Nr. 441
Die Träumer von Oth Gefangen im Bann des Friedens von Marianne Sydow
Nachdem der Dimensionsfahrstuhl Atlantis...
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Nr. 441
Die Träumer von Oth Gefangen im Bann des Friedens von Marianne Sydow
Nachdem der Dimensionsfahrstuhl Atlantis-Pthor im Randgebiet der Schwarzen Galaxis zum Stillstand gekommen war, hatte Atlan, wie erinnerlich, die Flucht nach vorn ergriffen. Zusammen mit Thalia, der Odinstochter, flog er ins Marantroner-Re vier, das von Chirmor Flog, einem Neffen des Dunklen Oheims, beherrscht wurde. Dort, von Planet zu Planet eilend und die Geheimnisse der Schwarzen Galaxis ausspähend, bestanden Atlan und seine Gefährtin so manche tödliche Gefahr ge meinsam – bis der Planet Dykoor zu Thalias Grab wurde. Nun, nach einer wahrhaft kosmisch anmutenden Odyssee, ist der Arkonide zusam men mit seinen Freunden Razamon und Axton/Kennon wieder nach Pthor zurückge kehrt, das inzwischen seinen Standort gewechselt hat und von Truppen des Duuhl Larx, des Herrschers über das Rghul-Revier, besetzt ist. Nur die Große Barriere von Oth, in der die Magier herrschen, haben die neuen In vasoren, die die Streitkräfte Chirmor Flogs vertrieben, nicht überwinden können. Dabei ist dies gar nicht schwierig, wie Atlan feststellt, denn die Magier, die erst kürzlich dem Schwarzschock unterlagen, haben sich nun verwandelt in DIE TRÄU MER VON OTH …
Die Träumer von Oth
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Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Arkonide in der Barriere von Oth.
Chirmor Flog - Der Neffe geht ein Bündnis ein.
Kolphyr, Koy und Fenrir - Gefangene im Land der Magier.
Koratzo und Copasallior - Repräsentanten des »allumfassenden Friedens«.
1. In gewisser Weise war es für Atlan ein denkwürdiger Augenblick. Er kehrte nach Pthor zurück. Der Gedanke an das, was ihn in diesem Land erwartete, weckte die wider sprüchlichsten Gefühle in ihm. Die Bewohner von Pthor hatten ihn zu ih rem König ernannt, aber das war lange her. Atlan hatte längst jedes Gefühl für die Zeit, die seitdem vergangen war, verloren. Wäh rend der schier endlosen Hetzjagd kreuz und quer durch das Marantroner-Revier hatte er meistens anderes im Sinn gehabt, als die Ta ge zu zählen, die seit seinem Aufbruch ver gangen waren. Selbst wenn er unter günsti geren Umständen nach Pthor zurückgekom men wäre, hätten ihn sicher nicht alle seine ehemaligen »Untertanen« mit Begeisterung begrüßt. Mußten sie nicht glauben, er hätte sie im Augenblick höchster Gefahr im Stich gelassen? Aber das wäre ein relativ unwich tiges Problem gewesen, wenn sein Unter nehmen erfolgreich verlaufen wäre. Dann hätte er vor die Pthorer hintreten und ihnen erklären können, wie man das Land vor dem Zugriff des Dunklen Oheims und seiner schrecklichen Neffen bewahren konnte. Über solchen Nachrichten hätten sie alle Zweifel sehr schnell vergessen. Statt dessen kam er als Verlierer, schlim mer noch, als Gefangener. Zwar hatte man ihn nicht gebunden, aber die Fesseln, die Duuhl Larx dem Arkoniden angelegt hatte, wogen schwerer als die schlimmsten Ketten und Stahlbänder. Der Neffe hatte Razamon und Lebo Axton bei sich behalten. In der MARSAPIEN waren sie der Willkür dieses grausamen Herrschers wehrlos ausgeliefert. Beging Atlan einen Fehler, dann würden Axton und der Berserker eines qualvollen
Todes sterben. Atlan wußte, daß er nicht den Mut haben würde, auch nur das kleinste Ri siko einzugehen. Und doch regte sich unver nünftigerweise ein klein wenig Freude in ihm. »Wir sind gelandet«, verkündete einer der Trugen, die Atlan zu bewachen hatten. Die Stimme dieses unförmigen Wesens klang quäkend und emotionslos. »Komm.« Der Truge ging voran, und At lan folgte ihm gehorsam. Seine übrigen Be gleiter setzten sich ebenfalls in Bewegung. Mit ihren massigen, eckigen Körpern riegel ten sie den Gang hinter Atlan ab, als fürchte ten sie, der Arkonide könne plötzlich versu chen, sich tief drinnen im Schiff zu verkrie chen. »Halt!« kommandierte der Truge, der vor Atlan herging, und die Truppe blieb stehen, als wäre sie gegen eine Mauer geprallt. Die Schleuse öffnete sich, und der Arkonide stand da wie erstarrt. »Warum sind wir in der FESTUNG ge landet?« fragte er, als er sich halbwegs ge fangen hatte. »Warum nicht gleich vor der Barriere von Oth?« Dem Trugen war keine Gemütsbewegung anzumerken. Sein köcherförmiger Kopf wies nichts auf, was einem normalen Ge sicht entsprochen hätte und dazu geeignet gewesen wäre, Gefühle auszudrücken. »Komm!« sagte der Truge, ohne auf At lans Frage einzugehen. Etwas Schlimmes stand ihm bevor. Atlan wußte es, bevor er erkennen konnte, worauf das klobige Wesen zusteuerte. Mit seinem riesigen Körper versperrte der Truge dem Arkoniden die Sicht. Er bemühte sich, auf alles gefaßt zu sein, aber als der Truge zur Seite wich und Atlan den Mann sah, den man ihm hatte zeigen wollen, traf ihn dieser Anblick wie ein Schlag. Er blieb stehen. Es war ein Orxeyaner, einer von diesen
4 typischen gedrungenen, breitschultrigen Männern aus der Stadt am Blutdschungel. Sie strotzten vor urwüchsiger Lebenskraft – aber dieser Mann hier glich einer zerbroche nen Puppe. Er lebte noch, und das war das Schlimmste. Er sah Atlan an und öffnete den Mund, aber die Trugen hatten schon längst dafür gesorgt, daß er nicht mehr schreien konnte. Atlan wußte, was der Orxeyaner ihm mitteilen wollte. Es war eine verzweifelte Bitte, daß man ihn endlich töten möge. Als Atlan sich ungelenk auf den Mann zu in Bewegung setzte, rissen die Trugen ihn zurück und zogen ihn einfach weiter. Er stemmte sich gegen sie, aber er kam nicht frei. Erschöpft gab er es schließlich auf. So bald er aufgehört hatte, sich zu wehren, kam die Reaktion seines Körpers auf das, was er hatte sehen müssen. Auch das konnte die Trugen nicht beeindrucken. Sie schleppten ihn zu einem Zugor und stießen ihn hinein. Zwei Trugen setzten sich zu ihm in das Fahrzeug. Die anderen blieben im Halbkreis vor der Flugschale stehen. »Kanntest du den Mann?« fragte der eine Truge. Atlan starrte ihn an. »Nein«, sagte er. »Das ist gut«, behauptete der Truge unge rührt mit seiner abscheulichen, quäkenden Stimme. »Dann wirst du dir um so besser vorstellen können, wie es beim nächstenmal sein wird.« Atlan schwieg. Er hätte diesem Wesen sagen können, daß eine solche Warnung völlig überflüssig war. Er hatte auch vorher genau genug gewußt, was seinen Freunden bevorstand, wenn er ein falsches Spiel trieb. War Atlan bisher trotz allem noch imstan de gewesen, den Neffen Duuhl Larx einiger maßen nüchtern zu beurteilen, so wuchs nun in ihm der Haß. »Du wirst zu den Magiern fliegen«, fuhr der Truge fort. »Und zwar mit diesem Fahr zeug. Wir folgen dir. Ich rate dir, jeden Ge danken an Flucht aufzugeben.« »Ich werde nicht fliehen!« sagte Atlan
Marianne Sydow langsam. »Aber Duuhl Larx wird sich eines Tages wünschen, daß ich es versucht hätte!« Hör auf damit, warnte der Extrasinn. Du machst es höchstens noch schlimmer! »Du wirst auf unser Zeichen warten und dann starten«, erklärte der Truge unbeein druckt. Er erhob sich und traf Anstalten, aus dem Zugor zu klettern. »Augenblick!« sagte Atlan hastig. »Ihr habt doch schnelle Gleiter – warum soll ich mit diesem Zugor fliegen?« »Befehl vom Neffen«, gab der Truge zu rück. Er hielt es offenbar für unnötig, weitere Erklärungen abzugeben, denn er stieg end gültig aus dem Fahrzeug und ging mit stampfenden Schritten davon.
* Während des Fluges hatte Atlan Zeit zum Nachdenken, und das war nicht sehr ange nehm für ihn. Anfangs hatte er sich abzulen ken versucht, indem er auf das Land hinun tersah und die Veränderungen registrierte, die es in der Zeit seiner Abwesenheit gege ben hatte. Es war erstaunlich, wie sehr er sich an Pthor gewöhnt hatte. Inmitten der Schwarzen Galaxis erschien ihm der Konti nent fast als ein Stückchen Heimat. Gerade darum schmerzte es ihn um so mehr, zu se hen, was aus Pthor geworden war. Da die Trugen nicht von ihm verlangt hatten, daß er den kürzesten Weg nahm, richtete er den Kurs so ein, daß er Donkmoon überflog. Die Stadt war voller Trümmer. Er sah keinen einzigen Techno in den Straßen. Dafür stan den ein halbes Hundert dieser Wesen am Stadtrand auf einem Feld, und bewaffnete Trugen trieben sie zur Arbeit an. Das war nicht die Art von ablenkenden Aussichten, die Atlan sich in diesem Augenblick wünschte. Er zog den Zugor hoch und ging auf volle Beschleunigung. Er warf keinen einzigen Blick mehr in die Tiefe, bis vor ihm die Barriere auftauchte. Die Berge waren durch den magischen Schutzschirm hindurch zu erkennen, aber sie
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wirkten verzerrt und schienen sich auf selt von Oth. Ihnen war es gelungen, den beiden same Weise zu bewegen. Glyndiszorn hatte Neffen eine Lehre zu erteilen – nicht, indem diesmal wohl eine andere Art von Knoten sie Gewalt mit Gegengewalt beantworteten, hergestellt als damals, als die Magier sich sondern auf die Art, die Wesen wie Chirmor vor den Herren der FESTUNG hatten schüt Flog und Duuhl Larx an ihrem empfindlich zen wollen. Damals jedenfalls war der sten Punkt treffen mußte. Sie hatten noch Schirm undurchsichtig gewesen, eine düste nicht einmal im eigentlichen Sinn passiven re Wand, in der seltsame, dumpf glühende Widerstand geleistet, sondern einfach Nicht Muster sich bewegten. So jedenfalls hatte achtung gezeigt. Thalia es beschrieben. Erst als Atlan gelandet war, kam ihm zu Thalia – schon wieder eine Erinnerung, Bewußtsein, daß er sich möglicherweise die falsche Stelle ausgesucht hatte. Er befand die schmerzte. »Warum unternimmst du nichts dage sich ungefähr auf der Höhe der Tronx-Kette. Der Sitz des Knotenmagiers lag viel weiter gen?« fragte Atlan ärgerlich, und damit meinte er den Extrasinn. »Warum läßt du westwärts. keine deiner spöttischen Bemerkungen vom »Na und?« murmelte er vor sich hin. Stapel?« »Darauf kommt es auch nicht mehr an. Es Du kannst diese Dinge nicht immer nur wäre ein Wunder, wenn sie mich überhaupt verdrängen, erklärte der Extrasinn nüchtern. bemerken sollte – und selbst wenn sie mich Irgendwann mußt du all das verarbeiten. sehen, werden sie mich wohl kaum in die »Gut und schön«, sagte der Arkonide un Barriere lassen, solange die Trugen hier her geduldig. »Aber das muß ja wohl nicht jetzt umlungern.« sein. Gib mir lieber einen vernünftigen Rat Er stieg aus dem Zugor und ging auf die Wand des Großen Knotens zu. Er wußte, und sage mir, wie ich durch diesen Schirm daß er nichts tun konnte, um den Erfolg zu komme!« Das weiß ich nicht. Der Schirm ist ein erzwingen. Es war sinnlos, nach den Magi Werk der Magie, und Magie ist das Gegen ern zu rufen. teil von Logik. Aber da waren die Trugen, die sicher ir »Das muß ich Koratzo erzählen«, mur gendein Schauspiel erwarteten. Es wäre ge melte Atlan mißmutig. »Ich wette, daß er fährlich gewesen, sie zu enttäuschen. Gab er versucht, mich vom Gegenteil zu überzeu eine gute Vorstellung, und die Magier rea gen.« gierten trotzdem nicht, dann würden sie we »Worauf wartest du noch?« quäkte es ne nigstens glauben, daß er sich bemüht hatte. ben ihm. Der Arkonide hob die Arme, vollführte eine Er fuhr herum und entdeckte die beiden theatralische Geste und rief: anderen Zugors, die sich dicht an sein Fahr »Atlan, der König von Pthor, bittet um zeug herangeschoben hatten. Ein Truge deu Einlaß!« tete ungeduldig auf die geisterhafte Wand, Er kam sich lächerlich dabei vor. Die Tru hinter der die Berge verschwammen. gen dagegen schienen beeindruckt zu sein. »Befiehl ihnen, daß sie dich einlassen!« Jedenfalls sah er, daß sie ihre Köcherköpfe Atlan steuerte den Zugor nach unten. Er halb einzogen, und das war laut Razamon sah die Krater und Furchen im Boden, und ein Zeichen dafür, daß sie Respekt oder unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Die Angst empfanden. Scuddamoren mußten wirklich alles ver Du solltest das Spiel ruhig ein bißchen sucht haben, um den Schirm aufzubrechen. übertreiben, empfahl der Extrasinn. Wenn Sie hatten sich die Zähne daran ausgebissen, du deine Rolle glaubhaft spielst, wird Duuhl und den Trugen erging es nicht anders. Der Larx darauf verzichten, zwei wertvolle Infor Arkonide war beinahe stolz auf die Magier manten für dein angebliches Versagen bü
6 ßen zu lassen. Das stimmt! dachte Atlan überrascht. Und dann fiel ihm noch etwas ein. Wenn es ihm gelang, die beiden Freunde vor dem Neffen zu retten und gleichzeitig zu verhindern, daß die Magier den Schirm öff neten, gewann er kostbare Zeit. Solange die Barriere von Oth unangreifbar war und die Magier sich weigerten, die Autorität eines Neffen oder des Dunklen Oheims anzuer kennen, würde man Pthor nicht in der ge wohnten Weise verwenden. Atlan lächelte böse. Er trat dicht an den Schirm heran und schüttelte die Fäuste ge gen das undurchdringbare Hindernis. »Laßt mich sofort herein!« schrie er, so laut er konnte. »Ich befehle es euch!« Selbst wenn die Magier ihn beobachteten und bereits erwogen, ihn in ihr Reich zu ho len – mit dieser harschen Forderung mußte er sich jede Chance bei ihnen verdorben ha ben. Er war sich dessen so sicher, daß er sich erneut den Trugen zuwandte und dem Schirm den Rücken kehrte. »Sie wollen nicht gehorchen«, rief er sei nem Publikum zu. »Ihr seht es ja selbst.« Er ging langsam auf die Trugen zu, da sah er, daß sie plötzlich die Köpfe noch tiefer einzogen. Einer deutete zitternd zum Schirm hinüber. »Er öffnet sich!« stammelte der Truge. »Er öffnet sich wirklich!« Wollen diese Kreaturen mich auf den Arm nehmen? fragte Atlan sich verblüfft. Da hörte er die Stimme. »Komm her zu mir«, bat sie sanft. »Erlaube mir, daß ich dich durch den Tunnel führe.« Er fuhr herum. Vor einem glühenden Tor, das sich in der Wand des Schirmes aufgetan hatte, stand ein schwarzhäutiger Hüne mit wallender, golde ner Mähne. Ungläubig starrte Atlan den Ma gier an. Sein Erstaunen galt nicht der Tatsache, daß gerade Breckonzorpf kam, um ihn zu holen. Überrascht war Atlan wegen der
Marianne Sydow Sanftheit, die nicht nur in Breckonzorpfs Stimme lag, sondern sich auch in seinem Lä cheln und in jeder einzelnen Bewegung aus drückte. Er hatte Breckonzorpf bisher fünf oder sechsmal gesehen, und der Wetterma gier hatte nie einen derart friedfertigen Ein druck gemacht. Spielten die Magier ihm einen Streich? Atlan kannte das Geheimnis der magischen Masken. Jeder hätte ihn mit Hilfe eines sol chen Gebildes leicht täuschen und die Rolle des Wettermagiers übernehmen können. Ge rade wegen der Perfektion jedoch, mit der diese Art von Masken funktionierte, verwarf Atlan diesen Gedanken. »Bist du wirklich Breckonzorpf?« fragte er trotzdem. »Ich bin es«, versicherte der Magier. »Fürchte dich nicht!« »Nichts liegt mir ferner«, murmelte Atlan verwirrt. Breckonzorpf nahm den Arkoniden bei der Hand und zog ihn mit sich in den glü henden Tunnel hinein.
* Für die Trugen ging alles ein wenig zu schnell. Der Magier erschien wie hingezau bert, wechselte ein paar Worte in Pthora mit Atlan und verschwand dann wieder, wobei er den Arkoniden mitnahm. Die beiden Männer hatten zu leise gesprochen, als daß die vorsichtshalber mitgebrachten Translato ren ihre Worte ins Garva-Guva hätten über tragen können. Hinter dem Magier und dem Arkoniden schloß sich der Tunnel im Bruch teil einer Sekunde. Der seltsame Schutz schirm war so undurchdringlich wie zuvor. Sie verließen diesen Ort und kehrten zur MARSAPIEN zurück, um dem Neffen Du uhl Larx Bericht zu erstatten. Sehr wohl war ihnen dabei nicht zumute. Nur zögernd traten sie vor die hell und heiß strahlende Energiehülle, in der der Neffe steckte. Atlan war außer Reichweite. Nie mand kam gegen den Willen der Magier an ihn heran. Also konnte der Arkonide völlig
Die Träumer von Oth unbekümmert tun und lassen, was ihm gera de einfiel. In den Augen der Trugen war das ein unhaltbarer Zustand. Begriffe wie Freundschaft und Vertrauen waren ihnen un bekannt. Für sie galt nur das Wort des Nef fen, und auf seinen Befehl hin wären sie be reit gewesen, ihre nächsten Angehörigen kaltblütig umzubringen. Darum konnten sie sich nicht vorstellen, daß Atlan im Reich der Magier etwas anderes tat, als seine eigenen Pläne zu verfolgen. Daß er Rücksicht auf seine gefangenen Freunde nehmen würde, kam den Trugen gar nicht erst in den Sinn. Sie fragten sich, ob sie den Arkoniden nicht in die Berge hätten begleiten sollen, ja, ob nicht der Neffe dies von ihnen erwartet hatte. Er hatte keinen diesbezüglichen Be fehl gegeben. Aber es wäre nicht das erste mal gewesen, daß Duuhl Larx seine bevor zugten Krieger für etwas bestrafte, wofür diese überhaupt nichts konnten: für ihren Mangel an Initiative. Duuhl Larx jedoch zeigte sich erstaunlich sanftmütig und entließ die Trugen, ohne mehr als zwei Worte zu ihnen gesprochen zu haben. Der Neffe hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Im Gegensatz zu seinen Untertanen wußte Duuhl Larx sehr wohl, von welchen Idealen der Arkonide und seine beiden Ge fährten sich leiten ließen. Duuhl Larx war ungeheuer stolz auf sich, weil er es so fabelhaft verstand, die Stärke des Gegners in Schwäche zu verwandeln. Der Glaube an diese in den Augen des Nef fen völlig überflüssigen Ideale trieb Wesen wie Atlan, Razamon und Lebo Axton dazu, gegen die Macht der Schwarzen Galaxis an zukämpfen. Derselbe Glaube aber verwan delte sich in eine absolut zuverlässige Fes sel, sobald man ihn in der richtigen Weise auszunutzen verstand. Der Neffe hatte das erkannt. Er wähnte sich auf dem sicheren Weg zum Erfolg. Schon bald, so sagte er sich, würde er dem Dunklen Oheim melden können, daß Pthor gereinigt und reisebereit sei.
