J. G. Ballard, Avram Davidson, Philip K. Dick, Jack Vance
Die steinernen Tränen … und andere Utopia-Kurzgeschichten
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J. G. Ballard, Avram Davidson, Philip K. Dick, Jack Vance
Die steinernen Tränen … und andere Utopia-Kurzgeschichten
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN)
Inhaltsverzeichnis J. G. Ballard Die steinernen Tränen (Studio 5, the Stars) Avram Davidson Die Kamera des Montavarde (The Montavarde Camera) Philip K. Dick Die Kolonie (Colony) Jack Vance Dodkins Job (Dodkin’s Job)
Die steinernen Tränen (Studio 5, the Stars) von J. G. Ballard Während des Sommers, den ich in Vermillion Sands verbrachte, wehten jeden Abend die hauchdünnen farbigen Streifen mit den verrückten Gedichten meiner schönen Nachbarin zu mir herüber. Sie flatterten wie zarte Fetzen von Spinnengeweben über die Wüste und verfingen sich in den Sträuchern und Bäumen meines Gartens, an allen Vorsprüngen und Kanten, wo sie leise im Wind flatterten. Wenn ich morgens aufstand, sah die Südseite meines Hauses wie eine Weide aus, denn auf der Terrasse, an dem Metallgeländer und an der ganzen Fassade hingen die bunten Streifen. Einmal mußte ich das Haus für drei Tage verlassen. Nach meiner Rückkehr fand ich es unter einem Berg von bunten Seidenpapierstreifen fast begraben. Sie waren auch durch ein offenes Fenster geflogen, hingen an den Bücherregalen und Möbeln und langten wie zarte Fangarme auch nach mir. Tagelang fand ich überall kleine Fetzen mit Fragmenten irrsinniger Gedichte. Ich wollte mich beschweren und ging die dreihundert Meter durch den Wüstensand. Niemand öffnete, so daß ich mich damit begnügen mußte, einen Brief durch den Schlitz zu stecken. Ich hatte meine schöne Nachbarin nur einmal gesehen. Bei ihrer Ankunft war sie mit einem riesigen Wagen über die Sternenstraße gefahren. Mit ihrem wehenden blauen 4
Haar hatte sie auf alle wie eine assyrische Prinzessin gewirkt. Immer wenn ich zum Studio 5 ging, wirbelten kleine Sandhosen hoch und führten einen wilden Tanz auf. Das hatte aber sicher nichts mit meiner Nachbarin zu tun, denn in Vermillion Sands geschahen oft merkwürdige Dinge. Selbst heute kann ich noch nicht sagen, wer Aurora Day eigentlich war. Sie kam wie ein Komet und machte auf jeden einen anderen Eindruck. Ich hielt sie anfangs für eine neurotische „femme fatale“, aber für Raymond Mayo war sie eine von Salvador Dalis rätselhaften Madonnen, die unberührt aus der Apokalypse kommen. Jedenfalls war sie für uns alle ein Rätsel; all unsere Vermutungen hatten keinen festen Boden. Vielleicht ist es besser, sie nach ihren eigenen Angaben zu bewerten. Ich erinnere mich noch deutlich an die ersten Gedichte. Sie saß nach dem Abendessen auf der Terrasse, als die ersten hauchdünnen Streifen herüberwehten. Einige Fetzen blieben im Geländer hängen, andere wurden vom Wind über die Terrasse getrieben. Drüben im Studio 5 stand ein Wagen auf der Einfahrt und leuchtete mit aufgeblendeten Scheinwerfern die Garagentür an. Immer mehr Streifen kamen über die Wüste geschwebt und machten mich schließlich neugierig. Ich stand auf, ging die Treppe hinunter und hob ein paar Streifen auf. Das Papier war so dünn, daß es in meinen Händen zerriß. Ich konnte aber erkennen, daß es sich um das Fragment eines Gedichtes handelte. „Vergleiche dich mit einem Sommertag und erkenne deine Schönheit.“ Ich ließ den Streifen flattern und las einen anderen. Die 5
Buchstaben wirkten etwas eigenartig, aber sie waren deutlich lesbar. „Durchschneidet mit scharfem Kiel die Brecher und fährt hinaus auf die göttliche See.“ Ich blickte zu dem anderen Haus hinüber. Alle Fenster waren hell erleuchtet. Hinter dem Haus sah ich die Uferstraße mit den flitzenden Autos. Die Wellen brachen sich glitzernd an den vorgelagerten Riffen und plätscherten harmlos auf den breiten Sandstrand. Mein Interesse ließ nach. Meine neue Nachbarin hatte anscheinend eine Vorliebe für alte Dichter. Mir war noch nicht ganz klar, ob sie Shakespeare oder Ezra Pound bevorzugte. Das Spiel ging weiter. Jeden Abend kamen Streifen zu mir geweht. Ich kümmerte mich kaum noch darum und fegte sie jeden Morgen weg. Ich bin der Verleger der „Welle IX“, einem monatlich erscheinenden Heft für avantgardistische Dichtung. Aus diesem Gründe war mein Haus mit alten Heften und neuen Vorschlägen angefüllt. Es überraschte mich nicht, daß eine Dichterin meine Nachbarin geworden war. Die Studios waren alle von Dichtern und Malern bewohnt. Die meisten taten nicht viel und langweilten sich den ganzen Sommer. Ich hatte aber hinreichend Arbeit, um das regelmäßige Erscheinen meiner Hefte zu sichern. Mit der Zeit wurden die dünnen Streifen zu einer regelrechten Plage. Als meine Protestbriefe keine Wirkung erzielten, entschloß ich mich, meine Nachbarin persönlich zur Rede zu stellen. Bei dieser Gelegenheit wurde ich fast von einer Windhose davongetragen, und in mir keimte der 6
Verdacht auf, es mit einer außergewöhnlichen Frau zu tun zu haben. Ihr Fahrer, ein finsterer Bursche mit einem Klumpfuß, fegte gerade die Auffahrt. Ich ging auf ihn zu und wies auf die flatternden Streifen. „Das muß aufhören!“ sagte ich energisch. „Ihre Herrin muß endlich das verdammte Gerät abstellen.“ Der Mann setzte sich in den Wagen, zog eine Hirtenflöte aus der Tasche und blies einige irritierende Akkorde. „Sie soll wenigstens die Fenster schließen!“ sagte ich verärgert. Der Mann reagierte nicht und blies weiter. Ich trat dicht an ihn heran und wollte ihm die Aufforderung ins Ohr brüllen, als plötzlich ein Sandwirbel den Weg und mich einhüllte. Ich wich zurück und schloß die Augen. Gleich darauf war der merkwürdige Wirbelsturm vorüber. Eigentümlicherweise war der Wagen mitsamt dem Fahrer verschwunden. Das kam mir unheimlich vor. Ich ging deshalb wieder heim und ärgerte mich über diese Schlappe. Sollte ich eine offizielle Beschwerde einreichen? Ich dachte darüber nach und sammelte die flatternden Streifen. Ab und zu las ich ein paar Abschnitte und wunderte mich über die sonderbare Ausdrucksweise. Das VT-Gerät meiner Nachbarin mußte einen Fehler haben, denn es handelte sich nicht um Originalgedichte bekannter Vorbilder und auch nicht um Variationen. Ich dachte schon daran, das IBM-Büro anzurufen und einen Monteur anzufordern, wurde aber abgelenkt und vergaß es. An jenem Abend machte ich dann die Bekanntschaft meiner Nachbarin. Ich war gegen elf Uhr zu Bett gegangen 7
und erwachte eine Stunde später. Irgend etwas hatte mich geweckt. Der Halbmond stand über dem Meer, die weißen Wellenkämme hoben sich klar von der dunklen Wasserfläche ab. Ich ging auf die Terrasse hinaus und wurde sofort auf das sonderbare Schimmern zwischen den Dünen aufmerksam. Ich hörte auch merkwürdige Musik, die mich an die Hirtenflöte des Fahrers erinnerte. Die Quelle dieser Musik war aber nicht zu erkennen. Dann sah ich sie. Sie wanderte langsam durch die Dünen; ihr schleierartiges weißes Kleid wehte hinter ihr her, die blauen Haare wirkten wie der Schweif eines schönen Paradiesvogels. Um Füße und Arme hingen zarte Papierstreifen mit Gedichtfragmenten. Ich zog mir rasch einen Morgenmantel an und ging wieder hinaus. Sie wanderte auf die Klippen zu, die nicht weit von der Uferstraße entfernt steil abfielen. Ihr Verhalten kam mir merkwürdig vor, fast wie das einer Schlafwandlerin, die nichts von der Gefahr ahnt. Nach kurzem Zögern eilte ich ihr nach und rief ihr eine Warnung zu. Der scharfkantigen Quarzsand stach in meine bloßen Füße, aber ich achtete nicht darauf und eilte weiter, bis ich ihr so nahe war, daß ich ihren linken Ellenbogen berühren konnte. Es war eine gespenstische Situation, denn meine Nachbarin wirkte in ihrem wehenden Gewand wie ein körperloses Wesen. Wahrscheinlich lag es am bleichen Mondlicht, das die Klippen und Dünen um uns herum unwirklich und unheimlich erscheinen ließ. Sie war keine Nachtwandlerin, das konnte ich bald feststellen. Aber sie war gedankenverloren und verträumt. Sie wandte den Kopf und sah mich an, ohne mich zu bemerken. 8
Plötzlich aber wurde sie sich der Situation bewußt und blieb, nur wenige Meter von dem Abgrund entfernt, stehen. Alles war unwirklich und unfaßbar. Über unseren Köpfen wirbelten gleißende Strahlen. Wahrscheinlich war es vom Mond beschienener Quarzsand. „Ich wollte Sie nicht erschrecken“, entschuldigte ich mich. „Sie waren aber schon gefährlich nahe am Riff.“ „Wie?“ Sie war noch immer nicht ganz in die Wirklichkeit zurückgekehrt und rezitierte ein eigenartiges Gedicht. Ich gab mich damit zufrieden und sah ihr nach, bis sie in ihrem Haus verschwand. Dann bemerkte ich ein eigenartiges Glitzern und bückte mich. Ich fand einen wunderbar geschliffenen Edelstein und folgte ihrer Spur, denn in jedem ihrer Fußabdrücke lag ein glitzernder Stein. Schon wollte ich meinem Erstaunen Luft machen, da fühlte ich eiskalte Feuchtigkeit in der Hand. Die Steine waren zu Tränen geschmolzen. Am nächsten Tag erfuhr ich dann mehr über die geheimnisvolle Unbekannte. Nach dem Frühstück sah ich ihren Wagen auf meine Auffahrt zurollen. Der hinkende Fahrer stieg aus, humpelte auf mich zu und übergab mir einen rosa Briefumschlag. Dann drehte er sich wortlos um und setzte sich wieder in den Wagen. Den Motor ließ er laufen. Aurora Day lud mich zu einem Cocktail ein. Jetzt kannte ich endlich ihren Namen. Die Einladung kam nach ihrem früheren Verhalten etwas überraschend für mich, zumal ihr Fahrer mich offensichtlich gleich mitnehmen sollte. Der Mann saß am Lenkrad und starrte gleichgültig vor sich hin. Meine Reaktion auf die Einladung schien ihn nicht zu interessieren. Nach kurzem Überlegen zog ich mir 9
eine Jacke an und steckte einen Probedruck der nächsten Ausgabe meiner Zeitschrift ein. Der Fahrer fuhr so schnell an, daß ich rückwärts auf den Sitz fiel. Höflichkeit schien nicht seine Stärke zu sein. „Werden Sie lange in Vermillion Sands bleiben?“ fragte ich ihn. Er antwortete nicht und jagte den Wagen mit Höchstgeschwindigkeit über die kurze Distanz. „Sind Sie schwerhörig oder ganz einfach blöd?“ fragte ich verärgert. Er sah mich flüchtig von der Seite an. Seine Augen hatten einen merkwürdigen Glanz. Ich glaubte, Verachtung und unverhüllten Haß zu erkennen. Aus seinem Mund floß ein Strom von Gemeinheiten, die ich noch nie in solcher Konzentration gehört hatte. Das machte mich sprachlos. Stumm blieb ich neben ihm sitzen, bis er den Wagen anhielt und die Tür für mich öffnete. Er ging voraus und deutete auf den Hauseingang. In diesem Augenblick wirkte er wie eine gierige Spinne, die darauf lauerte, daß sich eine Fliege in ihrem Netz verfing. In der Halle verschwand er plötzlich. Ich wanderte ratlos über die weichen Teppiche an einem plätschernden Springbrunnen vorbei. Meine Nachbarin lag im angrenzenden Salon auf einer üppigen Couch, das weiße Kleid malerisch um sich drapiert. Sie bot mir mit einer Handbewegung einen Sessel an und schlug ein in Leder gebundenes Buch zu, das wie die Privatausgabe eines Gedichtbandes aussah. Neben der Couch lag eine bunte Auswahl neuerer Bücher, die ich zum Teil schon gelesen hatte. Ich bemerkte auch die überall umherliegenden farbigen Papierstreifen. Das VT-Gerät konnte ich jedoch nicht entdecken. 10
„Sie lesen Gedichte?“ fragte ich und deutete auf die vielen Bücher. Sie nickte. „Soviel ich davon ertragen kann.“ Ich lachte auf. „Ich kann mir denken, was Sie meinen Ich muß auch mehr davon lesen, als mir lieb ist.“ Dann zog ich den Probedruck aus der Tasche und reichte ihn ihr. „Haben Sie schon einmal eins von diesen Heften gelesen?“ Sie warf einen gleichgültigen Blick auf das Titelblatt und nickte. Ich fragte mich schon, warum sie mich eigentlich zu sich gerufen hatte. Bestimmt nicht wegen des Cocktails. „Furchtbar, nicht wahr? Wenn ich nicht irre, sind Sie Paul Ransom, der Verleger dieser Zeitschrift.“ Ich wunderte mich über die maskenhafte Starre ihres Gesichts. Wenn sie etwas von mir wollte, verstand sie es meisterhaft, dies vor mir zu verbergen. „Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit!“ forderte sie mich auf. „Sie müssen doch wissen, was falsch gemacht wird. Warum sind die modernen Gedichte so schlecht?“ „Was soll ich dazu sagen? Wahrscheinlich ist das eine Frage der Inspiration. Früher habe ich auch geschrieben. Dieser Trieb ließ aber nach der Erfindung der VT-Geräte nach. Früher mußte sich ein Dichter für seine Arbeit aufopfern, heute ist das Dichten lediglich eine Frage der Technik. Wenn man sich ein modernes Gerät leisten kann, braucht man nur ein paar Knöpfe zu drücken, Versfuß und Thema zu wählen, und schon läuft die Sache. Keiner braucht sich mehr zu opfern oder Ideale hochzupeitschen.“ Ich sprach nicht weiter, denn sie sah mich ziemlich abfällig an. Allerdings war ich nicht bereit, zu große Rück11
sicht zu nehmen, denn dazu hatte mir Aurora Day kaum Anlaß gegeben. „Ich habe ein paar von Ihren Gedichten gelesen“, fuhr ich fort. „Nehmen Sie mir meine Offenheit nicht übel, Miß Day. Aber ich glaube, Ihr Versschreiber ist nicht ganz in Ordnung.“ Sie sah mich noch böser an. „Ich habe keine dieser schrecklichen Maschinen!“ fauchte sie mich an. „Was bringt Sie auf den Gedanken, daß ich ein so blödsinniges Gerät benutze?“ „Die Streifen“, antwortete ich etwas verlegen. „Jeden Abend kommen sie zu mir hinübergeweht. Auf allen stehen irgendwelche Fragmente, die keinen Sinn haben.“ „So?“ Sie schien überrascht zu sein. „Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit dem Schreiben von Gedichten, obwohl ich das anderen Leuten überlassen sollte. Die Notwendigkeit zwingt mich aber dazu. Ich will nämlich eine aussterbende Kunst retten.“ Nun war ich völlig durcheinander. Soweit ich mich erinnern konnte, handelte es sich bei den Fragmenten auf den Streifen ausschließlich um Teile längst geschriebener Gedichte. Sie sah mich lächelnd an und sagte zum Abschied: „Ich werde Ihnen einige meiner Arbeiten schicken.“ * Die erste Sendung kam schon am nächsten Morgen. Der hinkende Fahrer brachte sie mit dem rosa Cadillac. Erstaunlicherweise handelte es sich um auf Büttenpapier ge12
schriebene Verse. Die einzelnen Blätter wurden von einem gelben Band zusammengehalten. Normalerweise bekam ich immer nur bedruckte Streifen, die aufgerollt mit der Post geschickt wurden. Es war tatsächlich ein Vergnügen, eine so schöne Sendung zu empfangen. Die Gedichte waren allerdings sehr schlecht. Es handelte sich um sechs Sonette, eine Ode und zwei längere Werke ohne jede Form. All diese Machwerke klangen wie das mystische Gefasel einer irrsinnigen Hexe. Die Themen waren unwirklich und nicht greifbar. Aurora Day lebte offenbar in einer völlig irrealen Vorstellungswelt. Wahrscheinlich war sie eine wohlhabende Neurotikerin, die sich diesen Luxus erlauben konnte, ohne mit der Wirklichkeit zusammenzuprallen. Der Stil der Gedichte war archaisch, fast eine Anlehnung an die beinahe vergessenen Griechen. Ich überlegte, was ich mit diesen Elaboraten anfangen sollte. Noch ehe ich mich zu einem Entschluß durchringen konnte, wurde ich mit einer zweiten Sendung bedacht. Zum Glück kam Tony Sapphire zu mir. Er lebte in einem Haus an der Uferstraße und beschäftigte sich mit dem Zusammenstellen einer Novelle. Einmal in der Woche kam er zu mir, um mir bei der Auswahl der Gedichte für die nächste Ausgabe zu helfen. Das war an sich eine einfache Aufgabe, denn mit Hilfe des VT-Apparates ließen sich Versmaß, Reim und Ideen leicht überprüfen. Tony fand die Blätter mit Aurora Days Gedichten und roch daran. „Der Geruch ist jedenfalls gut“, murmelte er. „Es scheint sich um eine originelle Methode zu handeln, sich an den 13
Verleger einer Zeitschrift heranzumachen.“ Er blätterte die Seiten durch und runzelte die Stirn. Dann legte er das Bündel auf den Tisch. „Was soll das?“ „Das weiß ich auch nicht. Sie nennt die Gedichte ‚Echos in einem Steingarten’.“ Tony las den Namen und kratzte sich den Kopf. „Eine neue Abonnentin? Was will sie damit bezwecken?“ Ich lächelte. Wie alle Dichter, hatte auch Tony zu lange vor seinem VT-Gerät gesessen und immer neue Kombinationen ausprobiert. Wahrscheinlich hatte auch er schon vergessen, daß es einmal eine Periode gab, in der die Dichter ihre Reime selbst erfinden mußten. „Es sind immerhin Gedichte“, sagte ich nachsichtig. Tony lachte auf. „Du meinst, die Frau hat sie selber geschrieben?“ „Warum nicht? Das ist lange Zeit so üblich gewesen. Shakespeare, Milton, Keats und Shelley – sie alle dichteten auf diese altmodische Art und Weise. Gar nicht einmal schlecht, möchte ich sagen.“ „Aber jetzt ist das doch hoffnungslos veraltet!“ protestierte Tony. „Wie kann ein Mensch mit einem IBMLogomatik-Ananalog-Gerät konkurrieren? Was soll denn dabei herauskommen?“ „Vielleicht erlaubt sie sich nur einen Scherz mit mir“, erwiderte ich nachdenklich. „Wie sieht sie denn aus? Sie ist wahrscheinlich über sechzig Jahre alt und klammert sich an antiquierte Vorstellungen. Merkwürdigerweise wirken diese blödsinnigen Verse ergreifend. Ob man es wahrhaben will oder nicht, sie sagen etwas aus.“ 14
„Es hat keinen Sinn“, erwiderte ich. „Ich habe mich bereits entschieden.“ Meine IBM-Maschine warf einen Streifen aus. Ich brauchte noch einen Vers für Rupert Brookes satirisches Gedicht. Ich hatte alle Schlüsselwerte in die Maschine gegeben und brauchte mir das Resultat gar nicht erst anzusehen. Wir arbeiteten zwei Stunden lang, um die verschiedenen Beiträge auf die gewünschte Länge zu bringen. Mit Hilfe der Maschine war das eine Kleinigkeit. Danach setzten wir uns mit kühlen Drinks auf die Terrasse und blickten durch die Dunkelheit zu Aurora Days Haus hinüber. Tony bemerkte die überall hängenden Papierstreifen und wunderte sich darüber. „Was hat denn das zu bedeuten?“ fragte er, fing einen der durch die Luft fliegenden Streifen auf und glättete ihn auf der gläsernen Tischplatte. Kopfschüttelnd las er ein paar Worte und ließ den Streifen vom Tisch wehen. Im Nachbarhaus war wie immer nur ein Zimmer erleuchtet. Das aus dem Fenster fallende Licht ließ deutlich die ins Freie flatternden Streifen erkennen, die eigenartigerweise immer zu mir herübergeweht wurden. „Jetzt weiß ich alles“, murmelte Tony und fing noch einen Streifen auf. „Du wirst belagert, alter Freund.“ Er hatte recht. Jeden Tag schickte mir Aurora Day zwei Sendungen herüber. Jeden Abend wehten nicht mehr Teile von Gedichten bekannter Leute zu mir, sondern Wiederholungen ihrer eigenen Machwerke. Ich untersuchte die Streifen sehr sorgfältig und stellte zu meiner Überraschung fest, daß sie nicht aus einem Apparat stammten. Sie waren vielmehr mit der Hand geschrieben worden. 15
Allmählich gewöhnte ich mich daran, die Sendungen nach einer flüchtigen Prüfung ins Archiv zu legen. Nach einer Woche packte ich alles zusammen in einen großen Umschlag, legte eine vorgedruckte Ablehnung bei und schickte ihr die Arbeiten zurück. In jener Nacht hatte ich den ersten schrecklichen Traum, den ich bis heute nicht vergessen habe. * Am nächsten Morgen kochte ich mir einen starken Kaffee und ging auf die Terrasse hinaus. Nach dem furchtbaren Traum fühlte ich mich zerschlagen und elend. Für einen kurzen Augenblick machte ich die verrückten Gedichte meiner Nachbarin dafür verantwortlich, denn ich hatte schon seit Jahren nicht mehr geträumt. Bis gegen Mittag blieb ich lustlos auf der Terrasse liegen und beobachtete ihr Haus. Alle Fenster waren geschlossen Wer war diese Frau und was wollte sie von mir? Fünf Minuten später kam der rosa Cadillac über die Uferstraße gebraust und fuhr auf meine Auffahrt. Schon wieder eine Sendung? Ich war der Sache müde, stand aber trotzdem auf und ging dem Fahrer entgegen, der mir einen Umschlag gab. „Hören Sie!“ sagte ich entschlossen. „Es ist nicht meine Absicht, ein Talent zu entmutigen. Ich habe es jetzt aber satt. Sie scheinen einen nicht geringen Einfluß auf Ihre Herrin zu haben. Nutzen Sie ihn! Die verdammten Streifen sind mir lästig. Sagen Sie ihr das so sanft wie möglich.“ 16
Der Mann sah mich mit seinen rötlich schimmernden Augen an, grinste traurig und hinkte zum Wagen zurück. Ich blickte ihm nach und öffnete den Brief. Er enthielt nur einen einzigen Bogen. Der Text lautete: „Sehr geehrter Mr. Ransom, die Ablehnung meiner Gedichte überrascht mich. Ich gebe Ihnen den guten Rat, noch einmal darüber nachzudenken. Es handelt sich schließlich nicht um Belanglosigkeiten. Ich erwarte, daß Sie meine Gedichte in der nächsten Ausgabe Ihrer Zeitschrift erscheinen lassen. Aurora Day“ In der folgenden Nacht hatte ich wieder einen schrecklichen Traum. * Die nächste Auswahl ihrer Gedichte erhielt ich schon am frühen Morgen, als ich mich abmühte, die Traumgestalten der Nacht aus meinem Bewußtsein zu verbannen. Erst nach einigen Martinis hatte ich die Energie, die drei kurzen Gedichte zu lesen. Sie waren genau wie die anderen beim besten Willen nicht zu gebrauchen. Wie sollte ich die Frau von ihrer Talentlosigkeit überzeugen? Nachdenklich ging ich auf die Terrasse und dachte darüber nach. Zu allem Unglück lief ich genau in eine Sandbö hinein. Das gab mir den Rest. Wütend rannte ich wieder ins Haus, packte den Rest der Gedichte ein und schrieb: „Zu meinem Bedauern völlig unbrauchbar. Bitte sehen Sie von weiteren Zusendungen ab.“ 17
Um ganz sicherzugehen, fuhr ich selbst zur Post und gab den Brief auf. Nach der Rückkehr fühlte ich mich bedeutend erleichtert. Jetzt würde sie es nicht mehr wagen, mich zu belästigen. Am selben Nachmittag entwickelte sich ein winziger Pickel auf meiner rechten Wange zu einer gefährlich aussehenden Beule. * Am nächsten Tag kamen Tony Sapphire und Raymond Mayo zu mir. „Druck doch einfach eins von diesen blödsinnigen Gedichten ab!“ empfahl mir Tony. „Ich will verdammt sein, wenn ich das tue!“ protestierte ich. Durch das Fenster konnte ich das Haus meiner Nachbarin sehen. Nirgends zeigte sich Leben. „Wenn du eins von ihren Gedichten akzeptierst, wird sie dich bestimmt in Ruhe lassen“, sagte Tony beschwörend. „Dessen bin ich nicht ganz sicher. Vielleicht ist das nur der Anfang. Sie hat bestimmt einen Koffer voller Dramen mitgebracht.“ Raymond Mayo starrte ebenfalls durch das große Fenster zum Studio 5 hinüber. Er war ein eleganter Mann, an diesem Tag ganz besonders. Ich fragte mich schon, warum er diesen Aufwand trieb, als er es mir erklärte. „Ich sah sie gestern im ‚Psycho i’.“ Er sah mich nachdenklich an. „An deiner Stelle würde ich ihre Wünsche erfüllen. Sie ist eine ungewöhnliche Frau, das schwör’ ich dir“ 18
Ich wollte nicht. „Das ist meine Sache“, sagte ich beharrlich. „Ihr Schreiberlinge seid immer böse, wenn ein Verleger einem Anfänger keine Chance geben will. Ich bin schon zu lange in dem Geschäft und weiß sehr gut, was ich zu tun und zu lassen habe. Die hübsche Hexe da drüben versucht es mit allen Mitteln. Sie glaubt anscheinend, sie braucht mir nur schlechte Träume und Eiterbeulen anzuhexen, um mich gefügig zu machen.“ Die beiden Freunde verließen mich. Sie hielten mich für starrköpfig und pedantisch. Ich war trotzdem entschlossen, mich nicht übertölpeln zu lassen. * Zwei Stunden später schwoll der scheußliche Abszeß schnell wieder ab. Ich hielt mich schon für den Sieger, als ich die gerade angelieferten ersten Exemplare der nächsten Nummer meiner Zeitschrift durchblätterte und eine böse Überraschung erleben mußte. Nicht eine einzige Zeile entsprach meinen Angaben, alle Gedichte waren von Aurora Day. Die ganze Ausgabe war einem Piratenstreich zum Opfer gefallen. Ich war so wütend, daß ich die fünfhundert Hefte in den Garten trug, mit Benzin übergoß und anzündete. Gleichzeitig wurden auf meine Anweisung hin die restlichen fünftausend schon gedruckten Hefte in der Druckerei unbrauchbar gemacht. Kein Mensch konnte mir erklären, wie es möglich gewesen war, daß die von mir zum Druck freigegebenen Manuskripte gegen die von Aurora Day vertauscht wurden. 19
Nun sah ich sie doch. Sie stand auf dem Dach des Nachbarhauses, ihr schleierartiges Kleid blähte sich im Wind. Sie, starrte zu mir herüber, wo ihre Geisteskinder in Flammen aufgingen und als verkohlte Fetzen durch die Luft wirbelten. Ob es die Benzindünste oder die Martinis waren, kann ich jetzt nicht mehr mit Sicherheit sagen, aber ich schwankte plötzlich und konnte mich nur mit Mühe in den Schatten des Hauses retten. Irgend etwas hatte mich krank gemacht. Wenig später sah ich die ersten in die gläsernen Stufen eingravierten Zeilen. Sie entstammten einem Gedicht von Shakespeare. Mein ganzes Haus war geschändet worden, denn überall fand ich die untilgbaren Inschriften: auf dem Ledersessel, an den Türen, Zimmerdecken, Schränken und auf den Fußböden. Ich rettete mich an meine Bar und goß mir ein großes Glas Whisky ein. Auch in das Glas war ein passender Spruch eingraviert. Wie betäubt stand ich da und starrte auf die Zeilen, bis die Buchstaben vor meinen Augen tanzten. Auch auf meiner Haut wurden Tätowierungen sichtbar, kreuz und quer geschriebene Zeilen. Ich ließ das Glas fallen und rannte zum nächsten Spiegel. Selbst mein Gesicht war auf diese irrsinnige Weise verunstaltet. Tobend lief ich aus dem Haus und dann quer durch den Sand zum Studio 5 hinüber. Die Tür öffnete sich von selbst. Aurora lag auf ihrer Couch und erwartete mich. Sie fütterte gelangweilt die kleinen Zierfische in dem Bassin unter der plätschernden Fontäne und schien meine Erregung nicht zu bemerken. 20
