Pamela Francis
Die teuflischen Jünger Irrlicht Band 423
Kessy begann mit Messungen, mit denen sie die Eintretenden z...
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Pamela Francis
Die teuflischen Jünger Irrlicht Band 423
Kessy begann mit Messungen, mit denen sie die Eintretenden zu täuschen hoffte. Sie grüßte höflich, ohne sich bei ihrer Arbeit stören zu lassen. Erst als ihr niemand antwortete, richtete sie sich auf und drehte sich um. Entsetzt taumelte sie zurück und wurde durch die Wand hinter ihrem Rücken aufgefangen. Die Männer, die durch beide Türen gleichzeitig traten, waren fast nackt. Sie trugen nur um die Hüften blutrote Scherpen, kaum breiter als ein Fuß, und vor den Gesichtern abscheuliche Masken, die es unmöglich machten, einen von ihnen zu erkennen. Keiner richtete an Kessy eine Frage. Niemand schien sich über ihre Anwesenheit zu wundern. Schweigen. Die Männer rückten dichter an sie heran…
Kessy Malone betrachtete prüfend den gedeckten Tisch. Die Kerzenleuchter waren aufgestellt. Zündhölzer lagen bereit. Sie hatte das kostbare Familiensilber aufgelegt und sich für das Porzellan mit dem zarten Veilchenmuster entschieden, das Simon so sehr liebte. In der Küche wartete ein knuspriger Fasan. Es sollte ein Festessen werden. Die Frau freute sich auf diesen Abend. Die zwei Wochen ohne Simon waren ihr wie eine Ewigkeit erschienen. Fast sechs Jahre waren sie nun schon verheiratet. Die Zeit war ihr wie im Flug vergangen. Nur die Tage, während denen sich Simon auf Geschäftsreisen befand, wollten nie vorübergehen. Sie liebte ihn. Sie liebte ihn eher noch stärker, als am ersten Tag. Kessy wußte, daß es in ihrem Leben keinen anderen Mann geben würde. Lächelnd wandte sie sich um und blinzelte ihrer Großmutter zu, die auf einem Ölgemälde an der Wand abgebildet war. Lady Patricia war eine bemerkenswerte Frau gewesen. Dies hatte sich nicht erst gezeigt, als ihr Mann starb. Bereits vorher hatte sie die Geschicke der Familie bestimmt. Die Heirat mit Simon Malone war von ihr mißbilligt worden. »Sieh dir seine Hände an«, hatte sie gesagt. »Ein Mann mit solch zarten Händen wird dir ewig auf der Tasche liegen.« Die gute Großmama! Ihre Befürchtung hatte sich als einer ihrer wenigen Irrtümer herausgestellt. Simon bevorzugte zwar nicht die schwere Arbeit im Hafen oder in der Landwirtschaft, doch als Verkaufsleiter eines großen pharmazeutischen Herstellers hatte er es zu leidlichem Erfolg gebracht. Sie konnten mühelos von dem Geld leben, das er verdiente. Das riesige Haus freilich verschlang beträchtliche Summen. »Ich kann dir nur drei Dinge hinterlassen«, hatte Lady Patricia
wenige Tage vor ihrem plötzlichen Tod zu ihr gesagt. »Halte das Haus in Ehren. Es befindet sich seit fast zweihundert Jahren im Besitz der Familie. Bereits mein Großvater, der Earl of Kilmore, veranstaltete hier seine Feste. Gib es an jenes deiner Kinder weiter, von dem du sicher sein kannst, daß es das Haus auch in Notzeiten nicht veräußert.« Vorläufig war dieses Vermächtnis nicht zu erfüllen, denn die Ehe mit Simon war bis jetzt kinderlos geblieben. Doch das würde sich ändern. Dawar Kessy ganz sicher. Sie hatte in der vergangenen Woche Dr. Forster konsultiert und von ihm die Bestätigung erhalten, daß sie schwanger war. Wenn das kein Grund zum Feiern war! Außer dem schloßähnlichen Haus etwas außerhalb Dublins hatte sie von ihrer Großmutter den gesamten Familienschmuck geerbt. Sie hörte noch die eindringlichen Worte der alten Dame: »Trenne dich nur von einem Stück, wenn du keinen anderen Ausweg siehst.« Als drittes Erbstück schließlich hatte ihr ihre Großmutter die Kämpfernatur der Kilmores hinterlassen. »Laß dich niemals unterkriegen, mein Kind. Bewahre dir deinen irischen Stolz, deinen Gerechtigkeitssinn und deine Würde. Aber sei auch bereit, dich zu erniedrigen, wenn es gilt, eine wichtige Schlacht zu schlagen.« Simon hatte damals beteuert, sie habe noch etwas vergessen. Da sei noch ein viertes Erbstück, das sie seiner geliebten Frau hinterließe. »Deine Schönheit, Großmama. Du lebst in Kessy weiter. Sie besitzt deine Augen, deine Stimme, deine Anmut.« Lady Patricia hatte gelächelt, war aber gleich darauf wieder ernst geworden. »Vergiß das nie, Simon. Du hast die wunderbarste Frau von ganz Irland. Sollte ich jemals drüben erfahren, daß du sie unglücklich machst, werde ich dir
erscheinen. Dann wirst du lernen, was es heißt, eine Kilmore zu kränken.« »Er hat sich deine Drohung zu Herzen genommen, Großmutter«, flüsterte Kessy verträumt. »Du kannst getrost in Frieden ruhen.« Sie hörte ein leises Motorengeräusch, das sich rasch näherte. Sofort begann ihr Herz, schneller zu pochen. Das war Simon. Endlich kam er von seiner Reise nach Waterford zurück. Sie eilte ans Fenster und kontrollierte in der spiegelnden Scheibe den Sitz ihres weißen Kleides. Sie hatte es ausgewählt, weil Simon es so gern an ihr sah. Er bezeichnete sie darin meistens als »seinen Engel«. Er konnte so zärtlich sein. Der Bentley kam die Auffahrt herauf. Kies knirschte. Eine Wagentür flog ins Schloß. Dann eilte Simon auf das Haus zu. Er hielt den Kopf gesenkt. Deshalb sah er Kessy nicht am Fenster stehen. Sie kehrte zum Tisch zurück und zündete die Kerzen an. Fast augenblicklich breitete sich ein aromatischer Duft aus. Die Frau blieb neben dem Tisch stehen, um Simon zu empfangen. Er würde Augen machen. »Was ist denn hier los? Erwarten wir etwa Gäste?« Simons Stimme hörte sich erschöpft an. »Nur einen einzigen«, verriet Kessy verschmitzt. »Und der ist soeben eingetroffen.« Sie eilte auf ihren Mann zu und fiel ihm stürmisch um den Hals. Simon küßte sie flüchtig. Kessy blickte ihn betroffen an. »War das alles?« fragte sie enttäuscht. »Wir haben uns vierzehn Tage nicht gesehen.« »Tatsächlich? Na, du scheinst dir die Wartezeit ja auf angenehme Weise vertrieben zu haben.«
Um Kessys Mundwinkel zuckte es. Was war nur mit Simon los? In dieser Weise hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Er schien sich gar nicht zu freuen, wieder bei ihr zu Hause zu sein. »Du willst dich sicher erst einmal frisch machen«, vermutete sie. »Ich schenke uns inzwischen einen Sherry ein.« »Sherry?« brauste Simon Malone auf. »Hast du nichts Besseres als dieses süße Zeug? Da schuftet man bis zum Umfallen, und was bekommt man dafür? Einen Sherry.« »Du kannst selbstverständlich auch einen Whisky haben«, bot Kessy an. Sie war den Tränen nahe. »Ich will überhaupt nichts«, gab Simon unwillig zurück. »Nur meine Ruhe. Ich bin müde.« »Aber das Essen!« fragte Kessy erschrocken. »Es gibt Fasan und…« »Gib ihn der Katze«, schlug Simon grob vor und wandte sich zur Tür. Kessy hielt ihn am Arm zurück. »Was ist geschehen, Liebster? Hast du Ärger gehabt? Willst du mir nicht erzählen, was dich bedrückt?« »Nichts bedrückt mich. Gar nichts. Geht die Welt unter, nur weil ich keinen Appetit auf Sherry und Fasan habe?« »Du hast auch keinen Appetit auf mich«, stellte Kessy klar. »Kannst du mir nicht wenigstens eine halbe Stunde Ruhe gönnen?« brauste Simon auf. »Ich bin doch nicht dein Sklave.« »Schon gut«, sagte die Frau erstickt und ließ seinen Arm los. »Es ist nur… ich habe dir etwas Wunderbares zu sagen. Ich halte es schon kaum noch aus.« »Weiberklatsch, wie? Der geht mir auf die Nerven. Was interessiert es mich, ob unsere Nachbarn einen Wohltätigkeitsball veranstalten oder sich die Thomsons ein neues Reitpferd angeschafft haben?«
»Es handelt sich nicht um fremde Leute, sondern um uns, Simon.« »Na, das kannst du mir ja auch noch später erzählen«, fand der Mann. »Ich gehe jetzt ins Bett.« Damit verließ er den Salon und ließ die entgeisterte Kessy stehen. Sie biß die Zähne aufeinander und ballte die Finger zu Fäusten. Du bist eine Kilmore, dachte sie. Du läßt dich nicht unterkriegen. In ein paar Minuten wird Simon aus dem Bad kommen und dich um Verzeihung bitten. Doch es kam ganz anders. Als sie ans Fenster trat, sah sie gerade noch, wie Simon auf seinen Wagen zulief und etwas in den Kofferraum legte, von dem sie nur erkennen konnte, daß es in einer seiner Jacken eingewickelt war. Wollte er jetzt etwa noch einmal fortfahren? Kessy stieß einen Schrei aus und hielt sich erschrocken den Mund zu. Als er sich flüchtig umwandte, streckte sie eine Hand aus, als könnte sie ihn damit zurückholen. Doch Simon schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen. Dabei war ihr helles Kleid unübersehbar. Er blickte förmlich durch sie hindurch, stieg in den Bentley und fuhr davon. Kessy klammerte sich an das marmorne Fensterbrett. Sie traute ihren Augen nicht. War das noch derselbe Simon, den sie über alles liebte und von dem sie sich in gleicher Weise geliebt wußte? Aber es bestand wohl kein Zweifel. Simon besaß keinen Zwillingsbruder, und keine noch so perfekt ausgeführte Maske hätte sie täuschen können. Steffi räusperte sich an der Tür und fragte, ob sie das Essen auftragen solle. Sie habe den gnädigen Herrn vorfahren hören. »Er mußte noch einmal fortfahren, Steffi. Eine halbe Stunde wird es wohl noch dauern. Kannst du den Fasan so lange knusprig halten?«
Das Mädchen versicherte, sich die größte Mühe zu geben, und zog sich wieder zurück. Nach einer halben Stunde war Simon noch immer nicht zurück. Die Zeiger der großen Standuhr rückten vor. Vor dem Haus blieb alles ruhig. Kessy saß kerzengerade auf einem der hochlehnigen Stühle, um das Kleid nicht zu zerdrücken. Dafür wurde ihre Stirn von Kummerfalten durchfurcht. Sie fühlte sich außerstande, für Simons Verhalten eine Erklärung zu finden. Selbst wenn er seine Arbeit verloren hätte, wäre sie doch die erste gewesen, der er sich hätte anvertrauen müssen. Er würde eine neue Stelle finden. Wahrscheinlich sogar eine, die wesentlich besser honoriert wurde. Nein, das konnte es nicht sein. Simons Veränderung war tiefgreifender Natur. Sie hatte nicht nur seinen Stolz berührt, sondern sein Herz. Nach Mitternacht ging sie zu Bett, nachdem sie Steffi längst schlafen geschickt hatte. Sie schloß zwar die Augen, fand aber keine Ruhe. Immer wieder lauschte sie den entfernten Schlägen einer Turmuhr, die der günstig stehende Wind herübertrug. Die Sorgen der Frau wuchsen mit jeder Minute. Sie verzieh sich nicht, daß sie in diesem Moment nicht an Simons Seite weilte. Zweifellos brauchte er ihre Hilfe. Er steckte in unerwarteten Schwierigkeiten. Wohin mochte er gefahren sein? Warum blieb er so lange? In ganz Dublin bekam er zu so später Stunde nichts mehr zu trinken. Aber vielleicht hatte er längst genug. Himmel! Er war mit dem Wagen unterwegs. Es würde ihm doch nichts zugestoßen sein?
Kessy richtete sich auf und spielte mit dem Gedanken, sämtliche Krankenhäuser der Stadt anzurufen. Sie durfte nicht untätig bleiben, während Simon vielleicht in tiefer Bewußtlosigkeit auf der Intensivstation lag. Die Vorstellung war schrecklich. Wenn er nun nicht überlebte? War ein Weiterleben ohne ihn für sie denkbar? Ihre Hand ging zum Schalter der Nachttischlampe. Die Frau hielt es nicht länger aus. Sie brauchte Gewißheit. Bevor sie den Schalter betätigte, hörte sie den Wagen. Kessy atmete auf und ließ sich zurücksinken. Gott sei Dank! Ihre schlimme Befürchtung hatte sich als unbegründet erwiesen. Jetzt kam sie ihr lächerlich vor. Sie wußte doch, daß sich Simon niemals ans Steuer setzte, wenn er mehr als ein Glas getrunken hatte. Seine Schritte klangen auf dem Kies. Er schloß die Eingangstür auf und versperrte sie wieder. Auf dem Treppenläufer war er nicht zu hören, aber gleich würde er behutsam die Tür öffnen und sich schuldbewußt erkundigen, ob sie schon schliefe. Er brauchte ungewöhnlich lange für das kurze Stück. Nach zehn Minuten war er noch immer nicht bei ihr. Wieder bekam es Kessy mit der Angst zu tun. Simon konnte ja unten in der Diele zusammengebrochen sein. Je länger sie darüber nachdachte, um so einleuchtender erschien ihr ein gesundheitlicher Defekt als Ursache für sein unbegreifliches Benehmen. Die Frau schlüpfte aus dem Bett und hastete zur Tür. Als sie sie öffnete, hörte sie Simons Stimme. Er telefonierte. »… wirst es erhalten«, sagte er gerade. »Ich verspreche es dir.«
Offenbar hatte er das Öffnen der Tür gehört, denn er stockte kurz und beendete überstürzt das Gespräch mit einer nichtssagenden Floskel. Mit wem hatte er noch so spät telefoniert? Würde er ihr die Wahrheit sagen, wenn sie ihn danach fragte? Kaum. Kessy begriff endlich, daß er etwas vor ihr verheimlichte. Sie konnte sich auch denken, was es war. Eine andere Frau. Diese Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag. Simon besaß eine Geliebte. Offensichtlich hatte er sie in Waterford kennengelernt. Kessy taumelte ins Schlafzimmer zurück und bemühte sich, die Tür leise zu schließen. Sie hätte später nicht sagen können, wie sie zum Bett gelangt war. Dort brach sie zusammen und hörte nicht mehr, als sich Simon nach geraumer Zeit neben sie legte und wenig später einschlief.
Mit heftigen Kopfschmerzen kam Kessy Malone am nächsten Tag zu sich. Das Bett neben ihr war bereits leer. Simon war schon aufgestanden. Kessy begab sich ins Bad. Sie benötigte beträchtliche Zeit, ehe sie sich halbwegs in der Lage fühlte, ihrem Mann gegenüberzutreten. Sie hatte sich vorgenommen, ihn rundheraus nach seiner Geliebten zu fragen. Die Ungewißheit ertrug sie nicht länger. »Der gnädige Herr ist bereits vor zwei Stunden abgereist«, berichtete Steffi ihr, als sie das Frühstück servierte. »Abgereist?« wiederholte Kessy ungläubig. »Hat er eine Nachricht für mich hinterlassen?« »Nur, daß er dringend nach London fliegen müsse. Es kann zwei oder drei Tage dauern.«
Kessy schnitt ein Hörnchen auf und bestrich es mit Butter, ohne daß es ihr bewußt wurde. »Ach ja, nach London«, sagte sie. »Ich entsinne mich, daß er so etwas erwähnte. Ich vergaß nur, daß er schon so bald fliegen müßte. Schade! Ich hatte mich auf unser gemeinsames Frühstück gefreut. Steffi, heirate nie einen Mann, der so häufig unterwegs ist.« »Aber wenn ich ihn liebe?« gab die Köchin, die gleichzeitig als Hausmädchen fungierte, errötend zurück. Kessy nickte. »Da hast du recht, Steffi. Wenn man einen Menschen liebt, erträgt man noch ganz andere Dinge. Zwei bis drei Tage sagtest du? Dann wird es für mich recht langweilig werden. Ich glaube, ich fahre ebenfalls für ein paar Tage weg. An der Westküste muß es jetzt wunderschön sein.« »Gewiß, Madam«, versicherte Steffi artig. »Soll ich Ihnen beim Packen helfen?« »Danke, das ist nicht nötig. Ich komme schon allein zurecht. Viel nehme ich nicht mit. Ich will ja keine gesellschaftlichen Veranstaltungen besuchen. Nur einfach ein wenig die Natur genießen und mich in die Sonne legen. Hoffentlich hält das gute Wetter an.« Mit Mühe würgte sie das Hörnchen hinunter und suchte ihr Ankleidezimmer auf, um ihr spontanes Vorhaben in die Tat umzusetzen. Simon hatte ihr nicht einmal ein paar Zeilen hinterlassen. Kein Wort der Entschuldigung. Keine Erklärung. War er wirklich nach London geflogen? Oder wartete seine Geliebte auf ihn? Aber nein. Wenn er sie in Waterford kennengelernt hatte, warum war er dann überhaupt für eine Nacht nach Dublin gekommen, um gleich wieder zurückzufahren?
Kessy wollte Gewißheit. Sie dachte nicht daran, sich an der Westküste dem Nichtstun hinzugeben. Sie würde nach Waterford fahren und dort Nachforschungen anstellen. Der Gedanke, daß sie ihrem Mann nachspionierte, beschämte sie. Doch ließ er ihr eine andere Wahl? Sollte sie warten, bis sie ihn endgültig an die andere verloren hatte? Er gab ihr ja keine Gelegenheit zu einer Aussprache. Da sie ihn liebte, war sie entschlossen, um diese Liebe zu kämpfen. Sie war eine Kilmore und hatte den Rat ihrer Großmutter nicht vergessen. Trotz ihrer Erregung schaffte sie es, ihren kleinen Reisekoffer zu packen. »Welche Adresse soll ich angeben, wenn der gnädige Herr anruft?« wollte Steffi wissen. Kessy lächelte. »Westküste, Hausnummer sieben.« Es sollte fröhlich klingen, aber der Ton mißriet völlig. »Ich habe wirklich keine Ahnung, wo ich bleibe. Irgendwo in Clare wahrscheinlich. Vielleicht nehme ich auch die Fähre zu den Aran Islands.« Er wird nicht anrufen, dachte sie unglücklich. Es wird ihn gar nicht interessieren, was ich in der Zwischenzeit treibe. Als sie in ihrem kleinen Austin Platz genommen hatte, kamen ihr Bedenken. Ließ ihre nervliche Verfassung überhaupt eine so weite Fahrt zu? Immerhin hatte sie rund hundert Meilen vor sich. Ging sie damit nicht ein beträchtliches Risiko ein? Sie war doch viel zu erregt. Vorsichtshalber blieb sie bis Arklow auf der weniger befahrenen Landstraße, bevor sie sich endlich auf die Schnellstraße wagte. Sie fühlte sich nun sicherer und sah keine Gefahr mehr für sich und andere durch ihr eventuell beeinträchtigtes Reaktionsvermögen. In Waterford angekommen, stellte sie den Wagen zunächst auf einen bewachten Parkplatz und fragte sich nach dem Verkehrsbüro durch. Hier ließ sie sich ein Zimmer in einer der
kleineren Pensionen nachweisen. Sie verzichtete absichtlich auf ein Hotel. Falls Simon Verdacht schöpfte, würde er in den Hotels am leichtesten erfragen, daß sie dort übernachtet hatte. Bevor sie das Zimmer, das sich unweit des Hafens befand, aufsuchte, ging sie in ein Restaurant. Bis auf das Hörnchen zum Frühstück hatte sie noch nichts gegessen. Auch das Dinner am Vortag hatte sie ausfallen lassen, nachdem ihr Simon die ganze Überraschung verdorben hatte. Deshalb war sie jetzt hungrig, wenn sie auch keinen übermäßigen Appetit verspürte. Sie suchte sich einen Platz in der Nähe eines der großen Fenster. Warum sie dies tat, obwohl sie sich viel lieber in die dunkelste Ecke verkrochen hätte, wußte sie nicht zu sagen. Glaubte sie plötzlich Simon vorbeigehen zu sehen? Damit war wirklich nicht zu rechnen. Sie bestellte ein Mineralwasser, bevor sie die Speisekarte aufschlug und das Angebot studierte. Schließlich entschied sie sich für ein kleines Lammkotelett mit Gemüse und wartete geduldig. Während der ganzen Fahrt hatte sie sich überlegt, wo sie mit ihren Nachforschungen beginnen sollte. Zwar steckten in ihrer Handtasche ein paar Fotos ihres Mannes, doch konnte sie unmöglich von Haus zu Haus gehen und sich nach Simon erkundigen. Am sichersten würde es sein, in den Apotheken und bei den Ärzten nachzufragen. Allerdings mußte das einen äußerst seltsamen Eindruck erwecken. Hatte Simon nicht etwas von einem Kongreß erwähnt? Jetzt bereute sie es, daß sie sich nicht intensiver dafür interessiert hatte. Sie hegte dennoch die Hoffnung, daß etwas über einen derartigen Kongreß in Erfahrung zu bringen sein mußte. Gleich nach dem Essen wollte sie ihr Glück versuchen.
Kessy Malone hob den Kopf. Sie fühlte sich beobachtet. Ihr Blick fiel auf einen dunkelhaarigen Mann, der auf der Straße neben einem Zeitungskiosk stand und sie ungeniert musterte. Als sie ihm das Gesicht, zuwandte, lächelte er und nickte ihr zu als hätten sie sich an diesem Ort verabredet. Eine senkrechte Unmutsfalte bildete sich auf Kessys Stirn. Die Tatsache, daß sie ohne Begleitung in einem Restaurant saß, berechtigte nicht zu der Schlußfolgerung, sie würde Anschluß suchen. Sie hob jetzt unwillig ihr Glas und setzte es an die Lippen. Jetzt erst merkte sie, daß es bereits leer war. Sie ärgerte sich. Hoffentlich hatte der Bursche dort draußen nichts davon gemerkt. Wo das Essen nur blieb? Ob sie den Tisch wechseln sollte? Der Fremde dachte gar nicht daran zu verschwinden. Doch. Endlich setzte er sich in Bewegung. Kessy atmete auf. Die forschenden Augen hatten Beunruhigung in ihr ausgelöst. Sie schienen direkt in ihr Innerstes zu blicken, und gerade das wollte sie im Moment keinem gestatten. Schon gar nicht einem Fremden. Nervös griff sie nach einer der Zeitschriften, die auf einer Ablage in ihrer unmittelbaren Nähe gestapelt waren. Sie blätterte darin, ohne den Inhalt bewußt aufzunehmen. »Einmal Lammkotelett, bitte!« meldete der Kellner, der mit dem Essen kam. Kessy schaute auf und blickte genau in die schwarzen Augen des Mannes vom Kiosk. Von ihr unbemerkt, hatte er am Nebentisch Platz genommen und grinste sie auf entwaffnende Unverschämtheit an. Kessy senkte den Blick. Er fiel auf den Ring an ihrer Hand. Mit spöttischer Miene hielt sie die Hand so, daß der
Unbekannte das Schmuckstück nicht übersehen konnte. Er mußte erkennen, daß sie verheiratet war. Tatsächlich schien ein Schatten über sein Gesicht zu huschen. Er gab seine Bestellung auf und ließ Kessy in Ruhe essen. Als sie später bezahlte und das Restaurant verließ, erhob er sich gleichfalls und holte sie an der Tür ein. »Sie besitzen einen wunderschönen Ring«, begann er schmunzelnd. »Doch gegen Sie verblaßt er.« »Was wollen Sie eigentlich von mir?« fragte Kessy, nachdem sie tief Luft geholt hatte. »Sie starren mich durchs Fenster an, folgen mir in dieses Lokal, bestellen ein Ragout und rühren es kaum an, und nun kommen Sie mir auch noch mit einem hohlen Kompliment.« »Was will ein Mann, wenn er eine Frau anspricht?« gab der Schwarzhaarige gleichmütig zurück. »Er möchte sie natürlich kennenlernen. Mein Name ist Staf York. Ich habe Sie dort am Fenster sitzen sehen und war sofort von Ihnen fasziniert. Wie darf ich Sie nennen?« »Überhaupt nicht. Sie dürfen mir die Tür öffnen und mich danach in Ruhe lassen.« Ihren ersten Wunsch erfüllte er. Damit glaubte er anscheinend, seiner Pflicht als Gentleman Genüge getan zu haben, denn er wich nicht von ihrer Seite. »Wie herrlich Ihre Augen funkeln, wenn Sie zornig sind«, fand er. Kessy lachte verächtlich auf. »Zornig? Sie werden mich nie zornig erleben, denn hier trennen sich unsere Wege, Mr. York. Es ist Ihnen wohl nicht entgangen, daß ich verheiratet bin. Glücklich verheiratet«, fügte sie fast trotzig hinzu. Staf York schien ein feines Gehör für Untertöne zu besitzen. »Tatsächlich glücklich?« zweifelte er. »Sie sind zwar atemberaubend schön, aber dafür eine miserable Lügnerin. Ich brauche Ihnen nur in die Augen zu schauen – ich habe
übrigens noch nie zuvor so ausdrucksstarke Augen gesehen – und ich weiß, daß Sie Kummer bedrückt.« »Wie recht Sie haben«, konterte Kessy. »Ich finde es betrüblich, daß man in dieser sonst recht netten Stadt auf Schritt und Tritt belästigt wird. Das ist mein einziger Kummer. Und nun lassen Sie mich bitte vorbei.« Sie schob ihn mit drei Fingern zur Seite und hastete davon. Dabei ärgerte sie sich, daß sie es nicht fertigbrachte, ihren Schritten ein gemäßigtes Tempo zu geben. Sie ging zu ihrem Wagen und fuhr zu der Pension. Das Zimmer erwies sich als einfach, aber ausreichend für ihre Zwecke. Kessy Malone machte sich frisch und erkundigte sich bei der Pensionswirtin nach dem Pharma-Kongreß, der kürzlich in Waterford stattgefunden hatte. Die Frau war überfragt. Also machte sich Kessy auf den Weg und erhielt in der nächsten Apotheke die gewünschte Auskunft. Mit der Veranstaltungsadresse ausgerüstet, setzte sie ihre Suche fort. Sie hatte Glück. Das Hotel, das seine Tagungsräume für diesen Zweck zur Verfügung gestellt hatte, verfügte über eine Teilnehmerliste, in die Kessy Einsicht nehmen durfte. Simons Name war angegeben. Zumindest hiermit hatte er sie nicht belogen. Sie entdeckte auch einen in Waterford ansässigen Teilnehmer und prägte sich dessen Anschrift ein. Mr. Bryan, den sie anschließend aufsuchte, war knapp über dreißig Jahre und musterte sie mit verlangendem Blick. Nachdem sie ihr Ansuchen vorgetragen hatte, wurde er merklich reservierter.