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2. Kolphyr war mit seiner Geduld am Ende. Er konnte es nicht mehr mitansehen, wie Koy von Tag zu Tag immer schwächer wur de. Stundenlang saß der Trommler nur schweigend da, lächelte über das ganze falti ge Gesicht und gab sich seinen Träumen von einer absoluten friedlichen Welt hin. Ver spürte er Hunger, so zupfte er sich ein paar Blätter von den Kräutern, die am Fuß der Felsen wuchsen, oder er wanderte am Rand der Schlucht entlang und suchte dort nach würzigen Beeren, die grundsätzlich an Zwei gen wuchsen, die man nur unter akuter Le bensgefahr erreichen konnte. »Zieh die Büsche zu dir heran und brich die Zweige ab!« hatte Kolphyr verzweifelt gebeten, nachdem er einmal den Trommler gerade noch vor dem Absturz hatte bewah ren können. »Die Pflanzen spenden uns Nahrung«, hatte Koy mit strenger Miene erwidert. »Du mußt ein Narr sein, daß du wegen einer Handvoll Beeren einen ganzen Zweig abrei ßen willst. Bedenke doch nur, was für eine schlimme Verwundung das für eine Pflanze wäre!« »Wenn du in die Schlucht fällst, ergeht es dir noch viel schlimmer«, bemerkte Kolphyr nüchtern. Der Bera brachte für die ganze Angele genheit kein Verständnis auf, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als Koys Einstellung zu akzeptieren. Der Trommler selbst hielt sich konsequent an die neuen Regeln. Stets holte er zuerst die Samen aus den Früchten, ehe er deren Fleisch verzehrte. Die Samen bettete er mit so viel Liebe und Sorgfalt in den Boden, daß sie vermutlich gar nicht an ders konnten, als zu großen Pflanzen heran zuwachsen. Aber so viele Früchte Koy anfangs auch verspeist hatte, er konnte seinen Hunger da mit niemals ganz stillen. Zwar stopfte er sich fast bis zum Platzen voll, aber schon wenig
8 später war er wieder auf der Suche nach eß baren Dingen. Kolphyr selbst brauchte keine materielle Nahrung, dennoch erkannte er die Sympto me. Er sah sie bei Koy und – in weit schlim merer Form – bei Fenrir, der den beiden Männern eines Tages, mager und struppig geworden, in Parlzassels Begleitung einen Besuch abstattete. Beide, der Trommler wie der Wolf, hun gerten nach Fleisch. Ihre Körper brauchten tierisches Eiweiß. Jetzt aber geriet Koy in ei ne neue, kritischere Phase. Nachdem er tage lang die Bedürfnisse seines Körpers unter drückt hatte, indem er Unmengen von pflanzlicher Nahrung in sich hineinstopfte, mochte er nun überhaupt nicht mehr essen. Kolphyr gelangte zu dem Schluß, daß er et was gegen Koys Zustand unternehmen muß te, und zwar schnell. »Ich bin bald wieder zurück«, sagte er zu dem Trommler. Koy reagierte nicht. Seuf zend verließ Kolphyr den Pthorer und ging davon. Eine halbe Stunde lang folgte er ei nem schmalen Pfad, der parallel zur Schlucht am Hang entlangführte. Um sein Ziel zu erreichen, hätte er keinen so weiten Weg auf sich zu nehmen brauchen, denn die Tiere in der Barriere waren – wie auch die Magier – alle miteinander erschreckend ver trauensselig geworden. Aber Kolphyr mußte darauf achten, daß niemand ihn bei seiner Tat beobachtete. Unterwegs begegnete ihm allerlei Getier, das ungeniert bei hellem Ta geslicht umherlief. Kolphyr hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um das zu bekommen, was er haben wollte. Einmal sah er einen der seltenen, hirschähnlichen Ort nys, die es nur am Crallion und in der Tronx-Kette gab. Wenige Meter weiter kau erte eine rotbraune Raubkatze im Gras. Für einen Augenblick dachte Kolphyr, endlich ein Wesen gefunden zu haben, daß gleich ihm bei Verstand geblieben war. Aber dann erhob sich der rotbraune Räuber und schlich davon. Die Katze war so ge schwächt, daß sie sich kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte. Kolphyr folgte
Marianne Sydow ihr ein kurzes Stück. Sie fiel ins Gras und blieb apathisch liegen. »Sei nicht so dumm!« sagte Kolphyr zu dem halbverhungerten Tier. »Du wirst ster ben, wenn du so weitermachst. Es ist dein Recht, andere Tiere zu töten und dich von ihrem Fleisch zu ernähren.« Natürlich reagierte die Katze nicht. Während Kolphyr seine Wanderung fort setzte, dachte er über die Zukunft der Großen Barriere nach. Ganz abgesehen von den Gefahren, die von außen her drohten, konnte dieser unna türliche Zustand den Magiern wie den tieri schen Bewohnern des Gebirges nur Elend, Tod und Wahnsinn bringen. Zuerst würden die Raubtiere sterben. Damit brach das fein abgestimmte Gleichgewicht der Natur in diesem Gebiet zusammen. Die Zahl der pflanzenfressenden Tiere würde schnell zu nehmen. Je größer ihre Zahl wurde, desto mehr Raum und Nahrung mußten sie für sich beanspruchen. Allmählich würden sie die Magier verdrängen, und wenn diese auch dann noch den hungrigen Tieren gegenüber ihre sanfte Haltung bewahrten und sich wei gerten, sich nach den unerbittlichen Geset zen der Natur zu richten, mußten sie unwei gerlich verhungern. An allem war nur die Maschine schuld, die in der Höhle stand – sie und Chirmor Flog, der den Schwarzschock in die Berge getragen hatte. Der Schwarzschock hatte die Magier – von fünf Ausnahmen abgesehen – bösartig gemacht. Um die Negativen zu nor malisieren, hatte Islar ein Gerät umgebaut, mit dessen Hilfe Kolphyr den Neffen am Le ben erhielt. Aber der jungen Magierin war ein Fehler unterlaufen. Das Gerät hatte nicht nur die Folgen des Schwarzschocks besei tigt, sondern es hatte alle negativen Kräfte aufgesaugt, die es in der Barriere von Oth gab. Offenbar, so dachte Kolphyr, brauchten die Wesen in diesem Universum einen klei nen Schuß dieser negativen Energie, um überhaupt lebensfähig zu sein. Er erreichte einen Bach, blieb stehen und
Die Träumer von Oth sah sich aufmerksam um. Niemand war in der Nähe. Er wandte sich bachabwärts und entdeckte eine Gruppe kaninchenähnlicher Tiere. Koy hatte sie einmal als besonders zart und wohlschmeckend bezeichnet. Kolphyr hob einen Stein auf. Es wäre nicht nötig gewesen, eine Waffe, gleich wel cher Art, zu benutzen. Er wußte, daß die Tiere ihn so nahe an sich heranlassen wür den, daß er sich in aller Ruhe eines aussu chen konnte. Aber er war sich nicht sicher, ob er es dann auch zu töten vermochte. Die Vertrautheit dieser Wesen verstärkte in Kol phyr die ohnehin ausgeprägte Abscheu ge gen jede Art von Gewaltanwendung. Da es jedoch um das Leben des Trommlers ging, mußte Kolphyr seine Gefühle ignorieren. Er warf den Stein und sah, wie eines der Tiere zusammenbrach. Die anderen blieben sitzen. »Bewegt euch!« bat der Dimensionsforscher mit seiner seltsam hohen Stimme. »Macht schon, lauft weg!« Sie taten ihm den Gefal len nicht. Er stapfte auf die Tiere zu und wedelte heftig mit den Armen, um sie zu vertreiben. Sie wichen ein wenig zur Seite, kehrten je doch sofort um, als er sich über ihren schwerverletzten Artgenossen beugte. »Tut mir leid«, sagte Kolphyr. Ein seltsames Gefühl stieg in ihm auf. Er schämte sich. Die Tiere sahen ihn mit großen Augen an, und selbst das, das am Boden lag, blickte vertrauensvoll zu ihm auf. Mühsam riß der Bera sich zusammen. Es hatte keinen Sinn, die Sache hinauszuziehen, denn wenn er noch länger wartete, würden die Tiere mit ihrem Verhalten ein so starkes Schuldgefühl in ihm auslösen, daß er am En de gar versuchte, sein Wild von den Verlet zungen zu heilen, die er ihm selbst zugefügt hatte. Er streckte die Hände nach dem verletzten Tier aus und sorgte dafür, daß die anderen kleinen Wesen nicht sahen, was er tat. Mit der leblosen Beute eilte er zu Koy und stellte fest, daß der Trommler vor Schwäche eingeschlafen war. Aufatmend
9 ging er in die Höhle, um sich nach einem Topf umzusehen, in dem er das Fleisch ko chen könnte. Im Lauf seines Lebens in Pthor hatte Kolphyr gelernt, daß eine kräftige Brü he oft auch eine hervorragende Medizin dar stellte. Leider war der Bera jedoch alles an dere als ein gelernter Koch. Er fand zwar einen Behälter, der sich für seine Zwecke eignete, und er hatte oft genug dem Tromm ler beim Ausweiden der Beute zugesehen, um auch diese Hürde zu nehmen. Dann aber stand er ratlos da und fragte sich, welche Zutaten außer Fleisch und Knochen noch in den Topf gehörten. Ausgerechnet in diesem Augenblick wachte Koy auf. Er sah den Bera mit dem enthäuteten Tier und richtete sich steil auf. »Du hast getötet!« rief er anklagend. »Nein«, log Kolphyr grimmig. »Das hier ist ein Unfallopfer. Es wurde von einem her abfallenden Stein erwischt. Da es tot ist, kannst du es aufessen.« Koy sah den Bera mißtrauisch an. »Ist das auch wirklich wahr?« erkundigte er sich. »Habe ich es nötig, dich anzulügen?« schrie Kolphyr wütend. »Schon gut«, wehrte der Trommler er schrocken ab. »Ich glaube dir ja.« »Sage mir, wie man das Zeug hier zube reitet«, schlug der Bera etwas ruhiger vor. Koy, der die Augen nicht von Kolphyrs Beute wenden konnte, erklärte dem For scher, was zu tun war. Wenig später aß der Trommler die über dem Feuer gebratenen Innereien, und man konnte sehen, wie seine Lebensgeister zu rückkehrten. Er verzehrte alles, was Kolphyr ihm vorsetzte, mit großem Genuß. Der Bera atmete heimlich auf. Wenn dies der richtige Weg war, den Trommler bei Kräften zu hal ten, würde er wohl in Zukunft öfter ein »verunglücktes« Tier beschaffen müssen. Später ging er in die Höhle und sah nach Chirmor Flog. Als Islar die halbmagische Maschine eingeschaltet hatte, war Chirmor Flog zu sich gekommen und hatte sich sogar bewegt. Aber als Kolphyr ein paar Stunden
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Marianne Sydow
später wieder in die Höhle kam, war alles beim alten – Chirmor Flog lag still und starr da, als sei er bereits tot. Seitdem war der Zu stand des Neffen unverändert geblieben. Auch an diesem Abend gab es kein An zeichen dafür, daß Chirmor Flog jemals aus seinem todesähnlichen Schlaf erwachen würde. Kolphyr blieb eine Weile neben der Maschine stehen und dachte darüber nach, was Islar eigentlich damit angestellt hatte. Der größte Teil dieser skurrilen Apparatur war Kolphyrs Werk – Islar hatte das Gerät nur vervollständigt, wie sie selbst sagte. Trotzdem kam es dem Bera so vor, als wä ren sämtliche Teile durcheinandergeraten. Er starrte auf ein paar goldene Kugeln. Sie hatte Islar zuletzt berührt. Er fragte sich, ob es nicht möglich wäre, die Maschine so zu beeinflussen, daß sie einen kleinen Teil der angesaugten negativen Energie wieder ab gab. Wenn er an diesen Kugeln etwas verän derte … Aber dann wagte er es doch nicht.
* Kolphyrs erste Beute ergab drei Mahlzei ten. Danach fing alles wieder von vorne an. Als Kolphyr sich auf den Weg machte, um frisches Fleisch zu beschaffen, war Pthor be reits zum Stillstand gekommen. Schon nach kurzer Zeit entdeckte er ein passendes Wild. Als er aber den Stein heben wollte, der ihm als Waffe diente, vernahm er hinter sich ein warnendes Räuspern. Er schrocken sah er sich um. Kaum fünf Meter von ihm entfernt stan den Copasallior und Koratzo. Kolphyr ließ den Stein unauffällig fallen. »Was tust du hier?« fragte Copasallior. »Ich gehe spazieren«, behauptete Kol phyr, richtete sich zu seiner vollen Größe von knapp zweieinhalb Metern auf und ver schränkte die Arme vor der Brust. Ent täuscht stellte er fest, daß sich die Magier, im Gegensatz zu den meisten anderen Ptho rern, nicht so leicht beeindrucken ließen. »Mit einem Stein in der Hand?« fragte Koratzo sanft.
Kolphyr hob demonstrativ die Hände. »Ich habe keinen Stein!« »Nicht mehr«, stellte Copasallior lächelnd fest, und Kolphyr sah seine »Waffe« in einer der sechs Hände des Weltenmagiers erschei nen. »Du wolltest dieses Tier töten«, stellte Koratzo fest. »Nein!« »Wie du schon ein anderes getötet hast«, fuhr der Stimmenmagier fort, ohne auf Kol phyrs Zwischenruf einzugehen. »Das war vor vier Tagen. Wir haben dich beobachtet, denn wir befürchteten so etwas seit langem. Wir hatten allerdings gehofft, daß die hier herrschende positive Kraft auch dich all mählich verändern würde.« Kolphyr sah ein, daß es keinen Sinn hatte, noch länger zu leugnen. »Koy wird sterben, wenn ich ihm kein Fleisch beschaffe«, sagte er bitter. »Wie läßt sich Mord eigentlich mit euren Ansichten vereinbaren?« »Mord?« fragte Copasallior verständnis los. »Wie willst du es sonst bezeichnen?« er eiferte sich der Dimensionsforscher. »Koy kann nicht von pflanzlicher Nahrung leben. Sein Körper ist nicht darauf eingerichtet. Ihr verbietet mir, für ihn zu jagen, aber er selbst ist dazu auch nicht mehr in der Lage. Also wird er euretwegen verhungern. So etwas ist Mord!« »Es ist Auslese«, korrigierte Copasallior. »Wenn Koy nicht ohne tierische Nahrung auskommen kann, dann ist er auch nicht fä hig, sein Leben den positiven Kräften zu widmen. Alles, was noch einen Rest von ne gativem Denken in sich trägt, wird unterge hen. So will es das Gesetz.« »Was geht mich euer Gesetz an!« schrie Kolphyr wütend. »Koy ist der einzige Freund, den ich noch in Pthor habe, seitdem Atlan das Land verlassen hat. Was wird überhaupt aus Atlan? Wolltet ihr ihm nicht helfen? Was tut ihr noch für ihn? Ihr habt ihn vergessen, nicht wahr? Eure angeblich positiven Beschäftigungen hindern euch,
Die Träumer von Oth dem König von Pthor zu helfen, obwohl ihr ihm Treue geschworen habt!« »Atlan ist auf dem Weg nach Pthor«, sag te Copasallior ruhig. Kolphyr sah den Magier überrascht an. »Seit wann wißt ihr das?« fragte er. »Wo ist er? Wann wird er eintreffen?« »Bald«, sagte Copasallior. »Gib mir deine Hand!« Der Bera wich, von plötzlichem Mißtrau en erfüllt, zurück. »Rühr mich nicht an«, warnte er. »Ich kenne dich und deine Tricks!« Copasallior gab dem Stimmenmagier einen Wink, und Koratzo nickte. Im näch sten Augenblick fühlte Kolphyr sich so matt und müde, daß er sich auf dem Boden aus strecken mußte. Er bemerkte, daß der Wel tenmagier sich über ihn beugte, aber er hatte nicht mehr die Kraft, sich zur Wehr zu set zen. Sie materialisierten in der Höhle, direkt neben der Maschine, in der Chirmor Flog lag. »Du wirst diesen Raum nicht verlassen«, sagte Koratzo. Seine Stimme klang ein we nig fremd, und Kolphyr ahnte, daß es ihm unmöglich sein würde, sich diesem Befehl zu widersetzen. Er zwang sich, die Augen offenzuhalten und erblickte Copasallior, der den Trommler hereinführte. »Ihr wollt doch positiv handeln«, wandte der Bera sich an den Stimmenmagier. Ob wohl Koratzo ihn längst aus seinem Bann entlassen hatte, fühlte er sich unglaublich schwach. »Wie könnt ihr uns dann hier ein sperren? Ihr verhaltet euch feindlich uns ge genüber. Laßt wenigstens den Trommler frei. Hier drin wird er verhungern.« Koratzo sah den Bera an und lächelte flüchtig. »Wir werden für ihn sorgen«, versprach er. »Das reicht nicht«, behauptete Kolphyr. »Es ist unser Wunsch, nein, mehr als das, unser Leben hängt davon ab. Laßt uns frei!« »Du brauchst keine Nahrung, Kolphyr«,
11 bemerkte der Stimmenmagier ruhig. »Und du warst unendlich lange in der Eiszitadelle gefangen. Es wird dir nichts ausmachen, ein Weilchen in dieser Höhle auszuharren.« »Ein Weilchen?« wiederholte Kolphyr. »Wie lange ist das? Welche Pläne habt ihr?« Koratzo wandte sich schweigend ab. »Wenn ihr schon diese Fragen nicht be antworten wollt«, rief der Bera ihm und dem Weltenmagier nach, »dann verratet mir we nigstens, warum ihr Koy ebenfalls hier ein sperrt!« »Du brachtest ihm Fleisch«, sagte Copa sallior. »Und er hat es gegessen. Das zeigt, wie weit er von der Wahrheit entfernt ist. Wir können Leute wie ihn nicht gebrau chen.« »Dann bringt uns nach draußen!« forderte Kolphyr spontan. »Wir brauchen den Schutz des Großen Knotens nicht.« »Ihr habt diesen Schutz nötiger, als ihr ahnt«, erwiderte Copasallior und folgte dem Stimmenmagier, der die Höhle bereits ver lassen hatte. Die Magier hielten Wort, soweit es die Verpflegung des Trommlers betraf. Erstaun licherweise bekam Koy sogar ab und zu einen Bissen Fleisch. Kolphyr zerbrach sich lange den Kopf darüber, wer wohl innerhalb der Barriere noch fähig sein mochte, auf die Jagd zu gehen. Bis dann Copasallior mit dem Fenriswolf erschien. »Er wird bei euch bleiben«, sagte der Weltenmagier. »Er unterwirft sich nicht den Gesetzen des Friedens.« »Er ist nur hungrig«, murmelte Kolphyr bedrückt. Der Wolf war nur noch ein Schat ten seiner selbst. »Wenn ihr ihm kein Fleisch schicken wollt, solltet ihr ihn besser gleich töten. Es wäre grausam, ihn verhun gern zu lassen!« »Es tut uns leid für ihn«, behauptete Co pasallior, und wahrscheinlich meinte er es sogar ehrlich. »Fenrir kann nichts dafür, daß er mit diesen Anlagen bedacht wurde. Aber er gehört zur negativen Vergangenheit Pthors, und mit der ist es unwiderruflich vorbei. Wir können nichts für ihn tun. Er ist
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außer dir der letzte in der Barriere, der zu tö ten vermag.« Kolphyr lockte den Wolf zu sich. Er drückte den Grauen an sich und streichelte ihn. Erschrocken spürte er, daß die Rippen unter dem dichten Fell deutlich zu spüren waren. »Wollt ihr alle Wesen verhungern lassen, die aus irgendwelchen Gründen eure Geset ze nicht einhalten können?« fragte der Bera bitter. Er erhielt keine Antwort. Copasallior war schon wieder verschwun den.
3. Nebeneinander gingen sie durch den Tun nel. Die Wände glühten und leuchteten in unwirklichen Farben, für die es keine Na men gab. Der Boden unter Atlans Füßen war fest und federnd zugleich, aber wenn er nach unten sah, erblickte er nur einen leuchtenden Nebelstreifen. Seine Schritte erzeugten Töne und Klänge, die ihn an elektronische Musik erinnerten. »Wie weit ist es noch?« fragte er nach ei ner Zeitspanne, die eine mittlere Ewigkeit zu umfassen schien. »Ein paar Schritte, denke ich«, murmelte Breckonzorpf. »Weißt du es nicht genau?« fragte Atlan überrascht. »Nein«, antwortete Breckonzorpf knapp. »Warum nicht?« »Weil die Tunnel Glyndiszorns Werk sind. Er allein weiß, wie lang sie jeweils sind.« »Sie sind also immer verschieden?« »So kommt es einem wenigstens vor. Aber ich glaube, wir sind jetzt am Ziel.« Breckonzorpf behielt recht. Augenblicke später lösten die glühenden Wände sich gleichsam in Nichts auf. Atlan sah verblüfft, daß er bis zu den Knien in taubedecktem Gras stand. Er war nicht etwa aus dem Tun nel herausgestürzt und in diese Wiese gefal len, sondern mitten zwischen den Halmen
materialisiert. Über ihm leuchteten die schneebedeckten Gipfel der Tronx-Kette. Der Himmel sah aus wie eine Kuppel aus schimmerndem Perlmutt. Ab und zu erschie nen winzige Lichtpunkte in der Wand des Großen Knotens, zogen in kurzen, geraden Bahnen dem Wölbmantel entgegen und zer sprangen in Tausende von glühenden Punk ten. Er drehte sich um und sah Breckonzorpf hinter sich stehen. Ein verklärtes Lächeln ließ das Gesicht des Magiers seltsam und fremdartig aussehen. »Du hast dich verändert«, sagte Atlan nachdenklich. Breckonzorpf nickte. »Wir alle haben uns verändert«, bestätigte er ruhig. »Es herrscht Frieden in der Großen Barriere von Oth, und es wird immer so bleiben.« »Frieden! Draußen in Pthor ist die Hölle los! Ich hätte nie gedacht, daß ihr mich her einlassen würdet, solange die Trugen in mei ner Nähe waren.« »Sie können uns nichts anhaben.« »Sie hätten den Tunnel stürmen können.« Breckonzorpf lachte, aber dieses Lachen klang viel zu sanft für einen Magier wie ihn. »Sie haben es schon zu oft versucht«, sag te er. »Allmählich bekommen sie Angst vor Glyndiszorns Knoten.« Atlan atmete insgeheim auf. Das klang schon eher nach dem, was er von den Magi ern gewöhnt war. Leider war Breckonzorpf mit seiner Ant wort noch nicht ganz fertig. »Dabei könnten sie es so leicht haben«, fuhr er nämlich fort. »Sie müßten nur ein bißchen höflicher sein.« »Was soll das heißen?« fuhr Atlan auf. »Würdet ihr sie etwa in die Barriere lassen, wenn sie euch nur herzlich darum bitten wollten?« »So ist es«, bestätigte Breckonzorpf knapp. Dem Arkoniden schwindelte es. Die Magier hatten den Tunnel also nicht geöffnet, weil sie ihm die Treue hielten.
Die Träumer von Oth Sie hätten es für jeden getan! Oder irrte er sich? Er hatte bis jetzt nur das Wort Breckonzorpfs. Er wußte, daß die Magier häufig seltsame Experimente unter nahmen, und daß diese Versuche mitunter gefährlich waren. Vielleicht hatte es diesmal den Wettermagier getroffen. Aber warum kam dann nicht Copasallior, um den Arkoniden über diese Umstände auf zuklären? Für den Weltenmagier waren Ent fernungen wie die zwischen Crallion und TronxKette noch weniger als ein Katzen sprung. Er lauschte auf die Stimme des Extra sinns, aber dieser schwieg sich aus. Atlan schloß daraus, daß die Anzahl der logisch verwertbaren Hinweise noch zu gering war, als daß man zu diesem Zeitpunkt bereits Schlußfolgerungen hätte ziehen dürfen. »Ich werde mit Copasallior sprechen«, sagte Atlan. »Aber da ich nun einmal in der TronxKette bin, würde ich mich gerne auch mit Koratzo unterhalten.« »Das ist eine gute Idee«, stimmte Breckonzorpf zu. »Koratzo und Copasallior werden dir alles viel besser erklären können als ich.« Atlan starrte den Magier entsetzt an. Die se Antwort konnte nur eines bedeuten: Alle Magier von Oth hatten sich in derselben Weise verändert, wie er es jetzt bei Breckon zorpf beobachten konnte. Aber das war absurd! Während ihres gemeinsamen Fluges mit der GOL'DHOR hatte Atlan gerade Copasal lior und den Stimmenmagier recht gut ken nengelernt. Er wußte, daß Koratzo den Frie den über alles liebte – aber der Stimmenma gier war deswegen noch lange kein Narr, der die Gefahr mißachtete, die diesem Land ge rade jetzt drohte. Und Copasallior, dieser al te Skeptiker … Atlan versuchte, sich den Sechsarmigen vorzustellen, wie er mit einem verklärten Lächeln Breckonzorpfs Behauptungen be stätigte. Unwillkürlich mußte er lächeln. »Wir werden sehen«, sagte er. Er bemühte sich, ruhig und sanft zu sprechen, denn er
13 wollte den Wettermagier nicht unnötig auf regen. »Hast du deinen Donnerwagen bei dir? Ich habe nicht sehr viel Zeit, und es wä re mir lieb, wenn du mich zu Koratzo brin gen könntest.« »Du hast Zeit im Überfluß«, behauptete Breckonzorpf mit einem milden Lächeln. »Trotzdem werde ich dich hinbringen. Komm mit!« Er wandte sich ab und schritt davon. At lan folgte ihm, aber er war sehr beunruhigt. Der Donnerwagen stand auf einem felsi gen Flecken am Rand der Wiese, fast völlig hinter einem blühenden Dornbusch verbor gen. Atlan sah mit einer gewissen Erleichte rung, daß Breckonzorpf diesmal seine vier schwarzen Großkatzen zu Hause gelassen hatte. Diese Tiere waren zwar zahm, aber der Arkonide empfand ein leichtes Unbeha gen bei dem Gedanken, in ihrer Gesellschaft in einem Fahrzeug, das einer drei Meter breiten Nußschale ähnelte, über die Abgrün de der Barriere schweben zu müssen. »Warte einen Augenblick«, gebot Breckonzorpf, als sie nur noch wenige Schritte von dem Wagen entfernt waren. »Ich sehe nach, ob alles in Ordnung ist.« Verwundert beobachtete Atlan, wie der Wettermagier um den Wagen herumschlich und ihn von allen Seiten betrachtete. Breckonzorpf verhielt sich dabei so vorsich tig, als erwartete er, jeden Augenblick auf eine Bombe zu stoßen. »Was ist los?« fragte Atlan ungeduldig. »Seht!« machte Breckonzorpf tadelnd. Er nahm behutsam einen Käfer auf, der über die gewölbte Bordwand spazierte, und setzte das Insekt vorsichtig auf einen Grashalm. »Was zum Teufel …«, entfuhr es dem Ar koniden, aber da richtete Breckonzorpf sich plötzlich auf. »Schade«, sagte er. »Wir können den Wa gen nicht benutzen.« »Warum nicht?« fragte Atlan verblüfft. »Komm her und sieh selbst.« Es dauerte eine Weile, bis Atlan die win zige Spinne entdeckte, die zwischen der Bordwand und einem Grashalm ein hand
14 tellergroßes Netz gespannt hatte. Es mußte ein Witz sein. Die Magier hat ten – geschützt durch den Großen Knoten und von allen Sorgen frei – zu viel Zeit und heckten darum üble Späße aus. Es war die einzige Entschuldigung, die der Arkonide für das Verhalten Breckonzorpfs finden konnte. Nie und nimmer würde der Wetter magier, der mit einem Schnippen seiner Fin ger Orkane auf den Plan zu rufen vermochte, sich von einer kaum sichtbaren Spinne daran hindern lassen, seinen Donnerwagen zu star ten. Aber Breckonzorpfs Gesicht blieb so ernst und besorgt, daß dem Arkoniden sofort wieder Zweifel kamen. »Ich verstehe nicht ganz«, murmelte er ratlos. »Wie sollte dieses winzige Tier dich daran hindern, den Wagen zu benutzen?« »Es hindert mich ja gar nicht«, erwiderte Breckonzorpf. »Aber es ist da, und es hat dieses Netz mit großer Mühe aufgebaut. Siehst du denn nicht ein, daß es für ein so kleines Tier eine ungeheure Anstrengung bedeutet, diese vielen Fäden zu produzieren und an den richtigen Stellen zu befestigen?« »So ist der Lauf der Welt«, meinte Atlan gelassen. »Das dumme Ding hätte sich eben einen besseren Platz aussuchen sollen.« »Wie kannst du nur so reden?« fragte Breckonzorpf vorwurfsvoll. In diesem Augenblick verirrte sich eine Motte in das Spinnennetz. Blitzschnell bück te Breckonzorpf sich und pflückte die Motte erstaunlich geschickt aus dem Netz heraus. »Fliege weiter, kleiner Bruder«, murmelte er und blies das Insekt vorsichtig an. »He!« rief Atlan überrascht. »Das nenne ich Unlogik! Du willst der Spinne die Mühe ersparen, ein neues Netz bauen zu müssen. Aber gleichzeitig schnappst du ihr das Früh stück vor der Nase weg. Das arme Tier wird Hunger leiden!« »Ich weiß«, sagte Breckonzorpf betrübt. »Der allesumfassende Friede hat diese klei nen Tiere noch nicht durchdrungen. Bald werden auch sie aufhören, ihren Tierbrüdern nachzustellen. Bis dahin sollen möglichst
Marianne Sydow wenige Wesen für die Unwissenheit dieser Geschöpfe büßen.« »Wäre ich eine Spinne«, sagte Atlan sar kastisch, »dann würde ich Himmel und Höl le in Bewegung setzen, um eurem Frieden aus dem Weg zu gehen. Wovon sollen die armen Kerle denn deiner Meinung nach le ben?« »Es kommt nur darauf an, es wirklich zu wollen!« sagte Breckonzorpf streng. »Mir scheint, du glaubst an Märchen, mein Freund! Diese Spinne wird niemals et was anderes zu sich nehmen, als den Körpe rinhalt von Insekten, die sie zuvor gefangen hat.« »Sie wird etwas anderes finden«, beharrte Breckonzorpf stur auf seinem Standpunkt. Atlan gab es auf. Breckonzorpf schien nicht mehr ganz bei Verstand zu sein, und der Arkonide wußte kein Mittel, mit dem er den Magier hätte heilen können – nicht an diesem Ort und nicht in dieser Zeit. »Gehen wir also zu Fuß«, beschloß er resignierend. »Das heißt, ich werde gehen, und zwar zu Koratzo.« »Ich begleite dich.« »Schön. Ich hoffe nur, du hast nicht die Absicht, unterwegs jedes einzelne Spinnen netz von lebenden Opfern zu befreien!« »Ich werde darauf achten, daß wir mög lichst wenig Zeit verlieren«, versicherte Breckonzorpf.
