Nr. 441
Die Träumer von Oth Gefangen im Bann des Friedens von Marianne Sydow
Nachdem der Dimensionsfahrstuhl Atlantis...
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Nr. 441
Die Träumer von Oth Gefangen im Bann des Friedens von Marianne Sydow
Nachdem der Dimensionsfahrstuhl Atlantis-Pthor im Randgebiet der Schwarzen Galaxis zum Stillstand gekommen war, hatte Atlan, wie erinnerlich, die Flucht nach vorn ergriffen. Zusammen mit Thalia, der Odinstochter, flog er ins Marantroner-Revier, das von Chirmor Flog, einem Neffen des Dunklen Oheims, beherrscht wurde. Dort, von Planet zu Planet eilend und die Geheimnisse der Schwarzen Galaxis ausspähend, bestanden Atlan und seine Gefährtin so manche tödliche Gefahr gemeinsam – bis der Planet Dykoor zu Thalias Grab wurde. Nun, nach einer wahrhaft kosmisch anmutenden Odyssee, ist der Arkonide zusammen mit seinen Freunden Razamon und Axton/Kennon wieder nach Pthor zurückgekehrt, das inzwischen seinen Standort gewechselt hat und von Truppen des Duuhl Larx, des Herrschers über das Rghul-Revier, besetzt ist. Nur die Große Barriere von Oth, in der die Magier herrschen, haben die neuen Invasoren, die die Streitkräfte Chirmor Flogs vertrieben, nicht überwinden können. Dabei ist dies gar nicht schwierig, wie Atlan feststellt, denn die Magier, die erst kürzlich dem Schwarzschock unterlagen, haben sich nun verwandelt in DIE TRÄUMER VON OTH …
Die Träumer von Oth
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide in der Barriere von Oth. Chirmor Flog - Der Neffe geht ein Bündnis ein. Kolphyr, Koy und Fenrir - Gefangene im Land der Magier. Koratzo und Copasallior - Repräsentanten des »allumfassenden Friedens«.
1. In gewisser Weise war es für Atlan ein denkwürdiger Augenblick. Er kehrte nach Pthor zurück. Der Gedanke an das, was ihn in diesem Land erwartete, weckte die widersprüchlichsten Gefühle in ihm. Die Bewohner von Pthor hatten ihn zu ihrem König ernannt, aber das war lange her. Atlan hatte längst jedes Gefühl für die Zeit, die seitdem vergangen war, verloren. Während der schier endlosen Hetzjagd kreuz und quer durch das Marantroner-Revier hatte er meistens anderes im Sinn gehabt, als die Tage zu zählen, die seit seinem Aufbruch vergangen waren. Selbst wenn er unter günstigeren Umständen nach Pthor zurückgekommen wäre, hätten ihn sicher nicht alle seine ehemaligen »Untertanen« mit Begeisterung begrüßt. Mußten sie nicht glauben, er hätte sie im Augenblick höchster Gefahr im Stich gelassen? Aber das wäre ein relativ unwichtiges Problem gewesen, wenn sein Unternehmen erfolgreich verlaufen wäre. Dann hätte er vor die Pthorer hintreten und ihnen erklären können, wie man das Land vor dem Zugriff des Dunklen Oheims und seiner schrecklichen Neffen bewahren konnte. Über solchen Nachrichten hätten sie alle Zweifel sehr schnell vergessen. Statt dessen kam er als Verlierer, schlimmer noch, als Gefangener. Zwar hatte man ihn nicht gebunden, aber die Fesseln, die Duuhl Larx dem Arkoniden angelegt hatte, wogen schwerer als die schlimmsten Ketten und Stahlbänder. Der Neffe hatte Razamon und Lebo Axton bei sich behalten. In der MARSAPIEN waren sie der Willkür dieses grausamen Herrschers wehrlos ausgeliefert. Beging Atlan einen Fehler, dann würden Axton und der Berserker eines qualvollen
Todes sterben. Atlan wußte, daß er nicht den Mut haben würde, auch nur das kleinste Risiko einzugehen. Und doch regte sich unvernünftigerweise ein klein wenig Freude in ihm. »Wir sind gelandet«, verkündete einer der Trugen, die Atlan zu bewachen hatten. Die Stimme dieses unförmigen Wesens klang quäkend und emotionslos. »Komm.« Der Truge ging voran, und Atlan folgte ihm gehorsam. Seine übrigen Begleiter setzten sich ebenfalls in Bewegung. Mit ihren massigen, eckigen Körpern riegelten sie den Gang hinter Atlan ab, als fürchteten sie, der Arkonide könne plötzlich versuchen, sich tief drinnen im Schiff zu verkriechen. »Halt!« kommandierte der Truge, der vor Atlan herging, und die Truppe blieb stehen, als wäre sie gegen eine Mauer geprallt. Die Schleuse öffnete sich, und der Arkonide stand da wie erstarrt. »Warum sind wir in der FESTUNG gelandet?« fragte er, als er sich halbwegs gefangen hatte. »Warum nicht gleich vor der Barriere von Oth?« Dem Trugen war keine Gemütsbewegung anzumerken. Sein köcherförmiger Kopf wies nichts auf, was einem normalen Gesicht entsprochen hätte und dazu geeignet gewesen wäre, Gefühle auszudrücken. »Komm!« sagte der Truge, ohne auf Atlans Frage einzugehen. Etwas Schlimmes stand ihm bevor. Atlan wußte es, bevor er erkennen konnte, worauf das klobige Wesen zusteuerte. Mit seinem riesigen Körper versperrte der Truge dem Arkoniden die Sicht. Er bemühte sich, auf alles gefaßt zu sein, aber als der Truge zur Seite wich und Atlan den Mann sah, den man ihm hatte zeigen wollen, traf ihn dieser Anblick wie ein Schlag. Er blieb stehen. Es war ein Orxeyaner, einer von diesen
4 typischen gedrungenen, breitschultrigen Männern aus der Stadt am Blutdschungel. Sie strotzten vor urwüchsiger Lebenskraft – aber dieser Mann hier glich einer zerbrochenen Puppe. Er lebte noch, und das war das Schlimmste. Er sah Atlan an und öffnete den Mund, aber die Trugen hatten schon längst dafür gesorgt, daß er nicht mehr schreien konnte. Atlan wußte, was der Orxeyaner ihm mitteilen wollte. Es war eine verzweifelte Bitte, daß man ihn endlich töten möge. Als Atlan sich ungelenk auf den Mann zu in Bewegung setzte, rissen die Trugen ihn zurück und zogen ihn einfach weiter. Er stemmte sich gegen sie, aber er kam nicht frei. Erschöpft gab er es schließlich auf. Sobald er aufgehört hatte, sich zu wehren, kam die Reaktion seines Körpers auf das, was er hatte sehen müssen. Auch das konnte die Trugen nicht beeindrucken. Sie schleppten ihn zu einem Zugor und stießen ihn hinein. Zwei Trugen setzten sich zu ihm in das Fahrzeug. Die anderen blieben im Halbkreis vor der Flugschale stehen. »Kanntest du den Mann?« fragte der eine Truge. Atlan starrte ihn an. »Nein«, sagte er. »Das ist gut«, behauptete der Truge ungerührt mit seiner abscheulichen, quäkenden Stimme. »Dann wirst du dir um so besser vorstellen können, wie es beim nächstenmal sein wird.« Atlan schwieg. Er hätte diesem Wesen sagen können, daß eine solche Warnung völlig überflüssig war. Er hatte auch vorher genau genug gewußt, was seinen Freunden bevorstand, wenn er ein falsches Spiel trieb. War Atlan bisher trotz allem noch imstande gewesen, den Neffen Duuhl Larx einigermaßen nüchtern zu beurteilen, so wuchs nun in ihm der Haß. »Du wirst zu den Magiern fliegen«, fuhr der Truge fort. »Und zwar mit diesem Fahrzeug. Wir folgen dir. Ich rate dir, jeden Gedanken an Flucht aufzugeben.« »Ich werde nicht fliehen!« sagte Atlan
Marianne Sydow langsam. »Aber Duuhl Larx wird sich eines Tages wünschen, daß ich es versucht hätte!« Hör auf damit, warnte der Extrasinn. Du machst es höchstens noch schlimmer! »Du wirst auf unser Zeichen warten und dann starten«, erklärte der Truge unbeeindruckt. Er erhob sich und traf Anstalten, aus dem Zugor zu klettern. »Augenblick!« sagte Atlan hastig. »Ihr habt doch schnelle Gleiter – warum soll ich mit diesem Zugor fliegen?« »Befehl vom Neffen«, gab der Truge zurück. Er hielt es offenbar für unnötig, weitere Erklärungen abzugeben, denn er stieg endgültig aus dem Fahrzeug und ging mit stampfenden Schritten davon.
