Seewölfe 110 1
Kelly Kevin 1.
Blaue und weiße Blitze schienen den Himmel aufzureißen gleich riesigen Narben. Krachend ...
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Seewölfe 110 1
Kelly Kevin 1.
Blaue und weiße Blitze schienen den Himmel aufzureißen gleich riesigen Narben. Krachend entlud sich der Donner und vereinigte sich mit dem Tosen der Elemente zu einem Höllenkonzert, als seien Himmel und Meer voll brüllender Teufel. Das Gewitter war gegen den Wind aufgezogen – einen Wind, der jetzt in bösartigen Böen umsprang und die „Isabella VIII“ von Steuerbord querab packte. Ein unheimlich anschwellendes Heulen löste das Donnerrollen ab und durchzitterte die Luft. Unter dem ersten wilden Angriff des Sturms krängte das Schiff bedrohlich nach Backbord über. „Abfallen!“ peitschte die Stimme Philip Hasard Killigrews über die Decks. „Fier weg Großsegel und Besan!“ Männer hangelten sich in fiebernder Hast an den ausgespannten Tauen über die Kuhl. Im Ruderhaus stemmten sich Pete Ballie und Big Old Shane, der ehemalige Schmied von Arwenack, gemeinsam in die Speichen, um das Steuerrad zu drehen. Krachend landete die Großrah an Deck, nachdem Blacky und Smoky das Fall losgeworfen hatten, keuchend stürzten sich die Männer auf das Segel, das sich unter ihren Fäusten aufzubäumen schien wie ein Lebewesen. Dan O’Flynn, Matt Davies und Batuti, der riesige Gambia-Neger, bargen das Lateinersegel an der schrägen Besanrute. Längst hatte der Kutscher das Kombüsenfeuer gelöscht, längst waren alle Luken verschalkt und die sechzehn Culverinen mit Brooktauen doppelt gesichert. Nur noch die Fock blähte sich im Wind, der von Osten heranheulte und Wanten und Pardunen singen ließ wie die zu straff gespannten Saiten einer geisterhaften Harfe. Hasard hatte sich an der Schmuckbalustrade des Achterkastells festgelascht, um nicht von überkommenden Seen weggefegt zu werden. Sein Blick flog über den schwarzen Himmel, den die Blitze jetzt in rascher
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Folge aufrissen. Regen rauschte wie ein Vorhang nieder, die „Isabella“ pflügte mit Steuerbordhalsen durch die kochende See. Wellenberge ließen das ranke Schiff in schwindelerregende Höhen klettern. Der Bugspriet ragte in den Himmel, als wolle er die Wolken aufspießen, stieß dann steil nach unten und wurde wieder von neuem aufwärts getragen. Die See gebärdete sich wie ein brüllendes Ungeheuer. Pausenlos krachte und rollte der Donner, während die Blitze die „Isabella“ in blaues, zuckendes Geisterlicht tauchten. „Ferris! Ed!“ brüllte der Seewolf. „Klar bei die Trossen! Fahrt sie achtern aus, aber laßt die verdammten Dinger nicht ausrauschen! Tempo, zum Teufel!“ „Aye, aye!“ dröhnte die Stimme des rothaarigen Schiffszimmermanns herüber. „Aye, aye!“ brüllte Ed Carberry, der sich in einer Wolke aus phosphorizierendem Gischt über die Kuhl hangelte und unter dem Achterkastell verschwand. „Weiterabfallen, Pete! In den Wind mit dem Heck!“ „Aye, aye!“ schrie der Rudergänger, während er sich zusammen mit dem riesenhaften Schmied in die Speichen des Rads stemmte. Ächzend und stampfend legte sich die „Isabella“ vor den Wind. Unter dem Achterkastell mühten sich Tucker und Carberry fluchend damit ab, die schweren Trossen auszubringen, die unter Deck um den Besanmast gelegt waren und wie ein riesiger Treibanker wirken würden. Das war ein Trick, den Hasard dem alten John Killigrew von Arwenack abgeschaut hatte. Und der war zwar ein schlitzohriger Satansbraten, aber immerhin ein verteufelt guter Seemann. Die Sache mit den Trossen klappte auch diesmal. Als riesige Schlinge wurden sie nachgeschleppt und hielten das Heck der „Isabella“ im Wind. Sofort stabilisierte sich die Lage des Schiffs. Der Segler lief ruhiger, obwohl der Sturm mit unverminderter Heftigkeit weitertobte. Er tobte auch noch Stunden später, als das Inferno aus zuckenden Blitzen und
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schmetternden Donnerschlägen vorbei war. Undurchdringliche Schwärze verhüllte die kochende See, an Bord sahen die Männer kaum noch die Hand vor Augen. Brecher schüttelten die „Isabella“ durch, krachten gegen die Bordwände, spülten schwarz und drohend über die Decks und liefen rauschend durch die Speigatten ab. Längst waren die Seewölfe bis auf die Haut durchnäßt und hatten sogar aufgehört, das Wetter mit den erlesensten Flüchen zu bedenken, da sie ihren Atem dringend anderweitig brauchten. Sie schwitzten und zitterten, schufteten wie die Irren, keuchten sich fast die Lungen aus dem Leib, aber sie wußten, daß ihre „Isabella“ diesen Sturm genauso- überstehen würde wie die vielen anderen, die sie schon abgeritten hatten. In der tintigen Dunkelheit konnte der Seewolf nicht viel mehr sehen als den hellen Flecken, den die Fock bildete. Flüchtig fragte er sich, wohin es den schwarzen Segler verschlagen haben mochte. Das Schiff der Roten Korsarin war hinter ihnen gewesen, doch sie hatten es schon nach den ersten Sturmböen aus den Augen verloren. Und wenn das Wetter anhielt, würden sie es auch so schnell nicht wiederfinden. Sie wußten ja selbst schon lange nicht mehr, wo sie sich befanden. Sterne waren am schwarzen Himmel nicht zu sehen. Der Sturm heulte von Osten heran, und zusammen mit der starken Abdrift mußte er die „Isabella“ bereits weit nach Westen verschlagen haben. Was dort im Westen auf sie wartete, ließ sich aus den alten chinesischen Karten, nach denen sie segelten, nur sehr ungenau entnehmen. Vorerst war das auch Hasards geringste Sorge. Das Toben des Sturms steigerte sich noch, das Meer schien entschlossen, sich seine Beute nicht entreißen zu lassen. Der Morgen dämmerte, aber Gischt und Regen verwandelten sein Licht in gestaltloses Grau. Den ganzen Tag über trieb der brüllende, heulende Wind die „Isabella“ vor sich her nach Westen, und auch in der
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folgenden Nacht kam keiner der Männer dazu, ein Auge zuzutun. Sie waren so erschöpft, daß sie den Umschwung nicht einmal sofort bemerkten. Hasard spürte es als erster. Die nervenzerfetzende Berg- und Talfahrt wurde unmerklich langsamer, die Pardunen schrillten nicht mehr, als ob sie jeden Moment brechen wollten. Früher als in der Nacht zuvor kündete der erste Grauschimmer im Osten das Nahen des Tages an. Die wilden, alles hinwegfegende Gewalt des Sturms war gebrochen. Ein, zwei Stunden noch, dann war das Schlimmste vorbei, dann würden sie die Trossen wieder einholen können - und auf der Kuhl hoben jetzt auch die anderen Männer hoffnungsvoll die Köpfe. „Sieht so aus, als habe uns der Teufel für diesmal wieder ausgespuckt, eh?“ übertönte Ed Carberrys Donnerstimme das Orgeln des Windes. „Scheint so!“ schrie Hasard zurück. „Seht mal zu, ob dem Kutscher in der Kombüse noch eine Rumbuddel heil geblieben ist.“ „Aye, aye!“ Carberry grinste über sein ganzes zernarbtes Gesicht. „Wenn der Kerl die Dinger nicht ordentlich festgelascht hat, werde ich ihm die Haut in Streifen von seinem verdammten Affenarsch ...“ Er unterbrach seinen Lieblingsspruch, um einen Protestschrei vom Stapel zu lassen, aber da war Dan O’Flynn schon im Kombüsenschott verschwunden. Donegal Daniel Junior war zwar längst nicht mehr das „Bürschchen“, von einst, aber immer noch schnell bei der Hand, wenn es um Eßbares und vor allem Trinkbares ging. Grinsend hangelte er sich Minuten später an den Manntauen über die Kuhl und schwenkte triumphierend die Buddel. Ed Carberry riß sie ihm energisch aus den Fingern -doch Hasard hätte darauf gewettet, daß sich Dan den ersten Schluck schon in der Kombüse gegönnt hatte. Die Flasche wanderte. In den letzten sechsunddreißig Stunden hatte die Verpflegung aus trockenem Schiffszwieback und ein paar Brocken kalten Pökelfleischs bestanden, jetzt
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konnten die Männer eine Stärkung dringend gebrauchen. Hasard fühlte die Wärme des Alkohols belebend durch seine Glieder rinnen. Mit einem tiefen Atemzug reichte er die Flasche an Ben Brighton weiter und griff nach dem Spektiv, um zu versuchen, im Grau der Dämmerung ringsum etwas zu erkennen. Noch sah er nichts als rollende Wellenberge und dahinjagende Wolkenfetzen, die ab und zu ein Stück Himmel freigaben. Aber eine knappe Stunde später hatte sich der Sturm endgültig gelegt. Die letzten Böen schienen den Himmel sauberzufegen, nur noch wenige graue Wolken zerfaserten in der frischen Brise. Auf Hasards Befehl wurden die Trossen eingeholt, aber vorerst verzichtete er darauf, weitere Segel setzen zu lassen. Die Männer waren erschöpft und brauchten eine Pause. Und sie würden noch genug damit zu tun haben, die Decks zu klarieren und die Schäden auszubessern, die der Sturm angerichtet hatte. Ben Brighton, der Bootsmann, fuhr sich mit allen fünf Fingern durch das dunkelblonde Haar. „Ich schätze, daß es uns verdammt weit nach Westen verschlagen hat“, meinte er. Hasard nickte grimmig. „Da kannst du recht haben. He, Dan! Laß mal den Rum in Ruhe und schwing deine müden Knochen in den Großmars!“ „Aye, aye, Sir!“ Donegal Daniel junior warf Ed Carberry die Flasche zu, enterte wie der Blitz in die Wanten und schwang sich über die Segeltuchverkleidung der Plattform. Der Schimpanse Arwenack, der sich während des Sturms unter Deck verkrochen hatte, folgte ihm keckernd. Unten auf der Kuhl flatterte der Papagei Sir John dem Schiffsjungen Bill auf die Schulter. „Gottverdammt!“ krähte der Vogel. „Wollt ihr wohl anbrassen, ihr Rübenschweine, oder soll ich euch die Haut in Streifen von euren Affenärschen ziehen?“ Die Männer bogen sich vor Lachen. Ed Carberry, der Profos, kriegte rote Ohren.
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Er fand es höchst unpassend, daß sich der Papagei seiner Lieblingsflüche bediente. Hasard blickte gespannt zum Großmars hoch, wo Dan O’Flynns blonder Schopf im Wind flatterte. Der Junge hatte die schärfsten Augen der Crew, aber es verging noch eine halbe Stunde, bevor er in der endlosen Weite des Pazifik etwas entdeckte. „Deck ho! Land in Sicht! Insel Steuerbord voraus!“ Hasard nahm das Spektiv ans Auge und spähte in die angegebene Richtung. Er konnte nichts erkennen. Erst Minuten später entdeckte er einen winzigen Punkt an der Kimm. Eine Mastspitze konnte es nicht sein, dafür war es zu groß, also mußte Dan wohl recht haben mit der Insel. „Hm“, brummte Hasard. „Scheint doch was dran zu sein an den Karten dieser Chinesen.“ „Wieso?“ fragte Ben Brighton. „Ich dachte, hier gibt es weit und breit nur Wasser.“ „Was heißt schon hier?“ Der Seewolf zeigte die Zähne. „Kannst du vielleicht eine genaue Positionsberechnung aus dem Ärmel schütteln? Der Himmel allein weiß, wie weit wir nach Westen gedriftet sind. Wenn das da vorn eine der Inseln ist, die die Chinamänner entdeckt haben, muß es verdammt weit sein.“ „Eine Insel ist es auf jeden Fall. Und die können wir jetzt auch gebrauchen. Das war kein Frühlingslüftchen, das uns da erwischt hat.“ „Wem sagst du das! He, Ferris! Sieh dich mal ein bißchen um! Ist die Großrah noch heil, die Blacky und Smoky so elegant auf die Planken gefeuert hatten?“ Blacky und Smoky hätten einwenden können, daß die elegantere Methode sie vielleicht das Großsegel gekostet hätte, aber sie ließen es bleiben. Ferris Tucker war natürlich längst in allen Winkeln des Schiffs herumgekrochen, das brauchte man dem rothaarigen Zimmermann nach einem solchen Sturm nicht erst zu sagen. Jetzt grinste er breit und streichelte gewohnheitsmäßig den Griff der riesigen Axt an seinem Gürtel.
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„Die Großrah ist heil, Sir“, meldete er. „Das Bilgewasser steht ein bißchen hoch, aber ich glaube nicht, daß wir groß lenzen müssen. Nur der Besan hat einen Riß abgekriegt. Die Blindenrah ist hin, und im achteren Frachtraum hat sich ein Wasserfall losgerissen. Es war ordentlich festgezurrt“, fügte er hinzu. „Daß der Augbolzen aus dem Spantholz brechen würde, konnte niemand voraussehen.“ „Kleinholz?“ fragte Hasard trocken. „Jede Menge, Sir. Wenn du mich fragst, kommt uns die komische Insel da sehr gelegen.“ Hasard nickte. „Na schön, dann segeln wir mal näher heran. An die Brassen und Fallen! Heißt auf Großegel und Besan! Heißt auf die Mars-Segel!“ Die Männer gerieten in Bewegung. Knatternd entfaltete sich das weiße Segeltuch, die Rahen wurden dichter geholt. Pete Ballies riesigen Fäuste wirbelten das Steuerrad herum, und die „Isabella“ luvte an, bis sie mit halbem Wind über Backbordbug auf die unbekannte Insel zurauschte. „Deck ho!“ schrie Dan O’Flynn aus seinem luftigen Ausguck. Hasard hob sofort alarmiert den Kopf, weil die Stimme des Jungen etwas schrill klang. „Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht die merkwürdigste Insel ist, die ich je gesehen habe!“ „Kannst du dich nicht deutlicher ausdrücken?“ fauchte der Seewolf zurück. „Aye, aye, Sir! Ist aber schwierig! Das Ding sieht wie eine Art Bastion aus, nur größer.“ „Bastion? Hast du zu viel Rum getrunken?“ „Bestimmt nicht, Sir! Es ist wirklich komisch!“ Den Eindruck hatte Hasard auch. Eine Insel mit einer Befestigungsanlage, das war das letzte, was er in diesem Teil des Pazifik erwartet hätte. Angestrengt spähte er durch das Spektiv nach Norden, und jetzt sah auch er, was Dan gemeint hatte. Deutlich hoben sich die Konturen der Insel über der Kimm ab.
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Eine Insel, die aussah, als habe sie gewaltige Zähne. Ihre Form erinnerte tatsächlich an eine Art Bastei, nur daß die merkwürdigen „Zähne“ einfach zu groß waren, um wirklich zu einer Befestigungsanlage zu gehören. Andererseits jedoch hätte Hasard schwören können, daß es sich nicht um eine zufällige Felsformation, eine Laune der Natur handelte. Sein Blick wanderte zum Großmars hoch. Dan O’Flynn hielt das Spektiv unverwandt auf die Insel gerichtet. Erst nach einer Weile ließ er es mit einem Ruck wieder sinken. „Figuren!“ rief er. „Das sind Figuren, riesige Steinfiguren.“ „Besoffen!“ knurrte Carberry. „Mann, wenn du uns auf den Arm nehmen willst, ziehe ich dir die Haut in Streifen von deinem Affenarsch!“ „Affenarsch!“ wiederholte der Papagei Sir John begeistert. „Affenarsch und Rübenschwein, was, wie?“ Hasard hörte nicht mehr zu. Er hatte das Gefühl, als sei tief in seinem Gehirn etwas eingerastet. Immer noch spähte er zu der seltsamen Insel hinüber, und jetzt wußte er plötzlich, woran Dans Worte ihn erinnert hatten. Riesige Steinfiguren! Steinerne Riesen ... Von der „Insel der Steinernen Riesen“ hatte er schon einmal gehört, damals auf Jamaika, als sie die Bucht angelaufen hatten, in der der fünfzehnjährige Bill verzweifelt Rauchzeichen gab, weil er auf Hilfe für seinen sterbenden Vater, hoffte. Niemand hatte dem alten Mann mehr helfen können, auch nicht der Kutscher, der Koch und Feldscher auf der „Isabella“. Aber eins hatten sie dem Sterbenden versprochen: daß sie seinen Sohn als Schiffsjungen mit auf die „Isabella“ nehmen und ihm ein Zuhause geben würden. Mit letzter Kraft hatte der alte Bootsmann eine Karte aus seiner Tasche gezogen — eine Karte jener geheimnisvollen „Insel der steinernen Riesen“, auf der er vor langer Zeit einen Schatz versteckt hatte. Er wußte nicht, wie die Insel wirklich hieß, er wußte
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auch nicht, ob die Positionsangaben auf der Karte stimmten. Er war gestorben, ehe er mehr über den geheimnisvollen Schatz erzählen konnte — und im Grunde hatte nicht einmal Bill damit gerechnet, daß sie die Insel jemals wirklich finden würden. Und jetzt lag sie vor ihnen! Die „steinernen Riesen“ waren bereits mit bloßem Auge zu erkennen: gewaltige Statuen aus schwarzem Tuff, die aufgereiht in einer kahlen, baumlosen Landschaft standen und auf das Meer hinausblickten. Hasard zählte mindestens ein Dutzend, und alle sahen sich auf gespenstische Weise ähnlich. Genau genommen waren es nur gigantische Köpfe, für die die angedeuteten Oberkörper die Sockel bildeten. Die fremdartigen Gesichtszüge wirkten starr und maskenhaft, die schrägen Augen schienen hochmütig über das heransegelnde Schiff hinwegzustarren. Riesenhaft waren die Monumente in der Tat, und Hasard fragte sich vergeblich, wie um alles in der Welt es die Eingeborenen einer kleinen Insel geschafft haben mochten, Monumente von solcher Größe und Vollkommenheit herzustellen. Ben Brighton schien ähnliche Gedanken zu hegen. „Himmel!“ murmelte er. „Das — gibt es doch nicht! Nicht mitten im Pazifik auf diesem — diesem Krümel von einer Insel!“ „Die steinernen Riesen“, murmelte Hasard. Ben starrte ihn überrascht an. „He! Du denkst ...“ „Ja“, sagte Hasard. „Genau das denke ich. Irgendwo] dort drüben muß der Schatz liegen, den Bills Vater vergraben hat. Und der Teufel soll mich holen, wenn wir ihn nicht finden.“ 2. An Bord des schwarzen Seglers herrschte Gewitterstimmung, obwohl der Sturm vorbei war. Das Gesicht Siri-Tongs war weiß vor Wut. Thorfin Njal, der Wikinger, stand breitbeinig neben ihr, die mächtigen Fäuste in die Hüften gestemmt, und stauchte mit
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seinem rollenden Baß den Mann zusammen, der für das Sichern der Kanonen an Deck verantwortlich gewesen war. Mike Kaibuk hörte sich das Gebrüll mit zusammengepreßten Lippen an. Er wußte verdammt genau, daß er das nicht richtig festgezurrte Brooktau hätte bemerken müssen. Und er wußte auch, daß die Kanone, die wie ein stählernes Ungeheuer über Deck gesaust und durch das Schanzkleid gebrochen war, leicht ein paar Männer hätte mit in den Tod reißen können. Mike Kaibuk war wütend, wütend auf sich selbst. Und er wußte, was auf ihn zukam, was folgen mußte: eine drakonische Strafe, der niemand entging, der durch Leichtsinn und Disziplinlosigkeit die Sicherheit des Schiffs und das Leben seiner Kameraden gefährdet hatte. „Und jetzt scher dich an die Pumpe, du Mistkerl!“ schloß der Wikinger sein Wutgebrüll. „Du wirst lenzen, bis dir das Wasser im Hintern kocht und die Bilge knochentrocken ist. Und anschließend kannst du dich bis morgen früh in der Vorpiek erholen!“ „Aye, aye“, sagte Kaibuk und sah zu, sich zu verdrücken. Für seine Begriffe war es glimpflich abgegangen: die Lenzpumpe und die Vorpiek waren immer noch besser als die Neunschwänzige. Die Rote Korsarin schoß dem Wikinger einen rasiermesserscharfen Blick zu. Ihre dunklen Mandelaugen funkelten vor Wut, aber sie sah ein, daß Thorfin recht hatte. Der Sturm hatte dem schwarzen Segler übel mitgespielt. Sie konnten jetzt keinen Mann gebrauchen, der drei Tage lang in seiner Koje auf dem Bauch liegen mußte. Und Mike Kaibuk würde sich mächtig ins Zeug legen, um seinen Fehler auszubügeln. „Tammy, Hilo, Jonny - Deck aufklaren!“ peitschte Siri-Tongs helle Stimme. „Juan, du inspizierst die Laderäume! BostonMann, was ist mit der Fockrah los?“ „In Ordnung. Nur das Fall gebrochen.“ Der Boston-Mann beschränkte sich wie immer auf wenige Worte. Siri-Tong nickte zufrieden. Das Fall zu reparieren, würde
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nicht schwer sein. Die zerfetzte Fock mußte ersetzt werden, doch auch das ließ sich mit Bordmitteln bewerkstelligen. Ein, zwei Tage würden sie brauchen, um alle Schäden zu reparieren. Aber Schließlich befanden sie sich hier in einem Teil des Pazifik, wo sie kaum mit irgendwelchen Störungen zu rechnen brauchten. Das glaubten sie wenigstens. Den Ausguck ließ Siri-Tong nur deshalb besetzen, weil sie die „Isabella“ und die Seewölfe in der Nähe vermutete. Sie machte sich Sorgen. Der Sturm, der hinter ihnen lag, hatte es in sich gehabt. Da half dann unter Umständen auch das seemännische Können eines Philip Hasard Killigrew nicht mehr weiter, wenn die Vorsehung nicht mitspielte. Und der Gedanke an das, was in den letzten zwei Tagen geschehen sein konnte, setzte der Roten Korsarin mehr zu, als sie es sich eingestehen mochte. Die Crew des schwarzen Seglers war dabei, schwitzend und fluchend die Decks aufzuklaren, als Jonny, der Kreole, plötzlich senkrecht im Großmars hochschoß. „Deck!“ schrie er. „Mastspitzen querab Steuerbord! Ein Spanier!“ Siri-Tong wirbelte wie von einer Bogensehne abgeschnellt herum. Ihr Gesicht war weiß und gespannt, als sie das Spektiv hochnahm und die Kimm absuchte. Keine Rede von Mastspitzen! Was da von Norden heranrauschte, war mehr, war schon nah genug, um es als spanische Galeone zu erkennen. Das Schiff führte keine Flagge, aber am Bugspriet baumelte das große hölzerne Kreuz, Symbol des Christentums, in dessen Namen die Spanier über die neue Welt hergefallen waren wie räuberische Teufel. Die Galeone lag hart am Wind und wandte dem schwarzen Segler den schmalen Bug zu. Jetzt luvte sie an, um zu wenden, und auch der letzte an Bord des schwarzen Seglers war sich darüber klar, daß die Spanier das nicht taten, um ihnen freundlich zuzuwinken.
