Nach den Erschütterungen des letzten verheerenden Krieges hatte eine gnadenlose Jagd auf die Wissen schaftler und ihre...
40 downloads
644 Views
632KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nach den Erschütterungen des letzten verheerenden Krieges hatte eine gnadenlose Jagd auf die Wissen schaftler und ihre Angehörigen eingesetzt. Unter der Diktatur der PAX fiel die Erde in einen immer radika leren Zustand zivilisatorischer Primitivität zurück. Nur einer kleinen Gruppe von Technikern und Wis senschaftlern war es gelungen, sich in ein unzugäng liches Bergversteck zu flüchten und dort, von den Spitzeln der PAX unbemerkt, ein Raumschiff zu bau en, das sie zu einem fernen Planeten im unendlichen Weltraum bringen sollte. Dort wollte man einen neu en Anfang machen, denn die Erde war ein sterbender Planet. Nur eines fehlte noch: die Lösung des Ge heimnisses vom Kalten Schlaf. Ohne ihn würde es ei ne Reise in den sicheren Tod sein ...
Weitere Romane von
ANDRE NORTON
in der Reihe der
Ullstein Bücher:
Das Geheimnis des Dschungel-Planeten
(3013)
Sturm über Warlock (3097)
Ullstein Buch Nr. 3082 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: THE STARS ARE OURS Übersetzung von Walter Ernsting
Umschlagillustration: Dell Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1954 by The World Publishing Company. Übersetzung © 1974 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1974 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03082 3
Andre Norton
Die Sterne
gehören uns
SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Auszug aus der Encyclopedia Galactica Die erste galaktische Weltraum-Kolonisations-Expedi tion war eine direkte Folge der ungewöhnlichen sozi alpolitischen Verhältnisse auf dem Planeten Terra. Im Verlauf einer Reihe von Kriegen zwischen Anhängern verschiedener nationalistischer Ideologien entdeckte man die Kraft des Atoms. Aus Furcht vor den Geistern, die sie gerufen, kam es zum sogenannten »kalten Krieg«, in dessen Verlauf sich die Nationen darauf be schränkten, mit der Herstellung furchtbarer Waffen ih re Gegner einzuschüchtern. Die Wissenschaft diente lediglich der Bewaffnung und Kriegsrüstung der Völ ker. Wissenschaftler und Techniker aller Klassen und Arten wurden sogar eine gewisse Zeit lang auf Grund von »Sicherheitsmaßnahmen« wie Sklaven behandelt. Aus dieser Lage heraus entstand in einer Untergrund bewegung die »Vereinigung freier Wissenschaftler«, eine Gruppe von Experten und Spezialisten, die allen Nationen und Regierungen gleichmäßig ihre Dienste für den Frieden anbot. Da diese Vereinigung keine rassischen, politischen oder religiösen Unterschiede kannte, entwickelte sie sich bald zu einer starken internationalen Organisati on, deren Arbeit nicht dem Wohl einiger Nationen diente, sondern dem ganzen Planeten.
Angespornt durch die Unterstützung der freien Wissenschaftler, entwickelte die Menschheit die Vor aussetzungen für den interplanetaren Raumflug. Ter ra war der dritte von neun Planeten, die um die Son ne Sol kreisten. Terra besaß einen Mond, Luna ge nannt. Forschungsschiffe landeten bald auf Luna und auf den beiden Nachbarplaneten, Mars und Venus. Keine dieser Welten war für menschliche Kolonisation ge eignet, ohne daß ungeheure Aufwendungen nötig gewesen wären, die der zu erwartende Nutzen in keiner Weise gerechtfertigt hätte. Die Folge davon war, daß nach dem ersten regen Interesse der Raum fahrtgedanke in den Hintergrund trat und außer eini gen Forschern so gut wie niemand die anderen Welten betrat. Drei Raumstationen waren errichtet worden, die als Versorgungsstationen und astronomisch meteorologische Beobachtungsstützpunkte dienten. Eine dieser Raumstationen war die Waffe, die die Na tionalisten für einen Krieg gegen die freien Wissen schaftler schon lange gesucht hatten. Die Station wurde überfallen und von einer Grup pe bewaffneter unbekannter Männer besetzt, die – wie spätere Untersuchungen erkennen ließen – Söld ner der nationalistischen Mächte waren. Aus den Ein richtungen des künstlichen Satelliten wurden Waffen
gebaut, und wir dürfen heute vermuten, daß jene Männer gar nicht wußten, welche Energiemengen sie auf ihren Heimatplaneten Terra losließen, als der Krieg begann. Der größte Teil der dichtbesiedelten Gebiete von Terra wurde völlig verwüstet und entvölkert. Nie mand war je in der Lage, die Zahl der Opfer auch nur annähernd zu schätzen. Unter den wenigen Überlebenden befand sich Ar turo Renzi. Dieser Renzi, ein Mann mit unzweifelhaft bestechenden Eigenschaften, war ein Anhänger eng stirniger und fanatisch nationalistischer Doktrinen. Durch persönliche Verluste verbittert, begann er die Verruchtheit der Wissenschaft zu predigen und er klärte, daß Terra nur dann gerettet werden könne, wenn die Menschheit wieder zum einfachen Leben auf dem Lande zurückkehre. Den Menschen erschien Renzi wie ein neuer Gott. Seine Partei hatte regen Zulauf und wurde sehr bald die stärkste Organisation der gesamten Welt. Renzis Ermordung, die man den freien Wissenschaftlern in die Schuhe schob, gab den Anstoß zu einer gewalti gen Säuberungsaktion, die drei Tage währte. Als sie vorüber war, hatten die wenigen überlebenden Wis senschaftler und Techniker in Verstecken Zuflucht gesucht. Saxon Bort, einer von Renzis Anhängern, riß die
Zügel an sich und errichtete die strenge Gewaltherr schaft der »Company of Pax«, des sogenannten Frie densstaates. Die Gesellschaft spaltete sich in drei Klassen: Der Adel, das Landvolk und die Arbeitssklaven, Nach kommen der verketzerten Wissenschaftler. Unter dem Würgegriff der PAX erwachten wieder die alten Vorurteile gegen andere Rassen und Glau bensrichtungen. Forschung und jegliches Studium waren untersagt, und der ganze Planet tauchte rasch in ein Zeitalter des Rückschrittes und der geistigen Dunkelheit ein. Und doch war es gerade zu diesem Zeitpunkt, daß der Gedanke an den galaktischen Flug – die Reise zu anderen Sternen der Milchstraße – geboren und in die Tat umgesetzt wurde.
1
Dard Nordis blieb unter den tiefhängenden Zweigen einer Fichte stehen, die ihn vor der schneidenden Käl te des Windes schützten. Der westliche Himmel war ein buntes Farbenkaleidoskop: düsteres Purpur, leuchtendes Gold und Rot – fast so farbenfroh, als wäre es jetzt August und nicht November. Er rückte das Bündel Brennholz zurecht, unter des sen Last er fast wie ein gebeugter alter Mann wirkte, als etwas an dem schmalen Fellstreifen zog, der ihm als Gürtel diente. »Dard, ein Tier, da drüben –« Er zuckte zusammen. Dessie besaß eine merkwür dige Art, einen zu erschrecken. Ein wenig vorwurfs voll sah er auf die kleine Gestalt neben sich hinab, die ebenfalls vollständig in Tierfelle gehüllt neben ihm stand. »Ist es ein großes Tier?« fragte er und leckte sich die Lippen. Ihre Hände waren mit Sackleinen umwickelt, um sie vor der Kälte zu schützen. Als sie nun die Größe des Tieres anzeigten, erinnerten sie an unförmige Bä rentatzen. »Nicht sehr groß, vielleicht ein Fuchs.« Sie gab der Zugleine – einem zusammengedrehten
Stück Fell – einen entschlossenen Ruck, und der Schlitten setzte sich in Bewegung. Der Schlitten war eigentlich nichts anderes als ein flaches Stück Holz, aber er erfüllte seinen Zweck. Darauf lag ein Berg Dürrholz und Rinde. Viel war es nicht bei dieser grausamen Kälte, aber es würde wärmen. Seit die einzige Axt verschwunden war, mußte man sich eben notdürftig behelfen. Dard folgte dem Mädchen, das vor ihm den Ab hang hinablief. Vor zwei Stunden waren sie hier hin aufgeklettert. Eine tiefe Falte stand zwischen seinen dunklen Brauen. Die Axt! Er wußte genau, daß er sie niemals verlegt haben konnte. Da blieb nur eine ein zige Lösung: jemand hatte sie gestohlen! Aber wer nur? Bestimmt jemand, der genau wußte, wie sehr sie die Axt brauchten und ohne sie in die schlimmste Verlegenheit geraten würden. Hew Folley vielleicht? Aber Hew war schon so lange nicht mehr bei ihnen gewesen – oder etwa doch? Vielleicht heimlich? Wenn Lars doch nur bald einsehen würde, daß Hew Folley ein gefährlicher Mann war. Folley war Land mann und fanatischer Anhänger der PAX. Die einst unabhängigen Farmer hatten immer an den Frieden geglaubt und für ihn gekämpft. Für den wahren Frie den, nicht für den Stagnationszustand, den die PAX ihnen jetzt auferlegte. Sie hatten damals Renzi unter stützt, und als der Prophet ermordet wurde, kam ihre
Rebellion zu spät. Sie hatten sich dem neuen Regime angepaßt und waren heute stolz auf ihre mangelnde Bildung und die nicht vorhandenen Kenntnisse, ge nossen die lächerlichen Vorteile, die PAX ihnen bot, und aus ihren Reihen rekrutierten sich die Ersatzleute für die Truppe der Friedensmänner. Folley war ein glühender Anhänger der PAX und trachtete schon lange nach den paar armseligen Mor gen Land, die im Besitz der Nordis waren. Wenn er jemals etwas von ihrer Abstammung erfahren würde! Wenn er nur ahnte, daß sie vom Blut der freien Wis senschaftler waren! Wenn er wüßte, was Lars noch heute tat! An dem Heckenzaun wartete Dessie auf ihn, wie sie es gewohnt war. Dard legte sein Holzbündel in den Schnee, ließ sich auf die Knie nieder und kroch durch die Hecke bis zu der geborstenen Steinmauer vor, die das alte Haus noch teilweise umgab. Sorgfältig beobachtete er die Schneefläche bis zum halbverfallenen Anwesen. Er sah die Spuren, die er und Dessie im Hof hinterlassen und nicht verwischt hatten. Sonst war die Fläche weiß und unberührt. Er atmete erleichtert auf, schulterte erneut das Holz bündel und winkte Dessie munter zu. Lars Nordis sah auf, als seine Tochter und sein Bruder eintraten. Das Lächeln, mit dem er sie emp fing, war nichts anderes als ein Spannen pergament
artiger Haut über hervorstehende Backenknochen. Dards heimliche Angst vergrößerte sich, als er seinen Bruder sah. Hunger hatten sie eigentlich immer ge habt, aber heute abend sah Lars aus, als ob er ein Mensch sei, der kurz vor dem Hungertod steht. »Hat es sich gelohnt?« fragte er, als der Junge die Lumpen ablegte, die sein Mantel waren. »Ohne Axt konnten wir nicht mehr bringen. Dessie hat aber einen Armvoll Tannenzapfen gesammelt.« Lars wandte sich an seine Tochter, die die Tuchfet zen von den Händen wickelte, die in der eisigen Kälte des Winters der einzige Schutz vor dem Erfrieren wa ren. »Das ist aber tüchtig, Dessie!« Dard hatte inzwischen den Mantel zum Trocknen aufgehängt und ging zum Schrank hinüber, den er öffnete. Ein unappetitlich aussehendes Stück Salz fleisch lag darin, das er vorsichtig herausnahm. »Wie steht es mit unseren Vorräten?« fragte sein Bruder. Dard zuckte unwillkürlich zusammen. Die Frage war ungewöhnlich, wenn auch mehr als verständlich. Er schaute in die leeren Fächer. »Vielleicht für zwei Tage – wenn du das Paket nicht zu groß machst.« In seine Stimme schlich sich ein versteckter Vorwurf, als er fortfuhr: »Wie lange eigentlich noch? Muß es denn sein –?«
Er wußte, daß ihm sein Bruder keine erklärende Antwort geben würde, nur eine ausweichende, unbe friedigende: je weniger von einem Geheimnis wissen, desto besser. Selbst die Mitglieder der eigenen Fami lie sollte man nicht mit unnötigem Wissen belasten. Gut, dachte Dard. Er würde also das Lebensmittel paket wieder zurechtmachen und auf dem Küchen tisch liegenlassen. Morgen früh wäre es verschwun den, als sei es nie dagewesen. Nur Lars wußte, wer es sich holen würde. In einer Woche – oder aber auch erst in einem Monat – würde sich der gleiche Vor gang wiederholen. »Heute nacht also?« fragte er, als er ein Stück Fleisch abschnitt. »Ich weiß es noch nicht«, kam die überraschende Antwort. Dard ließ das stumpfe Messer sinken. Ein unge wohntes Leuchten lag über den Zügen seines viel äl teren Bruders, ein Leuchten, das er seit dem Tode seiner Schwägerin vor zwei Jahren nicht mehr bei Lars gesehen hatte. »Ist es fertig?« fragte er langsam und wagte kaum an eine Bejahung seiner Frage zu glauben. Das würde bedeuten, daß die Freiheit nicht mehr allzu fern war. »Es ist fertig, Dard. Sie werden es erfahren und uns holen.« Dard gab keine Antwort, sondern blickte an seinem
Bruder vorbei auf die Krücken, die an der Wand hin gen. Niemals wurden sie erwähnt, diese Krücken, wenn man von der Flucht sprach. Dabei war es Lars vollkommen unmöglich, auch nur einen Schritt ins Freie zu machen, solange dort Schnee lag. Wie wollten sie jemals von hier fortkommen, wenn die geheimnis vollen »anderen«, von denen er nichts wußte, keine Pferde oder sonstige Fortbewegungsmittel hatten? Sieben Jahre lebten sie nun schon hier – oder waren es acht? Dard wußte es nicht mehr genau, er wußte nur, daß er sich noch keine Minute ganz sicher ge fühlt hatte. Immer war er von Furcht umgeben. Während Dessie den Tisch deckte, rührte er in der Fleischbrühe. Drei Holzlöffel, eine gesprungene Steingutschüssel, ein einziger Suppenteller und zwei Blechnäpfe bildeten das ganze Geschirr. Außerdem besaß Dessie noch eine Tasse aus richtigem Porzellan. Sie hatte diese Tasse eines Tages auf dem Speicher ge funden und behalten dürfen. »Die Suppe riecht gut«, lobte Lars. »Du bist ein gu ter Koch, Junge.« Dessie nickte zustimmend, wäh rend ihre beiden Zöpfe wie zwei Stricke auf dem schmalen Rücken baumelten. »Wollen wir heute abend das Wörterspiel wieder spielen? Wir haben es so lange nicht gespielt.« »Aber natürlich können wir das«, lächelte Lars. Dard rührte weiter in der Suppe und sann über
Lars' Worte nach. Wörterspiel? Hatte Lars denn heute Zeit, mit Dessie zu spielen? Steckte eine bestimmte Absicht dahinter? Aber welche? Ein neues Gefühl der Unruhe und der Furcht beschlich ihn. Es kam ihm vor, als befänden sie sich in einer dunklen Höhle, vor deren Eingang eine furchtbare Gefahr lauerte. »Ich habe mir nämlich heute etwas Neues ausge dacht«, gab Dessie bekannt. »Es geht so:« Sie legte ih re Hände zu beiden Seiten des Suppentellers auf den Tisch und begann mit ihren kleinen, abgebrochenen Nägeln den Takt zu den Worten zu klopfen: »Echse – Ochse – Achse – Hamm, Himmel – Hammel – Hummel – Kamm.« Dard bemühte sich vergebens, den Rhythmus aus seinen Gedanken zu verbannen. Es war eine der merkwürdigen Begabungen seines Verstandes, Rhythmus regelrecht »sehen« zu können. Es war eine ähnliche Eigenschaft wie seine Freude an Farben, Düften und Geräuschen. Lars hatte ihn in den ver gangenen drei Jahren dazu angehalten, diese Befähi gung weiter auszubilden und zu vervollkommnen. Er gab ihm des öfteren sogar die Aufgabe, kleinere Ge dichte in wenigen Strichen darzustellen. Mit diesen Strichen war er später in der Lage, das Gedicht wie der frei aufzusagen.
»Das klingt sehr schön, Dessie«, lobte Lars sein Kind. »Schon heute früh hörte ich, wie du es ge summt hast. Ich habe meinen guten Grund, wenn ich möchte, daß Dard dir ein Muster zeichnen soll. Aber erst wollen wie essen, ich habe sogar Hunger.« Er lächelte, als er das sagte. Als ob sie nicht immer welchen hätten! Nach dem Essen stand Dessie auf und lehnte sich an Lars' Schulter. »Du hast es mir versprochen – das Wörterspiel!« erinnerte sie ihn. »Ach ja – das Spiel!« Dard hörte die unterdrückte Erregung in der Stimme seines älteren Bruders und bückte sich, um einen verkohlten Zweig aus dem Feuer zu ziehen. Der würde als Schreibstift dienen, der Tisch als Tafel. Dann wartete er. »Los, Dessie! Sag dein Gedicht noch einmal, damit Dard die Striche zeichnen kann.« Dessie wiederholte die acht Wörter, und Dard schrieb mit dem Zweig acht einfache Striche. »Wie Streichhölzer!« rief Dessie vergnügt. »Mein Gedicht besteht aus lauter Streichhölzern!« Dard nickte. Wenn er die Striche sah, war es, als hämmere der Rhythmus von Dessies Worten in seinem Gehirn. Nie würde er die acht Wörter vergessen. Dann sah er
plötzlich auf. Lars kam ohne Hilfe der Krücken um den Tisch herum und blieb hinter ihm stehen. Aus seiner Brusttasche nahm er ein dünnes Stück Papier – eigentlich war es hauchfeine Birkenrinde – und hielt es so in seiner hohlen Hand verborgen, daß das, was darauf stand, den Zuschauern verborgen bleiben mußte. Dann nahm er das halbverkohlte Holzstück chen und beugte sich über die acht Striche, die Dard gemalt hatte, immer wieder vergleichende Blicke auf seine Birkenrinde werfend. Als er zu schreiben be gann, murmelten seine Lippen immer wieder die Worte des Textes, den seine Tochter aufgesagt hatte. Dabei schrieb er Zahlen über die Striche. Das sah dann so aus: 7 20
9 60
4 70
2
3
»Das ist sehr wichtig für euch beide!« sagte er dann eindringlich. »Merkt euch beide sehr gut diese Zahlen – mit Hilfe eures Wortspiels wird euch das nicht schwerfallen. Vergeßt sie niemals 7–9–4–2–20–60–70– 3!« Er warf das Zeichenstöckchen in das Feuer und sah seinen Bruder ernst an. Dann schleppte er sich müh sam zu seinem Stuhl zurück und ließ sich darauf nie dersinken.
»Von diesen Zahlen«, sagte er seufzend, »wird das Schicksal und das Fortbestehen der Menschheit ab hängen. Die Verantwortung liegt also bei euch – wenn ich es nicht mehr schaffen sollte.« »Unsinn!« sagte Dard mit brüchiger Stimme. »Wir werden es alle zusammen schaffen.« Er blickte auf den Tisch. »Ja, genau wie Dessies Gedicht, der gleiche Rhythmus.« »Es ist ganz einfach!« rief Dessie hell dazwischen. »Sieben, neun, vier, zwei – zwanzig, sechzig, siebzig, drei! Genau wie mein Vers, der gleiche Rhythmus, nicht Dard?« »Du mußt jetzt ins Bett!« sagte Lars gähnend. »Marsch!« Er sah seinen Bruder an. »Du auch, Dard.« Das war ein Befehl. Lars erwartete also noch heute nacht Besuch. Dard konnte noch nicht gleich schlafen. Er ging zum Fenster seines Zimmers im ersten Stock der Hüt te und schaute hinaus auf den Hof. Das kalte, bläuli che Licht auf der Schneefläche ließ diese noch eisiger erscheinen. Bis zur Landstraße waren es nicht ganz zwei Kilo meter. Freies Feld, auf dem sich Sicherheitsvorkeh rungen befanden, die ein unbemerktes Herannahen ungebetener Gäste verhinderten. Immer mußte man eine plötzliche Streife der Friedensmänner befürch ten. Aber eine mindestens genauso große Gefahr
drohte von Folleys Anwesen, das landeinwärts lag. Und dahinter erst kamen die zerklüfteten Berge, die Schutz und Sicherheit boten. Aber Lars konnte nicht gehen, sonst wären sie schon längst aufgebrochen, um sich dort zu verbergen. Ein stechender Schmerz in seiner Unterlippe ließ ihn zusammenzucken und aus seinen trüben Überle gungen emporschrecken. Doch dann lächelte er: Er hatte sich selbst in die Lippe gebissen. Langsam schritt er durch den Raum und tastete auf dem Wandbrett herum, bis sich seine Hände um ei nen kühlen Gegenstand legten. Es war der Griff eines Messers. Sein Herz schlug schneller, obwohl er genau wußte, daß ein Messer nicht viel gegen die Betäu bungsgewehre der Friedensmänner ausrichten konn te. Immerhin brachte sein Besitz ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Einem inneren Drang gehorchend, steckte er das Messer unter sein Hemd und schauderte leicht zu sammen, als er den kalten Stahl auf seiner nackten Haut spürte. Vorsichtig schob er ein wenig Stroh zur Seite und kroch unter die Decken. Dessie murmelte verschlafen einige Worte, die er nicht verstand. »Ich bin's«, flüsterte er ihr zu. »Schlaf jetzt schön!« Vielleicht war es viele Stunden später, vielleicht auch nur Minuten. Dard schreckte plötzlich hoch und lauschte. Aber nicht das geringste Geräusch drang an
sein Ohr, alles war völlig still. Nicht einmal das Knacken eines Holzbalkens ließ sich vernehmen. Trotzdem kroch Dard aus seinem warmen Lager heraus und schlich lautlos zu dem Fenster hinüber. Irgend etwas mußte ihn geweckt haben. Die ewige Furcht hatte ihn wachsam gemacht, hatte einen sech sten Sinn für die Gefahr entwickelt. Er strengte sich an, alle Einzelheiten der hellen, weißen Winterlandschaft zu erkennen. Da – dort! Über den Schnee huschte ein dunkler Schatten, ein wesenloser, geisterhafter Schatten, der keine festen Formen hatte. Sein Blick schnellte in die Höhe und er faßte den Helikopter, der sich auf den Hof herabsenk te. Kaum hatte er aufgesetzt, als auch schon mehrere Gestalten heraussprangen und das Haus umstellten. Die eisige Lähmung, die Dard befallen hatte, wich unvermittelt. Er sprang zu Dessies Lager und riß sie aus dem warmen Stroh. Ehe sie aufschreien konnte, legte er ihr seine Hand über den Mund und flüsterte ihr heiser zu: »Laufe schnell zu deinem Vater hinunter, wecke ihn! Beeile dich!« Sie nickte eifrig und zitterte vor Kälte und vor Angst. »Sind es Friedensmänner?« fragte sie. »Ich nehme es an. Los, sage Lars, sie seien in einem Flugzeug gekommen und im Hof gelandet. Das Haus ist umzingelt.«
Dessie gehorchte und lief die Stiege hinab. Dard selbst begab sich wieder ans Fenster und beobachtete. Daran hatte er nicht gedacht, daß die Streifen eventu ell mit einem Helikopter kommen würden. Wozu auch? Um einen Krüppel, ein Kind und einen Jungen festzunehmen? Außerdem besaßen sie sicher nur noch wenig Flugzeuge oder Helikopter, denn es war verboten, solche Maschinen herzustellen, die an die Blütezeit der freien Wissenschaftler erinnerten. War ihnen Lars wirklich so viel wert, daß sie ein so großes Aufgebot einsetzten, um zu verhindern, daß er sein Wissen an die Untergrundbewegung weitergab? Jetzt konnte er deutlich die dunklen Gestalten er kennen, die im Schatten Schutz suchten. Ihre Absicht war klar zu erkennen: sie wollten die Bewohner des Hauses möglichst lebendig fangen. Unbemerkt ka men sie deshalb, damit ihnen nicht das passierte, was ihnen schon so oft passiert war: Die in die Enge ge triebenen Wissenschaftler waren ihnen zuvorge kommen – und mit einem Toten konnten auch die Männer der PAX nicht viel beginnen. Dards Lächeln war eine verzerrte Grimasse. In sei nen Händen lag ein Geheimnis, das unter Umständen die letzten der Familie Nordis retten konnte. Nachdem er zugesehen hatte, wie der letzte An greifer im Schatten des Hauses verschwunden war, lief Dard die Treppe hinab in die Küche. Er fand Lars
zusammengesunken vor dem fast erloschenen Feuer sitzen. »Sie kamen durch die Luft und haben das Haus völlig umstellt. Aber sie sind umsonst gekommen.« Dards Stimme war ganz ruhig und gelassen. Jetzt, da die Gefahr endlich da und nicht mehr abzuwenden war, überkam ihn eine fast unheimliche Kaltblütig keit. »Ihre Falle ist noch nicht ganz zu. Sie kamen durch die Luft – und wir werden unter der Erde ent kommen.« Er ging an Lars vorbei und riß die Schranktüren auf. Dessie stand neben ihrem Vater und rieb sich die Augen. Dard warf ihr einen Sack zu. »Tu an Lebensmitteln hinein, was nur hineingeht!« befahl er. »Lars! Nimm die Kleider hier und zieh dich warm an! Wir gehen ins Freie.« Sein Bruder schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, daß es sinnlos ist. Wir sind verlo ren.« »Wer sagt denn das?« erwiderte Dard und ging zu der Falltür, die in den Keller führte. Er öffnete sie und zeigte in die Tiefe. »Ich habe dort unten im vergange nen Sommer einen unterirdischen Gang entdeckt, der drüben in der Scheune wieder zur Oberfläche em porkommt. Dort können wir uns verstecken.« »Sinnlos!« beharrte Lars. »Sie wissen, daß wir hier sind. Wenn sie uns nicht entdecken, werden sie das
ganze Haus durchsuchen und auf den Kopf stellen, bis sie die Spuren finden.« »Und was dann, wenn keine Spuren vorhanden sind?« Lars sah ihn einen Moment nachdenklich an; dann begann er, den von Dessie gebrachten Mantel über zuziehen. Dessie war schon fertig. Sie half dem Vater beim Anziehen, und dann stützte sie ihn, als er in den Keller hinabkletterte. Dard reichte Dessie, die in der Falltür stand, eine brennende Fackel. »Halte sie!« befahl er kurz. Dann verriegelte er sorgfältig alle Läden und Tü ren, nahm eine kleine Kanne aus dem Schrank und goß den sorgfältig aufbewahrten Inhalt über Fußbo den und Möbel des Raums. Dann zog er sich bis zu der Kellertür zurück und warf die Fackel in die äu ßerste Ecke der Küche. Kaum hatte er die Falltür über sich zugeschlagen, als auch schon ein knisterndes Flammenmeer über ihn hinwegbrauste. Und während er die halbvermoderten Kisten bei seite schob, die das Loch in der Wand verbargen, hör te er über sich das Prasseln des Feuers, und die ersten feinen Rauchschwaden drangen durch Ritzen des Fußbodens zu ihnen herab. Dessie kroch in den Gang, der sich vor ihnen auf getan hatte. Dard half seinem Bruder. Über ihren Köpfen brannte das ausgetrocknete Holzhaus ab. Die
Streife, die sie gefangennehmen wollte, mußte an nehmen, daß alle Bewohner in den Flammen umge kommen waren.
2
Bevor sie den Ausgang unter der Scheune erreichten, ließ Dard anhalten. Es würde besser sein, wenn sie so lange im Versteck blieben, bis sie genau wußten, daß der Feind auf den Trick mit dem abbrennenden Haus hereingefallen war. Der Gang hatte rohbehauene Steinwände und war so eng, daß die Schultern der Männer beide Seiten gleichzeitig berührten. Außerdem war es kalt, grau enhaft kalt. Und diese eisige Kälte kam aus dem Bo den, kroch durch die ungenügende Fußbekleidung in ihre zitternden Körper hinein. Lange würden sie das nicht aushalten können, sag te sich Dard immer wieder. Verzweifelt biß er sich auf die Lippen und lauschte auf die Geräusche, die von oben kamen. Plötzlich zerriß eine gewaltige Explosion die Luft, deren Erschütterung sie noch unter der Erde verspü ren konnten. Lars lachte verhalten. »Was war das?« fragte Dard erschrocken, um sich dann selbst erleichtert die Antwort zu geben: »Ach – das Labor!« »Ja – das Labor!« bestätigte Lars. »In dem Durch einander werden sie jetzt bestimmt nichts mehr fin den können. Das Zeug brennt wie Zunder. Außerdem
besteht die Gefahr einer zweiten Explosion, die das ganze Haus in Fetzen reißen würde.« »So werden sie es nicht wagen, die brennenden Trümmer zu untersuchen – und später werden sie nichts mehr finden.« Dard fühlte die ungeheuere Erleichterung, die ihn überkam. Die Familie Nordis würde gerettet sein, weil die Friedensmänner sie für tot halten mußten. Aber er wollte sich davon überzeugen, was der Feind nun unternahm. Mit leisen Worten unterrichtete er seinen Bruder und Dessie von seiner Absicht, in die Scheune hinaufzuklettern, um die Vorgänge besser beobachten zu können. In der Scheune erstieg er die Leiter und kroch dann auf dem morschen Boden bis zu einer Luke vor, von der aus er das Feld und das nahe Haus sehr gut sehen konnte. Die Hütte war ein einziges Flammenmeer, das rie sige Feuer erhellte die ganze Umgebung, und deut lich sah Dard die schwarzweißen Uniformen der PAX-Leute. Zwei von ihnen waren damit beschäftigt, einen dritten aus den Flammen zu ziehen. Wahr scheinlich war dieser bei der plötzlichen Explosion zu nahe am Haus gewesen. Verwirrte Rufe erklangen hier und dort, vereinzelte Schreie. Aus ihnen konnte Dard erraten, daß die Feinde fest davon überzeugt waren, ihre Opfer hätten einen gräßlichen Tod in den
Flammen gefunden. Außerdem erfuhr Dard mit eini ger Genugtuung, daß zwei der Streifenmänner getö tet und drei andere schwer verletzt worden waren. Vorsichtig zogen sich die Angreifer von dem immer noch lodernden brennenden Haus zurück und brach ten sich vor eventuellen weiteren Detonationen in Si cherheit. Dard atmete auf, als er feststellte, daß sie wieder in den Helikopter stiegen, der bald darauf mit surren dem Rotor in die Höhe stieg, das Haus in respektvol ler Entfernung noch einmal umkreiste, um dann in Richtung der fernen Stadt davonzuschießen. »Alles klar«, berichtete er Lars, während er dem Krüppel half, die Leiter emporzuklettern. »Sie neh men mit Sicherheit an, daß wir umgekommen sind. Da sie eine weitere Explosion fürchteten, haben sie sich aus dem Staub gemacht – die Feiglinge.« Lars zeigte eine schwache Freude. Er fror jämmer lich. »Dann werden sie auch so schnell nicht wieder kommen.« »Dard!« Dessie war ein kleiner Schatten, der durch die Dunkelheit huschte. »Wir haben nun kein Haus mehr – wo schlafen wir jetzt?« »Wir werden eine neue Wohnung suchen«, beru higte sie Lars. »Was ist übrigens mit dem Boten, den du in dieser
Nacht erwartetest?« fragte Dard plötzlich. »Er wird den Feuerschein schon von weitem bemerkt haben und gar nicht erst hierherkommen.« »Deshalb wirst du ihm auch ein Zeichen hinterlas sen müssen, wenn wir weiterziehen. Wie Dessie schon ganz richtig gesagt hat: Wo sollen wir wohnen? So schnell wie möglich müssen wir von hier fort. Je eher wir aufbrechen, desto besser. Da die Streife der PAX fest davon überzeugt ist, daß wir tot sind, be steht weiter keine Gefahr, wenn Dessie und ich hier bleiben während du Hilfe holst. Dann erst können wir alle zusammen endgültig von hier verschwin den.« Mit einer Handbewegung schnitt er eine Pro testäußerung Dards ab. »Folge also der Mauer an der oberen Weide bis zu der Ecke, wo der Waldweg be ginnt. Diesen gehst du entlang, etwa einen Kilometer, bis du zu einem großen einzelnen Baum kommst. Sein Stamm ist ausgehöhlt. Dort hinein legst du die ses Päckchen.« Er griff in seinen Hemdausschnitt und zog ein zusammengewickeltes Tuchbündel hervor, um es Dard zu reichen. »Dann komm zurück. Wenn unser Mann das findet, wird er sich selbst vom Teufel nicht abhalten lassen, uns hier zu suchen. Sollte er al lerdings vor morgen nicht kommen, müssen wir ver suchen, kurz nach Sonnenaufgang bei dem hohlen Baum zu sein. Dort wollen wir dann abwarten, was geschieht.«
Dard konnte seinen Bruder verstehen. Er wagte es nicht, in der Nacht mit seinen Krücken durch den Schnee zu humpeln. Morgen würde es leicht sein, aus den Trümmern des Hauses eine Art Schlitten zu bau en, mit dem man ihn gut in den nahen Schutz des Waldes ziehen konnte. In der Zwischenzeit jedoch war es ungeheuer wichtig, dort im Baumstamm ein Zeichen zu hinterlegen. Dard nickte also und machte sich auf den Weg. Schon rein instinktiv hielt er sich im Schatten der Bäume und Büsche, die auf den einst so fruchtbaren Feldern wuchsen. In der Nähe des Hauses trat er in die deutlich erkennbaren Fußspuren der Friedens männer, um seine eigenen zu verbergen. Er hätte selbst nicht zu sagen vermocht, warum er so vorsich tig war – bestimmt nicht nur deshalb, weil sein Bru der es ihm geraten hatte. Immer weiter entfernte er sich von den noch flak kernden Resten des Wohnhauses. Die Nacht war windstill und sehr kalt. Einmal huschte eine Eule über den Nachthimmel, und tief im Walde heulte ein Wolf – vielleicht war es auch ein verwildeter Hund. Ohne große Schwierigkeiten fand Dard den von Lars beschriebenen Baum. Schnell verstaute er das Tuchpäckchen in dem ausgehöhlten Stamm. Wäh rend er stand, spürte er die eisige Kälte, die in seine Glieder drang. Er schüttelte sich, machte sich eiligst
wieder auf den Rückweg und faßte den Entschluß, auf jeden Fall sofort in dem unterirdischen Gang ein Feuer anzuzünden. Sie würden ja sonst erfrieren. Um ihn war völlige Dunkelheit, denn der Mond hing hinter den Bäumen. Er fragte sich, wie lange es wohl noch bis zum Morgengrauen dauern würde, als er stolperte und sich gegen die Mauer stützte, die er inzwischen erreicht hatte. In dieser Sekunde zerriß ein Schuß die Stille der Nacht. Seine Hand fuhr zum Messer, obwohl das doch völlig sinnlos schien. Ein Schuß! Lars hatte kein Gewehr, das wußte er. Die Frie densmänner? Aber die waren doch weggeflogen. Vielleicht –? Er dachte den Gedanken nicht zu Ende, sondern begann, unbeholfen zu laufen. Oft rutschte er aus, und in den hohen Schneewehen kam er nur sehr schlecht und langsam vorwärts. Doch dann, als er in die Nähe der Scheune kam, gewann die alte Vorsicht wieder die Oberhand. Geschickt schlich er weiter, ohne das geringste Geräusch zu verursachen, was ei nen eventuellen Gegner hätte aufmerksam machen können. Dessie und Lars waren allein. Sie besaßen keine Waffen und waren hilflos jeder Gefahr ausge liefert. Schon ganz nahe war er an die alte, zerfallene Scheune herangekommen, als er Dessie schreien hör
te. Dieser Schrei ließ ihn alle Vorsicht vergessen. Mit dem Messer in der Hand stürzte er durch den tiefen Schnee und erreichte den Eingang des Gebäudes. Seine in Sackleinen gehüllten Füße hasteten lautlos über den festen Lehmboden der Scheune. »Jetzt hab ich dich endlich – du Satansbalg!« Beim Klang der Stimme rann Dard ein eisiger Schauer über den Rücken hinab. Der schwache Schein des erlöschenden Feuers warf einen letzten Schimmer durch das offene Tor, und Dard erkannte den Feind vor sich. Blitzschnell erhob er das Messer zum Wurf. Dessie kämpfte wie ein in die Enge getriebenes Tier, lautlos und verzweifelt. Hew Folley zielte mit seiner harten Männerfaust nach dem zarten Gesicht des Kindes, als Dard warf. Die vielen Monate, die Dard mit dem Üben zugebracht hatte, machten sich jetzt bezahlt. Die scharfgeschliffene Klinge traf genau dort, wo sie treffen sollte. Bis zum Heft bohrte sie sich in den Rücken des verräterischen Nachbarn. Dessie floh, als der Griff des Mannes sich lockerte. Auf allen vieren kroch sie in eine dunkle Ecke und kauerte sich dort zusammen. Hew Folley drehte sich halb um – und sank auf den Boden nieder. Dard trat einen Schritt vor und ergriff das Gewehr. Erst als es fest und sicher in seinen Händen lag, nä
herte er sich dem Körper des Mannes. Er packte zu und drehte Folley auf den Rücken. Folley schrie auf. Bitterer Haß lag in seiner Stimme. »Den verdammten – Tüftler – hab – ich – erwischt – ah ...« stammelte er und hustete keuchend. Dards Augen hatten sich an das Halbdunkel gewöhnt, und er sah das Blut, das aus Folleys Mund lief. »Ich – hab mir – doch gleich gedacht, daß oh – sie sich – hier – versteckt hätten – oh – tot! Tot!« Folley versuchte noch einmal, sich aufzurichten, was ihm jedoch nicht gelang. Dard stand regungslos daneben und sah grimmig zu, bis alles vorbei war. Die Sonne war nicht zu sehen, als er nach einigen Stunden, die er nie vergessen würde, mit Dessie die Scheune verließ. Aus einem eintönig grauen Himmel schwebten weiße Flöckchen herab und verdeckten al le Spuren, die sich auf dem Altschnee eingedrückt hatten. Dieses Schneegestöber würde alles verbergen, dachte Dard dankbar. Zwar würde wohl niemand Lars' verkrüppelten Körper finden, der jetzt im wei chen Lehmboden des Geheimganges ruhte, aber Fol leys Leute würden durch den Schneefall aufgehalten, falls sie ihn suchen wollten. »Wohin gehen wir denn, Dard?« fragte Dessie mit monotoner Stimme. Unaufhörlich hatte ihr kleiner, schmaler Körper gezittert und gebebt, ein Schleier
des Schreckens schien sich zwischen sie und die Welt gelegt zu haben. Er zog sie an sich, während er den Sack mit den Vorräten auf die Schultern nahm. »In den Wald, Dessie. Wir werden ein Weilchen wie die Tiere leben müssen, die du so gern hast. Willst du jetzt etwas essen?« Sie sah ihn nicht an, als sie den Kopf schüttelte. Sie ging auch erst dann endlich voran, als er sie sanft an stieß und dann bei der Hand nahm. Unter den Bäumen legte sich die Wucht des Stur mes ein wenig, aber der Schnee hing schwer wie Blei an ihrem Körper. Er haftete an den Augenwimpern, an den Haaren und an der rauhen Kleidung. Lange würde Dessie diesen Marsch nicht aushalten, denn er selbst spürte, wie seine Kräfte bereits nachlie ßen. Das erbeutete Gewehr benutzte er als Stock. Drei Patronen waren noch im Magazin, und er gedachte, nur im äußersten Notfall zur Waffe zu greifen. Es gab nur noch sehr wenig Feuerwaffen, und die waren in den Händen der Leute, denen die Friedensmänner trauten. Dessie hinter sich herziehend, schleppte er sich bis zum hohlen Baum. Wegen der Spuren brauchte er sich diesmal keine Sorgen zu machen, der fallende Schnee würde sie bereits nach wenigen Minuten wieder zuge deckt haben. Hier in der Nähe mußten sie sich aufhal ten, damit der mysteriöse Bote sie finden konnte. Dard steckte eine kleine Schneefläche mit vier Höl
zern ab und befahl Dessie, darauf hin und her zu lau fen. Die Bewegung wärmte nicht nur, sondern glätte te und festigte auch gleichzeitig den Schnee, daß sich darauf eine notdürftige Unterkunft errichten ließ. Ein umgefallener Baum diente als Stütze, während schneebedeckte Fichtenzweige das Dach abgaben. Die so entstandene »Hütte« bot Schutz vor Kälte und Wind und war gleichzeitig die beste Tarnung die man sich denken konnte. Von hier aus konnte man sehr gut den Baum beobachten, in dem das Päckchen lag, und sogar der Pfad, der einzige Zugang zu dem Baum, lag ständig in ihrem Blickfeld. Sie aßen einige Händevoll Schnee zu den hartge frorenen Stücken Salzfleisch, und kaum war die Mahlzeit beendet, als Dessie es vor Müdigkeit nicht mehr aushalten konnte. Sie ließ sich von Dard in Decken einwickeln und war bald eingeschlafen. Dard selbst hockte vor dem winzigen Guckloch, kämpfte gegen die bleierne Müdigkeit an und ließ den Baum nicht aus den Augen. Das Gewehr lag in seinen Händen, und er stützte sich darauf. Aber er sah bald ein, daß nur ein Trick ihn vor dem Einschla fen bewahren konnte. So stellte er es mit dem Kolben auf den festen Schnee und hielt es so, daß der Lauf unter seinem Kinn war. Jedes Mal, wenn er einnickte, rief ihn die Berührung mit dem kalten Metall wieder in die Wirklichkeit zurück.
Wie lange würden sie wohl hierbleiben müssen, fragte er sich. Wie lange würden sie es wohl aushal ten können? Was sollte geschehen, wenn der Bote heute oder morgen nicht kam? Oben in den Bergen kannte er eine Höhle, nicht weit von hier. Vielleicht – Der Gewehrlauf schlug hart gegen sein Kinn, und vor Schmerz trat ihm das Wasser in die Augen. Es hatte aufgehört zu schneien. Die Äste hatten sich un ter der schweren Last des Schnees fast bis zum Boden geneigt, aber die Luft war klar, kalt und sauber. Er zog die Decke ein wenig zurück und betrachtete Dessie. Sie schlief noch, wimmerte aber im Schlaf leise vor sich hin. Als er die Decke wieder hochzog, wurde sie wach. »Dard?« fragte sie, aber er legte ihr die Hand über den Mund. Er hatte etwas gehört, das nicht in die bisherige Stille paßte: ein unmelodisches Singen, mehr eigentlich ein Vor-sich-hin-Brummen. Jemand kam den Pfad entlang, der zu dem Baum führte. Der Bote? Doch bevor Dard so richtig neue Hoffnung schöp fen konnte, wurde er schon enttäuscht. Etwas Rotes schimmerte durch die schneeverhangenen Büsche, und sehr bald konnte er auch den Träger der roten Mütze erkennen. Oder besser: die Trägerin. Haß verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Lotta Folley!