Später saßen wir neben der Fontäne und beobachteten die träge schwimmenden Fische. Sie hatte mir ihre Bedingungen gesagt. Sie verlangte nicht weniger als die absolute Kontrolle über meine Hefte; sie allein wollte die Gedichte auswählen, die den Lesern vorgesetzt werden sollten. Das bedeutete einen absoluten Wechsel der bisher für die Ausgaben geltenden Prinzipien. „Keine Angst“, sagte sie, „unsere Vereinbarung soll nur für die nächste Ausgabe gelten.“ Eigenartigerweise wollte sie ihre eigenen Gedichte gar nicht mehr veröffentlichen. „Tatsächlich nur eine Ausgabe?“ fragte ich zweifelnd. „Das hängt von Ihnen und Ihren Freunden ab“, antwortete sie und tauchte eine Hand in das kristallklare Wasser. „Sie müssen wieder wirkliche Dichter werden.“ Ich starrte nachdenklich auf die winzigen Wellen. Wir saßen lange zusammen und unterhielten uns. Sie erfuhr alles über mich, aber sie blieb weiterhin eine rätselhafte, unergründliche Erscheinung. Nur ihre Besessenheit schälte sich klar heraus. Anscheinend fühlte sie sich persönlich für die Dichtkunst verantwortlich. Die von ihr vorgeschlagenen Änderungen betrachtete ich aber als rückschrittlich. „Sie müssen meine Freunde kennenlernen“, sagte ich in der Hoffnung, sie dadurch umstimmen zu können. „Ich werde sie kennenlernen“, antwortete sie. „Ich hoffe, ich kann ihnen helfen. Sie haben alle noch sehr viel zu lernen.“ Ich gab mir keine Mühe, mein Lächeln zu unterdrücken. „Meine Freunde werden diese Mühe kaum zu schätzen wissen. Sie halten sich alle für große Meister. Übrigens haben sie die Suche nach dem Ideal längst aufgegeben. 21
Warum sollen sie sich abmühen, wenn die neuen Geräte alle Möglichkeiten erschöpfen?“ Aurora Day wurde ernstlich ungehalten. „Das sind keine Dichter, sondern Mechaniker“, murrte sie. „Sehen Sie sich diese sogenannten Gedichte doch einmal an! Wenn ich diese Zeilen lese, denke ich immer nur an Verstärker, Widerstände und Leitungsdrähte. Wenn ich sage, Ihre Freunde hätten noch viel zu lernen, dann meine ich die wirkliche Kunst. Sie müssen sich selber erforschen, ihre Herzen und Seelen ausloten. Ein Gedicht ist doch so etwas wie in Worte gefaßte Musik.“ Sie sah bewundernswert aus. Sie wußte es auch und spielte ihre Reize aus. „Die Dichtkunst ist tot“, fuhr sie fort. „Die allzu perfekten Maschinen haben sie abgetötet. Kein Mensch denkt mehr daran, auf Inspiration zu warten. Wer ein modernes Gerät bedienen kann und kunstvolle Kombinationen erzielt, nennt sich heutzutage Dichter. Aber nur der wirklich Inspiration empfindende Mensch kann mit dem Herzen dichten. Sie haben doch selbst einmal Gedichte geschrieben. Erinnern Sie sich nicht mehr daran?“ Die Trauer in ihren Augen berührte mich stark. Ich fühlte mich schuldig und unfähig. Aber auch sie schien das zu empfinden und sich für den Zustand der Dichtkunst verantwortlich zu halten. „Haben Sie je von Melander und Corydon gehört?“ fragte sie. „Melander war die Muse der Poeten, eine weiße Göttin, und Corydon, wenn ich mich recht erinnere, ein Hofdichter, der sich ihretwegen umbrachte.“ „Sehr gut!“ sagte sie anerkennend. „Vielleicht sollte ich 22
Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Den Hofdichtern fiel damals nichts mehr ein. Sie wurden aber von den Damen bedrängt, die schließlich zu Melander gingen und nach den Ursachen der Unfähigkeit fragten. Die Muse hatte die Dichter lange Zeit nicht mehr inspiriert, weil diese ihre Kunst als ganz selbstverständlich betrachteten. Sie hatten die Quelle ihrer Kunst völlig vergessen. Melander wollte den Dichtern eine Lektion erteilen und verlangte, einer sollte sich opfern, um die Gunst der Göttin wiederzuerlangen. Die meisten weigerten sich, aber der junge Corydon, ein begabter Dichter, übrigens war er der Liebhaber der Muse und deshalb als einziger verschont worden, opferte sich. Das war ein schwerer Schlag für Melander, denn sie hatte nicht damit gerechnet. Ausgerechnet der beste hatte sein Leben für die Kunst geopfert.“ „Das ist doch nur ein Mythos“, sagte ich lächelnd. „In unserer Zeit gibt es keine Corydons.“ „Wirklich nicht?“ Sie spielte mit einer Hand im Wasser, so daß die Lichtreflexe über die Wände tanzten. An einer Wand entdeckte ich ein Relief, das die Sage darstellte, die sie mir gerade so anschaulich erzählt hatte. Ich sah die um die Göttin gescharten Dichter. Merkwürdigerweise hatte die weiße Gestalt eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Aurora Day. Auf den anderen Darstellungen war diese Ähnlichkeit noch augenfälliger. Wahrscheinlich hatte die anscheinend nur an die Dichtkunst denkende Frau diese Reliefs anfertigen lassen und selbst Modell gestanden. Ich suchte nach Corydon, der auf diesen Darstellungen ja nicht fehlen durfte. Dabei entdeckte ich ein bekanntes 23
Gesicht, konnte mich aber nicht an die wirkliche Identität des Mannes erinnern. Einen anderen erkannte ich aber genau: den hinkenden Chauffeur mit dem dunklen Gesicht, der auf dem Relief den Gott Pan darstellte. Immer mehr Gesichter kamen mir bekannt vor. Aurora Day bemerkte es und zog ihre Hand aus dem Wasser. Im selben Augenblick konnte ich die Reliefs nicht mehr sehen. Sie starrte mich einige Zeit an, fast so, als hätte sie die Gegenwart vergessen. Irgendwelche Erinnerungen schienen ihr einen großen Schmerz zu bereiten. Was mich aber am stärksten beeindruckte, war das geheimnisvolle Erlöschen der unsichtbaren Lichtquellen, die mir das Betrachten des Reliefs ermöglicht hatten. Ich befand mich wieder in der Gegenwart, allerdings mit einer anderen Meinung über Aurora Day. Sie schien in einer Welt der Gedanken und Illusionen zu leben, in die sie andere nach Belieben einlassen konnte. Eine Weile später schlief sie ein. Ich verhielt mich lange Zeit ruhig und beobachtete das weiße Gesicht. Das von draußen durch die Halle kommende Licht erhellte nur Einzelheiten. Der zwischen ihren Brüsten hängende Edelstein funkelte in unwahrscheinlicher Pracht. Um sie nicht zu stören, schlich ich mich langsam hinaus. Der Chauffeur mit dem dunklen Gesicht wartete schon auf mich. Seine kleinen Augen leuchteten wie glühende Kohlen. * Zu Hause angelangt, machte ich mich sofort an die Kombination eines Gedichts für die nächste Ausgabe. Dazu 24
brauchte ich nur die Schlüsselworte aufzuschreiben und in den Komputor zu geben. Im Arbeitszimmer mußte ich aber eine Überraschung erleben. Während meiner Abwesenheit hatte jemand alle drei Geräte zerstört. Die drei teuren Apparate waren nur noch wüste Schrotthaufen. Fassungslos starrte ich auf die wirr heraushängenden Drähte und Teile. Der Vandalismus dieser Tat war mir unbegreiflich. Während ich noch die Kosten für die Reparaturen abschätzte, wurde ich von verschiedenen Leuten angerufen. In allen Studios an der Sternenstraße waren die Komputoren unbrauchbar gemacht worden. Tony Sapphires neues 50-Watt-Gerät war mit einem Vorschlaghammer zertrümmert worden, Raymond Mayos Philco-Versomatic war ebenfalls nur noch ein unbrauchbarer Schrotthaufen. Das alles war in wenigen Stunden geschehen. Ich glaubte zu wissen, wer dafür verantwortlich war, denn bei der Rückfahrt hatte ich die schweren Werkzeuge auf dem Rücksitz Von Aurora Days Wagen liegen sehen. Trotzdem dachte ich nicht daran, die Polizei anzurufen. Damit wäre mir auch nicht geholfen gewesen, denn was ich brauchte, war Stoff für die nächste Ausgabe der „Welle IX“. Ich sah mich in einer unangenehmen Situation, denn wenn ich eine Ausgabe ausfallen ließ, würde ich bestimmt den größten Teil der Abonnenten verlieren. Aus diesem Grunde rief ich Aurora Day an und erklärte ihr meine Lage. „Ich muß etwas bringen!“ sagte ich. Merkwürdigerweise war auch ihr Manuskript verschwunden. Alle schon gedruckten Exemplare hatte ich vernichten lassen. „Wenn ich die nächste Ausgabe nicht bringe, muß 25
ich die Vorauszahlung für ein ganzes Jahr zurückgeben. Das würde mich ruinieren! Was schlagen Sie vor?“ Sie lachte. „Glauben Sie etwa, ich könnte die zerstörten Komputoren auf geheimnisvolle Weise schnell wieder reparieren?“ „Das wäre eine Möglichkeit. Anders werden wir kaum genug Stoff zusammenbringen.“ „Ich verstehe Sie nicht“, sagte sie vorwurfsvoll. „Es gibt doch eine sehr einfache Methode.“ „Und welche Methode ist das?“ „Schreiben Sie selbst!“ Ich hörte ihr lautes Lachen und konnte nicht einmal gegen diesen Vorschlag protestieren. „Hier in Vermillion Sands gibt es mindestens zwanzig Leute, die sich Poeten nennen“, fuhr sie fort. „Das sind genau die Leute, deren Komputoren zerstört wurden. Einige dieser Männer sollten doch in der Lage sein, eigene Gedichte zu verfassen.“ „Wollen Sie mich noch verhöhnen?“ fragte ich aufgebracht und verzweifelt. „Ich bin am Ende, Aurora!“ Sie legte einfach auf. Ich ließ mich in einen Sessel fallen und starrte Tony Sapphire an. „Wir sollen selber schreiben“, murmelte ich. „Sie muß verrückt sein!“ knurrte er. „Das ist alles die Folge ihrer Besessenheit“, versuchte ich ihr Verhalten zu erklären. „Sie hält sich offenbar für die Muse der Dichter, die auf die Erde zurückgekehrte Göttin, die hier die aussterbenden Dichter wieder auf den richtigen Weg führen will. Sie hat mir die Sage von Melander und Corydon erzählt. Glaubt sie etwa, ein junger Dichter würde sein Leben für sie hingeben?“ 26
„Völlig verrückt!“ murmelte Tony. „Noch vor fünfzig Jahren wurden inspirierte Gedichte geschrieben, aber nur von wenigen gelesen. Heutzutage wird eben auch nicht mehr geschrieben. Die modernen Apparate vereinfachen die ganze Geschichte und versorgen die wenigen, die wirklich noch Gedichte lesen wollen.“ Ich dachte nicht ganz so darüber, aber ich mußte Tony recht geben. Für mich war die Herausgabe meiner Hefte hauptsächlich ein Geschäft. Immerhin hatte ich mich aber mit der Analyse früherer Werke beschäftigt; dazu waren die modernen Geräte nämlich bestens geeignet. Leider waren alle Bänder mit meinen Aufzeichnungen unbrauchbar gemacht worden. Am nächsten Morgen saßen wir wieder auf der Terrasse und sahen zum Nachbarhaus hinüber. Aurora Day war anscheinend nicht im Studio 5, denn der rosa Cadillac stand nicht auf der Auffahrt. Nach langem Nachdenken zog ich den Telefonapparat heran und wählte die erste Nummer. „Ein Versuch kann nicht schaden“, . sagte ich betrübt, und rief Raymond Mayo ah. „Ich soll selbst ein Gedicht schreiben? Paul, du bist verrückt!“ antwortete Raymond, als ich ihm mein Anliegen vorgetragen hatte. Die Antworten der anderen fielen ähnlich aus. Wer nicht glatt nein sagte, zog sich mit einem Witz aus der Affäre. Die Idee, selbst zu schreiben und auf die Hilfe der Komputoren zu verzichten, erschien allen absurd. Nachdem ich alle angerufen hatte, legte ich den Hörer zurück. „Es hat keinen Zweck, Tony“, sagte ich erschöpft. 27
„Machen wir uns nichts vor. Ich schreibe nicht, du nicht, und die anderen erst recht nicht.“ Tony deutete auf einen Namen auf der letzten Seite meines Notizbuches. „Diese Nummer hast du vergessen, Paul.“ „Tristram Caldwell“, las ich und schüttelte den Kopf. „Das ist doch der scheue junge Mann mit der Figur eines Fußballers. Mit seinem Gerät war immer irgend etwas nicht in Ordnung. Leeren wir den Kelch bis zur bitteren Neige.“ Ein Mädchen antwortete. „Tristram? Ja, er ist hier.“ Ich hörte ein Bett knarren und dann einige unterdrückte Laute. Caldwell meldete sich erst nach einer Weile. „Was kann ich für Sie tun, Ransom?“ fragte er höflich. „Hören Sie, Tristram, ich nehme an, Ihr VT-Gerät ist auch nicht in Ordnung.“ „VT-Gerät? Doch – es ist in Ordnung. Warum?“ „Was?“ Ich sprang auf und riß fast den Apparat vom Tisch. „Ihr Gerät ist wirklich unbeschädigt? Hören Sie gut zu, Tristram!“ Ich erklärte ihm alles. Er war der Strohhalm, an den ich mich nun klammerte. Mit seinem Gerät würde ich die nächste Ausgabe retten können. Er ließ mich aber nicht ausreden und begann laut zu lachen. „Was ist daran so komisch?“ fragte ich empört. „Alles“, erwiderte er. „Sie hat recht. Kehren wir doch zur alten Methode zurück!“ „Unsinn! Wir brauchen eine Menge Stoff für die nächste Ausgabe. Ihr Gerät kann uns retten.“ „Einen Augenblick, Paul! Ich habe das Ding ein paar Tage lang nicht benutzt. Ich muß erst einmal nachsehen.“ 28
Da er den Hörer auf den Tisch legte, konnte ich alles verfolgen. Er und das Mädchen gingen, hinaus. Ich hörte die Tür zuschlagen und danach lautes Hämmern. Nach einer Weile kam Tristram zurück und sagte bedauernd: „Tut mir leid, Paul. Ich hätte mich vorher informieren sollen. Mein Gerät ist auch kaputt. Noch eine Frage: Meinen Sie es mit den wirklich selber geschriebenen Gedichten ernst?“ „Natürlich! Ich drucke alles, was von Aurora Day genehmigt wird. Sie hat sich die Kontrolle vorbehalten.“ „Großartig!“ Tristram jubelte förmlich. „Ich habe eine Menge Zeug herumliegen. Ich werde alles zusammenpacken. Eigentlich war ich schon ganz verzweifelt, weil ich keine Chance hatte, diese Sachen je gedruckt zu sehen. Es sind Balladen, Sonette und ein paar Oden.“ * Fünf Minuten nach dem Auspacken wußte ich, daß er mich hinters Licht führen wollte. Da waren all die Eigenarten, die er immer auf durchgebrannte Widerstände und Kurzschlüsse zurückgeführt hatte. Alles verriet seinen ganz persönlichen Stil, den ich nie hatte ausbügeln können. „Sein Gerät ist also doch noch in Ordnung“, sagte ich zu Tony. „Das sind unzweifelhaft die für Caldwell typischen Eigenarten.“ Dann kam mir eine Idee. Ich packte alles ein und grinste Tony an. „Vielleicht können wir die Hexe da drüben damit von ihrem Wahn heilen. Ich schlage vor, wir spielen mit. Der Stil dieser Gedichte ist grauenhaft, nichts stimmt. Sie wird diese Gedichte tatsächlich für handgeschrieben halten. 29
Dabei sind sie nur aus einem fehlerhaften Gerät gekommen.“ Tony schlug sich lachend auf die Schenkel. „Aber wird sie den Schwindel schlucken?“ „Warum eigentlich nicht? Sie erwartet doch, daß wir uns hinsetzen und wie die Klassiker unsere Gehirne zermartern. Sie hat sich ja auch nur die Kontrolle über eine einzige Ausgabe ausbedungen. Später können wir wieder machen, was immer wir wollen.“ * Wir kamen uns wie Verschwörer vor und freuten uns schon auf den Erfolg. Am Nachmittag rief ich Tristram an und sagte ihm, Aurora hätte seine Gedichte gut aufgenommen und wollte mehr lesen. Eine Stunde später brachte ein Bote die nächste Sendung. Tristrams Geschicklichkeit war wirklich enorm, denn er hatte sein Gerät mit vergilbtem Papier beschickt. Aurora mußte den Eindruck gewinnen, daß die Gedichte schon lange irgendwo herumgelegen hatten. Mein Erstaunen wurde noch größer, als Aurora die Gedichte rückhaltlos akzeptierte. Sie kritisierte einige Stellen, lehnte aber jede Änderung ab. Ich rieb mir die Hände, denn nun hatte ich sie in der Falle. Allerdings hatte ich eine Menge auszusetzen. Die Fehler waren allzu offenkundig. Normalerweise wurden alle Gedichte noch einmal von anderen Komputoren überprüft und verbessert, so daß es zum Schluß wirklich keine schwachen Stellen mehr gab. Sie wollte aber nichts davon hören; die 30
Gedichte sollten Werke von Tristram Caldwell bleiben, mit allen Fehlern und Schwächen. Mir sollte es gleichgültig sein. Ich packte die von ihr genehmigten Gedichte ein und eilte zurück. Tony saß am Telefon und drängte Tristram, noch mehr zu schicken. Er hielt die Sprechmuschel zu und winkte mich heran. „Er will uns hinhalten“, sagte er leise. „Wahrscheinlich will er eine Honorarerhöhung erzwingen. Angeblich hat er nichts mehr im Schreibtisch.“ „Laß mich mit ihm reden!“ Ich nahm den Hörer auf. Trübe Gedanken gingen mir durch den Kopf. Wenn Aurora den Schwindel bemerkte, würde sie mich bestimmt ruinieren. „Was ist denn los, Tristram? Wir brauchen Material. Lassen Sie das Ding doch schneller laufen!“ „Was soll das, Ransom? Ich bin doch keine Fabrik. Ich bin ein Dichter. Wenn ich etwas zu sagen habe, drücke ich es auf meine Art aus. So etwas läßt sich doch nicht erzwingen.“ „Wir haben noch fünfzig Seiten zu füllen, Tristram. Mit dem Material, das Sie uns geschickt haben, können wir höchstens zehn Seiten drucken. Was machen Sie im Augenblick?“ „Ich schreibe ein Sonett. Aurora kommt auch darin vor.“ „Großartig! Aber Vorsicht mit dem Vokabularwähler! Was haben Sie sonst noch?“ „Sonst noch? Das Sonett wird mich mindestens eine Woche lang in Atem halten.“ Es verschlug mir die Sprache. „Jetzt übertreiben Sie aber, Tristram“, murmelte ich schließlich. „Was ist denn passiert? Ist das verdammte Ding wirklich nicht mehr in Ordnung?“ 31
Er antwortete nicht und legte den Hörer auf. „Der scheint übergeschnappt zu sein!“ knurrte ich. „Womöglich fängt er tatsächlich an, mit der Hand zu schreiben und sich den Stoff aus dem Gehirn zu saugen.“ Wir warteten die ganze Nacht. Da Tristram uns nichts schickte, ging ich zu Aurora hinüber, um es ihr zu erklären. Sie war jedoch sehr froh darüber. Tristrams Langsamkeit schien sie sogar zu beruhigen. „So etwas läßt sich nicht mit Gewalt erreichen. Ein Mann kann nicht jeden Tag ein Gedicht schreiben, das für die Ewigkeit bestimmt ist.“ „Vielleicht sollten wir ihn etwas ermutigen“, schlug ich vor. Sie ging darauf ein und lud Tristram zum Essen ein. Um mich herum sah ich die Darstellung der Tragödie von Melander und Corydon, aber ich war zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, um die tiefere Bedeutung der Bilder zu erkennen. * Aurora Day und Tristram wurden unzertrennliche Freunde. Schon früh am Morgen waren sie zusammen, und wenn ich abends auf meiner Terrasse saß, konnte ich ihre Stimmen durch die Dunkelheit herüberklingen hören. Drei Tage nach dem ersten Zusammentreffen wollten sie fischen gehen. Sie luden uns alle dazu ein. Ich nahm die Einladung sehr gern an, weil ich hoffte, bei dieser Gelegenheit mehr über die Art der Verbindung der beiden herauszubekommen. 32
Bei der Abfahrt wußte noch keiner, was kommen sollte. Tristram und Aurora Day wurden von dem hinkenden, dunkelgesichtigen Chauffeur gefahren. Tony, Raymond und ich fuhren in Tonys Chevrolet hinterher. Am Ziel angelangt, kam Aurora auf den Gedanken, in den Felsenhöhlen Flugechsen zu jagen. Tristram war ein Experte in dieser gefährlichen Kunst. Die Echsen vermochten einen Menschen mit einem einzigen Stich ihres giftigen Stachels zu töten. Alles Weitere geschah wie im Traum. Aurora Day und Tristram standen plötzlich auf dem Boden einer dieser Höhlen und wurden von aufgescheuchten Flugechsen umflattert. Ich hatte den Eindruck, daß Aurora ihn so weit in die Höhle gelockt hatte. Tristram hätte sich allein nie in diese gefährliche Situation gewagt. Ich blickte durch eine kleine Öffnung in die Höhle und sah das grausige Schauspiel. Helfen konnte ich nicht, denn meine Öffnung befand sich zehn Meter über dem Boden der Höhle. Mir gegenüber starrte das dunkle Gesicht des hinkenden Chauffeurs durch ein Loch im Felsen. Ich schrie Tristram eine Warnung zu, doch er hörte mich nicht. Gleich darauf wurde er von einem Giftstachel getroffen und fiel aufs Gesicht. Aurora Day blickte ohne Bedauern auf den Toten nieder, drehte sich um und entkam durch einen engen Spalt. Wie ein Wahnsinniger eilte ich zu Tony und Raymond zurück. Ich kam aber zu spät, denn als ich endlich durch das Gewirr der Felsengänge ins Freie fand, raste der rosa Cadillac schon davon. 33
Ich folgte dem Wagen, aber Tonys Chevrolet war nicht schnell genug, so daß der Abstand immer größer wurde. Schließlich verlor ich den Wagen aus den Augen und mußte an einer Tankstelle nachfragen. Die beiden Männer gaben verschiedene Auskünfte. Es überraschte mich nicht. Aurora Day hatte die beiden Männer behext. Fluchend fuhr ich zurück. Studio 5 war leer. Erst bei der Suche wurde mir klar, daß Aurora Day alles vorausgesagt hatte. Ich, ein Dichter, hatte ihre Träume nicht wichtig genommen. Die Reliefs waren aber noch da. Fassungslos sah ich die Figuren an. Die Ähnlichkeiten waren verblüffend. Corydon war Tristram, Melander trug Auroras Züge, der hinkende Chauffeur war kein anderer als der Gott Pan. Ich sah mich, Raymond Mayo, Fairchild de Mille, Tony und all die anderen Poeten unserer Kolonie an der Sternenstraße. Ich verließ das einsame Haus und ging durch den Sand auf mein Haus zu. Überall lagen noch die Streifen mit Auroras Gedichtfragmenten. Ich war wie betäubt. In meinem Haus erwartete mich eine weitere Überraschung. Tristram lag ausgestreckt auf einer Couch und trank in aller Ruhe einen Whisky. Er sah mich grinsend an und ließ den Schock eine Weile wirken. „Ich dachte … Ich hielt Sie für tot, Tristram!“ würgte ich hervor. „Was, zum Teufel, ist denn geschehen?“ „Es ging leider nicht anders“, entschuldigte er sich. „Ist sie fort?“ „Ja. Der Wagen war schneller als meiner. Aber ich sah Sie fallen, Tristram. Ich hielt Sie für tot.“ 34
„Aurora auch. Aber ich kenne mich mit diesen Flugechsen aus. Zu dieser Jahreszeit sind sie ungiftig. Kennen Sie die Sage von Melander und Corydon?“ Ich setzte mich und hörte wortlos zu. Er hatte alles gewußt und das Spiel mitgemacht. „Ich wollte sie nicht enttäuschen“, schloß er seinen Bericht. „Dann war es ein bewußter Mordversuch!“ sagte ich empört. „Sie trieb ihr wahnsinniges Spiel etwas zu weit.“ „Warum regen Sie sich so auf?“ fragte er gelassen. „Das Dichten ist eben eine ernste Angelegenheit.“ Alles war so schnell gegangen, daß Tony und Raymond nichts von den Vorgängen bemerkt hatten. Tristram erzählte ihnen etwas von einer plötzlichen Laune meiner schönen Nachbarin. Nach seiner glaubwürdig klingenden Schilderung hatte sie in der Höhle einen Anfall von Platzangst bekommen. Ich wußte es besser, war aber froh, daß diese Vorgänge ein Geheimnis bleiben konnten. „Ich fragte mich, was sie jetzt tun wird“, sagte Tristram später „Ihre Voraussage hat sich nach ihrer Meinung erfüllt. Aurora hielt sich tatsächlich für Melander und wollte den ganzen Vorgang noch einmal abrollen lassen.“ „Hoffentlich ist ihre Enttäuschung nicht zu groß, wenn sie feststellt, daß die Gedichte wieder mit Komputoren verfaßt werden“, brummte ich. „Übrigens habe ich noch eine Menge freier Seiten. Ist Ihr Gerät einsatzbereit?“ Tristram schüttelte den Kopf. „Ich habe es heute morgen gleich nach Ihrem Anruf zertrümmert. Regen Sie sich nicht unnötig auf, Ransom! Vielleicht kann ich Sie beruhigen, indem ich eingestehe, daß ich das verdammte Ding seit Jahren nicht mehr benutzt habe.“ 35
Das war wirklich eine Überraschung. „Sie haben alle Ihre Gedichte selbst geschrieben?“ „Natürlich! Jede einzelne Zeile ist ein Stück meines Herzens.“ Stöhnend sank ich in den Sessel zurück. „Und ich habe mich völlig auf Ihr Gerät verlassen! Was soll ich jetzt machen?“ „Schreiben!“ antwortete Tristram grinsend. „Vielleicht bewahrheitet sich Auroras Voraussage. Sie hält mich für tot und die Dichtkunst für gerettet.“ „Ich wünschte, Sie wären tatsächlich tot!“ knurrte ich wütend. „Ich bin ruiniert! Können Sie sich überhaupt vorstellen, was mich der Spaß kosten wird?“ Später setzte ich mich an den Schreibtisch und stellte das schon vorhandene Material zusammen. Es reichte bestenfalls für die Hälfte der vorgesehenen Seiten. Merkwürdigerweise blieb für jeden in Vermilion Sands genau eine Seite. Leider hielt ich keinen außer Tristram für fähig, auch nur eine einzige Zeile zu produzieren. Die Zeit verging rasend schnell. Schließlich blieben mir nur noch vierundzwanzig Stunden. Ich war beinahe entschlossen, selbst ein Gedicht zu verfassen, als das Telefon läutete. Anfangs hielt ich die Anruferin für Aurora Day, doch zu meiner Erleichterung war es Fairchild de Mille, dessen Stimme am Telefon immer sehr feminin klang. „Was wollen Sie denn noch so spät?“ herrschte ich ihn an. „Ich möchte Ihnen nur etwas sagen, mein Lieber. Mir ist etwas Eigenartiges passiert. Sagen Sie, brauchen Sie noch 36
immer selbstverfaßte Gedichte? Ich habe heute ein paar Versuche gemacht. Was dabei herausgekommen ist, müßte eigentlich brauchbar sein.“ Ich ließ mir alles durchsagen und schrieb es auf. Seine Einfälle waren ungewöhnlich, aber brauchbar. Eine Seite war damit gerettet. Wenig später wurde ich von Angel Petit angerufen, der mir ebenfalls ein paar handgeschriebene Beiträge anbot. Auch er widmete seine Gedichte Aurora Day. Sie riefen einer nach dem anderen an. In Vermillion Sands schien in dieser Nacht kein Mensch zu schlafen. Macmillan Freebody, Robin Saunders – alle empfanden in jener denkwürdigen Nacht das unstillbare Bedürfnis, etwas Originelles zu schreiben. Das ging die ganze Nacht hindurch. Ich hätte eigentlich erschöpft sein müssen, aber die Aktivität der anderen frischte mich auf und regte mich zu eigenem Denken an. Tausende von Gedanken zuckten durch mein Gehirn, faszinierende Wortgebilde tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Nach einer Stunde konnte ich diesen inneren Zwang nicht mehr unterdrücken und griff nach Papier und Schreibstift. Die Gedanken kamen so schnell, daß ich sie gar nicht alle aufschreiben konnte. Es war wie ein wunderbarer Rausch, wie das Erwachen nach einer langen Periode unfruchtbarer Trägheit. Die Zeit schien stillzustehen oder ihre Bedeutung zu verlieren. Schon nach einer Stunde lag ein wunderbares Sonett auf meinem Schreibtisch. Nach zehn Jahren hatte ich endlich wieder einmal ein Gedicht geschrieben. Unter der Oberfläche meines Bewußtseins spürte ich Dutzende Einfälle nach 37
oben drängen wie blankes Gold, das nur ans Licht gebracht zu werden brauchte, um hell aufzuleuchten. An Schlaf war nicht zu denken. Ich schrieb und schrieb. Wenn einer meiner Freunde anrief, wurde ich ungeduldig, obwohl jeder Anruf ein fertiges Gedicht und damit die Rettung der nächsten Ausgabe meiner Zeitschrift bedeutete. Beim Nachdenken fiel mein Blick auf einen Briefumschlag. Es war ein Reparaturauftrag für die nächste Vertretung der Komputorenhersteller. Falls die Geräte nicht mehr zu reparieren waren, sollten neue geliefert werden. In Gedanken versunken zerknüllte ich den Brief und warf ihn in den Papierkorb.