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Die Galeone ging durch den Wind, um dem schwarzen Segler eine volle Breitseite verpassen zu können. „Hölle und Verdammnis!“ knirschte der Wikinger. „Klar Schiff zum Gefecht!“ peitschte SiriTongs Stimme. „An die Brassen und Fallen! Heißt Großsegel und Marssegel! An die Geschütze! Holt die Brandsätze!“ Im Blitztempo rasten die Männer auf ihren Gefechtsstationen. Thorfin Njal sprang vom Achterkastell und tobte wie ein entfesselter Wirbelsturm über das Geschützdeck, um mit zuzupacken. Die kleine Gruppe, die die bronzenen Gestelle zum Abfeuern der Brandsätze bediente, bewies einmal mehr, daß SiriTong sie ausgezeichnet gedrillt hatte. Rasselnd öffneten sich die Stückpforten. Der schwarze Segler zeigte die Zähne, recht beachtliche Zähne immerhin. Den Spaniern auf der Galeone, die jetzt schwerfällig herumschwang, würde der Anblick sicher gar nicht gefallen, aber das änderte nichts daran, daß die Lage für den schwarzen Segler bedrohlich werden konnte. Unter normalen Umständen war er schneller, wendiger und stärker als der Spanier. Aber jetzt? Ohne Fock? Zerrauft vom Sturm, mit einer erschöpften, total übermüdeten Besatzung? Siri-Tong preßte die Lippen zusammen. Ihr Blick prüfte die Stellung von Groß- und Marssegel und wanderte dann wieder zu der Galeone hinüber. Acht geöffnete Stückpforten. Die drohenden schwarzen Rohre von Siebzehnpfünder-Culverinen. Und jetzt war auch der Name des Schiffs an der Bordwand zu erkennen: „Maria Mercedes“. „Klar zum Anluven! Ruder hart über!“ „Aye, aye!“ Knirschend schwangen die Rahen herum. Der schwarze Segler ging über Stag und wandte der Galeone genau in der Sekunde den Bug zu, in der sich krachend die Kanonen entluden. Feuerzungen leckten aus den Stückpforten. Rauch wölkte auf, die schweren
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Eisenkugeln rissen die Wasserfläche auf und ließen Fontänen hochspritzen. Schwerfällig schnitt die dickbauchige Galeone am Bug des schwarzen Seglers vorbei —und genau das war der Moment, auf den Siri-Tong gewartet hatte. Scharf wie eine Damaszener-Klinge schnitt ihre Stimme durch den Lärm. „Abfallen auf Raumschotskurs! Klar bei Backbordgeschütze!“ Und mit einem tiefen Atemzug: „Einzeln schießen, Männer! Wir rasieren ihnen erst mal die achteren Drehbassen, dann sehen wir weiter.“ * Über der Insel, die die Spanier Sala-yGomez nannten, schien die Luft zu kochen. Nichts drang von dem Gefechtslärm herüber, das Rollen der Kanonen trug nicht bis hierher. Auf der Insel herrschte eine fast gespenstische Stille, nur die Geräusche der Natur waren lebendig. In einer geschützten Senke stand ein Dutzend primitiver Hütten, aber auch in diesen Hütten war alles still. Es lag noch nicht lange zurück, daß auf der Insel ein kleiner Eingeborenenstamm zu Hause gewesen war. Friedliche Polynesier, die vom Fischfang lebten. Menschen, die freundlich in ihrem Wesen waren, gastfrei, aber auch kriegerisch, wenn es sein mußte. Ihre Waffen waren jedoch primitiv, sie hatten keine Kanonen, keine Musketen, keine Pistolen, und als eines Tages ein Schiff am Horizont auftauchte und die Insel anlief, waren sie wehrlos. Die Spanier, die über die Eingeborenen herfielen, kannten kein Erbarmen. Für sie waren die Bewohner der Neuen Welt keine Menschen, sondern Wilde, die noch unter den Tieren rangierten. Gnadenlos metzelten sie die Polynesier nieder und rotteten in einem grausamen Massaker fast die gesamte Inselbevölkerung aus. Einige wenige nur blieben übrig. Hübsche junge Mädchen und Frauen vor allem. Und ein paar Männer, die den neuen Herren als Sklaven zu dienen hatte und sich fügen mußten,
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wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, auf bestialische Weise umgebracht zu werden. Sala-y-Gomez gehörte den Spaniern. Einer Handvoll Spaniern nur, die ein festes Lager errichtet hatten und in ihren Hütten im Grunde recht primitiv lebten. Sehr selten nur sichteten sie ein anderes Schiff, das sie kaperten, um die lohnende Beute erleichterten und dann versenkten. Manchmal segelten sie auch zur Nachbarinsel hinüber, um unter den dortigen Eingeborenen zu morden, zu plündern und zu brandschatzen. An Tagen wie diesem, wenn das Schiff ausgelaufen war, herrschte in dem kleinen Lager auf der Insel tiefe Stille. Es war Mittag, als ein großer, hagerer Mann eine der Hütten verließ und leicht schwankend über den freien Platz ging. Er hatte getrunken. Seine Augen waren glasig, die Hitze benebelte zusätzlich sein Hirn. In der Linken hielt er eine halbgeleerte Rumflasche, und sein Gesicht verzerrte sich zu einem Ausdruck dumpfer Gier, als er sich nach rechts wandte und weiterstolperte. Am Rand des Lagers kauerte reglos eine dunkle Gestalt zwischen den Büschen. Sie hatte ein braunes, breitflächiges Gesicht, dunkles Haar, das glatt und dicht in die Stirn fiel, breite Schultern und einen geschmeidigen, muskulösen Körper. Der Polynesier war jung, fast noch ein Knabe. Aus brennenden Augen beobachtete er den Spanier. In dem braunen Gesicht preßten sich die geschwungenen Lippen zu einem Strich zusammen, als der hagere Kerl vor einer bestimmten Hütte stehenblieb. Luana, dachte der junge Polynesier. Luana! Der betrunkene Spanier rülpste, dann verzog er die Lippen zu einem schmierigen Grinsen. Seine Augen begannen zu funkeln. Ohne hinzusehen, schob er die halbleere Flasche in eine seiner Taschen. Verstohlen sah er sich nach allen Seiten um, dann trat er rasch auf die Tür der Hütte zu und begann, an dem primitiven Riegel zu nesteln. Der junge Polynesier ballte die Hände zu Fäusten.
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Er wußte, was der Kerl dort vorhatte. Er wußte es so genau, als habe der Bursche es ihm gesagt. Er konnte es in dem verzerrten Gesicht lesen, in dem dünnen, glänzenden Schweißfilm auf der Stirn und dem gierigen Glitzern der Augen. Der braunhäutige Junge grub die Zähne in die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Sein Herz trommelte in einem wilden Wirbel gegen die Rippen, Angst schnürte ihm die Kehle zu. Alles in ihm drängte danach, sich einfach abzuwenden, lautlos davonzuschleichen und Augen und Ohren zu verschließen vor dem, was geschehen würde, aber er brachte es nicht fertig. Er konnte es nicht geschehen lassen! Er mußte etwas tun! Jetzt! In dieser Sekunde! Seine Hände waren feucht, Schweiß perlte auf seinem braunen, jetzt fast fahlen Gesicht. Vorsichtig, geschickt und lautlos wie eine Schlange, glitt er ein Stück zur Seite. Erst als er sich im Sichtschutz der Hütte befand, richtete er sich behutsam auf und verließ die Deckung des Buschwerks. Vier, fünf gleitende Schritte, dann hatte er die Rückwand der Hütte erreicht. Er hörte, wie der Spanier die Tür öffnete und eine Mädchenstimme erschrocken aufstöhnte. Der Spanier stieß ein heiseres, gemeines Kichern aus. Der Junge biß die Zähne zusammen. Sein Blick zuckte in die Runde. Hastig bückte er sich, hob einen faustgroßen Stein auf und schlich weiter. Die Tür der Hütte stand offen. Lautlos auf seinen nackten Füßen glitt der Junge näher. Im Innern der primitiven Behausung herrschte Halbdunkel. Zuerst konnte der Polynesier nur das schmutzige, zerfetzte Hemd des Spaniers entdecken, den knochigen Rücken, das ölig glänzende schwarze Haar, doch nach und nach schälten sich auch die anderen Einzelheiten aus dem Schatten. Ein einfaches Strohlager. Und ein schlankes braunhäutiges Mädchen, das hilflos auf diesem Strohlager kauerte, an Händen und Füßen gefesselt. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Voller Angst starrte sie den Spanier an. Ihre Lippen zitterten; ihre Brust hob und
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senkte sich unter schnellen, angstvollen Atemzügen –und das war ein Anblick, der den betrunkenen Spanier vollends in Erregung versetzte. „He, Täubchen“, sagte er. „Nun schau mich nicht so an, als ob ich dich auffressen wollte! Ich tu dir doch nichts! Nur ein bißchen Spaß will ich mit dir haben.“ Weder das Mädchen in der Hütte noch der junge Polynesier draußen vor der Tür verstanden die spanischen Worte. Aber sie hörten den Tonfall. Sie wußten beide, was gemeint war und daß es nichts gab, was den Betrunkenen jetzt noch von seinem Vorhaben abbringen konnte. Nichts - außer Gewalt. Das Mädchen in der Hütte atmete schneller und wich so weit gegen die Wand zurück, wie sie es vermochte. Der Spanier lachte nur. Blindlings tastete seine Rechte nach der Rumflasche. Mit den Zähnen zog er den Korken heraus und setzte die Flasche an den Mund, um sich noch mit einem kräftigen Schluck zu stärken. Der junge Polynesier hob vorsichtig die Hand, in der er den Steinbrocken hielt. Seine Muskeln spannten sich. Hoch aufgerichtet stand er da, der schlanke, muskulöse Körper glänzte im Sonnenlicht. Für die Dauer eines Herzschlags wirkte er fast wie eine Statue, dann explodierte er. Blitzartig schlug er zu. Es gab ein dumpfes Geräusch, als der Stein den Schädel des Mannes traf. Ein scharfer, zischender Atemzug drang über seine Lippen, das war alles. Von einer Sekunde zur anderen erschlafften seine Muskeln. Die Rumflasche entglitt ihm, zerklirrte auf dem Boden, und im nächsten Moment brach er zusammen wie vom Blitz getroffen. Über den reglosen Körper hinweg starrte das Mädchen zur Tür. Ihre Augen waren weit aufgerissen, die Lippen zitterten. „Guma“, flüsterte sie. „Guma!“ „Luana.“ Er lächelte ihr zu. Rasch ließ er den Stein fallen und wollte die Hütte betreten, um das Mädchen von den Fesseln zu befreien. Viel zu spät hörte er das winzige Geräusch in seinem Rücken.
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„Bastardo! Cobarde!“ Es war eine spanische Stimme. Wie unter einem Peitschenhieb zuckte der Junge zusammen. Auf dem Absatz wirbelte er herum, aber er schaffte es nicht einmal mehr, die beiden Männer zu erkennen, die dort im heißen Staub vor der Hütte standen. Der junge Polynesier mit dem Namen Guma sah nur noch eine rote Lohe auf sich zurasen, und der verzweifelte Schrei des Mädchens Luana mischte sich mit dem Donnern der beiden Musketen, die sein Leben auslöschten. * In einem blitzschnellen Manöver hatte der schwarze Segler der spanischen Galeone den Bug gezeigt - jetzt fiel der „Eilige Drache über den Wassern“ leicht ab und zog mit rauem Wind nach Nordwesten. Dicht am Heck der „Maria Mercedes“ scherte er vorbei, und die Männer an den Kanonen hielten sich genau an Siri-Tongs Befehle. „Kanone Backbord Bug Feuer!“ brüllte der Wikinger mit dröhnender Stimme. Bill the Deadhead war es, der die Lunte auf die Zündpfanne drückte. Donnernd entlud sich das schwere Geschütz, die mächtige Eisenkugel fuhr ins Achterkastell der spanischen Galeone. „Feuer!“ brüllte Thorfin Njal, und die zweite Kanone auf der Backbordseite spuckte Tod und Verderben. Zwölfmal in rascher Folge schienen an der Bordwand des schwarzen Seglers gespenstische Feuerblumen aufzublühen, brüllte der Kanonendonner auf, flogen die mörderischen Kugeln. Eine der beiden achteren Drehbassen des Spaniers erwischte es sofort. Aus dem zweiten schwenkbaren Rohr leckten Feuerzungen, aber der Spanier schoß zu überhastet und traf nicht. Zwei, drei Kugeln fuhren in die Takelage der Galeone, ein Loch klaffte im dreieckigen Besan, das sich rasch zu einem yardlangen Riß erweiterte. Zwei Kugeln, die der schwarze Segler auf die Reise schickte, trafen voll die zweite achtere
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Drehbasse, und mit der letzten Kanone auf der Backbordseite rasierte der BostonMann den Besanmast der „Maria Mercedes“ weg. Krachend stürzten Masten, Spieren und Stage an Deck, zerfetzten einen Teil des Schanzkleids und ließen die Galeone schwer nach Steuerbord krängen. Verwundete schrien. Männer sprangen hinzu, hackten wie die Wilden auf Wanten und Pardunen ein, um den abgeknickten Mast in die Tiefe fahren zu lassen. Auf dem Achterkastell fuchtelte ein großer, knochiger Mann aufgeregt mit beiden Armen. Siri-Tong, die ihn aus schmalen Augen beobachtete, lächelte dünn. Sie konnte die Befehle nicht verstehen, die dort drüben gebrüllt wurden, aber sie wußte auch so, was die Spanier tun würden. Die Galeone ging mit dem Heck durch den Wind. Sie mußte es tun, um ihre SteuerbordBreitseite einsetzen zu können. Dabei hätte der Capitan voraussehen müssen, daß seine Gegner genau das gleiche vorhatten, doch er konnte oder wollte nicht einsehen, daß der schwarze Segler ihm überlegen war. „Weiter abfallen!“ peitschte die Stimme der Roten Korsarin. „Herum mit dem Schiff!“ Drüben auf der Galeone sah der Kapitän, daß sein Gegner das Manöver wesentlich schneller beenden würde als er, und gab überhastet den Feuerbefehl. Die Breitseite der „Maria Mercedes“ krachte, aber die Kugeln ließen nur Wasser aufspritzen. „Steuerbordkanonen Feuer!“ dröhnte genau zwei Sekunden später die Donnerstimme des Wikingers, und diesmal erwischte die „Maria Mercedes“ eine volle Breitseite über der Wasserlinie. Für die Spanier war das Gefecht damit entschieden. Sie drehten in den Wind, setzten die Bugdrehbassen ein und verpaßten dem schwarzen Segler einen Treffer in die Bordwand, doch dann war der „Eilige Drache über den Wassern“ bereits außer Reichweite.
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Siri-Tong ließ anluven, wollte wenden und von neuem angreifen, doch dem spanischen Capitan schien der Schrecken mächtig in die Glieder gefahren zu sein. Er hatte sich die Sache zu leicht vorgestellt. Eben noch war er entschlossen gewesen, sich auf seinen Gegner zu stürzen wie ein Habicht auf eine Maus, jetzt ließ er abfallen, legte die Galeone in einem hastigen Manöver vor den Wind und sah zu, unter allen noch verbliebenen Segeln nach Westen zu entwischen. Siri-Tong schickte’ ihm einen eisernen Gruß nach, aber da war die „Maria Mercedes`’ bereits außer Reichweite der Kanonen. Der schwarze Segler verfolgte sie nicht. Ramponiert, wie er war, stand es durchaus nicht fest, ob er die Galeone einholen würde. Auch wenn den Spaniern der Besanmast fehlte. Zwar brannten die Männer des „Eiligen Drachen“ förmlich darauf, die heimtückischen Angreifer endgültig zu den Fischen zu schicken – aber im Moment war es einfach wichtiger, die Schäden zu reparieren, um für alle Fälle wieder gefechtsklar zu werden. Die Rote Korsarin preßte die Lippen zusammen. Ihre Augen versprühten Blitze, als sie der davonrauschenden Galeone nachsah. Auch Thorfin Njal schäumte vor Wut, als er über den Niedergang zurück auf das Achterkastell stampfte. „Diese Hunde!“ knirschte er. „Diese Satansbraten! Diese dreimal verdammten.“ „Schon gut, Thorfin! Was wir ihnen hinübergeschickt haben, werden sie bestimmt so schnell nicht vergessen.“ „Das will ich meinen!“ Der Wikinger nickte grimmig, starrte nach Westen und kratzte sich ausdauernd an seinem zerbeulten Helm. „Ich möchte nur wissen, woher, bei allen Teufeln der Hölle, in dieser verdammten Gegend Spanier kommen.“ Siri-Tong nickte nur. Auch sie sah der Galeone nach, die im Westen allmählich kleiner wurde. Die Rote Korsarin hatte die Lider
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zusammengekniffen, und ihre Augen waren sehr schmal und sehr nachdenklich. „Genau das frage ich mich auch“, murmelte sie. Und mit einem tiefen Atemzug fügte sie hinzu: „Warte es ah! Wenn wir diesen Kahn erst wieder flott haben, werden wir es schon herausfinden.“ 3. Der Anker faßte Grund. In der Mitte der Bucht schwoite die „Isabella“ mit aufgegeiten Segeln um die Kette. Für einen Moment herrschte eine fast gespenstische Stille, während sich die Seewölfe schweigend und mit gemischten Gefühlen umsahen. Nur ein schmaler Strandstreifen säumte die Bucht: weißer Sand, den das Meer in Jahrhunderten am Fuß der Steilhänge angeschwemmt hatte. Ein halbes Dutzend von den steinernen Riesen ragte in den blauen Himmel und schien hochmütig über das ankernde Schiff hinweg ins Weite zu starren wie geisterhafte Wachtposten. Old Donegal Daniel O’Flynn, der auf seinen Krücken zur Backbordseite gehumpelt war, starrte mit einem Ausdruck aufsässiger Furcht zu den Statuen hinüber. Blacky Von jeher besonders abergläubisch, bekreuzigte sich heimlich. Selbst Hasard fühlte ein kühles Prickeln im Nacken angesichts dieser düsteren schwarzen Gestalten, die dort oben standen, die steinernen Gesichter dem Meer zugewandt als hüteten sie seit Jahrhunderten ein unheilvolles Geheimnis. Der Seewolf schüttelte den Kopf, daß das lange schwarze Haar flog. Gespenster zu sehen, das hätte gerade noch gefehlt. Er atmete tief durch und grinste Ben Brighton an, der aus schmalen Augen zu den Steinfiguren hinüberspähte. „Wir brauchen Frischwasser“, sagte Hasard sanft. „Zu diesem Zweck sollten wir vielleicht jetzt ein Boot abfieren, Mister Brighton.“ Ben Brighton zuckte leicht zusammen. „Aye, aye, Sir.“ Und lauter: „Beiboot
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klarmachen! Ed, wir brauchen noch drei Mann, die...“ „Ich melde mich freiwillig!“ ertönte es zweistimmig. Bill und Dan, registrierte Hasard grinsend. Wo es etwas zu entdecken gab, mußten sie natürlich dabei sein. Und wer der dritte Mann war, stand damit auch fest. Batuti, der riesige Gambia-Neger, hatte sich im Gegensatz zur übrigen Crew noch lange nicht daran gewöhnt, daß Dan O’Flynn ein Mann geworden war, der auf sich selbst aufpassen konnte. Und Bill, den fünfzehnjährigen Schiffsjungen, hatte der schwarze Herkules vom ersten Tag an ebenfalls unter seine Fittiche genommen. Wo „kleines Bill“ und „kleines O’Flynn“ waren, konnte Batuti nicht weit sein. Bisweilen sehr zum Ärger von „kleines O’Flynn“, der es schwer genug gehabt hatte, die Rolle des „Bürschchens“, des Jüngsten an Bord, abzuschütteln. Ein paar Minuten später pullten sie das Boot durch das blaue Wasser der Bucht: Hasard und Ben, Bill und Dan, Ed Carberry und Batuti. Der schwarze Herkules rollte jedesmal mit den Augen, wenn sein Blick auf die düsteren Statuen fiel. Für ihn waren Magie und Zauberei die natürlichsten Dinge der Welt. Das Meer hatte genauso seine Geister, wie sie der Dschungel seiner Heimat hatte. Es gab gute Geister und böse Geister, schwarze Magie und weiße Magie. Es gab vor allem für jede übersinnliche Bedrohung ein Gegenmittel, einen passenden Bannspruch. zum Beispiel oder ein schützendes Amulett, und der Gedanke, daß da vielleicht fremde Götzenbilder auf ihn herabstarrten, konnte Batuti trotz seines offensichtlichen Respekts vor den steinernen Riesen nicht sonderlich erschrecken. Er war der erste, der das Boot verließ, als Sand unter dem Kiel knirschte. Auch die anderen sprangen ins seichte Wasser, Batuti und Ed Carberry zogen gemeinsam das schwere Fahrzeug auf den Strand. Hasard bemerkte mit einem leisen Lächeln, daß Bill nicht mehr ganz so
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unternehmungslustig wirkte wie zuvor. Es war sehr still in der Bucht. Hier vom Strand aus wirkten die Steilwände wesentlich höher, die Figuren aus schwarzem Tuff schienen ins Gigantische zu wachsen, und so ganz konnte sich niemand ihrer unheimlichen Ausstrahlung entziehen. „Da drüben“, flüsterte Dan, dessen scharfe Augen das Kliff abgetastet hatten. „Die Rinne! Vielleicht ist es ein Aufstieg.“ Tatsächlich gab es eine schmale, tief eingeschnittene Rinne im Felsen, die sich diagonal über den Steilhang zog. Hasard ging hinüber, spähte aus schmalen Augen nach oben und begann dann, über das lose Geröll aufwärts zu klettern. Die anderen folgten ihm. Sie brauchten nur wenige Minuten und erreichten das Plateau unmittelbar neben einem der steinernen Riesen, dessen Schatten über sie fiel. Batuti murmelte etwas in seiner Heimatsprache. Ed Carberry schob sein Rammkinn vor und starrte den Koloß an, als bedauere er lebhaft, daß er dem steinernen Kerl nicht die Haut abziehen konnte. Auch Hasards Blick hing für ein paar Sekunden an der unheimlichen Statue. Dann wandte er den Kopf und ließ die Augen über das Plateau wandern, das sich vor ihnen ausdehnte. Eine trostlose Gegend. Dunkle Vulkankegel zu beiden Seiten, dazwischen ein hügeliges, wildes, nur von Gras und niedrigem .Dornengestrüpp bedecktes Land, in dem dunkle Schatten Mulden und Einschnitte markierten, Erbarmungslos brannte die Sonne auf vergilbte Halme und heißen Staub. Es gab keinen Baum, kaum einen Strauch, nur immer wieder die steinernen Riesen, die sich teilweise in den Kratern erloschener Vulkane gruppierten und aus der Ferne wie drohend emporgereckte Finger wirkten. „Sieht ziemlich trocken aus“, sagte Ben Brighton. Hasard zuckte mit den Schultern. Noch einmal glitten seine Augen, über die Einöde, dann griff er in die Tasche und zog die Karte heraus, die er von Bills Vater erhalten hatte. Vorsichtig strich er das
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Pergament glatt, betrachtete die gezeichneten Linien und verglich sie mit dem Bild vor seinen Augen. „Zwei größere Vulkane - hier und hier ...“ Sein Finger tippte auf die entsprechenden Stellen der Karte und dann auf einen Punkt dazwischen. „Demnach müßten wir ungefähr hier sein. Das Schatzversteck, das Bills Vater angekreuzt hat, liegt genau am anderen Ende der Insel. Da drüben!“ Hasard wies in die Richtung des Vulkankegels linkerhand. Mit leuchtenden Augen starrte Bill hinüber. Dan O’Flynn trat sich vor Ungeduld fast selbst auf die Füße. Ein verborgener Schatz, das war etwas nach seinem Geschmack. Und natürlich erst recht nach Bills Geschmack: er wäre kein Junge von fünfzehn Jahren gewesen, wenn solche Abenteuer ihn nicht gelockt hätten. Hasard lächelte leicht. Wieder betrachtete er die Karte. Diesmal folgte sein Finger einer gewundenen Linie. „Dürfte ein Bach sein. Oder ein Flüßchen”, stellte Ben Brighton fest. „Richtig. Und das Quellgebiet liegt gar nicht weit von hier. Also müßte es zumindest Wasser geben.“ „Wenn der Bach nicht inzwischen längst ausgetrocknet ist“, sagte Carberry. „Schließlich kann es gut und gern zwanzig Jahre her sein, daß Bills Vater hier war.“ Hasard nickte nur. Wie lange der Schatz hier lag, ob die Insel bewohnt war, ob noch andere Menschen das Versteck kannten das alles hatte ihnen der sterbende alte Mann nicht mehr sagen können. Auch nicht, um welche Art von Schatz es sich handelte. Fest stand lediglich, daß Bill ein Anrecht darauf hatte und der Seewolf entschlossen war, dem Jungen nach Möglichkeit zu helfen. „Suchen wir erst einmal Wasser“, entschied er. „Wenn wir genau auf den Vulkan dort zumarschieren, müßten wir etwa nach einer halben Meile auf eine Art Tal stoßen. Das Faß lassen wir vorerst im Boot. Wenn wir Glück haben, können wir es dann später holen.“ „Na dann“, sagte Carberry trocken.