»Simon Malohe?« sagte er zögernd. »Ja, ich entsinne mich. Er hielt sich bei den Diskussionen meistens zurück und schien mit seinen Gedanken sehr beschäftigt zu sein.« »Könnte eine Frau die Ursache hierfür gewesen sein?« Der Mann lachte düster. »Die Frauen sind doch in aller Regel die Ursache für unser Grübeln. Er ist Ihr Mann, sagten Sie? Nun, wenn Sie sich von ihm betrogen glauben, sollten Sie ihm mit gleicher Münze heimzahlen. Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten?« Das war deutlich genug. Kessy errötete bis zu den Haarwurzeln vor Empörung. War sie denn Freiwild? Zuerst dieser York, und nun glaubte Bryan, sie trösten zu müssen. Sie lehnte kühl ab. »Sie würden mir mit Ihrer Auskunft wirklich sehr helfen«, versicherte sie. »Hat er vielleicht irgendeine Bemerkung gemacht? Einen Namen oder eine Adresse?« Der Mann öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schloß ihn aber sofort wieder wie ein Karpfen, der nach Luft geschnappt hatte, und setzte eine bedauernde Miene auf, in der blasierter Spott zu lesen war. Seine Antwort beschränkte sich auf ein Kopfschütteln. Er lügt! dachte Kessy wütend. Die Männer halten doch alle zusammen. Nach einigen weiteren vergeblichen Anläufen verabschiedete sie sich und war nun so klug wie zuvor, wenn sich auch ihr Verdacht erhärtet hatte. Nun blieben ihr nur noch die Apotheker und Ärzte, die zwar nicht an dem Kongreß teilgenommen hatten, mit denen Simon jedoch in geschäftlicher Verbindung stand. Kessy sträubte sich, diese Leute an ihren privaten Schwierigkeiten teilhaben zu lassen. Sie würde Simons Ansehen schaden. Noch besaß sie ja nicht den geringsten Beweis, daß er sie betrog. Alles war nur Vermutung.
Ziellos irrte sie durch die Stadt und hoffte auf den rettenden Einfall. Im Hafen schaute sie lange den Möwen zu, was ihr jedoch auch nicht weiterhalf. Sie fragte sich, wo Simon die Frau kennengelernt haben könnte. Die Antwort lag so deutlich auf der Hand, daß sie sich wunderte, nicht schon längst daran gedacht zu haben. Entweder hatte diese Person ebenfalls an der Tagung teilgenommen, oder sie war zumindest Gast des Hotels gewesen. Schweren Herzens entschloß sich Kessy, erneut um die Teilnehmerliste zu bitten. Diesmal würde sie sich für die weiblichen Namen interessieren. Sie fand das Ganze beschämend und würdelos. Wenn sie Simon nun Unrecht tat? Sie hätte sich auch niemals dazu bereitgefunden, ihm nachzuspionieren, hätte sie nicht die Angst gequält, ihn zu verlieren. Um das zu verhindern, mußte sie auch Demütigungen wie durch Mr. Bryan in Kauf nehmen. Bekümmert machte sie sich auf den Weg. Sie kam jedoch nicht weit, denn eine Männerstimme hielt sie zurück: »Hallo, Mrs. Malone! Laufen Sie doch nicht so schnell.« Kessy blieb stehen und drehte sich verwundert um. Wer kannte sie denn hier in Waterford? In der Nähe des Verladekrans stand Staf York und grinste sie frech an. »Sie schon wieder?« stieß Kessy hervor. »Wie deutlich muß ich eigentlich noch werden, damit Sie endlich begreifen, daß ich keine Lust verspüre, mich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Wetten, daß ich etwas für diese Lust tun kann?« Er kam bedächtig näher und strahlte sie aus seinen schwarzen Augen an. »Woher kennen Sie überhaupt meinen Namen?« wollte Kessy wissen. »Da Sie versäumten, ihn mir zu verraten, mußte ich mich an anderer Stelle danach erkundigen. Dort erfuhr ich auch den Grund Ihres Hierseins. Ich hatte mich also nicht getäuscht. So glücklich, wie Sie vorgegeben haben, scheint Ihre Ehe doch nicht zu sein. Müßten Sie sonst Ihren Mann suchen?« »Sie waren in der Pension«, erriet Kessy. »Tragen Sie es der Wirtin nicht nach«, bat Staf York treuherzig. »Ihr Name hat mich zehn Pfund gekostet, und für den Rest mußte ich noch einmal das Gleiche bezahlen. Das habe ich aber gern getan, wenn ich Ihnen dadurch helfen kann.« Kessy seufzte. »Also, was wollen Sie? Ich habe wenig Zeit.« »Zeit genug für einen Tee«, fand der Schwarzhaarige ungerührt. »Dabei erzähle ich Ihnen dann alles, was ich erfahren habe.« »Meinen Namen weiß ich selbst und alles andere, was Sie aus der Pensionswirtin herausgeholt haben, ebenfalls.« »Auch, wo Ihr Mann in den letzten Tagen aus und ein gegangen ist? Kennen Sie die Adresse? Wissen Sie, was das für ein Haus ist?« »Natürlich. Ein Hotel. Ich war selbst dort.« Staf York schmunzelte zufrieden. »Ich rede nicht vom Hotel und den Tagungen. Haben Sie eine Ahnung, womit er sich an den Abenden bis spät in die Nacht hinein die Zeit vertrieben hat?« Kessy wurde blaß, während sie widerwillig verneinte.
»Sehen Sie, das dachte ich mir. Aber ich weiß es, Mrs. Malone, und bei einer Tasse Tee bin ich bereit, es Ihnen zu verraten.«
Sie saßen sich gegenüber und schwiegen. Kessy war wütend, daß sie sich von diesem unmöglichen Menschen hatte überreden lassen. Staf York schien sein Versprechen vergessen zu haben. Der Tee dampfte in den Gläsern. Die Löffel klirrten leise dagegen, als draußen ein Schwertransporter vorbeipolterte. »Sie wollten mir etwas erzählen«, erinnerte Kessy nach einer Weile. Ihr Glas war bereits halb leer. »Viel lieber möchte ich Sie anschauen«, gestand der Mann, ohne zu zögern. »Wissen Sie, daß ich mir wünsche, Sie würden Ihren Mann nie mehr finden?« Kessy richtete sich steil auf. Sie war entrüstet. »Ich zahle meinen Tee selbst«, erklärte sie und zückte ihre Geldtasche. Staf York hielt ihre Hand fest. »Seien Sie doch nicht gleich gekränkt«, beschwor er sie. »Ist es ein Verbrechen, sich in eine Frau zu verlieben?« »Ja«, gab Kessy frostig zurück. »Nämlich, wenn sie verheiratet ist. Sie irren sich, wenn Sie glauben, ich suchte meinen Mann. Wenn es Sie interessiert, er hält sich momentan in London auf. Geschäftlich.« »Spielt er dort auch geschäftlich Billard?« Kessy seufzte. »Billard? Wie kommen Sie darauf? Ich habe Simon noch nie mit einem Queue in der Hand gesehen.« »Dann will er es offensichtlich lernen. Warum sonst wäre er wohl einem Club beigetreten.« »Sie meinen, er ist Mitglied eines Billard-Clubs geworden? Hier in Waterford?«
»In der Charles Road Nummer zwölf. Ich habe mir das Haus angesehen. Es macht einen gediegenen Eindruck.« Kessy steckte die Geldtasche wieder zurück. Zweifelnd musterte sie ihr Gegenüber. »Woher wollen sie das erfahren haben?« »Mr. Bryan war so freundlich. Sie waren doch ebenfalls bei ihm. Ihnen hat er aber nichts gesagt. Er verrät doch einen Kollegen nicht. Außerdem hatte ich den Eindruck, daß er ein bißchen sauer auf Sie ist. Was für ein Angebot hat er Ihnen unterbreitet?« Kessy überging diese Frage und meldete Zweifel an, daß Mr. Bryan ausgerechnet Staf York gegenüber sein Schweigen gebrochen haben sollte. Der Mann strahlte, als er verriet: »Ich habe behauptet, Sie zu meiner Geliebten machen zu wollen, dazu aber belastendes Material gegen Ihren Mann zu benötigen, damit Sie Ihre Bedenken über Bord werfen.« Kessy schnappte nach Luft. »Das ist ja wohl der Gipfel der Dreistigkeit.« »Aber es hat gewirkt. Bryan glaubt wohl, sich auf diese Weise für Ihre Zurückhaltung rächen zu können. Er hält sich jetzt für meinen Verschworenen. Mögen Sie noch einen Tee oder jetzt doch lieber etwas Stärkeres? Ich glaube, Sie können einen kräftigen Schluck vertragen.« Kessy schüttelte matt den Kopf. Sie fühlte sich scheußlich. Hatte sie die ganze Zeit eine falsche Spur verfolgt? Einem gelegentlichen Billard-Spiel war nichts Schändliches nachzusagen. Allerdings erklärte es nicht Simons beunruhigendes Benehmen. Konnte es vielleicht sein, daß in dem Club um Geld gespielt worden war? Um viel Geld? Simon, der vom Billard kaum Ahnung hatte, hatte dann natürlich verloren. Das könnte schon eher die Ursache für seine Gereiztheit sein.
Sie mußte sich Gewißheit verschaffen. An ein paar tausend Pfund sollte ihre Liebe zu Simon nicht scheitern. »Ich danke Ihnen für diese Auskunft«, sagte sie. »Sie dürfen mich aber nicht dafür verantwortlich machen, daß Sie Auslagen hatten und eine Menge Zeit vergeudet haben. Ich hatte Sie nicht darum gebeten.« »Das ist mir bekannt. Aber es sähe trübe in unserer Welt aus, wenn immer nur dann Hilfe geleistet würde, wenn darum ersucht wird. Ich besitze ein persönliches Interesse an Ihnen und mache keinen Hehl daraus. Ich bin ganz sicher, daß ich noch mehr für Sie tun kann.« »Es fällt mir schwer, unhöflich zu sein, Mr. York. Falls sich Ihre Information als richtig erweist, bin ich wirklich froh. Trotzdem bitte ich Sie nun eindringlich, sich Ihre eingebildeten Gefühle aus dem Kopf zu schlagen.« »Sie sitzen nicht im Kopf, sondern im Herzen«, meinte der Mann ruhig. »Daraus vermag ich sie nicht zu verbannen.« Kessy lachte amüsiert. »Sie reden Unsinn! Sie wissen, daß ich mich in festen Händen befinde. Ich bin seit annähernd sechs Jahren verheiratet, und nun kommen Sie und wollen sich darüber hinwegsetzen. Welchen Grund sollte ich haben, mir ihre schwülstigen Liebesbeteuerungen länger anzuhören?« »Sie sind nicht glücklich, Mrs. Malone. Ich lese in Ihren Augen. Der Billard-Club ließ Sie aufatmen, aber nach wie vor nagen Zweifel in Ihnen. Ihr Mann hat vor ihnen Geheimnisse. Sie kommen aus Dublin hierher. Wollen sie mir einreden, daß Sie Ihre Mission für erfüllt ansehen? Lassen Sie sich dabei helfen. Sie haben ja gesehen, daß in manchen Fällen ein Mann mehr erreicht.« Kessy blieb ablehnend. »Nein!« sagte sie heftig. »Für mich ist der Fall erledigt. Ich fahre nach Hause zurück. Unterstehen Sie sich nicht, eines
Tages in Dublin aufzukreuzen. Mein Mann ist kräftiger als Sie.« »Entscheidend ist doch, wer Sie mehr liebt, Kessy«, konterte Staf York, während er sie dreist beim Vornamen nannte. »Muskeln spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Ich gebe Ihnen meine Adresse und meine Telefonnummer. Seien Sie nicht zu stolz, mich anzurufen, falls Sie nicht mehr weiterwissen. Ich stelle keine Bedingungen. Ich bin für Sie da und werde geduldig sein.« »Den Weg nach Dublin finde ich auch ohne Ihre Hilfe«, gab die junge Frau kühl zurück und stand auf. Die Visitenkarte, die er ihr reichte, ignorierte sie. Doch dann sah sie das kämpferische Glitzern in seinen Augen und griff doch danach. Er sollte getrost in dem Glauben bleiben, sie würde sich im Bedarfsfall an ihn wenden. Sie traute ihm sonst zu, daß er ihr bis nach Dublin folgte und dort die Lage nur noch weiter komplizierte. Diesmal begleitete er sie nicht. Zum Schein eilte Kessy in die Richtung, in der sich ihre Pension befand. Als sie sich außer Sichtweite wußte, bog sie in eine Seitenstraße ab und erkundigte sich bei einem Passanten nach der Charles Road. Es war gar nicht weit. Sie konnte sie mühelos zu Fuß erreichen, was sie auch tat. Dabei vergewisserte sie sich noch von Zeit zu Zeit, daß ihr Staf York nicht folgte. Die Nummer zwölf war ein ehrwürdiger Bau mit ansehnlichen Mauern und hohen Fenstern. Über der zweiflügeligen Eingangstür aus geschnitztem Eichenholz bemerkte sie das Clubwappen: Zwei gekreuzte Billardstöcke, die von einem Ring elfenbeinfarbener Kugeln umgeben waren. Kessy Malone zögerte. Sollte sie einfach hineingehen und nach Simon Malone fragen? Damit würde sie ihn bloßstellen und der Lächerlichkeit preisgeben.
Ihr kam eine bessere Idee. Warum wurde sie nicht einfach selbst Mitglied? Sie konnte das unter einem falschen Namen tun, und niemand würde etwas merken. Zwar war sie weder der Theorie noch der Praxis dieses Spiels mächtig, doch darin unterschied sie sich kaum von Simon. Falls hier tatsächlich um Geld gespielt wurde, waren zweifellos gerade blutige Anfänger hochwillkommen. Wenn sie erst an einem der Tische stand, kam sie bestimmt rasch mit anderen Mitgliedern ins Gespräch und konnte mehr über Simon und eventuell sogar über die verlorene Summe in Erfahrung bringen. Nach nochmaligem Nachdenken fand sie ihren Plan durchführbar. Ja, sie sah darin sogar die einzige Möglichkeit, auf elegante Weise die Wahrheit zu erfahren. Entschlossen drehte sie den Türgriff, aber er gab nicht nach. Da sie vergeblich nach einem Klingelknopf suchte, klopfte sie erst zaghaft und, als darauf niemand reagierte, kräftiger. Sie fürchtete schon, daß der Clubbetrieb erst zu späterer Stunde begann, als sie endlich Schritte hörte. Ein Schlüssel wurde im Schloß gedreht. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Kessy sah in ein faltiges Männergesicht. Zwei blaßgraue Augen musterten sie durch dicke Brillengläser. Die Miene blieb mürrisch. Der Hagere gehörte offensichtlich zu einem Jahrgang, der sich durch eine aparte Frau nicht mehr aus der Ruhe bringen ließ. Sie schätzte ihn auf mindestens siebzig Jahre. »Was wollen Sie?« krächzte er ungnädig. »Mein Name ist Baker. Ich möchte gerne Ihrem Club beitreten. Allerdings spiele ich nicht überwältigend.« »Wie Sie spielen, ist uns egal, Madam, hier kommen Sie nicht rein.«
»Nicht? Aber warum denn nicht? Ich kenne keinen anderen Club und bin auch bereit, meinen Jahresbeitrag im voraus zu entrichten. Am Geld soll es wirklich nicht scheitern.« »Es scheitert an Ihnen. Sie sind eine Frau.« »Selbstverständlich bin ich eine Frau. Es ist Frauen meines Wissens in Irland nicht verboten, Billard zu spielen.« »Bei uns schon. Wir nehmen keine weiblichen Mitglieder auf. Sie bringen nur Unruhe in den Club.« »Wollen Sie damit sagen, daß bei Ihnen keine Frauen Zutritt haben?« fragte Kessy erstaunt und gleichzeitig erleichtert. »Sie haben mich völlig richtig verstanden, Mrs. Baker. Ich kann Ihnen nicht helfen. So sind nun einmal unsere Satzungen.« »Sie haben mir bereits geholfen«, versicherte Kessy und entfernte sich, während hinter ihr die Tür wieder verschlossen wurde. Die junge Frau atmete auf. Es ging also wohl doch nur um Geld und nicht, wie sie befürchtet hatte, um eine andere Frau. Hier im Club hatte Simon jedenfalls keine Gelegenheit gehabt, eine kennenzulernen. Wenn er aber den größten Teil seiner freien Zeit, ja, sogar die halben Nächte beim Billard verbracht hatte, konnte sie beruhigt sein. Jetzt blieb nur noch die Frage, wie hoch Simons Verluste waren. Darüber würde sie mit ihm sprechen müssen. Es gab nun keinen Grund mehr, noch länger in Waterford zu bleiben. Da sie sich aber erschöpft fühlte und in diesem Zustand nicht zurückfahren wollte, entschied sie sich, in der Pension zu übernachten und erst am kommenden Morgen abzureisen. Zum Schlafen war es noch zu früh. Kessy überlegte, auf welche Weise sie die Zeit totschlagen sollte.
War es nicht lächerlich, daß ihr ausgerechnet jetzt Staf York in den Sinn kam? Warum konnte man nicht unbefangen mit ihm plaudern? Warum mußte er unbedingt behaupten, sie zu lieben? Sie sah seine dunklen, forschenden Augen vor sich und atmete heftiger. In der Nähe des Clubhauses entdeckte sie ein Schuhgeschäft. In der Auslage standen ein paar entzückende Pumps, die ausgezeichnet zu ihrem nachtblauen Kostüm passen würden. Sie betrat das Geschäft und probierte die Schuhe an. Leider waren sie in ihrer Größe nicht vorrätig. Sie ließ sich noch einige ähnliche Modelle zeigen, resignierte aber schließlich und ging, ohne etwas gekauft zu haben. Zögernd wandte sie ihr Interesse einer benachbarten Boutique zu, in der italienische Stoffe in fröhlichen Farben angeboten wurden. Sie kam aber nicht mehr, dazu, den kleinen Laden zu betreten. Sie sah, wie sich die Tür zum Billard-Club öffnete und eine Frau auf die Straße trat. Eine Frau? Also hatte der knochige Halunke sie angelogen. Frauen waren doch zugelassen. Anscheinend mußte man nur den richtigen Trick kennen. Die Unbekannte wandte sich in ihre Richtung und ging nun an Kessy vorbei. Die Befürchtung, sie könne Unruhe in den Club tragen, war in ihrem Fall zweifellos angebracht. Kessy mußte neidlos anerkennen, daß die Fremde außerordentlich schön war. Sie besaß eine faszinierende, fremdländische Ausstrahlung. Trotz ihres europäischen Gesichtsschnittes wirkte sie wie eine geheimnisvolle Exotin. Dazu trug ihr glänzendschwarzes Haar bei, aber auch ihre feurigen, etwas schräg stehenden Augen und vor allem ihr raffiniertes Make-up.
