Die süsseste Mami der Welt Emma Goldrick
Julia Muttertag 09
1 1998
gescannt von suzi_kay korrigiert von Geisha0816
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Die süsseste Mami der Welt Emma Goldrick
Julia Muttertag 09
1 1998
gescannt von suzi_kay korrigiert von Geisha0816
Nach ihrem Studium hat Holly Latimore nur kurzfristig ihren Beruf ausgeübt, denn sehr erfolgreich war sie als Lehrerin nicht.Um erst einmal in Ruhe herauszufinden, was sie nun eigentlich in Zukunft machen will, läßt sie sich von ihrer Familie überreden, die Betreuung zweier Kinder zu übernehmen. Der achtjährige Eddie lebt zusammen mit seiner dreijährigen Schwester im Haus ihres Onkels, da ihre Mutter schwer erkrankte. Zu Hollys Überraschung ist der gutaussehende Ralph Browne kein Unbekannter - in der High School waren sie heftig ineinander verliebt. Beide versuchen ihre neu aufgeflammten Gefühle füreinander zu unterdrücken, denn die für sie äußerst ungewohnte Aufgabe, für Kinder zu sorgen, fordert ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Doch das Schicksal untergräbt all ihre Bemühungen auf Abstand zu bleiben: Ralph bricht sich ein Bein und muß fortan das Bett hüten. Hollys liebevolle Pflege wird von Tag zu Tag zu einer größeren Versuchung für Ralph. Wer gibt zuerst seinen Widerstand auf?
I "Das ist also das Ende von Alfred?" Mary Kate Latimore blickte von ihrer Petit-point-Stickerei auf. Ihre jüngste Tochter lief aufgebracht im Zimmer auf und ab, schwang die Arme vor und zurück und hieb gelegentlich mit der Faust in die andere Handfläche. "Und ob", erklärte Holly zornig. "Unwiderruflich. Du wirst doch Dad nichts erzählen?" Mary Kate legte ihre Stickerei zur Seite und faltete die Hände. "Dein Vater ist mit Alfreds Vater befreundet", meinte sie, "Das heißt jedoch nicht, daß du Alfred heiraten mußt, wenn du nicht willst." "Aber er hat gesagt..." "Er? Alfred?" "Ja. Er hat gesagt, meinem Vater würde es ganz und gar nicht gefallen, wenn ich mich von ihm trenne. ,Du wirst fürchterlichen Ärger mit deinem Vater bekommen' waren seine exakten Worte. Dann grinste er hämisch und ging." "Lieber Himmel, Kind! Deshalb machst du dir Sorgen? Du müßtest deinen Vater doch eigentlich besser kennen." "Manchmal bin ich mir einfach nicht sicher, Ma. Alle anderen in der Familie sind groß und stark und wissen genau, was sie wollen ..." Holly schluckte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. "Das gleiche gilt für die Männer, die sie
geheiratet haben. Nur ich bin eine halbe Portion von gerade mal einsfünfzig ..." "Fast wie ich", unterbrach ihre Mutter gelassen. "Außerdem hast du wunderschönes goldblondes Haar. In deinem Alter hatte ich das auch. Dazu hast du eine sehr hübsche Figur." "Trotzdem fühle ich mich meinen Schwestern unterlegen. Becky ist Ärztin - mir wird schon beim Anblick von Blut schlecht. Auch Mattie kann ich nicht das Wasser reichen. Sie leitet die Firmenniederlassung in Afrika. Ich dagegen traue mich nicht einmal allein nach Boston. Oder Faith. Faith hat Karriere als Rechtsanwältin gemacht und ist mit einem Texaner verheiratet, der eine Ranch besitzt und dazu als Bauunternehmer Millionen verdient. Mir würden im Gerichtssaal beim ersten scharfen Wort der Gegenseite die Argumente ausgehen, und vor Kühen habe ich eine Heidenangst. Ich könnte nie Lehrerin sein, obwohl ich Kinder liebe. Zur Bibliothekarin habe ich auch kein Talent. Was soll nur aus mir werden? Die Ehefrau eines Alfred Pleasanton?" "Du bist noch jung, mein Kind, und wirst deinen Platz in der Welt ganz bestimmt finden." Holly seufzte. "Vermutlich bleibt mir gar nichts anderes übrig, als ins Kloster zu gehen." Mary Kate Latimore schmunzelte. "Bei deinem Temperament wärst du dort mit Sicherheit fehl am Platz." Sie horchte auf. "Ich glaube, dein Vater ist gerade gekommen." Holly sprang auf. "Dann verstecke ich mich am besten irgendwo." "Setz dich wieder hin." Die Familie Latimore kannte diesen Ton und wußte, daß Widerspruch zwecklos war. Holly zog ein Taschentuch heraus, drückte sich in ihren Sessel und wünschte, sie wäre unsichtbar. Der Mann, der pfeifend zur Tür hereinkam, hatte seine besten Jahre schon hinter sich. Sein Haar war schlohweiß, und seine Schultern hingen leicht nach vorn. Seit einiger Zeit fuhr er nur
noch einmal in der Woche nach Boston oder wenn sein Sohn Michael ihn anrief, weil er bei der Leitung von Latimore Incorporated, der größten Baufirma des Landes, Unterstützung brauchte. Bruce Latimore ging auf den Sessel zu, in dem seine kleine Frau saß, und küßte sie aufs Haar. "Bin ich erleichtert, daß dieser Tag vorüber ist!" rief er. "Sei bloß froh, daß du nicht von Arthritis geplagt bist." Mary Kate blickte auf und lächelte ihn an. "Das kommt davon, daß du heute Mittag deine Tabletten nicht nehmen wolltest. Übrigens hat deine Tochter ein Problem." "Meine Tochter?" Eines wußte Bruce Latimore ganz genau. Mary Kate Latimore - genauer gesagt, Richterin Mary Kate Latimore - war ganz allein für den weiblichen Teil der Familie zuständig und brachte ihn nur ins Spiel, damit er bestätigte, was sie bereits entschieden hatte. Nun brauchte er nur noch zu erraten, was er sagen sollte. "Holly? Du hast ein Problem?" begann er vorsichtig. Holly setzte sich gerade hin - gar nicht so einfach, denn sämtliche Stühle im Haus waren für Menschen mit langen Beinen wie ihren Vater gekauft worden. Mary Kate nahm einen Hocker zu Hilfe. Holly hatte sich daran gewöhnt, ganz vorn auf der Kante zu balancieren. "Nicht direkt ein Problem", sagte sie leise. "Ich ... ich habe meine Verlobung mit Alfred gelöst." "Aha." Bruce Latimore reagierte blitzschnell. "Alfred. Ist das nicht dieser arrogante Schnösel, der seit einigen Monaten hier herumhängt?" "Genau der", bestätigte Mary Kate aus ihrer Ecke. "Dad, ich..." "Was für eine gute Idee", unterbrach Bruce seine Tochter. "Er scheint nach seinem Vater zu geraten. Der treibt mich jedes Mal an den Rand eines Nervenzusammenbruchs, wenn wir
geschäftlich miteinander zu tun haben. Heißt das, du hast jetzt ein bißchen Zeit?" Was sollte diese Frage wohl bezwecken? Holly wußte aus Erfahrung, daß es riskant war, in diesem Haus unüberlegte Antworten zu geben. Aber so intensiv sie auch nachdachte, sie konnte keine Falle erkennen. "Eigentlich schon", antwortete sie schließlich. "Gut", erklärte ihr Vater. "Ich brauche nämlich deine Hilfe." Holly traute ihren Ohren nicht. Bruce Latimore hatte sich in seinen Lieblingssessel sinken lassen und griff nach dem Boston Globe. "Du brauchst meine Hilfe?" fragte sie ungläubig. So lange sie zurückdenken konnte, hatte er die Dinge im Griff gehabt - wenn man einmal davon absah, daß er sich gelegentlich an seine Frau um Rat wandte. Für Holly war ihr Vater praktisch allmächtig. Und nun ... Er legte die Zeitung zur Seite. "Allerdings, mein Schatz. Du magst doch Kinder?" "Schon", entgegnete sie vorsichtig. "Jedenfalls kleine Kinder." "Das wäre also geklärt." Bruce Latimore wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Holly war verblüfft. "Was denn?" Er blickte auf. "Habe ich das nicht gesagt?" "Nein, mein Lieber, das hast du nicht", warf Mary Kate ein. In ihrer Stimme schwang ein gewisser Unterton mit, der Holly aufhorchen ließ. Obwohl Mary Kate keine Miene verzog, hatte Holly den Verdacht, daß sie lachte. "Vielleicht solltest du etwas deutlicher werden, Bruce." "Wenn du meinst ..." Er fischte seine Pfeife aus der Tasche, schlug den Kopf ein paar Mal gegen seine Hand und schob den Stiel in den Mund. Tabak war keiner drin, denn seine Frau hatte ihn schon vor Jahren davon überzeugt, daß Rauchen schädlich war. "Es gibt da einen jungen Mann ..."
"Einen großen, kräftigen Angestellten?" fragte Holly mißtrauisch. "Weder das eine noch das andere. Er ist nicht bei mir angestellt, sondern unabhängiger Berater. Und besonders groß ist er auch nicht - etwa einssiebzig, würde ich sagen." Holly seufzte erleichtert. "Er ist wirklich kein Angestellter?" hakte sie nach. "Nein, Warum ist das denn so wichtig?" "Weil alles, was ich ihnen im Vertrauen erzähle, über kurz oder lang in der Chefetage von Latimore Incorporated bekannt wird." "Ach so. Du sprichst von Alfred?" "Das war nur eine seiner unangenehmen Seiten." "Abgesehen davon, daß er zu groß war." Holly strich sich das lange blonde Haar aus dem Gesicht. "Das natürlich auch." "Dann wirst du an diesem Burschen nichts auszusetzen haben", meinte Bruce Latimore schmunzelnd. "Er ist ein Computergenie. Abgesehen davon, daß wir ihn uns bei seinem Honorar gar nicht dauerhaft leisten könnten, würde er sich nie fest anstellen lassen. Deswegen nehmen wir seine Dienste von Fall zu Fall in Anspruch." "Und was habe ich damit zu tun?" "Der Mann steht vor einem Problem. Seine Schwester hat zwei kleine Kinder - einen Jungen und ein Mädchen. Bei einem Autounfall vor einem halben Jahr wurden sie und ihr Mann schwer verletzt. Um wieder ganz gesund zu werden, haben die beiden eine längere Reise angetreten und die Kinder bei ihm gelassen. Andere Angehörige, die einspringen könnten, gibt es nicht." "Und?" "Gerade jetzt brauchen wir ihn dringend. Er sagt, er kann nicht arbeiten, weil er mit Kindern und Haushalt vollauf beschäftigt ist. Den Auftrag könnte er nur annehmen, wenn wir
ihm für zwei, höchstens drei Monate eine zuverlässige Haushälterin besorgen. Soweit ich weiß, sind die beiden Kinder noch sehr klein. Sie wohnen ein Stück nördlich von Taunton." "Vielleicht könnte ich die Kinder herbringen", meinte Holly. "Das möchte er nicht. Seit dem Unfall leben die Kinder bei ihm. Jetzt, da sie sich gerade etwas eingewöhnt haben, will er nicht, daß sie aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen werden. Was meinst du?" Holly überlegte. Zwei kleine Kinder. Ein Onkel, der wahrscheinlich den ganzen Tag außer Haus war. Um sich sicherer zu fühlen, könnte sie Rex, ihren alten Schäferhund, mitnehmen. Allerdings würde sie jeden Tag ungefähr zwei Stunden für die Fahrt einkalkulieren müssen ... "Von dir würde natürlich erwartet, daß du solange dort wohnst", unterbrach ihr Vater ihren Gedankengang. "Wenn du nicht willst, brauchst du nicht zu arbeiten", warf Mary Kate leise ein. "Dein Anteil an der Dividende von Latimore Incorporated sichert dir ein gutes Auskommen. " "Das weiß ich, aber wenn ich nichts zu tun habe, verliere ich den Verstand." "Du müßtest übrigens schon morgen anfangen", verkündete ihr Vater und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. "Übermorgen", stellte Mary Kate richtig. "Morgen werde ich mir diesen jungen Mann erst einmal anschauen. Schließlich will ich wissen, in wessen Haus mein jüngstes Kind lebt." "Moment mal", erhob Holly Einspruch. "Nicht ich, sondern Michael ist der jüngste in unserer Familie." "Das mag sein, aber er ist einsfünfundneunzig und kann auf sich selbst aufpassen. Für mich bist und bleibst du das Küken." Dem hatte Holly nichts entgegenzusetzen. Obwohl der Himmel am Sonntag strahlend blau war, wehte ein eisiger Wind von Kanada herüber - eine Erinnerung daran, daß der Winter keineswegs schon vorbei war. Um sich Mut zu
machen, pfiff Holly vor sich hin, während sie ihren schwarzen Jeep über den Highway in Richtung Taunton lenkte. Auf dem Beifahrersitz saß Rex, ihr ziemlich übergewichtiger deutscher Schäferhund, und streckte die Nase in den Fahrtwind. Als Mary Kate am Tag zuvor zurückgekommen war, hatte sie ihren Segen gegeben - unter der Bedingung, daß Holly Rex mitnahm. Holly bezweifelte zwar, daß Rex im Notfall eine große Hilfe sein würde. Schließlich war er schon vierzehn Jahre alt und verbrachte seine Tage am liebsten auf einer Decke vor dem Kamin. Trotzdem war es ein beruhigender Gedanke, daß sie nicht ganz allein in der Fremde sein würde. Eine Viertelstunde später entdeckte sie das Haus. Es lag ein gutes Stück von der Straße entfernt - ein altes Bauernhaus, an das im Laufe der Jahre immer wieder angebaut worden war. Holly bog in den holprigen Zufahrtsweg ab und hielt kurz darauf vor der Tür. Niemand schien sie kommen gehört zu haben, denn alles blieb still. Als sie ausstieg, rührte sich Rex nicht vom Fleck. "Feigling", murmelte Holly, atmete tief durch und stieg die Stufen zur Veranda empor. Die Haustür aus Eichenholz hatte eine altmodische Klingel, bestehend aus einem Ring, den man drehen mußte. Schon beim ersten Ton regte sich auf der anderen Seite etwas. Die Tür schwang auf, und Holly stand zwei Kindern gegenüber - einem Jungen von etwa acht und einem kleinen Mädchen, das höchstens drei sein konnte. "Was wollen Sie?" fragte der Junge unfreundlich. "Ich ..." Holly schluckte. Ihr Hals war ganz trocken. "Ich bin die neue Haushälterin." "Ja und?" . Wenn sie jetzt nicht rasch die Initiative ergriff, würde ihr der freche kleine Bursche die Tür vor der Nase zuschlagen, und sie hätte eine weitere Niederlage erlitten.
Sie schnippte mit den Fingern in Rex' Ohr. Der große alte Hund spitzte die Ohren, setzte sich in Position und knurrte einmal. Obwohl es keineswegs gefährlich klang, machte der Junge einen Schritt zurück. "Ist das Ihr Hund?" fragte er unsicher. "Allerdings. Darf ich vielleicht hereinkommen?" . "Also gut." "Ich heiße übrigens Holly. Und ihr?" "Ich bin Melody", ließ sich das kleine Mädchen vernehmen. "Und das hier ist Eddie. Eigentlich heißt er Edward, aber den Namen findet er blöd. Deshalb hat Onkel Ralph gesagt ..." Onkel Ralph! Da heute Sonntag war, würde er ja wohl kaum in sein Büro nach Boston gefahren sein. "Wo ist denn euer Onkel Ralph?" "Oben", erklärte Melody. "Dort arbeitet er." "Immer?" fragte Holly beklommen. "Manchmal arbeitet er auch nicht", antwortete Eddie. "Dann kommt er herunter." Warum hatte ihre Mutter nichts davon erzählt, daß ihr neuer Arbeitgeber den ganzen Tag zu Hause war? Weshalb war ihr einziger Rat gewesen, Rex mitzunehmen? Wo war der Hund eigentlich? Holly blickte über die Schulter. Ihr tapferer Beschützer war ihr ins Haus gefolgt, hatte sich auf dem Flickenteppich ausgestreckt und war sofort eingeschlafen. Ein schöner Wachhund! Die beiden Kinder standen abwartend da. Das kleine Mädchen hatte kurze rote Locken, die oben von einer gelben Schleife zusammengehalten wurden. Das rotkarierte Dirndlkleid, das sie trug, war mindestens eine Nummer zu klein und biß sich mit den Haaren. Die weiße Bluse würde wohl nie wieder in der ursprünglichen Farbe erstrahlen. Der Junge war groß für acht Jahre und hatte einen verwaschenen blauen Overall an. Sein Haar war dunkler als das seiner Schwester. Beide Kinder waren barfuß.
Aus dunklen Augen musterten sie Holly unverwandt. "Ich möchte mit eurem Onkel reden", erklärte Holly. Dabei war sie gar nicht sicher, ob sie Wert darauf legte, Onkel Ralph kennenzulernen. Wenn sie keine Angst vor der Reaktion ihres Vaters und vor Michaels Spott gehabt hätte, wäre sie am liebsten wieder ins Auto gestiegen und nach Hause gefahren. "Wen haben wir denn hier?" Die tiefe Stimme erklang aus dem dunklen Gang hinter den Kindern. "Holly. Holly Latimore." Sie konnte nur die Umrisse des Mannes erkennen. Als er ins Licht trat, blieb ihr fast das Herz stehen. "Du!" "Jawohl, ich. Du warst sicher überzeugt, wir würden uns nie wieder begegnen, stimmt's, Holly Latimore? Seit unserer gemeinsamen Schulzeit sind einige Jahre vergangen. Weißt du noch ..." "An diese Zeit erinnere ich mich nicht gern. Vor allem nicht an dich, Ralph Browne. Was du mir damals angetan hast..." "Ja, ja", unterbrach er sie seufzend. "Bei diesem Abschlußball ist leider einiges schiefgelaufen. Aber zum Glück sind wir ja jetzt erwachsen - zumindest ich. Du bist immer noch eine halbe Portion." Wenn sie etwas haßte, dann das. "Ich bin keine halbe Portion! Ich mag klein sein, aber deswegen stehe ich niemandem in Intelligenz oder Leistungsfähigkeit nach." "Selbstverständlich", versicherte er. "Ich wollte nur sichergehen, ob du mit den beiden Wilden hier fertig wirst." "Da habe ich überhaupt keine Bedenken", behauptete sie. Die Erinnerung an ihre erste und gleichzeitig auch letzte Woche als Lehrerin in einer neunten Klasse in Tarbert verdrängte sie dabei. "Miss Latimore ging ihre Aufgabe mit großem persönlichen Einsatz an", hatte der Direktor in ihr Zeugnis geschrieben, "war jedoch leider nicht imstande, die Disziplin in einer Klasse mit fünfundzwanzig Schülern aufrechtzuerhalten."
"Wenn das so ist", meinte Onkel Ralph. "Eddie, bring Hollys Gepäck nach oben, und du, Melody, zeigst ihr ... Was, um alles in der Welt, ist denn das?" Rex war erwacht, hatte seine gut hundert Pfund hochgestemmt und sich neben Holly gestellt. Als spürte er, daß sie dringend Zuspruch brauchte, leckte er ihr die Hand. "Das ist Rex", entgegnete sie. "Mein Beschützer. Wenn ich ihn nicht mitgebracht hätte, hätte Mutter niemals zugelassen, daß ich hier wohne." "Deine Mutter? Du meinst, die kleine alte Dame, die gestern hier war?" "Genau. Sie ist übrigens Richterin am Obersten Gerichtshof," "Donnerwetter", meinte er beeindruckt. "Und mein Bruder ist einsfünfundneunzig und hat sehr altmodische Vorstellungen, was den Lebenswandel seiner Schwestern angeht", fügte sie hinzu. "Ach du meine Güte! Gibt's vielleicht noch mehr von euch?" "Ja. Und sie sind alle größer als ich." "Soso. Dann mache ich mich wohl lieber wieder an die Arbeit." Seine Miene war nachdenklich geworden. Er lächelte den beiden Kindern zu und ging zur Treppe. Holly schaute ihm nach. Ein schlanker, drahtiger Mann von etwa einssiebzig. In einer Welt großer Menschen würde er zweifellos als klein gelten. In ihrer Welt dagegen hatte er genau die richtige Größe - ein Mann, zu dem sie aufsehen konnte, ohne sich dabei den Hals zu verrenken. Sein Körper war muskulös, das verriet das enge TShirt. Er hatte breite Schultern, eine schlanke Taille und schmale Hüften. Sein rotblondes Haar war zerzaust und hätte dringend geschnitten werden müssen. Na also, dachte Holly, während sie ihm nachschaute. Ich wußte doch, daß es auch Männer von passabler Größe auf dieser Welt gibt. Am Fuß der Treppe drehte sich Ralph Browne noch einmal um. "In diesem Hause wird Punkt zwölf zu Mittag gegessen. An
der Wand in der Küche hängt ein vom Computer erstellter Plan. Sieh dich mit Eddie vor." Ehe Holly auch nur eine Frage stellen konnte, war er fort. Sie sollte sich mit Eddie vorsehen? Warum nur? Sie blickte auf die Uhr, die mit einer antiken Nadel an ihrer Bluse befestigt war. Drei Stünden bis zum Mittagessen - vorausgesetzt, sie fand etwas, das sie zubereiten konnte. "Komm mit", befahl Eddie. Da sein Onkel Ralph sie duzte, tat er das selbstverständlich auch. Melody legte vertrauensvoll ihre Hand in Hollys. Allerdings verdarb sie den guten Eindruck gleich wieder, als sie sagte: "Sogar meine Mom ist größer als du." "Wenn man mal von der Oberweite absieht", warf Eddie fachmännisch ein. Um ein Haar wäre Holly gestolpert. Es stimmte, daß sie in dieser Hinsicht von der Natur sehr großzügig ausgestattet worden war. Noch heute dachte sie mit Schrecken daran, wie ihr die Jungen aus ihrer Klasse während ihrer Referendarzeit hinterhergepfiffen hatten. Und Alfred hatte ständig versucht, ihre Brüste zu betasten - bis sie ihm mit einem schmerzhaften Judogriff den Spaß verdorben hatte. Glücklicherweise verfolgte Eddie das Thema nicht weiter. "Hier wären wir", erklärte er und stieß eine Tür auf. Melody zupfte ihn am Ärmel. "Doch nicht hier! Onkel Ralph will bestimmt, daß Holly im Zimmer nebenan schläft. Dort gibt's ein eigenes Bad." Eddie zuckte mit den Schultern und ging weiter. Der lange Korridor war sehr schmal und erinnerte Holly an eine Kegelbahn. Durch die schmutzigen kleinen Fenster an den beiden Enden fiel kaum Licht herein. Hier muß einmal gründlich saubergemacht werden, dachte Holly. Man merkt, daß keine Frau im Haus ist. Eddie öffnete eine andere Tür und trat ein. Das Zimmer war ganz in Brauntönen eingerichtet. Nur die Kissen auf dem Bett
brachten ein wenig Farbe hinein. "Bist du sicher?" fragte er seine Schwester zweifelnd. "Klar." Schulterzuckend stellte er Hollys Taschen ab. "Das war's also. Komm, Melody." Gehorsam folgte die Kleine ihrem Bruder. Rex machte Anstalten, sich anzuschließen, doch als Holly mit dem Finger schnippte, blieb er stehen und sah sie beinahe entschuldigend an. "Du bleibst lieber bei mir, alter Junge. Das Haus erkunden wir nachher gemeinsam." Holly machte sich ans Werk. Das Auspacken dauerte nicht lange, weil sie nur wenig mitgebracht hatte. Je drei verschiedene Hosen und Pullis für die Arbeit, einige T-Shirts, Unterwäsche, ihren Waschbeutel und ein halbes Dutzend Paar Socken. Obwohl die Fahrt kaum eineinhalb Stunden gedauert hatte, kam sie sich verschmutzt vor wie nach einer langen Reise. Ehe sie das Mittagessen richtete, würde sie rasch duschen. Sie streifte den Pulli über den Kopf und knöpfte die Bluse auf. Aus einem Ärmel war sie bereits geschlüpft, als im Korridor plötzlich dumpfes Grollen ertönte. Melody kreischte. Eddie schrie nach Hilfe. Rex rappelte sich auf, kratzte an der Tür und winselte. Ohne nachzudenken, stürmte Holly hinaus. Das Grollen gipfelte in einem lauten Krachen, das das Haus erzittern ließ. Im Flur standen Hand in Hand die beiden Kinder. "Es war ein Unfall", verkündete Melody. "Sie war's." Eddie deutete auf die Ecke, wo eine riesige. Kegelkugel lag. "Ach du meine Güte!" rief Holly. Ralph kam aus dem zweiten Stock heruntergestürzt. "Habe ich dir nicht gesagt, du sollst auf Eddie aufpassen?" "Ich war's nicht!" schrie Eddie empört.
Melody, die auf eine weibliche Verbündete setzte, schmiegte sich an Holly und umschlang eines ihrer Beine. "Ich auch nicht!" Onkel Ralph kratzte sich am Kinn. "Von allein wird sich das Ding wohl nicht in Bewegung gesetzt haben. Aber für solche Dinge ist ab jetzt Holly zuständig. Ich muß wieder an die Arbeit." Ehe er verschwand, beugte er sich zu Holly hinunter und flüsterte: "Übrigens, Miss Latimore, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie vor den Kindern nicht halbnackt herumlaufen würden." Holly blickte an sich hinunter und lief feuerrot an. Ihre Bluse hing nur noch über einer Schulter. Dazu trug sie Rock, Strumpfhose und einen BH - zum Glück, denn normalerweise verzichtete sie auf letzteres. "Ich persönlich habe nichts dagegen", fuhr er schmunzelnd fort, "aber Eddie ist in einem Alter, wo er sich für solche Dinge zu interessieren beginnt." "Halt den Mund!" schrie sie. "Ich bin doch nicht mit Absicht ... Es war ein Versehen." Noch immer lachend zog sich Onkel Ralph wieder ins obere Stockwerk zurück. Holly funkelte die Kinder an, deren Kichern abrupt verstummte. Dann marschierte sie in ihr Zimmer zurück und knallte die Tür hinter sich zu. Sie ließ sich aufs Bett fallen und ballte die Hände zu Fäusten. "Das brauche ich mir nicht bieten zu lassen! Eine saftige Ohrfeige hätte ich ihm verpassen müssen. Und zwar nicht nur heute, sondern auch schon vor zehn Jahren auf dem Ball." Wenn sie an jenes Ereignis zurückdachte, lief es ihr noch immer eiskalt über den Rücken. Ralph Browne hatte die Frechheit besessen, im Gewühl auf der Tanzfläche das Oberteil ihres Kleides zu lösen, so daß sie plötzlich bis zur Taille nackt dagestanden hatte. Das Lachen war ihm allerdings schnell vergangen, als sie ihm ein Veilchen verpaßt hatte. Daß der
Direktor sie dafür für eine Woche von der Schule verwiesen hatte, fand sie heute noch ungerecht. Ein Blick auf ihren herunterhängenden Ärmel erinnerte sie daran, daß sie eigentlich hatte duschen wollen. Sie zog sich vollends aus, ging ins Bad und drehte den Hahn auf. Ihre Befürchtung, daß das heiße Wasser nicht funktionieren könnte, bewahrheitete sich nicht. Im Gegenteil - aus der Dusche schoß ein kräftiger Strahl. Offenbar hatte Ralph das Leitungssystem erneuert. Nach einer Viertelstunde war ihr Ärger verflogen. Die Badetücher hingen auf einem heizbaren Gestell. Sie nahm eines herunter und rubbelte sich trocken. Es war so groß, daß sie sich zweimal hineinwickeln konnte. Herrlich! Als sie wieder ins Schlafzimmer kam, stieß sie einen Entsetzensschrei aus. Vor der Kommode stand Ralph und kramte in einer Schublade. Bis auf eine Boxershorts war er nackt. Er blickte auf und pfiff anerkennend. "Verschwinde sofort aus meinem Schlafzimmer!" rief sie empört. "Ich widerspreche dir nur ungern, aber das ist mein Zimmer." "Wie bitte?" "Ich sagte, das ist mein Zimmer. Selbstverständlich bin ich gern bereit, darüber mit dir zu diskutieren, aber erst, wenn ich meine Hose gefunden habe." Holly zog sich schleunigst wieder ins Bad zurück und schlug die Tür zu. "Gefalle ich dir etwa nicht?" rief er ihr lachend hinterher. Sie schlug mit der Faust gegen das Holz. "Verschwinde!" "Gern, sobald ich ... Ah, da ist sie ja. Ich kann nicht gut in Unterhosen über den Flur laufen, solange Melody dort mit ihren Puppen spielt. Wir sehen uns nachher beim Mittagessen."
Holly wartete vorsichtshalber noch fünf Minuten, ehe sie sich wieder hinauswagte. Am liebsten hätte sie ihre Sachen sofort wieder eingepackt, doch sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie ihre Mutter reagie ren würde. "Das war jetzt der sechste Job in zwei Jahren, aber ich verstehe natürlich, daß du dich diesem Ralph Browne nicht gewachsen fühlst. Dein Vater wird enttäuscht sein, doch er hat noch nie verstanden, was in Frauen vorgeht. Von mir aus kannst du die Sache ruhig hinschmeißen." Holly biß die Zähne zusammen. "Verflixt!" Wenn sie jetzt wieder angekrochen kam, würde bald niemand in ihrer Familie sie noch ernst nehmen. Wenigstens ein paar Wochen mußte sie durchhalten. Sie zog T-Shirt, Jeans und Turnschuhe an, fuhr sich mit der Bürste durchs Haar und ging hinaus. Ihr Blick fiel in einen altmodischen Spiegel im Korridor. Das T-Shirt saß wie eine zweite Haut und brachte ihre Figur perfekt zur Geltung. Bloß das nicht! Holly lief zurück und kramte einen dicken Angorapulli heraus, der sie verhüllte wie ein Zelt.