Die Kamera des Montavarde (The Montavarde Camera) von Avram Davidson Mister Azels Geschäft lag zwischen dem Laden eines Glasers und dem eines Tuchhändlers; drei schmale Stufen führten zu seinem Eingang hinab. Das Geschäftsportal war niedrig; ein Vorübereilender hätte es kaum bemerkt, da die schmutzige Ziegelmauer der Glaserei bereits Teil eines Gebäudes war, das man etwas vorgebaut hatte. Drei schmale Treppen tiefer befand man sich in einem kurzen Gang, der an einer Tür endete. Es war alles sehr sauber. Der böige Wind wirbelte einzelne Strohhalme und Papierfetzen die Straße hinauf und hinunter und ließ die Gefährten seines lustigen Spiels überall verstreut liegen; überall, außer auf dem kurzen Gang vor Mr. Azels Geschäft. 38
Ungefähr in Augenhöhe war an der Innenseite der Tür eine Stange befestigt, und von ihr fiel in Falten ein roter, samtener Vorhang nieder. Das Schaufenster links vom Eingang war in der gleichen Weise dekoriert. In altmodischer Schrift stand auf der Glasscheibe einsam die Hausnummer. Weder ein Posteinwurf noch ein Name oder eine Bezeichnung war zu sehen, keinerlei Ankündigung oder Reklame sowohl an Tür als auch Fenster. Das Geschäft war nichtssagend wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Wenn einige der zahlreichen Passanten überhaupt ein Augenmerk darauf richteten, so geschah das nur, um festzustellen, daß es eben leer war. Keine Katze ließ sich in dieser ruhigen Abgeschiedenheit nieder, um in der Sonne zu dösen, obwohl doch oft zwei von ihnen unter dem Schaufenster des Tuchhändlers ruhten. An diesem besonderen Tag aber wurde das Paar durch die eiligen Füße eines gewissen Mr. Lucius Collins aufgeschreckt, der seinem Hut nachjagte, einer schicken Melone. Als er ihn eingefangen hatte, schnaufte Mr. Collins und pustete heftig durch den Mund – einen kleinen, vollen, rotlippigen Mund, beiderseits geziert von einem strohblonden, gepflegten Kotelettenbart. Unglaublich! dachte Mr. Collins, während seine strammen, kleinen Beine wirbelten. Empörend! Und niemand, den man dafür zur Verantwortung ziehen kann. Weder die Regierung, noch die Buren, noch Mrs. Collins mit ihrem ewigen Aufschnupfen und dem Kaninchengesicht. Unverschämt! Die goldenen Glieder seiner Uhrkette klingelten, schlugen aneinander und an den Bauch, über den sie hinweghing. 39
Gerade als der Wind den Tuchhändlerladen passierte, war er des Objektes seines Spiels überdrüssig, und der Hut fiel mit einem dumpfen Laut vor dem nächsten Laden zu Boden. Er rollte die erste, die zweite und die dritte Stufe hinab und blieb reglos an der Tür liegen. Dr. Collins stieg wütend die Treppen hinunter und bückte sich, um den Hut aufzunehmen. Plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung. Ein vielleicht dreißig Zentimeter breiter Streifen Glas, der vom Vorhang nicht verdeckt wurde, zog Mr. Lucius Collins Aufmerksamkeit auf sich. Ja, es hatte fast den Anschein, als ob er gaffte. Im Innern des Raumes stand, Mr. Collins rundes, rotes Gesicht betrachtend, ein kleiner, schlanker Herr gegen einen Schaukasten gelehnt, als ob er sich für eine Fotografie in Positur geworfen hätte. Der milde, amüsierte Ausdruck der Gesichtszüge brachte Mr. Collins schlagartig zum Bewußtsein, daß seine eigene Haltung bar jeder Würde war. Er tastete nach dem Hut, erhob sich, entstaubte die desertierte Melone mit dem Ärmel und betrat das Geschäft. Irgendwo im Hintergrund läutete eine Glocke. Ein roter Läufer bedeckte den Fußboden und dämpfte das Geräusch der Schritte. Der Raum war klein, aber geschmackvoll eingerichtet, in jenem soliden Stil, der in früheren Tagen einmal modern gewesen war. Nichts war schäbig oder zerschlissen, aber ebensowenig war etwas Neuwertiges vorhanden. Ein Glasleuchter hing an der getäfelten Wand, deren dunkles Holz den Glanz eifrigen Polierens trug. Der Leuchter brannte nicht, obwohl es im Raum ziemlich dunkel war. Es gab weder einen Ladentisch noch ein Regal, nur jenen einen Schaukasten. Und sogar dieser 40
war leer, bis auf einen gut gebürsteten Ascot-Zylinder, der auf ihm ruhte. Mr. Collins war es nicht recht, wenn der kleine, schlanke Gentleman den Eindruck gewann, daß er, Lucius, sich darin übte, vor verhängten Schaufenstern zu kauern und ins Innere zu starren. „Sind Sie der Besitzet?“ fragte er deshalb. Der Herr bejahte – noch immer lächelnd – die Frage. Es war ein trockenes, nüchternes Lächeln, und der Mann selbst wirkte nicht minder nüchtern. Er hatte eine lange, schmale Nase in einem langen, schmalen Gesicht und am Kinn ein Grübchen. Die schlanken Beine waren mit halbengen Pentalons bekleidet. Sie stammten offensichtlich aus einer Zeit, da solche Hosen tatsächlich Mode waren. Ihr Träger hatte also keineswegs einen exzentrischen Geschmack in puncto Kleidung. Der Stoff war ein Mittelding zwischen einem schottischen Plaid und einem karierten Wollgewebe. Ein Paar spitz zugeschnittene Schuhe, auf Hochglanz poliert, umschloß seine kleinen Füße. Ein graues Wams, von einer goldenen Uhrkette verziert, ein kurzer Gehrock und ein Vatermörder mit schwarzem Halstuch vervollständigten seine Kleidung. Keine besondere Epoche hatte ihr das Gepräge aufgedrückt; aber eines fiel auf: daß dieser kleine, schlanke Gentleman ursprünglich – wann immer es auch war – ein Dandy gewesen sein mußte, eine jener blasierten, nüchternen, ewig lächelnden Typen. Von der Nase bis zum Kinn zogen sich zwei tiefe Falten, und in den Augenwinkeln konnte man kleine Lachfältchen entdecken. Das Haar des Mannes war braun, schon ziemlich schütter und nach der herkömmlichen Façon geschnit41
ten. Das einzig Ungewöhnliche war eine Locke nach der Manier des alten Lord Beaconsfield, allgemein als „Schmachtlocke“ bekannt. Ebenso unkaufmännisch wie dieser Mann selbst wirkte sein adrett eingerichteter Laden. „Der Wind, verstehen Sie, er – ah – wehte mir den Hut vom Kopf und trug ihn davon. Er, er ließ ihn vor Ihrer Tür fallen, sozusagen.“ Mr. Collins sprach wütend, da er den Eindruck hatte, daß der Mann noch immer ein wenig amüsiert war, was er auf seinen eigenen, überstürzten Eintritt zurückführte. Um seine Verlegenheit zu verbergen und seine hoch immer währende Anwesenheit zu rechtfertigen, fragte er rasch: „Was verkaufen Sie hier eigentlich?“ Dabei wies er in den sterilen Raum. „Was wünschen Sie zu kaufen, mein Herr?“ lautete die Gegenfrage. Mr. Collins errötete aufs neue, starrte hilflos ins Leere und grübelte über eine Antwort nach. „Na ja, was ich damit meinte, war ja nur: in welcher Branche sind Sie tätig? Sie haben ja überhaupt nichts ausgestellt. Nicht eine einzige Ware. Verstehen Sie, ich … Wie soll da jemand wissen, was Sie verkaufen, wenn Sie es nicht dort ausstellen, wo man es sieht?“ Während er so sprach, fühlte Mr. Collins seine Selbstsicherheit zurückkehren und fuhr mit wachsender Zutraulichkeit fort: „Nun, zum Beispiel, ich bin Fotograf. Aber wenn ich nichts zur Schau stelle, kann ich in meinem Beruf kein Geschäft machen. Ich darf wohl sagen, ich könnte jeden Tag hier vorübergehen, ohne auf den Gedanken zu kommen, jemals hier einzutreten.“ 42
Das Lächeln des Geschäftsinhabers vertiefte sich um eine Nuance, und seine Augenbrauen hoben sich der Locke entgegen. „Tja, der Zufall will es, daß auch ich mich mit dem Fotografieren beschäftige, und obwohl ich nichts ausgestellt habe, um Sie anzulocken, sind Sie dennoch hereingekommen. Ich kümmere mich in der Tat wenig um Anpreisungen und Reklame; ich finde das vulgär. Mein Salon ist nicht für Ihren Zwei-Pfennig-Typ-Kunden bestimmt, ich will auch nicht an dessen Geschmack appellieren.“ „Ihr Salon?“ Mr. Collins ließ seinen Blick erneut durch den Raum schweifen. „Wo ist er denn?“ Ein höchst merkwürdiges Studio – wenn überhaupt ein Studio – oder Geschäft, dachte er. Aber er war von der großzügigen Einstellung des Mannes, der es sich leisten konnte, die allgemeingültigen Regeln des Handels einfach zu ignorieren, tief beeindruckt. Der Geschäftsinhaber wies in den dunkelsten Winkel des Raumes. Dort thronte im Zwielicht zwischen Wand und Schaukasten eine überdimensionale Kamera archaischer Prägung auf einem Dreifuß. Mr. Collins betrachtete sie mit wachsendem Interesse und begann in dem Halbdunkel das Ding zu untersuchen. Hergestellt aus irgendeiner undefinierbaren Sorte Hartholz und mit Gold statt dem üblichen Messing verziert, war die alte Kamera ein Museumsstück. Trotz ihres Alters sah sie allerdings noch recht funktionstüchtig aus. Mr. Collins ließ seine Hand über die glatte Oberfläche gleiten und fühlte plötzlich eine rauhe Stelle an der Rückseite des Kastens. Offensichtlich war es ein in das Holz eingebrannter oder 43
gravierter Name, den Collins bei der herrschenden Dunkelheit allerdings nicht lesen konnte. Er wandte sich an den Verkäufer. „Es ist ein bißchen dunkel hier.“ „Ja, natürlich! Ich bitte vielmals um Vergebung Wie konnte ich das nur vergessen? Es ist ein bemerkenswertes Gerät, nicht wahr? Heutzutage findet man sicherlich kein derartiges Prachtstück mehr. Hat auch viele Jahre Arbeit gekostet, verstehen Sie?“ Während er sprach, zündete er einen Gasleuchter an. Das weiche, gelbe Licht der Flamme füllte den Raum. Immer mehr Geschäfte benutzten elektrisches Licht, dieses jedoch würde nie elektrifiziert werden, das war sicher. Mr. Collins beugte seinen Kopf abermals über den Kasten und suchte nach der Schrift. In verschnörkelter, alter Schreibweise hatte jemand vor langer Zeit den Namen Gaston Montavarde eingegraben. Mr. Collins blickte verblüfft auf. „Montavardes Kamera? Hier?“ „Ja. Montavarde arbeitete fünf Jahre an seinen Modellen, bevor er diese eine herstellte, die vor Ihren Augen steht. Zu dieser Zeit war er noch der Schüler jenes berühmten Daguerre, der zum erstenmal die Lichtempfindlichkeit des Silberjodids ausnutzte, indem er Silberplatten Joddämpfen aussetzte, diese so präparierten Platten in eine Camera obscura einsetzte und nach einer Behandlung mit Quecksilberdämpfen echte Positive, die bekannten Daguerrotypien, erhielt. Diejenigen, die Montavarde kannten, meinten, daß der Schüler den Meister übertroffen habe, so wie Daguerre seinen Zeitgenossen Niepce weit überflügelt 44
hat. Wäre Montavarde nicht gestorben, bevor er die Meisterschaft der Technik erreicht hatte, nach der er strebte, hätte sein Werk Weltruhm erlangt. Wie die Dinge liegen, wird Montavardes Stil und seine Wichtigkeit nur von wenigen, zu denen auch ich mich zähle, geschätzt. Sie, mein Herr, ich bin erfreut, dies bemerken zu dürfen, sind einer von jenen wenigen anderen Auserwählten.“ Der schlanke Herr machte eine leichte Verbeugung. Mr. Collins fühlte sich äußerst geschmeichelt, nicht sosehr durch die Verbeugung – alle Verkäufer verbeugen sich –, sondern durch das außerordentliche Kompliment bezüglich seiner Kenntnisse. In der Tat wußte er reichlich wenig über Montavarde, dessen Leben und Arbeit. Aber wer wußte schon mehr? Er kannte, wie alle frühen Studenten der Fotografie, Montavardes Studie einer Straßenszene in Paris während der Revolution von 1848. Barrikaden am Morgen – es zeigte einen zerstörten Wall und die entseelten Körper der Verteidiger – war vielleicht das erste Kriegsfoto, das je gemacht wurde. Es wird gewöhnlich und schlechthin als Daguerrotypie bezeichnet. Kaum mehr als sechs oder acht der Bilder Montavardes sind bekannt, und alle sind berühmt für ihre außerordentliche Leuchtkraft aus einer Quelle innerhalb der Szene. Collins erinnerte sich, daß noch einige andere Montavardes im Besitz von Sammlern mystischer und erotischer Motive existierten, die sich jedoch kaum zur Duplikation eigneten. Eines der berühmtesten davon ist die sogenannte La Messe Noire. Der abtrünnige Priester von Lyon, Du Val, der die Schwarzen Messen der Dämonen-Anhänger leitete, benütz45
te einige Jahre hindurch den nackten Körper der berühmten Kurtisane La Manchette als seinen „Altar“. Diese Szene war es, von der man sagte, Montavarde hätte sie fotografiert. Wie viele berühmte Frauen ihrer Art, hätte sich wahrscheinlich auch La Manchette zurückgezogen, um ihre Rosen aufzuziehen und ein hohes Alter zu erreichen, wäre sie nicht von einem ihrer zahlreichen Liebhaber umgebracht worden. Montavardes Fotografien der Guillotine (The Widow) vor und nach dieser Hinrichtung waren von dem französischen Zensor unter Louis Napoleon aus Gründen des öffentlichen Interesses verboten worden. Mr. Lucius Collins war dies alles bekannt, und nun die – mutmaßlich – selbe Kamera vor Augen zu haben, die alle jene Szenen auf die Platte gebannt hatte, das erklärte die Ehrfurcht und Achtung, die er davor empfand. „Wie sind Sie in ihren Besitz gekommen?“ fragte er, ohne sein Interesse zu verbergen. „Mehr als dreißig Jahre lang“, erklärte der Verkäufer, „war sie Eigentum eines Nordamerikaners Er kam nach London, erlitt finanzielle Rückschläge und mußte sie verkaufen. Man vermutet, er habe nicht einmal gewußt, daß es sich um jene Montavarde-Kamera handelte. Er kaufte sie auch nicht mehr zurück. Ich hatte bei der Versteigerung kaum Konkurrenten. Später hörte ich, daß er nach Amerika zurückgegangen und dort gestorben sei. Doch, wie dem auch sei, die Kamera war ein bon marche, ein gutes Geschäft. Ich verkaufte sie kurz darauf, aber die Zahlungen wurden nicht eingehalten, und hier ist sie wieder.“ Als Mr. Collins vernahm, daß die Kamera zu verkaufen sei, begann er auf den Verkauf hinzudrängen, obwohl er 46
wußte, daß er es sich nie leisten konnte, und hätte keine abschlägige Antwort hingenommen. Binnen kurzem war ein Vertrag aufgesetzt, in dem es hieß, daß er einen gewissen Betrag anzuzahlen habe und der Rest in acht Monatsraten zu tilgen sei. „Soll ich den Scheck in Pfund oder in Guineas ausstellen?“ fragte er. „Guineas natürlich! Ich betrachte mich nicht als einen Geschäftsmann.“ Der schlanke Herr lächelte und fingerte nach seiner Uhrkette, während Mr. Collins das Scheckbuch hervorzog. „Welchen Namen darf ich schreiben, mein Herr? Ich weiß nicht …“ „Mein Name ist Azel. Können Sie die Kamera allein handhaben? – Dann entbiete ich Ihnen einen guten Abend, Mr. Collins! Sie haben ein wertvolles, seltenes Stück erstanden. Erlauben Sie, daß ich Ihnen die Tür öffne.“ Mr. Collins brachte seine neue Errungenschaft in einem vierrädrigen Karren nach Hause und verwandte den Rest des Abends darauf, das Prachtstück zu putzen und zu polieren. Mrs. Collins, eine kleine, strähnige, knöcherne Person, die ihr Haar, wie sie glaubte, nach Art der Prinzessin von Wales trug, hatte wie gewöhnlich einen Schnupfen. Sie gab zu, daß die Kamera in einem ausgezeichneten Zustand, aber viel zu teuer sei. In früheren Tagen, als Miß Wilkins, hatte sie sich selbst mit Amateurfotografie beschäftigt, dieses Unterfangen aber schließlich aufgegeben, da es zu teuer gekommen war. Sie wiederholte ihre Bemerkungen einige Abende später, als ihr Bruder, der Reverend Wycliffe Wilkins, seinen wöchentlichen Besuch abstattete. 47
„Stell dir vor“, sagte Mr. Collins zu seinem Schwager, „ich weiß zwar bis heute noch nicht, welchem Prozeß der Erfinder seine Platten unterwarf, als er sie entwickelte, aber ich versuchte es, so gut ich konnte. Ich glaube, das Bild ist nicht schlecht geworden. Schau einmal her! Es ist das einzige, das ich bisher gemacht habe. Eines von diesen alten Tudor-Häusern auf der Great Cumberland Street. Man sagt, es sei eines der alten Pesthäuser gewesen. Traurig, daß es nun abgerissen wird, um einer neuen Straße Platz zu machen. Ich dachte, ich könnte den Abbrucharbeitern zuvorkommen.“ „Sehr sauber gemacht, wirklich, ich muß schon sagen“, bemerkte sein Schwager. „Ich bin leider selbst kein Fotograf. Aber augenblicklich hast du das Neueste über dieses besagte Haus noch nicht gehört, lieber Schwager. Es geschah gestern. Meine Köchin war auswärts, um einzukaufen, und als sie an jene Ecke kam, fiel das Haus in sich zusammen. Der Bau muß eine richtige Pfuscharbeit gewesen sein; ich meine, er war doch nicht viel älter als höchstens dreihundert Jahre. Natürlich war niemand darin, aber dennoch hat meine Köchin einen ganz schönen Schreck bekommen. Ich meine nicht, es sei schlecht, daß du die Kamera besitzt, aber ich für meinen Teil würde sie nicht im Hause haben wollen. Ich meine, im Hinblick auf ihre frühere Gesellschaft. Nackte Frauen, wirklich! – Du bist überflüssig, Mary.“ „Komm, komm, reg dich ab!“ entgegnete Mr. Collins. „Montavarde war schließlich ein Künstler.“ Mrs. Collins bekannte sich aufschnupfend zu der Meinung ihres Bruders. Mr. Collins verschloß gekränkt seinen 48
kleinen Mund und sprach kein Wort mehr, bis seine gute Laune durch das mit dem Tee eintretende Dienstmädchen restlos wiederhergestellt wurde. „Ich glaube, lieber Wycliffe, aus deiner Bemerkung schließen zu dürfen, daß du es nicht wagen würdest, dich von mir fotografieren zu lassen.“ „Aber warum denn nicht?“ mischte sich Mrs. Collins ein. „Nachdem Lucius derart viel Geld für die Kamera ausgegeben hat, sind wir doch mehr oder weniger gezwungen, von ihr Gebrauch zu machen. Lucius wird dich konterfeien, wann immer es dir beliebt. Er hat ja reichlich Zeit. Himbeer- oder Stachelbeermarmelade, Wycliffe?“ Mr. Collins fotografierte seinen Schwager im Pfarrhof, erst allein und dann mit seinem Kurat, dem Reverend Osias Gomm. Beide geistliche Herren waren sehr aktiv in der Abstinenzlerbewegung, und dies gab den tragischen Ereignissen der folgenden Tage eine etwas ironische Note. Es war nämlich gerade die Kutsche von Stout, dem Brauer, die das Verhängnis brachte, daran war kein Zweifel. Die Pferde hatten vor einem Fetzen Papier gescheut. Die Zeugen – sechs an der Zahl – sagten aus, beide geistliche Herren, in ihre Konversation vertieft, hätten gerade die Straße überqueren wollen, als die Kutsche um die Ecke gerast kam. „Die wurden nicht einmal gewahr, wer oder was sie über den Haufen gefahren hat“, berichteten die Zeugen übereinstimmend. Mrs. Collins sagte unter Tränen, dies sei ihr der einzige Trost. Sie verschwieg geflissentlich die Erbschaft (dreitausend Pfund und sechs Prozent Zinsen), erwähnte aber das Bild. 49
„Wie hell es ist, Lucius“, sagte sie. „Fast leuchtend.“ Nach dem Begräbnis fühlte sie sich frei genug, über die finanziellen Angelegenheiten ihres seligen Bruders zu sprechen. Und als gar die Erbschaft knapp vor der Freigabe stand, hatte Mr. Collins gar keine Zeit mehr zum Fotografieren. Er setzte die monatlichen Abzahlungen der Kamera fort, wenngleich er es auch immer als Plage empfand. Denn schließlich war es ja nicht sein Vermögen, das um 180 Pfund vergrößert worden war. Es war bereits November, als Mrs. Collins endlich gestattete, einzuheizen. Die Hinterlassenschaft des Anteils ihres Bruders an der väterlichen Erbschaft hatte ihren geizigen Charakter nicht zu ändern vermocht, obwohl sich ihr Gatte, und niemand sonst, eine Verbesserung erhofft hatte. Wenn er auch, wie stets jede Woche, den gleichen Betrag aus seinem persönlichen Verdienst zum Haushalt beisteuerte, wurde doch von Mal zu Mal weniger dafür geboten. Fleisch kam immer seltener auf den Tisch, und wenn, dann war es einem Rippenstück ähnlicher als einer guten Keule. Der Tee wurde immer dünner, und die Butterrationen schienen von Schwindsucht befallen zu sein. Mehr als einmal bat Mr. Collins um ein weiteres Stück Kuchen zum Tee und wurde darüber belehrt, daß es kein weiteres Stück Kuchen im Hause gäbe. Und das war wahr, wie er sich bei seinen nächtlichen Erkundigungsgängen in die Küche überzeugen konnte. Vielleicht – war es gerade deshalb, da er nun öfter mit leerem – und seit neuestem nervösem – Magen zu Bett ging, daß er von Alpträumen geplagt wurde, die sich zu dieser Zeit einstellten: Wirre Szenen, an die er sich nicht mehr genau erinnern konnte, stiegen aus seinem 50
Unterbewußtsein empor, und eine Stimme – flüsternd und resonant – wiederholte in einem fort: „Das Leben ist in dem Licht – das Leben im Licht.“ Natürlich hatte er gegen diese Behandlung protestiert, und ebenso natürlich war es ihm nicht gut bekommen. Mrs. Collins sprach mit einem Aufschnupfen von den erhöhten Preisen, dem unsicheren Stand des Weltmarktes und von der Notwendigkeit des Etwas-auf-die-Seite-Legens für die Zukunft, da man ja nichts Genaues wissen konnte. Es war also November. Ein gemütliches Kohlenfeuer prasselte im Kamin, und Mr. Collins saß in seinem Lieblingsstuhl behaglich davor und las die Zeitung. An diesem Abend gab es eine Anzahl interessanter Artikel in dem Blatt, und gelegentlich las Mr. Collins laut vor. Mrs. Collins war damit beschäftigt, alte Wollreste aufzutrennen, in der Absicht, damit etwas Neues zu stricken. „Mein Gott!“ sagte Mr. Collins plötzlich. „Was ist denn los, Lucius?“ „Außerordentlicher Appell des Bischofs von Lyons.“ Er blickte über den oberen Rand der Zeitung hinweg zu seiner Frau hinüber. „Soll ich es dir vorlesen?“ „Ja.“ Seine Exzellenz, der Bischof von Lyons, hielt es für nötig, alle Gottesfürchtigen auf eine Serie schrecklicher Verbrechen aufmerksam zu machen, die sich kürzlich in Stadt und Bischofssitz Lyons zugetragen hatten. Es sei ein Zeichen der Verderbtheit und der Dekadenz der Zeit, daß nicht nur einmal, sondern sechsmal im Laufe des vergangenen Jahres heilige Hostien aus Kirchen und Abteien der Stadt und des Bischofssitzes Lyons gestohlen worden wa51
ren. Es bestünde kaum ein Zweifel daran, schrieb der Korrespondent des Blattes aus Paris, daß der Bischof auf jene kuriosen Zeremonien Bezug nahm, die allgemein unter dem Titel „Schwarze Messe“ bekannt seien, und die, wie es scheine, noch immer in einigen Teilen Frankreichs gepflogen würden; und zwar nicht nur unter den ungebildeten Elementen der Bevölkerung. „Mein Gott!“ seufzte Mr. Collins wiederum. „Ach, diese Franzosen!“ entrüstete sich Mrs. Collins. „War es nicht Lyons – war dies nicht der Ort, wo diese unliebsame Person herkam? Den Kameramann meine ich.“ „Montavarde?“ Mr. Collins sah erstaunt auf. „Möglich. Ich weiß es nicht. Wie kommst du denn darauf?“ „Sagte es nicht der arme Wycliffe, Gott hab ihn selig, an seinem letzten Abend bei uns?“ „Sagte er das? Ich erinnere mich nicht mehr.“ „Er muß es gesagt haben. Woher sollte ich es sonst wissen?“ Dies war eine Frage, die nach keiner Antwort verlangte, aber sie erweckte neue Fragen in Mr. Collins. In dieser Nacht kam der Traum abermals, und er konnte sich, erwachend, noch sehr genau und klar daran erinnern. Da war eine Frau, eine ausländische Frau – doch woher er wußte, daß sie ausländisch war, konnte er nicht sagen. Ihre Stimme war es nicht, da sie nie sprach, nur gestikulierte: schreckliche, auch wollüstige Gesten! Auch an ihren Kleidern lag es nicht, denn sie trug keine. Sie hielt etwas von der Größe eines Guldenstückes in der Hand, das seltsam gezeichnet war, und bot es ihm an. Aber wenn er danach griff, zog sie es geschwind zurück, wo52
bei sie grell lachte, und warf es in ihren roten Mund. Während der ganzen Zeit echote monoton immer wieder und immer wieder die gleiche Stimme: „Das Licht ist im Leben – das Licht ist im Leben.“ Irgendwie kam ihm die Stimme bekannt vor. Am nächsten Tag begab er sich zu seinem Buchhändler, Mr. Pettigew, einem bekannten Antiquar, der unter den jungen und strebsamen Angehörigen des Gewerbes als die „wohlbekannte Antiquität“ bekannt war. Und unter dem Vorwand, nur ein wenig schmökern zu wollen, las Mr. Collins soviel wie möglich über den Dämonenkult im allgemeinen und Schwarze Messen im besonderen. Es war zwar äußerst interessant, aber da alle Bücher aus dem letzten Jahrhundert datierten, wurden weder Duval noch Montavarde erwähnt. Mr. Collins tippte grüßend an den Hut und verließ den Laden. Er kaufte eine Illustrated London News an einem Kiosk, erklomm einen Sitzplatz im vorderen Teil des Busses und rückte sich zurecht, um die Fahrt nach Hause zu genießen. Trotz der Jahreszeit war es ein herrlicher Tag, einer der herrlichsten Guy Fawkes’s Days, soweit sich Mr. Collins erinnern konnte. Die Illustrated, bemerkte er, brachte mit fortlaufender Nummer mehr und mehr Fotografien und weniger Zeichnungen. Fortschritt, immer Fortschritt, dachte Mr. Collins, während er beifällig und voll Berufsstolz das Bild des Duke of York und seines Sohnes, des kleinen Prinzen in Hochlandtracht, betrachtete. Dann wendete er die Seite um und sah etwas, das ihn veranlaßte, das Blatt fallen zu lassen. Es war das Bild eines Kriegsschiffes; doch war es 53