Er warf Dessie noch einen warnenden Blick zu, ehe er das Gewehr vorsichtig aus dem Sehschlitz schob und Ziel nahm. Jetzt hatte er das Gesicht des heran kommenden Mädchens genau im Visier – aber er setzte die Waffe wieder ab. Er konnte nicht auf einen ahnungslosen Menschen schießen, auch wenn es sich um die Tochter eines Verräters handelte, der Dessies Vater gewissenlos ermordet hatte. Er ließ das Gewehr vollends sinken und wartete. Die kräftige und gesunde Gestalt des Mädchens hatte vor dem Baum haltgemacht, der Dards letzte Hoffnung barg. Sie trug selbstgewebte Kleider und eine rote gestrickte Mütze. Anscheinend wollte sie ein wenig verschnaufen und hatte sich ausgerechnet die sen Platz dazu erwählt. Wenn sie jetzt genau in diese Richtung sah und scharfe Augen besaß, was Dard kaum bezweifelte, dann – Lotta Folley hob den Kopf und sah über die offene Schneefläche zu Dard herüber, der völlig in seinen Bewegungen erstarrte und wie ein wildes Tier ein fach »tot« spielte. Er konnte genau sehen, wie ihre Augen größer wurden und wie ihre Lippen sich zu einem Ausruf formten. Hilflos wartete er auf ihren Schrei. Aber der kam nicht. Nach der ersten Überraschung nahm ihr Gesicht wieder den etwas dümmlichen Ausdruck an. Ihre Hände wischten über ihr Kleid, als
wolle sie etwas davon entfernen, und ihr Blick wan derte suchend über Büsche und Bäume, ging den Pfad hinab und kehrte schließlich wieder zu Dard zu rück, der immer noch wartete. Als sie dann zu spre chen begann, war ihre Stimme rauh. »Die Friedensmänner suchen euch«, sagte sie. »Sie suchen besonders dich, Dard!« Dard gab keine Antwort. Seine Hände umkrampf ten das Gewehr. »Sie sagen, dein Bruder sei ein Stinker.« Das war das übliche Schimpfwort für einen Wis senschaftler. Dard schwieg noch immer, obwohl er einsah, daß er entdeckt worden war. Aber die nächste Frage überraschte ihn. »Was macht Dessie? Ist sie in Sicherheit?« Ehe er sich von seiner Überraschung erholen konn te, war Dessie aus ihren Decken gesprungen und eilte auf Lotta Folley zu, die sie mit offenen Armen be grüßte. Die Tochter des Mörders nahm aus ihrer Jak kentasche ein Stück fettigen Tuches und legte es – Dard konnte erkennen, daß es ein Paket war – auf ei nen Baumstamm. »Für dich«, sagte sie zu Dessie. Dann wandte sie sich wieder an Dard: »Du bringst dich am besten in Sicher heit. Vater hat den Friedensmännern von euch berich tet.« Sie stockte. »Er kam heute nacht nicht zurück.«
Dard hielt den Atem an. Ob sie etwa schon wußte, daß –? Sie mußte das Gewehr gesehen haben – und hier hatte keiner ein Gewehr außer ihrem Vater. Ein Ge wehr war ein seltener Schatz, und Hew Folley würde sich nicht von ihm trennen, ehe er tot war. Dard hatte Lotta nie leiden mögen, obwohl er sie für ein wenig beschränkt hielt. Vielleicht machte er den Fehler eines Intellektuellen, einen geistig weniger regen Menschen einfach zu verurteilen, obwohl doch dieser für seine von den Eltern mitbekommenen Eigenschaften wirk lich nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Vielleicht aber verachtete er sie auch nur – was genau so falsch war. »Vater kam nicht zurück«, wiederholte sie, und jetzt war er sicher, daß sie etwas vermutete, wenn nicht sogar wußte. Was sollte er ihr sagen, wenn sie nach der Herkunft des Gewehres fragte? »Vater haßte euch!« Wie ein Blitz durchzuckte ihn die Erkenntnis, als sie von ihrem Vater in der Vergangenheitsform sprach. Was würde sie jetzt unternehmen? »Vater haßte eine ganze Menge Dinge«, fuhr sie nachdenklich fort. Ihr Blick fiel auf Dessie. »Es mach te ihm Freude, andere Menschen zu quälen.« Sie sprach die Worte ohne jegliches Gefühl. »Er wollte Dessie quälen. Sie sollte in ein Arbeitslager.« Jetzt
blickte sie wieder zu Dard herüber. »Du gibst mir am besten das Gewehr, Dard. Wenn sie es bei Vater fin den, werden sie euch nicht so schnell verfolgen.« »Warum denn?« fragte Dard. Er war so sehr über rascht, daß er alle Vorsicht vergessen hatte. Sie ging nicht weiter darauf ein. »Niemand soll Dessie in ein Arbeitslager stecken, das hat sie nicht verdient. Dessie ist ein gutes Mäd chen, auch ihre Mutter war gut. Einmal hat sie mir eine Puppe gemacht, aber Vater nahm sie mir weg und verbrannte sie. Du mußt auch gut auf Dessie aufpassen, hörst du, Dard? Du kannst es! Verschwin det von hier – aber lasse mir Pas Gewehr da. Damit kann ich eure Flucht decken, indem ich die Frie densmänner irreführe.« Es blieb Dard kein anderer Weg, als ihr die Wahr heit zu sagen. »Wir können noch nicht von hier weg«, begann er. Sie unterbrach ihn. »Ihr wartet also auf jemand? Dann hatte Vater doch recht: Dein Bruder war ein Stinker?« Sie zuckte die Schultern, als Dard nickte, der inzwischen aus seinem Versteck gekommen war. »Na ja, ich werde euch warnen, wenn sie kommen. Aber passe nur gut auf Dessie auf, hörst du?« »Ich werde schon auf sie aufpassen«, versprach Dard und reichte dem Mädchen kurz entschlossen
das Gewehr. Lotta nahm es entgegen und zeigte auf das Päckchen, das immer noch auf dem Baumstamm lag. »Ich werde versuchen, euch noch mehr zu bringen, vielleicht schon heute nacht. Wenn sie allerdings da hinterkommen, daß ihr geflohen seid, werden sie Hunde aus der Stadt mitbringen. Wenn es soweit kommen sollte –« Sie stockte, trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und knöpfte schließlich ihre Jacke auf, um den bunten Schal vom Hals zu ziehen! Sie reichte ihn Dessie. »Den ziehst du sofort an! Ich würde dir auch noch meine Jacke geben, aber das fiele zu sehr auf.« Sie nahm das Gewehr wieder in die Hand, das sie gegen einen Baum gelehnt hatte. »Ich werde das Ding an den Platz bringen, wo es hingehört. Vielleicht hält sie das davon ab, an eure Flucht zu glauben.« Sprachlos sah Dard ihr nach, als sie den Pfad zu rückging. Er konnte ihre Handlungsweise nicht ver stehen. Würde sie das Gewehr wirklich in die Scheu ne bringen, es tatsächlich neben ihren toten Vater le gen? Wie konnte sie das nur tun, da sie doch wußte, daß er selbst ihren Vater getötet hatte? In dem Paket, das Lotta Dessie gegeben hatte, be fanden sich Dinge, die sie kaum noch kannten: richti ges Brot, dick mit Butter bestrichen. Ein großes Stück fettiges Schweinefleisch. Dessie wollte nur dann et was essen, wenn auch er mitaß. So griff er denn zu.
Die Sonne stand schon tief im Westen, als er aus einem unruhigen, traumgeplagten Schlaf erwachte. Dessie hockte neben ihm, ihr kleines, ernstes Gesicht dem Baum zugewandt, den sie in diesen langen Stunden bestimmt nicht einen Augenblick unbeo bachtet gelassen hatte. Als er sich umdrehte, blickte sie auf. »Ich habe nur ein Häschen gesehen«, sagte sie. »Dort sprang es in die Büsche. Aber Leute waren kei ne da. Sag, haben wir noch ein wenig Brot? Ich hab solchen Hunger.« Er kroch unter dem Schutzdach hervor und streck te sich. »Aber natürlich, Kleines.« Er packte die Reste von Lottas Paket aus, und es reichte für eine kräftige Mahlzeit. Trotz ihres Riesenhungers aß Dessie langsam und kaute jede Krume mit viel Genuß. Es wurde rasch dunkel, und rote Streifen bedeckten den Himmel, der dadurch nur noch kälter wirkte. Heute nacht mußten sie hier bleiben – aber was würde morgen sein? Wenn Lotta die Verfolger nicht ablenken konnte, durften sie keinen Tag mehr bleiben. Dann mußten sie hinein in das unbekannte, verschneite Waldgebiet, das kein Ende zu haben schien und in dem doch irgendwo das geheime Versteck der freien Wissenschaftler liegen mußte.
»Wird es wieder schneien, Dard?« Er betrachtete den Himmel und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Aber ich würde es wünschen, Dessie.« »Warum denn das? Ist denn der Schnee noch nicht hoch genug?« »Doch, das ist er. Aber wenn es schneit, ist es nicht so kalt, außerdem verdeckt er alle Spuren, die wir hinterlassen. Kälte können wir nicht gebrauchen.« Er zog sie sanft mit sich in das Versteck, und bald hatten sie sich zusammengerollt, um kein bißchen Körperwärme aus den Decken entweichen zu lassen. Kaum war er eingeschlummert, als er auch schon wieder erschrocken hochfuhr. Er glaubte, ein Ge räusch gehört zu haben. Ja, da war es ganz deutlich. Jemand näherte sich mit knirschenden Schuhsohlen auf dem verharschten Schnee. Die Schritte kamen immer näher.
3
Der Unbekannte war dicht neben dem Baum stehen geblieben, wo er sorgfältig die Spuren betrachtete, die Lotta Folley, Dessie und Dard hinterlassen hatten. Dann faßte seine Hand in die Tasche, und ein blit zender Metallgegenstand kam zum Vorschein. Er sah aus wie eine Pistole. Trotzdem wußte Dard gleich, daß er keinen Feind vor sich hatte. Ohne länger zu zögern, erhob er sich aus seinem Versteck und schritt auf den Mann zu, der gut einen ganzen Kopf kleiner war als er selbst. Der Unbekannte sah ihm mißtrauisch entgegen. »Ich bin Dard Nordis«, sagte Dard langsam. »So?« Das eine Wort war wie das scharfe Zischen einer Schlange. »Mein Bruder ist tot.« Dard stellte fest, daß der andere zusammenzuckte. Doch dann sagte er: »Das beste wird sein, wenn du alles der Reihe nach erzählst.« Und Dard berichtete von dem Vorgefallenen, dabei sein Gegenüber forschend ansehend. Das war ein sehr gefährlicher Mann, der da vor ihm stand. Man fühlte das gewissermaßen. Seine Augen waren klein und lebendig. Ein unheimliches Feuer glühte in ih nen.
»Also ist Lars tot«, murmelte er, als Dard endete. »Das ist sehr schlimm für uns. Sehr, sehr schlimm.« Er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. »Und was glaubst du, was ich nun mit dir anfan gen soll?« Er trat einen drohenden Schritt auf Dard zu, der unwillkürlich zurückwich. Dem Jungen wurde klar, daß eine Untergrundbewegung nicht viel mit einem Knaben und einem Kind anfangen konnte, aber mit der Kaltblütigkeit eines Verzweifelten fiel ihm das Rettungsmittel ein. Warum mochte Lars wohl solch großen Wert auf das gestrige Wortspiel gelegt haben? Warum hatte er betont, daß er sich die Zahlen so gut merken solle? Ob nicht –? »Lars hatte seine Arbeit beendet!« sagte Dard ru hig. »Ich glaube ihr benötigt die Ergebnisse – oder etwa nicht?« »Du hast die Formel?« fragte der Unbekannte. Dard zeigte auf seine Stirn. »Ich habe sie – hier drin. Ich werde sie euch verraten – aber erst dann, wenn ich vor den richtigen Leuten stehe.« Der Fremde sah ihn fast eine Minute lang an, ehe er antwortete. »Gut. Dann kommt mit. Ich bringe dich zu ihnen.« Sie marschierten die ganze Nacht und erreichten ge gen Morgengrauen eine große Höhle, die sich auf ei
nem Berg befand. Der kleine Eingang führte in einen geräumigen Saal unter der Erde, in dem sich außer einer elektrischen Beleuchtung auch noch eine Wär meanlage befand. Mit einem Seufzer der Befriedi gung sank Dard auf das weiche Polster eines Laub haufens, während der Bote, dessen Name Sach laute te, aus einem Versteck mehrere Konservendosen her vorzog, die er auf einem Heizofen wärmte. Mit schläfrigen Augen sah Dessie ihm zu, diesem Zaube rer mit den ungeahnten Fähigkeiten. Nach einem reichhaltigen Mahl legten sie sich zum Schlafen nieder, und Dard war sofort eingeschlum mert. Erst ein heftiges Schütteln weckte ihn. Es war stockdunkel, und jemand hatte seine schmutzige Hand auf seinen Mund gelegt, so daß er keinen Ton hervorbringen konnte. »Ruhig, kein Wort!« hörte er Sach sagen. »Draußen kreist ein Helikopter. Entweder haben sie uns ver folgt, oder sie kennen die Höhle. Möglich ist, daß sie eine Wache vor den Eingang gestellt haben, in der Hoffnung, daß wir noch kommen. Hör nun gut zu, Dard Nordis: Von der Entdeckung deines Bruders hängt unser aller Leben ab. Die freien Wissenschaftler leben in einer Schlucht, keine acht Kilometer von hier entfernt. Denk dir eine gerade Linie, wenn du im Eingang stehst, zu dem fernen Berggipfel, den du dann siehst. Das ist die Richtung. Ich gehe jetzt hin
aus und ziehe die Verfolger auf mich. Du versuchst, jenes Tal zu erreichen! Verstanden?« »Und was – was ist mit Ihnen?« stammelte Dard. »Mach dir um mich keine Sorgen, ich kenne mich hier aus. Komm jetzt!« Dard folgte ihm bis zum Höhleneingang und konn te nun auch das ferne Summen des Helikopters hö ren. Draußen war ein klarer, heller Frostnachmittag. Das Brummen wurde leiser, dann wieder lauter, bis es direkt über ihnen war. »Ad Astra!« flüsterte Sach und huschte hinaus ins Freie. Dard folgte ihm, soweit der überhängende Felsen Schutz gegen Sicht von oben bot. Er sah, wie Sach in großer Hast den Abhang hinablief und die Aufmerk samkeit der Verfolger auf sich lenkte. Aber ehe der Helikopter wenden konnte, hatte der Bote der freien Wissenschaftler den Waldrand erreicht. Der Heliko pter landete blitzschnell, und drei Männer sprangen heraus. Ehe diese jedoch den Wald betreten konnten, schoß daraus ein bleistiftstarker grüner Strahl heraus und fand sein Ziel. Einer der Männer brüllte entsetzt auf und wälzte sich dann schreiend am Boden. Die beiden anderen Verfolger warfen sich in Deckung, und von dem inzwischen aufgestiegenen Helikopter fetzte eine Geschoßgarbe in das Unterholz des Wäld chens.
Es würde bald dunkel werden. Die Streife der Frie densmänner entfernte sich immer mehr nach Westen – der Weg nach Osten wurde frei. »Ist es schon Zeit zum Gehen?« fragte Dessie ängst lich, als Dard wieder in die Höhle zurückkam. »Wo ist Sach?« »Er wird hierbleiben. Wir gehen allein. Aber vorher werden wir ordentlich essen.« Als sie später aus der Höhle heraustraten, war es schon fast dunkel. Dard zeigte auf den nackten Fels vorsprung. »Dort müssen wir hinunter, damit wir keine Spu ren hinterlassen. Halte dich dicht bei mir, damit wir uns nicht verlieren.« Sie liefen die ganze Nacht und erreichten gegen Morgen einen halb zugefrorenen Flußlauf, den sie nicht überqueren konnten. Erst nach vielen Stunden gelang es ihnen, einen Übergang zu finden. Hier war das Wasser zugefroren. Die Berge lagen noch in weiter Ferne, und Dard stieß einen Seufzer aus. Er hatte Dessie auf die Schulter ge nommen, nachdem die letzten Nahrungsmittel aufge gessen waren und er den Sack nicht mehr zu tragen brauchte. Der Wald war zu Ende, und sie befanden sich auf einer freien Schneefläche, die keine Deckung mehr bot. Er schritt hastig aus, denn er wollte nicht, daß sie hier vom Feind überrascht wurden.
Sie waren nur noch einige hundert Meter von ei nem kleinen Gehölz entfernt, als er das ferne Brum men eines Helikopters hörte. Mit leisem Surren pfiff die erste Kugel an seinem Kopf vorbei, dann erst hör te er den Knall. Mit einem Satz, der seine letzten Kraftreserven verzehrte, warf er sich in die ersten Bü sche, die kaum Deckung boten. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß man sie beide von oben nicht sehen konnte. Der Helikopter kam heran, und ein Geschoßhagel schlug in die Bäume. Wie durch ein Wunder wurden die beiden Menschen nicht verletzt. Herrgott! Wenn es doch schon Abend wäre! Dun kelheit! Der Helikopter machte eine große Schleife und kam zurück. Erneut begann das planlose Geschieße. Es war klar, daß man sie nicht sah, sonst würde man genauer zielen. Dard wunderte sich, daß man nicht einfach landete, um sie zu erledigen. Aber dann ent sann er sich des grünen Strahls, mit dem Sach seine Feinde angegriffen hatte. Man vermutete also die gleiche Waffe auch bei ihm. Das war gut. Sie ließen noch zwei weitere Angriffe über sich er gehen, als dann endlich das lang Gefürchtete ge schah: Der Helikopter setzte vor dem Wäldchen zur Landung an. Kaum hatte er den Boden berührt, als drei, vier Männer aus der Maschine sprangen und ei
ne Schützenkette bildeten. Im gleichen Augenblick schwenkte der Lauf des Maschinengewehrs herum und zeigte genau auf Dard und Dessie. Wenn sie jetzt das Feuer eröffnen würden –! Aber sie schossen nicht. Dard hatte schon vor wenigen Minuten auf einem fernen Berggipfel ein regelmäßig wiederkehrendes Aufblitzen bemerkt, es sich aber nicht erklären kön nen. Jetzt, in dieser Sekunde, glomm das ferne Leuch ten wieder auf, erlosch aber nicht mehr. Im Gegenteil! Es verdichtete sich zu einem intensiven Grün, das den Helikopter einhüllte. Dann war es, als schwebe ein giftiger Nebelschleier auf Dard zu. Er konnte nur noch sehen, wie die vier Männer der Streife zusam mensackten, dann hatte der Schleier ihn und Dessie erreicht. In seinem Gehirn begann es zu wirbeln, ehe er, mit dem Gefühl, ins Unendliche zu fallen, das Bewußt sein verlor.
4
Als er erwachte, hing dicht über ihm eine rosafarbene Kugel, die er angestrengt anstarrte. Erst allmählich erkannte er die Ohren und die Augen, und schließlich einen Mund, der auf und zu klappte. Er starrte in ein Gesicht. »Nun, wie geht's, Junge?« Er versuchte, sich zu erinnern. Die »Friedensmän ner« waren gelandet und kamen auf ihn zu. Das grü ne Glühen – Dessie! Was war mit Dessie? »Du brauchst dir um das Mädchen keine Sorgen zu machen, sie ist genauso munter wie du. Ihr seid die Nordis-Kinder, nicht wahr?« »Ja. Woher wissen Sie das?« »Wir wissen manches, Junge. Darum halfen wir euch auch. Unser Helikopter brachte euch hierher.« »Wo ist – hier?« fragte Dard scheu. Er war mit einer richtigen, sauberen Decke zugedeckt und steckte in einem Overall. »Die Schlucht, die letzte Festung der freien Men schen auf der Erde. Ad Astra!« fügte er plötzlich hin zu und sah Dard an, als erwarte er eine Antwort. Ob das eine Art Losung war? »Ad Astra!« wiederholte Dard. »Lars sagte es sehr oft.«
»Es bedeutet ›Zu den Sternen!‹ und ist unser Mot to. Diese Schlucht hier ist das Sprungbrett zu den Sternen.« »Zu den Sternen? Nicht – zu den Planeten?« »Was wollen wir mit den Planeten? Sie sind zu na he bei Terra. Nein, wir meinen die Sterne, den inter galaktischen Raumflug, den Flug zu fernen Sonnen systemen.« Dard hielt den Atem an. »Ihr habt ein – Sternenschiff gebaut?« Der Mann gab keine Antwort, aber er nickte. »Aber – was hat denn Lars damit zu tun? Er verstand doch nur etwas von Chemie und Biologie. Keine Ahnung von Astronautik.« »Er hatte eine große Aufgabe zu lösen, von der das Gelingen unseres ganzen Planes abhing. Wir stellten sie ihm vor mehr als acht Jahren – und fanden ihn erst vor wenigen Wochen wieder. Sonst hätte das, was geschah, nie geschehen können. Aber – du woll test uns doch eine Botschaft von ihm bringen –?« Die Stimme des Mannes zitterte vor Erregung. »Ich weiß nicht –« zögerte Dard. »Warte! Ich hole Tas. Ich bin übrigens Simba Kim ber. Navigationsoffizier. Tas Kordov ist Leiter der biologischen Abteilung.« Kordov war so breit gebaut, daß er einem Schrank ähnelte. In seinem gutmütigen Gesicht standen die
Backenknochen weit hervor und verrieten seine asia tische Abstammung. »Nun, was willst du uns erzählen«, fragte er. Dard zögerte noch. »Ich weiß nicht, ob es das ist, was ihr erwartet. Lars sagte mir am letzten Abend, daß er die Aufgabe endlich gelöst habe. Aber er machte keine Anstalten, das Ergebnis seiner Berech nungen aufzuzeichnen. Aber etwas anderes tat er – das reicht weit in die Vergangenheit zurück.« Er zö gerte erneut. Ob man ihm die Geschichte glauben würde? »Lars wußte, daß ich mir Worte sehr oft als Strichmuster vorstellte. Ich kann also ein Gedicht le sen, wenn ich es vorher einmal höre und als Striche niederschreibe. So etwa: Echse – Ochse – Achse – Hamm! Himmel – Hammel – Hummel – Kamm!« Tas Kordov sah ein wenig verständnislos auf ihn und die Striche hinab, die Dard auf das ihm über reichte Stück Papier gekritzelt hatte. »Ganz nett«, brummte er, »aber was soll das?« Dard griff nach dem Papier. »Er machte das an jenem Abend mit einigen Zahlen. Mit diesen: Sieben – neun – vier und zwei! Zwanzig – sechzig – siebzig – drei.« Tas nahm das Papier und starrte auf die Zahlen. Simba war wieder in das Zimmer getreten und schau te neugierig über Tas' Schulter. »Merkwürdig«, knurrte er vor sich hin, »sieht aus wie ein Code.«
»Es ist ein Code!« sagte Tas. »Es ist vielleicht die Lösung! Ich werde es sofort nachprüfen lassen.« Er rannte hinaus. »Was hat er?« wollte Dard wissen. »Bedeuten die Zahlen etwas?« »Wenn wir Glück haben und du dich nicht geirrt hast – haben wir endlich die Formel für den Kalten Schlaf.« »Für den – was?« »Für den Kalten Schlaf. Wir müssen auf dem lan gen Flug zu einem anderen Stern schlafen, sonst würde das Schiff mit einer Ladung Staub sein Ziel er reichen. Das Schiff wird Generationen unterwegs sein, Hunderte von Jahren. Wir haben alles versucht, die Geschwindigkeit unseres Schiffes – theoretisch natürlich nur – zu vergrößern. Es ist uns nicht gelun gen. Schon hatten wir uns entschlossen, nur zum Mars zu flüchten, wo die Lebensbedingungen sehr schlecht sind, als wir herausfanden, daß Lars Nordis noch lebte. Vor acht Jahren hatte er uns versprochen, die Lösung aus diesem Dilemma zu finden. Er hatte den Winterschlaf der Fledermäuse studiert, das Ab senken der Körpertemperatur – und was weiß ich noch. Ich bin nur Astronaut, habe keine Ahnung von diesen Dingen. Ich weiß nur, daß es darum ging, uns Menschen während des Flugs einzufrieren. Wir wür den also praktisch nicht älter werden, und wenn wir
hundert Jahre und mehr unterwegs sind. Das einzige Mittel, lebend zu anderen Sternen zu gelangen.« »Warum habt ihr Lars nicht sofort geholt?« »Weil er nicht wollte, daß die Friedensmänner auf unsere Spur kommen. Das Endziel war für ihn wich tiger als sein Leben.« Dard senkte den Kopf. »Ich möchte das Sternen schiff einmal sehen.« Simba Kimber lächelte. »Wenn du kräftig genug bist, dann komm mit.« Dard erhob sich und folgte Kimber. Sie traten vor die Hütte, und Dard wunderte sich, daß es im Freien gar nicht so kalt war, wie er erwartet hatte. Sein Blick ging an verschiedenen Baracken vorbei und blieb auf einem silberglänzenden Ungetüm hängen, das senk recht am Ende des riesigen Talkessels stand. Das Sternenschiff! Die interstellare Weltraumrake te! »Aber – so groß sie auch ist – gehen denn alle Men schen hinein, die hinein sollen?« »Wenn wir den Kalten Schlaf haben, geht unheim lich viel in sie hinein«, wich Kimber aus. In Dard kroch ein unbestimmtes Gefühl der Angst hoch. Wenn das Schiff ohne ihn starten würde! Wenn er allein auf der Erde zurückbleiben müßte! Er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. »Gehen alle hinein? Alle?«
»Nein – nicht alle. Es werden einige zurückbleiben müssen.« Dard senkte den Kopf. »Dann werden wohl Dessie und ich hierbleiben.« »Wer sagt denn das?« erklang hinter ihnen eine Stimme. Es war Tas, der unbemerkt hinzugekommen war. Auf seinem Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln. »Wenn jemand zurückbleiben muß, dann bestimmt nicht der Junge und das Mädchen. Ihnen haben wir es zu verdanken, wenn wir je einen fremden Stern er reichen.« Kimber machte den Mund auf, schloß ihn jedoch wieder, ohne etwas zu sagen. Tas klopfte Dard auf die Schulter und sagte zu Kimber: »Wir haben die Formel, Sim! Nun liegt es nur noch an dir. Stelle dei ne Berechnungen an, und wir können starten.« Sim Kimber starrte noch immer sprachlos auf den Biologen, ehe er die Tragweite von dessen Worten begriff. »Die Berechnungen?« stammelte er. »Sie sind fast fertig.« »Dann beeil dich – und vollende sie. Die Zeit drängt.« Kimber nickte, immer noch fassungslos, und ging davon. Seine Schultern hingen etwas herab, als habe er eine große Last zu tragen. Tas lachte hinter ihm her.
»Da hört er die Nachricht, auf die er seit Jahren wartet – und nun wird er von der Freude derart überwältigt, daß er kaum noch stehen kann.« Er wandte sich an Dard. »Das haben wir nun dir zu ver danken.« »Und Sach!« erinnerte ihn Dard. »Was ist mit ihm?« Tas senkte den Kopf. »Er wird nicht mitfliegen«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Ist er tot?« fragte Dard. »Wir wissen es nicht. Aber wenn er nicht rechtzei tig auftaucht –« er stockte. Dard konnte sich den Rest denken. Simba Kimber kam in diesem Augenblick wieder zurück. Sein Gesicht zeigte einen entschlossenen Ausdruck. »Wir können nicht eher starten, bis wir die letzten und endgültigen Berechnungen unseres Kurses vom Computer bestätigt bekommen. Ich bin ohne Elek tronengehirn nicht in der Lage, diese äußerst schwie rigen Berechnungen allein durchzuführen.« Tas Kordov lehnte sich gegen die Barackenwand. »Den Computer müssen wir fragen? Das ist – un geheuerlich. Es ist fast unmöglich!« Kimber winkte ihm, er solle schweigen, und fragte Dard:
»Was weißt du vom Computer?« Dard überlegte. Der Computer war ein riesiges Elektronengehirn, das noch aus der Zeit vor der gro ßen Säuberung stammte. Die Beamten der PAX be wachten es mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, um eine eventuelle Zerstörung zu verhin dern. Das Gehirn gab ihnen die logisch richtigen An weisungen zur Beherrschung der Menschen, auf die sie selbst niemals gekommen wären. Die wertvolle und einzigartige Maschine stand in einem tempelar tigen Bau nahe der Stadt. »Der Computer ist der Mittelpunkt der paxistischen Macht. Es ist völlig unmöglich für einen gewöhnlichen Sterblichen, sich ihm auch nur zu nähern.« Kimber wehrte ungeduldig ab. »Wo befindet er sich? Weißt du das wenigstens?« »Ja – so ungefähr. Aber ich –« »Wir wissen genau, Dard, daß du sogar schon ein mal in dem Tempel des Computers warst. Stimmt das?« Dard erschrak. Das stimmte! Woher mochten sie das wissen? »Es ist wahr, daß ich schon einmal in dem Tempel war. Ich benötigte einen Ausweis, um einen Arzt auf suchen zu dürfen, und man führte mich vor die Ma schine, um mich auszufragen. Daher weiß ich, wo sie ist.«
»Schon gut, mein Junge. Du brauchst keine Angst zu haben, daß wir dich deshalb für einen Spion hal ten. Im Gegenteil, wir sind froh, daß wir nun jemand haben, der uns genau erzählen kann, wo wir den Computer finden werden.« »Ihr wollt –?« Dard verschlug es den Atem. Er wußte, daß ein Besuch des »Tempels des Computers« gleichbedeutend mit dem Versuch war, eine schwer bewaffnete Leibwache mit einem Holzmesser zu überwältigen. »Erzähle!« sagte Kimber ruhig. Dard erzählte. Er konnte feststellen, daß er ein aus gezeichnetes Gedächtnis hatte. Er wußte sogar noch die Anzahl der Stufen, die in den inneren Hof führ ten, und konnte fast jedes Wort wiederholen, das damals von dem Computer gesprochen wurde. Kimber nickte mehrmals vor sich hin, ehe er sagte: »Ich bewundere dich! Wie kann ein junger Mensch nur ein solches Erinnerungsvermögen besitzen! Er staunlich!« Dard lachte unsicher. »Es ist nicht nur erstaunlich – es ist manchesmal grauenhaft. Ich kann nichts mehr vergessen seit dem Tage der Säuberung! Nichts, aber auch kein Wort, das ich einmal hörte, geht mir aus dem Gedächtnis. Selt samerweise war das vor der Säuberung anders.« »Bei uns ist es ähnlich – und doch anders. Wir be
halten zwar nicht jedes Wort, aber doch die Ereignis se – und die möchten wir nur zu gern vergessen. Es ist zuviel Grauenhaftes in den letzten Jahren gesche hen, als daß die Erinnerung daran schön wäre. Dieser lächerliche Ameisenhaufen der PAX will der Welt den Frieden geben, aber er gibt ihr nur die Primitivi tät und den Terror. Dem wollen wir entfliehen. Es tut uns leid, daß wir nichts für die Menschheit tun kön nen, die einem schrecklichen Schicksal entgegengeht: Vermassung und Sklaverei. Wir können es nicht mehr ändern, denn sie haben nicht auf uns gehört, als noch Zeit war. Aber wir wollen wenigstens unsere ei gene Haut retten. Darum müssen und wollen wir die Erde verlassen; die Umstände zwingen uns zu einem Wagnis, das selbst die erfahrenen Spezialisten des vergangenen Jahrhunderts für irrsinnig gehalten hät ten: wir wollen das Sonnensystem verlassen, um ei nen neuen Stern und einen neuen Planeten zu finden, der unserer Erde entspricht. Dazu gab uns dein Bru der den Kalten Schlaf. Aber es geht über meine Kräf te, einen Kurs zu bestimmen, der durch unerforschte Weiten des Alls führen wird. Ich habe Berechnungen angestellt und es ist unterwegs eine ständige Korrek tur nötig, die aber leider völlig unmöglich ist, da wir alle bis zur Landung schlafen werden. Keiner von uns würde sonst den Flug überleben. Nein, ich muß mei ne bisherigen Berechnungen und Daten dem Compu
ter geben, der mir das endgültige Ergebnis mitteilen kann. Eher gibt es für uns keinen Start – und keine Si cherheit.« Dard starrte Kimber an, als habe er einen Wahnsinnigen vor sich. »Mein Gott!« war alles, was er zu sagen vermochte. Wie genau er wußte, daß noch nicht einmal die Vertrauensmänner der PAX in den Tempel kamen, geschweige denn ein Rebell! Nur die »Lorbeerträger« durften das eigentliche Heiligtum besuchen. Es war ihm ein Rätsel, wie Kimber bis zu dieser Stelle vor dringen wollte, um sein Ziel zu erreichen. Kimber jedoch verriet noch nicht seine Absichten, sondern lächelte nur vor sich hin. Scheinbar war er irgendwie zufrieden, obwohl sich Dard nicht denken konnte, warum wohl. »Wann wollen Sie versuchen, zum Computer zu gelangen?« »Sobald Tas mir Bescheid bringt. So lange muß ich warten.« Hinter ihnen ertönten Schritte. Sie drehten sich um. Es war Tas Kordov, der ihre letzten Worte gehört hat te, denn er sagte: »Welchen Bescheid? Daß es mir gelungen ist, aus Zahlen, Strichen und anderem Kauderwelsch etwas Sinnvolles zu konstruieren? Daß ich die Lösung des phantastischen Rätsels gefunden habe, das uns dieser
junge Freund hier so einfach hingeworfen hat? Wenn du also auf diesen Bescheid gewartet haben solltest, mein lieber Kimber, dann ist deine Wartezeit zu En de, und die Zeit des Handelns ist gekommen. Ich ha be das Bilderrätsel gelöst! Es ist etwas Sinnvolles da bei herausgekommen! Wir können Lars Nordis und seinen Boten danken. Dem Start steht nichts im Wege! Wir warten jetzt nur noch darauf, daß du deinen Teil dazu beiträgst! Du weißt, was ich meine: das Ergeb nis der Berechnungen, die du vom Computer zu ho len hast. Dann werden wir die Erde verlassen.« Kimber nickte ihm ruhig zu und wandte sich zum Gehen. »Gut, Tas. Ihr werdet nicht lange zu warten brau chen.« Dard hielt ihn am Ärmel fest. »Augenblick, Mr. Kimber! Sie waren doch niemals im Tempel des Computers? Oder vielleicht doch?« Kimber tat erstaunt. »Natürlich nicht! Glaubst du, man steigt freiwillig aufs Schafott? Oder denkst du vielleicht, es gäbe ei nen Menschen, der seine Hand in einen Atomreaktor halten würde? Nein, mein lieber Junge, ich gehe nur deshalb zum Computer, weil wir ohne die Berech nungen nicht fliegen können.« »Ich verstehe ja nicht viel von den Berechnungen, aber ich bin schon einmal in dem Tempel gewesen.
Ich könnte euch also hinein und wieder heraus füh ren, wenn ihr wolltet. Auch kenne ich die Gewohn heiten der Friedensmänner, um eine Hilfe bei dieser Aktion zu sein. Formulare, Losungsworte, Lorbeer träger – das sind alles Begriffe, die mir nicht unbe kannt sind.« Kimber wehrte ab und öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, als der Wissenschaftler Kordov sich einmischte. »Sei ruhig, Sim! Du willst doch nur wieder Unsinn reden. Natürlich wäre es für dich von Vorteil, wenn du Dard mitnehmen könntest. Er kennt den Tempel, hat die Wächter gesehen und weiß auch, wie man sie eventuell hinters Licht führen kann – außerdem ist die Sache gar nicht so riskant in der Verkleidung, die du dir ausgedacht hast. Ich wäre jedenfalls dafür, wenn du den jungen Nordis mit dir nähmst, Simba.« Der Raumpilot stand da, hatte die Stirn gerunzelt. Dard erwartete eine Ablehnung, zweifelte nicht dar an. Doch plötzlich überzog ein Lächeln die ernsten Züge, und er nickte. Tas atmete auf und schob Dard auf Sim zu. »Nun geh schon, Junge. Wir haben ihn wieder mal weich gemacht. Aber paß gut auf ihn auf, hörst du? Er ist trotz allem der beste, und ich möchte fast sagen, der einzige Raumpilot, den wir besitzen. Außerdem der einzige Astronavigator, der etwas taugt.«
»Laß das Browny nicht hören«, grinste Kimber und nahm Dard einfach bei der Hand. Er nickte Kordov noch einmal zu und ging mit dem Jungen davon, auf die fernen Wohnbaracken zu, die wie Schwalbenne ster an den Wänden der Schlucht klebten. Steile Stu fen, roh in den Felsen gehauen, führten zu ihnen em por. Kimber betrat zusammen mit Dard einen in den Felsen gehauenen Saal, der nach oben offen war und den Blick auf den Himmel frei ließ. Mitten in dieser kleinen Nebenschlucht stand ein Helikopter, der die deutlichen Markierungen der PAX trug. Kimber zeig te auf die Maschine. »Kennst du das Ding noch? Es ist der gleiche Kop ter, der dich verfolgte, als du den Fluß überquert hat test. Wir haben ihn uns geborgt. So, und nun nimm dies hier und zieh es an.« Er zog aus der offenen Kabine ein Bündel Kleider, das er Dard einfach zuwarf. Erstaunt stellte dieser fest, daß es sich um die Uniform der PAX-Streife handelte. Allmählich begriff er den Plan des Raumpi loten; er zog die Kleidungsstücke an und schnallte zum Schluß den Gürtel um, in dessen Tasche eine Be täubungspistole steckte. Er sah, daß auch Kimber sich umgezogen hatte, und wußte, daß es nun ernst wurde. Mit einem kur zen Gedanken dachte er an Dessie. Ob er sie wohl
wiedersehen würde? Wenn ja, dann war bestimmt al les gut, denn dann hätten sie mit ihrer Mission auch Erfolg gehabt. Kimber saß schon hinter den Kontrollen und warte te auf Dard, der schnell in die Maschine kletterte und sich neben den Piloten setzte. Der drückte auf den Startknopf, und mit einem leisen Surren begannen die Rotorblätter zu kreisen. Kimber winkte einigen Männern zu, die inzwischen den Hanger betreten hatten. Dann hob der Helikopter vom felsigen Boden ab, schwebte langsam in die Höhe und befand sich bald unter freiem Himmel. In immer größer werdenden Spiralen entfernte er sich vom Erdboden, um schließlich in gerader Rich tung davonzuschießen. Es begann bereits zu dämmern, als sie den Fluß überquerten. Vor ihnen lag der Erfolg und die Frei heit – oder aber das endgültige Ende aller Hoffnun gen.