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Dan O’Flynn atmete tief durch, schob sich an Hasard und Ben vorbei und übernahm mit funkelnden Augen die Spitze. Sie marschierten nach Westen. Staub wirbelte um ihre Beine, über dem Hochplateau flimmerte die heiße Luft in opalisierenden Schleiern. Was sich da vor ihnen ausdehnte, war nur auf den ersten Blick eine tischflache Ebene. Schatten bezeichneten die Stellen, wo das Gelände abfiel. Es gab kleine Täler, buschbewachsene Mulden, geröllbedeckte Krater und canyonartige Einschnitte von überraschender Tiefe. Immer wieder stieß Dan O’Flynn überraschte Rufe aus, immer wieder drängte es ihn in eine neue Richtung. Jeder Hügelkamm, jeder Einschnitt im Gelände schien ihn magisch anzuziehen, und schon ein paarmal hatte Hasard ihn scharf zurückrufen müssen, weil Neugier und Entdeckungslust bei dem Jungen beinahe wieder das vorwitzige „Bürschchen“ von einst durchbrechen ließen. „Dir hat wohl lange niemand die Haut von deinem verdammten Affenarsch gezogen!“ knurrte Carberry. „Zurück, du Wanze! Oder glaubst du, wir veranstalten ein Wettrennen, was, wie?“ „Dem Profos geht die Puste aus!“ sagte Dan frech. „Ha! Ich puste noch, wenn dir die Zunge schon so weit aus dem Hals hängt, daß du damit das Deck schrubben könntest. Wenn du Kakerlake frech werden willst ...“ „Schaut mal!“ rief Bill im selben Moment. Seine Augen leuchteten. Er zeigte auf die schmale Rinne, die vor ihnen abfiel, sich erweiterte und zwischen roten, durcheinander gewürfelten Felsblöcken verschwand. Gras bedeckte den Grund des Einschnitts. Frisches, grünes Gras, genauso frisch und grün wie das Blattwerk der Büsche. Kein Zweifel, daß es dort unten Wasser geben mußte. Bill war sichtlich stolz darauf, daß er es gewesen war, der die Stelle entdeckt hatte. „Dans Augen sind auch nicht mehr, was sie mal waren“, sagte der Profos genüßlich. Dan blähte die Nasenflügel.
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Die anderen erwarteten, daß er explodieren würde wie ein Pulverfäßchen, in das ein Funke gefallen ist, doch statt dessen hielt er jäh den Atem an und kniff die Lider zusammen. Er brauchte nicht loszuschimpfen. Denn daß seine Augen so scharf wie eh und je waren, hatte er in eben dieser Sekunde bewiesen. „Eingeborene!“ flüsterte er. „Dort im Gebüsch! Und zwischen den Felsen stecken auch noch welche!“ Für einen Moment blieb es still. Hasard spähte angestrengt in die Mulde hinunter, aber er konnte nichts erkennen, genauso wenig wie die anderen. Dan mußte sich geirrt haben. Oder aber — und das hielt der Seewolf für wahrscheinlicher — die Eingeborenen hätten den Blick des Jungen bemerkt und sich blitzartig zurückgezogen. „Du siehst wohl Wassermänner, wie?“ knurrte Carberry. „Ich glaube Weiter gelangte er nicht. Etwas raschelte in den Büschen. Jäh klang ein langgezogener, tremolierender Schrei auf. Die Zweige teilten sich, zwischen den Felsen wurde es lebendig, und von einer Sekunde zur anderen schien vor den Augen der überraschten Seewölfe die Hölle loszubrechen. * Gestalten brachen aus dem Dickicht. Halbnackte braune Gestalten mit bemalten Gesichtern, Schilde und Speere schwingend. Jäh steigerte sich ihr Kriegsgeschrei zu einem wilden, nervenzerfetzenden Heulen. Wie eine Flutwelle brandeten sie über die Felsen: zwei, drei Dutzend Krieger, mit klirrenden Muschelketten behängt, mit Speeren, Messern und kleinen, handlichen Bögen bewaffnet. Schwarze Augen glühten in den kräftigen, scharfgeschnittenen Gesichtern. Das waren keine Araukaner, wie sie auf der Insel Mocha oder dem Festland lebten. Das war ein anderer Menschenschlag: größer und kräftiger, braunhäutig und
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braunhaarig und sicher von der gleichen kriegerischen Wildheit. Ihr Angriff erfolgte so plötzlich, so unvermutet, daß die Seewölfe für ein paar Sekunden überrascht waren - und fast wäre ihnen das zum Verhängnis geworden. Neue Krieger tauchten aus dem Schatten zwischen den Felsen, Krieger, die jäh in ihrem Sturmlauf innehielten und weit ausholten, um ihre Speere zu schleudern. „Deckung!“ schrie Hasard. Da schwirrte bereits die Luft von den schlanken hölzernen Schäften mit den nadelscharfen Spitzen. Mit einem mörderischen Fluch warf sich Ed Carberry zur Seite und riß Bill mit, der fast eine Sekunde zu lange gezögert hätte. Dan O’Flynn rollte wie eine Katze hinter einen Felsen, Hasard, Ben und Batuti tauchten ebenfalls in Deckung. Dicht neben dem Kopf des Seewolfs prallte einer der Speere gegen den steinigen Boden. Die kehligen, auf- und abschwellenden Kriegsschreie durchzitterten die Luft. Hasard sah einen Schatten über sich, wälzte sich herum und konnte gerade noch den Speer packen. Der braunhäutige Krieger versuchte, ihm die Brust zu durchbohren. Mit dem Holzschaft des Speers fing Hasard den Stoß ab, gleichzeitig riß er beide Beine hoch und stieß dem Angreifer die Stiefelabsätze vor die Brust. Aufbrüllend flog der Krieger zurück. Hasard schnellte hoch - und dicht neben ihm richtete sich Batuti mit einem grollenden Kehllaut zu seiner ganzen beachtlichen Größe auf und griff nach dem Morgenstern an seinem Gürtel. Ein paar Yards weiter stand Ben Brighton mit dem Rücken an einem Felsen, hatte den kurzen Säbel gezogen und wehrte sich verbissen gegen die Angriffe von drei, vier bemalten Gestalten. Ed Carberry hieb mit einer Handspake um sich. Ein halbes Dutzend Gegner kreiste ihn ein, aber sie waren vorsichtig geworden, nachdem die ersten sich blutige Köpfe geholt hatten. Dan O’Flynn und Bill kämpften Rücken an Rücken.
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Batuti schlug sich zu ihnen durch und ließ mit beiden Fäusten den Morgenstern kreisen. Er sah furchterregend aus mit den gebleckten Zähnen und den rollenden Augen, und schon der bloße Anblick seiner mörderischen Waffe genügte, um die Angreifer schreiend auseinanderstieben zu lassen. Hasard grinste matt, während er einem der Eingeborenen den erbeuteten Speer aufs Haupt schlug. Bis jetzt lief die Sache gut, aber das mußte nicht so bleiben. Die Übermacht war zu groß. Der Seewolf wußte es und handelte entsprechend. „Rückzug!“ übertönte seine Stimme den Kampflärm. Dabei pflückte er sich, den nächstbesten Mann aus dem Knäuel um Ed Carberry heraus, schleuderte den Burschen in die Reihe seiner Kumpane und hielt in nächsten Augen- blick die sächsische Reiterpistole in der Faust. Unmittelbar vor den Zehen der nachrückenden Angreifer schlugen die beiden Kugeln in die Felsen. Die Krieger zuckten zurück, offenbar kannten sie die vernichtende Wirkung von Feuerwaffen. Drei, vier von den Kerlen, die Ed Carberry bedrängten, fuhren ebenfalls erschrocken herum. Der Profos nutzte die Chance, um durchzubrechen. Ein weiteres Knäuel entwirrte sich: braunhäutige Krieger flohen blindlings vor dem heranrasenden schwarzen Riesen mit dem Morgenstern. Bill und Dan glitten im gleichen Tempo in die entgegengesetzte Richtung. Fast hätte Dan dabei den Morgenstern an den Kopf bekommen. Und für einen Moment wurde alles andere übertönt von der dröhnenden Stimme Batutis, der irgendetwas von „kleines O’Flynn blöd in Hirn“ brüllte. Ben Brighton ließ sich tief in die Hocke fallen, stieß sich von dem Felsen ab und rammte einem seiner Gegner den Kopf in den Bauch. Der Mann stieß einen gurgelnden Laut aus und torkelte zurück. Ben sprang über ihn weg und begann zu rennen. Batuti brüllte immer noch. In den Augen der Insulaner schien er sich in einen furchterregenden
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schwarzen Dämon zu verwandeln. Wie hypnotisiert starrten die braunhäutigen Krieger den Herkules aus Gambia an, und Hasard, dem sie den Rücken wandten, hatte keine Schwierigkeit, den Holzspeer auf vier, fünf dunkle Schöpfe zu schmettern. Von jetzt an war strategischer Rückzug das Gebot der Stunde. Bis zum Rand des Hochplateaus hatten es die Seewölfe glücklicherweise nicht weit. Die Insulaner verfolgten sie aber wechselweise abgefeuerte Musketen- und Pistolenschüsse trieben die Krieger immer wieder in Deckung. Als Hasard und seine Männer über den Strand liefen, wurde es noch einmal kritisch. Vom Rand des Plateaus schwirrte ein Hagel von Steinen, kleinen Pfeilen und Speeren hinter ihnen her, aber inzwischen hatte der Rest der Crew auf der „Isabella“ begriffen, was da vorging. Al Conroy, der Stückmeister, nahm die Klippen mit der achteren Drehbasse unter Feuer. Ein vielstimmiges Wutgebrüll, drohend geschüttelte Speere, dann zogen es die Insulaner vor, in Deckung zu gehen. Binnen zwei Sekunden war keine Spur mehr von ihnen zu sehen. Nur noch die steinernen Riesen ragten am Rand des Plateaus auf und blickten aus ihren gleichgültigen Augen über die keuchenden, abgekämpften Männer weg aufs Meer hinaus. Nur noch die steinernen Riesen? In der Sekunde. in der das Boot ablegte, entdeckte Hasard die Gestalt neben einer der Statuen. Eine kleine Gestalt. Lächerlich winzig, wie sie so an dem schwarzen Tuff der gigantischen Figur lehnte. Aber es war die Gestalt eines Europäers. eines zerlumpten, weißbärtigen alten Mannes. Für die Dauer eines Herzschlages hielt der Seewolf vor Überraschung den Atem an. Ein Weißer? Hier auf dieser Insel? In einem der entlegensten Winkel der sieben Meere? Hasard runzelte die Stirn und starrte aus schmalen Augen zu den Klippen hinüber.
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Für einen Moment hatte er das Gefühl, als sehe ihm der Unbekannte direkt in die Augen. Auf jeden Fall schien der andere seinen Blick zu spüren. Geschmeidig löste er sich von der Steinfigur, turnte über die Felsen und war im nächsten Moment in einer Gesteinsfalte verschwunden. Mit einem entschlossenen Ruck zog Hasard die Riemen durch. Ein paar Minuten, dann erreichten sie die „Isabella“. Kommandos dröhnten über die Decks. Weißes Tuch entfaltete sich, das Schiff ging ankerauf und hatte wenig später die Bucht verlassen. Aber die „Isabella“ segelte nur zum Schein davon. Denn Philip Hasard Killigrew war entschlossen, das Geheimnis jener seltsamen Insel zu lüften. 4. Vorsichtig, fast lautlos zogen die Männer die Riemen durch das dunkle Wasser. Hasards Blick tastete besorgt die Ränder der Klippen ab. Er wußte verdammt genau, daß die Nacht zu hell war: eine warme, klare Tropennacht unter einem funkelnden, mit Myriaden von Sternen besetzten Himmel. Silbern und scharf hob sich das Kreuz des Südens ab und spiegelte sich verschwimmend im Wasser. Mondlicht glänzte auf den Wellen und schien ihre Kämme in flüssiges Silber zu verwandeln. Hasard biß sich auf die Lippen. Nichts rührte sich auf der Insel. Die „Isabella“ lag weit genug entfernt. Sie hatten eine andere Bucht für ihr nächtliches Landeunternehmen gewählt, und dennoch konnte der Seewolf nicht gegen das vertrackte Gefühl an, daß sie beobachtet wurden. Vor und neben ihm bewegten .Blacky und Smoky, Stenmark, Matt Davies und Big Old Shane mit größter Behutsamkeit die Riemen. Hasard grinste bei der Erinnerung an das Gesicht, das Dan O’Flynn angesichts der Zumutung geschnitten hatte, daß er sich ausruhen sollte, statt mitzukommen. Bill und Ed Carberry waren ebenfalls nicht sehr begeistert gewesen. Batuti umso mehr. Dan war ihm zwar nur
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beinahe in den Morgenstern gelaufen, aber das hinderte den riesigen Gambia-Neger nicht daran, „kleines O’Flynn“ vorübergehend wie einen schwerverletzten Geisteskranken zu behandeln. „Kleines O’Flynn“, hatte sich gefügt, obwohl er Gift und Galle spuckte. Von den Männern, die sich am Nachmittag mit den kriegerischen Eingeborenen herumgeschlagen hatten, war jetzt nur Hasard dabei. Er kauerte geduckt im Bug des Bootes, korrigierte mit leiser Stimme den Kurs und fragte sich dabei, ob es nicht vielleicht doch ein Fehler gewesen war, auf Dan mit seinen Adleraugen zu verzichten. Jetzt ließ es sich nicht mehr ändern. Fast lautlos glitt das Boot auf den Strand zu. Sand knirschte unter dem Kiel, die Männer kletterten vorsichtig ins seichte Wasser. Diesmal war es Big Old Shane, der das Boot auf den Strand zog, und der graubärtige Hüne brauchte dazu nur einen einzigen von seinen mächtigen, muskelbepackten Armen. Die Bucht sah anders aus als diejenige, in der die „Isabella“ am Nachmittag geankert hatte. Die Klippen stiegen in flachen Terrassen an, die unheimlichen Steinfiguren fehlten. Es gab Buschwerk, Schlingpflanzen mit bleichen, fremdartigen Blüten, und es gab eine Quelle, wie das gedämpfte Rauschen und Murmeln verriet. Hasard verharrte einen Moment und lauschte mit halb geschlossenen Augen. Alles wirkte friedlich, ringsum waren nur die Geräusche der nächtlichen Natur lebendig, und dennoch wurde der Seewolf das Gefühl nicht los, daß etwas nicht stimmte. „Aufpassen“, murmelte er. „Blacky und Stenmark bleiben beim Boot. Der Rest folgt mir. Wir schauen uns mal diese beiden Felsen da drüben an, die wie Torpfosten aussehen.“ Er setzte sich bereits in Bewegung. Seine eisblauen Augen kniffen sich zu Schlitzen zusammen und suchten die wattige Schwärze zwischen den hochragenden Felsblöcken zu durchdringen. Dabei fragte er sich, was er
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dort eigentlich erwartete, und gab sich gleich selbst die Antwort: den weißbärtigen Alten. Es war nur logisch. An dem Kampf hatte sich der Weißbart nicht beteiligt, aber dafür hatte er sich die Augen nach der „Isabella“ ausgestarrt. Was immer ihn, den Europäer, auf diese abgelegene Insel verschlagen haben mochte - auf jeden Fall mußte es ihn innerlich aufgewühlt haben, vielleicht zum erstenmal seit langer Zeit wieder ein Schiff und weiße Männer zu sehen. Hasard erinnerte sich deutlich an die kurze Sekunde, als sich sein Blick mit dem des Unbekannten kreuzte. Der Seewolf hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, daß der seltsame Alte Kontakt zu ihnen suchte, daß er versuchen würde, Verbindung mit ihnen aufzunehmen. Wenn das so war, hatte er diesen Versuch möglicherweise auch jetzt noch nicht aufgegeben. Versteckte er sich irgendwo? Wartete er? Lauerte er? Hatte er die „Isabella“ zurückkommen sehen und vielleicht auch das Boot? Hasard ging langsam weiter. Die Schritte seiner Männer knirschten auf dem Sand. Ein paar Sekunden später, als sie felsigen Boden erreichten, konnten sie sich fast lautlos bewegen, und immer noch hatte der Seewolf das deutliche Gefühl, beobachtet zu werden. „Wartet hier“; sagte er leise. „Ich gehe allein weiter.“ Big, Old Shane holte Luft, um etwas zu sagen, doch ein Blick in Hasards eisblaue Augen ließ ihn verstummen. Der Seewolf glitt weiter und tauchte in den dichten Schatten zwischen den hochragenden Felsen. Wer immer hier lauerte, er würde sich sicher eher hervorwagen, wenn er es nur mit einem einzelnen Mann zu tun hatte. Zwei Minuten später erhielt Hasard die Bestätigung dafür, daß sein Instinkt ihn nicht getrogen hatte. Etwas raschelte neben ihm. Er wandte sich um, mit einer ruhigen, gelassenen Bewegung - und blickte in die Mündung einer alten Steinschloßpistole.
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„Rühr dich nicht!“ sagte der Weißbart heiser. Seine grünlichen Augen waren weit aufgerissen, sie schimmerten in dem braunen, wettergegerbten Gesicht wie helle Flecken. Furcht zeichnete seine Züge. Obwohl seine Worte heiser, ungelenk und kaum verständlich klangen, hatte er ohne jeden Zweifel Englisch gesprochen. „Ich wußte, daß du hier bist“, sagte Hasard in derselben Sprache. Der alte Mann schluckte. Im Gestrüpp des weißen, verfilzten Bartes zuckten die Lippen. „Ihr - ihr seid Engländer?“ flüsterte er. „Ja“, erwiderte Hasard. „Engländer wie du. Korsaren der Königin.“ Der Mann ließ die Waffe sinken. Für Hasard wäre es ein leichtes gewesen, sie ihm blitzartig aus der Hand zu schlagen, doch er verzichtete darauf. Er spürte, daß von dem weißbärtigen alten Mann keine Gefahr ausging, er spürte es genau, und das jähe Brennen in den Augen des anderen bestätigte es ihm. „Engländer“, flüsterte der Alte mit seiner brüchigen Stimme. „Ihr seid Engländer Landsleute ...“ Die Worte klangen mühsam. Nicht nur, weil Bewegung dem alten Mann die Kehle zuschnürte, sie klangen so, als sei ihm die Sprache fremd geworden, als müsse er mühsam die richtigen Worte zusammensuchen. Hasards Blick glitt über die zerlumpte Kleidung, über die altmodische, unhandliche Waffe, die in England längst nicht mehr in Gebrauch war. „Du bist schon lange hier?“ fragte er. „Lange. Sehr lange. Zehn Jahre müssen es sein ...“ Der Alte stockte, sein Blick glitt an Hasard vorbei zu den anderen Männern, die sich nun langsam näherten. Big Old Shane, der Schmied. Blacky und Smoky, Matt Davies mit seiner funkelnden Hakenprothese, der blonde Stenmark. Immer noch flackerte es in den Augen des alten Mannes, aber seine Lippen verzerrten sich zu einem ersten zögernden Lächeln. „Ich heiße Henry“, sagte er heiser. „Jack Henry.“
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„Meine Name ist Philip Hasard Killigrew. Der Gaubart dort heißt Shane, das da sind Blacky, Smoky, Stenmark ...“ Hasard stellte die anderen Männer vor, die den weißhaarigen Alten ziemlich verblüfft betrachteten. In Jack Henrys faltigem Ledergesicht arbeitete er. Über seinen grünlichen Augen lag ein feuchter Schimmer. Die Begegnung erschütterte ihn, sie brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Sie sahen ihm an, wie sehr er sich freute, nach all den Jahren auf Landsleute zu stoßen, wie sehr es ihn danach drängte, mit ihnen zu reden und sich endlich einmal wieder in seiner Heimatsprache zu unterhalten. Aber da war auch immer noch Mißtrauen in seinem Gesicht, ein Ausdruck von Unsicherheit und Furcht, den sich Hasard nicht erklären konnte. „Was wollt ihr hier bei uns?“ fragte er schließlich. Und mit einem Anflug jäher Schärfe in der Stimme: „Seid ihr auch hinter dem Gold her? Wenn ihr den Schatz sucht, habt ihr euch umsonst bemüht. Niemand kennt das Versteck. Niemand!“ Der Schatz! Da war es, das Stichwort. Bills Vater hatte die Wahrheit gesagt. Es gab einen verborgenen Schatz auf der Insel, einen Schatz, von dem auch Jack Henry wußte und den, jedenfalls der Reaktion des alten Mannes nach, schon andere an sich zu bringen versucht hatten. Hasard atmete tief durch und sah seinem Gegenüber ruhig und fest in die Augen. „Wir sind zufällig hier“, sagte er. „Der Sturm hat uns nach Westen verschlagen, und die Insel haben wir eigentlich nur angelaufen, um Frischwasser zu mannen und die Schäden an unserem Schiff zu reparieren. Aber wir kennen diese Insel. Und wir wissen auch von dem Schatz.“ Jack Henry preßte die Lippen zusammen. Ein paar bittere Linien kerbten sich um seinen Mund. „Ich wußte es. Das verdammte Gold! Aber ihr werdet Pech haben. Ihr werdet es nicht finden, ihr ...“ „Wir werden es finden“, sagte Hasard sanft. „Weil wir nämlich eine Karte haben.“
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„Eine — Karte?“ fragte Jack Henry tonlos. Hasard nickte nur. Schweigend griff er in die Tasche, holte das zusammengerollte Stück Pergament heraus und hielt es dem Weißhaarigen hin. Die Hände des alten Mannes zitterten leicht, als er danach griff. Als er die Karte auseinanderfaltete, begannen seine grünlichen Augen zu flackern. „Die Karte“; flüsterte er. „London-Joes Karte ...“ „Ich weiß nicht, wer London-Joe ist“, sagte Hasard ruhig. „Ich weiß nur, woher wir diese Karte haben: nämlich von dem Mann, der den Schatz hier versteckt hat. Er selbst ist tot. Aber sein Sohn fährt als Schiffsjunge auf der ‚Isabella’. Und er hat ein Recht auf dieses Gold -falls es tatsächlich vorhanden ist.“ Der alte Mann starrte Hasard an. Mit Augen, die so weit geworden waren, als wollten sie alles Licht der Welt auf einmal in sich aufnehmen. „London-Joe“, flüsterte er. „London-Joe hatte einen Sohn, ich weiß es. Damals war er noch ein Kind. Jetzt muß er - fünfzehn oder sechzehn sein. London-Joes Sohn! Und er ist bei euch?“ „Ja“, sagte Hasard. „Kann ich ihn sehen? Mit ihm sprechen? Ich bin ein alter Freund seines Vaters. Ich war sein Freund. Er ist tot, sagst du?“ Hasard nickte nur. Später, als sie mit dem Boot zurückruderten, erzählte er Jack Henry in kurzen Zügen, wo und wie der Besitzer der Schatzkarte gestorben war. Und dann, auf der Kuhl der „Isabella“, stand der weißhaarige alte Mann dem Schiffsjungen Bill gegenüber. Jack Henry verharrte, als sei er gegen eine Wand aus Glas gelaufen. Er starrte Bill an. Zug um Zug tasteten die grünen Augen das Gesicht des Jungen ab, glitten über das widerspenstige schwarze Haar, die schmale, drahtige Gestalt, die jetzt längst nicht mehr so verhungert wirkte wie damals auf Jamaika, und hielten schließlich den verwirrten Blick des Jungen fest.