nicht das Objekt, sondern der Text, der seine Aufmerksamkeit mit solcher Vehemenz auf sich zog. „Obiges Foto“, so lautete der Text, „des unglückseligen amerikanischen Kriegsschiffes USS Maine entstand kurz bevor es zu seiner letzten Fahrt nach Havanna auslief. Die mit der Fotografie Vertrauten werden von der außerordentlichen Leuchtkraft des Bildes beeindruckt sein, das auf dem Prinzip eines Franzosen namens Montavarde beruht. Die Maine wurde gebaut in …“ Mr. Collins las nicht weiter. Er begann nachzudenken und dem Gedankenpfad bis zu seinem Ursprung zu folgen. Alle wüsten und unglaublichen Vermutungen verwerfend, zählte Mr. Collins, so gut er vermochte, alle Fotografien auf, von denen er wußte, daß sie von Montavardes Kamera stammten. „Barrikaden am Morgen“ bewiesen nichts, ebensowenig „The Widow“; in beiden kamen keine lebenden Personen vor. Andererseits, man betrachte La Manchette, die Hauptperson von Montavardes Bild „La Messe Noire“; man betrachte das alte Haus in der Great Cumberland Street und die Reverenden Wilkins und Gomm. Man denke auch an das Kriegsschiff „Maine“. Und nachdem er dies alles erwogen hatte, war Mr. Collins bei seiner Haltestelle angekommen. Er ging auf direktem Wege nach Hause, nahm die Kamera unter den Arm und stieg damit in den Keller hinab. War da irgendeine Macht in dieser teuflischen Kamera, die das Leben der Objekte einfach absorbierte? Konnte man nicht geradezu meinen, daß das Leben in Licht transmutiert wurde, jenes rätselhafte Licht, das besagte Fotografien ausstrahlten und das Objekt zum Sterben verurteilten? 54
Mr. Collins nahm eine Axt und begann die Kamera zu zerstören. Das Holz schien außerordentlich hart zu sein, und er entledigte sich seines Rockes, ehe er mit dem Werk der Vernichtung fortfuhr. Wie er es auch versuchte, er vermochte weder der Kamera, noch der Box, noch dem Messing oder den Linsen das kleinste Ritzerchen zuzufügen. Schließlich mußte er innehalten; der Schweiß strömte ihm übers Gesicht und aus allen Poren; außerdem hörte er die Stimme seiner Frau, die nach ihm rief und wissen wollte, was um des Himmels willen er da unten treibe. „Ah, ich zerlege eine Kiste, um Brennholz zu machen!“ rief er zurück. Und dann, als sie ihn verwarnte, ja nicht zuviel Holz zu vergeuden, da sie damit noch weitere vierzehn Tage auskommen müßten, weil Holz wieder teurer geworden sei – eben da, als sie lustig weiterschnatterte, wurde Mr. Collins von einer neuen Idee erleuchtet. Er nahm die Kamera, keuchte die Stufen empor, schleppte sie zum Feuer und warf sie mit einem Aufseufzen in die züngelnden Flammen. Nicht genug damit, häufte er noch Kohlen darauf, goß Petroleum darüber und betätigte eifrig den Blasebalg. Nach einer halben Stunde intensivster Feuereinwirkung war die Kamera noch immer nicht verbrannt, ja nicht einmal angesengt. Entmutigt zog er sie schließlich aus dem Feuer, erhitzt und aufgelöst, ratlos, was ihm noch zu tun übrig bliebe. Alle Zweifel, die er früher gehegt hatte, kehrten mit einem Schlage wieder. Vormals war er sich nicht ganz sicher gewesen, ob die Anwesenheit Montavardes mit seiner entsetzlichen Kamera bei den Teufelszeremonien – dem üblen Ritual, das von Duval, dem abtrünnigen Prie55
ster, durchgeführt wurde – von Bedeutung war. Es war nicht die Absicht des Kameramannes, bloß als Zuschauer diesen blasphemischen Handlungen beizuwohnen. Das Bespeien des Kruzifixes, das Unterzeichnen des Kontraktes mit dem eigenen Blut, das zeremonielle Durchbohren der gestohlenen Hostie und das Erwarten des scheußlichen Momentes, wenn der Priester oder die Priesterin dieser gottlosen Sekte die Anwesenheit des Bösen in seinem oder ihrem eigenen Körper manifestierten – all dies hat Montavarde sicherlich mitgemacht und nicht nur gesehen. Mr. Collins fühlte, daß er dringend ein wenig frische Luft benötigte. Er setzte den Hut auf, zog den Mantel an und stieg zur Straße hinab. Die leichte Brise kühlte angenehm sein erhitztes Gesicht und beruhigte seine Gedanken. Mehrere Kinder kamen die Straße entlang, zündeten Knallkörper an und warfen sie in die Luft. „Der fünfte November – denkt stets daran, daß mit Pulver und Blei und Verrat er begann!“ sangen die Kinder, als sie ihm begegneten. Sie schoben einen schäbigen Rollstuhl vor sich her, in dem eine Vogelscheuche saß – die Nachbildung eines Guy Fawkes, in Lumpen gehüllt. „Nie sollt ihr vergessen die blutige Tat, den Pulverdampf und den Verrat!“ endeten die traditionellen Phrasen, und mit erwartungsvoll ausgestreckten, fordernden Händen grölte die Meute: „Gedenket des Guy! Gedenket des Guy!“ Mr. Collins entrichtete der gierigen Gruppe gerade seinen Obolus, als er gewahrte, daß seine Frau, die ebenfalls herabgekommen war und nun aus einem Fenster des ersten Stockes blickte, mißbilligend den Kopf schüttelte und mit zusammengekniffenen Lippen andeutete, daß er ihnen kei56
nen Pfifferling zu geben habe. Er sah fort und betrachtete den Guy. Seine verschlissenen Hosen hatten schottisches Muster, die zerfledderten Schuhe waren spitz zugeschnitten. Ein schmutziges, graues Wams, ein löchriges Jackett, ein zerfranster und schmutziger Vatermörder und ein zerbeulter Ascot-Zylinder vervollständigten die Kleidung. Dieses Kostüm kam Mr. Collins unliebsam bekannt vor, aber er wußte noch nicht, wo er es hintun sollte. Gerade in diesem Augenblick wehte ein Windstoß den alten Zylinder hinweg und entblößte den Kopf des Guy Fawkes. Er war aus einer ausgehöhlten Kokosnuß gemacht, seine eingekerbten Züge waren eine schreckliche Karikatur des Gesichtes – ja, jenes schlanken Gentlemans, der die Kamera verkauft hatte. Die Kinder gingen ihres Weges, während Mr. Collins stehenblieb, im Kopf eine Menge fremdartiger Gedanken, und Mrs. Collins vom Fenster finster auf ihn herabblickte. Sie schien mit irgend etwas beschäftigt zu sein; ihre Hände bewegten sich eigenartig. Er vermeinte ein Jahrhundert sei vergangen, während er so dastand, die Hände in den Taschen vergraben, mit den Gedanken bei dem längst verblichenen Montavarde, der für einen unnennbaren und kaum zu erratenden Preis unübertreffliche Fähigkeiten im Bau und Gebrauch seiner Kamera erlangt hatte. Was sollte man nun tun? Man konnte sie in einen großen Sack stecken, oder noch besser in die Themse werfen. Man konnte sie an einem sicheren Platz, in einem Safe, verstecken und den Schlüssel verlieren. Mit einem Seufzer wandte er sich dem Hause zu und sah zu Mrs. Collins empor. Es schien ihm, daß sie niemals vor57
her so sehr einem Kaninchen ähnlich gesehen habe wie in diesem Augenblick, und er fühlte, wie sehr er Kaninchen verabscheute, sie immer verabscheut hatte, schon als Junge. Dies war ja auch noch nicht so lange her. Schließlich war er ja noch immer ein ganz passabler junger Mann. Viele attraktive Frauen würden bestimmt noch an ihm Gefallen finden. Sollte er untergehen wie ein Gemüse, während seine Frau an ihm knabberte? Nein! Der Weg war ihm gewiesen worden; er hatte gekämpft, aber diese Art des Siegens war ihm wohl nicht vorbestimmt. So sei es: Er würde dem Weg folgen, der sich ihm in dem Moment geöffnet hatte, da er die Kamera erwarb. Und er würde sie wiederum benützen – diesmal mit vollem Bewußtsein. Er begann die Stufen hinaufzusteigen, und gerade, als er oben anlangte, fühlte er einen brennenden Schmerz seine Brust durchwühlen, und die Sonne verlosch. Sein Hut fiel vom Kopf, als er stürzte, und rollte die erste, die zweite und die dritte Stufe hinab. Mrs. Collins begann zu kreischen. Selbst in diesem dunklen Moment der Agonie kam ihm zu Bewußtsein, wie wenig überzeugend diese Schreie klangen. Aus irgendeinem Grund kam das Ende nicht sofort. „Ich bin völlig zufrieden mit dem Bild, das ich von dir machte, bevor du hinfielst“, sagte Mrs. Collins. „Natürlich, es war ja auch das erste Mal seit unserer Hochzeit, daß ich wieder eine Kamera benützte. Und das Bild scheint heller zu werden, während man es ansieht.“ Logisch, dachte Mr. Collins; denn zur selben Zeit wurde er schwächer. Nun, es spielte keine Rolle mehr. 58
„Deine Angelegenheiten sind doch geregelt, nicht wahr, Lucius?“ Als sie ihn anblickte, waren ihre Augen hell, vogelartig. Ein Vogel ist natürlich nicht menschlich. Er gab daher keine Antwort. „Ja, ich bin sicher, sie sind es. Ich war ja gewissenhaft. Außer, daß dieser unliebsame Mr. Azel nach dem Geld verlangt, das, wie er behauptet, ihm noch immer für die Kamera geschuldet wird. Ich werde es ihm nicht zahlen. Aber ich werde es ihm zeigen. Er kann seine alte Kamera zurück haben, und sie möge ihm noch viel Gutes erweisen. Ich nahm den alten Ring meiner Mutter und zerkratzte die Linsen mit dem Diamanten.“ Ihre Stimme wurde nun immer schwächer. „Es ist eine Familientradition, weißt du. Der Diamant ist ein Erbstück; er war immer schon in unserer Familie, und man sagt, daß er einst in der juwelenbesetzten Monstranz war, die am Hochalter in Canterbury noch vor den Tagen des guten Königs Harald stand. Das wird diesem Mr. A. A. Azel eine gute Lehre sein.“
Die Kolonie (Colony) von Philip K. Dick Major Lawrence Hall beugte sich über das binokulare Mikroskop und korrigierte die Einstellung. „Interessant“, murmelte er. „Nicht war? Nun sind wir schon drei Wochen auf diesem Planeten und haben noch keine Schädlinge gefunden.“ Lieutenant Friendly schob die Glasbehälter beiseite und 59
setzte sich auf den Labortisch. „Ein sonderbarer Planet! Keine Krankheitserreger, keine Läuse, keine Fliegen, keine Ratten, keine … .“ „Kein Whisky, keine Verkehrsampeln.“ Hall richtete sich auf. „Welch ein Planet! Ich hatte erwartet, in dieser Brühe etwas Ähnliches wie den auf der Erde vorkommenden Eberthella-Typhus-Erreger zu finden oder einen Verwandten des marsianischen Sand-Fäulnis-Korkenziehers.“ „Aber alle Organismen auf diesem Planeten sind harmlos. Ich frage mich, ob dies der Garten Eden ist, aus dem unsere Vorfahren vertrieben wurden.“ Hall stand auf, trat zum Laborfenster und sah hinaus. Der Anblick war wundervoll. Wälder und grünende Hügel mit bunten Blumen und Weinstöcken dehnten sich vor ihm aus. Obstbäume und ganze Blumenfelder wechselten mit Wasserfällen, die von tiefgrünen Moosen, Flechten und Hängepflanzen eingerahmt wurden. Man bemühte sich, die Landschaft dieses Planeten Blau – wie ihn die Besatzung des Forschungsschiffes vor sechs Monaten genannt hatte – zu erhalten. Hall seufzte. „Welch ein Planet! Ich hätte nichts dagegen, später mal wieder herzukommen.“ „Wenn man das sieht, kommt einem die Erde ein wenig kahl vor, was?“ Friendly nahm seine Zigaretten aus der Tasche, steckte sie aber gleich wieder ein. „Weißt du, was mir hier passiert? Ich rauche nicht mehr. Komisch, was? Ich glaube, die Natur hier ist dran schuld. Alles sieht so verflixt rein aus. So sauber. Ich kann weder rauchen, noch Butterbrotpapier wegwerfen. Ich will mich nicht benehmen wie ein Ausflügler.“ 60
„Die Ausflügler werden aber bald kommen“, sagte Hall. Er ging zum Labortisch zurück und setzte sich wieder vor sein Mikroskop. „Ich werde noch einige Kulturen untersuchen. Vielleicht finde ich doch einen Krankheitserreger.“ „Versuch’s nur weiter!“ Lieutenant Friendly glitt vom Tisch. „Ich komme später vorbei und sehe nach, ob du Erfolg hattest. In Raum eins halten sie gerade eine große Konferenz ab. Sie sind schon halb entschlossen, die erste Ladung von Kolonisten herkommen zu lassen.“ „Die ebenso gut oder schlecht sind wie Ausflügler.“ Friendly grinste. „Ich fürchte, ja.“ Die Tür schloß sich hinter ihm. Das Geräusch seiner Stiefel entfernte sich auf dem Korridor. Hall war wieder allein im Labor. Eine Zeitlang blieb er gedankenversunken sitzen. Dann nahm er den Objektträger aus dem Mikroskop, suchte sich einen neuen aus und hielt ihn gegen das Licht, um die Aufschrift entziffern zu können. Es war warm und still im Labor. Sonnenlicht schien durch das Fenster und malte helle Flecke auf den Fußboden. Die Bäume draußen wiegten sich im Wind. Hall wurde schläfrig. „Ja, die Ausflügler“, brummte er und schob den neuen Objektträger in das Mikroskop. „Sie alle warten nur darauf, hier die Bäume zu fällen, die Blumen abzureißen, in die Seen zu spucken und das Gras niederzubrennen. Da es ja hier nicht einmal Schnupfenbazillen gibt, die …“ Er schwieg und rang nach Luft. Er rang nach Luft, weil sich der Doppeltubus seines Mikroskops um seine Kehle geschlungen hatte und versuchte, 61
ihn zu erwürgen. Hall wehrte sich, aber der Stahl preßte sich enger um seinen Hals wie die Greifer einer Falle. Mit ungeheurem Kraftaufwand gelang es Hall, das Mikroskop zu Boden zu werfen. Er sprang auf. Sofort aber kroch das Mikroskop auf ihn zu und umklammerte sein Bein. Mit dem freien Fuß trat er es von sich und zog seinen Strahler. Das Mikroskop schlitterte davon, und Hall schoß. Es verwandelte sich in eine Wolke von Metallteilchen. „Gütiger Himmel!“ Erschöpft setzte sich Hall und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. „Was, zum …“ Er rieb sich die Kehle. „Was, zum Teufel, war das?“ Der Sitzungssaal war überfüllt. Alle Offiziere der Gruppe Planet Blau waren zugegen. Kommandant Stella Morrison deutete mit der Spitze eines Zeigestocks aus Plastik auf eine Karte. „Diese große Ebene ist der ideale Ort für die Stadt. Sie liegt in der Nähe des Wassers, und das Wetter ändert sich ständig, so daß die Siedler ausreichenden Gesprächsstoff haben werden. Große Mineralvorkommen sind vorhanden. Hier können die Kolonisten Fabriken bauen. Sie brauchen nichts einzuführen. Hier liegen die größten Waldgebiete des Planeten. Wenn die Einwanderer vernünftig sind, werden sie sich die Wälder erhalten. Sollten sie sie aber zu Zeitungen verarbeiten wollen, so ist das ihre Sache.“ Die Frau sah sich um und musterte die schweigenden Männer. „Sehen wir der Realität ins Auge! Einige von Ihnen wollen nicht, daß wir den Auswanderungsbehörden das Startzeichen geben. Sie wollen den Planeten vielmehr für sich 62
behalten, um eines Tages hierher zurückzukehren. Auch ich fände das verlockend, aber wir bekämen nur Schwierigkeiten. Es ist nicht unser Planet. Wir haben hier unsere Pflicht zu erfüllen. Wenn wir unsere Untersuchungen abgeschlossen haben, reisen wir ab. Und wir sind fast fertig. Denken wir also nicht mehr daran. Wir sollten das Startzeichen geben und dann unsere Sachen packen.“ „Liegt der Laborbericht über Bakterien schon vor?“ fragte Vize-Kommandant Wood. „Bakterien gilt unsere besondere Aufmerksamkeit. Aber soviel ich weiß, wurde nichts festgestellt. Wir können uns daher bedenkenlos mit der Auswanderungsbehörde in Verbindung setzen. Es liegen keine Gründe dafür vor …“ Sie schwieg. Stimmen wurden laut, Köpfe wandten sich zur Tür. Stella Morrison runzelte die Brauen. „Ich darf Sie darauf hinweisen, Major Hall, daß es untersagt ist, die Sitzung zu unterbrechen.“ Hall schwankte und hielt sich an der Türklinke fest. Geistesabwesend sah er sich im Sitzungssaal um. Endlich blieb der Blick seiner glasigen Augen an Lieutenant Friendly hängen, der fast in der Mitte des Raumes saß. „Komm her!“ sagte Hall heiser. „Ich?“ Friendly duckte sich auf seinem Stuhl. „Was soll das, Major?“ mischte sich Vize-Kommandant Wood wütend ein. „Sind Sie betrunken, oder sind Sie …“ Er entdeckte die Strahlpistole in Halls Hand. „Ist etwas nicht in Ordnung?“ Erschrocken sprang Lieutenant Friendly auf, lief zu Hall und packte ihn an der Schulter. „Was ist los? Was ist denn?“ 63
„Komm mit ins Labor!“ „Hast du etwas entdeckt?“ Der Lieutenant forschte in dem starren Gesicht seines Freundes. „Was denn?“ „Komm!“ Hall trat auf den Flur, und Friendly folgte ihm. Vor dem Labor angekommen, stieß Hall die Tür auf und trat ein. „Was hast du entdeckt?“ fragte Friendly. „Mein Mikroskop.“ „Dein Mikroskop? Was ist damit?“ Friendly sah sich im Labor um. „Ich sehe es nirgends.“ „Es ist fort.“ „Fort? Wohin denn?“ „Ich habe es zerstrahlt.“ „Du hast es zerstrahlt?“ Friendly sah den Major an. „Kapier’ ich nicht. Warum?“ Hall öffnete den Mund, schloß ihn dann aber wieder, ohne etwas zu sagen. „Fühlst du dich nicht wohl?“ fragte Friendly besorgt. Dann bückte er sich und nahm einen schwarzen PlastikKasten von dem Bord unter dem Tisch. „Sag mal, soll das ein Scherz sein?“ Er nahm Halls Mikroskop aus dem Kasten. „Wie kannst du sagen, du hättest es zerstrahlt? Hier ist es doch. Wo es hingehört. Hast du einen Bazillus entdeckt? Tödlich? Oder ein Gift?“ Hall ging langsam auf das Mikroskop zu. Es war tatsächlich seins. Er erkannte es an dem Kratzer über der Phasenkontrasteinrichtung und der verbogenen Klammer am Objektgleittisch. Er berührte das Gerät. 64
Vor fünf Minuten hatte dieses Mikroskop versucht, ihn umzubringen. Und er wußte genau, daß er es zerstrahlt hatte. „Wie wär’s mit einer Nervenuntersuchung?“ fragte Friendly eifrig. „Du siehst aus, als hättest du ein Trauma erlitten – wenn nicht Schlimmeres.“ „Vielleicht hast du recht“, murmelte Hall. * Die Psycho-Testmaschine rasselte und klickte, ergänzte und kam zum Ergebnis. Endlich wechselten die Kontrolllampen von rot auf grün. „Na, und?“ fragte Hall. „Ernste Störung. Labilität über zehn Einheiten.“ „Das liegt über der Gefahrengrenze?“ „Ja. Acht bedeutet Gefahr. Zehn ist ungewöhnlich. Besonders für eine Persönlichkeit wie Sie. Für Sie wäre vier normal.“ Hall nickte müde. „Ich weiß.“ „Wenn Sie mir mehr Einzelheiten geben könnten …“ „Kann ich aber nicht“, unterbrach ihn Hall und schob den Unterkiefer vor. „Es ist verboten, während einer Psycho-Untersuchung Auskünfte zu verweigern. Dadurch wird das Ergebnis verfälscht.“ Hall stand auf. „Ich kann nicht mehr sagen. Aber das Untersuchungsergebnis zeigt, daß ich äußerst unausgeglichen bin?“ „Es besteht eine hochgradige Nervenzerrüttung. Wodurch sie hervorgerufen wurde, konnte nicht festgestellt werden.“ 65
„Danke!“ Hall schaltete den Tester ab. Er ging auf sein Zimmer. War er verrückt geworden? Aber er hatte auf etwas geschossen. Nach dem Kampf hatte er die Atmosphäre im Labor untersucht und Metallrückstände festgestellt. An der Stelle, auf die er gezielt hatte, waren sie besonders dicht gewesen. Aber wie konnte so etwas geschehen? Wie konnte ein Ding lebendig werden, ein Mikroskop versuchen, ihn umzubringen? Und dann hatte Friendly es heil und ganz aus dem Kasten gezogen. Wie war es da hineingekommen? Hall zog seine Uniform aus und trat unter die Dusche. Während das warme Wasser an seinem Körper hinabrann, überlegte er. Die Psycho-Testmaschine hatte herausgefunden, daß er äußerst verwirrt war. Aber das konnte die Folge und mußte nicht die Ursache seines Erlebnisses sein. Er hatte sich Friendly mitteilen wollen, doch dann lieber geschwiegen. Niemand würde ihm eine derartige Geschichte glauben. Er drehte den Wasserhahn zu und griff nach einem der Handtücher, die an der Wand hingen. Das Handtuch schlang sich um sein Handgelenk und riß ihn an die Wand. Rauher Stoff preßte sich auf seinen Mund und seine Nase. Er wehrte sich verbissen und riß sich los. Ganz plötzlich wurde das Handtuch schlaff. Hall fiel auf den Boden, sein Kopf schlug gegen die Wand. Sterne tanzten vor seinen Augen, und der Kopf tat ihm weh. Hall richtete sich auf. Er saß in einer Pfütze warmen Wassers und sah zum Handtuchhalter empor. Das Hand66
tuch hing jetzt still wie die anderen. Drei Handtücher waren es, alle gleich, alle bewegungslos. Hatte er es geträumt? Schwankend kam er auf die Füße und rieb sich den Kopf. Vorsichtig und darauf bedacht, keins der Handtücher zu berühren, schlich er sich aus dem Zimmer. Behutsam zog er ein frisches Handtuch aus dem Behälter. Es sah normal aus. Er trocknete sich ab und zog sich an. Plötzlich legte sich sein Gürtel von selbst um seine Taille, schnürte ihn immer enger ein und versuchte, ihn zu erdrücken. Er war stabil, dieser Gürtel mit der Metallverstärkung für die Pistolentaschen. In stummem Kampf rollten der Gürtel und Hall auf dem Boden umher. Der Gürtel bewegte sich wie eine wildgewordene Metallschlange, schlug und peitschte ihn. Endlich gelang es Hall, seinen Strahler zu ziehen. Sofort zog sich der Gürtel zurück. Hall zerstrahlte ihn und warf sich dann, nach Luft ringend, in einen Sessel. Die Armlehnen schlossen sich um ihn. Aber diesmal hatte er den Strahler schußbereit in der Hand. Sechsmal mußte er abdrücken, ehe der Stuhl zerstrahlt war. Halb angezogen stand Hall mitten im Zimmer. Er war völlig außer Atem. „Es kann nicht sein“, flüsterte er. „Das alles geschieht nur in meiner Vorstellung. Ich bin verrückt.“ Mit zitternden Fingern zog er Stiefel und Ledergamaschen an. Dann trat er auf den leeren Flur, ging zum Lift und fuhr in das Obergeschoß. Kommandant Morrison sah vom Schreibtisch auf, als Hall durch die Robotkontrolle kam. Es klingelte. 67
„Sie sind bewaffnet“, sagte Stella Morrison tadelnd. Hall sah auf den Strahler in seiner Hand. „Tut mir leid.“ Er legte die Waffe auf die Schreibtischplatte. „Was wünschen Sie? Was ist überhaupt mit Ihnen los? Mir liegt ein Bericht des Psycho-Testers vor. Danach beträgt Ihre Labilität mehr als zehn Einheiten.“ Sie musterte ihn eingehend. „Wir kennen uns seit langem, Lawrence. Was haben Sie?“ Hall holte tief Luft. „Stella, mein Mikroskop hat versucht, mich zu erwürgen.“ Ihre blauen Augen weiteten sich. „Was?“ „Später, als ich aus der Dusche kam, versuchte ein Handtuch, mich zu ersticken. Ich konnte mich befreien, aber während ich mich anzog, hat mein Gürtel …“ Er unterbrach sich, als Stella Morrison aufstand. „Wache!“ rief sie. „Warten Sie, Stella!“ Hall ging auf sie zu. „Hören Sie mir zu! Die Lage ist ernst. Es geht nicht mit rechten Dingen zu. Viermal haben Dinge versucht, mich umzubringen. Gewöhnliche, alltägliche Dinge wurden plötzlich tödlich. Vielleicht ist dies die Gefahr, nach der wir suchten. Vielleicht …“ „Ihr Mikroskop wollte Sie umbringen?“ „Es wurde lebendig. Es umklammerte meine Kehle.“ Eine Zeitlang herrschte Stille. „Hat das jemand außer Ihnen beobachtet?“ „Nein.“ „Was taten Sie?“ „Ich zerstrahlte es.“ . „Blieb etwas übrig?“ 68
„Nein“, antwortete Hall zögernd. „Und doch ist das Mikroskop jetzt wieder in Ordnung.“ „Aha!“ Die Kommandantin nickte den beiden Wachen zu, die auf ihren Ruf erschienen waren. „Bringt Major Hall zu Captain Taylor hinunter! Er soll ihn einsperren, bis er zur Untersuchung nach Terra geschickt werden kann.“ Ruhig sah sie zu, wie die Wachen Halls Arme mit magnetischen Greifern packten. „Tut mir leid, Major“, sagte sie. „Solange Sie Ihre Geschichte nicht beweisen können, müssen wir annehmen, daß Sie sich alles nur einbilden Und wir können auf diesem Planeten keinen Geistesgestörten frei umherlaufen lassen. Sie könnten großen Schaden anrichten.“ Die Wachen führten Lawrence Hall zur Tür. Er ließ es geschehen, ohne sich zu wehren. In seinem Kopf dröhnte es. Vielleicht hatte Stella recht. Vielleicht war er wirklich übergeschnappt. Sie standen vor der Tür von Captain Taylors Büro. Eine Wache klingelte. „Wer ist da?“ fragte die Robotkontrolle. „Kommandant Morrison vertraut diesen Mann dem Captain an.“ Eine Pause folgte. Dann sagte die schrille Stimme des Robotkontrolleurs: „Captain Taylor ist beschäftigt.“ „Unser Auftrag ist dringend.“ Die Relais des Kontrolleurs klickten, während er das Für und Wider erwog. „Befehl von Kommandant Morris?“ „Ja. Aufmachen!“ 69
„Ihn könnt eintreten“, gestattete der Kontrolleur endlich und ließ die Schlösser aufschnappen. Die Wache stieß die Tür auf – und blieb betroffen stehen. Auf dem Boden lag Captain Taylor. Sein Gesicht war blau, seine Augen blickten starr. Eine rot-weiß gestreifte Brücke war um ihn geschlungen und preßte sich immer enger um seinen Körper. Hall warf sich auf die Knie und zerrte an dem Teppich. „Schnell!“ befahl er. „Packt das Ding!“ Gemeinsam zerrten die drei Männer an der Brücke, doch sie widerstand ihnen. „Hilfe!“ rief Taylor schwach. „Wir versuchen es!“ Sie zerrten mit aller Kraft. Endlich gab die Brücke nach und wedelte auf die offene Tür zu. Eine der Wachen schoß darauf, und sie fiel wie ein lebloser Körper zu Boden. Hall lief zum Bildsprecher und wählte die NotrufNummer der Kommandantin. Stella Morrison erschien auf dem Bildschirm. „Sehen Sie, dort!“ keuchte Hall. Sie blickte an ihm vorbei und entdeckte Taylor, der noch auf dem Boden lag. Die beiden Wachen knieten mit gezogenen Strahlern neben ihm. „Was – was ist geschehen?“ „Eine Brücke hat ihn angegriffen.“ Hall grinste böse. „Gelte ich noch immer als verrückt?“ „Wir schicken eine Wachgruppe.“ „Die Leute sollen mit schußbereiten Waffen kommen! Ich würde raten, Alarm zu schlagen und alle zu warnen.“ Vier Dinge legte Major Hall auf Kommandant Morri70