* Während des Fluges hatte Atlan Zeit zum Nachdenken, und das war nicht sehr angenehm für ihn. Anfangs hatte er sich abzulenken versucht, indem er auf das Land hinuntersah und die Veränderungen registrierte, die es in der Zeit seiner Abwesenheit gegeben hatte. Es war erstaunlich, wie sehr er sich an Pthor gewöhnt hatte. Inmitten der Schwarzen Galaxis erschien ihm der Kontinent fast als ein Stückchen Heimat. Gerade darum schmerzte es ihn um so mehr, zu sehen, was aus Pthor geworden war. Da die Trugen nicht von ihm verlangt hatten, daß er den kürzesten Weg nahm, richtete er den Kurs so ein, daß er Donkmoon überflog. Die Stadt war voller Trümmer. Er sah keinen einzigen Techno in den Straßen. Dafür standen ein halbes Hundert dieser Wesen am Stadtrand auf einem Feld, und bewaffnete Trugen trieben sie zur Arbeit an. Das war nicht die Art von ablenkenden Aussichten, die Atlan sich in diesem Augenblick wünschte. Er zog den Zugor hoch und ging auf volle Beschleunigung. Er warf keinen einzigen Blick mehr in die Tiefe, bis vor ihm die Barriere auftauchte. Die Berge waren durch den magischen Schutzschirm hindurch zu erkennen, aber sie
Die Träumer von Oth wirkten verzerrt und schienen sich auf seltsame Weise zu bewegen. Glyndiszorn hatte diesmal wohl eine andere Art von Knoten hergestellt als damals, als die Magier sich vor den Herren der FESTUNG hatten schützen wollen. Damals jedenfalls war der Schirm undurchsichtig gewesen, eine düstere Wand, in der seltsame, dumpf glühende Muster sich bewegten. So jedenfalls hatte Thalia es beschrieben. Thalia – schon wieder eine Erinnerung, die schmerzte. »Warum unternimmst du nichts dagegen?« fragte Atlan ärgerlich, und damit meinte er den Extrasinn. »Warum läßt du keine deiner spöttischen Bemerkungen vom Stapel?« Du kannst diese Dinge nicht immer nur verdrängen, erklärte der Extrasinn nüchtern. Irgendwann mußt du all das verarbeiten. »Gut und schön«, sagte der Arkonide ungeduldig. »Aber das muß ja wohl nicht jetzt sein. Gib mir lieber einen vernünftigen Rat und sage mir, wie ich durch diesen Schirm komme!« Das weiß ich nicht. Der Schirm ist ein Werk der Magie, und Magie ist das Gegenteil von Logik. »Das muß ich Koratzo erzählen«, murmelte Atlan mißmutig. »Ich wette, daß er versucht, mich vom Gegenteil zu überzeugen.« »Worauf wartest du noch?« quäkte es neben ihm. Er fuhr herum und entdeckte die beiden anderen Zugors, die sich dicht an sein Fahrzeug herangeschoben hatten. Ein Truge deutete ungeduldig auf die geisterhafte Wand, hinter der die Berge verschwammen. »Befiehl ihnen, daß sie dich einlassen!« Atlan steuerte den Zugor nach unten. Er sah die Krater und Furchen im Boden, und unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Die Scuddamoren mußten wirklich alles versucht haben, um den Schirm aufzubrechen. Sie hatten sich die Zähne daran ausgebissen, und den Trugen erging es nicht anders. Der Arkonide war beinahe stolz auf die Magier
5 von Oth. Ihnen war es gelungen, den beiden Neffen eine Lehre zu erteilen – nicht, indem sie Gewalt mit Gegengewalt beantworteten, sondern auf die Art, die Wesen wie Chirmor Flog und Duuhl Larx an ihrem empfindlichsten Punkt treffen mußte. Sie hatten noch nicht einmal im eigentlichen Sinn passiven Widerstand geleistet, sondern einfach Nichtachtung gezeigt. Erst als Atlan gelandet war, kam ihm zu Bewußtsein, daß er sich möglicherweise die falsche Stelle ausgesucht hatte. Er befand sich ungefähr auf der Höhe der Tronx-Kette. Der Sitz des Knotenmagiers lag viel weiter westwärts. »Na und?« murmelte er vor sich hin. »Darauf kommt es auch nicht mehr an. Es wäre ein Wunder, wenn sie mich überhaupt bemerken sollte – und selbst wenn sie mich sehen, werden sie mich wohl kaum in die Barriere lassen, solange die Trugen hier herumlungern.« Er stieg aus dem Zugor und ging auf die Wand des Großen Knotens zu. Er wußte, daß er nichts tun konnte, um den Erfolg zu erzwingen. Es war sinnlos, nach den Magiern zu rufen. Aber da waren die Trugen, die sicher irgendein Schauspiel erwarteten. Es wäre gefährlich gewesen, sie zu enttäuschen. Gab er eine gute Vorstellung, und die Magier reagierten trotzdem nicht, dann würden sie wenigstens glauben, daß er sich bemüht hatte. Der Arkonide hob die Arme, vollführte eine theatralische Geste und rief: »Atlan, der König von Pthor, bittet um Einlaß!« Er kam sich lächerlich dabei vor. Die Trugen dagegen schienen beeindruckt zu sein. Jedenfalls sah er, daß sie ihre Köcherköpfe halb einzogen, und das war laut Razamon ein Zeichen dafür, daß sie Respekt oder Angst empfanden. Du solltest das Spiel ruhig ein bißchen übertreiben, empfahl der Extrasinn. Wenn du deine Rolle glaubhaft spielst, wird Duuhl Larx darauf verzichten, zwei wertvolle Informanten für dein angebliches Versagen bü-
6 ßen zu lassen. Das stimmt! dachte Atlan überrascht. Und dann fiel ihm noch etwas ein. Wenn es ihm gelang, die beiden Freunde vor dem Neffen zu retten und gleichzeitig zu verhindern, daß die Magier den Schirm öffneten, gewann er kostbare Zeit. Solange die Barriere von Oth unangreifbar war und die Magier sich weigerten, die Autorität eines Neffen oder des Dunklen Oheims anzuerkennen, würde man Pthor nicht in der gewohnten Weise verwenden. Atlan lächelte böse. Er trat dicht an den Schirm heran und schüttelte die Fäuste gegen das undurchdringbare Hindernis. »Laßt mich sofort herein!« schrie er, so laut er konnte. »Ich befehle es euch!« Selbst wenn die Magier ihn beobachteten und bereits erwogen, ihn in ihr Reich zu holen – mit dieser harschen Forderung mußte er sich jede Chance bei ihnen verdorben haben. Er war sich dessen so sicher, daß er sich erneut den Trugen zuwandte und dem Schirm den Rücken kehrte. »Sie wollen nicht gehorchen«, rief er seinem Publikum zu. »Ihr seht es ja selbst.« Er ging langsam auf die Trugen zu, da sah er, daß sie plötzlich die Köpfe noch tiefer einzogen. Einer deutete zitternd zum Schirm hinüber. »Er öffnet sich!« stammelte der Truge. »Er öffnet sich wirklich!« Wollen diese Kreaturen mich auf den Arm nehmen? fragte Atlan sich verblüfft. Da hörte er die Stimme. »Komm her zu mir«, bat sie sanft. »Erlaube mir, daß ich dich durch den Tunnel führe.« Er fuhr herum. Vor einem glühenden Tor, das sich in der Wand des Schirmes aufgetan hatte, stand ein schwarzhäutiger Hüne mit wallender, goldener Mähne. Ungläubig starrte Atlan den Magier an. Sein Erstaunen galt nicht der Tatsache, daß gerade Breckonzorpf kam, um ihn zu holen. Überrascht war Atlan wegen der
Marianne Sydow Sanftheit, die nicht nur in Breckonzorpfs Stimme lag, sondern sich auch in seinem Lächeln und in jeder einzelnen Bewegung ausdrückte. Er hatte Breckonzorpf bisher fünf oder sechsmal gesehen, und der Wettermagier hatte nie einen derart friedfertigen Eindruck gemacht. Spielten die Magier ihm einen Streich? Atlan kannte das Geheimnis der magischen Masken. Jeder hätte ihn mit Hilfe eines solchen Gebildes leicht täuschen und die Rolle des Wettermagiers übernehmen können. Gerade wegen der Perfektion jedoch, mit der diese Art von Masken funktionierte, verwarf Atlan diesen Gedanken. »Bist du wirklich Breckonzorpf?« fragte er trotzdem. »Ich bin es«, versicherte der Magier. »Fürchte dich nicht!« »Nichts liegt mir ferner«, murmelte Atlan verwirrt. Breckonzorpf nahm den Arkoniden bei der Hand und zog ihn mit sich in den glühenden Tunnel hinein.