* Breckonzorpf hielt Wort – er arbeitete wirklich wie ein Berserker, um möglichst schnell seine diversen Hilfsaktionen für Kleingetier aller Art über die Bühne zu brin gen. Darüber hinaus untersuchte er unerbitt lich jeden Quadratmillimeter Boden, auf den er seine Füße zu setzen gedachte. Als Atlan versehentlich eine Ameise zertrat, war die Bestürzung des Wettermagiers so groß, daß der Arkonide allen Ernstes befürchtete, Breckonzorpf würde in Tränen ausbrechen. So arbeiteten sie sich den Hang hinauf, bis Atlan des absurden Spieles müde wurde.
Die Träumer von Oth »Ich gehe alleine weiter«, sagte er. »Es tut mir sehr leid, Breckonzorpf, aber wenn wir so weitermachen, brauchen wir Tage, um zu Koratzo zu gelangen.« Der Wettermagier war sehr betrübt. Er sah Atlan stumm und bittend an, und seine Augen, die sonst vor mühsam gebändigter Kraft funkelten, waren sanft wie die eines Kindes. Eine höchst unvernünftige Anwand lung von Mitleid überfiel den Arkoniden. »Was hat man mit dir gemacht, Breckon zorpf?« fragte er. »Versuche doch, dich dar an zu erinnern! Ich bin zwar kein Magier, aber vielleicht kann ich dir trotzdem helfen. Du mußt mir nur sagen, was geschehen ist.« Breckonzorpf öffnete den Mund, um zu antworten – da surrte dem Arkoniden eine mückenähnliche Kreatur direkt ins Gesicht. Rein mechanisch hob Atlan die Hand und schlug zu, und erst Breckonzorpfs entsetzter Schrei machte ihm klar, was er angerichtet hatte. »Du bist negativ!« brach es aus dem Ma gier hervor. »Du tötest. Du bist nicht fähig, das Leben in seiner ganzen Vielfalt zu ach ten. Und wir hatten so große Hoffnungen in dich gesetzt!« Atlan wandte sich schweigend ab und stieg weiter den Hang hinauf, dem Paß ent gegen, an dessen südlichem Ende Koratzos Wohnhalle liegen sollte. Er nahm sich vor, mit dem Stimmenmagier über Breckonzorpf zu reden. Er wußte, daß es Magier gab, die Krankheiten heilen konnten. Sie würden Breckonzorpf helfen, und wenn Atlan sie dazu zwingen mußte. Man durfte den armen Kerl in diesem Zustand nicht frei in der Bar riere herumlaufen lassen. Was geschah, wenn der Wettermagier an ein wirklich ge fährliches Tier geriet? Er schob diese Gedanken von sich und konzentrierte sich auf den Weg, der immer steiler wurde. Als er endlich an eine Quelle kam, be schloß er, eine kurze Rast einzulegen. Es gab an dieser Stelle Büsche, deren Zweige von der Last der Früchte fast bis zum Boden herabgedrückt wurden. Atlan kannte die
15 Früchte und wußte, daß sie eßbar waren. Während er sich stärkte, kamen mehrmals Tiere zur Quelle, um zu trinken. Sie benah men sich so zutraulich, daß Atlan sie für halbzahm hielt. Nach seinem nicht gerade üppigen Mahl ruhte er sich noch einige Minuten lang aus. Vor ihm fiel der felsige Hang steil bis zur Grenze der Großen Barriere ab, und hinter ihm türmten sich die steilen Felszinnen, zwi schen denen sich, nur noch knapp zweihun dert Meter über Atlans derzeitigem Standort, der Pfad hindurchwand. Es war sehr still, nur der Wind strich wimmernd vom Paß herab, und es roch nach Blumen, Gras und ferner Kälte. Gegen die schimmernde Wand des Großen Knotens hob sich schwarz die Silhouette eines Raubvogels ab, der direkt über dem Arkoniden kreiste. Der Arkonide lehnte sich zurück und verfolgte den Vogel mit den Augen … bis das Tier plötzlich und scheinbar ohne jeden Anlaß wie ein Stein zu Boden fiel. Atlan, der für einen kurzen Mo ment erholsame Ruhe gefunden hatte, sah sich unvermittelt in die unerfreuliche Reali tät zurückgeworfen. Der Vogel war nach dem furchtbaren Aufprall tot, daran bestand kein Zweifel. Aber wer hatte ihn getötet? Er beobachtete den dunklen Fleck, der kaum dreißig Meter entfernt im Gras zu er kennen war. Schließlich war er sicher, daß kein Magier in der Nähe war, der das Tier als seine Jagdbeute beanspruchte. Er lief hin und sah sich das Tier aus der Nähe an. Es war ungefähr so groß wie die weißen Stor mocks vom Taamberg und sah auch fast ge nauso aus wie diese halbzahmen Geier, hatte aber ein dunkles Gefieder. Atlan hob das Tier auf, um es zu untersuchen. Es war über raschend leicht. Er erinnerte sich an den er sten Stormock, den er und Razamon an Bord der DEEHDRA, einem Piratenschiff, auf dem Regenfluß gefunden hatten, und er dachte an das Gewicht dieses Vogels. Das Tier, das er jetzt in den Händen hielt, wog nicht einmal halb so viel wie dieser Stor mock. Er untersuchte das Tier so gründlich, daß er am Ende sicher sein konnte, nichts
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übersehen zu haben. Der Vogel hatte sich bei dem plötzlichen Sturz das Genick gebro chen. Sonst fehlte ihm überhaupt nichts – bis auf eines: Nahrung. Das Tier war am Ver hungern gewesen. Der Absturz war vermut lich auf einen Schwächeanfall zurückzufüh ren. Nachdenklich sah Atlan sich um. Über all waren die erstaunlich zahmen Tiere un terwegs. Es gab in diesem Gebiet genug Beute für einen Raubvogel. Die Tiere waren nicht einmal geflohen, als der Schatten des Vogels bereits über sie hinwegglitt. Bis jetzt hatte Atlan das Verhalten der Tiere als leicht erklärbare Tatsache hinge nommen. Koratzo lebte kaum zwei Kilome ter von hier, und der Stimmenmagier liebte die Harmonie. Es war ihm durchaus zuzu trauen, daß er die Tiere in diesem Bereich so beeinflußt hatte, daß sie allen etwaigen Be suchern gegenüber freundlich und zutraulich waren. Aber Koratzo hätte andererseits niemals in das Gleichgewicht der Natur eingegriffen und damit einen Raubvogel wie diesen zum Tode verurteilt! Atlan legte den Vogel ins Gras zurück. Er machte sich wieder auf den Weg, aber jetzt erfüllte ihn nagende Unruhe. Allmählich überkam ihn das Gefühl, daß in der Barriere von Oth etwas ganz und gar nicht in Ord nung war.
4. Die Aussicht von der Paßhöhe aus war überwältigend. Das ganze Reich der Sieben Gipfel lag vor ihm, und dahinter türmten sich die gewaltigen Zwillingsgipfel des Ska tha-Hir gen Himmel. Er betrachtete diesen geheimnisumwitterten Berg fasziniert, bis er die Flecken auf den weiten Hängen entdeck te. Am SkathaHir schien es gebrannt zu ha ben, und offenbar war es auch zu Erdrut schen gekommen. Diese Erkenntnis erschreckte ihn. Er erin nerte sich an das, was er über die magischen Speicher erfahren hatte. Im Innern dieses Berges gab es etwas, das das Gleichgewicht
der Kräfte in Oth aufrechterhielt. Wurde der SkathaHir starken Zerstörungen ausgesetzt, dann bedeutete dies das Ende der Magier von Oth. War es bereits zu spät? Atlan erinnerte sich voller Entsetzen an das, was Lebo Ax ton ihm berichtet hatte: Die Scuddamoren hatten in ihrer Wut über das unzerstörbare Hindernis um die Barriere herum das ganze Gebiet mit allen Waffen angegriffen, die ih nen zur Verfügung standen. Nichts davon hatte Glyndiszorns Knoten durchdringen können. Aber es war zu Beben gekommen, und dabei mochten die Speicher am SkathaHir Schaden genommen haben. Breckonzor pfs sonderbare Marotten erhielten für Atlan plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Zwei fellos unterlagen auch die Tiere von Oth in nicht geringem Maß den seltsamen Geset zen, die in diesem Gebiet galten. Wenn sei ne Befürchtung sich als wahr erwies, würde er keinen einzigen Magier mehr vorfinden, der sich so verhielt, wie man es früher von ihm erwartet hätte. Vage kam dem Arkoni den zu Bewußtsein, wie absurd die Situation war. Er hatte mit voller Absicht den Neffen Duuhl Larx auf die Idee gebracht, er, Atlan, könnte einen Einfluß auf die Magier haben. Er hatte sich nach Oth schicken lassen, weil er hoffte, hier Hilfe zu finden. Hilfe für Pthor, aber auch für Razamon und Lebo Ax ton. Nun aber konnte er die Möglichkeit nicht mehr ausschließen, daß statt dessen die Ma gier seiner Hilfe bedurften! Er eilte den steinigen Pfad hinab. Für sei ne wildromantische Umgebung hatte er kei nen Blick mehr. Er fieberte der Begegnung mit Koratzo entgegen und fürchtete sich gleichzeitig vor dem Augenblick der Wahr heit. Als er die Wohnhalle vor sich sah, stellte er fest, daß Koratzo sich nicht in dem wür felförmigen Gebäude mit den durchsichtigen Wänden aufhielt. Der Magier kam gerade aus der Schlucht herauf. Atlan sah ihn über die Felsplattform vor dem Haus gehen. Der Arkonide duckte sich hinter einen
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Stein und beobachtete Koratzo gespannt. spähte mißtrauisch durch die Öffnung, denn Auf diese Weise wirst du wohl kaum fest er traute plötzlich den anscheinend gläser stellen können, ob und wie sehr er sich ver nen Wänden nicht mehr. Er sah jedoch nur ändert hat, bemerkte der Extrasinn nüchtern. den Stimmenmagier, der sich schwerfällig Warten wir es ab, gab Atlan lautlos zu an einen Tisch setzte. rück. Zögernd folgte er dem erschöpften Mann. Der Stimmenmagier wirkte erschöpft. In Er blieb vor dem Tisch stehen und starrte jeder einzelnen Bewegung, die er vollführte, Koratzo herausfordernd an. lag eine unsagbare Müdigkeit. Er ging lang »Was ist hier los?« fragte er. sam auf die Tür zur Wohnhalle zu. »Wir haben den Frieden gefunden«, flü Sobald er drinnen ist, wird er zu Boden sterte Koratzo. »Es kam ganz plötzlich über uns. Zuerst brachten wir Chirmor Flog in die sinken und einschlafen, prophezeite der Ex trasinn. Barriere, und der Neffe …« Atlan nickte nur. Er richtete sich auf. »Chirmor Flog ist hier bei euch?« rief At »Koratzo!« rief er laut. lan überrascht. Deutlicher als seine Stimme Der Stimmenmagier fuhr herum. Er hob zeigte der Ausdruck in seinen Augen, wel die Hand und schirmte die Augen gegen das che Gefühle ihn in diesem Augenblick be helle Licht ab. Atlan winkte und stieg die wegten. Koratzo ging nicht darauf ein. letzten Meter hinab. Endlich schien Koratzo »Ja«, sagte er nur. »Unterbrich mich ihn erkannt zu haben, denn er kam ihm lang nicht, ich werde nicht mehr lange sprechen sam entgegen. können. Der Neffe brachte den Schwarz Je näher er kam, desto stärker empfand Atlan ein Gefühl der Einsamkeit. Es war, als schock in die Barriere. Negative Energie stünde er einem Fremden gegenüber. Irgend überschwemmte die Berge und überwältigte die meisten Magier. Copasallior, Glyndis etwas sagte ihm, daß dies nicht der Koratzo zorn, Parlzassel, Islar und ich – wir kamen war, den er von früher her kannte. Er war si davon. Ein Kampf um die ORSAPAYA ent cher, daß es nicht an Koratzos derzeitiger brannte. Die Negativen wollten hinaus nach Verfassung lag, obwohl er sich sagte, daß er schließlich nie zuvor einen wirklich er Pthor und dort Unheil stiften, aber Islar …« Der Kopf des Stimmenmagiers sank auf schöpften Magier zu Gesicht bekommen hatte. die Tischplatte. Atlan, der gebannt zugehört hatte, zuckte zusammen. Er beugte sich über Unwillkürlich ging er langsamer. Einige Schritte vor dem Stimmenmagier blieb er den Magier. stehen. »Koratzo!« rief er beschwörend. »Ich »Ich habe dich erwartet, Atlan«, sagte Ko muß das Ende der Geschichte erfahren! Ihr ratzo leise. »Komm, es ist alles vorbereitet.« seid nicht mehr negativ. Ich habe Breckon Das Mißtrauen war plötzlich da, Atlan zorpf getroffen. Was ist passiert?« Er erhielt konnte es nicht zurückdrängen. keine Antwort. Ungeduldig zog er den Ma »Was ist vorbereitet?« fragte er scharf. gier hoch. Er verstand das alles nicht. Er hat Koratzo versuchte zu lächeln, aber es te Koratzo in Situationen erlebt, in denen je wurde nur eine Grimasse daraus. der normale Sterbliche beinahe zwangsläu »Es ist keine Falle«, versicherte er, und fig einen Zusammenbruch erlitten hätte. seine Stimme, die sonst voll magischer Kraft Längst wußte er, daß man die Magier nicht steckte, war flach und klanglos. »Mit sol mit normalem Maßstab messen durfte. chen Dingen brauchst du hier in der Barriere Es gelang ihm nicht, Koratzo zu wecken. Der Zustand des Stimmenmagiers hatte mit nicht mehr zu rechnen.« Er wandte sich ab und verschwand durch einer normalen Erschöpfung kaum noch et was zu tun. Er stand dem Koma näher als die Tür im Innern der Wohnhalle. Atlan
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dem Schlaf. lände hausten zur Zeit achtundzwanzig Ma Atlan lud sich den Magier auf die Schul gier. tern und trug ihn zu einem Lager im hinteren Warum die meisten Magier dennoch mit Teil der Wohnhalle. Lange Zeit saß er neben Grausen an die »Enge« in der Tronx-Kette Koratzo, dann entschied er, daß er an diesem dachten, konnte nur verstehen, wer wußte, Tag nichts mehr würde erreichen können. Er daß viele dieser seltsamen Leute ganze suchte sich einen Platz zum Schlafen. Bergmassive für sich allein beanspruchten. Von seinem Lager aus starrte er auf die Jedenfalls war es kaum sinnvoll, unter seltsamen Lichterscheinungen in der Wand diesen Umständen auf die Suche nach den des Großen Knotens. Was, um alles in der Freunden des Stimmenmagiers zu gehen. Welt, war mit den Magiern geschehen? Atlan hatte auch nicht die leiseste Ahnung, Auch wenn die Nachricht, daß Chirmor in welcher Richtung er die nächste Behau Flog sich in Oth aufhielt, noch so überra sung finden könnte. schend gewesen war – er wünschte sich, er Er untersuchte Koratzo noch einmal so hätte nicht darauf reagiert. Die Sekunden, gründlich, wie es ihm möglich war. Es schi die Koratzo dadurch verloren hatte, mochten en, als leide der Magier lediglich unter hoch den Arkoniden um die Aufklärung des Ge gradiger Erschöpfung. Außerdem war Ko heimnisses gebracht haben. ratzo dünner geworden. Wie eine düstere Morgen ist auch noch ein Tag, versuchte Vision drängte sich das Bild des verhunger er sich zu beruhigen. Wenn Koratzo sich ten Vogels in Atlans Gedanken. ausgeschlafen hat, wird er den Rest der Ge Ärgerlich begab er sich auf die Suche schichte erzählen können. nach Lebensmitteln, denn er war sehr hung Er wartete auf eine Reaktion des Extra rig. Die Wohnhalle war durch schlanke Säu sinns, aber dieser schwieg. len in einen privaten und einen »offiziellen« Am nächsten Morgen war Koratzo immer Bereich geteilt. Im Wohnbereich gab es noch nicht wachzubekommen. Er schien noch eine weitere Unterteilung, und hinter sich während der Nacht nicht einmal um diesen Säulen entdeckte Atlan einen kleinen einen Zentimeter bewegt zu haben. Atlan Raum, der zweifellos so etwas wie ein Bad begann, sich ernsthafte Sorgen um den Ma darstellte. Daneben befand sich eine Vor gier zu machen. ratskammer, und eine winzige Küche schloß sich an. Er überlegte, ob er versuchen sollte, einen anderen Magier zu Hilfe zu rufen, aber er Die Vorratskammer war wohlgefüllt. Der verwarf diesen Gedanken sofort. Die Entfer Arkonide bediente sich großzügig, entzün nungen waren zu groß. Zwar hatte er den dete in der Küche das Feuer und bereitete hier und da in allerlei Gesprächen enthalte sich ein kräftiges Frühstück zu. Zwar wußte nen Andeutungen entnehmen können, daß er nicht, von welchem Tier das Rauchfleisch die »Rebellen« aus der Tronx-Kette eng bei stammen mochte, das er in der Kammer ge einander hausten, aber den Begriff »eng« funden hatte, und die Eier, die er in eine mußte man in diesem Fall relativ sehen: die Pfanne schlug, waren ungewöhnlich groß Grundfläche der Tronx-Kette hatte eine Län und besaßen eine rot marmorierte Schale, ge von rund fünfundsiebzig und eine Breite aber über solche Kleinigkeiten setzte er sich von etwa dreißig Kilometern. Auf dieser hinweg. Fläche erhoben sich sieben Berge, die bis zu Er überlegte gerade, ob er auch für den dreitausendfünfhundert Metern hoch waren, Stimmenmagier etwas zubereiten sollte, da und zwischen ihnen klafften Schluchten, die hörte er Geräusche. Hastig verließ er den bis weit unter das Niveau des Randes – in Raum zwischen den Säulen und ging zum Pthor gleichbedeutend mit dem Meeresspie Ausgang. gel – hinabreichten. In diesem wilden GeKoratzos Wohnhalle stand nur wenige
Die Träumer von Oth Meter von der Schlucht entfernt. Direkt am Abgrund hatten sich vier Magier niederge lassen. Sie ließen die Beine baumeln und un terhielten sich leise miteinander. Atlan er kannte zwei von ihnen. Das waren Querllo, der Lichtmagier, ein Zwerg mit rissiger, rin denartiger Haut, und Opkul, der mit seinen rätselhaften violetten Augen alles zu sehen vermochte, was in Pthor geschah, und des sen Blick sogar noch über den Wölbmantel hinausreichte. Der dritte hatte feuerrotes Haar und trug unter jedem Auge einen trop fenförmigen grünen Fleck, von dem Atlan nicht sagen konnte, ob er aufgemalt oder ge wachsen war, und die vierte Gestalt war un verkennbar weiblichen Geschlechts, dabei aber noch kleiner als der Lichtmagier und rabenschwarz, mit schrägen, gelben Katzen augen. Atlan trat durch die Tür und räusperte sich. Die Magier drehten sich nach ihm um, und er erschrak, denn er fürchtete, es könnte jeden Augenblick einer von ihnen in den gähnenden Abgrund stürzen. Sie waren keineswegs überrascht, den Ar koniden an diesem Ort zu sehen. Vermutlich hatte Opkul ihn längst entdeckt. Atlan emp fand ein leises Unbehagen bei dem Gedan ken, daß der Magier ihn die ganze Zeit hin durch beobachtet haben mochte, obwohl er sich keines Fehlers bewußt war. »Willkommen in Oth«, sagte Querllo mit seiner unangenehmen, schrillen Stimme. »Setz dich zu uns, Atlan. Wir sind gerade beim Frühstück, und wir teilen gerne mit dir!« Erst jetzt sah der Arkonide, daß die Ma gier kleine Beutel trugen, aus denen sie Blät ter und Früchte fischten. »Er hat bereits gegessen«, bemerkte Op kul nüchtern. »Du kannst dir das Angebot sparen.« So harmlos diese Bemerkung klang – sie mußte einen unheilvollen, verborgenen Sinn in sich haben, denn alle vier starrten Atlan mißbilligend an. Atlan dachte an den entkräfteten Stim menmagier, und Schuldgefühle stiegen in
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ihm auf. Hatten die Magier nicht recht? Es war eine Unverschämtheit, Koratzos Vorräte zu plündern … Ärgerlich wischte er den Gedanken bei seite. Die Vorratskammer enthielt noch ge nug Lebensmittel. Ja, meldete sich plötzlich der Extrasinn. Aber von welcher Art? Mein Gott! dachte er. Darauf bin ich gar nicht gekommen. Es handelt sich ausschließ lich um Nahrung tierischen Ursprungs. Aber das kann doch nicht wahr sein! Die Leute aus der Tronx-Kette wußten damals einen guten Braten sehr wohl zu schätzen! Damals! betonte der Extrasinn. Inzwi schen hat sich die Lage geändert. Sie sind zu Vegetariern geworden. Na gut, dachte Atlan ungeduldig. Von mir aus sollen sie essen, was immer ihnen schmeckt. »Koratzo scheint krank zu sein«, sagte er laut. »Er braucht Hilfe.« »Das scheint nur so«, versicherte Querllo. »In Wirklichkeit braucht er nur ein bißchen Ruhe. Er arbeitet zu viel.« »Wie kannst du so reden«, mischte die schwarzhäutige Magierin sich ein. »Er tut es schließlich für uns alle!« »Schon gut, Antharia«, murmelte Querllo begütigend. »Aber du mußt zugeben, daß er es übertreibt. Jedenfalls«, wandte er sich an Atlan, »ist Koratzo nicht krank.« »Du solltest ihn dir ansehen, ehe du wei terziehst«, bemerkte der Arkonide. »Zweifelst du daran, daß ich recht habe?« erkundigte Querllo sich amüsiert. Atlan beobachtete den Zwerg aufmerk sam. »Ja«, sagte er langsam. »Genau so ist es!« Er wußte, wie empfindlich die Magier in dieser Hinsicht waren. Die in der Tronx-Ket te galten zwar als besonders fortschrittlich, weil sie es mit den uralten Traditionen nicht so genau nahmen, aber auch bei ihnen war es ratsam, sich jedes Wort der offenen Kritik zu verbeißen. Zu Atlans Erstaunen lächelte Querllo nur und wischte abwehrend mit der Hand durch die Luft. »Ich werde ihn mir