II Die Quiche Lorraine im Ofen bräunte allmählich vor sich hin, als plötzlich im ganzen Haus Glocken schrillten. Ralph hatte davon gesprochen, aber Holly erschrak trotzdem zu Tode. Sämtliche Zimmer waren mit einem kleinen Computer an der Wand hinter dem Kühlschrank verbunden. Die Essensglocke in diesem verrückten Haus klang wie ein Feueralarm. Holly schauderte. Alle anderen Mitglieder ihrer Familie gingen ganz selbstverständlich mit Computern um, nur sie konnte sich nicht damit anfreunden. Auf einer Liste über der Anrichte war der Tag in vierundzwanzig Stunden aufgeteilt, aber Holly brauchte nicht hinzusehen. Aus allen Richtungen erklang Getrappel. Vorsichtshalber drückte sich Holly in eine Ecke. Die Tür flog auf, und Melody stürmte herein, dicht gefolgt von Eddie. "Gewonnen, gewonnen!" jubelte die Kleine. "Ich habe dich gewinnen lassen", brummte ihr Bruder. "Gar nicht wahr!" Onkel Ralph war der letzte. "Sauberkeitskontrolle", verkündete er im To n eines Feldwebels. Die beiden Kinder stellten sich brav Seite an Seite auf und streckten ihm ihre Hände entgegen. Eddie hielt die Handflächen nach oben, Melody machte es umgekehrt. Onkel Ralph tippte Eddie auf die Fingerspitzen. "Das sieht ja gar nicht schlecht aus. Vielleicht denkst du beim nächsten mal
noch an die Nagelbürste." Er machte einen Schritt zur Seite und stand jetzt vor Melody. Langsam drehte sie ihre Hände um. Die Handflächen waren rabenschwarz. "Ich hab's ja gewußt!" rief Eddie triumphierend. "Sie hat gar nicht ..." "Kein Kommentar aus der Truppe!" unterbrach Onkel Ralph streng. "Gefreite Melody, abtreten zum Händewaschen." Die Kleine warf Holly einen flehenden Blick zu, fand diesmal aber keine Unterstützung. Schließlich verschwand sie resigniert in dem kleinen Waschraum hinter der Küche. Eddie ließ sich grinsend auf einen Stuhl fallen. "Du kannst gleich wieder aufstehen", befahl sein Onkel. "Erst wenn alle da sind, darfst du dich setzen." "Ach Mensch", maulte Eddie. "Erst drängelt sie sich vo r, und dann müssen wir alle auf sie warten. Das ist nicht fair." Sein Onkel nickte weise. "Je eher du lernst, daß das Leben nicht immer fair ist, desto besser." Melody kam zurück - die Hände zwar triefend naß, doch sauber - und kletterte auf ihren Hochstuhl. "Jetzt bin ich aber gespannt, was uns unsere neue Haushälterin Köstliches vorsetzt", meinte Onkel Ralph. "Vorsicht, heiß", warnte Holly, als sie die Tonform mit der Quiche auf den Korkuntersetzer in der Mitte des Tischs stellte. Sie hatte eine begeisterte Reaktion erwartet, doch sie traf auf Schweigen. Melody kniete sich hin und beugte sich vor. "Was ist denn das?" "Quiche Lorraine", antwortete Holly. "Ein berühmtes französisches Gericht." "Und das grüne Zeug daneben?" fragte Eddie argwöhnisch. "Brokkoli. Das essen alle Kinder gern", behauptete sie. "Ich nicht." "Ich auch nicht", pflichtete Melody ihrem Bruder bei.
Holly drehte sich zu Onkel Ralph. Der verzog keine Miene, aber sie wußte genau, daß er sie im stillen auslachte. Die Kinder können nichts dafür, dachte sie. Sie ahmen einfach die Erwachsenen nach. Aber er ... Am liebsten hätte sie ihm die große gußeiserne Bratpfanne, die an einem Holzgestell über dem Herd hing, auf den Kopf gehauen. Er sah, in welche Richtung ihr Blick ging, und hob in gespieltem Entsetzen den Arm. "Ich habe doch überhaupt nichts gesagt ... Mir schmeckt Quiche sehr gut. Allerdings muß ich zugeben, daß Brokkoli nicht zu meinen Leibspeisen gehört." "Präsident Bush hat gesagt, daß Kinder keinen Brokkoli essen müssen", erklärte Eddie. "Deswegen ist er jetzt auch nicht mehr Präsident", entgegnete Holly. "Was eßt ihr denn normalerweise zu Mittag?" "Brot mit Erdnußbutter oder Gelee", antwortete Melody. "Wenn Mom da ist, gibt es richtig gute Sachen." "Mom macht tolle Sandwiches", bestätigte Eddie. "Mit Schinken, Mortadella, Salami ..." "Manchmal gibt's auch Pizza", warf Onkel Ralph ein. "Meine Schwester kocht sehr gut." Ich auch, dachte Holly wütend. Mindestens genausogut wie deine Schwester. Zum x-ten Mal an diesem Tag fragte sie sich, weshalb sie sich das antat. Die Antwort blieb die gleiche - aus Stolz. Wenn diese undankbare Brut Sandwiches wollte, sollte sie sie haben. Die Erdnußbutter hatte sie bei ihrer ersten Inspektion der Küche auf dem Regal in der Speisekammer gesehen. Das Gelee war im Kühlschrank. Für das Brot gab es einen extra Metallbehälter. Sie öffnete die Speisekammer und stellte sich auf die Zehenspitzen, doch sosehr sie sich auch reckte und streckte, es reichte nicht. "Verdammt!" "Wer ein unanständiges Wort sagt, muß zehn Cent in die Spardose werfen!" rief Eddie.
"Die Trittleiter steht neben der Spüle", teilte sein Onkel Ralph mit. Sie funkelte ihn böse an. "Wenn du ein Gentleman wärst..." War er offenbar nicht. "Wie ist das denn jetzt eigentlich mit den zehn Cent?" wollte Eddie wissen. Holly stemmte die Hände in die Hüften. "Besteuerung ohne Mitspracherecht. Das hat seinerzeit die amerikanische Revolution ausgelöst." "Heißt das, du hast kein Geld?" fragte Eddie hämisch. "Du kannst auch einen Schuldschein reinwerfen", steuerte Melody bei. "Das macht Onkel Ralph immer. Er schreibt was auf ein Stück Papier und steckt es in die Büchse." Das mache ich auch, dachte Holly. Wenn ich dann endgültig genug habe von diesem albernen Job, können die drei Monster sehen, wie sie an ihr Geld kommen. "Führst du eigentlich häufig Selbstgespräche?" erkundigte sich Onkel Ralph. Sie hatte gar nicht gemerkt, daß sich ihre Lippen bewegten. "Unentwegt", fauchte sie. "Ich bin nämlich die einzige, die mich versteht." Ralph murmelte etwas wie: "Überrascht mich nicht", doch ehe sie ihn zur Rede stellen konnte, tat er etwas Unerwartetes. Er stand auf und holte das Glas mit der Erdnußbutter aus dem Regal. "Danke", murmelte sie ungnädig und machte sich daran, vier große Sandwiches zuzubereiten. Eddie zögerte einen Moment, dann griff er sich eins und biß herzhaft hinein. Melody tat es ihm strahlend nach. Onkel Ralph lächelte und schnitt sich ein Stück von der Quiche ab. "Du muß das nicht essen, wenn du nicht willst."
"Ich esse gern Quiche", erwiderte er freundlich und schob sich einen winzigen Bissen in den Mund - winzig jedenfalls für einen Mann. Hollys Gedanken schweiften ab. Für seine Größe bot er eine ganze Menge Mann. Sein weißes Hemd spannte sich straff über den Schultermuskeln. Zwischen Schultern und Hüft en saß kein Gramm Fett. Ihr Bruder Michael war ein Riese, der früher Football für die Notre-Dame-Universität gespielt hatte. Da sie nur zwei Jahre auseinander waren, hatten sie während ihrer Kinderzeit ständig zusammengesteckt, und sie hatte viel Gelegenhe it gehabt, die Eigenheiten der männlichen Spezies an ihm zu studieren. Onkel Ralph war eine verkleinerte Ausgabe von Michael. Onkel Ralph? War es eigentlich noch angemessen, ihn zu duzen, nachdem sie jetzt praktisch seine Angestellte geworden war? Holly biß sich unschlüssig auf die Lippe. Ralph N. Browne. Dieser Name hatte sich schon vor zehn Jahren unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingeprägt. Keine Frau würde den Namen des Jungen vergessen, der daran schuld war, daß sie beim Abschlußball plötzlich mit bloßem Oberkörper auf der Tanzfläche gestanden hatte. Ihm eine herunterzuhauen war eine überaus befriedigende Erfahrung gewesen. Michael, der damals erst zwölf und ein ganzes Stück kleiner als sie gewesen war, hatte sich erboten, Ralph zusätzlich zu verprügeln, um die Familienehre zu retten, doch Mary Kate hatte Wind davon bekommen und ihr Veto eingelegt. Und nun hatte ein tückisches Schicksal es gewollt, daß sich ihre Wege erneut kreuzten. Viel wußte Holly eigentlich nicht über ihn. In Eastport gab es drei Familien namens Browne - eine führte die Apotheke, die zweite hatte eine kleine Farm, und von der dritten wurde gemunkelt, sie wäre asozial. Holly hätte gern gewußt, ob Ralph aus einer dieser Familien oder aus einem ganz anderen Zweig stammte.
"Seid ihr fertig, Kinder?" hörte sie ihn fragen. Eddie nickte und sprang auf. "Ich muß weg." "Wasch dir das Gesicht!" mahnte Onkel Ralph. Melody rannte ihrem Bruder hinterher. "Du auch, junge Dame!" rief Onkel Ralph ihr nach und stand auf. "Ich muß wieder an die Arbeit." "Wasch dir das Gesicht", rutschte es Holly heraus. Er salutierte. "Jawohl! Übrigens war die Quiche nicht übel. So was kannst du gern mal wieder machen." Holly saß allein am Tisch, als plötzlich ein vom Computer aktivierter Summer über der Geschirrspülmaschine ertönte. Offenbar hatte Ralph nur wenige Minuten einkalkuliert, bis die schmutzigen Teller eingeräumt sein mußten. Holly schaffte es gerade noch, ehe sich die Maschine auf ein weiteres Signal von selbst einschaltete. Sie schnitt dem Computer ein Gesicht. "Verdammter Spion!" Vorsichtshalber ging sie die nächsten Schritte auf der Liste durch, um nicht noch einmal ins Hintertreffen zu geraten. Hatte Ralph N. Browne den Verstand verloren? Eine Viertelstunde würde nie und nimmer ausreichen, um sämtliche Räume im Erdgeschoß zu saugen. "Wenn er denkt, er kann mich wie eine Sklavin antreiben, hat er sich geschnitten", sagte sie laut. "Der kann was erleben, und wenn meine Mutter ... Aber die wird auf meiner Seite sein. Schließlich liebt sie mich." Ein Kläffen vo r der Tür her erinnerte sie daran., daß sie Rex seit geraumer Zeit nicht gesehen hatte. Sie ließ ihn herein und gab ihm eine große Portion Quiche. Um drei Uhr war Holly immer noch beim Staubsaugen, als der Summer in der Küche losging. Sie strich sich das Haar aus der Stirn und konsultierte die vermaledeite Liste. Jetzt war sie schon über eine Stunde im Hintertreffen. Was nun? Der Computer antwortete nicht. Typisch. Zu ihrer Erleichterung stand "Pause" auf dem Plan. Zum Glück! Als sie
an dem brummenden Staub sauger vorbeiging, schaltete sich dieser von selbst aus. Sie ging in ihr Zimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Gleich darauf sprang sie noch einmal auf und vergewisserte sich, daß sie diesmal im richtigen Raum war. "Ein zweites Mal kriegt ihr mich mit diesem Trick nicht dran!" "Eigentlich schade", ertönte eine Stimme hinter ihr. Holly schnappte nach Luft und fuhr herum. Ralph N. Browne stand auf der Schwelle und hatte die Hände so in den Türrahmen gestützt, daß sie nicht an ihm vorbeikam. "Was willst du?" "Weißt du eigentlich, daß du eine sehr schöne Frau bist, Holly Latimore?" "Du träumst", wehrte sie ab. "Schade, daß meine Schwester Mattie derzeit beruflich in Afrika ist. Die ist wirklich schön und außerdem ein ganzes Stück größer als ich." "Dazu gehört nicht viel", meinte er. "Selbst Eddie mit seinen acht Jahren wird dich bald eingeholt haben. Aber ich wette, keine küßt so gut wie du." Er lehnte sich vor, bis ihre Augen auf gleicher Höhe waren. Weshalb war ihr bisher nicht aufgefallen, daß er grüne Augen hatte? Außerdem mußte er sich dringend rasieren. Oder war er dabei, sich einen Bart wachsen zu lassen? Sein Mund war jetzt nur noch Zentimeter entfernt. "Rex!" zischte sie durch die Zähne. Dir getreuer Wachhund spitzte kurz die Ohren, klopfte einmal mit dem Schwanz auf den Boden und schlief dann weiter. "Verflixter Köter!" "Laß bloß die Kinder solche Ausdrücke nicht hören", mahnte Ralph. Jetzt berührten sich beinahe ihre Nasen. "Komm mir nicht zu nahe", warnte sie. "Zu spät." Er spitzte den Mund und küßte sie auf die Nasenspitze. "Ich hasse das!"
"Ach ja?" Ralph neigte den Kopf zur Seite und küßte sie auf die Lippen. Holly zuckte zusammen, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ich bin völlig hilflos, dachte sie. Er ist viel größer und stärker als ich, und seine Arme ... Erst in diesem Moment wurde ihr bewußt, daß er sie gar nicht festhielt, sondern die Hände immer noch gegen den Türrahmen gestützt hatte. Das einzige, was sie festhielt, war der Kontakt mit seinen Lippen. Sie fühlten sich warm und fest an. Wenn ich versuchen würde davonzulaufen, würde er mich bestimmt festhalten, dachte sie. Also kann ich es auch gleich bleiben lassen. Sie seufzte und schloß die Augen. Er löste sich einen Moment von ihr und küßte sie dann wieder - ernsthaft diesmal. Holly wurde schwindlig. Um nicht hinzufallen, schlang sie ihm die Arme um den Nacken. Wer weiß, wie lange sie sich so an ihm festgeklammert hätte, wenn nicht in der Küche der Summer losgegangen wäre. "Ich bin nicht allein schuld", verteidigte sich Holly, ehe er irgend etwas sagen konnte. "Natürlich nicht", versicherte er. "Ich weiß nicht, wie lange es her ist, seit ich zum letzten Mal so geküßt worden bin. Wollen wir's gleich noch mal versuchen?" Holly machte einen Satz zurück. "Nein! Nie wieder! Wenn du es genau wissen willst, hat es mir eben keinen besonderen Spaß gemacht." Sie rieb sich den Mund, als könnte sie damit die Erinnerung an Ralphs Kuß wegwischen. Er schmunzelte. "Du lügst." "Ich lüge nie!" "Wie du meinst." Wieder ertönte der Summer in der Küche. "Wenigstens kann ich mich auf meinen Zeitplan verlassen." Ehe sie sich ducken konnte, hatte er sie nochmals auf die Nase geküßt. Erst als er schon weg war, öffnete Rex ein Auge und blaffte kurz.
"Wo warst du, als ich dich brauchte?" jammerte Holly und blickte hinaus in den Flur. Von Ralph war nichts mehr zu sehen. "Dein Zeitplan ist Murks!" rief sie laut. "Dort steht nirgendwo etwas davon, daß du die Haushälterin küssen sollst." Um Punkt sechs erschienen Ralph und die Kinder wieder in der Küche. Holly betrachtete sie müde. Wie vor dem Mittagessen mußten Eddie und Melody ihre Hände zur Inspektion vorlegen. Rex hatte sich hereingeschmuggelt und versuchte, sich in der Ecke hinter dem Geschirrspüler zu verstecken. "Tiere in der Küche sind bei uns nicht erlaubt", erklärte Onkel Ralph. "So?" Holly stellte sich neben ihren Hund und tätschelte ihm das Fell. Trotzig sah sie ihren Arbeitgeber an. "Wenn Rex nicht dableiben darf, gibt es nichts zu essen." "Was hätte es denn gegeben?" wollte Eddie wissen. "Pizza", erwiderte sie freundlich. "Selbstgemachte Pizza." Die beiden Kinder schnupperten und sahen ihren Onkel bittend an. Er erwiderte streng ihren Blick, hatte aber keinen Erfolg. "Rex ist ein feiner Hund", begann Melody. "Er hat bestimmt einen ellenlangen Stammbaum", warf Eddie ein. "Tatsächlich?" fragte Onkel Ralph in den Raum. "Seine Vorfahren sind auf der Mayflower nach Amerika gekommen", schwor Holly. Sie hatte heute schon so viel geflunkert, daß es auf einmal mehr nicht ankam. Sie öffnete das Backrohr, und ein köstlicher Duft durchzog die Küche. "Da ist viel Käse drauf", schwärmte Melody. Eddie blickte ganz sehnsüchtig. "Und Salami!" Er reckte den Hals. "Außerdem schwarze Oliven, rote Paprika, Pilze, Zwiebeln..."
"Schon gut, schon gut." Onkel Ralph gab sich geschlagen. "Von mir aus kann der Hund dableiben - vorausgesetzt, er rührt sich nicht von seinem Platz." Holly nahm das Blech aus dem Ofen und stellte es auf der Anrichte ab. Dann griff sie nach einem Küchenmesser. "Soll ich große Stücke schneiden?" "O ja!" riefen alle im Chor. "Wenn wir die Pizza aus dem Lokal holen, ist sie schon geschnitten", sagte Melody. "Diese hier ist aber hausgemacht", sagte Onkel Ralph. "Kannst du nicht schneller schneiden?" Das Wasser war ihm im Mund zusammengelaufen. "Wir sollten einen Pizzaschneider kaufen." Als Holly sah, wie die drei sich über die Pizza hermachten, war sie Erleichtert. Wenigstens etwas hatte sie heute richtig gemacht. Ma würde stolz auf sie sein. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, lehnte sich Ralph vor. "Deine Mutter wäre stolz auf dich." "Das ist sie immer", entgegnete sie spröde. "Ist deine Mutter auch stolz auf dich?" "Sie und ich müssen uns einmal in Ruhe unterhalten, Miss Latimore", sagte er mit vollem Mund. "Wenn die Kinder im Bett sind." Das würde sie zu verhindern wissen. "Holly", wollte Eddie wissen. "Wenn etwas übrigbleibt, kannst du das für mich reservieren?" "Nein, für mich!" rief Melody. "Ihr bekommt jeder die Hälfte", versprach Holly. Um acht waren beide Kinder im Bett. Melody hatte sich gnädig von Holly baden lassen und dabei das Badezimmer unter Wasser gesetzt. Eddie hatte jede Hilfe entrüstet zurückgewiesen. Melody verlangte eine Gutenachtgeschichte. Eddie wollte lieber Tarzan lesen.
Onkel Ralph setzte sich für ein paar Minuten zu jedem der Kinder. "Wir sehen uns nachher unten", raunte er Holly zu, die im Bad kniete und den Boden aufwischte. Als sie wenig später herunterkam, saß er vor einem Laptop im Wohnzimmer. Sie ließ sich erschöpft auf die Couch fallen. Ihre Bluse war ziemlich durchnäßt, und auch auf den Jeans zeigten sich große feuchte Flecken. Sie faltete ihre Schürze ordentlich, blickte sich nach einem Haken um, wo sie sie aufhängen konnte, fand keinen und ließ das Stück einfach zu Boden fallen. "Den ersten Tag als Haushälterin hättest du also hinter dir", meinte Ralph. "Eigentlich hast du es gar nicht so schlecht gemacht. Nur mit den Kindern mußt du etwas strenger sein. Eddie hackt ständig auf seiner kleinen Schwester herum und ..." Holly lehnte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. "So siehst du das? Dann will ich dir mal etwas erzählen. Erinnerst du dich an die Sache mit der Kegelkugel heute morgen?" "Natürlich. Eddie macht das oft..." "Eben nicht. Ich habe die beiden den ganzen Tag beobachtet. Sämtliche Streiche wurden von Melody ausgeheckt, und zwar so raffiniert, daß jeder anschließend Eddie die Schuld gibt. Sie stellt sich hin und schaut dich an, als könnte sie kein Wässerchen trüben, und du fällst auch noch darauf herein." "Das ist doch Unsinn!" Ralph war aufgestanden und lief im Zimmer auf und ab. Holly zog die Füße hoch, damit er nicht darauf trat. "So ein kleines Mädchen kann die Kegelkugel doch gar nicht heben." "Das dachte ich auch - bis ich sie vorhin dabei erwischt habe. Ist dir eigentlich klar, wie du dich von dieser kleinen Hexe an der Nase herumführen läßt? Der einzige, der sich nicht täuschen läßt, ist Rex. Der ist nämlich mit einem süßen kleinen Mädchen aufgewachsen und kennt das Spiel." "Reden wir zufällig von dir?"
Holly war rot geworden. "Ich habe mich seitdem sehr gebessert", versicherte sie. "Ich hätte dich gern früher gekannt." "Da hättest du nicht viel Freude gehabt. Bis ich auf die Oberschule kam, war ich ein richtiges kleines Luder." "Und dein Bruder handelte sich dafür den Ärger ein?" "Sagen wir, daß er auch eine ganze Menge auf dem Kerbholz hatte. Natürlich haben wir uns manchmal gestritten, daß die Fetzen flogen, aber wenn es darauf ankam, hielten wir zusammen wie Pech und Schwefel." . "Eure armen Eltern." "Die haben gar nic ht so viel davon mitbekommen. Dad war beruflich viel auf Reisen, und Mutter fing ziemlich bald nach Michaels Geburt wieder an zu arbeiten. Am meisten haben die Köchin und die verschiedenen Au-pair-Mädchen gelitten." Das Telefon klingelte, und Holly griff instinktiv danach. "Hallo?" "Holly?" hörte sie die Stimme ihres Bruders am anderen Ende. "Michael! Wie schön, dich zu hören! Kannst du dir vorstellen, daß Wir gerade von dir gesprochen haben?" "Lieber nicht. Ich muß es leider kurz machen, weil ich noch einen geschäftlichen Termin habe. Deshalb wollte ich dich nur beschwören, auf alle Fälle drei bis vier Wochen durchzuhalten. Heute Nachmittag um halb vier hat Ralph Browne eine geradezu geniale Lösung für eines der Probleme vorgelegt, mit denen wir uns seit Monaten herumschlagen. Leider stehen noch einige andere an. Wir müssen also alle zusammen helfen, daß er weiterhin den Kopf für seine Arbeit frei hat. Mach's gut, Schwesterchen." Holly stand benommen mit dem Hörer in der Hand da. Vier Wochen sollte sie noch hierbleiben? Eine Träne bildete sich in ihrem Augenwinkel. Verstohlen wischte sie sie weg. "War das dein großer kleiner Bruder?" erkundigte sich Ralph.
"Jawohl. Er läßt dir ausrichten, daß er dir persönlich alle Knochen brechen wird, wenn du mich schlecht behandelst", behauptete sie. "Um Gottes willen!" In gespieltem Entsetzen hob er die Hände. "Das würde ich niemals riskieren." "Sehr klug. Michael würde ich natürlich nur im Notfall zu Hilfe rufen. Normalerweise bin ich sehr wohl imstande, einem Mann eine Lektion zu erteilen, wenn er unverschämt wird." "Tatsächlich?" "Allerdings." Sie nahm eine geduckte Haltung ein und schlich auf ihn zu. Leider wäre sie dabei um ein Haar über Rex gestolpert, der wie immer im Weg lag. Ralph wich in eine Ecke zurück und zog den Kopf ein. "Gnade!" bettelte er. "Ich muß morgen arbeiten. Deinem Bruder wäre es bestimmt nicht recht, wenn du mich außer Gefecht setzt." Sein lausbübisches Grinsen versetzte sie in Wut. "Ich ... ich ... ich werde dich lehren, dich über mich lustig zu machen!" Sie stand so dicht vor ihm, daß sich ihre Zehen berührten. Ralph lachte jetzt rundheraus, und Holly sah rot. Wie eine Katze sprang sie ihn an, packte ihn am Genick und schüttelte ihn. Wie es kam, daß ihre Lippen sich im gleichen Augenblick berührten, hätte sie später nicht mehr sagen können. Völlig überrascht von ihrer Attacke, suchte Ralph an der Wand Halt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihre vollen - und ziemlich feuchten - Brüste drückten sich gegen seine Brust. Er hatte eigentlich nur zwei Möglichkeiten -sie festzuhalten oder sie auf den Boden gleiten zu lassen. Schließlich entschied er sich für beides gleichzeitig. Typisch Mann! Der Kuß schien ewig zu dauern. Holly nahm kaum wahr, daß sie nicht mehr an Ralphs Hals hing, sondern von ihm gehalten wurde. Jetzt umfaßte er ihre Taille und drückte sie an sich. Sie
strampelte mit den Beinen, erreichte dadurch aber nur, daß sie sich noch enger aneinander schmiegten. Ralph hob sie ein Stück höher, so daß sie auf seinen Händen saß. Ihre Augen war auf gleicher Höhe mit seinen. Was mache ich da? fragte sie sich entsetzt. Sie sah, daß er sie gleich wieder küssen würde, und barg den Kopf an seiner Schulter. Dort war es so schön warm, daß sie am liebsten für immer so verharrt hätte. Deshalb protestierte sie auch leise, als er sie vorsichtig zu Boden gleiten ließ. Seine Hände umfaßten jetzt nicht mehr ihren festen kleinen Po, sondern hatten sich nach oben geschoben, bis sie ihre Brüste mit den geschwollenen Spitzen berührten. Holly wurde von Panik erfaßt - nicht davor, was Ralph tun würde, hatte sie Angst, sondern vor ihrer eigenen leidenschaftlichen Reaktion. "Laß mich los!" flehte sie. "Dann willst du mich also nicht mehr umbringen." "Nein ... nein, ich glaube nicht." "Du wirst auch deinen Bruder nicht holen?" "Nein." "Oder deine Mutter?" "Auch nicht." "Aber du wirst alles liegen- und stehenlassen und dich nach Hause flüchten?" "Das sollte ich eigentlich, aber ich werde es nicht tun." Ralph lockerte seinen Griff, bettete ihren Kopf an seine Brust und strich ihr übers Haar. "Ich bin manchmal leider ein bißchen unbeherrscht", sagte sie zu seinem zweiten Hemdenknopf. "Das ist mir gar nicht aufgefallen", behauptete er und machte ein unschuldiges Gesicht. Als wäre es die natürlichste Sache auf der Welt, setzte er sich aufs Sofa und zog sie auf seinen Schoß. "Wie kommt es eigentlich, daß du noch nicht verheiratet bist?" wollte er wissen.
Forschend blickte sie ihm ins Gesicht. Stellte er ihr diese Frage mit einem Hintergedanken? Doch er schien ehrlich interessiert. "Weil ich noch nie einen Antrag bekommen habe", antwortete sie schließlich. "Hast du schon einmal daran gedacht, daß auch du den Antrag machen könntest?" "Nein, natürlich nicht. So etwas gehört sich nicht. Außerdem ..." "Was denn?" "Ich bin noch nie eine m Mann begegnet, mit dem ich das ... na ja, das eben hätte machen wollen." Ralph hatte zu schmunzelnd begonnen. "Was?" "Das weißt du sehr wohl. Laß mich aufstehen." Sofort ließ er sie los. Holly stand auf, zupfte ihre feuchten Sachen zurecht und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. "Ich muß fürchterlich aussehen." Ralph saß immer noch auf der Couch. "Für mich siehst du alles andere als fürchterlich aus." Erneut durchlief sie ein Schauer. "Ich gehe jetzt wohl besser ins Bett." Solange ich dazu die Kraft noch habe, setzte sie im stillen hinzu. "Gute Nacht, Holly", sagte Ralph sanft. Oben im Korridor entdeckte sie einen Schatten. Als sie das Licht einschaltete, sah sie Melody, die über die Kegelkugel gebeugt stand. Als sie Holly bemerkte, blinzelte sie erschrocken. "Ich glaub', du hast mich beim Schlafwandeln ertappt", behauptete sie. "Mit einer Kegelkugel?" fragte Holly. "Das kannst du mir nicht weismachen. Kleine Miss, wenn diese Kugel noch einmal durch den Korridor rollt, solange ich in diesem Haus bin..." "Verhaust du mich dann?" "Nein. Ich bin nämlich grundsätzlich gegen Gewalt - sei es gegen Kinder oder Tiere. Aber es könnte sehr gut sein, daß du dann eine ganze Weile allein auf deinem Zimmer essen mußt."
Melody schluckte. "Sagst du Eddie bitte, daß er die Kugel morgen wegräumen soll? Mir ist sie zu schwer." Sprach's und verschwand in ihrem Zimmer. "Von wegen", rief Holly ihr nach und fügte leise hinzu. "Armer Eddie. Und armer Onkel Ralph."
III Am Montag morgen regnete es, und die Wolken hingen so tief, daß es gar nicht hell werden wollte. Das Haus lag westlich der Landstraße im Schatten eines Hügels, der selbst an schönen Tagen nur wenig Sonne heranließ. Wenn es jedoch stürmte wie heute, schien die Nacht bis weit in den Morgen zu dauern. Holly spürte den Unterschied, konnte ihn jedoch erst definieren, als irgendein Ungeheuer an ihre Tür donnerte, als wollte es sie aufbrechen. Rex erwachte abrupt und knurrte. Holly stützte sich auf, rieb sich die Augen und stand auf. Der Boden unter ihren nackten Füßen fühlte sich eiskalt an. "Wo ist denn der Bettvorleger hingekommen?" fragte sie. Rex legte den Kopf zwischen die Pfoten und tat ganz unschuldig. Er hatte sich das weiche warme Stück geschnappt und es sich darauf bequem gemacht. Wieder hämmerte es an der Tür. "Schon gut, schon gut!" rief Holly und tastete nach ihrem Morgenmantel. Sie trug ein altes T-Shirt von Michael als Nachthemd, das ihr bis weit über die Knie reichte, aber es war vom vielen Waschen schon so dünn, daß sie nie gewagt hätte, sich darin zu zeigen. Erst nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es ihr, die Arme in die Ärmel des grünen, von Becky geerbten Morgenmantels zu schieben. Dann öffnete sie den Riegel, den sie am Abend zuvor vorsichtshalber
vorgeschoben hatte. Onkel Ralph, Eddie und Melody standen in einer Reihe vor der Tür. "Heute ist Montag", erklärte Eddie. "Wie schön", entgegnete sie. "Ist das etwas Besonderes?" "Nein", antwortete Melody. "Aber Eddie muß in die Schule. Ich nicht", fügte sie schadenfroh hinzu. "Das heißt, wir müssen heute zeitig frühstücken", ließ sich Ralph vernehmen. "Außerdem braucht Eddie ein Pausenbrot zum Mitnehmen. Hast du denn den Wecker nicht gehört?" In Hollys Traum hatten Kirchenglocken geläutet, aber sie hatte ihnen keine Bedeutung beigemessen. "Ach du lieber Himmel!" rief Ralph bestürzt. "Bist du etwa eine von den Frauen, mit denen vor der dritten Tasse Kaffee nichts anzufangen ist?" "Vor der zweiten", verbesserte sie. "Ich mag sie trotzdem", verkündete Melody und umschlang ihr rechtes Bein. "Sie ist lieb und ganz weich und..." "Das will ich selbst ausprobieren!" Eddie hatte sich links von ihr postiert. "Ich auch", setzte Onkel Ralph hinzu. Holly hob abwehrend die Hände. "Kommt nicht in Frage! Männer nehme ich nicht in den Arm." "Wie unfair!" protestierte Eddie. "Gegen Jungen habe ich nichts", schränkte Holly ein. "Aber Männer haben keine Chance. Vor allem dieser hier nicht. Wenn man bedenkt, was er mir angetan hat, als wir beide noch in der Schule waren ..." "Was denn?" fragte Melody neugierig. "Gar nichts", versicherte Ralph. "Meine Unschuld wurde amtlich festgestellt und ..." "Die Jury war voreingenommen", unterbrach Holly. "Schließlich bestand sie nur aus Männern. Was hätte man da schon anderes erwarten können?"