* Für die Trugen ging alles ein wenig zu schnell. Der Magier erschien wie hingezaubert, wechselte ein paar Worte in Pthora mit Atlan und verschwand dann wieder, wobei er den Arkoniden mitnahm. Die beiden Männer hatten zu leise gesprochen, als daß die vorsichtshalber mitgebrachten Translatoren ihre Worte ins Garva-Guva hätten übertragen können. Hinter dem Magier und dem Arkoniden schloß sich der Tunnel im Bruchteil einer Sekunde. Der seltsame Schutzschirm war so undurchdringlich wie zuvor. Sie verließen diesen Ort und kehrten zur MARSAPIEN zurück, um dem Neffen Duuhl Larx Bericht zu erstatten. Sehr wohl war ihnen dabei nicht zumute. Nur zögernd traten sie vor die hell und heiß strahlende Energiehülle, in der der Neffe steckte. Atlan war außer Reichweite. Niemand kam gegen den Willen der Magier an ihn heran. Also konnte der Arkonide völlig
Die Träumer von Oth unbekümmert tun und lassen, was ihm gerade einfiel. In den Augen der Trugen war das ein unhaltbarer Zustand. Begriffe wie Freundschaft und Vertrauen waren ihnen unbekannt. Für sie galt nur das Wort des Neffen, und auf seinen Befehl hin wären sie bereit gewesen, ihre nächsten Angehörigen kaltblütig umzubringen. Darum konnten sie sich nicht vorstellen, daß Atlan im Reich der Magier etwas anderes tat, als seine eigenen Pläne zu verfolgen. Daß er Rücksicht auf seine gefangenen Freunde nehmen würde, kam den Trugen gar nicht erst in den Sinn. Sie fragten sich, ob sie den Arkoniden nicht in die Berge hätten begleiten sollen, ja, ob nicht der Neffe dies von ihnen erwartet hatte. Er hatte keinen diesbezüglichen Befehl gegeben. Aber es wäre nicht das erstemal gewesen, daß Duuhl Larx seine bevorzugten Krieger für etwas bestrafte, wofür diese überhaupt nichts konnten: für ihren Mangel an Initiative. Duuhl Larx jedoch zeigte sich erstaunlich sanftmütig und entließ die Trugen, ohne mehr als zwei Worte zu ihnen gesprochen zu haben. Der Neffe hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Im Gegensatz zu seinen Untertanen wußte Duuhl Larx sehr wohl, von welchen Idealen der Arkonide und seine beiden Gefährten sich leiten ließen. Duuhl Larx war ungeheuer stolz auf sich, weil er es so fabelhaft verstand, die Stärke des Gegners in Schwäche zu verwandeln. Der Glaube an diese in den Augen des Neffen völlig überflüssigen Ideale trieb Wesen wie Atlan, Razamon und Lebo Axton dazu, gegen die Macht der Schwarzen Galaxis anzukämpfen. Derselbe Glaube aber verwandelte sich in eine absolut zuverlässige Fessel, sobald man ihn in der richtigen Weise auszunutzen verstand. Der Neffe hatte das erkannt. Er wähnte sich auf dem sicheren Weg zum Erfolg. Schon bald, so sagte er sich, würde er dem Dunklen Oheim melden können, daß Pthor gereinigt und reisebereit sei.
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2. Kolphyr war mit seiner Geduld am Ende. Er konnte es nicht mehr mitansehen, wie Koy von Tag zu Tag immer schwächer wurde. Stundenlang saß der Trommler nur schweigend da, lächelte über das ganze faltige Gesicht und gab sich seinen Träumen von einer absoluten friedlichen Welt hin. Verspürte er Hunger, so zupfte er sich ein paar Blätter von den Kräutern, die am Fuß der Felsen wuchsen, oder er wanderte am Rand der Schlucht entlang und suchte dort nach würzigen Beeren, die grundsätzlich an Zweigen wuchsen, die man nur unter akuter Lebensgefahr erreichen konnte. »Zieh die Büsche zu dir heran und brich die Zweige ab!« hatte Kolphyr verzweifelt gebeten, nachdem er einmal den Trommler gerade noch vor dem Absturz hatte bewahren können. »Die Pflanzen spenden uns Nahrung«, hatte Koy mit strenger Miene erwidert. »Du mußt ein Narr sein, daß du wegen einer Handvoll Beeren einen ganzen Zweig abreißen willst. Bedenke doch nur, was für eine schlimme Verwundung das für eine Pflanze wäre!« »Wenn du in die Schlucht fällst, ergeht es dir noch viel schlimmer«, bemerkte Kolphyr nüchtern. Der Bera brachte für die ganze Angelegenheit kein Verständnis auf, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als Koys Einstellung zu akzeptieren. Der Trommler selbst hielt sich konsequent an die neuen Regeln. Stets holte er zuerst die Samen aus den Früchten, ehe er deren Fleisch verzehrte. Die Samen bettete er mit so viel Liebe und Sorgfalt in den Boden, daß sie vermutlich gar nicht anders konnten, als zu großen Pflanzen heranzuwachsen. Aber so viele Früchte Koy anfangs auch verspeist hatte, er konnte seinen Hunger damit niemals ganz stillen. Zwar stopfte er sich fast bis zum Platzen voll, aber schon wenig
8 später war er wieder auf der Suche nach eßbaren Dingen. Kolphyr selbst brauchte keine materielle Nahrung, dennoch erkannte er die Symptome. Er sah sie bei Koy und – in weit schlimmerer Form – bei Fenrir, der den beiden Männern eines Tages, mager und struppig geworden, in Parlzassels Begleitung einen Besuch abstattete. Beide, der Trommler wie der Wolf, hungerten nach Fleisch. Ihre Körper brauchten tierisches Eiweiß. Jetzt aber geriet Koy in eine neue, kritischere Phase. Nachdem er tagelang die Bedürfnisse seines Körpers unterdrückt hatte, indem er Unmengen von pflanzlicher Nahrung in sich hineinstopfte, mochte er nun überhaupt nicht mehr essen. Kolphyr gelangte zu dem Schluß, daß er etwas gegen Koys Zustand unternehmen mußte, und zwar schnell. »Ich bin bald wieder zurück«, sagte er zu dem Trommler. Koy reagierte nicht. Seufzend verließ Kolphyr den Pthorer und ging davon. Eine halbe Stunde lang folgte er einem schmalen Pfad, der parallel zur Schlucht am Hang entlangführte. Um sein Ziel zu erreichen, hätte er keinen so weiten Weg auf sich zu nehmen brauchen, denn die Tiere in der Barriere waren – wie auch die Magier – alle miteinander erschreckend vertrauensselig geworden. Aber Kolphyr mußte darauf achten, daß niemand ihn bei seiner Tat beobachtete. Unterwegs begegnete ihm allerlei Getier, das ungeniert bei hellem Tageslicht umherlief. Kolphyr hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um das zu bekommen, was er haben wollte. Einmal sah er einen der seltenen, hirschähnlichen Ortnys, die es nur am Crallion und in der Tronx-Kette gab. Wenige Meter weiter kauerte eine rotbraune Raubkatze im Gras. Für einen Augenblick dachte Kolphyr, endlich ein Wesen gefunden zu haben, daß gleich ihm bei Verstand geblieben war. Aber dann erhob sich der rotbraune Räuber und schlich davon. Die Katze war so geschwächt, daß sie sich kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte. Kolphyr folgte