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Bill schluckte unsicher. Das Erscheinen des alten Mannes hatte ihn genauso überrascht wie die anderen, und jetzt spürte er beklommen, daß er selbst und der Weißbärtige im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses standen. Hilfesuchend sah er sich um, doch niemand erklärte ihm irgendetwas. Die anderen starrten den Weißhaarigen mit der gleichen gespannten Aufmerksamkeit an, mit der dieser Bill anstarrte. Der Junge fragte sich, ob sie jetzt wohl alle übergeschnappt seien, aber er wäre nie auf den Gedanken verfallen, so etwas laut werden zu lassen. Jack Henry atmete tief durch. Die konzentrierte Spannung in seiner Haltung lockerte sich. Er nickte langsam, und ein leises, wehmütiges Lächeln spielte um seine Lippen. „Ja“, sagte er leise. „London-Joes Sohn! Er ist es!“ Bill fuhr zusammen. Seine Augen wurden groß. „London-Joe?“. fragte er. „Woher kennen Sie den Namen? ‚London-Joe’ ist mein Vater manchmal genannt worden.“ „Ich weiß, mein Junge, ich weiß.“ „Sie - haben ihn gekannt? Meinen Vater?“ Jack Henry nickte. „Ja“, sagte er. „Ich habe ihn gekannt. Gut gekannt. Zehn Jahre ist es her. Du warst damals noch ein Kind. Ich habe dich in London gesehen, als du gerade laufen konntest. Und schon damals warst du deinem Vater ähnlich.“ Bill hielt den Atem an. „Erzählen Sie“, bat er leise. „Erzählen Sie mir von meinem Vater, Mister Henry.“ Der alte Mann nickte. Für einen Moment schien sein Blick durch alles hindurchzugehen und sich in einer unvorstellbaren Ferne zu verlieren. Langsam, mit nachdenklicher, immer wieder stockender Stimme begann er zu sprechen, und Stück um Stück erfuhren die Seewölfe die Geschichte des geheimnisvollen Schatzes, die bis zu diesem Tag nicht einmal Bill selber gekannt hatte.
Die Insel der steinernen Riesen *
Zehn Jahre lag das alles zurück. Bills Vater und Jack Henry waren Freunde gewesen: Kameraden, die miteinander durch dick und dünn gingen, die sich blindlings aufeinander verlassen konnten. Sie fuhren auf denselben Schiffen, hatten die gleiche Vorliebe dafür, sich den Seewind um die Nase wehen zu lassen und versuchten zwischendurch auch einmal gemeinsam, an Land ihr Glück zu, finden. Aber sie schafften es nicht. Sie hatten die See im Blut, und an Land dauerte es nicht lange, bis ihr Lebensschiff auf Grund lief. Das Geschäft, das sie anfingen, scheiterte rasch, den Intrigen und Winkelzügen raffinierter Kaufleute waren sie einfach nicht gewachsen. Jack Henry fiel auf ein leichtsinniges Frauenzimmer herein. London-Joe hatte mehr Glück: er fand ein hübsches, ehrliches Mädchen, das ihn von Herzen liebte. Aber sie starb bei der Geburt ihres ersten Sohnes. Mit einem Kind, einem winzigen, hilflosen Säugling, konnte ein rauhbeiniger, salzwassergetränkter Seemann wie London-Joe nicht umgehen. Er mußte den kleinen Bill wohl oder übel der Obhut von Verwandten überlassen, und so gab es auch für ihn nichts mehr, das ihn an Land zurückhielt. Zusammen mit Jack Henry heuerte er wieder an. Diesmal fuhren sie auf einem der englischen Freibeuterschiffe, die auch damals schon die Meere verunsicherten und ihre kühnen Kaperfahrten bisweilen in ferne, unbekannte Gefilde ausdehnten. Die Freunde lernten die Karibik kennen, die Tücken der Magellan-Straße, den fremden Ozean, hinter dem irgendwo der sagenhafte Kontinent Australien lag. Ihr Schiff räuberte unter den Spaniern, wurde gefürchtet, fand reiche Beute. Die Jahre vergingen - und London-Joes Wunsch, seine Heimat und seinen kleinen Sohn wiederzusehen, wurde immer heftiger. Ein Wunsch, den Jack Henry teilte. Sie musterten ab. Ihr rechtmäßiger Anteil an der Beute machte sie zu reichen
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Männern und ermöglichte es ihnen sogar, ein kleines Schiff zu kaufen, um nach England zurückzusegeln. Alles schien bestens zu stehen, als sie mit einer Handvoll Kameraden vor der Küste Chiles auf - brachen. Und dann schlug das Schicksal erbarmungslos zu. Die Schaluppe geriet in einen Sturm, kenterte und sank. Nur London-Joe, Jack Henry und ein junger Portugiese überlebten. Die Schatztruhe konnten sie retten. In einem winzigen Boot überstanden sie den Sturm, einen Sturm, der sie schließlich auf die „Insel der steinernen Riesen“ spülte. Die Eingeborenen dort gehörten zu den wenigen Bewohnern der Neuen Welt, die noch keine schlechten Erfahrungen mit dem weißen Mann gemacht hatten. Sie waren freundlich, behandelten die Schiffsbrüchigen als Gäste und teilten das wenige mit ihnen, das sie hatten. Gold, Perlen und Edelsteine, das alles interessierte diese braunhäutigen Menschen nicht, die so sanft und heiter waren und dennoch zu kämpfen verstanden. Ein Jahr lang lebten die drei Männer auf der Insel der Steinernen Riesen. Dann starb der junge Portugiese an einer rätselhaften Krankheit. Bald darauf tauchte zum erstenmal ein Schiff am Horizont auf. Zum erstenmal statteten andere Weiße der Insel einen Besuch ab. Spanische Piraten! Männer, die nichts anderes im Sinn hatten als zu rauben, zu plündern und zu morden. Das war der Zeitpunkt, als London-Joe seinen Teil des Schatzes auf der Insel versteckte und die Karte zeichnete. Er und Jack Henry kämpften Seite an Seite mit den Eingeborenen gegen die fremden Eindringlinge. Einmal holten die Piraten sich blutige Köpfe. Aber sie kehrten zurück, und diesmal waren sie besser vorbereitet. Jack Henry wurde schwer verletzt und sein Anteil an dem Schatz geraubt. London-Joe geriet in die Gefangenschaft der Piraten, und das war das letzte, was sein Freund jemals von ihm gehört hatte.
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Irgendwie mußte es Bills Vater gelungen sein, von dem Piratenschiff zu fliehen und sich nach England durchzuschlagen, wo sein damals fünfjähriger Sohn lebte. Später, als der Junge alt genug war, hatte sein Vater ihn dann mit auf See genommen. Davon aber wußte Jack Henry nichts. Für ihn hatte es nie eine Möglichkeit gegeben, die Insel zu verlassen. Er war hiergeblieben, Jahr um Jahr. Die Eingeborenen hatten ihn als einen der ihren aufgenommen, und heute konnte er sich gar kein anderes Leben mehr vorstellen. Gold und Schätze interessierten ihn nicht, auch diese Weisheit hatte er von den Eingeborenen übernommen. Er war glücklich auf der Insel der Steinernen Riesen. Er wollte nichts anderes. Selbst wenn er sich freute, wieder einmal mit Landsleuten in seiner Heimatsprache sprechen zu können oder ihn manchmal das Heimweh nach England überfiel –zurückkehren würde er niemals. * Bill seufzte tief auf, als der alte Mann an dieser Stelle seiner Erzählung angelangt war. Die anderen Seewölfe starrten den Weißhaarigen ungläubig an. Jack Henry spürte die Blicke und lächelte ein wenig wehmütig. „Nein, ich will nicht zurück“, sagte er. „Seit mehr als zehn Jahren lebe ich hier auf der Insel. Die Polynesier sind zu meinem Volk geworden ...“ „Polynesier?“ fragte Hasard. Jack Henry nickte. „Polynesier, ja. Und ihr irrt euch, wenn ihr diese Menschen für primitive Wilde haltet. Sie leben auf den Inseln westlich von hier. Sie haben ihre eigene Kultur und sind ausgezeichnete Seeleute. Ihr würdet staunen, wenn ihr sähet, wie sie zu navigieren verstehen, sogar ohne einen einzigen Stern am Himmel, Sie benutzen die Strömungsverhältnisse, die Richtung des Wellengangs, der ihnen ganz genau die Lage der einzelnen Inseln verrät. Sie haben
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Methoden, ihren Kurs zu berechnen, von denen wir Engländer nicht einmal träumen.“ „Strömungsverhältnisse?“ fragte Hasard, dessen Interesse sofort hellwach war. Jack Henry lächelte. „Eine Methode, die nur hier im Pazifik funktionieren kann. Jede der vielen Inseln lenkt den großen Hauptstrom in einer ganz bestimmten Weise ab, und die Polynesier wissen das. Sie beobachten nicht den Himmel, sondern Wind und Wasser. Sie brauchen keine Karten, um jedes noch so kleine Riff in ihrem Gebiet zu finden. Und sie verstehen zu kämpfen, obwohl sie friedliche Menschen sind, glückliche, heitere Menschen.“ „Heute Nachmittag hätten die glücklichen, heiteren Menschen uns fast massakriert“, stellte der Profos mit seinem grollenden Baß fest. „Stimmt“, sagte Dan O’Flynn. „Da sahen sie zum Fürchten aus. Das heißt - natürlich nicht zum Fürchten, aber...“ Hasard grinste leicht. „Sie haben uns jedenfalls angegriffen. Warum das? Euch haben sie doch damals freundlich aufgenommen, oder?“ Jack Henrys Gesicht verdüsterte sich. Er nickte. „Ja“, sagte er. „Uns haben sie freundlich aufgenommen. Damals hatten sie von weißen Fremden auch noch nichts Böses erfahren. Aber jetzt sind die Spanier da.“ „Spanier? Hier in dieser Gegend?“ Jack Henry nickte wieder. Seine Lippen preßten sich zusammen, und wieder kerbten sich die bitteren Linien um seinen Mund. „Spanische Meuterer“, stieß er hervor. „Widerliche, blutrünstige Teufel! Sie haben ihren Kapitän zu den Fischen geschickt und sich auf der Nachbarinsel eingenistet - einer Insel, die sie Sala-yGomez nennen. Die Eingeborenen dort drüben haben sie fast bis zum letzten Mann ausgerottet. Ab und zu segeln sie mit ihrer Galeone hierher zur Insel der Steinernen Riesen, überfallen das Dorf, morden,
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plündern und verschleppen Frauen und Mädchen.“ „Drecksbande!“ knurrte Smoky aus dem Hintergrund. Dan O’Flynn kriegte glitzernde Augen. Matt Davies massierte angelegentlich seinen Haken, den er vor jedem Gefecht nachzuschleifen pflegte. Er wechselte einen verständnisinnigen Blick mit Jeff Bowie, der ebenfalls eine solche Prothese trug, seit ihm Piranhas die Linke aufgefressen hatten. Ed Carberry, der eiserne Profos, schob ruckartig sein Rammkinn vor. „Spanier?“ fragte er. „Auf der Nachbarinsel?“ Hasard verbiß sich ein Grinsen. Er wußte, daß Carberry der festen Überzeugung war, schon viel zu lange keinem Spanier mehr die Haut von einem gewissen edlen Körperteil gezogen zu haben: Eine Überzeugung, die vom Rest der Crew zweifellos geteilt wurde. Sie alle wirkten in diesen Sekunden wie angeleinte Jagdhunde, die den Fuchs gewittert haben. Jack Henry zog die Brauen zusammen, als er die funkelnden Augen ringsum bemerkte. Dann hob er die Schultern und lächelte wieder sein wissendes, ein wenig wehmütiges Lächeln. „Ja, auch wir würden sie am liebsten ins Meer jagen“, sagte er leise. „Aber sie sind zu stark und zu gut bewaffnet.“ Mit einem bitteren Lächeln wies er auf die altmodische Steinschloß-Pistole an seinem Gürtel. „Das ist die einzige Schußwaffe, über die wir verfügen. Und die Waffen der Polynesier sind für die Spanier nur Spielzeug. Ich habe getan, was ich konnte, aber viel hat es nicht genutzt. Wir leben noch, das bedeutet schon viel, wenn man bedenkt, was den Eingeborenen der Nachbarinsel geschehen ist.“ „Die Spanier haben ein Schiff?“ fragte Hasard. „Eine Galeone, ja. Die ,Maria Mercedes’. Und Carlos Ingarra, der selbsternannte Capitan, ist ein blutrünstiger Teufel. Seit er hier sein Unwesen treibt, hassen die Polynesier alle Weißen.“ Jack Henry breitete die Arme aus und kehrte die
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Handflächen nach oben. „Mich kennen sie. Ich bin einer der ihren. Aber nicht einmal ich konnte verhindern, daß sie sich auf euch stürzten.“ „Du hast es versucht?“ „Ja, ich habe es versucht“, sagte Jack Henry ernst. „Aber ich habe damals auch versucht, friedlich mit Carlos Ingarra und seinen Leuten auszukommen, und das endete mit Tod und Verderben. Ich würde euch gern helfen. London-Joes Sohn hat ein Anrecht auf den Schatz. Der Schatz ist sein Erbe, und ich wünschte, daß ich ihm dazu verhelfen könnte. Aber ich kann es nicht. Die Eingeborenen würden mir nicht glauben. Es würde nicht ohne Kampf abgehen.“ Für einen Moment blieb es still. Bill war es, der als erster wieder sprach. Das Gesicht des schmächtigen Bürschchens wirkte ungewöhnlich ernst, und seine Stimme klang entschlossen. „Ich will das Gold nicht! Nicht, wenn wir es mit Gewalt von der Insel holen müssen. Ich will nicht, daß wegen dieses Schatzes Blut fließt!“ Jack Henry lächelte. Hasard sah den schmalen schwarzhaarigen Jungen an und hielt seinen Blick fest. Fünfzehn Jahre alt war er. Aber er hatte in seinem jungen Leben schon genug erlebt und erlitten, um zu wissen, daß auch Gold nicht viel mehr war als glitzernder Dreck und daß es Dinge gab, die mehr zählten. „Hast du dir das auch richtig überlegt, Bill?“ fragte der Seewolf ruhig. „Ja“, sagte der Junge. „Das habe ich mir überlegt. Ich bin dabei, wenn’s darum geht, gegen die Spanier zu kämpfen. Aber ich will nicht wegen dieses Schatzes gegen Leute kämpfen, die nichts weiter als in Frieden leben wollen. Das ist es nicht wert. Ich meine — es ist ja nur — also ich meine ...“ Er verhaspelte sich. Daß Menschenleben mehr zählten als Gold und Reichtum, das wußte er. zwar, aber er schaffte es nicht so recht, seine Gedanken in Worte zu fassen. Hasard lächelte und legte ihm die Hand auf die Schultern.
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„Schon gut, Junge. Wir verstehen, was du meinst.“ Und zu dem weißhaarigen alten Mann: „Wir werden die Insel morgen früh verlassen, Mister Henry. Und Sie? Sind Sie sicher, daß Sie hierbleiben wollen?“ Jack Henry lächelte. „Ja“, sagte er. „Ich bin völlig sicher. Ich habe eine Familie hier, Frau und Kinder. Die Insel ist meine Heimat, und die Polynesier sind mein Volk. Daran läßt sich nach all den Jahren nichts mehr ändern.“ Der Seewolf nickte nur. Er verstand den alten Mann und akzeptierte dessen Entscheidung. Er akzeptierte auch die Entscheidung, die Bill getroffen hatte. Er fand sogar, daß es die einzig richtige Entscheidung gewesen war, und sie bestärkte ihn in der Überzeugung, daß sie es ganz sicher niemals bereuen würden, den schmächtigen schwarzhaarigen Jungen in die Crew aufgenommen zu haben. Erst zwei Stunden später, nach einem langen Gespräch bei Sternenlicht und kreisender Rumflasche, wurde Jack Henry mit dem Beiboot wieder an Land gebracht. Die Seewölfe waren davon überzeugt, daß sie den weißbärtigen alten Mann nie wiedersehen würden. Sie konnten nicht ahnen, wie sehr sie sich irrten. 5. Auch über die Insel, die die Spanier Salay-Gomez nannten, warf das Sternenlicht seinen fahlen silbernen Schleier. Diego Ingarra hockte in seiner primitiven Hütte und schüttete unverdünnten Rum in sich hinein. Die „Maria Mercedes“ war noch nicht zurück. Diegos Bruder Carlos befehligte das Schiff, seit sie den Capitan in einem winzigen Beiboot mitten im Pazifik ausgesetzt hatten. Statt der spanischen Flagge führten sie jetzt ein schwarzes Tuch mit einem weißen Totenkopf — seit jeher das Zeichen von Freibeutern und Piraten. Viel gab es allerdings in der Umgebung dieser abgelegenen Insel nicht zu erbeuten. Nur selten verirrten sich Schiffe hierher.