Ihr Gang war von federnder Leichtigkeit, als schwebte eine duftende Wolke vorüber. Ja, der Duft, den die Schöne verströmte, verstärkte noch den Gesamteindruck. Der Duft war betörend und verfehlte auf die Männer ohne Frage nicht seine Wirkung. Auch nicht auf Simon? Mit einem Mal war die alte Angst wieder gegenwärtig. Wenn solche Frauen in dem Club verkehrten, bestand höchste Alarmstufe. Kessy Malone glaubte plötzlich nicht mehr an Spielschulden und beeilte sich, der Frau zu folgen. Bevor diese eine nachtschwarze Limousine bestieg, faßte sich Kessy ein Herz und sprach sie an. »Verzeihen Sie, bitte! Ich sah Sie aus dem Club kommen und habe eine Frage.« Die Fremde betrachtete Kessy aufmerksam und lächelte freundlich. »Wie kann ich Ihnen helfen?« »Ich bin mit meinem Mann verabredet. Während ich einkaufte, wollte er eine Stunde Billard spielen. Er müßte aber schon längst hier sein. Können Sie mir wohl sagen, ob er sich noch im Clubhaus aufhält?« Der Ausdruck des Erstaunens huschte über das Gesicht der Schönen. »Erlauben Sie mir die Frage, wie alt Ihr Mann ist?« »Fünfunddreißig. Er hat rötliches Haar und ziemlich viele Sommersprossen, die aber in seinem gebräunten Gesicht nicht stark auffallen. Sein Name ist Simon Malone.« Kessy beobachtete die Frau bei der Nennung dieses Namens genau, bemerkte aber kein Zusammenzucken oder auch nur die geringste Nervosität. »Ich fragte nur, weil ich im Club noch nie einen Mann unter siebzig zu Gesicht bekommen habe. Sind Sie sicher, daß Sie vor dem richtigen Haus gewartet haben?«
»Absolut sicher. Schauen Sie! Ich kann Ihnen ein Foto meines Mannes zeigen. Kommt er Ihnen nicht doch bekannt vor?« Die Unbekannte nahm das Bild, das Kessy ihr reichte, in die Hand und betrachtete es gewissenhaft, bevor sie es kopfschüttelnd zurückgab. »Tut mir leid, Mrs. Malone, aber ich kann Ihnen nichts anderes sagen.« Kessy blieb argwöhnisch. Sie fragte sich, was diese bildschöne, kaum vierzigjährige Frau zwischen lauter steinalten Männern machte. Und das in einem Club, in dem angeblich keine anderen Frauen zugelassen waren. Die Schwarzhaarige schien ihre Gedanken zu ahnen. Sie lachte ausgelassen. »Jetzt verstehe ich Sie, Sie halten mich für ein Clubmitglied, nicht wahr?« »Sind Sie das denn nicht?« »Aber nein. Meines Wissens haben dort Frauen gar keinen Zutritt. Wenn ich darüber nachdenke, ist mir auch noch keine begegnet, wenn ich einmal von den beiden Putzfrauen absehe.« »Und Sie?« »Ich arbeite als Innenarchitektin und habe den Auftrag, die Clubräume neu zu gestalten. Wenn es um zuverlässige und vor allem preiswürdige Arbeit geht, wird die Frau von diesen alten Knochen anscheinend akzeptiert.« Diese Erklärung leuchtete ein. Trotzdem wurde nun Kessys Wunsch erst recht übermächtig, sich diesen Billard-Club einmal aus der Nähe anzusehen. Was reizte Simon an einer Gesellschaft, in der jeder einzelne doppelt so alt war wie er selbst? Handelte es sich tatsächlich um lauter Schlitzohren, die ein unerfahrenes Opfer ausgenommen hatten? Oder gab es doch noch ein Geheimnis, über das keiner sprach? Aus Unkenntnis vielleicht. Oder aber in wissender Absicht. Ein
Geheimnis, dem sie Simons unselige Veränderung zu verdanken hatte. »Sie werden mich sicher für aufdringlich halten«, begann sie von neuem, »aber ich habe noch eine Bitte. Diesmal eine sehr ungewöhnliche.« Die andere Frau schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Sprechen Sie getrost. Ich sehe Ihnen doch an, daß Sie etwas auf dem Herzen haben. Wenn ich Ihnen helfen kann, tue ich das gerne.« »Danke. Sie sind sehr freundlich, Mrs…« »Jackson. Perdita Jackson. Sagen Sie doch einfach Perdita zu mir. Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir schon bald Verbündete sein werden.« »Sie nehmen mir eine Last von der Seele, Perdita«, entgegnete Kessy seufzend und nannte ebenfalls ihren Vornamen. Dann berichtete sie, worum es ihr in Wahrheit ging. »Sie Ärmste«, sagte Perdita Jackson mitfühlend. »Ich kann Sie so gut verstehen. Manche Menschen verspielen Haus und Hof. Hoffen wir, daß es im Falle Ihres Mannes nicht gar so schlimm ist.« »Ich muß erfahren, um welche Einsätze es für gewöhnlich geht. Ich fürchte, mein Mann wird sich mir aus Scham nicht erklären, obwohl ich ihm selbstverständlich helfen würde. Ich möchte keinesfalls, daß er versucht, durch erhoffte Gewinne in weiterem Spiel seine Schulden zu begleichen.« »Das wäre furchtbar«, bestätigte Perdita Jackson. »Damit machte er alles nur noch schlimmer. Ich verstehe allerdings noch immer nicht, was ich für Sie tun kann, Kessy.« »Ganz einfach. Schleusen Sie mich in den Club ein. Als Ihre Mitarbeiterin zum Beispiel.« Die Frau schmunzelte anerkennend. »Meine Hochachtung! Keine schlechte Idee. Lassen Sie mich überlegen. Ja, das
könnte gehen. Ich habe versprochen, am Montag verschiedene Entwürfe vorzulegen und auch Polsterstoffe mitzubringen. Bei dieser Gelegenheit kann ich Sie ohne Schwierigkeiten in den Club bringen. Was Sie daraus machen, liegt dann allerdings an Ihnen. Ich werde mich kaum um Sie kümmern können.« »Das ist auch nicht nötig, Perdita. Wenn ich erst einmal drinnen bin, weiß ich schon, was ich zu tun habe. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Ein Glück, daß ich ausgerechnet Sie getroffen habe.« »Nicht der Rede wert, Kessy. Wir Frauen müssen schließlich zusammenhalten. Die Männer tun es ja auch. Es bleibt also bei Montag?« Kessy nickte eifrig, obwohl sie noch nicht wußte, welche Ausrede sie diesmal erfinden würde, um ihre Abwesenheit von Dublin zu begründen. Wahrscheinlich konnte sie aber noch am gleichen Tag zurückfahren. Eine Sitzung beim Friseur mit anschließendem Einkaufsbummel erforderte fast die gleiche Zeit. »Ich schlage vor, daß wir uns dort drüben in dem kleinen Cafe treffen«, fuhr Perdita Jackson listig fort und deutete auf das Lokal, in dem gerade die Leuchtreklame eingeschaltet wurde. »Paßt Ihnen zwei Uhr nachmittags?« »Geht es nicht etwas früher?« Kessy dachte an die Rückfahrt. »Dann also eins. Falls Sie nicht erscheinen, gehe ich davon aus, daß Sie Ihr kleines Problem auf andere Weise lösen konnten. Ich wünsche es Ihnen, Kessy.« Die Frauen trennten sich. Kessy eilte zur Pension. Ihr standen noch einige Tage der Ungewißheit bevor, doch war sie zuversichtlich, daß sie mit Perditas Hilfe die Situation meistern würde.
Als sie in der Pension eintraf, rechnete sie damit, daß Staf York dort auf sie wartete. Dies traf jedoch nicht zu, und sie wußte nicht recht, ob sie darüber erleichtert sein sollte. Fast wünschte sie, dieser Mann würde ihr bestätigen, daß sie im Begriff stand, das Richtige zu tun. Sie verbrachte eine leidliche Nacht, in der sie von Simon träumte, der ihr den Verlust von dreitausend Pfund gestand und sie anschließend in die Arme nahm. Als sie aufwachte, schien die Sonne. Draußen und in ihrem Herzen. Sie fuhr erst gegen elf Uhr nach Dublin zurück, denn sie sagte sich, daß ihr niemand ihren Aufenthalt an der Westküste abnahm, falls sie zu zeitig zu Hause eintraf. Steffi zeigte sich erstaunt und sichtlich enttäuscht, daß sie schon wieder da war. Offensichtlich hatte sie sich ein paar schöne Tage mit ihrem Freund machen wollen. »Der gnädige Herr hat nicht angerufen«, meldete sie unaufgefordert. Es hörte sich triumphierend an. Oder war Kessy nur besonders empfindlich geworden? Nicht angerufen? Sonst meldete er sich stets nach einem Flug bei seiner Ankunft. Er wußte, daß sie sich sorgte. Diesmal hatte er es vergessen oder eine andere beruhigt. Zum Teufel! Wieso meldete sich schon wieder die unselige Eifersucht? Wußte sie nicht inzwischen, daß hierfür kein Grund bestand? Auf der Treppe kam ihr Napoleon entgegen. Er zeigte unverhohlene Freude über ihr Erscheinen. Das versöhnte sie aber nur zum Teil, denn Napoleon war ihr Kater. Er rieb sein schneeweißes Fell an ihren Beinen und wartete darauf, daß sie ihn kraulte. Die junge Frau beugte sich herab und tat ihm den Gefallen. »Du bist ja doch am treuesten«, sagte sie. »Du enttäuschst mich nie.«
Napoleon zeigte sich seines Wertes bewußt. Mit steil aufgestelltem Schwanz marschierte er davon. Stolz wie ein echter Kilmore. Als am frühen Nachmittag das Telefon läutete, meldete Steffi den gnädigen Herrn. Sie machte dabei ein merkwürdiges Gesicht, als sei sie erstaunt über diesen Anruf. Kessy riß ihr den Hörer förmlich aus der Hand. »Endlich!« rief sie erleichtert. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht, weil du dich gar nicht gemeldet hast. Ist alles in Ordnung?« . »Nicht ganz«, bekam sie zur Antwort. »Ich wäre jetzt lieber in Dublin, denn ich sterbe fast vor Sehnsucht.« Kessy wußte plötzlich Steffis eigenartigen Blick zu deuten. »Simon?« fragte sie zweifelnd. Das war nicht die Stimme ihres Mannes. »Dachte ich mir’s doch, daß er noch immer verschwunden ist. Ehrlich gesagt, ich hatte nicht damit gerechnet, daß Sie wirklich nach Hause fahren würden.« Kessy schloß sekundenlang die Augen. Eine tiefe Unruhe ergriff sie. Mit stummem Blick befahl sie Steffi, sich zu entfernen. Erst als sich die Tür hinter der Fünfundzwanzigjährigen geschlossen hatte und ihre Schritte über die Diele knarrten, setzte sie das Gespräch fort. »Sie bringen mich in eine unmögliche Situation, Mr. York. Wenn mein Mann nun zu Hause gewesen wäre?« »Das hielt ich für unwahrscheinlich«, verteidigte sich der Anrufer. »Zudem behaupteten Sie selbst, er sei für ein paar Tage nach London geflogen. Ich hoffe, daß ich Ihre Angestellte leidlich täuschen konnte.« »Nein. Steffi hat etwas gemerkt. Sie kennt die Stimme meines Mannes genau. Sie wird die abenteuerlichsten Dinge vermuten. Ich bin gezwungen, ihr die Wahrheit zu sagen.«
»Was ist die Wahrheit, Kessy? Daß Sie nicht mehr ruhig schlafen können, seit wir uns begegnet sind? Daß sich ständig mein Bild über das Ihres Mannes schiebt, sooft Sie an ihn denken?« »Ihre Phantasie geht mit Ihnen durch, Mr. York. Und nennen Sie mich gefälligst nicht Kessy. Woher haben Sie überhaupt meine Telefonnummer? Und aus welchem Grund rufen Sie an?« »Sehr viele Fragen auf einmal«, antwortete der Mann vergnügt. »Freut mich, daß Sie ein so starkes Interesse an mir zeigen.« »Bilden Sie sich nur nichts ein. Ich war heilfroh, daß ich Sie in Waterford endlich abgeschüttelt hatte. Ich verbiete Ihnen, noch einmal hier anzurufen.« »Ich liebe Sie, Kessy. Das können Sie mir zwar verbieten, aber zu ändern vermögen Sie es nicht. Nichts ist leichter auf der Welt, als eine Telefonnummer in Erfahrung zu bringen. Ich kenne übrigens auch Ihre Adresse. Wenn Sie nicht wollen, daß ich eines Tages mit einem Rosenstrauß vor Ihrer Tür stehe, müssen Sie mir sagen, daß Sie auch ein wenig für mich empfinden.« Kessy spürte Zorn über den unverschämten, aufdringlichen Kerl in sich hochsteigen. »Das will ich Ihnen gerne bestätigen«, entgegnete sie abweisend. »Ich empfinde Langeweile und Widerwillen, wenn mir Ihr Name in den Sinn kommt. Ich hielt Sie vorübergehend für einen Menschen, den man sich vielleicht als Freund wünschen könnte. Aber Sie verfolgen nur Ihre egoistischen Ziele und kümmern sich nicht im geringsten um die Gefühle anderer. Lassen Sie mich endlich in Ruhe!« Der Mann am anderen Ende der Leitung ließ sich durch die deutliche Abfuhr nicht beirren. »Kennen Sie das alte, irische Sprichwort Steter Tropfen ist aller Liebe Anfang? So schnell
gebe ich nicht auf. Ja, wenn ich nur ein flüchtiges Abenteuer suchte, könnte mich Ihre Kälte vielleicht abschrecken. Liebe aber schreibt ihre eigenen Gesetze.« »Ein wahres Wort, Mr. York. Ich liebe meinen Mann.« »Aber er verletzt Sie. Warum wollen Sie es leugnen? Ihre hoffnungsvolle Stimme, als Sie ihn am Apparat glaubten, hat Sie verraten. Ihr Simon hat sich von Ihnen entfernt und lebt jetzt sein eigenes Leben, in dem Sie keinen Platz mehr haben. Begreifen Sie das doch!« »Nein!« schrie Kessy förmlich in den Hörer. »Das ist nicht wahr. Und wenn alles so wäre, wie Sie sagten, so würde ich um ihn kämpfen, bis ich ihn zurückerobert hätte. Aber Sie täuschen sich. Ich weiß inzwischen, daß es für sein Verhalten eine harmlose Erklärung gibt.« »Welche?« »Er hat…« Kessy unterbrach sich. Aus welchem Grund sollte sie Staf York ins Vertrauen ziehen? Dazu bestand kein Anlaß. Er mußte endlich einsehen, daß sie den Kontakt zu ihm nicht aufrecht zu erhalten wünschte. »Rufen Sie nicht mehr an«, verlangte sie mit Nachdruck, bevor sie den Hörer auflegte. Sie benötigte Minuten, ehe ihre Erregung einigermaßen abflaute. Sie hoffte, deutlich genug gewesen zu sein. Es verlangte sie nach frischer Luft. Deshalb ging sie in den Garten. Unterwegs traf sie Steffi. Täuschte sie sich, oder lag ein wissendes Lächeln auf den Lippen der um zwei Jahre Jüngeren? Sie war ihrer Angestellten keine Rechenschaft schuldig. Trotzdem hielt Kessy es für richtig, von Anfang an den Vermutungen und Gerüchten die Nahrung zu entziehen. »Da hat sich ein Witzbold einen Spaß erlaubt«, sagte sie. »Das war nicht mein Mann. Mr. Gorky wollte uns für heute abend zum Dinner einladen. Ich mußte leider absagen.«
Der Spott auf Steffis Lippen schien sich eher zu verstärken, als sie versicherte: »Es kam mir gleich so vor, als hätte ich Mr. Gorkys Stimme erkannt. Ich habe die gestrige Zeitung übrigens in die Bibliothek gelegt. Soll ich sie Ihnen in den Garten bringen?« »Ja, tu das bitte«, erklärte die Hausherrin einverstanden und ging an ihrer Angestellten vorbei. Kessy Malone benutzte den Nebenausgang, der direkt in den weiträumigen Garten führte. Vor der Tür stolperte sie über Napoleon, der ihr vor die Beine lief. Sie bückte sich zu ihm hinab und hob ihn auf. Der Kater schnurrte zufrieden, als sie mit ihm zum Pavillon ging und sich dort niederließ. Er wußte, daß sie ihn nun kraulen würde. Steffi brachte die Zeitung. Offenbar hatte sie selbst schon darin gelesen, denn sie war anders gefaltet als sonst. Kessys Blick fiel auf eine Schlagzeile der Lokalnachrichten. Dort hieß es, daß Jonathan F. Gorky, Amtsrichter in Dublin, tags zuvor beim Polo vom Pferd gestürzt sei und sich zwei Nackenwirbel verstaucht habe. Sein Zustand wurde als besorgniserregend bezeichnet. Kessy ließ die Zeitung sinken und sah Steffi nach, die im Haus verschwand. »Sie hat es gewußt«, flüsterte sie verstört. »Sie hat Jonathans Einladung zum Essen sofort als Lüge entlarvt und macht sich nun völlig falsche Gedanken.« Sie ärgerte sich, gelogen zu haben, sagte sich aber, daß weitere Erklärungsversuche alles – nur noch verschlimmern würden. Kessy blieb volle zwei Stunden im Garten, während denen Napoleon nicht von ihrer Seite wich. Sie schaute Ben, dem alten Gärtner zu, der seine Arbeit langsam, aber mit viel Liebe
verrichtete. Ben zeigte sich dankbar, daß er seinen Platz nicht für einen Jüngeren räumen mußte. Als es kühl wurde, kehrte die junge Frau ins Haus zurück, wobei Napoleon neben ihr herlief. Da sie zeitig zu Bett gehen, dort aber noch ein wenig lesen wollte, suchte Kessy die Bibliothek auf, um sich ein Buch zu holen. Sie stutzte. Irgend etwas kam ihr verändert vor. Sie konnte aber nicht auf Anhieb sagen, was es war. Nachdenklich trat sie an die raumhohen Regale, legte ihren Kopf auf die Seite und begann, die Titel zu studieren. Sie vermochte sich nicht zu konzentrieren. Was stimmte hier nicht? Suchend glitt ihr Blick durch den Raum und blieb endlich an der kleinen Marmorsäule hängen, die sich zwischen den beiden Fenstern erhob. Eine Schale aus getriebenem Silber stand darauf. Sie war mit Obst gefüllt. Jetzt wußte sie die Lösung. Die Schale gehört nicht in die Bibliothek. Ohne sich für ein Buch entschieden zu haben, verließ sie den Raum und eilte in die Küche, in der Steffi das Dinner zubereitete. »Hast du eine Ahnung, was mit dem Jupiter geschehen ist?« fragte sie möglichst gleichgültig. Steffi bedeckte eine Pfanne mit einem Deckel und schob einen großen Topf zur Seite. »Der Jupiter aus der Bibliothek?« vergewisserte sie sich. »Den meine ich. Er stand, seit ich denken kann, auf der Säule. Jetzt nimmt eine Obstschale seinen Platz ein. Ich wünsche, daß der alte Zustand wieder hergestellt wird.« Steffi hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, wer die Figur fortgenommen hat«, beteuerte sie. »Ich stellte lediglich die Schale hin, weil der Platz so leer wirkte. Ich dachte, daß
Sie sie vielleicht mitgenommen hätten, als Sie gestern fortfuhren.« »Was hätte ich am Meer mit Jupiter anfangen sollen? Es wäre mir nicht einmal in den Sinn gekommen, Poseidon als Reisebegleiter zu wählen.« »Deshalb wunderte ich mich ja auch, Madam.« »Hast du Chris gefragt?« Chris kam jeden Tag ins Haus, um zu putzen und sich um die Wäsche zu kümmern. Sie wohnte nicht hier, sondern bei ihrer Familie. Sie war fünfzig Jahre alt und stand erst seit acht Monaten bei den Malones in Diensten. Bis zu diesem Tag hatte Kessy keinen Anlaß gefunden, an ihrer Ehrlichkeit zu zweifeln. Da die Marmorskulptur des römischen Gottes einen beträchtlichen Wert darstellte, konnte sie aber ihr Verschwinden nicht auf sich beruhen lassen. »Nein«, gestand Steffi. »Verdächtigen Sie sie, Jupiter gestohlen zu haben?« »Um Himmels willen, nein«, beteuerte Kessy. »Aber vielleicht hat sie ihn beim Putzen von der Säule gestoßen, und er ist zerbrochen.« »Dann hätte sie das melden müssen.« »Gewiß, aber ich war ja nicht hier und mein Mann ebenfalls nicht.« Steffi stemmte ihre Fäuste gegen die Hüften. »Das muß aufgeklärt werden«, verlangte sie energisch. »Womöglich bleibt noch ein Verdacht an mir hängen.« Ihr Blick war aufrührerisch, als wollte sie zum Ausdruck bringen, daß sie stets der Wahrheit den Vorzug gab und nicht, wie andere Leute, von der Einladung durch einen Mann sprach, der in Wirklichkeit in einer Gipsschale lag. Beim Dinner zeigte Kessy wiederum keinen übermäßigen Appetit. Napoleon konnte sich freuen, denn das meiste blieb für ihn übrig.
Vor dem Einschlafen gingen ihr noch tausenderlei Gedanken durch den Kopf, und selbst im Traum erschienen ihr Steffis spöttisches Gesicht und eine Jupiterfigur, die unverkennbare Ähnlichkeit mit Staf York aufwies.
Am nächsten Tag rief sie gleich nach deren Erscheinen Chris zu sich und erkundigte sich nach der Marmorskulptur aus der Bibliothek. Die Frau rückte ihre Brille zurecht und schüttelte den Kopf. »Ist sie nicht mehr da? Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Da bin ich aber froh. Ich hatte sowieso immer Angst, sie einmal von der Säule zu stoßen.« »Und Sie wissen genau, daß Sie das nicht getan haben, Chris?« forschte Kessy ernst. »Sie können das getrost zugeben. Ich werde Ihnen den Schaden nicht vorn Lohn abziehen. Solche Dinge passieren eben.« Chris lief rot an und wurde danach kreidebleich. »Ich habe nichts damit zu tun«, beteuerte sie weinerlich. »Wenn bei mir etwas zu Bruch geht, gebe ich es auch zu.« »Schon gut«, lenkte die Hausherrin ein. »Können Sie sich wenigstens erinnern, wann Sie die Figur zuletzt gesehen haben?« »Am Mittwoch habe ich in der Bibliothek geputzt. Da stand sie noch dort. Das kann ich beschwören. Bin ich jetzt entlassen, Madam?« »Aber ich bitte Sie, Chris! Niemand denkt daran, Ihnen zu kündigen. Es war ja nur eine Frage.« Doch vorläufig hatte sie auf diese Frage keine einleuchtende Antwort erhalten. Wenn weder Steffi noch Chris etwas mit Jupiters Verschwinden zu tun hatten, wer sollte sonst dafür verantwortlich sein?
Mit Gewißheit konnte sie es nicht sagen, aber sie schätzte den Wert der Statuette auf mindestens zehntausend Pfund. Es handelte sich um eine bemerkenswerte Arbeit. Lady Patricia hatte die Figur sehr geliebt. Kessy ging nach dem Frühstück in die Bibliothek und untersuchte gewissenhaft den Teppich im Umkreis der Säule. Wenn Jupiter zu Bruch gegangen war, würde sich möglicherweise noch ein winziger Marmorsplitter finden, den der Schuldige übersehen hatte. Trotz eifrigster Bemühungen entdeckte sie jedoch nichts. Der Flor war auch nicht beschädigt, was beim Aufprall einer so gewichtigen Figur zu erwarten gewesen wäre. Also doch gestohlen? überlegte Kessy. Falls Chris sich nicht irrte oder gar wissentlich die Unwahrheit sagte, kam nur ein einziger Tag für das Verschwinden in Frage. Und an diesem Tag hatte sie selbst das Haus in aller Frühe verlassen. Flüchtig erwog sie, ob vielleicht doch Steffi ihre Abwesenheit dazu benutzt hatte, das wertvolle Stück aus dem Haus zu schaffen. Ihr Freund kannte möglicherweise einen Abnehmer für Antiquitäten, deren Herkunft unbekannt bleiben sollte. Gleich darauf schämte sie sich dieses Verdachts. Steffi genoß ihr Vertrauen. Die Tatsache, von der Köchin bei einer Lüge ertappt worden zu sein, durfte sie nicht zu einer Ungerechtigkeit verleiten. Es blieb ja immer noch die Möglichkeit, daß Simon… Kessy stockte. Sie entsann sich, wie ihr Mann nach ihrer kleinen Auseinandersetzung noch einmal fortgefahren war. Hatte er nicht etwas im Kofferraum verstaut? Es war in seine Jacke gewickelt gewesen und konnte sich durchaus um die Marmorfigur gehandelt haben.
Simon hatte zwar noch nie etwas eigenmächtig vom Inventar des Hauses entfernt, ohne dies vorher mit ihr zu besprechen, doch war er wohl in der Vergangenheit auch nicht durch Spielschulden zu einer derartigen Maßnahme gezwungen worden. Wenn dies zutraf, mußte er das Geld sehr rasch benötigt haben. Wahrscheinlich war er noch in der gleichen Nacht nach Waterford zurückgefahren. Sie nahm sich vor, aus diesem Vorgehen keine Staatsaffäre zu machen. Für Kessy war nur wichtig, daß sich Simon wieder ihrer Liebe bewußt wurde und vertrauensvoll zu ihr zurückfand.
