Mann, kapiert?« Die Verbindung war tot. Ernie rollte zum Monitor und starrte auf den Schirm, während die Tränen über ihr rundes Gesicht liefen. Nach einer knappen Minute meldete sie mit erstickter Stimme: »Die Übertragung ist abgebrochen worden.«
EINUNDFÜNFZIG Sara Renslier hörte hallende Schritte näher kommen, doch sie schaute weiter auf das große Kreuz, das an unsichtbaren Drähten über dem Altar hing. Ein Symbol für alles, was sie aufgebaut hatte. »Gab es irgendwelche … Schäden?«, fragte sie, als die Schritte stehen blieben. »Ja. Eine beträchtliche Menge Audiomaterial wurde übertragen. Alles neue Aufnahmen. Alle hochbrisant.« Sara holte tief Atem und spürte, wie brennende Galle in ihre Kehle stieg. »Konnten Sie herausfinden, an welchen Telefonanschluss es ging?« Schweigen. Sie wandte sich um und schaute Gregory Sines an, den Leiter der kirchlichen Sicherheitstruppe. Sein Gesicht war eingefallen und bleich, wodurch die schmale rosa Narbe auf seiner Wange noch deutlicher hervortrat. »Haben Sie es herausgefunden?«, wiederholte sie. »Die Verbindung ging zu einem Hotelzimmer und wurde von dort aus zu einem anderen Anschluss umgeleitet.« 379
»Zu welchem?« »Das lässt sich unmöglich sagen. Wer immer das gemacht hat, muss ein ausgesprochener Spezialist gewesen sein.« »Wer war er?« »Der Mann, der bei Vericomm eingedrungen ist? Das wissen wir noch nicht. Ein Weißer, vermutlich weit über achtzig …« »Weit über achtzig!« Sara hatte Mühe, sich zu beherrschen, und schloss erbittert die Augen. »Er trug keinerlei Papiere bei sich. Sein Auto haben wir zwar gefunden, aber es war unter einem Falschnamen gemietet worden. Wir haben Fingerabdrücke von seiner Leiche genommen und sie einem unserer Leute beim FBI geschickt. Bald wissen wir mehr.« »Es spielt keine Rolle«, sagte sie. »Dahinter steckt eindeutig Beamon. Dieser Mann hat für ihn gearbeitet.« Ihre Leute waren nicht in der Lage gewesen, irgendetwas Handfestes auszugraben, das man gegen Beamon hätte verwenden können – er war unverheiratet, es gab also keine heimlichen Affären, er war kein versteckter Homosexueller, hatte nie mit Drogen zu tun gehabt oder sich auf irgendwelche anderen illegalen Sachen eingelassen. Das Einzige war, dass er ziemlich viel trank, zu selbstzerstörerischem Verhalten neigte und weder enge Freunde noch Familie hatte – was darauf hindeutete, dass er ein schwacher, haltloser Mann war, wie die Psychologen der Kirche behauptet hatten. Und ein solcher Mann sei leicht zu manipulieren. Doch sie hatten ihn unterschätzt. Und sie musste sich den Vorwurf machen, dass sie Beamon aufgrund dieser Analyse einfach als relativ unterbelichteten kleinen Beamten gesehen hatte, wie es sie in sämtlichen Behörden gab. 380
Je mehr die Kirche im Verlauf des letzten Jahrzehnts an Macht gewonnen hatte, desto mehr hatte sie jede Achtung für die Regierungen der Welt verloren. Alle Beamte und erst recht die führenden Politiker schienen erschreckend beschränkt, und alle konnte man mit ein paar Glasperlen kaufen oder verkaufen. Für Beamon galt das jedoch offenbar nicht. Sara setzte sich auf die Stufen zum Altar. Sie hatte sich einen fast perfekten Plan ausgedacht, um ihre Macht zu behalten, und nachdem sie Alberts angeblichen letzten Wunsch bekannt gegeben hatte, gab es nun kein Zurück mehr. Jennifer musste am Karfreitag in Anwesenheit aller Ältesten sterben. Viele beobachteten sie sowieso bereits voller Misstrauen, deshalb konnte sie das Mädchen nicht einfach vorher beseitigen. Bisher hatte sie verhindert, dass die Gruppe sich gegen sie zusammenschloss, indem sie Konflikte und Eifersüchteleien unter ihnen geschürt hatte – sie erwies dem einen oder anderen in Kneiss’ Namen gelegentlich eine Gunst, verteilte großzügig Belohnungen in Form von Geld oder verhängte strenge Strafen. Doch falls man herausfand, was sie getan hatte, würde man sich gegen sie verbünden, und dann konnten selbst Sines und seine Wächter ihr nicht mehr helfen. Sie überlegte kurz, ob es möglich wäre, Jennifer am Leben zu lassen und den Ältesten zu erzählen, sie habe Kneiss falsch verstanden. Vielleicht könnte sie seine Enkelin genauso isolieren, wie sie es mit ihm gemacht hatte. Aber irgendwann würde es ihnen gelingen, mit ihr zu sprechen. Und dann würden sie die Wahrheit erfahren. Nein. Es gab nur einen Weg. »Wir können es uns nicht mehr leisten, Mark Beamon am 381
Leben zu lassen, egal, welche Probleme uns durch seinen Tod entstehen. Darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist.« Sines schwieg. »Das ist alles, Gregory«, sagte sie und entließ ihn mit einem Wink. »Regeln Sie diese Sache. Sofort.« »Wir wissen nicht, wo er ist.« »Was soll das heißen?« Sie stand langsam auf. »Er wurde doch beobachtet …« »Unsere Leute haben ihn gestern in dem Schneesturm verloren. Er ist nicht in sein Apartment zurückgekehrt, und ich glaube auch nicht, dass er noch mal dort auftauchen wird, nachdem Sie ihm alles genommen haben, was für ihn zählt«, entgegnete Sines vorwurfsvoll. Sara fegte wütend eine Kristallvase und zwei elegante Kerzenständer vom Altar. »Wagen Sie es nicht, so mit mir zu sprechen! Es ist doch wohl keine Kunst, einen Mann zu beobachten, der am Ende ist. Offenbar war es ein Fehler, dass ich mich auf Ihre Fähigkeiten verlassen habe.« »Es war ein Fehler, ihn suspendieren zu lassen. Vorher war er leicht zu beobachten und durch die Regeln des FBI gebunden. Aber danach konnte er tun, was er wollte, und …« »Ich habe Sie nicht nach Ihrer Meinung gefragt! Sie sollen lediglich meine Anweisungen befolgen.« Sie versuchte, sich zu beherrschen. Es durfte einfach nicht passieren, dass ihr ganzer Plan wegen eines übergewichtigen kleinen Beamten scheiterte! »Er ist jetzt allein«, sagte sie laut. »Der Mann, der ihm geholfen hat, ist tot. Er hat kein Zuhause mehr und auch sonst alles verloren. Um das Mädchen macht er sich bestimmt längst keine Gedanken mehr.« 382
Beamon ist kein Problem, sagte sie sich. Ich kann ihn mit Leichtigkeit ausschalten. Ganz sicher.
ZWEIUNDFÜNFZIG Nach fünf Schlucken Bourbon hatte das Zittern in Beamons Händen so weit nachgelassen, dass er es schaffte, sich eine Zigarette anzuzünden. Tief sog er den Rauch in seine Lungen, ohne dass sich das Schwindelgefühl einstellte wie sonst bei jedem Lungenzug, seit er sein Gesundheitsprogramm aufgegeben hatte. Ein Zeichen, dass sein Körper sich wieder an seine alten Lebensgewohnheiten angepasst hatte. Halleluja. Sein Blick fiel auf eine Küchenschabe, die zwischen den zahllosen Schachteln, Kabeln und dem verstreuten Computerzubehör über den Linoleumboden krabbelte. Schließlich verschwand sie unter dem Overall, den Goldman getragen hatte, als er die Telefone der Kirche angezapft hatte. Er lag über einem leeren Karton und sah aus wie der Geist des alten Mannes. Beamon stemmte sich aus dem abgewetzten Sessel hoch, in dem er saß, und stopfte den immer noch feuchten Overall in die Schachtel. Als er sie schließen wollte, hielt er plötzlich inne, da ihm klar wurde, dass Goldman nie ein anderes Begräbnis kriegen würde. Fast zwanzig Jahre lang hatte er den alten Kerl gekannt. Goldmans Haar war bei ihrer ersten Begegnung noch ein wenig dunkler und voller gewesen, und seine Haut hatte ihm 383
etwas besser gepasst, aber ansonsten war er schon damals ein zänkischer Querkopf. Alte Kollegen, die in seiner Anfangszeit mit ihm zusammengearbeitet hatten – und jetzt schon lange nicht mehr lebten –, hatten geschworen, so sei er bereits im zarten Alter von neunzehn gewesen. Beamon hätte gern irgendjemanden angerufen, aber wen? Goldmans Familie war längst tot. Soweit er wusste, hatte der alte Mann nicht einmal eine Sekretärin gehabt. Die Damen hatten sich alle irgendwann dagegen gewehrt, auf den Hintern getätschelt und »Kleine« genannt zu werden. Stattdessen hatte er sich eine ganze Batterie von Anrufbeantwortern und jede Menge Software zugelegt und immer behauptet, die Elektronik sei erstens besser und zweitens weniger flatterhaft. Trotzdem hatte man gespürt, dass er enttäuscht war – und wohl auch ein wenig einsam. Goldman hatte ihn vielleicht vier- oder fünfmal in den letzten drei Jahren angerufen und stets mit irgendeiner Tirade losgelegt: über FBI, CIA, die Politik, das Fernsehen. Das war einfach seine Art gewesen – er wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Aber er hatte seine harmlosen Stänkereien als Vorwand benutzt, um ihm aus dem Weg zu gehen. Einem Mann, der gerade sein Leben dafür gegeben hatte, um ein kleines Mädchen zu retten und ihm aus diesem elenden Schlamassel zu helfen. Er schloss die Schachtel, und es kam ihm vor, als schließe er einen Sargdeckel. Beamon hob grüßend sein Glas. »Sie hatten Recht, Jack. Ich bin ein wertloser Dreckskerl.« Wäre kein schlechter Spruch für seinen Grabstein. Dann schob er einen Stuhl zum nächsten Computer und packte die Disketten mit den Audiodateien von Vericomm aus. Sie waren in 384
ein Blatt Papier eingewickelt, auf denen Anweisungen standen, wie man sie sich anhörte. Nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten sah er auf dem Bildschirm zahlreiche Dateien. Alle trugen den Nachnamen des Anrufers, ein Datum und die Zeitangabe. Er setzte den Kopfhörer auf und öffnete mit einem Doppelklick die erste Datei. Den Namen kannte er irgendwoher. Wenn er sich recht erinnerte, war es ein Gouverneur, ein Senator oder so was. Zwei Stunden später hatte er in alle Dateien hineingehört und riss sich den Kopfhörer herunter. Angewidert warf er ihn auf den Boden. »Herrgott im Himmel!«, sagte er in den leeren Raum. Er hatte noch nie besonders viel von Politikern und ihrem Gewerbe gehalten, doch nicht einmal im alkoholisierten Zustand und in seinen dunkelsten Phantasien hätte er sich ausmalen können, was er eben gerade gehört hatte. Minderjährige Prostituierte, Bestechung, Erpressung, unheilige Allianzen und Verrat waren nur einige Punkte, um die sich die Gespräche drehten. Und alles in glasklarem Stereoton. Das Schlimmste war jedoch nicht einmal, dass leitende Regierungsbeamte in Dinge verstrickt waren, bei denen sogar Caligula errötet wäre, sondern dass sie so dumm waren, darüber am Telefon zu reden. Nein, dachte Beamon, noch schlimmer ist eigentlich, dass alle miteinander ihrer eigenen Mutter die Kehle durchschneiden würden, um ihre Schweinereien zu vertuschen. Als er sich eine neue Zigarette anzündete, klingelte das Handy in seiner Tasche. Er klappte es auf. »Hallo, Sara.« 385
Am anderen Ende herrschte für einen Moment Stille. »Mr. Beamon?« »Irgendwie wusste ich, Sie würden es sich überlegen. Wirklich christlich von Ihnen.« »Ich nehme an, Sie sind immer noch an einem Treffen interessiert«, sagte Sara. Er hörte die Verbitterung in ihrer Stimme, was ihm normalerweise zumindest ein kleines bisschen Befriedigung verschafft hätte. Aber er fühlte sich nur wie betäubt. »Und ob.« »Wo?« »Es gibt ein kleines Restaurant, ›Bei Antonio‹, in der …« »Ich weiß, wo es ist.« »Gut. Ich lasse mich von Ihnen zum Essen einladen. Morgen Abend. Sieben Uhr.« Beamon klappte das Handy zu und atmete tief durch. Das Lokal war immer gut besucht. Er hatte also nichts zu befürchten. Wahrscheinlich. Ein Blick auf die Datumsanzeige seiner Uhr: Noch sechs Tage blieben ihm und Jennifer. Sara würde versuchen, auf Zeit zu spielen. Das musste er zu seinem Vorteil nutzen. Erneut klingelte das Handy, und er hob beim dritten Läuten ab. »Lassen Sie mich raten. Sie mögen keine Italiener.« »Mark?« Der Akzent war ein wenig stärker und die Stimme etwas höher, als er sie in Erinnerung hatte, aber er erkannte ihn trotzdem gleich. »Schön, Sie zu hören, Hans. Wie geht es Ihnen?« »Nicht gut, Mark. Überhaupt nicht gut. Ich habe Informationen von unseren Leuten in der Kirche erhalten.« »Ja?« 386
»Man hat gemerkt, dass man Sie nicht durch die üblichen Methoden abschrecken kann. Mark, ich glaube, man hat vor, Sie umzubringen.« Beamon zündete sich eine neue Zigarette an. »Da könnten Sie sogar Recht haben, Hans.« »Sie müssen untertauchen! Ich versichere Ihnen, dass die Kirche keine Skrupel kennt und auch die Mittel hat, Sie auszuschalten. Kommen Sie zu mir in die Botschaft. Ich kann Ihnen Schutz anbieten, und vielleicht haben wir gemeinsam genug Material, um ihnen endlich die Maske vom Gesicht zu reißen.« Das Angebot war verlockend. Es gab nur ein kleines Problem. »Was berichten Ihre Informanten über Jennifer Davis?« »Nichts, leider. Falls die Kirche sie tatsächlich hat, wie Sie glauben, wissen nur die Mitglieder auf den höchsten Ebenen darüber Bescheid.« Beamon nickte und starrte auf die Namen der Dateien auf dem Computerschirm. »Nun, wenn alles vorbei ist und ich noch da bin, habe ich Ihnen eine interessante Geschichte zu erzählen.« »Passen Sie bitte auf sich auf, Mark. Wenn ein Mann von Ihrem Format gegen die Kirche Stellung bezieht, könnte das viel dazu beitragen, die Spannung zwischen unseren Regierungen zu beenden.« »In erster Linie geht es mir um das Mädchen, Hans. Wenn ich sie retten und Ihnen nebenbei helfen kann, dann gern. Andernfalls muss ich die Politik den Politikern überlassen.«
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DREIUNDFÜNFZIG »Weißt du eigentlich, was du mir angetan hast?« Die Tür schlug gegen die Wand, als Sara hereinstürmte. Wie fast immer in den letzten Tagen hatte Jennifer dösend auf dem Bett gelegen und wollte nun hastig aufspringen, aber Sara stieß sie zurück. Ein kräftiger Schlag mit der offenen Hand traf sie ins Gesicht. Der stechende Schmerz vertrieb ihre Benommenheit. Sara packte sie grob am Haar. Ihr Gesicht war verzerrt, ihre Augen blitzten, und ihre bleiche Haut war hellrot. »Meinst du, ich will deinetwegen alles verlieren?« Sie hörte Saras zweiten Schlag, obwohl sie ihn kaum fühlte. »Wenn ich nicht gewesen wäre, würde Albert immer noch an irgendeiner Straßenecke predigen.« Jennifer versuchte sie wegzustoßen, doch Sara hielt sie unerbittlich fest. »Niemand kommt dich holen, Jennifer. Niemand.« »Warum machen Sie das mit mir?« Jennifer spürte die Tränen in ihren Augen und unterdrückte ein Schluchzen. »Ich will Ihnen ja gar nichts wegnehmen, ich will einfach bloß nach Hause!« Das hasserfüllte Funkeln verschwand aus Saras Augen, und sie schaute Jennifer mit kalter Überlegenheit an. »Du kommst nie mehr nach Hause. Das weißt du auch, nicht wahr? Du hättest eben nicht herkommen sollen.« »Das bin ich ja gar nicht! Sie haben mich hierher verschleppt.« Sara antwortete irgendwas mit so leiser Stimme, dass sie es 388
kaum verstand, aber sie wollte sowieso nichts mehr hören. Sie wandte sich ab und schaute auf die leere Wand, während sie versuchte, wieder in die Scheinwelt zurückzukehren, in der sie ihre Einsamkeit und Angst vergessen konnte. Ihr Blick streifte kurz die Tür, die immer noch offen stand. Jennifer schaute hinaus in den schlecht beleuchteten Flur und stutzte. Irgendwas war anders. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriffen hatte, was es war. Der Mann, der sich sonst immer dort postierte, war nicht da. Er war nicht da. Jennifer spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann, und ganz plötzlich verschwand die hoffnungslose Lethargie der letzten Tage. Sara verstummte abrupt, als Jennifer sich zu ihr umwandte. Dass sie den Mund schloss, war vermutlich das Einzige, was ihre Vorderzähne rettete. Keine einzige der vielen Phantasien, die Jennifer sich im Lauf der letzten Wochen ausgemalt hatte, war so herrlich gewesen wie dieses Gefühl, als sie mit geballter Faust in das Gesicht dieser Frau schlug, die sie gequält und ihr ganzes Leben vernichtet hatte, die ihren Vater in den Wahnsinn und ihre Mutter in den Tod getrieben hatte und die sie in der Dunkelheit vor sich sah, wenn sie nachts hochschreckte. Sara stolperte zurück und fiel zu Boden. Ehe sie noch reagieren konnte, rannte Jennifer schon auf sie zu. Sara öffnete den Mund, doch der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken, als sie von Jennifers Tritt fast vom Boden gehoben wurde. Ein zweiter Tritt traf sie am Kinn. 389
Jennifer empfand ein unbeschreibliches Hochgefühl. Alle Angst und das ständige Zittern waren wie weggeblasen. Jetzt würde sie diese Frau töten! Noch nie in ihrem Leben hatte sie einem anderen Menschen wehtun wollen, aber jetzt wollte sie nur noch spüren, wie der Schädel dieser Frau unter ihrem Fuß zerplatzte. Aber sie durfte keine Zeit verlieren! Statt weiter auf sie einzutreten, wandte Jennifer sich um und rannte aus dem Zimmer, schlug die Tür hinter sich zu und hoffte, dass das Schloss einschnappte. Noch besser wäre, wenn sie Sara so verletzt hätte, dass sie nicht mehr aufstehen konnte. Welche Richtung? Zu ihrer Linken schien der Korridor dunkler zu werden, zu ihrer Rechten heller. Sie entschied sich für rechts in der Hoffnung, dass das Licht von der Sonne kam. Als sie auf einen Quergang traf, blieb sie stehen. Komm schon, Jennifer, dachte sie. Das ist deine Chance. Gib jetzt nicht auf. Was tun? Ihr wurde klar, dass es ihr nichts nutzte, aus diesem Haus zu flüchten. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, es war mitten im Winter, und sie trug nur Unterwäsche. Ein Telefon! Sie musste ein Telefon finden. Sie hastete zur ersten Tür, die sie sah, und hielt den Atem an. Es war ein Bad. Sie huschte wieder hinaus und rannte zur nächsten Tür. Ein Büro. Auf einem antiken Schreibtisch lagen irgendwelche Dokumente und andere Papiere; daneben stand ein Telefon. Sie hob den Hörer ab und wählte 911. 390
Eine Bandansage bat, sich ein wenig zu gedulden. »Nein«, stöhnte sie und legte auf. Im Flur waren bereits Stimmen zu hören. Sie versuchte es mit der Nummer ihres Freundes. Er hatte einen Anrufbeantworter – selbst wenn er nicht zu Hause war, könnte sie ihm so viel sagen, dass die Polizei vielleicht wusste, wo man sie finden konnte. Eine Stimme verkündete, dass sie bei einem Ferngespräch zuerst die Vorwahl wählen müsse. Die Geräusche im Korridor wurden lauter. Rasch drückte sie auf die Gabel und wählte erneut, diesmal mit Vorwahl. »Bitte geben Sie Ihren Zugangscode ein«, meldete die mechanisch klingende Stimme. »O Gott, bitte, nein!« Tränen begannen über ihr Gesicht zu laufen, und sie tippte willkürlich irgendwelche Zahlen ein. »Dieser Code ist ungültig. Bitte geben Sie den korrekten Code ein.« Verzweifelt drückte sie auf die Gabel und konnte vor Panik kaum noch atmen. Die Geräusche im Flur kamen immer näher. Sie schaute aus dem Fenster. Die Helligkeit im Korridor war künstliches Licht gewesen – draußen war es dunkel, und man hörte das leise Heulen des Windes. Sie presste ihr Gesicht an die Scheibe. Weit und breit war nichts zu sehen als schneebedeckte Hügel und in der Ferne ein Kiefernwald. Sie würde ganz bestimmt erfrieren. Wahrscheinlich schon nach ein paar Minuten. Jennifer schaute über ihre Schulter auf die geschlossene Tür und dann wieder zum Fenster. Sie konnte nicht zurück in dieses Zimmer. Das würde sie nicht aushalten. 391
Sie wollte gerade den Hörer auflegen und das Fenster öffnen, als ihr etwas einfiel. Ja, das könnte klappen – hoffentlich! Sie wählte eine weitere Nummer und versuchte, nicht auf den wachsenden Lärm draußen zu achten. Schon nach einem Läuten kam die Ansage: »Danke für Ihren Anruf bei den Colorado Cyclist. Wenn Sie ein Tastentelefon haben, drücken Sie die Eins für die Verkaufsabteilung, Kataloganfragen oder …« Es war die einzige 800-Nummer, die sie auswendig kannte. Bei Ferngesprächen musste man offenbar einen Zugangscode eingeben, aber warum sollte das auch für kostenfreie Anrufe gelten? Sie drückte die Taste für die Verkaufsabteilung. In diesem Moment flog die Tür auf. Mit beiden Händen hielt sie das Telefon umklammert und wich schreiend gegen die Wand zurück, als der Schnurrbartmann auf sie zugerannt kam. Er wollte ihr den Hörer entreißen, doch sie ließ sich zu Boden fallen und schützte ihn mit ihrem Körper. Er richtete sich auf, und Jennifer versuchte hastig, ihn festzuhalten, aber es war zu spät – er hatte schon die Leitung aus der Wand gerissen. Sie hörte, wie die Verbindung abbrach, konnte es aber nicht über sich bringen, den Hörer loszulassen. Es war ihre einzige Hoffnung gewesen. Sie wehrte sich nach Kräften, um nicht wieder in dieses leere Zimmer gesperrt zu werden, doch es nutzte nichts. Er packte sie und drehte ihr die Arme auf den Rücken. Hastige Schritte kamen näher, und sie ahnte bereits, wer es war. Ein Blutspritzer tropfte auf den Teppich, als Sara sich vorbeugte und ihr mit der geballten Faust ins Gesicht schlagen wollte. Jennifer schloss die Augen. 392
»Nicht, Sara!«, rief der Mann und hielt ihre Hand fest. »Sie darf keine sichtbaren Verletzungen haben.« Sara schien ihn gar nicht zu hören. Sie riss sich los und holte erneut aus. »Sara!« Unvermittelt kam sie wieder zur Besinnung und krallte ihre Finger in Jennifers Wangen. »Du rührst mich nie wieder an! Nie wieder!« Jennifer wandte den Kopf nach links und biss mit aller Kraft in Saras Daumen. Sie fühlte das warme Blut in ihrem Mund und hörte Sara schreien, ehe alles schwarz wurde.