20 jetzt gleich ansehen«, verkündete er und schwang sich geschickt auf das Felsplateau. »Komm mit, Atlan, und überzeuge dich selbst.« Sie gingen in die Halle, und der Ar konide stellte fest, daß Koratzo sich immer noch nicht gerührt hatte. Querllo beugte sich über den Stimmenmagier und berührte mit seinen rissigen Händen Koratzos Gesicht. Da erst begriff Atlan, daß Querllo zu denen gehörte, die Krankheiten zu heilen verstan den. »Wecke ihn auf!« forderte der Arkoni de spontan. »Ich muß mit ihm reden.« Querllo richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Ich könnte ihn wecken«, behauptete er. »Aber ich werde mich hüten, es auch zu tun. Er ist völlig ausgelaugt. Hilf mir, wir müs sen ihn dort hinüber schaffen.« »Hätte er seit gestern abend dort gele gen«, bemerkte Querllo mißbilligend, »so wäre er jetzt vielleicht schon wieder ganz munter.« Er sah den Arkoniden nachdenklich an. »Du hast also noch nichts von dem al lesumfassenden Frieden in dich aufgenom men?« fragte er. Atlan spürte, daß dem Magier ungeheuer viel an diesem ominösen Frieden lag, und er wollte es sich nicht mit ihm verderben. »Oh doch«, behauptete er darum. »Ich war schon immer ein friedlicher Mensch, und hier bei euch, in den Bergen …« »Du lügst«, stellte Querllo traurig fest. »Genauer gesagt: Du weißt gar nicht, wovon ich gerade gesprochen habe.« »Dann erkläre es mir!« Querllo lächelte schwach. »Das hätte wenig Sinn. Man muß es füh len, sonst begreift man es nicht.« Der Arkonide starrte den Magier an. Er dachte an Duuhl Larx, an die Trugen, vor al lem an Razamon und Lebo Axton, und krib belnde Ungeduld befiel ihn. War er nach Oth gekommen, um sinnlose Diskussionen zu führen? »Paß auf«, sagte er grimmig, »hier bei euch in den Bergen mag es friedlich zuge hen, aber da draußen ist die Hölle los. Es
Marianne Sydow muß endlich etwas geschehen, oder das Land erholt sich nie wieder. Ihr seid die ein zigen Pthorer, die nicht unter der Herrschaft des Neffen zu leiden haben. Dafür solltet ihr dankbar sein. Aber gleichzeitig wäre es eure Pflicht, alles zu tun, damit dieser schreckli che Zustand beendet wird. Ihr seid es den Pthorern schuldig!« Querllo schwieg. »Und ihr seid es mir schuldig!« fuhr At lan in wachsendem Zorn fort. »Wir haben einen Bund miteinander geschlossen. Erin nert ihr euch nicht mehr daran?« »Oh doch!« versicherte er eilig. »Wie kannst du annehmen, daß wir es vergessen hätten?« »Wenn es so ist«, rief Atlan wütend, »dann tut um Himmels willen endlich et was!« »Aber siehst du denn nicht, daß wir be reits dabei sind?« fragte Querllo verwundert. »Ich sehe, daß ihr Blätter kaut und vom allesumfassenden Frieden träumt!« knurrte der Arkonide. »Wir träumen nicht davon«, korrigierte Querllo streng, »sondern wir arbeiten daran. Sieh dir nur Koratzo an. Was glaubst du wohl, warum er so erschöpft ist? Unablässig feilt er an seiner Heilssprache, die allen Le bewesen Glück und Frieden bringen wird.« Atlan atmete tief ein und zwang sich zur Ruhe. »Ich achte Koratzo«, sagte er langsam. »Und ich weiß seine Fähigkeiten zu schät zen. Er ist ein sehr mächtiger Magier – aber gegen die Trugen wird er mit seiner Heils sprache überhaupt nichts ausrichten, und ge gen den Neffen selbst erst recht nicht.« »Du willst, daß wir Waffen gebrauchen«, stellte Querllo fest, und er sah den Arkoni den voller Abscheu an. »Waffen, die töten und verwunden und die Trugen samt diesem Neffen vernichten. Du hättest gar nicht erst zu uns kommen sollen, denn solche Wün sche hätten wir dir sowieso nicht erfüllen können. Nicht einmal zu der Zeit, als wir noch zum negativen Handeln neigten.« »Ich will keine Waffen«, sagte Atlan be
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schwörend. ment gestartet. Er hatte seine den Frieden »Was willst du dann?« fragte der Licht bringende Stimme erschallen lassen und war magier verblüfft. dabei über das Ziel hinausgeschossen. Hatte »Ihr sollt mir helfen, Pthor zu befreien. Koratzo nicht selbst berichtet, daß es nach der Ankunft Chirmor Flogs zu Kämpfen ge Das kann auf verschiedene Weise gesche hen. Daß wir keinen offenen Krieg gegen kommen war? Atlan hatte keine Ahnung, die Neffen und den Dunklen Oheim führen was ein Schwarzschock war, aber da es of können, ist mir klar. Aber wenn wir zusam fensichtlich mit dem Neffen in Zusammen menarbeiten, werden wir diese düsteren hang stand, konnte es schwerlich etwas Gu Mächte mit List überwinden.« tes sein. Die Magier waren negativ gewor »Das hört sich gut an«, meinte Querllo, den – nicht alle, aber die meisten von ihnen. und der Arkonide schöpfte für einen Augen Koratzos Experiment mochte ein letzter, blick Hoffnung. Aber dann fuhr der Licht verzweifelter Versuch gewesen sein, zu ret ten, was noch zu retten war. magier fort: »Aber es ist und bleibt ein übler Plan. Heimtücke, Hinterlist, Betrug – das al Er erwähnte noch einen Namen, bemerkte les ist negativ. Wir sind dafür eingetreten, der Extrasinn. Ich weiß, dachte Atlan. Islar. Damals, daß du König von Pthor wurdest, denn alles, was du sagtest und tatest, war positiv. Du nach dem Krieg der Magier, hat Koratzo von ihr gesprochen. Sie ist noch sehr jung. hast deine eigenen Ziele verraten, und wir sollen dir auch noch helfen, diesen Verrat Vielleicht hat sie ihm assistiert. Inzwischen mußte der Magier gemerkt weiterzuführen. Aber dazu wird es niemals haben, daß etwas schiefgelaufen war, und er kommen!« Atlan starrte den Magier fassungslos an. bemühte sich, den Schaden auszubügeln. Er sollte seine Ziele verraten haben? Darum war er erschöpft! Sie sind übergeschnappt, bemerkte der Es ist zu logisch! behauptete der Extra Extrasinn trocken. Nimm es dir nicht so zu sinn. Herzen. Du bist den Magiern gegenüber voreinge Er riß sich zusammen. nommen, konterte der Arkonide. Ich bin fast Querllo ist nur einer von mehr als zwei sicher, daß es sich so und nicht anders ab hundert Magiern, sagte er sich. Die Bewoh gespielt hat. Und weißt du was? Ich möchte ner der Tron-xKette bilden eine Minderheit. wetten, daß es sich nicht über die ganze Früher galten sie als Narren, die gefährli Barriere verbreitet hat. Das ist einfach un chen Träumen nachhingen. Vielleicht ist möglich. Ich muß zu Copasallior. doch etwas Wahres daran. Der Weltenmagier scheint nicht sehr in Und Breckonzorpf? Seit wann gehört er teressiert daran, sich mit dir in Verbindung in die Tronx-Kette? zu setzen. Der Karsion ist nicht allzu weit von hier Atlan ignorierte diesen Einwand. Sein entfernt. Entschluß stand fest. Er sah zu Koratzo hinüber, und ein Ver Er würde die Tronx-Kette verlassen und dacht keimte in ihm. sich nach Westen wenden. Atlan hatte schon früher von der Sprache Er warf noch einen Blick auf Koratzo. gehört, an der der Stimmenmagier arbeitete. Vielleicht sollte er doch besser bleiben, Was, wenn Koratzo inzwischen Erfolg ge bis der Stimmenmagier aus seinem Schlaf habt hatte? erwachte? Aber Koratzo würde ihm kaum Das hätte alles erklärt. Selbst der Zustand, helfen können, denn er hatte jetzt genug mit in dem der Stimmenmagier sich jetzt befand, sich selbst und seiner Arbeit zu tun. paßte in dieses Bild. »Ich werde euch nicht länger mit meinem Koratzo hatte ein großangelegtes Experi Anliegen belästigen«, sagte er zu Querllo.
22 Mit dem Magier ging eine erstaunliche Verwandlung vor. Eben noch hatte er abwei send und streng gewirkt – jetzt senkte er reu mütig den Kopf. »Was ist los?« fragte Atlan unwillig. »Hast du es dir anders überlegt?« Er bemerkte, daß die drei anderen die Köpfe zur Tür hereinsteckten. Antharia ge stikulierte heftig, und der Magier mit dem roten Haarschopf und den grünen Flecken im Gesicht sah aus, als würde er im nächsten Moment in Tränen ausbrechen. »Es war nicht positiv von mir«, klagte Querllo. »Ich hätte nicht so mit dir reden dürfen. Du kommst von draußen, aus dieser barbarischen Welt – wie konnte ich von dir verlangen, daß du uns jetzt schon verstehst? Du bist noch nicht lange genug bei uns.« Atlan wartete. Er ahnte etwas, aber er hü tete sich, dem Magier auch noch entgegen zukommen. »Sei unser Gast«, bat der Lichtmagier. »Bleibe für einige Tage hier in der TronxKette!« Aha! dachte Atlan triumphierend an die Adresse des Extrasinns. Merkst du, worauf das hinausläuft? Mir scheint, ich hatte recht. Der Logiksektor schwieg. »Ich habe sehr wenig Zeit«, gab Atlan zu bedenken. »Duuhl Larx hält Razamon und Lebo Axton an Bord der MARSAPIEN ge fangen. Es wäre gefährlich, die Geduld des Neffen auf eine zu harte Probe zu stellen.« »Wir werden Copasallior bitten, daß er herkommt«, versprach Querllo lockend. Damit er auch in die Falle geht? dachte Atlan spöttisch. »Ich möchte lieber zu ihm gehen«, meinte er. »Er könnte sonst annehmen, ich wollte ihm Befehle erteilen.« »Gut«, nickte Querllo. »Trotzdem – blei be wenigstens noch bis morgen. Du siehst müde aus und abgespannt. Etwas Ruhe wird dir gut bekommen. Morgen wird auch Ko ratzo wieder auf den Beinen sein. Sicher möchtest du gerne mit ihm reden. Und – es ist auch ein Gebot der Höflichkeit, daß du wartest, bis er aufwacht. Er hat dich in sei-
Marianne Sydow ner Wohnhalle aufgenommen. Du kannst nicht einfach verschwinden, ohne ihm zu danken.« »Er wird es schon verstehen«, meinte At lan lächelnd. Querllo schien einzusehen, daß er so nicht weiterkam. Ratlos sah er zu seinen Freunden hinüber. »Erlaube uns wenigstens, dich ein Stück zu begleiten«, sagte er resignierend. Und als Atlan immer noch ablehnend schien, fügte er hinzu: »Dann kannst du die magischen Straßen benutzen und kommst fast so schnell voran, als würdest du in einem Zugor fliegen – wenigstens innerhalb der Tronx-Kette.« Atlan zögerte, und er dachte an den Weg, der vor ihm lag. Es war weit bis zum Cralli on, rund einhundertsiebzig Kilometer Luftli nie, und das in einem der wildesten Gebirge, die er jemals in seinem langen Leben gese hen hatte. Erschwerend kam hinzu, daß er sich schließlich im Reich der Magier befand. Er wußte zwar über die neutralen Straßen Bescheid, aber diese Verkehrsverbindungen waren auf weiten Strecken für die Augen ei nes Nichtmagiers nicht mehr als kaum fuß breite Pfade, die über Stock und Stein führ ten, durch Täler, in denen Eis und Schnee herrschten, Sümpfe, in denen ein unvorsich tiger Wanderer leicht versinken konnte und Wälder, in denen die seltsamsten Tiere hau sten. Abgesehen davon hatten sich die Ma gier bei der Anlage ihrer »Straßen« um Stei gungen und Gefälle nicht gekümmert. »Gut«, sagte er. »Ich nehme dieses Ange bot an.« Querllo strahlte. Atlan beobachtete den Zwerg, und er schüttelte kaum merklich den Kopf. Nicht einmal nach dem Sieg am Skatha-Hir hatte Querllo so glücklich und erleichtert ausgese hen wie in diesem Augenblick.
5. Im Lauf des Tages kamen nacheinander alle Bewohner der Tronx-Kette, um den Kö
Die Träumer von Oth nig von Pthor zu begrüßen. Sie behandelten den Arkoniden wie einen glücklichen Heim kehrer, und wenn er versuchte, ihnen die bit tere Wahrheit zu erklären, lächelten sie nur. Sie waren zu höflich, um ihn zu unterbre chen oder Desinteresse zu zeigen, aber Atlan wußte, daß ihre Anteilnahme nur geheuchelt war. Am frühen Nachmittag erschien endlich auch Islar vor der Wohnhalle. Da Koratzo ihren Namen genannt hatte, hoffte Atlan, von ihr etwas über das zu erfahren, was den Magiern diesen »allesumfassenden Frieden« beschert hatte. Aber auch Islar wich ihm aus. »Ich habe nur das Werk eines anderen zu Ende geführt«, behauptete sie bescheiden. »Ich konnte nur sehr wenig tun.« Atlan nahm automatisch an, daß mit »dem anderen« Koratzo gemeint war, was ein Feh ler war – aber das konnte er nicht einmal ah nen. »Erzähle mir mehr davon«, bat er. Islar, ein zierliches, sehr junges Mädchen, auf des sen Stirn acht winzige, zusätzliche Augen wie eine Kette aus schwarzen Perlen glänz ten, lächelte schwach. »Es gibt nichts zu er zählen«, murmelte sie. »Du hast deine Magie eingesetzt«, vermu tete Atlan. »Welche Kunst beherrschst du?« »Gar keine«, antwortete Islar nüchtern. »Ich bin erst vor kurzem aus dem Revier der Sterblichen gekommen. Meine Lehrzeit ist noch nicht vorüber.« »Auch Lehrlinge vollbringen mitunter große Werke«, bemerkte Atlan vorsichtig. »Und manchmal übertreffen sie ihre Mei ster. Was du getan hast, war offensichtlich sehr wichtig für die Magier von Oth, etwas, das von historischer Bedeutung ist. Darum möchte ich mehr darüber erfahren. Bitte, be richte mir, was geschehen ist.« Sie zögerte noch, aber er wußte, daß er gewonnen hatte. Sie würde reden, anfangs vielleicht nur in Andeutungen, aber späte stens in einer Stunde in aller Deutlichkeit. Da, sie setzte zum Sprechen an – und ver stummte. Atlan sah, daß sie den Mund be
23 wegte, aber kein Laut drang über ihre Lip pen. Er fuhr herum. Koratzo stand an der Tür zur Wohnhalle. »Es ist schon gut, Islar«, sagte Atlan leise. »Kämpfe nicht dagegen an, das hat keinen Sinn.« Er stand auf und ging auf den Stimmen magier zu. »Gib ihr die Stimme zurück, Koratzo!« forderte er. »Wie du willst«, murmelte der Magier. Er sah immer noch blaß und schmal aus, aber es war erstaunlich, wie gut er sich in dieser kurzen Zeitspanne erholt hat. Der Arkonide sah zu Islar hinüber. Die junge Magierin starrte Koratzo an. In ihrem Gesicht zeichneten sich Gefühle ab, die sich schwer beschreiben ließen. Islar hatte keine direkte Angst vor Koratzo – aber sie war aus irgendeinem Grund schuldbewußt. Innerhalb einiger Sekunden erhellte sich ihr Gesicht, und schließlich ging sie lächelnd davon. At lan ahnte, daß die beiden Magier über den lautlosen Weg der Gedankenübertragung ein Gespräch geführt hatten. Er kannte solche Gespräche aus eigenem Erleben, und es be rührte ihn eigenartig, dabeizustehen und nicht daran teilzunehmen. Er fühlte sich plötzlich wie ein Aussätzi ger. »Gehen wir hinein«, schlug Koratzo vor. Atlan schüttelte den Kopf. »Warum hast du sie am Sprechen gehin dert?« fragte er grob. »Gibt es in der Barrie re etwas, wovon ich nichts erfahren soll?« Zu seiner grenzenlosen Überraschung ver suchte Koratzo nicht, seiner Frage auszuwei chen. »Ja«, sagte er einfach. »Das gibt es.« »Und was ist es?« Koratzo lachte leise auf. »Ich bin nicht Islar«, murmelte er. »Zu deiner Beruhigung möchte ich dir jedoch verraten, daß es nichts ist, wovon dir Gefahr droht.« »Warum haltet ihr es dann geheim?« »Es geschieht nur zu deinem Besten.«
24 »Unter demselben Vorwand«, sagte Atlan nachdenklich, »wurden auf dem Planeten Terra in ferner Vergangenheit Menschen zu Tode gequält. Rede schon, worum geht es?« Früher hätte Koratzo zumindest betroffen reagiert, jetzt aber schüttelte er nur lächelnd den Kopf. »Was ist hier passiert?« fragte Atlan wei ter. »Warum habt ihr Magier euch verän dert?« »Ich würde Stunden brauchen, um es dir in allen Einzelheiten zu erklären«, sagte Ko ratzo gelassen. »Und dann hättest du es im mer noch nicht verstanden.« Er sah das Funkeln in Atlans Augen. »Oh nein«, fügte er hastig hinzu. »So meine ich es nicht. Du bist sehr klug und würdest es sofort verstehen – wenn du es selbst fühlen könntest. Da liegt das Pro blem.« »Was ist mit dem Neffen?« »Chirmor Flog?« »Nun, falls ihr noch weitere Neffen des Dunklen Oheims in der Barriere aufbewah ren solltet …« »Es ist nur einer«, sagte Koratzo ernst. »Chirmor Flog kam nach Pthor, weil er hoff te, hier Heilung zu finden. Wir holten ihn zu uns.« »Dann wart ihr schon damals nicht recht bei Trost!« murmelte Atlan, der genau wuß te, daß es keine Rolle spielte, ob er gegen über dem Stimmenmagier derartige Gedan ken aussprach oder nicht – Koratzo konnte jederzeit auch gegen den Willen des Arkoni den dessen Gedanken lesen und ihn zweifel los auch beeinflussen. In dieser Hinsicht wa ren die Magier den terranischen Mutanten überlegen, denn gegen Mutanten konnte man sich wenigstens teilweise schützen. Koratzo lächelte milde. »Wir waren verblendet«, sagte er. »Wir dachten, den Neffen erpressen zu können. Gesundheit gegen Zugeständnisse in bezug auf Pthor und die Situation im Marantroner-Re vier. Es hätte niemals geklappt.« »Erstaunlich, daß du das erkennst.« »Spotte nicht! Chirmor Flog saß in die-
Marianne Sydow sem Gestell – du kennst es, wie ich deinen Gedanken entnehme. Wir schickten das Ge bilde zurück, denn ich fürchtete, es könnte eine Bombe enthalten oder etwas in dieser Art. Nun, das war ein Irrtum. Chirmor Flog selbst war die Waffe, mit deren Hilfe der Dunkle Oheim uns zu vernichten gedachte. Der Neffe war aufgeladen mit der negativen Energie, die ein gewisser Achtpforg auf ihn übertragen hatte. Achtpforg ist ein GersaPredogg, aber das wußten wir damals noch nicht.« »Ich kenne dieses Ding«, murmelte Atlan. »Razamon erzählte mir etwas von einem an deren Gersa-Predogg, dessen Aura geradezu tödlich ist.« »Achtpforg muß nach der Aufladung Chirmor Flogs wesentlich schwächer ge strahlt haben«, bestätigte Koratzo nüchtern. »Hätten wir damals die Zusammenhänge ge kannt … Aber wir holten uns ahnungslos den Neffen, und kaum war er in der Barrie re, da löste sich die negative Energie von ihm und breitete sich über ganz Oth aus.« »Das war der Schwarzschock«, vermutete Atlan. Koratzo nickte. »Und dann kam es zu Kämpfen?« »Die meisten Magier reagierten plötzlich negativ«, sagte der Magier. Er litt offen sichtlich beim bloßen Gedanken an diese Zeit. »Nur wenige blieben normal.« »Copasallior, du, Parlzassel, Glyndiszorn und – Islar!« Koratzo wandte sich ab. »Wir kämpften um die ORSAPAYA«, flüsterte er. »Es war furchtbar. Hätten die Negativen gesiegt, so wäre zumindest die Barriere von Oth restlos zerstört worden, wahrscheinlich hätte ganz Pthor dem Ende nahe gestanden.« »Und dann kam Islar …« Der Magier fuhr herum. »Islar?« fragte er. »Wie kommst du dar auf? Sie ist noch ein halbes Kind. Wir haben sie nicht einmal beim Kampf um das Luft schiff hinzugezogen.« Atlan nickte nachdenklich. Er erinnerte
Die Träumer von Oth sich sehr genau an die wenigen Worte, die Koratzo am Abend zuvor noch hatte sagen können. Aber gleichzeitig sah er es in Korat zos Augen aufblitzen, und er wußte, daß der Magier seine Gedanken verfolgt hatte. »Du kannst mir das Denken nicht verbie ten«, sagte der Arkonide langsam. »Abgesehen davon – früher hast du nicht ohne jeden Anlaß und ohne Skrupel in ande rer Leute Gehirn herumgeschnüffelt!« Koratzo sah ihn lange an, und Atlan hielt diesen Blicken stand. »Du solltest die Barriere verlassen«, sagte der Magier schließlich. Es klang beinahe feindselig. »Du paßt nicht in diese Welt.« »Meinst du? Ich denke, es ist genau um gekehrt. Das, was ihr Magier in der Barriere treibt, wird zu einer Gefahr für ganz Pthor – und du weißt das! Du unterliegst einem Zwang, gegen den du nicht ankommst, aber tief drinnen erkennst du genau, daß dies al les absolut falsch ist!« Sekundenlang war Koratzo wie erstarrt. »Wie kommst du darauf?« fragte er end lich. Atlan hatte den Stimmenmagier nie zu vor so verunsichert gesehen. »Du wußtest, daß ich komme«, erklärte er gelassen. »Mit Opkuls Hilfe konntest du jeden meiner Schritte verfolgen. Du hättest dich auf dieses Treffen vorbereiten können, und du hast es auch getan, wenn auch in ei ner Weise, die ich nicht gleich erkannte. Vielleicht hast du wirklich an deiner seltsa men Sprache gearbeitet, aber das spielt kei ne Rolle. Du hast dich selbst bis an den Rand der totalen Erschöpfung getrieben, denn du wußtest, daß du dann freier reden würdest. Leider bist du zu weit gegangen.« Der Magier schwieg. Aber er war noch bleicher geworden, und die Tatsache, daß er den Blicken des Arkoniden auswich, sagte genug aus. »Vorhin war ich bereit, zu glauben, daß alles auf ein unglücklich verlaufenes Experi ment zurückzuführen wäre«, fuhr Atlan er barmungslos fort. »Auf ein Experiment, daß du ausgeführt hast. Aber das stimmt nicht. Du hast vermutlich indirekt etwas mit der
25 ganzen Sache zu tun, aber mehr nicht. Es hängt mit Islar zusammen, nicht wahr? Was hat das Mädchen angestellt?« Koratzo antwortete nicht. Nachdem Atlan mehr als eine Minute gewartet hatte, wandte er sich schweigend ab und ging hinaus.