Simons Wagen fuhr erst am folgenden Tag vor. Kessy Malone eilte zur Begrüßung vors Haus. »Du siehst abgespannt aus«, empfing sie ihren Mann und hielt diesen Ausdruck noch für stark untertrieben, denn die eingefallenen Wangen und die tiefliegenden Augen von Simon erschreckten sie. War er krank? Simon sah sie wütend an. »Ich weiß selbst, daß es schönere Männer als mich gibt«, entgegnete er. »Warum suchst du dir nicht einen? Oder hast du ihn etwa schon gefunden?« Unwillkürlich zuckte Kessy zusammen. Sie sah Steffi aus dem Haus kommen, um das Gepäck entgegenzunehmen. Die Angestellte mußte den Vorwurf gehört haben. Zweifellos dachte sie jetzt an den mysteriösen Anrufer. »Warum bist du nur so gereizt?« fragte Kessy. »Ich mache mir doch nur deinetwegen Sorgen. Du arbeitest zuviel. Hoffentlich bleibst du jetzt ein paar Tage zu Hause. Dann machen wir es uns gemütlich, und ich werde dich verwöhnen.« Sie dachte zwar daran, daß dies ihre Pläne für Waterford durchkreuzen würde. Sie konnte Dublin nur verlassen, wenn
auch Simon, wie üblich, unterwegs war. Gleichzeitig aber hoffte sie, daß sich ihr Besuch im Billard Club erübrigte, sobald sie sich mit Simon ausgesprochen und alle bestehenden Mißverständnisse aus der Welt geschafft hatte. »Diese fürsorgenden Töne hören sich aber verdächtig nach einem schlechten Gewissen an«, fand der Mann abweisend und drückte Steffi seinen Musterkoffer in die Hand. Mehr Gepäck hatte er nicht. »Soll ich Steffi fragen, was sich hier während meiner Abwesenheit abgespielt hat?« »Aber Simon!« entrüstete sich Kessy. Wie konnte er sie nur so vor den Angestellten beleidigen? »Die gnädige Frau war die ganze Zeit zu Hause«, erklärte Steffi unaufgefordert und warf Kessy einen demütigenden Blick zu. »Es kamen keine Anrufe und keine private Post.« »Du kannst gehen, Steffi«, befahl Kessy ungewöhnlich scharf. Sie war außer sich. Steffi fühlte sich bemüßigt, ihr ein Alibi zu verschaffen. Sie sagte bewußt die Unwahrheit. Demnach hielt sie sie für schuldig. Wahrscheinlich erwartete sie dafür sogar noch Anerkennung oder gar eine finanzielle Zuwendung. Nachdem sich Steffi entfernt hatte, richtete Kessy erneut das Wort an ihren Mann: »Wieviel hast du für den Jupiter bekommen?« Simons Kopf ruckte herum. Sein Blick wirkte fremd und gefühllos. »Wovon redest du?« fragte er unwillig. »Von der Marmorfigur aus der Bibliothek. Ich weiß, daß du sie verkauft hast.« »Bist du verrückt?« brauste er auf. »Ich vergreife mich doch nicht an Dingen, die mir nicht gehören. Du hast dieses Haus mit allem, was sich darin befindet, von deiner Großmutter geerbt. Sie konnte mich nicht ausstehen, und jetzt scheinst du ihr darin nacheifern zu wollen.«
»Das – das ist nicht wahr, Simon«, beteuerte Kessy mit bebender Stimme. »Ich liebe dich weit mehr, als ich jemals einen anderen Menschen geliebt habe. Ich möchte, daß wir wieder zusammen glücklich sind, aber du hast dich so sehr verändert. Warum läßt du dir nicht helfen? Ich bin doch deine Frau. Habe ich kein Recht zu erfahren, was dich quält?« »Du sprichst nur von deinen Rechten«, nörgelte Simon und drängte sich an ihr vorbei. »Du brauchst mich nicht ständig daran zu erinnern, daß du das Vermögen in unsere Ehe eingebracht hast. Aber du hast mich nicht gekauft, verstehst du? Deine Bevormundung wird langsam unerträglich.« »Aber…« Kessy sprach nicht weiter. Es war sinnlos, denn Simon eilte bereits die Stufen zum Eingang empor und verschwand im nächsten Augenblick im Haus. Sie begriff das alles nicht. Das war doch nicht mehr der Mann, den sie liebte. Wenn sie es nicht besser wüßte, müßte sie Simon für einen völlig Fremden halten. Nichts war mehr von seinem Charme zu spüren. Seine Zärtlichkeit war wie fortgewischt. Er kehrte ein Wesen heraus, das sie abstieß und ihr Angst einflößte. Ließ sich diese abrupte Veränderung eines einst liebevollen Menschen nur durch finanzielle Schwierigkeiten erklären? Kessy war fast sicher, daß er die Statuette aus dem Haus geschafft hatte. Konnte sie noch mehr Verständnis zeigen, als sie getan hatte, um ihn zur Wahrheit zu bewegen? Traurig ging auch sie ins Haus. Wie sehr hatte sie sich auf das Wiedersehen mit Simon gefreut, doch es stand etwas zwischen ihnen, von dem sie nicht wußte, was es war. War doch eine andere Frau in sein Leben getreten? Aber dagegen sprach alles, was sie in Waterford erfahren hatte. In der Küche klapperte Steffi mit den Töpfen. Kessy änderte ihre Richtung. Sie wollte ein für allemal Klarheit schaffen. Steffi durfte nicht auf dem Irrglauben
beharren, sich durch die bewußten Lügen ihre Herrin verpflichtet zu haben. Die Köchin blickte ihr erwartungsvoll entgegen. Wahrscheinlich rechnete sie mit einem Dank. »Was hast du dir dabei gedacht, Steffi«, begann Kessy mit unüberhörbarem Zorn. »Ich sehe keinen Grund, meinem Mann meinen kleinen Ausflug zu verschweigen.« »Wirklich nicht, Madam?« tat Steffi unschuldsvoll. »Dann muß ich Ihre beschwörenden Blicke falsch verstanden haben.« »Was soll das heißen? Beschwörenden Blicke. Unterstellst du mir gar, ich hätte dich zu dieser Lüge ermuntert?« »Manchmal ist es eben klüger, erst gar kein Mißtrauen zu nähren. Männer können ja so eifersüchtig sein. Mein Harry zum Beispiel…« »Was geht mich dein Harry an?« unterbrach die Hausherrin sie wütend. »Vielleicht hast du es gut gemeint, aber laß dir gesagt sein, daß ich auf deine Komplizenschaft verzichten kann. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.« »Gewiß nicht, Madam«, sagte Steffi bescheiden. »Ich kann sogar beschwören, daß Ihnen der Anruf sichtlich ungelegen kam. Wie kann Mr. Gorky Sie auch zum Dinner bitten, da er doch einsehen müßte, daß Ihnen die Gesellschaft eines Bettlägrigen nicht zuzumuten ist.« »Du wirst unverschämt«, empörte sich Kessy. »Ich warne dich. Bisher hatten wir stets ein gutes Verhältnis zueinander. Aber vergiß nicht, daß du bei mir nur angestellt bist.« »Bei Ihnen und dem gnädigen Herrn, Madam«, entgegnete Steffi. »Wie könnte ich das vergessen? Ich bitte um Verzeihung, wenn ich etwas Ungehöriges sagte. Es tut mir leid.« Dem Tonfall war anzuhören, daß es ihr keineswegs leid tat. Kessy begriff, daß sie sich eine unversöhnliche Feindin geschaffen hatte.
Wie recht sie mit dieser Befürchtung hatte, zeigte sich bereits beim Dinner. Simon hatte sich bis zum Essen in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Später sah ihn Kessy mit Steffi sprechen. Sie ahnte Böses. »Wie heißt der Schuft?« begann er zusammenhanglos während der Suppe. Kessy legte den Löffel beiseite und sah ihren Mann offen an. »Ich weiß nicht, was Steffi dir gegenüber für Vermutungen geäußert hat. Auf jeden Fall irrt sie sich.« »Du hast dich also nicht fast zwei volle Tage während meiner Abwesenheit herumgetrieben?« fragte Simon gehässig. »Und du hast auch keine Anrufe deines Liebhabers empfangen?« »Wie kannst du so etwas sagen?« Kessy glaubte, vor Scham und Bestürzung im Erdboden versinken zu müssen. »Es ist richtig, daß ich nach Kilkee gefahren bin, weil ich es in diesem Haus nicht mehr aushielt. Du warst so verändert, so verletzend und bist ohne Abschied fortgefahren. In Kilkee blieb ich aber nur eine einzige Nacht. Ich spürte plötzlich unbändige Sehnsucht nach Dublin und vor allem nach dir.« »Wie rührend!« höhnte Simon. »Und der Anruf? Du hast behauptet, es sei Jonathan gewesen. Doch das war eine glatte Lüge. Niemand sagt die Unwahrheit, der nicht etwas zu verbergen hat.« »Nein, es war nicht Jonathan, sondern ein Mann, dessen Namen ich nicht einmal kenne. Er sprach mich am Strand an, aber ich sagte ihm, daß ich verheiratet sei und er mich in Ruhe lassen solle.« »Daraufhin gabst du ihm deine Telefonnummer. Das ist alles sehr einleuchtend. Du mußt mich für einen Narren halten. Und die Statue hast du zweifellos selbst aus dem Haus geschafft. Der Grund liegt auf der Hand. Du wolltest sie deinem
Liebhaber zum Geschenk machen. Einen nackten Jupiter. Sehr beziehungsvoll.« Die junge Frau sprang auf. Das Rotweinglas kippte um. Der Fleck, der sich auf dem Tischtuch ausbreitete, sah wie Blut aus. Kein Wunder! Ihr Herz blutete. Sie hätte vor Seelenpein schreien mögen. Völlig hilflos stand sie dieser Situation gegenüber. Sie sehnte sich nach der gewohnten Liebe dieses Mannes und wurde nur kalt zurückgestoßen. Ohne ersichtlichen Grund. Zwei Wochen in Waterford hatten diese unerklärliche Wandlung bewirkt. Das konnte nicht nur an ein paar Spielschulden liegen. Dahinter steckte mehr. Sehr viel mehr. Simon war wie ein Kranker, der nicht zugeben wollte, wie dringend er einen Arzt benötigte. Er benahm sich wie ein eigensinniges Kind. Jeden Versuch, zu ihm vorzudringen, blockte er mit Beschuldigungen und Gefühlskälte ab. Dabei trug sie sein Kind unter ihrem Herzen. Kessy schöpfte Hoffnung. Durch das Baby würde alles wieder gut werden. Simon hatte es sich genauso sehr gewünscht wie sie selbst. Jetzt war es endlich soweit. »Ich liebe nur dich, Simon«, versicherte sie, ruhiger werdend. »Ich weiß nicht, warum du mir nicht glaubst, aber es ist die reine Wahrheit. Laß uns in Ruhe miteinander sprechen. Ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen. Etwas, das dich freuen wird.« »Vielleicht, daß ich endlich ungestört meine Suppe essen kann?« gab er giftig zurück. »Der Appetit ist mir ohnehin vergangen.« »Er wird gleich wieder zurückkommen«, war Kessy sicher. »Ich bin schwanger, Simon. Wir bekommen ein Kind.« Jetzt ließ auch ihr Mann den Löffel fallen. Er klatschte mitten in die Suppe. Sie spritzte nach allen Seiten.
Kessy wartete auf das Leuchten seiner blauen Augen. Er würde um den Tisch herumkommen, sie glücklich in die Arme nehmen und sie küssen. Alles würde sein wie früher. Die häßlichen Mißverständnisse würden wie ein Gespenst, das man sich nur eingebildet hatte, in der Versenkung verschwinden und von dort nie zurückkehren. Sie wartete vergebens. Simon stieß den Stuhl zurück und starrte sie feindselig an. »Du wagst es, mir einen Bastard ins Haus zu bringen? Hoffentlich weißt du wenigstens, wer der Vater ist.« »Simon!« schrie Kessy entgeistert auf, bevor sie ohnmächtig zusammenbrach.
Chris kümmerte sich um sie und legte sie mit Bens Hilfe, den sie ins Haus holte, auf ihr Bett. Mit Salmiaktropfen bemühte sich die Frau, ihre Herrin wieder ins Bewußtsein zurückzuholen. Endlich schlug Kessy wieder die Augen auf und brauchte eine Weile, um sich zu erinnern, was geschehen war. »Sie sind zusammengebrochen, Madam«, erklärte Chris. »Während des Essens. Das ist nichts Ungewöhnliches in Ihrem Zustand. Steffi hat mir erzählt, daß Sie guter Hoffnung sind. Wie freue ich mich mit Ihnen und dem gnädigen Herrn.« Steffi hatte also gelauscht. Das spielte keine Rolle, obwohl es Kessy peinlich war, daß die Köchin den ganzen erniedrigenden Streit mit Simon mitangehört hatte. Die ehrlich klingenden Worte der Putzfrau taten ihr gut. Dennoch fiel es ihr schwer, sich noch immer auf ihr Baby zu freuen. Simon beschuldigte sie, ihn betrogen zu haben. Er behauptete allen Ernstes, dies sei nicht sein Kind. Wie sollte sie das ertragen?
Du bist eine Kilmore, hörte sie ihre Großmutter mahnen. Kämpfe. Stehe für dein Recht und für deine Ehre ein! Gleichzeitig aber sagte die Verstorbene: Ich habe immer gesagt, daß er deiner nicht wert ist. Aber deine Liebe war ja stärker als deine Vernunft. Das ist sie auch jetzt noch, dachte Kessy trotzig. Noch kann ich nicht begreifen, was mit Simon geschehen ist, aber ich finde es heraus. Und wenn ich mitten durch die Hölle gehen müßte. Sie ahnte nicht, daß ihr dieser Weg schon bald bevorstand. Sie erhob sich und brachte ihre Kleidung in Ordnung. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Chris«, sagte sie, »und auch für Ihre Anteilnahme. Ja, mit der Stille in diesem Haus wird es nun bald vorbei sein, und auf Sie kommt sicher noch mehr Arbeit zu.« »Davor fürchte ich mich nicht, Madam«, versicherte die Ältere. »Wenn Sie mich nur behalten, bin ich glücklich. Und den Jupiter habe ich wirklich nicht.« »Das weiß ich, Chris«, unterbrach die Hausherrin sie hastig. »Ich vertraue Ihnen und bin froh, daß Sie für uns arbeiten. Es ist nicht leicht, zuverlässige, ehrliche Leute zu finden.« Chris brach vor Rührung und Erleichterung in Tränen aus. In der Aufregung merkte sie gar nicht, daß auch Kessy ein paarmal verstohlen über ihre Augen wischte. Simon Malone ging seiner Frau im Verlaufe des Nachmittags aus dem Weg. Sie trafen erst zum Dinner wieder zusammen. Kessy hatte sich vorgenommen, ihn nicht zu bedrängen und auch das Baby von sich aus nicht zu erwähnen. Sie hielt es für angebracht, ihm etwas Zeit zu lassen. Früher oder später mußte er von selbst einsehen, wie sehr er ihr unrecht getan hatte. Napoleon wollte sich zwischen ihren Beinen hindurch ins Eßzimmer drängeln, doch Kessy hielt ihn zurück. So sehr sie
das Tier auch liebte, so vertrat sie doch die Ansicht, daß Katzen nicht an den Tisch gehörten. Der Kater maunzte gekränkt, gehorchte aber schließlich. Simon betrat mit zwanzigminütiger Verspätung den Raum. Er würdigte seine Frau keines Blickes. Kessy bewahrte die Ruhe. Sie konnte nichts erzwingen. Simons Zustand war beängstigender, als sie noch heute vormittag geglaubt hatte. Mit einem Lächeln war ihm nicht beizukommen. Während Steffi die Pastete auftrug und zunächst Kessy und anschließend Simon bediente, kam Kessy Staf York in den Sinn. Wie würde er triumphieren, könnte er diesem trauten Familienleben beiwohnen. Nur gut, daß er nicht ahnte, wie unglücklich sie war. Ein anderer Mann war nicht das geeignete Rezept, um sie von ihrem Herzleid zu kurieren. Simon kostete die Pastete und legte das Besteck aus der Hand. »Zum Teufel!« schrie er unbeherrscht. »Willst du mich vergiften? Das könnte dir so passen. Dann wärst du frei für den Vater deines Balgs.« Kessy erbleichte. Sollte alles wieder von neuem beginnen? Hatten diese Demütigungen kein Ende? Die Anschuldigung empfand sie als so grotesk, daß sie sie nicht auf sich beruhen lassen konnte. »Wie sollte ich dich vergiften, Simon?« erinnerte sie mit mühsamer Fassung. »Ich habe die Pastete nicht zubereitet. Außerdem…« Er ließ sie nicht weiterreden. »Natürlich nicht. Das wäre ja aufgefallen. Aber als Steffi dich bediente, hattest du die beste Gelegenheit, auf die nächste Portion, die ich erhalten mußte, einige Tropfen Gift zu träufeln. Das Zeug schmeckt bitter wie Galle. Du hättest etwas Unauffälligeres nehmen sollen.«
Er meinte tatsächlich, was er sagte, denn er schob den Teller weit von sich und starrte sie haßerfüllt an. »Es ist nicht wahr«, erklärte sie laut. »Du tust mir Unrecht. Ich liebe dich, Simon.« »Das beweist du mir aber auf recht sonderbare Weise.« Er stand auf, nahm den Teller und ging damit zur Tür. Als er sie öffnete, ließ sich Napoleon, der davor gewartet hatte, nicht mehr zurückhalten. Auf geschmeidigen Pfoten huschte er zu Kessy. »Ausgezeichnet!« sagte Simon erfreut. »Nun werden wir gleich die Wahrheit erfahren.« Der Mann ging an den Tisch zurück und stellte den Teller mit der Pastete auf den Boden. Augenblicklich fiel Napoleon darüber her und schwelgte in der Delikatesse. Es schmeckte ihm sichtlich, denn er leckte sogar die letzten Krümelchen ab. Wäre die Pastete wirklich so bitter gewesen, wie Simon tat, hätte das Tier sie kaum angerührt. Kessy entspannte sich und sah ihren Mann erleichtert an. Von seinem Verdacht blieb nichts mehr übrig. Das mußte nun auch er einsehen. Napoleon stieß ein klägliches Maunzen aus. Der Körper des Tieres zuckte. Entsetzt beobachtete Kessy, wie ihr vierbeiniger Liebling krampfhaft versuchte, die Pastete zu erbrechen. Der Kater grub seine Krallen in den Teppich und riß einen Fetzen heraus. Er krümmte sich und raste plötzlich los. Knapp vor der Tür wurde er zur Seite geworfen. Noch ein paar Zuckungen. Dann lag er still. »O Gott«, flüsterte Kessy. »Gott war wohl kaum dein Verbündeter bei dieser schändlichen Tat«, entgegnete Simon eisig. »Napoleon ist tot. Verendet. Nach deinem Willen hätte ich dort liegen sollen, du Mörderin.«
»Ich war es nicht«, flüsterte Kessy. »Die ganze Pastete muß verdorben sein. Ich werde Steffi zur Rede stellen.« »Laß Steffi aus dem Spiel. Sie hat mir erst die Augen über dich geöffnet. Glaubst du wirklich, sie hätte mich anschließend umbringen wollen? Dafür besaß sie keinen Grund. Im Gegensatz zu dir. Ich bin euch im Wege. Dir und deinem Galan. Wie kommt es wohl, daß du noch nicht von der Pastete gekostet hast? Hast du sie vielleicht schon vorher in der Küche präpariert, um völlig sicher zu gehen?« »Ich schwöre dir, daß ich keine Ahnung hatte. Mein armer Napoleon! Niemals hätte ich zugelassen, daß er von der Pastete frißt, hätte ich ernstlich Gift für möglich gehalten. Du weißt, wie sehr ich an ihm hing, seit du ihn mir schenktest.« »Du sahst dich von mir durchschaut und hast ihn zähneknirschend geopfert. Vielleicht fiel es dir nicht einmal schwer. Du bekamst ihn von mir, wie du richtig sagtest. Er hätte dich immer an mich erinnert. Das war für dich Grund genug, ihn von der mörderischen Pastete fressen zu lassen. Aber du hast dich grausam verrechnet. Nimm deine Gabel und iß. Ich verlange, daß du deine ganze Portion aufißt.« Kessys Augen weiteten sich. »Ich soll davon essen, woran Napoleon verendet ist? Das verlangst du allen Ernstes von mir?« »Iß!« beharrte Simon mitleidlos. Die Frau führte den ersten Bissen zum Mund. War es nicht besser, tot zu sein, als vom geliebten Menschen abgrundtief gehaßt und verachtet zu werden? Konnte sie jemals wieder glücklich sein? Dann lieber tot. Sie würgte an dem Bissen und brachte ihn kaum herunter. Als sie es endlich geschafft hatte, atmete sie auf und wartete auf die Krämpfe, die gleich einsetzen mußten. »Weiter!« befahl Simon. »Das ist noch kein Beweis. Ein Mensch benötigt eine stärkere Dosis als eine Katze.«
Er ließ nicht von ihr ab, bis sie den Teller geleert hatte. Danach beobachtete er sie gespannt. Die Pastete war keineswegs bitter, und nach zehn Minuten war Kessy sicher, daß sie auch kein Gift enthalten hatte. Jedenfalls nicht ihre Portion. »Sehr schlau!« sagte Simon. »Du hast an alles gedacht. Die Polizei sollte in der restlichen Pastete kein Gift finden. Ich hatte also recht. Du hast nur mein Stück präpariert.« »Nein! Warum glaubst du mir denn nicht?« »Weil jedes deiner Worte gelogen ist. Du windest dich wie eine Schlange, aber wir beide wissen genau, daß nur du die abscheuliche Tat begangen haben kannst.« »Was soll ich nur tun, um dich von meiner Liebe zu überzeugen?« fragte Kessy verzweifelt. »Alles gäbe ich dafür, wenn es wieder so würde wie früher. Wir haben uns so gut verstanden.« »Ich verstehe dich auch jetzt noch, meine Liebe«, spottete Simon. »Du hattest tagelang Zeit, dir diesen hinterlistigen Plan auszudenken. Jetzt, da du ihn gescheitert siehst, lügst du mir etwas von unvergänglicher Liebe vor. In Wirklichkeit überlegst du bereits, wie du es beim nächstenmal besser machen könntest. Aber es wird kein nächstes Mal geben.« Entschlossen eilte er zur Tür, wobei er den Kadaver der Katze angewidert mit dem Fuß zur Seite stieß. »Was hast du vor?« fragte Kessy angstvoll. »Ist das so schwer zu erraten? Ich rufe die Polizei an.« Kessy glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. »Du willst mich anzeigen?« »Soll ich etwa warten, bis es für mich zu spät ist? Als Toter nützt mir deine Bestrafung nichts mehr.« Kessy war unfähig, sich zu erheben und ihren Mann zurückzuhalten. Sie konnte sich das furchtbare Geschehen
nicht erklären. Sie wußte nur, daß sie es nicht verschuldet hatte. Aber würde sie auch die Polizei davon überzeugen können? Wer anders als Steffi, die sich für die Zurechtweisung an ihr rächen wollte, konnte das Gift auf die Pastete geträufelt haben? Sie würde auch Vorsorge getroffen haben, daß der Verdacht an ihrer Herrin hängenblieb. Kessy begriff, daß, falls man sie verurteilte, sie ihr Kind hinter Gefängnismauern zur Welt bringen würde. Eine grausame Vorstellung. Nur gut, daß Lady Patricia dies nicht mehr erlebte. Sie würde nicht ertragen, daß man eine Kilmore des versuchten Gattenmordes bezichtigte. Aber auch der Name Malone war von dieser unseligen Affäre betroffen. Wenn es ihr gelang, Simon zu überzeugen, daß er sich mit einer Anzeige auch selbst schadete, ließ sich die Krise vielleicht doch noch meistern. Früher oder später mußte ja die Wahrheit ans Licht kommen. »Du riskierst also einen Skandal«, begann sie tonlos. »Ist dir klar, daß du damit das Ende deiner beruflichen Karriere herbeiführst?« »Nicht ich tue das«, verteidigte sich ihr Mann. »Du hast es bewirkt.« »Ich weiß, daß du mir im Moment kein einziges Wort glaubst. Wie sehr mußt du mich verabscheuen, wenn ich auch nicht den Grund dafür kenne. Ich bitte dich zu bedenken, daß einmal zerschlagenes Porzellan nicht wieder zu kitten ist. Der Makel wird an deinem Namen ewig haften bleiben. Selbst dann, wenn sich eines Tages meine Unschuld herausstellt. Überstürze nichts. Eine Anzeige kannst du auch später noch erstatten.«
»Wie raffiniert du doch bist. Du hoffst auf eine Zeitspanne, um verräterische Spuren und Beweise gegen dich vernichten zu können.« »Sieh mich an, Simon! Schau mir in die Augen und sage mir, ob du darin etwas anderes liest als Liebe zu dir. Selbst jetzt, da du mich so furchtbar verdächtigst, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als in deinen sonst so zärtlichen Armen zu liegen und von dir getröstet zu werden. Warum verweigerst du mir diesen einzigen Blick?« Simon schaute zwar in ihre Richtung, doch sein Blick ging an ihr vorbei. Seine seltsam starren Augen schienen einer Nachbildung aus dem Wachsfigurenkabinett zu gehören. Er hatte bereits den Türgriff in der Hand, aber er betätigte ihn nicht. »Also gut«, sagte er drohend. »Ich will das Risiko eingehen, denn mein unbefleckter Name ist mir wichtig. Doch glaube nicht, daß du deshalb einer Bestrafung entgehst. Ich selbst werde das Urteil über dich fällen. Ich verlange eine Buße von dir. Weigerst du dich, bleibt mir nur der Weg zur Polizei.« »Was soll ich tun, Simon?« »Du zahlst mir fünfzigtausend Pfund.« Kessy klammerte sich an den Rand des Tisches. »Fünfzigtausend? Hast du eine so hohe Summe verspielt?« Bei dieser Frage beobachtete sie ihn genau, konnte aber keine Reaktion erkennen, die darauf schließen ließ, daß er sich ertappt fühlte. »Ich lasse nicht mit mir handeln. Du mußt zugeben, daß du äußerst billig davonkommst.« »Fünfzigtausend Pfund kann ich verschmerzen, Simon«, antwortete Kessy. »Viel härter trifft es mich, dich zu verlieren. Gib mir etwas Zeit. Ich habe das Geld nicht in bar, wie du weißt. Ich werde einen Teil des Schmuckes verkaufen, den mir meine Großmutter hinterließ.«
»Du hast zwei Tage von diesem Augenblick an.« Simon verließ kerzengerade das Eßzimmer und schloß die Tür nicht hinter sich. Seine Frau sah ihn die Treppe hinaufgehen. Er wirkte wie ein Schlafwandler.