"Ich finde, nur Männer sollten Geschworene sein", erklärte Eddie. "Wenn in einem Film Frauen in der Jury sind, geht immer alles drunter und drüber." "Noch so eine Bemerkung, junger Mann, und du gehst ohne Frühstück in die Schule - und zwar nicht nur heute, sondern immer." "Auweia!" rief Melody. "Alles in die Küche!" befahl Ralph, ehe sich die Situation zuspitzen konnte. Gehorsam trollten sich die Kinder, gefolgt von Rex. Nach einem ausgiebigen Frühstück mit Eiern, gebratenem Speck und Pfannkuchen mit Ahornsirup hob sich die Stimmung merklich. Eddie marschierte zum Schulbus, außer seinen Büchern auch ein dickes Salamibrot im Ranzen. Melody ging nach oben spielen. Ralph schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein. Holly, die ihm gegenübersaß, war bereits bei der vierten, konnte die Augen jedoch immer noch nicht ganz aufmachen. "Du weißt sehr wohl, daß ich an jenem Abend überhaupt nichts gemacht habe", sagte er. Zornig funkelte sie ihn an. "Ist es etwa nichts, daß du meinen Ruf ruiniert hast? So etwas vergißt eine Frau nie." "Nun sei doch vernünftig. Wir haben miteinander getanzt irgendein verrücktes Stück, bei dem man hüpfen mußte wie die Kaninchen." "Und?" "Plötzlich waren wir mitten im Gedränge. Irgend jemand hatte dort eine Schere und schnitt die Spaghettiträger an deinem Kleid durch." "O nein, Ralph Browne. Du hast sie zerrissen!" "Stimmt nicht. Und dann hast du mir einen solchen Boxhieb versetzt, daß ich zu Boden ging." "Dafür wurde ich für zehn Tage von der Schule verwiesen. Meine Mutter schickte mich nach Attleboro zu meiner Schwester, bis der Skandal sich etwas gelegt hatte."
Ralph rieb sich immer noch das Kinn. "Du hast diesen Schlag verdient! Ich wünschte nur, ich wäre größer gewesen und hätte ..." "Du warst durchaus groß genug", brummte er. "Was glaubst du, was es für ein Gefühl war, als Verteidiger der Footballmannschaft von einem Dreikäsehoch umgelegt zu werden?" Holly sprang auf und machte Anstalten, auf ihn loszugehen. "Sag ja nicht ,Dreikäsehoch' zu mir!" "Vorsicht", warnte er. "Du bist immer noch so groß wie damals, aber ich bin zwanzig Zentimeter gewachsen." Holly hielt inne. Mit einssiebzig reichte er Michael zwar nur bis zur Schulter, doch er war um mehr als einen Kopf größer und vierzig Pfund schwerer als sie. "Wie", fragte sie mit bebender Stimme, "bist du auf die Idee mit der Schere gekommen? Und wie ist es dir gelungen, sie vor dem stellvertretenden Direktor zu verstecken?" "Hörst du mir nicht zu? Ich hatte die Schere nicht. Außerdem hat sogar dein Vater mir geglaubt, daß ich gar nicht die Kraft gehabt hätte, deine Träger zu zerreißen." "Mein Vater?" fragte sie verblüfft. "Was hat der denn damit zu tun?" "Wußtest du nicht, daß er in der Schule war, um mit mir zu reden? Er sagt, er hat es Michael versuchen lassen, und der hat es auch nicht geschafft." Er sah Hollys skeptische Miene. "Glaubst du denn, ich hätte dir so etwas angetan? Ich hatte dich doch gern - sehr gern sogar. Aber ehe wir uns richtig anfreunden konnten, hast du die Schule gewechselt." Holly erinnerte sich daran, daß sie vor dem fatalen Vorfall regelrecht für ihn geschwärmt hatte. Rasch verdrängte sie den Gedanken. "Wer außer dir hätte es denn darauf anlegen können, mich so in Verlegenheit zu bringen?"
"Sophie Winters zum Beispiel", antwortete er prompt. "Sie war eifersüchtig auf dich." "Sophie? Das kann ich mir nicht vorstellen! Wir waren doch Freundinnen. Kurz darauf ist sie allerdings von Eastport weggezogen, und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört." "So dick kann die Freundschaft also nicht gewesen sein. Ich weiß noch ganz genau, daß Sophie an jenem Abend mit Ra tty Flannigan getanzt hat. Sie hat ihm die Schere gegeben und ihn dazu angestiftet. Am nächsten Tag habe ich zufällig mit angehört, wie die beiden sich ausgeschüttet haben vor Lachen." "Ratty Flannigan? Den kannte ich doch kaum. Was ist eigentlich aus ihm geworden?" "Das weiß ich auch nicht, aber zwei Tage nach dem Ereignis habe ich ihn windelweich geprügelt." "Der war doch viel größer als du!" "Beim Kämpfen kommt es nicht nur auf Kraft, sondern vor allem auf die Technik an." "Ich weiß nicht..." "Du bist immer noch nicht überzeugt, stimmt's? Deine Mutter hat mich schon vorgewarnt. Sie hat mir geglaubt." Er blickte auf die Uhr. "Höchste Zeit, daß ich mich an die Arbeit mache." Sprach's und verschwand. Holly staunte. Daß Mary Kate sich von seinem männlichen Charme einwickeln lassen würde, hätte sie nicht geglaubt. Während sie die Küche aufräumte, kam Melody, um mitzuhelfen. Die Kleine trug wieder das gleiche viel zu knappe Kleid wie am Tag zuvor. "Was meinst du", begann Holly vorsichtig. "Wollen wir beide nachher ins Einkaufszentrum fahren und nach einem neuen Kleid für dich suchen?" "Ich hab' doch schon ein Kleid", antwortete Melody verblüfft. "Natürlich, aber du bist ein ganzes Stück gewachsen, seit deine Mom es dir gekauft hat."
"Das hat nicht Mom mir gekauft, sondern Onkel Ralph", stellte Melody richtig. "Zum Geburtstag." Jetzt verstand Holly einiges. Nur ein Mann brachte es fertig, ein rothaariges kleines Mädchen in ein rotes Kleid zu stecken. "Wahrscheinlich hat er noch gar nicht gemerkt, daß du inzwischen viel größer geworden bist. Er kauft dir bestimmt gern ein neues. Oder sogar zwei. Schließlich soll jeder sehen, was für ein hübsches Mädchen du bist." Melody versuchte, ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe zu begutachten. "Bin ich wirklich hübsch?" "Und ob. Weißt du was? Wir bürsten jetzt dein Haar, und dann gehen wir zu Onkel Ralph und sagen ihm, was wir vorhaben." Ralph war keineswegs entzückt über die Unterbrechung. "Ich habe doch ausdrücklich gesagt, daß ich bei der Arbeit nicht gestört werden möchte! Wenn ich mich nicht konzentrieren kann, werde ich nicht rechtzeitig fertig." "Eine Minute wirst du schon erübrigen können. Du hast dir deine Nichte in letzter Zeit offenbar nicht genau angesehen, sonst hättest du gemerkt, daß sie dringend etwas Neues zum Anziehen braucht. Du brauchst mir nur etwas Geld zu geben, dann sind wir gleich wieder weg." "Ein Überfall im eigenen Haus", meinte er kopfschüttelnd. Holly hätte eine Idee. "Melody und ich könnten unterwegs Mittag essen und wegbleiben, bis Eddie aus der Schule kommt. Dann hättest du mehrere Stunden nur für dich." "Und was soll ich essen?" fragte er kläglich. "Dir mache ich vorher ein Sandwich und stelle es in den Kühlschrank." "Also gut", gab er nach und zog sein Scheckbuch aus der Schreibtischschublade. "Du mußt vorher einen Scheck einlösen, weil ich nicht genug Bargeld im Haus habe. Fühle dich aber nicht verpflichtet, bis zum letzten Cent alles auszugeben." Im
nächsten Moment hatte er sich wieder seinem Computer zugewandt. Melody blickte zweifelnd auf den Scheck. Das Geld, das sie kannte, sah anders aus. "Reicht das für zwei Kleider?" fragte sie. Holly war wider Willen von Ralphs Großzügigkeit beeindruckt. "Dafür könnten wir sogar in New York einkaufen." Sie wusch Melody Gesicht und Hände, zog ihr einen fr ischen Jogginganzug und einen Anorak an und holte dann ihren eigenen Mantel. Draußen goß es immer noch in Strömen. "Da müssen wir aber rennen", meinte Melody. "Du wartest am besten hier", sagte Holly. "ich fahre den Jeep direkt vor die Veranda, und dann springst du schnell hinein." "Du hast einen Jeep? Onkel Ralph hat einen Buick und dann noch einen Lieferwagen." "Mir reicht ein Auto." Holly knöpfte ihren Regenmantel zu. Rex, der sich der Expedition eigentlich anschließen wollte, wurde am Halsband ins Haus zurückgezerrt. Beleidigt legte er sich vor die Küchentür. Holly rannte zu ihrem Auto. Das alte Gefährt brauchte mehrere Anläufe, bis es endlich ansprang. Trotzdem hätte sie es niemals gegen ein anderes eingetauscht, weil sie sich mit dem Vierradantrieb so sicher fühlte. Selbst jetzt konnte sie ohne Probleme durch die tiefen Pfützen auf dem Hof manövrieren. Sie hielt vor der Veranda, um Melody einsteigen zu lassen. Offenbar hatte sie die Haustür nicht richtig einschnappen lassen, denn plötzlich ging diese auf, und mit zwei mächtigen Sätzen war Rex im Wagen. So leicht ließ er sich nicht abhängen. "Kriegt Rex auch was Neues zum Anziehen?" wollte Melody wissen. "Der hat so ein warmes Fell, daß er nichts braucht. So ein Dickkopf! Jetzt muß er im Auto warten, während wir dir ein Kleid aussuchen. Im Einkaufszentrum sind Hunde nämlich nicht erlaubt."
Holly legte Melody den Sicherheitsgurt an, scheuchte Rex auf den Rücksitz und fuhr los. Zum Glück war kaum Verkehr auf der Straße. Die Leute, die in Boston arbeiteten, waren schon vor Stunden hier vorbeigefahren. Melody begrüßte jedes andere Auto mit freudigem Winken und versuchte zu erraten, was es war. Als sie eine halbe Stunde später das Einkaufszentrum erreichten, war sie beeindruckt. "Ist das aber groß!" "Das größte im südlichen Massachusetts", bestätigte Holly. "Übrigens, wir müssen dir einen Kindersitz besorgen." "Onkel Ralph hat einen in seinem Auto, aber da will ich nicht drin sitzen. Schließlich bin ich kein Baby mehr!" Trotzig schob sie die Unterlippe vor. "Diese Sitze sind keineswegs nur für Kleinkinder", versicherte Holly. "Sogar große Jungen wie Eddie müssen noch drin sitzen." Dieses Argument beschwichtigte Melody. Sie ließen Rex zurück, damit er den Jeep bewachte, und rannten durch den Regen zum Haupteingang. Drei Stunden später hatten sie sechs verschiedene Geschäfte durchgekämmt und zwei Kleider, ein Paar Schuhe, Jeans und verschiedene Pullis erstanden. Sie waren gerade dabei, Unterwäsche auszusuchen, als sich die Katastrophe anbahnte. "Was hat das kleine Püppchen denn am liebsten?" fragte eine Verkäuferin und wagte es, Melody den Kopf zu tätscheln. "Ich bin kein kleines Püppchen!" schrie Melody, daß es durch den ganzen Laden hallte. Mit dieser Stimme konnte sie an der Oper Karriere machen. Holly war die Szene entsetzlich peinlich. "Sie ist müde", erklärte sie. "Es ist Zeit für ihren Mittagsschlaf." Melody schrie noch lauter. Inzwischen waren fünf oder sechs Frauen herbeigeeilt, die einander widersprechende Ratschläge gaben. Jetzt näherte sich sogar der Geschä ftsführer - ein freundlicher älterer Herr, der sich zu Melody hinunterbeugte.
"Aber, aber, kleine Miss. Was ist das denn für ein Lärm? Ich habe selbst ein halbes Dutzend Enkel und weiß alles über Kinder ..." Offenbar doch nicht alles, denn als er Melody unvorsichtigerweise den Finger entgegenstreckte, biß diese kurzerhand hinein. Das war sogar dem freundlichen älteren Herrn zuviel. "Ich schlage vor, daß Sie Ihr Kind sofort hinausbringen", sagte er streng. "Abgesehen von dem Lärm hat es sich auch noch naß gemacht." "Was haben Sie denn erwartet?" rief Holly wütend. "Wenn Sie erst drei Jahre alt und von lauter fremden Leuten umgeben wären, würden Sie auch vor Angst in die Hose machen. Außerdem ist das nicht mein Kind." "Mom!" rief Melody laut. "Meine Hose ist ganz naß." Vom Eingang her hatte sich ein uniformierter Sicherheitsbeamter in Bewegung gesetzt. Holly faßte Melody bei der Hand und zog sie mit sich hinter einen großen Kleiderständer. Jetzt brauchten sie erst einmal ein paar Minuten Ruhe, bis sich die ganze Aufregung wieder gelegt hatte. Beinahe wäre auch alles gut gegangen. Plötzlich hörte Holly jedoch eine Männerstimme sagen: "Dort hinten haben sie sich versteckt." Diese Stimme kannte sie doch! "Alfred Pleasanton", sagte sie grimmig. "War es wirklich nötig, daß du uns verrätst?" "Auge um Auge", antwortete er hämisch. "Du hast dafür gesorgt, daß ich meinen Job verliere. Jetzt habe ich Gelegenheit, mich zu revanchieren." Ehe sie ihm sagen konnte, was sie von seinen Methoden hielt, war der Sicherheitsbeamte da. Ralph Browne thronte in seinem Lehnsessel und hielt Melody im Arm, die schon im Schlafanzug steckte. Zu seinen Füßen hockte Eddie an Rex gelehnt. Holly saß ihnen gegenüber auf der
Couch und wünschte, das Verhör wäre zu Ende. "Und was ist dann passiert?" fragte Onkel Ralph. "Dann hat sie mich bei der Hand gepackt. Eigentlich wollte sie mich hochnehmen, aber dazu war ich zu glitschig, und dann kam dieser Mann in Uniform. Damit er uns nicht erwischt, haben wir uns versteckt." "Eins wüßte ich wirklich gern", warf Holly ein. "Wie alt ist Melody genau?" "Drei, wie wir gesagt haben" antwortete Eddie. "Aber erst seit einer Woche." "Sie ist ein kleines Mädchen von gerade drei, dessen Mom schon lange krank ist", setzte Ralph hinzu. Eddie rappelte sich hoch, ging zu Holly und flüsterte ihr ins Ohr: "Eigentlich ist sie noch nicht stubenrein." "Und dann", fuhr Melody stolz fort, "hat der Mann Holly verhaftet und mit aufs Revier genommen. Dort habe ich ein Eis gekriegt." "Weshalb bist du denn ,verhaftet' worden?" erkund igte sich Ralph interessiert. "Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses", antwortete sie empört. "Kannst du dir das vorstellen?" "Und dann hast du deinen Vater angerufen?" "Meine Mutter", stellte Holly richtig. "Sie, behält in solchen Fällen eher einen klaren Kopf." "Und dann ist Hollys Mom gekommen und hat uns gerettet", berichtete Melody. "Eine ganz nette Frau mit einem großen Auto. Dort gibt's sogar einen Fernseher auf dem Rücksitz. Sie hat den ganzen Weg gelacht. Kannst du dir das vorstellen?" "Arme Holly", sagte Eddie mitfühlend. "Das war wirklich ein fürchterlicher Tag für dich. Hoffentlich bist du jetzt nicht so sauer, daß du wieder gehst und uns unserem Schicksal überläßt." "Ich habe daran gedacht", gestand Holly.
"Eddie", warf Onkel Ralph ein. "Für dich ist es jetzt Zeit, nach oben zu gehen und in die Wanne zu steigen. Ich komme nachher noch gute Nacht sagen." Gehorsam stand der Junge auf, gab Holly einen Kuß auf die Wange und ging hinaus. "Ich werde ganz bestimmt nie heiraten!" erklärte er und verschwand. "Ich auch nicht", pflichtete Holly ihm bei. Sie wirkte so niedergeschlagen, daß Rex sich an ihre Seite drückte und ihr den Kopf in den Schoß legte. "Melody", ordnete Onkel Ralph an. "Du verschwindest jetzt auch ins Bett. Ich habe noch etwas mit Holly zu besprechen und komme dann nach, um dich zuzudecken." "Ich möchte, daß Holly mich zudeckt. Außerdem soll sie mir noch eine Geschichte vorlesen." "Das kann ich doch auch", entgegnete Ralph gekränkt. "Weißt du nicht mehr, daß ich dir früher jeden Tag eine Geschichte vorgelesen habe?" "Du bist wirklich ein prima Onkel", versicherte Melody, "aber Holly weiß bessere Geschichten und ..." "Nun aber ab mit dir", drängte Holly, der soviel Lob peinlich war. "Ich komme nach, sobald ich mit deinem prima Onkel fertig bin." Melody drückte Ralph einen Kuß aufs Kinn, tätschelte Rex und umarmte Holly dann ganz fest. "War das nicht ein toller Tag?" "Wie es aussieht, hast du mir das Herz meiner Nichte gestohlen" , meinte Ralph trocken. "Warum hast du mir nichts gesagt?" fragte Holly verzweifelt. "Wenn ich gewußt hätte, daß sie noch Windeln braucht..." "Entschuldige, ich habe einfach nicht daran gedacht." Eigenartig, aber diesmal glaubte sie ihm. Ralph hatte sie nicht mit Absicht in diese peinliche Situation gebracht. "Kannst du mir ein bißchen mehr über Melodys Mutter erzählen?"
"Da gibt's eigentlich nicht viel zu sagen. Selbst vor dem Unfall war meine Schwester häufig krank, und die Kinder waren immer wieder bei Fremden untergebracht." "Das erklärt, warum Melody sich immer wieder in den Vordergrund spielt - und sei es mit einer Kegelkugel." "Sie will eben Aufmerksamkeit erregen." "Ich würde sagen, sie sucht Liebe." "Hast du etwa Psychologie studiert?" "Nein, Englisch. Psychologie habe ich bei meiner Mutter in der Küche studie rt. Bei dieser Gelegenheit habe ich dann auch gleich noch Backen und Kochen gelernt." "Interessant. Erzähl mir doch ein bißchen mehr von dir." "Ach, laß mich in Ruhe", platzte Holly heraus. "Ich brauche niemanden, der mich analysiert - vor allem keinen Mann." "Lieber Himmel, muß denn mein ganzes Geschlecht für jenen unglückseligen Vorfall von damals büßen?" Er stand auf und kam auf sie zu. Holly flüchtete sich hinter die Couch. "Wag es ja nicht, auch nur einen Finger an mich zu legen!" , "Finger?" Er lachte - ein tiefes, männliches Lachen, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Ihre Mutter hatte ihr einiges über Männer erzählt, aber das war alles ... theoretisch gewesen. Eins hatte ihre Mutter jedoch niemals erzählt. Der Mann, der ihr jetzt gegenüberstand, schien ihre Gedanken lesen zu können! Ralph machte zwei Schritte in Hollys Richtung. "Hast du etwa Angst, Holly?" "Doch nicht vor dir!" rief sie. "Vielleicht vor Alfred Pleasanton oder Leuten wie ihm, aber nicht vor dir." Er blieb abrupt stehen. "Alfred Pleasanton?" "Niemand, den du kennen müßtest." "Vielleicht solltest du mir von ihm erzählen." "Lieber nicht."
"Hm." Er wandte sich ab und ging zur Anrichte, wo ein Tablett mit Flaschen und Gläsern stand. "Ich genehmige mir einen Cognac. Möchtest du auch einen?" "Nein, danke. Ich sollte sowieso nach oben gehen und nach Melody schauen." "Aber vorher trinkst du etwas mit mir. Wenn du keinen Alkohol willst, kannst du auch einen Orangensaft haben." "Also gut, ich nehme einen Saft." Im Grunde war dieser Ralph Browne eigentlich ein sehr netter Kerl. Nur gut, daß sein Gesicht im Schatten war und sie weder das Funkeln seiner Augen noch die zuckenden Mundwinkel sehen konnte. Er füllte ein Glas mit Orangensaft und brachte es ihr. "Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum meine kleine Nichte mit fliegenden Fahnen zu dir übergelaufen ist", meinte er. "Ganz einfach - sie braucht eine weibliche Bezugsperson. Da kannst du bei aller Liebe nicht mithalten." "Das sehe ich ein." Er hob sein Glas. "Worauf wollen wir trinken?" "Wozu überhaupt ein Trinkspruch?" "Bist du sicher, daß deine, Mutter dir alles gesagt hat, was du für ein eigenständiges Leben wissen mußt?" fragte er. "Selbstverständlich." Das Eis in ihrem Glas klirrte, weil ihre Hand zitterte. Gab es nicht vielleicht doch etwas Wichtiges, das Mary Kate ausgelassen hatte? Ralphs Miene erinnerte Holly an den Wolf, kurze ehe dieser Rotkäppchen verschlang. Sie wartete nicht ab, welchen Trinkspruch sich Ralph ausgedacht hatte, sondern floh aus dem Zimmer. "Ich muß jetzt wirklich nach Melody sehen." Im oberen Stock war es still. Der Sturm von der Ostküste rüttelte an den Fensterläden. Eddie schlief tief und fest, das Buch immer noch in der Hand. Holly ging leise in sein Zimmer, schaltete die Leselampe aus und deckte ihn behutsam zu. Im Schlaf wirkte er viel kleiner und verletzlicher als sonst. Sie
beugte sich vor und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. "Gute Nacht", flüsterte sie. Er machte ein Auge auf. "Gute Nacht, Mom", murmelte er und drehte sich auf die Seite. Holly verspürte ein Ziehen in der Herzgegend. Ob sie wohl jemals ein eigenes Kind habe würde? Leise ging sie aus dem Zimmer. Melody schlief ebenfalls schon, hatte aber vorher ihr Bett völlig zerwühlt. Ihre Lider zuckten, als hätte sie einen spannenden Traum. Holly zog Laken und Decken glatt, griff nach einer Bürste und strich durch die zerzausten Locken des kleinen Mädchens. Offenbar wirkten die rhythmischen Bewegungen beruhigend auf sie, denn bald atmete Melody tiefer und gleichmäßiger. Erst nach einer Weile ging Holly weiter in ihr Zimmer, wo Rex schon vor der Tür wartete. Es war sehr kalt im Raum, und Holly fröstelte, als sie sich auszog. Hastig zog sie T-Shirt und Morgenmantel übereinander und kroch unter die Decke. Es dauerte lange, bis Holly zur Ruhe kam. Der Sturm brachte die Fensterscheiben zum Klappern. Hin und wieder war auf der Landstraße ein Auto zu hören. Es schien, als würden die Leute schneller fahren, je später es wurde. Hatten sie es eilig, nach Hause zu kommen - nach Hause zu geliebten Menschen? Plötzlich fühlte Holly sich schrecklich einsam. Es war nicht Sehnsucht nach ihren Eltern oder Michael, sondern nach dem Mann, den sie unten im Wohnzimmer zurückgelassen hatte. Das erschreckte sie zutiefst. Wie konnte sie sich nach Ralph Browne sehnen, den sie seit zehn Jahren von ganzem Herzen haßte? Ihre Tür quietschte leise, als jemand sie von draußen öffnete. Rex, der sich quer davor ausgestreckt hatte, rückte unwillig zur Seite. Holly erstarrte. Wagte Ralph tatsächlich, in ihr Zimmer einzudringen? Würde er die Kühnheit besitzen, zu ihr ins Bett zu steigen und ... das zu tun, was Männer eben taten? Hollys Matratze wurde niedergedrückt. Dann spürte sie einen warmen Körper. Einen warmen kleinen Körper.
"Holly", klagte Melody. "Vor meinem Fenster ist ein Drache. Er versucht hineinzuklettern und mich zu fressen. Ich habe Angst." Holly wurde vor Erleichterung ganz schwach. Gleichzeitig verspürte sie jedoch auch einen Stich der Enttäuschung. "Du kannst bei mir bleiben, mein Schatz", tröstete sie das kleine Mädchen. "Hierher traut sich kein Drache." Sie zog Melody an sich und streichelte ihr den Rücken. Was hätte sie wohl gemacht, wenn es tatsächlich Ralph gewesen wäre? Noch ehe sie eine Antwort auf die Frage gefunden hatte, war sie eingeschlafen. Im Laufe der Nacht wurde es kalt. Der Wind heulte so laut, daß Melody unruhig wurde und Holly weckte. Sie trug die Kleine zurück in ihr Zimmer und setzte sich noch eine Weile zu ihr, bis sie wieder fest eingeschlafen war. Als sie schließlich wieder in ihr Bett kroch, war es halb zwei. Rex hatte es sich auf der Decke bequem gemacht. "Runter mit dir, du Ungeheuer!" schimpfte sie und kuschelte sich unter die Decke. Kaum eine Stunde später erschien Melody von neuem. Sie zog ihre Puppe am Bein hinter sich her. "Mich friert's", jammerte sie und kletterte wieder in Hollys Bett. Ihre eiskalten Füße schreckten Holly aus dem Tiefschlaf, und es dauerte ziemlich lange, bis sie wieder zur Ruhe kam. Als sie endlich einschlief, hatte sie einen Traum. Ralph Browne war an einer roten Boje im Hafen vo n Plymouth festgebunden. Ein Sturm wühlte das Wasser so stark auf, daß das Tau, das die Boje mit einem Ring an der Kaimauer verband, kaum zu sehen war. Holly stand mit einem Messer in der Hand auf der Mauer und versuchte, das Tau durchzuschneiden. Es war ein sehr befriedigender Traum, bis eine Welle Ralph samt der Boje an Land spülte und alles verdarb.
IV Gegen vier Uhr morgens ging der Regen in Schnee über. Erst waren es nur einzelne Flocken, die nach und nach immer dichter wurden und sich zu einem Schneesturm auswuchsen, der in allen Wetterstationen zwischen Massachusetts und den Großen Seen die Alarmglocken schrillen ließ. Ab sechs Uhr wurde im Radio davor gewarnt, die Häuser zu verlassen, wenn es nicht unbedingt nötig war. Um halb sieben kam Eddie in Hollys Zimmer, zog die Gardinen auf und rüttelte Melody wach. "Laß mich", murmelte die Kleine. "Schließlich muß ich nicht in die Schule." "Heute ist keine Schule", verkündete Eddie. "Das stimmt doch, Holly, oder?" Holly rappelte sich auf und öffnete ein Auge. Auf dem Fensterbrett türmte sich der Schnee gut zwanzig Zentimeter hoch. "Das kann ich nicht entscheiden. Fragt euren Onkel, was er meint." "Das habe ich schon!" rief Eddie. "Und was hat er gesagt?" "Daß wir dich fragen sollen, weil du für alles zuständig bist, was mit uns und dem Haushalt zu tun hat." "Ich bringe diesen Kerl um", murmelte sie. "Sie werden seine Leiche erst im Frühjahr finden, wenn der Schnee schmilzt." "Das darfst du nicht!" protestierte Melody.
"Onkel Ralph ist der netteste Onkel in der ganzen Familie." "Kein Wunder! Schließlich ist er der einzige", schnaubte Eddie. "Nicht so laut", sagte Holly matt. "Sonst bekomme ich Kopfschmerzen." "Könntest du mir vorher sagen, ob ich in die Schule muß oder nicht?" "Du mußt nicht in die Schule!" "Hurra! Hurra!" Eddie begann auf ihrem Bett auf und ab zu hüpfen. "Das ist nicht fair!" jammerte Melody. "Was denn?" "Eddie kriegt schulfrei, und was kriege ich? Holly, du mußt Onkel Ralph sagen, daß das nicht fair ist." "Das würde ich lieber bleiben lassen", meinte Eddie. "Onkel Ralph muß das wissen", verlangte Melody. "Hört auf zu streiten, ich sag's ihm ja", murmelte Holly resigniert und stand auf. "Das ist wirklich keine gute Idee, Holly", warnte Eddie. "Warum denn nicht?" Jetzt, da sie einmal das warme Bett verlassen hatte, würde sie ihre Mission auch durchführen. Sie zog ihren Morgenrock über und marschierte zur Tür. Eddie blickte ihr beklommen nach. "Das wird ihr leid tun." "Warum denn?" "Weil Onkel Ralph ohne Pyjama schläft", erwiderte er und kroch an das warme Plätzchen, das Holly gerade erst geräumt hatte. Ahnungslos und noch halb blind, tastete sich Holly den Gang entlang. Ralphs Zimmer war das letzte auf der linken Seite. Es hatte ein eigenes Bad und bot genügend Raum für Bücherregale und einen kleinen Computer. Offenbar ertrug er es nicht, mehr als fünf Schritte von einem dieser technischen Geräte entfernt zu sein. Die Tür stand halb offen.
"Damit ich die Kinder hören kann", hatte er Holly am ersten Tag gesagt und war damit um einiges in ihrer Achtung gestiegen. Nicht viel, aber immerhin. "Ralph!" flüsterte sie, als sie auf der Schwelle stand. Keine Reaktion. Obwohl Holly inzwischen die Augen geöffnet hatte, war es im Zimmer so dunkel, daß sie fast nichts sah. "Ralph?" Vorsichtig tastete sie sich zum Bett. Plötzlich berührte sie eine warme Kuhle. Lange konnte Ralph noch nicht weg sein. Daß er unter der Dusche stand, konnte sie nicht hören, weil der Wind so laut heulte. Hollys Füße waren eiskalt, und plötzlich konnte sie der Versuchung nicht widerstehen. Nur ein paar Minuten würde sie unter die Decke kriechen, bis sie nicht mehr fror. Kaum hatte sie sich behaglich ausgestreckt, war sie auch schon eingeschlafen. Das Bett schaukelte auf und ab. Holly drückte sich tiefer in die Kissen. Jetzt spürte sie einen Körper neben sich. Offenbar war Melody ihr gefolgt. Auch recht. In Ralphs Bett war wenigstens genug Platz für zwei. Bald war sie wieder fest eingeschlafen. Plötzlich schrillte direkt neben ihrem Ohr eine Glocke. Holly konnte nur mit einem Auge sehen, weil das andere immer noch unter der Decke steckte. Es war hell im Zimmer. Wieder klingelte das Telefon auf dem Nachttisch. Sie wollte sich aufsetzen, doch etwas hielt sie fest. Vorsichtig hob sie den Kopf ein Stück. Es war eine Hand, die zu einem kräftigen gebräunten Arm gehörte. Eine Hand auf ihrer linken Brust. Noch immer war sie viel zu benommen, um sich Gedanken darüber zu machen. Holly wurde noch tiefer in die Matratze gedrückt, als jemand sich über sie lehnte und den Hörer abnahm. "Browne. Wer? Ja, sie ist hier." Jemand tippte ihr auf die Schulter. "Für dich." "Für mich?" murmelte Holly. "Sag ihm, ich rufe nächste Woche zurück."