5
Dard starrte angestrengt nach unten. In wenigen Mi nuten würden sie an der Stelle sein, von der aus Dard und Dessie zu Fuß und unter schwierigsten Verhält nissen aufgebrochen waren. Die Maschine flog über die Höhenzüge, in denen irgendwo die Höhle verborgen war. Dard fiel in die sem Augenblick wieder Sach, der Bote, ein. Wo mochte der stecken? Dort unten konnte er jetzt deut lich den Hügel erkennen, den Sach hinabgelaufen war, um die Aufmerksamkeit der PAX-Leute auf sich zu lenken. Dort war auch der Wald, in dem er ver schwunden war. »Haben Sie schon Nachricht von Sach?« fragte Dard, denn er hätte diesen kleinen, wachsamen und auch tapferen Mann gern in Sicher heit gewußt. Aber Kimber antwortete nicht sofort, sondern ließ Dard eine Weile warten. Als er dann endlich etwas sagte, lag in seiner Stimme eine verdächtige Zurück haltung. »Noch keine Nachricht von ihm. Er hat bisher noch mit keinem unserer Verbindungsleute Kontakt auf genommen. Das ist natürlich kein gutes Zeichen, muß aber nicht unbedingt das Schlimmste bedeuten. Übri gens, da fällt mir ein –«
Der Pilot steuerte den Helikopter nach rechts und sie entfernten sich von dem Pfad, den Dard mit Sach und Dessie gekommen war. Eine unerklärliche Er leichterung bemächtigte sich des Jungen, der sich ir gendwie davor gefürchtet hatte, die verkohlten Reste der ehemaligen Farm wiederzusehen. Sie flogen nicht lange, als unter ihnen eine andere Gebäudegruppe auftauchte, eben noch in der begin nenden Nacht erkennbar. Dard konnte sehen, daß die Häuser in einem verhältnismäßig guten Zustand wa ren, ja sogar einen gewissen Wohlstand verrieten. So etwas ließ die PAX nur ihren treuesten Anhängern zukommen. Dard wunderte sich, was Kimber wohl hier wollte. Es war offensichtlich, daß der Bewohner dieser Farm nur ein Freund der PAX sein konnte, denn niemals hätte jemand anders so öffentlich seine Wohlhabenheit demonstrieren dürfen. Sogar die Rauchwolke, die aus dem Steinkamin zu ihnen em porstieg, zeugte von Reichtum – nämlich von uner schöpflichen Brenn- und Lebensmittelvorräten. Nein, dort unten konnte nur ein Mensch leben, der sich der Unterstützung der gesamten PAX völlig sicher war. Und doch ließ Kimber die Maschine immer tiefer gehen und zögerte nicht, sie endlich vor dem Haus auf der verharschten Schneedecke aufzusetzen. Das plötzliche Schweigen, als die Rotorblätter sich nicht mehr drehten, wirkte fast schmerzhaft. Der Pilot
machte keine Anstalten, den Helikopter zu verlassen, sondern blieb ruhig auf seinem Platz sitzen und gab Dard ein Zeichen, das gleiche zu tun. Die Haustür des Hauptgebäudes öffnete sich, und ein Mann trat heraus. Er sah einen Augenblick zu ih nen herüber, ehe er den Hof überquerte. Stumm saß Dard da und duckte sich unwillkürlich zusammen, als der Landmann mit seinem runden und plumpen Gesicht durch die Scheiben der Kanzel starrte, um sie anzusehen. Er bemerkte, wie sich des sen Augen plötzlich vor Erstaunen weiteten, als sie die Uniform entdeckten. Dann drehte der Fremde sich um und jagte einen zähnefletschenden Hund da von. Kimber hatte das Fenster geöffnet. Der Landmann sah erneut zu ihnen herein und fragte: »Es ist soweit?« »Es ist soweit!« nickte Kimber. »Wenn es geht, dann brecht bereits heute nacht auf, Harmon.« »Gut! Wir haben schon gepackt.« Er blickte Dard an und fuhr fort: »Wer ist der Junge?« »Das ist Dard, der Bruder von Lars Nordis. Sein Bruder ist tot. Überfall der Streife.« »Ja, ich hörte davon. Man erzählte, daß alle ums Leben gekommen seien. Ich bin froh, daß es nicht stimmt und die verdammten Hunde sich getäuscht haben. Also – bis später dann.«
Er winkte mit der Hand, wandte sich um und schritt langsam wieder auf sein Haus zu. In der Haus tür drehte er sich noch einmal um, hob die Hand wie zum Gruß und war bald darauf verschwunden. Dard begann: »Allerhand! Ich hätte nicht geglaubt, daß –« »– daß ein Mann wie Harmon zu uns gehören würde?« Kimber lachte und drückte auf den Starter. Die Flügel begannen surrend zu rotieren, und die Maschine hob sanft ab. »Wir haben ziemlich unge wöhnliche Verbindungsleute bei der PAX, mein Jun ge. Angefangen vom Lastwagenfahrer bis zum ersten Wissenschaftler gibt es Männer, die zu uns gehören. Denk doch nur an Santee! Er war Unteroffizier in der alten Armee, kann lesen und seinen Namen schreiben und ist außerdem ein hervorragender Waffenexperte. Für uns in der Schlucht ist er genauso wichtig wie Tas Kordov, der einer der größten Biologen der Welt überhaupt ist. Wir verlangen nur eines von den Men schen, die zu uns gehören: Sie müssen an den Wert der Freiheit glauben. Auch dieser Harmon wird in Zukunft von großem Wert für uns sein. Zwar wissen wir selbst, wie man Hydro-Gärten anlegt, aber er als Landmann kann uns doch noch manche Tricks bei bringen, die den Ernteertrag mindestens verdoppeln. Außerdem sind wir ihm Dank schuldig, denn er war einer unserer besten Verbindungsleute. Er, seine
Frau, sein Sohn und die beiden Mädchen haben fünf Jahre lang ihre gefährliche und für uns so wichtige Aufgabe erfüllt. Und zwar mit Erfolg. Ich bin davon überzeugt, daß sie alle glücklich und froh sein wer den, wenn nun endlich alles vorüber und der Erfolg der jahrelangen Arbeit in greifbare Nähe gerückt ist. Es ist nicht jedermanns Sache, gleichzeitig zwei Her ren zu dienen – man hat dann immer das Gefühl, ein Verräter zu sein. So, und nun zurück an unsere Ar beit. Wir sind bald da.« Der Helikopter zog noch eine Schleife und flog in Richtung Westen der untergegangenen Sonne nach. In der Kabine war es warm. Unter ihnen zog sich das Band der Straße scheinbar endlos hin. Gewisse An zeichen deuteten darauf hin, daß sie tagsüber sehr be lebt sein mußte. Dard versuchte Einzelheiten zu er kennen, aber das war bei der zunehmenden Dunkel heit nicht mehr möglich. Er wußte, daß dies die Stra ße war, die von dem Anwesen Folleys zu der NordisFarm und von da aus über einige verlassene Dörfer zur Stadt führte. Immer weiter flogen sie durch die inzwischen he reingebrochene Nacht. Vereinzelte Lichter in der Dunkelheit dort unten verrieten die Anwesenheit menschlicher Behausungen. Die Lichter wurden im mer häufiger. Sie strahlten nicht wie früher, vor der Säuberung, sondern glühten nur schwach. Selbst Pe
troleumlampen waren Luxus, und meist hatten die Bauern nur Kerzen oder Kienspäne zur Verfügung. »Der Landeplatz für die Helikopter liegt – von hier aus gesehen – hinter dem Tempel. Sie machen am be sten einen Bogen, denn niemand darf das geheiligte Dach überfliegen. Es würde auffallen, wenn wir das wagen würden.« In der Ferne glühte der Himmel in einem blassen Weiß-Gelb. »Dort!« rief Dard. »Das ist schon die Stadt! Der Tempel des Computers liegt südlich davon auf einem Hügel. Dort – sehen Sie! Da ist er.« Die Lichter der Stadt lagen weiter nach rechts, während links weiße Strahlenbündel in den Himmel schossen und einen regelrechten Lichtdom bildeten. Die PAX besaß noch die Kraftwerke der alten Zeit und hatte bisher auch nicht die Absicht vertreten, diese als »wissenschaftliches Teufelswerk« abschaffen zu wollen. Der Gipfel des Hügels war abgetragen worden, damit eine große flache Ebene Platz für den Tempel und den Helikopterlandestreifen bot. Dieser Landestreifen war hell beleuchtet, und es gelang Kimber, zehn Maschinen zu zählen, die startbereit dort standen. Der Tempel selbst nahm etwa ein Drit tel des ganzen Hochplateaus ein. Soweit man in der kontrastreichen Beleuchtung erkennen konnte, ein ziemlich pompöses Gebäude.
»Zehn Helikopter«, sagte Kimber nachdenklich. »Ich habe immer gedacht, sie hätten mehr davon.« Die Armaturenbeleuchtung warf seltsame Schatten auf sein angespanntes Gesicht. »Hier ist der Mittel punkt des sogenannten Friedensstaates. Alle verfüg baren Maschinen halten sich in der Nähe des Tempels auf, wenn sie nicht im Einsatz sind. Und ich habe noch nicht gehört, daß sie nachts Überfälle fliegen. Außer in eurem Fall«, fügte er hinzu. »Dann aller dings könnte ich verstehen, daß wir jetzt nur zehn Helikopter hier vorfinden.« »Anscheinend eine neue Mode, denn sie kamen mitten in der Nacht zu uns«, bestätigte Dard. »Was halten Sie nun davon?« »Was soll ich davon halten? Unsere Pläne darf es nicht beeinflussen – und wird es auch nicht. Was auch immer der Grund für das Vorhandensein von nur zehn Maschinen ist, wir wollen für uns nur Vor teil aus dieser Tatsache zu ziehen versuchen. Je weni ger uns im Falle einer Entdeckung verfolgen, desto besser. Sieh, dort in der Ecke ist es ein wenig dunkler. Anscheinend ist einer der Scheinwerfer ausgefallen. Wir wollen versuchen, dort zu landen.« Er betätigte einen Hebel, die Maschine verlor an Geschwindigkeit und sackte ein wenig ab. Schräg glitt sie auf die hellerleuchtete Fläche zu, tauchte dann in das dämmerige Dunkel der unbeleuchteten
Ecke und setzte kurz danach fast geräuschlos und sehr sanft auf. In der gleichen Sekunde hatte Kimber abgeschaltet, und das letzte Geräusch erstarb. Um sie herum war nichts als Stille. Kimber war ein ausgezeichneter Pilot, das mußte auch Dard einsehen. Wohl kaum jemandem anders wäre es gelungen, unbemerkt mit einem Helikopter mitten zwischen dem Feind zu landen. Kimber schüttelte sich selbst vor Freude über den gelungenen Streich die Hände. »Das hätte geklappt«, flüsterte er. »Und nun hör gut zu: An deinem Gürtel befindet sich eine Betäu bungspistole. Hast du schon jemals in deinem Leben so ein Ding abgeschossen?« »Nein.« »Sie ist nicht schwer zu handhaben, im Gegenteil. Du brauchst nur zu zielen und dann auf den Knopf zu drücken. Aber eines sage ich dir schon jetzt: Nur dann schießen, wenn ich es dir erlaube. Verstanden? Wir haben nämlich beide nur je zwei Ladungen in der Waffe, die wir nicht leichtsinnig verschwenden dür fen. Nicht einen einzigen Schuß, hörst du? Nichts darf geschehen, was unser Interview mit dem Com puter vereiteln könnte.« Als Dard mit ruhigen und selbstverständlichen Schritten über den Landeplatz ging, mußte er daran denken, daß die Leute der PAX zwar die Erfindungen
der Wissenschaftler mit völliger Selbstverständlich keit übernommen hatten, aber für ihre Unterhaltung und Pflege nichts zu tun bereit waren. Die einmal ausgefallenen Scheinwerfer wurden niemals durch neue ersetzt, die Betonfläche unter ihren Füßen wies schadhafte Stellen und beachtliche Risse auf. Kein Mensch dachte daran, diese Schäden zu beseitigen. In den Arbeitslagern lebten nur noch wenige Techniker und Wissenschaftler. Dachten die Führer der PAX denn nicht daran, daß in einigen Jahren von diesem Platz kein Flugzeug mehr aufsteigen könnte? Dach ten sie nicht daran, daß schon nach einem Angriff der Wissenschaftler – falls jemals ein solcher erfolgen sollte – kein Scheinwerfer mehr brennen würde? Dachten sie nicht daran, oder war es ihnen egal? Was waren überhaupt ihre Pläne? Allem Anschein nach die völlige Rückkehr zum Urzustand der Menschheit. Die Städte zerfielen in Ruinen, in denen Ratten und Fledermäuse hausten, aber keine Menschen mehr. Die Dörfer wurden allmählich voneinander abge schnitten, da weder neue Straßen gebaut noch die vorhandenen repariert wurden. Die Wildnis drang immer weiter vor, und man konnte sich den Zeit punkt fast errechnen, an dem dichter Urwald den ganzen Kontinent bedecken würde. Bis zu diesem Augenblick waren sie noch keinem Menschen begegnet. Doch als sie sich dem Tempel
eingang näherten, entdeckten sie die Wache, die im Halbdunkel des Schattens stand. Dard sah auf Kimber und versuchte, seine Rolle genauso gut zu spielen wie dieser. Er straffte seine Schultern, schob das Kinn vor und hüllte sich in die typische Arroganz, die neben der Uniform für die Friedensmänner kennzeichnend war. Kimber war ein ausgezeichneter Schauspieler. Er ging voran, als sei er einer der berüchtigten Lorbeerträger, warf dem Wachposten, der ihnen aufmerksam entgegensah, ei nen verächtlichen Blick zu und schritt an ihm vorbei. Dard folgte, ohne den Posten überhaupt nur anzu sehen. Als sie in den Vorhof gelangten, konnte Dard einen leisen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken. Natürlich war es bis zum Computer noch weit, aber immerhin war der Anfang geschafft. Kimber blieb stehen und berührte leicht den Arm seines Gefährten. Dann huschten sie hinter eine der großen Säulen, die den geräumigen Innenhof umga ben. Der Schatten verbarg sie, während sie selbst alles gut übersehen konnten. Dies hier war also der Tempel, in dem die Frie densmänner die neue Religion predigten, die absolut nichts mehr mit einem Gottesglauben zu tun hatte, sondern völlig auf realistischen Erkenntnissen einer noch realistischeren Gegenwart beruhte. Binsenweis
heiten und Schlagworte waren es, die dem Volke den Gott ersetzen sollten. In der Nacht lag der Tempel und der Innenhof leer und verlassen in der Dunkelheit. Nur Friedensmän ner durften ihn betreten, und gerade diese Tatsache erschwerte das Unternehmen von Kimber und Dard, denn sie mußten sich logischerweise auch wie solche benehmen, falls jemand auftauchen sollte. Aber von den Sitten der Friedensmänner – wenn diese unter sich waren – hatten sie keine Ahnung. Dards Hand lag in der Nähe der Pistole. »Wo ist der Computer?« kam Kimbers Frage flü sternd aus dem Dunkel. Dard zuckte unwillkürlich zusammen, dann aber zeigte er schweigend auf einen mächtigen Torbogen am anderen Ende des Innenhofes. Er wußte, daß der Computer hinter diesem Eingang lag, aber nicht ge nau wo. Lautlos huschten sie von Säule zu Säule, sich sorg fältig immer im Schatten haltend. Zweimal mußten sie bewegungslos verharren, als Gruppen von Män nern über den Innenhof schritten. Das eine Mal wa ren es einfache Friedensmänner, das andere Mal je doch Lorbeerträger. Unbemerkt warteten sie, bis alles still geworden war, ehe sie es wagten, wieder weiter zuschleichen. Sie hatten schon fast den Torbogen erreicht, als
plötzlich eine Gruppe von Männern auftauchte. Es waren Wachtposten; sie gingen neben zwei Arbeitern her, die eine schwere Kiste schleppten. Es gelang Kimber und Dard noch gerade im letzten Augenblick, hinter einer der Säulen Deckung zu fin den. Eng aneinander geschmiegt kauerten sie da und beobachteten die Gruppe von Männern, die sich im mer weiter von ihnen entfernte. »Ziemlich viel Betrieb«, hauchte Kimber. Lautlos warteten sie, bis die Wächter und die Ar beitssklaven verschwunden waren, dann verließen sie ihre Deckung und schritten selbstsicher und wie selbstverständlich über die Fliesen des Innenhofes auf den Torbogen zu. Ein breiter, schwach beleuchteter Gang nahm sie auf. Das Licht kam aus offenen Türen zu beiden Seiten. Endlich erreichten sie das Ende des Ganges, der sich nur nach rechts und links fortsetzte. Vor ihnen war eine große und hohe Tür, an der nichts anderes als eine Klinke zu sehen war. Ob der Computer da hinter war? Kimber spähte vorsichtig nach rechts und nach links, ehe er kurz entschlossen vortrat und die Klinke hinabdrückte. Die Tür glitt lautlos auf. Beide Männer starrten auf die breiten Stufen, die hinab in die Tiefe führten. Kimbers Gesicht erhellte
sich plötzlich, und ein breites Grinsen verzog seine Züge. »Das muß es sein«, sagte er leise. »Gehen wir.« Die Treppe machte eine Biegung. Von hier aus konnten sie die Maschine sehen. Aber auch die beiden Wächter, die unten standen, wo die Treppe endete. Ein anderer Mann – in der Uniform eines Lorbeerträgers – saß schläfrig an ei nem großen Schaltpult. Die Maschine lag tief unter der Erdoberfläche. Ein riesiges Wunderwerk genialen menschlichen Geistes. Ein gigantisches Elektronengehirn. Die Maschine oh ne Mund und ohne Zunge, aber mit einem über menschlichen Verstand. Kimber blieb stehen und beugte sich nach einigen schweigenden Sekunden zu Dard herüber und hauchte in sein Ohr: »Die Nachtschicht. Wir müssen sie unschädlich machen, ehe sie Alarm schlagen können. Halb schla fen sie ja schon. Wird also nicht schwierig werden. Stiefel ausziehen!« Er ließ sich lautlos auf die Stufen nieder und be gann, seine Stiefel auszuziehen. Dard folgte seinem Beispiel. Dann nahm Kimber die Stiefel in eine Hand und begann, sich die Treppe hinabzuschleichen, auf die Wächter zu. Die andere Hand lag zwar in der Nähe der Pistole, berührte sie jedoch nicht.
Dard folgte ebenso geräuschlos und holte Kimber ein, als dieser auf ihn wartete, dicht über den ah nungslosen Wachen. Wie ein Hauch war es in Dards Ohr, als Kimber sagte: »Erst den Mann am Pult. Ich mache ihn mit der Pi stole unschädlich. Dann schlagen wir die beiden Wächter mit den Stiefeln nieder. Aber es muß schnell gehen!« Dard nickte, ohne etwas zu sagen. Seite an Seite schlichen sie weiter, bis sie unmittel bar hinter den beiden Posten standen. Kimber hatte die Waffe gezogen, zielte sorgfältig und drückte auf den Knopf. Der lautlose Betäubungsstrahl erfaßte den Lorbeer träger, der entsetzt auffuhr, sich halb aus seinem Sitz erhob, um dann mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden zu sinken. In der gleichen Sekunde stürzten sich Kimber und Dard auf die Posten, die noch nicht recht begriffen hatten, was geschehen war. Dard hob seinen Stiefel – der andere war ihm entglitten, als er ausholte –, ließ ihn mit kräftigem Schwung auf den Schädel des Überraschten hinabsausen und vernahm mit einiger Genugtuung, wie es einen dumpfen Knall gab. Der Bewußtlose fiel um, als habe ihn der tödliche Strahl einer Energiepistole getroffen. Kimber hatte einen ähnlichen Erfolg zu verzeichnen.
Sie fesselten die beiden betäubten Wächter mit ihren eigenen Gürteln und legten sie in eine Ecke des riesigen Saales. Der paralysierte Lorbeerträger blieb neben dem Pult liegen, an das sich Kimber jetzt setzte. »Achte du darauf, daß uns keiner überrascht. Ich werde mich beeilen, so gut es geht.« Ohne eine Entgegnung abzuwarten, griff er in die Innentasche seines Uniformrockes und zog ein Bün del Papiere hervor, die er sorgfältig auseinanderfalte te, glättete und auf die Tischfläche legte. Seine Finger glitten nachdenklich von einem der Schaltknöpfe zum anderen, berührten sie flüchtig – und suchten weiter. Dabei las er aufmerksam in den mitgebrach ten Aufzeichnungen. Dard wurde unruhig. Seiner Meinung nach ver schwendete Kimber viel zuviel Zeit mit den Vorberei tungen. Oder wußte er vielleicht nicht, wie das Elek tronengehirn funktioniert? Ein eisiger Schreck durch zuckte Dard. Dann war alles umsonst gewesen. Das Elektronengehirn erwachte zum Leben. Kimber arbeitete immer schneller, nachdem er die ersten Schwierigkeiten des Einfindens überwunden hatte. Nur dann und wann blickte er auf die Auf zeichnungen, die er vor sich auf dem Pult liegen hat te. Seine Finger tanzten über die vielen Knöpfe, als habe er schon seit Jahren nichts anderes getan, als diese Maschine bedient. Das Summen verstärkte sich
immer mehr, wurde zu einem heftigen Vibrieren, das man bestimmt oben im Tempel vernehmen würde, wenn man aufmerksam lauschte. Wenigstens waren das die Befürchtungen von Dard, den langsam eine gräßliche Angst beschlich. Dard zog sich bis zu den ersten Stufen der Treppe zurück, um es früh genug bemerken zu können, falls sich irgend jemand näherte. Gleichzeitig hatte er ei nen guten Blick über den ganzen Saal und konnte auch Kimber sehen. Er zog die Pistole aus dem Gür tel. Der Mechanismus war – wie man ihm schon ge sagt hatte – denkbar einfach. Man brauchte nur zu zielen, den Knopf zu drücken – ja, das war eigentlich alles. Nur schade, daß die Waffe nicht mehr als zwei Schuß enthielt. Deutlich konnte er die Schweißtropfen auf der Stirn des Piloten wahrnehmen. Ab und zu wischte Kimber sich diese ab, aber immer waren wieder neue da. Er drückte keine Knöpfe mehr, sondern wartete ge spannt auf die Antwort, die ihm der Computer auf Grund der eingespeisten Berechnungen und Teiler gebnisse geben würde. Aber mit jeder Minute, die sie hier unten warten mußten, vergrößerte sich die Ge fahr des Entdecktwerdens. »Nun – wie lange noch?« fragte Dard. Kimber zuckte mit den Schultern und sah auf den leeren Bildschirm, ein kleines helles Viereck über dem
Schaltpult. Kaum merklich flackerte die erhellte Flä che, ein Zeichen, daß die Maschine überhaupt in Be trieb war. Dard war von einer unbeschreiblichen inneren Un ruhe erfüllt. Immer wieder mußte er daran denken, was wohl geschehen würde, wenn die Ablösung der Nachtschicht jetzt plötzlich auftauchte. Ein scharfes Läuten riß ihn aus seinen Überlegun gen und ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Der Bildschirm war nicht mehr leer. Über ihn bewegten sich langsam gleitende Zahlen und Formeln, kompli ziert aussehende Gleichungen und überraschend kurze Lösungen. Kimber war damit beschäftigt, die Zeichen hastig mitzuschreiben und mit denen zu vergleichen, die er schon in seinen Aufzeichnungen stehen hatte. Ab und zu nickte er, dann und wann schien er etwas zu verbessern. Dann war der Schirm plötzlich wieder leer. Kimber seufzte, drückte auf einen einzelnen roten Knopf und wartete. Auf dem Schirm tauchten kurz nacheinander fünf verschiedene Zahlen auf, die Kimber schnell ab schrieb. Dann ließ er den Zettel in seiner Brusttasche verschwinden, drückte wahllos auf die Knöpfe der Tastatur vor sich und sprang auf. Um seinen Mund lag ein Lächeln, ein spöttisches, überlegenes Lächeln.
Er kam auf Dard zu, während hinter ihm die Relais der Maschine zu klicken begannen. »Es wird ihnen einiges Kopfzerbrechen bereiten, falls sie herauszufinden versuchen, was wir von der Maschine wissen wollten«, sagte er. »Aber sie werden es niemals erfahren. Die armen Geister einer degene rierten Menschheit werden noch nicht mal ahnen können, welches Problem wir hier soeben gelöst ha ben; was wissen die schon von unseren Zielen? So, nun aber schnell fort von hier! Die Treppe hinauf! Los!« Der Gang oben war genauso menschenleer wie zu vor. Die vormals leuchtenden Vierecke der Mauer öffnungen waren jetzt dunkel; nur drei unverschlos sene Türen warfen ihren Lichtschein auf den schatti gen Flur. Kimber flüsterte Dard ins Ohr: »Wenn uns nur unser Glück nicht verläßt! Komm! Gehen wir – aber möglichst leise.« Schon waren sie lautlos an zwei der hell strahlen den Vierecke der Türen vorbei und glaubten, es end gültig geschafft zu haben, als vor ihnen plötzlich ein Mann auftauchte. Er stand im Licht des dritten Ein ganges, aus dem er gekommen war. Dard hatte noch keine Uniform gesehen, an der soviel Gold gewesen war, wie an dieser. Vor Gold war fast von der schwarzen Grundfarbe nichts mehr zu entdecken. Es
mußte sich um einen außergewöhnlichen hohen Würdenträger der PAX handeln. Er starrte Kimber und Dard argwöhnisch an und musterte sie eingehend. »Pax!« sagte er schließlich, und die beiden Männer hörten sofort am Tonfall, daß es kein Gruß, sondern eine Losung war. Außerdem verriet die Stimme Hochmut, Grausamkeit und Strenge. »Was sucht ihr hier, Brüder? Es ist schon spät.« Kimber gab keine Antwort, sondern wich langsam in den Schatten des Ganges zurück, aus dem er mit Dard gekommen war. Die List glückte, denn der Mann folgte unwillkürlich und entfernte sich somit von der Tür des Raumes, in dem sich vielleicht noch andere Personen aufhielten. »Was soll das –?« begann er. Aber Kimber ließ ihn nicht weiterreden. Der Pilot packte zu und legte beide Hände blitzschnell um den Hals des Mannes und hinderte ihn dadurch sowohl am Sprechen wie auch am Atmen. Die Hände des goldbetreßten Mannes zuckten hoch, suchten die Arme seines Gegners. Aber Dard huschte lautlos heran, packte die hilflos in der Luft herumfuchtelnden Hände und hielt sie fest. Gemein sam schleppten sie so den sich verzweifelt Wehren den durch den dunklen Gang und erreichten bald den vom nächtlichen Himmel überdachten Innenhof.
Sie blieben stehen, den Unbekannten zwischen sich. Kimber hatte seinen Griff ein wenig gelockert, ließ den Mann jedoch nicht los. »Es liegt an dir«, flüsterte er dem Gefangenen zu, »ob du in fünf Minuten noch lebst, oder ob du tot bist. Entweder du kommst ganz ruhig mit uns, oder du bleibst hier zurück – allerdings tot. Such dir das Passende aus, aber schnell!« Der Gefangene hörte auf, sich zu wehren, nickte unmerklich mit dem Kopf. »Warum sollen wir ihn mitschleppen?« wollte Dard wissen. »Er ist doch nur hinderlich und lästig.« Kimber lächelte, aber wenn man es hätte sehen können, wäre man entsetzt gewesen: es war eher ein zähnefletschendes Grinsen. »Als Geisel ist er wertvoll«, sagte Kimber kurz. »Vergiß nicht, daß wir noch im Tempel sind. Und nun weiter, wir haben wenig Zeit.« Er versetzte dem Gefangenen einen Stoß und schritt mit ihm in Richtung auf das letzte Tor davon, das sie noch von der Freiheit trennte. Seine linke Hand lag am Griff der Waffe, während er mit der rechten den Hals des prominenten Friedensmannes umklammert hielt. Dard folgte. Jenseits des letzten Tores lag die Frei heit.
6
Als sie das Tor erreichten, erlaubte sich ihr Gefange ner ein halb ersticktes Kichern. Kimber hatte den Griff ein wenig gelockert, da der hohe Würdenträger keinen weiteren Widerstand mehr geleistet hatte. Ei ne Sekunde später wurde den beiden Freunden der Grund für die Heiterkeit ihres Gefangenen klar: ein starkes Gitter aus enggesetzten Stahlstangen war vor dem Tor herabgelassen worden. Der Weg in die Freiheit war versperrt. Der gefangene Lorbeerträger hatte sich sichtlich von seiner Niederlage erholt. Obwohl er völlig in der Gewalt von Kimbers Griff war, klang seine Stimme überlegen und selbstbewußt, als er fragte: »Nun –? Wie wollt ihr jetzt weiter?« Doch er sah sich enttäuscht, wenn er etwa geglaubt hatte, seine unbekannten Überwinder erschrecken zu können. Fast heiter entgegnete Kimber: »Mal sehen. Ich schätze, es ist nur ein Zeitschloß.« Der Gefangene war für einige Sekunden sprachlos, ehe er eine zweite Frage stellte: »Wer seid ihr?« Kimber schüttelte ihn ein wenig hin und her. »Was glaubst du denn, wer wir sind? Rebellen sind wir – wenigstens in euren Augen.« Im schwachen Licht der Sterne erkannte der Pilot
und Dard, daß sich die schmalen Lippen des Lorbeer trägers zu einer grausamen Grimasse verzogen. Seine Stimme klang wie das Zischen einer Schlange, als er hervorstieß: »So?« In sein Flüstern schlich sich ein gefährlicher Unterton. »Also hat er es doch gewagt, dieser Loßler!« Kimber zuckte nur mit den Schultern, übergab den Gefangenen der Obhut des Jungen und wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Schloß des Gitters zu. Schließlich zog er einen schwarzen kapselähnlichen Gegenstand aus der Tasche, hielt ihn an das Schloß, und eine Sekunde später sprühten lautlose Funken zu Boden. Nicht lange dauerte es, und Kimber steckte die Energiekapsel wieder in die Tasche. Dann warf er sich mit seinen breiten Schultern gegen die Sperre, die fast widerstandslos nach außen zurückwich. Den Gefangenen mit sich nehmend, traten sie hin aus in die Freiheit. Unter ihnen lag im Dunkel die Stadt. Nur hier oder da wurde die Finsternis durch einen erleuchteten Straßenzug unterbrochen. Das helle Licht des Mon des auf den Dächern verstärkte die Kontrastwirkung nur noch mehr, und die schwarzen Schatten, die er malte, glichen unergründlich tiefen Schluchten. Kimber gab seinem Gefangenen einen unsanften Stoß in den Rücken und schob ihn vor sich her. »Los! Zum Landeplatz!«
Willig schritt der Lorbeerträger in Richtung der Helikopter dahin, immer noch im Würgegriff von Kimbers kräftiger Faust. Dard folgte ihnen nervös und wachsam. Seine Hand war nie weit von der Pi stole entfernt, die locker im Gürtel steckte. In ihm war eine große Freude, gleichzeitig jedoch ein unfaßbares Erstaunen, daß es ihnen gelungen war, unbemerkt aus dem Tempel zu entkommen. Als sie die Betonfläche des Landeplatzes erreichten, blieb Kimber stehen und wandte sich an seinen Ge fangenen: »Wir werden uns einen der Helikopter nehmen«, sagte er mit gelangweilter Stimme, als handele es sich um einen äußerst uninteressanten Bericht. »Wenn wir einmal soweit sind, daß wir starten können, brauchen wir dich nicht mehr. Wir lassen dich dann hier zu rück. Es wird ganz allein auf dein Verhalten ankom men, in welchem Zustand wir dich zurücklassen. Hast du das begriffen?« Der Gefangene nickte langsam. »Und nun möchte ich von dir wissen, wo die Wa che steckt. Also?« Als der Gefangene nicht sofort antwortete, preßten sich Kimbers Finger zusammen. Der Lorbeerträger stöhnte vor plötzlichem Schmerz auf, schwieg aber noch immer. »Wo ist die Wache?« wiederholte Kimber. Seine
Stimme war eiskalt und voll tödlicher Ruhe. »Meine Geduld ist gleich zu Ende.« »Drei Posten«, flüsterte mühsam und widerwillig der Gefangene. »Einer steht am Tor, die anderen zwei gehen Streife.« »Warum nicht gleich so?« gab Kimber ebenso flü sternd zurück. »Das nächste Mal weißt du Bescheid! Also: Wenn der Posten fragt, dann sag ihm, wir befän den uns in deinem Auftrag in geheimer Mission unter wegs. Wenn du das nicht tust, garantiere ich weder für das Leben des Postens noch für das deinige. Du weißt also Bescheid, es hängt nur von deinem Verhalten ab.« Im gleichen Augenblick, als Dard die schwarz weiße Uniform des Postens sah, ertönte auch schon dessen scharfer Befehl: »Halt!« Gehorsam blieben die drei Männer stehen. »Los! Tu genau das, was ich dir geraten habe!« flü sterte Kimber. Der Lorbeerträger, jetzt völlig frei, trat einen Schritt vor. »Pax, Bruder!« sagte er. Dards Hand lag auf dem Griff der Waffe. Bei der geringsten verdächtigen Handlung der beiden Frie densmänner würde er sie herausreißen und schießen. Er wartete förmlich darauf, daß ihr Gefangener dem Posten eine Warnung zurufen würde. Aber anschei
nend waren seine Angst und Überraschung größer, als der Wille zum Widerstand. »Lorbeerträger Dawson mit einem geheimen Auf trag –« Der Posten salutierte. »Sie können passieren, Daw son!« Kimber wartete, bis Dard nahe genug an ihn he rangekommen war, dann sagte er: »In unserer Ma schine ist zu wenig Treibstoff, darum nehmen wir ei ne andere. Klettere in die Kabine der ersten hier und schau auf die Treibstoffuhr. Du weißt ja, wo sie ist. Wenn der Zeiger zwischen 40 und 60 steht, nehmen wir gleich diese Mühle, wenn nicht, schauen wir in der nächsten nach.« Dard gehorchte und kletterte in die Kabine des He likopters. Ein wenig aufgeregt suchte er nach dem Lichtschalter, den er endlich nach längeren vergebli chen Versuchen auch fand. Weiße Zahlen tanzten vor seinen Augen, bis sich seine Nerven ein wenig beru higt hatten. Der Zeiger der Treibstoffuhr stand unbeweglich zwischen 40 und 60. »Steht auf 53!« rief er leise aus der offenen Tür hin aus und fragte sich, was Kimber mit Dawson wirklich vorhatte. Einfach zurücklassen? In fünf Minuten würden sämtliche Maschinen hinter ihnen herjagen, um sie tot oder lebendig an der Flucht zu hindern.
Dard sollte jedoch niemals erfahren, was Kimber beabsichtigt hatte. In diesem Augenblick ließ sich Dawson nämlich einfach zu Boden fallen, riß den Pi loten dabei mit sich und stieß gleichzeitig einen gel lenden Schrei aus, den man ganz bestimmt bis in den Tempel hinein hören mußte. Dard sprang zur Tür, um Kimber zu helfen. Doch bevor er draußen war, sah er den Arm seines Freun des herabsausen. Ein zweiter Schrei erstickte in der Kehle des Lorbeerträgers, der lautlos zu Boden sank. Kimber machte einen gewaltigen Satz und sprang – Dard unsanft beiseite stoßend – in die Kabine. Ohne ein Wort zu verlieren, ging er zur Steuerung, legte ei nen Hebel um, und mit einem Ruck hob der Heliko pter vom Boden ab. Die offene Tür schlug auf und zu, bis Kimber sie endlich befestigen konnte. Schnell ge wannen sie an Höhe, aber auch keine Sekunde zu früh, wie der erste Schuß, der die Nacht zerriß, be zeugte. Dard drehte sich in seinem Sitz um, in den er voller Mühe und mit viel Glück gekrochen war. Ange strengt starrte er durch das Rückfenster nach hinten, wo er den flachen Landeplatz vor dem Tempel noch erkennen konnte. Kimber sagte: »Unser Glück hatte auch schon zu lange gedauert, so ging es wirklich nicht weiter. Wie sieht es denn aus, Dard? Verfolgt man uns bereits?«
»Ich kann bis jetzt nur eine Maschine erkennen. Die roten Positionslichter kommen immer näher und –« »Was sagst du da? Positionslichter? Ach, was sind wir doch beide für vergeßliche Leute! Unsere Vergeß lichkeit grenzt fast an sträflichen Leichtsinn.« Er streckte, während er sprach, seine Hand aus und legte einen kleinen Hebel um. Aus den Augenwin keln heraus konnte Dard erkennen, wie die Positions lichter an der eigenen Maschine erloschen. Jetzt erst kam ihm zum Bewußtsein, wie dunkel es war – trotz des Vollmondes, der sich ab und zu hinter dichten Wolkenbänken versteckte. Der Verfolger dagegen löschte seine Lampen nicht. Ihm schien es gleich zu sein, ob man seine Position kannte oder nicht. Kimber sprach halb zu sich selbst und halb zu Dard, während er mit der Steuerung der Maschine beschäftigt war. »Ich möchte nur zu gern wissen, wer dieser Loßler ist, dem Dawson die ganze Schuld an diesem Zwi schenfall in die Schuhe schob. Fast könnte man ver muten, daß die PAX sich in zwei Gruppen aufgespal ten hat, die sich ziemlich feindlich gegenüberstehen. Es ist eine Schande, daß wir das nicht eher erfahren haben.« »Wieso? Was hat das denn mit unseren Plänen zu tun?«
»Sehr viel. Wir hätten es in den vergangenen Mo naten viel leichter haben können, wenn wir eine Gruppe gegen die andere ausgespielt hätten. Du kennst doch das alte und ewig wahre Sprichwort: ›Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte!‹ So ist das tatsächlich, auch heute nacht. Man wird diesem Loßler die Schuld in die Schuhe schieben und dafür uns in der Schlucht ungeschoren lassen. Niemand wird auf den Gedanken kommen, uns für diesen nächtlichen Zwischenfall – der ihnen sowieso rätsel haft sein wird – verantwortlich zu machen. So hält uns das Schicksal die Schnüffler vom Hals.« Es folgte eine unmerkliche Pause, ehe er weitersprach: »Was zum –« Wieder stockte er, dann beugte er sich vor und mu sterte aufmerksam die Uhren und Skalen des Arma turenbrettes. Er streckte die Hand aus und pochte hart gegen die Treibstoffuhr, die Dard anfangs über prüft hatte. Der Zeiger unter der zersprungenen Glasscheibe rührte sich nicht, er stand immer noch auf der Zahl 53 und schien aufgemalt zu sein. Kimber runzelte nachdenklich die Stirn und klopfte erneut gegen die Uhr, dann lehnte er sich aufseuf zend in die Polster zurück. »Ach du Schreck!« sagte er resigniert, und doch ir gendwie leichthin, als handele es sich um das Wetter. »Jetzt sitzen wir in der Tinte! Die verdammte Uhr
funktioniert nicht. Ist der Tank jetzt gefüllt bis zum Rand, oder nur halb voll? Ist er etwa schon bald leer? Wieviel Treibstoff haben wir noch? Ich habe es mir doch gleich gedacht, daß die ganze Sache zu glatt ging. Viel zu glatt und reibungslos. Das ist niemals ein gutes Zeichen. Jetzt müssen wir vielleicht –« Das regelmäßige Summen des Motors verwandelte sich in ein unheilverkündendes Stottern. Dann jedoch setzte der Motor erneut mit voller Kraft ein. »Nicht täuschen lassen«, verkündete Kimber gelas sen. »Da ist nichts mehr zu machen. Das Stottern heißt, in unsere Sprache übersetzt: ›So, jetzt könnt ihr laufen! Ich habe keine Lust mehr!‹ Ja, Dard, das ist verdammt unangenehm. Was macht denn unser Feind hinter uns?« »Kommt immer näher«, berichtete Dard, den die Furcht beschlich. »Dann wird es bald sehr lustig zugehen«, gab Kimber bekannt, verlor aber seinen Galgenhumor nicht. »Allerdings möchte ich bei der bald folgenden Vorstellung sehr gern auf den sonst tröstlichen Mondschein verzichten, und einige dichte Wolken bänke mehr wären auch nicht schlecht. Bin mal ge spannt, wie das jetzt endet. Hätten wir nur unsere al te Maschine genommen, damit wären wir bestimmt ein Stück weiter gekommen.« Genau in diesem Augenblick begann die Maschine
wieder zu stottern. Sie sackte ab, ehe sie sich fangen konnte. Der Motor lief weiter, aber noch unregelmä ßiger als vorher. »Viel Treibstoff ist nicht mehr im Tank«, vermutete Kimber. »Das beste wird sein, wenn wir landen, ehe wir Bruch machen. Fehlt nur noch ein schattiges Plätzchen. Dort stehen einige Bäume! Nur dumm, daß dort unten wieder Schnee liegt. Am Tempel war alles frei. Bist du auch sicher, daß uns nur ein einziger Helikopter verfolgt?« Dard schaute noch einmal zurück. »Ich kann nur die Lampen einer Maschine erken nen. Es müßte höchstens so sein, daß die anderen oh ne Licht fliegen, genau wie wir.« »Das glaube ich nicht«, sagte Kimber. »Sie würden sich gegenseitig zu sehr gefährden. Außerdem haben sie keinen Grund, sich zu verbergen. So, nun bereite dich auf einen kleinen Stoß vor. Der traurige Akt be ginnt.« Der Helikopter schwebte schräg der Erde entgegen und fiel senkrecht in eine hohe Schneewehe am Ran de der Straße hinein. Dicht hinter einer niedrigen Mauer lag die Baumgruppe, in der Dard mit Sicher heit ein Haus zu erkennen geglaubt hatte. Sie rissen die Tür der Kabine auf und sprangen in den aufstiebenden Schnee. Die trockene Kälte drang sofort durch die sonst sehr wärmende Uniform. Sie
stolperten und wateten durch den Schnee und er reichten schließlich die Mauer, über die sie kletterten, um in dem Wald unterzutauchen. Hinter ihnen ertön te das Motorengeräusch der sie verfolgenden Ma schine. Die Besatzung mußte den gelandeten Heliko pter gesichtet haben, denn sie flogen direkt darauf zu. »Dort hinter den Bäumen steht ein Haus«, keuchte Dard, während sie sich beeilten, möglichst viele Bäume zwischen sich und die Verfolger zu bringen. »Glaubst du, daß wir dort irgendein Transportmit tel finden werden – egal was?« fragte Kimber, sich durch den hohen Schnee vorankämpfend. »Wagen haben die Landleute heute nicht mehr, be stimmt keine Hubschrauber. Selbst Folleys Antrag auf einen Wagen war zweimal abgelehnt worden, obwohl er doch zur AA-Klasse gehörte. Na, vielleicht Pferde.« »Pferde!?« entsetzte sich Kimber. »Ausgerechnet Pferde! Dabei könnte ich dir noch nicht mal erklären, was bei so einem Tier vorn und hinten ist.« »Das ist egal. Beritten kommen wir jedenfalls schneller von hier fort als zu Fuß. Außerdem besteht die Möglichkeit, daß sie – weil wir uns in der Nähe der Stadt befinden – Hunde zur Verfügung haben, die sie auf unsere Spur hetzen werden.« Kimber verlangsamte unwillkürlich das Marsch tempo.
»Hunde?« fragte er. »Daran habe ich nicht gedacht. Das wäre allerdings sehr schlimm. Weißt du nicht von früher her, ob sie bei Verfolgungen immer Hun de einsetzten?« »Nicht immer, nur bei besonderen Gelegenheiten. Nämlich dann, wenn die Verfolgten wichtig waren.« »Und ob wir ihnen wichtig sind, Junge! Da kannst du dich drauf verlassen. Nein, dann lieber auf ein Pferd klettern, als sich von den Bluthunden zerreißen zu lassen.« Bevor sie aus dem Schatten der Bäume heraustra ten, blieben sie stehen. Aus den drei Fenstern des Hauses fiel Licht und zeigte die Umrisse eines Heli kopters, der auf der schneebedeckten Straße stand. Kimber drehte sich zu Dard um, zeigte zu der Ma schine hinüber und stieß ein trockenes, humorloses Lachen aus. »Sie sind eher da als wir. Der Kerl in der Kabine hat ein Gewehr. Das ist etwas, was wir noch brau chen.« Damit machte Kimber Anstalten, das schützende Dunkel des Waldes zu verlassen. Dard ergriff ihn beim Arm und hielt ihn fest, dabei mit der freien Hand zum Himmel zeigend. Er hatte sich nicht getäuscht. Das leise Summen verstärkte sich, und ein weiterer Helikopter näherte sich dem hellerleuchteten Bauerngehöft.