Mit Freuden hätte Kessy den gesamten Familienschmuck hergegeben, hätte sie damit die Gewißheit erkauft, daß die bösen Schatten von ihrer Ehe wichen. So aber wartete sie mit Bangen auf den nächsten Schock, den ihr Simon zufügen würde. Wenn sie auch seine Liebe verloren hatte, so tröstete sie sich damit, sein Kind unter ihrem Herzen zu tragen. Die Gefahr, daß er es ihr wegnahm, bestand nicht, solange er die Vaterschaft leugnete. Doch so weit im voraus wollte sie noch nicht denken. In einem halben Jahr konnte vieles geschehen. Bis dahin hoffte sie, daß das Glück wieder in ihr Haus eingezogen war. Kaum hatte sie Simon die geforderte Summe von fünfzigtausend Pfund ausgehändigt, als er auch schon eine neue Reise antrat. Er nannte ihr weder das Ziel noch den Zeitpunkt seiner wahrscheinlichen Rückkehr. Für ihn existierte sie nicht mehr, und er nahm auch seine Mahlzeiten – aus Sicherheitsgründen, wie er betonte – allein ein. Steffi, die Kessy zur Rede stellte, schwor Stein und Bein, die Pastete genauso zubereitet zu haben, wie sonst auch. »Wenn ein Teil vergiftet war, so muß das nachträglich geschehen sein, Madam. Ein Glück, daß der gnädige Herr so aufmerksam war. Erwarten Sie wieder einen Anruf von Mr. Gorky?« Blanker Hohn sprach aus dieser Frage. Die Unverschämte verließ sich auf den Rückhalt, den Simon ihr gab.
Die Hausherrin verzichtete auf eine Rechtfertigung. Sie sah ein, daß Steffi nicht mehr auf ihrer Seite stand. Im Ernstfall würde sie jeden Meineid schwören, um ihr damit zu schaden. Erst als Kessy auf den Kalender sah, fiel ihr wieder ein, daß sie für den heutigen Tag eine Verabredung hatte. Ihre Hoffnung, auf den Besuch des Billard-Clubs verzichten zu können, hatte sich nicht erfüllt. Mehr denn je war sie davon überzeugt, daß dort die Ursache für Simons Veränderung zu suchen war. Nur, wenn sie sie entdeckte, gab es eine Chance, ihre Ehe und ihr zerbrechliches Glück zu retten. In fliegender Hast packte sie alles Erforderliche für eine mehrtägige Abwesenheit in einen Koffer und ihre Reisetasche, verlud das Gepäck in ihren Austin und fuhr los, nachdem sie den Gärtner Ben gebeten hatte, Steffi darüber zu informieren. Sie war gezwungen, sehr schnell zu fahren, wollte sie den vereinbar ten Termin nicht versäumen. Bis ein Uhr waren es nur noch knapp drei Stunden. In der Nähe von New Ross geriet sie in einen Stau. Ihre Nervosität wuchs, je weiter der Zeiger vorrückte. Endlich konnte sie ihre Fahrt in zügigem Tempo fortsetzen. Fast auf die Minute genau hielt sie eine Dreiviertelstunde später vor dem Café in der Charles Road von Waterford, in dem sie sich mit Perdita Jackson treffen wollte. Die schwarzhaarige Frau war nicht da. Mit einem Blick auf die Uhr an der Wand hinter dem Tresen überzeugte sich Kessy, daß sie sich nicht verspätet hatte. Heute war auch der richtige Tag. Hatte Perdita ihr Versprechen vergessen? War eine Änderung in ihrem Terminplan eingetreten, ohne daß sie sie davon hatte verständigen können? Kessy bestellte einen Tee und schaute immer wieder zur Tür, die sich zwar häufig öffnete, jedoch ausnahmslos Fremde einließ.
Nach einer halben Stunde fürchtete Kessy, daß sie vergeblich wartete. Da erschien die Innenarchitektin. Ihr suchender Blick traf Kessy. Sie trat zu ihr an den Tisch. »Es tut mir entsetzlich leid, daß ich mich so sehr verspätet habe«, beteuerte sie zerknirscht. »Ich wurde von einem Kunden aufgehalten, der plötzlich völlig neue Wünsche äußerte. Dabei habe ich schon eine Menge Zeit in seinen Auftrag investiert. Manchmal könnte man verzweifeln. Aber Sie sehen auch nicht eben glücklich aus, Kessy?« »Ich habe vergessen, was Glück ist, Perdita«, gab Kessy bedrückt zurück. »Ich bin so froh, daß Sie doch noch gekommen sind. Glauben Sie, daß es klappen wird?« Perdita Jackson nickte beruhigend. »Ich sehe keine Schwierigkeiten. Wenn man mich einläßt, warum sollte man bei meiner Mitarbeiterin eine Ausnahme machen? Hier, nehmen Sie die Mappe mit den Stoffmustern. Niemand wird den wahren Grund Ihres Besuches ahnen.« Kessy bezahlte ihren Tee und erhob sich. Die Mappe war schwer, doch sie hatte noch eine viel drückendere Last zu tragen. Auf dem kurzen Weg zum Clubhaus kamen ihr neue Bedenken. Wenn nun derselbe Mann öffnete, der sie vor wenigen Tagen abgewiesen hatte? Mußte er sie nicht wiedererkennen und den Betrug wittern? Sie hätte wenigstens ihre Frisur verändern und wohl auch die Haare tönen sollen. Nun war es zu spät dafür. Perdita klopfte bereits energisch an die eichene Tür. Es hörte sich seltsam rhythmisch an, als handelte es sich um ein vereinbartes Zeichen. Dies war es wohl auch. Damit schützten sich die Clubmitglieder vor Betrügern und unerwünschten Eindringlingen.
Die Innenarchitektin wurde erwartet, denn es dauerte nicht lange, bis ihr geöffnet wurde. Kessy atmete merklich auf. Der Mann, der sie fragend anstarrte, war zwar ebenfalls bejahrt, doch hatte sie ihn noch nie gesehen. Und er sie demzufolge ebenfalls nicht. »Meine Assistentin«, stellte Perdita Jackson sie knapp vor und drängte bereits ins Haus. Sie schob Kessy vor sich her. Der Mann trat bereitwillig zur Seite und verriegelte hinter den beiden Frauen die Tür. »Sie kennen ja den Weg, Miss Jackson«, sagte er krächzend. »Falls Sie mich brauchen, finden Sie mich im Braunen Salon.« Er zog sich zurück und verschwand hinter einer der vier Türen, die vom Gang ausgingen. Perdita Jackson blinzelte ihrer Begleiterin triumphierend zu. »Das klappt ja besser, als ich geglaubt habe. Kein Mensch kümmert sich um uns. Ich werde ungefähr zwei Stunden zu tun haben. Wird Ihnen das reichen?« »Wenn Sie mir die Räumlichkeiten erklären, hoffe ich, daß ich zurechtkomme.« Die elegante Frau beschrieb ihr, wo das Büro, die Bar, die Aufenthalts- und vor allem die Spielräume zu finden waren. »Wundern Sie sich nicht, wenn manches noch ziemlich unfertig aussieht. Ich arbeite erst seit kurzer Zeit an der Umgestaltung. Ich rate Ihnen, dort diese Tür zu nehmen. Sie kommen an der Bar vorbei und gelangen in einen Ruheraum. Linker Hand gibt es eine Nische. Sie ist durch einen Stützpfeiler verdeckt. Von dort können Sie einen der Spielsalons beobachten. Das ist es doch, was Sie wollen, nicht wahr?« »Genau das«, bestätigte Kessy erregt. Perdita reichte ihr einen Zollstock und einen Schreibblock. »Nehmen Sie das. Falls Sie jemand anspricht, tun Sie einfach,
als würden Sie etwas ausmessen. Damit erregen Sie keinen Verdacht.« »Ich bin Ihnen ja so dankbar«, versicherte Kessy flüsternd. »Treffen wir uns wieder hier?« »Ja. In zwei Stunden. Falls Sie nicht erscheinen; gehe ich davon aus, daß Sie Ihre Beobachtungen noch fortsetzen wollen. Ich sage einfach, daß ich Sie bereits vorausgeschickt habe. Sie dürfen sich dann natürlich nicht mehr entdecken lassen. Das würde mich sonst in ein schiefes Licht rücken.« »Sie können sich darauf verlassen, Perdita. Nochmals vielen Dank, falls wir uns nicht mehr sehen.« »Schon gut. Ich habe es sehr gerne getan.« Die Frau mit den faszinierenden Augen wartete, bis Kessy hinter der vorgeschlagenen Tür verschwunden war, bevor sie sich ihrer Arbeit zuwandte. Kessy war froh, daß die Bar leer war. Sie setzte ohne Aufenthalt ihren Weg fort und gelangte, wie Perdita Jackson angekündigt hatte, in einen Ruheraum. Hier standen einige Liegen. Daneben waren niedrige Tischchen angeordnet. Verschiedene Nischen enthielten Sitzgruppen. Die Nische, die Perdita gemeint hatte, war wesentlich kleiner als die übrigen. Der Pfeiler verdeckte sie fast vollständig. Wenn man nicht wußte, daß sich hier jemand verbarg, ging man ahnungslos vorüber. Da sich auch in dem Ruheraum niemand aufhielt, schlüpfte Kessy unbemerkt in das Versteck und entdeckte eine Tapetentür. Zu ihrer Freude ließ sie sich öffnen. Kessy Malone tat es ganz vorsichtig. Das geringste Geräusch würde die Lauscherin verraten. Endlich war der Spalt breit genug, daß sie den dahinterliegenden Raum leidlich gut beobachten konnte.
Sie war enttäuscht. Auch hier sah sie, abgesehen von einem mit einem schwarzen Tuch abgedeckten Billardtisch, nur gähnende Leere. Vorläufig würde sie nichts auskundschaften. Da der Raum nicht im Dunkeln lag, hoffte sie, daß sie nicht vergebens Posten bezog. Irgendwann mußten sich die Spieler einfinden. Es war ja noch früh am Tage. Als sich nach einer halben Stunde noch immer nichts ereignet hatte, faßte sich Kessy ein Herz und öffnete die Tapetentür weit genug, daß sie sich hindurchzwängen konnte. Sie trat in die Mitte des Raumes und entdeckte zwei weitere Türen, die sich aber beide als verschlossen erwiesen. Hier befand sie sich in einer Sackgasse. Vielleicht ließ sich aber trotzdem etwas entdecken. War es nicht möglich, daß die Halunken das Spiel manipulierten, um ahnungslose Opfer auf bequeme Weise zu schröpfen? Zum Beispiel ließ sich der Lauf der gestoßenen Kugel beeinflussen, indem man dem Tisch eine unzulässige Neigung gab. Von dieser Idee überzeugt, wandte sich die junge Frau dem verdeckten Tisch zu und hob das Tuch auf einer Seite an. Auf den ersten Blick war kein verborgener Mechanismus zu entdecken. Das hatte sie auch nicht erwartet. Sie mußte das Gerät schon gewissenhafter untersuchen. Vor allem widmete sie sich den sechs kunstvoll gedrechselten Beinen, zwischen deren Verzierungen sich mit Leichtigkeit ein winziger Hebel oder ein Schalter verbergen konnte. Als sie an der Innenseite des vierten Beines den gerade linsengroßen Knopf fand, hätte sie vor Freude fast gejubelt. Gerade noch rechtzeitig erinnerte sie sich, daß niemand merken durfte, was sie hier trieb. Sie allein vermochte gegen die Mitglieder des Clubs nichts auszurichten. Das mußte sie der Polizei überlassen. Sie hatte nur dafür zu sorgen, daß vor einer Razzia die Tische nicht ausgetauscht wurden.
Die Beamten würden natürlich genauere Informationen von ihr verlangen. Sie mußte ihnen mindestens erklären, was ein Druck auf diesen Knopf bewirkte. Obwohl Kessy fürchtete, daß eine geringe Neigung der Spielfläche mit bloßem Auge gar nicht nachzuweisen war, legte sie ihren Zeigefinger auf den Knopf und betätigte ihn mit grimmiger Entschlossenheit. Sie war sich im klaren, wie viel davon für sie und Simon abhing. Zu ihrer Überraschung erfolgte ein schleifendes Geräusch, das mehrere Sekunden anhielt. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ein Spieler dadurch nicht mißtrauisch wurde. Aber es geschah noch mehr. Auf der gegenüberliegenden Längsseite schob sich die mit grünem Filz bespannte Tischplatte nach unten und verharrte in dieser Stellung. Danach trat Stille ein. Kessy ahnte, was sie nun entdecken würde, sobald sie das schwarze Tuch lüftete. Mit Sicherheit einen Kartentisch oder aber ein Roulette. Sie wollte schwören, daß der biedere Billard-Club nur als Tarnung für verbotene Glücksspiele diente. Nun wunderte es sie nicht mehr, wie Simon in so kurzer Zeit eine Riesensumme verspielen konnte, wenn ihr auch sein verändertes Wesen nach wie vor unbegreiflich blieb. Sie hob das Tuch an ihrer Seite weit genug hoch, daß sie erkennen konnte, was sich darunter verbarg. Nein, es handelte sich um kein Roulette. Kessy sah eine alabasterweiße Steinplatte, in die eine längliche Vertiefung eingearbeitet war. In einer uralten Bäckerei in Schottland hatte sie eine ähnliche Einrichtung als Backmulde gesehen. Allerdings aus Holz. Es gab noch ein paar weitere Unterschiede. Zum Backen wurden zum Beispiel nicht die breiten Ledergurte benötigt, die an mehreren Stellen der Längsseite befestigt waren. Auch für
die kreisrunden Vertiefungen an den Stirnseiten fand sie keine Erklärung. Auf jeden Fall ließ sich hiermit kein betrügerisches Spiel nachweisen. Kessy hatte sich zu früh gefreut. Aber vielleicht erfuhr sie gleich, was das alles zu bedeuten hatte. Sie glaubte nämlich, ein paar murmelnde Stimmen zu hören, die sich näherten. Hastig löste sie den Mechanismus abermals aus und stellte erleichtert fest, daß die Tischplatte wieder in ihre bisherige Stellung schwenkte und damit die Mulde und alles andere verdeckte. Sie zupfte das schwarze Tuch gerade, damit niemand Verdacht schöpfte, und huschte zu der Tapetentür, um dahinter erneut Stellung zu beziehen. Als sie das Schloß eingerastet fand, erschrak sie zu Tode. Sie hockte in der Falle. Ohne einen Schlüssel ließ sich die Tür von dieser Seite nicht öffnen, und ein Schlüssel steckte nicht. Angstvoll schaute sie sich nach einem Versteck um, aber bis auf den großen Billardtisch in der Mitte mit seinem rätselhaften Innenleben war der Raum kahl. Sich unter dem Tisch verbergen zu wollen, war sinnlos. Sobald das Tuch entfernt wurde, würde man sie entdecken. In letzter Sekunde erinnerte sich Kessy an den Zollstock, den Perdita Jackson ihr gegeben hatte. Zum Glück hatte sie ihn nicht im Ruheraum zurückgelassen. Schleunigst trat sie an eine Wand und begann mit Messungen, mit denen sie die nun Eintretenden zu täuschen hoffte. Sie grüßte höflich, ohne sich bei ihrer Arbeit stören zu lassen. Erst als ihr niemand antwortete, richtete sie sich auf und drehte sich um. Entsetzt taumelte sie zurück und wurde durch die Wand hinter ihrem Rücken aufgefangen. Die Männer, die durch beide
Türen gleichzeitig traten, waren fast nackt. Sie trugen nur um die Hüften blutrote Schärpen, kaum breiter als ein Fuß, und vor den Gesichtern abscheuliche Masken, die es unmöglich machten, einen von ihnen zu erkennen. Keiner richtete an Kessy eine Frage. Niemand schien sich über ihre Anwesenheit zu wundern. Insgesamt handelte es sich um zwölf Personen, die schweigend einen Halbkreis um sie bildeten und sie durch schmale Sehschlitze anstarrten. »Ich… ich möchte nicht stören«, stammelte Kessy. »Ich bin hier mit dem Ausmessen fertig. Wenn Sie so freundlich sein würden, mir zu sagen, wo sich Miss Jackson im Augenblick befindet. Sie erwartet mich.« Schweigen. Es war, als hätte sie gegen eine leblose Wand gesprochen. Der Halbkreis wurde enger. Die Männer rückten dichter an sie heran. Auch ohne ihre Gesichter zu erkennen, fand Kessy Perdita Jacksons Aussage bestätigt, daß es sich zumindest überwiegend um betagte Männer handelte. Dies bewies ihre zum Teil gebeugte Haltung, aber auch die schlaffe Haut und das meist ergraute Haar. Daß diese Leute nicht gekommen waren, um eine Partie Billard zu spielen, lag auf der Hand. Kessy Malone versuchte fieberhaft, die grotesk Maskierten und den seltsamen Tisch miteinander in eine Beziehung zu bringen, sie gelangte aber zu keinem Ergebnis. Als wollten die Fremden sie nicht länger auf die Folter spannen, traten nun vier von ihnen einige Schritte zurück, bis sie jeweils an den Ecken des Tisches standen. Ihre Bewegungen wirkten auf gespenstische Weise abgehackt. Sie erinnerten Kessy an seelenlose Roboter.
Auf ein stummes Zeichen ergriffen sie die Enden des Tuches und hoben es in die Höhe. Sorgsam legten sie es zusammen, bis es Form und Größe eines handlichen Kissens annahm. Einer der Gespenstischen beugte sich zu jenem Tischbein herab, an dem Kessy den bewußten Schalter wußte. Er drückte ihn, und nun wurde Kessy aus einer anderen Perspektive Zeugin der verblüffenden Verwandlung. Noch immer konnte sie sich nicht erklären, wozu die Mulde in der weißen Gesteinsplatte dienen sollte. Erst als einer der Männer das zusammengefaltete Tuch auf eine der Schmalseiten außerhalb der Mulde legte und die übrigen nun gleichzeitig ihre Hände nach ihr ausstreckten, wurde ihr klar, daß in der Vertiefung bequem ein Mensch Platz fand. »Was haben Sie vor?« fragte sie verstört. »So lassen Sie mich doch gehen. Miss Jackson wird mich vermissen und nach mir suchen.« Sie wußte, daß dies nicht der Fall war. Sobald Perdita ihre Arbeit beendet hatte, würde sie allenfalls bis zum Ablauf der vereinbarten zwei Stunden warten und danach das Clubhaus verlassen, ohne zu ahnen, daß sich ihr Schützling in Gefahr befand. »Ergreift sie!« flüsterte einer. Kessy fühlte sich von unzähligen Händen berührt. Knochige, gichtige Finger huschten über ihren Körper, krallten sich irgendwo fest und hielten sie wie mit Spinnenbeinen gefangen. Es war zu spät, sich gegen die teils ausgemergelten, teils schwammigen Kerle zur Wehr zu setzen. Vereint waren sie wesentlich stärker als sie. Fieberhaft überlegte sie, was ihr schlimmstenfalls geschehen konnte. Waren diese Widerlinge noch in der Lage, sie zu vergewaltigen? Kessy bezweifelte es. Sie hatten wohl nur ihren
Spaß an einer geheimnisvollen Show, um anschließend gemeinsam mit ihr darüber zu lachen. Und Simon? schoß es ihr durch den Kopf, während sie zu dem Tisch gezerrt wurde. Hatte nicht gerade er das Lachen völlig verlernt, seit er Mitglied in diesem Club geworden war? War ihm etwa das gleiche widerfahren, das mit ihr jetzt geschehen sollte. Kessy dachte an Drogen. Hatte er sich nicht ganz so benommen, als stünde er unter dem Einfluß unheilvoller Rauschmittel? Dies würde auch seine Wesensveränderung erklären. Er war nicht mehr Herr seines eigenen Bewußtseins. Während sie die Möglichkeit durchdachte, daß sie es mit Dealern zu tun hatte, die ihre späteren Kunden unter Anwendung von Gewalt süchtig machten, um anschließend kräftig von ihnen zu kassieren, wurde sie auf den Tisch gehoben und in die Mulde gebettet. Ihr Kopf kam auf dem zusammengefalteten Tuch zu liegen. Alles Stoßen und Aufbäumen nützte nichts. Schon legte sich einer der breiten Riemen quer über ihre Brust und wurde angezogen. Ein zweiter wurde über ihre Hüften gespannt. Der dritte hielt ihre Füße gefangen, während der letzte würgend auf ihren Hals preßte. Kessy hoffte schon, daß die Männer ihre Hände vergessen würden, doch auch für sie waren zwei Lederschlaufen vorgesehen. Nun war sie endgültig wehrlos und mußte alles mit sich geschehen lassen. »Bitte!« flehte sie. »Was habt ihr mit mir vor?« Endlich erhielt sie eine Antwort. »Du wirst sterben«, antworteten sie im Chor. »Dein Leben gehört der Göttin Aphrodite. Auf dem Altar der Liebe werden wir dich ihr opfern.«
Sie öffnete den Mund zu einem Entsetzensschrei, aber einer der Maskierten klebte einen Pflasterstreifen darüber, damit sie sich nicht mehr bemerkbar machen konnte. Es mußten Wahnsinnige sein. Auf jeden Fall wußten sie nicht mehr, was sie taten. Eines aber war gewiß. Sie würden Kessy töten. Daß sie den Mord nicht auf der Stelle ausführten, verlängerte nur ihre Qualen. Vermutlich wollten sie noch weitere Vorbereitungen für das abscheuliche Opferfest treffen. Jemand betätigte erneut den Schalter. Die dünne Sperrholzplatte glitt über sie und verdeckte sie völlig. Wer ahnungslos den Raum betrat, vermutete nicht, daß sich eine Todgeweihte darunter befand.
Ihre Lage war hoffnungslos. Kessy Malone fühlte sich in ihrem Sarg aus Stein und Holz schon eher tot als lebendig. Doch da meldete sich die Stimme ihrer Großmutter. Du bist eine Kilmore, mein Kind. Kämpfe! Wie konnte eine mit starken Riemen Gefesselte kämpfen. Das war doch ausgeschlossen. Und doch! Das Bewußtsein, eine Kilmore zu sein, ließ sie nach einem Ausweg suchen. Nicht für sich. Sie wußte jetzt, daß Simon gegen seinen Willen ein anderer geworden war. Hier befanden sich Fanatiker am Werk, die einen gesunden Willen zu unterwerfen verstanden. Sie mußte vor allem die Fesseln loswerden. Danach durfte sie sich kein zweites Mal ergreifen lassen. Das hörte sich einfach an, war aber im Grunde ohne fremde Hilfe undurchführbar. Und mit Hilfe war nicht zu rechnen. Kessy glaubte nicht mehr daran, daß Perdita Jackson ihr die Wahrheit gesagt hatte. Aus welchem Grund ließ man sie unbehelligt? Das war absurd.
Sie hat dich in die Falle gelockt, wurde es Kessy bewußt. Sie gehört zu dieser Bande. Vielleicht ist es sie sogar selbst, die diese widerlichen Kerle als Göttin Aphrodite verehren und ihr hörig sind. Ihr blieb nicht viel Zeit. Zweifellos kehrten sie schon bald wieder zurück. Falls sie Wachen zurückgelassen hatten, war ohnehin alles verloren. Kessy Malone baute darauf, daß dies nicht zutraf. Sie hatte einen Plan, wenn er auch völlig verrückt war und nicht den geringsten Erfolg verhieß. Sie besaß nichts als diese Hoffnung. In der Enge ihres Gefängnisses mußte sie mit der Luft sparsam umgehen, um nicht vorzeitig zu ersticken. Trotzdem atmete sie tief ein, bevor sie ihren Kopf hochschnellen ließ. Sie spürte zweierlei. Vor allem schnürte der starre Riemen ihr die Kehle ein. Sekundenlang fürchtete sie, das Bewußtsein zu verlieren. Der zweite Schmerz stellte sich an ihrer Stirn ein. Hier war sie gegen das Sperrholz geprallt und hatte es splittern lassen. Erschöpft sank ihr Kopf auf das schwarze Tuch zurück. Sie mußte sich etwas erholen, bevor sie weitere Versuche in Angriff nahm. Sie gönnte sich nur eine kurze Verschnaufpause. Dann konzentrierte sie sich erneut und schnellte noch energischer mit der Stirn vor. Das Ergebnis war ähnlich, nur wurde sie diesmal tatsächlich für einige Sekunden ohnmächtig. Doch die Schmerzen an Hals und Kopf brachten sie ins Bewußtsein zurück. Die dünne Tischplatte war an dieser Stelle zertrümmert, der Filz gerissen. Frische Luft strömte in Kessys Lungen. Licht fiel durch die Bresche. Kessy wußte nun, daß man sie ohne Beobachtung zurückgelassen hatte. Aber wie lange noch?