* Es hielt ihn nicht länger in der Tronx-Ket te. Schon Minuten später war er auf dem Weg zum Crallion. Noch immer hegte er die Hoffnung, daß Copasallior und andere, wei ter westwärts wohnende Magier unbeein flußt geblieben wären. Er wußte, daß er sich unvernünftig benahm, denn er kam ohne die Hilfe der Magier auf jeden Fall langsamer voran, aber er ertrug es einfach nicht länger, lauter verklärte Gesichter um sich herum zu sehen. Eines hatten alle magischen Straßen mit einander gemein: Sie spiegelten die Fähig keiten derer wider, die sie erschaffen hatten. Und da – vor dem Krieg der Magier am Ska tha-Hir – keiner dem anderen grün war, stellten die Straßen überaus individuelle Ge bilde dar. Die Tronx-Kette bildete auch hier eine Ausnahme. Aber in den übrigen Teilen der Barriere waren auch die Magier um Ko ratzo auf das Universal-Verkehrsmittel von Pthor angewiesen: Auf die ebenso schnellen wie zähen und genügsamen Yassels. Das waren weiße, pferdeähnliche Tiere, auf de ren Stirn ein kurzer Hornansatz saß. Als At lan sie zum erstenmal sah, dachte er unwill kürlich an die Einhörner der terranischen Märchenwelt. Inzwischen waren ihm diese Tiere soweit vertraut, daß ihr Anblick ihn nicht mehr zu Spekulationen reizte. In der Barriere von Oth lebten die Yassels halb wild. Sie taten, was immer ihnen ein fiel, und sie besaßen eine Art von Narren freiheit. Darüber hinaus waren sie weitge hend tabu, was magische Beeinflussung an ging. Der Preis, den die Yassels für ihr frei es, ungebundenes und dennoch behütetes Dasein zu zahlen hatten, war relativ gering. Nur selten kam ein Magier, der auf ihnen zu
26 reiten wünschte. Irgendwann im Lauf der ungezählten Jahre waren die Yassels zu dem Schluß gekommen, daß es besser sei, ab und zu einen Reiter freiwillig zu transportieren, als sich ein Leben lang in ein Gatter sperren zu lassen. Atlan entdeckte schon bald einige dieser Tiere auf einer Weide nahe dem Pfad, der gemeinhin als Straße bezeichnet wurde. Langsam ging er auf die weißen »Einhörner« zu und redete dabei beruhigend auf sie ein. Der Erfolg war verblüffend. Die ganze Herde machte – sofern sie in der falschen Richtung stand – auf den Hinterhufen kehrt und rannte auf ihn zu. Einigermaßen erschüttert beobachtete er die Yassels. Sie gebärdeten sich, als hätten sie alle miteinander den Verstand verloren. Sie wirkten nicht mehr zahm, sondern gera dezu aufdringlich. Einige legten sich nieder und rollten auf ihn zu, boten ihm ihre Rücken dar und flehten ihn mit langen Blicken aus ihren wimperverhangenen, tief schwarzen Augen geradezu an, aufzusteigen und mit ihnen davon zu galoppieren. Abseits dieser Menge erblickte Atlan ein einzelnes, schneeweißes Tier, das mit stolz erhobenem Kopf dastand und das Treiben seiner Artgenossen als das zu empfinden, als was auch Atlan es einstufte: nämlich als ge radezu entwürdigend. Der Außenseiter konnte nicht umhin, einige neugierige Blicke auf den Fremdling zu werfen, aber er widerstand jeder Versuchung. Und wieder handelte der Arkonide denk bar unvernünftig. Er konnte unter zwanzig Tieren wählen, und jedes davon war bereit, ihn bis zur totalen Erschöpfung im fliegen den Galopp durch die Barriere zu tragen – aber er mißachtete ihren Diensteifer. »Schert euch weg!« befahl er schroff. »Verschwindet! Ich will nichts von euch.« Ob die Tiere ihn tatsächlich verstanden, mag dahingestellt bleiben. Sie deuteten je denfalls seine Worte, die Art, wie er mit den Armen wedelte, den Klang seiner Stimme und allerlei andere Hinweise richtig und zo-
Marianne Sydow gen sich redlich betrübt zurück. Der Außenseiter blieb stehen. Atlan ging langsam auf ihn zu. »Komm, mein Freund«, sagte er schmei chelnd. »Laß es uns versuchen. Wir werden sicher gut miteinander zurechtkommen, meinst du nicht auch?« Das Yassel drehte den Kopf und schnaub te durch die Nüstern. »Ruhig!« mahnte Atlan sanft. »Du bist ein kluger Bursche. Wir werden gute Freun de werden.« Er legte eine Hand auf den Rücken des Yassels, dann zwei, dann zog er sich hoch – und flog im hohen Bogen durch die Luft. Er landete unsanft im Gras. Von unten her sah er das Tier an. Es war ein prächtiger junger Hengst. Sein Fell spannte sich glatt und glänzend über den straffen Muskeln, und seine Beine wa ren schlank und edel, aber doch kräftig ge nug, um mit den steinigen Pfaden dieses Ge birges fertig zu werden. »Na schön, mein Freund«, murmelte At lan und stemmte sich hoch. »Wir werden se hen, wer von uns den längeren Atem hat.« Er wußte, daß das Yassel sich problemlos reiten lassen würde, sobald es ihn als seinen Reiter akzeptierte. Es stand jetzt ganz still und betrachtete den Arkoniden mit funkelnden Augen. Es rührte sich nicht vom Fleck, als Atlan sich ihm näherte. Der Arkonide schnellte sich hoch, landete auf dem Rücken des Yassels und krallte sich mit beiden Hän den in der Mähne fest. Das Yassel hüpfte mit allen vieren gleich zeitig in die Luft. Während es steifbeinig kreuz und quer durch das Tal sprang und bockte, um Atlan loszuwerden, sah dieser aus den Augenwinkeln heraus die anderen Yassels hinter den Büschen stehen. Vermut lich platzten sie fast vor Schadenfreude. Dieser Gedanke erfüllte den Arkoniden mit grimmiger Entschlossenheit und half ihm, den Kampf mit dem Yassel durchzustehen. Allerdings benahm sich das Tier auch bei weitem nicht so wild, wie ein terranischer Mustang es in der gleichen Situation getan
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hätte. Von einer Sekunde zur anderen gab das Yassel seinen Widerstand auf. Atlan hatte den Eindruck, daß es sich für das Tier nur um ein Spiel gehandelt hatte. Er blieb auf dem Tier sitzen und dachte nach. Das Yassel trug natürlich keinen Half ter, und er besaß nichts, woraus sich ein sol ches Hilfsmittel hätte herstellen lassen. Er hatte gesehen, wie viele Magier die Tiere lenkten: Sie legten ihnen einfach die Hand an den Hals. Er probierte es aus und stellte fest, daß sein Yassel diese Methode akzep tierte: Es benahm sich jetzt so willig und ge schickt, als wäre es schon seit Jahren an den Arkoniden gewöhnt. Atlan beschloß, dieses Yassel für die Dauer seines Aufenthalts in der Barriere bei sich zu behalten. »Ich werde dir einen terranischen Namen geben«, sagte er zu dem Tier. »Von jetzt an heißt du Stewball. Und jetzt vorwärts, mein Freund! Wir haben noch einen langen Weg vor uns.« Ein paar Stunden später suchten sie sich ein kleines, stilles Tal, um ein paar Stunden auszuruhen. Atlan ließ Stewball unbesorgt frei herumlaufen. Während er ein paar Früchte aß, suchte das Yassel nach Kräutern. Als Atlan sich nach einiger Zeit ins Gras legte und zu dem seltsam schimmernden Himmel über Oth hinaufblickte, kam Stew ball zu ihm und legte sich, als sei das ganz selbstverständlich, neben dem Arkoniden zum Schlafen nieder. Als Atlan am nächsten Morgen erwachte, blickte er in die Gesichter von sechs Magi ern.
* Er richtete sich ächzend auf. Als er sich in der Nacht an diesem Ort zur Ruhe begeben hatte, war ihm der mit dichtem Gras bedeck te Boden weich und warm erschienen. Jetzt war Atlan steif und durchgefroren, und er spürte die Druckstellen von mindestens ei nem halben Dutzend kantigen Steinen, die sich heimtückisch vom Gras hatten über
wachsen lassen. Stewball war bereits wach und auf den Beinen. Bezeichnenderweise hatte er sich von den Magiern abgewandt und weidete in der Nähe des Baches. »Was wollt ihr von mir?« fragte Atlan schroff. Die Magier erschraken. Sie blickten ihn an wie waidwunde Rehe, verwundert, er staunt, ja, fassungslos angesichts der Grau samkeit dieser Welt. Er hatte eine ganze Reihe von Magiern kennengelernt, nicht nur Koratzo und Copa sallior, die Ausnahmeerscheinungen waren, und oft genug hatte er sich über die Arro ganz dieser Leute aufgeregt. Jetzt trat das genaue Gegenteil ein. Er empfand ange sichts dieser verletzten Blicke nichts als ge sunde Wut. »Schert euch weg!« schrie er die Magier an – und entsann sich, daß er dieselben Wor te gegenüber den allzu dienstbeflissenen Yassels gebraucht hatte. Die Magier schwanden dahin wie Tau an der Sonne. Es war, als hätten sie sich in nichts aufgelöst. Verblüfft sah der Arkonide sich um. »Ich habe geträumt«, murmelte er ratlos. »He, Stewball, waren hier eben noch Ma gier, oder sehe ich schon Gespenster?« Das Yassel drehte den Kopf und schnaub te leise, was alles mögliche heißen konnte. Sie waren da, meldete der Logiksektor, und die Tatsache, daß dieser Extrasinn sich zu einer vergleichsweise banalen Frage äu ßerte, brachte Atlan für Sekunden aus dem Gleichgewicht. Er beschloß, die momentane Verwirrung, die in seinen Gedanken herrschte, schleu nigst zu beseitigen. Er kannte ein hervorra gendes Mittel gegen solche Beschwerden, und diese Wundermedizin floß in Gestalt ei nes klaren, kalten Gebirgsbachs in bequemer Reichweite an ihm vorbei. Er ging zum Bach, und wenig später fühl te er sich frisch genug, um es mit allen Arten von Traumgespenstern aufzunehmen. Stew ball war unterdessen beim Dessert angelangt und zupfte gelangweilt ausgewählte Blätter
28 von den Zweigen eines goldblättriges Ge sträuchs. »Du hast es gut«, murmelte Atlan. »Wenn ich jetzt auch ein vernünftiges Frühstück vorgesetzt bekäme …« »Nimm und iß!« Er sah verblüfft auf. Antharia stand vor ihm und hielt ihm ein paar Früchte hin, die reichlich mitgenom men aussahen. »Ich dachte, ich hätte euch verjagt«, be kannte der Arkonide verdutzt. Antharias Augen glühten geheimnisvoll. »Du bist der König von Pthor«, sagte sie leise. »Du befiehlst, und wir gehorchen!« Das wird ja immer schöner, dachte er. Die Magier als Befehlsempfänger! Was ist nur aus diesen Leuten geworden? Aber gleichzeitig war er sich der Tatsache bewußt, daß die Bereitschaft der Magier, ihm Gehorsam zu leisten, nur bis an jenen Punkt reichen konnte, an dem sie die Geset ze des »allesumfassenden Friedens« über schritten. »Gut«, sagte er. »Setz dich zu mir und er zähle mir, was sich alles ereignet hat, seit ich das letztemal in der Barriere war.« Er ahnte, daß er der Magierin mit dieser Bitte keine leichte Aufgabe stellte, denn zweifellos hatte Koratzo seine Leute ein dringlich vor den Fragen des Arkoniden ge warnt. Er nahm die Blätter und die Früchte entgegen und begann zu essen, während An tharia zögernd zu berichten begann. Sie war vorsichtig genug, von Dingen zu sprechen, die schon ziemlich weit zurücklagen – zum Beispiel von der mißglückten Expedition nach Cyrsic. »Ihr wolltet die Große Plejade holen?« fragte er verblüfft. »Aber das hieße doch, daß ihr die Möglichkeit hattet, nach Cyrsic zu reisen! Womit, Antharia?« Die Magierin zuckte plötzlich zusammen und schwieg. Atlan dachte sich sein Teil. Mit Sicherheit steckte Koratzo dahinter. Der Stimmenma gier mochte das Gespräch aus sicherer Ent fernung verfolgt haben, und als er feststellte,
Marianne Sydow daß Antharia drauf und dran war, Geheim nisse auszuplaudern, da hatte er sie zurück gepfiffen. Zum erstenmal erfaßte Atlan in allen Konsequenzen, welche Gefahr von den Ma giern ausging, wenn diese beschlossen, ihre Fähigkeiten als Waffen zu gebrauchen. Zum Glück waren die Bewohner von Oth – beziehungsweise die der Tronx-Kette – zur Zeit keineswegs kriegerisch gestimmt, und Atlan hoffte inständig, daß es dabei bleiben möge. Aus Antharia war nichts mehr herauszu bekommen, und so erhob er sich und ging zu Stewball. Aber schon nach wenigen Schrit ten stutzte er. Das Yassel stand merkwürdig still da, und es hielt den Kopf auf eine Weise hoch, die dem Arkoniden unnatürlich vor kam. Fast sah es aus, als wären unsichtbare Hände da, die das Tier in diese Stellung zwangen. Die Magier! Er rannte mit weni gen Schritten zu dem Yassel hin und bekam tatsächlich einen Körper zu fassen, der schmal und biegsam war. Eine Magierin wurde sichtbar. Sie war groß und knabenhaft schlank, und ihre graugrünen Augen blick ten so entsetzt, daß der Arkonide unwillkür lich zurückzuckte und seine Gefangene frei gab. »Was tust du hier?« fuhr er sie an. »Ich wollte dir nur helfen«, versicherte sie. »Das Yassel hat von den Goldbuschblät tern gefressen, und davon werden diese Tie re übermütig und unachtsam. Es hätte dich verletzen können.« »Wie heißt du?« »Torla.« »Paß auf, Torla«, sagte Atlan grimmig. »Ich weiß, daß du es gut gemeint hast, aber was du getan hast, gefällt mir trotzdem nicht. Es hätte gereicht, mir das mit den Blättern zu sagen. Ich hätte mich dann schon vorgesehen.« Torla sah tief bekümmert zu Boden. »Ich will nicht, daß unsichtbare Magier um mich herumwimmeln und mir ihre Hilfe aufdrängen«, fuhr der Arkonide ärgerlich fort, und unwillkürlich sprach er lauter, als nötig gewesen wäre. »Ich komme auch ohne
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euch zurecht. Vor allem aber: Laßt die Fin beschäftigt, daß er die Veränderung, die mit ger von diesem Yassel!« dem Tier vorging, beinahe zu spät bemerkte. »Warum machst du es uns so schwer?« Stewball spannte plötzlich die Muskeln, fragte Torla kläglich. »Erlaube uns doch, dir und dann schoß er aus dem Stand vorwärts zu helfen. Du wirst bestimmt zufrieden mit und raste mit irrsinniger Geschwindigkeit uns sein!« davon. Der Arkonide konnte sich gerade »Was habt ihr davon, mir nachzulaufen?« noch in der dichten Mähne verkrallen, und »Wir wollen dir doch nur dienen!« rief irgendwie brachte er es fertig, sich auf dem Rücken des Tieres zu halten, aber mehr als Torla verzweifelt. »Ihr seid aber keine Diener!« sagte Atlan einmal glaubte er, daß der nächste Sprung eisig. »Ihr seid freie Magier. Warum, zum das Ende bringen müsse. Teufel, benehmt ihr euch nicht so, wie es Der einzige Vorteil – auf den Atlan gerne sich für euch gehört?« verzichtet hätte, wäre es ihm dafür gelungen, das Yassel anzuhalten – bestand darin, daß Torla starrte ihn an, und plötzlich brach der rasende Ritt genau in die richtige Rich sie in Tränen aus, drehte sich um – und war tung führte. Stewball flog förmlich über den verschwunden. Atlan hörte noch ihr steinigen Pfad, der nach Westen führte. Schluchzen, das sich schnell von ihm ent fernte, aber er sah nicht einmal die Fußspu Irgendwann, als bereits der ganze Körper des Yassels mit flockigem Schweiß bedeckt ren der unsichtbar gewordenen Magierin im war, tauchte vor ihnen eine Brücke auf. Sie Gras erscheinen. Kopfschüttelnd wandte er sich dem Yas war lang und schmal und spannte sich über sel zu. Stewball wirkte tatsächlich etwas eine Schlucht, in der schwarze Nebel wall nervös, aber Atlan vermutete, daß dies eher ten. Stewball raste auf die Brücke hinaus auf die Einmischung der Magier als auf den und mit donnernden Hufen über die glatten Genuß der goldfarbenen Blätter zurückzu Steinplatten hinweg. führen war. Atlan klammerte sich fest und schloß ab Du benimmst dich kindisch! meldete sich und zu die Augen, denn er rechnete fest da der Extrasinn plötzlich zu Wort. mit, daß sie schon bald in den schwarzen »Halte du dich da heraus!« knurrte Atlan Abgrund stürzen würden. Der Nebel benahm schlechtgelaunt. sich, als wäre er lebendig. Er kroch über die Die Magier haben wirklich nichts Böses Ränder der Brücke, die weder ein Geländer im Sinn, fuhr der Extrasinn ungerührt fort. noch eine Brüstung besaß, aber sobald er in Du solltest ihnen den Spaß lassen. Dann die Nähe des Yassels kam, war es, als würde hast du sie auch gleich unter Kontrolle. er von unsichtbaren Händen zurückgedrängt. »Ich will es aber nicht!« schrie Atlan wü Diese Brücke war ein Alptraum, und sie tend. schien kein Ende zu nehmen. Atlan lauschte angstvoll dem lauten Stöhnen und Keuchen Das ist keine logische Begründung! Und damit hatte der Extrasinn natürlich Stewballs. Er war überzeugt davon, daß das recht. Atlan hatte selbst keine Erklärung da Tier längst von selbst stehengeblieben wäre, für, warum sich alles in ihm dagegen sträub hätte es sich frei entscheiden können. Kein te, die Dienste dieser viel zu friedlichen Ma lebendes Wesen, das seine Sinne beisammen hat, geht bis an die Grenzen seiner körperli gier in Anspruch zu nehmen. Er fühlte sich abgestoßen, wenn er nur diese unterwürfigen chen Kräfte und bringt sich freiwillig in Le Blicke sah. bensgefahr. Wenn Stewball diesen rasenden Lauf durchhielt, bis sie das Ende der Brücke Er schwang sich auf das Yassel. Nur heraus aus der Tronx-Kette, dachte erreichten, würde er total erschöpft zusam menbrechen, ja, Atlan machte sich sogar er, dann sieht wahrscheinlich alles ganz an ders aus. Er war so mit diesem Gedanken darauf gefaßt, daß das Tier schon in der
30 nächsten Sekunde stürzte. Es wurde beeinflußt, und wer dahinter steckte, war für den Arkoniden kein Rätsel mehr. Stewball kam aus dem Tritt. Er stolperte und geriet mit einem Huf über den Rand der Brücke hinaus. Er wieherte schrill und angstvoll auf, und der Arkonide ließ die Mähne los und ließ sich fallen. Bevor er auf schlug, sah er noch, daß Stewball endgültig das Gleichgewicht verlor und in die Tiefe stürzte. Minutenlang blieb er liegen, halb bewußt los nach dem schweren Sturz, dann stemmte er sich mühsam hoch. Für ein paar Sekunden flammte der Himmel über der Barriere in goldenem Licht auf, und hinter dünnen Schwaden von schwarzem Nebel sah Atlan das Ende der Brücke vor sich liegen. Er taumelte darauf zu, aber schon nach zwei Schritten war der Nebel um ihn herum so dicht, daß er den Boden unter seinen Fü ßen nicht mehr zu sehen vermochte. Er fürchtete, die Orientierung zu verlieren und seinem Yassel in die Schlucht zu folgen. So ließ er sich auf die Knie hinab und kroch auf allen vieren vorwärts, bis er Sand und Gras unter seinen Händen fühlte. Erschöpft ließ er sich fallen, während die Nebel sich über die Ränder der Brücke zu rückzogen und in die Tiefe zurückkehrten. Diesmal hatten die Magier ihn mit ihrer Hilfsbereitschaft beinahe umgebracht. »Koratzo«, sagte er. »Du verdammter Narr – was hast du dir dabei gedacht?« »Ich wollte es nicht«, antwortete eine lautlose Stimme, die scheinbar mitten in At lans Kopf entstand. »Du wolltest nur unbe dingt aus der Tronx-Kette hinaus, so schnell wie möglich …« »Das wäre kein Grund gewesen, mich umzubringen!« »Es tut mir leid«, antwortete Koratzos Stimme unglücklich. »Wir haben versagt.« »Wir?« »Parlzassel und ich. Ich hätte das Yassel nicht voll beeinflussen können. Der Tierma gier …«
Marianne Sydow »Er ist bei euch in der Tronx-Kette?« »Ja.« Atlan vergaß sogar, wie erschöpft er war. Er richtete sich so hastig auf, daß ihm schwarz vor Augen wurde. Parlzassel – er hatte ihn nicht zu Gesicht bekommen. Nur die Freunde Koratzos wa ren nacheinander vor der Wohnhalle er schienen. Aber der Tiermagier war einer der Mächtigen in Oth, und für Breckonzorpf galt dasselbe. »Koratzo!« sagte er scharf. »Ist Copasalli or bei euch?« »Nein.« »Wo hält er sich auf?« »Er ist am Crallion.« »Ist das die Wahrheit?« »Ja.« Wie weit konnte man einem Magier trau en, der diesen mysteriösen »allesumfassenden Frieden« verehrte? Noch bis vor kaum einem Tag hatte Ko ratzo zu jenen Wesen gehört, denen Atlan blind vertraute – und das galt nicht für viele. Er war überzeugt davon, daß der Stimmen magier auch jetzt die Wahrheit sagte. Aber wer wußte, wie die Wahrheit für Koratzo in zwischen aussah? »Du tust mir unrecht«, klagte der Magier. »Es tut mir so leid, daß das Yassel sterben mußte. Sage mir, welche Strafe du für mich bestimmst.« Hätte Koratzo an alte Erinnerungen appel liert und den Arkoniden darauf hingewiesen, daß er ihn noch nie belogen hatte, so wäre Atlan auf der Stelle umgekehrt, um die Tronx-Kette zu durchsuchen. So aber sagte er nur: »Du wirst mich in Ruhe lassen, und du wirst dafür sorgen, daß auch deine Freunde sich daran halten. Keine Einmischung mehr, hast du verstanden? Merke ich trotzdem et was, dann werde ich dir das Fell über die Ohren ziehen!« »Ich habe verstanden.« »Ich will auch keinen Kontakt mehr. Du sollst nicht in die Versuchung geraten, mir noch einmal helfen zu wollen.«
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»Ich gehorche«, versicherte Koratzos Stimme traurig – und dann spürte Atlan eine seltsame Leere in sich. Der Stimmenmagier hatte dem Befehl Folge geleistet und sich zurückgezogen. »Das wäre überstanden«, sagte Atlan zu sich selbst. Er richtete sich vorsichtig auf. Wieder drang helles Licht aus dem Großen Knoten und zeigte ihm, welches Hindernis er überwunden hatte. Er sah die Brücke, die sich über der tiefschwarzen Schlucht spannte, mindestens fünf Kilome ter lang, ein dünnes, im silbrigen Licht glän zendes, steinernes Band. Eine solche Brücke konnte nicht existieren. Das sagte ihm die Logik. Sie mußte zusammenbrechen, ehe sie noch vollendet wurde. Und doch verband sie die Tronx-Kette mit den tieferen Regionen des Karsion, und das war vermutlich schon seit Jahrtausenden so. Schaudernd wandte Atlan sich ab. Er sah zum Karsion hinauf, dem düsteren, wolke numhangenen Sitz des Wettermagiers. Er würde den Berg umgehen müssen. Seufzend begab er sich auf die Suche nach einem anderen Yassel.