Dard fühlte, wie Kimbers Muskeln sich spannten. »Wenn sie schlau sind«, sagte der Pilot, »dann trei ben sie uns hier in die Enge! Wir müssen schleunigst verschwinden. Komm, gehen wir!« Doch Dard hielt ihn zurück. »Aber doch nicht auf die Straße«, protestierte er. »Man würde uns sofort sehen.« »Natürlich! Wir dürfen uns jetzt nicht verirren, und die Straße ist unsere einzige Hoffnung, zurückzu kommen. Oder kennst du das Land so gut, daß wir unser Glück querfeldein versuchen können?« Dard ließ den Arm seines Gefährten nicht los. »Ja, du hast recht, dies hier ist tatsächlich die einzi ge Straße, die zurück zu den Bergen führt. Aber wir werden sie nicht benutzen können – oder doch, warte – wenn wir ...« Er nahm seine Hand von Kimbers Arm und schlug das Ende seiner Jacke um – die schwarze Jacke mit dem weißen Saum. Mit vor Kälte steifen Fingern knöpfte er das Kleidungsstück auf und zog es aus. Er hatte recht gehabt. Die schwarze Uniformjacke war mit weißer Seide gefüttert. Auch die Hosen waren in nen weiß. Hastig kehrte er die Kleidungsstücke um, so daß die Innenseite jetzt außen war. Kimber sah zu, bis er begriff, was Dard im Schilde führte, und in der nächsten Minute hatte auch der Pi lot seine Jacke umgekrempelt. Weiß gegen Weiß –
wenn sie sich in den Schneewehen hielten, wenn man keine Hunde auf ihre Spur hetzen würde, dann hät ten sie noch eine wenn auch sehr geringe Aussicht, der Gefangennahme zu entgehen. Halb fielen sie, halb sprangen sie in den Graben neben der Straße, als der zweite Helikopter landete. Dard zählte mindestens sechs Männer, die aus der Maschine kletterten und nach allen Seiten aus schwärmten, um die Baumgruppe zu durchsuchen, die sie eben verlassen hatten. Die beiden Flüchtenden warteten nicht länger, sondern krochen auf allen vieren den Straßengraben entlang, so schnell es ihnen das kahle Gestrüpp er laubte, das stellenweise in den Graben hineinwuchs. Ein prickelndes Gefühl überzog Dards Haut, wäh rend er jeden Augenblick eine Kugel zwischen den Schulterblättern erwartete. Heute nacht war ihm der Tod näher als sein Gefährte. Kurz danach setzten sie im Schutz einer Hecke über die Straße. Erst jetzt fühlten sie die schneidende Kälte. Mochte die Uniform auch noch so warm gewesen sein, als sie sich in der Kabine des Helikopters befanden; jetzt bot sie nur wenig Schutz vor dem beißenden Wind, der ihnen den Schnee ins Gesicht blies. Dard warf einen besorgten Blick zum Mond hinauf. Keine Wolken mehr, die ihn hätten verdecken können. Doch das
war auch wieder gut so; denn Wolken bedeuteten Sturm, und von einem Schneesturm auf dem freien Land überrascht zu werden, konnte sehr üble Folgen haben. Kimber verfiel in einen Trab, dem Dard leicht fol gen konnte. Wie weit sie noch von der Schlucht ent fernt waren, konnte er nicht wissen. Und wie lange würden sie brauchen, bis sie dorthin gelangten? Kannte Kimber den Weg? Er selbst würde den Pfad finden, der von der Farm wegführte. Aber wo war die Farm? »Wie weit lag euer Anwesen von der Stadt ent fernt?« rief Kimber über die Schulter zurück. »Ungefähr fünfzehn Kilometer. Aber der viele Schnee –« Dards Atem hing in einer weißen Wolke um seinen Kopf. »Ja der Schnee. Und es wird noch mehr geben. Jetzt paß auf, Junge, das ist sehr wichtig. Wir haben näm lich nicht mehr viel Zeit –« »Vielleicht warten sie bis morgen mit der Verfol gung. Und wenn sie die Hunde holen, dann ...« »Das meine ich nicht!« Dard kam es vor, als würde sich Kimber aus der Verfolgung gar nichts machen. »Das hier ist wichtiger. Der Kurs, den der Compu ter für uns ausgerechnet hat! Bevor wir gingen, fragte ich die Maschine, wie lange er gültig sei. Die Antwort
war: fünf Tage und fünfundvierzig Minuten. Wir müssen innerhalb dieser Zeit starten, oder ein zweiter Besuch beim Computer ist fällig. Offen gesagt, ich glaube, dieser zweite Besuch wäre von Anfang an hoffnungslos.« »Fünf Tage und fünfundvierzig Minuten!« wieder holte Dard. »Selbst wenn alles klappt, brauchen wir mindestens drei Tage, um zur Schlucht zu gelangen. Außerdem haben wir keine Verpflegung.« »Wir wollen hoffen, daß Kordov inzwischen alle Vorbereitungen getroffen hat«, war Kimbers einzige Bemerkung zu diesem Thema. »Und das lange War ten hier verkürzt unsere Zeit nur noch mehr. Komm jetzt!« Zweimal mußten sie in den darauffolgenden Stun den vor Hubschraubern Schutz suchen, die das Ge lände absuchten. Die Maschinen kreisten unaufhör lich über der Schneefläche, und es war schon fast unwahrscheinlich, daß die Flüchtenden entkommen würden. Doch sie hatten Glück. Vielleicht war es ihre weiße Kleidung, die sie den spähenden Blicken verbarg. Die Sonne war schon aufgegangen, als Dard einen halbverwitterten Wegweiser erblickte. »Unser Farmweg«, stieß er hervor. Es war erstaun lich, daß sie es in so kurzer Zeit bis hierher geschafft hatten. Der gestohlene Helikopter mußte sie doch
ziemlich weit von der Stadt hinaus aufs Land getra gen haben, bevor sie durch Treibstoffmangel zur Not landung gezwungen worden waren. »Bist du sicher, daß das euer Hof ist?« Dard nickte nur. »Hm ...« Kimber ließ seinen Blick über die weiße Fläche schweifen. »Fußstapfen werden in diesem Schnee wie Tintenkleckse hervorstechen. Aber wir können nichts dagegen tun.« »Wenn ich mir's überlege: das Anwesen ist völlig niedergebrannt und wir werden keine Vorräte oder sonst etwas Nützliches finden.« »Hast du einen besseren Vorschlag?« In Kimbers Gesicht stand die Spannung und Anstrengung der vergangenen Stunden zu lesen. »Folleys Hof.« »Aber ich dachte –« »Folley ist tot. Er bestellte die Farm zusammen mit drei Arbeitssklaven. Vor einem Monat hatten sie sei nen Sohn als Rekrut zu den Friedensmännern einge zogen. Wenn wir uns wieder richtig anziehen und einfach hineinmarschieren, können wir ja sagen, daß unser Flugzeug unterwegs Maschinenschaden hatte und wir zu Fuß hierher kamen.« Kimbers Augen leuchteten auf. »Der Plan ist gut. Wer lebt alles auf dem Hof?« »Folleys zweite Frau, seine Tochter und die Ar
beitssklaven. Ich glaube nicht, daß er sich einen Auf seher genommen hat, nachdem sein Sohn eingezogen wurde.« »Einem Friedensmann werden sie bestimmt helfen. Aber sie werden dich erkennen!« »Ich habe Folleys Frau nie gesehen. Und Lotta? Nun, sie hat mich schon einmal laufen lassen. Jeden falls sind unsere Aussichten besser, als wenn wir jetzt versuchen wollten, von hier aus direkt in die Berge zu gelangen.« Sie stapften weiter über offenes Gelände. Kurz vor Folleys Anwesen drehten sie ihre Kleidungsstücke wieder um, so daß die richtige Seite nach außen wies. Die Flucht hatte zwar ihre Spuren hinterlassen, aber nach einer Notlandung konnte man nicht viel anders aussehen, auch als richtiger Friedensmann nicht. »Friedensmänner«, bemerkte Kimber, als sie die kleine Anhöhe zu dem Farmhaus hinanstiegen, »ge ben Landsleuten keine Erklärung. Wenn wir Fragen stellen und so wenig wie möglich Auskunft geben, dann benehmen wir uns genau wie die echten Frie densmänner. Es hängt alles davon ab, ob sie schon von der Jagd nach uns gehört haben oder nicht.« Aus dem Schornstein stieg Rauch auf, und Dard entging es nicht, daß sich die Gardinen eines Fensters verräterisch bewegten. Man hatte ihre Ankunft beo bachtet. Lotta – von ihr hing nun alles ab. Er warf
Kimber einen kurzen Blick zu. Dessen humorvolles, heiteres Gesicht war streng und abweisend gewor den. Es war der typische Ausdruck eines arroganten Friedensmannes, der sich von keinem Landsmann etwas bieten lassen würde. Als sie die Veranda vor dem Haus betraten, öffnete sich die Tür. Eine Frau sah ihnen entgegen. Mit ihren Händen wischte sie über die schmutzige Schürze, und ein unsicheres Lächeln verzog ihre Lippen. »Pax, edle Herren – Pax!« Ihre Stimme klang demü tig. Kimber salutierte und stieß mit befehlsgewohnter, harter Stimme hervor: »Pax! – Wessen Farm ist das hier? Wer seid ihr?« Sie versuchte einen Knicks. »Hew Folleys Farm, ed le Herren.« »Und wo steckt dieser Folley?« fragte Kimber, als erwartete er, daß der Mann augenblicklich vor ihm auftauchte. »Er ist tot, Herr. Ausgestoßene haben ihn ermordet. Ich dachte, Sie kommen deshalb. Aber kommen Sie herein, edle Herren, kommen Sie herein!« Sie wich einen Schritt zurück, damit sie in die Kü che treten konnten. Der Duft von warmem Essen schlug Dard entge gen, und er mußte gegen ein Gefühl der Schwäche ankämpfen, das ihn zu überkommen drohte. Auf
dem Tisch standen Teller, auf denen noch Reste einer Mahlzeit lagen. Ohne auf die Frau zu achten, setzte sich Kimber an den Tisch und stieß die leeren Teller von sich: Dard setzte sich an die andere Seite, dankbar, daß er nicht mehr zu stehen brauchte. »Habt Ihr etwas zu essen, Frau?« verlangte Kimber. »Holt es. Wir gehen schon Stunden über dieses ver dammte Land. Habt Ihr einen Boten, den wir in die Stadt schicken könnten? Unser Helikopter hat Ma schinenschaden, und wir brauchen Leute, die ihn re parieren können.« Sie hantierte am Ofen herum und schlug Eier, rich tige Eier, in eine Pfanne. »Etwas zu essen, ja, edler Herr. Aber einen Boten – seit mein Mann tot ist, habe ich nur die Sklaven, und die sind hinter Schloß und Riegel. Wir haben nie mand.« »Habt Ihr keinen Sohn?« Kimber langte nach einem Stück Brot. Sie lächelt nervös. »O ja, edler Herr, ich habe einen Sohn. Aber erst vergangenen Monat wurde er vom Haus des Olivenzweiges als Rekrut auserwählt und wird nun für den Dienst geschult, edle Herren.« Falls sie erwartet hatte, daß ihre Besucher nun et was freundlicher wurden, so sah sie sich enttäuscht, denn Kimber hob nur die Augenbrauen und fuhr fort:
»Wir können nicht selber in die Stadt laufen, Frau. Habt Ihr denn niemand, den Ihr schicken könnt?« »Lotta!« Sie trat zur Tür und rief laut nach dem Mädchen. »Da Hew tot ist, muß sie sich um die Kühe kümmern. Aber es ist ein langer Weg in die Stadt, ed ler Herr.« »Wie kommt Ihr denn sonst in die Stadt, Frau?« Kimber legte drei Eier auf seinen Teller und schob die noch volle Pfanne Dard zu, der sich schnell bediente, als befürchte er, man könne sie ihm wieder wegneh men. »Wir haben ein Fohlen. Sie könnte reiten«, meinte die Frau zögernd. »Dann schickt sie los. Ich habe nicht die Absicht, hier die Nacht und den ganzen Tag herumzusitzen, bis man Hilfe schickt. Je eher sie aufbricht, desto bes ser!« »Du hast gerufen?« Dard kannte die Stimme. Einen Augenblick lang wagte er nicht, aufzusehen. Doch dann hob er die Augen und blickte das Mädchen an, das in der Tür stand. Seine Finger umklammerten die Gabel und verbogen sie ein bißchen. Aber Lottas gleichgültiger Ausdruck veränderte sich nicht, und er konnte nur hoffen, daß auch sein Gesicht unbeteiligt blieb. »Du hast gerufen?« wiederholte sie. Die Frau zeigte auf die beiden Friedensmänner.
»Diese Herren – ihr Flugzeug hatte Maschinenscha den – wollen, daß du eine Nachricht in die Stadt bringst. Hol das Fohlen und mach dich fertig!« »Na gut.« Das Mädchen ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
7
Dard kaute auf seinem Essen herum, das ihm auf einmal nicht mehr schmecken wollte. Als Kimber ge rade eine dicke Scheibe Schinken auf die Gabel spieß te, fragte er ihn: »Soll ich dem Mädchen Anweisungen geben, Sir?« »Sehr wohl. Hoffentlich vergißt sie unterwegs nicht die Hälfte. Ich habe nicht die Absicht, hier zwei Tage herumzusitzen. Sie soll dem Obermechaniker sagen, daß er uns am Hubschrauber finden wird. Wir wer den zur Maschine zurückgehen, nachdem wir uns hier ein bißchen aufgewärmt haben. Aber sie soll so fort losreiten – je eher sie in der Stadt anlangt, desto eher werden sie jemand schicken.« Dard ging auf den Hof hinaus. Lotta sattelte gerade ein Pferd. Als sie das Knarren seiner Schuhe auf dem Schnee vernahm, sah sie auf. »Wo ist Dessie? Was hast du mit ihr getan?« »Sie ist in Sicherheit.« Lotta prüfte sein Gesicht, bevor sie nickte. »Das stimmt doch, nicht wahr? Willst du wirklich, daß ich in die Stadt reite? Warum? Du bist doch kein Frie densmann.« »Nein, Lotta. Je länger du brauchst, desto besser für uns. Aber Lotta –« Er mußte sie irgendwie schützen.
Wenn man sie später verdächtigte, daß sie ihnen auf der Flucht geholfen hatte, würde sie schwer dafür büßen müssen. »Wenn du den Tempel erreicht hast, dann sage ihnen dort, daß du Verdacht hegst. Wir werden dann längst verschwunden sein.« Mit dem Kopf wies sie zum Haus hinüber. »Nehmt euch vor ihr in acht. Sie ist nicht meine Mutter – Fol ley war auch nicht mein richtiger Vater. Mein Vater war mit Folley verwandt. Folley wollte Papas Land, und ich wurde adoptiert. Seht euch vor!« warnte sie noch einmal. »Sie ist schlimmer als Folley. Ich werde langsam reiten und werde es so machen, wie du ge sagt hast. Hör mal: Paß gut auf Dessie auf, nicht wahr!« »Sie ist in guten Händen. Ihr kann nichts mehr ge schehen.« Die Augen des Mädchens leuchteten auf. »Das mußt du mir versprechen. Wenn ich weg bin, dann schaut, daß ihr verschwindet. Ich werde denen schon etwas erzählen. Ich bin nämlich nicht«, und sie lächel te, »ich bin nicht so dumm, wie ich vielleicht aussehe, Dard Nordis, selbst wenn ich nicht zu euch gehöre.« Sie schwang sich ein wenig unbeholfen in den Sat tel und trieb ihr Pferd an. Dard ging in das Haus zurück und setzte sich wie der an den Tisch. Er hatte nach diesem Gespräch mit Lotta wieder Appetit bekommen. Kimber hatte ein
großes Stück Apfelkuchen vor sich liegen und wand te sich an seinen Gefährten: »Jetzt, wo es Tag wird, könnten wir uns die Ma schine selbst einmal ansehen.« Dann drehte er sich zu der Frau um: »Könnt Ihr die Leute zu uns schicken, wenn sie hier eintreffen?« Unter dem Tisch versetzte Dard Kimber einen leichten Tritt mit dem Stiefel. Kimber gab ihn zurück, zum Zeichen, daß er verstanden hatte. »In welche Richtung gehen Sie?« fragte die Frau, und Dard schien es, als ob sie nicht mehr so unter würfig wäre wie vorher. Schöpfte sie etwa Verdacht, daß an der Sache etwas faul war und die edlen Her ren gar nicht zu den Beherrschern des Landes gehör ten? »Nach Norden. Wir werden eine Spur zurücklas sen. Wir folgen dem Pfad, auf dem wir hierher ge langten. Packt uns etwas zum Essen ein, damit wir zu Mittag eine Mahlzeit haben. Und schickt die Mecha niker hinaus, sobald sie kommen.« »Ja edle Herren.« Das klang weniger ehrfürchtig als zuvor, und sie brauchte ziemlich lange, um einige Stücke kaltes Fleisch und etwas Brot zusammenzupacken. Oder war das nur Einbildung, fragte sich Dard. Eine halbe Stunde später verließen sie das Haus. Sie folgten dem Pfad und dann der Straße, die nach
Norden führte, bis sie der Wald vor den Augen der Hausbewohner verbarg. Dann wandte sich Kimber nach Westen. »Wohin jetzt?« »Ein Stückchen weiter werden wir auf einen Weg stoßen, der geradewegs in die Berge führt«, unter richtete ihn Dard. »Er kreuzt den alten Waldweg na he an dem hohlen Baum, wo ich Sach traf.« »Gut, ich überlasse dir die Führung. Jetzt aber los! Das Mädchen könnte schon in diesem Augenblick in der Stadt sein.« »Sie wird so langsam reiten, wie es nur möglich ist. Sie weiß –« Kimbers Lippen spitzten sich zu einem lautlosen Pfeifen. »Das wird uns helfen, wenn sie auf unserer Seite ist.« »Ich sagte ihr, daß Dessies Rettung davon abhinge. Sie hält große Stücke auf Dessie und will ihr helfen.« Die Wärme, das nahrhafte Essen und die Ruhepau se in Folleys Haus gaben ihnen Kraft und Mut. Nach zwei vergeblichen Versuchen fand Dard schließlich den Waldweg. Auf ihm sah er eine Spur, die von Lot ta herrühren mußte. Kimber beeilte sich nicht, da er wußte, daß ein an strengender Marsch vor ihnen lag. Bei dem Schutz dach aus Tannenzweigen, das Dard für sich und Dessie bei dem hohlen Baum errichtet hatte, legten sie ei
ne längere Ruhepause ein. Im Wald herrschte eine unheimliche Stille, und die Schneefläche warf die grellen Sonnenstrahlen zurück, daß sie die Augen schließen mußten. Als sie schließlich wieder aufbrachen, brauchten sie nur den Fußspuren zu folgen, die Sach, Dessie und Dard auf ihrer ersten Flucht hinterlassen hatten. Dard war froh, daß es nicht mehr geschneit und sie dem Pfad ohne Schwierigkeiten folgen konnten. Sie waren beide müde und verlangsamten ihr Tempo, als end lich in der Ferne die Hügelkette auftauchte, wo sich die Höhle befand. Dort würden sie sich ausruhen können. Sie legten eine kurze Verschnaufpause ein, aßen etwas, und dann ging es weiter. Dard wußte längst nicht mehr, wie lange sie schon unterwegs wa ren; denn der Marsch war nichts weiter als ein ge dankenloses, mechanisches Verfolgen der alten Spu ren im Schnee. Als sie die Ausläufer der Hügelkette erreicht hatten und es nicht mehr weit bis zur Höhle war, lehnte sich Dard gegen einen Baum. Auf Kimbers dunklem Ge sicht, das sich deutlich gegen den Schnee abhob, hat ten Anstrengung und Erschöpfung ihre Zeichen hin terlassen. Seine sonst immer vorhandene gute Laune war verflogen. Tiefe Stille herrschte überall, als Dard plötzlich das Gebell von Hunden vernahm, das eine in ihre Rich
tung wehende Luftströmung heranbrachte. Kimber hob den Kopf und sah sich um. Dard befeuchtete sei ne plötzlich trockenen Lippen mit der Zunge. Die Höhle da oben mit ihrem schmalen Eingang! Ohne ein Wort zu sagen, machte er sich auf den Weg. Doch als er den Eingang zur Höhle sehen konnte, merkte er, daß etwas nicht stimmte. Vielleicht hatten seine Augen gelitten – das grelle Licht. Dard schüttel te den Kopf, aber das Bild blieb das gleiche. Und als sie näher traten, sahen sie, was Dard eben noch für eine Täuschung gehalten hatte. Der Eingang der Höhle war verbaut – aber nicht nur mit Steinen. Kimber trat zu ihm und sagte: »Jetzt wissen wir al so, was mit Sach geschehen ist.« Dard blickte Kimber an. »Sie haben ihn hier als abschreckendes Beispiel zu rückgelassen«, murmelte Kimber. »Auch als War nung. Sie müssen herausgefunden haben, daß dies hier einer unserer Unterschlupfe war.« Kimber wollte gerade den Abhang hinablaufen, als Dard ihn zurückhielt und ihm erzählte, wie er und Dessie damals den Hunden und Verfolgern entkom men waren. Sie fanden schnell den höher gelegenen Felsenvorsprung, und der Sprung führte auch dies mal tief hinab. Dard landete jedoch so unglücklich, daß er, nach Atem ringend, von Kimber auf die Beine
gestellt werden und erst eine Weile verschnaufen mußte, ehe er wieder richtig gehen konnte. Dann ging es weiter. Zu seiner Überraschung hielt sich der Pilot nicht mehr im Schutze des Waldes. Die Nacht brach schon herein, und sie würden ihr augen blickliches Tempo nicht mehr lange aufrechterhalten können, wenn sie nicht bald Rast machten. Doch Kimber hastete weiter, bis sie das offene Gelände längs des Flusses erreicht hatten. Hier zog der Pilot die gleiche flache Kapsel aus der Tasche, mit der er das Schloß der Gittertür im Tempel geöffnet hatte, und warf sie in weitem Bogen von sich. Als sie auf den Schnee aufschlug, schoß eine mäch tige, grüne Feuersäule in den Abendhimmel. Fünf Minuten vergingen. Erst dann verblaßte das grüne Licht, und die Feuersäule erlosch. »Jetzt warten wir noch ein bißchen.« Kimber hatte seinen Humor wiedergefunden. »Die Jungs werden uns schon holen, bevor die PAX zugreifen kann.« Aber das Warten war nicht einfach; denn jede Mi nute konnte über Leben oder Tod entscheiden. Sie verzehrten die letzten Reste ihres Proviants und leg ten sich zwischen zwei umgefallene Bäume am Ran de des Waldes nieder. Die Flamme war zwar ver blaßt, aber Kimber sagte, daß von der Stelle ein grü ner Schein ausginge, der mehrere Stunden anhalten würde.
Wind kam auf, und das Rauschen der Bäume ver mochte nicht das Bellen der Hunde zu übertönen. Dard zog seine Betäubungspistole heraus. Zwei La dungen in seiner, eine in Kimbers Waffe. Sie würden nicht genügen, es mit den Verfolgern aufzunehmen, die zweifellos Gewehre besaßen. Kimber richtete sich auf und kroch auf allen vieren aus dem Versteck. Aus dem Nachthimmel schwebte ein dunkler Schatten herab – ein Helikopter. Kimber winkte Dard, ihm zu folgen. Eine Tür öffnete sich, und er wurde von seinem Gefährten in die Maschine geschoben. Dard war zu müde, um auf all die Fragen zu achten, die durch die Kabine schwirrten. Als er aufwachte, hätte das aufregende Abenteuer der vergangenen achtundvierzig Stunden auch nur ein Traum gewesen sein können; denn er lag auf dem gleichen Feldbett, auf dem er schon einmal gelegen hatte. Nur daß er jetzt allein war. Dard lag auf dem Bett und versuchte, zwischen Traum und Wirklich keit zu unterscheiden. War es wirklich erst zwei Tage her, daß er und Kimber ins Ungewisse geflogen waren, um in das Heiligtum der PAX einzudringen? Fast schien ihm das alles wie ein unwahrscheinlicher Traum, aber die Müdigkeit in seinen Gliedern bewies das Gegenteil. Unruhig wälzte er sich auf seinem Lager hin und her. Plötzlich ertönte ein Warnsignal, und er schrak zu
sammen, dann sprang er auf. Mit unbeholfenen Hän den zog er sich an und öffnete die Tür, um auf den Gang hinauszuspähen. Am anderen Ende gingen zwei Männer, die einen kleinen Wagen vor sich herschoben. Dard lief hinaus und folgte ihnen; doch kurz bevor er sie erreichen konnte, waren sie schon verschwunden. Er folgte ei ner Rampe hinab und gelangte in das Herz des Ber ges. Es war eine großräumige Höhle, in der heillose Verwirrung herrschte. Dard versuchte, ein bekanntes Gesicht unter den vielen Menschen zu finden. Zwei Gruppen waren an der Arbeit. Die eine trug oder fuhr Kisten und Behälter in das schmale Tal hinaus, in dem das Sternenschiff stand. Frauen arbeiteten neben den Männern. Doch die zweite Gruppe, zu der sich auch die beiden Männer mit dem Wagen gesellt hat ten, bestand nur aus Bewaffneten. »He, du!« Der Rufer war ein schwarzbärtiger Mann, der den Bewaffneten Anweisungen gab. Als Dard näher he rantrat, drückte ihm jemand ein Gewehr in die Hand. Mit einer Gruppe von Männern wurde er in einen der vielen Tunnel geschoben, der zu einer der Vertei digungsstellen führte. Dard stolperte hinter den schnell voraneilenden Männern her. Obwohl er keine Ahnung hatte, was ei
gentlich geschehen war, fühlte er in seinem Innern die instinktive Gefahr eines drohenden Unheils. Ir gendwie wirkte die ihn umgebende Erregung anstek kend auf ihn, und er wurde von dem gleichen Tau mel gepackt, unter dessen Einfluß auch die Männer zu stehen schienen. Von vorn her drang das Geräusch lebhaften Ge wehrfeuers an das Ohr der Laufenden. In dem engen Gang klang es peitschend und hell, schmerzte plötz lich in den Ohren. Als sie das Ende des Tunnels er reichten und ins Freie traten, schien es, als ob die De tonationen leiser geworden seien, obgleich sie ihnen doch nun viel näher gekommen waren. Der schmale Felsspalt, der den eigentlichen natürli chen Eingang zur Schlucht bildete, war durch eine ge waltige Mauer aus Felsen, Steinen, Geröll und Schnee völlig abgesperrt worden. Im Schutze dieser Mauer ar beiteten sich die Männer vor. Sie trugen Waffen aller Art, angefangen bei dem gewöhnlichen Schnellfeuer gewehr über Betäubungspistolen bis zum Energie strahler, der Dard jedoch noch unbekannt war. Hinter der Barrikade lagen die Verteidiger der Schlucht. Das Echo der Schüsse übertönte das ferne Summen der Helikopter, die Verstärkung für die Friedensmänner brachten, die nach jahrelangen Be mühungen nun endlich das Hauptquartier der ver haßten Wissenschaftler gefunden hatten.
Vorsichtig kroch Dard über die Erdmassen und die Steinbrocken, bis er sich in der Nähe eines Scharf schützen befand. Der Mann sah auf, als er den Jungen kommen hörte. »Willst du wohl den Kopf einziehen!« sagte er. »Hier wird scharf geschossen. Siehst du, dort? Sie versuchen es wieder vom Helikopter aus. Diese Dummköpfe. Sie werden niemals dazulernen.« Dard kroch ein Stück weiter, bis er Schulter an Schulter neben dem Mann lag und somit das ganze Schlachtfeld überblicken konnte. Zwei ausgebrannte Helikopter lagen am Boden, aus dem einen kräuselte sich noch eine Rauchwolke gegen den Himmel. Vier Gestalten in der schwarz weißen Uniform der PAX lagen nicht weit davon ent fernt. Sonst schien das Feld vor dem Schluchteingang leer und verlassen zu sein, wenigstens konnte Dard nichts Bemerkenswertes entdecken. »Sie haben sich verkrochen, die Feiglinge«, sagte der Scharfschütze. »Sie halten jetzt bestimmt Kriegs rat ab, wie sie uns am besten erledigen können. Vor Neugier werden sie bald platzen. Aber bis sie schwe re Waffen hierher schaffen können, vergeht noch ei nige Zeit. Ehe sie uns überrennen können ist das Schiff längst gestartet.« Ist das Schiff längst gestartet!
Ein eisiger Schreck erfaßte Dard – und gleichzeitig eine furchtbare unbeschreibliche Enttäuschung. Das also war der Sinn dieses verzweifelten Kampfes am Engpaß! Ein Kampf, über dessen Ausgang es keine Zweifel geben konnte. »Das – Schiff wird starten?« stammelte der Junge und schaute geistesabwesend auf das Gewehr, das er in seiner Hand hielt. Aber er sah nicht den funkeln den Lauf der Waffe, sondern nur den glänzenden Sil berleib des Sternenschiffes, das nun ohne ihn die Er de verlassen und durch die unendlichen Weiten des Alls jagen würde. Hatte Kimber nicht selbst gesagt, es sei nicht für al le Platz? Konnte er sich nicht denken, daß man ihn nicht mitnehmen würde? Aber, verdammt noch mal: ungerecht war es doch! Denn schließlich hatten sie nur ihm die Formel des Kalten Schlafes zu verdan ken, die sein Bruder entwickelt hatte. »He!« Eine Hand rüttelte seinen Ellbogen und er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Aufgabe zu, die vor ihm lag. »Schau, da unten –« Er sah in die Richtung, die der schmutzige Finger des Mannes angab. Etwas schob sich hinter dem Wrack des Helikopters hervor, der am weitesten von ihnen entfernt lag. Es war ein schwarzes Rohr. Dard runzelte die Stirn, während er es so genau betrachte te, wie es die Entfernung zuließ. Das Rohr wurde
herumgeschoben, bis es direkt auf den Erdwall ge richtet war. Das war kein Gewehr, dazu war es viel zu groß. Diese Art von Waffen hatte er überhaupt noch nicht gesehen. »Santee! He, Santee!« rief sein Nachbar. »Sie brin gen einen Werfer in Stellung!« Ein Mann kam zu ihnen heraufgekrochen, und Dard wurde gegen einen abgebrochenen Baumast gedrückt, als sich der Schwarzbärtige zwischen ihn und den Rufer zwängte. »Wahrhaftig – verdammt noch mal! Ich hatte nicht geglaubt, daß sie noch welche hätten! Nun, wir müs sen aushalten, so lange wir können. Ich werde den Jungs Bescheid sagen. Versucht es in der Zwischen zeit mit Querschlägern, um hinter den Helikopter zu kommen. Vielleicht erwischen wir so einige von der Bedienungsmannschaft. Wenn wir Glück haben, wo von ich in diesem Augenblick nicht gerade überzeugt bin, schaffen wir es ohne Hilfe.« Er kroch aus der Vertiefung, und Dard nahm sei nen Platz wieder ein. Sein Nachbar klopfte die Erde zurecht, um den Lauf seines Gewehrs darauf zu le gen, und Dard sah, daß er nicht auf die häßliche Mündung des Werfers zielte, sondern auf die Fel senwand hinter dem schwarzen Rohr. Das also hatte Santee gemeint, als er von Querschlägern sprach! Ge gen die Felswand schießen und hoffen, daß die ab
prallende Kugel das versteckte Ziel findet. Sehr schön, wenn es bloß klappen würde. Dard zielte auf den, wie er hoffte, richtigen Punkt an der Felswand. Die übrigen Verteidiger machten das gleiche, und ein wahrer Regen von Geschossen prasselte gegen die Felswand. Ihre Bemühungen soll ten nicht ohne Erfolg bleiben: Mit einem Schrei tau melte einer der Friedensmänner hinter dem schüt zenden Wrack hervor und fiel in den Schnee. »Was ist mit dem grünen Gas?« fragte Dard, als er daran dachte, wie er und Dessie gerettet worden wa ren. »Was glaubst du, wie wir wohl diese Helikopter heruntergeholt haben? Unsere Leute haben auf diese Weise noch zwei weitere Maschinen weiter draußen beim Fluß erwischt. Doch etwas ging schief, als sie die Felsen sprengten, um das Tal zu versperren. Die Gaskanone und zwei von unseren Männern liegen jetzt hier unter dem Haufen.« Dard sah wieder zu dem ausgebrannten Helikopter hinüber. Der Werfer bewegte sich nicht. Vielleicht hatten die Verteidiger die Bedienungsmannschaft un schädlich gemacht, hoffte der Junge sehnlichst, doch er wurde enttäuscht, denn gleich darauf wurde das schwarze Rohr langsam und schwerfällig wie ein un beholfenes Tier hinter das Wrack zurückgezogen. Dards Nachbar beobachtete diese Manöver mit finste
rer Miene. »Jetzt denken sie sich eine andere Teufelei aus. Offenbar hat einer mit Verstand das Kommando übernommen. Wenn das stimmt, wird es uns übel er gehen. Achtung!« Seine Stimme hatte sich zu einem lauten Rufen erhoben. Doch Dard bedurfte keiner Warnung. Auch er hat te die schwarze Kugel gesehen, die in steilem Bogen langsam auf den Erdwall zugeflogen kam. »Kopf runter, Junge! Kopf –« Dard rollte sich in seinem Erdloch zusammen und legte die Arme schützend über seinen Kopf. Die Ex plosion erschütterte den Boden. Von links ertönten Schreie und Stöhnen. Verstört richtete sich Dard auf. Links von ihm hatte die Explosion eine tiefe Bre sche in die Mauer gerissen. »Dan, Red und Loften hat es erwischt. Eins zu null für PAX«, murmelte sein Nachbar. »Ob das nur ein Zufallstreffer war, oder kennen sie die genaue Ent fernung?« Aber die Truppen der PAX hatten sich eingeschos sen. Eine weitere Explosion riß eine zweite Bresche in den Schutzwall aus Erde und Felsen. Die Steine hat ten noch nicht aufgehört zu rollen, als eine rauhe Hand Dard aus seinem Loch riß. »Wenn du noch lebst, Junge, dann raus hier! Santee hat den Befehl durchgeben lassen, daß wir uns bis zur nächsten Krümmung der Schlucht zurückziehen
sollen. Aber ein bißchen plötzlich. Wir werden näm lich wieder sprengen, und wenn du dann noch auf dieser Seite bist, dann gute Nacht!« Dard stolperte hinter seinem Führer her. Einmal flog er der Länge nach hin und riß sich Ärmel und Haut vom Unterarm. Sekunden später versammelten sich acht Verteidiger, nach Atem ringend, um Santee. Auf sein Zeichen hin liefen sie weiter die Schlucht entlang. Santee blieb zurück und zählte laut die Se kunden. Bei 10 drückte er den Hebel in einem schwarzen Kasten nach unten. Im gleichen Augenblick erhob sich ein dumpfes Dröhnen; es war viel leiser als die Explosionen, die der Werfer verursacht hatte. Dard sah, wie die gege nüberliegende Felsenwand sich langsam und maje stätisch neigte, um mit einem Höllenlärm in die Tiefe zu stürzen. Kaum waren die letzten schweren Brok ken zur Ruhe gekommen, als Santee auch schon seine Männer vorwärts führte, wo sie sich in der neuen Erdmauer eingruben. Wieder lag Dard mit seinem Gewehr in einem Erdloch; doch diesmal war er allein. Die Detonationen des Werfers ertönten regelmäßig, als sie die erste, jetzt verlassene Mauer beschossen. Glücklicherweise war das bis jetzt das einzige Zei chen, daß die PAX-Angreifer noch tätig waren. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie den Werfer he ranbrachten, um die zweite Verteidigungsstellung
anzugreifen? Würde sich dann der Rest der Verteidi ger wiederum zurückziehen und einen weiteren Teil des Berges sprengen müssen?
8
Obwohl die Verteidiger die Bedienungsmannschaft der furchtbaren Waffe nicht sehen konnten, spürten sie doch die unheimliche Drohung, die von dem schwarzen Rohr auszugehen schien. Es blieb ihnen nichts anderes übrig – in Ermangelung besserer Be waffnung – als genau in diese schwarze Mündung hineinzuschießen und dabei zu hoffen, daß ein Zu fallstreffer die gefährliche Kugelgranate bereits im Lauf krepieren lassen würde. Nicht mehr lange, und die Nacht würde hereinbre chen. Dann würde es der Werfermannschaft be stimmt gelingen, die neue Stellung der Schluchtver teidiger zu erschüttern, sie zu überrennen, wenn die se sich bis dahin nicht rechtzeitig zurückgezogen hat ten. Doch langsam näherkommendes Surren von Hub schraubern verschlechterte die ohnehin fast hoff nungslose Lage noch mehr. Das Fahrgestell der nied rig fliegenden Maschine streifte fast den oberen Rand des Stein- und Geröllwalles, und Dard konnte deut lich die schattenhaften Figuren der Besatzung erken nen, deren Arme sich jetzt zurückbogen und in wer fender Bewegung wieder vorkamen. Handgranaten!
Dard sah innerlich fast unbeteiligt zu und bemühte sich nicht einmal, Deckung zu nehmen. Unbewegt hockte er in seinem Loch, während die Feindmaschi ne über ihn hinwegschwebte, sich ein wenig em porschraubte und dann in der Dunkelheit ver schwand. Eine der letzten Handgranaten fiel neben Dards Loch. Die Explosion schleuderte ihn aus der Dek kung. Auf Händen und Knien kroch er in irgendeiner Richtung davon, von dem Wunsch getrieben, dieser brüllenden Hölle von Eisen und Stein zu entgehen. Die plötzlich eintretende Stille wirkte schmerzhaft, und er kam sich verlassen vor in dieser mit einem Mal so lautlosen Trümmerwelt. Einige Meter vor ihm versuchte ein Mann, sich von den auf ihm lastenden Erdmassen zu befreien, die ihn halb verschüttet hat ten. Dard kroch zu ihm hin und half mit seinen Fin gern, das Geröll beiseite zu schieben, unter dem der andere begraben war. Eine weitere Gestalt war eben falls dem Überfall entgangen und beugte sich jetzt über sie, Dard dabei ein wenig unsanft beiseite schie bend. Es war Santee, der Anführer der Verteidi gungsgruppe. Santee gelang es in wenigen Minuten, die Erde und die Felstrümmer beiseite zu räumen, unter denen der Verwundete lag. Mit gemeinsamen Kräften zogen er und Dard dann den Stöhnenden unter einem größe
ren Stein hervor und trugen ihn zu dem Teil des Ta les, in dem das startbereite Sternenschiff stand, das nicht auf sie warten würde. Santee stolperte, und Dard konnte es nicht verhin dern, daß er ebenfalls den Halt verlor. Alle drei Män ner fielen zu Boden, wo sie einfach erschöpft liegen blieben. Es war Dard, als fege der Luftdruck einer lautlosen Explosionswelle über sie hinweg. Er hob den Kopf, schaute zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren und stellte fest, daß sein Gefühl ihn nicht getäuscht hatte. Die Handgranaten der PAX-Leute hatten nicht nur den Verteidigungs wall zerfetzt, sondern auch die Felswand erschüttert, so daß diese abgerutscht war und sowohl Felsenbar rikade wie eventuelle Überlebende der Wissenschaft ler verschüttet hatte. Tonnen von Fels- und Erd massen versperrten nun den Ausgang, aber auch den Eingang des Tales. Dard, Santee und der Verwundete waren die einzi gen Überlebenden der Verteidiger. Drei Mann von et lichen zwanzig oder dreißig. Außer einem furchtbaren Brummen im Schädel und einem anhaltenden Summen vernahm Dard keine an deren Geräusche. Ob sein Trommelfell vielleicht bei der letzten Handgranatenexplosion geplatzt war? Auf jeden Fall kam das Dröhnen nicht von außen, und er nahm es auch nicht mit den Ohren wahr. Und als er ge
hen wollte, schwankte er, als könne er nicht mehr das Gleichgewicht halten. Erst als Santee ihn anstieß, be merkte er entsetzt, daß er nichts mehr hörte. Die Angreifer gaben sich mit ihrem Erfolg noch nicht zufrieden. Geschosse prasselten wahllos gegen die Felswand, an die sich die drei Männer herangear beitet hatten. Dard aber wußte nichts von diesen Ge schossen, mit denen die Helikopterbesatzung ver suchte, die letzten Verteidiger unschädlich zu ma chen. Erst Santees harte Faust riß ihn in die Deckung einer winzigen Felsennische, die vor den Kugeln Schutz bot. Zwar waren sie im Augenblick sicher, aber sie waren auch von einer weiteren Rückzugs möglichkeit abgeschnitten. Das war also das Ende! Dard wunderte sich, daß es keine Furcht war, die ihn erfüllte, sondern nur eine riesige Enttäuschung darüber, daß er nicht mit dem Schiff zu den Sternen fliegen würde. Mit den Händen griff er an seinen Kopf, als könne er damit das gräßliche Brummen besänftigen, das den Schädel zu sprengen drohte. Er achtete nicht mehr auf seine Umgebung und war daher ein wenig er staunt, als er an seinem Gürtel ein Zerren verspürte. Es war Santee, der ihm die Betäubungspistole aus dem Halfter zog. Da er die Waffe bisher noch niemals benötigt hatte, mußten noch beide Ladungen vor handen sein.
Santee blickte ein wenig unschlüssig auf die Pisto le, drückte auf einen Knopf und ließ das Magazin he rausspringen. Langsam schob er es dann wieder in den Hohlgriff, nachdem er sich von dem Vorhanden sein wenigstens dieser beiden Ladungen überzeugt hatte. Dann lauschte er auf den irgendwo in der Nähe summenden Helikopter, als könne er seine Ankunft kaum noch erwarten. Wollte Santee die Maschine etwa mit diesem Kin derspielzeug abschießen? Dard beobachtete mit nicht geringer Verwunderung, wie der Führer der ehema ligen Verteidigungsgruppe hinter einem Felsbrocken in Deckung ging, die Waffe schußbereit in der Hand hielt und aufmerksam in das Halbdunkel starrte, in dem das näherkommende Flugzeug noch ziemlich deutlich zu erkennen war. Und dann geschah etwas, was Dard noch vor kur zer Zeit in einen Zustand heilloser Verwirrung ge stürzt hätte, ihn heute jedoch lediglich beruhigte. Der Helikopter, der in einer Schleife näherkam, schien plötzlich vor eine undurchsichtige, aber trotz dem völlig undurchdringliche Mauer zu prallen, von dieser förmlich zurückgeschleudert und regelrecht in einzelne Trümmer zerlegt zu werden. Im fahlen Zwielicht konnte Dard sehen, wie die Bruchstücke des Flugzeugs in die Tiefe fielen und dort zerschell ten.
Ohne ein Wort zu verlieren, stieß Santee den Jun gen in die Seite und deutete auf den Verwundeten. Sie bückten sich, und wenige Sekunden später befan den sie sich erneut auf ihrem beschwerlichen Marsch zu jenem Teil des Tales, in dem das Sternenschiff wartete. Der Junge mußte alle seine Kräfte zusammenneh men, um nicht vor Erschöpfung erneut zu Boden zu sinken. Aber eine neue Hoffnung war in ihm und ließ ihn die fast übermenschliche Anstrengung ertragen. Die Hoffnung, doch noch rechtzeitig genug das Rake tenschiff zu erreichen! Das plötzliche grelle Licht blendete sie, als sie um die Felswand bogen. Strahlende Scheinwerfer umga ben wie ein feuriger Ring das anscheinend auf den letzten Hebeldruck wartende Schiff. Das geschäftige Durcheinander, das noch am Nachmittag hier ge herrscht hatte, war vollkommen abgeebbt. Frauen konnte Dard keine mehr sehen, und nur noch sehr wenig Männer. Ganz vereinzelt waren da noch eini ge, die damit beschäftigt waren, Kisten und ähnliche Gegenstände zur Rampe hinauf zu schaffen. Bald würde auch diese letzte Arbeit beendet sein. Der Rest der Männer würde in das Schiff klettern, die Luke würde sich endgültig schließen, und mit einem don nernden Heulen würde das silberne Ungetüm den Sternen entgegenschießen.