Marianne Sydow ihr ein kurzes Stück. Sie fiel ins Gras und blieb apathisch liegen. »Sei nicht so dumm!« sagte Kolphyr zu dem halbverhungerten Tier. »Du wirst sterben, wenn du so weitermachst. Es ist dein Recht, andere Tiere zu töten und dich von ihrem Fleisch zu ernähren.« Natürlich reagierte die Katze nicht. Während Kolphyr seine Wanderung fortsetzte, dachte er über die Zukunft der Großen Barriere nach. Ganz abgesehen von den Gefahren, die von außen her drohten, konnte dieser unnatürliche Zustand den Magiern wie den tierischen Bewohnern des Gebirges nur Elend, Tod und Wahnsinn bringen. Zuerst würden die Raubtiere sterben. Damit brach das fein abgestimmte Gleichgewicht der Natur in diesem Gebiet zusammen. Die Zahl der pflanzenfressenden Tiere würde schnell zunehmen. Je größer ihre Zahl wurde, desto mehr Raum und Nahrung mußten sie für sich beanspruchen. Allmählich würden sie die Magier verdrängen, und wenn diese auch dann noch den hungrigen Tieren gegenüber ihre sanfte Haltung bewahrten und sich weigerten, sich nach den unerbittlichen Gesetzen der Natur zu richten, mußten sie unweigerlich verhungern. An allem war nur die Maschine schuld, die in der Höhle stand – sie und Chirmor Flog, der den Schwarzschock in die Berge getragen hatte. Der Schwarzschock hatte die Magier – von fünf Ausnahmen abgesehen – bösartig gemacht. Um die Negativen zu normalisieren, hatte Islar ein Gerät umgebaut, mit dessen Hilfe Kolphyr den Neffen am Leben erhielt. Aber der jungen Magierin war ein Fehler unterlaufen. Das Gerät hatte nicht nur die Folgen des Schwarzschocks beseitigt, sondern es hatte alle negativen Kräfte aufgesaugt, die es in der Barriere von Oth gab. Offenbar, so dachte Kolphyr, brauchten die Wesen in diesem Universum einen kleinen Schuß dieser negativen Energie, um überhaupt lebensfähig zu sein. Er erreichte einen Bach, blieb stehen und
Die Träumer von Oth sah sich aufmerksam um. Niemand war in der Nähe. Er wandte sich bachabwärts und entdeckte eine Gruppe kaninchenähnlicher Tiere. Koy hatte sie einmal als besonders zart und wohlschmeckend bezeichnet. Kolphyr hob einen Stein auf. Es wäre nicht nötig gewesen, eine Waffe, gleich welcher Art, zu benutzen. Er wußte, daß die Tiere ihn so nahe an sich heranlassen würden, daß er sich in aller Ruhe eines aussuchen konnte. Aber er war sich nicht sicher, ob er es dann auch zu töten vermochte. Die Vertrautheit dieser Wesen verstärkte in Kolphyr die ohnehin ausgeprägte Abscheu gegen jede Art von Gewaltanwendung. Da es jedoch um das Leben des Trommlers ging, mußte Kolphyr seine Gefühle ignorieren. Er warf den Stein und sah, wie eines der Tiere zusammenbrach. Die anderen blieben sitzen. »Bewegt euch!« bat der Dimensionsforscher mit seiner seltsam hohen Stimme. »Macht schon, lauft weg!« Sie taten ihm den Gefallen nicht. Er stapfte auf die Tiere zu und wedelte heftig mit den Armen, um sie zu vertreiben. Sie wichen ein wenig zur Seite, kehrten jedoch sofort um, als er sich über ihren schwerverletzten Artgenossen beugte. »Tut mir leid«, sagte Kolphyr. Ein seltsames Gefühl stieg in ihm auf. Er schämte sich. Die Tiere sahen ihn mit großen Augen an, und selbst das, das am Boden lag, blickte vertrauensvoll zu ihm auf. Mühsam riß der Bera sich zusammen. Es hatte keinen Sinn, die Sache hinauszuziehen, denn wenn er noch länger wartete, würden die Tiere mit ihrem Verhalten ein so starkes Schuldgefühl in ihm auslösen, daß er am Ende gar versuchte, sein Wild von den Verletzungen zu heilen, die er ihm selbst zugefügt hatte. Er streckte die Hände nach dem verletzten Tier aus und sorgte dafür, daß die anderen kleinen Wesen nicht sahen, was er tat. Mit der leblosen Beute eilte er zu Koy und stellte fest, daß der Trommler vor Schwäche eingeschlafen war. Aufatmend
9 ging er in die Höhle, um sich nach einem Topf umzusehen, in dem er das Fleisch kochen könnte. Im Lauf seines Lebens in Pthor hatte Kolphyr gelernt, daß eine kräftige Brühe oft auch eine hervorragende Medizin darstellte. Leider war der Bera jedoch alles andere als ein gelernter Koch. Er fand zwar einen Behälter, der sich für seine Zwecke eignete, und er hatte oft genug dem Trommler beim Ausweiden der Beute zugesehen, um auch diese Hürde zu nehmen. Dann aber stand er ratlos da und fragte sich, welche Zutaten außer Fleisch und Knochen noch in den Topf gehörten. Ausgerechnet in diesem Augenblick wachte Koy auf. Er sah den Bera mit dem enthäuteten Tier und richtete sich steil auf. »Du hast getötet!« rief er anklagend. »Nein«, log Kolphyr grimmig. »Das hier ist ein Unfallopfer. Es wurde von einem herabfallenden Stein erwischt. Da es tot ist, kannst du es aufessen.« Koy sah den Bera mißtrauisch an. »Ist das auch wirklich wahr?« erkundigte er sich. »Habe ich es nötig, dich anzulügen?« schrie Kolphyr wütend. »Schon gut«, wehrte der Trommler erschrocken ab. »Ich glaube dir ja.« »Sage mir, wie man das Zeug hier zubereitet«, schlug der Bera etwas ruhiger vor. Koy, der die Augen nicht von Kolphyrs Beute wenden konnte, erklärte dem Forscher, was zu tun war. Wenig später aß der Trommler die über dem Feuer gebratenen Innereien, und man konnte sehen, wie seine Lebensgeister zurückkehrten. Er verzehrte alles, was Kolphyr ihm vorsetzte, mit großem Genuß. Der Bera atmete heimlich auf. Wenn dies der richtige Weg war, den Trommler bei Kräften zu halten, würde er wohl in Zukunft öfter ein »verunglücktes« Tier beschaffen müssen. Später ging er in die Höhle und sah nach Chirmor Flog. Als Islar die halbmagische Maschine eingeschaltet hatte, war Chirmor Flog zu sich gekommen und hatte sich sogar bewegt. Aber als Kolphyr ein paar Stunden
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später wieder in die Höhle kam, war alles beim alten – Chirmor Flog lag still und starr da, als sei er bereits tot. Seitdem war der Zustand des Neffen unverändert geblieben. Auch an diesem Abend gab es kein Anzeichen dafür, daß Chirmor Flog jemals aus seinem todesähnlichen Schlaf erwachen würde. Kolphyr blieb eine Weile neben der Maschine stehen und dachte darüber nach, was Islar eigentlich damit angestellt hatte. Der größte Teil dieser skurrilen Apparatur war Kolphyrs Werk – Islar hatte das Gerät nur vervollständigt, wie sie selbst sagte. Trotzdem kam es dem Bera so vor, als wären sämtliche Teile durcheinandergeraten. Er starrte auf ein paar goldene Kugeln. Sie hatte Islar zuletzt berührt. Er fragte sich, ob es nicht möglich wäre, die Maschine so zu beeinflussen, daß sie einen kleinen Teil der angesaugten negativen Energie wieder abgab. Wenn er an diesen Kugeln etwas veränderte … Aber dann wagte er es doch nicht.
* Kolphyrs erste Beute ergab drei Mahlzeiten. Danach fing alles wieder von vorne an. Als Kolphyr sich auf den Weg machte, um frisches Fleisch zu beschaffen, war Pthor bereits zum Stillstand gekommen. Schon nach kurzer Zeit entdeckte er ein passendes Wild. Als er aber den Stein heben wollte, der ihm als Waffe diente, vernahm er hinter sich ein warnendes Räuspern. Erschrocken sah er sich um. Kaum fünf Meter von ihm entfernt standen Copasallior und Koratzo. Kolphyr ließ den Stein unauffällig fallen. »Was tust du hier?« fragte Copasallior. »Ich gehe spazieren«, behauptete Kolphyr, richtete sich zu seiner vollen Größe von knapp zweieinhalb Metern auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Enttäuscht stellte er fest, daß sich die Magier, im Gegensatz zu den meisten anderen Pthorern, nicht so leicht beeindrucken ließen. »Mit einem Stein in der Hand?« fragte Koratzo sanft.