sons Tischplatte: ein Mikroskop, ein Handtuch, einen Metallgürtel und einen kleinen rot-weiß gestreiften Teppich. Nervös wich Stella Morrison zurück. „Sind Sie sicher, Major, daß …“ „Jetzt sind die Dinge in Ordnung. Das ist das rätselhafteste daran. Vor ein paar Stunden wollte mich dieses Handtuch ermorden. Und dieses Mikroskop. Ich habe es zerstrahlt, um meine Haut zu retten. Und jetzt ist das Ding wieder da, als wäre nichts geschehen. Völlig harmlos.“ Captain Taylor befühlte die Brücke. „Das ist mein Teppich. Ich habe ihn von der Erde mitgebracht. Meine Frau hat ihn mir geschenkt.“ Sie alle sahen sich an. „Wir haben auch die Brücke zerstrahlt“, berichtete Hall. Eine Zeitlang sagte niemand ein Wort. „Aber was griff mich dann an, wenn es nicht dieser Teppich war?“ fragte Captain Taylor. „Es sah so aus wie dieser Teppich“, sagte Hall langsam. „Und was mich angriff, sah aus wie dieses Handtuch.“ Kommandant Morrison hielt es ans Licht. „Es ist ein ganz gewöhnliches Handtuch. Es kann Sie nicht angegriffen haben.“ „Natürlich nicht“, pflichtete Hall ihr bei. „Wir haben mit diesen Gegenständen sämtliche Tests durchgeführt, die wir uns denken konnten Sie sind genau das, was sie sein sollen. Alle Elemente sind unverändert. Es ist ausgeschlossen, daß einer dieser Gegenstände lebendig geworden ist und uns angegriffen hat.“ „Aber etwas hat mich angegriffen“, sagte Taylor. „Und wenn’s dieser Teppich nicht war, was war’s dann?“ 71
* Lieutenant Dodds suchte seine Handschuhe auf der Kommode. Er hatte es eilig, denn alle Expeditionsteilnehmer waren zu einer dringenden Sitzung beordert worden. „Wo hab’ ich denn …“ Er unterbrach sich und murmelte dann: „Verflixt, was ist das?“ Auf dem Bett lagen zwei Paar Handschuhe, die sich genau glichen. Dodds runzelte die Brauen und kratzte sich am Kopf. Wie war das möglich? Er besaß nur ein Paar. Das zweite mußte jemand anders gehören. Bob Wesley hatte ihn in der vergangenen Nacht besucht, um Karten zu spielen. Vielleicht gehörten sie ihm. Der Bildsprecher schaltete sich wieder ein. „Alle Mitglieder melden sich sofort! Alle Mitglieder melden sich sofort! Alarmstufe eins! Alarmstufe eins!“ „Ja, doch!“ brummte Dodds ungehalten. Er nahm ein Paar der Handschuhe und zog es an. Sobald er sie übergestreift hatte, geleiteten die Handschuhe seine Hände zu den Hüften, legten sich um den Knauf der Pistole und zogen sie aus der Halfter. „Mich trifft der Schlag!“ murmelte Dodds. Die Handschuhe hoben die Waffe und richteten die Mündung auf seine Brust. Der Finger am Drücker krümmte sich. Es knallte. Die Hälfte der Brust des Mannes war zerstrahlt. Was von ihm übrig blieb, fiel zu Boden. Noch im Tod verriet der offene Mund Dodds Erstaunen. 72
* Kaum hatte die Alarmsirene zu heulen begonnen, da eilte Corporal Tenner über den Platz zum Hauptgebäude. Vor dem Eingang blieb er stehen, um seine Nagelstiefel auszuziehen. Plötzlich runzelte er die Brauen. Vor der Tür lagen zwei Sicherheitsmatten statt einer. Sie glichen einander. Der Corporal stellte sich auf eine der Matten und wartete. Die Matte jagte einen Stromstoß durch seine Füße und Beine, und so wurden sämtliche Keime oder Samen abgetötet, die bei seinem Streifzug an ihm hängengeblieben sein mochten. Er eilte weiter und verschwand im Gebäude. Einen Augenblick später kam Lieutenant Fulton im Laufschritt auf die Tür zu. Er zog seine Stiefel aus und trat auf eine der Matten. Die Matte schlang sich um seine Füße. „He, loslassen!“ brüllte Fulton. Er versuchte, seine Füße zu befreien, aber die Matte schlang sich noch fester um sie. Der Lieutenant erschrak. Er zog seine Strahlpistole, aber er wollte sich nicht in den Fuß schießen. „Hilfe!“ rief er. Zwei Soldaten kamen angelaufen. „Was ist passiert, Lieutenant?“ „Reißt das verflixte Ding fort!“ Die Soldaten fingen an zu lachen. „Das ist kein Witz!“ sagte Fulton und war kalkweiß im Gesicht. „Das Ding bricht mir die Knochen. Es …“ 73
Er schrie auf, und die Soldaten bückten sich hastig zu der Matte hinunter. Sie zerrten daran. Fulton fiel zu Boden, krümmte sich und schrie lauter. Endlich gelang es den Soldaten, eine Ecke der Fußmatte loszureißen. Fulton hatte keine Füße mehr. * „Jetzt wissen wir Bescheid“, sagte Hall verbissen. „Es ist eine organische Lebensform.“ Kommandant Morrison wandte sich an Corporal Tenner „Sie sahen die beiden Fußmatten, als Sie vor dem Eingang ankamen?“ „Ja, Kommandant. Zwei. Ich trat auf die eine. Und ich kam ‘rein.“ „Sie hatten Glück. Sie traten auf die richtige.“ „Wir müssen vorsichtig sein“, sagte Hall. „Wir haben es mit Nachahmungen zu tun. Es – was immer es sein mag – imitiert Gegenstände, die es vorfindet, und tarnt sich auf diese Weise.“ „Zwei.“ Nachdenklich betrachtete Stella Morrison die beiden Vasen auf ihrem Schreibtisch. „Es wird schwierig sein, dahinterzukommen. Zwei Handtücher, zwei Vasen, zwei Stühle. Bestimmt sind Dutzende von Gegenständen in Ordnung. Alle echt bis auf einen.“ „Das ist die Schwierigkeit Ich habe im Laboratorium nichts Ungewöhnliches entdeckt. Ein Mikroskop mehr oder weniger, das fällt da nicht auf. Fügt sich bestens ein.“ Die Kommandantin rückte von den Vasen auf ihrem Tisch ab, die mit Blumen gefüllt waren. „Was ist mit de74
nen? Vielleicht ist eine – so ein unbeschreibliches Etwas.“ „Wir haben vieles doppelt und dreifach. Schuhe, Kleidung, Möbel. Ich habe den zusätzlichen Stuhl in meinem Zimmer nicht bemerkt. Und die vielen Ausrüstungsgegenstände, die Uniformteile. Waffen, Gürtel, Eßbestecke …“ Der Bildsprecher schaltete sich ein. Vize-Kommandant Woods Züge erschienen. „Wieder ein Todesfall, Stella.“ „Wer?“ „Lieutenant Dodds. Nicht viel übrig von ihm.“ „Das ist der dritte“, sagte Stella Morrison. „Wenn es Organismen sind, müßte es ein Mittel geben, sie zu zerstören. Wir haben schon einige zerstrahlt. Sie sind also verwundbar. Aber wir wissen nicht, wie viele es davon gibt. Fünf oder sechs haben wir unschädlich gemacht. Vielleicht ist es eine Substanz, die sich unbeschränkt spalten kann und dadurch vermehrt. Etwas ähnliches wie Protoplasma.“ „Was nun?“ „Nun sind wir denen ausgeliefert. Jedenfalls haben wir die tödliche Gefahr dieses Planeten entdeckt. Deshalb fanden wir auch keine Schädlinge, Bakterien, Viren oder Gifte. Mit diesem Organismus kann nichts konkurrieren. Auch bei den Tieren und Pflanzen Terras beobachten wir Mimikry, und ganz erstaunlich sind die Verwandlungskünste des Schnecken-Spinners auf Venus. Aber was wir hier vorfanden, ist beispiellos.“ „Es kann getötet werden. Sie sagten es vorhin. Also haben wir eine Chance.“ 75
„Wenn man es erkennt.“ Hall sah sich im Raum um. Zwei Capes hingen neben der Tür. Hatte vorhin nicht nur eins dort gehangen? Er rieb sich müde die Stirn. „Wir müssen ein Gift oder Ätzmittel finden, das diese Organismen zerstört. Wir können nicht abwarten, bis sie uns angreifen. Wir müssen ein Sprühmittel herstellen. Auf die Art haben wir den Schnecken-Spinner erledigt.“ Die Kommandantin starrte an ihm vorbei. Hall drehte sich um und folgte ihrem Blick. „Was ist?“ „Dort in der Ecke stehen zwei Aktenmappen. Vorhin stand nur eine … glaube ich.“ Sie schüttelte betroffen den Kopf. „Diese Unsicherheit! Bringt einen ganz durcheinander.“ „Sie brauchen einen kräftigen Schluck.“ Ihre Züge klärten sich auf. „Ausgezeichnete Idee! Aber …“ „Bitte?“ „Ich möchte nichts anfassen. Man hat doch keine Ahnung.“ Sie legte die Hand auf die Strahlpistole an ihrer Hüfte. „Ich möchte dauernd losfeuern. Auf alles feuern.“ „Kurzschlußhandlung. Aber eins ist sicher: die Dinger nehmen uns aufs Korn. Einen nach dem anderen.“ * Captain Unger empfing den Alarmruf durch den Kopfhörer. Sofort beendete er seine Arbeit, sammelte sämtliche Probeexemplare ein und lief zu seinem Fahrzeug. Der Rückweg zum Wagen kam ihm kürzer vor. Erstaunt 76
blieb er stehen. Da stand das kleine kegelförmige Gefährt, die Räder fest auf dem weichen Boden, die Türen geöffnet. Unger lief weiter, seine Muster behutsam an sich drückend. Er öffnete die Ladeklappe und legte die Proben hinein. Dann ging er nach vorn und setzte sich hinter das Schaltbrett. Er drückte den Starter, aber der Motor sprang nicht an. Das war merkwürdig. Während er versuchte, eine Erklärung zu finden, bemerkte er etwas, das ihn erschreckte. Wenige Meter vor ihm, von Bäumen halb verdeckt, stand ein zweiter Wagen, der seinem glich. Soweit er sich erinnerte, hatte er sein Gefährt dort geparkt. Also gehörte dieser Wagen, in dem er jetzt saß, einem anderen Mitglied der Expedition. Jemand war wie er auf der Suche nach Probeexemplaren. Unger faßte nach dem Wagenschlag, um ihn zu öffnen. Er wollte aussteigen. Aber die Tür preßte sich gegen ihn. Der Sitz umschlang ihn, reichte ihm bis zum Kopf. Das Armaturenbrett wurde weich und bewegte sich auf ihn zu. Er rang nach Luft, versuchte, sich loszureißen, sich von den Umklammerungen zu befreien, auszusteigen. Alles um ihn war feucht und brodelte. Eine flüssige Masse umgab ihn, warm wie Fleisch. Sein Kopf war bedeckt, dann sein Körper. Der Wagen verwandelte sich in Flüssigkeit. Unger versuchte, seine Hände zu befreien, vergeblich. Und dann begannen die Schmerzen. Er wurde aufgelöst. Plötzlich wurde ihm klar, was diese Flüssigkeit war. Säure. Verdauungssäfte. Magensäure. Er war in einem Magen. 77
* „Nicht hinsehen!“ rief Gail Thomas. „Warum nicht?“ Corporal Hendricks schwamm zu ihr hin und grinste sie an. „Warum soll ich nicht hinsehen?“ „Weil ich ‘raus will.“ Die Sonne schien auf den See, und glitzerndes Licht tanzte auf den Wellen Ringsum standen große moosbedeckte Bäume, mächtige, reglose Säulen zwischen den blühenden Reben und Büschen. Gail schwamm ans Ufer, schüttelte das Wasser ab und strich sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht. Im Wald herrschte Stille, nur das Plätschern der Wellen war zu hören. Die beiden hatten sich weit vom Lager entfernt. „Wie lange noch?“ fragte Hendricks. Er schwamm mit geschlossenen Augen immer im Kreis herum. „Gleich!“ Gail lief zum Waldrand und zu dem Baum, unter den sie ihre Uniform gelegt hatte. Die Sonne wärmte ihr die nackten Schultern, Arme und Hände. Das Mädchen setzte sich ins Gras und nahm ihre Uniformbluse und ihre Gamaschen auf. Sorgfältig las sie Blätter und Borkenstücke davon ab und streifte dann die Bluse über den Kopf. Geduldig wartete inzwischen Corporal Hendricks im Wasser und zog seinen Kreis. Die Zeit verging. Nichts rührte sich. Er öffnete die Augen. Gail war nirgends zu sehen. „Gail!“ rief er. Es war ungewöhnlich still. „Gail!“ 78
Keine Antwort. Corporal Hendricks schwamm so schnell er konnte ans Ufer und zog sich aus dem Wasser. Mit einem Satz stand er neben seiner säuberlich zusammengelegten Uniform. Er zog den Strahler aus der Halfter. „Gail!“ Im Wald blieb es still. Kein Geräusch war zu hören. Hendricks stand da und sah sich stirnrunzelnd um Endlich fröstelte er trotz der Hitze vor Angst. „Gail! Gail!“ Und wieder erhielt er keine Antwort. * Kommandant Morrison machte sich Sorgen. „Wir müssen etwas unternehmen“, sagte sie. „Wir können nicht mehr untätig abwarten. Zehn Tote von dreißig Beteiligten, ein Drittel also, das ist ein zu hoher Prozentsatz.“ Hall sah von seiner Arbeit auf. „Wenigstens wissen wir letzt, womit wir es zu tun haben Es ist eine Protoplasmaform von unbegrenzter Wandlungsfähigkeit.“ Er hob einen Sprühkanister. „Ich glaube, hiermit werden wir feststellen, wie viele Exemplare es gibt.“ „Was ist das?“ „Eine Arsen-Wasserstoff-Verbindung in Gasform. Man nennt sie Arsin.“ „Und was wollen Sie damit ausrichten?“ Hall schloß seinen Helm. Der Kommandant empfing seine Stimme jetzt im Kopfhörer. „Ich werde dieses Gas im 79
Labor versprühen. Ich glaube, hier gibt es mehr von denen als sonstwo.“ „Warum gerade hier?“ „Hierher brachten wir sämtliche Pflanzen- und Gesteinsproben, und hier entdeckten wir das erste ,Double’, mein Mikroskop. Ich glaube, wir schleppten sie mit den Probeexemplaren ein, und von hier aus drangen sie in sämtliche Gebäude vor.“ Auch der Kommandant schloß den Helm, und die vier Wächter folgten seinem Beispiel. „Ist das Gas tödlich für den menschlichen Organismus?“ Hall nickte. „Wir müssen vorsichtig sein. Wir können es hier zu einem begrenzten Versuch benutzen. Mehr aber auch nicht.“ „Was wollen Sie herausfinden?“ „Wenn es überhaupt funktioniert, kann ich vielleicht ergründen, in welcher Menge sie sich eingeschlichen haben. Dann wissen wir, wie stark der Gegner ist. Unsere Lage kann ernster sein, als wir fürchten.“ „Wieso?“ fragte Stella Morrison und schaltete ihr Sauerstoffgerät ein. „Hier auf dem Planeten Blau arbeiten zur Zeit hundert Menschen. Das schlimmste, was passieren kann, ist, daß sie uns alle erledigen, einen nach dem anderen. Aber das zählt nicht. Forschungsgruppen mit hundert Teilnehmern fallen nicht ins Gewicht. Immer wieder sind solche Opfer zu beklagen – im Dienste der Wissenschaft. Jeder, der zur Erforschung eines unbekannten Planeten startet, weiß, welches Risiko er eingeht. Statistisch sind diese Opfer unerheblich.“ 80
„Im Vergleich womit?“ „Wenn ,sie’ unbegrenzt teilbar sind – sich durch Zellteilung vermehren –, sollten wir es uns zweimal überlegen, ob wir zurückkehren. Es wäre besser, sich zu opfern, als sie unter Umständen in das Sol-System einzuschleppen.“ Stella sah ihn an. „Wollen Sie das ergründen? Ob diese Organismen unbegrenzt teilbar sind?“ „Ich will Klarheit schaffen. Vielleicht gibt es nur wenige von ihnen. Oder vielleicht sind sie überall.“ Er beschrieb mit der Hand einen Halbkreis. „Vielleicht sind die Hälfte aller Gegenstände hier im Labor nicht das, wofür wir sie halten. Es wäre schlimm, wenn sie uns angriffen. Und schlimmer, wenn sie es nicht täten.“ „Schlimmer?“ Stella Morrison wunderte sich. „Ihre Mimikry ist perfekt. Jedenfalls, wenn sie anorganische Stoffe nachahmen. Ich habe einen dieser Organismen als Mikroskop benutzt, Stella. Er vergrößerte, ließ sich einstellen und reflektierte wie ein normales Mikroskop. Diese Perfektion der Nachahmung hat sich keiner von uns je träumen lassen. Sie täuscht nicht nur das Äußere vor, sondern imitiert die Elemente des darzustellenden Gegenstandes.“ „Sie denken daran, daß einer dieser Organismen sich bei uns einschmuggeln könnte, wenn wir die Rückreise zur Erde antreten? Als ein Kleidungsstück oder ein technisches Gerät?“ Sie erschauerte. „Wir nehmen an, daß es eine Protoplasmaform ist. Die außerordentliche Wandlungsmöglichkeit setzt eine einfache Stammform voraus – wahrscheinlich ist es ein doppelt spaltbarer Zellkern. Wenn das zutrifft, kann die Zellteilung unbegrenzt sein. Ich tippe auf einzellige Urtierchen.“ 81
„Ob sie intelligent sind?“ „Keine Ahnung. Hoffentlich nicht!“ Hall hob den Sprühkanister hoch. „Jedenfalls werden wir jetzt sehen, wie zahlreich sie sind. Und wahrscheinlich wird sich meine Vermutung hinsichtlich der Zellteilung bestätigen. Etwas Schlimmeres kann uns nicht passieren. – Es geht los.“ Hall preßte den Kanister an sich, drückte den Auslöser und ließ die Düse an den Laborwänden auf und ab wandern. Der Kommandant und die vier Wachen standen schweigend hinter ihm. Nichts rührte sich. Die Sonne schien durchs Fenster und spiegelte sich auf den Objektträgern und Geräten. Nach einigen Sekunden ließ Hall den Auslöser los. „Ich habe nichts gesehen“, sagte Stella Morrison „Haben Sie überhaupt etwas gemacht?“ „Das Arsin ist farblos. Aber öffnen Sie die Helme nicht! Es ist giftig. Und bewegen Sie sich nicht!“ Sie standen da und warteten. Minutenlang geschah nichts. Dann … „Himmel!“ rief Kommandant Morrison. Am anderen Ende des Labors kam plötzlich ein Behälter für Diapositive in Bewegung. Er schmolz, warf Blasen, wurde zu einer breiigen Masse und floß über den Tisch auf den Boden. „Dort!“ Ein Bunsenbrenner wurde zur gallertartigen Flüssigkeit. Auf sämtlichen Tischen und Regalen kamen Gegenstände in Bewegung, sackten in sich zusammen, wurden zu Brei. Eine große Glasretorte wurde zum Geleetropfen, ein Stän82
der mit Reagenzgläsern und ein Bord mit Chemikalien fielen zu Boden. „Achtung!“ rief Hall und trat zurück. Ein Stehkolben fiel ihm klatschend vor die Füße. Es war tatsächlich eine einzige große Zelle. Hall konnte den Zellkern ausmachen, die pulsierende Vakuole und das Scheinfüßchen. Pipetten, Zangen und ein Mörser zerflossen. Die Hälfte aller Geräte und Instrumente war in Bewegung. Die Organismen hatten alles nachgeahmt, was vorhanden war. Jedes Mikroskop hatte einen Doppelgänger, ebenso wie jede Retorte, jede Leydener Flasche, jedes Reagenzglas und jeder Kolben. Ein Wächter hatte seinen Strahler gezogen. Hall schlug ihn dem Mann aus der Hand. „Nicht schießen! Arsin ist feuergefährlich. Ziehen wir uns zurück. Wir wissen, was wir erfahren wollten.“ Rasch stießen sie die Labortür auf und liefen in den Flur. Hall schlug die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. „Ist es schlimm?“ fragte Kommandant Morrison. „Wir haben keine Chance. Das Gas hat ihnen zugesetzt. In großen Mengen kann es sie vielleicht töten. Aber große Mengen haben wir nicht. Und wenn wir den ganzen Planeten damit einnebeln würden, könnten wir unsere Strahler nicht mehr benutzen.“ „Ob wir den Planeten verlassen sollten?“ „Wir dürfen nicht riskieren, sie in die Zivilisation einzuschleppen.“ „Und wenn wir hierbleiben, werden wir alle sterben, einer nach dem anderen“, widersprach der Kommandant. 83
„Wir könnten uns Arsin kommen lassen. Oder anderes Gift, das sie zerstört. Aber damit würden wir auch die anderen Organismen auf diesem Planeten töten. Es bliebe nicht viel übrig.“ „Dann müssen wir eben alles Leben auf diesem Planeten abtöten. Wenn es keinen anderen Ausweg gibt, müssen wir alles niederbrennen. Auf die Gefahr hin, daß eine tote Welt zurückbleibt.“ Sie sahen einander an. „Ich setze mich mit dem Kreuzer in Verbindung“, sagte Kommandant Morrison. „Ich werde die Gruppe in Sicherheit bringen. Alle, die übrig sind, wenigstens. Das arme Mädchen draußen am See …“ Sie schüttelte sich. „Wenn alle fort sind, können wir darüber beraten, wie wir den Planeten säubern.“ „Sie wollen riskieren, die Organismen auf die Erde einzuschleppen?“ „Können sie uns nachahmen? Lebendige Menschen? Höhere Lebensformen?“ Hall dachte nach. „Offensichtlich nicht. Ihre Fähigkeit scheint sich auf anorganische Stoffe zu beschränken.“ Kommandant Morrison lachte grimmig. „Dann reisen wir ohne anorganische Stoffe ab.“ „Aber unsere Kleidung Sie können sich in Gürtel verwandeln, in Handschuhe, Stiefel …“ „Wir nehmen keine Kleidung mit. Wir lassen alles zurück – alles.“ Halls Mundwinkel zuckten. „Aha, ich verstehe.“ Er dachte nach. „Können Sie die Leute dazu bringen, wirklich alles hierzulassen? Alles, woran sie hängen?“ 84
„Wenn es um Leben oder Tod geht, kann ich es ihnen befehlen.“ „Das ist vielleicht die einzige Möglichkeit für uns, von hier wegzukommen.“ Der dem Planeten nächste Kreuzer, der groß genug war, um sämtliche Überlebende aufzunehmen, zog gerade in zwei Stunden Entfernung in Richtung Terra vorbei. Kommandant Morrison sah vom Bildschirm auf. „Sie wollen wissen, was hier passiert ist.“ „Lassen Sie mich sprechen!“ Hall setzte sich vor den Bildsprecher. „Ich bin Major Lawrence Hall von der Forschungsabteilung dieser Gruppe.“ „Captain Daniel Davis.“ Captain Davis musterte Hall mit ausdruckslosem Gesicht. „Sie sind in Schwierigkeiten, Major?“ Hall leckte sich die Lippen. „Ich möchte nicht darüber sprechen, bis wir an Bord sind.“ „Warum nicht?“ „Sie werden uns ohnehin für verrückt halten, Captain. Wir besprechen alles ausführlich, wenn wir im Schiff sind.“ Er zögerte. „Wir kommen ohne jegliche Bekleidung.“ Der Captain hob eine Augenbraue. „Nackt?“ „Jawohl!“ „Ich verstehe.“ Offensichtlich verstand er gar nichts. „Wann können Sie hier sein?“ „Etwa in zwei Stunden.“ „Nach unserer Zeiteinteilung ist es jetzt 13.00 Uhr. Sie werden also um 15.00 Uhr hier sein?“ „Ungefähr, ja.“ 85
„Wir erwarten Sie. Lassen Sie keines Ihrer Besatzungsmitglieder aus dem Schiff, öffnen Sie uns lediglich die Luftschleuse. Wir kommen ohne Gepäck. Sobald alle im Raumer sind, starten Sie augenblicklich.“ Stella Morrison lehnte sich zum Schirm des Bildsprechers. „Captain, wäre es möglich, daß Ihre Männer …“ „Wir landen mit Automatik“, versicherte der Captain. „Kein Mann wird auf Deck sein, niemand wird Sie sehen.“ „Danke!“ murmelte sie. „Keine Ursache.“ Captain Davis grüßte. „Auf Wiedersehen in zwei Stunden, Kommandant!“ „So, jetzt trommeln wir die Leute zusammen.“ Stella Morrison richtete sich auf. „Sie sollen sich auf dem Platz versammeln. Es wird am besten sein, wenn wir uns hier ausziehen, damit das Schiff nicht mit irgendwelchen Kleidungsstücken oder anderen Gegenständen in Berührung kommt.“ * Lieutenant Friendly biß sich auf die Lippen. „Da mach’ ich nicht mit! Lieber bleib’ ich hier.“ „Du mußt mit!“ „Aber, Major …“ Hall sah auf die Uhr. „Es ist 14.50 Uhr. Das Schiff muß in wenigen Minuten hier sein. Zieh deine Uniform aus und mach, daß du auf das Landefeld kommst!“ „Darf man überhaupt nichts mitnehmen?“ „Nichts! Nicht mal deinen Strahler. Im Schiff bekommen wir Kleidung. Komm, mach schon! Es geht um dein Leben. Alle gehorchen.“ 86
Friendly knöpfte sein Hemd auf. „Schön, vielleicht benehme ich mich albern.“ Der Bildsprecher schaltete sich ein. Eine Robotstimme verkündete in schrillem Ton: „Gebäude sofort verlassen! Gebäude sofort verlassen! Schnellstens auf Landefeld versammeln! Schnellstens auf Landefeld …“ „Schon?“ Hall lief zum Fenster, öffnete die Stahljalousie und sah hinaus. „Ich habe nichts von der Landung gehört.“ In der Mitte des Landefeldes stand ein langer grauer Kreuzer. Die Wandung war von zahlreichen Meteortreffern zerkratzt und verbeult. Nichts an dem Raumschiff bewegte sich. Eine Gruppe nackter Menschen ging langsam über das Feld auf das Schiff zu. Sie blinzelten, geblendet vom grellen Sonnenlicht. „Es ist da. Los, komm!“ Hall riß sich das Hemd vom Körper. „Warte auf mich!“ „Dann beeil dich!“ Hall zog sich ganz aus. Dann liefen die beiden Männer auf den Flur. Nackte Wächter hasteten an ihnen vorbei. Hall und Friendly folgten ihnen durch die langen Korridore des Forschungszentrums, die Treppen hinunter und auf das Landefeld. Aus allen Gebäuden kamen nackte Männer und Frauen heran. Die Sonne wärmte sie mit ihren Strahlen. „Welch ein Anblick!“ sagte ein Offizier. „Das werden wir nie im Leben vergessen!“ „Aber so überleben wir wenigstens“, sagte ein anderer. „Lawrence!“ Hall wollte sich umwenden. 87
„Bitte nicht umdrehen! Gehen Sie weiter! Ich folge Ihnen.“ „Wie kommt es Ihnen vor, Stella?“ „Ungewöhnlich.“ „Aber es lohnt sich?“ „Wahrscheinlich.“ „Wird man uns glauben?“ „Wohl kaum“, sagte sie. „Auch ich zweifle schon jetzt daran.“ „Einerlei. Hauptsache, wir retten uns.“ „Das mag stimmen.“ Hall sah, daß die Landebrücke ausgefahren war. Einige Mitglieder der Forschungsexpedition hasteten eben auf den Metallsteg und durch die kreisförmige Öffnung. „Lawrence .“ „Lawrence, ich habe …“ „Bitte?“ „Ich habe Angst.“ „Angst?“ Er blieb stehen. „Warum?“ „Ich weiß auch nicht.“ Sie wurden von allen Seiten weitergedrängt und geschoben. „Nicht daran denken!“ sagte Hall. „Überbleibsel aus der Kindheit.“ Er setzte den Fuß auf die Laufplanke. „Hinein mit uns!“ „Ich will nicht!“ Entsetzen lag in ihrem Tonfall. „Ich …“ Hall lachte. „Jetzt ist es zu spät, Stella.“ Er wurde auf der Landebrücke weitergeschoben und klammerte sich am Geländer fest. Von allen Seiten drängten Männer und Frauen heran. Sie erreichten die Schleuse. „So, da wären wir.“ 88
Der Mann vor Hall verschwand. Hall folgte ihm in das dunkle Schiffsinnere, in die Schwärze, die Stille, die vor ihm lag. Stella Morrison folgte als nächste. * Pünktlich um 15.00 Uhr landete Captain Davis sein Schiff in der Mitte des Feldes. Automatische Kontrollen öffneten die Schleuse und fuhren die Landebrücke aus. Davis und die anderen Offiziere saßen abwartend im Kontrollraum um den großen Schalttisch herum. „Na, und?“ fragte Captain Davis nach einigen Minuten des Wartens. „Wo sind sie?“ Die Offiziere wurden unruhig „Vielleicht ist ihnen etwas passiert?“ „Vielleicht ist das Ganze ein blödsinniger Scherz.“ Sie warteten lange. Aber niemand kam.