Noch ein wenig gedämpft, aber doch schon deut lich, vernahm Dard das Rufen von Santee. Mehrmals mußte dieser seinen Ruf wiederholen, ehe man ihn hörte. Erst als Dard sah, wie einige Männer ihre Ki sten stehen ließen, um auf sie zuzueilen, verließen ihn die Kräfte. Mit einem leisen Stöhnen ging er in die Knie und sank neben dem Verwundeten zu Bo den. Dann spürte er, wie kräftige Arme ihn hochhoben und zum Schiff hintrugen. Kordov stand da in der Einstiegluke und winkte ihm und Santee zu. Als man Dard auf die Beine stellte, konnte er auch wieder lau fen. Ganz automatisch und fast ohne es zu wissen, ging er durch zahllose Schiffskorridore, bis er sich plötzlich in einem kleinen Raum wiederfand, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Jemand hielt ihm eine Tasse mit heißer Brühe an die Lippen. Vielleicht war es Kaffee. Oder Suppe. »Wo ist Dessie?« fragte Dard zwischen zwei Schlucken. »In Sicherheit«, sagte der Unbekannte. Dard leerte die Tasse. Dann setzten ihn hilfreiche Hände auf einen kleinen Klappsitz, den man einfach aus der Metallwandung gezogen hatte. »Ob das Kraftfeld genügend Energiezufuhr er hält?« »Durch die letzte Sperre werden sie nicht kommen!«
»Nicht mit den Waffen, die sie augenblicklich zur Verfügung haben.« Die Worte schwirrten durch den Raum, erregend, verwirrend und doch irgendwie beruhigend. Nicht alles konnte Dard verstehen, aber das meiste doch. »Jetzt haben wir Zeit!« Das klang ganz nach San tees Stimme. »Wie geht es dem Jungen?« Ja, das war Kimber! Unter Tausenden hätte er den Piloten herausgefunden. »Oh, der Junge ist in Ordnung. Die letzte Explosion hat ihn ein wenig durcheinandergebracht, aber das gibt sich wieder.« »Gut. Wir werden Tremont verbinden und hinun ter schicken. Ihr beide müßt noch ein bißchen warten. Gib ihnen Suppe und die erste Dosis.« Wieder bekam Dard etwas zu trinken, diesmal eine heiße Fleischbrühe. Danach mußte er eine Pille schlucken. Sein ganzer Körper schmerzte wie eine einzige Beule. Doch er richtete sich auf und sah sich um. San tee saß neben ihm auf einem Klappstuhl. »Na, geht es jetzt besser?« fragte der große, breit schultrige Mann. Dard antwortete mit einem Nicken und wünschte gleich darauf, er hätte es nicht getan, denn der ste chende Schmerz drohte ihn zu übermannen.
»Nehmen sie uns mit?« Er mußte sich anstrengen, um die Worte über die Lippen zu bringen. Santees Bart zitterte, als er schallend auflachte. »Ich möchte sehen, wie die uns jetzt noch aus dem Schiff schmeißen wollen! Wie kommst du überhaupt dar auf?« »Kimber sagte, nicht alle würden Platz finden.« Das Lachen verflog, und der Mann wurde ernst. »Es war tatsächlich nicht genügend Platz. Aber bei dem Kampf mußten so viele gute Männer sterben. Daher – ist jetzt Platz für alle Überlebenden. Und wir werden Männer brauchen, die mit Waffen umzuge hen verstehen, wenn wir einmal landen. Also fahren wir mit. Stimmt's Doktor?« »Du bist der junge Nordis, nicht wahr?« fragte der Mann, indem er Santees Frage überging. »Ich wünschte, ich hätte deinen Bruder bekannt! Ich hätte nicht geglaubt, daß es möglich wäre, bis ich die For mel gesehen hatte. Kälteschlaf! Wir haben tatsächlich drei von Hammonds Kälbern mit eingefroren. Die werden sich wundern, welches Gras sie fressen wer den, wenn sie aufwachen. Und all das haben wir Lars Nordis zu verdanken!« Doch Dard hatte nur eines im Sinn. »Wo ist Dessie?« »Nordis' Tochter? Sie ist bei meiner Tochter und meiner Frau. Sie schlafen schon.« »Schlafen schon?«
»Ja, Kälteschlaf! Die meisten von uns schlafen schon. Nur ein paar wenige sind noch mit dem Bela den des Schiffes beschäftigt. Kimber, Kordov und ich werden die letzten sein. Kimber will sichergehen, daß wir uns auch auf dem richtigen Kurs befinden.« Unterdessen war Kimber hereingekommen. Er nickte Dard über die Schulter des Arztes zu. »Ich bin froh, daß du an Bord bist. Eines kann ich dir versprechen: Auf dieser Fahrt wird es keine Not landung geben! Du wirst mit der Mannschaft schlafen und als einer der ersten auf der neuen Welt erwa chen!« Dann war er schon wieder verschwunden. Vielleicht war es das Medikament, vielleicht auch die beruhigenden Worte des Piloten; Dard fühlte sich jetzt sicher und geborgen. Santee ging mit Lui Skort hinaus, und Dard befand sich allein im Raum. Der Lärm auf dem Gang drau ßen verstummte. Kurz darauf ertönte ein Glockensi gnal. Einen Augenblick später vernahm er das Tram peln von schweren Schritten draußen auf dem Gang. Das hastige Laufen bedeutete, daß etwas vorgefallen war. Er stützte sich gegen die Wand und sah hinaus auf den Gang. Kimber kam herangelaufen. In der Hand hielt er eine der Strahlpistolen, wie sie Sach be nutzt hatte. Wortlos eilte er an Dard vorbei. Dard folgte ihm, und bald sah er durch die Luft schleuse den Pilot auf der Rampe stehen. Draußen
war es Nacht geworden, und die meisten der Schein werfer waren erloschen. In regelmäßigen Zeitabständen konnte Dard die Explosionen des Werfers vernehmen. Die Friedens männer feuerten noch immer auf den Erdwall. Aber warum war Kimber draußen? Waren einige wichtige Sachen in der Schlucht zurückgelassen wor den? Dard lehnte sich gegen die Schiffswand und sah, wie einige Lichter am Eingang des Tunnels auf blitzten. Ein Mann kam auf das Schiff zugelaufen. Er rannte an Kimber vorbei, und Dard konnte gerade noch zur Seite treten, als Santee hereinstürmte. »Los!« Hinter ihnen verschloß Kimber die Einstieg luke. Santee grinste und keuchte. »Gute Arbeit, wenn ich das von mir selbst sagen darf«, berichtete er, als Kim ber bei ihnen anlangte. »Das Kraftfeld ist abgestellt, und die Spannung erfolgt in etwa vierzig Minuten. Bis dahin werden wir doch starten?« »Natürlich. Ihr beiden macht aber jetzt am besten, daß ihr zu Kordov kommt. Er wartet schon auf euch.« Kimber führte die beiden zu einem Raum, wo Kor dov sie in Empfang nahm. »Hier herein«, sagte Kordov. Es war der Lager raum des Sternenschiffes. An den Wänden standen rechteckige Kästen übereinander. Sie waren Särgen sehr ähnlich, mußte Dard zu seinem Schrecken fest
stellen. Alle waren sie geschlossen, außer dem Ka sten, der auf dem Fußboden stand. Kordov zeigte darauf. »Der ist für dich Santee. Du wirst gerade hineinpassen. Dard, du bist kleiner und gehst in einen von den oberen hier.« An der entgegengesetzten Wand türmte sich eine zweite Reihe dieser Kästen auf. Ein Hauch der Kälte ging von ihnen aus. Kordov erklärte. »Erst schläfst du, und dann frierst du ein.« »Sieh bloß zu, daß ihr uns wieder auftaut«, brummte Santee mißtrauisch. »Ich habe nicht vor, den Rest meines Lebens als Eiszapfen zu verbringen, nur damit ihr Schlauberger eine Theorie bestätigen könnt. Was jetzt? Soll ich einfach hineinsteigen?« »Erst ausziehen, und dann bekommst du zwei Sprit zen.« Er zog einen kleinen Rolltisch heran, auf dem eine Anzahl von Injektionsspritzen lag. Sorgfältig suchte er zwei heraus, von denen eine mit einer rötlich braunen, die andere mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt war. Während Dard sich auszog, stellte Santee die Fra ge, die auch ihm auf der Zunge lag. »Und wie sollen wir zur rechten Zeit aufwachen? Habt ihr in den Sarg auch einen Wecker eingebaut?« »Diese drei«, Tas zeigte auf drei Kästen in einer Ek
ke, »sind mit einer besonderen Einrichtung versehen, die die Insassen aufweckt. Kimber, Lui und ich wer den aufwachen, wenn wir einen geeigneten Planeten gefunden haben.« »Und – wie lange wird das dauern?« Kordov hob die Schultern, ließ sie wieder sinken. »Keine Ahnung. Eins jedoch ist sicher: noch nie mals ist vor uns ein Mensch so weit in den Weltraum eingedrungen. Es kann Generationen dauern.« Santee gab keine Antwort mehr, sondern zog sich wortlos aus, warf seine Kleider einfach in eine Ecke und ließ sich dann die beiden Spritzen geben. Grü ßend winkte er mit der Hand, ehe er in den Kasten stieg, um sich hineinzulegen. Kordov betätigte die beiden Hebel an den Enden des Kastens. In einer weißen Wolke stieg eisige Luft in die Höhe. Santees Augen schlossen sich – dann klappte der Wissenschaftler den Deckel zu. »So, mein Junge, nun ist die Reihe an dir«, wandte er sich an Dard. Zwei metallene Schwenkarme hoben den oberen Kasten, der für ihn bestimmt war, auf den Boden der Kabine herab. Dard hatte sich seiner restlichen Klei dung entledigt und streckte Kordov den Arm hin. Fasziniert starrte er in den Kasten hinein, der nun für undenkbar lange Zeit seine Wohnung sein würde. Oder – sein Sarg.
»Hinein mit dir! Auf Wiedersehen in einer anderen Welt!« Kordov lächelte, als er das sagte. Aber es war Dard gar nicht nach Lachen zu Mute. Langsam schloß sich der Deckel, und es wurde Dunkel um Dard. Und in dieser Sekunde erst kam es dem Jungen zum Bewußtsein, welche Ungeheuer lichkeit ihm bevorstand. Das war ja Irrsinn! Sterben würde er, erfrieren und ersticken! Niemals aber mehr würde er aufwachen! Jedoch es war schon zu spät. Gleichzeitig mit einer plötzlichen auftretenden Müdigkeit spürte er die gräßliche Kälte, die sich in sein Fleisch fraß. Dann war der Deckel endgültig geschlossen, und es gab kein Zurück mehr. Kalt war es, eisig kalt. Und finster! Wenn er jemals wieder erwachen sollte, dann wür de es auf einer anderen, besseren Welt sein. Auf einer Welt ohne gewaltsamen Frieden und ohne Menschen. Immer kälter wurde es. So kalt und so finster mußte der Weltraum sein. Er spürte es nicht mehr, als das Schiff eine halbe Stunde später hinauf in den schwarzen Nachthimmel schoß, den Sternen entgegen.
9
Es war warm, und ein rosa Licht drang gedämpft durch seine Augenlider. Die Wärme tat gut, und doch hatte Dard Noris das Bestreben, der Lockung der Wärme und des Lichtes zu widerstehen. Beides ver langte die Bewegung seiner Glieder – und dazu fühl te er sich zu schwach. Doch ein unerträglicher und stechender Schmerz durchzuckte ihn, riß ihn zu Licht und Wärme zurück. Dard nahm all seine Energie zusammen und zwängte die Augenlider auseinander. Er starrte direkt in einen bunten Schleier wild durcheinander wirbelnder Wol ken, die um seinen Kopf zu kreisen schienen. Mal kamen sie näher, mal verschwanden sie ganz aus sei nem Gesichtskreis. Dann aber blieben sie, nahmen sogar Form an und wurden zu einem menschlichen Gesicht, das Dard irgendwie bekannt vorkam. Er bemerkte nun auch die Hände, die über ihm schwebten, etwas zur Seite glitten – und dann durch zuckte ihn ein neuer Strom plötzlichen Schmerzes. Zu der Sicht und dem Gefühl gesellte sich nun auch noch das Gehör. Ganz deutlich vernahm er die Stimmen. »Sprechen!« Dard bewegte die Lippen, öffnete seinen Mund, aber die Zunge lag auf dem Gaumen wie ein Blei
klumpen. Nur ganz allmählich gelang es ihm, die Herrschaft über seine Glieder zurückzugewinnen, die so lange geruht hatten. Lange –? Wie lange? Wie ein elektrischer Schlag durchfuhr ihn die Erin nerung, drohte ihn erneut zu lähmen, dann jedoch bewegte er mühsam seine Arme, die Hände suchten die Wände des sargähnlichen Kastens, in den man ihn zu Beginn des Fluges gelegt hatte. Es waren keine da, also hatte man ihn schon daraus befreit. »Trink aus, Junge!« Die zuerst sinnlosen Worte bekamen einen Sinn, als er das Ende des Schlauches in seinem Munde fühlte. Gehorsam saugte er die heiße Flüssigkeit in sich hin ein, spürte die wohltuende Wärme und bemerkte, wie sich der fesselnde Krampf von seinen Gliedern löste. Aber trotzdem wurde er plötzlich wieder furchtbar müde, seine Augen schlossen sich, und keine hilfrei che Hand hinderte ihn diesmal daran, erneut in einen tiefen Schlaf zu fallen. Das zweite Erwachen war wesentlich leichter. Oh ne jede Hilfe konnte er sich aufrichten, sein Sehver mögen war von Anfang an klar und deutlich. Soweit er feststellen konnte, lag er auf einer dicken, weichen Decke, die man auf dem Metallboden eines sehr selt samen Raumes ausgebreitet hatte. Dicht vor ihm saß
auf einem sesselartigen Stuhl ein dunkelhaariger Mann, der ihm den Rücken zuwandte. Vor diesem Mann war ein gewaltiges Armaturenbrett mit unzäh ligen Skalen, Zeigern, Knöpfen und Uhren. Das Selt samste war jedoch die große rechteckige Mattscheibe, die anscheinend das ganze Interesse des Mannes in Anspruch nahm. Leider verdeckte der breite Rücken des Unbekannten den größten Teil des flackernden Bildschirmes. Dard nahm sich zusammen, um nicht laut aufzu schreien, als ihm die Erkenntnis der Wahrheit kam. Dies konnte nur der Kontrollraum des Sternschiffes sein! Ganz langsam zog er die Beine an und setzte sich aufrecht hin. Mit neugierigen Blicken schaute er sich um. Er war wach! Wie lange mochte er geschlafen ha ben? Wochen? Monate? Oder gar Jahre? Der Bildschirm! Er mußte sehen, was der Bild schirm zeigte, auf den der Mann da so angestrengt starrte. Nur mühsam gelang es ihm, sich völlig aufzu richten. Dann aber stand er, wenn auch noch ein we nig schwankend, auf dem metallischen Fußboden. Mit Erstaunen stellte er fest, daß er eine ihm gänzlich unbekannte Kleidung trug. Glatter fester Stoff von grün-brauner Farbtönung. Weiche Stiefel umschlos sen die Füße. Seine Hand streckte sich aus und suchte Halt, den
er in der Lehne des zweiten Pilotensitzes, der leer war, fand. Der Mann vor dem Bildschirm mußte ein Geräusch gehört haben, denn er wandte den Kopf. Ein Lächeln überzog die gespannten Züge. Es war Kimber, der Pi lot des Raumschiffes, der gleiche Kimber, der mit ihm aus der Zentrale des Feindes die Berechnungen für diesen Flug geholt hatte. Damals auf der Erde. Herr des Himmels, wie lange mochte das nun schon her sein? »Willkommen!« sagte Kimber und deutete auf den leeren Stuhl neben sich. »Setz dich hin, du hast noch keine Raumfahrerbeine. Nun, hast du wenigstens schön geträumt?« Dard gab verzweifelt seiner Zunge den Befehl, end lich die störrische Unbeweglichkeit aufzugeben. »Kann mich nicht entsinnen«, krächzte er heiser, aber doch glücklich, daß er überhaupt etwas hervor brachte. »Wo befinden wir uns?« Kimber lachte kurz auf, wurde aber gleich wieder ernst. »Das weiß nur der Himmel! Immerhin hat die auto matische Vorrichtung Kordov und mich geweckt. Es muß also in der Nähe eine Sonne mit mehreren Plane ten geben. Wir haben dann auch dich geweckt. Aber bevor wir landen, werden wir mindestens noch zwei oder drei andere aus ihrem Schlaf reißen müssen.«
Auf dem Bildschirm waren drei Lichtflecke. Kim ber wedelte mit der Hand zu ihnen hinüber und sag te: »Das ist es, das neue Sonnensystem. Wir haben Glück gehabt, mehr Glück als Verstand, das kannst du mir glauben. Der größere Fleck hier ist eine gelbe Sonne, die eine Oberflächentemperatur von etwa 11 000 Grad und annähernd die Größe unserer eigenen Sonne besitzt. Bis auf die höhere Temperatur könnte sie sogar eine Zwillingsschwester von Sol sein. Daher habe ich die berechtigte Hoffnung, daß einer der drei Planeten dieses Systems für eine Kolonisation geeig net sein wird.« »Drei? Ich sehe nur zwei.« »Einer steht hinter Sol II, wie wir die Sonne getauft haben. Tas Kordov und ich hatten fast eine ganze Woche Zeit, bei unserer Annäherung das System zu beobachten. So lange schon ist es her, daß uns die au tomatische Vorrichtung weckte. Nur noch ein einzi ger Tag, Dard, dann wissen wir genau, auf welcher Welt wir landen – und auch leben können. Ein Tag noch –« Drei Welten und eine gelbe Sonne! Dard wünschte sich – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben –, daß er mehr von Astronomie verstände. Nicht nur von Astronomie, sondern auch von wissenschaftli chen Dingen überhaupt.
»Warum habt ihr gerade mich geweckt? Ich kann euch doch kaum helfen. Hatten Sie mir nicht gesagt, daß Sie, Kordov und –« Er versuchte, sich zu erin nern. War da nicht noch ein dritter Mann? Nicht er, Dard, sondern –? Kimber schien etwas auf dem flackernden Bild schirm zu suchen und sagte beiläufig: »Du lagst gerade günstig, Dard. Du kannst Gordon ganz gut helfen.« Und er fügte hinzu: »Lui hat es nicht geschafft.« Lui Skort, der junge Arzt, der sich so enthusiastisch über Lars Nordis Formel für den Kalten Schlaf ge freut hatte! Ausgerechnet dieser Lui Skort hatte das Experiment nicht überlebt. »Was – was ist geschehen?« »Das können wir noch nicht sagen. Dies alles: Schiff, Eiskammern, der Kurs – alles war doch nur ei ne einzige vage Hoffnung. Sozusagen auf eine Hoff nung hin errechnet, gebaut und gestartet. Es gab kei ne Möglichkeit, die Tüchtigkeit des Schiffes, die Rich tigkeit des Kurses oder das Funktionieren des Kalten Schlafes vorher zu erproben. Das Schiff weckte mich und Kordov durch die genau eingestellte Automatik. Lui aber –« Er zuckte mit der Schulter und schwieg. »Und – wie lange waren wir unterwegs? Es kommt mir so vor, als seien wir erst vor wenigen Minuten gestartet.«
Kimber lächelte diesmal nicht, sondern sein Gesicht blieb ernst. »Bereite dich auf einen Schock vor, mein Junge. Es ist unglaublich, aber was wissen wir Menschen von Raum und Zeit? Vielleicht haben wir draußen sogar eine ganz andere Zeit als auf der guten alten Erde. Die Wissenschaftler waren sich über den Begriff der Zeit niemals einig.« »Wie lange?« fragte Dard erneut. »Vielleicht dreihundert Jahre. Aber es können ge nau so gut einige mehr oder weniger sein. Ich weiß nicht, ob unsere Naturgesetze hier noch Gültigkeit haben.« »Drei –!« Dards Mund blieb offen. Sein Gesicht war leichen blaß. Dann besann er sich. »Dreihundert Jahre! War es nur Luis Kiste, die ver sagte?« Er dachte bei dieser Frage an Dessie. Hoffentlich war nichts geschehen. Kimbers Gesicht zeigte keine Regung, dann aber schob er das Kinn vor. »Wir werden das noch früh genug feststellen. So bald das Schiff gelandet ist, werden wir alle wecken. Vorher noch einige, die uns helfen können. Wir wer den sehen. Wir können jedenfalls mit einer hohen Zahl von Überlebenden rechnen. Lui sollte von der
Spezialkontrolle geweckt werden, vielleicht war das der Grund des Versagens. Immerhin: von vier leben drei! Kordov hatte –« »Ja, was ist mit Kordov?« erkundigte sich dieser. Unbemerkt hatte er den Kontrollraum betreten. Seine Stimme war fröhlich und voller Hoffnung. Er ließ sich in den dritten Sitz fallen, reichte Kimber und Dard eine kleine Plastikflasche, deren Hals in einem Saugstück endete. Er behielt eine dritte für sich selbst. Dard schmeckte gleich an dem salzigen Aroma der lauwarmen Brühe, daß er das gleiche Zeug schon einmal bei seinem ersten Erwachen getrunken hatte. Es sättigte ungemein. Er nahm aber nur einen Schluck. Dann fragte er: »Ich hörte von Lui. Wieviel sind es noch?« Kordov wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, ehe er sagte: »Unmöglich, das schon jetzt zu sagen. Wir dürfen es auf keinen Fall wagen, die Eiskammern zu früh zu untersuchen. Auch ich stelle mir oft die Frage: Wie viele? Wir können nur hoffen, daß die meisten es gut überstanden haben. Nur zwei Leute der eigentlichen Schiffsbesatzung werde ich noch wecken. Wir brau chen sie für das Landemanöver. Aber die anderen? Die müssen weiterschlafen; ihr Erwachen zum zwei ten Leben muß bis kurz nach der Landung verscho ben werden. Erst dann, wenn wir genau wissen, daß
eine neue Heimat uns aufnimmt, sollen sie geweckt werden. Denn so selbstverständlich ist das noch nicht. Zwar haben wir eine Sonne gefunden, die sich mit der unsrigen vergleichen läßt, aber ihr dürft nicht vergessen, daß diese Sonne nur drei Planeten besitzt. Wir hatten früher neun, und nur einer, die Erde, trug Leben. Vielleicht finden wir hier einen Merkur, eine Venus und einen Mars. Aber keine Erde! Was meinst du, Sim? Welchen sollen wir ansteuern?« Der Pilot trank noch einmal kräftig von der Kon zentratlösung, ehe er antwortete: »Ich würde den mittleren Planeten vorschlagen. Er ist zwar näher an Sol II als Terra an Sol I, aber die Ebene der Umlaufbahn ist günstiger.« »Von Astronomie habe ich leider keinen blassen Schimmer«, gab Dard unnötigerweise bekannt, »aber ich mache mir so meine Gedanken. Wenn die Sonne also einen erdähnlichen Planeten entwickelt hat, weil sie eine gelbe Sonne ist, was ist dann mit der eventu ellen intelligenten Lebensform auf diesem erdähnli chen Weltkörper? Wäre es möglich, daß durch die gleichen Bedingungen auch die gleiche Intelligenzform entstanden ist?« Kordov lehnte sich ein wenig vor, dabei den Bild schirm, auf dem die drei Lichtflecke immer noch un beweglich standen, mit einem kurzen Blick streifend. »Intelligentes Leben? Hm! Vielleicht wäre es men
schenähnlich, oder sogar ein genaues Ebenbild des Menschen. Wer soll das wissen? Genausogut jedoch ist es möglich, daß nur auf Terra der Mensch herrscht, während es hier eine Insektenart oder ein fleischfressendes Ungeheuer ist.« Dann wandte er sich an Dard. »Wenn du deine Brühe ausgetrunken hast, dann komm mit. Es gibt noch viel zu tun, und du kannst mir dabei helfen.« Dards Versuch, sich aus dem Sitz zu erheben und stehenzubleiben, scheiterte kläglich. Er stolperte und taumelte in die Arme des Wissenschaftlers, der ihn auffing. »Wir haben bereits Schwerkraft im Schiff, denn die Bremsdüsen arbeiten schon. Halte dich an mir fest und bewege dich vorsichtig, damit du dich langsam daran gewöhnen kannst. Der lange Schlaf hat dich schlapp gemacht, obwohl er – physisch gesehen – nur einige Stunden währte.« Dard folgte dem Rat, hielt sich mit einer Hand an Kordov, mit der anderen an Stühlen, Tischen und Wänden fest, bis sie die ovale Öffnung der Tür er reichten. Dahinter war eine kleinere Kabine mit zwei in den Wänden eingelassenen Betten. Schränke, zwei Metallstühle und ein Tisch vervollständigten das Mobiliar. »Das ist die Kajüte des Piloten bei interplanetaren Flügen«, erklärte Tas Kordov und blieb in der Mitte
des Raumes stehen, wo eine kreisrunde Öffnung im Boden eingelassen war. Das Ende einer Leiter ragte bis in Hüfthöhe in den Raum hinein. »Na, denn mal los! Wir wollen sehen, ob unten noch alles in Ord nung ist.« Dard kletterte langsam die Metallsprossen hinab, hinein in den Teil des Schiffes, in dem man auch ihn beim Start in den Zustand des Kalten Schlafes ver setzt hatte. Drei offene Kisten standen abseits in einer Ecke des riesigen Lagerraumes. An den Wänden selbst waren die restlichen noch geschlossenen Särge aufgestellt. Sie waren weiß, als habe ein eisiger Rauhreif sie überzogen – was auch tatsächlich der Fall war. Kordov drückte auf einen Knopf, und der Metallarm eines Krans hob eine der oberen Kisten an, senk te sie zu ihnen herab und stellte sie genau vor ihre Füße. Der Wissenschaftler löste den Griff des Metall armes und brachte den Sarg mit Hilfe Dards in die Nachbarkabine, die als gut eingerichtetes Laboratori um diente. Dann drehte er an einem Rad und öffnete den Deckel. Luft zischte aus dem Innern der vereisten Kiste, und ein kalter Hauch des Todes ließ die beiden Männer für einen Augenblick erschauern. Kordov sah auf den steifen Körper des nackten Mannes, der in dem sargähnlichen Holzkasten lag. Er atmete erleichtert auf.
»Ich glaube, der hat es auch geschafft. Schnell, wir wollen ihn möglichst rasch munter machen.« Gemeinsam hoben sie die erstarrte menschliche Gestalt heraus und legten sie auf einen mitten im Raum stehenden Operationstisch. Dann zeigte Kor dov dem Jungen, wie er den kalten Körper massieren mußte, damit die Blutzirkulation wieder angeregt wurde. Er reichte ihm zu diesem Zweck eine Flasche mit einer öligen Flüssigkeit. Dann spritzte er ver schiedene Lösungen in die Herzgegend und in die Venen des klinisch toten Mannes. Es dauerte gar nicht lange, da fühlte Dard die zu rückkehrende Wärme auf der Haut des von ihm be arbeiteten Körpers. Wenige Minuten später erfolgte das erste Erwachen, verbunden mit dem halb unbe wußten Schlucken der Kraftbrühe und dem soforti gen Wiedereinschlafen. Kordov und Dard zogen dem Mann einen der einfachen Pionieranzüge an, schaff ten ihn in die Kontrollkabine und legten ihn auf eine der Andruckmatratzen. Kimber sah interessiert zu. »Wen bringt ihr denn da? Ah – den guten Cully!« Kimber schien erfreut darüber. »Und wen noch?« »Wen willst du haben? Santee, Rogan oder Ma cLey?« »Santee kann zwar hervorragend schießen, aber er vermag kaum, ein Raumschiff von einem Langhaar
dackel zu unterscheiden. Dann schon lieber Rogan. Der hat Raumerfahrung und einige Ahnung von Ra dar.« »Gut, also Rogan!« stimmte Kordov zu. »Aber erst machen wir eine Pause. Den Radarmann brauchen wir ja noch nicht.« Kimber warf einen Blick auf das Armaturenbrett, wo die Zeiger der Uhren unruhig hin und her tanzten. »Nicht vor fünf Stunden – oder sagen wir acht, wenn wir es nicht so eilig machen wollen.« »Wir haben Zeit, denn nach dreihundert Jahren soll es uns auf drei Stunden mehr oder weniger auch nicht mehr ankommen. Die meisten Katastrophen entsprangen den übereilten Handlungen der Verant wortlichen auf der Erde. Wir wollen diesen Funda mentalfehler nicht auch auf diese neue Welt übertra gen, die so viele Lichtjahre von der unserigen entfernt ist. Ein Mann soll arbeiten, aber er muß auch Stunden kennen, in denen er faul und zufrieden in der Sonne sitzen kann, um über Vergangenes und Zukünftiges nachzudenken. Nein, wir wollen nichts übereilen, denn nun können wir nicht mehr zu spät kommen.« Cully, der Ingenieur, kam bald zum zweiten Male zu sich, erholte sich sehr schnell und war sofort be reit, Kimber abzulösen. Kordov saß neben Dard, der ebenfalls wie faszi niert auf die flackernde Mattscheibe starrte.
Die eine der Kugeln war bereits so groß geworden, daß man schon einzelne Farbtönungen aus dem blaugrünen Einerlei herauskristallisieren konnte. »Polarregionen – also Schnee!« sagte Kordov. Cully nickte bestätigend. »Und Meere ...« Erstaunlicherweise – er war sonst wortkarg – fügte er noch hinzu: »Menge von Wasser! Hoffentlich erkennen wir bald einzelne Kontinente.« »Falls vorhanden«, meinte Kordov. »Dieser Planet hat keinen Mond, daher vielleicht auch keine einzel nen Kontinente. Wenn er nur aus Wasser besteht, müssen wir diese Welt den Fischen überlassen, denn es wäre zu anstrengend für uns, sich jetzt noch um stellen zu wollen.« »Den Mond werde ich sehr vermissen«, sagte Cully mißvergnügt, verriet aber nicht, warum das so war. »Keine Anzeichen eventueller Raumfahrt vorhan den?« fragte Cully mit plötzlich erwachendem Inter esse. »Keine! Aber das ist kein Beweis, Cully. Vergiß das nicht! So, Dard. Jetzt wollen wir Rogan wecken.« Die beiden kletterten erneut in den Bauch des Sternschiffes hinab, suchten die richtige Kiste heraus und brachten den Mann, der darin geschlafen hatte, ins Leben zurück. »So, das wäre vorläufig der letzte«, sagte Kordov befriedigt, als sie Rogan im Kontrollraum unterge
bracht hatten. »Bis nach der glücklichen Landung ge nügt es vollständig, wenn wir uns Sorgen machen. Die anderen haben das nicht nötig, solange sie schla fen. Wenn alles schiefginge, würden sie es noch nicht einmal merken. – Ah!« Der letzte Ausruf galt dem Bildschirm, dessen Bild sich beträchtlich verändert hatte. Der unbekannte Planet füllte fast die ganze Mattscheibe aus, gewaltige Kontinente lagen grün und braun in einem blauen Ozean. Fast wie auf der Erde, das gleiche vertraute Bild. »Wir brauchen uns also nicht in Fische zu verwan deln«, atmete Cully erleichtert auf, woraus Dard un logischerweise schloß, daß sein Gefährte nicht viel für das Baden übrig hatte. »Allem Anschein nach nicht«, bestätigte Kordov. »Wecke Sim, Dard! Es wird höchste Zeit, daß er seine Vorbereitungen für die Landung trifft. So vollauto matisch sind die Kontrollen des Schiffes leider doch nicht.« Kurz danach legte sich der Junge auf eine der An druckmatratzen neben Rogan, während Kimber, Kordov und Cully in den Pilotensitzen Platz nahmen. Im Kontrollraum herrschte eine gespannte Atmo sphäre, und man fühlte förmlich, daß die Stunde der Entscheidung angebrochen war. Nur Kimber schien die Ruhe nicht verloren zu haben.
»Hat Rogan überhaupt schon einen Ton von sich gegeben?« fragte er beiläufig, ohne den Kopf auch nur zu drehen. In diesem Augenblick – als habe er es gehört – be wegte sich Rogan, schlug endlich die Augen auf und starrte gegen die Decke der Kabine. Dann setzte er sich plötzlich aufrecht hin. »Wann starten wir denn endlich?« Doch dann stutzte er, riß die Augen noch mehr auf und stammel te: »Oder – oder haben wir es bereits geschafft?« »Allerdings!« bestätigte Kordov. »Du hast lange genug gefaulenzt«, eröffnete ihm Kimber. »Es wird Zeit, daß du wieder etwas für die Allgemeinheit tust. Sieh dir mal den Bildschirm an und verrate uns, was du davon hältst.« Rogan wandte den Blick von den Männern ab und sah zum Bildschirm hin. Sie hörten, wie er tief Luft holte. »Ah – das sieht ja toll aus! Eine schöne neue Erde!« Dard mußte ihm recht geben. Die Vielfältigkeit der bunten Farben des allmählich riesengroß gewordenen Globus erinnerte zu sehr an die alte Heimat Erde, um nicht unwillkürlich Vergleiche zu ziehen. Aber viel Zeit zum Beobachten ließ man ihm nicht. »Ich würde dir empfehlen, die Halteriemen anzu legen«, riet der Pilot. »Es ist gleich soweit –« Kordov verließ seinen Sitz und legte sich ebenfalls
auf eine der Matratzen; er zeigte dabei Dard, wie die elastischen Riemen befestigt wurden. Dard beeilte sich, denn er begann bereits, den steigenden Andruck des abbremsenden Schiffes zu spüren. Der Beobach tungsschirm befand sich außer Sicht, somit war es ihm unmöglich, nähere Einzelheiten des inzwischen zu einer gigantischen Kugel angewachsenen Planeten zu erkennen. Dann – es kam ziemlich plötzlich und unerwartet – wurde die Brust von einer gewaltigen Kraft zusam mengepreßt, die Luft entwich mit einem gequälten Pfeifen aus den flachgequetschten Lungen. Vor Dards Augen wurde es dunkel, und dann schließlich ganz schwarz. In dem gleichen Augenblick, in dem die ersten fei nen Schleier einer Atmosphäre an der Hülle des ein gleitenden Schiffes vorbeistrichen, verlor Dard das Bewußtsein. Kimber aber war durch den Gravitationsneutralisa tor geschützt. Sicher steuerte er das Sternschiff in immer länger währenden Sprüngen in den Gasman tel des Planeten, um es allmählich abzubremsen. Dann kam der Augenblick, in dem die Geschwindig keit so gering war, daß er es auf das Heck stellen konnte, um dann auf einer glühenden Gassäule lang sam auf den Kontinent hinabzusinken, den er als Landeplatz auserwählt hatte.
Cully und Rogan, der Kordovs Platz eingenommen hatte, bekamen wieder Farbe in die totenblassen Ge sichter. Mit aufgerissenen Augen blickten sie auf den Bildschirm, suchten nach Einzelheiten auf der unbe kannten Welt dort unten. Ruhig und gelassen führte Kimber seine Aufgabe zu Ende. Es gab einen harten Ruck, der das ganze Schiff erschütterte, der riesige Metallzylinder schwankte ein wenig hin und her, dann war Ruhe. Unheimliche, drückende Ruhe! Doch dann löste Kimber die Riemen, die ihn gehal ten hatten. »Endstation! Alles aussteigen!« hörte er sich sagen. Und Cully kommentierte trocken: »Jawohl, alles raus hier! Auch das Gefrierfleisch!«
10
»Rogan –?« Der Radarexperte nickte bloß. Er hatte bereits be merkt, daß der Bildschirm erloschen war. Sein Sitz schwenkte um 90 Grad herum, und mit geübten Fin gern begann er, Knöpfe zu drehen, Hebel umzulegen und an Feineinstellungen herumzumanipulieren. Auf den verschiedenen Skalen schlugen die Zeiger wie irrsinnig aus und blieben schließlich zitternd auf be stimmten Punkten stehen. Das anfänglich leise Sum men wurde deutlicher, und bald begannen auch die vier Bildschirme zu flackern, die dreidimensional und farbig die Umgebung des gelandeten Raumschiffes wiedergaben. Ganz allmählich wurden die naturgetreuen Bilder klarer, und das Flackern hörte auf. Die Augen den Menschen hingen wie fasziniert an den Schirmen und nahmen die Eindrücke wahr, die von ihnen ausgin gen. »Es muß Spätnachmittag sein«, sagte Rogan. »Die Schatten sind schon außergewöhnlich lang.« Das Schiff war inmitten einer weiten Kies- oder Sandebene von blau-grauer Färbung niedergegangen. Nach der einen Seite hin fiel diese Ebene leicht ab, verengte sich zu einem Tal, das von scharfen, bizar
ren Klippen abgesperrt wurde, deren Farbtönung teils ins Rote, teils ins Blaue und Gelbliche ging. Mit ten durch dieses Tal, vorbei an den seltsam geformten Klippen, wand sich ein langsam dahinfließender Strom. Dard, der inzwischen wieder zu sich gekommen war, schaute angestrengt auf den Fluß und rief: »Ja – seht doch nur: Das Wasser ist rot!« Nun fiel es den anderen auch auf. Das Wasser des Flusses war tatsächlich rot. Blaugrüne Vegetation säumte die Ufer und belebte das sonst so völlig tote Landschaftsbild. Rogan drehte an der Einstellung, die Mattscheibe flackerte, das Bild verschwamm und kehrte dann klar wieder, diesmal in der Ferneinstel lung. Der rote Fluß mündete in ein blaues Meer und färbte es bis weit hinaus. Farbige Wellen spülten ge gen Sand und Klippen. Dabei vermittelte das Bildge rät den Eindruck derart echt, daß die Männer das Plätschern zu hören vermeinten. Sonst aber war nichts zu bemerken. Kein einziges lebendes Wesen – oder doch? Rogans Hand fuhr zum Einstellknopf, als Kimber rief: »Dort! Wo ist es jetzt? Ich meine, ich hätte dort et was fliegen sehen.« Als er die ungläubigen Gesichter seiner Gefährten sah, packte ihn die Wut. »Der Teufel soll euch holen! Meint ihr denn, ich wäre verrückt?
Dort hinten, genau über dem Strand, habe ich einen Vogel gesehen.« Aber alles Suchen war vergebens, man konnte nichts mehr entdecken. Kimber zuckte resigniert mit den Schultern. »Möglich, daß ich schon an Halluzinationen leide«, gab er zu. Trotz aufmerksamster Beobachtung gelang es kei nem der Raumfahrer mehr, auch nur das geringste Anzeichen tierischen oder gar intelligenten Lebens zu entdecken. Kimber setzte sich zurück. »Dieser Teil des Landes scheint unbewohnt zu sein. Doch auch bei der Landung konnte ich nichts entdek ken, was auf irgendwelche Lebewesen auf dieser Welt schließen lassen könnte. Sollten wir also wirk lich das Glück gehabt haben, auf einer völlig leeren und unbewohnten Welt gelandet zu sein?« »Möglich«, murmelte Tas Kordov nachdenklich. »Hoffentlich nützt uns das auch etwas. Wie steht es mit der Atmosphäre, der Temperatur – den Lebens bedingungen überhaupt? Nun, Rogan? Bestätigen sich unsere früheren Messungen mit dem Spektral analysator? Du sitzt gerade vor dem Tester.« Rogan rückte ein wenig beiseite und gab die Sicht auf die Meßinstrumente des Außentesters frei. Kor dov selbst las ab. »Sauerstoff – hm, fast 30 Prozent des Gesamtinhal
tes. Das wäre ja äußerst günstig! Sonst die üblichen Bestandteile der irdischen Atmosphäre. Temperatur könnte nicht günstiger sein – jedenfalls nicht zu kalt. Wir können also ohne jede Geräte oder metabolische Umschulung hier atmen und leben. Ich schlage vor, daß wir alle anderen Beobachtungen draußen vor nehmen.« Kimber kletterte gemächlich aus seinem Lederses sel, schwankte noch ein wenig hin und her, gewann aber sichtlich an Sicherheit. »Gut! Dann bin ich aber dafür, daß wir diesen per sönlichen Augenschein sofort in die Wege leiten. Wer kommt mit?« Ohne sich umzusehen, verschwand er in Richtung der Pilotenkabine. Dard verließ als letzter den Kontrollraum. Er war noch wie berauscht von den farbenprächtigen Bil dern, die er soeben auf den Schirmen gesehen hatte. Wenn er an die verschneite Einöde dachte, die sie auf der Erde zurückgelassen hatten, so war die Land schaft dieses Planeten zwar ein wenig ungewohnt, aber dafür auch überwältigend schön. Er kletterte die Leiter hinab. Als er bereits die Hälfte des Weges hinter sich hatte, hörte er das charakteristi sche Summen der Gleitschienen, auf denen die Außen luke in die Zwischenräume der Doppelhülle glitt. Jetzt würde die Rampe automatisch aus dem Rumpf her
vorkommen, auf der sie sicher und ohne gefährdet zu werden über die hellgeschmolzene Landestelle zum eigentlichen Planetenboden gelangen konnten. Er erreichte die offene Luke und atmete die frische, saubere Luft, die ihm entgegenströmte, mit einem nie gekannten Gefühl des Wohlbehagens ein. Das war wirklich Luft! Sie roch nach Wasser, nach Salz und nach – Tang. Sie roch nach Freiheit. Es war nicht die zwar saubere, aber eben doch künstliche Luft des Schiffes, auch nicht die gewohnte Luft der irrsinni gen, übervölkerten Welt, sondern es war die frische, belebende Luft einer neuen, besseren und freien Welt. Unter der Rampe war kreisförmig um die Fußstre ben des Schiffes der Sandboden zu einer halb durch sichtigen, milchglasähnlichen Masse geschmolzen und wieder erstarrt. Die ungeheuere Hitze der Lan dedüsen hatte den Boden der neuen Welt gleich mit einer atomaren Umwandlung begrüßt. Kimber und Kordov gingen nebeneinander in Rich tung des Meeresstrandes davon. Cully folgte dicht hinter ihnen, und kaum hatten die drei Männer die ersten anrollenden Wogen erreicht, als letzterer sich einfach fallen ließ, alle viere von sich streckte und mit weit offenen Augen in den kaum von einer Feder wolke bedeckten Himmel emporstarrte. Seine Finger krallten sich dabei in unbewußter Erregung fest in den feuchten, kühlen Sand.