"Es ist kein Er, sondern eine Sie. Es würde ihr bestimmt nicht gefallen, wenn du ..." "Laß mich in Ruhe. Sag ihr, daß heute keine Schule ist. Es liegt zuviel Schnee." "Das ist doch nicht zu fassen. Holly ..." "Ich bin nicht zu sprechen", unterbrach sie ihn und kroch wieder unters Kissen. Ralph sagte etwas in den Hörer und legte wieder auf. Plötzlich drängte sich etwas in ihr Bewußtsein. "Wer war es denn?" fragte sie. "Sie sagte, sie wäre deine Mutter." Mit einem Schlag war Holly hellwach. "Was soll das heißen?" "Daß ich es nicht beschwören kann. Schließlich hat deine Mutter bisher noch nie bei mir angerufen." Holly streckte ein Bein aus und berührte dabei einen Schenkel. Einen Schenkel, der keinem der Kinder gehören konnte. Hastig zog sie das Bein zurück. "Was hast du zu ihr gesagt?" "Daß du dich unter der Bettdecke versteckst und nicht herauskommen willst." "Welcher Bettdecke?" "Na, der hier unter meinem Ellbogen." Sie setzte sich kerzengerade hin und schüttelte dabei seine Hand ab, die immer noch auf ihrer Brust lag. "Du hast meiner Mutter gesagt, daß ich ..." "Nicht alles, natürlich. So dumm bin ich nicht." Holly stopfte sämtliche Decken um sich herum, die sie finden konnte. Ralph war nackt, und ihr T-Shirt verbarg praktisch gar nichts. "Was machst du in meinem Bett?" fragte sie empört. "Dein Ortssinn ist wirklich beklagenswert." Er zog sich einen Zipfel der Decke heran und legte sich wieder hin. Dabei kam seine Hand auf ihrer Hüfte zu liegen, die jetzt nicht mehr vom T-Shirt bedeckt war. "Das ist mein Bett!"
Holly stöhnte. Entweder hatte sie einen Alptraum, oder Ralph schob ihr T-Shirt höher. "Laß das!" "Selbstverständlich." Seine Hand bewegte sich weiter. "Willst du wohl aufhören?" "Warum denn? Schließlich bist du freiwillig in mein Bett gekrochen. Entspann dich. Es gibt keine schönere Art, einen verschneiten Tag zu beginnen, als Sex." "Das darf einfach nicht wahr sein! Ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob Eddie heute in die Schule muß. Da du nicht da warst, habe ich mich einen Moment hingelegt, weil ich kalte Füße hatte. Und schon fällst du mich an. Was für ein Mann bist du eigentlich?" "Ach, einer von der üblichen Sorte." Ralph lehnte sich vor und lächelte auf sie hinab. "Ich raube, morde und vergewaltige." Holly machte einen solchen Satz, daß sie unsanft auf dem Holzboden landete. Dabei entschlüpften ihr ein paar Worte, die sie auf der Baustelle gelernt hatte. "Und ich dachte, du wärst eine Dame!" spottete er. "Du Ungeheuer ..." "Verdirb es dir nicht mit mir. Draußen liegt so viel Schnee, daß du nicht einmal mit dem Vierradantrieb bis zur Straße kämest. Bis auf weiteres sitzt du also hier fest." "Na warte ..." "Guck mal!" rief Melody, die in der offenen Tür stand. Eddie blickte ihr interessiert über die Schulter. "Ich guck' ja schon. Genau wie Mommy und Dad. Wirst du Holly heiraten, Onkel Ralph?" "Nur über meine Leiche!" zischte Holly und zupfte ihr TShirt zurecht. "Ich denke, Holly ist im Moment nicht interessiert." Ralph seufzte. "Dabei wäre es bestimmt lustig." "Von wegen lustig! Du würdest den Tag bald verwünschen. "
Rex schob sich an den Kindern vorbei und kam zu ihr. Sie faßte ihn am Hals. Jedes bißchen Unterstützung war ihr jetzt willkommen. "Ihr habt immer noch nicht meine Frage beantwortet, ob ich in die Schule muß", maulte Eddie. "Der Schnee liegt bestimmt schon drei Meter hoch." "Jetzt übertreibst du aber", mahnte sein Onkel. "Aber du darfst zu Hause bleiben. Könntet ihr jetzt alle bitte wieder ins Bett verschwinden und mich weiterschlafen lassen? Ich ,habe die halbe Nacht am Computer gesessen." "Ich will aber nicht wieder ins Bett!" protestierte Melody. "Außerdem habe ich Hunger!" Vorsichtshalber wischte sie sich einige Tränen aus den Augenwinkeln. Holly kannte die Taktik. Schließlich hatte sie sie selbst jahrelang angewandt. Sie faßte Melody bei der Hand. "Komm, mein Schatz. Ich mache dir Frühstück." "Mir auch!" rief Eddie und griff nach Hollys anderer Hand. "Rühreier, Würstchen, Toast und Orangensaft", verkündete Holly und stellte die Teller auf den Tisch. "Und Rex bekommt einen Hundekuchen." "Weißt du was?" fragte Eddie. "Jetzt bist du schon zwei Tage hier, und wir haben noch nicht einmal Haferbrei gegessen." Holly stutzte. "Mögt ihr denn Haferbrei?" "Igitt! Aber etwas anderes kann Onkel Ralph nicht kochen." "Ich habe Onkel Ralph lieb!" rief Melody loyal. "Ich ja auch, aber Haferbrei kann ich nicht ausstehen." Er neigte den Kopf zur Seite und betrachtete Holly aufmerksam. "Warum heiratest du eigentlich Onkel Ralph nicht? Meine Mommy redet ihm immer zu, daß er sich endlich eine Frau suchen soll." "Weißt du, Eddie, so etwas muß man sich gut überlegen", antwortete sie ausweichend. "Ich bin gar nicht sicher, ob ich überhaupt heiraten will. Möchtest du ein Würstchen oder zwei?"
Rex bellte dreimal. Beide Kinder nickten bestätigend. Gehorsam tat Holly jedem drei Würstchen auf und steckte Rex verstohlen einen Zipfel zu. Sie selbst begnügte sich mit einem Stück Toast, Orangensaft und viel Kaffee. Die Kinder waren wirklich reizend. Warum heiratete sie nicht ihren Onkel und bekam selbst welche? Zum einen hat er mich überhaupt nicht gefragt, begann sie die Gründe aufzuzählen, die dagegen sprachen. Außerdem bin ich immer noch nicht sicher, ob er nicht doch etwas mit dem Skandal auf dem Ball zu tun hatte. Und schließlich ist er zu raffiniert für mich. Sie war in einer Familie hochbegabter Menschen aufgewachsen und wußte, wie schwer es war, sich ihnen gegenüber zu behaupten. Sie konnte Ralph natürlich auch heiraten und dann versuchen, ihn umzuerziehen. Dieses Thema war im Hause Latimore schon oft diskutiert worden, wenn eine ihrer Schwestern vor der Entscheidung gestanden hatte, ob sie sich für immer binden wollte. "Du mußt ihn so nehmen, wie er ist", hatte ihre Mutter stets geraten. "Wenn du das nicht kannst, laß es bleiben." "Dann werde ich wohl nie heiraten", hatte Becky gejammert. "Natürlich", hatte Mutter sanft hinzugesetzt, "hindert dich nichts daran, dich selbst zu ändern." Was bedeutet dieser Ratschlag in bezug auf mich und Ralph? überlegte Holly. "Habt ihr mir etwas zu essen übriggelassen?" Ralph war in die Küche gekommen und blickte die leeren Teller mißmutig an. "Nein", erwiderte sie kurz. "Möchtest du etwas?" "Selbstverständlich." "Haferbrei zum Beispiel?" "Bloß nicht!" rief er erschrocken. "Ich kann das Zeug nicht ausstehen. Außerdem brauchte ich dich dazu nicht. Haferbrei kann ich nämlich selbst zubereiten."
"Dann wirst du von jetzt an vermutlich deinen Ekel überwind en müssen. Nach der Episode von heute morgen habe ich eigentlich wenig Lust, für dich zu kochen." Melody zupfte Eddie am Ärmel. "Was heißt ,Episode'?" "Keine Ahnung. Das Wort hatten wir noch nicht in der Schule. Onkel Ralph, was bedeutet es?" Ralph räusperte sich. "Äh ... Das ist so ähnlich wie im Fernsehen. Wenn von einem Film heute ein Teil und der nächste erst ein paar Tage später gezeigt wird, nennt man die einzelnen Stücke Episoden." Holly mußte zugeben, daß er sich geschickt aus der Affäre zog. Sie ho ffte nur, daß es für die peinliche Episode keine Fortsetzung geben würde. "Eddie und Melody, ihr beide geht nach oben, putzt euch die Zähne und zieht euch warm an. Dann können wir ... Ich meine, dann könnt ihr mit eurem Onkel für eine Weile hinaus in den Schnee." "Moment mal ..." wollte Ralph protestieren, doch weit kam er nicht. "O ja, toll!" rief Eddie begeistert. "Aber ..." Ralph fand keine passende Ausrede. "Du mußt doch sowieso hinaus und die Einfahrt räumen", sagte Holly zuckersüß. "Es könnte schließlich sein, daß es brennt und die Feuerwehr zu uns durchkommen muß. Eddie ist fast schon ein Mann. Er wird dir helfen. Für Melody ist der Schnee ein bißchen hoch. Wir wollen schließlich nicht, daß du verloren gehst, Schatz, nicht wahr? Vielleicht könntest du mir ein bißchen zur Hand gehen. Ich will nachher Brot backen. Ist das nicht eine gute Idee, Onkel Ralph?" "O ja!" sagte er laut, doch als er an ihr vorbeiging, packte er sie an der Schulter. "Aber ich bin nicht dein Onkel!" Dann küßte er sie auf die Wange und ging hinaus, dicht gefolgt von Eddie.
"Eines Tages erwürge ich ihn!" schwor Holly, aber so leise, daß Melody es nicht hören konnte. "Also, was brauchen wir jetzt alles zum Brotbacken?" Melody stand auf einem Stuhl und sah Holly neugierig zu. "Das soll Brot werden?" fragte sie zweifelnd und deutete auf den Teigklumpen. "Allerdings. Du wirst bald eines der Wunder der Chemie erleben." "Wirklich?" "Wirklich. Jetzt hau auf den Klumpen, so fest du kannst." Melody kam der Aufforderung begeistert nach. "Das macht ja Spaß!" "Habe ich dir doch gesagt. Jetzt decken wir ein Tuch darüber und lassen ihn eine Weile gehen. Anschließend kommt er in den Ofen, und ehe du dich's versiehst, haben wir frisches Brot." Melody spähte aus dem Küchenfenster. "Schau mal, Eddie und Onkel Ralph machen .eine Schneeballschlacht! Kann ich mitmachen?" "Später." Der vom Computer gesteuerte Wecker klingelte. Holly hatte Ralph dazu gebracht, noch weitere Termine in den Zeitplan aufzunehmen. "Dieses Klingeln ist für dich. Von jetzt an gehst du alle eineinhalb Stunden auf die Toilette, damit nicht wieder so ein Mißgeschick passiert wie gestern. Ab mit dir." "Kommst du nicht mit?" "Nein. Große Mädchen können das allein. Du bist doch schon groß?" "Klar!" bestätigte Melody stolz und verschwand. Um zehn Uhr war die Zufahrt wenigstens notdürftig geräumt, und die beiden Männer kamen mit roten Gesichtern und klammen Fingern in die Küche gestürmt. Holly hatte eine Kanne dampfenden Kakao fertig.
"Gleich, gibt's etwas zum Aufwärmen. Aber erst ausziehen und die nassen Sachen ordentlich aufhängen", mahnte sie. "Und dann natürlich Hände waschen." "Ich auch?" fragte Ralph spitzbübisch. "Selbstverständlich." Er schmunzelte und tat wie geheißen. Vielleicht hatte sie jetzt den Trick herausgefunden, wie sie mit ihm umgehen mußte. Melody kam stolz zurück. "Ich hab's geschafft, Holly! Ganz allein." "Bravo! "lobte Holly. "Was geschafft?" wollte Eddie wissen. "Das ist Frauensache", erklärte Holly. Die beiden Männer machten ein finsteres Gesicht und rannten dann um die Wette zum Waschbecken im Vorraum. Ralph gewann, aber nur knapp. Als er wiederkam, ließ er sich aufatmend auf einen Stuhl sinken. "Was für Geheimnisse habt ihr denn ausgeheckt, Melody und du?" "Das verraten wir erst, wenn wir Erfolge vorweisen können. Als ich in Melodys Alter war, hat meine Mutter das gleiche Training mit mir gemacht. Sonst noch Fragen?" "Eigentlich nicht. Du bist im großen und ganzen ganz ordentlich geraten. Wenn Melody genauso wird, werden dir ihre Eltern eine Menge schulden." Holly traute ihren Ohren nicht. "Ein Kompliment?" "Warum nicht? Es ist schließlich ehrlich gemeint." Vor Verlegenheit wurde sie rot. Komplimente von Ralph Browne hatte sie nicht erwartet. Rasch wandte sie sich ab. "Hier riecht etwas ganz köstlich", hörte sie Ralphs Stimme direkt hinter sich. Sie fuhr herum. "Das ist doch nur Brot", wehrte sie ab. "Davon habe ich nicht gesprochen." Ralph legte ihr die Hände auf die Schultern und zog sie an sich. "Sondern davon." Er schnupperte an ihrem Ohrläppchen, wo sie nach dem Aufstehen etwas ,Ma Femme' versprüht hatte.
Wie hypnotisiert sah sie ihn an. Sein Kopf kam immer näher, bis er ihr gesamtes Blickfeld ausfüllte. Im nächsten Moment berührten sich ihre Lippen - eher eine Liebkosung als ein Kuß. "Was machst du da, Onkel Ralph?" fragte Melody neugierig. "Heiratest du Holly jetzt doch?" Hastig richtete er sich auf und trat einen Schritt zurück. "Nein, ich wollte mich nur vergewissern, daß nichts anbrennt. Genauso wie beim Brot ..." Holly machte einen Satz. "Um Himmels willen, das Brot!" Sie schnappte sich einen Topflappen und riß die Ofentür auf. Ein Duft erfüllte die Küche, der allen das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Noch eine halbe Minute, und es wäre zu spät gewesen. Nicht nur für das Brot. Erst am Abend gegen sechs hörte es auf zu schneien. Die dunklen Wolkenmassen wurden dünner, rissen an einigen Stellen auf, und etwa eine Stunde später war der erste Stern am Himmel zu sehen. Beide Kinder lagen schon im Bett. Das Herumtoben an der frischen Luft hatte sie geschafft. Holly saß im Wohnzimmer und strickte. Zu ihren Füßen hatte Rex es sich bequem gemacht. Ralph ließ sein Buch sinken. "Hörst du denn nie auf zu arbeiten?" fragte er. "Es ist ein Weihnachtsgeschenk", entgegnete sie und hielt einen halbfertigen rotweiß gestreiften Kinderpullover hoch. "Da brauchst du dich doch nicht zu beeilen. Weihnachten war gerade erst." "Eben. Der Pulli ist für Viktor, Faith' Sohn. Eigentlich sollte er schon letztes Jahr zu Weihnachten fertig sein, aber ich habe mich so verzettelt, daß ich ihm schließlich etwas kaufen mußte. Jetzt soll er ihn wenigstens bekommen, ehe er ihm nicht mehr paßt." "Hältst du denn nichts von gekauften Geschenken?" "In unserer Familie ist es Tradition, daß wir Geschenke selbst machen."
"Etwas zu kaufen ist aber einfacher." "Das schon, aber es zählt eigentlich nicht. Wir sind vierzehn Personen. Wir alle haben einen eigenen Treuhandfonds und können uns kaufen, was das Herz begehrt." "Bist du eigentlich als einzige deiner Generation noch nicht verheiratet?" fragte er plötzlich. Holly ließ ihr Strickzeug sinken. Worauf wollte er jetzt wieder hinaus? Warum fragte er ausgerechnet in dem Moment danach, als die Rede vom Geld der Latimores gewesen war? "Ja", antwortete sie einsilbig. "Hat noch niemand versucht, dich wegen deines Geldes zu heiraten?" fragte er rundheraus. "Doch." "Aber du hast dich klugerweise nicht darauf eingelassen." "Wie du siehst. Schließlich bin ich nicht naiv. Wenn einer seine Liebesschwüre gar zu dick aufgetragen hat, habe ich ihn eine Weile von den Detektiven unserer Firma beschatten lassen. Meistens zeigte sich dann sehr schnell, worauf es ihm wirklich ankam." Ralph pfiff durch die Zähne. "Du erinnerst mich an Dornröschen." "Wieso?" "Seit Jahren schlummerst du hinter einer Dornenhecke aus Sicherheitsbeamten und Anwälten. Jetzt wird es allmählich Zeit aufzuwachen." "Ich verstehe nicht." "Bald wird der Prinz kommen und dich mit einem Kuß wecken." "Das ist doch alles Unsinn!" wehrte sie ab. "Über das Alter, in dem ich an Märchen geglaubt habe, bin ich längst hinaus." "Soll ich es dir beweisen?" fragte er leise. "Das kannst du gar nicht." Ralph legte ein Lesezeichen in sein Buch und klappte es zu. Holly sah ihm gespannt zu. Er war drauf und dran, sich zum
Narren zu machen, und sie wartete nur auf den Moment, da sie ihn auslachen konnte. Ohne Eile kam er zur Couch, setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter - ganz behutsam, um sie nicht zu erschrecken. ""Bequem so?" fragte er. "Na ja, ich würde sagen, es geht", antwortete sie vorsichtig. "Und was passiert jetzt?" "Jetzt kommen wir in Phase zwei." Er legte den anderen Arm von vorn um sie, bis sich seine Hände auf ihrem Rücken berührten. "Immer noch bequem?" "Natürlich." In ihrer Magengegend begann ein leises Flattern. "Und jetzt ..." "Was jetzt?" fragte sie atemlos. "Klappen wir das Sandwich zu." Er zog sie an sich. "Und küssen die Prinzessin auf Wange und Nase." "Das kitzelt!" protestierte sie. "Jetzt kommt die Krönung." Sanft drückte er seine Lippen auf ihren Mund. Wenn sie sich gewehrt hätte, hätte sie sich ohne Mühe aus seinem Griff befreien können, aber sie dachte gar nicht daran, sich zu wehren. Statt dessen saß sie ganz still da und ließ sich verführen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn nicht in diesem Moment Melody die Treppe heruntergekommen wäre, wie immer ihre Puppe im Schlepptau. "Holly, du hast mir noch keine Geschichte vorgelesen", beschwerte sie sich. "Sag ihr, daß sie auf der Stelle weggehen soll", murmelte Ralph und versuchte, seine Finger auseinander zubekommen. "Das können wir ihr nicht antun", flüsterte Holly. "Ich stecke mit dem Finger in deinem BH-Verschluß fest und bekomme ich nicht heraus", zischte Ralph. "Hinein bist du doch auch allein gekommen." "Holly." Melody hatte bereits eine Träne im Augenwinkel. "Ich habe das Buch mitgebracht."
"Schon gut, Schatz. Setz dich zwischen uns, und wir lesen dir gemeinsam etwas vor." "Mein Finger", jammerte Ralph. "Du mußt einfach fest ziehen", befahl Holly. Im nächsten Moment hörte sie Stoff reißen und unterdrückte ein Stöhnen. Selbst im Einkaufszentrum waren gute BHs teuer. Aber wenigstens hingen sie nicht mehr wie siamesische Zwillinge aneinander. Melody drängte sich in die neu entstandene Lücke zwischen sie, machte es sich bequem und schlug das Buch auf. "Von zwei Leuten vorgelesen zu kriegen si t natürlich ganz toll", erklärte sie zufrieden und strahlte Holly und Ralph glücklich an. "Eddie wird vielleicht sauer sein, wenn er morgen hört, was er verpaßt hat!" "Vielleicht sollten wir es ihm lieber nicht sagen", schlug Onkel Ralph vor. "Ich habe eine bessere Idee", meinte Holly. "Ich hole Eddie einfach her. Er hätte bestimmt nichts dagegen ..." "Aber ich!" brummte Ralph. "Und nun fang endlich mit der verflixten Geschichte an."
V Wieder war es Morgen. Mittwoch? Holly öffnete ein Auge. Sie hatte vergessen, die Vorhänge zu schließen. Helles Sonnenlicht blendete sie. Im Haus rührte sich nichts. Laut ihrem elektrischen Wecker war es Mitternacht. Die Zeiger bewegten sich nicht. Eins war sicher - Mitternacht konnte es nicht sein. Holly setzte sich auf und schwang die Beine auf den Boden. Ihre Füße standen plötzlich auf kaltem Holz. Rex hatte sich wieder einmal den Bettvorleger geschnappt und es sich darauf bequem gemacht. Sie wäre beinahe über ihn gestolpert, als sie nach ihren Hausschuhen suchte. Der alte Hund schnaufte einmal und schlief dann weiter. Auf dem Flur war es stockdunkel, weil nur durch die beiden kleinen Fenster am Ende etwas Licht fiel. Holly drückte auf den Schalter. Nichts. Vorsichtshalber versuchte sie es noch einmal, doch das Ergebnis blieb das gleiche. Offenbar war der Strom ausgefallen. Auch im Erdgeschoß brannte nirgendwo Licht. Die grüne Leuchte am Computer in der Küche war aus. Nur die Gasflammen am Herd tanzten fröhlich. Ralph Browne hatte sich einen Stuhl ans Fenster gezogen und las einen Computerausdruck. In der Hand hielt er eine Henkeltasse mit Kaffee. Als Holly hereinkam, blickte er auf.
"Guten Morgen. Du hast sicher schon gemerkt, daß wir keinen Strom haben. Damit bin ich bis auf weiteres mit meiner Arbeit lahmgelegt." Sie schenkte sich einen Kaffee ein und setzte sich ihm gegenüber. "Ich habe den Eindruck, daß es letzte Nacht noch einmal geschneit hat." "Nein, aber der Wind hat Schneewehen von bis zu zwei Metern aufgetürmt. Wahrscheinlich ist dabei die Überlandleitung beschädigt worden." Holly seufzte. "Manchmal wünschte ich, ich wäre bei meiner Schwester Faith in der Karibik. Dort schneit es nie." "Bist du schon einmal dort gewesen?" "Ja, einmal. Zu Faith' Hochzeit. Ich bin mit meinen Eltern und Michael hingefahren. Allein hätte ich mich wahrscheinlich nicht getraut." "Das kann ich mir nicht vorstellen." "Es stimmt aber. Schlafen die Kinder noch?" "Jedenfalls habe ich sie noch nicht gehört. Wenn Eddie wach ist, werde ich mit ihm hinaus in den Schnee gehen. Er hatte schon gestern unglaublich viel Spaß." "Du hast auch eine Nichte", erinnerte sie ihn. "Natürlich, aber Mädchen sind nicht so erpicht auf Schneeballschlachten. Außerdem ist sie noch so klein." "Laß es doch einfach darauf ankommen." "Sag mal, versuchst du, mein ganzes Leben umzukrempeln?" "Es würde dir ganz recht geschehen", entgegnete sie. Noch vor einer Woche hätte sie so etwas nie gewagt. Sie trank einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. "Pfui!" "Er ist wirklich nicht besonders", stimmte Ralph zu. "Aber schließlich bist du die Haushälterin hier. Wenn du nicht verschlafen hättest, wäre das nicht passiert." Holly nahm die Kaffeekanne, leerte sie in den Ausguß und machte sich daran, frischen Kaffee aufzubrühen. "Manchmal
frage ich mich, wie ihr jemals ohne mich zurechtgekommen seid." Ralphs Miene war plötzlich ernst geworden. "Ich mich auch." Abrupt setzte er hinzu: "Heirate mich." "Wie bitte?" "Du sollst mich heiraten. Dann wäre sichergestellt, daß die Kinder und ich in Zukunft ausgewogen und gesund ernährt werden. Wer weiß, wann meine Schwester und mein Schwager zurückkommen und die Verantwortung für Eddie und Melody übernehmen." Holly beschloß, das Ganze gar nicht ernst zu nehmen. "Ein bißchen romantischer hatte ich mir meinen ersten Heiratsantrag schon vorgestellt. Außerdem bin ich nicht sicher, ob meine Familie mit dir einverstanden wäre. Warum gehst du nicht nach oben und schaust mal nach den Kindern?" "Ich merke schon, du weichst mir aus. Aber denk ja nicht, daß ich mich so schnell entmutigen lasse." Holly fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie schwach wurde. Eine Stunde später erschien Melody in Hollys Zimmer. "Holly?" "Ja, mein Schatz?" "Gibt's heute kein Frühstück?" "Hat dein Onkel dir denn nichts gegeben?" "Doch, Haferbrei. Ich will aber richtiges Frühstück mit Schinken und Eiern und viel Toast." "Du hast wohl Hunger?" "Und wie!" Holly fiel plötzlich ein, daß sie selbst außer zwei Tassen Kaffee noch nichts im Magen hatte. "Dann komm mal mit." Auf der Treppe begegneten sie Eddie, der bis zur Nase eingemummelt war. "Melody, Onkel Ralph sagt, du sollst dich auch anziehen. Er will mit uns rausgehen."
"Ich habe keine Lust", protestierte Melody. "Holly und ich machen jetzt erst einmal Frühstück." Sie faßte Holly bei der Hand. "Aber Onkel Ralph hat gesagt ..." "Onkel Ralph ist nicht mehr mein Lieblingsonkel. Das ist Holly." "Du Dummerchen, das geht doch gar nicht. Onkel können nur Männer sein." "Gar nicht wahr!" rief Melody kampflustig. "Holly ist jetzt mein Lieblingsonkel." Ralph saß immer noch am Küche ntisch. "Melody; du bist ja noch gar nicht angezogen! Wir wollen jetzt ein bißchen hinaus in den Schnee." "Ich bleibe lieber hier bei Holly", entgegnete seine Nichte. "Holly macht mir Frühstück." "Du hast doch gerade erst gegessen!" Melody machte eine wegwerfende Handbewegung. "Das war doch kein richtiges Frühstück." Einen Moment lang wirkte er perplex, dann begann er zu schmunzeln. "Wo du recht hast, hast du recht." Er streckte die Arme aus, und Melody sprang quietschend auf seinen Schoß. Holly betrachtete die Szene kopfschüttelnd. So ein kleines Biest. Gerade mal drei Jahre alt und schon eine Meisterin in der Kunst, Männer zu manipulieren. Eddie war dabei, seinen Schal wieder abzuwickeln. "Wenn ich's mir recht überlege, bin ich vorhin auch nicht satt geworden." Der eisige Wind blies Holly den Schnee ins Gesicht. Gab es tatsächlich Leute, die Spaß an Wintersport hatten? Ralph hatte zwei Schlitten aus dem Schuppen geholt, beide schon ziemlich alt, aber durchaus noch funktionsfähig. Der Weg vom Haus zur Straße war abschüssig genug, daß man in Fahrt kommen konnte. Am anderen Ende kam man automatisch zum Stehen, weil die Schneepflüge die Zufährt mit riesigen Haufen blockiert hatten, die erst noch weggeschaufelt werden mußten.
Holly und Melody wagten einen Versuc h. Hollys Wangen waren rosig, und ihr blondes Haar flog im Wind. Was für eine schöne Frau, dachte Ralph, der zusah, wie sie den Schlitten wieder hinaufzog. "Nur keine Müdigkeit vorschützen!" rief er. Im nächsten Moment begann er mit den Armen zu rudern, um das Gleichgewicht zu halten, denn Eddie hatte den Schlitten seines Teams angeschoben und war hinten aufgesprungen. Trotz Ralphs Versuchen gegenzusteuern lenkte Eddie den Schlitten direkt in eine riesige Schneewehe, so daß Ralph kopfüber hineinpurzelte. Die Kinder quietschten vor Lachen, aber Holly versuchte, ernst zu bleiben. Männern lag schließlich viel an ihrer Würde. Nachdem sie fünf- oder sechsmal gerodelt waren, begann das Team der Männer eine Schneeballschlacht. Melody machte es sich leicht und ging einfach hinter Holly in Deckung, mit dem Ergebnis, daß Holly die für sie beide bestimmten Geschosse abbekam. Als ein Treffer mitten auf ihrer Nase landete, hatte sie genug. Obwohl die anderen sie als Feigling verspotteten, flüchtete sie sich ins Haus, um wieder warm zu werden. Es würde nicht lange dauern, bis die Kinder ebenfalls genug hatten, und dann würden sie nach etwas Warmem zu trinken verlangen. Der Kakao dampfte bereits auf dem Herd, als Eddie erschien - allein. "Holly!" schrie er. "Holly!" "Ich bin in der Küche!" "Komm schnell! Onkel Ralph ..." Holly war bereits dabei, in ihre Stiefel zu schlüpfen. "Was ist mit ihm?" "Sieh selbst!" Ehe sie weiterfragen konnte, war er schon davongerannt. Holly beeilte sich so sehr, daß sie beinahe über Rex gefallen wäre, der vor der Tür gewartet hatte. Sie war noch nicht weit gelaufen, als sie Melody weinen hörte. Sehen konnte sie nichts, weil der Schnee zu hoch war. Plötzlich entdeckte sie das kleine
Mädchen auf halber Höhe eines Hügels. Melody hatte sich zusammengekauert und schluchzte herzerweichend. Ein Stück oberhalb von ihr saß Ralph. Keuchend kam Holly neben Melody zum Stehen. "Schatz, ist dir etwas geschehen?" Melody schüttelte den Kopf. "Mir nicht, aber ihm." Eddie konnte sie nicht gemeint haben, denn dem fehlte nichts. Blieb nur Ralph. Es dauerte noch eine Minute, bis sie ihn erreicht hatte. Er war ungewöhnlich blaß. "Was ist denn passiert?" Ralph schüttelte den Kopf. "Frag lieber nicht." "Er wollte uns zeigen, wie man Ski fährt", verkündete Eddie. "Dabei bin ich hingefallen", setzte Ralph kleinlaut hinzu. "Du? Auf einem solchen flachen Hang?" "Spar dir deinen Spott", sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. "Hier bleiben kannst du jedenfalls nicht", erklärte sie und faßte ihn von hinten unter den Armen. "I ch helfe dir hoch, und dann ..." Er schrie so laut, daß sie ihn vor Schreck sofort losließ. "Was ist denn?" "Es wäre mir lieber, wenn du mich noch eine Weile hier sitzen läßt, während du ..." "Das geht nicht", unterbrach sie. "Noch zehn Minuten in dieser Kälte, und du holst.dir eine Lungenentzündung." "Du wirst es zwar nicht glauben", sagte er matt, "aber ich habe mir das Bein gebrochen." "Ach du lieber Himmel! Was soll ich tun?" "Lauf ins Haus, und ruf den Krankenwagen. Falls es eine Verzögerung gibt, könntest du mir vielleicht eine Decke bringen." Eine Viertelstunde später waren die Sanitäter da. "Ein glatter Bruch", verkündete der Chef der Truppe. "Das kommt davon,
wenn man in Ihrem Alter noch auf die Ski steigt. Sind Sie krankenversichert?" "Sehr komisch", murmelte Ralph. "Meine Versicherungskarte steckt in meiner Brieftasche. Holly, würdest du sie bitte holen?" "Es ist vielleicht besser, wenn Sie mitkommen, Mrs. Browne", meinte einer der Sanitäter. "Ich ... Das geht nicht. Ich muß bei den Kindern bleiben." Mrs. Browne. Eigentlich klang das gar nicht so schlecht. Natürlich mußte Ralph den romantischen Augenblick verderben. "Holst du jetzt endlich meine Brieftasche? Und bring die Kinder ins Haus, ehe sie sich erkälten." Die einzige Frau im Team zwinkerte Ho lly zu. "Männer sind wirklich schreckliche Patienten. Wahrscheinlich bekommen Sie ihn heute Abend schon wieder. Sorgen Sie dafür, daß er einen Schlafplatz im Erdgeschoß hat. Die nächsten fünf oder sechs Wochen muß er vermutlich liegen." Da kaum ein Fahrzeug auf der Straße war, bestand eigentlich keine Notwendigkeit, die Sirene einzuschalten. Dennoch fuhr der Krankenwagen unter beeindruckendem Geheul davon. Kaum waren sie allein, zupfte Melody Holly am Ärmel. "Du hast mich angelogen", beschwerte sie sich. "Wieso?" fragte Holly verwirrt. "Mir hast du gesagt, daß du Onkel Ralph nicht heiratest, aber der Mann in der weißen Uniform hat dich Mrs. Browne genannt. Also hast du gelogen." Holly seufzte. "Nein, Schatz, das habe ich nicht. Der Mann hat sich schlicht und einfach geirrt. Dein Onkel und ich sind nicht verheiratet und werden auch nicht heiraten." ' "Auch nicht nächste Woche?" "Nein. Und ehe du weiterfragst - nächsten Monat ebenfalls nicht." "Aber..."