Die Fesseln hatten sich durch das Aufbäumen nicht gelockert. Damit hatte sie auch nicht gerechnet. Ihr Plan ging in eine andere Richtung. Sie hielt nach einem dünnen, aber kräftigen Holzsplitter Ausschau, entdeckte aber keinen, der ihr für ihre Zwecke geeignet schien. Sie war gezwungen, ein drittes Mal Hals und Kopf zu strapazieren. Wimmernd fiel sie zurück. Blut rann über ihre Schläfe. Das Holz hatte ihre Stirnhaut aufgerissen. Aber dafür war nun ein Splitter abgespalten, wie er idealer nicht hätte sein können. Jetzt begann die eigentliche Schwierigkeit. Sie mußte versuchen, das Holz bis zu ihrer rechten Hand zu transportieren. Trotz der Riemen blieb ihr die Möglichkeit, Schultern, Brust und die Bauchpartie, vor allem aber die Arme bis zu den Handgelenken geringfügig zu bewegen. Es war mehr ein Zucken und Winden. Es mußte genügen, um das Holzstück an die gewünschte Stelle zu dirigieren. Dieses Unternehmen wurde dadurch besonders schwierig, weil sich Kessy ausschließlich auf ihren Tastsinn verlassen mußte. Sie schloß die Augen, um ihre Konzentration zu erhöhen. Eine Kilmore schafft auch das Unmögliche, hämmerte sie sich immer wieder ein. Dabei lauschte sie voller Angst auf eventuelle Geräusche, die das Nahen ihrer Mörder ankündigen würden. Noch blieb alles still. Die junge Frau verlor jegliches Zeitgefühl. An dem Grad ihrer Erschöpfung gemessen, mußte sie sich bereits seit Tagen auf diesem Opfertisch befinden. Ihr Verstand sagte ihr dagegen, daß seit ihrem ersten Aufbäumen kaum zwanzig Minuten vergangen sein konnten. Aber selbst das war schon zu lange.
Endlich stach die Spitze des Splitters gegen ihren Handrücken. Es war ihr tatsächlich gelungen. Doch mußte sich das schmale Hölzchen nicht als zu schwach erweisen? War es möglich, damit die Lederschlaufe an ihrem Handgelenk zu lösen? Kessy angelte mit den Fingern danach. Sie mußte sie sich fast verrenken, ehe sie den Splitter endlich zu fassen bekam. Was nun folgte, grenzte an einen Akt der Akrobatik. Kessy stocherte über ihren Handrücken hinweg in der Schlaufe, rutschte aber immer wieder ab. Falls das Holz brach, mußte sie wieder ganz von vorn beginnen. So viel Zeit würde ihr aber nicht mehr bleiben. Vor Anstrengung war sie längst schweißgebadet. Sie spürte die Schmerzen an jenen Stellen, an denen ihr die Riemen ins Fleisch schnitten, kaum noch. Sie war von dem eisernen Willen beseelt, es zu schaffen. Endlich machte sich eine Lockerung am rechten Handgelenk bemerkbar. Kessy ließ den Splitter los, machte ihre Hand ganz schmal und versuchte, sie aus der Schlaufe zu ziehen. Es ging noch nicht. Fast hätte sie das Holz nicht wiedergefunden. Es war um ein Haar außer Reichweite gerutscht. Verbissen arbeitete sie weiter. Es konnte klappen. Jetzt wußte sie es. Zehn Minuten später war ihre rechte Hand frei. Zwar unendlich zerschunden und von rasenden Schmerzen durchwütet, doch das zählte im Augenblick nicht. Mit dieser Hand löste Kessy zunächst den Halsriemen und anschließend die Fesselung über ihrer Brust. Nun auch die zweite Hand freizubekommen, erwies sich nicht mehr als schwierig. Danach befreite sie sich von der restlichen Sperrholzplatte und war nun in der Lage, sich aufzurichten. Die weiteren Riemen fielen. Kessy war frei, aber ihre Freiheit endete an einer der drei Türen.
Einer Eingebung folgend, breitete Kessy das schwarze Tuch sorgfältig über den Tisch mit der zertrümmerten Platte. Alles sah nun wieder so aus, wie sie es anfangs vorgefunden hatte. Für weitere Vorkehrungen blieb keine Zeit. Die junge Frau hörte einen monotonen Gesang, der allmählich anschwoll. Kein Zweifel, die Opferung sollte beginnen. Sie sah unter dem Tisch noch einen Holzsplitter liegen. Ihn nahm sie an sich und fühlte sich bewaffnet. Hoffentlich kamen sie nicht wieder durch beide Türen gleichzeitig! Dann hätte sie kaum eine Chance. Sie lauschte und huschte schließlich zur gegenüberliegenden Tür, neben der sie sich postierte. Den Splitter hielt sie in der hocherhobenen Faust, an der getrocknetes Blut klebte. Die Tür öffnete sich. Mit feierlichem Singsang traten die Maskierten ein. Diesmal trugen sie brennende Kerzen aus schwarzem Wachs. Jetzt endlich wußte Kessy, wofür die runden Vertiefungen in dem weißen Stein vorgesehen waren. Eng preßte sie sich gegen die Wand. Sie beobachtete, wie die Männer stutzten. Sie hatten den Tisch nicht zugedeckt. Augenblicke später entdeckten sie die Frau. Kessy reagierte blitzschnell. Sie entriß dem ersten Mann die Kerze und stieß sie ihm gegen die nackte Haut. Der Mann schrie erbärmlich auf. Kessy warf sich an ihm vorbei durch die Tür, durch die weitere Maskierte nachdrangen. Zögernd versuchten ein paar Hände, sie festzuhalten. Diesmal jedoch befand sich Kessy im Vorteil. Sie nutzte die Verwirrung, stach mit ihrem Holzsplitter um sich, riß einem der Greise die Maske vom Gesicht und fügte einem anderen eine schmerzhafte Verletzung mit einer der Kerzen zu. Dabei kämpfte sie sich weiter und ließ schließlich die Männer hinter sich.
Nur fort! Aber wohin? Die Räumlichkeiten waren ihr unbekannt, und schon zeigte das Gekreische, daß die Maskierten die Verfolgung aufgenommen hatten. Kessy Malone befand sich in einem ähnlichen Gang wie jenen, den sie bereits kannte. Er verfügte über mehrere Türen. Sie durfte sich nicht für die verkehrte entscheiden. Sie hetzte bis zum Ende des Ganges und riß die dort befindliche Tür auf, die nicht verschlossen war. Dahinter befand sich ein größerer Spielsalon mit drei Billardtischen, an denen jedoch niemand spielte. Kein Mensch befand sich in dem Raum. Kessy hörte boshaftes Hecheln hinter sich. Rufe wurden laut: »Fangt sie! Bringt sie der Göttin Aphrodite dar. Gehorcht dem Befehl der Unvergleichlichen.« Die Männer mußten wahnsinnig sein. Oder völlig willenlos. Während Kessy sich durch die nächste Tür warf, schoß ihr ein entsetzlicher Gedanke durch den Kopf. Befand sich etwa auch Simon unter den Maskierten? Sie hatte die Männer nicht genau genug beobachtet, um das beurteilen zu können. Die Vorstellung, von dem geliebten Mann getötet zu werden, raubte ihr fast den Verstand. Nur weiter! Ihre Verfolger behinderten sich durch ihre Vielzahl gegenseitig. Doch einige gewannen vor den übrigen einen kleinen Vorsprung. Diese würden sie gleich eingeholt haben. Kessy spürte kaum noch die Schmerzen, die von ihrer verzweifelten Befreiung herrührten. Sie wurde nur noch von einem Gedanken beseelt: Heraus aus diesem schrecklichen Gebäude! Neben ihr wurde eine Tür aufgerissen. Maskierte quollen hindurch und streckten ihre gierigen Hände nach Kessy aus.
Sie erschauderte unter der Berührung und schlug wie wild um sich. Wieder öffnete sich ein Gang vor ihr. Er kam ihr bekannt vor. War sie im Kreis gelaufen? Beim Offnen einer der Türen erkannte sie den Ruheraum mit seinen Nischen. Jetzt wußte sie, wo sie sich befand. Sie kannte die Tür, die ins Freie führte. Aber nun kamen von allen Seiten die Männer, die sie aufhalten wollten. In einigen Fäusten blitzten sogar Messer auf. Aber sie stachen nicht damit zu. Noch nicht. Kessy rannte los, doch sie konnte es unmöglich schaffen. Die Wand der Gegner stand dicht. »Zurück!« schrie sie in letzter Verzweiflung. »Fürchtet euch vor Aphrodite!« Sie rechnete kaum mit einem Erfolg, aber die Nennung dieses Namens löste bei den Maskierten Verwirrung aus. Sie blickten sich ratlos an und vergaßen, nach Kessy zu greifen, als sie ihre Reihe sprengte und mit einem letzten Satz die Haustür erreichte. Zu spät kamen sie zur Besinnung. Sie wirbelten herum. Eine Faust klammerte sich um ihr Fußgelenk. Kessy trat zu. Gleichzeitig wuchtete sie den schweren Riegel zurück und riß die Tür auf. Draußen war es stockfinster. Fort! Egal, wohin. Sie blickte sich nicht um. Die Straße war menschenleer. Sicher würden die Halbnackten ihr Opfer nicht laufenlassen. Als sie an einem Hauseingang vorbeihetzte und das Patschen nackter Fußsohlen hinter sich vernahm, wurde sie plötzlich von brutalen Armen in das Dunkel der Nische gerissen. Eine Hand legte sich auf ihren zu angstvollem Schrei geöffneten Mund.
Ihr Überwinder ließ ihr keine Chance. Er schleppte sie tiefer ins Haus hinein und ließ sich auch durch ihr Schlagen und Kratzen nicht beirren. Ihre Gegenwehr erlahmte. Kessy hatte alles gegeben, was an Körperkraft in ihr steckte. Nun mußte sie kapitulieren.
Schlaff hing sie in den Armen des Mannes, der keuchend innehielt und endlich die Hand von ihren Lippen nahm. »Bist du okay, Kessy?« raunte er. Das hört sich nicht feindselig an. Die Stimme klang ehrlich besorgt. Vor allem aber kam sie Kessy bekannt vor. »Mister York?« »Nenn mich doch endlich Staf. Ich bin vor Sorge um dich fast gestorben, als du nicht mehr aus dem Club herauskamst. Ich wollte mir ebenfalls Zutritt verschaffen, doch niemand hat auf mein Klopfen reagiert.« »Du hast mich beobachtet?« fragte Kessy matt. »Jeden Tag habe ich hier gewartet. Ich wußte, daß du irgendwann kommen würdest. Wie fühlst du dich?« »Miserabel«, gestand die junge Frau wahrheitsgemäß. »Du kannst dir nicht vorstellen, was sich hinter dieser harmlosen Fassade abspielt. Sie wollten mich töten. Ich sollte der Aphrodite geopfert werden. Es grenzt an ein Wunder, daß es mir gelang, mich von den Fesseln zu befreien.« Sie berichtete in knappen Worten, was sie während der vergangenen Stunden erlebt hatte, und Staf York hörte mit wachsendem Erstaunen zu. »Eine Sekte«, stellte er fest, als sie geendet hatte. »Eine fanatische Sekte, die den Billard-Club als Tarnung benutzt. Glaubst du, daß sie ihre Drohungen wahrgemacht hätten?« Kessy nickte erregt. »Davon bin ich überzeugt. Ich konnte nur das Gesicht eines einzigen Mannes für Sekunden erkennen,
als ich ihm die Maske herunterriß. Es war starr und seelenlos. Diese, Leute scheinen sich durch Drogen in einen gefährlichen Rausch zu versetzen, in dem sie entsetzliche Dinge zu tun bereit sind.« »Und jene Aphrodite? Meinst du, daß es sie tatsächlich gibt?« »Ich bin mir nicht sicher, aber ich könnte mir vorstellen, daß eine Frau wie Perdita Jackson diese Rolle spielt. Sie ist ungewöhnlich schön und strahlt einen geheimnisvollen Reiz aus. Es fällt ihr kaum schwer, Männern ihren Willen aufzuzwingen.« »Aber aus welchem Grund? Du hast mit ihr gesprochen, Kessy. Machte sie auf dich einen perversen Eindruck? Traust du ihr zu, daß sie Lust am bloßen Töten empfindet?« Kessy fühlte sich in Stafs Armen geborgen. Nach dem überstandenen Schrecken genoß sie seinen Schutz. »Ich vermag diese Frage nicht zu beantworten«, gestand sie zerknirscht. »Die Frau hat mich perfekt getäuscht, falls sie wirklich mit den Maskierten im Bunde steht. Vielleicht tue ich ihr aber auch Unrecht und sie ist nur das, was sie vorgegeben hat: eine harmlose Innendekorateurin, die von alledem keine Ahnung hat.« »Auf jeden Fall müssen wir die Polizei verständigen«, entschied Staf York. »Sie wird das Nest ausheben und dem Spuk ein Ende bereiten. Dann werden wir die Wahrheit erfahren, und du brauchst dich nicht mehr zu fürchten.« »Nein!« widersprach Kessy. »Keine Polizei.« »Aber warum denn nicht?« fragte der Mann verwundert. »Ich kann es nicht tun, solange ich nicht weiß, welche Rolle Simon spielt.« »Willst du etwa behaupten, daß du ihn noch immer liebst?« »Ich fürchte, daß mich von dieser Liebe nur der Tod heilen kann«, antwortete Kessy leise.
»Das ist verrückt«, erregte sich Staf York. »Was soll er dir denn noch alles antun? Vielleicht hat auch er dich einmal geliebt. Jetzt aber bringt er dir nur noch Haß entgegen. Die Geschichte mit deiner vergifteten Katze sagt doch alles. Ich wette, daß er selbst die Pastete vergiftet hat, bevor er sie Napoleon zu fressen gab.« »Das glaube ich nicht. Wo wäre da der Sinn?« Staf York lachte verächtlich auf. »Fünfzigtausend Pfund ergeben einen ausreichenden Sinn. Mit dem angeblichen Mordanschlag konnte er dich mühelos erpressen, ihm diese Summe auszuhändigen. Und selbstverständlich hat er auch den Jupiter zu Geld gemacht. Diese Aphrodite scheint ziemlich anspruchsvoll zu sein.« Kessy schwieg. Was Staf sich zusammenreimte, klang durchaus einleuchtend. Hatte nicht auch Simon den Eindruck gemacht, als sei er nicht mehr Herr seines Willens? Aber gerade deshalb sträubte sie sich gegen das Einschalten der Polizei. Simon würde Verhören unterzogen werden. Ja, man würde ihn vielleicht sogar viele Jahre in ein Gefängnis stecken. Diese Vorstellung war unerträglich. »Ich erwarte ein Kind, Staf«, erklärte sie bedrückt. »Ich will, daß es einen Vater hat. Kannst du das nicht begreifen?« »Das verstehe ich sogar sehr gut«, erwiderte Staf nach einer kleinen Pause. »Deshalb schlage ich vor, daß du mich diese Rolle übernehmen läßt.« »Dich?« »Ein Kind ändert nichts an meinen Gefühlen für dich. Ich möchte immer in deiner Nähe sein und dich beschützen. Zunächst aber müssen wir dieses Blutnest ausräuchern lassen. Wir dürfen nicht warten, bis wirklich ein Mord geschieht. Wahrscheinlich wäre es nicht der erste.« Das war ein überzeugendes Argument, dem Kessy nur die Befürchtung entgegenzusetzen hatte, daß die Sekte zweifellos
nach ihrer geglückten Flucht mit einer Razzia rechnen und daher alle Beweismittel beseitigen würde. »Dann werde ich Clubmitglied«, schlug Staf vor. »Ich beschaffe mir eine kleine Kamera und fertige heimlich Fotos als Beweis an.« »Das ist viel zu gefährlich«, lehnte die junge Frau ab. »Sobald sie einen Verdacht gegen dich haben, bist du verloren.« Staf drückte sie fester an sich. »Hast du etwa Angst um mich?« erkundigte er sich erfreut. »Jedenfalls schicke ich dich nicht in die Höhle des Löwens, die ich aus eigener Anschauung kenne. Bringe mich jetzt bitte in ein Hotel. Ich habe noch kein Zimmer gemietet und bin entsetzlich erschöpft.« »Das glaube ich dir. Du kannst aber bei mir schlafen. Meine Wohnung ist ziemlich groß, und ich verspreche dir, dich nicht zu belästigen.« Kessy hielt es nicht für angebracht, Situationen heraufzubeschwören, die alles noch komplizierter machen mußten. Solange noch eine winzige Hoffnung bestand, daß sie Simons Liebe zurückeroberte, wollte sie mit keinem anderen Mann zusammen sein. »Ich respektiere deine Gefühle«, sagte Staf ruhig. »Du wirst selbst schon bald einsehen, daß du einem Phantom nachjagst. Dein Simon hat sich schon längst für eine andere entschieden. Vielleicht für die Göttin Aphrodite, wer immer das sein mag.« Kessy antwortete nicht. Sie ließ sich aus dem Hausgang führen und warf einen schaudernden Blick zu dem Clubgebäude, in dem sie das Grauen kennengelernt hatte. Ihre Augen weiteten sich. Hastig zog sie Staf in den Schatten zurück. Auch der Mann hatte die beiden Gestalten bemerkt, die soeben den Club verließen. Ein Pärchen.
»Ist das die Jackson?« wollte er wissen. Kessy nickte und atmete schwer. »Und der Kerl an ihrer Seite?« »Das ist Simon, mein Mann«, gab sie tonlos zur Antwort. Die beiden gingen an dem Hauseingang vorbei, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Sie waren mit sich selbst beschäftigt. Eng umschlungen entfernten sie sich. In Kessys Augen schossen Tränen. Jetzt hatte sie den Beweis. Simon betrog sie mit dieser Schlange, der sie vertraut hatte. Für sie brauchte er das viele Geld. Wegen ihr war er ein anderer geworden. »Willst du ihn immer noch schonen?« fragte Staf zweifelnd. »Er hat deine Liebe verraten!« »Vielleicht geschah es gegen seinen Willen«, gab Kessy zu bedenken. »Wenn du die Männer dort drinnen gesehen hättest, wüßtest du, daß sie nicht die alleinige Verantwortung für ihr Handeln tragen. Es sind Abhängige. Sie beten ihre Göttin an und…« »… und diese Göttin ist Perdita Jackson«, erzählte der Mann zornig. »Das können wir nur vermuten.« »Dein Simon kennt die Wahrheit.« »Ja, und ich werde ihn danach fragen. Jetzt kann er nicht mehr leugnen. Ich werde den beiden folgen und ihn im passenden Augenblick zur Rede stellen.« »Sie scheinen sich zu trennen«, sagte Staf, der wieder ins Freie getreten war. »Die Frau biegt nach links ab, dein Mann geht geradeaus weiter.« »Dann werde ich gleich erfahren, ob Simon über die furchtbaren Geschehnisse Bescheid weiß.« »Ich begleite dich.« »Lieber nicht. Er würde sofort den Spieß umdrehen und mir Untreue vorwerfen.«
»Du hast recht. Dann werde ich die Frau im Auge behalten. Ich will beobachten, wohin sie geht. Hast du noch meine Adresse?« Kessy nickte. »Ruf mich dort an, sobald du dir Gewißheit verschafft hast. Versprichst du mir das?« Kessy versprach es und folgte Simon, der sich nicht umwandte, obwohl er ihre Schritte hören mußte. Vor der übernächsten Kreuzung holte sie ihn ein. Natürlich würde er leugnen und alles abstreiten. Er würde ihr zum Vorwurf machen, daß sie sich mitten in der Nacht in Waterford herumtrieb. Für sein Zusammensein mit der Jackson fiel ihm zweifellos eine harmlose Erklärung ein. Erst, als sie neben ihm stand und seinen Arm berührte, wandte er seinen Kopf. Kessy blickte ihm in die Augen. Sie waren von fiebrigem Glanz erfüllt. Sie vertrat ihm den Weg und rüttelte ihn an den Schultern. »Du mußt mich anhören, Simon«, beschwor sie ihn. »Um unseres Kindes willen flehe ich dich an. Was hat diese Frau mit dir angestellt? Ist sie die Aphrodite, die sich von euch verehren läßt?« »Gib den Weg frei!« befahl er ungerührt. »Mit dir habe ich nichts mehr zu schaffen.« Kessy wimmerte auf. Ihre Befürchtungen trafen ein. Simon hatte sich in einen seelenlosen Eisblock verwandelt. »Was hat diese Hexe aus dir gemacht? Sie ist eine Teufelin. In ihrem Namen sollte ich getötet werden. Hörst du, Simon? Sie wollte die Mutter deines Kindes umbringen.« Als der Mann sie noch immer feindselig anstarrte, schlang Kessy die Arme um seinen Hals und küßte ihn in wilder Verzweiflung. Tränen rannen ihr über beide Wangen. Sie zitterte am ganzen Körper.