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Zu den Küsten von Chile und Argentinien zu segeln, verbot sich: die „Maria Mercedes“ wurde sicher längst vermißt, und die Meuterer hatten von ihren Landsleuten keinerlei Gnade zu erwarten. Diego Ingarra griff sich unwillkürlich an den Hals, als er daran dachte. Einmal mehr stellte er sich die Frage, ob vielleicht schon nach der „Maria Mercedes“ gesucht wurde, ob nicht doch eines Tages ein spanischer Konvoi hier auftauchen würde, um Gericht zu halten. Feine Schweißperlen bildeten sich auf Diego Ingarras Stirn. Er griff nach der Muck mit dem Rum. Nur noch Unmengen von Alkohol brachten es fertig, ihn so tief schlafen zu lassen, daß er nicht von dieser Stunde des Gerichts träumte. Immer wieder sah er sich dann unter dem Galgen stehen und fühlte den rauhen Hanf der Schlinge am Hals, die sich enger und enger um seine Kehle zusammenzog, ihm die Luft abdrückte und ihn erstickte. Mit einem wilden Ruck sprang Diego Ingarra von der umgedrehten Kiste hoch, auf der er gesessen hatte. Sein Atem ging keuchend, die geröteten, blutunterlaufenen Augen flackerten. Er war ein großer, schlanker Mann. Früher, als zweiter Offizier auf der „Maria Mercedes“, war er eine elegante Erscheinung gewesen, ein Typ, der Selbstbewußtsein und Energie ausstrahlte und auf Frauen wirkte. Jetzt war er kein spanischer Offizier mehr, sondern ein heruntergekommener Meuterer und Pirat. Der viele Rum hatte sein Gesicht aufgedunsen, die ewige Angst seine Bewegungen fahrig werden lassen. Diego Ingarra befand sich auf dem Weg abwärts, und er wußte es — auch ohne die abschätzigen Blicke, die ihm sein Bruder manchmal zuwarf. Hundertmal schon hatte Diego bereut, auf den Plan eingegangen zu sein, sich die „Maria Mercedes“ mit ihrer Silberladung unter den Nagel zu reißen. Was nutzte ihnen das Silber, da sie sich doch nirgends hinwagen durften, wo sie es ausgeben konnten? Was nutzte ihnen die Beute, die sie machten? Was würde ihnen das
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sagenhafte Gold nutzen, das angeblich auf der Insel der Steinernen Riesen versteckt sein sollte? Es gab keinen Platz für sie zum Leben außer Sala-y-Gomez. Sie hatten Reichtum und Luxus gewollt und dafür ein Verbrechen begangen. Was sie erhalten hatten, waren Hitze, Langeweile, ein primitives Leben und die Aussicht, eines Tages an einem spanischen Galgen zu baumeln. Diego Ingarra knirschte mit den Zähnen. Seine Hände zitterten, als er noch einmal nach der Rumflasche griff und die Muck von neuem füllte. Mit einem langen Schluck leerte er sie zur Hälfte, dann ging er schwankend zur Tür. „Juan!“ brüllte er. „Manuel!“ „Si?“ ertönte es aus dem Halbdunkel. „Bringt die verdammte Indianerhure her! Sofort! Aber paßt auf! Laßt das Biest nicht entwischen!“ „Si ...“ Bewegung entstand zwischen den Felsen, die das kleine Camp zum Meer hin abdeckten. Dort oben hielten sich stets zwei Wachtposten auf, um die See zu beobachten — nach Osten hin, wo sehr fern das Festland lag. Manchmal schliefen die Posten, manchmal betranken sie sich. Aber niemand wäre auf die Idee verfallen, diesen Wachtdienst aufzugeben. Zu tief steckte den Männern die Furcht vor der Entdeckung und vor der Strafe in den Knochen. Aus schmalen, trunken glänzenden Augen beobachtete Diego Ingarra, wie die beiden Seeleute quer über den Platz zwischen den primitiven Hütten gingen. Feuer glommen, aber nur wenige Männer hockten zusammen und ließen die Rumflaschen kreisen. Die meisten waren mit der „Maria Mercedes“ draußen. Carlos Ingarra hatte nur gerade so viele zurückgelassen, wie nötig waren, um die Stellung zu halten und die wenigen Eingeborenen zu bewachen, die sie am Leben gelassen hatten, damit sie für sie arbeiteten. Ein paar Männer, ein halbes Dutzend Frauen und Mädchen. Luana war die schönste von ihnen. Luana, die sie bei dem letzten Überfall auf die
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Insel der Steinernen Riesen mitgeschleppt hatten. Diego Ingarra grinste und leckte sich die Lippen. Schwankend ging er zu der umgedrehten Kiste zurück und trank die Muck mit dem Rum leer. Er dachte an das Mädchen, das seine Leute jetzt hierherbringen würden. Luana! Eine Häuptlingstocher war sie, das. hatte Carlos mit Hilfe von Zeichen aus einem der Eingeborenen von Sala-y-Gomez herausgebracht. Carlos wollte sie als Geisel behalten, um vor einem Überfall der Kerle von der Nachbarinsel sicher zu sein. Aber wo, zum Teufel, stand geschrieben, daß man sich mit einer Geisel nicht einen kleinen Spaß erlauben durfte? Diego Ingarra grinste verzerrt. Seit das Mädchen hier war, spukte sie ihm im Kopf herum. Carlos hatte verboten, sie anzufassen. Es seien genug andere Weiber da, hatte er gesagt. Aber keine der anderen Frauen konnte sich mit Luana vergleichen, und Diego war überzeugt davon, daß sein Bruder diesen Leckerbissen lediglich für sich selber aufsparen wollte. Aber nicht mit mir, dachte er. Mich legst du auf diese krumme Tour nicht herein, mein lieber Bruder! Er kniff die Augen zusammen und spähte zur Tür. Sein Atem beschleunigte sich, als er draußen Schritte wahrnahm. Er hatte kein Geschrei und keinerlei Geräusche gehört, die darauf schließen ließen, daß Juana und Manuel Gewalt anwenden mußten. Diese Eingeborenenmädchen waren still und fügsam, zu fügsam. Sie hatten sich in ihr Schicksal ergeben und retteten sich in völlige Teilnahmslosigkeit. Diego Ingarra hatte gehofft, daß Luana, die Häuptlingstochter, eine Ausnahme darstellen würde, und fast war ein wenig enttäuscht, als die beiden abgerissenen, zerlumpten Männer sie durch die Tür in die Hütte schoben. Sie war groß und schlank, wie alle Mädchen von den Inseln. Ein buntes, geschlungenes Tuch aus dem Stoff, auf dessen Herstellung sich die
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Eingeborenen so ausgezeichnet verstanden, umschloß den braunen, weichen Körper. Diego Ingarras Blick tastete über die Linien der langen Schenkel, der runden Hüften und der straffen Brüste, über denen der Stoff spannte. Luanas Haut schimmerte wie dunkles Gold, das braune Haar glänzte wie poliertes Holz und fiel glatt und schlicht auf die nackten Schultern. Diegos gieriger Blick haftete immer noch an den runden Brüsten, als er auf das Mädchen zutrat, und daher entging ihm der Ausdruck kalter Entschlossenheit in Luanas Zügen. Sie war nur äußerlich das schmiegsame, sanftäugige Geschöpf, das sich nicht zu wehren vermochte. Tief auf dem Grund ihrer Augen brannte der Haß wie eine Flamme. Haß auf die Männer, die ihr Volk überfallen, geschunden und ausgeplündert hatten, die wie die Teufel der Hölle über die friedlichen Inseln hergefallen waren und vor keiner Schandtat zurückschreckten. Luana wußte, was der betrunkene, schwankende Mann dort von ihr wollte. Niemals würde sie es dulden, lieber wollte sie sterben. Sterben —oder töten! Luanas Lider senkten sich, aber sie sah den funkelnden Griff des Dolches vor sich, den Diego Ingarra am Gürtel trug. Seine Augen glitzerten vor Gier. Mit einer Handbewegung scheuchte er Juan und Manuel davon. Die Tür der Hütte fiel zu. Diego Ingarras Lippen verzerrten sich, und seine Hände griffen nach den Schultern des Mädchens. „Komm, Täubchen! Wehr dich ruhig! Ich liebe Wildkatzen! Komm her!“ Mit einem keuchenden Atemzug riß er das Mädchen an sich. Ihr Körper war weich und nachgiebig. Sie versuchte nicht, sich zu wehren. Diego spürte den Druck ihrer Brüste und durch den dünnen, farbigen Stoff die Wärme ihrer Haut. Jähe, unkontrollierte Gier raste durch seine Adern wie eine heiße Woge. Seine Finger krallten sich in Luanas Fleisch. Stoff riß, Sekunden später hingen nur noch Fetzen um den nackten braunen
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Oberkörper der Frau. Sie bog den Kopf zurück, als Diego sie zu küssen versuchte. Keuchend griff er fester zu. Seine Lippen preßten sich auf Luanas Hals, und seine gierigen -Hände wanderten abwärts. „Wehr. dich!“ keuchte er. „Ich will, daß du dich wehrst, verdammt noch mal, ich ...“ Luana wehrte sich. Ganz plötzlich. Und völlig anders, als Diego Ingarra es erwartet hatte. Mit einer schlangengleichen Bewegung glitt ihre rechte Hand zur Hüfte des Mannes. Blitzartig schlossen sich ihre Finger um den Griff des Dolchs und rissen die Waffe aus der Scheide. Diego zuckte zusammen. Er begriff, er fühlte die Gefahr. Sein Gesicht ver- zerrte sich, aber er war zu betrunken, um schnell genug zu reagieren. In der Sekunde in der er zurückweichen wollte, stieß das Mädchen zu. Tief drang die lange, schmale Klinge des Dolches in Diegos Rücken. Sein Körper versteifte sich. Scharf sog er die Luft ein, seine Lider zogen sich auseinander, bis das Weiß der Augäpfel gespenstisch in dem braunen Gesicht leuchtete. Diego Ingarra riß den Mund auf und wollte schreien, aber seine Augen brachen, noch ehe ein Laut über seine Lippen drang. Wie vom Blitz gefällt brach der große Mann zusammen. Luana sprang zurück und starrte mit angehaltenem Atem auf den leblosen Körper. Diego lag auf der Seite. Der Griff des Dolchs ragte aus seinem Rücken, nur wenig Blut trat aus der Wunde. Die schlanke, biegsame Klinge mußte genau ins Herz gedrungen sein. Langsam atmete das Mädchen Luana aus. Ihre dunklen Samtaugen funkelten, mit einer Geste voll unbewußter Wildheit warf sie das lange dunkle Haar auf den Rücken. Ihre Kleidung bestand nur noch aus Fetzen, aber darauf verschwendete sie keinen Gedanken. Sie wußte, daß sie noch nicht gewonnen hatte. Sie ahnte, was ihr geschehen würde, wenn die Kumpane des Spaniers sie auf der Insel erwischten. Zwei, drei Sekunden lang starrte sie Diego Ingarras verkrümmte Gestalt an, als könne
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sie immer noch nicht glauben, daß er wirklich tot war, dann wandte sie sich mit einer geschmeidigen Bewegung ab und glitt zur Tür. Draußen war alles ruhig. In einiger Entfernung hockten ein paar Männer am Feuer und unterhielten sich träge, die beiden Wachtposten waren wieder in die Felsen hinaufgeklettert. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Meer, dem östlichen Horizont. Luana wußte es, obwohl sie nie den Grund dafür begriffen hatte. Die Insel der Steinernen Riesen lag im Süden, aber nach dort Ausschau zu halten, schienen die Spanier überflüssig zu finden. Gefahr, eine unbekannte Gefahr befürchteten sie nur von Osten, von jenem großen, geheimnisvollen Land her, das Luana aus den Erzählungen des alten Jack Henry kannte. Ein paar Minuten verharrte das Mädchen reglos und lauschte, dann öffnete sie die Tür noch ein Stück weiter und ließ sich vorsichtig auf Hände und Knie nieder. Lautlos und geschmeidig wie eine Schlange glitt sie nach draußen. Sekunden später tauchte sie in den tiefen Schlagschatten der Hütte. Ein Bach murmelte in der Nähe. Sträucher, Dornenranken und einzelne Felsbrocken bildeten ein undurchdringliches Dickicht. Undurchdringlich jedenfalls für jemanden. der die Geheimnisse dieser Landschaft nicht kannte. Luana kannte sie. Dicht auf den Boden gepreßt schob sie sich weiter und glitt in das Gebüsch. Zwischen der feuchten, duftenden Erde und den verfilzten Matten aus Schlingpflanzen fand sie Raum genug, um sich vorwärts zu bewegen. Die murmelnden Stimmen der Männer verklangen hinter ihr. Luana richtete sich auf und spähte aufmerksam in die Runde. Palmen wiegten sich im Wind, das trockene Rascheln der aneinander reibenden Wedel war das einzige Geräusch außer dem steten Rauschen und Brausen der Brandung. Luana wußte, wohin sie sich wenden mußte. Der Schatten zwischen den Palmen nahm sie auf. Sie durchquerte eine
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langgestreckte Senke und klomm einen Hang hinauf. Dann tauchte sie in ein Gewirr aus schroffen, von unbekannten Naturgewalten durcheinander gewürfelten Felsen, die sich bis zur anderen Seite der Insel hinzogen. Sie brauchte fast eine Stunde, dann hatte sie den Saum des Plateaus erreicht, wo die Klippen steil zum Meer hin abfielen. Wind kühlte ihr erhitztes Gesicht und zerrte an den Fetzen ihrer Kleidung. Luana lächelte. Sie blickte über das Meer, das im Licht unzähliger Sterne wie flüssiges Silber schimmerte. Eine volle Minute verharrte sie und schien den Anblick in sich hineinzutrinken, dann atmete sie tief durch und begann den Abstieg. Niemand, der ihn nicht kannte, hätte den Weg nach unten ohne weiteres gefunden. Luana kannte ihn. Nicht aus eigener Anschauung, aber aus der Beschreibung, die ihr die letzten Überlebenden der Inselbevölkerung gegeben hatten. Luana empfand Mitleid mit diesen Menschen, die das Leben von Sklaven führen mußten. Sie waren zu wenige, um sich gegen den Terror der Spanier wehren zu können. Und dennoch dachten sie an Widerstand und träumten von der Stunde, da sie es den Mördern ihrer Väter und Brüder, den Schändern ihrer Frauen, Schwestern und Töchter heimzahlen würden. Im Laufe der Zeit war es ihnen gelungen, ein paar primitive Waffen herzustellen und zu verstecken. Auch einige Boote hatten sie vor dem Zugriff der Spanier gerettet, und eins davon holte Luana jetzt aus seinem Versteck zwischen den Felsen. Es war im lockeren Sand eingegraben. Luana brauchte eine halbe Stunde, um es mit bloßen Händen freizuschaufeln. Ihr Herz hämmerte. Immer wieder blickte sie hinauf zum Klippenrand. Wie lange konnte es noch dauern, bis die Spanier den Toten in der Hütte entdeckten? Und wenn sie ihn entdeckt hatten, würden sie ihre Spur finden, ihr folgen, sie vielleicht abfangen bevor sie verschwunden war? Luana hörte auf zu denken, Sie arbeitete stumm und verbissen weiter, mit einer Kraft, die niemand in dem schlanken,
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mädchenhaften Körper vermutet hätte. Ihre braune Haut glänzte vor Schweiß. Keuchend begann sie, den leichten Katamaran über den Strand zu zerren. Fast ging es über ihre Kraft, aber schließlich schaffte sie es doch, das Auslegerboot ins Wasser zu bringen. Eine weitere Viertelstunde brauchte sie, um den Mast aufzurichten und das Segel zu setzen — ein braunes Segel, mit dem Saft einer Pflanze gefärbt, damit es in der Dunkelheit nicht auffiel. Irgendjemand, wußte Luana, hatte auf dieses versteckte Boot seine Hoffnung gesetzt und vielleicht irgendwann damit fliehen wollen, so wie sie jetzt damit floh. Sie durfte nicht daran denken. Sie kämpfte um ihr Leben. Und um mehr als das, denn sie wußte nur zu gut, daß die weißen Teufel ihr Dinge antun würden, die schlimmer als der Tod waren. Ein erleichtertes Lächeln flog über ihr Gesicht, als der leichte Wind das Segel füllte. Das Boot glitt aus der Bucht. Es gewann das offene Meer und nahm rasch Fahrt auf. Luanas Blick wanderte zu der Insel zurück. Sie seufzte erleichtert auf, als sie bemerkte, daß dort noch alles ruhig war. Niemand hatte bis jetzt den Toten gefunden. Niemand würde ihr folgen, sie hatte guten Wind — Und sie würde nicht lange brauchen, um die Insel der Steinernen Riesen zu erreichen. Flüchtig nur dachte sie an die „Maria Mercedes“, die irgendwo in der Nähe kreuzen mußte. Carlos Ingarra! Sein knochiges Gesicht erschien vor Luanas Augen. Er war schlimmer als sein Bruder, wilder, grausamer. Wenn er Diegos Tod entdeckte, würde er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie, Luana, wieder einzufangen. Und dann’? Das Mädchen schauerte. Ein Zittern lief über ihren schlanken Körper. Hastig wandte sie den Blick von der Insel ab, starrte geradeaus in die Nacht und zwang sich, nicht mehr an Carlos
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Ingarra und seine weißen Teufel zu denken. 6. Früh am nächsten Morgen ging die „Isabella“ ankerauf. Jack Henry, der Engländer, hatte doch noch etwas für die Seewölfe erreicht. Zwar weigerten sich die kriegerischen Polynesier nach wie vor, Fremde auf ihrer Insel zu dulden, „weiße Teufel“, wie sie nach ihren Erfahrungen mit den Spaniern alle Europäer nannten, aber immerhin hatten sie sich von Jack Henry überreden lassen, Gefäße mit Frischwasser an den Strand zu schleppen, so daß die „Isabella“-Crew ihre Vorräte ergänzen konnte. Der weißbärtige Engländer stand hoch oben zwischen den riesigen Steinfiguren, als der ranke Segler unter Vollzeug aus der Bucht lief. Der alte Mann winkte, und Hasard grüßte zurück. Dabei sah er aus den Augenwinkeln, daß Bill, der Schiffsjunge, wie versunken unten auf der Kuhl am Schanzkleid stand. Hasard war nicht der einzige, der das bemerkte, aber nicht einmal Edwin Carberry, der eiserne Profos, zeigte Anstalten, den Jungen deswegen anzupfeifen. Der Seewolf konnte sich vorstellen, was in Bill vorging. Sicher trauerte er nicht dem verlorenen Schatz nach. Aber er dachte an seinen Vater, an die Vergangenheit, die unwiderruflich vorbei war. Vielleicht fragte er sich auch, warum sein Vater erst im Augenblick seines Todes von dem Schatz erzählt hatte. Nach Hasards Überzeugung würde der Junge von selbst die richtige Antwort finden. Der alte Mann hatte nicht gewollt, daß sein Sohn damit begann, ruhelos diesem Gold nachzujagen, das ihm vielleicht nur Unglück bringen würde. Mit einem tiefen Atemzug wandte sich Bill vom Schanzkleid ab. Carberry schob sein zernarbtes Rammkinn vor und tat so, als falle ihm jetzt erst auf, daß da jemand untätig herumstand. „Willst du wohl deine müden Knochen bewegen, du verhungerter Salzhering?“
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brüllte er. „Hopp-hopp, du Decksaffe, oder ich zieh dir die Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch und nagele sie an die Kombüse!“ Bill flitzte. Die empörte Stimme des Kutschers empfahl, der Profos möge die abgezogene Haut gefälligst sonst wohin nageln, aber nicht an die Kombüse, und der Papagei Sir John schrie etwas von „Rübenschweinen“ und „Hurensöhnen“. Die Männer bogen sich vor Lachen. Mit einem raschen Blick stellte Hasard fest, daß auch Bill schon wieder unverschämt grinste. Dan O’Flynn hockte im Großmars, zusammen mit Arwenack, der sich vor dem Zorn des Kutschers dorthin geflüchtet hatte. Der Schimpanse futterte geklaute Rosinen, Dan beobachtete die Kimm. Er hatte immer noch die schärfsten Augen der Crew, und er bemerkte den dunklen Flecken auf dem schimmernden grünen Wasser bereits von weitem. Ein Blick durch das Spektiv zeigte ihm, was es war: ein Katamaran mit braunem Segel. „Deck!“ schrie Dan. „Auslegerboot Backbord voraus!“ Der Seewolf hob den Kopf und spähte in die angegebene Richtung. Es vergingen Minuten, bevor er das leichte Auslegerboot ebenfalls erkennen konnte. Eine schlanke braune Gestalt bediente das Segel. Hasard erkannte das lange dunkle Haar, die Fetzen eines bunten Rockes, und jetzt begriff er auch, wieso es Dan O’Flynn so vollständig die Sprache verschlagen hatte. Ein Mädchen! Eine braunhäutige Südsee-Schönheit, nackt bis zur Taille, schlank und biegsam und mit allen weiblichen Attributen versehen. Ausgesprochen wohlgeratenen weiblichen Attributen, wie das Spektiv verriet. Hasard zog die Brauen zusammen. Warum, zum Teufel, mußten diese Weiber eigentlich immer so sparsam mit dem Stoff umgehen, fragte er sich. Als ob es einem Mann in dieser Gegend nicht schon heiß genug wäre! Der Seewolf fluchte innerlich, aber im nächsten Moment erkannte er, daß
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zumindest das Mädchen auf dem Katamaran den atemberaubenden Anblick durchaus nicht freiwillig bot. Ihre braune Haut war zerschrammt. Blutige Kratzer zogen sich über Schultern und Oberarme. Jemand hatte versucht, ihr die Kleider vom Leib zu reißen und damit auch einigen Erfolg gehabt. Das Mädchen mußte auf der Flucht sein, dachte der Seewolf, auf der Flucht von der Insel Salay-Gomez vermutlich. Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis wurde ihm bewußt, daß er das Spektiv schon seit geraumer Zeit penetrant auf gewisse Rundungen richtete. Himmel-Arsch, dachte er erbittert, während er den Kieker mit einem Ruck ein Stück höher wandern ließ. Ein braunes, furchtverzerrtes Gesicht. Dunkles, glattes Haar fiel wie ein seidiges Vlies auf die nackten Schultern, tiefschwarze Samtaugen starrten der „Isabella“ entgegen. Eine Mischung aus Angst, Verzweiflung und Hoffnung lag in diesen Augen, und Hasard dachte an das, was der alte Jack Henry über die „Maria Mercedes“ und die spanischen Meuterer auf der Nachbarinsel erzählt hatte. Inzwischen war das Mädchen auf dem Boot bereits mit bloßem Auge zu erkennen. „Heiliger Strohsack!“ flüsterte Ed Carberry ergriffen. Matt Davies, Ferris Tucker und ein halbes Dutzend anderer Männer standen wie Ölgötzen. Pete Ballie verrenkte sich im Ruderhaus den Hals, um auch etwas mitzukriegen. Immerhin ließ er das Schiff nicht aus dem Kurs laufen. Hasard schüttelte den Kopf und fragte sich, ob er dafür vielleicht noch dankbar sein solle. „Donegal Daniel O’Flynn!“ schrie er. „Hat es dir die Sprache verschlagen, oder könntest du vielleicht mal ...“ „Deck!“ schrie Dan aus dem Großmars. Und jetzt klang seine Stimme hell und erregt. „Hai Backbord vor--aus! Das Biest greift das Boot an!“ Hasard hatte die schwarze, drohende Dreiecksflosse im selben Augenblick gesehen.