Dodkins Job (Dodkin’s Job) von Jack Vance Die von Kinch, Kolbig, Penton und anderen Wissenschaftlern entwickelte Theorie von der organisierten Gesellschaft enthält eine Menge bedeutsamer Informationen und komplizierter Erklärungen. Es ist daher leicht, die einfachen Grundwahrheiten zu übersehen. Kolbig erklärte zum Beispiel: 89
Wenn sich eigenständige Mikroeinheiten zu einer Mikroeinheit zusammenschließen, hat das immer eine Einschränkung der Freiheit der Mitglieder zur Folge. Leslie Penton schrieb in seiner Abhandlung „Die Prinzipien der Organisation“: Je zahlreicher und eigenständiger die zu einer großen Organisation zusammengeschlossenen Mitglieder sind, desto eingreifender müssen die Beschränkungen der persönlichen Freiheit sein. * Wie die Schlange sich nicht mehr an die Beine ihrer Vorfahren erinnert, so erinnerten sich die Bewohner der Stadt nicht mehr an die frühere Freiheit der Menschen. Irgendwann hat irgendwer einmal gesagt: „Wenn die Diskrepanz zwischen der Theorie und der Praxis einer Kultur sehr groß ist, weist das auf einen raschen Wechsel der Verhältnisse hin.“ Die Verhältnisse in der großen Stadt waren aber stabil, wenn nicht sogar statisch. Das Leben der Bevölkerung verlief nach einem genau festgelegten Plan. Die Menschen wurden klassifiziert und für die Mitarbeit in der Organisation belohnt; Entscheidungen richteten sich immer nach Präzedenzfällen. Aber auch im gesündesten Gewebe gibt es Bakterien. Luke Grogatch war vierzig Jahre alt, hager und kantig. Um seinen Mund spielte immer ein sardonisches Lächeln, der Schwung seiner Augenbrauen machte ihn auffällig. Luke war zu schlau, um seinen Nonkonformismus offen zuzugeben, zu ehrlich, um nach einer Verbesserung seiner 90
Lage zu streben, zu pessimistisch, offen und ehrlich, um einen Job lange halten zu können. Nach jeder Neueinstufung sank er eine Klasse tiefer und haßte die ihm zugewiesene Arbeit immer mehr. Jetzt galt er als ungelernter Arbeiter und gehörte zur Dienstleistungsklasse D. Die zuständige Behörde hatte ihm einen Job als Kanalisationsleiter im 8892. Bezirk zugewiesen. Luke Grogatch fand sich zur ersten Nachtschicht ein und meldete sich bei seinem Vormann Fedor Miskitman, einem riesigen Burschen mit blonden Haaren und hellblauen Augen. Miskitman drückte Luke eine Schaufel in die Hand und wies ihm den Arbeitsplatz hinter der Kanalbohrmaschine an. Luke sollte den Kanalboden von Steinen und Sand reinigen. Wenn sich der Bohrer in einen alten Tunnel fraß, gab es auch andere Abfälle zu beseitigen. Lukes Aufgabe bestand darin, den Boden hinter der Maschine absolut sauber zu halten und die nicht ans Zentral-Schmiersystem angeschlossenen Schmierstellen mit Fett zu versorgen. Außerdem mußte er die aus dem Bohrkopf gebrochenen Zähne einsammeln und durch neue ersetzen. Nachdem Luke in seine Aufgaben eingeweiht war, fragte er, ob das alles sei. Fedor Miskitman war zu primitiv, um die Ironie herauszuhören. „Das ist alles“, antwortete er. „Und nun an die Arbeit!“ Grogatch machte sofort den Vorschlag, den Bohrer anders anzusetzen, um den Anfall von Splittern zu verringern. Er war sogar der Meinung, daß die kleinen Steine liegenbleiben könnten, denn der Kanal sollte anschließend ohnehin mit Zement ausgespritzt werden. 91
Miskitman ging nicht darauf ein. Das lose Gestein mußte unbedingt beseitigt werden. Als Luke nach dem Grund dafür fragte, antwortete Miskitman: „Weil es schon immer so gemacht wird.“ Luke lachte höhnisch auf. Er prüfte seine Schaufel und schüttelte unzufrieden den Kopf. Der Griff war zu lang, das Blatt zu klein. Er wandte sich sofort an Miskitman, doch dieser warf einen Blick auf seine Uhr und ließ den Bohrer anlaufen. Die Maschine machte einen ohrenbetäubenden Lärm und fraß sich langsam in das Gestein. Miskitman zog sich schnell in den schon fertiggestellten Teil des neuen Kanals zurück. Grogatch mußte in halbgebückter Stellung hinter der Maschine arbeiten. Die heißen Auspuffgase zischten ständig über ihn hinweg, und wenn er nicht aufpaßte, in sein Gesicht. Beim Auswechseln eines Bohrzahns verbrannte er sich den Daumen der rechten Hand und fluchte laut vor sich hin. Am Ende der Schicht hätte er die Arbeit am liebsten aufgegeben. Nur ein Gedanke hielt ihn davon ab. Wenn er diese Stellung aufgab, würde er noch eine Stufe tiefer sinken und ein Junior-Arbeiter werden. Der soziale Abstieg schreckte ihn nicht, wohl aber der Verlust bestimmter Vorteile. Als letzter am Ende der Liste würde er nur sehr wenig Kreditscheine bekommen. Schon jetzt bekam er nur die Rationen vom Typ RP, mußte in einem Schlafsaal in der 22. Subetage schlafen und erhielt jeden Monat sechzehn Sondercoupons. Es reichte gerade für zwölf Stunden pro Monat im Erholungsclub, wo er wahlweise Tischtennis oder Miniaturbowling spielen konnte. Das Fernsehgerät des Clubs war 92
immer auf den einen Kanal eingestellt und brachte nur Einheitssendungen, die zudem oft wiederholt wurden. Luke träumte oft von einem besseren Leben: Rationen vom Typ AAA und eigene Wohnung. Trotz der Verachtung, die er für die Angehörigen der höheren Klasse hegte, hatte er nichts gegen die Vorteile einzuwenden, die nur diesen Leuten vorbehalten waren. Seine Tagträume endeten immer mit der bitteren Erkenntnis, daß er sich selbst um dieses schöne Leben gebracht hatte. Er kannte alle Tricks, die Katzbuckeleien, Schmeicheleien, die kleinen Gefälligkeiten. Seine Altersgenossen hatten diese Stufen zum Erfolg beschritten und sich einen besseren Platz erschlichen als er. Warum nutzte er seine Fähigkeiten denn nicht aus? Ich bin lieber ein Angehöriger der Dienstleistungsklasse D, redete er sich oft ein. Manchmal zweifelte er an sich. War er vielleicht doch ein Versager? Möglicherweise hatte er nicht die Kraft, den unerbittlichen Konkurrenzkampf zu bestehen. Oft verachtete er sich und nannte sich einen erbärmlichen Schwächling. Aber dann tröstete er sich wieder mit dem Gedanken, ein Nonkonformist zu sein. Ja, er war ein Nonkonformist und brachte nur nicht den Mut auf, es öffentlich zuzugeben. Warum sollte er es auch zugeben? Das Eingeständnis würde die Einweisung in eine Anstalt für Unorganisierte bedeuten. Luke Grogatch war kein Narr. Er war ein Nonkonformist, aber kein Dummkopf. Vielleicht war er auch nicht konsequent genug und über seine Stellung im Leben nicht recht im klaren. Man verdächtigte ihn des Nonkonformismus, das wußte er. Seine Arbeitskollegen hatten ihn 93
oft merkwürdig angesehen und beziehungsreiche Witze gemacht. Sollten sie nur! Nachweisen konnte ihm keiner etwas. Und doch war Grogatch unzufrieden. Er war jetzt ein Angehöriger der Dienstklasse D, der zweiten Stufe. Nur ein kleiner Schritt noch trennte ihn von der Juniorstufe, der niedrigsten auf der steilen Treppe des Aufstiegs. Zur Juniorklasse gehörten die Idioten, die Kinder, die Nonkonformisten und der Abschaum der Menschheit. Luke hatte einmal von einem hohen Posten geträumt, von Unabhängigkeit und einem luxuriösen Leben. Jetzt war er aber ein Mitglied der D-Klasse und mußte sich von einem beschränkten Muskelpaket umherstoßen lassen. Er mußte mit angelernten Kräften arbeiten, mit Männern, die zu dumm oder zu träge waren, weiter nach oben zu klimmen. * Sieben Wochen vergingen. Luke Grogatch haßte die eintönige Arbeit immer mehr. Sein Widerwille wurde zu einer wahren Besessenheit. Fedor Miskitman hatte kein Verständnis für Grimassen und abfällige Bemerkungen. Lukes Vorschläge wurden immer abgelehnt. Warum etwas ändern? Die Arbeit wurde schon immer so gemacht. Jeden Tag mußte Miskitman die Direktiven verlesen, die er vom Superintendenten der Kanalbau- und Reinigungsabteilung erhielt. Um keine Arbeitszeit zu verschwenden, las er die Direktiven stets in der ersten Pause. Die Männer hörten kaum zu, denn die Routinebriefe handelten immer nur von Normen, kleinen Beschwerden und Warnungen wegen 94
Nachlässigkeit. Luke hatte sich schon an diese Mitteilungen gewöhnt und hörte auch nicht mehr zu, wenn Miskitman den Inhalt der gelben Briefe verlas. Aber genau sieben Wochen nach seiner Arbeitsaufnahme horchte Luke doch auf, denn diesmal hatte der Brief einen besonderen Text. Fedor Miskitman faltete das gelbe Blatt auseinander und las wichtigtuerisch: Ministerium für öffentliche Arbeiten Abteilung für Versorgung Unterabteilung sanitäre Anlagen Distrikt 8892 Sektion Abwasseranlagen Büro für Kanalkonstruktion und Erhaltung Materialversorgung Direktive: 6511 Serie BV 96 Auftragsschlüssel: GZP/AAR/REG In bezug auf: G 98 – 7542 Registrierzeichen: BT/EQ/LLT Genehmigung: LL8 – P – SC 8892 Geprüft: 48 Endprüfung: 92 C Von: Lavester Limon, Leiter der Materialbeschaffung Durch: alle Konstruktions- und Reparaturabteilungen An: alle Superintendenten. Ausgabe: an alle Vorarbeiter. Betreff: Maßnahmen zur Erhaltung und Pflege von Werkzeug. Beginn: sofort. Dauer: unbefristet.
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Erklärung: Alle Handwerkszeuge müssen zu Beginn jeder Schicht vom Lager der Konstruktionsabteilung im 8892. Distrikt abgeholt werden. Die Werkzeuge müssen nach Beendigung jeder Schicht sorgfältigst gereinigt zum Lager zurückgebracht werden. Direktive geprüft und weitergeleitet von: Butry Keghorn, Generalsuperintendent des Büros für Kanalisationsbau-Betrieb und -Erhaltung Clyde Kaddo, Superintendent der Bauabteilung. Luke hörte sich das alles an und grunzte verächtlich. Miskitman faltete das Blatt mit seinen dicken Fingern zusammen und warf einen Blick auf seine Uhr. „Wir haben die Pause um fünfundzwanzig Sekunden überschritten“, sagte er pedantisch. „Wir müssen uns sofort an die Arbeit machen und die verlorene Zeit aufholen.“ „Einen Augenblick noch!“ rief Luke. „Ich möchte die Direktive genauer erklärt haben.“ Miskitman sah ihn erstaunt an. „Haben Sie denn nicht alles verstanden?“ „Nein. Für wen soll das eigentlich Gültigkeit haben?“ fragte Luke. „Für alle, denke ich.“ „Und was ist mit Handwerkszeugen gemeint?“ „Alle Werkzeuge, die in den Händen gehalten werden“, erklärte Miskitman ungeduldig. „Also auch die Schaufeln?“ „Natürlich! Eine Schaufel ist ein Handwerkszeug.“ 96
Grogatch lachte laut auf. „Und ich soll meine Schaufel jeden Abend sorgfältig reinigen und zum Lagerhaus bringen? Morgen früh soll ich sie dann wieder abholen und einen Riesenumweg machen?“ Miskitman faltete das Blatt wieder auseinander und las den Text noch einmal. „So lautet die Anordnung“, sagte er befriedigt und steckte das Blatt wieder ein. Luke tat sehr erstaunt. „Das muß doch ein Irrtum sein!“ rief er. „Ein Irrtum?“ Miskitman war für einen Augenblick verwirrt. „Warum soll das ein Irrtum sein?“ „Diese Anordnung muß ein Fehler oder ein Witz sein“, sagte Luke „Kein vernünftiger Mensch kann so etwas ernst nehmen.“ „Das ist nicht meine Sache“, grunzte Miskitman ungeduldig und sah wieder auf seine Uhr. „Wir verlieren immer mehr Zeit.“ „Soll das Reinigen der Werkzeuge und der Transport zum Lagerhaus während der Arbeitszeit geschehen?“ fragte Luke beharrlich. Miskitman zog das Blatt noch einmal aus der Tasche und faltete es wieder auseinander. „Unsere Norm ist unverändert“, sagte er dann. Luke spuckte wütend auf den Boden und knurrte: „Dann werde ich eine eigene Schaufel mitbringen!“ Fedor Miskitman fuhr sich über die Bartstoppeln und las die Direktive noch einmal durch. Dann schüttelte er zweifelnd den Kopf und sagte: „Davon steht nichts drin. Die Direktive ist sehr klar. Die Handwerkszeuge sollen gereinigt und zum Lagerhaus gebracht werden, das ist alles. 97
Hier steht nicht geschrieben, wem die Werkzeuge gehören.“ Luke konnte vor Ärger kaum sprechen. „Soll ich Ihnen sagen, was ich von der Direktive halte?“ fragte er erregt. Miskitman wollte Grogatchs Meinung gar nicht hören und deutete wieder auf seine Uhr. „Wenn wir noch mehr Zeit verbummeln, schaffen wir die Norm nicht.“ Die Männer gingen wieder an die Arbeit. Der Bohrkopf begann zu rotieren und fraß sich kreischend in den grauen Sandstein. Die größeren Brocken wurden von der Maschine auf ein Transportband geworfen und zu einem Ausstieg befördert, wo sie nach oben transportiert wurden. Kleine Splitter fielen auf den Boden und mußten von Luke auf das Band geschaufelt werden. Ein paar Meter hinter Luke waren einige Männer damit beschäftigt, den gebohrten Tunnel mit Moniereisen auszukleiden. Die vorgebogenen Ringe wurden an längslaufende Eisenstäbe geschweißt und mit besonderen Halteklammern verbunden. Hinter diesen Männern folgte eine Zementspritzmaschine, deren rotierender Kopf das flüssige Gemisch mit hohem Druck gegen die Wand spritzte Zwei hastig arbeitende Männer bildeten den Abschluß. Sie hatten die Aufgabe, die schnell härtende Masse zu glätten und zu polieren. Miskitman lief immer hin und her, um die Arbeiter zu kontrollieren. Er prüfte die Schweißstellen, maß die Stärke des Betons und überzeugte sich von der Glätte der fertigen Tunnelwandung. Ab und zu trug er den Fortgang der Arbeiten auf eine an der Bohrmaschine befestigte Karte ein. Ein elektronisches Gerät lenkte den Bohrkopf sicher durch das Gewirr der unterirdischen Kanäle und Kabelschächte. 98
Luft, Wasser, Energie – alles wurde durch Kanäle transportiert, die zu einem fast unübersichtlichen Gewirr verwoben waren. Die Nachtschicht endete um vier Uhr früh. Miskitman machte seine letzten Eintragungen. Der Betonspritzer reinigte seinen Apparat. Die Schweißer zogen ihre Schutzkleidung auf und drehten Gas und Sauerstoff ab. Luke Grogatch richtete sich erschöpft auf und stöhnte leise. Er starrte wütend auf seine Schaufel und spürte Miskitmans Blick auf sich ruhen. Nach kurzem Überlegen warf Grogatch seine Schaufel wie üblich auf den Boden und machte sich auf den Weg. Aber schon nach wenigen Schritten kehrte er um und hob die Schaufel wieder auf. Befehlsverweigerung bedeutete weiteren Abstieg. Luke fühlte sich gedemütigt und gekränkt. Was sollte er tun? Er konnte gehorchen und seinen Status behalten oder sich weigern und in die niedrigste soziale Klasse absteigen. Er seufzte auf und wischte die Schaufel mit einem Lappen sauber. Das war nicht weiter schlimm, aber das Abliefern im Lagerhaus bedeutete einen kilometerlangen Umweg über verschiedene Etagen der großen Stadt. Am nächsten Tag würde er die Schaufel wieder holen und wertvolle Stunden seiner Freizeit opfern müssen. Warum das alles? Luke wußte, daß dieser Unsinn auf den Einfall irgendeines Bürokraten zurückzuführen war. Irgendein Mann in der Kette der Verwaltungsstellen hatte sich in den Kopf gesetzt, das Eigentum der Regierung auf diese Weise zu schützen. Der Befehl war weitergeleitet worden und schließlich an Miskitman und andere Männer seines Schlages gelangt. 99
Grogatch fühlte sich tief gedemütigt. Er stellte sich vor, wie es sein würde, wenn er dem Urheber der unsinnigen Maßnahme begegnete. Er war so wütend, daß er davon träumte, diesen unbekannten Verwaltungsbeamten durch die Gänge einer öffentlichen Dienststelle zu prügeln. Fedor Miskitman schreckte Luke aus seinen Gedanken auf. „Reinigen Sie die Schaufel und bringen Sie sie zum Lagerhaus, Grogatch!“ „Die Schaufel ist sauber!“ knurrte Luke. „Das ist der dümmste Schildbürgerstreich, der mir je …“ Miskitman schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte gelassen: „Sie können eine Eingabe machen, Grogatch. Jeder von uns hat die Möglichkeit, die Politik zu beeinflussen. Aber bis eine Änderung beschlossen wird, müssen wir konform gehen. Unser Leben ist nach diesem Prinzip eingerichtet. Wir leben in einer bis ins letzte durchorganisierten Gesellschaft und müssen uns den Erfordernissen der Organisation fügen.“ „Geben Sie mir die Direktive!“ knurrte Luke verärgert. „Ich möchte sie dem Urheber in den Rachen stopfen.“ „Ich muß sie erst registrieren“, antwortete Miskitman. „Danach können Sie das Blatt haben.“ „Na, schön! Ich werde warten“, brummte Luke und biß die Zähne zusammen. Miskitman machte noch einmal die Runde. Er kontrollierte die Bohrmaschine, den Zementspritzer und das Förderband. Erst dann öffnete er eine Klappe an der Bohrmaschine, trug den Fortgang der Arbeiten ein und machte eine Mikroaufnahme von der Direktive. Dann drehte er sich um und gab Luke das Blatt. „Was wollen Sie damit anfangen?“ fragte er. 100
„Ich will den Mann suchen, der für diese Idiotie verantwortlich ist“, antwortete Luke grimmig. „Und dann werde ich ihm sagen, was ich von ihm halte.“ Miskitman schüttelte mißbilligend den Kopf. „Das ist nicht die rechte Art, so etwas zu erledigen“, sagte er zu Luke. „Wie würden Sie es denn tun?“ fragte Grogatch spöttisch. Fedor Miskitman überlegte. Er war eine naive Natur und merkte nicht, was Luke von ihm hielt. Schließlich sagte er ernst: „Ich würde mich gar nicht darum kümmern.“ Luke drehte sich brüsk um und marschierte durch den Tunnel. „Die Schaufel!“ hörte er Miskitman rufen. „Sie müssen die Schaufel mitnehmen!“ Grogatch blieb stehen und drehte sich langsam um. Er sah den massigen Vorarbeiter an der Bohrmaschine hantieren. Er mußte gehorchen oder eine Deklassifizierung riskieren. Vor Wut kochend, nahm er die Schaufel auf und ging durch den Gang. Der Blick des Vorarbeiters schien sich in seinen Rücken zu bohren. Luke spürte, daß er einen Kampf verloren hatte. Vor sich sah er den endlos scheinenden Tunnel. Die polierten Wände warfen das Licht zurück, so daß sich helle und dunkle Ringe bildeten. Dadurch entstand eine merkwürdige optische Täuschung. Luke hatte den Eindruck, auf eine zweidimensionale Wand zuzugehen, obwohl er sich ständig weiterbewegte. Er schlurfte erschöpft dahin. Früher war er immer arrogant gewesen, hatte sich keine Mühe gegeben, seinen Nonkonformismus zu tarnen. Mußte er sich jetzt doch fügen, sich zum Sklaven machen lassen, nur um dem Abstieg in die unterste Klasse vorzubeugen? 101
Wenn ich nur ein paar Stufen höher wäre! dachte er mürrisch. Ich würde nicht nachgeben. Er schämte sich und fühlte sich seinem Schicksal hilflos ausgeliefert. Es war zu spät. Er war schon zu tief gesunken, um sich ohne den Verlust des letzten Restes von Würde gegen unsinnige Maßnahmen auflehnen zu können. In einem Wutanfall schleuderte er die Schaufel vorwärts durch den Tunnel. Sie fiel klappernd auf den polierten Boden und rutschte noch ein Stück weiter. Luke konnte sich nicht wehren. Er mußte die Schaufel zum Lagerhaus tragen und den Umweg in Kauf nehmen. Die Organisation, dieses gigantische anonyme Gebilde, hielt ihn gefangen. Die Organisation belohnte nur die Willigen und Nachgiebigen. Diejenigen, die sich auflehnten, auf ihre Würde pochten und gegen die Organisation argumentierten, wurden rücksichtslos in den Staub getreten. Luke murmelte einen Fluch und hob die Schaufel wieder auf. Er mußte sich fügen. Er erreichte den Ausstieg, kletterte nach oben und fand sich in der 1123. Avenue. Dort wurde er augenblicklich von den zur nächsten Hubplatte strebenden Menschen mitgerissen. Aus allen Richtungen kamen Menschen über Transportbänder, wurden abgeladen und drängten sich auf die große Hubplatte, die sie nach oben beförderte. Etwas höher stieg Luke ab und stellte sich auf das nach Fontego führende Band. Seine Schaufel mußte er in dem Gedränge fest an die Brust pressen. Nach zehn Minuten erreichte er den Astoria-Lift und fuhr wieder einige Etagen nach unten. Er durchquerte eine feucht und alt riechende Gegend und betrat schließlich ein Materialtrans102
portband, das ihn in die Nähe des Lagerhauses im 8892. Distrikt brachte. In der Umgebung des Lagerhauses herrschte ungewöhnliche Aktivität. Alle Fenster waren hell erleuchtet. Aus allen Richtungen kamen mit Werkzeugen beladene Männer herbei und reihten sich hinten an die lange Menschenschlange an. Luke stellte sich ebenfalls an und betrachtete die graue Schlange. Lustlos wirkende Männer bildeten eine Art Tausendfüßler, der sich langsam kriechend vorwärts bewegte. Hier und da machte einer einen Witz, aber keiner beschwerte sich über den Zeitverlust und die Unbequemlichkeit. Grogatch wunderte sich über die Geduld dieser Männer Das Verhalten der Kollegen machte ihn noch wütender und aufsässiger. Sie sind wie Schafe, dachte er. Sie gehorchen, weil irgendein Idiot eine blöde Verordnung ausgetüftelt hat. Fragte denn keiner nach dem Sinn dieser Maßnahme? Nicht einer schien daran zu denken, sich zu beschweren. Die neue Verordnung war eben ein Teil des Lebens, eine unabänderliche Tatsache. Bin ich denn besser als die anderen? fragte er sich. Er schämte sich; weil er mitmachte und sich nicht öffentlich empörte. Er mußte sich entscheiden. Wollte er seine Würde wahren und sich lieber deklassifizieren lassen? Natürlich konnte er auf Miskitmans Vorschlag eingehen und seine Beschwerde in einen für diese Zwecke aufgestellten Kasten werfen. Dieser Vorschlag war aber eine glatte Herausforderung. Wenn er seine Beschwerde schrieb, würde er Wochen später eine nichtssagende Antwort erhalten. Unbedeutende 103
Funktionäre würden darin behaupten, die Beschwerde eingehend geprüft zu haben. Luke kannte keinen Fall, in dem eine Beschwerde zur Änderung einer bestehenden Verordnung geführt hätte. Er wollte keine höfliche, aber nichtssagende Antwort, sondern eine vernünftige Entscheidung. Wenn ich mich nun anstrenge und meine Lage verbessere? dachte Luke. Er ließ diesen Gedanken aber gleich wieder fallen. Dazu war er schon zu alt. Die jungen Leute strebten nach oben. Außerdem hatte er sich durch sein früheres Verhalten sämtliche Chancen verdorben. Die Schlange bewegte sich langsam vorwärts. Neben Luke stand ein unter der Last eines Preßluftbohrers gebeugter Mann. Der Mann machte ein wichtigtuerisches Gesicht und schien das Anstehen als eine sehr ernste Aufgabe zu betrachten. Er hatte einen braunen Overall und rosa Stiefel an. Auf seiner Baskenmütze trug er als Zeichen seiner Würde drei rosa Pompoms. Schon der Unterschied in der äußeren Erscheinung machte die beiden Männer augenblicklich zu Feinden. Der Kleine mit dem Preßluftbohrer musterte Luke von oben bis unten und schnitt eine geringschätzige Grimasse. „Hatten Sie einen weiten Weg?“ fragte Luke schadenfroh. „Nicht allzu weit“, antwortete der Mann. „Überstunden gemacht? Ich habe mir sagen lassen, daß nichts schöner sein soll“, sagte Luke spöttisch. „Wir mußten eine Arbeit zum Abschluß bringen“, erwiderte der Kleine würdevoll. „Warum sollten wir morgen eine neue Schicht machen, wenn wir die Arbeit heute noch beenden konnten.“ 104
„Warum eigentlich nicht?“ murmelte Luke grinsend. Der Kleine ging nicht darauf ein. Er schien seine Aufgabe sehr ernst zu nehmen. „Das Ding muß doch sehr schwer sein“, fuhr Luke fort. Der Mann hatte Mühe, den schweren Bohrer auf den Schultern zu balancieren. „Es geht“, sagte er nur. Grogatch hielt seine Schaufel hoch. „Ich mußte das verdammte Ding eine Stunde lang durch die Gegend schleppen“, sagte er ärgerlich. „Alles nur, weil irgend ein Idiot einen grandiosen Einfall hatte. Wir sind die Dummen. Alles wird auf unserem Rücken ausgetragen.“ „Ich stehe nicht am Ende der Liste“, antwortete der Kleine beleidigt. „Ich gelte als Techniker.“ „Worin besteht der Unterschied?“ fragte Luke. „Sie mußten den Bohrer für nichts und wieder nichts durch die Gegend schleppen, weil ein Idiot einen albernen Einfall hatte.“ „So einfach ist das auch wieder nicht“, widersprach der Kleine. „Diese Maßnahme hat sicher einen sehr wichtigen Grund.“ Luke schüttelte seine Schaufel und fauchte: „Können Sie mir sagen, warum ich diese Schaufel jeden Tag zwei bis drei Stunden lang durch die Gegend schleppen soll? Dafür gibt es einfach keinen vernünftigen Grund.“ Der Kleine machte ein mißbilligendes Gesicht. „Der Mann, der diese Maßnahme ersonnen hat, muß einen guten Grund dafür gehabt haben“, sagte er gekränkt. „Anderenfalls wäre er kaum auf einem so hohen Posten. Was diese Leute tun, ist immer durchdacht und sinnvoll.“ „Wer ist es denn?“ knurrte Grogatch. „Ich möchte ihn 105
gern kennenlernen und ihm die Schaufel in den Rachen schieben. Vielleicht kann er mir dann erklären, warum ich jeden Tag ein paar Stunden verschwenden muß.“ Der Kleine musterte Luke von der Seite. „Sie reden wie ein Nonkonformist“, sagte er anklagend. „Das ist höchst verdächtig.“ „Ist es das?“ Grogatch wurde abgelenkt, denn er war vor einem Abgabe-Schalter angelangt. Er gab seine Schaufel ab und erhielt eine Quittung, die er dem kleinen Mann mit dem naiven Mondgesicht in den Overall steckte. „Hier haben Sie etwas!“ sagte er wütend. „Ich werde die verdammte Schaufel nicht wieder abholen, das verspreche ich Ihnen.“ Er ging stolz und würdevoll davon. Insgeheim zweifelte er aber schon an der Richtigkeit seiner Aktion. Am Transportband blieb er stehen und blickte zurück. Der Mann im braunen Overall warf ihm einen merkwürdigen Blick zu und eilte rasch davon. Luke zögerte. Wenn er noch einmal zum Schalter ging und sich eine Quittung aushändigen ließ, würde es keine Komplikationen geben. Wenn er aber einfach davonlief, würde er in der alleruntersten Klasse enden. Er, Luke Grogatch, würde dann zu den Dummköpfen und den Arbeitsunwilligen zählen. Er griff in die Hosentasche und zog das gelbe Papier heraus. Es war ein harmloses Stück Papier mit schwarzen Buchstaben. Es repräsentierte aber die anonyme Organisation, die allgewaltige und rücksichtslose Macht. Luke konnte sich noch nicht entschließen. Der kleine Techniker hatte ihn als Nonkonformisten bezeichnet. Er war eigentlich keiner, sondern nur ein Mann 106
mit gesundem Menschenverstand. Er wollte im Grunde nur sein Bett, seine Rationen und etwas Geld für harmlose Vergnügungen. Er stöhnte leise auf. Anscheinend war er nun doch am Ende angelangt. Es hatte keinen Sinn, sich gegen die übermächtige Organisation aufzulehnen. Habe ich vielleicht unrecht? fragte er sich. Die anderen machen doch mit und murren nicht. Miskitman war mit seinem Los zufrieden und zweifelte nie an der Richtigkeit irgendwelcher Anordnungen. Auch der kleine Techniker hatte nichts gegen die letzte Maßnahme einzuwenden gehabt, obwohl sie ihn zu noch größeren Anstrengungen zwang. Hunderte von Männern kamen aus allen Richtungen, um ihre Werkzeuge gegen Quittung abzugeben. Sollte ausgerechnet er, Luke Grogatch, der einzige vernünftige Mensch in dieser Masse sein? Er war ein Nonkonformist, ein Mann, der nicht in das Schema paßte. Luke kniff die Lippen zusammen und stellte sich entschlossen auf das Transportband. Zum Teufel mit allen! sagte er sich. Sollen sie mich noch eine Klasse tiefer einstufen. Früher oder später mußte es ja dazu kommen. Noch immer nicht mit sich selbst im reinen, erreichte er den Grimesby-Lift. Dort blieb er stehen und dachte intensiv nach. Gab es vielleicht noch einen anderen Weg? Versuchen konnte er es doch. Noch einmal las er die Direktive. Lavester Limon schien für den Inhalt verantwortlich zu sein. Limon war der Leiter der Materialbeschaffung Wenn er die Anordnung herausgegeben hatte, konnte er sie auch wieder rückgängig machen. Luke seufzte auf. Es hatte keinen Sinn, sich mit Tagträumen über die wirkliche Lage zu täuschen. Es war un107