Kolphyr hob demonstrativ die Hände. »Ich habe keinen Stein!« »Nicht mehr«, stellte Copasallior lächelnd fest, und Kolphyr sah seine »Waffe« in einer der sechs Hände des Weltenmagiers erscheinen. »Du wolltest dieses Tier töten«, stellte Koratzo fest. »Nein!« »Wie du schon ein anderes getötet hast«, fuhr der Stimmenmagier fort, ohne auf Kolphyrs Zwischenruf einzugehen. »Das war vor vier Tagen. Wir haben dich beobachtet, denn wir befürchteten so etwas seit langem. Wir hatten allerdings gehofft, daß die hier herrschende positive Kraft auch dich allmählich verändern würde.« Kolphyr sah ein, daß es keinen Sinn hatte, noch länger zu leugnen. »Koy wird sterben, wenn ich ihm kein Fleisch beschaffe«, sagte er bitter. »Wie läßt sich Mord eigentlich mit euren Ansichten vereinbaren?« »Mord?« fragte Copasallior verständnislos. »Wie willst du es sonst bezeichnen?« ereiferte sich der Dimensionsforscher. »Koy kann nicht von pflanzlicher Nahrung leben. Sein Körper ist nicht darauf eingerichtet. Ihr verbietet mir, für ihn zu jagen, aber er selbst ist dazu auch nicht mehr in der Lage. Also wird er euretwegen verhungern. So etwas ist Mord!« »Es ist Auslese«, korrigierte Copasallior. »Wenn Koy nicht ohne tierische Nahrung auskommen kann, dann ist er auch nicht fähig, sein Leben den positiven Kräften zu widmen. Alles, was noch einen Rest von negativem Denken in sich trägt, wird untergehen. So will es das Gesetz.« »Was geht mich euer Gesetz an!« schrie Kolphyr wütend. »Koy ist der einzige Freund, den ich noch in Pthor habe, seitdem Atlan das Land verlassen hat. Was wird überhaupt aus Atlan? Wolltet ihr ihm nicht helfen? Was tut ihr noch für ihn? Ihr habt ihn vergessen, nicht wahr? Eure angeblich positiven Beschäftigungen hindern euch,
Die Träumer von Oth dem König von Pthor zu helfen, obwohl ihr ihm Treue geschworen habt!« »Atlan ist auf dem Weg nach Pthor«, sagte Copasallior ruhig. Kolphyr sah den Magier überrascht an. »Seit wann wißt ihr das?« fragte er. »Wo ist er? Wann wird er eintreffen?« »Bald«, sagte Copasallior. »Gib mir deine Hand!« Der Bera wich, von plötzlichem Mißtrauen erfüllt, zurück. »Rühr mich nicht an«, warnte er. »Ich kenne dich und deine Tricks!« Copasallior gab dem Stimmenmagier einen Wink, und Koratzo nickte. Im nächsten Augenblick fühlte Kolphyr sich so matt und müde, daß er sich auf dem Boden ausstrecken mußte. Er bemerkte, daß der Weltenmagier sich über ihn beugte, aber er hatte nicht mehr die Kraft, sich zur Wehr zu setzen. Sie materialisierten in der Höhle, direkt neben der Maschine, in der Chirmor Flog lag. »Du wirst diesen Raum nicht verlassen«, sagte Koratzo. Seine Stimme klang ein wenig fremd, und Kolphyr ahnte, daß es ihm unmöglich sein würde, sich diesem Befehl zu widersetzen. Er zwang sich, die Augen offenzuhalten und erblickte Copasallior, der den Trommler hereinführte. »Ihr wollt doch positiv handeln«, wandte der Bera sich an den Stimmenmagier. Obwohl Koratzo ihn längst aus seinem Bann entlassen hatte, fühlte er sich unglaublich schwach. »Wie könnt ihr uns dann hier einsperren? Ihr verhaltet euch feindlich uns gegenüber. Laßt wenigstens den Trommler frei. Hier drin wird er verhungern.« Koratzo sah den Bera an und lächelte flüchtig. »Wir werden für ihn sorgen«, versprach er. »Das reicht nicht«, behauptete Kolphyr. »Es ist unser Wunsch, nein, mehr als das, unser Leben hängt davon ab. Laßt uns frei!« »Du brauchst keine Nahrung, Kolphyr«,
11 bemerkte der Stimmenmagier ruhig. »Und du warst unendlich lange in der Eiszitadelle gefangen. Es wird dir nichts ausmachen, ein Weilchen in dieser Höhle auszuharren.« »Ein Weilchen?« wiederholte Kolphyr. »Wie lange ist das? Welche Pläne habt ihr?« Koratzo wandte sich schweigend ab. »Wenn ihr schon diese Fragen nicht beantworten wollt«, rief der Bera ihm und dem Weltenmagier nach, »dann verratet mir wenigstens, warum ihr Koy ebenfalls hier einsperrt!« »Du brachtest ihm Fleisch«, sagte Copasallior. »Und er hat es gegessen. Das zeigt, wie weit er von der Wahrheit entfernt ist. Wir können Leute wie ihn nicht gebrauchen.« »Dann bringt uns nach draußen!« forderte Kolphyr spontan. »Wir brauchen den Schutz des Großen Knotens nicht.« »Ihr habt diesen Schutz nötiger, als ihr ahnt«, erwiderte Copasallior und folgte dem Stimmenmagier, der die Höhle bereits verlassen hatte. Die Magier hielten Wort, soweit es die Verpflegung des Trommlers betraf. Erstaunlicherweise bekam Koy sogar ab und zu einen Bissen Fleisch. Kolphyr zerbrach sich lange den Kopf darüber, wer wohl innerhalb der Barriere noch fähig sein mochte, auf die Jagd zu gehen. Bis dann Copasallior mit dem Fenriswolf erschien. »Er wird bei euch bleiben«, sagte der Weltenmagier. »Er unterwirft sich nicht den Gesetzen des Friedens.« »Er ist nur hungrig«, murmelte Kolphyr bedrückt. Der Wolf war nur noch ein Schatten seiner selbst. »Wenn ihr ihm kein Fleisch schicken wollt, solltet ihr ihn besser gleich töten. Es wäre grausam, ihn verhungern zu lassen!« »Es tut uns leid für ihn«, behauptete Copasallior, und wahrscheinlich meinte er es sogar ehrlich. »Fenrir kann nichts dafür, daß er mit diesen Anlagen bedacht wurde. Aber er gehört zur negativen Vergangenheit Pthors, und mit der ist es unwiderruflich vorbei. Wir können nichts für ihn tun. Er ist
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außer dir der letzte in der Barriere, der zu töten vermag.« Kolphyr lockte den Wolf zu sich. Er drückte den Grauen an sich und streichelte ihn. Erschrocken spürte er, daß die Rippen unter dem dichten Fell deutlich zu spüren waren. »Wollt ihr alle Wesen verhungern lassen, die aus irgendwelchen Gründen eure Gesetze nicht einhalten können?« fragte der Bera bitter. Er erhielt keine Antwort. Copasallior war schon wieder verschwunden.
3. Nebeneinander gingen sie durch den Tunnel. Die Wände glühten und leuchteten in unwirklichen Farben, für die es keine Namen gab. Der Boden unter Atlans Füßen war fest und federnd zugleich, aber wenn er nach unten sah, erblickte er nur einen leuchtenden Nebelstreifen. Seine Schritte erzeugten Töne und Klänge, die ihn an elektronische Musik erinnerten. »Wie weit ist es noch?« fragte er nach einer Zeitspanne, die eine mittlere Ewigkeit zu umfassen schien. »Ein paar Schritte, denke ich«, murmelte Breckonzorpf. »Weißt du es nicht genau?« fragte Atlan überrascht. »Nein«, antwortete Breckonzorpf knapp. »Warum nicht?« »Weil die Tunnel Glyndiszorns Werk sind. Er allein weiß, wie lang sie jeweils sind.« »Sie sind also immer verschieden?« »So kommt es einem wenigstens vor. Aber ich glaube, wir sind jetzt am Ziel.« Breckonzorpf behielt recht. Augenblicke später lösten die glühenden Wände sich gleichsam in Nichts auf. Atlan sah verblüfft, daß er bis zu den Knien in taubedecktem Gras stand. Er war nicht etwa aus dem Tunnel herausgestürzt und in diese Wiese gefallen, sondern mitten zwischen den Halmen
materialisiert. Über ihm leuchteten die schneebedeckten Gipfel der Tronx-Kette. Der Himmel sah aus wie eine Kuppel aus schimmerndem Perlmutt. Ab und zu erschienen winzige Lichtpunkte in der Wand des Großen Knotens, zogen in kurzen, geraden Bahnen dem Wölbmantel entgegen und zersprangen in Tausende von glühenden Punkten. Er drehte sich um und sah Breckonzorpf hinter sich stehen. Ein verklärtes Lächeln ließ das Gesicht des Magiers seltsam und fremdartig aussehen. »Du hast dich verändert«, sagte Atlan nachdenklich. Breckonzorpf nickte. »Wir alle haben uns verändert«, bestätigte er ruhig. »Es herrscht Frieden in der Großen Barriere von Oth, und es wird immer so bleiben.« »Frieden! Draußen in Pthor ist die Hölle los! Ich hätte nie gedacht, daß ihr mich hereinlassen würdet, solange die Trugen in meiner Nähe waren.« »Sie können uns nichts anhaben.« »Sie hätten den Tunnel stürmen können.« Breckonzorpf lachte, aber dieses Lachen klang viel zu sanft für einen Magier wie ihn. »Sie haben es schon zu oft versucht«, sagte er. »Allmählich bekommen sie Angst vor Glyndiszorns Knoten.« Atlan atmete insgeheim auf. Das klang schon eher nach dem, was er von den Magiern gewöhnt war. Leider war Breckonzorpf mit seiner Antwort noch nicht ganz fertig. »Dabei könnten sie es so leicht haben«, fuhr er nämlich fort. »Sie müßten nur ein bißchen höflicher sein.« »Was soll das heißen?« fuhr Atlan auf. »Würdet ihr sie etwa in die Barriere lassen, wenn sie euch nur herzlich darum bitten wollten?« »So ist es«, bestätigte Breckonzorpf knapp. Dem Arkoniden schwindelte es. Die Magier hatten den Tunnel also nicht geöffnet, weil sie ihm die Treue hielten.