Zögernd kam Leben in Simon. Er schien aus einem Traum zu erwachen. Sein Blick wurde klarer. Er hielt Kessy fest und erwiderte schließlich sogar ihren Kuß. »O Gott!« stöhnte er, als er sie endlich losließ. »Was ist nur mit mir geschehen? Wie tief habe ich mich in Schuld verstrickt? Hilf mir, Kessy! Hilf mir, mich von dieser Bestie zu befreien.« Nun war er es, der schluchzte. In diesem Augenblick schien die Jackson ihre Macht über ihn verloren zu haben. »Sie wollte mich töten«, wiederholte Kessy leise. »Ich weiß nicht, ob du bei ihnen warst.« Simon schüttelte entgeistert den Kopf. »Nein, nein! Ich war bei ihr. Jetzt begreife ich es nicht mehr. Diese Frau muß über übernatürliche Fähigkeiten verfügen. Sie schlug mich bereits bei unserer ersten Begegnung in ihren Bann.« »Und sie verlangte Geld von dir«, vermutete Kessy. »Viel Geld.« Simon bestätigte diesen Verdacht. »Ich bin mit ihr fertig«, beteuerte er. »Du kannst unbesorgt sein. Ich schwöre es dir, und es tut mir unsagbar leid, daß ich dir solchen Kummer bereitet habe. Glaube mir, ich wußte nicht, was ich tat. Sie muß mir irgendein Mittel eingegeben haben, das mich lähmte. Erst dein Kuß hat mich wieder zur Besinnung gebracht. Ist es wahr, Liebste? Bekommen wir wirklich ein Kind?« Kessy nickte unter Tränen. Diesmal waren es Tränen des Glücks und der Erleichterung. »Du darfst ihr nie wieder begegnen«, bat sie. »Sie würde dich erneut in ihre Gewalt bringen.« Simon schüttelte den Kopf. »Das würde ihr nicht mehr gelingen. Ich kenne jetzt ihr wahres Wesen. Aber du hast recht. Es ist besser, wenn wir alles weitere der Polizei überlassen.« Kessy äußerte ihre Bedenken. »Du wirst dich an vieles gar nicht erinnern können, weil du unter dem Einfluß der Teufelin
standest. Wie willst du die Fragen der Beamten beantworten? Man wird dir vielleicht gar nicht glauben, denn das Ganze ist unfaßbar. Am Ende haftet dir selbst der Skandal an, und wir haben gar nichts gewonnen. Die Polizei glaubt nur Dinge, für die es handfeste Beweise gibt. Eine faszinierende Frau reicht nicht aus.« »Ich habe auch nicht die Absicht, eine offizielle Dienststelle um Hilfe zu bitten. Ich weiß die Adresse eines älteren Mannes. Er hat früher bei der Polizei gearbeitet, wurde aber vor sechs Jahren in den Ruhestand versetzt. Ich kenne ihn flüchtig und weiß daher, daß er darauf brennt, sich endlich wieder nützlich zu machen.« »Aber er besitzt doch keinerlei Machtbefugnisse mehr«, gab Kessy zu bedenken. »Dafür verfügt er über reiches polizeiliches Wissen und enorme Routine. Dem alten Fuchs macht so leicht keiner etwas vor. Zudem befindet er sich in einem Alter, in dem man ihm nicht mehr mißtrauen wird.« »Er soll dem Club beitreten und Beweise sammeln?« »Nur ein Bursche wie O’Brian ist in der Lage, dem Spuk ein Ende zu bereiten.« »Und wenn er selbst in eine Abhängigkeit zu der Jackson gerät?« fragte Kessy. Simon lächelte wissend. »O’Brian hat sich noch nie etwas aus Frauen gemacht. Selbst die echte Aphrodite oder eine ihrer verführerischen Götterkolleginnen könnte ihm nichts anhaben. Vor allem aber müssen wir ihn genauestens darüber informieren, was ihn erwartet. Wer die Gefahr kennt, kann sich dagegen schützen. Du hast mir zum Glück die Augen geöffnet. Dafür werde ich dir bis an mein Lebensende dankbar sein. Ich kann nur hoffen, daß du mir jemals verzeihst, was ich dir in den letzten Tagen angetan habe.«
»Wenn ich deiner Liebe gewiß bin, kann ich noch viel mehr ertragen, Liebster«, versicherte Kessy erleichtert. Ihre Erlebnisse im Clubhaus lagen wie ein böser Traum weit hinter ihr. Sie hatten etwas Unwirkliches, als hätte sie sich alles nur eingebildet. Auch die Kränkungen, die sie in Dublin erfahren hatte, versanken hinter einem Schleier des Vergessens. Sie nahm sich fest vor, Steffi ihr schlimmes Verhalten nicht entgelten zu lassen. Wenn die Köchin die wahren Zusammenhänge erfuhr, tat ihr zweifellos leid, wie sie sich ihrer Herrin gegenüber benommen hatte. Simon brachte seine Frau zu dem Hotel, in dem er selbst ein Zimmer gemietet hatte. Unterwegs erzählte ihm Kessy von ihrer Begegnung mit Staf York. »Er war der Mann, der mich anrief«, gestand sie. »Er behauptete, sich in mich verliebt zu haben, aber ich ließ keinen Zweifel darüber, daß ich um deine Liebe kämpfen wollte. Ich habe versprochen, mich bei ihm zu melden, nachdem ich mit dir gesprochen hatte.« »Ich war ein blinder, einfältiger Narr«, bezichtigte sich Simon selbst. »Ich hätte dich besser kennen müssen. Wie konnte ich dir jemals etwas Schlechtes zutrauen?« »Jetzt wird ja alles wieder gut«, beschwichtigte ihn Kessy. »Wann gehen wir zu diesem Mr. O’Brian?« »Gleich morgen früh.« Staf York hatte schon geschlafen, als Kessy bei ihm anrief. »Ach, du bist es, Kessy. Ich hatte nicht mehr mit deinem Anruf gerechnet und mir Sorgen gemacht.« »Über denen du eingeschlafen bist«, spöttelte Kessy. Sie hatte ihren Humor wiedergefunden. »Du hast ja keine Ahnung, wie ich gelaufen bin, um dieses falsche Biest einzuholen.«
»Die Jackson? Und? Konntest du ihr folgen?« »Zu Beginn schon. Doch plötzlich war sie wie vom Erdboden verschluckt. In der Nähe des Frederic Square verlor ich sie aus den Augen. Ich suchte die ganze Umgebung ab. Leider ohne Erfolg.« »Das macht nichts, Staf. Ich rufe dich eigentlich nur an, um mich bei dir zu bedanken und mich zu verabschieden.« »Verabschieden?« Die Frage klang schrill. »Was heißt das?« »Das heißt, daß ich mich mit meinem Mann wieder versöhnt habe. Es ist wie ein Wunder. Ein Kuß von mir hat den Bann gebrochen, der auf ihm lastete. Er hat alles zugegeben, und er kann es jetzt nicht mehr verstehen. Ich bin ja so glücklich. Ich hoffe, daß du mich verstehst.«
»Ich verstehe nur, daß du auf seine Lügen hereingefallen bist«, antwortete Staf grimmig. »Ich habe schon längst aufgehört, an Wunder und Märchen zu glauben. Vor ein paar Tagen hat er dich noch des Mordes bezichtigt, vor wenigen Stunden solltest du selbst geopfert werden, und das soll nun alles vergessen sein? Tut mir leid, Schatz, ich habe es nicht so gemeint. Bist du wirklich so naiv, diesen Beteuerungen zu glauben?« »Ja, Staf, das tue ich. Und wenn du den Grund hören willst, dann…« »Den erspare mir«, unterbrach Staf sie. »Ich habe mir oft genug anhören müssen, daß du ihn liebst. Dabei merkst du offensichtlich nicht, daß bei dir nur ein Wunschdenken existiert. Dein Mann wird von dir zur Rede gestellt. Er kann sich nicht mehr mit einer Lüge herausreden, und was tut er? Er gibt alles zu, spielt den Reumütigen und wickelt dich damit um den Finger. Ich wette, daß er schon morgen nacht wieder in den Armen der Jackson liegt und bei ihr seine Schwüre vergißt.«
»Nein!« wehrte die junge Frau ab. »Er meint, was er sagt. Das fühle ich genau.« »Und ich meine auch, was ich sage. Fühlst du das nicht ebenfalls, Kessy? Ich liebe dich ehrlich, und es würde mir nie einfallen, dich zu hintergehen oder gar in eine tödliche Gefahr zu stürzen.« »Du kannst mir keinen Vorwurf machen, Staf«, verteidigte sich Kessy. »Ich habe nie einen Zweifel daran gelassen, daß ich zu meinem Mann halte. Daran könnte nur der Tod etwas ändern.« »Wer kann die Frauen begreifen?« meinte Staf. Etwas zuversichtlicher fügte er hinzu: »Und wenn ich dir den Beweis für seinen abermaligen Verrat brächte? Könnte ich dann auf dich hoffen?« »Versuche nicht, Simon zu verleumden«, warnte Kessy. »Er selbst hat einen Weg aufgezeigt, dieser Brut das Handwerk zu legen. Schon morgen wenden wir uns an einen erfahrenen Mann, der der Polizei die erforderlichen Beweise liefern soll. Ich möchte dir noch einmal für deine Hilfe danken, Staf. Die vergesse ich dir nie. Mehr kann aber zwischen uns nicht sein. Lebe wohl!« Bevor er antworten konnte, legte sie den Hörer auf und fühlte sich erleichtert. Es lag ihr nicht, mit falschen Karten zu spielen und Hoffnungen wachzuhalten. Sie liebte klare Verhältnisse. Daran sollte sich nie etwas ändern.
Richard O’Brian wohnte am Rande der Stadt in einer neugebauten Siedlung. Ihm gehörte ein kleines Einfamilienhaus. Der winzige Garten war sein ganzer Stolz. Seinen frühen Besucher erkannte er dank seines noch immer erstaunlichen Gedächtnisses auf Anhieb.
»Hallo, Mr. Malone! Das ist aber ein netter Zufall, daß Sie hier vorbeikommen. Wenn ich mich nicht irre, ist es jetzt neun Jahre her, seit wir dienstlich miteinander zu tun hatten. War damals eine unerfreuliche Geschichte.« »Das kann man wohl sagen, Mr. O’Brian«, gab ihm Simon recht. Damals hatte ein Mann seine Geliebte, die ihm lästig geworden war, mit einem starken Medikament vergiftet. Dieses Medikament stammte von der Firma, die Simon schon zu jener Zeit vertrat. »Aber ein Zufall führt meine Frau und mich nicht zu Ihnen.« »Soso«, meinte der Pensionär, »verheiratet sind Sie. Das wußte ich gar nicht.« Er schenkte Kessy nur einen flüchtigen Blick und bestätigte damit Simons Behauptung, daß ihm Frauen nicht ganz geheuer waren. »Kommen Sie doch herein. Ich gieße uns einen Tee auf.« Die Malones nahmen die Einladung an, kamen aber schnell zu dem Grund ihres Besuches. Richard O’Brian hörte mit wachsendem Interesse zu. Als Simon seinen Bericht beendet hatte, schüttelte er bedächtig den Kopf und sagte: »Gut, daß Sie damit nicht zu meinen Kollegen gegangen sind. Die hätten Sie nur ausgelacht oder Ihnen vielleicht sogar eine Blutprobe abgenommen. Inspektor Grass entbehrt leider jeglicher Phantasie. Schade! Er wird sein Leben lang ein mittelmäßiger Polizist bleiben.« »Ich habe sofort an Sie gedacht«, behauptete Simon. »Werden Sie uns helfen?« Die grauen Augen des Ruheständlers funkelten unternehmungslustig. Man sah ihm an, daß er sich nicht nur über das ihm entgegengebrachte Vertrauen freute. Er brannte auch darauf, endlich wieder seine Fähigkeiten unter Beweis stellen zu dürfen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sich ohnehin nicht aufs Altenteil zurückgezogen. Daß von ihm erwartet wurde, einer verführerischen Frau und ihrer
kriminellen Sekte das Handwerk zu legen, stachelte seinen Eifer noch besonders an. »Ich werde dieses Weibsbild überführen«, versprach er. »Seien Sie ohne Sorge. Ich habe schon immer gesagt, daß von den Frauen das Böse dieser Welt ausgeht.« »Nicht von allen«, fühlte sich Simon bemüßigt zu entgegnen. Kessy legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie wollte nicht, daß ihr Mann sie gegen diesen Frauenhasser verteidigte. Auch sie kam zu der Überzeugung, daß O’Brian der Richtige für diese Mission war. Sie erinnerte vorsichtig an die zu erwartende Gefahr. »Falls man Sie durchschaut, wird man nicht zögern, Sie zu töten«, gab sie zu bedenken. Richard O’Brian lachte wegwerfend. »Da werden sie schneller sein müssen als ich. Ich treffe natürlich Vorsorge, wenn ich den Club betrete. Mich fesselt man nicht auf den Altar der Aphrodite.« Sie blieben noch kurze Zeit, die Kessy vor allem dazu benutzte, aus dem Gedächtnis einen primitiven Lageplan zu zeichnen, der dem ehemaligen Polizeibeamten die Orientierung erleichtern sollte. Jetzt hing alles davon ab, daß man ihn als Mitglied aufnahm. »Erwarten Sie keine Blitzaktion«, warnte Richard O’Brian. »Wenn ich etwas beginne, dann mache ich es gründlich. Ich kenne doch Grass. Der will lückenlose Beweise, bevor er eine Hausdurchsuchung beantragt. Es wird also wohl einige Tage dauern, ehe ich ihm meine Beobachtungen zur Kenntnis bringe. Rechnen Sie mit mindestens einer Woche, Mr. Malone.« »Können wir Ihnen auf irgendeine Weise helfen?« erkundigte sich Simon. »Aber gewiß. Indem Sie nach Hause zurückkehren und sich um nichts kümmern. Ich brauche meine Ruhe zum Arbeiten
und möchte von keinem gedrängt werden. Geben Sie mir Ihre Telefonnummer. Ich rufe Sie an, sobald ich eine Erfolgsmeldung für Sie habe.« Kessy und Simon bedankten sich für die spontane Hilfsbereitschaft. O’Brian betonte jedoch, daß das für ihn eine Selbstverständlichkeit sei. Nur, weil man ihn aufs Abstellgleis geschoben habe, endete für ihn der Kampf gegen das Verbrechen noch lange nicht. Voller Zuversicht verabschiedeten sie sich und fuhren zum Hotel. Dort zahlten sie ihre Zimmer und kehrten nach Dublin zurück. Sie mußten getrennt fahren, weil sie beide mit dem Wagen da waren. Sie blieben jedoch während der ganzen Strecke auf Sichtweite, und als sie vor ihrem Haus ausstiegen, war es das erste, daß Simon seine Frau in den Arm nahm und sie leidenschaftlich küßte. Steffi, die zur Freitreppe geeilt war, erschrak heftig, als sie das Ehepaar in bestem Einvernehmen sah. Sie rechnete damit, daß sie nun für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen wurde. Kessy ging ruhig auf die Frau zu und sagte unbefangen: »Ich möchte, daß es heute zum Lunch das Lieblingsessen meines Mannes gibt. Läßt sich das noch einrichten?« »Ge… gewiß«, stammelte Steffi. »Darf ich denn überhaupt noch für Sie kochen?« Kessy lächelte. »Wir haben alle schon einmal Fehler gemacht, Steffi. Ich zweifellos genauso wie du. Eins aber steht fest. Kochen kannst du besser als ich.« Da brach Steffi in Tränen aus und bat Kessy um Verzeihung. Chris strahlte, als sie merkte, daß der Haussegen bei den Malones wieder gerade hing, und auch der alte Ben schlurfte herbei und wollte sich die Sensation nicht entgehen lassen. Der Friede war wieder in das Haus eingekehrt. Simon nahm sich ein paar Tage Urlaub, um sich ganz seiner Frau widmen zu können. Er hatte eine Menge wiedergutzumachen.
Am dritten Tag brachte Steffi die Morgenzeitung. Darin lasen sie die schreckliche Meldung: Ehemaliger Polizist tot im Hafenbecken gefunden! Die schlimme Befürchtung bestätigte sich, nachdem Simon den Bericht vorgelesen hatte. Danach hatte man Richard O’Brian, von zwölf Messerstichen durchbohrt, im Hafen von Waterford entdeckt. Obwohl der Leichnam keine Papiere bei sich getragen hatte, hatte die Polizei den einstigen Kollegen auf Anhieb identifizieren können. Sie tippte auf einen Raubmord, weil der Täter seinem Opfer sämtliches Bargeld, aber auch seinen Ring und die Uhr abgenommen hatte. Kessy und Simon glaubten nicht daran. »Der Club!« flüsterte Kessy tonlos. »O’Brian war sich seiner Sache zu sicher. Sie haben ihn durchschaut und bestraft. Der Raubmord wurde nur vorgetäuscht.« »Das ist auch meine Meinung«, bestätigte Simon. »Jetzt müssen wir die Polizei auf die richtige Spur bringen. Ich rufe sofort in Waterford an. Eine überraschende Razzia wird die Beweise ans Licht bringen.« Er sprach fast zwanzig Minuten mit Inspektor Grass. Daran, daß er immer wieder die gleiche Erklärung abgab, merkte Kessy, daß er auf wenig Glauben stieß. Als er den Telefonhörer auflegte, erkundigte sie sich, was die Polizei zu tun beabsichtige. Simon knirschte mit den Zähnen. »Ich fürchte, O’Brian hat seinen Kollegen völlig richtig eingeschätzt. Diese Jackson ist übrigens die Schwester eines Abgeordneten. Man wird sie mit Samthandschuhen anfassen und sich hüten, einen vorschnellen Verdacht zu äußern.« »Aber sie machen doch unverzüglich eine Razzia?« »Der Inspektor wird die Fakten gegeneinander abwägen, wie er sich ausdrückte.«
»Ich mache mir Vorwürfe, daß wir O’Brian um Hilfe gebeten haben.« »Sein Tod ist bedauerlich, aber Vorwürfe brauchen wir uns nicht machen, Liebes. O’Brian starb so, wie er es sich immer gewünscht hatte. Im Einsatz. Im Kampf gegen das Verbrechen.« Das war ein schwacher Trost, aber Kessy mußte sich mit ihm zufrieden geben. Am nächsten Tag mußte Simon wieder seine Arbeit antreten. Er rief jedoch ein paarmal am Tag an, um sich nach Kessys Befinden zu erkundigen und ihr zu versichern, wie sehr er sich auf das Baby freue. Es war endlich wieder so wie in früheren Zeiten. Auch Inspektor Grass meldete sich. Er teilte mit, daß die Razzia ergebnislos verlaufen sei, wie er im übrigen nicht anders erwartet hatte. Er warnte Kessy Malone eindringlich davor, unbescholtene Bürger zu verleumden, und legte ihr ans Herz, sich in die Behandlung eines Spezialisten zu begeben, falls sie häufiger unter Wahnvorstellungen leide. Der Mörder Richard O’Brians war nach seinen Angaben inzwischen verhaftet worden. Ein Tagedieb ohne festen Wohnsitz, der nicht ganz richtig im Kopf sei, habe die verabscheuungswürdige Tat gestanden. Auf Kessys zweifelnde Frage, ob denn bei ihm die Beute gefunden worden sei, erhielt sie zur Antwort, daß der Bursche die natürlich längst zu Geld gemacht hatte. Für die Polizei in Waterford war der Fall jedenfalls damit erledigt. Als Simon wieder anrief, teilte er Kessys Ansicht, daß die wahren Schuldigen ungeschoren davonkommen würden. »Wir können nichts dagegen tun«, bedauerte er. »Es ist wohl am besten, wenn wir uns beide in Zukunft von Waterford fernhalten.«
Kessy versuchte, ihr bisheriges Leben zu führen, als sei nichts geschehen. Dies fiel ihr schwer, denn besonders in den Nächten schreckte sie immer wieder aus dem Schlaf, weil sie träumte, auf einem Billardtisch festgeschnallt zu sein und auf ihren Tod zu warten. Ihr erschienen die Maskierten, die gierig von ihr forderten, ihr Leben Aphrodite zu opfern. Dazwischen tauchte Perdita Jackson mit einer Stoffmustermappe unter dem Arm und einem teuflischen Lächeln auf den geschwungenen Lippen auf. Sie vollführte einen Schleiertanz und gab schließlich den Befehl, Kessy zwölf Messer ins Herz zu stoßen. Jedesmal war sie froh, wenn sie an dieser Stelle ihres Traumes zu sich kam. Sie war dann schweißgebadet, und ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie pflegte ein Bad mit entspannenden Zusätzen zu nehmen, schaffte es aber nie, danach wieder einzuschlafen. Als mitten in der Nacht das Telefon läutete, glaubte sie daher an einen Teil ihres Traumes und reagierte zunächst nicht. Erst als das Rasseln nicht aufhörte, kam Kessy benommen zu sich und angelte nach dem Hörer. Das konnte nur Simon sein, der sich in Sligo aufhielt. Sein nächtlicher Anruf konnte nichts Gutes bedeuten. Hoffentlich hatte er keinen Unfall gehabt! Sie meldete sich und erkannte verblüfft Staf Yorks Stimme. »Das darf doch wohl nicht wahr sein, Staf«, beschwerte sie sich. »Weißt du, wie spät es jetzt ist?« »Viertel vor zwei. Ich bin mir des unmöglichen Zeitpunktes bewußt, Kessy, aber ich hielt es für erforderlich, dich umgehend zu verständigen.« Er hörte sich aufgeregt an. Zweifellos war etwas im Zusammenhang mit dem Billard-Club geschehen. »Wurde die Jackson verhaftet?« fragte sie hoffnungsvoll.
»Im Gegenteil! Sie genießt nach wie vor Narrenfreiheit. Ihr Bruder ist ein hohes Tier in der Politik. Offensichtlich möchte sich niemand an ihr die Finger verbrennen.« »Dann begreife ich deinen späten Anruf nicht. Was kann so wichtig sein, daß es nicht wenigstens bis morgen früh Zeit gehabt hätte? Im übrigen hatte ich dich dringend gebeten, mich nicht mehr anzurufen.« »Besonders dann nicht, wenn dein Mann nicht zu Hause ist, nicht wahr? Er ist doch fortgefahren, oder irre ich mich?« »Das zu erraten ist nicht schwer, weil sonst sicher er den Hörer abgenommen hätte. Er ist leider beruflich viel unterwegs. Aber das soll sich in nächster Zeit ändern. Wenn erst das Baby da ist, wird er den größten Teil der Reisetätigkeit einem anderen in der Firma überlassen.« »Glaubst du immer noch, daß dein Kind eure Ehe retten kann?« Kessy wurde ärgerlich. »Was redest du für ein dummes Zeug, Staf? An unserer Ehe gibt es nichts zu retten. Sie ist wieder völlig in Ordnung.« »Wie schön«, kam es mit unüberhörbarem Spott. »Demnach bist du also informiert, wo sich dein Simon zur Zeit aufhält?« »Natürlich. Zuletzt hat er von Sligo aus angerufen. Dort bleibt er noch einen Tag, fährt anschließend für zwei oder drei Tage nach Galway und wird zum Wochenende wieder in Dublin sein.« »Sligo? Tatsächlich? Und du bist dir ganz sicher?« »Absolut.« »Dann hättest du mir wenigstens verraten können, daß dein Mann einen Zwillingsbruder besitzt. Das erklärt natürlich alles, und es tut mir echt leid, daß ich dich aus dem Schlaf geschreckt habe.«
»Was soll der Unsinn, Staf? Simon hat doch keinen Zwillingsbruder. Er besitzt eine Schwester. Sie ist in den Staaten verheiratet.« »Ja, dann wirst du wohl den Tatsachen ins Auge schauen müssen, Kessy.« »Welchen Tatsachen?« »Dein Mann treibt ein übles Spiel mit dir. Er hat sich offenbar eine neue Strategie zurechtgelegt, damit du nicht neuerlich Verdacht schöpfst. Er ist nett und freundlich, aber er betrügt dich nach wie vor.« »Das ist nicht wahr.« »Ich begreife ja, daß du dich sträubst, die Wahrheit zu akzeptieren. Du änderst aber nichts, indem du den Kopf in den Sand steckst. Ehrlich gesagt, habe ich nie daran geglaubt, daß er es mit seiner Abkehr von der Sekte ernst meinte.« »Und doch ist es so. Du kennst ihn eben nicht. Außerdem kannst du ihn nicht leiden, weil ich ihn liebe.« »Mit beidem magst du recht haben«, räumte Staf ein. »Aber ich weiß, wie dein Simon aussieht. Und der Mann, den ich vor einer knappen Stunde das Clubgebäude betreten sah, glich ihm aufs Haar. Was soll ich anderes daraus schlußfolgern, als daß er dir die Wahrheit verschweigt?« Kessy erstarrte. Sie konnte nicht glauben, was sie gehört hatte. »Bist du noch dran, Kessy?« erkundigte sich Staf. »Er – er ist in den Club gegangen?« fragte sie. »In Waterford?« »Ich gebe zu, daß ich mich nicht damit abfinden wollte, daß du mich verschmähtest. Ich liebe dich nun einmal, und deshalb ist es mein größtes Anliegen, dich glücklich zu wissen. Wenn ich schon nicht an deiner Seite leben darf, dann wollte ich wenigstens sicher sein, daß es dein Mann ehrlich mit dir meint.
Da ich ganz erheblich daran zweifelte, beobachtete ich, wann immer sich das zeitlich ermöglichen ließ, das Clubhaus.« »Und?« »Gestern sah ich ihn zum erstenmal. Er kam allein, doch er verließ das Haus ein paar Stunden später mit der Jackson. Die Art, wie sie sich an ihn schmiegte, ließ nur einen einzigen Schluß zu. Und heute ist er wieder dort.« »Du lügst«, entgegnete Kessy. »Du willst ihn nur schlecht machen.« Staf York blieb ruhig. »Natürlich habe ich diese Reaktion erwartet. Es ist schließlich nicht schwierig, von Waterford aus bei dir anzurufen und zu behaupten, sich in Sligo aufzuhalten. Und du glaubst, was du glauben willst. Früher oder später aber gibt es für dich ein böses Erwachen. Das kann ich dir nicht ersparen. Dann brauchst du einen Freund an deiner Seite. Ich sehe nicht ein, warum nicht ich dieser Freund sein soll.« »Nein«, wehrte die junge Frau ab. »Es kann einfach nicht wahr sein. Ich unterstelle dir nicht, daß du absichtlich lügst. Du hast dich einfach geirrt. Du hast Simon nur ein einziges Mal gesehen. Es war dunkel. Warum solltest du ihn nicht verwechselt haben?« »Sei ehrlich, Kessy. Das hältst du ja selbst für unwahrscheinlich. Dein Mann ging damals so dicht an uns vorbei, daß ich ihn fast mit der Hand hätte berühren können. Ich mache dir einen Vorschlag. Komm her und überzeuge dich selbst.« Kessy erinnerte sich an die Vereinbarung, die sie mit Simon getroffen hatte. Sie wollte Waterford meiden. Das sagte sie Staf. Er lachte belustigt. »Das kann ich mir denken. Natürlich wollte dein Mann sicherstellen, daß du ihn kein zweites Mal in flagranti erwischst. Er selbst hält sich jedenfalls nicht an eure Abmachung. Ich würde dich gerne abholen, denn ich kann mir
vorstellen, daß du dich jetzt nicht in der Stimmung befindest, so eine weite Strecke mit dem Auto zu fahren. Wir würden dadurch aber viel Zeit verlieren. Außerdem wüßten wir nicht, ob Simon nicht vor unserer Ankunft den Club wieder verlassen hat. Ich halte es für notwendig, das Gebäude zu beobachten. Nimm dir auf meine Kosten ein Taxi und komm auf dem schnellsten Weg her. Ich erwarte dich in der Charles Road.« »Und dann?« fragte Kessy zögernd. »Dann verschaffen wir uns gewaltsam Zutritt. Vielleicht kannst du Männerkleidung anziehen und deine Haare unter einem Hut verstecken. Unbedingt erforderlich ist das jedoch nicht, denn ich habe mir eine Schußwaffe besorgt. Damit halte ich uns jeden Angreifer vom Leib. Wir können natürlich auch vor dem Club warten, doch dann würde sich dein Mann womöglich mit einer Lüge herausreden. Du glaubst ihm ja jedes Wort, und wenn er behauptet, nur zum Schein zu der Jackson zurückgekehrt zu sein, um Beweise gegen sie zu sammeln, dann kannst du ihm nicht das Gegenteil beweisen. Wenn du aber mit eigenen Augen siehst, was er dort drinnen treibt, bist du hoffentlich von deiner selbstzerfleischenden Liebe zu diesem Menschen geheilt.« Alles in Kessy sträubte sich gegen diese Fahrt. Sie erschien ihr wie ein Verrat an Simon. Gleichzeitig aber sagte sie sich, daß Staf sie nicht völlig ohne Grund mitten in der Nacht anrief und einen so schweren Verdacht äußerte. Es mußte Beweise geben. »Ich komme«, erklärte sie sich widerwillig bereit und hoffte inständig, diese Fahrt vergebens anzutreten. Freudig würde sie Simon ihre Handlungsweise gestehen. Sicher würde er sie begreifen. Sie bestellte telefonisch ein Taxi und nutzte die Zeit bis zu dessen Ankunft, um sich anzukleiden und ein paar notwendige Dinge in eine Tasche zu packen.