* Unweit der Schlucht entdeckte er eine kleine Yasselherde, deren Mitglieder samt und sonders von einem unnatürlich starken Bedürfnis erfüllt waren, ihm zu dienen. Es war kein Außenseiter wie Stewball dabei, und so mußte er schließlich mit einem der aufdringlichen Tiere vorlieb nehmen. Die anderen waren sichtlich enttäuscht. Ein paar Minuten lang folgten sie dem Arkoniden. Atlan fürchtete schon, sie würden ihn bis zum Crallion nicht mehr aus den Augen las sen, aber schließlich blieben sie doch zu rück. Er ritt durch eine Landschaft, die von ei ner fremden, seltsamen Schönheit war. Es war ein wildes Land, voll von Gefahren, aber diese bestanden in den Wegverhältnis sen, in den Abgründen, die sich unvermittelt hinter einer Wegbiegung auftaten, dem
lockeren Geröll, das unter den Hufen des Yassels in Bewegung geriet, und in den Temperaturwechseln, die immer dann ein traten, wenn der Pfad den Einflußbereich ei nes anderen Magiers berührte. Tropische Hitze wechselte mit arktischer Kälte. In der Großen Barriere von Oth schienen die Na turgesetze nur dazu da zu sein, daß man sie ignorierte. Er sah Bauwerke, die scheinbar schwerelos an senkrecht abfallenden Fels wänden klebten, und Paläste, die aus gefro renem Licht zu bestehen schienen. Jenseits des Karsion tat sich abermals eine gigantische Schlucht auf, und wieder gab es eine Brücke. Sie sah noch gefährlicher aus als die, die Atlan bereits hinter sich gebracht hatte. Sie bestand aus haarfeinen kristallinen Fäden, die ineinander verwoben waren. Wie ein schimmerndes Band, das beim leisesten Windhauch zerreißen mußte, spannte sie sich über einen Abgrund, der unermeßlich tief zu sein schien. Atlan, der von dem Yas sel gestiegen war, warf einen Stein hinab, aber er wartete vergebens auf das Geräusch des Aufpralls. Er empfand einen starken Widerwillen gegen diese »Brücke«. Das Band war kaum drei Meter breit, und es war durch absolut nichts gesichert. Atlan hielt sich für durch aus schwindelfrei. Hätte dieses Band aus massivem Gestein bestanden, oder auch nur aus Holz, so wäre er ohne Zögern über die Schlucht hinweggegangen. Dem kristallinen Gespinst dagegen konnte er kein Vertrauen entgegenbringen. Irgendwie erwartete er, daß Koratzo sich meldete und ihm sagte, was es mit dieser Brücke auf sich hatte. Aber der Stimmenma gier versteifte sich wohl ausgerechnet in die sem Augenblick darauf, sich strikt an den letzten Befehl des Arkoniden zu halten. At lan sah schließlich keinen anderen Ausweg, als ein Stück am Karsion hinaufzuklettern, um den Verlauf der Schlucht besser beurtei len zu können. Zum Glück waren die Hänge auf der Westseite des Wetterbergs nicht gänzlich unbezwingbarer. Nach etlichen Mi nuten angestrengten Kletterns stieß Atlan
32 sogar auf einen schmalen Pfad, der zwischen gigantischen Felsblöcken verlief. Die Felsen waren rötlichgrau mit schwarzer Maserung, und Wind und Wetter hatten sie zu abson derlichen Figuren geschliffen. Nachdem er sich durch diesen Felsenbereich hindurchge arbeitet hatte, fand er eine Stelle, von der aus er die Schlucht viele Kilometer weit überblicken konnte. Von oben sah es aus, als hätte ein Riese ein Messer in die Barriere gestoßen und es in engen Schlangenlinien quer durch die Berge gezogen. Der Spalt war an allen Stel len gleich breit. Es gab keine natürlichen Übergänge, und so weit Atlan sehen konnte, war die Schlucht auch überall gleich tief. An einer Stelle hatte das imaginäre Messer so gar einen Kringel beschrieben – mitten in der Schlucht gab es eine kreisrunde Insel, deren Ufer aus senkrecht in die Schwärze abfallenden Felswänden bestanden. Der einzige Weg, der über die Schlucht führte, war das kristalline Band. Im Norden, an der Grenze der Barriere von Oth, mußte dieser Abgrund enden. Aber dorthin zu rei ten, hätten den Arkoniden eineinhalb Tage gekostet, und es war nicht einmal sicher, daß auf der richtigen Seite des Großen Knotens ein Weg existierte, der um das Ende der Schlucht herumführte. Er kletterte wieder nach unten, schritt zö gernd auf die Brücke hinaus und stellte fest, daß sie wider Erwarten fest und sicher war. Sie schwankte auch nicht unter seinem Ge wicht. Er kehrte um und machte dem Yassel mit einiger Mühe klar, daß er seine Hilfe nicht mehr benötigte. Das Tier war damit gar nicht einverstanden. »Ich kann dich nicht mitnehmen«, sagte Atlan schließlich grob. »Diese Brücke ist zu schmal. Und es wird auch auf der anderen Seite genug Yassels geben, die mich mit Vergnügen durch die Gegend tragen werden. Gönne doch deinen Artgenossen auch etwas – das wäre positiv, wie Koratzo es sicher ausdrücken würde.« Das Yassel warf dem Arkoniden
Marianne Sydow schmachtende Blicke zu, aber er wandte sich strikt ab und trat auf das kristallene Band. Als er sich nach einigen Metern umblickte, sah er, daß das Yassel ihm zu folgen ver suchte. Es tastete vorsichtig mit dem rechten Vorderhuf über die Kristallfäden, die am Rand der Schlucht unvermittelt aus den Fel sen hervorwuchsen, scheute aber immer wieder zurück. Nach einiger Zeit siegte die Furcht vor der seltsamen Brücke über die Sehnsucht nach einem Wesen, dem das Yas sel dienen konnte. Das Tier warf sich herum und verschwand zwischen den Felsblöcken. Atlan brauchte eine volle Stunde, um die Schlucht zu überqueren. Ab und zu warf er einen Blick über die Ränder des Kristall bands. Tief unter ihm ragten ab und zu spit ze Felsen auf, aber der Grund der Schlucht blieb seinen Blicken verborgen, denn es schien, als dringe kein Lichtstrahl bis dort hin vor. Ab und zu hörte er das Rauschen gi gantischer Wasserfälle, und einmal vernahm er einen dumpfen, langgezogenen Schrei. Als er endlich wieder festen Boden er reichte, war er hungrig und durstig. Das Kri stallband endete auf einem breiten Sims. Rechts und links ragten die Felsen senkrecht auf, aber geradeaus zeichnete sich zwischen großen Steinen, die mit seltsamen Zeichen versehen waren, ein schmaler Pfad ab. Atlan folgte diesem Weg und gelangte in ein klei nes Tal, in dem es eine Quelle gab. Der Bo den war mit weichem Gras bewachsen, und zwischen fruchttragenden Sträuchern, die man offenbar überall in der Barriere antraf, weidete ein einsames Yassel. Das war beinahe zu viel an glücklichen Zufällen, und so näherte er sich der Quelle mit großer Vorsicht. Als er es neben dem Wasser metallisch blinken sah, war er schon beinahe sicher, daß er sich einer Falle näher te. Das Blinken kam von einem Messer, des sen Spitze abgebrochen war. Atlan hob das Messer auf und behielt es in der Hand, wäh rend er lautlos weiterschlich. Er erreichte den ersten Strauch und entdeckte die Feuer stelle. Sie war schon mindestens eine Woche
Die Träumer von Oth alt, denn die Asche war fast verweht. Zwi schen rußgeschwärzten Steinen steckten noch die gegabelten Äste, auf denen der Spieß gehangen hatte. Das hieß, daß diese Feuerstelle angelegt worden war, bevor der »allesumfassende Frieden« die Barriere er faßt hatte. Atlan untersuchte die Umgebung der Lagerstätte und fand ein paar Knochen, die im Gras liegen geblieben waren. Es wa ren starke Knochen, und doch waren sie auf gebrochen worden. Atlan entdeckte die Ker ben, die neben den Bruchstellen saßen, und plötzlich glaubte er zu wissen, wer hier die Reste seiner Mahlzeit zurückgelassen hatte. Lebo Axton hatte ihm berichtet, daß Kol phyr und Koy mit dem Fenriswolf in der Barriere geblieben waren. Fenrir mochte sol che großen Knochen sehr, er knackte sie, als handelte es sich um Nüsse mit dünnen Scha len, und leckte das Mark heraus. Die kleine, sehr ordentlich angelegte Feuerstelle konnte gut von Koy stammen, und der Abstand zwi schen den gegabelten Stangen war auffal lend gering. Auf dem Spieß konnte nur ein relativ kleines Stück Fleisch gesteckt haben, eines, daß gerade für eine Person ausreichte. Da der Bera überhaupt keine Nahrung zu sich nahm, war es sehr leicht möglich, daß die drei Freunde hier Rast gemacht hatten. Atlan ärgerte sich darüber, daß er verges sen hatte, Koratzo nach dem Dimensionsfor scher, dem Trommler und dem Wolf zu fra gen. Vielleicht waren sie alle drei noch in der Nähe. Ob auch sie sich verändert hatten? Vergeblich suchte der Arkonide nach Hinweisen darauf, in welcher Richtung die drei Freunde weitergezogen waren. Er gab die Suche schließlich auf und löschte endlich seinen Durst. Ein kurzer Versuch zeigte, daß das Yassel zur dienstbe sessenen Sorte gehörte – es würde ihm nicht weglaufen. So nahm Atlan sich Zeit, von den Früchten zu essen und sich ein wenig auszuruhen. Eigentlich hätte es inzwischen dunkel sein müssen. Aber aus Gründen, die dem Arkoni den unbekannt waren, glühte der Große Knoten so stark, daß die Nacht zum Tag
33 wurde. Rötliches Licht ergoß sich über die Barriere. Die Spitzen der Berge sahen aus, als hätte jemand sie mit Blut übergossen. Da das Licht aus allen Himmelsrichtungen zu gleich kam, war es schwer, die zahlreichen Unebenheiten des Weges zu erkennen. Atlan ließ das Yassel langsam gehen und hoffte, daß das Tier genug Verstand besaß, um allen Hindernissen auszuweichen, auch wenn es keinen direkten Befehl dazu bekam. Der Pfad wurde schon nach einer kurzen Strecke breiter, und als sie die verzierten Felsen hinter sich gelassen hatten, gelangten sie auf eine regelrechte Straße, deren Boden glatt und eben war. Die Straße führte durch eine Kette von verschieden großen Tälern, in denen allerlei seltsame Behausungen stan den. Atlan nahm an, daß er sich in den soge nannten Dunklen Tälern befand, deren aus nahmslos negative Bewohner am Skatha-Hir in die Verbannung gegangen waren. Er fand neben der Straße noch mehrere Feuerstellen, die alle nach demselben Mu ster angelegt waren. Mittlerweile war er völ lig davon überzeugt, daß es sich tatsächlich um Spuren handelte, die Kolphyr und seine Begleiter hinterlassen hatten. Als er eine Feuerstelle fast vor der Tür zu einem ab strakt geformten Gebäude fand, stieg er vom Rücken seines Yassels und untersuchte den Eingang. Die Tür ließ sich leicht öffnen. Das Innere des Gebäudes bestand aus einem ein zigen, sehr großen Raum, der von einem Ge wirr von freitragenden Treppen und Plattfor men erfüllt war. Überall standen Figuren, Gefäße und Apparate, die fremdartig und verdreht aussahen. Es gab erstaunlicherwei se fast keinen Staub in dieser riesigen Halle. Trotzdem glaubte Atlan, auch hier drinnen Spuren finden zu können, die von dem Bera oder von Koy stammten. Er entdeckte auch wirklich einige Stellen, an denen offensicht lich Gegenstände gestanden hatten, die ent fernt worden waren. Aber der endgültige Beweis dafür, daß Kolphyr sich in dieser Halle aufgehalten hatte, präsentierte sich ihm, als er eine schmale Tür öffnete, hinter der eine winzige Kammer lag. Und in dieser
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Kammer hing noch ein Geruch, der in Pthor einzigartig war: Es duftete nach Zimt. Aus alledem zog Atlan den Schluß, daß Kolphyr und der Trommler hier eingedrun gen waren, um verschiedene Gegenstände an sich zu bringen. Der ehemalige Besitzer des Bauwerks konnte dagegen ohnehin nichts mehr einzuwenden haben, aber wie stand es mit den anderen Magiern? Gegen ihren Wil len hätten die beiden keinen Fuß in die Dunklen Täler setzen können. Welchem Zweck diente dieses Unterneh men? Atlan zerbrach sich den Kopf darüber, während er weiterritt, aber er fand keine Er klärung, die ihn hätte zufriedenstellen kön nen. Über diesen Aktivitäten vergingen die Nacht und der nächste Tag. Atlan legte ab und zu eine Rast ein und sorgte dafür, daß das Yassel ausreichend Futter zu sich nahm – das Tier war so ängstlich darauf bedacht, den Arkoniden ja nicht aus den Augen zu lassen, daß es sich kaum Zeit zum Weiden nahm. Am Abend erreichten sie die Grenze der Dunklen Täler und damit auch das Ende der breiten Straße. Vor ihnen stieg das Land steil an. Weit oben leuchtete der Gipfel des Gnorden.
6. Die ganze Zeit hindurch hatte Atlan kei nen einzigen Magier zu Gesicht bekommen. So wußte er immer noch nicht, ob nur die Bewohner der Tronx-Kette und der benach barten Reviere von der Sucht nach dem »allesumfassenden Frieden« erfaßt worden waren, oder ob am Ende die ganze Barriere von dieser Krankheit befallen war. Denn um eine Krankheit handelte es sich nach Atlans Meinung auf jeden Fall, egal, was der auslö sende Faktor sein mochte. Was Koratzo und die anderen jetzt trieben, das hatte nichts mehr mit ihren früheren positiven Zielen zu tun. Die Basis dieser positiven Magie war die Toleranz gewesen, und gerade sie hatten
die Magier um Koratzo mittlerweile völlig vergessen. Je näher er dem Gnorden kam, desto un ruhiger wurde er. Was sollte er tun, wenn auch Glyndiszorn von diesem Wahn erfaßt war? Und wenn die ganze Barriere nun von träumenden Magiern bewohnt war? Mit jedem Tag, der verging, stieg die Gefahr, daß Duuhl Larx die Geduld verlor und seinen Ärger über die eintretenden Verzögerungen an seinen Gefangenen ausließ. Es hätte eine einfache Lösung gegeben, an die Atlan jedoch nicht einmal denken mochte: Er konnte die Magier bitten, den Großen Knoten aufzulösen. Sie würden es mit Freuden tun. Und dann würden die Tru gen hereinströmen und den Tod in die Täler von Oth tragen. Derart friedenssüchtige Leu te, wie die Magier es im Moment waren, würden auf Duuhl Larx wirken wie das be rühmte rote Tuch auf den Stier. Egal was geschah, die Magier mußten sich weiterhin abschirmen. Solange man draußen nicht wußte, wie es um sie stand, würde man sich weiterhin vor ihnen fürch ten. Er mußte, wenn gar keine andere Mög lichkeit mehr blieb, die Magier dazu überre den, daß sie ihn nach draußen ließen und den Tunnel hinter ihm abbrachen, und er mußte ihnen auch noch klarmachen, daß sie niemanden außer ihn selbst in die Barriere holen durften. Aber wie sollte man das diesen närrischen Leuten begreiflich machen? Noch ist nicht erwiesen, daß sie alle sich verändert haben, bemerkte der Extrasinn. Der Arkonide erkannte erschrocken, daß er sich bereits mit dem Gedanken abfand, daß es doch so war. Er war so mit seinen Gedanken beschäf tigt, daß er gar nicht mehr auf seine Umge bung achtete. Es schien auch ganz überflüs sig zu sein, sich in diesen Bergen besonders vorsichtig zu verhalten. Er hatte viele Tiere gesehen, und keines davon hatte auch nur Ansätze zu aggressivem Verhalten gezeigt. Plötzlich aber löste sich ein großes, fau
Die Träumer von Oth chendes Wesen aus dem Schatten neben dem Weg und stürzte sich auf Atlan. Der Arkonide war so überrascht, daß er viel zu spät auf diesen Überfall reagierte. Das Yassel setzte seinen Weg unbekümmert und im alten Trott fort, als merke es gar nicht, wie Atlan von seinem Rücken herun tergerissen und zu Boden geworfen wurde. Atlan sah zunächst nur einen Rachen mit einem mächtigen Raubtiergebiß, eine Pranke mit langen Krallen und eine Unmenge von zottigem Fell vor sich. Er trug noch das Messer mit der abgebrochenen Spitze bei sich, sonst war er unbewaffnet. Aber bevor er das Messer aus dem Gürtel ziehen konnte, ließ die unbekannte Bestie sich mit ihrem vollen Gewicht auf den Arkoniden fallen. Er lag auf dem Rücken und hatte Mühe, wenig stens ein paar Atemzüge zu tun, wobei ihm die langen Haare des Tieres in Mund und Nase drangen. Er war überzeugt davon, daß er binnen kürzester Zeit ersticken würde. Verzweifelt kämpfte er gegen den schweren Körper an, und endlich gelang es ihm, sich wenigstens auf den Bauch zu drehen. Er stemmte sich ein paar Zentimeter weit hoch und atmete ein paarmal tief durch. Aber er spürte, daß er das Gewicht des Tieres nicht lange würde ertragen können. Merkte die Bestie überhaupt, wie verzweifelt er um sein Leben kämpfte? Das Tier rührte sich nicht. Dem Arkoniden kam das allmählich un heimlich vor. Wütend und mit all der Kraft, die die Angst um das nackte Leben ihm verlieh, stemmte er sich mit den Zehenspitzen gegen den Boden, zog sich auf den Armen vor wärts und zwängte sich zentimeterweise un ter dem Körper der Bestie hindurch. Er war in Schweiß gebadet, und der Luftmangel zauberte dunkle Schleier vor seine Augen, die ohnehin nichts sahen, weil es unter dem Tier stockfinster war. Plötzlich aber schien er einen kritischen Punkt erreicht zu haben. Er spürte, daß et was über ihm nachgab, und sofort spannte er sich wie eine Feder, stieß den Kopf in das zottige Fell und drückte sich mit den Hän
35 den vom Boden ab. Die Bestie gab nach. Atlan kam auf die Knie, dann sogar auf die Füße, und mit einer letzten, ungeheuren Anstrengung stieß er den schweren Körper von sich. Er war frei. Sofort riß er das Messer hervor und wir belte herum, bereit, sein Leben bis zum letz ten Blutstropfen zu verteidigen. Es dauerte eine Weile, bis er das, was sei ne Augen ihm vermittelten, zu glauben ver mochte. Die Bestie war tot. Das Tier, das einem gigantischen Löwen ähnlich sah, lag auf der Seite, alle viere von sich gestreckt. Vorsichtig trat Atlan näher heran, und ein Blick auf die gebrochenen Augen überzeugte ihn endgültig. Hier drohte ihm keine Gefahr mehr. Erst danach fiel ihm auf, wie unglaublich mager der »Löwe« war. Er bückte sich, um das Tier genauer zu untersuchen, aber plötz lich sagte eine Stimme leise und traurig: »Hat dir das Freude gemacht?« Er kannte diese Stimme. Langsam drehte er sich um und sah Copasallior am Wegrand stehen. Rein äußerlich hatte der Magier sich über haupt nicht verändert. Er war schon immer sehr mager gewesen, und seine großen Ba saltaugen verrieten selten, was in ihm vor ging. Aber allein der Klang seiner Stimme machte dem Arkoniden klar, daß er seine letzten Hoffnungen begraben mußte. »Dich hat es also auch erwischt«, bemerk te er bitter. »Du hältst uns für verrückt, nicht wahr?« fragte Copasallior unbewegt. »Da du es so drastisch auszudrücken be liebst, bleibt mir nichts anderes, als deinen Verdacht zu bestätigen«, gab Atlan spöttisch zurück. Er beobachtete Copasallior aufmerk sam, denn er rechnete damit, daß der Magier über dieser ungebührlichen Antwort den »allesumfassenden Frieden« vergaß und zum Angriff überging. Copasallior aber stand da wie eine Statue, kerzengerade aufgerichtet, von seinem wei
36 ten, dünnen, schwarzen Gewand umweht. Er hatte alle sechs Arme vor der Brust ver schränkt und betrachtete den Arkoniden mit seinen steinernen Augen. Er wirkte unsagbar arrogant. »Warum hast du ihn getötet?« fragte er nach einer langen Pause. Atlan schüttelte fassungslos den Kopf. »Sieh dir den Burschen an«, empfahl er, und er zog das Messer hervor. »Und dann überlege dir, wie man ihn mit einer so lä cherlich kleinen Waffe besiegen soll. Das ist alles, was ich habe – ein kleines Messer, dem die Spitze fehlt.« »Du bist genau der Mann, dem dieses zweifelhafte Kunststück gelingen könnte«, antwortete Copasallior, ohne seine starre Haltung aufzugeben. »Das kommt davon«, seufzte Atlan. »Leuten wie dir sollte man nicht zuviel von sich verraten. Paß auf, Copasallior, ich ma che dir einen Vorschlag. Ich lege das Messer hierhin, und du versetzt mich auf den Stein da drüben, damit ich dir nicht davonlaufen kann. Und dann untersuchst du den Kadaver. Du wirst keine Wunde finden, das garantiere ich dir!« Er nahm nicht an, daß Copasallior auf dieses Angebot eingehen würde, denn so verrückt konnte der Weltenmagier gar nicht sein. Aber aus dem Gewirr von Armen lös ten sich zwei schmale Hände, und im näch sten Augenblick stand Atlan auf dem hohen, steilen Felsen, den er dem Magier gezeigt hatte. Resignierend setzte er sich hin. Er be obachtete Copasallior, der langsam an die tote Bestie herantrat. Ihm wurde plötzlich bewußt, daß ihm möglicherweise ein fataler Fehler unterlaufen war. Diese Bestie war so dünn, das Fell saß so locker an ihrem Körper, daß es geradezu un glaublich erschien, wie sie noch die Kraft zu diesem Überfall aufgebracht hatte. Sie muß te einen sehr konkreten Grund gehabt haben, den einsamen Reiter anzugreifen. Hunger war sicher ein Motiv für eine solche Tat. Aber genauso gut konnte es sein, daß Schmerz den Bann des »allesumfassenden Friedens« gebrochen hatte. Ein anderer, der
Marianne Sydow ebenfalls nicht dieser Beeinflussung erlegen war, mochte das Tier angegriffen haben, und er, Atlan, hatte die Zeche für die Unge schicklichkeit seines Vorgängers zu zahlen. Unter dem langen, zottigen Fell des »Löwen« konnte sich vieles verbergen, und eine Wunde muß nicht immer groß sein, um das Leben eines Wesens zu gefährden. Copasallior ging ungeheuer gründlich vor. Mit seinen sechs Händen untersuchte er das Tier. Er ließ keinen Quadratzentimeter Haut aus. Atlan saß inzwischen auf dem Felsen, der ihm im Ernstfall nur zwei Möglichkeiten offenließ: Entweder zu verhungern oder sich bei dem Versuch, hinunterzuklettern, zu To de zu stürzen. In dem rötlichen Licht, das der Große Knoten zu dieser späten Stunde spendete, sah Copasallior wie eine überdi mensionale Fledermaus aus, die sich träge flatternd über den gewaltigen Kadaver be wegte. Endlich richtete Copasallior sich auf und sah zu Atlan hinüber. Unwillkürlich stand der Arkonide auf. »Bewege dich nicht!« rief der Weltenma gier ihm zu. Für einen Augenblick war ein seltsames graues Nichts um den Arkoniden herum. Dann stand er neben dem Sechsarmigen und vernahm dessen Frage: »Was ist geschehen?« »Das weiß ich nicht«, murmelte Atlan. »Dieses Tier griff mich an, riß mich vom Yassel und brach offenbar über mir zusam men. Ich kroch mit viel Mühe unter ihm her vor und stellte fest, daß es tot war.« »Das war alles?« »Ja«, bestätigte der Arkonide und zuckte zusammen, weil ein Insekt von der Größe ei ner Hummel mit zornigem Gesurre an sei nem Gesicht vorbeiraste. »Kleiner Bruder, du tust mir weh!« sagte Copasallior zwei Sekunden später mit selt sam flacher Stimme. Atlan sah den Weltenmagier erstaunt an – und entdeckte das Insekt, das an Copasal liors Hals saß und mit hektischen Bewegun gen seiner Kieferzangen die Haut des Wel
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tenmagiers aufsäbelte. Atlans Hand zuckte ganz von alleine hoch, aber er kam nicht dazu, das aufsässige kleine Biest zu erschlagen. Plötzlich hörte es nämlich von ganz alleine auf mit dem, was es bisher getan hatte. Winzige Flügel streck ten sich zitternd, die Kieferzangen öffneten sich weit, und das Insekt stürzte ab. Hastig bückte sich der Arkonide und hob das Tier mit spitzen Fingern auf. »Was ist denn das für ein mordgieriges kleines Monstrum?« fragte er verblüfft. Copasallior antwortete nicht. Aus der Wunde an seinem Hals sickerte Blut. Lange Zeit sah er von dem Insekt in Atlans Hand auf den Kadaver des Pseudo-Löwen und wieder zurück. Dann nahm er dem Arkoni den das tote Insekt ab, warf es achtlos ins Gras, ergriff Atlans Hand und versetzte sich mit ihm zum Crallion.