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Das Mädchen auf dem Katamaran fuhr zusammen und schien sich unwillkürlicher tiefer zu ducken. Unmittelbar neben dem Auslegerboot pflügte die dreieckige Flosse durch das grüne Wasser. Wie ein verschwimmender schwarzer Schatten glitt der Hai dahin - ein Riesenexemplar von Hai, wie der Seewolf mit einem einzigen Blick feststellte. Lautlos tauchte das Tier unter das Boot, für einen Moment verschwand es in der Tiefe. „Klar zum Backbrassen!“ peitschte Hasards Stimme. „Blacky, Smoky, Beiboot klarmachen! Herum mit dem Kahn!“ „Aye, aye!“ tönte es zurück. Knirschend wurden die Rahen gegengebraßt, die Segel killten, als der Wind sie backschlug. Die „Isabella“ verlor rasch an Fahrt und lag schließlich fast bewegungslos in der Dünung, während das Boot abgefiert wurde. Hasards Blick hing an dem schlanken, braunhäutigen Körper des Mädchens. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie die Dreiecksflosse an, die von neuem heranglitt. Diesmal streifte der Hai den Ausleger des Boots, hob ihn ein Stück an und ließ das ganze Fahrzeug erzittern, während er daran entlangstrich. Das Beiboot der „Isabella“ latschte aufs Wasser. Hasard, Blacky, Smoky und Stenmark enterten an der Jakobsleiter ab. Für einen Moment hatte der Seewolf den Katamaran aus den Augen gelassen, jetzt sah er gerade noch, wie die -Rückenflosse des Hais unmittelbar neben dem Backbord-Ausleger verschwand. Holz knirschte und schabte. Das Boot hing plötzlich schräg, und was dann geschah, ging so schnell, daß es niemand in allen Einzelheiten beobachten konnte. Die Kraft des Hais hätte nicht gereicht, um das Ausleger-Boot umzukippen, aber das Fahrzeug wurde halb herumgedreht und legte sich quer zum Seegang. Mit einem erschrockenen Schrei sprang das braunhäutige Mädchen auf. Gleichzeitig killte das Segel und füllte sich dann wieder, als der Wind über den anderen Bug einfiel. Der Katamaran
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krängte schwer nach Lee über - und mit einem neuerlichen Schrei verlor das Mädchen das Gleichgewicht. Hart schlug ihr Körper auf das Wasser. Ihr Fuß verfing sich irgendwo, für einen Moment konnte Hasard das verzerrte Gesicht sehen, die von Entsetzen geweiteten Augen. Einer der Kratzer auf der braunen Haut hatte wieder zu bluten begonnen. Das Mädchen wußte es - und grelle, panische Todesangst zerschlug ihre Beherrschung. Statt sich zurück auf den Katamaran zu retten, schwamm sie auf das Beiboot der „Isabella“ zu - weg von dem Hai, dessen schwarze Dreiecksflosse jetzt wieder auftauchte. Lautlos und elegant schwang das Tier herum. Pfeilschnell schoß der schwarze Leib durch das grüne Wasser. Das Mädchen hatte keine Chance mehr. Es hätte nicht einmal dann eine Chance gehabt, wenn es die Nervenkraft aufgebracht hätte, sich völlig still zu verhalten. Sie mußte sich bei dem Sturz von dem Katamaran verletzt haben. Eine dünne rötliche Wolke breitete sich im Wasser aus -Blut. Die Männer der „Isabella“ pullten wie besessen, aber es mußte schon ein Wunder geschehen, wenn sie es noch schaffen wollten, das Mädchen rechtzeitig ins Boot zu ziehen. „Allmächtiger!“ stöhnte Stenmark auf. „Himmel, Arsch und Wolkenbruch!“ preßte Blacky durch die zusammengebissenen Zähne. Das Mädchen warf im Wasser den Kopf herum und sah die schwarze Dreiecksflosse dicht hinter sich. Hell und verzweifelt gellte ihr Schrei in Hasards Ohren. Er wußte, daß es nur noch eine einzige winzige Chance gab. „Achtung!“ schrie er. Dabei sprang er geschmeidig auf und schnellte sich mit einem mächtigen Hechtsprung ins Wasser. Flach tauchte er ein, riß die Augen auf und krümmte seinen Körper, um weiter in die grüne Tiefe vorzustoßen. Schräg über sich
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sah er die wirbelnden, von panischer Furcht bestimmten Bewegungen des Mädchens. Noch knapp drei Yards war der schwarze Schatten des Hais von ihr entfernt. Hasards Faust fuhr zu dem Messer an seinem Gürtel. Er wußte, daß es nur zwei Arten gab, einen Hai zu töten. Entweder man schoß ihm in den Rachen, aber unter Wasser konnte man nicht schießen. Oder man tauchte unter ihn, griff ihn an und versuchte, ihm mit dem Messer die Kehle aufzureißen, die einzige verwundbare Stelle. Hasard war eiskalt. Mit zwei, drei langen Beinschlägen erreichte er die Stelle zwischen dem Mädchen und dem Hai. Die See um ihn schimmerte wie grünliches Gold, deutlich sah er den schwarzen Leib des Tieres, die glatte Haut, die dreieckige Rückenflosse. Jetzt klaffte der sichelförmige Rachen auf und entblößte die mörderischen Zähne. Der Hai tauchte ab und drehte sich auf den Rücken, um sein Opfer von unten zu packen und in die Tiefe zu ziehen. Hasard warf die Arme nach vorn und schnellte sich mit einer kraftvollen Bewegung aufwärts. Da war das Biest! Zum Greifen nahe! Jetzt erst; in dieser Sekunde, schien es den neuen Gegner zu bemerken, ließ sich ablenken und drehte sich mit einer geschmeidigen Bewegung von neuem herum. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte Hasard die Berührung der glatten, kalten Haut und fühlte die eisenharten Muskeln. Weit klaffte der Kiefer mit den scharfen Sägezähnen auseinander. Hasard visierte die Stelle unmittelbar unter diesem fürchterlichen Rachen an, holte aus — und stieß zu mit der ganzen Kraft, die er unter Wasser aufbrachte. Er spürte, wie die Klinge eindrang. Mit einem wilden Ruck führte er sie nach links, dann nach rechts und riß die Kehle des Hais auf. Eine rote Wolke strömte aus der Wunde. Der schwarze Leib krümmte sich und schnellte herum. Das Messer glitt ab. Immer noch klaffte der entsetzliche
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Kiefer auseinander. Verzweifelt warf sich der Seewolf zurück und versuchte, auf Tiefe zu gehen. über ihm schienen die Gewalten der Hölle auszubrechen. Die See kochte: ein blutiger, rasender Wirbel, in dessen Zentrum sich der schwarze Leib des Hais in wilden Zuckungen wand. Ein heftiger Schlag der peitschenden Schwanzflosse fegte Hasard zur Seite. Feuerräder kreisten vor seinen Augen, seine Lungen drohten zu platzen. Zwei, drei mechanische Schwimmbewegungen trugen ihn weg von der rasenden Bestie, und dann sah er plötzlich einen Schatten neben sich und fühlte sich von harten Fäusten am Arm gepackt und nach oben gezogen. Sekunden später schwang er sich über das Dollbord des Beiboots. Das Mädchen hatten Blacky und Stenmark schon aus dem Wasser gefischt. Es lag blutend und bewußtlos zwischen den Duchten. Hasard zog Smoky ins Boot. Der war es nämlich gewesen, der seinem Kapitän nachgesprungen war, als er im Wasser plötzlich nur noch einen blutigen Wirbel sehen konnte. Kopfschüttelnd starrte der Seewolf dorthin, wo die Trümmer des Katamarans in einer roten Wolke schwammen. Der Hai hatte das Auslegerboot in seinem Todeskampf kurz und klein geschlagen. Jetzt würde es nur noch Minuten dauern, bis das Blut die anderen Räuber anlockte und sie begannen, sich um den Kadaver ihres toten Artgenossen zu balgen. Hasard klopfte Smoky auf die Schulter und grinste mit blitzenden Zähnen. Blacky und Stenmark pullten schon wieder. Achteraus schossen aus drei, vier verschiedenen Richtungen schwarze Flossen heran, und ein blutiger, kochender Wirbel blieb hinter ihnen. Big Old Shane und Batuti holten das Boot mitsamt dem bewußtlosen Mädchen an Bord, während die anderen an der Jakobsleiter aufenterten. Der Kutscher hatte schon vorsorglich ein paar Decken auf der Kuhl ausgebreitet. Behutsam wurde das Mädchen darauf gebettet. Wasser hatte sie nicht geschluckt,
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wie Blacky und Stenmark versicherten. Der Kutscher nickte zufrieden, breitete eine weitere Decke über das Mädchen und tränkte dann einen sauberen Lappen mit Rum, um ihr damit die Lippen zu benetzen. Der scharfe Geruch des Alkohols brachte sie binnen einer halben Minute wieder zu sich. Ausnahmsweise blieb die Rumbuddel unbeachtet stehen. Die Männer schielten nicht auf den Schnaps, sondern auf das, was sich unter der dünnen Decke abzeichnete. Das Mädchen regte sich, stöhnte und schlug dann die Augen auf. Mit einem wirren, angstvollen Blick gingen ihre Augen in die Runde. Hasard lächelte beruhigend. Er nahm an, daß das Mädchen auf der Insel der Steinernen Riesen zu Hause war. Oder auf Sala-y-Gomez. Und daß sie entweder ein paar Brocken Englisch von Jack Henry aufgeschnappt hatte oder etwas Spanisch von den Meuterern. Immerhin konnte man es ja mal versuchen. „Engländer“, sagte er langsam und eindringlich. „Ingles ! Freunde!“ Ihre Lider flatterten. Sie hatte sehr große, dunkle Augen und lange Wimpern, an denen winzige Wassertropfen wie Perlen glitzerten. „Engländer?“ wiederholte sie flüsternd. Hasard nickte. „Freunde“, bekräftigte er. „Freunde von Jack Henry.“ „Jekenri ...“ Sie wiederholte den Namen mit seltsamer Betonung. Ein scheues Lächeln geisterte über ihre Lippen. „Jekenri - guter Mann.“ Einen Moment zögerte sie, dann bewegte sie den Arm und legte zwei Finger auf die Stirn. „Ich Luana.“ „Luana”, wiederholte Hasard. „Bist du von Sala-y-Gomez geflohen?“ Das Mädchen runzelte die Stirn. Sie verstand nicht. Aber in dem Blick, mit dem sie die Männer ansah, lag jetzt aufkeimendes Vertrauen. „Jekenri“, flüsterte sie. „Luana - Jekenri .“ „Ja“, sagte Hasard ruhig. „Wir werden dich zu Jack Henry bringen.“ Und mit einem tiefen Atemzug: „An die Brassen und
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Schoten! Klar zum Wenden! Wir segeln zurück!“ 7. „Ach, du liebe Zeit“, sagte Ben Brighton ergriffen. Hasard starrte zu der Bucht mit den Steinriesen und zu den Gestalten hinüber, die zwischen den Statuen zwar wie winzige Zwerge wirkten, aber wie höchst gefährliche Zwerge. Denn sie waren bis an die Zähne bewaffnet und offenbar entschlossen, den fremden Eindringlingen das Betreten ihrer Insel mit allen Mitteln zu verwehren. „Wetten, daß die da oben irgendwelche Steinschleudern haben?“ fragte Ferris Tucker, der die technischen Möglichkeiten einer Sache immer am schnellsten erfaßte. Hasard warf ihm einen schiefen Blick zu. „Da kannst du recht haben. Jack Henry hat uns ja selbst erzählt, daß er den Eingeborenen alles Mögliche beigebracht hat.“ Und lauter: ,He, Kutscher! Bring das Mädchen in Deck!“ „Aye, aye, Sir!“ Ein Schott schwang auf. Mit stolz geschwellter Brust reichte der Kutscher dem Mädchen den Arm. Er verstieg sich sogar zu einem höchst galanten Kratzfuß, was auf den Planken des schaukelnden Schiffs allerdings etwas mißglückte. Luana lächelte. Das rote Stoffstück, das sie trug, mußte aus den unergründlichen Geheimvorräten des Kutschers stammen, und sie hatte es auf eine Art um den Körper gewickelt, die ihre weiblichen Formen zugleich verhüllte und betonte. Ben Brighton schluckte, und die Männer auf der Kuhl kriegten Stielaugen. „Beiboot klarmachen!“ befahl Hasard. Und als das nicht sofort klappte, tobte der Profos los: „Wollt ihr wohl anpacken“ ihr Rübenschweine, oder muß ich euch anlüften? Hopp-hopp, Männer! Smoky, ist die verdammte Vorleine noch nicht angeschlagen? Batuti, Blacky, hängt ihr euch jetzt in die Talje, oder soll ich euch mal erzählen, was ich mit euren verdammten Affenär ...“
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Gerade noch rechtzeitig war ihm eingefallen, daß sie eine Lady an Bord hatten auch wenn sich die Sprachkenntnisse der Lady bestimmt nicht auf die Körperteile von Affen erstreckten. Carberry wurde tatsächlich rot. Er warf dem Papagei Sir John einen wütenden Blick zu, weil der das bewußte Wort lautstark und mit Vergnügen in die Gegend schrie. Hasard grinste still vor sich hin. Luana schenkte dem Profos ein strahlendes Lächeln, worauf der noch dunkler anlief. Ein paar Minuten später saß die braunhäutige Schöne im Boot, Hasard übernahm die Pinne, und Carberry, Ferris Tucker, Blacky und Batuti pullten zum Strand hinüber. Oben an den Rändern der Steilhänge standen immer noch die wilden, braunhäutigen Gestalten. Hasard hielt nach Jack Henry Ausschau. Dort oben stand er: neben einem Koloß von Mann, der größer als Batuti und mindestens doppelt so schwer war. Er trug einen Lendenschurz aus buntgefärbtem Baumbast, Muschel- und Federketten, Armreifen, eine Menge Klimbim, der ihn von den übrigen Kriegern unterschied. Hasard vermutete den Häuptling in ihm, und gleich darauf erhielt er die Bestätigung. „Häuptling“, sagte das Mädchen lächelnd. „Vater von Luana!“ Dann warf sie den Kopf zurück und rief mit ihrer weichen, glockenreinen Stimme etwas in ihrer Heimatsprache zu den Klippen hinauf. Der Koloß antwortete. Wieder sprach Luana und begleitete ihr Sätze mit ein paar Gesten, die Hasard, die Männer im Boot und die „Isabella“ umfaßten. Ein paarmal wiederholte sie ein Wort, das der Seewolf erst beim drittenmal als seinen Namen identifizierte: Kili-Gru. Jack Henry — oder Jekenri — kam ebenfalls vor. Die Haltung der Krieger dort oben zwischen den Felsen verlor etwas von der feierlichen Starre. Schließlich redeten sie alle aufgeregt gestikulierend durcheinander.
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Zwei Minuten später enterten Jack Henry und ein halbes Dutzend Krieger über die Klippen ab. Der weißhaarige alte Mann lächelte. Aber er tat es feierlich. Offenbar war er als Kurier losgeschickt worden und hatte sich als solcher zu be- nehmen. Mit zwei Fingern berührte er seine Stirn und vollführte eine Verneigung. „Häuptling Kualama entbietet dir seinen Gruß, Kapitän Killigrew“, sagte er. „Der Häuptling wird gleich persönlich erscheinen, um Seine Tochter in Empfang zu nehmen und dir seinen Dank abzustatten.“ Er legte eine Pause ein, und jetzt wurde sein Lächeln breiter. „Nach allem, was passiert ist, wird der Häuptling euch zweifellos gestatten, auf der Insel nach Bills Schatz zu suchen. Aber vorher gibt er euch zu Ehren ein großes Fest. Ihr dürft die Einladung nicht ausschlagen. Der Häuptling wäre tödlich beleidigt.“ Hasard hatte ohnehin nicht vor, die Einladung auszuschlagen. Das konnte er seinen Männern nicht antun. Außerdem, überlegte er, mußten sie ohnehin auf den schwarzen Segler warten. Denn irgendwann würden zweifellos auch Thorfin Njal und die Rote Korsarin die Insel der Steinernen Riesen finden. * Die Kapitänskammer des schwarzen Seglers war nicht gerade klein, aber jetzt wirkte sie winzig. Das lag daran, daß der Wikinger vor dem Schott stand. Wo Thorfin Njals fellumhüllte Hünengestalt mit dem struppigen rötlich-grauen Bart und dem zerbeulten Kupferhelm auftauchte, da schien auch der größte Raum zusammenzuschrumpfen. Siri-Tong beugte sich über die alte, vergilbte Karte. Als sie den Kopf hob, hatten sich ihre dunklen Mandelaugen zu schmalen, glitzernden Sicheln verengt. Mit einer raschen Bewegung warf sie die schwarze Mähne auf den Rücken. „Schau dir die Karte an“, sagte sie. „Wenn sie auch nur halbwegs stimmt, sind wir so
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ziemlich in der ödesten, abgelegensten Ecke der sieben Meere gelandet.“ Sie tippte auf zwei Punkte der Karte. „Irgendwo zwischen hier und hier. Die Angaben auf der Karte sind ungenau, deshalb können wir uns auch nicht auf unsere Berechnungen verlassen. Fest steht, daß es außer diesen beiden Inselchen weit und breit nichts gibt.“ „Wenn es diese verdammten Inseln überhaupt gibt“, brummte der Wikinger. Siri-Tong verzog die Lippen. „Die muß es schon deshalb geben, weil sonst keine spanische Galeone hier herumkreuzen würde. Jedenfalls kein so verlotterter Kahn“, setzte sie hinzu. „Da kannst du recht haben. Also sehen wir zu, daß wir eine der Inseln finden.“ Die Rote Korsarin nickte. Eine der Inseln, wiederholte sie in Gedanken. Und die „Isabella“ und die Seewölfe. Noch hatten sie keine Spur von ihren Verbündeten entdeckt. Aber noch hatten sie auch keine Gelegenheit gehabt, zu suchen. Der „Eilige Drache über den Wassern“ war von dem Sturm schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, und es hatte seine Zeit gebraucht, die Schäden einigermaßen mit Bordmitteln zu beheben. Ein paar Minuten später standen Siri-Tong und der Wikinger wieder auf dem Achterkastell. Der schwarze Segler lag beigedreht in der sanften Dünung. Endlos dehnte sich die Wasserfläche unter dem blauen, wolkenlosen Himmel. Der Ausguck im Hauptmars war besetzt, Diego Valeras suchte beständig mit dem Spektiv die Kimm ab. Aber bis jetzt hatte er nichts entdeckt außer den opalisierenden Schleiern, die die Linie zwischen Himmel und Wasser verwischten. Der Boston-Mann enterte den Niedergang hoch. Sein Ohrring funkelte in der Sonne. Er grinste verwegen. „Klar Schiff zum Weitersegeln“, meldete er. „Der ,Drache’ ist wieder wie neu“, setzte er hinzu, was bei seiner üblichen Wortkargheit schon eine beachtlich lange Rede war.
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Siri-Tong nickte. Ihr Gesicht hatte sich gespannt. Die Flügel der kleinen, energischen Nase vibrierten leicht. „Übernimm das Ruder, Boston-Mann“, ordnete sie an. Und dann, als der schlanke schwarzhaarige Mann am Kolderstock stand: „An die Fallen! Heißt auf Fock und Großsegel! Setzt Blinde und Besan! Die Marssegel heißt vor!“ Knatternd entfaltete sich das Tuch. Der Wind fiel in die Segel und blähte sie, als die Rahen vierkant gebraßt wurden. Der Boston-Mann legte Ruder. Und Siri-Tongs lange schwarze Mähne flatterte, als der schwarze Segler unter Vollzeug vor dem Wind nach Westen lief. 8. „Kawa“, erklärte Jack Henry leise. „Wird aus den Wurzeln eines Pfefferstrauchs hergestellt. Und nur zu ganz besonders feierlichen Anlässen getrunken.“ Hasard nickte und lächelte Luana an, die ihm die flache Schale mit dem Festgetränk der Polynesier reichte. Luana strahlte. Sie hatte sich verwandelt und trug jetzt Hibiscusblüten im Haar und ein Hüfttuch aus jenem bunten Stoff, den die Polynesier aus einer Art Bast herstellten. Und oben herum hingen ein paar klimpernde Muschelketten. Die gleichen Ketten, die zarte Mädchenhände jedem der Seewölfe zur feierlichen Begrüßung um den Hals gehängt hatten. Nur, daß es eben ein kleiner, aber bedeutsamer Unterschied war, ob so ein Nichts von Kettchen von einem Mann oder einer Frau als einziges Kleidungsstück oberhalb der Gürtellinie getragen wurde. Hasard fluchte innerlich und hielt sich an den Kawa. Das Zeug war säuerlich, sehr erfrischend und leicht berauschend. Oder auch schwer berauschend — je nachdem, wie viel man davon trank. Die Polynesier hatten Unmengen zubereitet. Und sie schleppten immer mehr herbei, was zum Teil sicherlich daran lag, daß sie offenbar noch nie einen bezechten Schimpansen gesehen hatten und sich königlich amüsierten.
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Kualama, der fette Häuptling, thronte inmitten seines Gefolges, schlug sich immer wieder vergnügt auf die Schenkel und soff mit Arwenack um die Wette. Die Seewölfe beteiligten sich hingebungsvoll an dem Wettstreit. Blacky, Smoky und Stenmark hatten glasige Augen. Matt Davies hockte in einem Kreis von kichernden SüdseeSchönen und ließ seine Armprothese bewundern, während Jeff Bowie zum Entzücken der Zuschauer mit seinem Haken ein Tomtom bearbeitete und ihm ganz neue Klänge entlockte. Feuer flackerten und tauchten die Gesichter in rötlichen Widerschein. Immer wieder wurden aus den Hütten des Dorfes neue Köstlichkeiten herbeigeschleppt — und Hasard dachte mit leisem Bedauern an Pete Ballie und Batuti, die Pech gehabt hatten, als ausgelost worden war, wer auf der „Isabella“ die Wache übernehmen sollte. Ferris Tucker, Ed Carberry und Big Old Shane schütteten den Kawa in sich hinein, als sei es Wasser. Bei ihrem Körperbau konnten sie das vertragen. Ganz im Gegensatz zu dem fünfzehnjährigen Bill, der sich für eine Weile sehr stark gefühlt hatte und jetzt ein bißchen blaß um die Nase war. Seine eigene Schuld: er hatte versucht, es Dan O’Flynn nachzumachen und dabei vergessen, daß bei den O’Flynns — jedenfalls nach Dans Behauptung — schon den Babys Rum und Schwarzpulver in die Milch gemischt wurde. Im Augenblick trugen die O’Flynns einen internen Familienwettstreit aus. Donegal Daniel Junior und Donegal Daniel Senior zechten um die Wette. Dabei tauschten sie Erinnerungen aus. Natürlich ging es mal wieder um Old O’Flynns Holzbein, das er früher in Falmouth mit schöner Regelmäßigkeit abgeschnallt hatte, um seinem Sohn damit das Fell zu gerben. „Verdammter Lausebengel!“ dröhnte der Alte. „Faul wie die Sünde und gefräßig wie eine Affenherde. Aber dem habe ich es gezeigt, haha!“
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„Den Teufel hast du!“ protestierte Dan lautstark. „Ha! Bei einem verdammten Pfeffersack wollte er mich in die Lehre stecken, das alte Saufhaus. Aber nicht mit mir! Dem hab ich was gehustet! Dem ...“ „Willst du wohl still sein, du Wanze? Wo bleibt da der Respekt vor dem Alter, he? Denkst du vielleicht, ich kann mein Holzbein nicht immer noch abschnallen, um dir mal wieder, zu zeigen, woher der Wind weht, du Sohn eines ...“ Old O’Flynn stockte und fluchte lästerlich, weil ihm plötzlich klar wurde, daß die geplante Beleidigung unweigerlich auf ihn selbst zurückgefallen wäre. Dan kugelte sich vor Vergnügen im Sand, die anderen stimmten in das dröhnende Gelächter ein, jedenfalls soweit sie zugehört hatten. Und das hatten. durchaus nicht alle — denn inzwischen eine ganze Reihe von ihnen unterwegs, um sich von braunhäutigen, samtäugigen Schönen „das Dorf zeigen“ zu lassen. Hasard fand, daß das nicht ganz die feine englische Art war, bis er Häuptling Kualamas breites, zufriedenes Gesicht sah. Der Häuptling soff zwar ebenfalls wie ein Loch, aber er verfolgte das Geschehen mit durchaus aufmerksamen Augen. Und er schien es gar nicht unpassend, sondern im Gegenteil sehr schmeichelhaft zu finden, daß die Seewölfe an den Töchtern der Südsee Gefallen fanden. Aber konnte man wissen, was er sich dabei dachte? Vielleicht war das, was sich da abspielte, eine Art, wie die Töchter der Südsee nach Landessitte unter die Haube gebracht wurden? Hasard kratzte sich zweifelnd am Kopf und, warf Jack Henry einen hilfesuchenden Blick zu. Der Weißbärtige lächelte. In seinen grünlichen Augen schienen Funken zu tanzen. „Nur keine Sorge“, sagte er leise. „Diese Menschen kennen unsere verklemmten europäischen Moralbegriffe nicht. Für sie ist die Liebe so einfach und klar wie ein erfrischender Trunk Wasser, den man ohne Bedenken und ohne Reue genießt.“ „Sind Sie sicher?“ fragte Hasard zweifelnd.
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„Ganz sicher“, erwiderte Jack Henry. „Nur ein Mann, der ein Mädchen zurückweist, das ihn erwählt hat, der würde sie tödlich in ihrer Ehre beleidigen.“ „Soso“, murmelte Hasard vage. Dabei wurde ihm verdammt heiß, denn es bestand gar kein Zweifel darüber, daß ihm die schöne Luana schon den ganzen Abend verführerische Blicke zuwarf. Eine der braunhäutigen Schönheiten hatte inzwischen die Familienfehde der O’Flynns beendet, indem sie neben Dan glitt, seinen Kopf in ihren Schoß zog und sein blondes Haar streichelte. Old Donegal Daniel verdrehte die Augen und begann einen Monolog über die Jugend von heute. Stenmark, Gary Andrews und Bob Grey hatten ebenfalls Bewunderinnen für ihr fremdartiges blondes Haar gefunden. Und um den rothaarigen Schiffszimmermann drängten sich gleich drei bildhübsche weibliche Wesen, sich gegenseitig mit eifersüchtigen Blicken bedenkend. Was prompt bewirkte, daß Ferris Tucker schon seit geraumer Zeit nicht nur rote Haare, sondern auch rote Ohren hatte. Hasard grinste vor sich hin. Er nahm noch einen Schluck von dem Kawa, und über den Rand der Schale weg sah er, wie Luana mit wiegenden Hüften und lockenden Augen auf ihn zuglitt. Fast verschluckte er sich. „Jack Henry!“ zischte er. „Verdammt noch mal, was du da eben gesagt hast, das gilt ja wohl nicht für Häuptlingstöchter, oder?“ „Doch“, sagte Jack Henry gerührt. „Gerade für Häuptlingstöchter. Kualama es als tödliche Beleidigung und unverzeihliche Verletzung des Gastrechts betrachten, wenn du seiner Tochter einen Korb gibst.“ „Ach du heiliger Strohsack”, murmelte Hasard. Er hörte gerade noch, wie Jack Henry etwas wie „von wegen Strohsack“ und „wunderschöne Hängematte“ in den Bart murmelte, bevor Luana vor ihm stehenblieb, den Kopf neigte und ihn mit einem Blick bedachte, der Eisberge hätte auftauen können und ihm fast die Haut versengte.
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„Kili-Gru“, sagte sie mit ihrer dunklen, melodischen Stimme. „Du guter Mann. Kommen mit Luana, Kili-Gru.“ Philip Hasard Killigrew wollte weder Luana noch ihren Vater tödlich beleidigen und erst recht mit eine unverzeihliche Verletzung des polynesischen Gastrechts begehen, ganz davon abgesehen, daß es auch ohne solche ungeschriebenen Gesetze verdammt schwer gewesen wäre, dieser Luana zu widerstehen. Oder überhaupt unmöglich! Ihre glatte braune Haut schimmerte wie dunkles Gold im Licht der Feuer, die roten Lippen lächelten lockend, in den großen, nachtdunklen Augen lagen alle Versprechen der Welt. Sanft streckte Luana dem großen schwarzhaarigen Mann die Hand entgegen und schmiegte sich an ihn, als er aufstand. „Kommen mit Luana“, wiederholte sie flüsternd. „Liebe ...“ Liebe! So einfach war das. Häuptling Kualama betrachtete seine Tochter und den großen Fremden mit einem wohlgefälligen Lächeln. Ganz offensichtlich entwickelten sich die Dinge zu seiner vollen Zufriedenheit. Hasard hatte allerdings eher das Gefühl, in einer ganz verdammten Falle zu sitzen. Und er bezweifelte immer noch, daß das alles so einfach war, wie der alte Jack Henry behauptete. Luana zerstreute seine Bedenken. Als sie außer Sichtweite der anderen waren, drehte sie sich lächelnd um, hob die Arme und berührte sachte seine Schultern. Ihre Augen schimmerten. „Luana und Kili-Gru“, flüsterte sie. „Heute Liebe, morgen vorbei, morgen -Meer.“ Und ehe der Seewolf irgendetwas darauf antworten konnte, hatte sie schon seinen Kopf zu sich heruntergezogen und preßte ihre heißen Lippen auf seinen Mund. * Unter Fock und Besan segelte die „Maria Mercedes“ in die Bucht, die einen kleinen natürlichen Hafen bildete.