sinnig, daran zu glauben, daß Lavester Limon seine Anordnung aufheben würde. Gab es überhaupt eine Chance? Grogatch fuhr zu seinem Schlafsaal und ließ sich alles durch den Kopf gehen. Er hatte nicht mehr viel zu verlieren und konnte ruhig etwas riskieren. Die Direktive war unsinnig. Jeder vernünftige Mensch mußte das einsehen. Vielleicht mußte dieser Lavester Limon nur davon überzeugt werden, daß er sich selbst einen schlechten Dienst erwiesen hatte. Allerdings war kaum mit einer Abänderung der Anordnung zu rechnen. Die Funktionäre achteten sehr auf ihren Ruf. Die Rücknahme der Verordnung würde das Eingeständnis eines Fehlers bedeuten. Luke erreichte seinen Schlafsaal und ging sofort in eine Kommunikationszelle. Er rief die Materialbeschaffungsstelle des 8892. Bezirks an und erfuhr, daß Lavester Limon um acht Uhr dreißig in seinem Büro sein würde. Grogatch wusch sich, ließ sich die Haare schneiden und opferte sogar seine Spezialcoupons für ein neues Hemd, eine neue Hose und eine etwas militärisch geschnittene blaue Jacke. Im Spiegel seines Waschraumes erkannte er, daß er keine schlechte Figur machte. Jedenfalls sah er jetzt besser aus. In einem Kiosk ließ er sich seine Morgenration aushändigen. Danach fuhr er zur 14. Subetage hinauf und bestieg dort das Transportband zum Büro der für die Kanalisation verantwortlichen Behörde. Ein junges Mädchen empfing ihn und führte ihn sofort zu Lavester Limon. Luke bereute seine Extraausgaben nicht. Er wußte, daß er in seiner gewöhnlichen Kleidung schon vom Pförtner abgefangen worden wäre. Sein Selbst108
bewußtsein stieg, obwohl er sich in Regionen bewegte, die einem Mitglied seiner Klasse normalerweise verschlossen waren. Lavester Limon stand höflich auf und deutete eine Verbeugung an. Er war ein freundlicher Mann in mittleren Jahren. Sein Äußeres verriet, daß er einer besser bezahlten Klasse angehörte und besondere Privilegien genoß. „Setzen Sie sich, Mr. Grogatch“, sagte er freundlich, nachdem Luke seinen Namen genannt hatte. Grogatch entspannte sich. Er fiel prompt auf das joviale Verhalten seines Gesprächspartners herein. Er hatte plötzlich den Eindruck, daß es sich bei der unsinnigen Anordnung nur um einen Fehler handeln konnte. Ein so verständnisvoller Mann wie Limon konnte unmöglich für eine unvernünftige Maßnahme verantwortlich sein. Limon setzte sich ebenfalls und zog fragend die Augenbrauen hoch. Luke verschwendete keine Zeit und zog die Direktive aus der Tasche. „Ich komme in dieser Angelegenheit, Mr. Limon“, begann er. Limon nahm ihm das Blatt ab und nickte. „Ja, das stammt von mir“, erklärte er. „Stimmt etwas nicht?“ Grogatch war überrascht. Eine böse Ahnung stieg in ihm auf. Ein so vernünftig aussehender Mann mußte doch sofort erkennen, wie unsinnig dieser Befehl war. „Das ist keine vernünftige Maßnahme“, sagte er rundheraus. „Ich halte diese Anordnung für einen großen Irrtum, Mr. Limon.“ Limon war nicht beleidigt. „Warum sagen Sie das?“ fragte er jovial. „Mr. Grogatch, Sie sind …“ 109
„Angehöriger der Dienstleistungsklasse D“, antwortete Luke sofort. „Ich. arbeite in einer Tunnelmannschaft. Heute mußte ich zwei Stunden meiner Freizeit opfern, um eine Schaufel zum Lagerhaus zu bringen. Morgen muß ich wieder hin, um sie zu holen. Halten Sie das für vernünftig, Mr. Limon?“ Lavester Limon las die Direktive sorgfältig durch und lehnte sich dann zurück. Er nickte mehrmals und schaltete sein Tischmikrofon ein. „Mr. Rab, bringen Sie mir bitte die Akte sieben-fünf-vier-zwei“, sagte er freundlich. „Sie finden sie in der Gruppe G 98.“ Er wandte sich wieder lächelnd an Luke und erklärte: „Diese Sachen sind mitunter etwas kompliziert.“ „Sie können die Anordnung zurücknehmen“, platzte Luke heraus. „Sie müssen doch einsehen, wie blödsinnig diese Maßnahme ist!“ Limon schüttelte zweifelnd den Kopf. „Wir werden uns erst mit der Akte beschäftigen“, sagte er gelassen. „Wenn ich mich nicht täusche …“ Er verstummte und lehnte sich abwartend zurück. Zwanzig Sekunden später ertönte ein leiser Summer. Limon drückte auf einen Knopf und schaltete einen Leuchtschirm ein. Das Faksimile der Akte wurde direkt auf seinen Schreibtisch übertragen. Luke konnte das Bild gut erkennen. Er sah einen Brief, der der Direktive sehr ähnelte. Minister für öffentliche Arbeiten Materialversorgung Unterabteilung sanitäre Anlagen Distrikt 8829 Kanalisation. Büro des Direktors 110
Direktive: 2888 Serie BQ008 Schlüssel: GZP-AAR-REF Bezug: OP9-EQ-LLT Genehmigt: JR D-SDS Geprüft: AC Endprüf.: CX McD Von: Judiath Ripp, Direktor An: Lavester Limon, Büro für Materialversorgung. Betreff: Betriebswirtschaftlichkeit. Datum der Anwendung: Sofort. Dauer: Unbefristet. Inhalt: Ihre monatliche Zuteilung an Werkzeugen der Typen a, b, d, f und h wird ab sofort um 2,2 Prozent gekürzt. Wir schlagen vor, daß Sie die verantwortlichen Leute sofort informieren und Sparmaßnahmen einleiten. Seit einiger Zeit ist der Verbrauch der vorgenannten Werkzeuge über die festgelegte Norm angestiegen. Nachtrag: Wir empfehlen den Benutzern der Werkzeuge größere Vorsicht zu üben. Außerdem sollten die Werkzeuge über Nacht im Lagerhaus aufbewahrt werden. „Da haben Sie es!“ sagte Lavester Limon befriedigt. „Old Ripp verlangt Sparmaßnahmen. Ich gebe seine Anordnungen nur weiter. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich sehe natürlich ein, daß diese Maßnahme sehr unbequem ist, aber …“ Er hob beide Hände und machte eine hilflose Geste „Das ist nun einmal das Arbeitsprinzip der Organisation.“ 111
Luke war enttäuscht „Sie wollen die Anordnung nicht widerrufen?“ „Mein lieber Mr. Grogatch, ich kann es nicht“, antwortete Limon höflich. Grogatch gab es auf. „Nun, ich werde mich auch ganz unten heimisch fühlen“, sagte er gleichmütig. „Ich habe den Leuten im Lager gesagt, was sie mit den verdammten Schaufeln machen sollen.“ „Das war sehr leichtsinnig von Ihnen, Mr. Grogatch.“ Limon zuckte die Achseln und musterte seinen Besucher mit unverhohlenem Argwohn. „Warum gehen Sie nicht einfach zu Ripp?“ Luke wurde mißtrauisch. „Wozu?“ fragte er. „Vielleicht widerruft er die Anordnung“, antwortete Limon. „Man kann nie wissen. Ich kann ihn nicht darum bitten, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Sie aber haben nichts zu verlieren und könnten ihn ruhig auf die Unsinnigkeit seiner Anordnung hinweisen.“ Grogatch stand auf. Er erkannte plötzlich, daß Limons Freundlichkeit nur Maske war. Der Mann gab sich höflich und freundlich, war aber in Wirklichkeit hart und eigensüchtig. Außerdem schien er es zu verstehen, andere gegenseitig auszuspielen. Luke war wütend. Alles war vergeblich gewesen. Er wollte seinem Ärger Luft machen, hielt sich aber im letzten Augenblick noch zurück. Er erinnerte sich an die Szene vor dem Lagerhaus. Er hatte dem Mann am Schalter die Schaufel zugeworfen und dem kleinen Techniker die Quittung in den Overall gesteckt. Er liebte solche großen Gesten, obwohl er oft genug festgestellt hatte, daß es danach kein Zu112
rück mehr gab. Würde er nie lernen, sich zu beherrschen? Etwas ruhiger fragte er: „Wer ist dieser Ripp?“ „Judiath Ripp, Direktor der Sektion Kanalisation“, erklärte Limon bereitwillig. „Sie werden nicht leicht zu ihm gelangen. Old Ripp ist ein mürrischer und rücksichtsloser Bursche. Ich werde mal nachfragen, ob er in seinem Büro ist.“ Wenige Minuten später wußte Luke, daß Judiath Ripp sein Office in der dritten Subetage unter dem Bromblebury Park gerade betreten hatte. „Er ist ein Choleriker“, sagte Limon zum Abschied. „Er brüllt die Leute ah und schüchtert sie gern ein. Schlagen Sie zurück, Mr. Grogatch! Wenn Sie schüchtern sind, macht er sie fertig. Er schätzt nur Leute, die sich nichts gefallen lassen.“ Luke blickte Limon an. Er bemerkte das eigenartige Glänzen in den braunen Augen. „Geben Sie mir bitte eine Kopie der Anordnung, damit ich gleich sagen kann, worum es sich handelt“, verlangte er knapp. Limons Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Luke ahnte, was der Mann in diesem Augenblick dachte. Er überlegte, ob er den scheinbar verrückten Besucher tatsächlich zu Ripp schicken solle. Nach einer Weile sagte Limon: „Sie können sich die Kopie von meiner Sekretärin aushändigen lassen.“ * Luke fuhr zur dritten Subetage hinauf und spazierte unter den Arkaden entlang. Er brauchte nur noch zwei Minuten 113
zu gehen und dann mit einem Transportband bis vor die Tür des Bürogebäudes zu fahren. Die für die Kanalisation zuständige Abteilung war um einen Garten herum angeordnet. Luke schritt über den teuren Keramikboden und bewunderte die im künstlichen Licht wachsenden Pflanzen. Auch die Wände waren mit Mosaiken geschmückt. Grogatch betrat das Empfangsbüro und ging auf ein Mädchen zu. Das Mädchen trug eine Kette aus imitierten Haifischzähnen und hatte die Haare zu einem wahren Gebirge aufgetürmt. „Ich möchte Direktor Judiath Ripp sprechen“, sagte Luke furchtlos. Seine Stimme klang etwas rauh und befehlend. Das Mädchen war beeindruckt und musterte ihn. Sie konnte ja nicht wissen, daß der harte Klang seiner Forderung auf seine tiefe Unsicherheit zurückzuführen war. „Muß es unbedingt Mr. Ripp sein?“ fragte sie zögernd. „Mr. Ripp hat einen festgelegten Zeitplan und kann keine unangemeldeten Besucher empfangen.“ Luke wollte grinsen, brachte jedoch nur eine spöttische Grimasse zustande. Aber auch das beeindruckte das Mädchen. „Sagen Sie ihm nur, daß ich hier bin und ihn sprechen will“, erwiderte Luke. „Es handelt sich um eine seiner letzten Anordnungen. Da sind einige Unklarheiten.“ „Unklarheiten?“ Das Mädchen wurde bleich. Sie starrte Luke an und bemerkte seine neue Kleidung. Der militärische Schnitt der Jacke schien ihr verdächtig. War der Mann irgendein Inspektor? „Ich werde Mr. Ripp informieren“, 114
sagte das Mädchen nervös. „Bitte, nennen Sie mir Ihren Namen und Ihren Status.“ „Luke Grogatch. Mein Status ist unwichtig.“ Diese Frechheit war erfolgreich. Das Mädchen schaltete ein Rufgerät ein und unterhielt sich leise mit einer Person, die Luke leider nicht erkennen konnte. Dann drehte es sich um und sagte freundlich: „Mr. Ripp hat ein paar Minuten Zeit, Sir. Die erste Tür rechts.“ Grogatch ging ruhig durch den Korridor und öffnete die bezeichnete Tür. Er fand sich in einem völlig mit Edelhölzern ausgekleideten Büro. An einer Wand standen Aquarien mit hin und her flitzenden Zierfischen. Judiath Ripp saß hinter einem wuchtigen Schreibtisch. Er war groß und kräftig und glich fast einem lauernden Raubfisch. Der Mann hatte aber nur ein schwaches Kinn. Luke konnte sich nicht vorstellen, daß Ripp ein Choleriker sein sollte. Wahrscheinlich hatte Limon etwas gegen Ripp und wollte ihm Ärger bereiten. Luke wurde unsicher. Er wollte seine eigene Sache vertreten und sich nicht zu einem Werkzeug machen lassen. Ripp musterte ihn kühl. „Meine Sekretärin sagte mir, Sie seien ein Untersuchungsbeamter. Was kann ich für Sie tun, Mr. Grogatch?“ Luke überlegte nicht lange und sagte: „Ich arbeite seit einigen Wochen als Mitglied der Dienstleistungsklasse D. Ich bin bei einer Kanalbauabteilung.“ „Was gibt es da zu untersuchen?“ fragte Ripp belustigt. Grogatch machte eine bedeutsame Handbewegung und erklärte „Der Vormann meiner Arbeitsgruppe erhielt gestern eine Anordnung, die ich nicht verstehen kann. Es ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe.“ 115
„Wenn die Anordnung von Limon kam, ist sie bestimmt idiotisch“, brummte Ripp ironisch. „Ich besuchte Limon in seinem Büro“, fuhr Luke fort. „Er erklärte sich für nicht zuständig und verwies mich an Sie, Mr. Ripp.“ Ripp beugte sich etwas vor. „Worum handelt es sich denn?“ fragte er neugierig. Luke schob die beiden Blätter über den Schreibtisch. Ripp las sie sorgfältig und gab sie wieder zurück. „Ich kann nicht sehen, was …“ Er verstummte und setzte neu an: „Diese Direktiven sind nur das Ergebnis einer von oben gekommenen Anweisung. Ich bin auch nur ein Mittelsmann. Ich verstehe nicht recht, was daran falsch sein soll, Mr. Grogatch.“ „Das will ich Ihnen sagen!“ knurrte Luke. „In meiner augenblicklichen Eigenschaft muß ich genau das tun, was alle anderen Mitglieder der D-Klasse tun müssen. Heute morgen mußte ich meine Schaufel zum Lagerhaus bringen und dort gegen eine Quittung abgeben. Ich verlor dabei mehr als zwei Stunden meiner Zeit. Wenn die Leute das jeden Tag tun müssen, wird das die Arbeitsmoral untergraben.“ Ripp schien unbeeindruckt. „Ich kann Sie nur an meine Vorgesetzten verweisen“, antwortete er kühl. Er griff nach dem Telefon und sagte: „Übertragen Sie bitte die Akte OR neun.“ Dann wandte er sich wieder an Luke. „Ich bin nicht dafür verantwortlich, Mr. Grogatch“, erklärte er. „Ich kann die Anordnung auch nicht zurücknehmen. Darf ich fragen, welchen Sinn Ihre Arbeit im Tunnel hat, und wem Sie darüber berichten?“ 116
Die von Ripp angeforderte Akte fiel aus einem Schlitz auf den Schreibtisch. Ripp nahm ein Blatt heraus und schob es Luke zu. „Sie können leicht feststellen, daß ich nicht dafür verantwortlich bin“, sagte er abweisend. Luke sah eine der üblichen Direktiven mit dem Text: Ministerien für öffentliche Arbeiten Büro des Kommissars für sanitäre Einrichtungen Direktive: 449 Serie UA-14 Auftragsschlüssel: GZP/AAR/REF Bezug: TQ9-1422 Datum: BP-EQ-LLT Genehmigt: PU-PUD-Org. Geprüft: G. Evan Gegenzeichnung: Hernon Klanech Von: Parris de Vicker, Kommissar für Öffentliche Einrichtungen. Durch: Alle Unterabteilungen. An: Alle Abteilungschefs Inhalt: Sparmaßnahmen und deren wirksame Kontrolle. Anwendung: Sofort Dauer: Unbefristet Erklärung: Alle Abteilungsleiter sind angehalten, strenge Sparmaßnahmen einzuleiten und deren Befolgung zu überwachen. Die aus legierten Metallen gefertigten Werkzeuge müssen besonders sorgfältig behandelt werden. Die Zuteilung solcher Werkzeuge wird mit sofortiger Wirkung 117
um mindestens 2 Prozent gekürzt. Die Leiter der besonders sparsamen Abteilungen können mit einer Statusverbesserung belohnt werden. Durchgesehen und bestätigt: Lee Jon Smith, Distriktagent Bezirk 8892 Luke stand hastig auf. Er wollte das Büro so schnell wie möglich verlassen. „Ist das eine Abschrift?“ fragte er und deutete auf die Direktive. Ripp nickte. „Darf ich sie mitnehmen?“ Luke wartete die Antwort gar nicht erst ab und steckte sie zusammen mit den anderen beiden ein. Judiath Ripp beobachtete ihn sehr aufmerksam. „Ich weiß auch jetzt noch nicht, welcher Stelle Sie unterstehen“, sagte er lauernd. „Es ist mitunter besser, wenig zu wissen“, antwortete Luke geheimnisvoll. Ripp war mit dieser Antwort zufrieden. Nur ein Mann, der sich seiner Stellung absolut sicher war, konnte sich solche Worte erlauben. Der merkwürdige Besucher gehörte offensichtlich zu den höchsten Kreisen. „Brauchen Sie noch etwas?“ fragte Ripp zuvorkommend. „Nein. Sie können nichts mehr für mich tun“, antwortete Luke. Er drehte sich um, ging zur Tür und fühlte sich gar nicht sehr wohl dabei. Er hatte alles gewagt und einen Teilerfolg erzielt. Er war schon an der Tür, als er Ripps scharfe Stimme hörte. 118
„Einen Augenblick noch!“ Luke drehte sich um. „Ja?“ „Zeigen Sie mir Ihre Papiere!“ „Ich habe kaum welche“, antwortete Luke grinsend. Judiath Ripp erhob sich und stützte sich schwer auf. Jetzt erkannte Luke das cholerische Temperament des Mannes. „Weisen Sie sich aus!“ fauchte Ripp. „Wenn Sie sich weigern, rufe ich einen Wächter!“ Grogatch ging wieder zum Schreibtisch zurück. „Ich habe nichts zu verbergen“, sagte er selbstsicher. „Ich heiße Luke Grogatch und arbeite als Mitglied der Dienstleistungsklasse D in der dritten Mannschaft der Kanalbauabteilung. Genügt das?“ „Warum schleichen Sie sich hier ein und stellen falsche Behauptung auf?“ fauchte Ripp. „Habe ich das getan?“ Luke lächelte. „Ich habe von Anfang an gesagt, wer ich bin und was ich will. Ich kann nicht verstehen, warum ich meine Schaufel jeden Tag einige Stunden lang durch die Gegend schleppen soll.“ Judiath Ripp starrte seinen Besucher ungläubig an. „Sie sind Mitglied der D-Klasse?“ „Ja.“ „Und Limon hat Sie zu mir geschickt?“ „Er hat mir nur eine Kopie seiner Anordnung gegeben.“ Ripp atmete hörbar auf. „Was wollen Sie eigentlich erreichen?“ fragte er amüsiert. „Eine Zurücknahme der verdammten Verordnung“, antwortete Luke. „Ich habe einfach keine Lust, die Schaufel jeden Tag zum Lagerhaus zu bringen.“ „Dafür bin ich nicht zuständig“, antwortete Ripp. „Brin119
gen Sie mir eine diesbezügliche Anordnung von Parris, und ich werde sie weiterleiten.“ „Können Sie mich bei Parris anmelden?“ fragte Luke hoffnungsvoll. „Ich soll Ihnen einen Termin verschaffen? Sind Sie von Sinnen? Verschwinden Sie!“ * Luke kam dieser Aufforderung schnell nach. Er fand sich wieder in dem luxuriösen Vorraum und betrachtete den blauen Mosaikboden. Er empfand einen dumpfen Haß gegen Ripp, Limon, Miskitman und all die anderen Funktionäre, die jede Verantwortung ablehnten und nur Befehle weitergaben. Wenn ich nur zwei Stunden lang der oberste Boß wäre, würde ich sie alle an die Luft setzen! dachte er verbittert. Das war ein Wunschtraum, den er immer dann träumte, wenn er sich verloren und verlassen fühlte. In Gedanken schickte er Ripp in den Tunnel und ließ ihn den Dreck schaufeln. Limon ließ er hinter der kreischenden Bohrmaschine stehen und glühende Bohrzähne auswechseln. Miskitman schickte er täglich mehrmals zum Lagerhaus, um Schaufeln zu holen und hinzubringen. Gedankenversunken ging er zum nächsten Lift und fuhr zur Oberfläche hinauf. Da er sich im Bramblebury Park befand, konnte er den Himmel sehen. Auch an der Oberfläche gab es Gegenden, die sich kaum von den unterirdischen Etagen unterschieden. Luke schritt langsam über die Kieswege und dachte an 120
seine Probleme. Er war so intensiv damit beschäftigt, daß er den klären Himmel kaum wahrnahm. Er hatte sich verrannt und kam nicht weiter. Ripp hatte ihm den Vorschlag gemacht, den Kommissar aufzusuchen. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, Parris de Vicker zu sprechen – was aber wenig wahrscheinlich war –, würde er ihn kaum zur Zurücknahme seiner Anordnung bewegen können. Es gab einfach keine Möglichkeit, den Kommissar unter Druck zu setzen. Grogatch lachte verbittert auf. Einige Tauben flatterten empor. Was jetzt? fragte er sich. Sein Bett im Schlafsaal stand ihm täglich für zwölf Stunden zur Verfügung. Sollte er sich ausschlafen? Er war nicht müde. Erst jetzt spürte er den lauen Wind und sah er das helle Sonnenlicht. Trotz seiner unangenehmen Lage fühlte er sich wie in einem Paradies. Er ging langsam weiter. Zwischen den hohen Bäumen standen Bänke, auf denen alte Männer und Frauen saßen. Luke fand einen Platz und setzte sich dazu. Er lehnte sich zurück und genoß die frische Luft. Erst jetzt wurde ihm bewußt, wie selten er an der Oberfläche gewesen war. In seiner Jugend war er oft von einem Bezirk der Stadt zum anderen getrampt. Damals war er mit den großen Flugmaschinen geflogen, um die Wolken zu sehen, die unermeßliche Weite des Himmels zu genießen. Mit den Jahren war er ruhiger geworden. Jetzt erinnerte er sich wieder an die Jugendträume. Damals hatte er nach oben klimmen wollen, um in den Genuß der Annehmlichkeiten des Lebens zu kommen. Die Träume waren zerronnen. Luke Grogatch gehörte nicht zu denen, die nicht auf Ra121
tionen und auf zwölf Stunden befristete Schlafplätze angewiesen waren. Er war nicht nach oben gestiegen, sondern im steilen und unaufhaltsamen Fall in die Tiefe gestürzt. Er war einmal Wissenschaftler gewesen, dann Techniker, Maschinenarbeiter und so weiter. Er konnte sich kaum noch an die vielen Stationen seines Abstiegs erinnern. Jetzt war er auf der zweiten Stufe angelangt. Nur noch ein Schritt trennte ihn vom Abschaum, von den Ausgestoßenen der Gesellschaft. Und doch war er zu stolz, seine Schaufel zum Lagerhaus zu tragen. Luke korrigierte sich. Nein, er war nicht zu stolz. Es ging nicht um Eitelkeit, sondern um höhere Werte. Eitel war er schon lange nicht mehr. Jetzt war er nur noch stolz und auf seine menschliche Würde bedacht. Wenn er nachgab, würde er sich nie wieder achten können, würde er von der anonymen Masse aufgesogen werden. Grogatch wurde nervös. Er saß herum und verschwendete seine Zeit. Ripp hatte ihn an den Kommissar verwiesen, wohl wissend, daß ein Besuch nicht im Bereich von Lukes Möglichkeiten lag. Luke Grogatch hatte nur noch den einen Wunsch, vor sich selbst zu bestehen. „Aber wie?“ Er stand nachdenklich auf und schlenderte zur nächsten Telefonzelle. Das Ministerium für Öffentliche Arbeiten befand sich im Zentralturm in Silverado, über hundert Kilometer vom Bramblebury Park entfernt. Luke verließ die Telefonzelle und überlegte. Überall saßen alte Leute herum. Sie erinnerten ihn an hungrige Spatzen im Winter. Er war froh, daß er sich neue Kleidung gekauft hatte, denn jetzt machte er eine ausgesprochen gute 122
Figur und fiel nicht sofort auf. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es war noch früh. Er konnte die Reise unternehmen und trotzdem rechtzeitig zum Schichtbeginn zurück sein. Wollte er das überhaupt? Luke fragte sich, ob sein Entschluß nicht doch etwas zu unüberlegt war. Wollte er wieder in den Tunnel zurück? Luke wußte es selbst nicht. Er hatte kaum noch Hoffnung. Die Arbeit im Tunnel widerte ihn an. Wenn er sie aber ablehnte, würde er später noch unangenehmere Arbeiten verrichten müssen. * Zehn Minuten später bestieg er den Expreßzug nach Silverado. Der glänzende Metallwurm setzte sich zischend in Bewegung, kletterte rasch zur 13. Etage hinauf und raste im Sonnenlicht zwischen den hohen Türmen dahin. Die Strecke führte durch gigantische Bauten hindurch und über waghalsig konstruierte Brücken. Der Zug hielt in der Universitätsstadt, dann auf einer großen Kreuzungsstation, schlängelte sich durch Straßenschluchten und lief schließlich in den Zentralbahnhof von Silverado City ein. Luke fuhr zur Empfangshalle im zehnten Stockwerk des gigantischen Verwaltungsgebäudes hinauf. Die Halle war ein prunkvoller, mit Marmor, Edelmetallen und teurem Holz dekorierter Raum. Hunderte von Menschen kamen und gingen, würdevolle Manager und hochgestellte Verwaltungsbeamte. Luke konnte sie alle gut unterscheiden, denn schon die Kleidung verriet die Stellung jedes einzelnen. Alle hatten es sehr eilig. Luke hegte den Verdacht, 123
daß sie damit lediglich ihre Wichtigkeit demonstrieren wollten. Er drängte sich nach vorn und las die große Hinweistafel. Parris de Vicker hatte sein Büro in der 59. Etage. Luke wollte ihn aber übergehen und gleich den nächsthöheren Vorgesetzten aufsuchen. Das war der Sekretär für innere Angelegenheiten Sewell Sepp. Sein Büro befand sich in der 81. Etage. Jetzt will ich gleich ganz nach oben, dachte Luke. Mit den kleinen Abteilungsleitern gebe ich mich nicht mehr ab. Mit einem Schnell-Lift fuhr er hinauf und betrat einen großartig ausgestatteten Vorraum. Die Dekoration der Räume war der Stellung des betreffenden Beamten angepaßt. Luke hatte noch nie eine derartige Pracht gesehen und blieb beeindruckt stehen. An einer Wand standen große Bronzefiguren, die die verschiedenen öffentlichen Dienste symbolisierten. Er hielt sich aber nicht lange auf und ging zu einer der zehn Empfangsdamen. Das Mädchen begrüßte ihn mit einem leeren Lächeln und fragte nach seinen Wünschen. „Ich möchte Mr. Sepp sprechen“, sagte Luke kühn. „Wen wollen Sie sprechen?“ das Mädchen verlor etwas von ihrer Gleichgültigkeit und musterte Luke sehr eingehend. „Mr. Sepp.“ Das Mädchen faßte sich schnell und fragte kühl: „Haben Sie einen Termin?“ „Nein.“ „Dann können Sie ihn unmöglich sprechen.“ Luke hatte es fast erwartet. „Dann möchte ich zu Mr. Parris de Vicker“, sagte er. „Das geht auch nicht.“ Das Mädchen schüttelte amüsiert den Kopf. „Wie stellen Sie sich das vor, Sir? Sie können 124
doch nicht einfach herkommen und zu einem dieser Leute wollen. Jeder Besucher muß einen Termin haben.“ „Hören Sie, ich …“ „Es hat keinen Sinn, Sir“, sagte das Mädchen abweisend. „Na, schön! Dann geben Sie mir einen Termin“, sagte Luke seufzend. „Ich möchte Mr. Sepp aber noch heute sprechen.“ Das Mädchen interessierte sich nicht mehr für den merkwürdigen Besucher. „Ich werde Mr. Sepps Sekretär anrufen“, sagte es kühl. Nach einigen Minuten kam es wieder zurück und sagte gleichgültig: „In diesem Monat geht es nicht mehr, Sir. Möchten Sie einen anderen Beamten sprechen?“ „Nein.“ Luke hielt sich an einer Säule fest. Er wollte schon gehen, fragte dann aber: „Wer gibt die Termine?“ „Die Sekretärin der Sekretärin.“ „Kann ich sie sprechen?“ „Dazu müssen Sie erst einen Termin haben!“ „Und wer gibt mir diesen? Muß ich erst die Sekretärin der Sekretärin der Sekretärin fragen?“ Das Mädchen hatte kein Verständnis für Lukes spöttischen Ton. „Das macht das Vorzimmer“, erklärte es gelangweilt. „Zimmer zweiundvierzig.“ Luke ging durch eine drei Meter hohe Türöffnung. Die hohen Kristallflügel schwangen selbsttätig hinter ihm zu. An den Wänden waren geschliffene Kristalle angebracht, in deren großen Flächen Luke sich spiegeln konnte. Er sah farbige Zerrbilder, lächelte aber nicht. Der Anlaß seines Besuchs war zu ernst, um sich ablenken zu lassen. Am Ende des Ganges lag ein großes Vorzimmer. Die 125