Die Träumer von Oth Sie hätten es für jeden getan! Oder irrte er sich? Er hatte bis jetzt nur das Wort Breckonzorpfs. Er wußte, daß die Magier häufig seltsame Experimente unternahmen, und daß diese Versuche mitunter gefährlich waren. Vielleicht hatte es diesmal den Wettermagier getroffen. Aber warum kam dann nicht Copasallior, um den Arkoniden über diese Umstände aufzuklären? Für den Weltenmagier waren Entfernungen wie die zwischen Crallion und TronxKette noch weniger als ein Katzensprung. Er lauschte auf die Stimme des Extrasinns, aber dieser schwieg sich aus. Atlan schloß daraus, daß die Anzahl der logisch verwertbaren Hinweise noch zu gering war, als daß man zu diesem Zeitpunkt bereits Schlußfolgerungen hätte ziehen dürfen. »Ich werde mit Copasallior sprechen«, sagte Atlan. »Aber da ich nun einmal in der TronxKette bin, würde ich mich gerne auch mit Koratzo unterhalten.« »Das ist eine gute Idee«, stimmte Breckonzorpf zu. »Koratzo und Copasallior werden dir alles viel besser erklären können als ich.« Atlan starrte den Magier entsetzt an. Diese Antwort konnte nur eines bedeuten: Alle Magier von Oth hatten sich in derselben Weise verändert, wie er es jetzt bei Breckonzorpf beobachten konnte. Aber das war absurd! Während ihres gemeinsamen Fluges mit der GOL'DHOR hatte Atlan gerade Copasallior und den Stimmenmagier recht gut kennengelernt. Er wußte, daß Koratzo den Frieden über alles liebte – aber der Stimmenmagier war deswegen noch lange kein Narr, der die Gefahr mißachtete, die diesem Land gerade jetzt drohte. Und Copasallior, dieser alte Skeptiker … Atlan versuchte, sich den Sechsarmigen vorzustellen, wie er mit einem verklärten Lächeln Breckonzorpfs Behauptungen bestätigte. Unwillkürlich mußte er lächeln. »Wir werden sehen«, sagte er. Er bemühte sich, ruhig und sanft zu sprechen, denn er
13 wollte den Wettermagier nicht unnötig aufregen. »Hast du deinen Donnerwagen bei dir? Ich habe nicht sehr viel Zeit, und es wäre mir lieb, wenn du mich zu Koratzo bringen könntest.« »Du hast Zeit im Überfluß«, behauptete Breckonzorpf mit einem milden Lächeln. »Trotzdem werde ich dich hinbringen. Komm mit!« Er wandte sich ab und schritt davon. Atlan folgte ihm, aber er war sehr beunruhigt. Der Donnerwagen stand auf einem felsigen Flecken am Rand der Wiese, fast völlig hinter einem blühenden Dornbusch verborgen. Atlan sah mit einer gewissen Erleichterung, daß Breckonzorpf diesmal seine vier schwarzen Großkatzen zu Hause gelassen hatte. Diese Tiere waren zwar zahm, aber der Arkonide empfand ein leichtes Unbehagen bei dem Gedanken, in ihrer Gesellschaft in einem Fahrzeug, das einer drei Meter breiten Nußschale ähnelte, über die Abgründe der Barriere schweben zu müssen. »Warte einen Augenblick«, gebot Breckonzorpf, als sie nur noch wenige Schritte von dem Wagen entfernt waren. »Ich sehe nach, ob alles in Ordnung ist.« Verwundert beobachtete Atlan, wie der Wettermagier um den Wagen herumschlich und ihn von allen Seiten betrachtete. Breckonzorpf verhielt sich dabei so vorsichtig, als erwartete er, jeden Augenblick auf eine Bombe zu stoßen. »Was ist los?« fragte Atlan ungeduldig. »Seht!« machte Breckonzorpf tadelnd. Er nahm behutsam einen Käfer auf, der über die gewölbte Bordwand spazierte, und setzte das Insekt vorsichtig auf einen Grashalm. »Was zum Teufel …«, entfuhr es dem Arkoniden, aber da richtete Breckonzorpf sich plötzlich auf. »Schade«, sagte er. »Wir können den Wagen nicht benutzen.« »Warum nicht?« fragte Atlan verblüfft. »Komm her und sieh selbst.« Es dauerte eine Weile, bis Atlan die winzige Spinne entdeckte, die zwischen der Bordwand und einem Grashalm ein hand-
14 tellergroßes Netz gespannt hatte. Es mußte ein Witz sein. Die Magier hatten – geschützt durch den Großen Knoten und von allen Sorgen frei – zu viel Zeit und heckten darum üble Späße aus. Es war die einzige Entschuldigung, die der Arkonide für das Verhalten Breckonzorpfs finden konnte. Nie und nimmer würde der Wettermagier, der mit einem Schnippen seiner Finger Orkane auf den Plan zu rufen vermochte, sich von einer kaum sichtbaren Spinne daran hindern lassen, seinen Donnerwagen zu starten. Aber Breckonzorpfs Gesicht blieb so ernst und besorgt, daß dem Arkoniden sofort wieder Zweifel kamen. »Ich verstehe nicht ganz«, murmelte er ratlos. »Wie sollte dieses winzige Tier dich daran hindern, den Wagen zu benutzen?« »Es hindert mich ja gar nicht«, erwiderte Breckonzorpf. »Aber es ist da, und es hat dieses Netz mit großer Mühe aufgebaut. Siehst du denn nicht ein, daß es für ein so kleines Tier eine ungeheure Anstrengung bedeutet, diese vielen Fäden zu produzieren und an den richtigen Stellen zu befestigen?« »So ist der Lauf der Welt«, meinte Atlan gelassen. »Das dumme Ding hätte sich eben einen besseren Platz aussuchen sollen.« »Wie kannst du nur so reden?« fragte Breckonzorpf vorwurfsvoll. In diesem Augenblick verirrte sich eine Motte in das Spinnennetz. Blitzschnell bückte Breckonzorpf sich und pflückte die Motte erstaunlich geschickt aus dem Netz heraus. »Fliege weiter, kleiner Bruder«, murmelte er und blies das Insekt vorsichtig an. »He!« rief Atlan überrascht. »Das nenne ich Unlogik! Du willst der Spinne die Mühe ersparen, ein neues Netz bauen zu müssen. Aber gleichzeitig schnappst du ihr das Frühstück vor der Nase weg. Das arme Tier wird Hunger leiden!« »Ich weiß«, sagte Breckonzorpf betrübt. »Der allesumfassende Friede hat diese kleinen Tiere noch nicht durchdrungen. Bald werden auch sie aufhören, ihren Tierbrüdern nachzustellen. Bis dahin sollen möglichst
Marianne Sydow wenige Wesen für die Unwissenheit dieser Geschöpfe büßen.« »Wäre ich eine Spinne«, sagte Atlan sarkastisch, »dann würde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um eurem Frieden aus dem Weg zu gehen. Wovon sollen die armen Kerle denn deiner Meinung nach leben?« »Es kommt nur darauf an, es wirklich zu wollen!« sagte Breckonzorpf streng. »Mir scheint, du glaubst an Märchen, mein Freund! Diese Spinne wird niemals etwas anderes zu sich nehmen, als den Körperinhalt von Insekten, die sie zuvor gefangen hat.« »Sie wird etwas anderes finden«, beharrte Breckonzorpf stur auf seinem Standpunkt. Atlan gab es auf. Breckonzorpf schien nicht mehr ganz bei Verstand zu sein, und der Arkonide wußte kein Mittel, mit dem er den Magier hätte heilen können – nicht an diesem Ort und nicht in dieser Zeit. »Gehen wir also zu Fuß«, beschloß er resignierend. »Das heißt, ich werde gehen, und zwar zu Koratzo.« »Ich begleite dich.« »Schön. Ich hoffe nur, du hast nicht die Absicht, unterwegs jedes einzelne Spinnennetz von lebenden Opfern zu befreien!« »Ich werde darauf achten, daß wir möglichst wenig Zeit verlieren«, versicherte Breckonzorpf.
* Breckonzorpf hielt Wort – er arbeitete wirklich wie ein Berserker, um möglichst schnell seine diversen Hilfsaktionen für Kleingetier aller Art über die Bühne zu bringen. Darüber hinaus untersuchte er unerbittlich jeden Quadratmillimeter Boden, auf den er seine Füße zu setzen gedachte. Als Atlan versehentlich eine Ameise zertrat, war die Bestürzung des Wettermagiers so groß, daß der Arkonide allen Ernstes befürchtete, Breckonzorpf würde in Tränen ausbrechen. So arbeiteten sie sich den Hang hinauf, bis Atlan des absurden Spieles müde wurde.