VIERUNDFÜNFZIG »Hier einbiegen«, befahl Beamon dem Taxifahrer. »Da kommen wir aber durch eine Wohngegend. Es ginge schneller, noch ein paar Blocks weiter zu fahren.« »Es ist meine Kohle.« Der Taxifahrer fand offensichtlich, das sei ein vernünftiges Argument. Er bog rechts ein und verringerte die Geschwindigkeit auf unter fünfundzwanzig Meilen, nachdem sie das Geschäftsviertel verlassen hatten und in eine ruhige Wohngegend mit kleinen gepflegten Häusern kamen. Beamon wandte sich um und schaute aus dem Rückfenster. Abgesehen von einigen Männern, die mit Schneefräsen ihre Auffahrt räumten, war die Straße leer. Aber wozu sollte man ihn auch verfolgen? Die Kirche wusste, wohin er wollte. Natürlich würde man versuchen, sich wieder an ihn dranzu393
hängen, wenn er das Restaurant verließ, doch darüber konnte er sich später noch Gedanken machen. Sein Handy begann zu läuten, und er kramte es aus seiner Tasche. »Hallo?« »Mark! Ich bin’s!« Ernie war nach Goldmans Tod völlig niedergeschlagen gewesen, aber jetzt klang ihre Stimme beinahe fröhlich. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich direkt glauben, Sie haben gute Neuigkeiten.« »Stimmt! Ich habe nicht nur gute Neuigkeiten, sondern auch noch bessere. Welche wollen Sie zuerst hören?« »Fangen wir mit den guten an.« »Die 800-Nummer hat heute geläutet!« »Sie machen Witze«, sagte Beamon ungläubig. Er war im Grunde einer Meinung mit Goldman gewesen, dass die Chance auf einen Sechser im Lotto größer war als die Chance, dass ihr Plan mit einem angeblichen Software-Update funktionierte. »Was haben sie gesagt?« »Sie wollten sich nur erkundigen, ob ihre Mails trotzdem ordnungsgemäß verschlüsselt gewesen seien und ob nach einem Update alles wieder ordnungsgemäß funktioniere.« »Ich schätze mal, das haben Sie ihnen hundertprozentig garantiert.« »Klar. Sie machen das Update heute Nacht!« Beamon hob triumphierend die Faust – zum Schrecken des Taxifahrers, der ihn im Rückspiegel beobachtet hatte. »Das ist schwer zu übertreffen, Ernie. Jetzt bin ich mal gespannt auf die besseren Neuigkeiten.« »Ich habe die Aufzeichnung eines Anrufs, der aus Alberts 394
Villa kam und Sie bestimmt interessieren wird. Ich will versuchen, es Ihnen vorzuspielen.« Es klickte in der Leitung, dann verkündete eine Frauenstimme, man sei mit den Colorado Cyclist verbunden, und erklärte, mit welcher Taste man welche Abteilungen erreichte. Ein Piepston erklang, darauf ertönte ein lautes Krachen und ein Schrei, der von einem jungen Mädchen zu kommen schien. Damit endete der Anruf. Beamon schwieg für einen Moment und lauschte auf seinen Herzschlag. »Das muss sie gewesen sein, Ernie. Ganz sicher.« »Ich habe in den Zeitungen gelesen, dass Jennifer Mountainbikerin ist, wohl deshalb hat sie die Colorado Cyclist angerufen. Sie verkaufen Zubehör für Mountainbikes.« »Fünfzig Kröten darauf, dass ich alle möglichen Abbuchungen von ihnen auf Jennifers Kreditkarte finden könnte, wenn ich nicht alle Akten in meiner Wohnung gelassen hätte.« »Ich glaube nicht, dass ich diese Wette annehmen würde«, lachte Ernie aufgeregt. »Eins stört mich allerdings …« »Warum sie ausgerechnet dort anrufen sollte?« »Genau.« »Ich habe darüber nachgedacht und glaube, ich weiß die Antwort. Wir gehen davon aus, dass man sie in Alberts Haus festhält, richtig?« »Richtig.« Beamon sah, dass sie fast das Restaurant erreicht hatten, und gab dem Fahrer einen Wink, noch eine Runde um den Block zu drehen. »Ein Telefonat nach Flagstaff wäre ein Ferngespräch«, führ Ernie fort. 395
»Und?« »Bei meiner früheren Arbeitsstelle musste man vor jedem Ferngespräch einen Code eingeben – auf diese Weise wussten sie, ob man Privatgespräche auf Firmenkosten führte. Was ist, wenn die Kirche ein ähnliches System hat?« »Also hat sie eine 800-Nummer angerufen«, sagte Beamon. »Kluges Mädchen. Aber warum nicht einfach die 911?« »Ich habe es versucht. Und immer lief nur ein Band mit der Aufforderung, dranzubleiben. Als ich die Colorado Cyclist angerufen habe, waren sie sofort dran.« Das wäre eine Erklärung. Sie war irgendwie Sara und ihren Helfershelfern entwischt und an ein Telefon gekommen. Sicher hatte sie nur wenig Zeit gehabt, zuerst die 911 versucht und war in der Warteschleife gelandet. Vielleicht hatte sie als Nächstes Freunde der Familie angerufen – möglicherweise diese Dame mit der Bienenkorbfrisur – und gemerkt, dass sie dazu einen Code eingeben musste. Dann war ihr eingefallen, dass sie bei einer 800-Nummer vermutlich keinen brauchen würde, und sie hatte die einzige gewählt, die sie auswendig wusste oder bei der man am schnellsten einen Gesprächspartner erreichte. »Es ist, wie ich Ihnen gesagt habe, Mark. Gott ist auf unserer Seite.« »Wenn das wahr ist, hoffe ich, er lässt sich noch ein kleines bisschen mehr einfallen.« »Was? Das ist doch schon wunderbar!« »Dass man Jennifer dort festhält, dachte ich mir ja bereits, Ernie. Und dieser Anruf bringt uns im Grunde nicht weiter. Wenn er etwas eindeutiger gewesen wäre, würde ich die Aufzeichnung jemandem beim FBI schicken, dem ich vertraue.« 396
Unwillkürlich überlegte er für einen Moment, ob es überhaupt noch jemanden gab. »Aber so würden sie nicht mal einen Hausdurchsuchungsbefehl kriegen – selbst wenn man mir meine Theorie glaubte.« Beamon tippte dem Taxifahrer auf die Schulter und deutete in Richtung des Restaurants. »Dann bringt uns das alles gar nichts«, sagte Ernie niedergeschlagen. »Nein, Ernie! Sehen Sie es als Zeichen, dass sich das Blatt jetzt langsam zu unseren Gunsten wendet. Gott wärmt sich wahrscheinlich gerade erst auf.« »Glauben Sie?« »Sicher. Ich weiß aus Erfahrung, dass Fälle eine Eigendynamik kriegen müssen, und nun tut sich endlich was. Das einzige Problem ist, wir können nicht mehr allzu lange darauf warten, dass die Geschichte in Schwung kommt.« »Konnten Sie die Audiodateien abspielen, die ich Ihnen geschickt habe?« »Ja.« »Was meinen Sie dazu?« »Das ist schon starkes Zeug, so viel steht fest. Innerhalb der nächsten Stunde wissen wir, ob es uns irgendwas nutzt.« »Ich habe sie mir angehört und kann einfach nicht fassen, welche gottlosen Sünder wir gewählt haben, um dieses Land zu regieren.« »Mich wundert bei Politikern gar nichts«, erwiderte Beamon. Das Taxi hielt vor dem hell erleuchteten italienischen Restaurant. »Ernie, ich muss aufhören.« Beamon kramte in seiner Tasche nach dem Umschlag mit seinem Bargeld, das rasch we397
niger wurde. »Prima Arbeit, Schatz. Wir werden es schaffen, keine Sorge.« »Guten Abend, Sir«, grüßte der Wirt und nahm Beamon den Mantel ab. »Haben Sie reserviert?« »Ich bin verabredet. Mit Mrs. Renslier.« Er überprüfte die Namensliste in seinem Buch. »Mrs. Renslier ist eben gekommen. Wenn Sie kurz warten, bringe ich Sie gleich an ihren Tisch.« Er öffnete einen Schrank und nahm einen Kleiderbügel für den roten Parka heraus, der ihm so gut gedient hatte. »Heute Abend ist hier keine private Feier oder so etwas?« »Private Feier?«, fragte der Wirt etwas verwundert. Beamon wusste, dass er paranoid war, aber er konnte es nicht ändern. »Ja. Ich meine, es hat niemand telefonisch für diesen Abend das ganze Restaurant gemietet, oder?« »Nein, heute nicht. Das ist allerdings ohne weiteres möglich. Wir haben für Familienfeiern auch separate Räume. Sie müssten nur eine Woche vorher anrufen, wenn Sie eine solche Feier bei uns veranstalten wollen.« Trotz der Versicherung des Wirts musterte Beamon unwillkürlich auf dem Weg zu einem der letzten Tische die Gesichter der Gäste. Es waren eindeutig Kneissianer darunter, das verrieten allein schon der aufreizende Optimismus, der ihnen aus jeder frisch geschrubbten Pore strömte, und ihre konservative Kleidung. Die meisten waren jedoch Ehepaare, und viele hatten langweilig brave Kinder dabei. Beamon nickte dem Wirt dankend zu und nahm Sara Renslier gegenüber Platz. Neben ihr saß ein Mann, den er 398
zwar nie zuvor gesehen hatte, aber aufgrund der Narbe in seinem Gesicht gleich erkannte. Beamon streckte die Hand aus. »Greg Sines, nicht wahr? Ich glaube, wir sind uns bislang noch nicht begegnet.« Die Blicke des Mannes bohrten sich in seine Augen, und sein Händedruck war eisenhart. Beamon hatte diesen Blick schon öfter gesehen. Er bedeutete: »Eines Tages reiße ich dir das Herz raus mit irgendeinem stumpfen Instrument, das ich zufällig zur Hand habe.« Mit wenigen Ausnahmen war jeder, der ihn je auf diese Weise angeschaut hatte, entweder tot oder im Knast. Hoffentlich setzte sich diese Serie auch bei diesem Arschloch fort. Sines steckte irgendein kleines Gerät – vermutlich, um versteckte Mikrofone aufzuspüren – in seine Tasche und verschwand wortlos. Beamon überzeugte sich, dass sie in der Raucherzone waren, und zündete eine Zigarette an. »Nett, Sie wiederzusehen, Sara.« Sie wirkte verändert. Das Licht im Restaurant war zwar gedämpft, doch er sah trotzdem ihr dickes Make-up, das gar nicht zu dem Erscheinungsbild passte, das man von Kneissianern verlangte. Und noch etwas fiel ihm auf, was möglicherweise jedoch nur an der Beleuchtung lag: Ihr Gesicht wirkte etwas schief. »Die Hand verletzt?«, fragte Beamon und lehnte sich ein Stück zur Seite, um besser ihre Wange sehen zu können. Es schien tatsächlich, als habe ihr jemand einen Kinnhaken verpasst. Sara schaute auf die weiße Bandage um ihren Daumen. »Ein Unfall.« Beamon konnte sich kaum ein Lächeln verkneifen. Jetzt 399
wusste er, wie Jennifer es geschafft hatte, an ein Telefon zu kommen. Dieses Mädchen musste er eines Tages kennen lernen. »Also, Sara«, sagte er und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Über was wollen wir uns unterhalten?« »Wir könnten mit der Tatsache anfangen, dass wir beide etwas haben, das der andere haben will.« Beamon war verblüfft über ihre Direktheit. »Ich weiß, was ich habe, aber was haben Sie, das Sie mir geben könnten?« »Ihr Leben.« Er hatte eigentlich auf eine andere Antwort gehofft. »Mein Leben?« Sie nickte und nahm ein Stück Brot aus dem Korb auf dem Tisch. »Ich habe Gerüchte gehört, dass man Ihnen sexuelle Belästigung von Kindern vorwirft, allerdings wird gemunkelt, es sei eine falsche Anschuldigung. Wahrscheinlich könnte ich dafür Beweise finden, wenn ich einige meiner Leute beauftragte, einmal nachzuforschen. Ich könnte möglicherweise auch die Probleme mit Ihrer Kreditwürdigkeit aus der Welt schaffen, da ich einige Freunde bei der Finanzbehörde habe, die Ihnen behilflich sein könnten.« »Und mein Job?« Sie biss etwas Brot ab – mehr aus Nervosität denn aus Hunger. »Das liegt natürlich in den Händen des FBI. Ich habe aber Freunde mit einigem Einfluss.« Beamon nickte nur schweigend. »Ich würde auch gern Ihre Verteidigung mit einer Spende unterstützen – Sie brauchen möglicherweise Anwälte, und die können teuer sein. Falls Sie sich natürlich schlicht und einfach dafür entscheiden, vorzeitig in den Ruhestand zu ge400
hen, würde die Summe, die dann noch übrig wäre, Ihnen gehören.« Er konnte sich die Frage einfach nicht verkneifen. »Über wie viel reden wir?« »Was würden Sie Ihrer Meinung nach für eine angemessene Verteidigung brauchen?« »Na ja …« Er griff willkürlich irgendeine Zahl aus der Luft. »Fünf Millionen.« Zu seiner Überraschung verzog sie keine Miene. »Das klingt vernünftig.« Beamon lehnte sich in seinem Stuhl zurück und winkte einen Kellner heran. »Jim Beam auf Eis, bitte.« Er schaute fragend zu Sara, doch sie schüttelte nur den Kopf. Er musste zugeben, die Frau verstand es, ein verlockendes Angebot auf den Tisch zu legen. Natürlich würde er eine Weile brauchen, sich an den Ruhestand zu gewöhnen, aber ein wohlhabender Müßiggänger zu sein, nun, das war gewiss nicht schlecht. Und wenn sein Ruf wieder etwas aufpoliert war, würde vielleicht doch noch etwas aus ihm und Carrie. Vielleicht könnte er sich als Hausmann und Stiefvater versuchen? Kochen und backen lernen … Nee. »Ich will das Mädchen.« »Das Mädchen?« Sara schaute ihn beinahe amüsiert an. »Ach ja. Jennifer Davis. Das Mädchen, das Albert aus irgendeinem Grund entführt hat, wie Sie glauben, und in seinen Kerkern festhält.« »Kneiss ist tot.« »Bitte?« »Reden Sie nicht mit mir, als wäre ich ein Idiot, Sara. Das 401
kotzt mich an. Kneiss ist tot. Das wissen Sie so gut wie ich. Natürlich liegt es nicht im Interesse der Kirche – das heißt, in Ihrem Interesse –, dass diese kleine Neuigkeit vor Karfreitag durchsickert. Schließlich soll ja die Kollekte weiter stimmen.« »Ich verstehe.« Sara lächelte und zuckte zusammen. Offenbar schmerzte ihr Gesicht. »Sie glauben, dass Albert gestorben ist und ich einen neuen Boten brauchte. Ich habe gehört, dass Sie behaupten, Jennifer Davis sei Alberts Enkelin. Wenn das wahr ist, wäre sie der perfekte Ersatz, nicht wahr?« Sara schüttelte den Kopf. »Ich bin enttäuscht, Mr. Beamon, dass Sie sich nicht inzwischen besser über uns informiert haben. Für einen neuen Boten besteht gar keine Notwendigkeit. Ja, eigentlich nicht einmal die Erwartung, dass es in den nächsten zweitausend Jahren einen geben wird.« »Das weiß ich. Ich dachte auch eher daran, dass Kneiss sich lieber einen anderen Nachfolger wünschte, als Ihnen den Job zu geben, weil er begriffen hatte, was Sie so treiben.« »Was ich so treibe?«, zischte sie plötzlich wütend. »Ich habe mein gesamtes Leben der Verbreitung seiner Botschaft und dem Aufbau seiner Kirche gewidmet! Was sollte Albert dagegen einzuwenden haben?« »An den Ergebnissen hatte er sicher nichts auszusetzen, Sara, aber vermutlich an Ihren Methoden.« Beamon deutete mit einem Kopfnicken zur Theke. »Männer wie Gregory Sines entsprechen nicht gerade der gängigen Vorstellung von einem Kirchenältesten.« »Was ich getan habe, habe ich für Gott getan.« Beamon lächelte. »Ich glaube, genau mit diesen Worten hat man während der gesamten Geschichte der Menschheit Krieg, Folter und Grausamkeit gerechtfertigt.« 402
»Sie können nicht einmal im Entferntesten verstehen, wie es ist, ein gläubiger Mensch zu sein, Mr. Beamon. Gott leitet mich in allen Dingen. Er sagt mir, was richtig und falsch ist. Er hat mir die Kraft gegeben, das zu erreichen, was ich erreicht habe.« »Und die Kraft, die Kirche zu beschützen, wenn sie bedroht ist.« »Das auch«, entgegnete sie und erwiderte fest seinen Blick. »Und nun ist Jennifer eine Bedrohung, nicht wahr? Sie haben die Kirche aufgebaut, nicht Albert. Er hatte die Botschaft, doch Sie hatten die Mittel, sie zu verbreiten.« Beamon nahm einen Schluck von seinem Whiskey. »Aber dann gibt der alte Knacker kurz vor seinem Tod alles weg. Ihre Kirche. Zu allem Überfluss auch noch an ein fünfzehnjähriges Mädchen mit gefärbten Haaren und einem Piercing in der Nase. Das muss ein ganz schöner Schlag gewesen sein.« »Ich habe keine Ahnung …« Beamon schnitt ihr das Wort ab. »Doch dann stirbt Albert – ohne Himmelfahrt, er stirbt einfach wie jeder andere Mensch. Oder vielleicht haben Sie ein bisschen nachgeholfen? Wie auch immer, Sie saßen jedenfalls ziemlich in der Klemme, nicht wahr? Die einzige Möglichkeit, es irgendwie zu erklären, war die Behauptung, seine Zeit als Bote sei vorbei und jemand anderer sei ausgewählt worden, seinen Platz zu übernehmen.« Sara schaute ihn wie erstarrt an. Mit ihrem dicken Makeup wirkte sie in der trüben Beleuchtung wie eine Schaufensterpuppe, nur ihre Augen blitzten vor Wut. »Jennifer war natürlich eine hervorragende Wahl«, fuhr 403
Beamon fort. »Damit konnten Sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – Ihre kleine theologische Panne kitten und sich gleichzeitig Ihre Konkurrentin vom Hals schaffen.« Beamon drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Denn nächste Woche muss jemand Kneiss’ Platz einnehmen. Nicht wahr?« Sara schaute hastig nach links. Zu Sines, wie Beamon vermutete. »Eine ziemlich abenteuerliche Theorie, Mr. Beamon. Ich weiß nicht recht, was ich dazu sagen soll.« »Dann will ich Ihnen einen Vorschlag machen. Geben Sie mir Jennifer. Wie alle religiösen Führer verstehen Sie sich doch bestimmt auch meisterhaft darauf, irgendwelche obskuren Bibelstellen auszugraben, um alles nach Lust und Laune zu rechtfertigen. Meinetwegen erzählen Sie den Leuten, dass Gott Ihnen in einer Schachtel Cracker erschienen ist und verkündet hat, es sei Jennifers Schicksal, Protestantin zu sein. Das ist mir wirklich scheißegal.« »Glauben Sie ernsthaft, Ihre Position sei stark genug, um mir drohen zu können, Mr. Beamon? Was haben Sie denn? Ein paar illegal erlangte Aufzeichnungen von Gesprächen zwischen – wem eigentlich? Können Sie die Identitäten dieser Leute beweisen? Ich bezweifle es. Und ich bezweifle noch stärker, dass Sie beweisen können, wie die Aufzeichnungen zustande gekommen sind.« »Da haben Sie vermutlich Recht. Vor Gericht hätte ich mit Sicherheit schlechte Karten. Aber falls diese Aufzeichnungen beispielsweise anonym ans FBI geschickt würden – oder vielleicht besser an einen meiner Bekannten bei der Presse – mit einer detaillierten Erklärung, um was es sich handelt und wie 404
sie aufgenommen wurden, würde sich so mancher wahrscheinlich sehr dafür interessieren, wie Sie Ihre Kirche leiten. Eigentlich müsste ich mir vielleicht nicht einmal diese ganze Mühe machen. Ich könnte sie einfach Ihrem größten Fan geben – der deutschen Regierung – und darauf vertrauen, dass sie Ihnen mithilfe dieses Materials das Genick bricht.« Gregory Sines nahm schweigend wieder neben Sara Platz, und Beamon machte sich vorsichtshalber bereit, notfalls rasch nach seinem Revolver greifen zu können. »Hören Sie, Sara, die Herrschaften auf den Bändern scheren mich absolut nicht. Und noch weniger scheren mich die Leute, die diese Idioten wählen. Es ist nicht mein Job, die Öffentlichkeit vor ihrer eigenen Blödheit zu schützen. Mir geht’s nur um das Mädchen, das ganz unschuldig in diese widerliche Geschichte geraten ist.« »Ich verstehe Sie nicht, Mr. Beamon. Sie haben innerhalb von wenigen Wochen fast alles verloren, was Ihnen etwas bedeutet. Und völlig umsonst. Wenn ich das Mädchen hätte würde ich ganz sicher zu verhindern wissen, dass Sie es finden.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Nehmen Sie, was ich Ihnen anbiete. Heiraten Sie diese Psychiaterin. Ziehen Sie von Flagstaff weg.« Beamon zog eine Grimasse und leerte seinen Drink. »Können Sie sich vorstellen, wie es wäre, mit einer Psychiaterin verheiratet zu sein? Die immer wüsste, was man denkt? Außerdem überlege ich gerade, ob ich nicht Skifahren lerne.« »Ist das jetzt dummer männlicher Stolz, oder begreifen Sie immer noch nicht, dass Sie keine Chance haben?« Sie senkte die Stimme. »Falls Sie glauben, was Ihnen bislang zugestoßen ist, sei schlimm gewesen, kann ich Ihnen versichern, dass 405
Ihnen noch sehr viel Schlimmeres droht. Gott wird nicht zulassen, dass Sie seinem Werk im Weg stehen.« Beamon lächelte. »Gott, ach ja.« Er griff nach ihrer Hand und packte sie absichtlich so, dass der Druck auf ihrem verletzten Daumen lag. »Ich vermute mal, dass Sie ungefähr so religiös sind wie ich. Aber falls ich mich irre und es gibt einen Gott, glaube ich allmählich, dass er auf meiner Seite ist.«
FÜNFUNDFÜNFZIG »Alles in Ordnung?«, fragte Ernie besorgt. Beamon klappte angewidert sein Handy zu und nahm sich fest vor, dass er zum letzten Mal seiner Neugier nachgegeben und die Mailbox abgehört hatte. »Was? Ja, ja, bestens.« »Irgendwas Interessantes?« Er schüttelte den Kopf. »Ein hässlicher Anruf von der Bundesfinanzbehörde und von irgendeiner Frau aus einer Aids-Beratungsstelle, die über mein positives Testergebnis mit mir sprechen wollte.« Ernie schaute ihn erschrocken an. »Das tut mir ehrlich Leid, Mark, ich hatte keine Ahnung … Aber ich habe gelesen, dass es einige neue Medikamente …« Beamon lachte. »Keine Panik, Ernie. Ich habe kein Aids. Traurigerweise kann ich mich nicht mal daran erinnern, wann ich das letzte Mal Sex hatte.« »Die Kirche?« Er nickte. »Ich schätze, ich werde in absehbarer Zeit keine 406