* »Warum hast du es so eilig?« fragte At lan, als er wieder etwas sehen konnte. »Ich hätte mich gerne in dieser Gegend noch ein wenig umgesehen.« »Das wäre zu gefährlich«, lehnte Copasal lior kühl ab. »Aber es scheint doch etwas an diesem Ort nicht zu stimmen!« »Die Morrigs gehörten schon immer zu den blutgierigsten Bewohnern der Barriere.« »Was ist ein Morrig?« »Du hattest doch einen in der Hand!« »Aha. Und warum greifen diese Biester immer noch an?« »Der allesumfassende Frieden«, sagte Co pasallior nachdenklich, »braucht Zeit, um auf alle Wesen in unserem Land zu wirken. Je kleiner die Tiere sind, desto länger dauert es, bis sie zur Vernunft kommen.« Atlan hätte sich gerne zu diesem Thema geäußert, aber aus naheliegenden Gründen beherrschte er sich. »Damit hätten wir eine Erklärung für das, was das Insekt getan hat«, nickte er. »Aber was ist mit diesem merkwürdigen Löwen?
Groß genug dürfte er doch wahrhaftig sein, und er dürfte auch schon lange genug ge hungert haben, wie euer vielzitierter Frieden es von ihm verlangt.« »Ein Morrig wird ihn angegriffen haben«, meinte Copasallior. »Diese Tiere wühlen sich tief in das Fleisch ihrer Opfer ein, und das ist sehr schmerzhaft. Durdon hat darüber den Verstand verloren.« »Durdon ist der Name des Löwen?« »Ja.« »Das heißt dann wohl, daß du ihn kennst – oder gekannt hast.« »Er gehörte zu Parlzassels Familie.« »Dann hat er sich ziemlich weit von sei nem Herrn entfernt.« Copasallior schwieg. Atlan beobachtete den Weltenmagier nachdenklich. Er hätte diese Erklärung viel leicht akzeptiert, wenn er nicht vorhin mit eigenen Augen Copasalliors Reaktion auf den Angriff des Morrig hätte verfolgen kön nen. Er zweifelte nicht daran, daß der Magier über eine ungewöhnliche Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen, verfügte. Aber wenn, wie in diesem Fall, ein völlig unerwarteter Angriff erfolgt und plötzlicher Schmerz den Körper durchfährt, dann nützt alle Selbstbe herrschung nichts: Es folgt zumindest der Ansatz zu einer instinktiven Abwehr. Copasallior aber hatte überhaupt nichts getan, um das Insekt loszuwerden! Er war so tief in seinem Wahn gefangen, daß die in seinem Körper wohnenden In stinkte nicht mehr zur Wirkung kamen. Er hätte sich – davon war der Arkonide über zeugt – eher bei lebendigem Leibe auffres sen lassen, als das verflixte Insekt dahin zu befördern, wohin es nach Atlans Meinung gehörte. Auch Durdons Instinkte hatten nicht mehr funktioniert. Wäre es anders gewesen, so wäre Durdon nicht verhungert, und zweifel los hätte er sich auch nicht mit dem Zwei beiner angelegt, sondern sich das Yassel ge schnappt. Etwas anderes hatte Durdon zum Wahn
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sinn getrieben, und Atlan glaubte zu wissen, warum es sich dabei handelte. Es war kein Morrig. Es war schlicht und einfach der Hunger. Er und die Spannung, die in dem armen Tier entstanden sein muß te, als es gezwungen war, gegen seine Natur zu handeln. Würden auch die Magier über kurz oder lang den Verstand verlieren, wenn es ihnen nicht gelang, sich aus ihrer Traumwelt zu lö sen? Mit Sicherheit, lautete kurz und trocken der Kommentar des Extrasinns. Damit sah alles plötzlich ganz anders aus. Es ging nicht mehr nur darum, den Zu stand der Magier vor Duuhl Larx geheimzu halten. Atlan mußte vielmehr versuchen, zu helfen. Auch wenn andere Probleme noch so dringend erscheinen mochten, konnte er sich doch nicht vor dieser Entscheidung drücken, denn er war der einzige, der überhaupt wuß te, was sich in Oth abspielte. Er hätte Verbündete brauchen können. Mit den Magier war nichts mehr anzufan gen, aber es gab noch drei Wesen, die nicht aus Oth stammten und sich dennoch im Schutz des Großen Knotens aufhielten. Atlan wollte Copasallior gerade fragen, wo Kolphyr und Koy sich befanden und was der Fenriswolf von den Gesetzen des »allesumfassenden Friedens« hielt, da wand te der Weltenmagier sich abrupt ab. »Sie sind da«, sagte er. »Wir sollten sie nicht zu lange warten lassen.« »Von wem sprichst du?« erkundigte der Arkonide sich, obwohl er bereits etwas ahn te. »Von den Magiern«, antwortete Copasal lior. »Ich habe sie hergerufen. Wir haben große Pläne geschmiedet, und du sollst uns sagen, ob wir damit Erfolg haben werden.«
* Mit anderen Worten, dachte Atlan. Ich soll euch in eurem Irrsinn bestätigen, denn wenn ich euch kritisiere, werdet ihr mich als negativ bezeichnen und gar nicht mehr zu-
hören, egal, was ich sage. Copasallior ging voran und führte den Ar koniden auf den Platz vor seiner Höhlen wohnung, die unter dem Gipfel des Crallion lag. Der von Glyndiszorns Knoten gebildete Himmel über Oth erstrahlte in tiefem Oran ge, und in diesem seltsamen Licht sah Atlan die Magier, die dicht gedrängt auf dem har ten Felsboden saßen, Reihe um Reihe, und er zweifelte nicht mehr daran, daß wirklich alle erschienen waren. Nur einer fehlte. Das war Koratzo. Atlan vermutete, daß der Stimmenmagier wieder einmal bis zur Erschöpfung an seiner magi schen Sprache gearbeitet hatte. Das sah ihm wirklich ähnlich – seine Sprache war wichti ger als diese Versammlung. Der Arkonide wünschte sich, die restli chen Magier wären ähnlich pflichtbesessen gewesen. Copasallior eröffnete die Versammlung, indem er eine Hand auf Atlans rechte Schul ter legte und lapidar erklärte, der König von Pthor sei gekommen und hätte sich bereit er klärt, die Meinung der Magier anzuhören. Trotz der freundschaftlich anmutenden Ge ste hatte Atlan das Gefühl, in nicht allzu gu tem Ruf zu stehen. Vermutlich wußten alle, die hier anwesend waren, daß er sich nicht immer so verhalten hatte, wie es ihren Idea len entsprach. Im übrigen mochte sich in Oth noch so viel geändert haben – der Weltenmagier war noch immer derjenige, der das Wort führte. Niemand machte ihm dieses Recht streitig. Der Sinn der kurzen Rede, die Copasallior hielt, war leicht zu verstehen. Er pries die Vorzüge des »allesumfassenden Friedens« und legte dar, welch glückliche Zukunft dem Lande Pthor bevorstand, wenn es gelang, al le, die außerhalb des Großen Knotens lebten, zu der neuen Lehre zu bekehren. »Du bist der König von Pthor«, wandte er sich abschließend an Atlan. »Du alleine mußt entscheiden, welchen Weg dieses Land gehen soll. Sage uns, ob du bereit bist, in Frieden zu herrschen.« Natürlich sollte das eine rein rhetorische
Die Träumer von Oth Frage sein. Man erwartete von ihm, daß er begeistert zustimmte und auf der Stelle los zog, um ganz Pthor in ein Asyl für Träumer zu verwandeln. Atlan betrachtete die Ma gier, die andächtig zu ihm aufsahen. Minu tenlang produzierte der Große Knoten eine goldflirrende Helligkeit, so daß er die vielen Gesichter deutlich erkennen konnte. Er sah Magier, die nur noch Haut und Knochen wa ren – zweifellos Wesen, die auf tierische Kost angewiesen waren und sich zu Tode hungerten, weil sie sich an die Gesetze hal ten wollten. Aber selbst diese armen Kreatu ren blickten ihn mit leuchtenden Augen an und zweifelten keinen Augenblick lang dar an, daß Copasallior in allen Punkten recht hatte. Sie hatten die Realität vergessen. Die Schwarze Galaxis, der Dunkle Oheim, der Neffe Duuhl Larx, die Trugen – für sie gab es das alles gar nicht mehr. Sie dachten nicht mehr an die Gefahren, die dem Dimensions fahrstuhl drohten, sondern nur noch an ihren unerfüllbaren Traum – und das galt selbst für jene, die schon bald mit ihrem Leben da für bezahlen würden, daß sie den neuen Ge setzen gehorchten. Atlan erkannte, daß es keinen Sinn hatte, irgend etwas zu erklären und die Magier auf die rauhe Wirklichkeit hinzuweisen. Sie hät ten ihn nicht verstanden und ihm kein einzi ges Wort geglaubt. »Ich werde nach Pthor hinausgehen«, sag te er resignierend, »und dafür sorgen, daß al le, die in diesem Land leben, von euren Ge setzen erfahren.« Zweifellos hatte man sich mehr von ihm erwartet, aber er drehte sich um und kehrte in die Höhlenwohnung zurück. Copasallior folgte ihm. »Du hättest dich nicht kürzer fassen kön nen«, bemerkte der Weltenmagier vorwurfs voll. Atlan war müde und gereizt, und er mach te sich Sorgen. Er setzte zu einer scharfen Bemerkung an, da sah er am Hals des Wel tenmagiers eine bläuliche Schwellung. Die Wahnsinnstat des hungrigen Insekts war of
39 fenbar nicht ohne Folgen geblieben. »Sind die Morrigs giftig?« fragte er. »Nein«, erwiderte Copasallior irritiert. »Dann handelt es sich also um eine Ent zündung«, stellte Atlan fest. »Du solltest schleunigst etwas dagegen unternehmen.« Copasallior strich sich vorsichtig über den Hals und lächelte schwach. »Eine Entzün dung, die von lebenden Wesen verursacht wird«, sagte er leise. »Auch sie haben ein Recht darauf, zu exi stieren und sich auszubreiten.« »Laß sie das nicht hören«, warnte Atlan. »Sie könnten dich beim Wort nehmen.« »Wäre das so schlimm? Ich wünschte, wir könnten uns miteinander verständigen. Sie sind so winzig. Es wäre interessant, zu er fahren, wie sie diese Welt sehen.« »Sie werden dich umbringen«, sagte At lan grob. »Das ist anzunehmen«, erwiderte Copa sallior, und dabei lächelte er immer noch. »Macht dir das nichts aus? Hast du keine Angst davor, zu sterben?« »Ich lebe seit so undenkbar langer Zeit«, sagte Copasallior nachdenklich. »Es war ein Leben, das ich auf Kosten anderer geführt habe. Abgesehen davon – ich bin nur einer, die, die da drinnen hausen, sind viele. Sollen sie alle um meinetwillen sterben müssen?« Atlan starrte den Weltenmagier fassungs los an. Ein Magier trat an die Tür zu den Wohn hallen, und sein Schatten fiel lang und schmal über den Mosaikboden. Copasallior drehte sich langsam um. »Zu welchem Urteil seid ihr gekommen?« fragte er. »Er wird nicht nach draußen gehen«, er widerte der Magier, dessen Gesicht Atlan nicht erkennen konnte. »Er wird die neue Lehre nicht verbreiten.« Sie hatten über ihn abgestimmt! Und das, während Copasallior sich mit ihm hier drinnen unterhielt. »Du hast es gehört«, sagte Copasallior be dauernd. Du mußt sie überreden! drängte der Ex trasinn. Draußen gibt es Medikamente und
40 Waffen. Du wirst zurückkommen, und dann kannst du vielleicht etwas für sie tun. Jetzt hast du keine Chance, etwas zu erreichen! »Ihr habt mich falsch verstanden«, sagte Atlan gedehnt zu dem fremden Magier. »Ich bin bereit, mich mit all meiner Kraft für eure Ziele einzusetzen. Aber ich bin erst vor we nigen Tagen in die Barriere von Oth gekom men, und die Bilder des Schreckens sind noch zu frisch in mir. Ich bezweifle, daß eu re – unsere Lehre etwas gegen jene Macht ausrichten kann, die zur Zeit in Pthor herrscht.« Der fremde Magier legte den Kopf schräg, und Copasallior tat einen Schritt auf Atlan zu. »Du bist also bereit, dich nach unseren Gesetzen zu richten?« fragte er ernst. »Ja.« »Du wirst es denen da draußen sagen müssen.« »Wann?« fragte Atlan. »Jetzt gleich.« »Gut. Gehen wir noch einmal hinaus.« Er würde lügen müssen. Aber das erschi en ihm als völlig unwichtig. Er würde zu Duuhl Larx zurückkehren und behaupten, daß die Magier ihn zu ihrem Verbindungsmann gemacht hatten. Dann konnte er den Neffen sicher dazu überreden, ihm gewisse Materialien zur Verfügung zu stellen. Er würde natürlich nicht im ersten Anlauf Erfolg haben, aber irgendwann muß te es gelingen – wenn er erst wußte, auf wel che Weise er den unheilvollen Bann brechen konnte, war die Schlacht schon so gut wie gewonnen. Er trat neben Copasallior, und der Wel tenmagier fragte ihn noch einmal: »Gehorchst du den Gesetzen des allesum fassenden Friedens?« »Ja!« sagte Atlan mit fester Stimme. Er sah, daß die Magier sich steil aufrichte ten, und vernahm gleichzeitig die zweite Frage: »Du bist bereit, diesen Gesetzen im gan zen Land Pthor Geltung zu verschaffen?« »Ich werde tun, was in meiner Macht
Marianne Sydow steht.« Einige Magier sprangen auf. Drohende Stimmen wurden laut. Copasallior hob be fehlend die Arme, und Totenstille senkte sich über das Plateau. »Du trägst den Frieden tief in dir?« Für einen Augenblick zögerte der Arkoni de. »Ja«, sagte er dann. Die Magier sprangen auf. Copasalliors be schwichtigende Gesten wirkten nicht länger. Viele seltsame Gestalten drangen auf den Arkoniden ein, und als er versuchte, ange sichts dieser Situation nach seinem Messer zu greifen, stellte er fest, daß er seine einzi ge, kümmerliche Waffe verloren hatte: Sie lag noch immer neben dem löwenähnlichen Raubtier namens Durdon. Er hätte nie gedacht, daß diese friedferti gen Magier noch fähig waren, derart inten siv zu hassen. Unter anderen Umständen hätte er sogar triumphiert, denn er sah den Beweis dafür, daß wider Erwarten doch noch nicht alles verloren war. Für solche Gedanken blieben ihm jedoch nur wenige Sekunden. Dann begriff er, daß die Magier es ernst meinten. Sie würden ihn töten. Er war nicht so, wie er behauptet hat te, daß er es sei, und das nahmen sie ihm übel. Er war in ihrem Sinn negativ. Bisher hatten sie sich darauf beschränkt, Wesen von seiner Art zu isolieren und auf diese Weise umzubringen, ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Atlan aber hatte nicht nur den Fehler, ein fach anders zu sein – er hatte die Magier auch noch belogen, und sie wußten das. Er selbst hatte es ihnen unfreiwillig gesagt – mit seinen Gedanken, die sie Wort für Wort mitgehört hatten. Als die ersten unsichtbaren Fesseln sich um ihn legten und Hände ihn berührten, er scholl eine Stimme, die dem Arkoniden nur zu vertraut war. »Zurück!« befahl diese Stimme. »Ihr ver geht euch gegen das Gesetz!« Es lag eine Kraft in diesen Worten, die ei ne erstaunliche Wirkung auf die Magier aus
Die Träumer von Oth übte. Sie wichen tatsächlich zurück und bil deten eine Gasse. Atlan erblickte am Ende dieses Weges Koratzo, der auf ihn zukam und ausdruckslos auf ihn hinabsah. »So sieht man sich wieder!« sagte Atlan in einem Anflug von Galgenhumor. »Spotte nicht schon wieder!« mahnte der Stimmenmagier. »Ich könnte es mir anders überlegen!« Könntest du das wirklich? dachte Atlan. Reicht es nicht, daß du mich verraten hast? Sprich jetzt nicht, antwortete Koratzo lautlos. Copasallior wird dich an einen Ort bringen, an dem du alles findest, was du brauchst. Nutze diese Gelegenheit und höre auf jeden, der dir einen Rat geben kann! Kannst du dich nicht genauer ausdrücken? Nein. Es gibt noch andere Magier, die das nicht Gesprochene hören können. Ich konnte sie bis jetzt unter Kontrolle halten, aber wei ter reichen meine Reserven nicht. Denke nicht mehr daran, bis du am Ziel bist! Atlan war erwiesenermaßen sehr wider standsfähig gegen hypnotische Einflüsse al ler Art, aber die Magier waren etwas, was man weder auf Terra noch auf Arkon jemals gekannt hatte. Er vergaß das lautlose Ge spräch wirklich. Er sah, daß Copasallior die Hand ausstreckte und ihn berührte, und plötzlich befand er sich in einer völlig frem den Umgebung. Es mußte eine Höhle sein. Der Raum wur de auf allen Seiten von rauhem Fels be grenzt, und diese Wände waren nicht glatt und gleichmäßig. Er stand auf sandigem Bo den und sah immer noch Copasallior, der ihn ausdruckslos anstarrte. Dann verschwand der Weltenmagier lautlos von der Bildflä che. Der nächste Eindruck war etwas, was sei ne Nase ihm vermittelte: Es roch nach Zimt. Er drehte sich langsam um. Das erste, was er sah, war ein halbverhun gerter, sehr großer Wolf. Neben Fenrir stand Koy, und das war bereits merkwürdig, denn die beiden waren seit jeher nicht die besten Freunde. Das faltige Gesicht des Trommlers hatte noch ein paar Falten mehr bekommen,
41 seine Broins hingen ihm schlaff über die Stirn. Neben Koy stand der Forscher aus dem Volke der Bera, und er war der einzige, der sich nicht verändert hatte. Er hatte einen lachenden Froschmund, und seine Stimme klang noch so hell, wie Atlan sie in Erinne rung hatte. »Atlan! Bist du das wirklich, oder wollen die verdammten Magier uns einen Streich spielen?« »Ich bin es, Gloophy!« sagte Atlan und benutzte mit voller Absicht den alten Na men, den sie Kolphyr gegenüber gebraucht hatten, als der Bera gerade erst aus der Eis zitadelle befreit und des Pthora noch nicht mächtig gewesen war. Kolphyr stand ganz still da. »Hast du Lebo Axton gesehen?« fragte er nach einiger Zeit. »Er wollte dich suchen.« »Er hat mich gefunden«, bestätigte Atlan, und seine Blicke irrten ab. Im Hintergrund der Höhle stand eine … Maschine, ein Ding, mit dem er nichts anzufangen wußte. »Was ist das?« fragte er. »Ich wollte, ich wüßte es«, seufzte Kol phyr. »Ich habe es gebaut, um Chirmor Flog damit am Leben zu erhalten.« »Der Neffe! Wo ist er?« »Komm!« Er folgte dem Bera und blickte in die Maschine hinein. Atlan erkannte die ses Gesicht sofort. Da waren die Augen mit ihren jeweils drei Pupillen, von denen die ei ne rot und rund, die zweite gelb und drei eckig und die vierte schwarz und viereckig war, und da war der Körper, der aus wurzel ähnlichen Strängen bestand. Die Körperpro these fehlte. »Er ist tot«, stellte Atlan enttäuscht fest. »Nein«, widersprach Kolphyr. »Er befin det sich in diesem Zustand, seit er den Schwarzschock auslöste. Einmal, als Islar dieses Gerät in Betrieb setzte, schien es, als ob er aufwachen wollte …« »Islar!« stieß Atlan überrascht hervor. »Was hat sie getan?« »Keine Ahnung. Sie griff in dieses Gewirr hinein und veränderte etwas, aber es ging so schnell, daß ich mir nicht alles merken
42 konnte.« »Was geschah danach?« »Ich merkte es zuerst an Koy. Er wollte plötzlich nicht mehr jagen. Später fand ich heraus, daß niemand in der ganzen Barriere noch ein Interesse daran hatte, irgendein Tier zu töten. Die Magier wurden so fried lich, daß ich mich vor ihnen zu fürchten be gann.« Atlan nickte nachdenklich. »Ich bin sicher, daß diese Maschine der Schlüssel zu der ganzen Angelegenheit ist«, murmelte er. »Weißt du wenigstens, wie Is lar dieses Ding eingeschaltet hat?« »Sie hat diese goldenen Kugeln bewegt.« »Wie? Zeige es mir!« Der Bera sah Atlan kläglich an. »Wenn ich einen Fehler mache …« »Es kann nicht mehr schlimmer werden, Kolphyr. Ich war ein paar Tage lang in der Barriere unterwegs. Wenn die Magier so weitermachen, werden sie alle miteinander wahnsinnig werden und schließlich sterben, es sei denn, sie werden dazu veranlaßt, den Großen Knoten zu öffnen.« »Es dürfte nicht schwierig sein, sie dazu zu bringen.« »Nein. Das ist ja das Schlimme. Weißt du, warum sie euch hier eingesperrt haben?« »Wir passen einfach nicht in ihre Welt.« »So ist es. Da draußen in Pthor gibt es kein einziges Wesen, das ihren Ansprüchen entsprechen könnte. Sie sind immer noch mächtig, und wahrscheinlich haben sie sogar gegen die Trugen eine gute Chance. Sie sind inzwischen soweit, daß sie alles tun werden, um ihrem allesumfassenden Frieden zum Sieg zu verhelfen. Ihre Methoden werden noch härter werden, und sie werden ganz Pthor ins Elend stürzen.« Kolphyr betrachtete die seltsame Maschi ne. »Ich habe Angst vor dem Ding«, sagte er leise. »Wenn ich etwas falsch mache – wer weiß, was passiert, wenn man daran herum schaltet!« »Dieses Risiko müssen wir in Kauf neh men«, sagte Atlan hart. »Fang endlich an.«
Marianne Sydow Kolphyr ging vor der Maschine in die Hocke und streckte seine vierfingrigen Hän de nach den goldenen Kugeln aus.