Die Träumer von Oth »Ich gehe alleine weiter«, sagte er. »Es tut mir sehr leid, Breckonzorpf, aber wenn wir so weitermachen, brauchen wir Tage, um zu Koratzo zu gelangen.« Der Wettermagier war sehr betrübt. Er sah Atlan stumm und bittend an, und seine Augen, die sonst vor mühsam gebändigter Kraft funkelten, waren sanft wie die eines Kindes. Eine höchst unvernünftige Anwandlung von Mitleid überfiel den Arkoniden. »Was hat man mit dir gemacht, Breckonzorpf?« fragte er. »Versuche doch, dich daran zu erinnern! Ich bin zwar kein Magier, aber vielleicht kann ich dir trotzdem helfen. Du mußt mir nur sagen, was geschehen ist.« Breckonzorpf öffnete den Mund, um zu antworten – da surrte dem Arkoniden eine mückenähnliche Kreatur direkt ins Gesicht. Rein mechanisch hob Atlan die Hand und schlug zu, und erst Breckonzorpfs entsetzter Schrei machte ihm klar, was er angerichtet hatte. »Du bist negativ!« brach es aus dem Magier hervor. »Du tötest. Du bist nicht fähig, das Leben in seiner ganzen Vielfalt zu achten. Und wir hatten so große Hoffnungen in dich gesetzt!« Atlan wandte sich schweigend ab und stieg weiter den Hang hinauf, dem Paß entgegen, an dessen südlichem Ende Koratzos Wohnhalle liegen sollte. Er nahm sich vor, mit dem Stimmenmagier über Breckonzorpf zu reden. Er wußte, daß es Magier gab, die Krankheiten heilen konnten. Sie würden Breckonzorpf helfen, und wenn Atlan sie dazu zwingen mußte. Man durfte den armen Kerl in diesem Zustand nicht frei in der Barriere herumlaufen lassen. Was geschah, wenn der Wettermagier an ein wirklich gefährliches Tier geriet? Er schob diese Gedanken von sich und konzentrierte sich auf den Weg, der immer steiler wurde. Als er endlich an eine Quelle kam, beschloß er, eine kurze Rast einzulegen. Es gab an dieser Stelle Büsche, deren Zweige von der Last der Früchte fast bis zum Boden herabgedrückt wurden. Atlan kannte die
15 Früchte und wußte, daß sie eßbar waren. Während er sich stärkte, kamen mehrmals Tiere zur Quelle, um zu trinken. Sie benahmen sich so zutraulich, daß Atlan sie für halbzahm hielt. Nach seinem nicht gerade üppigen Mahl ruhte er sich noch einige Minuten lang aus. Vor ihm fiel der felsige Hang steil bis zur Grenze der Großen Barriere ab, und hinter ihm türmten sich die steilen Felszinnen, zwischen denen sich, nur noch knapp zweihundert Meter über Atlans derzeitigem Standort, der Pfad hindurchwand. Es war sehr still, nur der Wind strich wimmernd vom Paß herab, und es roch nach Blumen, Gras und ferner Kälte. Gegen die schimmernde Wand des Großen Knotens hob sich schwarz die Silhouette eines Raubvogels ab, der direkt über dem Arkoniden kreiste. Der Arkonide lehnte sich zurück und verfolgte den Vogel mit den Augen … bis das Tier plötzlich und scheinbar ohne jeden Anlaß wie ein Stein zu Boden fiel. Atlan, der für einen kurzen Moment erholsame Ruhe gefunden hatte, sah sich unvermittelt in die unerfreuliche Realität zurückgeworfen. Der Vogel war nach dem furchtbaren Aufprall tot, daran bestand kein Zweifel. Aber wer hatte ihn getötet? Er beobachtete den dunklen Fleck, der kaum dreißig Meter entfernt im Gras zu erkennen war. Schließlich war er sicher, daß kein Magier in der Nähe war, der das Tier als seine Jagdbeute beanspruchte. Er lief hin und sah sich das Tier aus der Nähe an. Es war ungefähr so groß wie die weißen Stormocks vom Taamberg und sah auch fast genauso aus wie diese halbzahmen Geier, hatte aber ein dunkles Gefieder. Atlan hob das Tier auf, um es zu untersuchen. Es war überraschend leicht. Er erinnerte sich an den ersten Stormock, den er und Razamon an Bord der DEEHDRA, einem Piratenschiff, auf dem Regenfluß gefunden hatten, und er dachte an das Gewicht dieses Vogels. Das Tier, das er jetzt in den Händen hielt, wog nicht einmal halb so viel wie dieser Stormock. Er untersuchte das Tier so gründlich, daß er am Ende sicher sein konnte, nichts
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übersehen zu haben. Der Vogel hatte sich bei dem plötzlichen Sturz das Genick gebrochen. Sonst fehlte ihm überhaupt nichts – bis auf eines: Nahrung. Das Tier war am Verhungern gewesen. Der Absturz war vermutlich auf einen Schwächeanfall zurückzuführen. Nachdenklich sah Atlan sich um. Überall waren die erstaunlich zahmen Tiere unterwegs. Es gab in diesem Gebiet genug Beute für einen Raubvogel. Die Tiere waren nicht einmal geflohen, als der Schatten des Vogels bereits über sie hinwegglitt. Bis jetzt hatte Atlan das Verhalten der Tiere als leicht erklärbare Tatsache hingenommen. Koratzo lebte kaum zwei Kilometer von hier, und der Stimmenmagier liebte die Harmonie. Es war ihm durchaus zuzutrauen, daß er die Tiere in diesem Bereich so beeinflußt hatte, daß sie allen etwaigen Besuchern gegenüber freundlich und zutraulich waren. Aber Koratzo hätte andererseits niemals in das Gleichgewicht der Natur eingegriffen und damit einen Raubvogel wie diesen zum Tode verurteilt! Atlan legte den Vogel ins Gras zurück. Er machte sich wieder auf den Weg, aber jetzt erfüllte ihn nagende Unruhe. Allmählich überkam ihn das Gefühl, daß in der Barriere von Oth etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
4. Die Aussicht von der Paßhöhe aus war überwältigend. Das ganze Reich der Sieben Gipfel lag vor ihm, und dahinter türmten sich die gewaltigen Zwillingsgipfel des Skatha-Hir gen Himmel. Er betrachtete diesen geheimnisumwitterten Berg fasziniert, bis er die Flecken auf den weiten Hängen entdeckte. Am SkathaHir schien es gebrannt zu haben, und offenbar war es auch zu Erdrutschen gekommen. Diese Erkenntnis erschreckte ihn. Er erinnerte sich an das, was er über die magischen Speicher erfahren hatte. Im Innern dieses Berges gab es etwas, das das Gleichgewicht
der Kräfte in Oth aufrechterhielt. Wurde der SkathaHir starken Zerstörungen ausgesetzt, dann bedeutete dies das Ende der Magier von Oth. War es bereits zu spät? Atlan erinnerte sich voller Entsetzen an das, was Lebo Axton ihm berichtet hatte: Die Scuddamoren hatten in ihrer Wut über das unzerstörbare Hindernis um die Barriere herum das ganze Gebiet mit allen Waffen angegriffen, die ihnen zur Verfügung standen. Nichts davon hatte Glyndiszorns Knoten durchdringen können. Aber es war zu Beben gekommen, und dabei mochten die Speicher am SkathaHir Schaden genommen haben. Breckonzorpfs sonderbare Marotten erhielten für Atlan plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Zweifellos unterlagen auch die Tiere von Oth in nicht geringem Maß den seltsamen Gesetzen, die in diesem Gebiet galten. Wenn seine Befürchtung sich als wahr erwies, würde er keinen einzigen Magier mehr vorfinden, der sich so verhielt, wie man es früher von ihm erwartet hätte. Vage kam dem Arkoniden zu Bewußtsein, wie absurd die Situation war. Er hatte mit voller Absicht den Neffen Duuhl Larx auf die Idee gebracht, er, Atlan, könnte einen Einfluß auf die Magier haben. Er hatte sich nach Oth schicken lassen, weil er hoffte, hier Hilfe zu finden. Hilfe für Pthor, aber auch für Razamon und Lebo Axton. Nun aber konnte er die Möglichkeit nicht mehr ausschließen, daß statt dessen die Magier seiner Hilfe bedurften! Er eilte den steinigen Pfad hinab. Für seine wildromantische Umgebung hatte er keinen Blick mehr. Er fieberte der Begegnung mit Koratzo entgegen und fürchtete sich gleichzeitig vor dem Augenblick der Wahrheit. Als er die Wohnhalle vor sich sah, stellte er fest, daß Koratzo sich nicht in dem würfelförmigen Gebäude mit den durchsichtigen Wänden aufhielt. Der Magier kam gerade aus der Schlucht herauf. Atlan sah ihn über die Felsplattform vor dem Haus gehen. Der Arkonide duckte sich hinter einen