Decke bestand aus farbigem Glas. Überall standen bequeme Ledersessel und Bänke. Luke sah eine Tür mit der Aufschrift: SEKRETARIAT DES SEKRETÄRS FÜR INNERE ANGELEGENHEITEN Wie Grogatch warteten mindestens fünfzig Menschen ungeduldig darauf, vorgelassen zu werden. Sie gehörten alle der Oberschicht an und blickten häufig auf die große Uhr an der Wand. Als Luke den Raum betrat, klang gerade eine weiche Frauenstimme aus einem Lautsprecher. Ein Mr. Coff wurde aufgerufen. Ein kleiner dicker Mann sprang auf und verschwand hinter der Tür mit der vergoldeten Aufschrift. Luke sah ihm neidisch nach. Ein uniformierter Wächter trat auf ihn zu und fragte nach seinen Wünschen. Grogatch wurde von dem Mann in ein kleines Zimmer geleitet, wo eine junge Frau an einem Schreibtisch saß. Sie bot ihm einen Stuhl an und fragte nach seinem Namen. „Luke Grogatch“, antwortete er. „In welcher Angelegenheit kommen Sie?“ „Ich möchte den Sekretär sprechen.“ „Worum geht es?“ „Um eine persönliche Angelegenheit“, antwortete Luke. Die Frau schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Mr. Grogatch. Der Sekretär ist überlastet. Wenn Sie mir den Grund Ihres Besuches erklären, kann ich Sie vielleicht an den zuständigen Bearbeiter verweisen.“ „Nein, ich muß den Sekretär persönlich sprechen“, sagte 126
Luke beharrlich. „Es handelt sich um eine kürzlich erlassene Anordnung.“ „Wurde diese Anordnung vom Sekretär für Innere Angelegenheiten erlassen?“ „Ja.“ „Haben Sie Einwendungen zu machen?“ Luke nickte. Die Frau kramte in ihrem Schreibtisch herum und legte einen Bogen Papier auf die Platte. „Sie können dieses Formular draußen ausfüllen und in den Kasten für Vorschläge werfen“, sagte sie geduldig. Grogatch wurde plötzlich wütend. Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch und schrie die entsetzte Frau an: „Er wird doch ein paar Minuten Zeit haben!“ Die Frau langte nach einem Klingelknopf, drückte ihn aber noch nicht nieder. „Draußen im Vorzimmer sitzen mindestens fünfzig wichtige Leute“, sagte sie scharf. „Einige davon versuchen schon seit Monaten, zum Sekretär vorzudringen. Wenn Sie das Formular ausfüllen und den vorgeschriebenen Dienstweg einhalten, werden Sie bestimmt eine Antwort erhalten, Mr. Grogatch.“ Luke taumelte hinaus. Er ahnte, was die Frau von ihm dachte. Wahrscheinlich hielt sie ihn für einen verkappten Nonkonformisten. Möglicherweise würde sie ihn sogar bewachen lassen. Im Vorzimmer starrte Luke haßerfüllt auf die vielen wichtigen Persönlichkeiten, die sich so ungeduldig und arrogant gaben. Wieder wurde ein Mann aufgerufen und verschwand hinter der pompösen Tür. Luke ließ sich in einen der Sessel fallen und streckte die Beine von sich. Neben 127
ihm saß ein dicker Mann mit aufgeworfenen Lippen und blondem Haar. Das Verhalten des Mannes verriet deutlich, daß er eine hohe Stellung innehatte. Aus! dachte Luke. Ich schaffe es nicht. Aber dann hatte er eine Idee. Es war eine verzweifelte Idee, die sich kaum realisieren ließ. Er wollte es aber trotzdem versuchen. Luke ging zu einem Tisch und nahm einige dort liegende Formulare auf. Der dicke Mann mit den Speckwülsten im Nacken hatte sich bis dahin nicht um ihn gekümmert. Luke baute sich vor dem Mann auf und fragte im Ton eines Offiziellen: „Ihr Name, Sir?“ „Arthur Hardin“, knurrte der Mann. „Warum?“ Luke warf einen Blick auf seine losen Blätter und nickte. „Zu wann waren Sie mit dem Sekretär verabredet?“ „Elf Uhr zehn. Was ist los?“ „Der Sekretär läßt fragen, ob Sie um ein Uhr dreißig mit ihm essen wollen. Dabei ließe sich die Angelegenheit zwangloser besprechen.“ Hardin überlegte nicht lange. „Das wirft zwar meinen Zeitplan durcheinander“, brummte er. „Ich werde aber alles veranlassen. Also um ein Uhr dreißig.“ „Vielen Dank, Sir“, sagte Luke und verbeugte sich leicht. „Der Sekretär billigt Ihnen dafür sieben Minuten zu.“ „Nur sieben Minuten?“ Hardin war enttäuscht. „Wie soll ich ihm in so kurzer Zeit alles erklären?“ „Während der Mittagspause ist der Sekretär immer guter Laune und wird mit sich reden lassen“, sagte Luke vertraulich. „Sie können nachher direkt hineingehen und brauchen nicht auf den Aufruf zu warten.“ 128
Arthur Hardin verließ das Vorzimmer. Luke setzte sich wieder und wartete ab. Keiner hatte sich um ihn und Hardin gekümmert. Die Männer waren alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um auf andere zu achten. Die Zeit verging quälend langsam. Endlich wurde der Name Hardin aufgerufen, und Luke erhob sich. * Er wurde zum Sekretär geführt, einem nervösen Mann mit grauen Haaren und harten Augen. Als Grogatch das große Büro betrat, zog der Sekretär für Innere Angelegenheiten die Augen hoch. Luke paßte offenbar nicht in sein Konzept. „Setzen Sie sich, Mr. Hardin“, sagte er unfreundlich. „Ich will keine Zeit verschwenden und Ihnen gleich sagen, daß ich Ihren Vorschlag für unpraktisch halte. Wir haben ihn mit allen bisher gemachten Erfahrungen vergleichen lassen. Die Ausführung Ihres Planes würde zu hohe Kosten verursachen. Außerdem sind wir nicht von der Notwendigkeit der Neuerungen überzeugt.“ Luke nickte gleichgültig. „Auch gut“, sagte er nur. Der Sekretär richtete sich unwillkürlich auf. „Sie nehmen das so einfach hin?“ Grogatch winkte ab. „Vergessen wir das, Sir“, sagte er. „Das Leben ist zu kurz, um sich unnütze Sorgen zu machen. Aber da ist noch eine andere Sache, die ich mit Ihnen besprechen möchte.“ „So?“ „Diese Angelegenheit mag trivial erscheinen, Sir“, fuhr 129
Luke fort. „Ein früherer Mitarbeiter hat mich darauf aufmerksam gemacht. Er ist jetzt Angehöriger der Dienstleistungsklasse und gehört zu einer Tunnelbauabteilung. Es geht um folgendes: Irgendein Idiot hat die Verfügung erlassen, daß alle Handwerkszeuge nach jeder Schicht im Lagerhaus abgegeben werden müssen. Das Abgeben und das Abholen geht zu Lasten der Arbeiter, die dafür ihre Freizeit opfern müssen. Ich habe den Faden aufgenommen und bis hierher verfolgt.“ Luke zog die drei Blätter aus der Tasche und faltete sie auseinander. Der Sekretär sah sich die Blätter an und runzelte die Stirn. „Was wollen Sie?“ fragte er verständnislos. „Es ist doch alles in Ordnung.“ „Eben nicht!“ brauste Luke auf. „Widerrufen Sie den Unsinn, Sir! Sie können doch nicht verlangen, daß die armen Kerle ein paar Stunden täglich durch die Gegend laufen, um ihre Schaufeln abzugeben. Ich kann nicht einsehen, daß diese Maßnahme wirtschaftlich sein soll.“ Der Sekretär schüttelte den Kopf. „Das tut nichts zur Sache. Diese Maßnahme hat einen Sinn, Mr. Hardin. Der Befehl kam vom Aufsichtsrat!“ „Bitte mißverstehen Sie mich nicht“, sagte Luke ungeduldig. „Ich will nur nicht, daß die armen Teufel soviel Zeit verschwenden müssen. Was soll daran wirtschaftlich sein?“ „Vielleicht können Sie das nicht übersehen“, antwortete der Sekretär unwillig. „Es gibt einige Millionen Schaufeln.“ „Das weiß ich, Sir“, begehrte Luke auf. „Und all diese Millionen von Schaufeln müssen Tag für Tag abgeholt und 130
nach der Schicht wieder zurückgebracht werden. Der Gewinn durch bessere Pflege wird durch die aufgeblasene Bürokratie bestimmt wieder verschlungen.“ Der Direktor zuckte die Achseln. „Natürlich sind solche Maßnahmen mitunter etwas unbequem“, gab er zu. „Aber das ist nicht unsere Sache. Ich habe die Direktive herausgegeben, weil ich damit beauftragt wurde. Allein der Aufsichtsratsvorsitzende hat das Recht, die Direktive zurückzunehmen oder umzuändern.“ „Dann gehe ich eben zum Aufsichtsratsvorsitzenden“, sagte Luke. „Können Sie mir eine Verabredung verschaffen?“ „Wir können den Weg abkürzen und uns direkt mit ihm unterhalten“, erwiderte der Sekretär entgegenkommend. „Sie haben aber selbst gesagt, daß es sich um eine triviale Angelegenheit handelt.“ Der Aufsichtsratsvorsitzende war gerade nicht beschäftigt. Auf dem Bildschirm tauchte das Bild des hoch oben im Turm gelegenen Zimmers auf. Der Vorsitzende lag in einem Liegestuhl vor dem breiten Fenster und blickte von seiner einsamen Höhe aus auf die Riesenstadt hinab. In einer Hand hielt er ein Glas mit einer sprudelnden Flüssigkeit, in der anderen eine Zigarre. „Guten Morgen, Sepp!“ sagte er herzlich und nickte auch Luke zu. Der Sekretär deutete auf Grogatch und erklärte: „Mr. Hardin beschwert sich über eine unserer Sparmaßnahmen, Sir. Er meint, die strenge Anwendung dieser Vorschrift bedeute unbillige Härten für die betroffenen Arbeiter der D-Klasse.“ 131
Der Aufsichtsratsvorsitzende dachte nach. „Ich kann mich kaum noch an den Wortlaut der Verfügung erinnern.“ Sepp hielt die drei Blätter vor den Bildschirm. „Es geht um die Metallknappheit, Sir“, erklärte er. „Richtig!“ Der Aufsichtsratsvorsitzende lächelte huldvoll. „Wir müssen den Gürtel ein Loch enger schnallen, Gentlemen. Das ist aber nicht meine Schuld. Die Begründung der Maßnahme stammt von der Bewertungsstelle.“ „Das ist doch Irrsinn!“ fauchte Luke. „Sollten die Leute tatsächlich ihre Zeit verschwenden, damit ein paar lausige Schaufeln eingespart werden?“ Der Aufsichtsratsvorsitzende ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Sie tun ja gerade so, als müßten Sie die Schaufeln tragen“, sagte er gutmütig. „Gegen die Entscheidung der Bewertungsstelle ist nichts zu machen. Immerhin handelt es sich um rein objektive Vorstellungen. Gegen nackte Tatsachen können wir nicht angehen, mein lieber Freund.“ „Drei Stunden pro Tag!“ stöhnte Luke. Der Aufsichtsratsvorsitzende wurde allmählich ungeduldig und stellte sein Glas ab. „Die Organisation funktioniert reibungslos“, sagte er. „Die Leute in der Bewertungsstelle verstehen ihr Handwerk.“ Er nickte Sepp zu und sagte freundlicher: „Ein großartiger Tag! Kommen Sie heute zum Essen zu mir herauf, Sepp.“ Einen Augenblick später war der Bildschirm wieder weiß. Sepp stand auf. „Ich kann wirklich nichts weiter für Sie tun“, sagte er abschließend. Luke nickte stumm und verließ das Büro. Draußen hörte 132
er lauten Lärm. Der richtige Hardin war zurückgekehrt und bestand auf dem versprochenen Zusammentreffen mit dem Sekretär. Grogatch schlich vorsichtig vorbei und erkundigte sich nach dem Sitz der Bewertungsstelle. * In der 29. Etage unterhielt er sich mit einem arroganten jungen Mann, der sich seiner Würde als Koordinator sehr bewußt war. Der junge Mann ging aber bereitwillig auf Lukes Fragen ein, weil er dadurch seine eigene Wichtigkeit betonen konnte. „Richtige Informationen sind die Grundlagen der Organisation“, erklärte er. „Die archivierten Informationen werden vom Büro für Abstraktionen bearbeitet und dann zu uns geschickt. Wir bringen das Ergebnis in eine feste Form und geben es an die Direktorenversammlung weiter. Die Direktoren entscheiden dann, ob die Direktive weitergegeben wird.“ Luke fragte nach dem Büro für Abstraktionen. Der junge Mann wurde sofort gleichgültig und sagte abfällig: „Da sitzen doch nur Statistiker. Die sind nicht in der Lage, einen vernünftigen Satz zu formulieren. Wenn wir nicht wären …“ Grogatch ließ ihn stehen und setzte seine Wanderung fort. Das Büro für Abstraktionen lag in der sechsten Etage. Dort unten gab es keine pompösen Korridore und Vorzimmer. Luke konnte ohne weiteres in das Büro gehen und sich umsehen. Er sah Frauen und Männer der mittleren Klassen bei der Arbeit. Eine Frau fragte ihn nach seinen 133
Wünschen, und Luke gab vor, Journalist zu sein. Die Frau führte ihn bereitwillig durch alle Abteilungen. Überall waren Angestellte dabei, Nachrichten auf deren wirklichen Gehalt zu verdichten. Luke wich allen präzisen Detailfragen aus. „Ich interessiere mich besonders für Nachrichten über den Bestand an Mineralien“, erklärte er beiläufig. „Vor kurzem wurde eine diesbezügliche Nachricht zur Bewertungsstelle geschickt. Können Sie mir etwas darüber sagen?“ „Natürlich nicht.“ Die Frau war ehrlich erstaunt. „Wir haben hier so viele Nachrichten zu bearbeiten, daß wir uns nicht um Einzelheiten kümmern können“, erklärte sie. „Und woher kommt das Material, das hier bearbeitet wird?“ fragte Luke. Seine Führerin zog eine Grimasse und deutete auf den Fußboden. „Aus dem Archiv“, sagte sie. „Ich kann Ihnen nicht viel darüber sagen. Wir verkehren nicht mit den Leuten, die in der 12. Subetage arbeiten; das sind doch nur Registraturen, reine Automaten.“ Grogatch gab zu erkennen, daß er diese Abteilung sehen wolle. Die Frau zuckte die Achseln. Sie konnte offenbar nicht verstehen, was ein Mensch der gehobenen Schichten in den Subetagen wollte. Sie erklärte sich aber bereit, den Leiter der Registratur anzurufen und Luke anzumelden. * Der Chefregistrator, Mr. Sidd Boatridge, hielt sich für sehr wichtig. Er war sich der Geringschätzung durch die Mit134
glieder des Büros für Abstraktionen bewußt und reagierte mit unwahrscheinlicher Arroganz. Auf Lukes Fragen schüttelte er kühl den Kopf und antwortete: „Ich kann Ihnen nicht viel sagen, Sir. Wir registrieren alle eingehenden Nachrichten und geben sie weiter. Meine Aufgaben sind rein administrativer Natur. Vielleicht kann Ihnen einer meiner Untergebenen etwas sagen.“ Boatridge rief einen bleichen Mann in sein Büro. „Zeigen Sie Mr. Grogatch die Registratur“, sagte er von oben herab. „Und beantworten Sie alle seine Fragen.“ Vor der Tür des Büros wurde der kleine bleiche Mann sofort überheblich. Er schien Lukes Status beinahe zu wittern. Er bezeichnete sich als Mann vom Dienst und sprach abfällig von den Registratoren. Es war seine Aufgabe, an einem Pult zu sitzen und das Büro für Abstraktionen auf Anfrage mit Material zu versorgen. Luke bestaunte die an dem Pult flackernden Lampen. Die orangefarbenen bedeuteten den Eingang einer neuen Information, die grünen eine Anforderung. „Welche Nachrichten treffen gerade ein?“ wollte Luke wissen. Der Mann war fast beleidigt. „Das weiß ich doch nicht“, sagte er verärgert. „Alle Meldungen sind verschlüsselt. Unten im alten Büro haben wir einen Monitor, mit dem sie entschlüsselt werden können. Wir machen uns aber nie die Mühe. Dazu hat hier keiner genügend Zeit. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Nachrichten täglich eingehen.“ Grogatch bemerkte die Unruhe des Angestellten. Er fragte schnell: „Sie registrieren die verschlüsselt eingehenden Meldungen und geben sie nur weiter?“ 135
„So ist es“, erklärte der Mann würdevoll. „Wer bestimmte Informationen haben will, fordert die betreffenden Unterlagen an und läßt sie entschlüsseln.“ „Das ist aber auch in dem alten Büro möglich?“ Der Mann nickte gelangweilt. „Keiner von uns steigt in das alte Loch hinab. Da unten gibt es nur die Kabelschächte mit den Leitungen, dem Monitor und dem alten Wärter.“ „Und wo liegt die Kammer?“ „Hinter den Registrierkammern ist eine Treppe“, antwortete der Mann. „Sie müssen sich den Weg selber suchen. Ich bin ehrgeizig und will nichts mit Angehörigen einer niedrigeren Klasse zu tun haben.“ „Vielen Dank!“ murmelte Luke. „Dort unten finde ich tatsächlich einen Wächter?“ „Den alten Dodkin. Der arbeitet schon seit hundert Jahren da unten.“ * Luke machte sich auf den Weg. Er stieg die Treppe hinab und fand einen alten Lift, mit dem er in die Tiefe rumpelte. Es roch immer muffiger und dumpfer. Grogatch war mit diesen Gerüchen, vertraut und machte sich nichts daraus. Er hatte lange genug Gelegenheit gehabt, sich daran zu gewöhnen. Nur die Angehörigen der untersten Klassen verirrten sich in diese Subetagen. Luke richtete sich nach alten Hinweisschildern und stieg immer tiefer hinab. In den Gängen hingen nur noch nackte Glühbirnen und spendeten trübes Licht. Endlich stieß er auf eine Tür mit der Aufschrift: 136
INFORMATIONSEINGANG – EINTRITT VERBOTEN! Grogatch drückte die Klinke nieder, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Er klopfte an und wartete ungeduldig. Nach einer Weile hörte er schlurfende Schritte. Irgendwo in der Ferne rumpelte ein uraltes Transportband. Luke klopfte noch einmal. Dann hörte er eine schwache Stimme. „Was ist denn los?“ „Sind Sie Dodkin?“ rief Grogatch. „Ja, Sir.“ „Dann machen Sie die Tür auf!“ Die Tür öffnete sich quietschend. Luke erkannte einen gebeugt dastehenden alten Mann, der ihn verwundert musterte. „Hier gibt es nichts zu sehen, Sir“, sagte Dodkin müde. „Hier laufen nur die verschiedenen Kabel zusammen. Die Nachrichten werden automatisch registriert und dann nach oben weitergegeben. Die komplizierten und wichtigen Geräte befinden sich alle weiter oben.“ „Ich komme gerade von oben, weil ich Sie sprechen will“, sagte Luke freundlicher. Dodkin sah erstaunt auf und gab die Tür frei. Luke betrat einen Raum, dessen Wände vollständig mit Kabeln ausgekleidet waren. In einer Ecke war ein altes Bett aufgeschlagen. In der Mitte des Raumes standen ein Schreibtisch und der Monitor. Dodkin war sehr alt, aber er bewegte sich mit erstaunlicher Agilität. Sein weißes Haar war ordentlich nach hinten gekämmt, sein Blick klar. Dodkin schien aber über den Dingen zu stehen und seinen Besucher so zu sehen, wie ein Astronom die fernen Sterne. 137
„Ich habe nie Besuch“, sagte er gleichmütig. „Ist etwas nicht in Ordnung?“ „Nein.“ „Ich werde nie benachrichtigt“, beschwerte sich der Alte. „Vielleicht gibt es schon neue Richtlinien, die ich nicht kenne.“ „Das glaube ich nicht“, murmelte Luke und sah sich um. Er war verbittert und am Ende seiner Kraft. Er hatte den Faden über Miskitman, Limon, Ripp, Sepp und den Aufsichtsratsvorsitzenden bis hinunter in diesen dumpfen Keller verfolgt. Er konnte nicht glauben, was er mit eigenen Augen sah. Da war ein alter Mann in einer Stellung, die … „Niemand sagt mir etwas“, knurrte Dodkin. „Keiner besucht mich hier unten. Ich komme nur selten hier heraus, weil ich keine Ablösung habe. Dabei sehne ich mich so nach der Sonne! Wenn man sie einmal gesehen hat …“ Luke winkte ab. „Ich bin mit einer Untersuchung beschäftigt. Es handelt sich um eine bestimmte Information. Vielleicht können Sie mir helfen, Mr. Dodkin.“ Der Alte blinzelte ungläubig. „Ich glaube nicht, daß ich das kann, Sir“, murmelte er. „Worum handelt es sich?“ „Es ist eine Direktive über Sparmaßnahmen herausgegeben worden. Alle Handwerkzeuge sollen jetzt besonders gut gepflegt und geschont werden.“ Dodkin nickte. „Ich erinnere mich daran.“ Dieses Eingeständnis wirkte auf Luke fast wie ein elektrischer Schock. „Sie erinnern sich daran? Wie ist das möglich?“ fragte er verblüfft. „Natürlich, Sir. Es handelte sich ja um eine persönliche 138
Interpolation. Ich machte nämlich eine interessante Beobachtung, die ich einer anderen Meldung beifügte.“ „Wollen Sie mir das bitte erklären?“ fragte Luke mit fast versagender Stimme. „Gern, Sir! In der letzten Woche besuchte ich einen alten Freund in Claxton Abbey. Er ist übrigens ein vorbildlicher Konformist. Er hat immer fleißig gearbeitet und sich allem gefügt. Trotzdem ist er wie ich niemals aufgestiegen. Ich gehöre leider auch der alleruntersten Klasse an und gelte als unklassifiziert. Ich bin jetzt alt genug, um in Pension zu gehen …“ „Wie war das mit der Interpolation?“ „Ganz einfach, Sir“, fuhr Dodkin fort. „Auf dem Rückweg sah ich, wie ein Elektriker sein Werkzeug in einen Mauerriß legte. Ich war entsetzt. Bei der Materialknappheit sollten die Leute vorsichtiger mit Werkzeugen umgehen. Der Mineralgehalt der Ozeane wird von Jahr zu Jahr geringer. Wo soll das noch hinführen?“ „Weiter!“ sagte Luke ungeduldig. „Ich nahm gerade eine Meldung über die Materialknappheit auf und fügte ein Memorandum hinzu. Mit der Maschine da kann ich jede Meldung leicht verschlüsseln. Mein Memorandum ging dann nach oben. Offenbar war jemand beeindruckt. Jedenfalls hatte ich Erfolg.“ „Ist das alles?“ fragte Luke verblüfft. „Das ist alles.“ Grogatch konnte es nicht fassen. „Haben Sie das schon oft gemacht, Dodkin? Haben Sie oft eigene Ansichten nach oben gegeben?“ „Ab und zu“, gab Dodkin unumwunden zu. „Jedenfalls 139
scheinen sehr wichtige Leute meine Ansichten zu teilen. Vor drei Wochen geriet ich in Claxton in eine Verkehrsstockung. Ich regte mich darüber auf und schrieb ein Memorandum. Drei Wochen später wurde mit dem Bau einer achtspurigen Transportstraße zwischen Claxton und Kittsville begonnen. Das ist ein großartiges Bauprojekt. Vor etwa einem halben Jahr sah ich ein paar Mädchen, die sich schamlos geschminkt hatten. Ich schrieb wieder ein Memorandum und hatte Erfolg. Der Erziehungsminister verbot sämtliche Kosmetika.“ „Interessant!“ murmelte Luke. „Und Sie schreiben die Informationen hier mit dieser Maschine?“ Dodkin nickte. „Damit kann ich alle eintreffenden Nachrichten lesen. Ab und zu schreibe ich meine Ansichten dazu. Ich wollte immer, daß einer in der Registratur auf mich aufmerksam wird. Meine Ratschläge wurden befolgt, aber ich wurde nie eine Klasse höher eingestuft.“ „Ein so intelligenter Mann wie Sie gehört aber weiter nach oben“, sagte Luke schmeichelnd. Dodkin schüttelte den Kopf. „Jetzt bin ich zu alt, Sir. Ich hatte auch nie besondere Fähigkeiten und erst recht keinen Ehrgeiz. Ich würde mich sofort pensionieren lassen, wenn …“ „Wenn was?“ „Wenn sich ein neuer Mann für meinen Job fände. Keiner will freiwillig hier herunter.“ Luke pfiff leise durch die Zähne. „Vielleicht werden Sie sehr bald in einem Park sitzen und den Sonnenschein genießen“, sagte er freundlich. „Ich werde dafür sorgen.“
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* Luke Grogatch marschierte wieder durch den Tunnel. Er hörte das Hallen seiner Schritte und in der Ferne den Lärm der Bohrmaschine. „Grogatch!“ Miskitman sah ihn kommen und schaltete die Maschine ab. Die Männer blieben starr stehen und musterten Luke, der ohne Eile durch den fertigen Tunnel schlenderte. „An die Arbeit, Grogatch!“ brüllte Miskitman wütend. „Warum kommen Sie zu spät? Wir können die Norm nicht mehr schaffen.“ Luke ging noch langsamer. „Nun machen Sie schon!“ Miskitman wurde rot vor Wut. „Das ist hier keine Promenade.“ Grogatch blieb stehen und sah sich interessiert um. „Wo haben Sie die Schaufel?“ fragte Miskitman nervös. „Haben Sie sie nicht zum Lagerhaus gebracht?“ „Doch!“ antwortete Luke. „Und wenn Sie das verdammte Ding haben wollen …“ „Verschwinden Sie!“ brüllte Miskitman unbeherrscht. „Lassen Sie sich nie wieder blicken!“ Luke zuckte die Achseln. „Wie Sie wollen“, sagte er grinsend. „Sie sind der Boß.“ „Das werden Sie bereuen!“ knurrte Miskitman. „Ich werde einen Bericht schreiben und für Ihre Degradierung sorgen. Sie sollen in der tiefsten Stufe vegetieren.“ „Mein Status interessiert mich nicht“, antwortete Luke lachend. „Hier wird sich bald etwas ändern. Sie werden jedenfalls noch an mich denken, Miskitman.“ 141
* Luke Grogatch hatte es geschafft. Er war degradiert worden und gehörte nun der untersten Klasse an. Er stand jetzt auf einer Stufe mit den Kindern, den Idioten und den Nonkonformisten. Aber er hatte einen neuen Job – einen Job, den außer ihm keiner haben wollte. Er verabschiedete sich von Dodkin und half ihm beim Packen der wenigen Habseligkeiten. „Sie brauchen sich nicht bei mir zu bedanken“, sagte er zu Dodkin. „Genießen Sie die Sonne da oben und denken Sie ab und zu an mich!“ Dodkin sah sich noch einmal um und verließ den muffigen Raum. Luke sah ihm noch eine Weile nach und schloß dann die Tür. Er war jetzt allein. Er hörte das leise Summen der verschiedenen Geräte. In jeder Sekunde liefen Tausende von Meldungen ein. Alle diese Meldungen wurden gespeichert und zu Gruppen zusammengefaßt. Sie bildeten den Lebensstrom der Organisation, denn alle Maßnahmen waren nur eine Folge der eingehenden Meldungen. Luke sah den gelben Streifen durch den Monitor jagen. Daneben stand die Schreibmaschine, mit der er seine Gedanken in die Sprache der elektronischen Maschinen umsetzen konnte. Er setzte sich an den Tisch und überlegte. Was sollte er schreiben? Sollte er die Freiheit für die Nonkonformisten fordern? Sollten die Vorarbeiter der Kanalbaugruppen die Werkzeuge ihrer Leute zum Lagerhaus schleppen? Luke sah ungeahnte Möglichkeiten. Grogatch stand wieder auf und kratzte sich am Kinn. Er 142
saß im Herz der Organisation und konnte alles nach seinem Willen gestalten. Sollte er sich bereichern? Das war ohne weiteres möglich. Luke dachte aber auch an die vielen Milliarden Menschen, die ein unabwendbares Schicksal in die Organisation gepreßt hatte. Er hatte jetzt die Möglichkeit, das Leben all dieser Menschen zu beeinflussen. War es klug, die Organisation zu desorganisieren? Luke seufzte auf. Er sah sich im Geiste im höchsten Raum des Verwaltungsgebäudes, als Vorsitzenden des Aufsichtsrates. Er brauchte nur seine Vorschläge einzufügen. Er wußte ja, wie es dann weitergehen würde. Er wußte aber auch, daß er sehr vorsichtig arbeiten mußte. Er setzte sich wieder an die Maschine und tippte seine erste Interpolation.
Utopia-Zukunft erscheint wöchentlich im Verlagshaus Erich Pabel GmbH & Co. 7550 Rastatt (Baden), Pabel-Haus. Einzelpreis 0,70 DM. Anzeigenpreise laut Preisliste Nr. 13. Die Gesamtherstellung erfolgt in Druckerei Erich Pabel GmbH. 7550 Rastatt (Baden). Verantwortlich für die Herausgabe und den Inhalt in Österreich: Eduard Verbik. Alleinvertrieb und auslieferung in Osterreich: Zeitschriftenvertrieb Verbik & Pabel KG – alle in Salzburg, Bahnhofstraße 15. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany 1965. – Scan by Brrazo 06/2008 – BILLENIUM © 1962. by J. G. Ballard; OR ALL THE SEAS WITH OYSTERS, published by arrangement with Berkley Publishing Corporation, 15 East 26th Street, New York, N. Y. 100 10 © 1962, by Avram Davidson; A HANDFUL OF DARKNESS von Philip K. Dick, © by Rich and Cowan; FUTURE TENSE © 1964, by Jack Vance.
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Jenseits des Spektrums (Beyond the Spectrum) von Martin Thomas Bia sah Addis auf den dunklen Kreis zugehen. Dann blieb er stehen, als sei er plötzlich gelähmt. Einen Augenblick später fiel er, wie vom Schlag getroffen, um. Stocksteif blieb er liegen. Damit beginnt für Bia ein Erlebnis, das wie ein Alptraum wirkt. Sie will zu dem Gestürzten hinlaufen, ihm helfen, doch da bewegt sich sein Körper. Allen Gesetzen der Schwerkraft trotzend, hebt sich die steifgewordene Gestalt vom Boden ab und schwebt parallel darüber hin auf den dunklen Kreis zu. Und dann löst sich der Mann auf. Langsam. Zuerst verschwinden seine Füße, dann seine Beine, zuletzt der Kopf. Diesen Utopia-Thriller dürfen Sie sich nicht entgehen lassen. Sie erhalten ihn nächste Woche bei Ihrem Zeitschriftenhändler. UTOPIA-ZUKUNFTSROMANE SIND EIN SPIEGEL DES SF-WELTMARKTES.
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