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Der Anker faßte Grund, die restlichen Segel wurden geborgen. Männer hasteten über Deck, um die Boote klarzumachen. Drüben am Strand tanzten Fackeln in der Dunkelheit. Überrascht stellte Carlos Ingarra fest, daß sich ein ziemlich großes Empfangskomitee versammelt hatte. Merkwürdig? Dabei konnten die. Männer in der Dunkelheit doch gar nicht sehen, daß die „Maria Mercedes“ beschädigt war, daß es Feuer an Bord gegeben hatte und daß stundenlange Arbeit nötig gewesen war, um das Ruder zu reparieren. Jetzt war die „Maria Mercedes“ zumindest wieder manövrierfähig, aber um sie endgültig zu überholen, würden sie sich noch einmal kräftig anstrengen müssen. Carlos Ingarra fluchte lautlos. Er war ein großer, knochiger Mann mit schwarzem Haar und scharfen Raubvogelgesicht. Ein Mann, den so leicht nichts umwerfen konnte. Aber er mußte sich eingestehen, daß ihm die Begegnung mit dem unheimlichen schwarzen Segler ganz gewaltig unter die Haut gegangen war. Auch. seine Männer wirkten blaß und übernächtigt, aber dafür hatte Carlos Ingarra keinen Blick, als er wenig später auf der Heckducht des Beiboots hockte und zum Strand hinüberspähte. Die tanzenden Fackeln waren zur Ruhe gelangt, rötlicher Widerschein beleuchtete die Gesichter. Vergeblich hielt Carlos Ingarra nach seinem Bruder Diego Ausschau. Leise Unruhe beschlich ihn, so etwas wie eine böse Ahnung. Sein Gesicht hatte sich gespannt, als er ins seichte Wasser sprang und an Land watete. „Was ist los?“ fragte er ungeduldig. „Irgendetwas passiert?“ Schweigen. Einer der Männer, der drahtige Manuel, nickte beklommen. Carlos Ingarra fühlte einen Stich der Angst. Er dachte an den Kapitän der „Maria Mercedes“, an die Meuterei, an die Gerichte der Spanier, an den Galgen, der in Valparaiso wartete. „Was?“ fauchte er. „Mach’s Maul auf, zum Teufel!“ Manuel rieb sich nervös mit den Fingern über die Schläfe. Das Fackellicht zeichnete
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scharfe Schatten in sein Gesicht und ließ die tiefliegenden Augen unnatürlich glänzen. „Das Mädchen“, sagte er heiser. „Diese Luana ...“ Ingarra fühlte Erleichterung. Was immer geschehen war, es war nicht das, was er gefürchtet hatte. „Und?“ fragte er knapp. „Sie ist geflohen“, sagte Manuel. „Mit einem Auslegerboot, das sie irgendwo versteckt hatte.“ Ingarra starrte ihn ungläubig an. „Das gibt’s doch nicht! Ich hatte befohlen, diese verdammte Hure hinter Schloß und Riegel zu halten, ich ...“ „Dein Bruder“, sagte Manuel heiser. „Er er wollte sie haben. Er hat uns gezwungen, sie zu ihm zu bringen. Wir - wir mußten tun, was er sagte, wir konnten uns nicht weigern.“ Ingarra zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. „Dieser geile Bock! Und dann hat er sie entwischen lassen?“ „Die - sie hat ihm den Dolch abgenommen, Capitan“, sagte Manuel tonlos. „Sie hat ihn erstochen ...“ Carlos Ingarra stand starr. Der Schlag traf ihn voll, und er traf ihn unvorbereitet. In Gedanken war er schon dabei gewesen, seinem jüngeren Bruder die Leviten zu lesen. Er brauchte eine Weile, um die Worte seines Kumpans überhaupt zu erfassen. „Sie -sie hat ihn - erstochen?“ „Ja, Capitan. Er ist tot. Diego ist tot.“ Für einen Moment blieb es still. So still, daß das Rauschen der Brandung plötzlich überlaut erschien, daß deutlich die Atemzüge der Männer zu hören waren, das Singen des Windes in den Felsspalten und das Knarren und Schaben in der Takelage der „Maria Mercedes“. Carlos Ingarra war unter der Sonnenbräune kalkweiß geworden. Seine Lippen zuckten. In einem langen, pfeifenden Atemzug sog er die Luft ein. „Wo?“ fragte er tonlos. „In seiner Hütte. Er hatte Juan und mir befohlen, das Weibstück in seine Hütte zu bringen.“
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Ingarra setzte sich in Bewegung. Er hätte Manuel umgerannt, wenn der nicht hastig zur Seite gewichen wäre. Mit langen Schritten jagte der Capitan auf den Weg zu, der - teilweise von provisorisch in den Stein gehauenen Treppen unterbrochen auf das Plateau hinaufführte. Die anderen Männer folgten ihm, zögernd und langsam. Sie waren überzeugt, daß gleich ein Ausbruch erfolgen würde, bei dem es besser war, sich nicht in der Nähe des großen, knochigen Manns aufzuhalten. Zwischen den Hütten in der geschützten, von Felsen umgebenen Mulde brannte immer noch das Feuer. Ein paar von den versklavten Eingeborenen zogen sich hastig zurück. Sie wußten, was geschehen war, und sie ahnten, daß Ingarras Reaktion auch, sie treffen würde. Aber noch waren die Gedanken des Capitans erstarrt, wie gefroren. Noch wehrte er sich gegen die Wahrheit. Quer durch das Lager ging er auf eine der Hütten zu. Vor der offenen Tür verlangsamten sich seine Schritte. Eine Öllampe brannte im Innern des Raums. Zögernd, gleichsam widerwillig trat Carlos Ingarra näher und blieb auf der Schwelle stehen. Diego lag auf der Seite. Er lag verkrümmt da, einen Arm ausgestreckt, als habe er noch im Tod einen Halt gesucht. Der schlanke, feinziselierte Griff des Dolchs ragte aus seinem Rücken. Nur wenig Blut hatte rings um die Wunde den Stoff des Wamses durchtränkt. Die Klinge mußte Diego direkt ins Herz gedrungen sein. Seine aufgerissenen, gebrochenen Augen schienen den Bruder mit einem seltsam anklagenden, verständnislosen Ausdruck anzustarren. Lange blieb Carlos Ingarra so stehen und blickte auf Diegos Leichnam hinunter. Endlose Minuten verstrichen. Carlos merkte nicht, daß sich seine Männer näherten und einen schweigenden Halbkreis hinter ihm bildeten. Seine Augen hingen an dem Toten. Langsam, ganz langsam begriff er die Wahrheit. Die’
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Erkenntnis, daß Diego wirklich und unwiderruflich tot war, schien sich in sein Gehirn zu senken wie ein weißglühendes Eisen. Er schloß die Augen. Sekundenlang verharrte er völlig reglos und schien tief in sich hineinzulauschen. Nur seine Hände ballten und öffneten sich, ballten und öffneten sich wieder. Unter einem tiefen Atemzug strafften sich seine Schultern, und dann, als er die Lider hob und sich umwandte, war sein Raubvogelgesicht zu einer Maske kalten, unversöhnlichen, vernichtenden Hasses gefroren. „Sie wird sterben“, sagte er tonlos. „Ich werde sie umbringen. Mit eigenen Händen! Und sie wird langsam sterben. Sehr langsam.“ „Aber - aber sie ist doch geflohen“, wagte Manuel einzuwenden. Carlos Ingarra starrte ihn an und zog die Mundwinkel nach unten. Sein Blick wanderte nach Süden, dorthin, wo sich das Meer zwischen Sala-y-Gomez und der Nachbarinsel erstreckte. Ingarras Gesicht wurde noch blasser und wirkte wie aus Stein gehauen. Seine Stimme klang tonlos, eiskalt und unnatürlich ruhig. „Morgen früh“, sagte er. „Morgen früh werden wir zur Insel der Steinernen Riesen segeln und uns diese Hure zurückholen.“ 9. Am nächsten Morgen hatten die meisten Seewölfe begriffen, warum Jack Henry die Insel der Steinernen Riesen nicht mehr verlassen wollte. „Toll“, schwärmte Stenmark. „Traumhaft“, wurde er von Matt Davies übertrumpft. „Habt ihr die Kleine mit den roten Blumen im Haar gesehen, die ...“ „Mann, da fühlt man sich wie im Himmel“, erklärte Dan O’Flynn. „Frühstück an die Hängematte, sogar die Haare kriegt man gekämmt. Dieser Jack Henry ist ein Genießer, sage ich euch! Der hat hier bestimmt seit zehn Jahren keinen Finger mehr zu rühren brauchen!“
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„Dafür hat er auch seit zehn Jahren keine ordentlichen Schiffsplanken mehr unter den Füßen gehabt“, knurrte Ferris Tucker. Hasard, der neben ihm stand, hatte ihn im Verdacht, damit nur von der Tatsache ablenken zu wollen, daß seine roten Haare gleich zwei Südsee-Schönheiten bezaubert hatten. Der Seewolf lächelte matt. Er dachte an Luana, an das sanfte Schaukeln der Hängematte, an den Wind, der den Duft von Hibiscus-Blüten mitgebracht hatte. Auch für ihn war die vergangene Nacht wie ein Traum gewesen. Und er konnte durchaus verstehen, daß die rauhen Kerle der „Isabella“-Crew noch in der Erinnerung verträumte Augen kriegten. Wenigstens die meisten von ihnen. Bill, der Schiffsjunge, hatte nur einen mörderischen Katzenjammer davongetragen. Ed Carberry, Old O’Flynn, Will Thorne und einige andere waren im Laufe der Nacht noch schwer ins Schleudern geraten, als der Häuptling sie zusammen mit Jack Henry zu einer kleinen Privatrunde einlud, wo sich dann herausstellte, daß die Polynesier auch härteren Stoff als ihren Kawa zu brauen verstanden. Das Zeug hatte einen langen, unaussprechlichen Namen und wirkte - so beschrieb es jedenfalls Ed Carberry -wie eine Mischung aus hochprozentigem Jamaica-Rum und Schwarzpulver. Das war genau die Mischung, die alle O’Flynns angeblich schon als Babys in die Milch gemischt bekamen, aber Old Donegal Daniel hatte es trotzdem umgehauen. Er schnarchte, als sei er im Traum dabei, sämtliche nicht vorhandenen Bäume der Insel abzusägen, und er war beim besten Willen nicht wach zu kriegen. „Der wird wieder“, sagte Donegal Daniel großspurig. „Früher hat er manchmal zwei Tage gepennt, wenn ihn der Rappel packte. Und dann wieder da angefangen, wo er aufgehört hatte. Und noch mal zwei Tage gepennt.“ „Sind vier“, sagte Hasard trocken. „Und an der ‚Isabella’ nagt inzwischen der Holzwurm, was?“
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„So was Ähnliches hat dein Alter auch immer zu meinem Alten gesagt“, erklärte Dan. „Und hinterher haben sie dann meistens zusammen einen gehoben.“ „Warum soll der alte O’Flynn eigentlich nicht vier Tage pennen?“ meldete sich Smoky aus dem Hintergrund. Hasard warf ihm einen Blick zu. Smoky klimperte mit den Augendeckeln und setzte ein treuherziges Gesicht auf. „Na ja“, brummte er. „Ich meine bloß wir haben’s ja eigentlich nicht eilig, nicht wahr? Und hier auf der Insel, na ja, es könnte immerhin schlechter sein, nicht?“ „Es könnte immerhin schlechter sein“, wiederholte Hasard mit verdrehten Augen. „Heiliger Strohsack! Und in drei Tagen beschließt ihr dann, euch mit den Töchtern der Südsee zu verheiraten und einen neuen Stamm zu gründen, was?“ „Nee“, sagte Blacky sachlich. „Aber ‘n paar Tage faulenzen, das wäre doch was!“ Hasard sah von einem zum anderen. Blacky und Smoky, Stenmark, Matt Davies und Jeff Bowie, Gary Andrews und Bob Grey, Sam Roskill und Luke Morgan — sie alle strahlten zustimmend. Dan O’Flynn brauchte er nicht erst zu fragen, Pete Ballie und Batuti drüben auf der „Isabella“ auch nicht. Ferris Tucker kratzte sich verlegen am Kopf. Der Kutscher und Bill sahen so aus, als ob sie überhaupt noch nicht richtig durchblickten. Nur Ed Carberry, der eiserne Profos, brummelte etwas von „verdammten faulen Himmelhunden“ vor sich hin, aber gemessen an seiner sonstigen Tonart brummelte er es sehr leise und gar nicht überzeugend. „Wir müssen ohnehin auf den schwarzen Segler warten“, gab Ben Brighton zu bedenken. „Thorfin und Siri-Tong werden sicher versuchen, eine der Inseln zu finden. Vielleicht wäre es gar nicht so falsch, für ein paar Tage hierzubleiben.“ Hasard grinste breit. Er mußte sich eingestehen, daß seine eigenen Gedanken in eine ganz ähnliche Richtung gelaufen waren. Nur hatte er sich selbst in dem Verdacht gehabt, daß da der Wunsch der Vater des Gedanken sei. Aber
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wenn sogar Ben Brighton, der nüchterne, besonnene Bootsmann es sagte, mußte es ja wohl stimmen. „Gut“, sagte er. „Warten wir also hier auf Thorfin und die Korsarin. Aber vergeßt nicht, daß sie unter Umständen heute schon hier aufkreuzen könnten. Und bis dahin, denke ich, sollten wir wenigstens Bills Schatz gefunden haben.“ Bills Schatz! Das Stichwort ließ die Männer ruckartig die Köpfe heben. Den Schatz hatten die meisten über den Ereignissen der vergangenen Nacht völlig vergessen. Jetzt fiel ihnen diese ganze geheimnisvolle Geschichte wieder ein und sogar Bill dachte nicht mehr an seinen Katzenjammer, sondern sprang mit funkelnden Augen auf die Füße. „Das Gold, natürlich!“ rief er. „Wir wollen gleich gehen! Ich kann’s kaum noch abwarten!“ „Ich bin dabei!“ „Ich ebenfalls ...“ Auch Dan O’Flynn und Sam Roskill waren aufgesprungen. Ihre Augen funkelten genauso unternehmungslustig wie die des Schiffsjungen. Hasard grinste in sich hinein. Er wußte, was vor allem Bill bewegte. Nicht die Gier nach Gold, nicht der Wunsch, reich zu werden. Das Abenteuer war es, das ihn lockte. Schatzsuche — für einen Jungen seines Alters mußte das ein geradezu magisches Wort sein, dessen Anreiz er nicht zu widerstehen vermochte. „Also Bill, Dan und Sam“, sagte Hasard lachend. „Ich komme ebenfalls mit. Wer noch?“ „Ich natürlich!“ brummte der unverwüstliche Profos, obwohl er mindestens ebensoviel von dem unaussprechlichen polynesischen Schnaps getrunken hatte wie Old O’Flynn. Bob Grey und Jeff Bowie meldeten sich ebenfalls. Hasard ließ Pete Ballie und Batuti auf der „Isabella“ ablösen. Da sich Bill und Dan an der Schatzsuche beteiligten, durfte natürlich auch der schwarze Herkules aus Gambia nicht fehlen.
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Der alte Jack Henry gesellte sich ebenfalls dazu. Er kannte die Insel, und er erklärte sich bereit, die Seewölfe zu führen. Zusammen mit Hasard studierte er die Karte, die Bills Vater gezeichnet hatte, und eine Viertelstunde später brachen sie auf. Es wurde ein beschwerlicher Marsch. Auf der Karte hatte die Entfernung nicht einmal besonders weit ausgesehen, aber die Karte verriet auch nicht, daß der Weg durch enge Schluchten, über scharfkantiges Geröll, über eine wüstenartige, backofenheiße Ebene führte. Die Seewölfe schwitzten den Kawa aus, den Schnaps mit dem unaussprechlichen Namen und jeden Tropfen sonstiger Flüssigkeit. Daß sie sich auf Jack Henrys Anraten reichlich mit Wasser eingedeckt hatten, erwies sich jetzt als höchst nützlich. Ihre Vorräte gingen rapide zur Neige, und sie waren froh, daß sie gegen Mittag auf einen Bach stießen, wo sie rasten und die Flaschen auffüllen konnten. Ganz so paradiesisch wie in der vergangenen Nacht erschien ihnen diese kahle, baumlose Insel nun nicht mehr. Während sie Früchte und getrockneten Fisch aßen und dazu das kühle, frische Wasser tranken, erzählte Jack Henry von seinen polynesischen Freunden, von ihren Sitten und Gebräuchen, von ihrem ausgeglichenen Wesen, das spielerische Heiterkeit und Kampfgeist gleichermaßen kannte. Und Hasard und seine Männer mußten dutzendweise Fragen nach Old England beantworten. Fragen, die Jack Henry teilweise schon während des Festes gestellt hatte und die er jetzt wiederholte, um sich zu vergewissern, daß ihm der KawaRausch keinen Streich gespielt hatte. Im Schatten eines schmalen Canyons gingen sie weiter, fast zwei Stunden noch. Schließlich, am Rande eines runden, erloschenen Kraters, blieben sie stehen. „Hier“, sagte Hasard, während er zu der gigantischen Steinfigur hinübersah, die in der Mitte des Kraters stand. „Und wo hier?“ fragte Sam Roskill, der ehemalige Karibik-Pirat mit dem dunklen
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Haar und den funkelnden schwarzen Augen. Das war aus der Karte nicht genau zu ersehen. Sie zeigte den Krater und das Kreuz, das Bills Vater quer darüber gezeichnet hatte. Ein Kreuz, dessen Schnittpunkt ziemlich weit nach Westen gerutscht war – zufällig, wie Hasard annahm. Denn dort am westlichen Kraterrand gab es nur heißen Staub und Geröll, und wenn der Schnittpunkt des Kreuzes das genaue Versteck des Schatzes bezeichnet hätte, wären zumindest noch ein paar genauere Maßangaben nötig gewesen, um die Stelle zu finden. „O verdammt“, brummte Carberry, der Hasard und Jack Henry über die Schultern gesehen hatte. „Scheint so, als müßten wir den halben Krater umbuddeln, was, wie?“ Und lauter: „Ho, ihr Rübenschweine! Lüftet mal eure verdammten faulen Affenärsche an und ...“ „Langsam!“ Der Seewolf grinste. „Manchmal ist Denken besser als Buddeln, Ed. Überleg mal! Wenn du irgendetwas in diesem Krater vergraben hättest – würdest du es unter Umständen auch nach Jahren noch wiederfinden?“ „Klar“, sagte der Profos. „Und wieso?“ „Weil ich mir ein Zeichen machen würde. Oder ‘ne gedachte Linie zwischen zwei markanten Punkten ziehen und die Schritte abzählen.“ „Und wenn du dann eine Karte von dem Versteck zeichnest, würdest du die gedachte Linie und die Schrittzahl eintragen, nicht wahr?“ „Auf der Karte gibt’s aber nichts dergleichen“, stellte der Profos fest. „Eben. Und deshalb müssen wir davon ausgehen, daß Bills Vater den Schatz an irgendeinem markanten Punkt versteckt hat.“ Für einen Moment blieb es still. Die Männer sahen aus schmalen Augen in die Runde. Der richtige Gedanke kam ihnen fast allen gleichzeitig. „Der steinerne Riese“, sagte Sam Roskill, der drahtige Karibik-Pirat.
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„Klar!“ knurrte der Profos. „Fragt sich nur, wo? Vor dem schwarzen Riesen, hinter ihm, links, rechts?“ „Genau unter seiner Nase“, entschied Hasard. „Da werden wir jedenfalls den ersten Versuch unternehmen. Also los, Leute! Wer vorhin am lautesten ‚Hier’ geschrien hat, kann ja jetzt mal anfangen, zu graben.“ Dan O’Flynn sah ein, daß er es gewesen war, der am lautesten „Hier“ gerufen hatte. Außerdem brannte er darauf, den Spaten zu schwingen und den Schatz möglichst eigenhändig zu finden. Schwungvoll stieß er das Eisenblatt in den staubigen Boden – so schwungvoll, daß er beinahe den Spatenstiel zerbrochen hätte. Es gab ein helles, metallisches Geräusch. „Felsen“, sagte Dan, wobei er nicht gerade intelligent aussah. „Natürlich Felsen“, sagte Hasard. „Vielleicht könntest du zunächst mal ein bißchen den Boden abklopfen. Wenn du dann auf eine lockere Stelle stößt, kannst du ziemlich sicher sein, daß es die richtige ist.“ Dan nickte nur. In den nächsten Minuten ging er etwas vorsichtiger mit dem Spaten um. Und tatsächlich fand er im Schatten des steinernen Riesen eine Stelle, wo der Boden nicht aus Felsen bestand, sondern nur von lockerem Geröll durchsetzt war. Genau an diesem Punkt begann er zu graben. Ed Carberry wollte ihn nach einer Weile ablösen, aber Dan schüttelte nur den Kopf, obwohl ihm der Schweiß bereits in Strömen über die Haut lief. Seine Augen funkelten. Die anderen sahen ihm gespannt zu und rückten unwillkürlich näher, als das helle Klirren von Metall auf Metall verriet, daß Dan etwas gefunden hatte. „Eine Kiste!“ stieß der junge O’Flynn hervor. „Es ist tatsächlich eine Kiste!“ „Das es kein alter Stiefel ist, hab ich mir gedacht“, meinte Carberry. Dan schoß ihm einen vernichtenden Blick zu und buddelte weiter. Nach einer Weile warf er den Spaten zur Seite und begann, mit den Händen Staub
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und loses Geröll wegzuscharren. Sam Roskill beugte sich vor, um ihm zu helfen, Jeff Bowie schob seine Hakenprothese unter eine Kante der Kiste. Gemeinsam ruckten und rüttelten sie an dem Ding und zerrten es zwischen den Steinbrocken hervor. Eine Staubwolke wirbelte auf, als sie die Kiste endgültig aus dem Loch befreiten und auf dem Boden absetzten. Es war eine kleine Kiste mit gewölbtem Deckel, rostigen Eisenbeschlägen und einem mächtigen, ebenfalls verrosteten. Schloß. Der passende Schlüssel war nicht vorhanden. Aber die Seewölfe hatten das entsprechende Werkzeug mitgebracht. Schweigend setzte Ed Carberry das schmale Ende der Brechstange unter den Deckel der Kiste und griff nach dem schweren Hammer. Ein paar kraftvolle Schläge schon knirschte Holz und rieb sich der Bügel des Schlosses in der Öse des Überfalls. Der Profos trieb die Brechstange noch weiter unter den Deckel, dann lehnte er sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Die Beschläge knackten. Es waren breite, stabile Eisenbänder und ein ebenso stabiles Schloß, aber Ed Carberry, der hünenhafte Profos, war schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden. Ein tiefer Atemzug, ein Spannen der mächtigen Muskeln und mit einem kurzen, schrillen Quietschen gab das Schloß nach. Der Deckel der Kiste sprang ein Stück auf. Carberry zog den Bügel des nutzlosen Schlosses aus der Öse, öffnete den Deckel vollends und verharrte mit einem tiefen Atemzug. Funkelnde Reflexe glitten über sein zernarbtes Gesicht. Die Reflexe von purem Gold, das in der Sonne gleißte, dessen Glanz sich mit dem kalten Strahlen von Silbermünzen mischte, mit dem Blitzen und Funkeln der Edelsteine und dem sanften Schimmer kostbarer Perlen. Bis zum Rand war die Kiste mit Kostbarkeiten angefüllt. Für einen Augenblick standen die Seewölfe sprachlos vor all den Reichtümern.