neue Lebensversicherung abschließen können. Also, was ist so wichtig, dass ich unbedingt sofort hierher rasen musste?« Ernie nahm ein paar Blätter von ihrem Schreibtisch und hielt sie stolz hoch. »E-Mails.« »Sagen Sie nur, es funktioniert tatsächlich?« Sie reichte ihm die Papiere. »Der Herr hilft uns. Wir haben insgesamt sechs E-Mails bekommen, aber die meisten drehen sich um irgendwelche finanziellen Angelegenheiten, die Sie nicht interessieren, glaube ich.« »Und die anderen?« Sie deutete auf die Blätter in seinem Schoß. »Lesen Sie die ersten zwei.« An:
[email protected] Von: ak@compound Alle, die sich derzeit im Exerzitienhaus aufhalten, sind freigesprochen. Sie verlassen mit dem Personal das Haus bis Mitternacht. Gottes Segen
»Was ist das für ein Exerzitienhaus?«, fragte Beamon. »Eine Ranch im östlichen Oregon. Dort werden Kneissianer hingeschickt, die etwas getan haben, was die Kirche verärgert hat.« »Ach ja, richtig. Es stand etwas darüber in Ihrem Buch. Sie zahlen ein Vermögen dafür, um sich dort bei Brot und Wasser in den Bergen herumscheuchen zu lassen, bis sie umkippen.« 407
»Bis man ihnen vergeben hat«, verbesserte Ernie. Beamon nahm das zweite Blatt. An:
[email protected] Von:
[email protected] Sara ist morgen früh gegen sieben Uhr im Exerzitienhaus. Sie erwarten Sie dort mit zwei weiteren Männern. Nähere Anweisungen erteilt Sara Ihnen. Gottes Segen
Beamon rieb sich das Kinn und las erneut die beiden Mails. »Was meinen Sie dazu, Mark?« »Ich habe vergessen, Ihnen zu erzählen, dass ich wahrscheinlich weiß, wie Jennifer an ein Telefon gekommen ist.« »Wirklich? Wie?« »Saras Mund war ziemlich geschwollen. Es sah aus, als hätte sie einen ordentlichen Faustschlag abbekommen. Und am Daumen hatte sie einen frischen Verband.« Ernie schaute für einen Moment in die Ferne und stellte sich offenbar vor, wie es sein würde, Sara Renslier einmal gründlich zu verdreschen. »Damit haben wir den Beweis«, sagte Beamon rasch, ehe sie ganz in ihrer ekstatischen Vision versank. »Sara wird genau zur gleichen Zeit verletzt, als Jennifer es schafft zu telefonieren. Und plötzlich wollen sie das Internierungslager der Kirche räumen und schicken drei Typen von der ArmbandBrigade dorthin, um sich mit Sara zu treffen.« »Ich glaube, man will sie verlegen, Mark.« 408
Beamon nickte. »Falls sie nicht schon unterwegs sind. Es ist eine ziemlich lange Fahrt und dadurch entsprechend riskant. Sie müssten Jennifer unter Drogen setzen oder sonst wie …« »Sie werden nicht fahren.« »Nicht?« »Nein. Es führt keine Straße zum Exerzitienhaus. Aber es gibt eine Rollbahn, die das ganze Jahr über offen ist.«
SECHSUNDFÜNFZIG Beamon fuhr langsam durch das Tor im Maschendrahtzaun und ließ sein Auto mitten unter kreuz und quer geparkten Fahrzeugen in der Nähe des Towers ausrollen. Die wechselnden Lichter der Startbahn konnte man nur erahnen, und selbst das Licht aus den Fenstern des Towers schaffte es kaum, bis zu seinem Wagen durchzudringen. Der Wetterbericht im Radio hatte gemeldet, eine Warmfront sei über Flagstaff auf kalte Luftmassen getroffen. Die Folge war ein wolkenbruchartiger Regen, der seine Scheibenwischer hoffnungslos überfordert hatte. Beamon stieg aus und hastete geduckt vorwärts. Seine Jeans und das Sweatshirt waren im Nu komplett durchweicht, und der nasskalte Stoff auf seiner Haut erinnerte ihn daran, dass in Flagstaff »Warmfront« bedeutete: knapp über null. Er verlangsamte sein Tempo, als das Licht aus dem Tower hinter ihm verschwand und zwei rote Punkte, die irgendwo vor ihm im Nichts zu schweben schienen, deutlicher wurden. 409
Im Näherkommen sah er einen weißen Flugzeugflügel, auf den Licht aus der offenen Tür und dem kleinen Seitenfenster fiel. Beamon bog etwas nach rechts und blieb in der Nähe des Hecks stehen. Aus seiner Gesäßtasche zog er ein feuchtes Stück Papier. Ehe der Regen die Ziffern zu einem unleserlichen Klecks verschmierte, konnte er sich überzeugen, dass die Nummer stimmte. Ja, das war das Flugzeug. Gott sei Dank, dass er Chet Michaels hatte. Die schweren Regentropfen prasselten so heftig auf die Treppe, dass er kaum etwas sehen konnte, als er näher heranschlich, doch im Innern schien sich nichts zu rühren. Er zog seine Waffe aus dem Halfter unter seinem Sweatshirt und trat vorsichtig auf die erste Stufe. Er war noch nie in einem so kleinen Flugzeug gewesen und hatte Bedenken, dass sein Gewicht es womöglich ins Schaukeln bringen und ihn verraten würde. Ob nun das Flugzeug schwerer war als gedacht oder ob es an seiner Diät lag, die Maschine gab jedenfalls nicht nach, und er schlich langsam weiter. Der Pilot schien irgendwelche Schalter zu kontrollieren und schaute dazwischen immer wieder auf die Papiere auf seinem Klemmbrett. Beamon merkte, dass das Wasser an ihm herunterrann und auf den dicken Teppich tropfte, doch man hörte es offenbar nicht. Es gab insgesamt neun Sitze aus weichem hellbraunem Leder, jeder halb so breit wie die Sitze in der ersten Klasse eines Verkehrsflugzeugs. Im Hintergrund sah er einen kleinen leeren Lagerraum. 410
»Entschuldigung«, sagte er und ging einen Schritt auf das Cockpit zu. Erschrocken wollte der Pilot aufspringen, als er Beamon sah. Oder genauer gesagt, als er auf den Lauf von Beamons Knarre schaute. Unaufgefordert hob er die Hände über den Kopf. »Was wollen Sie? Das ist ein kleines Flugzeug – weiter als Mexiko komme ich nicht.« Beamon wrang den Bund seines Shirts aus und grinste. Eine Karriere als Flugzeugentführer hatte er eigentlich noch nie in Betracht gezogen, aber unter den derzeitigen Umständen schien das gar keine so üble Alternative. Nach Süden über die Grenze zu fliegen, die Maschine für eine ordentliche Stange Geld an einen Drogenschieber zu verkaufen und den Rest seines Lebens mit einem Drink und frischen Tacos am Strand liegen. »Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Ich soll mich hier mit ein paar Leuten von der Kirche treffen, weil es möglicherweise einige Probleme geben könnte …« Der Pilot entspannte sich ein wenig. »Hören Sie, Mann, ich fliege bloß diese Kiste und hab keine Ahnung, was hier vor sich geht. Ich bringe die Leute einfach nur dorthin, wohin sie wollen.« Er war ein ziemlich verquollen aussehender Mann, nicht wirklich fett, sondern eher aufgedunsen, und sein rundes Gesicht wirkte seltsam bleich und haarlos, sodass es schwierig war, sein Alter zu schätzen. »Okay, dann kommen Sie doch mal da raus – ohne irgendwelche Knöpfe und Schalter zu berühren, bitte – und setzen sich dort hinten hin.« 411
Der Pilot gehorchte mehr als bereitwillig und schlängelte sich langsam aus dem engen Cockpit und an Beamon vorbei, wobei er die ganze Zeit seine Hände bis an die Decke reckte. Er setzte sich in einen der dicken Ledersitze und wartete, ob Beamon noch weitere Anweisungen für ihn hatte. Beamon fielen keine mehr ein, nur einen Kaffee hätte er wahnsinnig gern gehabt, möglichst eine ganze Kanne, aber den schien es hier nicht zu geben. Er lehnte sich gegen die gewölbte Wand neben der Tür und schaute auf seine Hände. Sie waren ganz weiß geworden vor Kälte und ohne jedes Gefühl. Vorsichtig krümmte er seinen Zeigefinger um den Abzug. Es funktionierte noch, aber er merkte überhaupt nichts. Also besser etwas vorsichtig sein. »Gibt es hier keine Heizung?« Der Pilot schüttelte den Kopf. »Erst wenn ich das Flugzeug starte.« Mit einem Seufzer schob Beamon seine linke Hand unter die Achselhöhle, womit er allerdings nichts weiter bewirkte, als dass noch mehr Wasser aus seinem Sweatshirt tropfte. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, aber der Wind trieb immer noch alle paar Sekunden kaltes Geniesel zur Tür herein. Er bemühte sich, nicht mit den Zähnen zu klappern, und hoffte, es tat sich jetzt allmählich was. Eine geschlagene Stunde lang stand er bibbernd in der Kälte und fragte sich, was zur Hölle er tun sollte, wenn er sich geirrt hatte und ein paar Kirchenvorstände mit ihren Frauen und Kindern auftauchten, die einen kleinen Ausflug zum Strand machen wollten. Beamon drückte sich etwas dichter an die Wand, als das trübe rote Licht draußen flackerte und dann von näher 412
kommenden Scheinwerfern überstrahlt wurde. Er warf dem Pilot einen warnenden Blick zu und spähte zur Tür hinaus. Wieder ein Taurus. Die Kirche musste Mengenrabatt auf die Dinger kriegen. Das Auto hielt vielleicht sechs Meter entfernt, Fahrer und Beifahrer sprangen heraus, öffneten die Tür zum Rücksitz und beugten sich hinein. Obwohl sie ihm den Rücken zugewandt hatten, konnte er beide ohne Mühe erkennen – die kleine Frau an ihrem strengen Haarschnitt und der Bandage um den rechten Daumen; den Mann durch seinen dicken Schnurrbart, dessen Spitzen sichtbar wurden, wenn er den Kopf bewegte. Beamon hatte gehofft, Gregory Sines würde heute Nacht nicht dabei sein. Ein Mann wie er war in einer solchen Situation unberechenbar. Vor Erleichterung atmete er tief durch, als er im Licht der Scheinwerfer einen Kopf mit gelbblondem Haar erblickte. Er gestand sich ein, dass er eigentlich selbst kaum damit gerechnet hatte. Das leise Brennen in seinem Magen war das ungewohnte Gefühl der Niederlage gewesen, und er merkte erst jetzt, dass er nur hergekommen war, um irgendwas zu tun und nicht kampflos unterzugehen. Aber dass er tatsächlich richtig vermutet hatte, machte diesen Moment umso schöner. Sara und Sines schlangen sich Jennifers Arme um den Hals und gingen mit gesenkten Köpfen auf das Flugzeug zu, da sie nach vereisten Stellen Ausschau hielten. Jennifer schien bewusstlos zu sein; ihr Körper war schlaff, und die Zehen ihrer nackten Füße schleiften über die Rollbahn. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, aber ihre Arme wa413
ren ebenso weiß wie seine Hände – keine Spur mehr von der sportlichen Bräune auf den Fotos. »Scheiße!«, sagte Beamon überrascht und merkte noch, dass Sines aufschaute, während er sich hastig festhielt, um nicht die Treppe hinunterzupurzeln. Der Pilot hatte ihn von hinten gepackt und einen Arm um seinen Hals geschlungen. Beamon drehte sich hart nach rechts und stieß ihm einen Ellbogen in die Rippen. Sines griff in seinen Hosenbund, um zweifellos seine Waffe zu ziehen. Der Arm des Piloten rutschte von der nassen Haut ab, Beamon trat ihm die Füße weg und versetzte ihm gleichzeitig einen Stoß, sodass er kopfüber aus der Tür stürzte. »Stopp!«, brüllte Beamon, um das Rauschen des Regens und den Aufprall des Piloten zu übertönen. Sines ließ sich jedoch von seiner Warnung und dem Revolver nicht abschrecken. Beamon wartete, solange er es riskieren konnte, aber als Sines die Waffe gezogen hatte, drückte er ab. Er hatte gewusst, dass die Kugel treffen würde – immerhin waren es nur knapp fünf Meter Entfernung. Sines wurde zurückgerissen, schaffte es aber irgendwie, in einer sitzenden Position zu landen und erneut die Waffe hochzureißen. Sara warf sich zu Boden und ließ Jennifer einfach auf den Asphalt fallen. Beamon feuerte noch einmal, obwohl er eigentlich wusste, dass Sines bereits tot war. Der Kerl hatte es bloß noch nicht gemerkt. Er rannte die Stufen hinunter und erwischte Sara am Kragen, ehe sie sich wieder aufrappeln konnte. 414
»Lassen Sie mich los, Sie Dreckskerl!«, schrie sie, doch er zerrte sie wortlos zum Flugzeug und fesselte sie mit Handschellen an die Treppe. Beamon schaute auf den bewegungslosen Körper des Piloten. »Dummes Arschloch«, sagte er und beschimpfte sich gleichzeitig selbst. Offenbar konnte er nicht mehr klar denken, seit die Kneissianer ihm sein ganzes Leben ruiniert hatten. Elf Millionen Mitglieder – und da sollte die Kirche etwa einen Mormonen nehmen, um ein entführtes Mädchen zu fliegen? Der Pilot würde wahrscheinlich demnächst wieder aufwachen und nur eine ordentliche Beule am Kopf haben, aber für Sines galt das nicht – er würde dort liegen bleiben und blicklos in den Regen starren. Beamon empfand deswegen allerdings keine besonders große Reue; mehr Sorgen machte ihm, warum er nicht damit gerechnet hatte, dass Sines dabei sein würde. Früher hatte er immer jeden Schritt seiner Gegner vorausgesehen und einkalkuliert. Er schüttelte seine Gedanken ab, als Sara auf ihn losspringen wollte. Mit einem Ruck wurde sie von den Handschellen zurückgerissen. »Passen Sie auf, dass Sie sich nicht wehtun.« Beamon hob Jennifer aus der Pfütze auf, in der sie gelandet war, und drückte sie an seine Brust. »Nehmen Sie mir diese Dinger ab!«, schrie Sara. »Wagen Sie es ja nicht, mich hier anzubinden!« »Habe ich doch schon getan.« Sara rüttelte so heftig an den Handschellen, dass sie sich die Haut aufriss. Das Blut vermischte sich mit dem Regen zu einem blassen Rosa. »Jetzt sind wir ganz allein, Sara. Keiner Ihrer Lakaien ist 415
hier, um mich als Säufer oder Kinderschänder zu diffamieren. Keine Computer, um meine Kreditkarten unbrauchbar zu machen. Es sieht so aus, als hätte Ihr Gott Sie verlassen, um auf meine Seite zu wechseln, nicht wahr?« Sie erstarrte plötzlich und schaute mit erzwungener Ruhe zu ihm auf. »Lassen Sie das Mädchen, Mr. Beamon. Sie ist es nicht wert. Wenn Sie Jennifer mitnehmen, werde ich Sie vernichten und jeden, den Sie jemals gekannt haben.« Beamon warf sich das Mädchen über die Schulter und richtete seine Waffe auf Saras Kopf. »Nein!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und wich zurück, so weit es die Handschellen zuließen. Beamon dachte an alles, was geschehen war, bis er vor lauter Zorn nichts anderes mehr fühlen konnte – nicht die Kälte, nicht das Gewicht von Jennifer auf seinen Schultern, nichts. Er wusste, dass er es tun sollte – sie würde ihn und das Mädchen unbarmherzig verfolgen. Er sollte es für Jennifer tun, für Goldman, für sich selbst. Aber er war bereits weit genug gegangen. Er holte tief Atem und steckte seine Waffe ein. »Sie wirken ziemlich jämmerlich, wenn Sie nicht von Ihren Handlangern umgeben sind.« Beamon tätschelte die Beine des bewusstlosen Mädchens. »Danke, dass Sie mir Jennifer überlassen. Ich schätze, sie wird viel dazu beitragen, mein Leben wieder in Ordnung zu bringen.« Damit wandte er sich um und ging auf sein Auto zu. Die Verzweiflung in Saras Stimme war direkt herzerwärmend. »Sie haben von fünf Millionen Dollar gesprochen, als wir uns das letzte Mal getroffen haben, Mr. Beamon. Was ist, wenn es zehn wären? Zwanzig?« 416
Beamon blieb stehen und schaute zurück, damit er Saras Panik auch richtig genießen konnte. »Zwanzig Millionen? Einverstanden?« Sie deutete auf Sines’ Leiche. »Niemand muss je etwas davon erfahren.« Sie glättete die feuchten Falten in ihrem dunklen Kostüm und richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf. »Sie haben sowieso keinen Platz mehr, wo Sie hin können. Wem können Sie noch vertrauen? Dem FBI? Ich denke, das wissen Sie besser.« Er ging einen Schritt weiter. »Warten Sie«, flehte sie in einem Ton, als wolle sie jemanden davon abhalten, von einem hohen Gebäude zu springen. »Sie haben bewiesen, was Sie können – trotz aller Mittel, die mir zur Verfügung stehen, haben Sie mich geschlagen. Sie haben gewonnen. Jetzt lassen Sie das Mädchen und schließen Sie die Handschellen auf. Danach gehört Ihnen alles, was immer Sie möchten.« Er hätte ihr wirklich gern noch länger zugehört, wie sie sich wand und ihm schmeichelte, aber es war höchste Zeit, sich endlich aus dem Staub zu machen. Der Pilot fing an sich zu bewegen, und im Tower hatte man sicher die Schüsse gehört. Vermutlich knobelten die Fluglotsen gerade darum, wer hinaus in den Regen musste. Beamon ging weiter auf sein Auto zu. »Halt! Warten Sie!« Er beschleunigte seine Schritte. »Sie haben keine Chance«, schrie Sara. »Sie sind ganz allein – wir haben den alten Mann von seinem Elend erlöst, und diese kleine Fanatikerin kann Ihnen auch nicht mehr helfen.« 417
Beamon blieb zögernd stehen. »Wie konnten Sie eine hilflose Frau im Rollstuhl so allein lassen? Wie sollte sie sich wehren?«
SIEBENUNDFÜNFZIG Die Feuerwehr konnte nur noch dafür sorgen, dass der Brand nicht auf die Häuser in der Nachbarschaft übergriff. Selbst die Regenfluten kamen gegen die Flammen nicht an, die aus den zerbrochenen Fenstern schlugen und in die dunkle Nacht loderten. Da er befürchtete, die Brandstifter hielten sich noch irgendwo in der Nähe auf, parkte Beamon fast anderthalb Block entfernt. Vor ein paar Stunden war diese Hölle noch Ernestine Waverlys Haus gewesen. Er schaute hinüber zu Jennifer, die sich in der letzten Stunde immer noch nicht gerührt hatte. Sie lehnte am Fenster, und ihr Mund war offen, doch sie atmete so leise, dass er es kaum hören konnte. Er überprüfte, ob sie gut angeschnallt war, und legte dann seinen Kopf aufs Lenkrad. »Wir haben sie, Ernie«, sagte er leise. »Wir haben gewonnen.« Als er wieder durch die Windschutzscheibe schaute, schien die Gefahr, dass der Brand sich weiter ausbreiten würde, gebannt zu sein. Die Feuerwehrmänner, die bisher bei den anderen Häuser gewacht hatten, kehrten zu ihren Kollegen zurück und drängten sich durch die kleine Menschenmenge, die dem Regen getrotzt hatte, um zu sehen, wie das Häuschen niederbrannte. 418
Er schaltete seine Scheinwerfer wieder an – was eigentlich nicht nötig gewesen wäre, da die gesamte Gegend von den Flammen erhellt war – und legte den Rückwärtsgang ein. Sie war tot, und er konnte nur hoffen, dass es rasch gegangen war. Er versuchte es sich einzureden, aber er wusste dass er sich belog. Saras Handlanger hatten zweifellos wissen wollen, wo er war und was er vorhatte. Entweder hatte sie es ihnen nicht erzählt, oder sie hatte lange genug durchgehalten, dass sie es nicht mehr rechtzeitig zum Flughafen geschafft hatten. Gott sei Dank, dass es nie einen Grund gegeben hatte, ihr die Adresse von Goldmans Apartment zu nennen. Jetzt war auch die Letzte seines zusammengestoppelten Teams tot. Und wieder war es seine Schuld. Bei Goldmans Tod hatte er seine Schuldgefühle noch verdrängen können – wenigstens vorübergehend. Der alte Mann hatte gewusst, was er tat, und wahrscheinlich sowieso länger geatmet, als er überhaupt wollte. Bei Ernie war es etwas anderes. Er hätte längst den Kontakt zu ihr abbrechen sollen. Aber wie schon hunderte Male vorher war er blind für alles andere gewesen und hatte sich nur darauf konzentriert, diesen Fall zu lösen, seinen Gegner zu schlagen, es seinen Vorgesetzten zu beweisen. Er hatte Ernie benutzt und sie den Wölfen überlassen. Als der Feuerschein im Rückspiegel verschwand, musste Beamon unwillkürlich an Ernies unerschütterlichen Glauben denken. Er hatte nie an Gott geglaubt. Und es im Grunde auch nie gewollt. Irgendwie bereitete es ihm Unbehagen, sich ein solches höchstes Wesen vorzustellen, das sämtliche Geschehnisse im Universum lenkte und leitete. Dabei machte 419
doch gerade das Chaos alles erst interessant. Und das Einzige, was man dafür bekam, war eine Ewigkeit mit endloser Ruhe. Er war schon immer der Ansicht gewesen, das sei ein schlechter Handel. Das Leben wurde dadurch nur zu einem sinnlosen Moment voller Leid, wie ein kurzes Blinzeln, das die ewige Glückseligkeit unterbrach. Zum ersten Mal hoffte er jetzt jedoch, dass er sich irrte und Ernie Recht hatte. Er wünschte ihr, dass sie im Tod das fand, wonach sie im Leben gesucht hatte.