Rogan folgte nur sehr langsam und drehte sich da bei ständig um seine eigene Achse, als befürchte er das plötzliche Auftauchen eines unbekannten Fein des. Vielleicht verglich er auch nur die tatsächliche Landschaft mit dem, was er eben noch auf dem Bild schirm gesehen hatte. Dard zögerte nicht mehr. Er sprang hinab in den Sand, als er das Ende der Rampe erreicht hatte, und lief auf den Fluß zu. Er wollte möglichst schnell er gründen, warum das Meer blau, der Fluß aber rot war. Es war warm auf dieser Welt, herrlich und wunderbar warm, und erst gestern noch – wenigstens schien ihm das so – hatte er im kalten Schnee der Er de gestanden. Gestern –? Es waren dreihundert Jahre vergangen! Der Sand war wie feiner Staub, so, als habe man ihn gemahlen. Noch niemals hatte Dard auf der Erde einen so feinen Sand gesehen. Er drang in alle Ritzen der Kleidung, gelangte durch den Stiefelschaft bis zu den Sohlen und setzte sich schließlich sogar zwischen Strümpfe und Haut. Dard bückte sich, hob eine Handvoll des seltsamen Sandes auf und ließ ihn durch die Finger rieseln. Blauer Sand, rotes Wasser, gelbe Felsenklippen – welch farbenfreudige Welt war das. Dard erreichte das Ufer des Flusses, das von bun ten Kieselsteinen übersät war. Er sah jetzt, daß die
Wiedergabe des Bildschirmes getäuscht hatte. Der Fluß war lange nicht so breit, wie er gedacht hatte. Nur wenige Meter, vielleicht fünf oder sechs. Das Wasser jedoch hatte tatsächlich die rotbraune Färbung, die er schon vom Schiff aus wahrgenom men hatte. Überall, wo es vorbeifloß, hatte sich der rote Farbstoff abgesetzt. Am Ufer, an den Steinen, auf den gelegentlichen Sandbänken. Schon ließ er sich auf die Knie nieder und beugte sich über das Wasser, um mit den Händen in das kühle Naß zu tauchen, als eine Stimme warnend rief: »Laß das sein, Dard! Vielleicht ist das Zeug gefähr lich – vielleicht auch nicht.« Es war Rogan, der Dard gefolgt war. »Vorsicht ist besser als Unbesonnenheit. Habe das auf der Venus gelernt – auf eine unange nehme Art und Weise. Sieh mal zu, ob du ein Stück Holz oder so etwas findest.« Sie fanden einen stockähnlichen Zweig, den Rogan jedoch erst nach eingehender Untersuchung in die Hand nahm. Damit tauchte er dann ins Wasser, und als er ihn wieder herauszog, war das Ende des Stok kes rot. Ganz dicht an die Augen hielt er es. Dann aber ließ er den Stock sinken und sagte fassungslos: »Es lebt! Das Zeug sieht aus wie kleine Spinnen und lebt! Die ganze Wasseroberfläche ist mit diesen Lebewesen bedeckt. Da, sieh hier!« Er strich den Stock waagerecht über die Oberfläche gegen den
Strom. Der rote Stoff staute sich, und klares Wasser wurde sichtbar. »Schwimmen die Biester – oder trei ben sie nur willenlos dahin? Immerhin kann man sie herausfischen, wenn man das unbedingt will.« Langsam folgten sie dem Flußlauf, gelegentlichen Stellen ausweichend, an denen eine Welle die roten Lebewesen weit auf den Strand gespült hatte. Dort waren sie dann unbeweglich liegengeblieben. Über die Sanddünen kam eine frische Brise vom Meer her, einen eigentümlichen Geruch nach Wasser und Tang mit sich bringend. »Meer! Salzluft – genau wie auf der Erde. Wir ha ben wirklich Glück gehabt mit unserer Wahl.« Vielleicht hatte Rogan noch etwas hinzufügen wol len, aber er kam nicht mehr dazu. Vom nahen Mee resstrand her kam ein heiseres Krächzen, das von dem Schreckensschrei eines Menschen übertönt wur de. Und dann konnten Rogan und Dard die beiden Männer – Kimber und Kordov – sehen, die am Ufer entlangliefen und offensichtlich vor etwas flohen. Dieses Etwas schwebte über ihren Köpfen, taumelte mehr als es flog durch die Luft und stieß öfters heftig schwankend auf ihre Köpfe hinab. Das Lebewesen – denn um ein solches handelte es sich zweifelsohne – war die wahrgewordene Schreckgestalt aus einem Alptraum. Zwar klein, aber derart ungewohnt, daß Dard vor Schreck der Herzschlag stockte.
Wenn man sich eine irdische Schlange vorstellt, stattet diese mit den Flügeln einer übergroßen Fle dermaus aus, gibt ihr dann noch zwei Klauen, einen geteilten Schwanz und ein gefräßiges Maul, dann hat man ein ungefähres Bild des Wesens, das immer und immer wieder mit heiserem Krächzen auf die beiden flüchtenden Männer herabfuhr. Obwohl seine Länge nicht mehr als einen halben Meter betrug, war seine Angriffslust um ein vielfaches größer. Rogan und Dard waren schräg auf den Strand zu gelaufen und kamen gerade rechtzeitig genug, um das Schlimmste zu verhüten. Die Hand Dards schnellte in den Hemdausschnitt und zog das Messer hervor, das sein einziger irdischer Besitz war und ihm bereits einmal das Leben gerettet hatte, als er den Mörder seines Bruders damit getötet hatte. Er holte weit aus und warf. Zischend durchschnitt die scharfe Klinge die Luft und trennte – wohl mehr als Zufall – die eine Schwinge glatt von dem häßlichen Schlangenkörper. Mit widerlichem Aufkrächzen kreiselte das Tier – wenn man es als solches bezeichnen mochte – hilflos zu Boden, wo es flatternd und schreiend liegenblieb, wild mit dem verbliebenen Flügel um sich schlug und nach jedem näherkommenden Menschen schnappte. Mit einigen gutgezielten Steinwürfen betäubten sie
das erste Lebewesen, das ihnen auf der neuen Welt begegnet war. Wahrlich, kein guter Anfang! Haßerfüllte rote Augen starrten den Menschen entgegen, die sich dem nun regungslosen Tier zu nä hern versuchten. In einem Kreis umstanden sie es dann. Der gespaltene, an beiden Enden sehr spitze Schwanz des Tieres zuckte krampfhaft, dabei tropfte es gelb und ölig in den Sand. »Ich möchte wetten, daß es Gift verspritzt«, vermu tete Rogan. »Ganz nette Tierchen – wenn sie bloß nicht größer werden, und dies eventuell ein Säugling ist. Sonst aber ade, häuslicher Friede!« »Was ist denn los?« kam Cullys Stimme von einer Düne her, die er soeben überquert hatte. »Ihr macht ja einen Krach, als ob ihr hier allein wärt.« In seiner Hand lag eine jener Strahlenpistolen, die Dard als sehr wirkungsvoll in Erinnerung hatte. Rogan machte Platz und gab somit die Sicht auf den Miniaturdrachen frei, der sich nur noch mühsam und anscheinend schmerzerfüllt am Boden wand. »Wir versuchen gerade, uns mit den Eingeborenen zu verständigen«, gab er dabei bekannt. Cully fand nicht gleich eine Antwort. »Ich bin an sich nicht für die alte Methode: Erst schießen, dann fragen!« erklärte Kimber, noch ein wenig außer Atem. »Aber in diesem Fall scheint sie mir doch angebracht zu sein. Das Biest hätte mir das
rechte Ohr abgefressen, wenn ich mich nicht rechtzei tig gebückt hätte. Kannst du es so töten, Cully, daß der Körper nicht beschädigt wird? Ich nehme an, Tas will das kleine Luder auseinandernehmen, um fest zustellen, warum es tickt. Das Herzchen, meine ich – falls es ein solches überhaupt hat.« »Allerdings«, sagte Kordov, der sich über nichts mehr gewundert hätte. »Eine Schlange mit Flügeln! An sich ist das doch gar nicht möglich!« »Auf der Erde vielleicht nicht, aber hier anschei nend doch«, erinnerte ihn Kimber. »Wir dürfen die irdischen Verhältnisse nicht einfach auf einen unbe kannten Planeten übertragen, das wäre ein unver zeihlicher Fehler. So, Cully: Nun töte es. Es hat genug gelitten, schließlich ist es ein Lebewesen.« »Und was für eins!« bestätigte Cully und hob die Waffe. Der grüne Strahl verbrannte den Kopf der Flügelschlange, deren verkrampfter Körper sich löste und streckte. Tas Kordov näherte sich dem zukünfti gen Forschungsobjekt, ließ seine Vorsicht dabei je doch nicht außer acht. Rogan kehrte zu dem Spinnenfluß zurück, um ei nige Exemplare dieser harmloseren Tiersorte zur nä heren Untersuchung herbeizuschaffen. Dard hielt sein Messer einige Zeit unschlüssig in der Hand, ehe er es mit einem Achselzucken wieder an den ge wohnten Platz schob. Dann folgte er Rogan.
»Fliegende Schlangen und schwimmende Spinnen!« empfing ihn dieser. »Wer weiß, was uns noch alles be vorsteht. Fast erscheint mir diese Welt unheimlich, aber vielleicht ist das nur Einbildung. Bis jetzt haben wir ja noch nicht viel zu sehen bekommen.« Tas konnte sich nicht entschließen, was er zuerst un tersuchen sollte: den toten Drachen – oder die roten Spinnen. »Dies alles«, er deutete auf die Schlange und die Spinnen, dann auf die Dünen, die Klippen und das Meer, »dies alles ist neu, unbekannt und unklassifi ziert. Welch ein Arbeitsgebiet für uns Forscher!« Cully hatte die Strahlenpistole in den Gürtel ge schoben. Nachdenklich starrte er auf die heranrollen den Wasserwogen des Ozeans und dann weiter, hin über zu der Linie, die Himmel und Wasser vereinigte. »Was hältst du davon, Sim?« wollte er dann wis sen, indem er auf eine dunkle Wolkenbank deutete, die dicht über dem Horizont lagerte. Kimbers Blick folgte der Richtung des Armes. »Auf der Erde würde ich sagen: ein Sturm. Aber hier?« »Warum soll denn hier alles anders sein? Ich fürch te, es ist tatsächlich das Vorzeichen eines heraufzie henden Sturmes – und zwar eines sehr anständigen«, mischte Rogan sich ein. »Nur im Innern des Raum schiffes sind wir sicher. Kalt ist es ja nicht.« »Es ist nicht kalt?« fragte Dard mit einiger Berech
tigung. Der Seewind war stärker geworden und die Temperaturen erheblich gesunken. Kimber betrachtete kopfschüttelnd die näher kommende Wolkenbank. »Ich gebe Rogan recht: Hinein ins Schiff! Man kann nie wissen.« Bei diesen Worten wandte er sich um – und stieß ei nen erschreckten Ruf aus. Die anderen schnellten her um. Der vorher senkrecht stehende Silberleib des Schif fes hatte sich um etwa zehn Grad geneigt, und es schien, als wolle er ganz umstürzen. So schnell sie konnten, rannten die Männer durch den Sand auf die Landestelle zu, als ob sie das Unglück noch verhin dern könnten, das sich dort anbahnte. Mit einer unbeschreiblichen Erleichterung stellten sie dann fest, daß eine Vergrößerung des Neigungs winkels nicht mehr möglich war, da die in den Boden eingebrochene Teleskopfußstütze auf Fels gestoßen war. Kimber erfaßte mit seinem gewohnten Opti mismus sofort den Vorteil der schräg stehenden Ra kete und meinte: »Nun wird der Sturm sie nicht umwerfen können, denn sie bietet weniger Widerstand. Die Düsen sind unbeschädigt, obwohl ein Start in dieser Lage sicher lich schwer möglich sein wird. Aber die Hauptsache ist ja schließlich, daß sie steht.«
Dard eilte über die Rampe zur offenen Einstiegluke hinauf, wo er noch einen Augenblick stehenblieb und sich umschaute. Der Wind war stärker geworden, und der feine Sand erhob sich wie ein durchsichtiger Schleier, um die Landschaft völlig einzuhüllen. In Mund, Nase und Augen drang der unwahrscheinliche feine Sandstaub, und zwischen den Zähnen knirschte es bei jeder Kieferbewegung. Kordov war schon lange im Schiff. Er hatte sich beeilt, seinen »Drachen« und die »Spinnen« in Sicherheit zu bringen. Der Zustand des Sternschiffes interessierte ihn bei weitem nicht so sehr wie die ersten Lebewesen dieser Welt, die den Men schen eine neue Heimat werden sollte. »Wenn das nur gut geht«, brummte Rogan zwei felnd vor sich hin, einen scheuen Blick auf die un heildrohenden Wolken werfend. »Ich lasse mich hän gen, wenn das kein ausgewachsener Hurrikan ist. Ich würde euch raten, möglichst schnell ins Schiff zu lau fen – besser mit dem Ding umkippen, als sich hier draußen im Sand lebendig begraben zu lassen.« Dard eilte durch die Luke in das dämmerige Innere des Schiffes, dicht gefolgt von den Männern. Der Wind hatte sich orkanartig verstärkt, und erst als die Außenluke mit einem dumpfen Knall zuschlug, brachte die plötzliche Stille ihnen zu Bewußtsein, welcher Höllenlärm draußen von der entfesselten Na tur verursacht wurde.
Kimber, Rogan und Cully saßen schweigend da und sahen sich an. Sie konnten nicht hören, was au ßerhalb der Schiffswände vor sich ging, aber sie spür ten das Vibrieren des Bodens unter sich, das gelegent liche Schwanken des ganzen Metalleibes und dessen krampfhaftes Aufbäumen. »Würde mich doch interessieren, wie es draußen aussieht«, knurrte Rogan mißmutig. »Es ist nichts für mich, untätig wie in einer Falle hier zu sitzen.« Er stand auf. »Kommt jemand mit?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er über den leicht geneigten Fußboden zum Kontrollraum hin über. Dard und Kimber folgten ihm. Auf den Bildschirmen wirbelte eine undurchsichti ge, schleierartige Sandwolke, die lediglich anzeigte, daß sich der Sturm eher gesteigert als abgeschwächt hatte. Sonst war absolut nichts zu sehen. Enttäuscht schalteten sie ab und kehrten zu Cully zurück, den sie laut schnarchend in seiner Koje vorfanden. Auf seinen Zügen lag ein entspanntes Lächeln. Kordov kam die Leiter heraufgeklettert und klopfte Rogan auf die Schulter, so daß dieser leicht in die Knie ging und sich gleich auf den Bettrand setzte. »Deine Spinnen sind überhaupt gar keine Spin nen!« begann er mit dröhnender Stimme. »Es sind Pflanzen!« »Aber sie bewegen sich doch!« versuchte Dard den
erschütterten Rogan zu verteidigen. »Sie haben sogar Beine.« »Beine!« Kordov schüttelte voller Verachtung ob solcher Unkenntnis den Kopf. »Beine!« wiederholte er etwas trauriger. Dann beugte er sich vor und tippte Rogan vor die Brust. »Keine Beine – sondern Wur zeln! Wasserpilze sind es, wenn man schon einen neuen Ausdruck prägen will.« »Hahaha!« lachte Rogan, der sich sichtlich erholte. »Pilze mit Beinen! Jetzt fehlen nur noch Bäume mit Armen und Gras mit Augen oder Ohren! Was ist denn mit dem Drachen? Fehlt nur noch, es handele sich um einen fliegenden Blumenkohl, du Erzvegeta rier!« Kordov war nicht gekränkt. Im Gegenteil, die Er wähnung des Drachens ermunterte ihn zu der Erklä rung: »Kein Blumenkohl, sondern wirklich ein Tier. Aber was für eins! Sehr giftig, ernährt sich nur von Fleisch. Wir müssen uns vor den Biestern in acht nehmen. Gott sei Dank war das erbeutete Exemplar voll aus gewachsen; sie werden also nicht größer.« »Welch ein Glück!« kommentierte Kimber gähnend. »Wenn sie nur nicht in zu großen Mengen angreifen! Na, solange sie so häßlich dabei krächzen und uns warnen, können wir uns gut wehren. Aber nun wollen wir mal an die Zukunft denken. Es wird bald dunkel,
die Rotation dieses Planeten entspricht fast der irdi schen. Morgen ist ein entscheidender Tag.« »Morgen – ach je, morgen!« murmelte Rogan ein wenig verschlafen, während Cully plötzlich sein Schnarchen unterbrach, sich aufrichtete und die Männer anstarrte. »Wann wecken wir die anderen?« fragte er. »Blei ben wir überhaupt an dieser sandigen Stelle?« Kordov, der auf dem gegenüberliegenden Bett ne ben Rogan saß, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich gegen die Schiffswand zurück. »Morgen werde ich Dr. Skort – Carlee meine ich – zuerst wecken. Sie kann mir dabei helfen, die anderen aus ihrem Eisschrank zu befreien. Ob wir an dieser Stelle hier bleiben oder nicht, hängt ganz von den Un tersuchungen der nächsten Tage ab. Ich möchte aller dings vorschlagen, diese Frage möglichst schnell zur Entscheidung zu bringen, damit wir wissen, woran wir sind. Wie steht es mit dem Schiff, Kimber?« Der Pilot hob langsam die Schulter, ließ sie dann wieder sinken. »Es ist natürlich möglich – theoretisch wenigstens – die Rakete zu starten, aber ich kann keine zweite Landung garantieren. Wer weiß, wieviel Treibstoff noch in den Tanks ist? Das müßte erst einmal genau festgestellt werden. Ich gebe nichts auf Treibstoffuh ren, habe damit zu schlechte Erfahrungen gemacht.«
Kordov zog die Stirn in Falten. »Dann wird es allmählich Zeit!« »Wie steht es übrigens mit der Verpflegung?« er kundigte sich Cully. »Gut – was die Vorräte anbetrifft«, sagte Kordov. »Aber die halten ja auch nicht ewig. Das beste wird sein, wenn ich morgen auch Harmon wecke, damit er den Boden untersuchen kann. Dann wissen wir we nigstens gleich, ob es überhaupt einen Sinn hat, hier zu bleiben. Eine Gruppe kann morgen auf Jagd ge hen; möglich, daß es Wild gibt.« »Aber keine Drachen!« protestierte Rogan, indem er nach einem Päckchen mit Konzentratnahrung griff, das auf dem Bett lag. »Ich habe das seltsame Gefühl, als ob dieses Tier – auch wenn es tot ist – sich nicht mit meinen Eingeweiden vertragen würde. Dann schon eher die Wasserpfifferlinge ...« »Es gibt viele eßbare Pilze!« sagte Dard. »Zwar se hen diese hier nicht besonders appetitlich aus, aber wenn man Hunger hat –« »Dard hat recht!« meinte Kordov. »Wenn das Zeug einen Nährwert hat und nicht giftig ist, müssen wir es zur Bereicherung der Küche nehmen. Ich werde mor gen ebenfalls einige der Versuchskaninchen aus dem Kalten Schlaf holen. Wenn sie die Pilze vertragen, dann auch wir.« »Hoffentlich bekommen unsere Karnickel morgen
keine blauen Gesichter«, sagte Kimber und gähnte herzhaft. »Ich schlage vor, daß wir uns jetzt in die Betten legen und ein wenig schlafen. Ich bin sehr müde.« »Hast du Faulsack noch nicht genug geschlafen?« erkundigte sich Cully, konnte jedoch selbst sein Gäh nen nicht unterdrücken. Also zog er ein Geldstück aus der Tasche und fragte: »Wer hat die erste Wache? Zahl oder Schrift?« »Die Zeiten sind vorbei!« belehrte ihn Kimber. »Wer will, kann schlafen. Eine Wache ist unnötig. Gu te Nacht!« Sprach's, drehte sich um und war bald eingeschla fen. Kordov lächelte, wandte sich zum Gehen und sag te: »Ich werde noch ein wenig arbeiten. Schlaft gut.«
11
»Du lieber Gott!« Nicht die Worte selbst, sondern mehr der Aus druck des Schreckens, der in diesen Worten lag, ließ Dard emporfahren. Er hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange er geschlafen hatte, denn im Innern des Schiffes herrschte stets das gleiche Dämmerlicht der in den Wänden eingebauten Leuchtröhren. Aber er sah sofort, daß Kimber, Cully und Rogan sich um den Bildschirm versammelt hatten und diesen erregt be trachteten. Dem Bild nach zu urteilen, mußte es draußen bereits heller Tag sein. Über den grauen Himmel zogen dichte Wolken schleier, aber das war es nicht, was die Männer so er schreckt hatte. Das Meer war – genau wie der rote Fluß – über seine Ufer getreten und hatte den Strand überschwemmt. Rund um das Schiff war nichts ande res als nur Wasser. Es war, als ob die Rakete im Was ser schwimme, das aber nur eine Tiefe von höchstens einem Meter haben konnte. »Das sind aber schlechte Aussichten«, sagte Kimber aufgeregt. »Nun werden wir wohl doch nicht drumherumkommen, uns in Fische zu verwandeln. Ob das nun so bleibt, oder ob es eine vorübergehende Er scheinung ist?«
»Kaum«, knurrte Rogan wenig erfreut. »Ich schät ze, das ist bei jedem Sturm so. Vielleicht treibt der Sturm das Wasser auf den flachen Strand zu uns her auf. Sobald der Wind nachläßt, stehen wir wieder auf dem Trockenen.« Er stellte den Bildsucher auf die Klippen ein und fand die Bestätigung für seine Vermutung. Das Was ser lief deutlich sichtbar wieder ins Meer zurück, den Sand in gleichmäßiger Wellenform zurücklassend. »Ich bin dafür, daß wir uns draußen umsehen«, schlug Kimber vor, und man stimmte ihm zu. Rasch kletterten sie die Leiter hinab, wobei ihre schweren Schritte laut durch das Schiff hallten. Dann öffneten sie die Luke und fuhren die Rampe aus. Das Wasser hatte sich schon ziemlich verlaufen, nur unter der fast senkrecht stehenden Rakete waren einige Pfützen zurückgeblieben, in denen sich verschiedene fischartige Lebewesen tummelten. Ein großer Fisch mit gezacktem Schwanz machte verzweifelte An strengungen, dem zurückweichenden Wasser zu fol gen, das sein Lebenselement war. »Was zum –!« sagte Cully und zeigte erregt mit dem ausgestreckten Arm zu den Klippen hinüber. »Dort! Was ist das?« Jetzt sahen sie es auch. Ein fahlgrünes Wesen be wegte sich in hopsenden Sprüngen über den Sand, folgte anscheinend ebenfalls dem abfließenden
Meerwasser. Kimber machte kehrt, raste in das Schiff zurück und kam einige Sekunden später mit einem Feldstecher zurück. Er setzte diesen an die Augen, verharrte so einige weitere Sekunden, ehe der unge duldige Rogan ihm das Instrument einfach abnahm, um nun seinerseits das seltsame Tier zu betrachten. Aber seine Freude währte nicht lange, denn Cully konnte sich nicht mehr zähmen. Mit einem geknurr ten »Laß mich auch mal!« riß er Rogan das Doppel fernrohr weg und schaute zum Meeresstrand hin über. Als er ein befriedigendes »Ah!« von sich gab, hielt Dard das für die Erlaubnis, nun auch seinerseits seine Neugier zu befriedigen. »Nun, was ist es? Was meint ihr dazu?« fragte Ro gan ruhig. Dard dachte unwillkürlich an einen Seehund, als er das Tier erkannte. Der Kopf war zweifellos so ähn lich, nur endete er nicht in einer Schnauze, sondern in einem regelrechten Entenschnabel. Vier Beine, ein schlanker Körper mit grüner, haarloser Haut und ein platter Schwanz vollendeten die erstaunliche Tatsa che, daß sie ein wirkliches Wasser- und Landtier vor sich hatten. Die beiden Augen standen weit ausein ander, ein Zeichen dafür, daß das merkwürdige Tier einen sehr großen Gesichtswinkel haben mußte. Jetzt blieb es sitzen, richtete sich sogar ein wenig auf, wobei es die Hinterfüße als Stütze benutzte. Es
sah zu dem Schiff herüber und putzte sich dabei mit den Vorderpfoten den Sand aus den Augen. »Eine Seehundente«, taufte Kimber das neuent deckte Tier. »Wahrhaftig! Eine richtige Seehundente! Scheint ja harmlos zu sein – oh, seht doch nur dort!« Eine neue Überraschung bot sich den erstaunten Augen der Beschauer. Aus einer dunklen Klippen schlucht quoll es hervor – zwei, drei, vier Seehunden ten. Im Gänsemarsch kamen sie herangewatschelt, dem wartenden Tier entgegen. Das führende Tier war fast so groß wie das zuerst entdeckte, aber die drei folgenden waren entschieden kleiner und hatten auch eine andere Farbe, nämlich fast gelblich. Hopsend er reichten die Neuankömmlinge den wartenden Vater – Dard nahm das unwillkürlich an –, der damit wie der die Führung übernahm. Nicht lange, und die fünf Tiere waren hinter dem abfallenden Strand für den Augenblick den Augen der Raumfahrer entschwun den. »Familienausflug!« vermutete Dard mit einiger Be rechtigung. »Harmlose Tiere«, stellte Kimber nun schon zum zweiten Mal fest. »Ob sie uns herankommen lassen, wenn wir vorsichtig sind?« »Es geht nichts über einen Versuch«, gab Cully ei nen seiner weisen Aussprüche von sich. »Für den Notfall können wir ja einen Strahler mitnehmen.«
Rogan hatte bereits die Rampe verlassen und schritt durch den feuchten Sand bis zu jener Stelle, an der immer noch der große Fisch mit dem gezackten Schwanz verzweifelt um sein Leben zappelte. Das Tier hatte sich hoffnungslos in Sand und Algen ver strickt und war somit aller Wahrscheinlichkeit nach verloren. Dard, der Rogan gefolgt war, sagte: »Wollen wir es nicht töten? Es leidet sicher.« »Hm – ja.« Das war Cully, der ohne langes Reden seine Pistole hob, kurz zielte und dann abdrückte. Der große Fisch zuckte noch einige Male, ehe er sich streckte und re gungslos liegenblieb. In seinem offenen Maul sah man scharfe Raubtierzähne. »Vielleicht kann man ihn zum Frühstück verspei sen«, freute sich Rogan. »Sieht so aus wie ein Thun fisch – möglicherweise schmeckt er sogar so ähnlich. Kordov soll das Biest untersuchen. Ach, sieh mal ei ner an! Die Hundenten sind auch wieder da. An scheinend haben sie interessiert zugeschaut, als wir das Feuerwerk veranstaltet haben. Vielleicht mögen sie keine Thunfische.« Rogan schien recht zu haben. Die fünf Hunde mit den Entenschnäbeln saßen – fast militärisch ausge richtet – in einer Reihe auf der Sanddüne und schau ten zu den Menschen herüber. Offensichtlich schie
nen sie zu überlegen, was der grelle Blitzstrahl der Strahlenpistole zu bedeuten habe, und warum da nach der Fisch wohl regungslos liegengeblieben war. Dard machte einige mutige Schritte auf die Tierfa milie zu. Doch obwohl die älteren Tiere keine Anstal ten zur Flucht machten, wandte sich eines der jünge ren um und watschelte eilig auf das nahe Wasser zu. Dard folgte und näherte sich dabei den Muttertieren bis auf wenige Meter. Jenes, von dem Dard ange nommen hatte, es sei der Vater der Familie, stieß plötzlich ein warnendes Zischen aus und drehte sich ebenfalls langsam um. Bald hatte es das Wasser er reicht, blieb dann aber stehen. Anscheinend aufge bracht beobachtete es, wie eins der Jungtiere aus dem Sand eine krabbenähnliche Kreatur ausgrub und gie rig verschlang. »Es ist seltsam, daß diese Entenhunde Angst vor uns haben«, sagte Kimber nachdenklich. »Fast möch te ich annehmen, daß sie Feinde hier haben – und zwar Feinde, die uns äußerlich gleichen.« Ein Schweigen folgte seinen Worten. Dard betrachtete die Spuren der Entenhunde, die diese im Sande zurückgelassen hatten. Krallen und Schwimmhäute zeichneten sich deutlich ab. »Es wäre gut, wenn wir daran denken würden«, fuhr Kimber in seinen Überlegungen fort. »Man muß mit allem rechnen.«
Keiner achtete auf seine Worte, denn in diesem Moment rief Kordov ihnen etwas zu. Kordov hatte die Rampe betreten und den Raubfisch, den Cully ge tötet hatte, bemerkt. »Was ist das für ein Ding?« schrie Kordov. »Wo habt ihr es her?« »Schrei nicht so und lock uns nicht die Eingebore nen auf den Hals!« regte sich Rogan auf. »Was soll es schon sein? Ein Fisch natürlich. Untersuch ihn lieber, ob wir ihn essen können, ohne daß uns Flossen aus dem Nacken wachsen.« Kordov wollte etwas sagen, besann sich jedoch und sagte nur: »Wenn mir jemand hilft, kann ich euch das in we nigen Minuten verraten.« Dann nahm er den toten Fisch, um dessen Schwanz er eine Schnur gebunden hatte, und schleppte ihn in das Schiff. Keine zehn Minuten später winkte er auf geregt aus der Luke: »Reinkommen! In einer Viertelstunde gibt's Früh stück!« Dard folgte Kimber, Rogan und Cully. Und keine Viertelstunde später saßen sie in der Pilotenkabine um den Tisch, eine dampfende Schüssel mit weißem, duftendem Fleisch vor sich. »Das ist euer Zackschwanzfisch«, sagte Kordov grimmig. »Er erinnert tatsächlich an den Thunfisch –
wenigstens im Geschmack. Eine willkommene Berei cherung unserer Speisekarte.« »Fein! Ich werde jeden Tag angeln gehen«, freute sich Cully. »Da wirst du aber wenig Glück haben – der Weiß bauch ist nämlich ein Tiefseefisch. Wir werden nur nach außergewöhnlichen Stürmen das Glück haben, ihn verspeisen zu können.« Kimber schob ein großes Stück des weißen Flei sches in den Mund, kaute lebhaft darauf herum und meinte schließlich: »Ich schlage vor, wir machen uns gleich auf die Su che nach einem weiteren Exemplar dieser erfreuli chen Gattung Fisch.« Cully aß mit großem Appetit und brummte dann befriedigt, indem er seine langen Beine unter dem Tisch ausstreckte: »Ich habe einen anderen Vorschlag: Wie wäre es, wenn wir den Schlitten nähmen, um die nähere Um gebung zu erkunden?« Der Schlitten war das kleine Bordflugzeug. Kimber nickte, wandte sich dann aber an Kordov: »Ich meine, wir müßten wenigstens Santee und Harmon wecken. Wir werden sie brauchen.« »Ich werde als erstes Carlee ins Leben zurückrufen. Wir brauchen einen Arzt. Dann die anderen. Wollt ihr schon jetzt fort?«
»Ja, aber nicht weit. Kurz das Tal ein wenig hinauf, dann vielleicht einige Meilen am Strand entlang. Ich bin zwar davon überzeugt, daß wir in einer völlig wilden und unzivilisierten Gegend gelandet sind, aber ich möchte mich doch davon überzeugen.« Bis zum Mittag – die hochstehende Sonne verriet die Tageszeit – hatten sie genügend Arbeit, um die Rakete ein wenig abzustützen, damit sich diese auch bestimmt nicht weiter neigen konnte. Dann wurde der Schlitten aus dem Schiff geholt. Dard bemerkte mit Erstaunen, daß dieses Fahr- oder Flugzeug seinen Namen nicht zu Unrecht trug. Es sah tatsächlich aus wie ein offener Schlitten. Zwei breite Sitze hinterein ander boten Platz für je zwei Personen. Dahinter be fand sich noch ein Extraraum für Vorräte und Waf fen. Aber was Dard am meisten verwunderte: das Ding besaß weder Flügel, Propeller noch Düsen. Es war ihm ein Rätsel, wie sich diese offene Kabine überhaupt in die Luft erheben sollte. Mit ratlosem Gesicht wandte er sich schließlich an Kimber, der auch bereitwillig Auskunft gab. »Ja, das ist die neueste Erfindung. Ich weiß zwar selbst nicht genau, wieso das Ding funktioniert und sich so einfach in die Lüfte erhebt, aber ungefähr kann ich es dir erklären: Es hat etwas mit Antigravita tion zu tun. An Stelle eines Motors haben wir hier ei nen Apparat, der die Schwerkraft aufhebt – wirklich
einfach, was? Der Schlitten hebt sich vom Boden ab und kann, wenn du Wert darauf legst, reglos in der Luft schweben. Richtig ausprobiert haben wir dieses Fluggerät noch nicht, da es ganz neu ist. Aber es wird schon klappen mit unserem Probestart. Um sich vor wärts zu bewegen, wird ein Energiestrahl eingeschal tet, der die Oberfläche trifft – und somit den Schlitten vorantreibt. Pah, als ob es etwas Einfacheres gäbe!« Dard gab zu, daß es wirklich nichts Einfacheres ge ben könne, obwohl er kein Wort verstanden hatte. Cully half, die letzten Teile des Schlittens zusam menzusetzen, und grinste stillvergnügt vor sich hin. »Ich bin gespannt, ob du diese Mühle ohne Schwingen und Düsen auch nur einen Zentimeter über den Boden bekommst.« Kimber betrachtete ihn vorwurfsvoll und sagte: »Dir fehlt der Glaube, oh Freund! Abwarten und sehen!« Cully lächelte immer noch skeptisch, während Kimber auf den Pilotensitz kletterte, sich festschnallte und dann begann, an den Kontrollen zu drehen. Plötzlich – nur mit einem kaum wahrnehmbaren Surren – machte das große und schwere Flugzeug ei nen förmlichen Satz und schnellte in die Höhe. Cully trat entsetzt einen Schritt zurück, stolperte und fiel der Länge nach in den feuchten Sand. Mit aufgerisse nen Augen blieb er liegen und starrte mit entsetztem
Gesichtsausdruck hinter dem entschwindenden Schlitten her, der eine elegante Schleife zog und end lich sanft und langsam fast auf der gleichen Stelle wieder landete, wo er zuvor gestanden hatte. Kimber stieg aus und blieb vor dem immer noch fassungslosen Cully stehen. »Nun, du erdgebundener Wurm! Was sagst du nun?« »Selber Wurm!« stöhnte Cully und richtete sich halb in die Höhe. »Und mit so etwas soll ich mich in ein und dieselbe Maschine setzen?« Kimber wurde einer Antwort enthoben, denn vom Schiff her kam ein freudiger Ruf. Es war Kordov. »Hallo – seht mal her, wer euch begrüßen will!« Sie schauten hinüber zu der offenen Luke. Auf der Rampe stand mit flatternden Haaren eine Frau, die zu ihnen herüberwinkte. Carlee Skort! Dard entsann sich, daß dies die Frau war, die sich um Dessie gekümmert hatte. Kimber winkte zurück und rief, als hätten sie sich erst vor wenigen Stunden – und nicht vor dreihundert Jahren – zum letzten Mal gesehen: »Hallo, Carlee! Komm mit uns – oder hast du Angst? Wir wollen einen kleinen Erkundungsflug un ternehmen.« »Wenn du am Steuer sitzt, komme ich mit!« rief sie
zurück, was Cully einen triumphierenden Blick von Kimber eintrug. »Sieh mal einer an, wen haben wir denn da alles? Les Rogan – wie geht es? Jorge Cully – du hast es auch überstanden? Und das muß Dard Nordis sein, stimmt's?« Kimber kletterte auf den Sitz und winkte Dard, sich neben ihn zu setzen. Carlee und Rogan begaben sich auf den Hintersitz. Dann ließ Kimber das kleine Flugzeug aufsteigen, aber diesmal ein wenig langsa mer und sanfter als bei seinem ersten Probeflug. In geringer Höhe schwebten sie über den Strand und folgten der ausgebuchteten Linie des Landes. Von hier aus hatten sie einen wunderbaren Überblick und konnten bis weit hinauf in das Tal des roten Flusses schauen, der sich in sanften Windungen durch die gelben Hügel wand. Sie waren noch keine fünf Minuten unterwegs, als die erste Überraschung auf sie einstürmte. Ein blit zender Strahl schoß vom Strand herauf und blendete sie fast völlig. Es erweckte den Eindruck, als habe je mand mit einem großen Spiegel die Sonnenstrahlen eingefangen und diese direkt auf die Insassen des Flugzeuges gerichtet. Kimber ließ den Schlitten in ei ner steilen Kurve nach unten sacken, segelte dann dicht über das Wasser hinweg und näherte sich dem Strand, von dem sie sich einige hundert Meter ent fernt hatten.
Der blitzende Gegenstand befand sich genau an der Grenze von Wasser und Land. Der Strand ent puppte sich als mit Tang und unbekannten Seepflan zen bedeckter Sand und bot nur eine kleine Landeflä che. Aber bei den wunderbaren Eigenschaften des Schlittens spielte das weiter keine Rolle. Elegant lan dete Kimber, und sie verspürten kaum den leichten Stoß. Eilig kletterten sie aus dem Flugzeug und starrten dann sprachlos auf die Quelle des seltsamen Lichtes, das auf so merkwürdige Art und Weise ihre Auf merksamkeit erweckt hatte. Es war ein Metallzylinder, glatt und glänzend wie Aluminium. Er lag zwischen zwei Klippen, die vereinzelt aus dem niedrigen Wasser ragten, als habe man sie eigens hierher gestellt, um die Metallhülse zu halten. Das Ding hatte die Form einer Granate, war aber wesent lich größer. Genau an der Stelle, an der das Ding den größten Durchmesser besaß, war ein Ring aus dem gleichen Metall, der es umgab. Rogan richtete sich auf. In seinen Augen lag un glaubliches Staunen. »Ein Geschoß –!?« »Kaum – aber wir können es herausfinden.« Er ging zu dem nahen Schlitten und holte einige Werkzeuge.
Rogan trat erschrocken einen Schritt zurück. »Bist du wahnsinnig? Nur eine einzige falsche Be wegung, und das Ding geht in die Luft. Viel würde man sicherlich nicht mehr von uns finden.« »Keine Bange!« beruhigte Kimber ohne Überzeu gung. »Das ist bestimmt keine Granate – und wenn schon, sie hat viel zu lange im Wasser gelegen, um noch wirksam sein zu können.« Doch dann beugte er sich vor, richtete sich wieder auf und revidierte seine Meinung: »Liegt erst kurze Zeit hier!« Rogan betrachtete Kimber, als habe er einen selte nen, noch niemals gesehenen Schmetterling vor sich. »Und woher weißt du das?« fragte er unschuldig. »Hier an dem Riff sind frische Schrammen. Der Sturm muß das Ding auf die Klippe geworfen haben, nachdem es vielleicht Jahre auf dem Grund des Mee res geruht hat.« Kimber begann, an dem zylinderförmigen Metall körper zu arbeiten, woraufhin sich Rogan zurückzog. Nur Dard blieb. Nach etwa zehn Minuten – Rogan war wieder näher gekommen, als nichts geschah – stellte Kimber fest, daß die Granate lediglich die Spit ze eines viel größeren Körpers war, in der sie steckte. Wie ein Geschoß in einem Lauf; tatsächlich! Kurz ent schlossen legte er ein Kunststoffseil um den Wulstring, befestigte das andere Ende am Flugschlitten und zog so die »Granate« aus dem »Lauf«.
Da lag sie nun, etwa zwei Meter lang, glänzend wie neu und völlig unbeweglich. In der Mitte befand sich deutlich sichtbar eine Klappe die jedoch dicht ge schlossen war. Rogan nahm seinen ganzen Mut zu sammen, kletterte auf die Klippen und schaute in die schwarze Öffnung des »Laufes«. Obwohl er den star ken Scheinwerfer zur Hilfe nahm, konnte er keinen Boden in der Röhre feststellen. Sie schien bis ins Un endliche zu reichen. »Was – was denkst du, was das ist?« wandte er sich an Kimber. »Eine U-Bahn«, antwortete dieser prompt. »Irgend eine Art Beförderungsmittel.« Rogan nickte und betrachtete nachdenklich den Metallzylinder. Dann bückte er sich und versuchte, ihn an der Spitze anzuheben. Zu seinem größten Er staunen gelang ihm das. »Das Ding ist leichter, als ich gedacht habe. Wollen wir es nicht mitnehmen? Vielleicht finden wir heraus, was es ist.« Kimber hob den Zylinder ebenfalls an. »Können wir.« Mit gemeinsamen Kräften gelang es ihnen, den zwei Meter langen Metallzylinder auf den Schlitten zu transportieren. Zwar ragte er nun nach beiden Sei ten ein Stück heraus, aber das beeinträchtigte nicht die Flugtüchtigkeit des idealen Flugzeugs.
Vorsichtig startete Kimber, und in gleichmäßigem Flug ging es zur Landestelle des Raumschiffes zu rück. »Wenigstens eine Frage finden wir nun beantwor tet«, sagte Rogan, und in seiner Stimme schwang eine seltsame Spannung. »Irgendwo hier gibt es Leben – und zwar sehr intelligentes Leben. Wenn wir nur wüßten, wo ...« Dard fühlte einen unheimlichen Schauer über sei nen Rücken kriechen. Intelligentes Leben! War dieser geheimnisvolle Metallkörper vielleicht eine Warnung, eine Botschaft? Warteten die Bewoh ner dieses Planeten vielleicht nur auf die erste falsche Bewegung der Raumfahrer von der Erde, um dann mit vernichtender Gewalt über sie herzufallen?