Holly stemmte die Hände in die Hüften. "Damit ist das Thema beendet, verstanden?" In diesem Ton sprach selten jemand mit Melody, und vor lauter Verblüffung verstummte sie tatsächlich. Im Wohnzimmer blickte sich Holly suchend um. Irgendwo hier mußte sie bis heute Abend ein Bett aufstellen. Eddie sah da kein Problem. Er deutete auf den Kamin - gar nicht so einfach, weil er in einer Hand einen Keks und in der anderen ein großes Glas Milch hielt. "Onkel Ralph hat einen Schlafsack. Den legen wir einfach hierhin." "Für eine Nacht wäre das bestimmt lustig, Eddie, aber euer Onkel wird einige Wochen liegen müssen. Da braucht er unbedingt ein richtiges Bett." Nach kurzem Überlegen griff Holly zum Telefon. "Wir sind nicht zu Hause"; meldete sich eine tiefe Männerstimme am anderen Ende. "Wage ja nicht, wieder einzuhängen, Jake Meadows!" rief sie. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, wie sie mit ihrem Schwager umgehen mußte. "Ich brauche einen medizinischen Rat." "Holly! Bist du etwa krank, Kleines?" Jake war außer ihrer Mutter der einzige Mensch, der ungestraft "Kleines" zu ihr sagen durfte. Ehe sie ihm ihr Anliegen vortragen konnte, hatte er bereits ihre Schwester Becky ans Telefon geholt. Becky stellte die gleiche Frage wie ihr Mann. "Bist du krank?" "Nein. Der Mann, für den ich arbeite, hat sich vorhin das Bein gebrochen ... Ja, Mutter weiß Bescheid und ... Nein!" "Warte einen Moment." Becky machte eine Pause, um ihrem Mann die Situation zu erklären, die mit den Tatsachen nicht mehr viel zu tun hatte. "Holly hat endlich einen Mann gefunden, und der hat sich das Bein gebrochen. Wahrscheinlich die Morton-Klinik." Nach geraumer Weile wandte sie sich wieder
Holly zu. "Jake und ich fahren jetzt beide gleich ins Krankenhaus." "Nein!" rief Holly. "Das will ich gar ..." Aber Becky hatte bereits eingehängt. "Wenn sie doch nur einma l zuhören würde!" rief Holly empört. "Probleme?" fragte Eddie. "Ich habe eine Schwester." "Dann hast du ein Problem." Eddie sprach aus Erfahrung. Gespannt sah er zu, wie Holly eine andere Nummer wählte. "Latimore Incorporated, guten Tag." "Hier ist Holly Latimore. Ich hätte gern meinen Bruder gesprochen. Bitte sagen Sie ihm, es ist dringend." Nachdem sie durch mehrere Vorzimmer durchgestellt worden war, hatte sie Michael endlich an der Strippe. "Holly, was ist denn? Ist etwas mit Dad? Sein Herz ..." "Nein, es geht nicht um Dad, sondern um Onkel Ralph. Er hat sich das Bein gebrochen." "Schlimm für ihn, aber was kann ich da tun? Wer ist überhaupt Onkel Ralph? Mach es kurz, Holly, ich bin mitten in einer Sitzung." "Du weißt nicht mehr, wer Onkel Ralph ist? Das ist das Computergenie, das euch Millionen Dollar einspart." Jetzt war Michael ganz bei der Sache. "Und Ralph hat sich das Bein gebrochen? Warum rufst du da nicht Becky an oder Jake?" "Das habe ich schon, aber die beiden können mir auch nicht helfen. Ich brauche dich!" "Schwesterchen", sagte er sanft, "würdest du mir vielleicht erklären, warum ausgerechnet die beiden Ärzte in der Familie dir in dieser Situation nicht helfen können?" "Es geht um das Bett!" Sie war so frustriert, daß ihr Tränen in die Augen ge treten waren.
Offenbar hatte Michael ihrer Stimme angehört, daß sie fix und fertig war. "Jetzt erzähl einfach einmal von Anfang an - in kurzen Sätzen." Holly räusperte sich. "Also gut. Ralph Browne hat sich heute Nachmittag das Bein gebrochen, als er seine m Neffen das Skifahren beibringen wollte. Im Moment ist er im Krankenhaus, wird aber noch heute Abend nach Hause gebracht. Bis er wieder laufen kann, muß er im Erdgeschoß schlafen. Dort gibt es jedoch kein Bett. Außerdem ist sein Computer und alles, was er sonst noch zum Arbeiten braucht, im Dachgeschoß." "Jetzt dämmert's mir langsam. Du brauchst einen starken Mann - oder besser hoch mehrere starke Männer - zum Möbeltragen. Ist das richtig?" "Genau. Wenn du nicht hilfst, kann Ralph auch nicht an deinem Projekt weiterarbeiten, und ich kann ihn nicht..." Eddie nahm ihr den Hörer aus der Hand. "Küssen." "Wie bitte?" fragte Michael verblüfft. Holly brachte den Hörer wieder an sich. "Hör nicht auf ihn. Eddie ist ein netter Junge, aber er ist erst acht. Von solche n Dingen versteht er nichts." "Ach, wenn ich an die Zeit zurückdenke, als ich in seinem Alter war ..." Es war Michael anzuhören, daß er schmunzelte. "Aber du bist schließlich kein Junge." "Michael!" drohte sie. "Ich habe schon genug Ärger. Mach du mir nicht auch noch welchen." "Schon gut, schon gut. Aber du klingst ziemlich durcheinander. Am besten wäre es, du würdest mal mit Mutter reden."
VI Jake Meadows traf als erster ein. Sein schwerer Cadillac schlingerte durch den Schneematsch und kam schließlich vor dem Haus zum Stehen. Jake war knapp einsachtzig groß und wog um einiges mehr als bei seiner Hochzeit mit Becky Latimore. Er hatte graumeliertes Haar, einen Vollbart und die geschicktesten Chirurgenhände in Neuengland. Ein beeindruckender Mann. In den ersten Jahren seiner Ehe mit Becky hatte Holly solche Ehrfurcht vor ihm empfunden, daß sie ihn gesiezt hatte. Jetzt warf sie sich erleichtert in seine Arme. "Jake, ich bin ja so froh, daß du gekommen bist!" "Dein Freund braucht keinen Chirurgen", verkündete er. "Becky ist bei ihm geblieben. Ich dachte, ich schaue mal bei meiner Lieblingsschwägerin vorbei und frage, ob ich mich irgendwie nützlich machen kann." Als wäre sie federleicht, trug er sie ins Haus. Melody betrachtete ihn mit riesigen Augen. "Bist du aber groß! Bist du Hollys Freund?" "Nein", stellte Holly richtig. "Jake ist mit meiner Schwester Becky verheiratet." "Was für ein Glück!" Jake hatte erstaunt zugehört. "Worum geht's hier eigentlich?" "Sie möchte unbedingt, daß ich heirate", erklärte Holly. "Wie geht's Ralph?"
"Den Umständen entsprechend. Es ist ein glatter Bruch. Sobald der Gipsverband angelegt ist, darf er nach Hause." Jake zog den Mantel aus. "Vermutlich bringt Becky ihn nachher gleich mit. Wer ist denn nun dieser junge Mann, der den ganzen Latimore-Clan durcheinanderbringt? Und was hast du mit ihm zu tun?" "Ich bin seine Haushälterin", antwortete sie. "Weiter nichts." "Wenn euer Verhältnis rein dienstlich ist, warum hast du dann uns gerufen - eine Kardiologin und einen Chirurgen? " "Ich wollte lediglich ein paar Informationen, wie man mit einem Mann mit gebrochenem Bein umgeht, doch ihr habt mich ja nicht zu Wort kommen lassen. Ihr behandelt mich immer noch wie ein kleines Kind, obwohl ich das schon lange nicht mehr bin." "Ich weiß, aber manchmal vergesse ich es einfach." "Was ist denn das - ein Chirurg?" fragte Melody neugierig. Eddie war eben hereingekommen und hatte ihre Frage gehört. "Du weißt aber auch gar nichts", meinte er herablassend. "Ein Chirurg ist ein Arzt, der Leute aufschneidet." "Du lügst!" rief Melody empört und machte Anstalten, auf ihren Bruder loszugehen. "Dafür sieht er viel zu nett aus." Ehe die Geschwister sich richtig in die Haare kriegen konnten, erschien Michael auf der Bildfläche. "Also, wo ist das Bett?" Hinter ihm tauchte Bruce Latimore auf. "Die sind ja noch größer!" Melody war überwältigt. "Das sind mein Vater und mein Bruder, Schatz." Aus dem Schatten trat jetzt noch ein großer Mann hervor. Holly traute ihren Augen nicht. Was machte Alfred Pleasanton denn hier? Wußte Michael, was er ihr da antat? Sie versuchte, sich unsichtbar zu machen. Bruce Latimore rieb sich die Hände. "Dann wollen wir mal. Holly, deine Mutter ist ebenfalls im Krankenhaus bei Ralph und wird nachher hierherkommen. Bis dahin sollten wir fertig sein,
sonst bekommen wir es mit ihr zu tun. Du weißt ja, daß sie manchmal etwas herrisch sein kann." "Nur gut, daß ich nichts davon geerbt habe", murmelte Holly. Sie verstand selbst nicht, warum sämtliche Männer sich plötzlich umdrehten und sie mit einem gewissen Blick betrachteten. "Ich würde sagen, wir räumen hier erst einmal die Möbel weg, damit Platz ist für die Sachen von oben", meinte Bruce Latimore. Eddie, der sich sonst vor jeder Art von Hausarbeit drückte, machte begeistert mit. Holly zog sich mit Melody in die Küche zurück und begann, Pizza für die ganze Mannschaft zu machen. "Warum durfte Eddie dableiben und ich nicht?" beschwerte sich Melody. "Nur weil ich ein Mädchen bin?" "Nein, weil er schon acht und ziemlich stark ist. Stell dir mal vor, einer dieser großen Männer rennt dich um. Da bist du hier bei mir viel besser aufgehoben. Männer sind für alle Dinge zuständig, für die man viel Kraft braucht." "Und zum Küssen", setzte Melody weise hinzu. Holly atmete tief durch. Hoffentlich merkte die Kleine nicht, daß sie feuerrot geworden war. "Möchtest du noch ein Stück Pizza?" Eine halbe Stunde später fuhr wieder ein Auto vor, und der Räumtrupp arbeitete auf einmal doppelt so schnell. Mary Kate Latimore war eingetroffen. Sie gab den Männern einige knappe Anweisungen und kam dann zu Holly in die Küche. Dort nahm sie auf Ralphs Lieblingsstuhl Platz. "Ist das Pizza, was ich da rieche?" "Erraten." "Riecht köstlich." Die Matriarchin der Latimores zog sich einen zweiten Stuhl heran und legte die kleinen Füße darauf. "Vielleicht erzählst du mir jetzt mal, was eigentlich passiert ist."
"Möchtest du eine Tasse Kaffee?" fragte Holly, um Zeit zu gewinnen. "Gern. Und dann möchte ich informiert werden. Umfassend." Mit diesem Ton hatte ihre Mutter im Gerichtssaal schon unzählige Zeugen eingeschüchtert. "Onkel Ralph war oben auf dem Hügel und hat gesagt, daß er uns jetzt zeigt, wie man ..." "Einen Salto auf Skiern macht", steuerte Eddie bei, der eben hereingekommen war. "Genau." Melody machte eine Pause. "Das ist mein Bruder Eddie. Er weiß ziemlich viel - für einen Jungen." "Putz dir die Nase, Melody", sagte er ungnädig. "Hab' ich schon. Jedenfalls ist Onkel Ralph losgefahren, und als er richtig schnell war, hat er einen Purzelbaum gemacht. Plötzlich hat etwas geknackst, und dann saß er auf dem Po und konnte nicht mehr aufstehen. Er hat zweimal ein Wort gesagt, für das Eddie und ich jedes Mal Strafe zahlen müssen, und dann ganz laut nach Holly geschrien." Melody machte eine Pause. "Eddie hat gemeint, Onkel Ralph soll es noch mal versuchen, aber Onkel Ralph konnte nicht aufstehen. Dann haben wir Holly geholt, und die hat den Krankenwagen gerufen." . "Schön hast du das erzählt", lobte Mary Kate. "Dann hat meine Tochter also die Situation gerettet? Das freut mich zuhören." "Holly bringt immer alles in Ordnung", warf Eddie ein. "Sie ist unsere Haushälterin. Das ist ein ganz schön harter Job." Mary Kate neigte den Kopf zur Seite. "Wenn mich nicht alles täuscht, kommt da eben meine andere Tochter mit dem Patienten." "Ach du meine Güte!" rief Holly. "So schnell hatte ich gar nicht damit gerechnet. Kinder, ihr bleibt am besten hier." Sie lief zur Haustür. Tatsächlich war Becky in ihrem alten blauen Kombi vorgefahren. Der Rücksitz war heruntergeklappt, und Ralph lag auf einer Trage auf der Ladefläche.
"Es ist nichts Ernstes", berichtete Becky. "Sie haben gut reden", brummte Ralph. "Ich leide Höllenqualen." "Das hast du davon, daß du vor den Kindern angeben wolltest", sagte Holly mitleidlos. "Wirklich ein schöner Empfang!" klagt e er. "Das hatte ich mir anders vorgestellt. Wie komme ich jetzt ins Haus?" "Du hast Glück. Die Möbelpacker sind noch da." Eine Stunde später hatte sich das Durcheinander gelegt. Die verschiedenen Latimores waren verschwunden. Nur Alfred Pleasanton war noch da. Ralph döste in seinem Bett, das jetzt im Wohnzimmer stand. Beide Kinder waren oben. "Was hat dich denn heute abend hierhergeführt?" fragte Holly nervös. Warum war Alfred nicht mit den anderen abgefahren? Er lachte. "Ich habe meinen Job bei Latimore Incorporated wieder und hörte, daß dein Bruder Hilfe braucht. Selbstverständlich habe ich mich freiwillig gemeldet." "Aha. Und jetzt?" "Auf mich wartet niemand zu Hause. Außerdem hielt ich die Gelegenheit für günstig, daß wir beide uns einmal in Ruhe unterhalten." "Worüber?" "Du bist ein sehr hübsches Mädchen." Seine laute Stimme hallte durchs ganze Erdgeschoß. Holly drückte sich tief in ihren Sessel, als er auf sie zukam und sich über sie beugte. "Wir beide haben nichts mehr zu besprechen", sagte sie fest. "Das habe ich dir schon vor einiger Zeit sehr deutlich gesagt." Sie stand auf. Daß sie einen Fehler gemacht hatte, merkte sie, als er ihr die Hände auf die Schulter legte und fest zudrückte. "Du gehörst mir." "Laß mich los!" Sie trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust, aber er hörte überhaupt nicht zu.
"Das zwischen uns war nur ein dummes Mißverständnis. Vergessen wir es, und machen wir da weiter, wo wir aufgehört haben." Er machte Anstalten, sie zu küssen. "Wage es ja nicht!" schrie sie. Überrascht ließ er sie los. "Was stellst du dich denn so an?" Durch das Umstellen der Möbel blieb nur noch der Fluchtweg in die Küche, und ausgerechnet dort stand er. "Wenn ich mich recht erinnerte, wolltest du mit mir ins Bett. Ich habe dir schon damals deutlich gesagt, daß das nicht in Frage kommt." "Holly, wir waren doch so gut wie verlobt. Was war Schlimmes daran, daß ich mir eine kleine Kostprobe genehmigen wollte?" "Kostprobe? Für mich war das versuchte Vergewaltigung!" "Du wirst sehen, Sex macht wirklich Spaß. Laß es doch einfach mal darauf ankommen." Holly überlegte fieberhaft, wie sie an ihm vorbeikommen konnte. Sie mußte ihn irgendwie austricksen, denn körperlich war er viel stärker als sie. "Ich bin sicher, daß es mir Spaß macht - mit dem Mann, den ich heiraten werde." "Der steht vor dir. Also, wie ist das jetzt mit der Kostprobe?" "Du willst mich offenbar nicht verstehen. Ich werde nicht dich heiraten, sondern Ralph. Verlobt sind wir schon." Sie deutete aufs Bett, ohne hinzusehen. Wie gut, daß Ralph fest schlief und nichts hörte! "Das ist doch wohl ein Witz! Diesen Kümmerling willst du heiraten?" "Der Wert eines Mannes bemißt sich keineswegs nur nach der Körpergröße." Alfred schüttelte benommen den Kopf. "Ich glaube dir nicht." "Das sollten Sie aber", ließ sich plötzlich eine Stimme von Bett her vernehmen.
Holly und Alfred fuhren erschrocken herum. Ralph hatte sich auf die Ellbogen gestützt. "Ich dachte, du wolltest noch etwas warten, bis wir es offiziell bekannt geben, Holly, aber wenn du es jetzt schon tust, soll es mir recht sein. Wer ist denn dieses lange Elend?" "A... Alfred", stotterte Holly. "Alfred Pleasanton. Er ..." "Ich weiß, was er will. Schließlich bin ich nicht taub." Ralph klopfte auf die Matratze. "Komm, Liebling, setz dich zu mir." Erleichtert schob sie sich an Alfred Pleasanton vorbei. Alfred plusterte sich auf wie ein wütender Truthahn. "Glauben Sie ja nicht, Sie können mich daran hindern, etwas zu tun, was ich will." "Onkel Ralph?" Eddie stand auf der Schwelle. In der Hand hielt er einen Gegenstand, den Holly nicht erkennen konnte. Sie wollte auf keinen Fall, daß Eddie in die Auseinandersetzung hineingezogen wurde, die sich zusammenbraute. Aus den Augenwinkeln sah sie das Gestell mit dem Schürhaken vor dem Kamin. Wenn sie sich einen davon schnappen konnte ... "Ist es das, was du wolltest, Onkel Ralph?" fragte Eddie. "Genau." Holly konnte immer noch nicht sehen, worüber die beiden sprachen. Ihr Blick ging zwischen dem Schürhaken und Alfred Pleasanton hin und her. Zu ihrer Überraschung wurde Alfred plötzlich blaß und machte einige Schritte zurück. "He, es war doch nur ein Scherz", sagte er schwach und hob schützend die Hände. "Ich würde ja auch lachen", sagte Ralph kalt, "wenn mein Fuß nicht so weh täte." Holly, die Alfred immer noch ganz verwirrt betrachtete, drehte sich um. Eddie stand grinsend neben dem Bett. Ralph hatte sich in die Kissen zurückfallen lassen. Er grinste ebenfalls. In der Hand hielt er eine Pistole. "Eddie!" rief sie entsetzt. "Wo kommt dieses Ding her?"
"Ich war oben im Bad und hörte, daß es hier Ärger gibt. Also habe ich es aus seinem Versteck geholt. Onkel Ralph wußte davon." "Ist die etwa geladen?" "Natürlich." Holly schluckte. "Alfred, du gehst jetzt wohl besser nach Hause." "Und kommen Sie bitte nicht wieder", setzte Ralph hinzu. "Ich ... Äh ... Ich weiß nicht, wo ich meinen Mantel gelassen habe." "Er hängt an der Garderobe im Flur. Leb wohl." Eddie vollführte eine Verbeugung. "Da ist die Tür." In diesem Moment wanderte Rex ins Zimmer. Eigentlich liebte er alle Menschen, wenn man einmal vom Briefträger ... und Alfred Pleasanton absah. Als er Alfred entdeckte, fletschte er die Zähne und knurrte. "Ich bin ja schon fort!" rief Alfred und ergriff die Flucht. "Sechsunddreißig Sekunden", stellte Ralph mit einem Blick auf den Wecker neben seinem Bett fest. "Von hier bis ins Auto. Für einen so großen Kerl gar keine schlechte Zeit. Schatz, du kannst deine Waffe jetzt weglegen." Erst jetzt merkte Holly, daß sie immer noch den Schürhaken umklammert hielt. "Ich habe Angst vor Feuerwaffen", sagte sie. "Ist diese hier wirklich geladen?" Ralph lachte. "Eigentlich nicht." Er und sein Neffe wechselten einen Blick. "Es wäre ja auch unverantwortlich, eine geladene Pistole in einem Haus aufzubewahren, wo Kinder sind. Vielen Dank für deine Hilfe, Eddie. Du kannst jetzt wieder ins Bett gehen." "Aber Onkel Ralph, sie ist wirklich ..." "Geh ins Bett, Eddie. Ich bin sehr stolz auf dich." Eddie nickte geschmeichelt. "Ich bin auch stolz auf mich." Holly machte einen Schritt aufs Bett zu. Aus der Nähe merkte sie, daß die Waffe etwas anders aussah als die, die sie aus
Krimiserien kannte. Trotzdem blieb sie auf der Hut. "Ist sie nun geladen oder nicht?" "Das werden wir gleich sehen." Ralph zielte auf ein Regal neben dem Spiegel, in dem ein Silberbecher stand. "Siehst du diesen Becher?" Holly nickte. Es klickte, doch der erwartete Knall blieb aus. Statt dessen schoß ein Strahl Wasser aus der Pistole und traf den Becher so genau, daß dieser ins Wanken geriet und schließlich herunterfiel. Ralph lachte schallend, als er ihr Gesicht sah. "Offenbar hatte Eddie noch keine Zeit, dir zu zeigen, was er alles zu Weihnachten bekommen hat." Allmählich ging ihr ein Licht auf. "Eine Wasserpistole? Du hast Alfred mit einer Wasserpistole vertrieben? Und dich dabei auf meine Kosten prächtig amüsiert? Oh, ich könnte dich ..." Ralph duckte sich. "Schlag hin, wo du willst, aber nicht auf mein Bein. Außerdem solltest du jetzt wirklich netter zu mir sein. Schließlich sind wir verlobt." "Wie bitte?" "Verlobt. Das kannst du doch nicht vergessen haben. Erst vor wenigen Minuten hast du es Alfred erzählt." "Das war doch nur ein Vorwand, um ihn loszuwerden!" Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Auf der Schwelle standen Eddie, Melody und Rex. "Was tut ihr denn um diese Zeit noch hier?" "Wir wollten mal sehen, was ihr beide so macht", antwortete Melody. Ralph überlegte einen Moment. Dann schmunzelte er. "Wir feiern. Holly und ich haben beschlossen zu heiraten. Was sagt ihr dazu?" " Wow!" Eddie rannte auf Holly zu und umarmte sie stürmisch. Melody sprang zu Ralph aufs Bett, schlang ihm die Arme um den Hals und begann herzerweichend zu schluchzen.
"Was ist denn los, mein Schatz?" fragte er bestürzt. "Ich dachte, du freust dich. Du hast Holly doch gern, oder nicht?" Unter Tränen nickte sie. "Schon, aber wenn ihr heiratet, werdet ihr euch eigene Kinder kommen lassen und uns gar nicht mehr haben wollen." "Das stimmt nicht!" Ralph zog sie an seine Schulter und strich ihr beruhigend übers Haar. "Selbst wenn Holly und ich eigene Kinder haben, bleibe ich immer noch euer Onkel Ralph, der euch beide lieb hat. Eddie versteht das, nicht wahr?" Eddie drückte sich an Holly. "Klar. Ich finde es klasse, daß du Onkel Ralph heiratest, Holly. Selbst wenn wir wieder bei unseren Eltern wohnen, können wir dich oft besuchen, und du machst uns dann Pizza, ja?" "Versprochen." Holly fragte sich, wie es sein würde, eigene Kinder zu haben. "Und nun", sagte Onkel Ralph streng, "brauche ich Ruhe. Holly, würdest du die beiden wieder nach oben ins Bett bringen? Anschließend kannst du dann mich zudecken." Ausnahmsweise war Holly nur mit halbem Herzen bei der Sache, als sie Eddie und Melody eine Geschichte vorlas. Ihr gingen so viele Dinge durch den Kopf - was Ralph gesagt und vor allem, was er nicht gesagt hatte. Sie dachte natürlich nicht im Traum daran, ihn zu heiraten. Lächerlich! Trotzdem machte sie sich im Bad noch einmal schön, ehe sie wieder hinunterging. Sie hätte sich die Mühe sparen können, denn Ralph schlief fest. Er schnarchte leise. Behutsam drehte sie sein Kissen so, daß sein Kopf auf der Seite lag, und das Schnarchen hörte auf. Auch ein Trick, den sie von ihrer Mutter gelernt hatte. Heiraten? Sie war erst vierundzwanzig Jahre alt. Alle ihre Schwestern waren bei ihrer Hochzeit wesentlich älter gewesen. Im Schein des Kaminfeuers war Ralphs Gesicht ganz weich. Er sah wirklich verflixt gut aus. Nach der Art zu urteilen, wie er mit Eddie und Melody umging, würde er außerdem ein guter Vater werden. Die Vorstellung erregte sie.
Am Fußende seines Bettes lagen zusätzliche Kissen. Holly holte sie sich, nahm eine Decke und streckte sich vor dem Kamin aus. Sie wachte erst auf, als Rex ihr am nächsten Morgen die Hand leckte.
VII Eine Woche nach der anderen verging, und schließlich war es Frühling. Ralph Browne verwandelte sich von einem geduldigen in einen übellaunigen Patienten. Je besser es ihm ging, desto schlimmer benahm er sich, und Holly wünschte, sie hätte ihn umgebracht, solange sie noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Das sagte sie leider etwas zu laut, während sie eines schönen Tages in der Küche Brotteig knetete, und Kinderohren hörten sie. "Du willst Onkel Ralph ermorden?" "Das hätte ich tun sollen." "Ich mag Onkel Ralph." "Ich auch - am liebsten gebraten mif einer scharfen Soße." Ausgerechnet in diesem Moment kam Hollys ahnungsloses Opfer zum zehntenmal an diesem Morgen in die Küche gehumpelt. "Holly, wo ist der Silberbecher mit der Gravur?" "Wenn ich mich recht erinnere, hast du den vom Regal geschossen." "Das ist der wichtigste Preis, den ich je beim Football gewonnen habe!" "Schau nicht mich an. Du hast ihn selbst mit Eddies Wasserpistole abgeschossen und in den Kamin befördert." "Im Kamin habe ich schon nachgesehen." "Paß auf!" rief Melody ihm zu. "Holly will dich ermorden, bis du ganz tot bist."
"Das hast du sicher falsch verstanden, mein Schatz. Holly wird mich nicht ermorden, sondern heiraten." "Aber wenn man heiratet, ist man doch nicht tot. Du hast doch gesagt, du machst ihn tot, stimmt's, Holly?" "Das habe ich nicht so gemeint", versicherte diese verlegen. "Wenn man zornig ist, sagt man manchmal komische Dinge. Wie wäre es, wenn du jetzt in dein Zimmer gehst und Hausaufgaben machst?" Melody zog einen Flunsch. Holly hatte in den letzten drei Monaten viel über Kinder gelernt und tat deshalb, als sähe sie nicht, daß Melody ihr die Zunge herausstreckte, ehe sie endgültig verschwand. "Was denn für Hausaufgaben?" fragte Ralph neugierig. "Sie geht doch noch gar nicht zur Schule." . "Aber sie wäre schrecklich gern schon so groß wie Eddie. Also stelle ich ihr jeden Ta g eine Hausaufgabe - ein Bilderbuch ansehen oder Fotos aus Zeitschriften ausschneiden und aufkleben. Damit ist sie für mindestens eine Stunde beschäftigt." "Du bist wirklich raffiniert." "Genauso hat es meine Mutter mit mir gemacht, als ich drei Jahre alt war und es kaum noch erwarten konnte, in die Schule zu kommen. Paß auf, daß du nicht fällst! Inzwischen müßtest du eigentlich gelernt haben, auf Krücken zu gehen." Er kam näher. "Hast du es wirklich auf mein Leben abgesehen?" "Und ob! Ralph Browne, du bist der schwierigste Mensch, mit dem ich je zu tun hatte. Oder sagen wir, der zweitschwierigste nach Alfred Pleasanton." "Nachdem ich ihn kennengelernt habe, verstehe ich, warum er auf deiner schwarzen Liste steht. Aber ich weiß immer noch nicht genau, was er dir eigentlich angetan hat." "Er wollte mich heiraten. Jedenfalls hat er das meiner Mutter gesagt." "Und was hat er zu dir gesagt?"