ACHTUNDFÜNFZIG Beamon nahm sein Gewehr vom Rücksitz und lehnte es gegen die Wagentür. Vorsichtig schaute er sich auf dem Parkplatz der heruntergekommenen Wohnanlage um, in der Goldman sein letztes Zuhause gehabt hatte. Niemand zu sehen, alles war still. Nur das Paar in dem Apartment nebenan focht mal wieder einen Krach aus, der meist im Bett endete. Glücklicherweise war es auch ziemlich dunkel. Die meisten Glühbirnen in den Lampen waren kaputt, und niemand der Bewohner schien daran interessiert, sie auf eigene Kosten zu ersetzen. Behutsam zog Beamon Jennifer aus dem Wagen und warf sie sich über die Schulter. Noch einmal schaute er sich um, ehe er die Waffe aufhob und über den eisigen Gehweg auf Goldmans Apartment zuging. Da der Regen den Schnee vor der Tür weggespült hatte, konnte er nicht sehen, ob es verräterische Fußspuren gab. 420
Die Vorhänge waren immer noch geschlossen, und es schien dunkel in der Wohnung zu sein, aber das bedeutete nicht besonders viel. Langsam drehte er den Schlüssel im Schloss, holte tief Atem und stieß die Tür auf. Leer. Zweifellos hatte er das dem endlosen Vorrat an falschen Pässen zu verdanken, unter denen Jack Goldman fast all seine Geschäfte abgewickelt hatte. Mit einem Tritt fegte Beamon ein paar Schachteln vom Sofa und legte Jennifer darauf, ehe er sich in einen Sessel fallen ließ und den Fernseher anstellte. Mit einer Hand schraubte er die Flasche Bourbon auf, in der noch ein Rest übrig war, und schaltete mit der anderen auf einen Lokalsender. Noch zehn Minuten bis zu den Nachrichten um elf Uhr. Er hatte bekommen, was er so dringend haben wollte. Jennifer Davis lag auf seinem Sofa, und es hatte lediglich drei Menschenleben gekostet. Und ein halbes, wenn er mitzählte, was von seinem eigenen übrig war. Beamon nahm einen zweiten tiefen Schluck aus der Flasche und schraubte sie dann wieder zu. Es war noch nicht vorbei. In vier Tagen sollte Jennifer laut Plan zur Gottheit aufsteigen. Vier Tage für Sara, um das Blatt noch zu wenden. Außerdem war das FBI hinter ihm her, Ernie und Goldman waren tot, und inzwischen durchkämmten vermutlich tausend Kneissianer jeden Apartmentkomplex und jedes Hotel im Umkreis von dreihundert Meilen auf der Suche nach ihm. Schöne Aussichten. Er schaute hinüber zu Jennifer. Sie hatte bloße Füße und trug dieselbe Kleidung, die sie zuletzt getragen hatte – das Paar Shorts und das Sweatshirt, das sie nach ihrem vierten 421
Platz in Phoenix angezogen hatte. Sie sah dünner aus als auf den Fotos, und ihre Haare waren ein wenig nachgewachsen. Unter dem künstlichen Gelb, das bei jungen Leuten heutzutage offenbar besonders beliebt war, zeigte sich ein wesentlich hübscheres natürliches Braun. Der Ring war aus ihrer leicht geschwollenen Nase verschwunden, und unter ihren Augen hatten sich dunkle Kreise gebildet. Alles in allem sah sie aus wie der einzige Mensch auf Erden, der einen schlimmeren Monat hinter sich hatte als er. Die Lokalnachrichten eröffneten mit dramatischen Bildern des Brands. Nach Aussage der Feuerwehr hatte man bislang noch nicht untersucht, was die Ursache gewesen war, und wusste auch noch nicht, ob sich irgendjemand im Haus befunden hatte. Man wollte es zunächst einfach ausbrennen lassen und dann weitersehen. Während Beamon den Rest der Sendung verfolgte, schaute er alle paar Sekunden nervös zur Tür. Bisher war weder Goldmans Tod erwähnt worden noch die Schießerei auf dem Flugplatz. Wahrscheinlich würde man auch nie etwas davon hören. Als der Wetterbericht anfing, schaltete er den Fernseher ab und zündete sich eine Zigarette an. Was jetzt? Wenn er es schaffte, dass Jennifer die nächsten vier Tage überlebte und sie ihre Geschichte erzählte, müsste sie außer Gefahr sein. Sara war zwar rachsüchtig, doch ganz sicher nicht dumm. In Goldmans Apartment konnten sie jedenfalls nicht bleiben. Es war möglich, dass die Leute der Kirche dieses Versteck nie fanden – die Spuren, die hierher führten, waren 422
ziemlich spärlich. Aber er durfte keinerlei Risiken eingehen. Und damit blieben nur ziemlich wenige Optionen. Erstens: das Auto irgendwo abstellen und sich in einem Motel verkriechen, was nicht gerade ideal war. Damit stünde er immer noch allein gegen die gesamten Kräfte der Kirche, und bei seinem Glück würde er prompt in einem Motel landen, das den Kneissianern gehörte. Wahrscheinlich würden sie sowieso in sämtlichen Hotels in der Gegend nach ihm suchen und alle Straßen, die zur Stadt hinausführten, beobachten. Zweitens: zur Presse gehen. Aber zu wem? Offensichtlich hatte die Kirche auch dort ihre Kontaktleute, sonst hätte er noch einen Job. Garantiert rechneten sie mit dieser Möglichkeit und erwarteten ihn vielleicht schon. Außerdem war damit nicht sein Problem gelöst, Jennifer vor dem Opferaltar zu bewahren, bis die Karwoche vorbei war. Drittens: sie zum FBI bringen. Das wäre wahrscheinlich am besten, aber lieber würde er zuerst noch so einiges regeln, ehe er sich wieder zurückmeldete, denn anschließend blühten ihm wahrscheinlich eine sechs Monate lange interne Untersuchung mit endlosen Anhörungen und vermutlich drei bis fünf Monate in irgendeiner hübschen Strafanstalt. Die beste Antwort war Chet Michaels. Oder wenigstens das geringste Übel. Sie könnten sich irgendwo treffen, und Michaels könnte sie ins Büro nach Phoenix fahren. Selbst wenn Layman etwas mit den Kneissianern zu tun hatte oder von ihnen erpresst wurde, was könnte er schon machen, wenn Jennifer in einem Büro voller Menschen stand 423
und damit zum öffentlichen Eigentum wurde. Von diesem Moment an hätte jemand anderer die Verantwortung für die ganze Sache.
NEUNUNDFÜNFZIG Beamon wurde mit einem Ruck wach, als das Sofa leise knarrte. Für einen Moment betrachtete er verwirrt die Waffe, die auf seinem Schoß lag, und das junge Mädchen auf der Couch. Die Ereignisse der vergangenen Woche liefen wie im Zeitraffer in seinem Kopf ab, ehe er richtig bei sich war. Seine Suspendierung, Carrie, Jacks und Ernies Tod und schließlich die Bilder der letzten Nacht, als er Jennifer endlich gefunden hatte. Und sich damit ein ganzes Bündel neuer Probleme aufgehalst hatte. Jennifer schien immer noch nicht zu sich gekommen zu sein. Beamon stand auf und streckte sich. Durch die staubigen Jalousien drang das Licht der Sonne in das stille Apartment, in dem nur die Computer leise summten. Beamon legte seine Waffe auf den Sessel, ging hinüber zum Sofa und schüttelte Jennifer sanft. Ihre Muskeln verspannten sich für eine Sekunde und wurden dann wieder schlaff. Aha. Er rüttelte sie erneut, diesmal ein bisschen fester. »Komm schon, Jennifer. Hoch mit dir. Ich weiß, dass du wach bist.« Diesmal kam gar keine Reaktion. Er ging in die Küche und füllte Eis aus dem Kühlschrank 424
in eine rostige Pfanne. »Wach auf, Mädchen. Letzte Chance«, warnte er, als er sie bis oben hin mit Wasser aufgoss. Leise summend legte er einen Deckel über die Pfanne, ging zurück zum Sofa und schwenkte sie langsam. Er konnte förmlich sehen, wie Jennifer beim Geräusch der rollenden Eiswürfel die Ohren spitzte. Beamon hob den Deckel an und kippte die Pfanne etwas. Kaum hatte sie der erste Spritzer Wasser im Gesicht getroffen, sprang sie von der Couch und war mit einem Satz über den alten Beistelltisch neben den Sessel gehechtet, in dem er letzte Nacht geschlafen hatte. Bis Beamon die Pfanne wieder gerade halten konnte, damit nicht das ganze Wasser aufs Sofa schwappte, sah er sich einem sehr verängstigten fünfzehnjährigen Mädchen gegenüber, das einen geladenen Revolver auf ihn richtete. Er zog eine Grimasse und schloss die Augen. Nach fast zwanzig Jahren Verbrecherjagd, in denen er einige der übelsten Gesellen der Welt hinter Gitter gebracht hatte, war ein halbwüchsiges Mädchen der erste Mensch, der je seine Waffe in die Hand bekommen hatte. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass er lange genug überlebte, um einen Bericht über diese Ermittlungen zu schreiben, würde er das vermutlich lieber auslassen. Langsam öffnete Beamon ein Auge. »Jetzt hast du mich aber wirklich überrumpelt.« Er öffnete das andere Auge. »Herrgott, ich war selbst in meiner Jugend nicht derart flink wie du.« »Keine Bewegung!« »Darf ich mich wenigstens setzen?« Er stellte die Pfanne auf den Tisch und ließ sich aufs Sofa fallen. 425
»Ich schieße!«, rief Jennifer, als er in die Tasche griff. Vorsichtig angelte er nach einem Päckchen Zigaretten und nahm sich eine heraus. »Glaube ich dir, Mädchen. Aber dann bitte nicht aus Zufall oder Nervosität, sondern weil du es wirklich willst.« Er zündete sich die Zigarette an. »Was hältst du davon, deinen Finger ein wenig vom Abzug zu nehmen?« Er klopfte auf den Rest seiner hartnäckigen Speckrolle, die nicht von seiner Taille weichen wollte. »Ich denke, du stimmst mir zu, dass ich gar nicht in der Lage bin, durchs halbe Zimmer zu hechten und dich zu packen. Bis dahin hättest du längst abgedrückt.« Sie schaute ihn misstrauisch an, aber schließlich nahm sie unsicher den Finger vom Abzug. »Wer … wer sind Sie?« »Mark Beamon. Ich bin vom FBI.« »Sie sehen nicht aus wie ein FBI-Agent.« Vermutlich meinte sie damit seine lässige Kleidung. Alle Welt schien zu denken, dass FBI-Agenten in ihren Anzügen schliefen. »Danke.« »Zeigen Sie mir Ihren Ausweis.« Beamon seufzte. »Es ist eigentlich ein bisschen übertrieben, zu sagen, dass ich beim FBI bin. Ich war beim FBI, bis ich letzte Woche suspendiert wurde. Was übrigens deine Schuld ist.« »Ich glaube Ihnen nicht.« Beamon zuckte die Schultern. »Was schlägst du vor?« Jennifer kaute für einen Moment auf ihrer Lippe, dann ging sie zu einem hinfällig wirkenden Schränkchen und begann die Schubladen aufzureißen. In der dritten fand sie ein Telefonbuch und blätterte durch die ersten Seiten, wobei sie ihn immer im Blick behielt. »Aha. Aber es wäre mir lieber, du würdest das nicht tun«, 426
sagte Beamon, als sie nach dem Telefon auf dem Schränkchen griff. »Man könnte zurückverfolgen, woher der Anruf kam. Das ist besser.« Er nahm sein Handy vom Tisch und schob es ihr über den Boden zu. Sie beäugte es so skeptisch, als könne es womöglich gleich explodieren, hob es aber schließlich auf und wählte. »Hallo? Ja, ich … ich möchte gern mit Mark Beamon sprechen, bitte.« Während sie wartete, musterte sie ihn von oben bis unten. Die Waffe zitterte jetzt etwas weniger, und der Lauf war nicht mehr direkt auf sein Gesicht gerichtet. Was aber im Grunde auch keine Rolle spielte. »Hallo? Ich wollte mit Mark Beamon … Nein, ich will keine Nachricht hinterlassen, es ist ziemlich wichtig … Oh. Wirklich? Könnten Sie eine Sekunde dranbleiben?« Beamon fing das Handy auf, das sie ihm zuwarf. »Hallo? Ist da noch wer?« »Mark! Ich versuche andauernd, Sie zu erreichen! Wo stecken Sie denn? Und wer war das?« »Ich bin viel rumgekommen, D. Hab meine freie Zeit genossen, wissen Sie?« »Haben Sie gehört, was hier passiert ist?« Ihre Stimme klang etwas dumpf, vermutlich weil sie eine Hand um das Mundstück des Telefons gewölbt hatte. »Nein, was?« Jennifer sah aus, als würde sie allmählich ungeduldig, und Beamon lächelte ihr rasch zu. »Mark, es wird davon gemunkelt, dass man Sie mit einem Haftbefehl zur Fahndung ausschreiben will. Der Direktor kommt persönlich hergeflogen, um sich mit Layman zu treffen.« 427
D. war wirklich die perfekte Sekretärin. Wenn irgendjemand im Hauptquartier einen Kugelschreiber verschlampte, wusste sie noch am selben Tag davon. »Wann?« »Die Fahndung? Das ist noch nicht entschieden, bislang ist es nur Gerede. Der Direktor kommt allerdings am Ersten her. Ich denke, wenn sich bis dahin nicht irgendwas getan hat, können Sie damit rechnen, dass die Sache noch am gleichen Tag über die Bühne geht. Was haben Sie bloß angestellt? Sie glauben gar nicht, was für Gerüchte ich so gehört habe.« »Ich kann’s mir denken. Um welche Zeit treffen sich Layman und der Direktor?« »Ich weiß nicht. Morgens. Mark, was ist los? Geht’s Ihnen gut?« »Klar. Warten Sie eine Sekunde, ja? Da will jemand mit Ihnen reden.« Beamon warf Jennifer das Handy zu. »Hallo? Ja, ich wollte Sie nur fragen, ob das Mark Beamon war. Aha. Sie sind sicher. Okay. Und was genau hat er dort für einen Job? … Wirklich? Danke. Wiederhören.« Sie schaltete das Handy ab, ließ sich in den Sessel fallen und legte die Waffe vorsichtig auf den Boden. Beamon beugte sich vor. »Ganz schön clever, Jennifer. Ich nehme an, die Überprüfung meiner Person ist zu deiner Zufriedenheit ausgefallen?« Sie schien den letzten Rest ihrer Kraft und ihres Muts aufgebraucht zu haben, ließ den Kopf sinken und zitterte am ganzen Körper, als sie leise zu schluchzen begann. Beamon wusste nicht so recht, was er tun sollte. Er stand 428
auf und kauerte sich neben sie. »Es ist okay, Jen. Alles ist gut. Du hast es überstanden.« Sie warf ihm die Arme um den Hals und klammerte sich an ihn. »Na, na, jetzt weine nicht. Ich bin sowieso schon deprimiert genug«, sagte er und tätschelte ihr unbeholfen den Rücken. »Sie wollten mich umbringen, Mr. Beamon! Sie haben mich in dieses Zimmer gesperrt, und ich war ganz allein, und sie wollten mich nicht mehr weglassen. Sie wollten mich umbringen!« Sie fuhr sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts über die Nase und riss sich plötzlich los. »Was für ein Tag ist heute?« »Dienstag. Der fünfundzwanzigste.« Entsetzt sprang sie auf und wich zurück bis an die Wand. »O mein Gott. O mein Gott.« »Jennifer, beruhige dich. Was ist denn?« »Es ist noch nicht vorbei. Sie wird nicht aufgeben, solange noch Zeit ist.« Beamon stand auf und führte sie zur Couch. »Karfreitag?« Sie nickte. »Mein Großvater, er … er wollte, dass ich die Kirche übernehme. Aber sie hat alle belogen. Sie will mich umbringen, damit sie … ihr gehört.« »Wer? Sara?« Jennifer nickte erneut. »Aber sie will dich doch nur umbringen, weil Albert – dein Großvater – zu früh gestorben ist, nicht wahr? Weil sie behauptet hat, du seist der neue Bote und müsstest an seiner Stelle in den Himmel fahren, richtig?« Sie schien ihm gar nicht zuzuhören. Gehetzt schaute sie 429
sich um, als ob die Mächte der Kirche sich mit jeder Minute in irgendeiner Zimmerecke materialisieren würden. Und er traute ihnen ebenfalls langsam alles zu. »Jennifer, ist das richtig, was ich gesagt habe?« »Ja.« Er packte ihre Schultern. »Okay. Jetzt nimm dich zusammen. Wir brauchen doch bloß dafür zu sorgen, dass du bis Karfreitag in Sicherheit bist, von da an bist du nutzlos für sie. Das sind nur ein paar Tage – gar kein Problem«, behauptete er möglichst zuversichtlich und hoffte, sie merkte ihm seine Zweifel nicht an. »Versprochen?«, fragte Jennifer. »Versprochen. Willst du was essen? Ich habe Schokoflocken.« »Das Zeug ist purer Zucker«, erwiderte sie und schaute immer noch unablässig zwischen Tür und Fenster hin und her. Er öffnete den Kühlschrank. »Tja, ansonsten könnte ich dir Hotdogs anbieten. Leider ohne Brötchen.« »Dann lieber die Flocken.« »Ich finde das Zeug klasse.« Beamon nahm die Schachtel aus einem Schrank. »Könnte mich direkt drin wälzen.« Endlich lächelte sie einmal. »Hast du zufällig Ahnung von Computern, Jen?« Sie nickte. »Dann schau doch mal, ob du mit dem da drüben zurechtkommst, während ich dir was zusammenmixe.« »Was soll ich denn machen?« Sie setzte sich vor den Bildschirm und tippte auf die Maus. »Ich wüsste gern, ob Voice-Messages und E-Mails gekommen sind.« 430
»Soll ich nicht lieber die Flocken machen? Sie kennen sich doch bestimmt besser aus.« »Ehrlich gesagt, ich weiß kaum, wie man dieses Ding einschaltet. Der Kasten gehört nicht mir. Deshalb hatte ich gehofft, du wüsstest vielleicht, wie man damit umgeht.« »Und wem gehört der Computer?«, fragte sie und wirkte wieder ein bisschen nervös. »Einem Freund.« »Wo ist er?« »Er musste heimfahren. Sein Vater ist seit Jahren krank, und sein Zustand ist plötzlich schlimmer geworden«, log Beamon. Sie schaute ihn etwas unsicher an und wandte sich dann zum Bildschirm um. Kurz darauf ertönten aufgezeichnete Telefongespräche über die Lautsprecher. »He! Das bin ich ja!«, rief Jennifer, als sie die Aufzeichnung ihres Anrufs bei den Colorado Cyclist hörte. Angespannt lauschte sie ihrem Schreien und den Geräuschen des kurzen Kampfes. Beamon stellte die Schale mit den Flocken neben den Computer und zog einen Karton heran, auf den er sich setzte. Noch immer wurden aufgezeichnete Telefongespräche der Kirche abgespielt, aber er rechnete eigentlich nicht damit, dass etwas Interessantes dabei war. Sie schienen bei Telefonaten ziemlich vorsichtig zu sein. »Was ist mit E-Mails?« Jennifer klickte auf das Mailbox-Icon, und das Modem begann zu quäken. »Sieben Nachrichten«, sagte sie und öffnete die erste. Ein Wirrwarr von Buchstaben und Zeichen erschien auf dem Schirm. 431