12
»Verdammt – so einfach ist das nun wieder nicht!« erklärte Cully, indem er den Meißel sinken ließ, mit dem er seit einer Stunde den seltsamen Zylinder be arbeitete. Absichtlich hatten sie es vermieden, mit Feuer oder Strahlen einen Öffnungsversuch zu un ternehmen, um sich in keine unnötige Gefahr zu be geben. Kimber und Rogan kamen wieder näher. »Es ist viel zu leicht, um ein Explosivgeschoß sein zu können«, sagte Rogan. »Warum gehst du dann so weit fort und bringst dich in Sicherheit, wenn ich mit dem Hammer gegen das Ding schlage?« fragte Cully mit einem höhni schen Grinsen. »Anscheinend rechnest du doch mit einem Knall, was?« Er beugte sich erneut hinab und setzte den Meißel an. »Noch einige Schläge, und die kleine Klappe geht auf.« Er behielt recht. Mit einem Klicken sprang plötzlich der Metalldeckel von der silberglänzenden Hülle, fiel in den Sand. Carlee Skort und Harmon, die auf der Rampe gesessen hatten, kamen rasch herbeigeeilt. Cully leuchtete mit der Taschenlampe in den dunklen
Hohlkörper. Dann streckte er seinen rechten Arm aus und griff sogar hinein. Als er den Arm wieder zurückzog, hielt er in seiner Hand eine Dose. Eine kleine viereckige Dose aus dem gleichen Metall, aus dem auch der Zylinder bestand. »Ein Güter-Transporter!« stieß Rogan hervor. »Was mag in den Dosen sein?« wollte Kimber wis sen. »Werden wir gleich wissen«, sagte Cully. Es dauerte nur wenige Minuten, und die erste Dose war geöffnet. Die hellen Strahlen der Sonne spiegelten sich in dem Inhalt und brachen das Licht hundertfach. Die Dose war voll glitzernder Diamanten. »Ja – aber das ist doch nicht möglich!« sagte Carlee. »Das geht doch nicht! Wenn diese Edelsteine echt sind, dann sind das doch Milliardenwerte!« »Hier vielleicht nicht, aber auf der Erde!« sagte Kimber. Cully zog eine etwas größere Metallschachtel aus dem Inneren des Transporttorpedos hervor und öff nete auch diese. Eine Art Gürtel kam zum Vorschein, über und über mit Diamanten besetzt. Carlee griff danach und legte sich das Schmuckstück um die schmale Taille. Es war zu eng. »Donnerwetter, die Mädchen, die das Gürtelchen trugen, müssen aber schlank gewesen sein«, bemerk te Cully erfreut.
»Falls es Mädchen waren!« erinnerte ihn Kimber trocken. Der Gedanke zwang die Menschen für einen Au genblick zur Ruhe. Dann aber begann Cully erneut, in dem Hohlzylinder herumzukramen. Armbänder, Halsbänder und andere Schmuckgürtel, dann sogar Tücher und Togagewänder. »Wenn man sich diese Sachen betrachtet«, sagte Rogan, »dann möchte ich fast behaupten, daß jene anderen, die dieses tragen, uns sehr ähnlich sehen. Vielleicht ein wenig schlanker, das ist aber auch al les.« Kimber ging nachdenklich um den ausgeräumten Zylinder herum. »Sie benützten diese Torpedos dazu, Waren und andere Gegenstände über weite Entfernungen zu schicken. Vielleicht sogar unter dem Meer hindurch.« Carlee sah ihn fragend an. »Diese – anderen, ob sie noch leben, oder ob sie vielleicht schon ausgestorben sind?« »Warum? Weil wir noch keinen getroffen haben? Denk nur mal, was eine Raumschiffbesatzung sagen sollte, die auf der Erde landet und ausgerechnet mitten im südamerikanischen Urwald. Man würde den Affen für das intelligenteste Lebewesen der Erde halten womit man der Wahrheit schon etwas nahe käme.«
Cully wandte sich erneut seiner Aufgabe als Ent decker zu. Diesmal fand er etwas, das wesentlich in teressanter als alle Diamanten war: kleine schwarze Röllchen, die starke Ähnlichkeit mit – »Mikrofilme!« rief Cully erregt. »Mikrofilme! Die haben also auch die gleichen Dinge erfunden, wie wir auf der Erde.« »Nicht verwunderlich. Warum soll der Verstand hier anders arbeiten? Sicherlich gingen diese unbe kannten Wesen den gleichen Entwicklungsweg wie wir, wenn auch vielleicht unter ganz anderen Um ständen. Wir haben doch einen Mikrobildwerfer?« »Und ob!« bestätigte Rogan. Der letzte Rest der Gegenstände brachte nichts Neues, außer der naturgetreuen Nachahmung eines winzigen Apfelbaumes. Ein richtiger Apfelbaum mit goldenen Äpfeln. Am anderen Morgen brachen Cully, Harmon und Dard zu einer Expedition zu Fuß auf, da sie das Tal des roten Flusses erforschen wollten. Kimber, Rogan und Santee flogen im Schlitten voraus. Die sandige Fläche wich allmählich einem saftigen Grasboden. In leichten, welligen Hügeln erstreckte sich vor den Menschen eine fremde, aber reizvolle Landschaft. Unheimliche Stille und eine merkwürdi ge Leblosigkeit lagen über dieser fremdartigen Welt.
Dard stockte mitten im Schritt und hob warnend den Arm. Angestrengt starrte er in das hohe Gras vor sich. Jetzt sahen sie es auch. Vor ihnen bewegten sich die Grashalme, ganz so, als schleiche sich ein Tier auf sie zu, das völlig von der Vegetation verdeckt wurde. Immer näher kam diese raschelnde Bewegung, und plötzlich erschien ein schmaler, rotbrauner Kopf an der Stelle, wo das Gras niedriger war und eine Lichtung bildete. Dem Kopf folgte ein Körper, als das Tier mit einem hop pelnden Sprung ins Freie kam. Hier blieb es sitzen, und die Männer hatten Gelegenheit, es zu betrachten. Es hatte etwa die Größe einer irdischen Ratte, besaß überlange Hinterläufe – gleich einem Känguruh – und einen kurzen, buschigen Schwanz. Kleine, fast hand ähnliche Klauen hielten einen nicht deutlich sichtbaren Gegenstand. Die Ohren waren groß und fächerförmig, an den Enden mit Fransen besetzt. Die Augen bestan den aus pechschwarzen glänzenden Punkten. In diesem Augenblick bemerkte das Tier die Men schen. Mit einem quietschenden Aufschrei ließ es den Gegenstand fallen, den es gehalten hatte, und ver schwand mit einem einzigen Satz in dem hohen Gras. Lebhaft schwankende Grashalme zeigten an, daß es in großen, hastigen Sprüngen floh. »Ein Kaninchen?« fragte Harmon zweifelnd. »Oder ein Wiesel? Vielleicht auch eine Art Ratte?«
Dard hatte sich gebückt und den Gegenstand aufge hoben. Es war eine Schote, eine richtige Schote. Wenig stens sah es so aus. Er gab sie Harmon, der sie mit dem Daumennagel aufritzte. Dunkelblaue Fruchtkörner – gleich Erbsen – kamen zum Vorschein. »Erbsen? Bohnen? Oder etwa Korn?« Die Verwun derung von Harmon war sichtlich gestiegen. »Ob man es essen kann?« »Mitnehmen!« riet Cully lakonisch. »Wir haben ja die Versuchshamster. Sollen die sich vergiften! Übri gens haben die Hüpfer das Zeug ja auch gefressen.« Damit hatte er auch gleich dem Tier einen Namen gegeben, den es immer behalten sollte. Sie setzten ih ren Weg fort und folgten der Richtung des entflohe nen Hüpfers. Kimber mußte mit dem Schlitten schon weit voraus sein, denn sie sahen und hörten nichts mehr von ihm. Gleichzeitig war das aber auch ein Anzeichen dafür, daß man nichts Gefährliches ent deckt hatte. Das Gras reichte fast bis zur Hüfte, und immer öf ter bemerkten sie die seltsamen Schoten an den En den der Halme. Bis Harmon endlich stehenblieb und sagte: »Das ist aber merkwürdig! Wenn dies Zeug wirklich eßbar ist, dann – an was erinnert euch das Bild hier?« Dard und Cully sahen sich an, schüttelten die Köp fe und schwiegen.
»An ein verwildertes Kornfeld«, klärte sie der in Ackerbau und Viehzucht erfahrene Harmon auf. »Ich meine fast, wir laufen auf dem Gebiet einer Farm umher.« »Farm?« fragte Dard erregt. »Wie soll denn hier ei ne Farm sein? Wer soll sie gebaut haben? Wo ist ein Zaun?« »Was wissen wir schon von dieser Welt?« antwor tete Harmon mit einer Gegenfrage. »Vielleicht liegt das Land hier schon Jahrzehnte brach, und die Frucht hat sich selbst ausgesät. Dies ist eine Farm, ein Bau ernhof oder ein Gut, egal, wie man es nun nennt! Ich lasse mich hängen, wenn – seht dort! Da habt ihr auch schon einen Zaun!« Aufgeregt zeigte er nach vorn, wo ihnen eine Busch reihe die Sicht nahm. Diese Buschreihe zog sich quer durch das Feld. Ohne sich um seine Gefährten zu kümmern, schritt Harmon auf das verwilderte Ge sträuch zu, suchte einen Durchlaß. Als er ihn endlich gefunden hatte, waren Dard und Cully wieder bei ihm. Mühsam zwängten sie sich durch die Verästelun gen, erreichten deren Ende und standen auf einer Lichtung. Vor ihnen lag die Farm. Die Dächer waren rund und kuppelförmig – und halb zerfallen. Auf dieser Welt gab es intelligentes Leben! Dies war der endgültige Beweis!
Stumm standen die Menschen da und starrten auf die unbewohnten Rundbauten. Nichts rührte sich, über der Lichtung lag eine unheimliche, drückende Totenstille. Aber so ganz still war es doch nicht. Ein feines Summen und Schwirren erfüllte die warme Luft, lenkte ihre Aufmerksamkeit zu dem einzelnen Baum, der mitten auf der Lichtung vor der Farm stand. Um diesen Baum herum flog und flatterte es unablässig. Hunderte von bunten Vögeln – oder waren es über große Schmetterlinge und Käfer? – segelten hin und her, taumelten durch die laue Wärme des Tages und versuchten, von den Früchten des Baumes zu na schen. Die Früchte des Baumes! Dard sah es zuerst. »Da! Die goldenen Äpfel!« Er hatte recht. Die Ähnlichkeit mit dem gestern ge fundenen Modell war unverkennbar. Die goldenen Früchte zogen die Äste des blaugrün belaubten Baumes nach unten. Immer wieder stießen die bunten Vögel auf die verlockenden Früchte hinab und versuchten, Schnabel oder Rüssel in das Fleisch zu versenken. Die Vögel nahmen keine Notiz von der Annähe rung der Menschen. Sie taumelten an deren Köpfen vorbei und segelten hinaus in das leicht wellige, grasbedeckte Tal, um irgendwo in der flimmernden
Ferne zu verschwinden. Sogar ein Hüpfer rannte di rekt auf Dard zu, als habe er diesen nicht gesehen. Dabei ließ das Tier einen der Äpfel fallen, den es mit beiden Pfoten gehalten hatte. Cully hielt mitten im Schritt inne und vermied es so, auf einen rotbraunen Hüpfer zu treten, der völlig regungslos am Boden lag. Harmon beugte sich hinab und untersuchte das Tier. Als er sich wieder aufrich tete, lachte er laut. »Total betrunken! Dort – der Vogel – er auch! Er kann kaum fliegen. Die goldenen Äpfel scheinen be rauschend zu wirken.« »Schnapsäpfel!« freute sich Cully verfrüht. Harmon griff in den Baum und pflückte einen der Äpfel. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, während er ihn in einen Beutel steckte. Erst mußte er genau untersucht werden. Dann standen sie vor dem Haus, wenn man den Rundbau als solches bezeichnen wollte. Cully stieß einen nachdenklichen Pfiff aus. »Die Tür! Sie wurde gewaltsam geöffnet – von au ßen. Also auch hier Mord, Totschlag oder Raub?« Er sollte mit seiner Vermutung nur zu recht haben. Sie fanden in dem Haus keine lebende Seele und nichts als vermoderte, unkenntliche Gegenstände. Aber im Nebengebäude – Harmon hatte es gleich für die Scheune oder den Stall gehalten – entdeckten sie
eine lange Reihe angeketteter Skelette. Bei der gering sten Berührung zerfielen die bleichen Knochen zu feinem Staub. »Hallo!« Der plötzliche Ruf erschreckte sie so sehr, daß sie wie gelähmt dastanden. Dann aber dämmerte die Er kenntnis, daß es Kimber gewesen war, der da gerufen hatte. Und jetzt fuhr dieser fort: »Ich bin gelandet, als ihr nicht mehr aus dieser runden Bude herauskamt. Was habt ihr gefunden?« Harmon zeigte auf die gebleichten Knochen. »Man hat diese Farm überfallen – wenigstens ist es wahrscheinlich. Die Tiere ließ man einfach verhun gern. Es muß schon sehr lange her sein. Für uns eine sehr eindringliche Warnung: Diese Welt ist be wohnt!« »Oder sie war es«, sagte Cully.
13
In den folgenden fünf Tagen gab es genügend Arbeit, um die nötigsten Vorbereitungen zur Errichtung der Kolonie zu treffen. Kordov und Carlee Skort weckten immer mehr der noch schlafenden Menschen, und zu dem Grab Lui Skorts gesellten sich noch drei weitere. Dann aber waren es fünfzehn Männer und zehn Frauen, die gemeinsam ihre Kräfte einsetzten, um auf dem Planeten ein weiteres Bestehen des Menschenge schlechtes zu ermöglichen. Die Farm wurde vorerst nicht besetzt, da über den verlassenen Gebäuden eine unbeschreibliche Dro hung lag, deren Vorhandensein selbst Harmon nicht leugnen konnte. Aber die Früchte des Apfelbaumes erwiesen sich als genießbar – selbst die leicht berau schende Wirkung stellte sich ein. Auch das Korn war eßbar, und Harmon legte ein Versuchsfeld in der Nä he des Schiffes an. Die mitgebrachten Fertighäuser wurden am An fang des Tales aufgestellt, weit genug vom Strand entfernt, um eine Überflutung zu vermeiden. Man konnte ja nicht wissen, wie oft es auf dieser Welt grö ßere Stürme gab. Der erste war in noch zu guter Er innerung. Dann war Zeit für einen mehrtägigen Erkundungs
flug. Dard kletterte neben Cully auf den breiten Hin tersitz, während Santee vorn neben Kimber Platz nahm, ein Lähmungsgewehr quer auf den Ober schenkeln. Ein kurzes Winken, dann segelte der Schlitten fast lautlos schräg in den klaren Morgenhimmel hinein. Sie überflogen das Tal in geringer Höhe und ver hältnismäßig langsam. Der rote Fluß verschwand hin ter ihnen, und dichter Wald bedeckte den Boden. »Komisches Zeug«, meinte Cully. »Seht euch doch nur mal diese Bäume an! Sie wachsen aus der Erde, biegen sich nach einiger Zeit – und wachsen wieder in sie hinein, schlagen neue Wurzeln, um dann in drei, vier Sprößlingen erneut herauszuschießen. Be queme Art der Fortpflanzung! Aber dicht ist der Busch da unten – man könnte kaum durch. Da möch te ich nicht zu Fuß marschieren.« Sanft glitten sie über den unübersehbaren Urwald, der Himmel hatte sich bunt gefärbt, und ein ganzer Schwarm der schimmernden, farbenprächtigen Vögel flatterte um sie herum, völlig ohne Scheu. Jeder der vier Männer schaute in einer anderen Richtung. »Da! Dort unten!« rief Santee plötzlich. »Eine Stra ße! Sie ist zwar fast völlig von dem Grün überwu chert, aber es war zweifellos einmal eine Straße. Wenn wir ihr folgen, müßten wir eigentlich –« »Du hast recht!« sagte Cully. »Wenn wir ihr folgen,
müssen wir unbedingt zu einer Stadt kommen – wenn die Brüder überhaupt eine Stadt kannten. Aber warum eigentlich nicht? Wenn sie eine Straße bauten, werden sie auch eine Stadt gebaut haben.« Sie folgten der Straße etwa eine Stunde lang, ehe sich der Wald plötzlich lichtete und eine weite Ebene mit kurzem Gras in Sicht kam. Nun konnten sie die Straße deutlicher erkennen. Schnurgerade zog sie sich dahin, einem unbekannten Ziel entgegen. Dann über flogen sie das erste Gehöft. Es war fast völlig zerfallen und bewachsen. Keine Bewohner. Mehrere Einzel häuser folgten in der nächsten Stunde, alle verfallen und offensichtlich verlassen. »Eine Seuche vielleicht – oder Krieg!« vermutete Kimber. »Es scheint wirklich alles Leben vernichtet zu sein.« Nach einer weiteren Stunde kam ein Dorf in Sicht, und hier erkannten sie dann zum ersten Male die tat sächliche Ursache des Unheils, das über diese Welt hereingebrochen war. Das Dorf bestand aus Ruinen und Trümmern, zwi schen denen noch rauchgeschwärzte Steinbrocken la gen. In der Mitte des Dorfes befand sich ein riesiger Krater, dessen Rand eine glasige Struktur zeigte. »Eine Bombe! Und was für eine!« sagte Cully mit starrem Staunen. »Donnerwetter! Die waren noch zi vilisierter als wir.«
Keiner beachtete die grausige Wahrheit seiner Worte. Krieg! ein Atomkrieg hatte diesen Planeten – we nigstens das intelligente Leben – vernichtet. Kimber erhöhte die Geschwindigkeit, er verspürte das gleiche Verlangen wie seine Gefährten: Was lag jenseits des Horizontes? Der Schlitten jagte dahin, überflog eine zweite, größere Stadt. Ebenfalls nur Trümmer und Ruinen – und im Zentrum ein tiefer, zerfetzter Krater. Weiter folgten sie der breiten Stra ße, jagten schnell dahin und erreichten endlich wie der das Meer. Eine weit ausladende Bucht bildete ei nen natürlichen Hafen. Eine große Stadt lag am Ufer. Zumindest das, was einst eine Stadt gewesen sein mußte. Türme, Hochhäuser und gewaltige Gebäudekom plexe lagen in Trümmern oder standen noch ausge brannt auf der glasigen Schmelzfläche einer ehemals unvorstellbaren Hitze. Nun war alles erkaltet und starr, unbeweglich in der Stille des Todes. Weder Wasser noch Zeit konnten diesen Trümmern etwas anhaben, die gewissermaßen für die Ewigkeit kon serviert worden waren. Kimber überflog langsam und in niedriger Höhe das Spinnennetz ehemaliger Straßen, und vergeblich such ten sie nach den Überresten jener Wesen, die einst diese gewaltige Stadt erbaut – und zerstört hatten.
Sie landeten auf einer grasbewachsenen Fläche, di rekt vor einem imposanten Gebäude. Die drei Au ßenwände standen noch. »Atombomben! H-Bomben! Null-Bomben!« zählte Cully die Liste der irdischen Waffen auf. »Sie kannten sie alle!« Sie standen vor der Ruine und betrachteten sie ein gehend. Die Wände reflektierten das Sonnenlicht, als bestünden sie aus einer Metallegierung. Grün-blau schimmerten sie, als hätte diese Metallegierung See wasser enthalten. Eine breite Treppenflucht führte zu einem Portal hinauf, durch das man in das dachlose Innere der riesigen Halle sehen konnte. Und oben, fast unter dem obersten. Absatz, lief ein buntes Farb band rings um die ganze Ruine, in allen möglichen Farben leuchtend, so wie auf der Erde vielleicht an öf fentlichen Gebäuden eine Aufschrift. Aber diese Far ben sagten ihnen nichts, sie waren ohne Bedeutung für irdische Augen. Sie versuchten vergeblich, zu Fuß in die Stadt ein zudringen. Aber sie sahen bald ein, daß dieser Ver such zu gefährlich war, denn die umherliegenden Trümmer boten keinen Schutz gegen plötzlich ein brechende Hauswände und halbverdeckte Bomben krater. Nach einigen Versuchen, bei denen Cully fast in einen solchen Krater gestürzt wäre, gaben sie es auf. Mit vorsichtigen Schritten kehrten sie zu ihrem
Schlitten zurück, und Kimber verteilte Proviant. Während sie aßen, fiel Dard plötzlich die absolute Stille auf, die um sie herum herrschte. »Nicht ein einziger Vogel!« sagte er kauend. »Überhaupt kein Lebewesen. Das ist unheimlich!« Santee stieß die Fußspitze in den weichen Grasbo den. »Keine Käfer, keine Würmer – wie im Tal. Nichts!« »Keine Vögel, keine Käfer, keine Würmer«, wie derholte Kimber langsam. »Der Ort hier ist tot! Ich weiß zwar nicht, welche Gefühle euch bewegen, aber mir selbst langt es vollständig. Diese Stille hier ist die Stille des Todes!« Sie mußten ihm zustimmen. Dieses gräßliche Schweigen, nur durch das gelegentliche Herabrollen eines Trümmerstückes unterbrochen, war furchtbar und ging ihnen bald auf die Nerven. »Haben wir eine Mikrofilmkamera dabei?« fragte Dard. »Wozu?« wollte Kimber wissen. »Willst du die Ruinen aufnehmen?« »Das weniger. Aber jenes farbige Band dort. Ich finde, es ist nicht nur zur Verzierung da.« Kimber nickte nachdenklich. »Es ist möglich, daß du recht hast.« Er holte den kleinen Apparat aus der Maschine. Das waren die einzigen Aufnahmen, die sie mach
ten, abgesehen von einigen anderen aus der Vogel perspektive, nachdem sie gestartet waren. Sie folgten einem Flußlauf, den fernen Bergen ent gegen, die sich blau am Horizont entlangzogen. Mit gespannter Neugier betrachteten alle vier die näher kommenden Berggipfel. Dahinter vermuteten sie neue Überraschungen. Vielleicht hätten sie etwas von der Gefahr geahnt, wenn sie mehr auf die langsam ansteigende Ebene geachtet hätten, die allmählich in ein Felsenplateau überging. Vielleicht aber auch nicht. Mit einem Ruck wurde der Schlitten aus seiner gleichmäßigen Flugbahn geschleudert, sackte in die Tiefe. Hätten sich die Männer nicht festgeschnallt, sie wären ohne weiteres aus dem Flugzeug geschleudert worden und in tödlichem Sturz auf die Erde gefallen. So aber saßen sie sicher in dem Schlitten, der wie ein schwankendes Blatt dem Boden entgegenflatterte. Kimber versuchte, den Fall abzubremsen, und es gelang ihm, einen steilen Schrägflug aus dem Sturz zu machen. Aber das dauerte nicht sehr lange. Dard erkannte unten auf dem Felsenboden ein grelles Auf blitzen, dann erschütterte ein neuer Schlag den Schlit ten, den nun nichts mehr zu retten vermochte. Wie ein Stein fiel er nach unten. Dard duckte sich und legte die Arme vor den Kopf, um den Stoß so gut es ging abzufangen.
Der furchtbare Aufprall raubte ihm die Besinnung. Lange konnte er so nicht gelegen haben; denn als er aufwachte, war Cully immer noch damit beschäftigt, sich aus den nun lästigen Halteriemen zu befreien. Dard fühlte eine warme Flüssigkeit in seinem Munde und spuckte sie aus. Es war Blut. Der Schmerz raubte ihm fast erneut die Besinnung. Aber er bekämpfte die aufkommende Schwäche und löste die Sicherheits gurte. Sanft glitt er aus dem schrägliegenden Schlit ten, hinter dem leise fluchenden Cully her. Er sah Santee, der sich über Kimber gebeugt hatte und die sem das Blut aus dem Gesicht wischte. »Was ist geschehen?« fragte Dard. Er wischte sich mit der Hand über das Kinn. Sie war voller Blut. Der Schmerz war fast unerträglich. Keiner gab Antwort. Aber Kimber mußte die Stimme gehört haben, denn er bewegte jetzt den Kopf und öffnete mühsam die Augen. Einen nach dem an deren starrte er verständnislos an, ehe er zu begreifen schien. Dann richtete er sich auf, stützte sich auf die Ellenbogen. »Wer hat uns abgeschossen?« Santee hatte sein Gewehr in der Hand, als er auf stand. »Das werden wir sehr bald wissen. Wartet hier. Ich meine, ich hätte das Aufblitzen der Geschütze gese hen. Es ist nicht weit von hier entfernt.«
Ohne auf die Proteste seiner Gefährten zu achten, schritt er – noch ein wenig humpelnd – einfach da von, auf eine kleine, scheinbar natürliche Felsenbasti on zu. Als er näherkam, wurden seine Bewegungen vorsichtiger, als befürchte er, von dort gesehen zu werden. Dard sah ihn dann in dem Gestrüpp ver schwinden. Kimber wurde von Dard verbunden, während Cul ly sich daran machte, den Schlitten einer genauen Un tersuchung zu unterziehen. Als er damit fertig war, lag auf seinem Gesicht ein ernster Zug. »Nun – sieht es sehr schlimm aus?« erkundigte sich Kimber ein wenig zögernd, als befürchte er die schlechteste Nachricht überhaupt. »Es könnte noch schlimmer sein«, knurrte Cully. »Wir haben bei allem Pech noch großes Glück ge habt.« Kimber lächelte schwach, und die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. Doch im gleichen Augenblick wurden sie durch einen Ruf Santees aufgeschreckt, der in den Büschen an der Felsenbastion verschwun den war. Sie blickten in die Richtung, aus der der Ruf ge kommen war, und sahen Santee, der aufrecht und mit den Armen winkend den Abhang herabkam, als gäbe es weder Feinde noch heimtückische Geschütze ir gendwo in der näheren Umgebung.
»He – Freunde! Das ist vielleicht eine verrückte Angelegenheit hier, da werde ich nicht schlau daraus. Eine ganze Batterie von Luftabwehrgeschützen ist hier versteckt – aber kein Aas dabei. Alles tot und leer.« Er war inzwischen näher gekommen und brüll te nicht mehr so laut. »Und wenn ihr sagt, daß ich verrückt bin, ich behaupte, daß die Dinger von allein losgegangen sind!« »Was sagst du da? Sie sind von allein losgegangen? Mensch, natürlich bist du nicht verrückt! Das ist ganz einfach eine automatische Auslösung! Vielleicht Ra dar. Sobald sich etwas aus der Luft einem bestimm ten Punkt nähert, geht die Ballerei los. Das ist ja ein freundliches Land hier!« »Ich möchte nur wissen, wieviel versteckte Kano nen sich noch hier befinden«, sagte Cully, mit offen sichtlichem Mißtrauen die an sich schöne Landschaft betrachtend. »Man muß ja Angst haben, einen Schritt zu gehen. Die automatischen Selbstschüsse brennen einem eins aufs Fell, ehe man sich's versieht.« »Sicherlich keine mehr, die noch funktionieren. Das mag ein Zufall gewesen sein, daß ausgerechnet diese Batterie noch in Ordnung war.« Santee schüttelte zweifelnd den Kopf – und in der gleichen Sekunde gab das Schicksal seinem Pessi mismus recht.
14
Eine donnernde Detonation zerriß die Stille der Ein samkeit mit ihrem Brüllen. Dard hatte Gelegenheit, Bäume, Felsen und ganze Stücke Land in die Luft steigen zu sehen, wo alle diese Gegenstände einen kleinen Bogen beschrieben, um dann wieder zur Erde herabzufallen. Die heranrasende Explosionsdruck welle warf die Stehenden zu Boden. Noch ein fernes Poltern – dann unheimliche Ruhe. »Das«, stellte Kimber ruhig fest, »war das Ende der automatischen Kanonen. Sie haben sich selbst in die Luft gesprengt.« »Hätten sie auch früher tun können«, grollte San tee. »Wie sollen wir jetzt hier fortkommen?« Cully, den die Explosion ein Stück weggeschleu dert hatte, raffte sich auf und stand auf schwanken den Beinen. »Bin gespannt, wann die Überraschun gen endlich aufhören. Mein Bedarf ist reichlich ge deckt. Soweit ich feststellen konnte, ist der Schlitten noch flugtüchtig, aber nicht mit der vollen Last. Ich befürchte, daß zwei von uns zu Fuß gehen müssen.« Santee grinste schon wieder. »Das wäre ja noch nicht so schlimm. Zwei fliegen schon mal vor – ein kleines Stück natürlich nur – und die anderen beiden kommen nach.«
Kimber zog die Stirn in Falten, als er zustimmte. »Es wird uns kaum etwas anderes übrigbleiben. Diejenigen im Schlitten, fliegen lediglich einen halben Tagesmarsch voraus und warten dort auf die ande ren. Wir dürfen auf keinen Fall die Verbindung ver lieren. Meinst du, es wäre möglich, Funkkontakt mit Rogan zu erhalten, Cully? Versuch's doch mal!« Cully holte das kleine Funkgerät aus dem Schlitten und gab es Kimber. Aber der schüttelte es nur einige Male hin und her, hörte das Geklapper in dem Ge häuse und zuckte mit den Schultern. »Du kannst das Ding wegwerfen, Cully. Wir haben keine Ersatzteile dabei. Also sind wir völlig auf uns selbst angewiesen. Wir dürfen keine Hilfe vom Schiff erwarten.« Sie beschlossen, an diesem Ort zu bleiben und erst am anderen Tage den Rückweg zu beginnen. Wäh rend Kimber und Cully das Lager vorbereiteten, ging Santee noch einmal zu der automatischen Flugab wehrbatterie zurück und nahm Dard mit. Was sie fanden, war genauso furchtbar wie befriedigend. Auf dem Plateau befand sich ein riesiger runder Krater mit ausgezackten Rändern. Einige zerrissene Ge schütze – trotz ihrer merkwürdigen Form waren sie als solche erkenntlich – lagen umher und verrieten die einstige Abwehrstärke dieser Stellung. Aber nun war nichts mehr zu befürchten – falls es nicht noch
andere versteckte Nester gab. Über der Explosions stelle lag ein dichter Schleier übelriechenden Rauchs, der die beiden Männer zum Husten reizte. Trotzdem wagten sie sich bis an die tief im Boden befindliche Befehlsanlage vor, die nur wenig zerstört war. Dard vermutete sofort, daß es sich nur um eine automati sche Anlage handeln konnte. Vielleicht war dieser letzte Krieg einer Welt vollkommen automatisch ge wesen, weil die Menschen fehlten. »Hallo – Dard! Hier hab ich was gefunden!« Dard rannte zu Santee. Unter der aufgerissenen Tarnung lagen solide Metallstufen, die in die Tiefe führten. Der starke Scheinwerfer enthüllte nicht viel, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als hinabzu klettern. Die Stufen waren schmal und auch niedrig, die Erbauer mußten also andere Füße haben als die Menschen. Sie gingen hintereinander, stiegen lang sam in die Tiefe. Sie erreichten das Ende der Treppe. Nach einem kurzen Gang gelangten sie dann endlich in einen viereckigen Raum, der an sich nichts anderes als eine Metallkammer war. An den Wänden waren seltsame Skalen, Geräte und andere unbekannte Instrumente. Ein schmaler Metalltisch und eine kleine Bank ver vollständigten die Einrichtung. »Das ist der eigentliche Befehlsstand«, erklärte San tee. »Der Einrichtung nach zu urteilen, stellte man
hier nur die Automatik ein, alles andere besorgte dann die vollkommene Technik dieser unbekannten Rasse. Ich glaube, wir können hier nichts mehr tun – wenigstens im Augenblick nicht.« Er wandte sich ab und begann, wieder die Stufen hinaufzuklettern. Dard wollte ihm folgen, aber seine Augen entdeckten auf dem Tisch einen Gegenstand. Er sah aus wie ein Buch. Dard bat Santee, noch ein mal den Raum auszuleuchten, was dieser auch be reitwillig tat. Dard griff nach dem Gegenstand, der aus vier blattähnlichen Seiten eines weichen Materials bestand, an der einen Ecke geheimnisvoll zusam mengehalten. Das Licht fiel voll auf die erste Seite, und Dard fühlte eine starke Erregung, als er die bunten Schrift bänder erblickte, die waagerecht wie Zeilen das Blatt bedeckten. Er faltete das Buch – vielleicht handelte es sich um eine Dienstvorschrift – zusammen und schob es in die Tasche. Am anderen Morgen setzten sie ihren Plan in die Tat um. Kimber, dessen Schulterverletzung zwar nicht le bensgefährlich, aber doch sehr schmerzhaft war, klet terte zusammen mit Cully in den Schlitten. Santee und Dard würden laufen, eine genau bestimmte An
zahl von Kilometern in südlicher Richtung. Kimber und Cully würden an der vereinbarten Stelle auf sie warten und sich irgendwie bemerkbar machen. Die Lebensmittelvorräte wurden geteilt. Als der Schlitten den Blicken der Zurückbleibenden entschwunden war, nahm Dard sein Bündel auf die Schulter und nickte Santee aufmunternd zu. Der rückte den Rucksack zurecht und nahm das Lähmungsge wehr in die rechte Hand. Dard hatte den Kompaß, nach dem sie sich zu richten hatten. Mit weit ausholenden Schritten machten sie sich auf den Weg. Zum Glück stießen sie auf keinen Wald, sondern überquerten nur eine unübersehbare Steppe, die dem Gebirge vorgelagert war. Und nach zwei Stunden be fanden sie sich plötzlich auf einer alten, aber noch verhältnismäßig glatten Straße, die fast genau nach Süden führte. Nun wurde der Marsch fast zu einem Vergnügen, und sie kamen schnell voran. Kurz nach Mittag jedoch machte die Straße einen scharfen Bogen nach Westen, um sich in Richtung der fernen See – und wohl auch der Stadt – am Horizont zu verlieren. Sie waren also gezwungen, wieder quer feldein zu wandern. Die Hitze nahm immer mehr zu. Der Sand reflek tierte die Sonnenstrahlen. Dard begann zu schwitzen und verspürte brennenden Durst. Suchend ließ er den Blick über die unendliche Fläche schweifen.
Er mußte zweimal hinsehen, ehe er den blinkenden Gegenstand erkannte, der da vor ihm langgezogen in der Wüste lag und sich schimmernd in der Ferne ver lor. Santee hatte Dard beobachtet und das Fernglas an die Augen gesetzt. Ein hastiger Atemzug bewies, daß auch er die gleiche Beobachtung wie Dard gemacht hatte. »Ein Gleis! Ein richtiges Bahngleis! Aber – warum denn nur eins? Warum keine zwei?« Dard zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen? Das beste wird sein, wir gehen hinüber und sehen uns das Ding mal an.« Sie rannten den Hang hinab, der sie von der lang gestreckten Senke trennte, und standen dann bald fassungslos vor dem breiten, metallenen Gleis, das aus einem Tunnel in dem felsigen Abhang hervor kam, quer über die Senke lief und in der Ferne – San tee hatte das durch das Fernglas deutlich sehen kön nen – wieder in einem Tunnel verschwand. Sie hielten sich eine Weile mit fruchtlosen Untersu chungen auf, ehe sie sich entschlossen, ihren Marsch fortzusetzen. Da die Schiene nach Süden führte, gingen sie so lange an ihr entlang, bis sie in jenem anderen Tunnel verschwand, den Santee durch das Fernglas gesichtet hatte. Dann erkletterten sie auch diesen Berg und sahen wieder die eintönige Wüste vor sich liegen.
»Vielleicht eine Art von Transportmittel?« vermu tete Dard. »Schon auf der Erde hatten sie eingleisige Bahnen.« »Möglich!« meinte Santee einsilbig und schritt un verdrossen voran. Erst am späten Nachmittag entdeckten sie vor sich das verabredete Rauchsignal der Schlittenbesatzung, die auf einem kleinen, nach allen Seiten Übersicht bietenden Plateau gelandet war. Der zweite Tag begann wie der erste. Kimber und Cully flogen mit dem Schlitten voraus, dem vorher ausgemachten Treffpunkt entgegen. Santee und Dard griffen zu ihren Bündeln und setzten sich ebenfalls in Bewegung. Der rissige Wüstenboden erschwerte das Gehen ungemein, aber sie waren dankbar, keinen Dschungel durchqueren zu müssen. Sie mochten einige Stunden unterwegs sein, als sie plötzlich vor einer Senke standen, deren Grund mit dornigen Büschen bedeckt war, so daß man den Bo den nicht sehen konnte. Dard blieb stehen, begann dann wie ein Hund zu schnüffeln. Santee sah ihn fra gend von der Seite an. »Was ist? Riechst du was?« »Na – und ob! Das stinkt ja furchtbar aus dem Loch herauf.« Langsam und vorsichtig kletterten sie den steilen
Abhang hinab. Dard hatte in die Tasche gegriffen und die Strahlpistole hervorgezogen, die ihm Kimber am Morgen in die Hand gedrückt hatte. Die Stille war unheimlich. Kein Lüftchen regte sich in diesem Loch, das so mitten in der Wüste lag. Aber es roch feucht, dazu der widerliche Aasgestank – es war kaum zum Aushalten. Dards Fuß löste versehentlich einen Stein, der mit lautem Gepolter den Abhang hinabrollte und zwi schen den Büschen zur Ruhe kam. Sie waren beide stehengeblieben und lauschten. Aber nichts rührte sich. Weiter kletterten sie und erreichten endlich die Sohle des Talkessels. Eine üppige Vegetation bedeck te den feuchten Boden, und eine kleine Quelle spru delte dazwischen. Aber sie wurden enttäuscht, denn die Quelle strömte ebenfalls einen furchtbaren Ge ruch nach Sulfiden und Mineralien aus, der jedoch von dem Aasgestank noch übertroffen wurde. Ein kleiner See hatte sich gebildet, dessen Ufer mit grün lichem Staub bedeckt war. Vorsichtig gingen sie weiter, dem Ausfluß des Sees folgend, der sich in einem kleinen Rinnsal durch die dornigen Büsche wand. Dann standen sie vor der rötlichen Steilwand, die nach dieser Seite hin den Kessel abgrenzte. Der Bach hatte sich erneut zu einem See verbreitert, dessen
Ufer ebenfalls mit chemischen Salzen bedeckt war, die in allen Farben giftig schillerten. Es war Santee, der einen erstickten Schrei des Ent setzens ausstieß, als er das Ungeheuer erblickte. Halb verdeckt von der öligen Schicht, die auf dem Wasser schwamm, lag es in dem See und schien erst in die sem Augenblick die beiden Menschen bemerkt zu haben. Dard wußte sofort, daß von hier der furchtba re Gestank ausging, der sie angelockt hatte. Das Ungeheuer war nicht allein. Ein zweites lag dicht neben dem ersten und richtete sich jetzt langsam und zögernd auf. Dard war unfähig, sich zu bewegen. Der wahnsinnige Schreck bannte ihn an einen Fleck und lähmte seine Glieder, die den Befehlen seines Ge hirns nicht mehr zu gehorchen imstande waren. Die Haut des Wesens war schuppig und deutete zweifellos auf eine Reptilienart hin. Die Hinterbeine blieben unsichtbar, denn nur der Oberkörper kam aus dem Wasser, als sich das Tier aufrichtete. Die Vorder füße – es waren keine Füße! Es waren regelrechte menschliche Hände, allerdings von außerordentlicher Größe. Trotzdem wußte Dard sofort, daß auch diese Hände niemals jene Städte gebaut haben konnten – aber auch nicht die Bomben, die sie zerstört hatten. Die Arme, an denen diese Hände saßen, waren kurz und plump, richtige Krokodilsbeine. Aber der Kopf! Man hätte einen Krokodilskopf erwarten sollen, aber
das war ein Irrtum. Der Kopf war fast menschlich – wenigstens in der Form. Der Ausdruck in diesem Ge sicht, das sich mit einem schnaubenden Fauchen über die Wasseroberfläche erhob, hatte allerdings nichts Menschliches an sich. Es war das Gesicht aus einem Alptraum. Santee riß das Gewehr hoch und jagte dem Ungeheuer, das sie um ein Mehrfaches überragte, ei nen Lähmungsstrahl mitten in die gräßliche Fratze. Die Wirkung war gleich Null. Das Lebewesen schüt telte nur unwillig den Kopf. Da hob Dard den Arm, zielte sorgfältig und schickte den grünen Todesstrahl genau in das häßliche Gesicht. Diesmal sah das Er gebnis anders aus. Die pure Energie zerfraß die orga nischen Bestandteile augenblicklich und ließ nur ein schwarzes verbranntes Loch zurück. Das Riesentier sank in den See zurück, wühlte verzweifelt das Was ser auf – und noch zwei andere Ungeheuer tauchten aus dem stinkenden Pfuhl auf. Mit einem Fauchen näherten sie sich den Menschen. Santee drehte sich um, Dard dabei am Ärmel pak kend. »Los! Nur die Flucht kann uns vielleicht noch ret ten. Das sind weder Tiere noch intelligente Lebewe sen – das sind Ungeheuer aus der Hölle!« Sie eilten durch die Büsche, an der Wand entlang und hofften, bald eine Stelle zu finden, wo der Auf stieg leicht wäre. Aber sie wurden enttäuscht. Der
Abhang war stets gleichbleibend steil. Es würde ih nen wohl nichts anderes übrigbleiben, als wieder den Abstieg zu suchen, den sie herabgekommen waren. Aber wenn möglich, wollten sie den Weg quer durch die dornigen Büsche vermeiden. Und dann stolperte Dard plötzlich über etwas Har tes, Glattes, verlor den Halt und stürzte. Santee brem ste seinen Lauf und schoß auf die dicht herankom menden Verfolger, die sich zwar schwerfällig, aber trotz ihrer Größe doch schnell bewegten. Dard kam wieder hoch und starrte voll Erstaunen auf die Einzelschiene, über die er gefallen war. Wie kam die Schiene hierher? Zeit zum Nachdenken blieb nicht, also verschob er es auf später, über dieses Rät sel nachzugrübeln. Aber die Schiene führte in einen Tunnel im Berg – das konnte die Rettung bedeuten. Santee schob Dard vor sich her in die schwarze Öffnung des Ganges hinein. Er selbst deckte den Rückzug. Sein Gewehr hatte keine Munition mehr, also nahm er Dards Strahlpistole und zielte auf das Untier, das sich hinter ihnen herzwängte. Der Schuß traf tödlich. Mit einem grauenhaften Zischen veren dete die Affeneidechse, wie Santee sie im stillen nannte. Aber – sie versperrte auch gleichzeitig den Eingang. Vorerst brauchten sie also keine weitere Verfolgung zu fürchten. Nur: auch der Ausgang war jetzt blockiert.