"Daß er keine Lust hat, auf die Hochzeitsnacht zu warten. Auf meine Antwort hin, daß er von mir keine Kostproben bekommt, wurde er zudringlich." "Mit anderen Worten, er hat versucht, dich zu vergewaltigen." "Ich möchte nicht darüber reden." Nachdenklich rieb er sich das Kinn. "Dann frage ich mich, wieso dein Bruder ihn mit hierhergebracht hat." "Michael weiß nicht, was passiert ist. Wenn ich es ihm erzählt hätte, hätte er sich Alfred sicher vorgeknöpft, und bei einem Mann, der so stark ist wie er, weiß man nie, wie das endet. Es wäre schrecklich, wenn mein einziger Bruder wegen Mordes verhaftet würde!" "Dann kann ich ja von Glück reden, daß du mich liebst", sagte er leise. "Was?" "Nicht so laut, Liebling. Eine Dame schreit nicht." "Du glaubst, ich liebe dich? Bei dir muß eine Schraube locker sein. Ich liebe deine Nichte und deinen Neffen, aber nicht dich!" Ralph verlagerte das Gewicht auf den Krücken. Plötzlich schien der Pantoffel, den er an seinem gesunden Fuß trug, ins Rutschen zu geraten. "Vorsicht!" Instinktiv streckte Holly die Arme aus. Ralph verlor endgültig das Gleichgewicht und sank gegen sie. Beide Krücken fielen zu Boden. "Halt dich fest!" rief sie, weil sie nicht wußte, was sie sonst sagen sollte. "Ja." Sein Mund war so dicht an ihrem Ohr, daß sie seinen Atem auf der Haut spüren konnte. Sogar seinen Herzschlag fühlte sie. Sein linker Arm rutschte von ihrer Schulter und lag plötzlich um ihre Taille. "Gleich geht's wieder", murmelte er. Was mache ich da? fragte sich Holly erschrocken. Was macht er? Das war eine rein rhetorische Frage, denn sie kannte die Antwort genau. Sie wollte es nur nicht zugeben, weil sie ihn dann loslassen müßte. Statt dessen faßte sie ihn fester.
Ralph schien an ihrem Körper entlangzugleiten. Irgendwann einmal war sein Gesicht auf gleicher Höhe, und im nächsten Augenblick lag sein Mund auf ihrem. Er schmeckte warm und feucht und nach irgendeinem Gewürz. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht plötzlich Eddie ins Haus gestürmt wäre. "Ich bin wieder da!" rief er und ließ seinen Ranzen auf den Boden fallen. "Was macht ihr denn da?" "Das ist ein Spiel nur für Erwachsene", antwortete sein Onkel Ralph streng. "Wieso bist du eigentlich schon da? Ich dachte, ihr habt bis um drei Schule." "Genau. Und jetzt ist es gleich halb vier. Ich weiß schon, was ihr macht - ihr knutscht. Holly, ich habe Hunger. Hast du was zu essen für mich?" "Natürlich. Deinem Onkel sind die Krücken weggerutscht, und ich mußte ihn auffangen", erklärte sie. "Schiebst du ihm mal einen Stuhl unter, damit ich ihn loslassen kann?" Eddie war deutlich anzusehen, daß diese Ausrede bei ihm nicht verfing, doch er tat wie geheißen. "Also, was kriege ich jetzt zu essen?" Holly kreiste mit den Schultern, um die verspannten Muskeln zu locken: "Wie wäre es mit einem Erdnußbuttersandwich?" "Gibt's heute keine Pizza?" fragte Eddie enttäuscht. "Ich kann doch nicht jeden Tag Pizza machen!" "Ach, ich hätte nichts dagegen", warf Ralph ein. "Schön scharf gewürzt mit Peperoni und Oliven ... Den Teig hast du doch ohnehin schon fertig." "Wenn wir heute Pizza essen, gibt's morgen kein frisches Brot." Diese Aussicht schien Onkel und Neffe nicht zu schrecken. Holly gab sich geschlagen. "Also gut, ich mache Pizza. Aber dann mußt du dich noch eine Weile gedulden, Eddie." Eine halbe Stunde später stand die Pizza auf dem Tisch. "Toll!" rief Eddie und schnupperte. "Ich wünschte, meine Mutter könnte sie so gut machen wie du, Holly."
"Vergiß nicht, daß sie schon vor dem Unfall ziemlich lange krank war", mahnte Holly. "Wer sich nicht wohl fühlt, hat meistens keinen Appetit und deshalb natürlich auch keinen Spaß am Kochen. Du wirst sehen, wenn sie erst wieder ganz gesund ist, wird sie euch viele leckere Sachen auftischen." Eddie nickte. "Kann ich mir schon ein Stück abschneiden, ehe Melody kommt?" "Nein", antwortete Holly streng. "Gegessen wird erst, wenn alle da sind. Geh und hol deine Schwester. Dann können wir anfangen." Die Tage im Hause Browne wurden schon lange nicht mehr durch den Computer geregelt. Statt dessen hatte Holly ihre eigene Routine entwickelt, die damit endete, daß sie die Kinder abends ins Bett brachte und ihnen dann noch etwas vorlas. Anschließend ging sie nach unten, um zu sehen, ob Ralph noch etwas brauchte. Er saß auf der Bettkante, neben sich auf dem Tisch das benutzte Geschirr vom Abendessen. "Ich bin wohl ein ziemlich anstrengender Patient", meinte er zerknirscht, "Das ist noch mild ausgedrückt." "Ich merke schon, wenn ich dich dazu überreden will, mit mir zum Altar zu gehen, muß ich mich bessern." "Und ob! Das heißt, ich gehe auf keinen Fall mit dir zum Altar. Ich ... ich glaube, ich will überhaupt nicht heiraten." "Natürlich." Ralph klopfte auf die Matratze neben sich, und obwohl sie wußte, daß es unklug war, setzte sie sich zu ihm. Fürsorglich legte er den Arm um sie. "Müde?" Sie ließ den Kopf an seine Schulter sinken. "Es ist mir ein Rätsel, wie meine Mutter es geschafft hat, fünf Kinder großzuziehen und nebenbei einen Beruf auszuüben. Ich bin schon mit zwei Kindern und einem Haushalt geschafft." "Vergiß nicht, daß deine Mutter Hilfe von deinem Vater hatte."
"Das stimmt." "Und sie liebten sich." "O ja. Sie lieben sich immer noch." "Wenn du dich eines Tages verliebst, wirst du merken, daß dann vieles auf einmal leichter geht. Liebe ebnet viele Wege." Holly lehnte sich an ihn. "Für einen Mann, der noch nie verliebt war, weißt du ziemlich gut Bescheid." "Ich war schon ein dutzendmal verliebt! Beim erstenmal ging ich noch in die Schule." "Vergiß nicht, daß ich dich damals schon kannte. Du warst ein richtiger Rabauke wie alle anderen Jungen in diesem Alter:" Doch die Neugier ließ sie nicht ruhen. "Woran hast du denn gemerkt, daß du dich in ein Mädchen verliebt hast?" "Zum Beispiel daran, daß es schön war, den Arm um sie zu legen. Daß in ihrer Gegenwart alle Anspannung von mir abfiel." Unwillkürlich mußte sie daran denken, daß er schon zu Schulzeiten häufiger den Arm um sie gelegt hatte. Wie hätte sich ihre Freundschaft wohl entwickelt, wenn es den Vorfall auf dem Ball nicht gegeben hätte? "Das ist doch nur Sex", sagte sie rasch, "Sex ist Teil einer Beziehung." "Jetzt klingst du wie Alfred Pleasanton", beschwerte sie sich. "Mußt du diesen Kerl ausgerechnet jetzt erwähnen? Wenn ich sage, daß Sex dazugehört, meine ich nicht, daß er überbewertet werden sollte. Viel wichtiger ist, daß man den Wunsch hat, einander nahe zu sein. So zum Beispiel." Im nächsten Moment hatte er sie behutsam geküßt, erst auf die Lippen, dann auf die Stirn. "Wie gefällt dir das?" "Ich weiß nicht recht..." "Sollte ich vielleicht etwas mehr Sex in den Kuß legen?" Ohne ihre Antwort abzuwarten, tat er es einfach. Dabei legte er ganz selbstverständlich die Hand auf ihre Brust. In Hollys Kopf schrillten Alarmglocken.
Doch gleich darauf ließ er sie wieder los. "Nun?" fragte er. "Wie hat dir das gefallen?" Sie rutschte ein Stück von ihm weg, zumindest so weit, daß sich ihre Schenkel nicht mehr berührten. Um Zeit zu gewinnen, räusperte sie sich ein paarmal. "Es ... es war ganz interessant." Um nicht noch einmal in Versuchung zu geraten, stand sie auf. "Wie wäre es mit noch einer Kostprobe?" "Nein, danke. Im Moment nicht. Für mich wird's Zeit, ins Bett zu gehen, und du ..." Weiter wußte sie nicht. Ralph nahm die Abfuhr gelassen hin. "Man kann nicht immer gewinnen. Vielleicht probieren wir's morgen einfach noch einmal?" "Vielleicht." Sie lehnte sich vor und küßte ihn auf die Stirn. Dann rannte sie schnell davon, ehe sie es sich anders überlegen konnte. "Feigling!" rief er ihr nach, womit er völlig recht hatte. Rex, der bereits auf dem Bettvorleger schlief, öffnete ein Auge, als sie durchs Zimmer tanzte. Am liebsten hätte sie laut gesungen, aber sie wollte es nicht riskieren, die Kinder zu wecken, weil diese garantiert eine Erklärung für ihr Verhalten verlangt hätten. Um Punkt sechs am nächsten Morgen wurde Holly aus dem Schlaf gerissen, weil Ralph nach ihr klingelte. Sie sprang aus dem Bett und lief nach unten. Wie am Abend zuvor saß er auf der Bettkante. "W as ist denn los?" "Ich kann es nicht finden?" Ungeduldig wühlte er unter der Decke. "Was kannst du nicht finden?" "Mein Modem." "Wie bitte?" "Mein Modem. Das ist ein technisches Gerät, mit dem ich Dateien aus dem Computer übers Telefon verschicken kann." Holly schüttelte den Kopf. "Hör mal, es ist sechs Uhr morgens. Die Kinder schlafen noch, und ich stehe
normalerweise auch erst eine Stunde später auf. Warum mußt du denn unbedingt jetzt eine Datei senden?" "Weil ich die Absicht habe, demnächst zu heiraten. Dazu muß ich wesentlich mehr Geld verdienen als jetzt." "Ich finde, du solltest zuerst nach einer Frau suchen, die bereit ist, dich zu heiraten." Sie ließ sich in einen Sessel am anderen Ende des Zimmers fallen. "Um diese Tageszeit wirst du jedenfalls keine finden." "Da wäre ich nicht so sicher. Außerdem habe ich sie schon gefunden." Holly verspürte einen Stich. Erst am Vorabend hatte sie ihn abgewiesen, und schon hatte er sich mit einer anderen getröstet? Das zeigte, wie wankelmütig er war. Gut, daß sie sich nicht mit ihm eingelassen hatte. "Gib mir mal das Telefon rüber", befahl er. "Wo, zum Teufel, ist das Modem?" Als sie ihm den Apparat brachte, entdeckte sie ein Stück Plastik, das unter seinem Pyjamabein hervorragte. "Ich glaube, du sitzt drauf." "Wie kommt das denn dahin?" fragte er verblüfft und zog das Teil heraus. Dann schloß er es an. "Weißt du zufällig die Faxnummer deines Bruders auswendig?" "Ja." Holly kannte auch alle wichtigen Telefonnummern von Latimore Incorporated. Sie diktierte ihm die Nummer und schaute zu, wie er sie eingab. "Michael wird die Nachricht finden, wenn er nachher ins Büro kommt." "Es würde mich nicht wundern, wenn er schon da wäre. In dieser Hinsicht gerät er nach meinem Vater. Der ist manchmal schon früh um fünf in die Firma gefahren. Meine Mutter fand das schrecklich." Ralph wartete, bis er den Faxton am anderen Ende hörte, und drückte dann auf die Taste "Senden" am Computer. Die
Maschine begann zu surren und schaltete sich nach einigen Minuten von selbst ab. "Deine Schwester Mattie hat gestern Abend aus dem Sudan angerufen und um Hilfe bei einem logistischen Problem beim Bau der Eisenbahn gebeten. Das ist die Antwort. Ich habe mit ihr vereinbart, daß ich sie über die Firmenzentrale schicke." "Du warst die ganze Nacht auf?" "Warum nicht? Mein Bein tat so weh, daß ich sowieso nicht schlafen konnte. Also habe ich lieber etwas Nützliches getan." Er stellte das Telefon auf den Nachttisch. "Holly, komm mal her." Sie schüttelte den Kopf. "Lieber nicht." Doch noch während sie sprach, machte sie bereits die ersten Schritte auf ihn zu. "Schau mir in die Augen", verlangte er. "Du und ich werden heiraten, hörst du." Seine Stimme war leise und beschwörend, doch Holly dachte nicht daran, sich hypnotisieren zu lassen. "Das glaubst auch nur du", entgegnete sie schnippisch. "Was möchtest du zum Frühstück?" Er grinste wie ein Schuljunge. "In diesem Aufzug willst du mir das Frühstück machen?" Holly blickte an sich hinunter. Sie trug ihr bequemstes Nachthemd, ein halb durchsichtiges kurzes Hemd, das von knapp oberhalb ihrer Brüste bis zur Hälfte der Oberschenkel reichte. Da sie vor der einzigen Lampe im Raum stand, zeichnete sich ihre Figur wie ein Scherenschnitt ab. "Ach, geh zum Teufel!" rief sie verlegen und flüchtete sich in die Küche, wo sie sich in eine große Schürze wickelte - gerade noch rechtzeitig, denn sie konnte das Tappen von Ralphs Krücken bereits im Flur hören. Er trat ein und ließ sich auf seinen Stuhl sinken. "Es war eine anstrengende Nacht", meinte er seufzend. "Ich bin froh, daß ic h diesen Auftrag erledigt habe. Manchmal steckt das Leben voller Probleme." "Die meisten sind hausgemacht", antwortete sie und wandte sich zum Herd. Die Kaffeemaschine hatte sie bereits am Abend
vorher gefüllt und vorhin nur noch eingeschaltet. Jetzt leuchtete die rote Lampe auf. "Möchtest du Kaffee?" "Gem." Sie nahm seine Henkeltasse aus dem Regal, schenkte Kaffee ein und gab dann einen Schuß Milch dazu. "Hast du Appetit auf Pfannkuchen?" "O ja! Ist noch was von dieser tollen portugiesischen Wurst übrig?" "Ja." "Dann esse ich Pfannkuchen, Wurst und drei oder vier Scheiben Toast." Holly machte sich an die Arbeit. Das Telefon an der Wand hinter Ralph klingelte. Er griff nach dem Hörer. "Hallo? Ja, hier ist Browne, Ralph Browne. Ein Telegramm? Vom Außenministerium in Washington? Dort kenne ich überhaupt niemanden. Ja, bitte lesen Sie es vor, und schicken Sie den Ausdruck dann mit der Post." Holly drehte sich zu ihm um. Seine Miene war angespannt. "Was ist denn los?" fragte sie, als er aufgelegt hatte. "Eloise", murmelte er. "Und ihr Mann Harry." "Du meinst, die Eltern von Eddie und Melody?" "Ja. Sie sind in Sanjeet, einer Provinz in den Ausläufern des Himalaja. Harry hatte sich drei Monate Urlaub genommen, damit Eloise sich richtig erholen konnte. Die Seen im Tal von Sanjeet gehören zu den schönsten der Welt, aber politisch ist die Gegend sehr unruhig, weil sich zwei Nachbarstaaten darüber streiten, wem das Tal gehört. Jetzt teilt mir das Außenministerium mit, daß ein Flugzeug, mit dem Eloise und Harry einen Ausflug zu den Seen unternommen haben, zur Landung gezwungen wurde und sämtliche Passagiere als Geiseln festgehalten werden. Ich kann es einfach nicht glauben seit Jahren ist Eloise krank, und kaum hat sie sich etwas erholt, muß so etwas passieren. Wer weiß, wann sie freikommen. Was soll ich nur den Kindern sagen?"
Holly überlegte. Als weltweit tätiges Unternehmen war Latimore Incorporated schon einige Male in politische Auseinandersetzungen verwickelt worden, doch eine Geiselnahme hatte es noch nie gegeben. "Melody sagen wir am besten gar nichts", meinte sie nach einer Weile, "und auch Eddie würde ich erst einweihen, wenn wir etwas mehr wissen." Ralph fuhr sich durchs Haar. "Bis auf weiteres bleiben die Kinder jedenfalls bei mir." Er griff nach seinen Krücken und zog sich hoch. "Ich helfe dir gern. Da ich noch keinen anderen Job habe, kann ich bleiben, solange ihr mich braucht. Wo gehst du denn hin?" "Ich muß jetzt eine Weile allein sein und nachdenken." "Natürlich." Sie biß sich auf die Lippe. "Ralph ..." "Ja?" "Wir brauchen auf alle Fälle detailliertere Informationen." "Was schlägst du denn vor? Sollen wir Spione in den Himalaja schicken?" fragte er spöttisch. "So albern ist der Gedanke gar nicht. Latimore Incorporated ist eine große Firma, Ralph. Als einige unserer Mitarbeiter im Iran festsaßen, haben wir sie herausgeholt und sicher wieder nach Hause gebracht." "Wir?" "Jedes Familienmitglied besitzt Anteile am Unternehmen, und deswegen identifizieren wir uns auch damit. Es würde mich nicht überraschen, wenn Latimore Incorporated auch in Sanjeet Kontakte hätte. Ich weiß genau, daß wir in Pakistan und Nepal vertreten sind." Holly griff nach dem Telefonhörer. Ralph hatte sich wieder hingesetzt. "Wen rufst du denn an?" "Na ja, Dad ist für Spezialprojekte zuständig, Mattie für alles Technische und Michael für die Geschäftsführung." "Dann wirst du also Michael um Hilfe bitten?" "Nein. In dieser Krise wende ich mich gleich an die Spitze. Ich rufe meine Mutter an."
Mary Kate Latimore begrüßte ihre jüngste Tochter freudig. "Hallo, Schatz. Gerade haben wir von dir gesprochen. Becky ist nämlich hier. Was hast du denn auf dem Herzen?" Holly beschrieb das Problem. "Das ist wirklich eine vertrackte Situation. Ich will sehen, was ich tun kann. Wie heißen die Leute noch einmal?" "Jakowski. Harry und Eloise Jakowski.'' "Du hörst von mir. Übrigens, Becky möchte wissen, wie es dem Patienten geht." "Seine Laune könnte besser sein, aber mit den Kindern hat er eine Engelsgeduld." Holly senkte die Stimme. "Sag mal, erinnerst du dich noch an ihn aus der Zeit, als wir zusammen zur Schule gingen?" "Sehr gut sogar. Eine Zeitlang war ich sehr böse auf ihn, aber dann kam er eines Tages zu mir und hat mir alles erklärt. Wirklich ein netter junger Mann." "Geheimnisse?" fragte Ralph. "Ich gehe mal einen Moment an die frische Luft." "Das ist eine gute Idee." "Wie bitte?" fragte ihre Mutter. "Ich habe nur gerade mit Ralph gesprochen. Er will ein bißchen ins Freie." "So", meinte ihre Mutter. "Gibt es außer Ralphs vermißten Verwandten noch einen Grund für deinen Anruf?" Nicht zum erstenmal staunte Holly über Mary Kates Hellsichtigkeit. "Den gibt es tatsächlich. Ich wollte dich etwas fragen." "Dann laß mal hören." "Ralph bittet mich immer wieder, ihn zu heiraten. Was sagst du dazu?" "Nun ja, du bist um einiges jünger als deine Schwestern bei ihren Hochzeiten. Und viel jünger als ich. Was meinst du denn selbst zu der Sache?"
Holly zögerte. "Ich weiß nicht. Manchmal macht er mir angst." "Heißt das, er bedroht dich oder setzt dich unter Druck?" "Nein, überhaupt nicht. Er ... er küßt mich, und manchmal sagt er Dinge, die mich ganz verlegen machen. Und er berührt mich gern." "Aha, da scheint Sex im Spiel zu sein." "So könnte man es ausdrücken." "Hör zu, Kind, die körperliche Seite der Liebe kann wunderschön sein. Du sagst, er kann gut mit Kindern umgehen?" "Ja." "Und du möchtest selbst gern Kinder haben?" "Das weißt du doch." Mary Kate überlegte kurz. "Becky ist sowieso auf dem Weg zu euch. Sie hat gestern mit einem Kollegen aus der Orthopädie der Morton-Klinik gesprochen, und er möchte noch eine Röntgenaufnahme von Ralphs Bein machen. Da euer Haus auf ihrem Weg liegt, hat sie sich erboten, Ralph hinzubringen. Ich komme einfach mit. Was sagst du dazu?" "Ich bin froh, daß du meine Mutter bist." Plötzlich hatte Holly einen dicken Kloß im Hals. "Danke für das Kompliment. Ich werde mich gleich ans Telefon hängen. Vielleicht habe ich schon erste Informationen über Eloise und Harry, wenn ich nachher komme." Ralph kam wieder in die Küche. "Was hat sie gesagt?" "Daß sie gleich aktiv wird. Sie kommt übrigens nachher mit Becky her. Becky wird dich in die Klinik fahren, damit dein Bein noch einmal geröntgt werden kann." "Ehe deine Familie in Scharen hier eintrifft, ziehst du dich besser an", schlug er schmunzelnd vor. "Von mir aus könntest du den ganzen Tag im Nachthemd herumlaufen, aber auf deine Mutter macht das vielleicht den falschen Eindruck."
Holly zog die Schürze fester, die verrutscht war und mehr von ihr zeigte, als ihr lieb war. "Meine Mutter meinte auch, du wärst ein netter Mann. Wie sie darauf kommt, kann ich mir gar nicht erklären." "Wieso?" fragte er verwundert. "Ich bin doch nett."
VIII Der Aprilwind brauste durch die blühenden Bäume vor dem Haus und ließ die jungen Blätter tanzen. Von ihrem Zimmer aus hörte Holly einen Wagen. Als sie nach unten lief, traf sie ihre Mutter an der Tür. "Kein Grund zur Eile", sagte Mary Kate Latimore. "Becky und Ralph sind gleich weitergefahren." "Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee? Die Kinder haben schon gefrühstückt und ..." Auf der Treppe war Getrappel zu hören. Holly zog ihre Mutter Vorsichtshalber zur Seite, als Eddie angestürmt kam. Er gab Holly einen Kuß auf die Wange, schnappte sich den Beutel mit seinem Pausenbrot und war auch schon fort. Melody sprang von der dritten Treppenstufe in Hollys ausgestreckte Arme. "Holly kann ganz prima fangen", sagte sie zu Mary Kate. "Das habe ich ihr beigebracht." "Wahrscheinlich liegt es dran, daß sie als Kind auch oft so gesprungen ist", meinte Mary Kate. "Natürlich war ihr Vater ein größeres Ziel." "Und ein viel besserer Fänger." Melody nahm sich ein Glas Orangensaft und stürzte es in einem Zug hinunter. "Holly ist meine Mom", erklärte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. "Und ich bin Hollys Mutter", sagte Mary Kate lächelnd.
Die Kleine blickte prüfend zwischen den beiden hin und her. "Das sieht man aber gar nicht. Du hast ganz andere Haare." Der Computer gab ein leises Summen von sich. Melody holte ein Bilderbuch aus dem Regal. "Ich muß jetzt meine Hausaufgaben machen." Versonnen trank Mary Kate einen Schluck Kaffee. "Hausaufgaben?" "Diese Methode habe ich von dir übernommen", antwortete Holly. "Bei mir hat sie schließlich funktioniert." "Ich hatte mich schon gefragt, wie wir uns in Ruhe unterhalten sollen, wenn Melody dabei ist." "Wir haben eine Stunde für uns. Du kannst also loslegen." "Das Wichtigste zuerst. Die Kinder lieben dich. Du bist in den letzten Wochen viel erwachsener geworden. Reifer. Aber mir ist aufgefallen, daß Melody Mom zu dir sagt." "Das tut sie seit einiger Zeit. Ich weiß selbst nicht, wie sie daraufkommt." "Sie ist noch sehr klein, Holly, und braucht einen Menschen, der ganz ihr gehört. Ich frage mich nur, was passieren wird, wenn ihre richtige Mutter wieder nach Hause kommt." "Das habe ich mir auch schon überlegt. Vielleicht macht Melody gerade nur eine Phase durch, in der sie besonders anlehnungsbedürftig ist. Niemand hat ihr gesagt, daß sie mich Mom nennen soll. Ihr Bruder Eddie tut es nicht. Weißt du, Melody ist erst drei Jahre alt und schon seit vielen Monaten von ihrer Mutter getrennt." "Schatz, du darfst nicht denken, daß ich dir irgendeinen Vorwurf mache. Du solltest einfach vorsichtig sein. Aber das ist nicht der Grund, warum ich gekommen bin. Laß uns über das reden, was dir Sorgen macht, und das kleine Mädchen für eine Weile beiseite lassen." Mary Kate tat einen tiefen Atemzug. "Zu der Zeit, als vor unserem Haus noch der Stumpf einer großen Eiche stand, kam eines Tages ein Mann zu uns ..."
Und so begann die Geschichte der großen Liebe zwischen Mary Kate Chase und Bruce Latimore. Alle drei oder vier Minuten warf Holly ein: "Hast du das wirklich gemacht?" oder "Nicht möglich!" Als die Stunde vorbei war, war Holly wesentlich besser über das informiert, was Männer und Frauen zusammen taten. "So war es also bei uns", schloß ihre Mutter. "Wenig später haben wir geheiratet." Der Summer ertönte. Über ihren Köpfen hörten sie kleine Füße und dann das Klappen der Badezimmertür. "Ich versuche, Melody an regelmäßige Toilettenbesuche zu gewöhnen", erklärte Holly, "damit sich eine Katastrophe wie neulich im Einkaufszentrum nicht wiederholt. Meinst du wirklich, ich sollte Ralph heiraten?" "Das mußt du selbst entscheiden. Jeder Mensch erlebt die Liebe anders. Aber wenn du ihn heiratest, mußt du ihn so nehmen, wie er ist. Eine Ehe, die damit beginnt, daß einer den anderen ändern will, wird nicht gutgehen. Hat er dir überhaupt schon einen Antrag gemacht?" "Mehr als einen. Und ich glaube ..." "Was denn?" "Wenn er es noch einmal tut, werde ich ja sagen." Ihre Mut ter strich ihr über die Hand. "Hauptsache, ihr überstürzt es nicht. Deine Schwestern wollen bestimmt alle zur Hochzeit kommen." "Was wird Dad sagen?" "Er wird sich freuen, das weiß ich." Die beiden Frauen lächelten sich an. "Gibt's eine Hochzeit?" fragte Melody. Weder Holly noch ihre Mutter hatten sie kommen hören. "Vielleicht", antwortete Holly vorsichtig. "Aber es ist noch ein Geheimnis. Du darfst es also niemandem sagen, vor allem nicht deinem Onkel Ralph." "Ist gut. Mom, was machen wir heute morgen?"
"Wir backen Brot. Gestern ist nichts daraus geworden, weil der Teig für Pizza verwendet wird." "Von mir aus können wir auch wieder Pizza machen", meinte Melody. Lachend zerzauste Holly ihr das Haar. "Ganz bestimmt nicht." Melody baute sich vor Mary Kate auf. "Bist du wirklich Hollys Mom?" "Ganz ehrlich." "Dann bist du meine Oma." "Nicht direkt", antwortete Mary Kate. "Aber wenn du willst, kannst du Oma zu mir sagen." "Au ja!" Die Haustür klappte. Ralph erschien, dicht gefolgt von Becky. Er ging ohne Krücken, sondern nur noch mit einem Stock. Der Gipsverband war verschwunden. "Onkel Ralph!" Melody rannte auf ihn zu. "Du bist wieder gesund!" Er fing sie auf. "Jedenfalls auf dem besten Wege dazu." "Vorsicht", warnte Becky. "Für akrobatische Einlagen ist es noch ein bißchen früh. Ma, ich muß leider zum Aufbruch drängen, weil ich einen Termin habe." Mary Kate stand auf. "Kein Problem. Holly und ich waren sowieso fertig." "Ich weiß ein Geheimnis!" schrie Melody. "Das muß ich aber flüstern." "Dann sag's mir ins Ohr", meinte Ralph. "Melody", warnte Holly, aber es war bereits zu spät. "Holly wird heiraten." Melodys "Flüstern" durchdrang die Küche. "Ich hab' dir ja gesagt, daß du nicht so lange warten darfst." Ralphs Lächeln erstarb. "Stimmt das?" Seine Augen waren schmal geworden."
"Klar stimmt's!" rief Melody empört. "Ich hab's selber gehört." Mary Kate hakte ihre älteste Tochter unter. "Komm, Becky. Wir sind hier überflüssig." "Ihr seid feige!" zischte Holly, aber im nächsten Moment waren die beiden fort. Ralph hatte sich hingesetzt. "Melody, ich glaube, du hättest mir dein Geheimnis lieber nicht verraten sollen." Als Melody ihren Nachmittagsschlaf hielt, nahm Holly ihren ganzen Mut zusammen und ging zu Ralph. Um ihn milde zu stimmen, brachte sie ihm eine Tasse Kaffee. "Danke", sagte er, ohne sie anzusehen. "Ich ... Wir werden dich vermissen," , Holly trug Rock und Bluse und als besondere Note eine Fliege im gleichen Muster wie der Rock. Sie setzte sich in seinen Lehnsessel. "So?" "Na ja, du bist schon seit über drei Mona ten hier ..." "Willst du mich etwa entlassen?" "Ich dich entlassen? Sei nicht albern! Ich bezweifle nur, daß dein Bräutigam damit einverstanden wäre, daß du weiterhin hier wohnst." "Warum denn nicht?" "Das fragst du noch? Wer ist es überhaupt? Hoffentlich nicht dieser Kerl, den dein Bruder damals mitgebracht hat." "Alfred Pleasanton? Ehe ich den heirate, gehe ich lieber ins Kloster." "Wer ist es dann? Jemand, den ich kenne?" Es klang nicht, als wäre er besonders interessiert. "Ich denke schon. Es ist jemand von hier." "Das ist gut. Ich finde, es ist besser, jemanden zu heiraten, der aus der gleichen Gegend stammt." Er griff nach der Zeitung und schlug den Sportteil auf. Holly stand auf. Ralph rührte sich nicht. "Ich werde mal anfangen, das Abendessen zu machen."