7. »Wo ist meine Körperstütze?« fragte eine laute, drohende Stimme. »Welcher Narr hat es gewagt, mich in dieses Gewirr hier zu stecken? Holt mich sofort heraus!« Atlan war beim ersten Laut herumgefah ren, und Kolphyr ließ erschrocken die Ku geln los. Im Hintergrund der Höhle kam Fenrir taumelnd auf die Pfoten, legte die Oh ren an und knurrte. Koy, der Trommler, ver suchte, seine Broins aufzurichten, was ihm aber nicht gelang. »Beeilt euch!« rief die fremde Stimme. »Wie lange wollt ihr mich noch warten las sen?« »Es ist der Neffe«, stieß Atlan hervor und eilte um die Maschine herum. Als er Chirmor Flog sah, blieb er erstaunt stehen. Die Augen des Neffen funkelten, sein Gesicht hatte sich gerötet. Die wurzel ähnlichen Körperstränge bewegten sich un ruhig. Chirmor Flog versuchte, sich gegen die Maschine zu stemmen und aus eigener Kraft herauszukriechen, aber obwohl er kräftiger und gesünder wirkte, als Atlan ihn je zuvor gesehen hatte, gelang es ihm nicht. Dieser Körper war einfach nicht mehr fort bewegungsfähig. Chirmor Flog blickte Atlan interessiert an. »Dich kenne ich«, bemerkte er, und seine Stimme war jetzt so laut, daß man sie auch ohne Verstärker bis vor die Höhle hören mußte. »Hilf mir.« »Nein«, sagte Atlan ruhig. »Du weigerst dich?« fragte Chirmor Flog verwundert. »Aber warte, jetzt erinnere ich mich. Du hattest auch damals schon deine eigenen Ansichten, nicht wahr? Ich kann mich vage daran erinnern, daß du für gewis se Elemente Partei ergriffen hast. Du solltest vorsichtig sein. Wenn du es zu weit treibst, werden meine Scuddamoren sich deiner an nehmen.«
Die Träumer von Oth »Deine Scuddamoren sind weit von hier entfernt, Chirmor Flog, so weit, daß sie uns nichts mehr anhaben können. Darum bist du es, der sich in acht nehmen sollte.« Chirmor Flog sah aus, als könne er diese Antwort nur mit Mühe verdauen, aber plötz lich glitt ein bösartiges Lächeln über sein fremdartiges Gesicht. »Berichte mir, was sich zugetragen hat«, forderte er. Atlan erklärte ihm, wie er, der Neffe, nach Pthor gekommen war, um Heilung zu su chen, und daß die Magier ihn zu sich in die Barriere geholt hatten. Er sprach von der List des Dunklen Oheims und von dem Schwarzschock, von Islars Maschine und dem Positionswechsel, den der Dimensions fahrstuhl vorgenommen hatte. »Ich befinde mich also im Rghul-Re vier?« vergewisserte sich der Neffe ungläu big. »So ist es.« Chirmor Flog lachte, aber es war ein schreckliches Lachen, bei dem Fenrir die Nerven verlor und versuchte, die Höhle zu verlassen. Er prallte gegen ein unsichtbares Hindernis und verkroch sich daraufhin win selnd in einer Ecke. »Nun gut«, murmelte der Neffe schließ lich. »Die Rechnung des Dunklen Oheims ist nicht aufgegangen. Die Magier sind im mer noch auf ihre eigene Weise aktiv, und ich habe das Ganze überlebt. Duuhl Larx … Er ist unfähig und wird nicht viel erreichen. Es sollte nicht besonders schwierig sein, ihn zu Fall zu bringen. Der Dunkle Oheim wird natürlich sehr wütend sein, wenn er erfährt, daß ich die Arbeiten an diesem Dimensions fahrstuhl störe, aber das kann mir nur recht sein. Mein Leben lang war ich nichts als ein Werkzeug für ihn. Selbst wenn ich gewollt hätte – es war mir unmöglich, mich gegen ihn aufzulehnen. Jetzt bin ich frei.« »Bist du dir da ganz sicher?« »Sehr sicher«, antwortete Chirmor Flog ernst. »Ich habe dich vorhin gebeten, mich aus dieser Maschine herauszuholen. Ich bin sehr froh, daß du nicht gehorcht hast. Hier
43 drin bin ich vom Dunklen Oheim nicht län ger abhängig.« Atlan bekam feuchte Augen vor Aufre gung. Er wußte, daß er einem der größten Geheimnisse der Schwarzen Galaxis auf der Spur war, und er hoffte, daß Chirmor Flog weitersprechen und enthüllen würde, was ei gentlich mit den Neffen geschah, damit sie im Sinn des Oheims herrschten. Aber Chirmor Flog wechselte abrupt das Thema. »Wie haltbar ist diese Apparatur?« fragte er. Atlan sah sich hilfesuchend nach Kolphyr um. Der Bera gab ihm ein Zeichen. »Wir wissen es nicht«, sagte der Arkoni de. »Die Funktionen der Maschine sind größtenteils magischer Natur.« »Aber ihr seid keine Magier«, setzte Chirmor Flog nachdenklich hinzu. »Das war mir schon auf den ersten Blick klar. Könnt ihr einige von den Magiern an diesen Ort ru fen?« »Warum?« »Mußt du denn alles wissen?« brauste Chirmor Flog auf. »Ja«, sagte Atlan ungerührt. »Na schön«, murmelte der Neffe. »Ich möchte nicht zu sehr von dieser Maschine abhängig sein. Die Magier sollen etwas für mich erschaffen, das mir die Unabhängigkeit vom Dunklen Oheim garantiert und dennoch klein und leicht genug ist, daß man es zu sammen mit meinem Körper tragen kann.« Der Arkonide sah nachdenklich zu Koy hinüber. Er konnte noch nicht beurteilen, wie weit der Trommler sich verändert hatte. Vielleicht bestand der einzige Effekt, den Kolphyr mit seinem Versuch erzielt hatte, in der Aktivierung des Neffen. »Ich werde die Magier fragen, ob sie so etwas konstruieren können«, versprach er trotzdem, um Chirmor Flog bei Laune zu halten. »Willst du mit mir über deine Pläne sprechen?« »Warum nicht? Schließlich habe ich ja auch dir eine Rolle darin zugedacht. Was hältst du davon?«
44 »Wie soll ich das jetzt schon wissen? Sa ge mir, was du vorhast, dann kann ich dir ei ne bessere Antwort geben.« »Wir werden gemeinsam dafür sorgen, daß weder Duuhl Larx, noch der Dunkle Oheim ihr Ziel erreichen, soweit es Pthor betrifft!« verkündete Chirmor Flog. Atlan nickte nur. Er hatte so etwas erwar tet. »Wir sind Verbündete?« vergewisserte er sich. »Mit allem, was dazu gehört«, erwiderte Chirmor Flog feierlich. »Vielleicht werden wir eines Tages sogar Freunde sein.« »Wer weiß«, murmelte der Arkonide. »Hast du keine Angst vor dem Dunklen Oheim? Was du planst, ist Verrat. Wenn er dich erwischt, wird er dich auf schreckliche Weise bestrafen.« »Er kann mir nichts mehr anhaben«, be hauptete Chirmor Flog. »Ich war sein Neffe und sein Werkzeug – eine schlimmere Strafe gibt es nicht. Alles, was er sich sonst noch ausdenken mag, wird dagegen harmlos sein.« Atlan fragte sich, ob Chirmor Flog nicht ein wenig zu dick auftrug. Er traute diesem Wesen nicht. Zweifellos hatte Chirmor Flog zahlreiche Gründe, den Dunklen Oheim zu hassen und nach Rache zu dürsten, aber es war schwer vorstellbar, daß diese noch immer spürbare Bösartigkeit, die von Chirmor Flog ausging, diesen in irgendeiner Weise positiv handeln lassen würde. »Was geschieht mit Pthor, wenn wir es vor Duuhl Larx und dem Dunklen Oheim in Sicherheit gebracht haben?« fragte Atlan. »Das bleibt dir überlassen. Mach damit, was du willst. Ich werde mich nicht einmi schen, es sei denn, du bittest mich um Rat.« Atlan beschloß, die Unterhaltung an die sem Punkt vorerst abzubrechen. Er fürchte te, sein Mißtrauen dem Neffen gegenüber nicht gut genug verbergen zu können. Ob Chirmor Flog es ehrlich meinte oder nicht, das würde sich vermutlich sehr schnell zei gen. Zuerst aber galt es, sich um die Magier
Marianne Sydow zu kümmern. Kaum hatte Atlan dies gedacht, da erwies es sich, daß die Magier durchaus fähig und bereit waren, für sich selbst zu sorgen. Copasallior und Koratzo erschienen in der Höhle.
* Die Ankunft der Magier kam überra schend, und Atlan, der noch immer bei der Maschine stand, setzte sich unwillkürlich in Bewegung und ging auf die beiden zu. Sie lächelten nicht mehr verklärt, und dieser un natürliche Glanz war aus ihren Augen ver schwunden. Koratzo blickte dem Arkoniden freundlich entgegen. »Ihr seid wieder normal«, sagte Atlan er leichtert. »Oder irre ich mich?« »Nein«, antwortete Koratzo, blieb aber neben dem Weltenmagier stehen und ver schränkte die Arme vor der Brust. »Ihr habt an Islars Maschine herumgeschaltet?« »War das nicht von vornherein deine Ab sicht?« fragte Atlan. Etwas machte ihn miß trauisch. Der Stimmenmagier gab sich reser viert. »Wie meinst du das?« erkundigte sich Co pasallior und rückte ein wenig von Koratzo ab. Atlan öffnete den Mund, um dem Welten magier eine Erklärung zu geben – da spürte er, daß ihm die Stimme versagte. Er sah Ko ratzo an, und erschrak zutiefst. Die Augen des Magiers funkelten tückisch. Du wirst schweigen! dröhnte eine Stimme durch Atlans Gedanken. Oder du wirst nie wieder sprechen können. Da du mich so freundlich dazu aufforderst, gab Atlan stumm zurück, werde ich deine Bitte erfüllen. Dir wird dein Spott schon bald für immer vergehen! versicherte Koratzo wütend. Der Stimmenmagier wandte sich an Co pasallior. »Wir sollten uns beeilen«, sagte er. »Die anderen werden bald hier sein. Bringen wir diese Leute also in die FESTUNG!«
Die Träumer von Oth »Ich werde sie hinbringen«, entschied Co pasallior. »Deine Magie taugt nicht dazu.« »Ich dachte mir gleich, daß du dich nicht an die Abmachungen halten würdest«, zisch te Koratzo empört. »Da ihr gerade von Abmachungen sprecht«, fuhr eine keifende Stimme dazwi schen, und Glyndiszorn stand wie hingezau bert einen Meter hinter den beiden Magiern, »mich habt ihr wohl völlig vergessen? Die Gefangenen gehören mir, oder ist euch das nicht klar? Ich habe sie durch die Wand des Knotens gebracht!« »Nachdem wir aus der Tronx-Kette dich darauf aufmerksam gemacht hatten, daß sie eingelassen werden wollten«, bemerkte Ko ratzo höhnisch. »Wir?« fragte Copasallior voller Spott. »Opkul war es, der sie entdeckte.« »Aber ich übermittelte die Nachricht.« »Und was ist mit Breckonzorpf? Er spiel te den Lotsen für Atlan!« »Du hast doch am wenigstens dazu getan, daß sie jetzt in der Barriere sind!« schrie Glyndiszorn den Weltenmagier an. Copasallior wurde bleich vor Zorn. »Nur ich kann sie in die FESTUNG schaffen!« behauptete er. »Das ist eine Tat sache.« »Tatsache ist, daß sie mit deiner Hilfe in der FESTUNG am falschen Platz landen werden«, bemerkte Koratzo eisig. »Seid ihr Magier?« dröhnte Chirmor Flogs Stimme dazwischen. Die drei Männer zuckten zusammen und fuhren herum. Atlan, der sich vergeblich be mühte, ein Wort über seine Lippen zu brin gen und damit Koratzos Bann zu brechen, sah den Bera mit erhobener Faust hinter Glyndiszorn stehen und schloß ergeben die Augen. Kolphyr schlug zu – aber seine Faust prallte wenige Millimeter über dem Schädel des Knotenmagiers auf ein unsichtbares Hindernis. Glyndiszorn schien den Angriff des Beras gar nicht bemerkt zu haben. Er watschelte eilig um die Maschine herum. Als er Chirm or Flog erblickte, blieb er wie erstarrt ste
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hen. »Es ist der Neffe!« rief er. »Er lebt!« »Das zwingt uns natürlich, unsere Pläne zu ändern«, murmelte Koratzo. Er warf At lan einen düsteren Blick zu. Gib mir meine Stimme zurück! forderte der Arkonide. Du selbst hast einmal ein terranisches Sprichwort erwähnt, gab der Stimmenma gier spöttisch zurück. Es lautete: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Du solltest dich daran halten, denn es paßt genau auf deine Situation. Du verdammter Narr! dachte Atlan wü tend. Begreifst du denn nicht, was geschehen ist? Oh doch. Wir haben endlich den richtigen Weg gefunden, und das ausgerechnet durch eure Hilfe. Es wäre fast zum Lachen, wenn es da nicht gewisse Dinge gäbe … Ich woll te, daß Copasallior dich und die anderen zur FESTUNG schickt, damit ihr Duuhl Larx berichten könnt, daß wir Magier mit ihm zu sammenarbeiten werden. Diese Chance ist nun vertan. Chirmor Flog wird nicht erlau ben, daß du seinem ärgsten Konkurrenten zum Erfolg verhilfst. Vielleicht doch, dachte Atlan, und er frag te sich, ob Koratzo nun tatsächlich negativ geworden war oder nicht. Alles sprach da für, und doch … Was haben übrigens die beiden anderen mit uns vor? Wir haben uns viele Tage lang wie perfek te Narren aufgeführt, antwortete Koratzo düster. Ihr seid die einzigen Zeugen, die da von berichten könnten. Copasallior will euch darum in die Welt jenseits der Wirk lichkeit schleudern. Glyndiszorn dagegen ist mehr dafür, euch am Leben zu lassen und euch für verschiedene Experimente aufzuhe ben. Der Bera mit seinem Körper aus Anti materie ergäbe zum Beispiel eine großartige Waffe von ungeheurer Kraft. Atlan sah den Stimmenmagier forschend an. Die Augen dieses Mannes funkelten gna denlos. Resignierend senkte der Arkonide den Kopf. Ihm war zumute, als hätte er gera de einen Freund sterben sehen.
46 »Ich bin der Neffe Chirmor Flog!« hörte er die Stimme aus dem Innern der magi schen Maschine. »Und darum schuldet ihr mir Gehorsam, denn ich bin der Vertreter des Dunklen Oheims.« »Das mag im Marantroner-Revier der Fall sein«, bemerkte Copasallior, der bereits ne ben Glyndiszorn stand. Auch Koratzo begab sich jetzt hinter die Maschine. »Aber wir be finden uns nicht mehr in deinem Herr schaftsbereich.« »Hoffentlich weiß der Kerl, mit welchen Mächten er sich da anlegt!« murmelte Kol phyr. »Das ist in gewisser Weise richtig«, sagte Chirmor Flog. »Und es gilt für den Rest von Pthor, nicht aber für die Barriere von Oth. Ich wurde zu euch geschickt, um euch zur Vernunft zu bringen …« »Du warst ein Werkzeug«, sagte Copasal lior verächtlich. »Du konntest überhaupt nichts mehr tun, und dir fehlte längst die Kraft, uns zu beeinflussen.« »Ihr schuldet mir Gehorsam!« schrie der Neffe so zornig, daß nicht nur die Magier, sondern auch Atlan, Koy und Kolphyr sich unwillkürlich duckten. Die bösartige Aus strahlung Chirmor Flogs war sekundenlang so stark, daß der Arkonide körperliches Un behagen empfand. Koratzo faßte sich als erster. »Wie lauten deine Befehle?« fragte er höflich. »Warum nicht gleich so! Erstens: Die Ge fangenen gehören mir. Ich allein bin dafür zuständig, was mit ihnen geschieht. Ihr wer det sie in Ruhe lassen. Ihr werdet diesen Be fehl allen anderen Magiern übermitteln und dafür sorgen, daß sie sich daran halten!« Sekundenlang war es totenstill in der Höhle. »Wir werden dafür sorgen«, versprach Copasallior dann endlich. »Sehr gut«, lobte Chirmor Flog. »Mein zweiter Befehl lautet, daß ihr einen magi schen Lebensspender für mich erzeugt. Er darf nicht größer als mein Kopf sein und muß die Fähigkeit haben, mich zu ernähren
Marianne Sydow und alle entsprechenden Funktionen zu er füllen, die zur Zeit von dieser Maschine übernommen werden. Ihr werdet diesen Le bensspender innerhalb von zwei Tagen mit meinem Körper verbinden.« »Zwei Tage sind schnell vorüber«, gab Copasallior zu bedenken. »Gib uns eine län gere Frist.« »Zwei Tage!« beharrte der Neffe stur auf seiner Forderung. »Und keine Stunde län ger.« »Willst du uns drohen?« fragte Glyndis zorn beinahe amüsiert. »Womit, Chirmor Flog? Was wirst du tun, wenn wir die Frist überschreiten oder es sogar ganz ablehnen, deine Befehle anzunehmen?« »Ihr könnt es ausprobieren«, sagte Chirm or Flog eisig. »Ich brauche keine Rücksich ten auf euch zu nehmen. Ihr habt mehr Är ger verursacht, als der Oheim irgendeinem von seinen Untertanen nachzusehen bereit ist.« Die Magier schwiegen betroffen. Atlan dagegen fragte sich, über wieviel Macht Chirmor Flog tatsächlich verfügte. Spielte der Neffe zu hoch, oder gab es et was, wovon sie alle noch nichts wußten? Und noch eine Frage beschäftigte den Ar koniden: Was hatte Chirmor Flog wirklich vor? Spielte er jetzt Theater – oder war das, was er dem Arkoniden gesagt hatte, nichts als Schauspielerei gewesen? Eines stand fest: Das Bündnis mit dem Neffen war etwas, womit man ungeheuer vorsichtig umzugehen hatte. Er bemerkte, daß Koratzo zu ihm hinüber sah und verbannte seine Gedanken wütend, denn er ahnte, daß der Stimmenmagier jeden seiner Gedanken verfolgt hatte und somit gewarnt war. Koratzo lächelte plötzlich. Du wirst über diese Dinge schweigen! be fahl er dem Arkoniden. Von mir aus! dachte Atlan resignierend zurück. Aber dafür solltest du uns endlich frei geben. Öffne den Weg aus der Höhle und laß mich wieder sprechen können.
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Einverstanden, sagte Koratzo. Aber merke die in der Höhle stand. »Wir könnten versuchen, die Schaltung dir eines: Da draußen in der Barriere gibt es keinen einzigen Magier, von dem du Hilfe rückgängig zu machen«, schlug Kolphyr vor. zu erwarten hast, mich eingeschlossen. Soll test du diesmal versuchen, auch nur einen Der Bera war sehr unglücklich, denn er von uns in irgendeiner Weise zu beeinflus gab sich selbst die Schuld an allem, was ge schehen war. Hätte er Chirmor Flog nicht in sen, dann hast du endgültig ausgespielt. Und wage es nicht, meiner Wohnhalle zu nahe zu die Höhle geschleppt und das Lebenserhal tungssystem für ihn gebaut, so wäre alles kommen. Die Sperren, die ich dort errichte, werden speziell auf dich abgestimmt sein ganz anders gekommen – meinte er. Und und tödlich wirken. nun hatte er wieder versagt. Die Magier wa Atlan verzichtete auf eine Antwort und ren zwar aus ihren gefährlichen Träumen ge bemühte sich, nur noch an Koy und den rissen worden, aber dafür gebärdeten sie Wolf zu denken, die dringend Hilfe brauch sich bösartiger denn je zuvor. ten. »Du mußt es immer wieder probieren«, »Geht jetzt!« befahl Chirmor Flog. »Ich meinte Atlan. »Irgendwann wirst du den Fehler finden. Du hast dieses Ding schließ brauche euch nicht mehr.« Copasallior und Glyndiszorn verschwan lich gebaut. Die Veränderungen, die Islar den sofort. Koratzo dagegen schritt langsam daran vorgenommen hat, können nicht sehr zum Ausgang der Höhle. »Ihr seid jetzt umfangreich gewesen sein. Sieh dir alles noch einmal genau an. Versuche, dich an je frei«, sagte er mit seltsamer Betonung, bevor de Einzelheit zu erinnern.« er ins Freie trat. Er drehte sich um und deu »Ich bemühe mich ja schon«, klagte Kol tete auf Kolphyr. »Wirf den Kristall weg!« phyr, »aber diese Maschine ist unberechen Der Bera ging schweigend zu der Nische, in bar. Was soll man dagegen tun?« der er seine spärliche Habe aufbewahrte, Atlan schwieg. Sie hatten, sobald die Ma holte einen kleinen, bläulichen Kristall her vor und hielt ihn hoch. »Willst du ihn nicht gier aus der Höhle hinaus waren, abermals die Kugeln berührt, und Kolphyr war ganz zurückhaben?« fragte er. »Wirf ihn auf den Boden«, befahl Korat sicher, sie in die ursprüngliche Position zu zo. rückgebracht zu haben – aber die Magier be Kolphyr gehorchte resignierend, und der nahmen sich immer noch negativ. Stimmenmagier stieß einen seltsamen Laut Ab und zu rief Chirmor Flog den Arkoni aus. Der Kristall glühte auf und zerfiel. den zu sich. Sie sprachen ausführlich über »Damit ist auch diese Verbindung zer Duuhl Larx, die allgemeine Situation in stört«, bemerkte Koratzo und lächelte, aber Pthor und die Trugen, und Atlan stellte bis es war ein fremdes, böses Lächeln. weilen überrascht fest, daß der Neffe tat sächlich Ansätze zu einer positiveren Denk weise zeigte. Chirmor Flog war imstande, * ganz vernünftig und vorurteilslos zu reden In den nächsten Tagen ging Atlan auf die und zum Beispiel seinem Konkurrenten mil Jagd und sorgte dafür, daß Koy und Fenrir dernde Umstände zuzubilligen. wieder zu Kräften kamen. Es würde zwar ei »Er ist doch nur ein Werkzeug«, sagte er ne Weile dauern, bis sie sich auch rein äu einmal. »So, wie ich eines war. Der Oheim ßerlich wieder erholt hatten, aber zu Atlans benutzt uns alle nach seinem Willen, und großer Erleichterung hatten sie wenigstens wir können uns nicht dagegen wehren. Kei keinen psychischen Schaden davongetragen. ner der Neffen ist für das, was er im Namen Wann immer sie Zeit dazu fanden, spra des Oheims tut, verantwortlich. Es hat also chen Atlan und Kolphyr über die Maschine, keinen Sinn, Duuhl Larx zu hassen. Alle, die
48 das tun, sind Narren. Sie verschließen ihre Augen vor der Wirklichkeit, weil sie Angst haben. Vor langer Zeit mußte ich im Namen des Oheims ein Volk vernichten, und ich be nutzte eine besondere Waffe dazu. Einige Angehörige dieses Volkes entkamen dem Inferno, und sie konzentrierten all ihren Haß auf die Waffe, die doch ganz unschuldig war. Urteile selbst – ist das nicht unvernünf tig?« »Manchmal«, sagte Atlan, »ist eine Waffe so groß und mächtig, daß ihr Besitzer sich hinter ihr verbergen kann. Wer verbirgt sich hinter euch Neffen? Wer ist der Dunkle Oheim?« »Das wissen auch wir Neffen nicht«, ant wortete Chirmor Flog, und Atlan konnte beim besten Willen nicht herausfinden, ob es sich dabei um eine Lüge handelte oder nicht. Immer wieder versuchte er, Chirmor Flog zu Aussagen über den Dunklen Oheim zu bewegen, und stets blieb ihm der Neffe die Antwort schuldig. Vielleicht wußte er wirklich nichts. Vielleicht betrieb er aber auch nur ein geheimes Spiel. Atlans Extra sinn enthielt sich in dieser Angelegenheit der Stimme, ja, manchmal schien es dem Arkoniden, als empfinde dieser spezielle Sinn Furcht vor dem Neffen. Und die bösar tige Aura, die Chirmor Flog umgab und von der er behauptete, sie hätte keinen Einfluß auf seine Gedanken, da es sich um eine rein äußerliche Erscheinung handelte, wurde von Tag zu Tag ein wenig stärker. Die Magier erschufen unterdessen den »Lebensspender«, nach dem Chirmor Flog verlangte. Sie erschienen pünktlich vor Ab lauf der Frist und setzten einen formlosen Klumpen in das Gewirr von Chirmor Flogs Körpersträngen. Offenbar war der Neffe mit diesem seltsamen Ding zufrieden, denn völ lig überraschend ließ er sich dazu herab, den Magiern zu danken, was auf die Magier al lerdings gar keinen Eindruck machte. Sie nahmen auch Chirmor Flogs Befehl, den Ar koniden nach Ablauf einer Stunde aus dem noch immer bestehenden Knoten hinauszu befördern, ohne erkennbare Gemütsbewe-
Marianne Sydow gung auf. »Du wirst zu Duuhl Larx zurückkehren«, sagte Chirmor Flog anschließend zu Atlan. »Erstatte ihm Bericht. Sage ihm, daß die Magier negativ sind und im Sinn des Dunklen Oheims arbeiten. Erkläre ihm, daß er nach Pthor kommen und die Magier dar um bitten muß, den Schirm über der Barriere zu öffnen. Er muß ihnen dies persönlich be fehlen.« »Er wird mir nicht glauben.« »Es gibt ein Mittel, ihn zu überzeugen. Bestelle ihm Grüße aus dem Kreis des im merwährenden Lebens. Es ist ein Ausdruck, der nur von uns Neffen und dem Dunklen Oheim benutzt wird. Er wird dann wissen, daß ich hier bin, aber das wird ihn nicht da von abhalten, nach Oth zu kommen. Denke immer daran: Er braucht den Erfolg, denn ein Werkzeug, das sich als nutzlos erweist, wird aussortiert werden!« Als Atlan kurz darauf vor der inneren Wand des Großen Knotens stand, war er sich immer noch nicht darüber im klaren, wie weit er Chirmor Flog trauen durfte. Dennoch würde er die Botschaft überbrin gen. Duuhl Larx war über alle Maßen mißtrau isch. Auch dieses spezielle Kodewort würde ihn nicht dazu bringen, Hals über Kopf die MARSAPIEN zu verlassen. Es würde Zeit vergehen, und damit bekam Kolphyr eine Chance, Islars Maschine doch noch richtig zu schalten und die Magier zu dem werden zu lassen, was sie immer gewesen waren. Reagierten diese Leute erst wieder normal, so konnte Duuhl Larx in der Barriere er scheinen – die Magier würden wissen, wie man mit ihm umzugehen hatte. Dann konnte man sich auch mit der Rettung Pthors befas sen und all das wieder in Ordnung bringen, was in der letzten Zeit so gründlich schief gegangen war. Der Tunnel öffnete sich vor dem Arkoniden, und Atlan schritt hinein.
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49 ENDE
Weiter geht es in Atlan Band 442 von König von Atlantis mit:
Invasion aus dem Nichts
von Horst Hoffmann