»Es ist verschlüsselt, Mr. Beamon.« »Nenn mich Mark.« Sie schaute ihn an und wischte sich einen Tropfen Schokomilch vom Kinn. »Sie sehen nicht aus wie ein Mark, eher wie ein Mr. Beamon.« Er zuckte die Schultern. »Wie du willst. WrathofGod.« »Was?« »Das Passwort. WrathofGod. In einem Wort, das W und das G werden großgeschrieben.« Kurz darauf spuckte der Drucker die E-Mails aus. Die ersten sechs waren ziemlich belanglos – meistens Anweisungen für irgendwelche Geldgeschäfte. Die letzte war eine völlig harmlos aussehende Mitteilung, in der Ernestine Waverlys Adresse genannt wurde. Er fragte sich, ob Ernie die Nachricht gesehen und gewusst hatte, dass sie kommen würden. Sein Handy hatte geläutet, kurz bevor er den Flughafen erreicht hatte. War das Ernie gewesen, die um Hilfe rufen wollte? Und wenn er abgenommen hätte, was hätte er getan? »Alles in Ordnung, Mr. Beamon?« »Klar, entschuldige. Also, hör zu, Jennifer. Wir müssen dich zum FBI bringen. Du bist sicherer, wenn einhundert Leute auf dich aufpassen als nur einer.« Er lächelte. »Auch wenn der eine so begabt und gut aussehend ist wie ich.« »Aber Sie kommen doch mit, oder? Ich meine, einhundert Leute haben mich nicht gefunden – nur Sie.« Sie war wirklich ein kluges Kind. Wenn alle Kinder so waren, würde er es sich wirklich noch mal überlegen, Nachwuchs zu zeugen. »Ich bin mit dabei. Ich rufe jetzt einen Freund an, der uns 432
hilft, und ab heute Nachmittag hat das gesamte FBI bis Samstag ein Auge auf dich. Du musst dir also gar keine Sorgen mehr machen.« Sie schaute sich in dem schmuddeligen Apartment um und umklammerte unwillkürlich die Tischkante, dass ihre Knöchel weiß wurden. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir einfach hier bleiben.« »Du bist bereits zu lange hier gewesen, Jennifer«, erwiderte Beamon und wählte auf seinem Handy eine Nummer. »Es suchen jede Menge Leute nach dir, und irgendwann werden sie diese Wohnung finden …« »Hallo?« »Chet! Sind Sie das?« Michaels senkte die Stimme und flüsterte genauso wie vorhin seine Sekretärin. »Herrgott, Mark. Wo zur Hölle stecken Sie? Hier im Büro kriechen lauter Typen von Layman herum und versuchen rauszukriegen, wie man Sie finden könnte.« »Kann ich mir denken. Hören Sie zu, Chet. Erinnern Sie sich an diesen Unterschlagungsfall, den Sie bearbeitet haben? Wir beide sind damals zu dem Verdächtigen gefahren. Richtung Phoenix.« »Ja, klar.« »Wissen Sie noch, wo wir gegessen haben?« »Sicher. Mark, was zum Teufel …« »Treffen wir uns dort um drei. Tun Sie so, als gingen Sie wie immer in die Mittagspause. Fahren Sie ein bisschen herum, essen Sie einen Happen, und sorgen Sie vor allem dafür, dass Ihnen niemand folgt.« »Aber Sie …« 433
Beamon schaute auf seine Uhr. »Was quasseln Sie noch? Es ist schon elf Uhr sechsundfünfzig.« Michaels seufzte. »Bin bereits unterwegs.« »Oh, noch was. Chet?« »Ja?« »Drei Leute haben mir im Fall Jennifer Davis geholfen. Sie sind der Einzige, der noch lebt. Wollen Sie trotzdem kommen?« Es gab eine lange Pause. »Sie erzählen mir dann aber auch alles, abgemacht?« »Klar.« »Wir sehen uns in ein paar Stunden.« Beamon schaltete das Handy ab und schaute in Jennifers besorgtes Gesicht. »Wenn du dich noch ein bisschen zurechtmachen willst oder so was, dann beeil dich besser. Wir müssen hier weg.«
SECHZIG Die Außentemperaturen waren um fast dreißig Grad gestiegen. Die Sonne, die Jennifer seit über einem Monat nicht gesehen hatte, knallte gnadenlos durch die Scheiben, sodass sie schließlich Beamons Parka, den sie um ihre nackten Beine gewickelt hatte, auf den Rücksitz warf. »Können wir jetzt die Heizung ein bisschen runterdrehen, Jen?«, fragte er und wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn. 434
»Okay.« Sie lehnte den Kopf gegen das Fenster und schaute auf die vorbeiziehende Landschaft, schien aber gar nichts wahrzunehmen. Nachdem sie in Goldmans Apartment ein wenig munterer geworden war, als sie begriffen hatte, dass sie wirklich frei war, schien sie jetzt wieder ganz in ihre Gedanken versunken. Beamon vermutete, dass sie gern reden wollte. Über ihre Eltern, über Sara, ihre Erlebnisse, ihre Zukunft. Aber er wusste einfach nicht, wie er es anstellen sollte, den richtigen Anfang zu finden. Mit einem leisen Seufzer dachte er an Carrie. Sie würde wissen, wie man ihr helfen könnte. »Chet wird dir gefallen, Jen. Er ist viel jünger und hipper als ich. So sagt man doch, oder?« Sie gab keine Antwort. Das war wohl daneben gegangen. Vielleicht war die direkte Methode besser. »Gibt es da draußen irgendwas, das interessanter ist als ich, oder meditierst du bloß über das Leben?« Sie wandte sich zu ihm um, und er sah auf ihrem Gesicht so viel Schmerz und Traurigkeit, wie es jemand in ihrem Alter noch gar nicht kennen sollte. »Ich dachte gerade an Eric und Patty.« »An wen?«, fragte Beamon, doch dann begriff er. »Du meinst deine Eltern.« Sie blickte aus dem Fenster. »Ich meinte meine Wärter.« Beamon war nicht sicher, was er darauf sagen sollte. Allerdings hatte er eine unausgesprochene Frage, die ihn gequält hatte, seit sie wieder zu Bewusstsein gekommen war. »Was ist wirklich in dieser Nacht passiert?« »Er hat sie umgebracht«, erwiderte sie schlicht. 435
»Wer?« »Eric.« »Dein Vater«, verbesserte Beamon erneut. »Er war nicht mein Vater. Mein Vater ist seit Jahren tot. Er war einfach irgendein Kerl, den die Kirche angeheuert hatte, um auf mich aufzupassen, bis es Zeit war, mich zu töten.« Am liebsten hätte Beamon das Thema einfach fallen lassen – er hatte das Gefühl, als zwinge er sie zu Erinnerungen, die am besten begraben blieben. Doch er wusste, dass es besser war für sie, wenn sie darüber sprach. »Also dein … ich meine, Eric hat Patricia getötet. Und dann hat er sich selbst umgebracht, nicht wahr?« Sie nickte. Beamon fluchte unterdrückt. Eigentlich hatte er immer einen Rest Zweifel an dieser Theorie gehabt. Er musste dieser niedlichen lesbischen Gerichtsmedizinerin einen anerkennenden Klaps auf den Rücken geben, wenn er sie in diesem Leben noch mal wiedersah. »Sie stand einfach bloß da, und er hat sie umgebracht«, fuhr Jennifer fort. »Was mit mir passierte, war ihnen ganz egal. Allen beiden.« Erstaunlich, wie gut sie sich hielt. Er versuchte, sich vorzustellen, wie es war, fünfzehn Jahre alt zu sein und so etwas mit ansehen zu müssen. »Ich glaube nicht, dass das stimmt, Jennifer.« »Sie waren ja nicht dabei. Die hatten ihm eine Waffe gegeben. Er hätte sich wehren können, aber er hat nichts getan.« Sie wandte sich wieder zum Fenster um. »Er hat gar nichts getan.« 436
»Du bist im Moment wütend, und das mit gutem Recht. Aber ich denke, mit der Zeit wirst du verstehen, dass die Sache nicht so einfach war, wie du sie vielleicht im Augenblick siehst.« Ein bitteres Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Das hat Patty auch immer zu mir gesagt. Das verstehst du erst, wenn du älter bist.« »Stimmt bloß leider nicht, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Mit den Jahren verändert sich die Perspektive, aber ich bezweifle, ob man je wirklich mehr versteht.« Plötzlich bremste Beamon ab und bog in eine Ausfahrt ein. »Deine … Entschuldigung, Eric und Patricia waren sehr gläubig. Sie haben das zwar vor dir verheimlicht, aber ihre Religion war ihnen ungeheuer wichtig, und sie waren der Überzeugung, dass du, na ja … fast göttlich seist. Als sie Selbstmord begangen haben, haben sie es in gewisser Weise für dich getan. Sie wollten, dass du frei bist. Um etwas zu werden, was sie nie werden konnten. Ich weiß, es klingt irre, aber das ist es im Grunde doch, was alle Eltern für ihre Kinder wollen.« »Dass irgendeine durchgeknallte Schlampe sie umbringt, damit sie ihren Job behalten kann?« Beamon verlangsamte das Tempo noch etwas mehr und tippte ihr auf die Schulter, bis sie ihn anschaute. »Ich habe fast den ganzen letzten Monat nur an diesem Fall gearbeitet, Jennifer. Ich weiß mehr darüber als irgendjemand sonst, und ich sage dir, dass deine Eltern keine Ahnung hatten, was Sara plante. Wirklich nicht.« »Vielleicht hätten sie am Leben bleiben und es herausfinden sollen.« 437
Glücklicherweise lag das Restaurant, in dem Michaels wartete, direkt vor ihnen. Sein erster Versuch als väterlicher Berater schien eine absolute Pleite zu sein, was ihn wenig überraschte. Wahrscheinlich war es besser, das Thema zu wechseln, ehe er alles noch schlimmer machte. »Da wären wir. Und jetzt kriegen wir gleich Verstärkung.« Jennifer wirkte etwas nervös. »Lassen Sie uns die Sache vergessen, Mr. Beamon.« Sie drehte sich um und schaute voller Panik durch das Rückfenster. »Bitte, lassen Sie uns weiterfahren.« Auf einmal wurde Beamon klar, was ihr durch den Kopf ging. Ihre Eltern hatten sie der Kirche überlassen, und jetzt wollte er sie dem FBI übergeben. »Jennifer, wir sind kaum drei Meilen von einem der größten FBI-Büros des Landes entfernt. Ich werfe dich nicht einfach den Wölfen vor. Sie können dich besser beschützen als ich. Und wenn du in Sicherheit bist, tue ich alles, was ich kann, um Sara Renslier und ihre Kirche endgültig zu erledigen, sodass sie dir nie wieder was tun können.« Sie packte seinen Arm. »Ich will bei Ihnen bleiben. Sie können nicht mal mit einem Computer umgehen. Ich könnte Ihnen helfen.« Beamon bog auf den Parkplatz und entdeckte Michaels, der neben seinem Wagen stand. Er hielt bei dem jungen Agenten und schaute sich vorsichtig um. Der Parkplatz war voller Autos, aber menschenleer. Der Mittagsansturm auf das Restaurant war mittlerweile vorbei, und der Abendbetrieb hatte noch nicht begonnen. Die meisten Fahrzeuge gehörten wahrscheinlich Kunden, die in den Läden auf der anderen Straßenseite einkauften. 438
Michaels blickte auffällig hastig nach links, als Beamon ausstieg. Scheiße. Rasch sprang er wieder in den Wagen und griff nach seiner Waffe, aber es war zu spät. Zwei Männer, die hinter einem alten Lieferwagen gestanden hatten, richteten ihre Maschinenpistolen auf ihn. Jennifer war vom Sitz gerutscht und kauerte sich auf dem Boden zusammen. Mit aller Kraft versuchte sie, die Tür zuzuhalten, die ein dritter bewaffneter Mann öffnen wollte. Beamon packte sie unter den Armen und zog sie mit sich zur Fahrerseite hinaus. »Ich schwöre, sie sind mir nicht gefolgt, Mark. Sie waren bereits hier, als ich kam.« »Klappe«, befahl einer der Männer. »Halt selbst die Klappe, Arschloch«, entgegnete Michaels wütend. Beamon warf ihm einen warnenden Blick zu, die Ruhe zu behalten. Jennifer klammerte sich voller Angst an ihn. »Keine Panik, Jen. Es ist alles okay.« Das stimmte natürlich nicht ganz. Der Mann, der versucht hatte, die Autotür zu öffnen, war um den Wagen herumgegangen, und nun standen ihnen drei Männer gegenüber. Unschlüssig schaute Beamon sich um. Ungefähr fünfzig Meter entfernt war noch eine Frau auf dem Parkplatz, die jedoch ganz damit beschäftigt war, den Kofferraum aufzuschließen, ohne ihre Einkaufstüten abstellen zu müssen. Diese Kerle könnten ihn und Michaels problemlos erschießen, das Mädchen in den Lieferwagen werfen und längst weg sein, ehe irgendjemand auch nur merkte, was passiert war. 439
»Du kommst mit uns«, sagte einer der Männer. Beamon richtete die Waffe auf seine Brust. Er schien ein paar Jahre älter zu sein als die beiden anderen, aber sicher auch noch keine fünfunddreißig. »Das hättest du wohl gern, du Arsch!«, sagte Michaels. »Herrgott, Chet«, seufzte Beamon. »Müssen Sie immer gleich auf Konfrontationskurs gehen?« Michaels senkte den Kopf, als wäre er gerade dafür gescholten worden, dass er nicht den Müll rausgetragen hatte. Die schwer bepackte Frau fuhr vom Parkplatz, der nun gänzlich menschenleer war. Einer der Männer hatte seine Waffe auf Michaels gerichtet, die anderen beiden zielten auf ihn. Sie würden das Mädchen nicht töten – immerhin war sie die einzige lebende Verwandte ihres Messias, und Sara brauchte sie für ihren religiösen Zirkus. Und auch er musste nicht befürchten, dass man ihn einfach über den Haufen schoss. Sara wollte die VericommAufnahmen und hatte zweifellos vor, ihm ein paar sehr unerfreuliche Stunden zu bereiten, bis er ihr verraten hatte, wo sie waren. Nur für Michaels sah es schlecht aus. Seine Lebenserwartung war gerade von fünfzig Jahren auf unter eine Stunde gesunken. »Gehen wir«, sagte der Mann. Er kümmerte sich gar nicht darum, dass Beamon eine Waffe auf ihn gerichtet hatte, und packte Jennifers Arm. »Nein!« Sie klammerte sich an Beamon, dass ihm fast die Luft wegblieb. Beamon löste ihre Hand. Der Mann zog sie mit einem zu440
friedenen Grinsen zu sich. »Eigentlich hatte ich Sie anders eingeschätzt, Beamon, und nicht gedacht, dass Sie so einfach klein beigeben.« »Sie Scheißkerl«, schrie Jennifer ihn an. »Sie haben es versprochen!« Beamon seufzte unterdrückt. Verzweifelte Situationen erforderten verzweifelte Maßnahmen. Rasch entsicherte er seinen Revolver und richtete ihn direkt auf Jennifer. Der Mann, der sie festhielt, schaute ihn verdutzt an, aber sie war noch viel verblüffter. »Was heißt hier klein beigeben?«, sagte Beamon ruhig. »Man hat euch befohlen, das Mädchen nicht zu verletzen und mich ebenfalls mitzubringen – mehr oder weniger am Stück. Meinen Kollegen knallt ihr dagegen vermutlich einfach ab, sobald wir in den Lieferwagen gestiegen sind.« »Toll«, schnaubte Michaels verärgert. Er klang, als hätte er gerade entdeckt, dass ihm jemand das Auto zerkratzt hatte. »Ich weiß, was ihr mit ihr vorhabt«, fuhr Beamon fort. »Am Freitagmorgen ist sie tot, bis dahin wird man sie in irgendeinem Zimmer einsperren und wahrscheinlich unter Drogen setzen. Ich bezweifle, dass ich sie jemals wiederfinde, wenn ich zulasse, dass ihr sie mitnehmt. Deshalb ist es vielleicht besser, wir beenden die Sache einfach hier. Kurz und schmerzlos.« Er schaute zu Jennifer. »Was meinst du, Jen? Hier draußen im Sonnenschein oder auf irgendeinem Altar mit Sara als Schlächterin?« Sie wirkte völlig erstarrt. Die Männer wechselten einen unsicheren Blick. 441
»Hier«, sagte Jennifer leise. Der Mann, der sie festhielt, wich einen Schritt zurück, ließ sie aber nicht los. Beamon war verdutzt angesichts ihrer Antwort. Er hatte die Frage nur gestellt, um die Sache etwas dramatischer zu machen. Er war zwar bereit, sich erschießen zu lassen, auf keinen Fall würde er jedoch auf sie schießen. »Sie – Sie bluffen doch nur«, sagte der Mann. Das leichte Stottern verriet Beamon, dass er gewonnen hatte. »Wie kommst du darauf, Junge? Wenn wir mit euch gehen, sind wir alle tot – und meine letzten Stunden werden sicher reichlich unangenehm sein. Und selbst wenn ich überleben sollte, sind meine Aussichten nicht besonders rosig – ich bin arbeitslos, pleite und als Kinderschänder gebrandmarkt.« Der Mann wandte sich zu seinen Kumpanen um, die ihm jedoch auch nicht helfen konnten. »Schau mir in die Augen«, sagte Beamon zu ihm. »Was siehst du da?« Er zögerte unsicher und lockerte dann seinen Griff um Jennifers Arm. Sie schien nicht recht zu wissen, was sie tun sollte. Beamon riss sie zu sich. Vermutlich fiel es ihr schwer, in einem Mann, der eine geladene Waffe auf sie richtete, ihren Retter zu sehen. »Chet, steigen Sie in Ihr Auto und verschwinden Sie.« Beamon zog Jennifer um den Wagen herum und schob sie zur Beifahrertür hinein. »Rutsch rüber. Du fährst.« Rasch kletterte sie über die Armlehne und hatte den Motor bereits gestartet, ehe sie noch ganz auf dem Fahrersitz saß. Beamon hielt weiter seine Waffe auf sie gerichtet, Ohne die drei Männer aus den Augen zu lassen, beugte er sich 442
dicht zu ihr und flüsterte: »Weg hier, ehe sie merken, dass alles bloß Theater war.« Sie schaute ihn zitternd an und legte dann den Rückwärtsgang ein. Einer der Männer telefonierte bereits über ein Handy, als Jennifer den Parkplatz verließ und vorsichtig auf die Straße einbog. »Gib ein bisschen Gas, Jen«, sagte Beamon. Die Männer verschwanden ihm ein wenig zu langsam in der Ferne. »Sieh zu, dass du raus auf den Highway kommst, und fahr Richtung Süden.« Nachdem er sich überzeugt hatte, dass man sie nicht verfolgte, zog er sein Adressbuch aus der Tasche und suchte die Nummer von Delta Airlines.