Er brummte etwas Unverständliches. Sie warf den Kopf zurück, daß ihr Haar flog, doch er sah gar nicht hin. Als sie in der Küche angekommen war, erklang nebenan ein splitterndes Geräusch. Automatisch zog sie den Kopf ein. "Was ist denn?" rief sie. "Gar nichts. Mir ist nur die Tasse heruntergefallen." Von wegen heruntergefallen, dachte sie und schlug ihr Rezeptbuch auf. Was sollte sie heute Abend kochen? Schließlich entschied sie sich für Hamburger und klappte das Buch wieder zu. Die konnte sie im Schlaf zubereiten. Indianergeheul kündigte Eddies Rückkehr an. "Nicht so laut", zischte Holly. "Melody schläft." Vielleicht machte Ralph auch ein Nickerchen. Zu wünschen wäre es jedenfalls. Übertrieben vorsichtig schlich Eddie auf Zehenspitzen in die Küche und flüsterte: "Onkel Ralph auch?" "Vermutlich." "Ich habe Hunger!" "Schon wieder? Hast du denn dein Pausenbrot nicht gegessen?" "Doch. Früher habe ich immer mit den anderen Kindern getauscht, aber deine Brote sind so gut, daß ich sie lieber selber esse. Gibt's vielleicht irgend etwas zum Knabbern?" "Nimm dir drei Kekse aus der Dose. Aber nicht mehr, hörst du?" "Ich weiß nicht, wie wir jemals ohne dich ausgekommen sind", meinte er und griff mit beiden Händen hinein. Holly hielt es für klüger, die Beute nicht nachzuzählen, mit der er sich davonmachte. Das Telefon klingelte. Rasch griff sie nach dem Hörer, damit die Mittagsschläfer nicht aufwachten. "Hallo?" "Spreche ich mit Miss Latimore? Hier ist Peter Foster von Latimore Incorporäted."
"Hier ist Holly Latimore. Mr. Foster, haben Sie Neuigkeiten für mich?" "Eben ist eine eigenartige Mitteilung von unserem Mann in Geetan eingegangen." Geetan? überlegte Holly fieberhaft. "In Sanjestan", setzte er hinzu. "Ach ja, natürlich. Können Sie mir den Text vorlesen?" "Gern, aber er ist in einem Code verfaßt, den wir hier nicht entschlüsseln können." "Fangen Sie einfach an." Er begann mit einer Zahlenreihe, unter der Holly sich gar nichts vorstellen konnte - bis er am Ende zu einer Buchstabenkombination kam: "H.L. - Frage G.O." "Mr. Foster, ich rufe Sie zurück. Haben Sie Vertrauen in unsere Leute in Geetan?" "Unser bester Mann ist dort, Miss Latimore. Er hat damals die Rettungsaktion für unsere Mitarbeiter aus dem Iran koordiniert. Ich werde nichts unternehmen, bis ich von Ihnen höre." Ich muß Ralph informieren, dachte Holly. Und Vater. Aber zuerst sollte ich versuchen, den Text zu entschlüsseln. Als Kinder hatten sie und Michael einen Code entwickelt, in dem jede Zahl für einen Buchstaben des Alphabets stand, und zwar in umgekehrter Reihenfolge, l bedeutete Z, 2 Y und so weiter. Holly war nur verblüfft, daß der Firmenvertreter in Geetan diesen Code kannte. Wer war er wohl? Sie begann zu schreiben. Nach einer Viertelstunde hatte sie die Nachricht entziffert: Flugzeug fünfundzwanzig Kilometer vor Geetan durch Stinger-Raketen zur Landung gezwungen. Alle Passagiere am Leben, einige sind verletzt. Beide Jakowskis in gutem Zustand. Entführer Mitglieder einer kommunistischen Guerillabande. Verlangen eine Million englische Pfund für die Freilassung
sämtlicher Geiseln. Habe wenig Vertrauen in ihre Zusagen. Militär in Geetan' würde helfen. Sollen wir aktiv werden? Holly atmete tief durch. Der Wechselkurs des Pfundes zum Dollar stand bei einseinundsechzig. Das bedeutete, die Entführer verlangten etwa 1,6 Millionen Dollar. Sie schrieb die Summe auf und ging zu Ralph. Er lag zusammengerollt auf der Seite. "Ralph?" "Ja, was ist?" "Ich hatte gerade einen Anruf von der Firma mit einer Nachricht aus Sanjestan." Sie reichte ihm das Blatt Papier. Er blinzelte. "Ich kann deine Schrift nicht besonders gut lesen. Erzähl mir doch einfach, was drinsteht." "Sämtliche Insassen des Flugzeugs sind noch am Leben, einige allerdings verletzt. Deinen Verwandten geht es gut. Sie sind in der Gewalt von Guerillas, die 1,6 Millionen Dollar für ihre Freilassung verlangen." Ralph pfiff leise durch die Zähne. "Das ist eine Menge Geld." "Ich weiß, aber wir haben schon größere Summen bezahlt. Wie sich herausgestellt hat, sind mehrere der Passagiere Angestellte von uns, und es ist einer unserer Firmengrundsätze, daß wir unsere Leute unter allen Umständen nach Hause holen. Vielleicht können wir die Summe durch Verhandlungen noch drücken." "Was ist deine Meinung?" "Unser Mann in Geetan sagt, er traut den Entführern nicht. Wir müssen entweder zahlen, oder wir schicken einen Rettungstrupp hin, der die Leute herausholt. Einfach abzuwarten und nichts zu tun wäre zu gefährlich." "Schlägst du etwa vor, daß wir unsere eigene Armee zusammenstellen?" "Nicht zusammenstellen, sondern mieten. Wir haben das schon öfter gemacht."
Ralph betrachtete sie erstaunt. "Von dieser Seite kenne ich dich gar nicht." "Man lernt eben nie aus", sagte sie trocken. "Was machen wir also als nächstes?" "Ich rufe Michael an. Er wird entscheiden, wie wir vorgehen." "Bekomme ich vorher einen Kuß?" fragte er. Holly hob die Hand. "Keine Küsse. Schließlich werde ich demnächst heiraten." Wenn Ralph nicht weiß, wen, dann ist er selbst schuld, dachte sie. Ehe er noch einen Kuß bekommt, will ich erst hören, daß er mich liebt. Ralph bestand den Test wieder nicht. "Ach ja, das hatte ich ganz vergessen", sagte er und drehte sich auf die Seite. Holly griff nach dem Telefon. Michael war überraschend zu einer Besprechung nach Venezuela geflogen. Ihr Vater begleitete ihre Mutter zu einer Richtertagung auf Hawaii. Natürlich, dachte Holly, Mutter hat schon vor Wochen davon gesprochen. Becky hatte ihren Sitz im Vorstand von Latimore Incorporated niedergelegt, als sie sich als Ärztin niedergelassen hatte. Faith lebte in der Karibik und kam nur zu wichtigen Konferenzen nach Boston. Mattie war im Sudan nicht zu erreichen. "Ist denn überhaupt niemand von deiner Familie zu erreichen?" fragte Ralph unwirsch. "Offenbar nicht." Holly blieb gelassen. "Dann werde ich eben die Entscheidung treffen." "Du?" fragte er verblüfft. "Ja. Ich bin Vizepräsidentin des Unternehmens und als solche weisungsbefugt." Sie wählte die Nummer der Zentrale und ließ sich mit Peter Foster verbinden. "Mr. Foster? Hier ist Holly Latimore. Bitte senden Sie eine Nachricht an unseren Mann in Geetan. Er soll aktiv werden." Ralph hatte ihr staunend zugehört. "Du kannst einfach über eineinhalb Millionen Dollar verfügen?"
"Vielleicht wird es ja auch billiger. Wenn wir Glück haben, kostet es gar nichts." "Möglicherweise haben die Entführer ihren Preis inzwischen auch verdoppelt", sagte er düster. "Kann sein, aber das braucht dich nicht zu kümmern. Wir werden die Geiseln befreien - so oder so. Jetzt muß ich mich aber ums Abendessen kümmern." Es war lange her, daß Holly die Macht, die sie als Mitinhaberin von Latiniore Incorporated besaß, ausgeübt hatte. Beim letzten Mal war sie erst sechzehn Jahre alt gewesen und hatte durch ihr Eingreifen den Bau einer Straße durch ein Naturschutzgebiet verhindert. Als ihr Vater fünf Tage später nach Hause gekommen war, hatte sie sich vor lauter Angst im Kleiderschrank versteckt. Doch er hatte nur verlangt, daß sie ihr Vorgehen begründete. Also hatte sie ihren ganzen Mut zusammengenommen und ihren Eltern und Michael schlüssig bewiesen, daß es auch eine dem Naturschutz zuträglichere Lösung gab. Bei der nächsten Hauptversammlung war sie zur Vorsitzenden des Umweltausschusses gewählt worden. Der Computer summte, auf der Treppe war Kindergetrappel zu hören, und dicht an ihrem Ohr hörte sie eine tiefe Stimme. "Sind Hamburger immer so dunkel?" "Ach, sei still", fauchte sie und rettete das Abendessen vor dem endgültigen Verbrennen. "Du fühlst dich wohl auf einmal sehr stark", meinte Ralph amüsiert und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. "Das wagst du auch nur, weil ich gerade die Hände voll habe!" "Genau." Er küßte eine ihrer flammenden Wangen und schickte sich an, es auch auf der anderen Seite zu tun. Holly setzte die Platte mit den Hamburgern auf dem Tisch ab und schob ihn weg. "Wenn ich mich recht erinnere, haben die Ärzte gesagt, daß du dich noch schonen sollst. Ein Tritt gegen
das Schienbein dürfte dich bis auf weiteres außer Gefecht setzen." Ralph wich erschrocken zurück. "Ich habe doch nur Spaß gemacht." "Von wegen! Setz dich hin." Er setzte sich. Die Kinder erschienen. "Habt ihr euch die Hände gewaschen?" fragte Holly. Treuherzig streckten sie sie ihr entgegen. Eddies Finger waren blitzsauber. Sogar die Nägel hatte er gereinigt. Melody hatte es wie immer nicht so genau genommen und das Abtrocknen vergessen. Holly nahm einen Schürzenzipfel und holte das nach. "So, jetzt bist du tischfein. Gib mir einen Kuß, und setz dich hin." "Ja, Mom." Über Melodys Kopf hinweg sah Holly, daß Ralph die Stirn runzelte. "Was soll ich machen?" formte sie mit den Lippen. Er zuckte ratlos mit den Schultern. "Hamburger!" rief Melody. "Klasse, Mom!" "Du kriegst aber nur welche, wenn du auch deinen grünen Salat ißt", sagte Eddie. "Außerdem ist Holly nicht deine Mom. Sie ist überhaupt nicht mit uns verwandt." Melody stellte ihr Milchglas so abrupt ab, daß der Inhalt überschwappte. "Du bist gemein, Eddie! Natürlich ist Holly meine Mom." "Ist sie nicht!" "Doch! Onkel Ralph, sag du es ihm." "Also weißt du ..." Ralph verstummte hilflos. Holly ergriff die Initiative. "Eure Mutter ist Eloise, Onkel Ralphs Schwester. Aber da sie nicht da ist, habe ich nichts dagegen, sie für eine Weile zu vertreten." "Siehst du, Eddie!" rief Melody triumphierend. "Holly ist meine Mom!"
Diesmal gab sich ihr Bruder nicht so leicht geschlagen. "Du bist doch wirklich dumm. Wenn wir zwei verschiedene Mütter hätten, wären wir gar nicht Bruder und Schwester." "Ich brauche keinen Bruder!" schrie Melody und brach in Tränen aus. Ihr Milchglas fiel um, und der Inhalt ergoß sich über den Tisch. Sie sprang auf und rannte hinaus. Holly machte Anstalten, ihr zu folgen, doch Ralph schüttelte den Kopf. "Du hast doch noch gar nichts gegessen. Ich gehe zu ihr." "Rühr sie ja nicht an!" rief Holly. Ralph Browne tupfte sich die Milchflecken vom Hemd. "Ich habe noch nie einer Frau etwas getan. Aber wenn du und Melody so weitermacht, ändert sich das vielleicht." Er nahm seinen Stock und folgte Melody. Holly saß ganz benommen da. "Wie ist denn das passiert?" Eddie setzte sich neben sie und legte ihr tröstend, den Arm um die Schultern. "Melody wird sich schon wieder beruhigen. Sie ist wirklich noch sehr klein. Fang du jetzt bloß nicht an, auch zu weinen." "Bestimmt nicht." Verstohlen tupfte sich Holly eine Träne ab. Dabei hatte sie sich doch vorgenommen, nicht mehr zu weinen, solange sie in diesem Haus war. Eddie kletterte auf ihren Schoß und schlang ihr die Arme um den Hals. "Weißt du was?" "Was denn?" "Ich vermisse meine Eltern. Sie sind schon so lange weg." "Das kann ich verstehen." Holly wünschte, sie könnte ihm sagen, daß Eloise und Harry bald wiederkommen würden, aber angesichts der jüngsten Entwicklung wagte sie das nicht. "Ich vermisse meine Eltern heute noch, wenn sie längere Zeit auf Reisen sind." Ralph kam herein. "Wie geht's ihr?" fragte Holly beklommen.
"Ich weiß es nicht." Er seufzte. "Sie hat noch eine Weile geweint und immer wieder gesagt, daß du ihre Mutter bist. Dann ist sie eingeschlafen." "Für ein Mädchen ist sie gar nicht so übel", sagte Eddie großmütig. "Eigentlich mag ich sie sogar ganz gern. Wenn Mom nach Hause kommt, wird Melody wieder wissen, wo sie hingehört. Aber dich, Holly, haben wir auch ganz doll lieb." In jener Nacht hatte Holly das Gefühl zu schweben, als sie die Treppe hinaufstieg. Am Fuß stand Ralph Browne und sah ihr nach.
IX Ein Monat verstrich, und der launische April ging in einen strahlenden Mai über. Die Wiese hinter dem Haus war gelb von Löwenzahn. Holly öffnete sämtliche Fenster mit Ausnahme derer in Ralphs Arbeitszimmer. Nicht einmal sie wagte es, diesen Raum zu betreten. Eddie war so gewachsen, daß er neue Jeans brauchte. Er wurde in die Baseballmannschaft der Schule aufgenommen und zum Anführer der Pfadfinder gewählt. Melody folgte Holly wie ein Schatten durchs Haus und klammerte sich an ihr fest, sobald ein Fremder kam. Am 2. Mai traf ein Telegramm aus Geetan ein. Es bestand nur aus einem Wort: "Geschafft". Acht Tage später fuhr ein Auto vor. Eddie war in der Schule, und Ralph brütete über seinem Computer. Holly saugte Staub im Flur und öffnete die Tür, als es klingelte. "Ja bitte?" fragte sie und schaltete das Gerät aus. Die Frau war etwas einssechzig groß und sehr schick angezogen. Um Augen und Mund hatte sie feine Linien. Ihr kastanienbraunes Haar hatte den gleichen Ton wie Eddies. Sie schien überrascht, Holly zu sehen. "Ich möchte zu Ralph Browne." "Der sitzt oben an seinem Computer", antwortete Holly, "und will nicht gestört werden. Wenn Sie mir vielleicht sagen könnten, worum es geht..."
"Natürlich." Die Frau drehte den Kopf zur Seite. "Ist das dort Melody?" Melody stand auf der Treppe, den Daumen im Mund. "Melody, mein Liebling, du bist so gewachsen, daß ich dich kaum wiedererkenne! Komm zu Mom!" Melody versteckte sich hinter Holly. "Du bist nicht meine Mom! Holly ist meine Mom." "Ach du lieber Himmel", murmelte Holly. "Sind Sie Eloise?" Die Frau nickte. "Sie ist nicht meine Mom", sagte Melody trotzig. "Ist sie nicht." "Darüber reden wir später", sagte Holly bestimmt. "Entschuldigen Sie, Eloise, ich bin Holly Latimore, Ralphs Haushälterin. Wie Sie sehen, gibt es hier ein kleines Problem. Geht es Ihnen gut?" "Mir schon, aber Harry bekam bei der Rettungsaktion einen Schuß in den Fuß ab. Er wurde vom Flughafen direkt ins Krankenhaus in Boston gebracht. Da die Ärzte sagen, daß die Verletzung nicht ernst ist, bin ich gleich hergekommen. Ich konnte es einfach nicht mehr erwarten, die Kinder zu sehen. Sagten Sie Latimore? Sind Sie etwa die Holly Latimore, der wir unsere Rettung verdanken? Ein netter Mann namens Foster, der uns am Flughafen abholte, erwähnte Ihren Namen." "Ja, das bin ich. Eigentlich ist es nur ein Zufall, daß ich diejenige war, die die Rettungsaktion veranlaßt hat. Alle anderen Familienmitglieder waren nämlich verreist, als die Nachricht kam. Kommen Sie herein, Eloise, und setzen Sie sich. Nach der langen Reise sind Sie doch bestimmt ganz erschöpft." "Für Harry und mich sind Sie das wichtigste Mitglied der Familie Latimore", erklärte Eloise. "Wie geht's Eddie? Ist er auch da?" "Dem geht's wunderbar. Sie werden ihn kaum wiedererkennen, so ist er gewachsen. Im Moment ist er beim Baseballtraining, aber in einer Viertelstunde müßte er hiersein."
Melody zupfte Holly am Rock. "Sag, daß du meine Mom bist, Holly!" Holly setzte sich in den großen Schaukelstuhl und zog Melody auf ihren Schoß. "Vielleicht ist das nicht einfach für dich zu verstehen, mein Schatz, aber ich bin nicht deine Mutter. Ich habe sie nur vertreten, solange sie nicht da war. Jetzt ist sie wieder hier und wird für euch sorgen. Sie hat auch euren Dad mitgebracht. Bald werdet ihr alle zusammen wieder in eurem eigenen Haus wohnen." Melody schüttelte den Kopf und barg das Gesicht an Hollys Schulter. "Lassen Sie nur", meinte Eloise. "Sie wird sich mit der Zeit schon wieder an mich gewöhnen. Sagen Sie, ist Ralph wirklich nicht zu sprechen?" Holly schlug sich mit der Hand ge gen die Stirn. "Bitte entschuldigen Sie. In diesem Fall wird er natürlich eine Ausnahme machen. Sehen Sie den weißen Knopf dort an der Wand? Drücken Sie einfach drauf." Eloise tat wie geheißen. In der Küche gab es einen Klick im Computer, und im nächsten Augenblick schrillten im ganzen Haus Klingeln. Sogar Rex wachte auf und kam die Treppe herunter. Er betrachtete Eloise kurz und rieb dann seinen Kopf an ihrem Knie. Melody sah gespannt zu. Sie vertraute dem Hund. Wenn der die Fremde akzeptierte, konnte sie es vielleicht auch wagen ... Sie nahm den Daumen aus dem Mund. In diesem Moment kam Eddie ins Haus gestürmt. "Holly! " schrie er. "Ich habe einen Homerun gehabt und ..." Als er sah, wer da war, blieb er wie angewurzelt stehen. Dann begannen seine Augen zu strahlen. "Mom!" Er warf sich in die Arme seiner Mutter. "Mom!" Ralph traf als letzter ein. In der Aufregung hatte er seinen Stock vergessen. Er humpelte auf seine Schwester zu und
umarmte sie herzlich. Rex, der ein aufregendes Spiel vermutete, umkreiste die Gruppe und bellte aufgeregt. "Holly", sagte Eddie stolz, "das ist meine Mutter." "Stimmt ja gar nicht", murmelte Melody störrisch. Holly legte ihr die Hände auf die schmalen Schultern. "Hast du schon einmal darüber nachgedacht, daß du vielleicht zwei Mütter haben könntest?" "Zwei Mütter?" fragte Melody ungläubig. "Das sind aber viele." "Genau. Warum gehst du nicht zu deiner ersten Mutter und gibst ihr einen Kuß?" Melody überlegte einen Moment. Dann glitt sie von Hollys Schoß. "Natürlich!" rief Eloise. "Warum habe ich nicht selbst daran gedacht?" Sie breitete die Arme aus, und Melody flog hinein. Holly stand auf. "Nach so viel Aufregung können wir wohl alle eine Stärkung vertragen. Ich werde uns etwas zu essen machen." "Pizza!" rief Eddie. "Wir können doch nicht schon wieder ..." begann sie, doch Ralph und Melody riefen ebenfalls laut nach Pizza. "Also gut", gab sie nach. "Weil heute ein besonderer Tag ist." Eine Stunde später saßen alle fünf um den Tisch herum. "Mh, schmeckt das gut!" rief Melody und biß in das dritte Stück. "Viel besser als gut", verbesserte Eddie. "Niemand kocht so gut wie Holly. Ich meine ..." "Ich stimme dir voll und ganz zu", sagte seine Mutter und nahm sich noch ein Stück. "Kein Wunder, daß Melody ihre zweite Mutter nicht aufgeben wollte." "Vielleicht könntest du dir von Holly Unterricht geben lassen", schlug Eddie vor.
"Das ist sicher keine schlechte Idee", warf Ralph ein, "aber sie muß ein bißchen warten. Erst werden Holly und ich nämlich heiraten." "Deswegen könnte sie doch trotzdem ..." wandte Eddie ein, aber Ralph schüttelte den Kopf. "Bis auf weiteres möchte ich sie mit niemandem teilen. Holly gehört mir - schon seit unseren Schultagen," "Warum habe ich nur nie etwas davon gemerkt?" fragte Holly. "Außerdem möchte ich dich daran erinnern, daß ich keineswegs ja gesagt habe. Ob ich dich heirate, muß ich mir noch sehr genau überlegen." "Das kann ja heiter werden", meinte Eloise. "Ihr streitet schon vor der Hochzeit." "Ach, das ist nur das übliche Geplänkel unter Verliebten", wehrte Ralph schmunzelnd ab. "Möchtest du die Kinder nachher gleich mitnehmen oder lieber warten, bis Harry aus der Klinik entlassen wird?" Eloise zwinkerte ihm zu. "Ihr beide könnt es wohl gar nicht erwarten, miteinander allein zu sein?" Holly verspürte einen Anflug von Panik. Daran hatte sie bisher noch gar nicht gedacht. Ralph blätterte im Telefonbuch. "In welcher Klinik ist Harry? Im Deaconess-Hospital?" Kurz darauf wählte er die Nummer und ließ sich mit seinem Schwager verbinden. "Harry darf noch heute nach Hause", berichtete er kurz darauf. "Ich würde vorschlagen, wir holen ihn gemeinsam ab. Holly, wärst du so nett, die Sachen der Kinder zusammenzupacken? Ich bringe sie dann nachher hinüber in die Myrtle Street. Ist dir das recht, Eloise? Eure Zugehfrau ist übrigens vergangene Woche zweimal dagewesen und hat gründlich saubergemacht. Ihr könnt euch sozusagen ins gemachte Nest setzen." "Das hört sich wunderbar an", sagte Eloise. "Holly, ich hoffe, Sie fühlen sich nicht überrumpelt."
Holly schluckte und rief sich ihren Vorsatz in Erinnerung, in diesem Hause nicht mehr zu weinen. "Natürlich nicht. Kinder gehören zu ihren Eltern." Mit tapferem Lächeln half sie den Kindern beim Anziehen und verabschiedete sie dann an der Haustür. "Ich möchte Ihnen von Herzen danken, Holly", sagte Eloise. "Sie haben sehr viel für die Kinder getan - und für meinen Bruder offenbar auch." "Ich komme zurück, sobald ich kann", rief Ralph Holly zu. Rex machte Anstalten, ihm zu folgen. "Du kannst leider nicht mitkommen", rief Eddie bedauernd. Als hätte der Hund verstanden, daß es diesmal ein Abschied für länger war, legte er Eddie die Pfote auf den Arm und versuchte, ihm das Gesicht zu lecken. Melody fiel der Abschied von Holly sichtlich schwer. "Du wirst mir fehlen." "Wir werden uns doch oft sehen", tröstete Holly. "Schließlich wohnt ihr gar nicht weit weg. Ihr könnt mich besuchen, wann immer ihr Lust habt." "Das ist nicht dasselbe." Melody klang plötzlich sehr erwachsen. "Das Leben besteht aus Veränderungen" "Gib mir einen Kuß, und dann geh mit deiner Familie." Melody umarmte sie und brach in Tränen aus. Holly hatte selbst einen Kloß im Hals. Die Tür, die bereits geschlossen gewesen war, ging noch einmal auf. "Nicht weinen", sagte Ralph. "Ich weine ja gar nicht", behauptete Holly. "Aber die arme Melody ..." "Die wird sich rasch wieder beruhigen. Schließlich ist sie mit ihrer Familie zusammen, die sich um sie kümmern wird. Und ich komme so schnell wie möglich zurück, um mich um dich zu kümmern."
"Wozu soll das gut sein?" murmelte sie, als er endgültig fort war. Dann ging sie langsam nach oben und begann zu packen. Der Vorsatz, nicht zu weinen, war leicht gefaßt, aber ziemlich schwer einzuhalten. Ralph hielt Wort und kam zurück, so schnell es ging. Drei Stunden, zwanzig Minuten und vierzehn Sekunden, um genau zu sein. Aber wer zählte schon nach? "Wo warst du denn so lange?" fauchte Holly, als er zur Tür hereinkam. Er zog sie in die Arme und hob sie hoch. "Schön, daß ich dir gefehlt habe." "Wie kommst du denn darauf?" fragte sie. Im nächsten Moment küß te er sie, daß ihr Hören und Sehen verging. Es war keineswegs der erste Kuß, aber bisher hatte Rex nie etwas mitbekommen. Diesmal sah er, daß jemand Holly festhielt, und begann drohend zu knurren. Ralph schüttelte den Kopf. "Das ist ja ganz neu. Wenn wir verheiratet sind, muß er sich das wieder abgewöhnen." Holly trat einen Schritt zurück. "Ich kann mich nicht erinnern, daß du mir je einen Antrag gemacht hättest. Und selbst wenn, bezweifle ich, daß ich ihn annehmen würde." "Unsinn. Ich weiß, daß du mich heiraten wirst, du weißt es, und sogar deine Mutter weiß es." "Wie kommst du darauf, daß meine Mutter im Bilde ist?" "Ganz einfach, ich habe sie gefragt. Sie hat mir bestätigt, daß sie einverstanden ist." "Du hast meine Mutter gefragt, aber mich nicht?" "Das war wohl wirklich nicht besonders schlau", gab er zu. "Sträflich dumm war es!" rief sie hitzig. "Warum hast du mich denn nicht gefragt?" "Das ist eine gute Frage." "Auf die du keine Antwort hast?" "Oh, ich habe sogar ein halbes Dutzend Antworten. Ich weiß nur nicht, ob sie dich zufriedenstellen. Ich war überzeugt, daß du
und ich ein Paar werden würden, bis du mich plötzlich mit der Mitteilung überrascht hast, daß du heiratest." "Das habe nicht ich gesagt, sondern Melody." "Das ist jetzt zweitrangig. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Höllenqualen ich bei dem Gedanken durchlitten habe, daß du einem anderen gehörst. Du hast mir übrigens immer noch nicht verraten, wer es ist." Sie stellte sich vor ihn hin und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. "Du bis t es." Ihre Augen leuchteten. "Soll das heißen ..." "Ja." "Lieber Himmel! Weißt du eigentlich, daß du mir die schlimmsten zwei Wochen in meinem ganzen Leben bereitet hast?" "Das hast du verdient", erklärte sie, milderte ihre Worte aber gleich darauf mit einem Kuß ab. Es war ein Kuß, der ziemlich lange dauerte und nie gekannte Empfindungen in ihr wachrief. "Armes kleines Mädchen", flüsterte Ralph. "Was soll denn das heißen?" fragte sie empört. "Du hast ja keine Ahnung, was ich mit dir machen werde." Das stimmte, aber Ralph mußte es ja nicht wissen. "Ach, ich weiß mehr, als du dir träumen läßt", antwortete sie und kicherte. "Wenn wir erst verheiratet sind, werde ich dich aufs Bett legen, und dann spielen wir ein Spiel, das ausschließlich für Verheiratete gedacht ist. Weißt du, was das für ein Spiel ist?" "Sei nicht albern!" "Oh. Deine Mutter hat dir nichts davon erzählt?" Holly sah sich hilfesuchend um. Diesmal würde kein hungriges Kind die riskante Situation entschärfen. "Ich will nichts von irgendwelchen Spie len wissen! Laß mich los, du ... du Lüstling. Wage nicht noch einmal, mich anzufassen!" "Kleines, deine Unwissenheit wird dich Kopf und Kragen kosten." "Wenn du mich nicht losläßt, rufe ich meinen Hund!"
"Damit der mich frißt?" "Was für eine gute Idee! Wir sind noch nicht verheiratet, und wenn du so weitermachst, wird es nie dazu kommen. Willst du wohl aufhören? Bei mir gibt's keine Kostproben." "Das weiß ich. Ich wollte dir nur etwas zeigen." Er zeigte es ihr. "Was hat dich denn dazu bewegen, nach Hause zu kommen?" Mary Kate Latimore stand an der Gartentür des alten, neben der Kirche gelegenen Hauses im gotischen Stil. In einer Hand hielt sie einen Topf mit weißen Rosen, in der anderen einen kleinen Spaten. "Ich hielt es für klüger", antwortete Holly. "Die Kinder sind gestern abgeholt worden." "Dann sind ihre Eltern wohl wieder zurück aus ... Wie heißt das Land?" "Sanjestan." "Ach ja, natürlich. Irgendwann einmal möchte ich mit deinem Vater dorthin reisen. Wie es heißt, gibt es dort die schönsten Seen der Welt. Die Kinder sind also wieder zu Hause?" Holly nickte. "Und du vermißt sie jetzt schon." "Ja." "Früher warst du nicht so einsilbig. Ich bin auf dem Weg zum Friedhof. Heute wäre Henry Chase' Geburtstag." "Wer ist Henry Chase?" fragte Holly verwirrt. "Mein erster Mann, wenn du dich erinnerst. Beckys Vater. Wenn du jetzt fragst, wer Becky ist, werde ich ernstlich in Sorge geraten." "Ma! Natürlich weiß ich, wer Becky ist. Meine älteste Schwester. Die Ärztin. Sie ist mit Jake verheiratet." "irre ich mich, oder liegt auf dem letzten Wort eine besondere Betonung? Komm mit, Kind, ich habe heute viel zu tun." Mary Kate drückte ihrer jüngsten Tochter den Spaten in die Hand und
ging nach nebenan zum Friedhof. Am Tor trafen sie auf Mrs. Bethel, die Witwe des früheren Pfarrers. "Mary Kate, Sie kommen gerade recht. Ich bekomme dieses Tor nicht auf." "Lassen Sie mich mal." Holly zwängte sich an den beiden älteren Frauen vorbei und schob den sperrigen Riegel zurück. "Ich beneide Sie um Ihre Kinder", sagte Mrs. Bethel. "Henry und ich haben uns immer welche gewünscht, aber es hat nicht sein sollen." "Dafür hatten Sie eine ganze Gemeinde, Theresa. Holly, Mrs. Bethel hat die Orgel gespielt, als dein Vater und ich heirateten hier in dieser Kirche. Außerdem hat sie die Sonntagsschule gehalten." "Wie schön! Ma ... Wenn jetzt jemand anderes heiraten will und eine Organistin braucht ..." "Da ist dieses Wort schon wieder. Ich bin sicher, wir finden jemanden, meinen Sie nicht, Theresa?" "Letzten Samstag hatten wir drei Hochzeiten hier, Mary Kate", bestätigte Mrs. Bethel. "Ich habe bei allen gespielt." Erwartungsvoll sah sie Holly an. Holly biß sich auf die Lippe. Ralph hatte auf zwei Dingen bestanden - absoluter Geheimhaltung und einer Hochzeit im ganz kleinen Kreis. Mit beiden war sie nicht ganz einverstanden. "Ich glaube, meine jüngste Tochter und ich müssen uns mal in Ruhe unterhalten", sagte Mary Kate. "Würden Sie uns entschuldigen, Theresa?" Keine Minute später standen Mutter und Tochter vor dem Familiengrab der Chase. "Teil die Rosen in zwei Hälften, und setze sie rechts und links des Grabsteins ein", ordnete Mary Kate an. Holly tat wie geheißen. Dabei las sie die unterste der zahlreichen Inschriften: "Oberst Henry Chase". "Beckys Vater", bestätigte Mary Kate. "Mein erster Mann." "Aber ich dachte, Becky wäre ..."