Dard hockte dicht neben Santee in der engen, run den Höhlung. Er hatte den Schrecken noch nicht ganz überwunden und zitterte. Santee legte ihm die Hand auf die Schulter. »Jetzt ist das Schlimmste vorbei. Hierher können sie uns nicht folgen, da der Tunnel zu schmal ist. Was mag es übrigens sein? Die Schiene führt durch diesen Gang – ich nehme an, auf der Schiene lief einst ein Zug. Und dies hier war vielleicht eine Haltestelle. Möglich, daß das Wasser des Sees damals trinkbar war. Ja, nun stecken wir in diesem Loch. Hast du noch Ersatzmagazine für die Strahlpistole?« Dard suchte in den Taschen. »Nein! Ich muß sie verloren haben.« Santee verbarg seine Betroffenheit nicht. »Verdammt und zugenäht! Das ist schlecht! Da bleibt uns nur eins übrig: Wir müssen versuchen, in der anderen Richtung davonzukriechen, um irgend wie wieder an die Oberfläche zu kommen. Denn ohne Waffe können wir nichts gegen diese Riesenungeheu er unternehmen. Versuchen wir es lieber gleich. Die Luft wird schon schlechter.« Bei seinen letzten Worten ließ er die Stablampe auf leuchten, deren Strahlen wenige Meter vor ihnen auf eine abgerundete, schimmernde Metallfläche prallten. Es handelte sich um einen torpedoförmigen Zylinder, nicht unähnlich jenem, den sie am Strand gefunden
hatten. Vielleicht war auch dies ein Güterwagen, denn für die Personenbeförderung war er zu klein. Wenigstens nahmen sie das unwillkürlich an. Der Zy linder hatte eine Gleitvorrichtung, die ein Rollen auf der Einzelschiene möglich machte. Die glatten Tun nelwände waren an allen Stellen nur etwa zehn Zen timeter von der Außenhülle entfernt, ein Vorbei kommen an dem Fahrzeug war daher völlig unmög lich. »Seltsam!« murmelte Santee ein wenig außer Atem. »Ob sie damit ihre Güter transportiert haben? Gar nicht mal so dumm, die Idee! Aber wir kommen nicht weiter, da der Zwischenraum zu eng ist. Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als das Ding vor uns herzuschieben. Es macht uns dann auch gleich zeitig den Weg frei, falls ein Hindernis da sein sollte.« Es dauerte immerhin noch zehn Minuten, bis es ih nen gelang, den metallenen Torpedo zu bewegen. Dann jedoch rollte dieser geräuschlos vor ihnen her – um wenige Sekunden später mit einem Krachen ge gen ein unsichtbares Hindernis zu prallen. Alle Be mühungen, ihn weiterzubewegen, blieben erfolglos. Er steckte fest, wenigstens in der Richtung, in der – vielleicht – die Freiheit lag. Santee hatte während des Schiebens fast unbewußt eine Feststellung gemacht, die ihm erst jetzt klar wurde. Er kroch einige Meter zurück und beleuchtete
mit der Lampe eine kleine Nische in der Wand. Ver suchsweise kroch er in diese hinein und kauerte sich ganz eng zusammen. Dann sagte er: »Eine Sicherheitsnische, wie es sie in jedem Tunnel gibt. Das ist unsere Rettung. So kommen wir an dem Wagen vorbei.« Mit viel Mühe gelang es ihnen, das an allen Stellen so glatte Gebilde aus den Trümmern zu ziehen, in die sie es geschoben hatten. Dann setzte sich Santee in die Nische, und Dard zog den Wagen an ihm vorbei. Dann schob Dard ihn wieder vor, vorbei an der Ni sche, in die er sich nun hockte. Bald rollte der Wagen an ihm vorbei, und er war wieder mit Santee vereint. Der Wagen begann plötzlich zu summen und be schleunigte sein Tempo. Immer schneller wurde er und raste auf den Tunnelausgang zu, durch den sie hereingekommen waren. »Wir haben irgendwie den Antriebsmechanismus in Gang gesetzt!« rief Santee erstaunt. »Und sieh dort! Eine der Echsen hat die Leiche ihres Artgenossen he rausgezogen und versucht nun ihrerseits, uns zu fol gen. Na, das Luder wird eine böse Überraschung er leben. Unser Geschoß rast genau darauf zu.« Santee hatte recht. Mit erheblicher Geschwindigkeit prallte das Ding in die Eidechse hinein, die mit einem wütenden Zischen aus dem Tunneleingang geworfen wurde. Santee erfaßte die Situation sofort. Mit einem
letzten Blick in die Richtung, in der sie zu fliehen ge dachten, sagte er hastig: »Der Tunnel ist hinten völlig verschüttet. Wir kä men niemals durch. Los, wir müssen versuchen, an der überraschten Bestie vorbeizukommen und die Wand möglichst schnell zu erklettern. Das dürfte uns gelingen. Aber rasch, denn in der Strahlpistole ist so gut wie keine Energie mehr.« In größter Eile krochen sie durch den engen Tunnel auf die ferne Öffnung zu. Als sie diese erreichten, konnte sich Santee ein schadenfrohes Lachen nicht verkneifen: »Sieh dir das Biest an! Es kämpft mit dem Torpedo und denkt, das sei der Feind! Jetzt aber schnell, ehe es uns bemerkt!« Die Eidechse oder der Riesenaffe – der Teufel wuß te, wie man das Untier bezeichnen sollte – hatte den schlanken Torpedokörper des Gleitwagens fest um schlungen und versuchte anscheinend, das Leben aus diesem herauszupressen. Beide lagen halb im Wasser und rutschten immer tiefer hinein. Mit ein paar schnellen Sätzen sprangen die beiden Männer aus dem Loch heraus und rannten auf die Wand zu, die sich stufenartig vor ihnen erhob. Es wurde ihnen sehr leicht, hier hinaufzuklettern. In wenigen Minuten hatten sie den oberen Rand des Talkessels erreicht.
Santee wischte sich mit der Hand über die Stirn und atmete erleichtert auf. »Da haben wir aber Glück gehabt.«
15
Unverdrossen marschierte Dard hinter Santee her, der gleichmäßigen Schrittes jener Linie am Horizont zustrebte, die nur ein Gebirge oder ein unermeßlich großer Wald sein konnte. Wald! Dard dachte mit Schrecken daran. Wie soll ten sie hilflos und waffenlos einen so großen Wald durchqueren? Das war doch unmöglich. Wenn Kim ber bloß vor dem Wald gelandet war! Stundenlang wanderten sie so fast wortlos durch die Wüste, aßen hin und wieder von ihren Vorräten und hatten beide nur den einen Wunsch: möglichst bald das verabredete Rauchzeichen der beiden ande ren Gefährten zu erblicken. Dann wurde es dunkel, ohne daß sie dieses Rauch zeichen gesehen hätten. Hoffnungslosigkeit wollte sich Dards bemächtigen, als er plötzlich – gar nicht so weit entfernt – zwischen einigen Büschen den Schein eines Feuers hervorleuchten sah. Er stieß Santee übermütig in die Seite und fühlte neue Kraft in die müden Glieder strömen. Fast liefen sie auf das Feuer zu, und sie konnten einen Freudenschrei nicht unterdrücken, als sie Kimber und Cully erkannten, die schon unruhig auf sie gewartet hatten. Santee erzählte sogleich von ihrem Abenteuer,
während Dard schnell etwas aß und dann todmüde in den Schlafsack kroch. Der andere Morgen begann – wie eigentlich immer – mit strahlendem Sonnenschein. Cully und Kimber kletterten in den Schlitten, der sich sanft – aber ein wenig schwankend – erhob und davonglitt. Santee und Dard warteten. Nach kaum einer Stunde kehrte Cully zurück und landete. »Geschafft! Kimber ist bereits beim Schiff. Sie hat ten uns schon fast aufgegeben.« Dard kletterte in den Schlitten. Santee blieb zurück und winkte zum Abschied. Kaum waren sie in der Luft, da erblickte Dard auch schon in der Ferne die bekannte Form der Klippen, die Meeresausbuchtung – und den silbernen Zylinder des Sternenschiffes. Schnell näherten sie sich der ver trauten Landschaft und landeten etwa zwei Kilome ter von dem Raumschiff entfernt. »Die letzten Meter kannst du laufen«, sagte Cully. »Um so schneller bin ich mit Santee wieder zurück.« Dard nickte. Ihm kam der kleine Spaziergang durch die wohlbekannte Gegend sehr gelegen. Der Schlitten erhob sich erneut in die Luft, während Dard langsam und fast gemütlich in Richtung des silbernen Turmes davonschritt, zu dessen Füßen die Zelte und Fertighäuser standen.
Das hohe Gras reichte ihm bis zum Gürtel. In der Ferne konnte er schon menschliche Gestalten erken nen, die in den angelegten Feldern arbeiteten. Die hohe Anzahl ließ darauf schließen, daß Kordov fast alle Teilnehmer an der intergalaktischen Expedition aus ihrem Schlaf geweckt hatte. Am gleichen Abend versammelten sich alle Mitglie der der Kolonie um ein großes Lagerfeuer, und die vier Expeditionsteilnehmer erzählten noch einmal ausführ lich von ihren Abenteuern. Anschaulich schilderten sie ihren Flug über das verbrannte und verlassene Land. Und dann brandeten die Fragen auf, die immer wieder in der einen Hauptfrage gipfelten: »Wo sind sie geblieben?« Kordov gab die Antwort darauf. »Konzentrieren wir uns lieber auf die Frage: War um sind sie gegangen? Denn was sie zurückließen, ist ein zwar leerer, aber ein fruchtbarer Kontinent. Wir müssen uns mit der Möglichkeit vertraut machen, daß Reste der einstigen Bevölkerung nur ausgewan dert sind und heute auf einem anderen Kontinent dieses Planeten leben. Vielleicht ist ihr Lebensstan dard gesunken und sie sind in den Zustand der Pri mitivität zurückgefallen. Wer soll das wissen? Denkt doch nur an die Entwicklung auf der Erde zurück! Wir müssen uns klar darüber sein, daß eine ständig drohende Gefahr über uns hängt.
Dard Nordis brachte eine Art Buch mit, dessen Schrift aus Farbbändern besteht, genauso wie das Farbband, das in der großen Stadt fotografiert wurde. Allem Anschein nach waren also jene Bewohner in der Lage, sich durch Farben zu verständigen. Jede Farbe hatte ihre Bedeutung. Da es aber unzählig viele Variationen der Farben gibt, ist das eine großartige Verständigungsmöglichkeit. Ich werde alles versu chen, die Bedeutung dieser Farbschriftzeichen zu ent ziffern.« Es war am anderen Morgen, als die Menschen ihre größte Überraschung erlebten. Eigentlich war es Dessie, die der weiteren Entwicklung der Kolonie die entscheidende Wendung gab. Das Mädchen war hinab zum Strand gelaufen, wo es sich damit beschäftigte, bunte und seltsam geform te Muscheln zu sammeln. Nicht weit vom Strand ent fernt hatte Cully den Schlitten auseinandergenom men, um einen letzten Versuch zu unternehmen, ihn zu reparieren. Rogan trieb sich ebenfalls in der Nähe herum und tat so, als habe er weiter nichts zu tun. Cully hatte ihn beauftragt, die in der Nähe umher streifenden Hüpfer zu verjagen, die nichts anderes im Sinne hatten, als die Werkzeuge und Ersatzteile zu stehlen. Dard half sowohl Cully wie auch Rogan, ob wohl er viel lieber zusammen mit Dessie den Strand abgesucht hätte.
Rogan machte einen Satz und schrie laut: »Du verdammtes Biest! Meinst du vielleicht, du könntest unserem Chefkonstrukteur den Gravitati onsausgleicher stehlen? Hahaha!« Dard sah, wie Rogan den Hüpfer durch das hohe Gras jagte und somit vertrieb. Der »Chefkonstruk teur« tat so, als habe er in einen sauren Apfel gebis sen, obwohl er sich doch schon längst an Rogans Be merkungen gewöhnt haben mußte. In diesem Moment gellte ein schriller Schrei über den Strand und ließ Dard zusammenfahren. Das war Dessie! Ohne sich zu besinnen, begann Dard zu laufen, auf die kleine Sanddüne zu, hinter der sich das Mädchen befinden mußte. Rogan ließ den Hüpfer entkommen und raste hinter Dard her. Als Dard die kleine Höhe erklommen hatte und den Meeresstrand vor sich sah, bemerkte er Dessie, die vor den Klippen stand und einen der kleinen Flugdrachen abzuwehren versuch te, der immer und immer wieder auf sie herabstieß. Merkwürdigerweise kam das Mädchen nicht auf die Idee, einfach davonzulaufen, sondern tat ganz so, als ob sie ihren Platz irgendwie verteidigen müsse. Jetzt erblickte sie Dard. »Komm her, Dard! Hilf mir, das Untier zu verja gen! Schnell!« Dard besann sich nicht lange, sondern hob einige
Steine auf, die er während des Laufens nach dem kleinen Tier warf. Der schlangenförmige Körper des giftigen »Vogels« wand sich, als der erste Stein ihn traf. Mit einem wütenden Krächzen schoß er auf Dard zu, den er als die größere Gefahr erkennen mochte. Erneut warf Dard, verfehlte jedoch sein Ziel. Erst der dritte Stein traf wohl mehr aus Zufall – ge nau den Kopf des widerlichen Geschöpfes, der von dem Anprall zerschmettert wurde. Mit müdem Flat tern segelte der Flugdrache zu Boden, wo er zuckend liegenblieb. Trotz seines inneren Widerstrebens schritt Dard schnell hinzu und tötete das Tier mit ei nem wohlgezielten Fußtritt. Dessie eilte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. »Vielen Dank, Dard! Du hast es gerettet!« Dard stutzte. »Es –?« echote er erstaunt. Dessie entsann sich. »Ach so, du weißt es ja noch gar nicht. Ich habe ein kleines Meerbaby gefunden. Es sitzt in den Klippen, wohin es floh, als der böse Drache geflogen kam, der es fressen wollte.« Dard holte tief Luft. »Ein – was? Ein Meerbaby?« »Ja! Es spielte hier am Strand, als ich es fand. Es hatte zuerst ein wenig Angst, dann aber gar nicht mehr. Dort kommt es!«
Dard wandte sich um – und erstarrte zur Salzsäule. Aus der engen Höhle der Klippe kam aufrecht ein kleines Wesen, nicht größer als vielleicht einen halben Meter hoch. Die äußeren Konturen waren die eines menschlichen Körpers. An den Armen waren Hände, deren vier Finger mit einer bunten Schwimmhaut verbunden waren. Der Kopf war rund, besaß keine sichtbaren Ohren, dafür aber zwei große runde Au gen und einen schmalen Mund. Es war mit einer glat ten, silberfarbigen Haut bedeckt und stand sicher und selbstbewußt auf seinen zwei Beinen, deren Füße auf ständiges Leben im Wasser schließen ließen. Das Wesen schritt langsam aus seinem Versteck heraus und kam auf Dessie zu, anscheinend völlig ohne Furcht. Doch nun sah es Dard. Die großen Au gen richteten sich fragend auf diesen, zeigten aber immer noch keine Furcht. »Das ist ja toll!« hauchte Dard, um das kleine Le bewesen nicht unnötig zu erschrecken. »Wo hast du es gefunden?« »Es kam aus dem Wasser«, erklärte Dessie und nahm das »Baby« an der Hand. »Ich suchte Mu scheln, plötzlich stand es vor mir. Es betrachtete mich, kam dann aber langsam näher, als ich es lockte. Ob es mich verstanden hat?« Dard konnte es immer noch nicht fassen. Die men schenähnliche Gestalt des Tieres – war es überhaupt
ein Tier? – verblüffte ihn so sehr, daß er keine Ant wort geben konnte. »Und dann kam auf einmal der böse Drache!« fuhr Dessie fort. »Das Kleine war schon bei mir auf dem Land, daher flüchtete es zwischen die Klippen, wäh rend ich versuchte, den Drachen zu verjagen. Dann aber kamst du, Gott sei Dank!« Rogan war ebenfalls herangekommen und hatte die letzten Worte gehört. »Hast du mit ihm gesprochen?« fragte er und meinte offensichtlich nicht den Drachen, sondern das Wasserwesen. Das Vibrieren seiner tiefen Stimme mußte dieses jedoch sehr erschreckt haben, denn es rannte direkt in die Arme von Dessie hinein, die es wie schützend umschlang und unverständliche Worte in die nicht vorhandenen Ohren flüsterte. Dann sah sie auf. »Sie müssen leiser sprechen, Mr. Rogan! Es hat Angst!« Das Mädchen streichelte das zitternde Meer baby. »Es ist so lieb. Als es zu mir kam, wollte es mit mir spielen. Wir suchten dann zusammen Muscheln.« Rogan hatte eine steile Falte auf der Stirn. Doch in diesem Augenblick sah Dessie auf und zeigte dann aufgeregt auf das Meer hinaus. »Dort! Neben den Klippen! Seht nur!« Dard fuhr herum und versuchte, etwas in den schnellen Wogen zu erkennen, die sich an dem klei
nen Riff brachen. Doch dann erkannte er, was Dessies Aufmerksamkeit erregt hatte. Zwei blanke, runde Köpfe tanzten dort auf und nieder, und zwei runde Augenpaare schauten ganz deutlich zu ihnen her über. Fast vermeinte Dard, so etwas wie Furcht in ih nen erkennen zu können. Rogans Hand umspannte Dards Arm fast schmerzhaft. Dann flüsterte er kaum hörbar: »Ganz ruhig bleiben! Von unserem Verhalten wird jetzt unsere ganze Zukunft abhängen. Dies sind intel ligente Wesen!« Dessie, in ihrer kindlichen Unbefangenheit, lenkte die Aufmerksamkeit des kleinen Spielgefährten auf die Erscheinung. »Sieh mal dort, Baby! Dort sind noch mehr von deinen Freunden! Sie wollen dich sicherlich abholen. Schau nur!« Das Kleine tat ganz so, als habe es verstanden. Dann aber mochte es seine Artgenossen erkannt ha ben; denn es befreite sich aus den Armen des Mäd chens und rannte mit schnellen, trippelnden Schritten durch den Sand auf das Wasser zu, lief hinein, daß es hoch aufspritzte. Die beiden Köpfe am Riff kamen ebenfalls näher, und jetzt richteten sich die Wesen auf. Es waren genau die gleichen Gestalten wie das Baby, nur größer. Offensichtlich die Eltern des Klei nen. Die kleinere eilte auf das Baby zu und empfing
es mit offenen Armen. Die größere jedoch, sicherlich der Vater, schob sich vor Mutter und Kind, als wollte er sie beide vor den unbekannten Fremdlingen schüt zen. Rogan konnte sich nicht mehr beherrschen. »Sieh doch nur! Sieh doch, was es in der Hand hält!« keuchte er mit mühsam unterdrückter Erre gung. Dard sah es. Der Meermann hielt in seiner Hand einen Speer. Um seine Hüfte war eine Art Gürtel geschlungen, in dem neben anderen undefinierbaren Gegenständen ein langes Messer aus weißem Fischbein steckte. Das Lebewesen war unter keinen Umständen ein einfaches Tier! Es besaß eine logische Denkweise und daher auch Intelligenz. Das Baby machte eine plötzliche Bewegung und eilte dann durch das seichte Wasser wieder zum Strand zu rück. Mit allen Zeichen der Freude warf es sich in Des sies Arme und zog diese dann – auch wenn sie wider strebte – auf ihre Eltern zu, die immer näher gekom men waren und bald das Ufer erreicht hatten. Dard war der Anblick des Speeres unangenehm. Langsam folgte er Dessie, um in der Nähe zu sein, falls man feindliche Absichten zeigte. Aber das schien nicht der Fall zu sein. Im Gegenteil! Der Vater des Meerbabys stieß die Spitze seines Speeres plötzlich in
den Sand, spießte den dort liegenden Drachen auf und warf ihn mit allen Zeichen des Widerwillens auf die nächste Klippe. Er war jetzt keine zehn Meter mehr von Dard und Rogan entfernt. Dann drehte er sich wieder um und gab seinem Kind, das mit Dessie zusammen herangekommen war, einen regelrechten Klaps auf das Hinterteil. Dard fühlte eine ungeheure Erleichterung. Gerade diese kleine und so menschliche Geste flößte ihm Ver trauen ein. Diese Wesen hatten zwar äußerlich nicht allzuviel mit dem Menschen gemeinsam, aber an scheinend besaßen sie doch einige Gefühle, die denen der Menschen verwandt waren. Er trat einen Schritt auf den Meermann zu, der zu rückwich. Um zu zeigen, daß er waffenlos sei, hob Dard beide Hände, kehrte die leeren Handflächen dem anderen zu und lächelte. Der Meermann war auf der Hut. Immer noch miß trauisch stand er da, den Speer unschlüssig in den Händen und zur schnellen Flucht – oder aber Ge genwehr – bereit. Er machte vorsichtig einen Schritt zurück. Aber Dard gab nicht auf. Immer noch die Hände hochhaltend, bewegte er sich langsam und vorsichtig auf den ängstlichen Vater des Meerbabys zu. Er lä chelte, und vielleicht waren es gerade seine Augen, die den letzten Ausschlag gaben.
Der Meermann blieb stehen, wich nicht mehr zu rück. Die Hand mit dem Speer sank langsam herab, ließ ihn schließlich los. Achtlos fiel die Waffe in das seichte Wasser. In Dard jubelte es, und unbeschreibliche Freude er füllte ihn, als das erste intelligente Lebewesen dieser Welt vorsichtig auf ihn zuschritt und seine Hände zum Gruß erhob. Zwei Welten hatten beschlossen, die Freundschaft und den Frieden vor das Mißtrauen zu setzen.
16
»Wie lange wird es denn noch dauern?« fragte Cully, vor Erregung mit dem Zeigefinger im losen Sand bohrend. Dard betrachtete nachdenklich die sechs Männer, die ihn zum Strand begleitet hatten. Da saßen sie nun, die Beine untergeschlagen und die Hände als Stütze benutzend. Sie schwiegen und warteten auf die Din ge, die Dard ihnen angekündigt hatte. Das erste offi zielle Zusammentreffen der Erdenmenschen mit Ver tretern dieses Planeten war für den frühen Nachmit tag dieses Tages verabredet worden – soweit man von einer Verabredung sprechen konnte. Die Ver ständigung war ziemlich schwierig, und Dard wäre sich seiner Sache nicht so sicher gewesen, wenn Dessie nicht immer wieder behauptet hätte, die Meerleu te hätten sie verstanden. »Sie denken in meinem Kopf!« hatte sie immer wieder gesagt, und Kordov hatte versucht, den Män nern das Wesen telepathischer Verständigung zu er klären. »Warum soll das nicht möglich sein?« hatte er die Männer gefragt. »Was wissen wir von diesem Meer volk?« Und somit saßen sie nun hier und warteten.
Schweigend und erwartungsvoll, gespannt und auch freudig erregt. Vor ihren Füßen lagen die Dinge, die im Meer lebende Wesen vielleicht brauchen konnten. »Da kommen sie!« flüsterte Dessie, die aufrecht stand und auf das Meer hinausschaute. »Ich gehe ih nen entgegen. Baby ist auch dabei!« fügte sie erfreut hinzu und lief durch das seichte Wasser den auftau chenden Wesen entgegen. Es fiel den Männern schwer, diese seltsamen Le bewesen als Menschen zu bezeichnen, aber sie dach ten an Kordovs Rat, nicht nur sich selbst als intelli gente Schöpfungen der Natur zu betrachten. Dessie hatte das Baby erreicht, ergriff dessen Hand und eilte mit ihm zum Ufer. Als das kleine Meerkind die Männer gewahrte, drückte es sich scheu und ängstlich an Dessie, als suche es Schutz. Ob eine un angenehme, vielleicht instinktive Erinnerung es dabei beeinflußte? Aber Dessie streichelte das Kleine beru higend und sagte zu den Männern: »Ssat und Ssutu kommen gleich. Dort!« Dard fragte sich erneut, woher Dessie das wissen mochte. Aber schließlich wäre gerade bei einem Volk, das in und unter dem Wasser lebte, eine Verständi gung durch Telepathie nur natürlich. Dessie würde die Dolmetscherin sein, denn nur sie schien die Spra che des seltsamen Volkes zu begreifen. Die beiden größeren Meermenschen kamen an
Land, blieben vor den immer noch schweigsamen Menschen von der Erde stehen und setzten sich schließlich auf ein Zeichen von Dard diesen gegen über. Dabei legten sie ihre Speere neben sich in den Sand. »Dessie!« sagte Dard langsam und sehr ruhig. »Du kannst ihnen nun die Geschenke geben und ihnen sa gen, daß wir Frieden mit ihnen wünschen.« Das Mädchen nickte, ließ seinen kleinen Gefährten los und bückte sich, um einige Früchte und Gefäße aufzunehmen. Damit schritt sie zu den beiden ge spannt Wartenden hinüber, legte die Dinge vor sie auf die Erde und hielt ihnen dann die Hand entge gen. Der Meermann zögerte einen Augenblick, als habe er nicht begriffen. Dann aber legte er seine eigene vierfingrige Hand in die Hand des Mädchens. Der Kontakt zwischen zwei Welten war hergestellt! Dard fühlte förmlich, wie die Meerleute erleichtert aufatmeten. »Wenn du ihnen die Hand gibst, Dard, können sie zu dir sprechen. Versuch es einmal!« Das war eine große Überraschung für die Men schen. Aber sie ließen es sich nicht anmerken. Ohne weitere Worte erhob sich Dard, schritt zu den Frem den hinüber und hockte sich vor sie. Dann hielt er – genau wie vorher Dessie – seine Hand hin. Die kühle
und noch etwas feuchte Handfläche des anderen be rührte die seine, und ein leichter Schauer rieselte sein Rückgrat herab. Und dann hörte er plötzlich Worte! Nein, er hörte sie nicht, sondern er spürte sie. Fremde und unverständliche Gedankenverbindungen dran gen auf ihn ein, dann aber wieder bekannte. Es fiel ihm zwar schwer, aber mit ein wenig Phantasie konn te er begreifen, was das Geschöpf, das da vor ihm saß, von ihm wollte. »Oh, ihr Großen und einmaligen Landwesen!« flü sterte es in seinem Gehirn. »Wir haben euch vor vie len Sonnenuntergängen vom Himmel herab kommen sehen. Mit viel Furcht haben wir eure Ankunft beo bachtet. Wir haben befürchtet, daß ihr gekommen wärt, um uns erneut in die schrecklichen Tiefen der Dunkelheit zu jagen.« »In die Tiefen der Dunkelheit?« fragte Dard un willkürlich laut, um dann aber die Frage noch einmal unhörbar zu denken. »Jene, die einst auf dem Land lebten, haben unsere Ur-ur-ur-ur-Väter damals auch in diese Finsternis ge hetzt. Es waren Tage und Nächte voller Feuer und Strahlentod, wir flüchteten in das Meer – und wir werden niemals mehr an Land zurückkehren.« »Wir wissen nichts von diesen Dingen«, beruhigte ihn Dard. »Aber uns ging es ähnlich. Wir flohen auch in die ewige Finsternis, von einem Planeten, den wir
Erde nannten. Auch dort bereitete sich der Ausbruch des Höllenfeuers vor, das eine ganze Welt zerstören wird. Wir kamen hierher, um den Frieden zu su chen.« »Es ist wahr, daß ihr eine andere Gestalt habt als jene, die unsere Vorväter vertrieben. Auch ist eure Hautfarbe eine andere. Ihr habt bisher nur Freund schaft gezeigt und habt sogar jenen fliegenden Gift tod getötet, der mein Kind angriff. Dafür danken wir euch besonders. Werdet ihr hierbleiben?« Es war Dard so, als klänge die Frage ängstlich. »Wir sind dabei, uns Wohnstätten zu bauen.« »Und wovon werdet ihr leben? Werdet ihr die Früchte des Wassers sehr benötigen?« »Die Früchte des Wassers?« fragte Dard verständ nislos. Die fremden Gedanken formten in seinem Gehirn plötzlich ein deutliches Bild, und er sah die rötlichen Pilze vor sich, die auf der Oberfläche des Flusses schwammen. Schnell sagte er: »Nein! Wir benötigen die Früchte des Wassers nicht für uns, da wir von den Landfrüchten leben können.« »So dürfen wir also weiter hierherkommen, um zu ernten? Und –« es war Dard, als besäße der Gedanke etwas Bittendes, Dringendes, ja Flehendes – »und werdet ihr uns auch vor dem fliegenden Gifttod
schützen, wenn dieser uns angreift? Ihr habt eine größere Macht als wir. Unsere Waffen sind nur schwach.« »Wir mögen die Drachen genauso wenig wie ihr. Aber nun gebt mir Gelegenheit, mit meinen Freunden zu sprechen.« Dard erklärte den anderen, was er mit Ssat bespro chen hatte. Santee brummte befriedigend und sagte: »Aber natürlich sollen die Kleinen sich die Pilze holen kommen. Ich werde schon dafür sorgen, daß ihnen die Drachen nichts tun. Kann die Biester sowie so nicht leiden.« »Ganz recht«, stimmte Kimber zu. »Wir tun ihnen den Gefallen, denn es scheinen ja ganz nette und friedliche Zeitgenossen zu sein, diese Meerleute. Be richte ihnen also von unserem Entschluß, Dard.« Ehe eine Stunde um war, konnte man von der Auf nahme regelrechter diplomatischer Beziehungen zwi schen den Erdenmenschen und den Angehörigen der wasserbewohnenden Rasse sprechen. Beladen mit ih ren Geschenken schritten die beiden Vertreter des Meervolkes endlich wieder in die See hinaus. Das Baby saß auf der Schulter der Mutter und winkte zurück. Dessie rief irgend etwas, und das Baby nickte, als habe es verstanden. Es mochte die Gefühle und auch den Verstand haben wie ein etwa dreijähriges Kind auf der Erde. Nur daß es eben wesentlich kleiner war.
»Sie werden also morgen kommen, um die Was serpilze zu ernten«, erinnerte Dard noch einmal. »Vielleicht wäre es ein Zeichen unseres guten Wil lens, wenn wir ihnen dabei helfen würden. Was meint ihr?« »Du könntest recht haben«, stimmte Kimber zu. »Es ist gut, wenn wir auf dieser Welt Freunde besit zen. Die ehemaligen Herren scheinen nicht mehr zu leben, somit haben wir auch ein moralisches Recht darauf, diesen Kontinent in Besitz zu nehmen. Au ßerdem haben jene Bewohner sich ihre Existenzbe rechtigung durch ihr eigenes Verhalten verscherzt. Wie ich aus Dards Worten erraten konnte, hielten sie die harmlosen Meerleute als Gefangene und Arbeits sklaven. Nur der furchtbare Krieg, den sie unterein ander ausfochten, gab ihnen den Rest und vernichtete sie. Aber ihre Sklaven erhielten die Freiheit – sicher lich durch einen Zufall. Fast könnte man meinen, daß sich nicht nur auf der Erde die Geschehnisse der Ge schichte wiederholen, sondern sogar auf den Planeten der verschiedenen Sonnensysteme der Milchstraße. Anscheinend gebiert die Intelligenz immer wieder die gleichen logischen Gedanken – und endet immer wieder in Zerstörung.« Am Abend versammelten sich die Menschen im Gemeinschaftszelt, wo das große Ereignis des Tages eingehend besprochen wurde. Man war sich darüber
einig, daß man in jedem Fall die Rasse der Meerbe wohner als gleichberechtigte Partner anerkennen müsse, gerade weil diese Lebewesen friedlich und auch verhältnismäßig schutzlos waren. Der menschli che Standpunkt vergangener Jahrhunderte, aus die sem Grund erst recht ein Volk zu versklaven, war den Angehörigen der Kolonie natürlich verhaßt und da her undiskutabel. Wer friedlich eingestellt war, dem sollte auch mit Frieden begegnet werden. Der andere Morgen bot ein seltsames Bild. Das Meervolk war an Land gekommen und hatte die Menschen begrüßt. Zuerst war man auf beiden Seiten ein wenig mißtrauisch, aber als der Anführer der Wasserbewohner längere Zeit mit Kordov ver handelt hatte und die friedlichen Absichten beider Parteien offensichtlich waren, begegnete man einan der mit den Zeichen aufrichtiger Freundschaft. Hauchdünne Netze wurden an der Flußmündung ausgespannt und damit die Pilze aufgefangen. Die Erdenmenschen hatten Früchte und Korn gebracht, das sie den Meeresbewohnern als Geschenk anboten. Diese nahmen erfreut an und boten als Gegengabe Fi sche und würzig riechende Wasserpflanzen. Am Ufer wurden mehrere Feuer entzündet, um die Fische zu braten, und zum ersten Male zeigten die Meermen schen unverhüllte Angst, als sie die offenen Flammen
sahen. Entweder waren ihnen diese unbekannt, oder sie weckten schon lange schlummernde, unangeneh me Erinnerungen. Drei der kleinen fliegenden Dra chen versuchten einen Angriff auf die Meeresbewoh ner, aber die Strahlwaffen der Erdenmenschen ver nichteten sie, ehe sie Schaden anrichten konnten. Mit ehrfürchtiger Bewunderung betrachteten später die Meerleute diese Waffen, deren Wirkung alles ihnen Bekannte bei weitem übertraf. Scheu reichten sie die Pistolen dann zurück. »Dard! Komm mal her!« Das war Kordovs Stimme. Dard lief zu ihm hin über, den in der Stimme hatte eine unverkennbare Dringlichkeit gelegen. »Hör zu, Dard: Mir ist eben etwas eingefallen. Ich möchte gern Genaueres über jene Lebewesen wissen, die die Städte erbaut und wieder zerstört haben. Ich möchte wissen, wie sie aussehen.« »Ich werde Ssat fragen«, erbot sich Dard sofort und rannte zum Strand zurück, wo er den schon bekann ten Meermann sehr bald fand. Nachdem er seine fla che Hand auf die glatte Innenfläche von Ssats Hand gelegt hatte, fragte er, indem er dachte: »Unser Führer läßt fragen, wo diese«, in seinem Gehirn formte sich unwillkürlich in der Vorstellung das Bild jener Affenechse, die ihnen in der Wüste be gegnet war, »Wesen heute noch –«
Seine Gedanken wurden durch ein fast heftiges »Nein!« unterbrochen. Dann empfing Dard folgende Eindrücke: »Nein! So sehen sie nicht aus. Diese Af fenechsen, die ihr meint, waren die erbittertsten Feinde der Erbauer der Städte und unserer Unter drücker. Die sahen anders aus.« Und dann plötzlich entstand vor Dard ein Bild, ein vages und ver schwommenes Bild: ein zweibeiniges Wesen, ganz an eine menschliche Gestalt erinnernd. Aber doch ir gendwie fremd. »So, als sähe man es durch Wasser.« Durch Wasser! »Ja, du hast es erraten!« kam Ssats Gedanke nun. »Wenn wir sie sehen, wagen wir uns nicht aus dem Wasser – daher kann ich nicht erklären, wie sie in Wirklichkeit aussehen. Wir fürchten uns –« »Und sie leben auf dem Lande?« »Ja, aber weit von hier entfernt, auf dem anderen Kontinent jenseits des Meeres. Früher müssen es sehr viele gewesen sein, denn sie wohnten auf allen Landteilen dieser Welt. Sie hatten eine große Zivilisation ge schaffen, unterdrückten aber die Schwächeren und hielten sich für die Herren der Schöpfung. Doch ihre Machtgier trieb sie dazu, sich gegenseitig zu bekriegen, bis eines Tages das Unglück über sie hereinbrach. Feu er und Tod regneten vom Himmel auf sie herab, und eine schreckliche Seuche brach aus. Sie starben alle, bis auf wenige Ausnahmen, die früh genug dieses Land
verließen. Wir benutzten die Gelegenheit, ins Meer zu flüchten, das unser ureigenes Element war. Nie mehr kehrten wir an Land zurück, nur wenn wir Nahrung benötigten. Aber wir möchten uns sonnen, und unsere Kinder lieben das Land, um darauf zu spielen. In der Tiefe des Meeres gibt es ebenfalls Ungeheuer, genauso furchtbare Ungeheuer wie an Land. Von jenen anderen gibt es hier auf diesem Konti nent keine mehr, aber wohl auf jenem jenseits des Horizonts. Ihr seid gut und freundlich, ihr habt uns so empfangen, wie ein friedliches Volk das andere empfangen muß: in Freundschaft und ohne Mißtrau en. Verzeiht uns, wenn wir vorsichtig waren, aber eu re äußere Form erinnerte uns an unsere Todfeinde. Jene hassen uns noch heute und töten uns, wo immer sie eine Gelegenheit dazu haben. Wir haben euch beobachtet, als ihr gelandet seid. Wir haben befürchtet, daß ihr von jener Rasse ab stammt, die uns für immer vom Land verjagte, aber ihr seid nicht die Abkömmlinge dieser schöpfungs feindlichen Lebewesen. Ich stelle daher folgendes fest!« Dard fühlte, daß der Meermann sich dem Haupt punkt seiner telepathischen Rede näherte. Die Ein drücke wurden prägnanter. »Ihr seid ein Volk, das auf dem Land lebt und le ben will. Ihr kennt das Land besser als wir! Wir aber
wollen im Wasser leben, nur ab und zu an Land kommen – ohne befürchten zu müssen, daß man uns erschlägt. Das Wasser kennen wir besser als ihr, seine Nahrung mag euch vielleicht willkommen sein. Unsere Späher beobachten heimlich das Land jener anderen, melden uns jede verdächtige Bewegung. Wir wissen stets, was sie tun und was sie vorhaben. Aber was wollen wir mit unseren Speeren gegen ihre Waffen ausrichten, die auf weite Strecken töten können? Daher machen wir euch den Vorschlag, daß wir ein Bündnis schließen. Ein Freundschaftsbündnis gegen den gemeinsamen Feind, dessen Absicht es immer war und auch immer sein wird, andere Völker zu un terjochen und zu versklaven. Wir sind Vorposten und Berichterstatter, ihr aber verteidigt unsere und euere Frauen, falls uns die Feinde angreifen sollten. Über legt euch den Entschluß gut! Morgen treffen wir uns wieder.« Ssat nahm seine Hand von der Dards, winkte ihm zu und ging zu den Seinen zurück. Dard begab sich zu Kordov und Kimber, die ihn gespannt erwarteten. »Nun, was habt ihr euch so lange erzählt?« Dard berichtete. »Also ein regelrechtes Bündnis – gegen einen un bekannten Gegner? Hm, wir wissen ja noch gar nicht, ob jene auf dem benachbarten Kontinent wirklich so kriegslüstern sind. Vielleicht ist in den Meerleuten
nur der schlummernde Haß erwacht, und sie sehen in uns die geeigneten Hilfskräfte, den unangenehmen Landwesen eins auszuwischen.« »Kaum!« sagte Kimber. »Ich möchte diesen freund lichen Wasserbewohnern trauen. Sie haben wirkliche Angst und scheinen regelrecht glücklich zu sein, end lich Freunde gefunden zu haben.« Harmon wühlte nachdenklich mit der Hand im Sand herum. »Du magst recht haben, Kimber. Nur – ich möchte nicht unnötig in einen Krieg verwickelt werden.« Dard starrte auf das Meer hinaus, wo sich einzelne Gruppen schon zum Aufbruch bereitmachten, den Menschen zuwinkten und dann im Wasser ver schwanden. Und plötzlich konnte er den Gedanken an die weitere Unsicherheit nicht mehr ertragen. Die se Landbewohner lebten zwar auf einem anderen Kontinent, aber würden sie auch dort bleiben? Im mer? Doch wohl kaum! Und vermutlich hatten sie die gleichen unangenehmen Eigenschaften wie der Mensch sie hatte. Wenigstens damals vor dreihundert Jahren, als sie die Erde verlassen hatten. Und dann entsann er sich, daß Rogan einen Projek tor aufgestellt hatte, um die Mikrofilmrollen, die sie in dem zylinderförmigen Transportbehälter gefunden hatten, auf eine Leinwand zu projizieren. Ohne sich nach den anderen umzusehen, schritt er
landeinwärts, auf jene Höhle in den Klippen zu, die als Vorführraum für Filme diente. Kimber schloß sich ihm wortlos an, und Dessie, die sich von ihrem Baby verabschiedet hatte, folgte ebenfalls. Rogan schien erfreut, als die Freunde eintraten. »In einer Stunde läuft der erste Film einer längst ausgelöschten und ausgestorbenen Rasse.« »So ausgestorben sind die nicht«, belehrte ihn Kimber. »Ich fürchte sogar, du wirst dich noch über ihre Lebendigkeit sehr wundern.« Rogan fragte nicht weiter, sondern begann erneut, an seinen Geräten zu basteln. Hin und wieder wies er Kimber oder Dard an, ihm diesen oder jenen Gegen stand zu reichen. Und dann war es endlich soweit. Rogan legte die erste Rolle in den Apparat, der bald darauf zu sum men begann. Dann erlosch das Licht, und der Schirm flammte auf. Auf der Leinwand erschienen Farben, bunt durch einander, und – »Abstellen!« schrie Dard. »Abstellen! Rogan, schalt aus, oder wir sind alle verloren!« Dard schloß die Augen und öffnete sie erst dann wieder, als das Licht ihn blendete. Die Leinwand war leer. »Was – was war das?« keuchte er. »Habt ihr das auch gefühlt?«
Kimber hatte die Hände vor die Augen geschlagen, hob jetzt langsam den Kopf. »Was war das?« wiederholte er fassungslos. Tas Kordov, der kurz vor Beginn der Vorführung noch eingetroffen war, schaute sie der Reihe nach an und sagte dann: »Das ist das Seltsamste – und Schrecklichste, was ich je erlebt habe. Sie benutzten farbige Bänder als Schrift. Sie verständigten sich also durch die Ver schiedenheit der Farben. Wir haben nur wenige Se kunden diese Farben gesehen, aber wir haben nicht nur gesehen! Wir haben gefühlt! Der Geist jener an deren Rasse drang in unser Hirn ein. Freunde, noch fünf Minuten – und wir wären keine Menschen mehr gewesen. Nie mehr welche geworden! Ich verstehe zwar nicht ganz, wie diese konservierte Hypnose ar beitet – aber sie ist da! Wir müssen sehr vorsichtig sein.« Dard blickte Kordov an, als dieser fortfuhr: »Es gibt nur eine einzige Lösung!« Kimber nickte. »Das Bündnis mit den Meerleuten. Sie werden uns warnen und helfen, wenn Gefahr droht!« Dard atmete auf. Innerlich lächelte er sogar ein we nig. Sie hatten das Wunder des Weltraums erlebt; die Sterne gehörten ihnen – wenn sie stark genug waren. Die Diktatur auf der Erde hatte sie zum größten
Wagnis der Menschheit gezwungen – und sie hatten Erfolg gehabt. Wer wollte ihnen nun die neue Heimat streitig machen? Eine Rasse, die sich das Anrecht auf Herrschaft selbst verscherzt hatte? Dards Blick schweifte aus der Höhle hinaus zum Meer, dessen grüne Wogen gleichmäßig sanft gegen den Strand anliefen. Dort würden ihre Freunde und Bundesgenossen wachen. Er blickte hinaus auf das grasbedeckte Land, über dem eine leuchtende Sonne stand. Es würde die Heimat eines neuen, besseren Menschengeschlechtes werden. Sie würden sich be mühen, dieser neuen Heimat würdig zu sein, deren erstes Gebot der Friede und die Freundschaft war.