EINUNDSECHZIG »Aber Sie lassen mich nicht allein, oder?« Er rieb sich die Augen, als das Taxi davonfuhr und in der Dunkelheit Washingtons verschwand. »Oder?«, wiederholte Jennifer unsicher. Sie fröstelte. Beamon legte ihr eine Hand auf die Schulter, und gemeinsam gingen sie auf den trübe erleuchteten Eingang der Deutschen Botschaft zu. Sie trug immer noch die Shorts, in denen er sie gefunden hatte, nur eine Jacke mit dem Aufdruck »Phoenix« hatten sie am Flughafen für sie aufgetrieben. »Ich denke, das haben wir doch geklärt, Jennifer – keine Angst. Wir beide bleiben in dieser Botschaft, bis ich einige Leute zusammentrommeln kann, denen ich vertraue. Hier 443
sind wir sicher. Du weißt doch, wie die Deutschen über die Kirche denken.« Beamon klopfte an die Eingangstür, und Jennifer schmiegte sich schutzsuchend an ihn. Sie zitterte, aber Beamon wusste nicht, ob es an der Kälte lag oder einfach am Stress der letzten achtundvierzig Stunden. Besser gesagt, des ganzen letzten Monats. Es war erstaunlich, dass sie sich überhaupt so gut hielt. Ein dunkler Schatten erschien auf der anderen Seite der Glastür, und kurz darauf öffnete ihnen Hans Volker die Tür. »Kommen Sie rein. Rasch.« Der Deutsche wirkte angespannter als bei ihrer letzten Begegnung. Er trug diesmal keinen makellosen zweireihigen Anzug mit einer teuren Krawatte und nicht einmal Schuhe. Aber es war ja auch erst vier Uhr morgens. Jennifer klammerte sich immer noch an ihn und beäugte Volker misstrauisch. »Jennifer, das ist Hans. Er beobachtet die Kirche im Auftrag der deutschen Regierung.« »Also das ist Jennifer Davis.« Volker drückte ihr die Hand. »Meine Güte, du bist ja eiskalt. Wir gehen nach oben in mein Büro. Dort kannst du dich waschen, und zwei große Sofas gibt es da auch. Ich habe selbst schon etliche Male darauf geschlafen und kann dir versichern, dass sie wunderbar weich sind.« »Ist heute Morgen schon irgendwer da?«, fragte Beamon, während sie in den ersten Stock hinaufstiegen. »Noch nicht. Ich habe unsere Sicherheitsleute angerufen. Sie müssten jeden Moment hier sein. Im Keller gibt es ein leeres Büro mit eigenem Bad. Dort können Sie bleiben, bis 444
Sie Ihre Männer zusammengetrommelt haben. Und bis dahin haben wir rund um die Uhr Wachleute im ganzen Gebäude.« »Danke, Hans. Ich stelle auch einiges Material für Sie zusammen, das Ihnen sehr gefallen wird.« »Da bin ich mir sicher.« Volker ging durch eine Tür und deutete einen kurzen Flur hinunter. »Nach Ihnen.« »Könnten Sie vielleicht ein paar lange Hosen für Jennifer auftreiben?«, fragte Beamon. »Überhaupt wären ein paar andere Klamotten noch besser.« »Natürlich.« Jennifer ging durch die Tür des Büros, blieb stehen und wich wieder zurück. »Was ist denn, Jen?«, fragte Beamon, als sie gegen ihn prallte. Eine Waffe, die einem in den Rücken gedrückt wird, ist irgendwie unverkennbar, dachte er, als er das kalte Metall an seiner Wirbelsäule fühlte. Kann man wirklich mit keinem anderen Gegenstand verwechseln. »Bitte, gehen Sie weiter, Mark.« Volker gab ihm einen sanften Stoß mit der Waffe, die auf dem Schreibtisch seiner Sekretärin gelegen haben musste. »Nein«, wimmerte Jennifer. Er wusste zwar nicht, was sie in Volkers Büro erwartete, aber ihm kam plötzlich ein Gedanke, der ihm schon vor Wochen hätte einfallen sollen. Beamon schlang seine Arme um Jennifer und flüsterte ihr ins Ohr: »Es tut mir Leid, das ist meine Schuld.« Hinter Volkers großem Schreibtisch saß Sara Renslier, flankiert von drei Männern. 445
»Guten Morgen, Mr. Beamon«, sagte sie. »Hallo, Jennifer.« Jennifer wich zurück, als habe sie ihr einen Schlag versetzt. Schutzsuchend drückte sie sich gegen Beamon, obwohl sie wahrscheinlich ohne ihn viel besser dran wäre. Er hatte in der letzten Woche mehr schlechte Entscheidungen getroffen als in den ganzen letzten zehn Jahren. Die Kirche hatte sein Leben so verpfuscht, dass er nicht mehr wusste, was er überhaupt noch tat. »Dumm«, sagte er leise zu sich selbst. »Bitte?«, fragte Sara. Er bemerkte, dass sie neben der Bandage an ihrem Daumen nun auch noch das Handgelenk verbunden hatte. Zweifellos eine Folge ihres Kampfs gegen die Handschellen, mit denen er sie an ihr Flugzeug gefesselt hatte. Darüber hinaus erinnerte nichts mehr an die Frau, die in dieser Nacht vor ihm gekauert hatte. Dank ihrer bewaffneten Begleiter strahlte sie wieder die arrogante Überlegenheit aus wie früher. Beamon holte tief Atem, um seinen Ärger zu unterdrücken. Nicht auf Sara, sondern auf sich selbst. »Ich sagte, ich bin dumm gewesen. Ihre Streitereien mit der deutschen Regierung waren reine Publicity.« »Fällt Ihnen ein bisschen spät ein, aber natürlich haben Sie Recht«, entgegnete Sara, während einer der Männer Beamon die Waffe abnahm. »Wir haben frühzeitig entdeckt, dass Deutschland kein sehr fruchtbarer Boden ist für unsere Mitgliederwerbung. Es kostete uns eigentlich bloß Geld – Kirchen, Anlaufstellen, Werbung und so weiter. Doch wir haben ein paar einflussreiche Leute auf unsere Seite bringen können.« Sie nickte Volker zu. »Insgesamt scheint die deutsche Psyche allerdings irgendwie nicht empfänglich für unsere Lehren.« »Und da haben Sie Ihre Taktik geändert«, sagte Beamon. 446
»Sie haben Ihre Kontakte benutzt und sich auf etwas konzentriert, wovon Sie wussten, dass dafür die deutsche Psyche empfänglich ist: die Angst davor, eine in sich geschlossene Gruppe könne zu viel Macht gewinnen.« Sara lächelte. »Es war nicht schwierig und kostete fast nichts.« Beamon schlang seinen Arm um Jennifers Schultern. »Sie wussten, dass es heftige Reaktionen in den USA geben würde. Die Angst vor religiöser Verfolgung ist seit über zweihundert Jahren tief in allen Amerikanern verwurzelt.« Jennifer zuckte zurück, als Sara näher kam, und wollte sich hinter Beamon verstecken. »Ich glaube, es ist mein größter Erfolg gewesen. Wir hatten in Amerika einen Anstieg von zweiundzwanzig Prozent bei den Interessenten und einen vierzehnprozentigen Zuwachs an neuen Mitgliedern. Der Aufschrei gegen die Verfolgung der Kirche in Deutschland ist überwältigend gewesen. Die Medien haben weitaus mehr und umfangreicher darüber berichtet, als wir erwartet hatten.« Beamon hörte ihr nur halb zu und versuchte stattdessen, seine Situation zu analysieren. Er war ernsthaft davon überzeugt, dass er – und Jennifer – keine Chance mehr hatten. Ihre Gegner waren in der Überzahl, und er hatte nicht mal eine Büroklammer, um sich damit zu wehren. Er war hoffnungslos übertölpelt worden. Vor allem das tat weh. »Komm zu mir, Jennifer«, sagte Sara. »Wir werden dir nichts tun. Du bist wichtiger für uns, als du wahrscheinlich ahnst.« »Lassen Sie nicht zu, dass sie mich mitnehmen, Mr. Beamon!« 447
Beamon schaute in die Gesichter der Männer ringsum und fragte sich, ob sie wussten, dass Sara ihren Messias belogen und betrogen hatte. »So ganz stimmt das ja nun nicht, Sara. Jennifer ist Albert Kneiss’ Enkelin und eine Bedrohung für Ihre Macht. Und nur die ist Ihnen wichtig, nicht wahr? Ihre Macht. Mit Gott oder der Zukunft der Kirche hat das gar nichts zu tun. In Wahrheit geht es Ihnen allein darum, die Macht über das kleine Königreich zu behalten, das Sie sich aufgebaut haben.« Sara erwiderte ungerührt seinen Blick. »Sie verstehen einfach nicht, was Glauben bedeutet, Mr. Beamon.« Ein greller Schmerz zuckte für einen Moment durch seinen Hinterkopf, und er hörte Jennifer schreien. Dann wurde alles dunkel.
ZWEIUNDSECHZIG Die Zeichentrickfilme hatten Recht – man sah tatsächlich Sternchen, wenn sie auch nicht ganz so hübsch waren wie im Fernsehen, sondern eher verschwommene Lichtpunkte, die durch die Dunkelheit schossen. Beamon bewegte seine Finger und hörte ein leises Rascheln. Die ganze linke Seite seines Körpers war taub, und er konnte seine Hände nicht spüren, doch anscheinend funktionierten sie noch. Was aber in seiner derzeitigen Lage auch nicht viel zu bedeuten hatte. Das Brummen, das Übel erregende Schaukeln, das ständige Abstoppen, die Enge und der Geruch nach Benzin verrie448
ten ihm, dass er im Kofferraum eines Autos lag. Wenigstens schien es ein geräumiger amerikanischer Wagen zu sein und nicht einer von diesen engen kleinen Japanern. Die Japaner nahmen einfach keine Rücksicht darauf, ob ein Entführungsopfer es sich in einem Kofferraum ein bisschen bequem machen konnte. Seine Füße waren anscheinend mit einem Seil gefesselt, das wiederum durch die Kette zwischen den Handschellen geschlungen war. Hübsch verschnürt wie ein Paket. Was war mit Jennifer? Das kleine Mädchen hatte so viel durchgestanden, und jetzt würde sie sterben, weil er so ein verdammter Idiot war. Beamon legte seinen Kopf auf irgendwas Hartes und spürte das warme Blut in seinem Nacken, als die Wunde wieder aufplatzte. Offenbar hatte er einen Schlag mit einem Pistolenknauf abgekriegt. Er hatte verloren. Inzwischen war Jennifer wahrscheinlich im Privatjet Kirche auf dem Weg in das Exerzitienhaus, das auf einem unzugänglichen Stück Land irgendwo in der Weite des östlichen Oregon lag. Selbst wenn er jetzt das FBI alarmieren könnte, statt hilflos in einem Kofferraum herumzuliegen, wäre es zu spät. Bis er seine Vorgesetzten überredet hätte, ihn nicht ins Gefängnis zu werfen, und sie ihm die Machenschaften der Kirche glaubten, was noch unwahrscheinlicher war, wäre Jennifer längst tot. Und die Vericomm-Aufnahmen? Ebenfalls so gut wie weg. Ganz sicher würde die Kirche ihn mit der gleichen Tüchtigkeit »befragen«, mit der sie alles andere taten. Was eigentlich gar nicht mehr nötig war. So wie die Dinge lagen, könnte er sich genauso gut selbst einen Gefallen tun und erzählen, 449
wo er die Disketten in Goldmans Apartment versteckt hatte – falls man sie nicht längst gefunden hatte. Dann wäre es wenigstens schnell vorbei. Das wäre wahrscheinlich am besten. Beamon rollte auf die Seite, um seinen Kreislauf wieder etwas in Gang zu bringen. Die Aussicht auf einen Job als Nachtkellner in irgendeiner Autobahnraststätte war sowieso nicht besonders berauschend – zumal er ihn ohnehin nur behalten würde, bis die Kirche die Geschäftsführung über seine schändliche Neigung zu Kindern informierte. Unwillkürlich musste er an Ernie denken. Vielleicht würde er auch als krankhaft fettsüchtiger Computerprogrammierer enden, der vor lauter Angst und Scham in seinem Haus gefangen war. Oder eher in einem Wohnwagen in irgendeiner menschenleeren Gegend, wo er tagsüber jagte, was er zum Essen brauchte, und sich nachts neben einem alten Holzofen zusammenrollte – wie Jennifers Onkel. Beamon veränderte erneut seine Position und versuchte, nicht auf die Schmerzen in seinem Schädel zu achten, die langsam einsetzten, als sein Kopf klarer wurde. Er schloss die Augen, was allerdings in der Dunkelheit des Kofferraums keinen Unterschied machte. Die Sternchen vor seinen Augen verschwanden allmählich, obwohl er am liebsten wieder in die Bewusstlosigkeit versunken wäre. Am besten gestand er sich einfach seine Niederlage ein und wartete darauf, dass man ihn von seinem Elend erlöste. »Gottverdammt«, nuschelte er in seinen Knebel, als das Auto abrupt anhielt und er mit dem Gesicht voran gegen den Ersatzreifen prallte. 450
Der Schmerz in seiner Nase riss ihn aus seiner Mutlosigkeit. Was zum Teufel war los mit ihm? Das war doch keine Art zu sterben! Er schüttelte heftig den Kopf, und sein Schädel pochte noch heftiger. Er konnte Jennifer vielleicht nicht mehr retten, aber zumindest schuldete er es ihr, dass er sich nach besten Kräften bemühte, Sara einen dicken Strich durch die Rechnung zu machen. Beamon holte tief Luft und tastete unter Schmerzen nach seiner Tasche, wobei er sich in erster Linie auf sein Gehör verlassen musste, da seine Finger immer noch völlig gefühllos waren. Beim dritten Versuch zündete endlich das Feuerzeug. Falls er sich jetzt nicht selbst in Brand setzte, könnte er vielleicht eines Tages sagen, es habe ihm das Leben gerettet, dass er Raucher war. Vor ihm lag der rote Parka, der ihm bislang so gute Dienste geleistet hatte, daneben ein paar Bücher, der Ersatzreifen und Werkzeuge, wie man sie wohl in fast jedem Kofferraum fand. Beamon versuchte, am Gummi des Reifens den Knebel abzustreifen, doch er saß einfach zu fest. Er drehte sich nach rechts, bis seine Knie den Kofferraumdeckel berührten, und zwängte trotz der Schmerzen seine Arme unter Rücken. Als er das Rascheln des Nylonparkas hörte, begann er ihn mühsam unter sich herauszuziehen. Es schien endlos zu dauern, aber schließlich hatte er es geschafft. Überraschenderweise befand sich sein Handy tatsächlich noch in der Tasche. Entweder hatten seine Kidnapper nicht damit gerechnet, dass er so einen harten Schädel hatte oder der Verkehrsstau, in dem sie offenbar steckten, hatte ihren Zeitplan durcheinander gebracht. 451
Er schob das Handy beiseite, da es ihm nicht viel nutzte, solange er geknebelt war, und fand schließlich, was er gesucht hatte: seinen Kugelschreiber. Er schraubte ihn auf und zog die dünne Metallmine aus der Plastikhülle. Es dauerte weitere fünf Minuten, aber er schaffte es, sie flach zu drücken und in den simplen Verschluss der Handschellen zu bugsieren. Wie man sich von Handschellen befreite, war eine der ersten Lektionen, die man in Quantico lernte. Zwar erinnerte er sich nicht mehr an sämtliche Feinheiten, aber nach einigen Fehlversuchen spürte er, wie das Blut wieder in seinen Händen zu zirkulieren begann. Ein weiterer Ruck befreite seine Handgelenke endgültig. Eiligst zog er den Knebel aus seinem Mund und atmete tief die kalte, nach Auspuffabgasen stinkende Luft ein. Er versuchte, seine Füße anzuziehen, um das Seil zu lösen, doch das war in dem engen Kofferraum unmöglich. Also musste er irgendwie anders zurechtkommen. Er tastete über seinen Parka, bis er das Handy fand, obwohl er nicht wusste, wen er eigentlich anrufen oder wie er seine Lage beschreiben sollte, aber wenigstens konnte er jemandem mitteilen, was überhaupt los war. Mit tauben Fingern klappte er es auf und bemerkte erst, als das Display nicht aufleuchtete, dass der Akku weg war. Offenbar hatte man geplant, ihn damit zu begraben. War auch verständlich – es wäre etwas unangenehm, wenn sein Handy auf irgendeinem Kirchenbasar auftauchte. Beamon schob das nutzlose Gerät wieder in seinen Parka und knipste erneut für einen Moment das Feuerzeug an. Welche Möglichkeiten blieben ihm? Am einfachsten wäre es, zu treten und zu schreien in der 452
Hoffnung, dass es jemand bemerkte und die Bullen rief. Allerdings war es draußen eisig kalt, und sicher hatte keiner der Wagen, die theoretisch in Hörweite waren, die Fenster geöffnet. Höchstwahrscheinlich würden ihn nur seine Entführer hören, bei der nächsten Abfahrt halten und ihm eins mit dem Kreuzschlüssel verpassen. Ansonsten konnte er nur noch versuchen, aus eigener Kraft zu flüchten. Das wäre ihm auch am liebsten, bloß fragte sich, wie er das anstellen sollte. Im Schein des Feuerzeugs untersuchte er das Schloss des Kofferraums. Nein, das war zwecklos. Handschellen konnte er zwar öffnen, aber damit war sein Repertoire auch erschöpft. Er leuchtete weiter und entdeckte schließlich einen schwarzen Plastikschlauch, der etliche bunte Drähte umhüllte. Das könnte was sein. Mit einem Ruck riss er die Drähte ab und beobachtete zufrieden den kleinen Funkenregen. Leider begann der Motor nicht zu stottern, und das Auto wurde auch nicht langsamer, wie er gehofft hatte. Es wechselte nur die Spur und beschleunigte. »Verdammte Scheiße«, fluchte Beamon leise. Die Drähte gehörten vermutlich bloß zu der verfluchten Klimaanlage. Mithilfe des Feuerzeugs untersuchte er den Inhalt des Kofferraums noch genauer. Er entdeckte lediglich sechs Bücher – irgendwelche kirchlichen Schriften, auf denen Fotos von Albert Kneiss prangten –, einen brandneuen Ersatzreifen, einen Wagenheber, eine dreckige Decke und einen Bogen altes Einwickelpapier von McDonald’s. Aber jammern hatte keinen Sinn – wenn es nicht mehr gab, musste er eben sehen, was er damit anfangen konnte. 453
Er begann die Bücher ordentlich hinter sich aufzutürmen. Der Stapel wurde ungefähr zwanzig Zentimeter hoch. Ob das reichte? Das Feuerzeug begann unheilvoll zu flackern, als er die Flügelschraube öffnete, mit der der Wagenheber am Boden befestigt war. Er stellte ihn auf die Bücher und setzte den Kreuzschlüssel ein, der gleichzeitig als Griff diente – eine heikle Prozedur, zumal er überhaupt nichts sehen konnte. Wenn Ernies Gott ihm nur ein kleines bisschen beistand, würde der Wagenheber bis an den Kofferraumdeckel reichen und ihn aufstemmen. In völliger Dunkelheit machte er sich an die Arbeit, und nur das leise Klicken des Hebels verriet ihm, dass er vorankam. Nach ungefähr fünfzehn Minuten musste er aufhören und sich ausruhen, da ihm beide Arme eingeschlafen waren und er das Gefühl hatte, es bohre ihm jemand ein Messer in die Schultern. Er knipste erneut das Feuerzeug an. Die Flamme zitterte, doch es genügte, um etwas zu sehen. Nur noch ungefähr einen guten Zentimeter, bis der Wagenheber den Deckel erreicht hatte. Er schüttelte seine Arme aus und machte weiter, bis sich plötzlich nichts mehr tat. Mit zusammengebissenen Zähnen verdrehte er seinen Körper, um kräftiger zudrücken zu können. »Komm schon! Tu mir das nicht an«, stöhnte er leise. Nichts zu machen. Der Kolben des Wagenhebers war vollständig ausgefahren. »Herrgott, ein kleines bisschen Glück, das ist alles, um was ich …« 454
Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er nach vorn geworfen wurde und wieder gegen den Ersatzreifen prallte. Ihm dröhnte der Schädel. Zum einen war ihm der Wagenheber gegen den Hinterkopf geknallt, zum anderen hatte es einen ohrenbetäubenden Aufprall gegeben. »Verfluchte Scheiße!«, drang eine gedämpfte Stimme in den Kofferraum, zusammen mit einem Schwall kalter Luft. Draußen wurde eine Autotür zugeschlagen. »Wohl noch nie was von Rücklichtern gehört, ihr Arschlöcher! Es ist stockfinster, falls ihr das noch nicht gemerkt habt!« Beamon grinste, als ihm klar wurde, dass die Drähte, die er abgerissen hatte, zu den Bremslichtern des Wagens geführt haben mussten. Er rollte sich auf den Rücken. Der Kofferraumdeckel war ziemlich verbogen, und er sah deutlich die Scheinwerfer eines anderen Fahrzeugs. »Bleibt stehen, ihr Schweine!«, hörte er, als das Auto wieder anfuhr. Beamon rammte seine gefesselten Füße gegen den Deckel. Nichts. Er holte tief Atem, stemmte sich mit beiden Händen an den Seiten ab und trat erneut zu. Der Kofferraumdeckel flog auf, gerade als das Auto zu beschleunigen begann. Er sah den Mann, der auf sie aufgefahren war, in seinen Laster springen, um sie zu verfolgen. Kurz entschlossen packte Beamon seinen Parka und rollte sich aus dem Kofferraum. Hart schlug er auf dem Asphalt auf und rappelte sich unsicher hoch. Der Laster hielt mit quietschenden Bremsen. »Was zur Hölle treiben Sie denn da?«, rief der Fahrer und sprang aus der Kabine. Er musterte den alten Laster. Einer der Scheinwerfer war 455
kaputt, und der Kühlergrill, auf dem »Pearson Drywall« stand, hing bedenklich schief. »Was zur Hölle haben Sie da drin gemacht? Schauen Sie sich mal meinen Laster an!«, rief der Mann und packte ihn am Hemd. Da Beamons Füße immer noch zusammengebunden waren, fiel er erneut zu Boden. Mühsam setzte er sich auf und strich sich über den Hinterkopf. Seine Hand war voller Blut. »Mensch, ist alles in Ordnung?« Beamon nickte nur. »Können Sie mir mal kurz Ihr Messer borgen?« Der Mann zog es aus der Lederscheide, die an seinen Gürtel gebunden war, und Beamon durchschnitt das Seil zwischen seinen Füßen. »Es ist besser, sich nicht mit diesen Kerlen anzulegen«, sagte er und versuchte aufzustehen, fiel aber wieder zurück. Er hatte das Gefühl, am ganzen Körper völlig zerschlagen zu sein. Der Mann streckte seine Hand aus und half ihm hoch. »Ich will Ihnen was sagen, Mr. Pearson …« »Caleb. Ich arbeite bloß für Pearson Drywall.« Beamon schaute erneut auf den Laster. Der Motor lief immer noch, obwohl es aussah, als würde der Kühlergrill durch die Vibrationen jeden Moment endgültig abfallen. »Ich sage Ihnen was, Caleb.« Beamon hob den Parka auf und überzeugte sich, dass in der Innentasche noch der Umschlag mit seinem restlichen Geld steckte. »Sie bringen mich zum Flughafen, und ich zahle Ihnen den Schaden an Ihrem Laster bar auf die Hand.«
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DREIUNDSECHZIG Beamon hatte fast damit gerechnet, die Wohnung in Schutt und Asche vorzufinden, doch alles war unverändert. Goldmans Overall lag immer noch in der Schachtel, in die er ihn gestopft hatte, die Computer summten leise vor sich hin, und die Flasche Bourbon stand ebenfalls noch dort, wo er sie hingestellt hatte. Müde humpelte er durch das stille Apartment, setzte sich vor einen Computer und lehnte seine Flinte gegen einen Stuhl. Nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte, drückte er auf die Leertaste und beobachtete, wie der Bildschirm langsam zum Leben erwachte. Er fühlte sich, als habe er zusammen mit ein paar Bowlingkugeln in einem Wäschetrockner gesteckt. Die Wunde an seinem Hinterkopf hatte stundenlang weitergeblutet, sodass er fast während des ganzen Rückflugs nach Flagstaff ein Taschentuch dagegen drücken musste. Da er mit seinen Veilchen und der geschwollenen Nase sowieso schon reichlich Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, wusste die Kirche sicher längst, dass er wieder in der Stadt war. Nach dem ersten Schluck Bourbon aus der Flasche zuckte er zusammen, als der Alkohol in seinem Mund zu brennen anfing. Anscheinend hatte er dort etliche Hautrisse, obwohl er beim besten Willen nicht wusste, woher, aber die Kirche hatte offenbar auf jedem einzelnen Quadratzentimeter seines Körpers ihre Spuren hinterlassen. Er klickte auf das Mailbox-Symbol und holte die E-Mails der Kirche ab. Es funktionierte immer noch. Gut fünf Minuten brauchte Beamon, um herauszufinden 457
wie man die Nachrichten entschlüsselte, und hatte Ende lediglich sechs absolut nutzlose Mitteilungen des verstorbenen Albert Kneiss. Das war’s dann. Morgen um Mitternacht würde Jennifer Davis sterben – zur Strafe dafür, dass sie ihm vertraut hatte. In vierundzwanzig Tagen hätte sie ihren sechzehnten Geburtstag. Beamon lehnte sich zurück und trank vorsichtig einen zweiten Schluck in der Hoffnung, damit seine Kopfschmerzen etwas zu betäuben. Selbst wenn er genau wüsste, wo dieses Exerzitienhaus war, was könnte er schon tun? Nach Portland fliegen, ein Auto mieten, danach ein Schneemobil und wie James Bond persönlich über Gott weiß wie viele Meilen gefrorener Tundra brettern? Vielleicht wäre ein Hundeschlitten passender für jemanden wie ihn, der mit jeglicher Technik auf Kriegsfuß stand. Er griff in die Tasche und zog sein Handy heraus, als es zu läuten begann, zögerte aber, ob er wirklich drangehen sollte. Es war vermutlich bloß Sara, die ihren Triumph genießen und ihm ein beträchtlich reduziertes Angebot für die Vericomm-Disketten machen wollte. Was soll’s, dachte er und klappte das Handy auf. Er hatte fast sein gesamtes letztes Geld für den neuen Akku verbraucht, da konnte er auch genauso gut was davon haben. »Hallo.« »Mark! Mein Gott, ich habe mir solche Sorgen gemacht. Seit Tagen versuche ich, Sie zu erreichen!« Beamon hatte gerade einen neuen Schluck trinken wollen und hielt verblüfft inne. »Carrie?« 458
»Mark, alles in Ordnung? Sie klingen so komisch.« »Das liegt wahrscheinlich daran, weil ich nicht weiß, warum Sie mich anrufen. Ich dachte, Sie hätten letzte Woche alles gesagt, was es zu sagen gibt.« Für einen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Ich rufe an, um zu sagen, dass es mir Leid tut.« Beamon stellte die Flasche auf den Tisch, gab jedoch keine Antwort. »Mark, was hatte das nur zu bedeuten?« »Was meinen Sie?« »Ich habe mit einer Freundin gesprochen – einer Psychiaterin, die auf Kindesmissbrauch spezialisiert ist. Sie hat nie etwas von der ›Child Safety Administration‹ gehört. Und auch sonst niemand, bei dem ich mich erkundigt habe.« »Das wundert mich nicht besonders.« Beamon konnte nur schwer seinen Ärger verbergen. »Auf dieser verdammten Karte stand ja nicht einmal eine Telefonnummer. Ein bisschen ungewöhnlich, finden Sie nicht?« »Schon. Ich … Emory bedeutet mir alles, Mark. Das wissen Sie.« Natürlich wusste er das. Es war auch nicht ihre Schuld. »Ich habe mit Emory geredet, und meine Freundin hat mit ihr gesprochen, und … es war alles in Ordnung. Eigentlich war mir das von Anfang an klar, aber ich musste einfach sicher sein. Ich vertraue Ihnen, Mark, bloß …« »Ich verstehe Sie ja, Carrie. Ich hätte dasselbe getan.« Sie seufzte erleichtert, und Beamon bemühte sich, ihr Bild zu verscheuchen, das er plötzlich vor sich sah. »Ich habe gehofft, dass Sie mich verstehen, Mark. Können wir noch mal von vorn anfangen?« 459
Beamon beobachtete den Monitor, auf dem als Bildschirmschoner ein simulierter Flug durch den Weltraum lief. »Nein. Können wir nicht. Halten Sie sich lieber von mir fern Carrie, so ist es besser. Von meinem Leben ist bloß noch ein kläglicher Rest übrig.« »Von Ihrem Leben ist …« Er schaltete das Handy ab und legte es auf den Tisch. Der Bildschirmschoner verschwand, und die letzte E-Mail der Kirche erschien wieder auf dem Monitor, als wolle sie ihn verspotten. Er konnte nichts mehr tun, aber er konnte sich noch rächen. Er würde die Bänder jedem vorspielen, der zuhören würde, und die ganze Geschichte erzählen – nur hatte die Kirche seine Glaubwürdigkeit vernichtet, ihm alles Geld und alle Verbündeten genommen, sodass ihn wahrscheinlich niemand anhören würde. Beamon schaute auf die E-Mail und versuchte, in dem Geschäftsbericht irgendeine verborgene Bedeutung zu finden, aber es gab keine. Seine Blicke wanderten über die bunten Buttons oben auf dem Schirm und hefteten sich schließlich auf die hellgrauen Buchstaben ganz rechts. SENDEN
Er tastete nach der Flasche Bourbon auf dem Tisch, doch dann ließ er sie stehen und beugte sich dichter zum Bildschirm. SENDEN
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VIERUNDSECHZIG Ihre leisen Atemzüge waren kaum zu hören, und ihre Haut war so bleich, dass man sie auf den weißen Laken fast nicht sah. Sara strich mit der Hand über Jennifers bewusstlosen Körper. Sie würde nie wieder aufwachen. Gleich kamen die anderen und würden sie hier friedlich liegen sehen, bereit dazu, in den nächsten zweitausend Jahren der Lehrer der Menschheit zu werden. Kurz vor Mitternacht würde sie ihr eine weitere Dosis des Schlafmittels geben, und sie würde in ein anderes Leben hinüberschlummern. Dann hatte sie, Sara, endgültig die unumschränkte Kontrolle über die Kirche und würde diese Macht nutzen, um ihre Arbeit fortzusetzen. Um den Wohlstand der Kirche und den Einfluss zu erhöhen und damit ihren eigenen. Das einzige Problem war Mark Beamon. Nur er stand noch der Zukunft im Weg, die sie für sich und die Kirche geplant hatte. Aber er war am Ende. Sie hatte das Schuldgefühl in seinen Augen gesehen, als sie Jennifer in ihre Gewalt gebracht hatte. Sein verzweifelter Kampf, bei dem er alles geopfert hatte, was ihm in seinem Leben etwas bedeutete, war völlig umsonst gewesen. Dass ihm die Flucht gelungen war, war nur ein Zufall gewesen, allerdings beunruhigte sie, dass man ihn trotz aller Bemühungen immer noch nicht gefunden hatte. Wenn man ihn bis morgen früh nicht aufgespürt hatte, würde sie ihn anrufen und ihm eine geringfügige Summe für die Vericomm461
Aufnahmen anbieten. Da er nichts mehr hatte, würde er sofort zugreifen, selbst wenn sie ihm einen noch so mageren Knochen hinwarf. Und dann, wenn er am schwächsten war, würde sie ihn herholen lassen und die Sache ein für alle Mal beenden. Die Männer, die ihn in Phoenix und in Washington hatten entkommen lassen, waren streng getadelt worden, hatten aber ihre Stellungen behalten. Sie brauchte die Schutztruppe, um ihre Macht endgültig zu festigen und die Ältesten in Schach zu halten. Für Sines musste noch ein Ersatz gewählt werden. Und zwar bald. Sara ging zum Fenster und schaute durch die vereiste Scheibe auf die weite leere Landschaft, die das Exerzitienhaus umgab. Sie wandte sich nicht um, als die Tür geöffnet wurde. »Ich habe doch gesagt, dass ich nicht gestört werden will.« Es kam keine Antwort. Sie schaute zur Tür und sah einen Mann in einer dicken schwarzen Jacke. Thomas Nolan war erst zweiunddreißig, aber viel intelligenter und stärker als andere in seinem Alter. Seine Eltern waren fast von Anfang an Mitglieder der Kirche gewesen. Sie hatte schon früh erkannt, dass er Albert fanatisch ergeben war, und deshalb persönlich die Zeremonie zu seinem Eintritt in die Schutztruppe geleitet. Genauso ergeben würde er jetzt ihr dienen. Deshalb war er auch der richtige Mann, um die Stelle von Sines zu übernehmen. »Was gibt es, Thomas?« Die beiden anderen Wächter, die noch im Exerzitienhaus waren, kamen ebenfalls herein und stellten sich rechts und links von ihm auf. 462
»Verlasst dieses Zimmer«, befahl Sara verärgert. »Ich habe gesagt, dass niemand außer Thomas und mir diesen Raum betreten darf.« »Nein. Bleibt«, sagte Nolan. Die beiden Männer rührten sich nicht und verzogen keine Miene. »Was soll das?« Sara ging auf Nolan zu. Sonst hatte er sie immer voller Ehrfurcht angeschaut, doch jetzt blitzte der pure Zorn aus seinen Augen. »Sag ihnen, dass sie gehen sollen, Thomas.« »Nein.« »Was ist los mit dir?« Verwirrt trat sie einen Schritt zurück und schaute zu den Männern, die schweigend an der Wand standen. Keiner der Wächter hatte ihr je zuvor den Gehorsam verweigert. Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben, doch plötzlich wurde ihr bewusst, dass hinter ihr auf dem Bett das Mädchen lag und wie heikel ihre Situation dadurch war. Konnte irgendwas passiert sein, was sie nicht mitbekommen hatte? Nein, das war unmöglich. »Eigentlich solltest du Gregorys Stelle übernehmen, Thomas. Aber vielleicht habe ich mich in dir getäuscht. Vielleicht bist du Albert doch nicht so ergeben, wie er glaubt.« Sie erschrak, als er sie ganz unvermittelt im Nacken packte. »Was … was soll das? Lass mich los!« Wortlos zerrte er sie hinaus in den Flur. Die beiden anderen Männer folgten ihnen. »Haltet ihn auf. Er ist verrückt geworden!«, befahl sie wütend. Sie reagierten gar nicht. »Albert wird euch …« 463
Bei der Erwähnung von Kneiss’ Namen schleuderte Nolan sie mit dem Gesicht gegen die Wand. Benommen rutschte sie zu Boden. Aus einer Wunde an der Stirn floss ihr Blut in die Augen. Sie wischte es weg und konnte kaum begreifen, was geschah. Thomas Nolan war der ergebenste aller Wächter. Sie blieb liegen, um sich zu beruhigen und Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Irgendwas musste passiert sein. Aber was? Grob wollte Nolan sie hochzerren. »Warte«, sagte sie und stieß ihn zur Seite. Er zögerte. »Hier muss es sich um irgendein Missverständnis handeln, und es ist nicht nötig, dass Albert davon erfährt. Mach dir keine Gedanken. Erzähl mir einfach, warum du das tust, und wir klären es in aller Ruhe.« Nolan gab keine Antwort, sondern packte sie am Haar und zerrte sie durch die weite Eingangshalle hinaus in den Schnee. Sara spürte die beißende Kälte und hatte Mühe, auf dem vereisten Boden Halt zu finden. »Hör auf!«, schrie sie und grub ihre Nägel in Nolans Arm. Zitternd vor Kälte sank sie in die Knie, als er sie losließ. Das Blut auf ihrem Gesicht begann zu gefrieren. Sie schaute auf die beiden Männer, die stumm hinter Nolan standen. »Wer immer von euch diesen Wahnsinn beendet, wird Gregorys Stelle einnehmen und alles haben, was er nur will. Versteht ihr? Ab morgen bin ich die oberste Autorität der Kirche. Ich ganz allein.« Einer der Männer kam zu ihr. Sie kroch auf ihn zu und streckte ihm eine Hand entgegen, aber er warf nur ein Stück 464
Papier vor ihr in den Schnee. An:
[email protected] Von:
[email protected] Sara hat mich verraten. Ich habe ihre Übergriffe auf meine Enkelin und Mark Beamon zugelassen, ebenso den Mord an meiner tief ergebenen Anhängerin Ernestine Waverly. Ich tat es in der festen Hoffnung, dass sie sich wieder auf ihren Glauben besinnt und zu mir zurückfinden würde. Nun kommt der Tag meiner Himmelfahrt näher, und ich muss einsehen, dass sie von ihrer Eifersucht und Gier verzehrt wird, und dass die Menschheit noch nicht so weit ist, wie ich gehofft hatte. Es scheint, dass jede Zeit ihren Judas hat. Wenn man es nicht verhindert, wird Sara die Kirche zerstören und damit die Hoffnungen und Träume der ganzen Menschheit. Es ist an der Zeit, dass sie, ebenso wie ich, vor Gottes Angesicht tritt und von ihm gerichtet wird. Gottes Segen AK
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Sara hatte Mühe, nicht zu schreien, als sie aufschaute und sah, dass Nolan eine Pistole auf sie richtete. »Das ist eine Fälschung! Das ist nicht von Albert. Glaub mir, das ist nicht von Albert. Mark Beamon hat unseren Code geknackt. Er hat das geschrieben.« Nolan schüttelte traurig den Kopf. »Unser Code ist nicht geknackt worden. Wir haben das Passwort nachgeprüft. Es ist von Albert.« »Nein! Verstehst du nicht? Deshalb hat Beamon sie am Flughafen gefunden. Er hat nicht das Flugzeug beobachtet, wie wir geglaubt hatten. Er hatte die E-Mail gelesen!« »Nein.« Nolan entsicherte die Pistole. »Albert hat es ihm gesagt. Er wollte dir eine Chance zur Umkehr geben.« Das durfte doch alles nicht wahr sein! Sie konnte doch nicht von diesem Mark Beamon übertölpelt werden, einem versoffenen Nichts, dessen jämmerliches Leben sie ohne Mühe mit ein paar Worten zerstört hatte. »Ohne mich gäbe es die Kirche überhaupt nicht, gar nichts gäbe es, und nichts wird ohne mich bestehen bleiben! Ich bin Albert Kneiss!« Nolan drückte die Waffe gegen ihre Schläfe und packte sie am Kragen. »Das zu entscheiden liegt bei Gott.«
FÜNFUNDSECHZIG Beamon stemmte seinen Fuß gegen die Stoßstange des Wagens und zündete sich eine weitere Zigarette an, was einigermaßen mühsam war. Der Wind blies ziemlich stark, und 466
die Motorhaube verlor rasch ihre Wärme, aber es war immer noch besser, als im Auto zu sitzen, wo er sich wie eingesperrt gefühlt hatte. Er hatte absolut keine Ahnung, was mit den beiden E-Mails, die er abgeschickt hatte, passiert war. Es war ohne weiteres möglich, dass die kleinen Nullen und Einsen, aus denen sie sich zusammensetzten, einfach aufgelöst worden waren im virtuellen Nichts. In diesem Fall war Jennifer tot, und er wartete vergebens. Viel wahrscheinlicher war jedoch, dass die E-Mails angekommen und direkt an Sara weitergegeben worden waren, die natürlich sofort gewusst hatte, von wem sie stammten. In diesem Fall wartete er auf das Erschießungskommando der Kirche. Die Vericomm-Aufnahmen hatte er an einen Anwalt geschickt, der ihn vor ungefähr fünf Jahren einmal vor Gericht gewaltig in die Mangel genommen hatte. Er war der gemeinste, gnadenloseste Bursche, den er je getroffen hatte – bei einem solchen Mann konnte er sich darauf verlassen, dass er seine Anweisungen ausführte. Sobald er von seinem Tod hörte, sollte er an die fünfundzwanzig wichtigsten Zeitungen Kopien der Disketten verteilen – und eine handschriftliche Erklärung, wie Beamon in ihren Besitz gelangt war. Auf diese Weise konnte er wenigstens noch nachträglich einen letzten Trumpf ausspielen. Nach einem tiefen Zug an seiner Zigarette rutschte er zu einer wärmeren Stelle der Motorhaube, während er über den Inhalt seiner E-Mails nachdachte. Es war fast schon ironisch, dass sogar stimmte, was er geschrieben hatte. Zumindest kam es der Wahrheit so nahe wie möglich. Nachdem er sich 467