"Meine Stieftochter. In der Familie Chase ging es schrecklich durcheinander. Dann kam dein Vater, heiratete uns, und wir alle wurden Latimores." Mary Kate zupfte etwas Unkraut aus und richtete sich dann ächzend auf. "Ich bin nicht mehr so gelenkig wie früher. Komm mit. Wir setzen uns da drüben auf die Bank. Und dann laß mal hören, was dich bedrückt." Geheimhaltung hin oder her - Ralph war in Taunton. Mary Kate saß neben ihr und betrachtete sie forschend. "Er sagt... Ich meine, Ralph sagt, wir sollten uns auf eine ganz einfache Zeremonie beschränken, die in fünf Minuten vorbei ist." Holly hielt den Blick auf ihre Schuhspitzen gerichtet. Als sie ihre Mutter plötzlich lachen hörte, richtete sie sich abrupt auf. "Mom, das ist nicht komisch!" "O doch, mein Schatz. Als dein Vater und ich beschlossen zu heiraten, oder besser gesagt, als dein Vater entschied, daß Wir heiraten, habe ich genau dasselbe gesagt. .Nur eine einfache Zeremonie." "Aber ihr habt doch in der Kirche geheiratet." "Natürlich. Mit vier Brautjungfern, Kindern zum Blumenstreuen und fast hundert Gästen. Ich dachte, ich würde die ganze Firma Latimore heiraten. Es war damals mitten im Winter, und Schneepflüge von Latimore hatten die Straße geräumt. Außerdem stand ein Hubschrauber bereit, um die Gäste auszufliegen, falls die Straßen unpassierbar sein sollten. Schließlich war noch ein gutes Dutzend uniformierter Sicherheitsbeamter angerückt, um die örtliche Polizei bei der Verkehrsregelung zu unterstützen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es zuging." "Hast du ... Hat dir das Spaß gemacht, Ma?" "Riesigen Spaß. Ich wußte es vorher nicht, aber die Hochzeit ist ein Fest für die Braut. Sie braucht sich um gar nichts kümmern, weil entweder ihre Eltern oder - wie in meine m Fall die Firma alles arrangieren."
"Und was tut der Bräutigam?" "Der braucht eigentlich nur pünktlich dazusein und die Ringe mitzubringen. Später dann ist er für das Gelingen der Flitterwochen verantwortlich." Mary Kate machte eine Pause. "Hat Ralph dir noch einen Antrag gemacht?" "Ja. Mit dem üblichen Charme. Er meinte, da er nächsten Donnerstag noch nichts vorhabe, könnten wir doch die Gelegenheit nutzen und die Hochzeit hinter uns bringen. Wenn ich ihn nicht so lieben würde ..." "Aha, jetzt hat's dic h also endgültig erwischt. Was hast du denn jetzt vor?" "Wenn du nichts dagegen hast, werde ich Rex hierlassen. Er wird ein bißchen alt für soviel Trubel. Und dann werde ich Ralph gegenübertreten und ihm einmal gründlich den Kopf waschen." Diesen Plan mußte Holly verschieben, denn als sie in ihren Jeep steigen wollte, fuhren zwei Autos auf den Parkplatz und blockierten die Ausfahrt. Aus dem einen stieg ihr Vater, aus dem anderen Michael. Beide hatten vorwurfsvolle Mienen. Michael hielt einen Bogen Papier in der Hand. "Ich habe hier eine Rechnung an Latimore Incorporated über sechshunderttausend Dollar. Im Bezug steht .Rettungsaktion in Sanjestan'. Kannst du uns vielleicht sagen, wer den Auftrag dazu erteilt hat?" Holly hob das Kinn. "Ich. Von euch war niemand zu erreichen. Außerdem sind wir sehr billig davongekommen. Ursprünglich war von 1,6 Millionen die Rede." "Verrätst du uns auch, wen du gerettet hast?" fragte ihr Vater. "Meine zukünftige Schwägerin. Sie und ihr Mann waren von Guerillas entführt worden." "Weiß deine Mutter davon?" "Als wir von der Entführung erfuhren, habe ich sie sofort informiert. Wegen der Rettungsaktion konnte ich sie nicht fragen, weil sie mit dir auf Hawaii war. Macht nicht so ein
Gesicht. Ich habe die Bilanz des letzten Jahres gesehen. Sechshunderttausend Dollar werden wir leicht verschmerzen. Außerdem können wir sie von der Steuer absetzen. Wenn ihr mich jetzt entschuldigt - ich muß zu meinem zukünftigen Mann und ihm den Kopf waschen." Ralph Browne lief ziellos durchs Haus. Wohin konnte Holly verschwunden sein? Und warum? War es normal, daß eine Frau ihren Koffer packte und mit ihrem Hund das Haus verließ, wenn sie einen Heiratsantrag bekam? Bedeutete das ja, nein oder vielleicht? Nicht zum erstenmal fragte sich Ralph, ob es richtig gewesen war, die Kinder gehen zu lassen. Wenn Eddie und Melody noch hiergewesen wären, wäre Holly niemals gegangen. Durchs Fenster sah er einen Wagen vorfahren. Es war weder Hollys alter Jeep noch der Wagen seiner Schwester, sondern ein silbergrauer Porsche. Wer konnte das sein? Ungläubig sah er Alfred Pleasanton aussteigen. Schlimmer noch, nur wenige Sekunden später bog Holly in die Einfahrt. Ralph setzte sich ins Wohnzimmer, schlug die Zeitung auf und tat so, als wäre er ganz darin vertieft. Die Haustür ging auf. "Wenn du mich nicht sofort losläßt", hörte er Holly fauchen, "schlage ich dir deine teuer überkronten Zähne aus." "Du halbe Portion?" spottete Alfred. "Verdammt, hör auf, mir das Gesicht zu zerkratzen." "Laß los, oder ich hetze meinen Hund auf dich!" "Das zieht nicht, meine Liebe. Ich habe gesehen, wie du den Köter bei deiner Mutter abgegeben hast. Und die Kinder sind wieder dort, wo sie hingehören." "Aber Ralph ist oben", warnte sie. "Das bezweifle ich." Ralph hielt die Zeit für gekommen einzugreifen. Er stand auf, streckte sich und ging in den Flur. "Sehr klug, Pleasanton. Ich war nämlich gar nicht oben, sondern hier. Warum tun Sie nicht, was die Dame sagt, und lassen sie los?"
"Hören Sie, Browne, so leicht wie beim letzten Mal werden Sie mich nicht los. Wenn Ihnen der Junge die Waffe nicht gebracht hätte, hätten Sie keine Chance gegen mich gehabt. Warum gehen Sie nicht wieder hinein und lesen Ihre Zeitung weiter? Ich werde diese kleine Hexe zähmen und sie dann heiraten. Oder auch nicht. Wie geht's übrigens Ihrem Bein? Häßliche Sache, Knochenbrüche." "Da stimme ich Ihnen zu. Übrigens scheint hier ein Mißverständnis vorzuliegen. Ich werde Holly heiraten, und zwar nicht nur vielleicht. Um zu zeigen, daß es mir ernst ist, werde ich sogar bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten." Alfred Pleasanton ließ Holly los und streckte und beugte die Finger ein paarmal. "Reine Zeitverschwendung, Browne. Ich habe einen sehr guten Draht zu Hollys altem Herrn. Zu ihrer Mutter übrigens auch." "Holly", schlug Ralph vor, "wärst du so nett, mir einen Kaffee zu machen?" "Bist du sicher ... Ich meine, kann ich dich ..." stotterte sie. "Mir wird nichts passieren. Daß dein lästiger Verehrer nachher immer noch aussieht wie aus dem Modejournal, kann ich allerdings nicht garantieren." Holly wich langsam zurück. Noch ehe sie die Tür erreicht hatte, sah sie Ralph hochspringen. Sein Bein schnellte vor und traf Alfred Pleasanton in den Solarplexus. Der große, dünne Mann klappte zusammen wie ein Taschenmesser und rührte sich nicht mehr. "Ist er tot?" fragte Holly erschrocken. "Bestimmt nicht. Aber es wird eine Weile dauern, bis er wieder Luft bekommt. Selbst schuld. Niemand sagt solche Dinge über meine Braut und kommt ungestraft davon." Er ließ sich in seinen Sessel sinken. "Komm mal her." Sie ging zu ihm. "Erinnerst du dich noch, was ich in unserer Hochzeitsnacht alles mit dir machen wollte?" "Natürlich. Warum?"
"Ich werde nichts davon tun." "Gar nichts?" fragte sie mißtrauisch. "Gar nichts", bestätigte er. "Schade. Einiges hörte sich wirklich an, als würde es Spaß machen." "Hätte es auch. Aber daraus wird jetzt nichts." "Warum denn nicht?" "Weil ich mir eben gerade das andere Bein gebrochen habe." Alfred Pleasanton richtete sich keuchend auf. "Vorsicht, ich warne Sie", sagte Ralph. "Die Kickboxnummer kann ich frühestens in einem halben Jahr wiederholen." "Ich glaube, er hat genug." Sie ging zu Alfred, half ihm auf und führte ihn zur Tür. "Leb wohl, Alfred. Wir werden uns sicher nicht wiedersehen." Sie tippte ihn nur ganz leicht an. Er schwankte hin und her, verlor dann ganz das Gleichgewicht und fiel in die große Pfütze vor der Veranda. Einen Moment lang bewunderte Holly ihr Werk. Dann ging sie hinein und schloß die Tür. "Was hast du mit ihm gemacht?" fragte Ralph. "Eigentlich gar nichts. Er hat plötzlich das Gleichgewicht verloren und ist in den Matsch gefallen. Vielleicht sollten wir den Hof doch pflastern lassen. Aber darüber können wir später reden. Jetzt müssen wir uns erst einmal über meine Hochzeit unterhalten."
X "Deine Hochzeit? Ich dachte, an dieser einfachen kleinen Zeremonie wären wir beide beteiligt? Was ist das eigentlich? Eine Palastrevolution? Soweit ich mich erinnere, war bereits alles geklärt. Wir werden heiraten, und die Hosen in unserer Familie habe ich an." "Ralph Browne", fauchte Holly. "Darüber, wer welches Kleidungsstück trägt, haben wir überhaupt noch nicht gesprochen. Selbstverständlich wirst du das Familienoberhaupt sein, und ich garantiere dir, daß ich alle - oder sagen wir lieber, die meisten - deiner Befehle befolgen werde. Ich verlange nur, daß ich die Namen unserer Töchter aussuchen darf. Daran kannst du doch nichts auszusetzen finden, oder?" "Ich kann nicht klar denken", klagte Ralph. "Mein Fuß tut weh. Wärst du vielleicht so nett, eines deiner medizinisch gebildeten Familienmitglieder zu rufen? Oder den Krankenwagen?" "Selbstverständlich", antwortete sie zuckersüß und ging ans Telefon. "Es wird eine Weile dauern", teilte sie ihm kurz darauf mit. "Bleib ganz ruhig sitzen, dann ist der Schmerz nicht so schlimm." Im Plauderton fuhr sie fort: "Wußtest du eigentlich, daß die Eltern der Braut für die Kosten einer Hochzeit aufkommen?"
"Keine Sorge", brummte er. "Bei uns wird es ganz billig. Wir gehen aufs Standesamt, und fertig. Dafür werde ich selbstverständlich bezahlen." "Das ist lieb von dir, aber wir müssen uns wegen des Zeitplans genau absprechen." "Warum denn?" "Weil ich in einer Kirche heiraten werde mit Blumen, Musik und allem anderen, was dazugehört. Sei also bitte so nett und sieh zu, daß der Termin auf dem Standesamt damit nicht in Konflikt kommt." Ralph schüttelte benommen den Kopf. "Du wirst in der Kirche heiraten - im langen weißen Kleid und mit Brautjungfern?" "Du hast die Kinder vergessen, die Blumen streuen. Ich habe Melody und Eddie zwar noch nicht gefragt, aber sie machen sicher gern mit." "Jetzt warte mal. Ich habe dir doch gesagt, daß wir auf dem Standesamt heiraten." "Das habe ich durchaus gehört." "Wenn du denkst, daß ich mich auf eine alberne Doppelzeremonie einlasse, hast du dich getäuscht." "Warum denn nicht? In Europa ist es gang und gäbe, erst auf dem Standesamt zu heiraten und dann noch einmal in der Kirche. Warum können wir das nicht auch tun?" Er machte Anstalten, sich mit schmerzverzerrtem Gesicht aufzurappeln. "Weil ich gesagt habe ..." "Bleib sitzen!" Holly neigte den Kopf zur Seite. "Ich glaube, da kommt der Krankenwagen." Von weitem war eine Sirene zu hören. "Eine Doppelzeremonie kommt nicht in Frage", erklärte er kategorisch. Seufzend faltete Holly die Hände im Schoß. "Dann werde Ich mir wohl einen anderen Mann suchen müssen. Das bedeutet natürlich auch, daß ich deine Pflege nicht übernehmen kann,
aber deine Schwester wird bestimmt gern einspringen." Sie blinzelte ein paar Mal, aber es wollte einfach keine Träne kommen. Schließlich stand sie auf, um die Sanitäter hereinzulassen. Es waren die gleichen wie beim letztenmal. "Schon wieder Sie?" fragte einer ungläubig. "Das gibt's doch nicht. Hat man Ihnen im Krankenhaus nicht gesagt, daß Sie das verletzte Bein noch schonen müssen? " "Das hat er ja auch", warf Holly ein. "Diesmal hat er das andere gebrochen." "Weib!" donnerte Ralph. "Ich fahre jetzt in die Klinik. Wenn ich wiederkomme, werde ich mit deiner Mutter über unsere Hochzeit reden, hörst du?" "Da wird sie sich aber freuen. Mutter liebt nichts mehr, als Hochzeiten zu organisieren. Bei. Faith waren über dreihundert Gäste da und ..." Ralph schloß die Augen. "Bringen Sie mich hier fort, bitte." In einer Woche waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Über die Stufen der Kirche führ te jetzt eine Rampe, die zur Feier des Tages sogar weiß gestrichen wurde. Das gleiche Modell machte den Eingang zum Haus der Latimores rollstuhlgerecht. Hollys Brautkleid war in Rekordzeit fertiggestellt worden ein bodenlanger Traum aus weißer Seide mit einem Petticoat aus Taft, der vernehmlich raschelte. Dem Bräutigam zuliebe hatte sich Holly für einen tiefen Ausschnitt entschieden, der bewies, daß sie zwar klein, aber keineswegs ein Kind war. Ein goldener Reif hielt den Schleier, der ihr bis knapp auf die Schultern reichte. "Du wirst begeistert sein!" rief Holly, als sie es Ralph am Tag vor der Hochzeit beschrieb. "Gibt es keine Vorführung?" fragte er. "Kommt nicht in Frage. Wie ich dir bereits mehrmals gesagt habe, kannst du von mir keine Kostproben erwarten."
Sie saßen zu viert im Wohnzimmer der Latimores in Eastport - Hollys Eltern auf dem Sofa, Holly im Schaukelstuhl ihrer Mutter und Ralph im Rollstuhl. Nach einer Weile stand Mary Kate auf und zupfte ihren Mann am Ärmel. "Mein Lieber, es wird Zeit, daß wir uns zurückziehen." "Gerade jetzt, wo es interessant wird!" beschwerte sich Bruce Latimore. "Wir sind nicht mehr die Jüngsten", sagte sie streng, "und haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns. Ein Nickerchen wird uns also beiden guttun." Gehorsam folgte der große Mann der kleinen Frau. Ralph blickte ihnen nachdenklich hinterher. "Du denkst doch nicht etwa, daß du in unserem Haus das Kommando führst so wie deine Mutter hier?" "Das würde mir nicht im Traum einfallen", sagte Holly unschuldig. Mißtrauisch sah er sie an. "Komm mal her." Zögernd stand sie auf. "Warum?" "Keine überflüssigen Fragen. Komm einfach her." Sie ging auf ihn zu und beugte sich über ihn. "Also, was ist?" Mit einem festen Griff zog er sie auf seinen Schoß. "Vorsicht!" rief sie erschrocken. "Meine Liebe, ich habe ein gebrochenes Bein, aber das steckt sicher in einem Gipsverband. Sonst fehlt mir nicht das geringste." Um seine Worte zu unterstreichen, küßte er sie, daß ihr die Luft wegblieb. Dabei machte er sich am Reißverschluß ihres Kleides zu schaffen. "Wirst du wohl aufhören!" rief sie empört und versuchte, sich loszumachen, doch er hielt sie fest. "Ich denke nicht daran." Er zog weiter, bis er ihre vollen Brüste in ganzer Pracht betrachten konnte. "Darauf habe ich schon viel zu lange gewartet." "Laß das!" rief sie. "Wenn meine Eltern nun ..."
"Die schlafen, hast du das vergessen? Wir haben also ..."
Es klingelte. Holly zappelte. "Laß mich runter." "Wahrscheinlich ist es ohnehin nur ein Vertreter für Lexika. Wenn wir einfach nicht aufmachen, wird er wieder gehen." Es klingelte wieder. Offenbar war die Haustür nicht verschlossen gewesen, denn kurz darauf stürmte Melody Jankowski ins Zimmer, etwas langsamer gefolgt von ihrer Mutter. "Onkel Ralph!" rief Melody. "Holly! Mommy und ich wollten euch besuchen. Was macht ihr denn da?" "Holly hat etwas im Auge", behauptete Ralph. "Vermutlich eine Wimper. Ich wollte ihr helfen, sie herauszuholen. Tag, Eloise." "Eine Wimper", meinte seine Schwester amüsiert. "Natürlich." Es war Holly gelungen, ihren Reißverschluß wieder hochzuziehen. "Ralph sagt die Wahrheit", erklärte sie mit fester Stimme. Eloise schüttelte den Kopf. "Hat er dich schon so dressiert?" Die beiden Frauen hatten sich angefreundet und waren schon lange per Du. "Mit Dressur hat das nichts zu tun. Ich halte mich nur an die Ratschläge meiner Mutter. In jeder Familie muß es ein Oberhaupt geben. Bei uns wird Ralph das sein. Ich werde alles tun, was er mir sagt. Es sei denn, ich bin nicht damit einverstanden. Dann werde ich tun, was ich für richtig halte." "Ihr beide seid wirklich ein verrücktes Paar." Eloise blickte auf die Uhr. "Vor lauter Wimpern habt ihr offenbar vergessen, daß wir uns vor fünf Minuten alle zur Generalprobe in der Kirche treffen wollten." "Ich wußte doch, daß du irgend etwas vergessen hast", schalt Holly. "Wieso ich?" fragte Ralph gekränkt. "Wir waren uns doch darüber einig, daß du für solche Details zuständig bist. Wenn es
nach mir gegangen wäre, würden wir einfach aufs Standesamt gehen. Dann wäre in einer Viertelstunde alles vorbei." "Der große Mann drüben in der Kirche wird langsam sauer!" rief Melody. "Meinst du meinen Bruder Michael?" fragte Holly. "Genau den. Er hat gesagt, wenn du nicht schleunigst deinen ..." "Melody, das reicht", unterbrach ihre Mutter streng. "Eine junge Dame sagt so etwas nicht." Melody seufzte tief. "Es ist wirklich schwer, eine Dame zu sein, findest du nicht, Holly?" "Furchtbar schwer", bestätigte ihre zukünftige Tante. "Schon gut, schon gut", versuchte Michael seine aufgeregte Schwester zu beruhigen. "Ich lasse die Rampe reparieren." Holly stampfte mit dem Fuß auf. Da sie es auf einem dicken Teppich tat, war die Wirkung gleich null. "Aber noch rechtzeitig? Ich hätte den Rollstuhl mit Ralph beinahe umgekippt." "Wenn du dich erinnerst, Schwesterchen, habe ich angeboten, den Rollstuhl zu schieben, aber du wolltest ja nicht." "Schon gut", murmelte Holly. "Du darfst ihn dafür hinausschieben." Mit Inbrunst fügte sie hinzu: "Wenn ich gewußt hätte, was alles auf mich zukommt, wäre ich wohl doch besser ins Kloster gegangen." "Wir sehen uns morgen nachmittag!" rief Pastor Duncan ihnen nach. "Pünktlich um drei." Auf dem Rückweg zum Elternhaus nahm Faith, die für die Hochzeit aus der Karibik angereist war, ihre jüngste Schwester zur Seite. "Schätzchen, du wirkst überaus nervös. Hat das vielleicht etwas damit zu tun, daß du noch Jungfrau bist?" "Natürlich bin ich das", entgegnete Holly entrüstet. "So soll es doch sein." "Eigentlich schon, aber es dürfte nicht allzu oft vorkommen, daß eine Frau mit vierundzwanzig jungfräulich in die Ehe geht.
Deswegen dachte ich, dir macht vielleicht der Gedanke an die körperliche Seite der Liebe Sorgen." "Ich habe keine Angst", behauptete Holly. "Mom hat mir alles gesagt, was ich wissen muß." Wirklich alles? fragte sie sich besorgt. "Weißt du was?" schlug Faith vor. "Ruf mich übermorgen früh an. Bis dann wirst du wissen, ob du im Kloster besser aufgehoben gewesen wärst." Holly fand Ralph im Rollstuhl neben dem Mercedes ihres Bruders. "Wo warst du denn so lange?" fragte er. Seine Stimme war weich. Offenbar spürte er, wie ihr zumute war. "Du bist zu meiner Fahrerin abgeordnet worden." "Wie kommt denn das?" fragte sie verblüfft. "Ich dachte, dafür wäre meine Schwester Mattie zuständig." "Frag mich nicht." Er schmunzelte. "Ich kann noch nicht einmal die Gedanken der jüngsten Latimore nachvollziehen, wie soll es mir da bei den älteren gelingen? Ich habe gesehen, wie Mattie und Faith miteinander flüsterten, und dann kam Faith zu mir und sagte, du würdest mich fahren." Holly öffnete die Beifahrertür. "Es fragt sich nur, wie ich dich auf den Sitz bekomme." "Ein Bein kann ich ja benutzen", antwortete er. "Kann ich mich auf deine Schulter stützen?" Er stellte die Bremse am Rollstuhl fest und zog sich hoch. Holly trat einen Schritt näher. Im nächsten Moment hielt er sie mit einem Arm umklammert. Unglaublich, was ein Mann von einssiebzig für Kraft hatte! "Jetzt mach ganz langsame Schritte", sagte er ihr ins Ohr. Sie tat wie geheißen. Als sie direkt neben der Wagentür standen, vollführte er eine halbe Drehung und ließ sich mit der Grazie eines Ballettänzers auf den Sitz fallen. Es dauerte länger, bis Holly den Rollstuhl zusammengeklappt und im Kofferraum verstaut hatte. Als sie einstieg, stellte sie fest, daß der Sitz auf Michaels Körpermaße einge stellt war.
"Der Hebel zum Verstellen ist links unter dem Sitz. Schalte vorher den Motor ein. In Autos wie diesem läuft alles automatisch." "Du weißt wirklich alles", meinte sie beeindruckt. "Nicht ganz. Rutsch mal zu mir rüber." Sie gehorchte bedenkenlos. "Und jetzt gibt mir einen Kuß." "Aber die ganze Familie sieht zu!" "Vergiß nicht die Nachbarschaft und den Kirchenchor." Bei dem Gedanken an seine Küsse wurde Holly warm. Trotzdem wünschte sie, sie könnte Vorhänge zuziehen, um die Welt auszusperren. Im nächsten Moment lagen seine Lippen auf ihren, und sie vergaß, was sie auf der Klosterschule darüber gelernt hatte, was ein anständiges Mädchen auf keinen Fall in einem Auto tun sollte. Es dauerte fünf Minuten, bis sie sich wieder so weit gefangen hatte, daß sie Auto fahren konnte. Als sie an der Kirche vorbeifuhren, hörten sie lautes Hämmern. Michael hatte Wort gehalten und ließ die Rampe reparieren. Vor Ralphs Haus stand ein Wagen. Er stöhnte. "Das ist doch Eloise!" "Mit beiden Kindern", setzte Holly hinzu. "Kann sie sich denn nicht denken, daß wir jetzt allein sein wollen?" Eloise, die die Kirche verlassen hatte, sobald die Probe der Blumenstreukinder beendet gewesen war, kam ihnen entgegengelaufen. "Gott sei Dank, daß ihr hier seid." "Gibt es Probleme?" fragte Ralph. "Harrys Fuß hat sich entzündet, und ich muß ihn ins Krankenhaus bringen. Da ihr beide bis morgen nachmittag nichts zu tun habt, dachte ich, ich könnte Eddie und Melody vielleicht über Nacht hierlassen." Ehe das verblüffte Paar reagieren konnte, steckte Melody ihren Kopf zum Fenster rein. "Jetzt seid ihr wohl überrascht."
"Allerdings", stimmte Holly zu. "Aber für solche Notfälle sind Onkel und Tanten schließlich da." Eddie kam die Stufen herunter. "Ich habe heute Nachmittag ein Spiel. Wie komme ich denn jetzt hin?" jammerte er. Holly stieg aus. "Kein Problem. Wir helfen eurem Onkel jetzt ins Haus. Und dann paßt Melody hier auf ihn auf, während ich dich zum Baseball fahre. Abgemacht?" "Abgemacht", bestätigte Eddie dankbar. Nur Ralph machte ein finsteres Gesicht. Zu dritt brachten sie ihn ins Wohnzimmer und setzten ihn auf die Couch. Dann begann Eddie, seine Ausrüstung in den Mercedes zu packen. "Kriege ich denn nicht mal was zu essen?" klagte Ralph, als Holly und Eddie sich verabschiedeten. "Das Spiel fängt in zwanzig Minuten an", drängte Eddie. "Ich mache dir was", versprach Melody. "Es gibt kalten Haferbrei, weil ich den Herd nicht anmachen darf." Ralph schloß die Augen. "Auch das noch." Daß Holly die Entwicklung der Dinge offenbar sehr komisch fand, konnte er wirklich nicht verstehen. Holly kämpfte immer noch gegen ihre Nervosität, als sie am Nachmittag des nächsten Tages am Arm ihres Vaters an der Kirchentür stand. Ralph wartete bereits im Rollstuhl neben dem Altar. Er sah ziemlich verzweifelt aus. Sie konnte es ihm nachfühlen. Am Tag zuvor war so ziemlich alles schiefgegangen. Eddies Baseballspiel hatte erst nach zweimaliger Verlängerung geendet, und als Eloise endlich kurz vor elf eingetroffen war, um die Kinder abzuholen, hatte Ralph schon tief und fest geschlafen. Aus diesem Grund trat sie tatsächlich jungfräulich vor den Altar. Die Musik setzte ein. Melody nahm ihre Rolle als Blumenstreumädchen sehr ernst. Sie verzierte nicht nur den Weg der Braut mit Blüten, sondern verteilte auch großzügig Blumen an die Gäste. Auch setzte sie sich keineswegs hin, als Holly endlich am Altar angekommen war, sondern blieb
zwischen dem Brautpaar stehen und rührte sich nicht vom Fleck, bis Pastor Duncan Holly und Ralph schließlich zu Mann und Frau erklärte. Der Empfang fand im Rathaus in der Main Street statt. Nicht nur die ganze Stadt war eingeladen, sondern auch zahlreiche Verwandte und Freunde von außerhalb. Nach einer Stunde zog Mary Kate ihre jüngste Tochter zur Seite. "Dein Mann sieht ziemlich mitgenommen aus. Vielleicht ist es besser, wenn ihr ohne Aufhebens verschwindet." Ganz so einfach war der heimliche Abgang nicht, weil drei Männer Ralph mitsamt dem Rollstuhl hinaustrugen. Michael machte die Tatsache wett, daß Holly an diesem Abend selbst über die Schwelle ihres neuen Heims gehen mußte, und trug sie zum Auto. Eloise bewarf das Brautpaar mit Reis, von dem ein Großteil in Hollys Ausschnitt landete. Es fühlte sich an wie ein Bad im Sand. "Wo verbringt ihr denn die Flitterwochen?" fragte sie neugierig. "Das verraten wir nicht", antwortete Holly. "Zu Hause im Bett", murmelte Ralph - zum Glück so leise, daß seine Schwester es nicht hörte. Als alle Türen verschlossen waren, Rex an der Haustür Wache stand und nur noch eine Lampe im Wohnzimmer brannte, stellte sich Holly Latimore Browne ihrem größten Problem. "Ralph?" "Ja, mein Schatz?" "Ich ... ich weiß immer noch nicht, wie es geht." "Aber ich." Die theoretische Einweisung dauerte drei Minuten, die Umsetzung in die Praxis den Großteil der Nacht. Als sie endlich einschliefen, wurde es draußen schon hell. Als Holly erwachte, griff sie als erstes nach dem Telefon. "Was machst du denn da?" fragte Ralph verschlafen. "Ich muß unbedingt meine Schwester anrufen." "Deine Schwester?"
"Faith, um genau zu sein." "Warum denn?" "Das, Mr. Browne, geht dich gar nichts an. Ich habe ihr versprochen, daß ich mich gleich heute früh bei ihr melde und ihr sage, ob ich nicht doch lieber ins Kloster hätte gehen sollen." Ralph traute seinen Ohren nicht. "Das ist doch wohl ein Scherz!" "Keineswegs. Aber keine Angst. Ich werde ihr sagen, daß diese Alternative nicht mehr in Frage kommt." Holly Browne streckte sich wie eine zufriedene Katze. "Wollen wir's noch mal versuchen?"
-ENDE