Simons Anzüge paßten ihr nicht, aber der alte Ben besaß ungefähr ihre Größe. Sie hatte Glück und fand ein paar von seinen Sachen im Waschraum. Ihre Maskerade vervollständigte sie mit einer ihrer Perücken, der sie in aller Hast einen Männerschnitt zu geben versuchte. Diese Vorbereitungen liefen nicht völlig geräuschlos ab. Steffi wurde wach und erkundigte sich, was denn vorgefallen sei. »Nichts Besonderes«, behauptete Kessy. »Ich fahre nur kurz nach Waterford. Morgen bin ich wieder zurück.« »Und wenn der gnädige Herr anruft?« Steffi wollte nicht wieder etwas falsch machen. »Was soll ich ihm dann sagen?« »Ganz einfach die Wahrheit. Das ist immer am besten.« Steffi verlor kein Wort über die seltsame Kostümierung ihrer Herrin, schüttelte aber Verständnislos den Kopf, als das Taxi davonfuhr.
Zu nächtlicher Stunde herrschte wenig Verkehr auf der Straße nach Waterford. Das Taxi kam gut voran, und Kessy erreichte ihr Ziel erheblich früher, als sie ausgerechnet hatte. »Soll ich warten?« fragte der Taxifahrer, der sich über die gewinnbringende Fuhre sehr freute. Kessy verzichtete darauf und entlohnte ihn. »Ich weiß noch nicht, wie lange ich zu tun habe.« Staf wartete in der Nähe des Cafes. Er ließ sich erst blicken, als der Mietwagen fortgefahren war. »Du siehst schlecht aus, Kessy«, begrüßte er die Frau. »Ist das ein Wunder?« rechtfertigte sie sich. »Du schreckst mich mit absurden Behauptungen auf und wirst nun wahrscheinlich erklären, Simon habe leider vor ein paar Minuten den Club verlassen.«
Staf York schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen zweiten Eingang. Ich hätte ihn sehen müssen. Er steckt noch drinnen.« Er zeigte ihr einen großkalibrigen Revolver und eine kleine Pistole, die er ihr entgegenhielt. »Ich hoffe nicht, daß du sie benutzen mußt, aber als Abschreckung leistet sie bestimmt gute Dienste.« Kessy nahm die Waffe schaudernd entgegen und ließ sie in dem Sakko verschwinden, das über ihrer Brust etwas spannte. Sie fragte sich, ob sie fähig sein würde, auf einen Menschen zu schießen. Vielleicht auf die Jackson? »Ich bin bereit«, sagte sie entschlossen. »Wie kommen wir in das Haus?« Staf holte ein paar stabile Eisenhaken unterschiedlicher Form aus der Tasche. »Ich habe an verschiedenen Schlössern geübt«, berichtete er stolz. »Das Schloß dort drüben macht keinen komplizierten Eindruck. Notfalls müssen wir durch eines der Fenster klettern.« Kessy hielt sich dicht hinter dem Mann. Wieder ließ sich kein Passant auf der Straße blicken. Es war gegen fünf Uhr. Bald würde es hier lebendig werden. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie Staf sich an dem Schloß zu schaffen machte. Er arbeitete konzentriert und bemühte sich, auch das leiseste Geräusch zu vermeiden. Immer wieder hielt er inne, um zu lauschen, doch niemand schien einen Verdacht zu schöpfen. Nach acht Minuten hatte er es geschafft. Die Tür gab nach. Im Gang war es völlig finster. Staf zog den Revolver aus der Tasche und klopfte zur Ermutigung leicht Kessys Arm. »Es wird schon schiefgehen«, raunte er. »Diesmal lassen wir uns nicht an der Nase herumführen. Von keinem.« Kessy antwortete nicht. Ihr war, als müßte sie ersticken. Sie fürchtete sich vor dem Augenblick, an dem sie Simon gegenüberstand. Staf war sich seiner Sache so sicher.
»Den ersten Kerl, den wir treffen, zwingen wir, uns zu der Jackson zu führen«, sagte Staf kaum hörbar. Er faßte Kessys Hand und tastete sich mit ihr zu jener Tür, hinter der sich die Bar befand. Auch hier war es stockdunkel. Das gleiche Bild bot sich im Ruheraum. »Es ist niemand mehr da«, flüsterte Kessy. Ihre Zweifel wuchsen. Die Clubräume machten den Eindruck, als würden sie gar nicht mehr benutzt. Die Polizeirazzia konnte das bewirkt haben. »Warte nur ab«, gab Staf zurück. »Gleich wird es ziemlich lebendig werden.« Kessy ermahnte ihn, um Himmels willen leise zu sein, denn er hatte die letzten Worte laut gesprochen. Ihre Warnung kam zu spät. Eine Tür wurde aufgerissen. Licht fiel auf die beiden Eindringlinge und blendete sie sekundenlang. Trotzdem erkannte Kessy ein paar maskierte Gesichter. Sie waren entdeckt. Staf behielt die Ruhe. Er verschränkte seine Arme vor der Brust und erklärte mit veränderter Stimme: »Hier bringe ich sie euch. Meldet Aphrodite, daß sie ihr Opfer empfangen kann.« Im gleichen Moment flammte die Deckenbeleuchtung auf. Mit eisigem Schreck sah Kessy den starren Blick ihres Begleiters. Schlagartig wurde ihr die grausige Wahrheit bewußt. Staf York war selbst ein Anhänger der Teufelin, die sich von den Männern verehren ließ und hohe Geldsummen für ihre Gunst forderte. Sie argwöhnte, daß die Jackson ihn bereits in jener Nacht in ihren Bann geschlagen hatte, in der er ihre Spur verloren zu haben behauptet hatte.
Alles war Lüge gewesen. Simon hielt sich nicht in Waterford auf. Er befand sich in Sligo und hatte keine Ahnung, daß seine Frau in eine ausweglose Falle gelockt worden war. War sie wirklich aussichtslos? Kessy erinnerte sich an die Pistole in ihrer Tasche. Sie würde schneller sein als Staf. Dann mußten die Gierigen sie laufen lassen. Sie brauchte ihr Entsetzen nicht zu spielen. Gleichzeitig aber zuckte ihre Hand blitzschnell in die Tasche und kam mit der silbrig glänzenden Waffe wieder zum Vorschein. Sie richtete sie auf den Mann, der sein teuflisches Spiel mit ihr getrieben hatte und den sie gleichfalls bewaffnet wußte. Er war im Augenblick am gefährlichsten. »Aphrodite wird keine Freude an mir haben«, versicherte sie mit erzwungener Ruhe. »Ich hätte wissen müssen, daß du nur ein Schwächling bist, der seine angebliche Liebe zu mir verkauft hat. Zwinge mich nicht, auf dich zu schießen. Ich werde es tun, wenn ihr mir keine andere Wahl laßt.« Stafs Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er traf keine Anstalten, an seinen Revolver heranzukommen. Wie ein Automat streckte er seine Hand nach Kessy aus. Sie wollte ihn nicht töten. Dazu war sie selbst jetzt nicht imstande. Aber verletzen mußte sie den Mann, der ihren Tod guthieß. Sie nahm ihre zweite Hand zu Hilfe und richtete die Pistole auf Stafs rechten Arm. Dann drückte sie ab. Hatte sie sich allen Ernstes eingebildet, er hätte ihr eine geladene Pistole überlassen? Sein perfektes Spiel wurde durch das höhnische »plopp« bestätigt. Mitleidlos packte er ihre Arme und stieß die Frau vor sich her. Die Maskierten empfingen sie und bildeten einen undurchdringlichen Kreis. Diesmal würden sie sie nicht
entkommen lassen, und Kessy fehlte auch die Kraft für einen neuerlichen Gewaltakt. Sie ließ sich in den Raum führen, in dem der abgedeckte Billardtisch stand. Sie wußte, was nun folgte. Die dünne Abdeckplatte aus Sperrholz war inzwischen erneuert worden. Der Mechanismus funktionierte noch. Die steinerne Mulde erschien. In stoischer Ruhe falteten die Maskierten das schwarze Tuch zu einem Kopfkissen zusammen. Kessy wurde auf den Tisch gehoben. Staf selbst schnallte die Riemen fest. Er war es auch, der als Wache bei ihr zurückblieb, während sich die übrigen entfernten. Staf stand so, daß sie ihm in die Augen schauen konnte. Es waren tote Augen ohne jegliches Gefühl. Kessy wußte nicht, wieviel Zeit ihr blieb. Ihr war nur klar, daß etwas geschehen mußte, wenn sie nicht auf diesem Opferaltar sterben wollte. Warum hatte sie nicht Simon größeres Vertrauen geschenkt? Doch wie hätte sie ahnen sollen, daß Staf in der Zwischenzeit ein willenloses Werkzeug der Jackson geworden war? Aber konnte nicht auch ein anderer an den Fäden einer Marionette ziehen? Die Jackson befand sich nicht im Raum. Schließlich war es Kessy auch bei ihrem Mann gelungen, ihn wieder zur Besinnung zu bringen und ihn das Unrecht seines Tuns erkennen zu lassen. Das mußte sie auch bei Staf versuchen. »Bist du stolz auf deine Leistung, Staf?« begann sie. »Befriedigt es einen Mann wie dich, von einer Frau zum Narren gemacht zu werden? Bei Perdita Jackson bist du nur einer von vielen. Sie benutzt dich für ihre Zwecke. Was erwartest du von ihr? Dank? Liebe? Ich sage dir, daß sie euch alle verachtet. In ihren Augen seid ihr nichts als Schwächlinge, die sie benötigt, um ihr Vermögen zu vergrößern. Ist es das
wert, daß du einen Mord duldest, ja, ihn vielleicht sogar selbst begehst?« Anfangs schien es, als wollte Staf sie keiner Antwort würdigen. Er starrte auf sie hinab und verzog keine Miene. Doch dann öffnete er seinen Mund und erwiderte monoton: »Mein Leben gehört Aphrodite. Was sie befiehlt, ist gut und richtig. Der Stern der Göttin leuchtet hell.« »Eines Tages wird sie ihre gerechte Strafe erhalten. Da wird es ihr nichts nützen, daß ihr Bruder ein einflußreicher Politiker ist. Und ihre Gefolgsleute, die ihr wie eine Herde von Schafen gehorchten, werden neben ihr auf der Anklagebank sitzen. Und du mitten unter ihnen.« »Aphrodite ist unbesiegbar«, war die stereotype Antwort. »Sie hält ihre Hand über uns und läßt uns an ihrer Glorie teilhaben. Du wolltest ihr schaden. Du und dein Mann habt ihr die Polizei ins Haus geschickt. Dafür nimmt die Göttin der Liebe Rache.« »Und du, Staf?« drängte Kessy weiter. Sie spürte, daß der Willenlose durch Worte allein nicht zu überzeugen war. »Hast du nicht auch mir deine Liebe geschworen? Bin ich nicht auf deinen Ruf zu dir gekommen? Warum nimmst du dir jetzt nicht, wonach du dich sehntest? Küß mich! Selbst wenn ich es wollte, könnte ich dich nicht abwehren, denn ich bin gebunden. Komm und zeige mir, wie sehr du mich liebst!« Es war ein Akt der Verzweiflung. Nichts widerstrebte Kessy in diesem Augenblick mehr, als von dem Mann geküßt zu werden, der sie in diese Lage gebracht hatte. Doch sie erinnerte sich, welch unerwartete Wirkung ihr Kuß bei Simon ausgelöst hatte. Durch die Berührung ihrer Lippen war er ihr zurückgegeben worden. Sie bemerkte eine gewisse Unruhe bei Staf York. Sein Blick huschte flüchtig zur Tür, hinter der seine maskierten Kumpane verschwunden waren. Er wollte sich wohl vergewissern, daß er
nicht beobachtet wurde. Sobald er wieder bei Sinnen war, mußte er sie schleunigst von den Riemen befreien und mit ihr fliehen. »Ich verzehre mich nach dir, Staf«, behauptete sie und dachte dabei intensiv an Simon, der nichts von ihrem Schicksal ahnte. Es bedurfte noch mehrmaligen Zuredens, ehe sich Staf endlich in Bewegung setzte und neben ihr verharrte. Nach einem letzten Zögern beugte er sich zu ihr hinab, um sie zu küssen. Da flogen die beiden Türen auf. Die Maskierten kehrten zurück und vereitelten die erhoffte Befreiung. Staf schnellte in die Höhe und wich drei Schritte zurück. Sein Gesicht nahm wieder den gleichgültigen Ausdruck an. Die letzte Chance war unwiederbringbar vertan.
Kessy war Mittelpunkt eines gespenstischen Spiels. Neben ihrem Kopf, in der Nähe der Hände und zu ihren Füßen brannten schwarze Kerzen. Die Maskierten umringten sie und murmelten unaufhörlich eine Litanei, die von Zeit zu Zeit in verzückte Aufschreie eskalierte. Der Singsang war Aphrodite gewidmet und schien kein Ende zu nehmen. Die Kerzenflammen erzeugten beträchtliche Wärme. Doch der eigentliche Grund, warum Kessy schweißgebadet war, waren die Angst und ihre Erschöpfung. Sie lag nun wohl schon mindestens zwei Stunden auf dem Opfertisch, und noch immer war kein Ende der makabren Beschwörung abzusehen. Staf York hatte offensichtlich seine Bereitschaft, sie zu küssen, vergessen. Seine Augen waren unablässig auf eine der Türen gerichtet, auf die auch die anderen Männer starrten. Staf war als einziger nicht maskiert und trug seine volle Bekleidung.
Es gab Augenblicke, in denen sich Kessy wünschte, daß endlich alles vorüber sei, gleichgültig, wie es endete. Dann wieder klammerte sie sich an eine einfältige Hoffnung, sehnte ein Wunder herbei, von dem sie doch wußte, daß es nicht eintreten würde. Daß sich die Entscheidung anbahnte, merkte sie am veränderten Verhalten der Männer. Ihre Erregung steigerte sich. Ihre Stimmen artikulierten in höchsten Fisteltönen. Sie rissen sich die Masken von den Gesichtern und warfen sich zu Boden. Die Tür öffnete sich, und Perdita Jackson erschien. Es war nicht übertrieben. Sie glich tatsächlich einer Göttin nach heidnischen Vorstellungen. In einer kunstvoll aufgetürmten Frisur blitzte und glitzerte es. Kessy hielt es für denkbar, daß es sich um echte Edelsteine handelte. Sie brauchte nur an das viele Geld zu denken, das die Frau von Simon gefordert und erhalten hatte. Alle anderen Männer wurden zweifellos in ähnlicher Weise zur Ader gelassen. Sie hatte ihr Gesicht mit starker Betonung der Augen geschminkt. Das Make-up setzte sich aber über ihren ganzen Körper fort, denn sie war nackt. Ihre Anhängerschar stöhnte lustvoll auf. Jeder träumte davon, in den Armen dieser Hexe zu liegen, die die Kunst der Verführung perfekt praktizierte. Sie stieg auf ein niedriges Podest, das Kessy zuvor nicht bemerkt hatte, und nickte zwei Männern zu. Diese eilten mit einer flachen Silberschale herbei, tauchten ihre Finger hinein und begannen, ihren Körper mit Malereien zu verzieren. Dazu erhob sich von neuem der Gesang der Willenlosen. Es war rote Farbe, die sich in der Schale befand und die nur für wenige Striche reichte. Handelte es sich etwa um Blut?
Diese Annahme entsprach der Wahrheit, denn zum erstenmal seit ihrem Erscheinen öffnete Perdita Jackson den Mund und befahl lockend: »Füllt die Schale erneut! Bringt Aphrodite eure Opfer!« Staf York erwachte aus seiner Erstarrung. Er hatte sein Stichwort erhalten. Aus seinem Gürtel zog er ein aufblitzendes Messer. Er legte es auf seine flachen Hände und trat damit vor seine Göttin. Die Jackson neigte ihren Kopf und berührte die Klinge mit den Lippen. Wieder schwoll das Stöhnen der Männer an. Sie erhoben sich auf die Knie und streckten der Frau ihre geöffneten Hände entgegen. Dabei befahl sie in Stafs Richtung: »Töte die Sünderin!« Der Mann drehte sich um und trat neben die Gefesselte. Die anderen wichen weit genug zurück, daß sie ihn nicht behinderten. Er blickte gleichgültig auf sein wehrloses Opfer herab, bevor er die Faust, die das Messer hielt, hochriß und auf ihr Herz zielte. Kessy schloß voller Entsetzen die Augen. »Simon!« flüsterte sie. »Kessy!« schrie es verzweifelt an ihr Ohr. Das konnte unmöglich eine Antwort sein. Simon befand sich in Sligo, mehr als hundertfünfzig Meilen von Waterford entfernt. Warum stieß Staf nicht endlich zu? Wie lange wollte er ihre Qualen noch hinauszögern? Was bedeutete der Lärm? Kessy riß die Augen auf und erkannte Uniformen. Polizei! Es herrschte ein unglaubliches Durcheinander. Die Männer, die zum größten Teil noch auf dem Boden knieten, leisteten kaum Widerstand. Doch Perdita Jackson, die ihre Macht
zusammenbrechen sah, griff mit einem Wutschrei hinter sich und brachte eine schwere Waffe zum Vorschein. Kessy kannte sich mit diesen Dingen nicht aus, vermutete jedoch, daß es sich um eine Maschinenpistole handelte. Kessy begriff das alles nicht. Am wenigstens aber verstand sie, wieso sich Simon zwischen den Polizeibeamten befand. »Das dort ist die Hexe!« schrie er und zeigte zornig auf die Jackson. Zwei Polizisten stürmten auf die Frau zu, um sie zu verhaften. Zu spät erkannten sie die Maschinenpistole. Staf York sah seine angebetete Göttin in Gefahr. Selbst durch die Uniformierten kam er nicht zur Besinnung. Er mußte unter einem schweren Rausch stehen. Mit gewaltigen Sätzen schnellte er an dem Altar vorbei und kam den Beamten zuvor. Schützend stellte er sich vor Perdita Jackson. Er war bereit, die Angreifer mit dem Messer zu empfangen. In der gleichen Sekunde schoß die Frau, der absolut nichts Göttliches anhaftete. Die Feuergarbe galt den Männern des Gesetzes, doch sie traf Staf York in den Rücken. Ächzend brach er zusammen. Perdita Jackson kam nicht mehr dazu, einen zweiten Feuerstoß aus der tödlichen Waffe zu jagen. Jemand schlug sie ihr aus der Hand. Im nächsten Augenblick war auch sie überwältigt. »Betet mich an!« befahl sie mit sich überschlagender Stimme. »Ich bin Aphrodite und schenke euch höchstes Liebesglück. Durch mich werdet ihr erfahren, wie tief ein Herz empfinden kann.« »Und Sie werden schon bald erfahren, wie empfindlich hart die Pritschen in den irischen Gefängnissen sind«, prophezeite Inspektor Grass, der der Nackten sicherheitshalber Handschellen anlegte.
Simon kümmerte sich um seine Frau. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie noch lebte, löste er schleunigst die Lederriemen und hob sie von dem Opfertisch. Als er sie auf seinen Armen aus dem Raum des Schreckens trug, öffnete sich ihm eine Gasse. Polizisten sorgten dafür, daß er ungehindert hinausgehen konnte. Kessy schmiegte sich an ihn. Sie klammerte sich förmlich an ihm fest, als fürchtete sie, einem Trugbild zum Opfer zu fallen. Simon konnte ja nicht hier sein. Vielleicht war sie schon tot und beobachtete alles von einer ungewohnten Warte aus. »Was mußt du durchgemacht haben, Liebste«, flüsterte der Mann, nachdem er sie auf eine Liege gebettet hatte. »Dagegen war die Angst, die ich um dich hatte, kaum der Rede wert, und sie hat mich fast umgebracht.« Allmählich glaubte Kessy, daß sie sich nicht nur alles einbildete. Simon hielt sie in seinen starken Armen. Sie war gerettet. »Wie konntest du wissen, daß ich hier bin?« fragte sie verständnislos. »Und all die Polizisten. Woher kommen sie?« »Ich habe sie geholt. Diesmal ließ ich nicht locker, bis Inspektor Grass mir mit seinen Leuten folgte. Er muß gespürt haben, daß er keine Zeit verlieren durfte.« »Staf hatte also recht? Du warst in Waterford und nicht in Sligo?« »Hat er das behauptet? Dieser Schuft! Ich kann nur hoffen, daß er der Polizei nicht entwischt ist. Zweifellos machte er mit der Jackson gemeinsame Sache und wollte dich nur herlocken.« Kessy bestätigte es, und sie erklärte auch, daß Staf York jener Mann war, den die Jackson erschossen hatte. »Ich wollte nicht herkommen«, beteuerte sie, »doch alles, was er sagte, klang so glaubhaft. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, daß er mir nur eine von der Teufelin befohlene
Komödie vorspielte, um mich in ihre Gewalt zu bringen. Mit meinem Tod wollten sie sich an uns rächen. Aber ich weiß noch immer nicht, wieso du…« »Das ist ganz einfach, mein Liebling«, sagte Simon zärtlich und strich seiner erregten Frau beruhigend übers Haar. Ihre Perücke hatte sie schon bei ihrer Überwältigung verloren. »Ich wollte dich, wie gewohnt, heute früh anrufen und erfuhr von Steffi, daß du in seltsamer Verkleidung mit einem Taxi nach Waterford gefahren seist. Die ganze Wahrheit konnte ich zwar nicht ahnen, doch reimte ich mir zusammen, daß du versuchen würdest, als Mann in den Club zu gelangen. Ich war außer mir vor Entsetzen. Was sollte ich nur tun? Ich telefonierte sofort mit Inspektor Grass, der mir aber erneut keinen Glauben schenkte und mir sogar mit einer Strafanzeige drohte. In meiner Not wandte ich mich an die Polizei in Sligo und stieß dort auf mehr Verständnis. Ein Streifenwagen brachte mich mit Blaulicht und Sirene nach Waterford. Die Kollegen aus dem Norden und meine Beharrlichkeit überzeugten Grass schließlich. Er trommelte ein Aufgebot zusammen, und so drangen wir hier unbemerkt ein. Ich glaube, es war in letzter Minute.« »In allerletzter Sekunde, Simon. Staf wollte schon das Messer in mein Herz bohren.« »Ich bin so froh«, erklärte Simon und küßte seine Frau behutsam. »Endlich hat der Spuk ein Ende, und auch die Wahrheit über den Tod Richard O’Brians wird ans Licht kommen.« »Ich kann wieder ohne Angst leben. Glaubst du, daß die Aufregung unserem Baby geschadet hat?« »Ich werde der Vater des süßesten Geschöpfes sein, das man sich nur vorstellen kann«, versicherte Simon. »Und weißt du, was das Wunderbarste ist?« »Nein?«
»Seine Mutter ist meine Frau, und ich liebe sie.« Das bewies er Kessy nachdrücklich mit seinem nächsten Kuß.