den ganzen letzten Monat mit Albert Kneiss beschäftigt und ungefähr alles gelesen hatte, was er verfasst oder was über ihn geschrieben worden war, war es überraschend einfach gewesen, sich an seine Stelle zu versetzen und eine Nachricht zu formulieren, die dank der modernen Technik wie von seiner Hand wirkte. Möglicherweise hätte Albert eine solche Nachricht sogar selbst verfasst, wenn er dazu fähig gewesen wäre. Bis auf den letzten, absichtlich doppeldeutigen Satz, den die Wächter als Saras Todesurteil interpretieren würden. Das war das Einzige, das ihm zu schaffen machte. Falls es wider Erwarten funktionierte, war er ein Mörder. Aber welche andere Wahl war ihm geblieben? Sara Renslier würde nie und nimmer das Mädchen in Ruhe lassen. Und sie würde todsicher nicht zulassen, dass er irgendwann mal friedlich Bridge in einem Altersheim spielte. Oder waren das nur leere Rechtfertigungen für seine Rache? Ein grauer Lieferwagen bog langsam auf den Parkplatz ein und kam näher. Beamon griff nach dem Knauf der Waffe, die unter einem Tuch auf der Motorhaube lag. Diese Arschlöcher, die ihn in diesen Kofferraum gesperrt hatten, hatten immer noch seine Pistole. Wenn er in fünf Minuten noch am Leben war, musste er zusehen, ob er sie zurückkriegen konnte. Sie war ihm jahrelang ein guter Freund gewesen. »Mr. Beamon!« Der Lieferwagen stand noch nicht ganz, als Jennifer heraussprang und auf ihn zurannte. Sie umarmte ihn so heftig, dass er fast von der glatten Motorhaube gerutscht wäre. »Ich wusste, Sie würden nicht zulassen, dass sie mich umbringen.« 468
»Ein Versprechen ist ein Versprechen«, sagte er und strich ihr mit einer Hand übers Haar, hielt aber mit der anderen weiter die versteckte Waffe fest. »Sie ist tot.« Jennifer schossen Tränen in die Augen. »Sie lag im Schnee! Es war … alles war voller Blut. Genau wie bei Mom.« Beamon hörte ihr nur halb zu und schaute einem jungen Mann entgegen, der aus dem Lieferwagen gestiegen war. Er gab ihr einen Klaps aufs Hinterteil und löste ihre Arme von seinem Hals. »Geh und setz dich ins Auto, okay? Ich komme gleich nach.« Sie gehorchte, und er hörte kurz darauf, wie die Tür zugeschlagen wurde. »Mr. Beamon, ich wollte Ihnen sagen …«, begann der unbekannte junge Mann. »Ist schon gut«, unterbrach Beamon ihn. »Sie haben nur getan, was Albert Ihrer Meinung nach wollte. Für alles trägt ausschließlich Sara die Verantwortung.« »Ich wollte bloß das Richtige tun«, sagte er und senkte den Blick. »Ich habe mich mit den anderen in Verbindung gesetzt und ihnen erzählt, was passiert ist.« Nickend erwiderte Beamon: »Albert hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass er sehr bedauert, was Sie auf sich nehmen mussten – er musste Sie bitten, es zu tun, und er wusste, Sie wären stark genug dafür.« Beamon rutschte von der Motorhaube. »Er hat Sara so sehr geliebt und bis zuletzt geglaubt, dass sie zu ihm zurückfinden würde.« Der Mann wandte sich um und ging langsam auf den Lieferwagen zu. »Er hat immer das Gute in den Menschen gesehen«, meinte Beamon zu hören, aber er war nicht ganz si469
cher, ob er ihn bei dem heftigen Wind richtig verstanden hatte. Beamon schaute Jennifer an, die auf dem Boden vor dem Fernseher lag. »Ich finde es etwas irritierend, wie du auf diesen Kasten starrst, ohne wirklich was zu sehen, Jennifer.« »Sorry … ich habe gerade gedacht.« »Zu viel Nachdenken ist gar nicht gut. Warum setzt du dich nicht einfach zu mir aufs Sofa, und wir essen eine Portion Eis?« Sie stemmte sich langsam hoch und ließ sich neben ihn auf die Couch plumpsen. »Ach, übrigens, die Wohnung sieht toll aus.« Die letzten vier Stunden hatte sie damit verbracht, das schmuddelige Apartment, in dem sie sich verkrochen hatten, aufzuräumen und zu schrubben, wobei sie alle fünf Minuten auf die Uhr geschaut hatte. Er hatte ihr zwar versichert, dass sie nicht mehr länger in Gefahr sei, aber da seine Glaubwürdigkeit in dieser Hinsicht etwas angekratzt war und neben ihm auf dem Sofa die geladene Flinte griffbereit lag, hatte er sie offenbar nicht so recht überzeugt. Sie beobachteten beide, wie die Ziffern der Uhr endlich Mitternacht anzeigten. Jennifer sah gar nicht, dass er ihr einen verbeulten Löffel hinhielt. Sie schien wie erstarrt auf etwas zu warten. Dass die Wächter der Kirche in die Wohnung stürmten? Dass ein Blitzstrahl vom Himmel niederfuhr? »Mitternacht, Jen. Sie wollen dich nicht als ihren neuen Messias. Wie ich höre, suchen sie jemanden mit Collegeabschluss und praktischer Erfahrung.« 470
Da sie auf seine Witzeleien nicht reagierte, versuchte er es noch mal mit Eiscreme. Frauen sollten doch angeblich diesem Zeug nicht widerstehen können. »Schau mal, wie gut das Eis aussieht.« Er griff nach dem zweiten Löffel. »Wenn du dich nicht beeilst, ist gleich nichts mehr da.« Er befürchtete schon, sie würde jeden Moment anfangen zu heulen, und spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Für so was war er einfach nicht gemacht. Er hoffte inständig, dass er seinen Job wiederkriegte, damit er in Ruhe Ganoven jagen und ihre Opfer sofort an den Seelenklempner des FBI übergeben konnte. Glücklicherweise lief nur eine Träne aus ihrem rechten Augenwinkel. Beamon tippte erneut auf den Karton. Diesmal nahm sie den Löffel. »Danke. Für alles.«
SECHSUNDSECHZIG »Wird das FBI hier nicht nach Ihnen suchen, Mr. Beamon?« Jennifer kletterte aus dem Wagen und zerrte an einem ihrer Hosenbeine. Die Jeans, die er für sie gekauft hatte, passten ihr offensichtlich nicht besonders. Beamon schaute zur Eingangstür des Apartments. »Bezweifle ich. Das FBI rechnet sicher nicht damit, dass ich so dumm bin, ausgerechnet hierher zurückzukommen, solange sie nach mir suchen.« »Also sind Sie noch viel dümmer, als sie denken.« Er erwiderte ihr breites Grinsen und stieg aus dem Wagen. »Das steht dir sehr gut, Klugscheißer.« 471
Beamon nahm seine Sonnenbrille ab und blinzelte. Es war kurz vor Mittag. »Kann man meine Waffe sehen?« Er wandte ihr den Rücken zu und zog seinen Pullover zurecht. »Nein. Aber warten Sie mal.« Sie knöpfte ihm den Kragen zu. »So. Jetzt sehen Sie gut aus.« Er nickte nur und ging voraus. »Alles in Ordnung?«, fragte Jennifer, nachdem sie ihn eingeholt hatte. »Warum?« »Ich weiß nicht, Sie wirken ein wenig nervös. Sie mögen sie wirklich gern, nicht wahr?« Beamon verdrehte die Augen. »Sie sollten ihr sagen, dass es Ihnen Leid tut.« »Ich denke, dafür ist es wahrscheinlich zu spät, Jen.« »Nee. Frauen mögen Männer, die sich entschuldigen können. Glauben Sie mir.« Beamon holte tief Atem und klopfte an Carrie Johnstones Tür. Sie öffnete fast sofort. »Mark!« Carrie umarmte ihn so heftig, dass er beinahe ins Stolpern geraten wäre, und küsste ihn fest auf den Mund. »Die Entschuldigung ist wahrscheinlich gar nicht mehr nötig«, hörte er Jennifer murmeln. Carrie starrte sie ungläubig an. »O mein Gott. Du bist Jennifer Davis, nicht wahr?« »Jawohl. Es ist nett, Sie kennen zu lernen, Mrs. Johnstone. Mr. Beamon redet die ganze Zeit nur von Ihnen.« »Ich … das … das stimmt aber nicht so ganz«, stammelte Beamon, während Carrie einen Arm um Jennifer legte und sie in die Wohnung führte. 472
»Ist alles in Ordnung mit dir? Vielleicht möchtest du gern mit mir reden?« »Mr. Beamon!« Emory drängte sich an ihrer Mutter vorbei und klammerte sich an sein Bein. Er löste ihre Hände und hob sie hoch. »Wie geht’s dir, Schatz? Hat der Osterhase dir gesunde Bioeier gebracht?« Sie nickte, und er zog eine Schokoladenmaus aus der Jackentasche, während er mit einem Fußtritt die Tür schloss. »Aber kein Wort zu Mami.« »Mark, Sie müssen mir alles erzählen. Seid ihr hungrig?« Beamon musterte skeptisch den Topf, der auf dem Herd abkühlte. Der Inhalt sah ganz normal aus, aber er wusste, dass das ein Trugschluss war. »Ja, klar, Carrie, danke.« »Jennifer, gib mir doch mal bitte diesen Spatel dort drüben.« Carrie deutete auf einen Kupfereimer mit Küchenutensilien. Sie schaufelte ein großes Stück auf einen Teller und reichte ihn Beamon. »Das ist ein tolles Rezept. Ich habe einfach ein paar Zutaten weggelassen, und es war absolut perfekt.« Beamon lächelte höflich und nahm eine Gabel voll. »Merkt man überhaupt nicht«, versicherte er, obwohl es ein wenig nach alter Pappe schmeckte. »Mark ist ein solcher Lügner«, sagte Carrie zu Jennifer »Er verabscheut meine Kocherei, hat aber nicht den Mumm, es mir zu sagen. Ich bewundere diese Art von Feigheit bei einem Mann.« Jennifer nahm ihren Teller und zog sich mit Emory an den kleinen Tisch in der Küche zurück. »Wo haben Sie das Mädchen gefunden, Mark?«, fragte 473
Carrie leise. »Ich habe gar nichts darüber in den Nachrichten gesehen. Sind Sie wieder beim FBI?« »Kein Mensch weiß etwas davon außer Ihnen. Und nein, ich bin nicht wieder beim FBI. Vielleicht nie wieder.« Beamon sagte es sehr rasch. »Sie haben sie ganz allein gefunden?« Beamon dachte an Ernie und Jack Goldman. »Ich hatte ein paar Helfer.« Sie schaute hinüber zu Jennifer, die Emory half, das Essen auf ihrem Teller zu zerkleinern. »Ist alles mit ihr in Ordnung, Mark? Hat sie wirklich gesehen, wie ihre Eltern ermordet wurden? Wurde sie missbraucht?« Beamon nahm einen weiteren Bissen und kaute langsam. »Ihre Eltern wurden nicht ermordet – ihr Vater hat ihre Mutter erschossen und sich dann vor ihren Augen selbst umgebracht, und ja, sie wurde missbraucht, allerdings nicht sexuell. Aber Sie können sich denken, was sie seelisch durchgemacht hat.« Er beugte sich ein wenig näher zu ihr. »Ich habe keine Ahnung, was ich mit ihr machen soll, Carrie. Ich habe probiert, mit ihr zu reden, aber dabei müssen Sie mir helfen.« Carrie lächelte Jennifer aufmunternd zu. »Fertig? Hilfst du mir mit dem Abwasch? Dann kann Mark in der Zeit mit Emory spazieren gehen und ihr erklären, warum es falsch wäre, diese Schokoladenmaus zu essen, die er ihr geschenkt hat.« »Du hast es verraten?«, fragte Beamon. Emory rutschte hastig vom Stuhl und verschwand im Flur, um Jacke und Schuhe zu holen. Beamon trat zur Seite und ließ Jennifer mit den Tellern vorbei. »Es gibt noch etwas, wobei ich Ihre Hilfe brauche, Carrie. Vielleicht können wir darüber reden, wenn ich zurückkomme.« 474
SIEBENUNDSECHZIG Die Sonne war gerade erst über den Bergen aufgegangen. Beamon setzte seine Brille auf und zog einen Notizzettel mit einer Adresse aus der Tasche. Er schaute auf die Nummer des gepflegten Hauses. Ja, er war richtig. Energisch klopfte er und wartete. Gedämpfte Schritte kamen näher, und ein Mann öffnete. Er trug ein makellos gebügeltes weißes Hemd und graue Wollhosen, um seinen Hals hing eine ungebundene, langweilig braune Krawatte. Beamon hatte das Licht der aufgehenden Sonne im Rücken, deshalb dauerte es einen Moment, bis er ihn zu erkennen schien, doch ehe er zurückweichen konnte, hatte Beamon ihn am Kragen gepackt. Eine Frau in einem langen grünen Bademantel erschien im Flur. »Wer ist denn da, Schatz?« »Entschuldigung, Gnädigste«, sagte Beamon und zerrte den Mann nach draußen. »Ich will nur kurz mit dem Herrn reden.« »Gary«, rief sie besorgt, »ist alles in Ordnung? Soll ich jemanden anrufen?« »Mach die Kinder fertig für die Schule. Es ist alles okay.« Lächelnd winkte Beamon ihr zu, ehe er die Tür schloss. »Sie sind anscheinend wirklich nicht besonders helle, Beamon«, sagte der Mann und versuchte sich zu befreien, bewirkte aber nur, dass sein Hemd zerriss. »Sie haben immer noch keine Ahnung, mit wem Sie es zu tun haben, oder?« Beamon gab gar keine Antwort, sondern zog ihn die Auffahrt hinunter zu seinem Wagen und drückte sein Gesicht ans Fenster der Beifahrerseite. Am liebsten hätte er ihn dagegen gerammt und ihm die Nase gebrochen. 475
»Vermutlich sind Sie noch nicht über die neue Weltordnung informiert worden.« Beamon schaute durch die Windschutzscheibe. Carrie nickte nervös. Er riss den Mann hoch und ließ ihn los. Statt zurückzuweichen, trat er herausfordernd auf ihn zu. »Was soll das, Beamon? Wollen Sie mich verhaften? Ach nein, das können Sie ja gar nicht mehr, stimmt’s?« Beamon lächelte nur und verpasste ihm einen kräftigen Tritt auf den Fuß, dass er vor Schmerz und Überraschung aufheulte und ein paar Schritte zurückhumpelte. Beamon warf Carrie einen raschen Blick zu, die ihn entsetzt anschaute, und zuckte die Schultern. Es hatte keine Fingerabdrücke auf der Geschäftskarte der »Child Safety Administration« gegeben außer seinen und denen von Carrie, doch der achte Papierwarenladen, den Beamon angerufen hatte, war der richtige gewesen. Und man hatte sogar noch die entsprechenden Unterlagen gehabt. »Sie hätten sich die Karten nicht direkt zu sich nach Hause schicken lassen sollen, Sie Idiot.« Der Mann sah aus, als wolle er auf ihn losgehen, aber Beamon schob viel sagend eine Hand unter seinen Parka, was die gewünschte Wirkung hatte. »Ich muss zugeben, dass ich schon ein wenig beeindruckt bin«, sagte Beamon. »Mit Geschäftskarten für fünfzig Dollar und ein paar Stunden Arbeit konnten Sie das Leben Hunderter Menschen für alle Zeit verpfuschen. Wie viele Male haben Sie diese miese Methode benutzt?« Der Mann richtete sich auf und schaute ihm direkt in die Augen. »Sooft wir es wollten.«
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ACHTUNDSECHZIG »Margie! Wie geht es, meine Schöne?«, grüßte Beamon betont freundlich. Jake Laymans Sekretärin starrte ihn an und sprang hastig auf. »Mein Gott, Mark! Was machen Sie denn hier? Wissen Sie, dass man überall nach Ihnen sucht?« Beamon legte Jennifer eine Hand auf die Schulter. »Margie, ich möchte Ihnen das Mädchen vorstellen, von dem alle Welt redet – Jennifer Davis.« Fassungslos musterte sie Jennifer, die sich am liebsten hinter Beamon versteckt hätte. »Starren Sie sie nicht so an«, sagte er. »Ich glaube, es ist ihr ein bisschen peinlich, dass ich ihr Kleider in der Kinderabteilung gekauft habe.« »Und … und wer ist das?«, stammelte Margie und musterte den Mann, der neben Beamon stand. »Das ist mein Freund von der ›Child Safety Administration‹. Er hat eine kleine Geschichte zu erzählen …« Beamon bemerkte plötzlich, dass sämtliche Geräusche im FBI-Büro von Phoenix verstummt waren; nur vereinzelt hörte man noch ein leises Wispern. Er wandte sich um und sah, dass sich nirgendwo mehr jemand rührte – als hätte man bei einem Videorecorder die Pausentaste gedrückt. »Wie ich höre, ist der Direktor hergekommen, um über mich zu reden. Wo?« »Ich melde Sie rasch an.« »Nicht nötig«, erwiderte er. »Verraten Sie mir nur, wo sie sind.« »Im Konferenzraum zwei.« Er winkte Jennifer und dem zunehmend nervös ausse477
henden Mann, der ihn der sexuellen Belästigung von Kindern beschuldigt hatte, und ging voraus. »Meine Herren«, grüßte Beamon, als er ohne anzuklopfen in den Konferenzraum trat. »Hallo, Chet.« »Beamon!« Layman sprang so hastig auf, dass er fast seinen Kaffeebecher umgestoßen hätte. Chet Michaels hieb mit der Faust in die Luft und flüsterte: »Jawoll!« Der Direktor starrte ihn nur wortlos an. »Schauen Sie nicht so überrascht drein, Jake. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich würde herkommen, sobald ich ein paar Sachen erledigt habe.« Er wandte sich zur offenen Tür um. »Nur nicht so schüchtern.« Als Jennifer verlegen hereinschlurfte, fiel Layman zurück in seinen Sessel. »Das Erste, was noch zu regeln war. Jennifer, ich möchte dir gern Jake Layman und William Calahan vorstellen. An Chet Michaels erinnerst du dich vielleicht noch.« Beamon sprach betont ruhig. Sie lächelte höflich. Sein zweiter Begleiter blieb draußen vor der Tür stehen. Beamon zerrte ihn in den Raum. »Setzen«, befahl er. Der Mann gehorchte wortlos. »Der nächste Punkt, der noch zu klären war, aber das erzähle ich Ihnen später.« Beamon winkte Jennifer, neben ihm Platz zu nehmen. Sie setzte sich und legte die Computerdisketten auf den Tisch. »Was ist das?«, fragte Layman leise. »Einige sehr interessante Telefonate, die die Kirche der Evolution abgehört und mitgeschnitten hat. Ich glaube, damit ist Ihr gesamtes Büro ungefähr fünf Jahre lang beschäftigt.« 478
»Die Kneissianer?« Zum ersten Mal meldete sich Calahan zu Wort. »Was zur Hölle geht hier vor sich? Und wo kommt das Mädchen her?« »Direktor Calahan, ich …«, begann Layman. »Halten Sie die Klappe, Jake. Sie habe ich nicht gefragt. Jetzt redet Beamon.«
NACHBEMERKUNG
Beim Schreiben dieses Romans hatte ich die schwierige, aber faszinierende Aufgabe, mir eine neue Religion auszudenken. Zu diesem Zweck bediente ich mich bei vielen verschiedenen Glaubensgemeinschaften und ergänzte alles mit einer kräftigen Portion meiner eigenen Phantasie sowie dem Geist von George Orwell. Da alle Religionen gewisse Gemeinsamkeiten haben, könnte es sein, dass der eine oder andere Ähnlichkeiten mit den unterschiedlichsten heutigen Glaubensgemeinschaften entdeckt. Ich versichere allerdings, dass solche Ähnlichkeiten reiner Zufall und keineswegs beabsichtigt sind.
DANKSAGUNG
Ohne dass die Reihenfolge etwas zu bedeuten hat, möchte ich mich bedanken: bei Elaine Mills für ihre zunehmend professionellere Betätigung als Lektorin und dass sie für mich den Markt im Auge behält; bei Darrell Mills, dass er mir mit seinem technischen Fachwissen hilft und im Voraus für seinen beständigen Einsatz bei der Vermarktung; bei meiner Frau Kim für ihr großes Verständnis und ihre Mühen, hauptsächlich aber dafür, dass sie die gelegentlichen Panikattacken ertragen hat, die vermutlich alle Schriftsteller bei ihrem zweiten Buch erfassen; bei Laura Liner, dass sie mir den Soundtrack lieferte; bei Robert Gottlieb und Matt Bialer von William Morris für ihre Begeisterung und ihren unermüdlichen Einsatz; und schließlich bei John Silbersack, Caitlin Blasdell und dem Rest der Truppe bei HarperCollins, die wirklich ganz Erstaunliches für mich geleistet haben.