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Der Profos faßte sich als erster. Er atmete tief durch, stemmte die Fäuste in die Hüften und schob sein Rammkinn vor. „Was steht ihr da und glotzt?“ knurrte er tief in der Kehle. „Glaubt ihr, das Zeug wird über die Insel schweben, was, wie? Angefaßt, Leute! Wir müssen schleppen! Und wer fußkrank wird, kriegt Zunder, so war ich Edwin Carberry heiße!“ * Die „Maria Mercedes“ glitt von Norden an die Insel der Steinernen Riesen heran und lief in eine der versteckten Buchten. Zwölf Männer gingen von Bord. Carlos Ingarra übernahm persönlich die Führung. Er kannte die Insel. Mit einer bis an die Zähne bewaffneten Gruppe hätte er ohne viel Federlesens über das Dorf der Polynesier herfallen können, aber ihm ging es vor allem um die Frau, die seinen Bruder getötet hatte. Er ließ seine Männer ausschwärmen. Das Dorf lag in tiefem Frieden. Niemand bemerkte die schwer bewaffneten Kerle, die sich lautlos heranpirschten und die Hütten einkreisten. Eine halbe Stunde dauerte es, bis jeder auf seinem Posten war. Carlos Ingarra bildete zusammen mit Juan, Manuel und einem dritten Mann einen Stoßtrupp. Die Hütte des Häuptlings war größer als die anderen und nicht zu übersehen. Ingarra und sein kleiner Trupp pirschten sich vorsichtig heran. Sie rechneten nicht damit, daß sie völlig unbemerkt bleiben würden. Aber sie schafften es immerhin, bis in die unmittelbare Nähe von Häuptling Kualamas Hütte zu gelangen, bevor sie entdeckt wurden. Der Polynesier, der fast über die stolperte, stieß einen schrillen Schrei aus, bevor Manuels Dolch ihm die Kehle durchbohrte. Ingarra wußte, daß der Schrei in Sekundenschnelle das Dorf alarmieren würde. Der selbsternannte Capitan gab einen Schuß ab - den Musketenschuß, der für seine Leute das Zeichen zum Angriff war. Ringsum schnellten die Spanier aus ihren Verstecken hoch. Während Ingarra
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die Lage beobachtete, stürmten Manuel und Juan in die Hütte des Häuptlings, um sich Luana zu schnappen. Bis dahin war alles völlig glatt gelaufen. Ein böses Lächeln flog über Ingarras Gesicht, als er Luanas Schrei hörte und beobachtete, wie seine Männer das widerstrebende Mädchen aus der Hütte zerrten. Schüsse fielen, Schreie gellten auf. Ingarras Blick glitt weiter - und im nächsten Augenblick gefror das Grinsen auf seinen Lippen. Männer stürzten aus den Hütten oder schnellten von den schattigen Plätzen hoch, wo sie sich ausgeruht hatten. Weiße Männer. Kräftige, wilde Kerle, nicht weniger gut bewaffnet als die Spanier -und mit Gesichtern, in denen die Wut über den heimtückischen Überfall deutlich genug zu sehen war. Ingarra sah einen riesenhaften rothaarigen Mann, der eine mächtige Axt schwang und sich auf eine Gruppe von Spaniern stürzte. Einer von Ingarras Leuten brüllte auf, als vor ihm eine Gestalt mit einem mörderischen Haken anstelle der rechten Hand hochschnellte. Entermesser und Säbel wurden geschwungen, Pistolen abgefeuert. Ein breitschultriger, untersetzter Mann mit dunkelblondem Haar schrie Befehle in englischer Sprache und bemühte sich, Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Jählings begriff Carlos Ingarra, daß die Sache völlig anders lief, als er geglaubt hatte, und er und seine Leute in eine Falle geraten waren. Kalte Furcht angesichts dieser wie rasend kämpfenden Fremden krampfte ihm den Magen zusammen. Flucht - das war sein einziger Gedanke. Carlos Ingarra, der Meuterer-Kapitän, warf sich auf dem Absatz herum und begann zu laufen, als sei der Teufel selber hinter ihm her. 10. Will Thorne und Al Conroy, der Stückmeister, winkten von der Kuhl der
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„Isabella“ herüber, als sich das Boot mit den acht .Männern vom Strand löste. Dan paßte auf die Kiste auf. Seine aufgeregten Armbewegungen verrieten den Kameraden an Bord schon von weitem, daß sie Erfolg gehabt hatten. Der weißhaarige Segelmacher grinste, verschwand von der Kuhl und kehrte wenig später mit einer Leine zurück, die er über das Schanzkleid warf. Gemeinsam mit dem Stückmeister hievte er die Kiste hoch, während die anderen an der Jakobsleiter aufenterten. Bills Schatz, so war beschlossen worden, sollte vorerst zu den anderen Kostbarkeiten gebracht werden, die an Bord der „Isabella“ versteckt waren und als Reserve für die lange Reise dienten. Der Schiffsjunge strahlte. Im Gegensatz zu den anderen Seewölfen hatte er noch nicht allzu oft Gelegenheit gehabt, Perlen, Gold und Edelsteine zu bewundern. Die riesenhafte Beute, die auf der Schlangeninsel versteckt war, erschien ihm noch heute wie ein Traum. Hasard hatte ihm geraten, sich gründlich zu überlegen, was er mit seinem Schatz anfangen wolle, aber Bill brauchte nicht zu überlegen. Der Inhalt der Kiste würde sein Beitrag zu dem unermeßlichen Schatz auf der Schlangen-Insel sein. Ein Schatz, von dem jedem Mann der Crew ein bestimmter Anteil zustand. „Fabelhaft“, meinte Will Thorne staunend. „In England könntest du damit bis zum Ende deiner Tage sorglos und in Saus und Braus leben.“ „Ich will aber nicht sorglos leben“, sagte Bill. „Jedenfalls nicht in Saus und Braus. Ich meine - ich will hierbieben, ich …“ Die anderen wußten, was Bill meinte. Aber sie kamen nicht mehr dazu, darüber zu sprechen. Denn im selben Augenblick peitschten drüben auf der Insel die ersten Schüsse auf. Hasard hob mit einem Ruck den Kopf und starrte zur Küste hinüber. Sehen konnte er nichts, nur die Steinfiguren aus schwarzem Tuff, die gleichgültig wie eh und je aufs Meer hinaussahen. Aber es gab keinen Zweifel
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daran, daß dort drüben gekämpft wurde und es gab auch keinen Zweifel über die Frage, wer gegen wen. „Spanier!“ stieß Ed Carberry durch die Zähne. Und der riesenhafte Gamiba-Neger schlug die Faust in die offene Handfläche: „Schnell zurück! Batuti verdammten Dons Haut von Affenarsch ziehen!“ Hasard grinste. Ein flüchtiges Grinsen, das sofort wieder erlosch. Er ahnte, daß seine Männer zwar nicht gerade im Schlaf, aber auch bestimmt nicht im Zustand erhöhter Kampfbereitschaft überrascht worden waren. Während Carberry und Batuti erneut das Beiboot klarmachten, preßte er hart die Lippen zusammen. Außer Will Thorne und Al Conroy ließ er Bob Grey und Jeff Bowie auf der „Isabella“ zurück. Die beiden waren zwar nicht begeistert und hätten sich viel lieber mit in den Kampf gestürzt, aber sie sahen ein, daß das Schiff in dieser Situation nicht unbewacht bleiben durfte. Bill übernahm die Pinne, Hasard und die anderen pullten. „Hool weg! Hool weg!“ schallte die Donnerstimme des Profos über das Wasser. Minuten später zogen sie das Boot auf den Strand. Das heftige Musketenfeuer war verstummt, nur noch vereinzelt peitschten Schüsse. Schüsse, die sich immer weiter entfernten. Was sich jetzt abspielte, schien mehr eine Verfolgungsjagd als ein Kampf zu sein. Fragte sich nur, wer wen verfolgte. Hasard biß die Zähne zusammen, übernahm die Spitze und begann hastig den Aufstieg durch den Steilhang zum Hochplateau. Bis zum Dorf der Eingeborenen war es nur eine knappe Viertelstunde Marsch. Die Seewölfe legten die Strecke im Lauf schritt zurück und schafften es in der Hälfte der Zeit. Immer noch wurde geschossen. Aus dem Dorf klang Geschrei herüber, und als die Seewölfe die ersten Hütten sahen, konnten sie die Stimme des alten Donegal O’Flynn erkennen. Er fluchte ausdauernd und lästerlich.
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Dazwischen war wieder Geschrei zu hören, das Gejammer von Frauenstimme, außerdem Jack Henrys Baß, der irgendetwas in der Sprache der Polynesier rief. Für einen Augenblick wehte von der anderen Seite der Insel konzentriertes Musketenfeuer herüber. Ein tremolierender Schrei erklang - der Kriegsschrei der Eingeborenen, den die Seewölfe schon einmal bei ihrer Ankunft auf der Insel gehört hatten. „Himmel, Arsch und Wirbelsturm!“ brüllte Old O’Flynn. „Mein Holzbein! Wo, bei allen Teufeln der Hölle, ist das verdammte Holzbein? He, ihr braunhäutigen Affen! Mein Holzbein! Ich brauch mein Holzbein, ihr Himmelhunde, ihr Rübenschweine, ihr gottverdammten Pökelheringe ...“ Hasard mußte grinsen. Dans Augen funkelten. „Typisch für den Alten“, flüsterte er hingerissen. „Er konnte es mal wieder nicht lassen, sein fabelhaftes Holzbein vorzuführen. Und jetzt ...“ Was jetzt los war, sahen sie im nächsten Augenblick mit eigenen Augen. Old O’Flynn hüpfte wie ein wild gewordener Derwisch auf seinen Krücken herum und suchte das Holzbein, das er abgeschnallt hatte. Die Eingeborenen gestikulierten aufgeregt, eine Gruppe von Kriegern machte sich abmarschbereit. Niemand hatte Zeit, sich um den alten O’Flynn zu kümmern. Er atmete auf, als er die Seewölfe heranstürmen ah - und begann dann, um so lästerlicher zu fluchen, als er feststellte, daß auch Hasard und seine Gruppe nicht in der Verfassung waren, sich mit der Suche nach einem Holzbein aufzuhalten. Hasard schnappte sich Jack Henry, der im Gegensatz zu Old O’Flynn durchaus noch den Eindruck erweckte, als sei er fähig, einen klaren Satz herauszubringen. Der weißhaarige alte Mann brauchte denn auch nur wenige Worte, um die Lage zu umreißen. „Die verfluchten spanischen Meuterer! Sie sind wie die Teufel über uns hergefallen. Ein paar Mann entführten Luana aus der Hütte ihres Vaters. Als die Männer von der ‚Isabella’ auftauchten, gerieten die Spanier
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zwar in Panik und zeigten die Fußsohlen, aber das Mädchen hatten sie schon geschnappt.“ „Hölle!“ knirschte Hasard. „Und wo sind sie jetzt?“ „Geflohen! Sie haben sich in kleine Gruppen geteilt - eine verdammt raffinierte Methode. Ihre Männer haben die Verfolgung aufgenommen. Aber der Himmel mag wissen, ob sie es noch schaffen, den Kerlen Luana wieder abzujagen.“ „Richtung?“ „Norden. Die ,Maria Mercedes’ muß in einer der kleinen Buchten liegen. Verdammt, warum haben wir keine Posten aufgestellt? Wir hätten damit rechnen müssen!“ Jack Henry starrte Hasard hilflos an. „Luana hat einen Mann getötet, als sie von Sala-y-Gomez floh“, fügte er leise hinzu. „Mein Bein!“ schrie Old O’Flynn dazwischen. „Ich will sofort mein Bein wiederhaben, verdammt! Donegal Daniel, du mißratener Hurensohn, willst du mir wohl ...“ Hasard hatte Mühe, ernst zu bleiben. Die Situation war verdammt nicht zum Lachen. „Du bleibst hier, Old O’Flynn“, sagte er sanft. „Reg dich nicht auf! Du hast Zeit genug ...“ „Ich will aber nicht hierbleiben! Ich will den Spaniern mein Holzbein um die Ohren schlagen, zum Donner, ich will ...“ „Du bleibst hier! Das ist ein Befehl, Kapiert?“ „Aye, aye“, knurrte Old O’Flynn erbittert. Er kochte vor Wut. Aber wenn der Seewolf einen ausdrücklichen Befehl gab, dann empfahl es sich dringend, nicht darüber zu diskutieren. Philip Hasard Killigrew konnte da sehr biestig werden. Zwei Minuten später war der kleine Trupp des Seewolfs abmarschbereit. Hasard übernahm die Spitze. Dan und Bill, Sam Roskill, Carberry und Batuti folgten ihm. Ihnen blieb nichts übrig, als die allgemeine Richtung Norden einzuschlagen und zu hoffen, daß sie noch rechtzeitig eintreffen würden, um den Kampf zu entscheiden.
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Das unübersichtliche, felsige Gelände zwischen dem Eingeborenendorf und dem Ankerplatz der „Maria Mercedes“ war erfüllt von Waffenklirren, Schüssen und Geschrei. Die Spanier hatten sich in Gruppen geteilt und versuchten, die Bucht zu erreichen. Die Seewölfe hatten, ebenfalls in kleine Gruppen aufgesplittert, die Verfolgung aufgenommen und gaben sich alle Mühe, ihren Gegnern auf den Hacken zu bleiben. Sie wußten nicht genau, wo die „Maria Mercedes“ lag, sie kannten nicht einmal die genaue Zahl ihrer Gegner. Da sie keine Zeit gehabt hatten, sich untereinander abzusprechen, folgten sie einer einfachen Taktik: immer geradeaus, dem lautesten Geschrei nach. Wo sie auf Spanier trafen, machten sie kurzen Prozeß. Der erste größere Zusammenstoß entwickelte sich etwa auf halber Strecke. Dort hatte Carlos Ingarra fünf Mann zurückgelassen, die die Verfolger aufhalten sollten. Sie kauerten zwischen den Felsen, lauerten mit angehaltenem Atem, bis die erste Gruppe der Seewölfe heran war, und stürzten sich mit Gebrüll aus ihren Verstecken in den schmalen Hohlweg. „Arwenack!“ schrie der blonde Stenmark. „Arwenack!“ fielen Matt Davies, Pete Ballie, Big Old Shane und der Kutscher ein — und im Nu war ein wilder, verbissener Kampf Mann gegen Mann im Gange. Der Kutscher konnte endlich mal so, wie er wollte. Er war Koch und Feldscher auf der „Isabella“, ein dunkelblonder, etwas schmalbrüstiger, aber zäher Mann, der Kutscher bei einem Arzt in Plymouth gewesen war, bevor er von einer Pressgang mit Gewalt auf Francis Drakes „Marygold“ verschleppt worden war. Inzwischen hätten ihn keine zehn Pferde mehr an Land gebracht. Er gehörte dazu. Er war sogar unersetzlich: niemand verstand sich besser auf jede Art von Blessuren. Daß er seine Aufgabe
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sozusagen hinter der Front hatte, sah er ein, aber insgeheim erbitterte es ihn doch, daß er immer nur die anderen verarzten durfte, statt mit seiner eisernen. Bratpfanne ab und zu ein paar Spaniern die Köpfe einschlagen zu können. Jetzt hatte er zwar keine eiserne Bratpfanne zur Hand, aber dafür das Holzbein, das der alte O’Flynn so verzweifelt suchte. Das Ding war handlich, und es hatte eine stabile eiserne Spitze. Der erste Spanier, dem er es um die Ohren schlug, ging brüllend zu Boden. Der Kutscher grinste, blickte mit rollenden Augen um sich und suchte ein neues Opfer. Er wurde zum Berserker, und im Eifer des Gefechtes merkte er nicht einmal, daß Big Old Shane, der Schmied ihm unverdrossen den Rücken deckte. Matt Davies riß einem der Spanier mit seinem Haken die Kehle auf. Stenmark hieb mit dem Entermesser um sich, Pete Ballie hatte sich einen handlichen Stein geschnappt und drosch ihn auf den nächstbesten Schädel. Binnen weniger Minuten waren nur noch zwei Spanier übrig —und die flohen voller Entsetzen zwischen die Felsen. Hinter dem nächsten Hügelkamm stießen sie auf den rothaarigen Ferris Tucker, der sich auf ein Gebüsch zupirschte, in dem er einen Gegner vermutete. Der Schiffszimmermann fuhr herum, als einer der Spanier auf ihn zuschnellte. Er hatte eigentlich keinen Grund gehabt, seine Axt mit zu dem Fest der Eingeborenen zu nehmen, er hatte es aus reiner Gewohnheit getan, weil er sich ohne das Ding beinahe nackt fühlte. Jetzt schwang er die Waffe mit beiden Fäusten hoch. Dabei stieß er einen wilden Schrei aus. Auf den Spanier wirkte das so furchterregend, daß er zitternd vor Entsetzen zurückwich. Sein Kumpan schlich sich von hinten an den rothaarigen Hünen heran. Tucker merkte nichts davon. Der Spanier grinste böse. Er holte aus, um mit seinem Degen zuzustechen. Seine Augen funkelten triumphierend in der Gewißheit, daß er den
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Schiffszimmermann genau in den Rücken treffen würde. Eine Sekunde später fiel der Triumph des Spaniers wie ein Kartenhaus zusammen. Der Bursche begann, an Geister zu glauben. Etwas flatterte über ihm. Er riß den Kopf hoch, aber er sah nur noch einen buntschillernden Schatten und fühlte die scharfen Krallen, die ihm die Haut des Gesichts aufrissen. „Affenarsch!“ kreischte der Geist. „Rübenschwein, verdammtes! An die Brassen, du lausiger Enkel einer triefäugigen Kanalratte!“ Der Spanier verstand von all dem überhaupt nichts. Sir John, der Papagei, verstand es selbst nicht, denn sonst wäre er nicht auf den Gedanken verfallen, mitten auf der Insel einen degenschwingenden Don an die nicht vorhandenen Brassen jagen zu wollen. Immerhin: der Papagei kratzte dem Spanier fast die Augen aus. Der Kerl ließ den Degen fallen, und als Ferris Tucker herumschwang, sah er nur noch den Rücken des Mannes, den Sir John in die Flucht geschlagen hatte. Zufrieden wandte sich Ferris Tucker um und rannte weiter — dorthin, wo er das Geschrei einer anderen kämpfenden Gruppe hörte. Auch hinter ihm klirrten jetzt Waffen, ein Zeichen dafür, daß ein paar von den Spaniern blindlings wieder zurück in Richtung Dorf geflohen waren. Dort stießen sie auf Hasard und seine Gruppe, auf die Eingeborenen, deren langgezogenen, tremolierenden Kriegsschreie über die Insel hallten. Selbst die restlichen Männer auf der „Maria Mercedes“ begriffen, dass ihre Kameraden in gewaltigen Schwierigkeiten steckten. Der Spanier, der auf dem Schiff das Kommando hatte, ließ in aller Eile zwei weitere Boote bemannen und schickte sie als Verstärkung an Land. Sie erreichten den Strand in dem Augenblick, in dem drei kopfscheue Spanier von Big Old Shane und dem Kutscher über die Felsenbarriere am Rand der Bucht getrieben wurden.
Die Insel der steinernen Riesen
Die Dons hatten Glück, sie landeten im weichen Sand. Der Kutscher und der graubärtige Schmied sprangen mit Gebrüll hinterher. Wieder klirrten die Waffen. Bootskiele knirschten auf dem Sand, neue Spanier wateten an Land, um ihren Kumpanen beizuspringen. Auf der anderen Seite der Bucht tauchten Ferris Tucker, Stenmark und Luke Morgan auf, erkannten mit einem Blick die gefährliche Lage ihrer Kameraden und stürzten sich ebenfalls ins Getümmel. Als Hasard und seine Leute Minuten später den Strand erreichten, hatte sich die Situation dramatisch zugespitzt. Carlos Ingarra, Manuel und Juan hatten Luana in eins der Boote gezerrt und legten ab. „Hinterher!“ brüllte Ed Carberry. Wie ein wütender Stier stürmte er über den Strand, Dan O’Flynn und Batuti folgten ihm. Was sie vorhatten, war klar: eins der anderen Boote erobern, um das Mädchen zu retten. Auch Hasard wollte zum Wasser. Aber er mußte erst einen Spanier abschütteln, der ihm von den Felsen aus ins Genick gesprungen war—und als der Kerl endlich bewußtlos im Sand lag, schob sich die Hauptstreitmacht der Spanier ein Keil zwischen Hasards Gruppe und die Wassergrenze. Der schlanke, behände Bill schaffte es, wie eine Schlange unter den zupackenden Fäusten seiner Gegner hindurchzuschlüpfen. Er wollte ebenfalls zu den Booten und stürzte sich im Alleingang ins Getümmel. „Himmel-Arsch!“ fluchte der sonst so beherrschte Ben Brighton, und zusammen mit Matt Davies stürzte er hinter dem Jungen her, der, nur auf sich gestellt, nicht den Schimmer einer Chance hatte. Da zwei, drei von den Spaniern Bill nachstarrten, schafften Ben und Matt den Durchbruch. Danach aber schloß sich die Front. Hasard und seine Gruppe kämpften unmittelbar unter der Klippe. Mit den Rücken zu den Felsen wehrten sie die anstürmenden Spanier ab und hatten keine Zeit, sich um
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das Scharmützel direkt am Wasser zu kümmern. Bill hatte einen Schlag auf den Kopf erhalten, aber das hinderte ihn nicht, einen barfüßigen Spanier ins Bein zu beißen. Der Kerl sprang herum wie ein jaulender Derwisch und schlug dann lang hin, weil er über Bills Füße stolperte. Der Junge schnellte hoch, gleichzeitig waren Ben Brighton und Matt Davies heran. Alle drei stürzten zu den Booten, um Dan, Ed Carberry und Batuti zu helfen, doch die Spanier wehrten sich mit dem Mut der Verzweiflung. Trotzdem wäre es den sechs Männern gelungen, eins der Boote zu kapern und vielleicht auch Ingarra und seine Leute einzuholen, wenn nicht einer der Burschen auf der „Maria Mercedes“ im selben Augenblick einen genialen Einfall gehabt hätte. Die Spanier konnten ihre Kanonen nicht auf die Kämpfenden abfeuern, da sie auf diese Weise ihre eigenen Leute getroffen hätten. Aber der Stückmeister sah die Steilwand im Rücken der Seewölfe und das Geröll und die losen Felsen. Er stürzte sich auf die achtere Drehbasse. Wenig später schlug die erste Eisenkugel in die Klippen und löste einen Steinschlag aus, einen Steinschlag, der die Seewölfe von hinten überraschte. Hasard hörte den Krach und die Schreie der Getroffenen. Dicht neben ihm wurde der schwarzhaarige Sam Roskill von einem kindskopfgroßen Felsen gestreift und kippte vornüber. Der Seewolf wirbelte herum und starrte fassungslos zu den Klippen hoch, wo im selben Moment die nächste Kugel einschlug. Wieder flogen Steine. Einem riesigen Brocken konnte der Seewolf gerade noch ausweichen, dann spürte er nur noch einen schmetternden Schlag an der Schläfe.
Die Insel der steinernen Riesen
Als er ein paar Sekunden später wieder zu sich kam, war die Entscheidung bereits gefallen. Die Spanier hatten ihre Chance erkannt und sich zur Flucht gewandt. Blindlings stürzten sie in die Boote —und den sechs Seewölfen, die sich unten am Strand immer noch mit den restlichen Dons herumschlugen, fiel Carlos Ingarras Hauptstreitmacht völlig unvermutet in den Rücken. Batuti blieb bewußtlos im Sand liegen. Dan und Bill, Ben Brighton, Ed Carberry und Matt Davies wurden überrollt, wie von einer Woge mitgespült, zusammengeschlagen und in die Boote gezogen. Die leichten Fahrzeuge legten ab, die Spanier pullten wie die Irren. Stolpernd, taumelnd, immer noch benommen lief der Seewolf zum Wasser, seine Männer folgten ihm, aber sie hatten keine Chance mehr, das Verhängnis aufzuhalten. Drüben auf der „Maria Mercedes“ wurde bereits die bewußtlose Luana an Bord gehievt. Die Boote entfernten sich und waren zu weit weg, um noch eingeholt zu werden, selbst wenn die Seewölfe geschwommen wären. Fünf ihrer Kameraden waren den Spanier in die Hände gefallen: Bill und Dan, Ben Brighton, Ed Carberry und Matt Davies. Auch der Papagei Sir John, der schimpfend und fluchend die Boote umflatterte, konnte für die bewußtlosen Männer nichts mehr tun. Für Philip Hasard Killigrew gab es nur eine Entscheidung. Zurück zur „Isabella“, quer über die Insel! Und dann unter Vollzeug hinter den spanischen Meuterern her, um seine Männer und Luana wieder aus der Gewalt der Dons zu befreien ...
ENDE