Die Träumer von Oth Stein und beobachtete Koratzo gespannt. Auf diese Weise wirst du wohl kaum feststellen können, ob und wie sehr er sich verändert hat, bemerkte der Extrasinn nüchtern. Warten wir es ab, gab Atlan lautlos zurück. Der Stimmenmagier wirkte erschöpft. In jeder einzelnen Bewegung, die er vollführte, lag eine unsagbare Müdigkeit. Er ging langsam auf die Tür zur Wohnhalle zu. Sobald er drinnen ist, wird er zu Boden sinken und einschlafen, prophezeite der Extrasinn. Atlan nickte nur. Er richtete sich auf. »Koratzo!« rief er laut. Der Stimmenmagier fuhr herum. Er hob die Hand und schirmte die Augen gegen das helle Licht ab. Atlan winkte und stieg die letzten Meter hinab. Endlich schien Koratzo ihn erkannt zu haben, denn er kam ihm langsam entgegen. Je näher er kam, desto stärker empfand Atlan ein Gefühl der Einsamkeit. Es war, als stünde er einem Fremden gegenüber. Irgend etwas sagte ihm, daß dies nicht der Koratzo war, den er von früher her kannte. Er war sicher, daß es nicht an Koratzos derzeitiger Verfassung lag, obwohl er sich sagte, daß er schließlich nie zuvor einen wirklich erschöpften Magier zu Gesicht bekommen hatte. Unwillkürlich ging er langsamer. Einige Schritte vor dem Stimmenmagier blieb er stehen. »Ich habe dich erwartet, Atlan«, sagte Koratzo leise. »Komm, es ist alles vorbereitet.« Das Mißtrauen war plötzlich da, Atlan konnte es nicht zurückdrängen. »Was ist vorbereitet?« fragte er scharf. Koratzo versuchte zu lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse daraus. »Es ist keine Falle«, versicherte er, und seine Stimme, die sonst voll magischer Kraft steckte, war flach und klanglos. »Mit solchen Dingen brauchst du hier in der Barriere nicht mehr zu rechnen.« Er wandte sich ab und verschwand durch die Tür im Innern der Wohnhalle. Atlan
17 spähte mißtrauisch durch die Öffnung, denn er traute plötzlich den anscheinend gläsernen Wänden nicht mehr. Er sah jedoch nur den Stimmenmagier, der sich schwerfällig an einen Tisch setzte. Zögernd folgte er dem erschöpften Mann. Er blieb vor dem Tisch stehen und starrte Koratzo herausfordernd an. »Was ist hier los?« fragte er. »Wir haben den Frieden gefunden«, flüsterte Koratzo. »Es kam ganz plötzlich über uns. Zuerst brachten wir Chirmor Flog in die Barriere, und der Neffe …« »Chirmor Flog ist hier bei euch?« rief Atlan überrascht. Deutlicher als seine Stimme zeigte der Ausdruck in seinen Augen, welche Gefühle ihn in diesem Augenblick bewegten. Koratzo ging nicht darauf ein. »Ja«, sagte er nur. »Unterbrich mich nicht, ich werde nicht mehr lange sprechen können. Der Neffe brachte den Schwarzschock in die Barriere. Negative Energie überschwemmte die Berge und überwältigte die meisten Magier. Copasallior, Glyndiszorn, Parlzassel, Islar und ich – wir kamen davon. Ein Kampf um die ORSAPAYA entbrannte. Die Negativen wollten hinaus nach Pthor und dort Unheil stiften, aber Islar …« Der Kopf des Stimmenmagiers sank auf die Tischplatte. Atlan, der gebannt zugehört hatte, zuckte zusammen. Er beugte sich über den Magier. »Koratzo!« rief er beschwörend. »Ich muß das Ende der Geschichte erfahren! Ihr seid nicht mehr negativ. Ich habe Breckonzorpf getroffen. Was ist passiert?« Er erhielt keine Antwort. Ungeduldig zog er den Magier hoch. Er verstand das alles nicht. Er hatte Koratzo in Situationen erlebt, in denen jeder normale Sterbliche beinahe zwangsläufig einen Zusammenbruch erlitten hätte. Längst wußte er, daß man die Magier nicht mit normalem Maßstab messen durfte. Es gelang ihm nicht, Koratzo zu wecken. Der Zustand des Stimmenmagiers hatte mit einer normalen Erschöpfung kaum noch etwas zu tun. Er stand dem Koma näher als
18 dem Schlaf. Atlan lud sich den Magier auf die Schultern und trug ihn zu einem Lager im hinteren Teil der Wohnhalle. Lange Zeit saß er neben Koratzo, dann entschied er, daß er an diesem Tag nichts mehr würde erreichen können. Er suchte sich einen Platz zum Schlafen. Von seinem Lager aus starrte er auf die seltsamen Lichterscheinungen in der Wand des Großen Knotens. Was, um alles in der Welt, war mit den Magiern geschehen? Auch wenn die Nachricht, daß Chirmor Flog sich in Oth aufhielt, noch so überraschend gewesen war – er wünschte sich, er hätte nicht darauf reagiert. Die Sekunden, die Koratzo dadurch verloren hatte, mochten den Arkoniden um die Aufklärung des Geheimnisses gebracht haben. Morgen ist auch noch ein Tag, versuchte er sich zu beruhigen. Wenn Koratzo sich ausgeschlafen hat, wird er den Rest der Geschichte erzählen können. Er wartete auf eine Reaktion des Extrasinns, aber dieser schwieg. Am nächsten Morgen war Koratzo immer noch nicht wachzubekommen. Er schien sich während der Nacht nicht einmal um einen Zentimeter bewegt zu haben. Atlan begann, sich ernsthafte Sorgen um den Magier zu machen. Er überlegte, ob er versuchen sollte, einen anderen Magier zu Hilfe zu rufen, aber er verwarf diesen Gedanken sofort. Die Entfernungen waren zu groß. Zwar hatte er den hier und da in allerlei Gesprächen enthaltenen Andeutungen entnehmen können, daß die »Rebellen« aus der Tronx-Kette eng beieinander hausten, aber den Begriff »eng« mußte man in diesem Fall relativ sehen: die Grundfläche der Tronx-Kette hatte eine Länge von rund fünfundsiebzig und eine Breite von etwa dreißig Kilometern. Auf dieser Fläche erhoben sich sieben Berge, die bis zu dreitausendfünfhundert Metern hoch waren, und zwischen ihnen klafften Schluchten, die bis weit unter das Niveau des Randes – in Pthor gleichbedeutend mit dem Meeresspiegel – hinabreichten. In diesem wilden Ge-
Marianne Sydow lände hausten zur Zeit achtundzwanzig Magier. Warum die meisten Magier dennoch mit Grausen an die »Enge« in der Tronx-Kette dachten, konnte nur verstehen, wer wußte, daß viele dieser seltsamen Leute ganze Bergmassive für sich allein beanspruchten. Jedenfalls war es kaum sinnvoll, unter diesen Umständen auf die Suche nach den Freunden des Stimmenmagiers zu gehen. Atlan hatte auch nicht die leiseste Ahnung, in welcher Richtung er die nächste Behausung finden könnte. Er untersuchte Koratzo noch einmal so gründlich, wie es ihm möglich war. Es schien, als leide der Magier lediglich unter hochgradiger Erschöpfung. Außerdem war Koratzo dünner geworden. Wie eine düstere Vision drängte sich das Bild des verhungerten Vogels in Atlans Gedanken. Ärgerlich begab er sich auf die Suche nach Lebensmitteln, denn er war sehr hungrig. Die Wohnhalle war durch schlanke Säulen in einen privaten und einen »offiziellen« Bereich geteilt. Im Wohnbereich gab es noch eine weitere Unterteilung, und hinter diesen Säulen entdeckte Atlan einen kleinen Raum, der zweifellos so etwas wie ein Bad darstellte. Daneben befand sich eine Vorratskammer, und eine winzige Küche schloß sich an. Die Vorratskammer war wohlgefüllt. Der Arkonide bediente sich großzügig, entzündete in der Küche das Feuer und bereitete sich ein kräftiges Frühstück zu. Zwar wußte er nicht, von welchem Tier das Rauchfleisch stammen mochte, das er in der Kammer gefunden hatte, und die Eier, die er in eine Pfanne schlug, waren ungewöhnlich groß und besaßen eine rot marmorierte Schale, aber über solche Kleinigkeiten setzte er sich hinweg. Er überlegte gerade, ob er auch für den Stimmenmagier etwas zubereiten sollte, da hörte er Geräusche. Hastig verließ er den Raum zwischen den Säulen und ging zum Ausgang. Koratzos Wohnhalle stand nur wenige
Die Träumer von Oth Meter von der Schlucht entfernt. Direkt am Abgrund hatten sich vier Magier niedergelassen. Sie ließen die Beine baumeln und unterhielten sich leise miteinander. Atlan erkannte zwei von ihnen. Das waren Querllo, der Lichtmagier, ein Zwerg mit rissiger, rindenartiger Haut, und Opkul, der mit seinen rätselhaften violetten Augen alles zu sehen vermochte, was in Pthor geschah, und dessen Blick sogar noch über den Wölbmantel hinausreichte. Der dritte hatte feuerrotes Haar und trug unter jedem Auge einen tropfenförmigen grünen Fleck, von dem Atlan nicht sagen konnte, ob er aufgemalt oder gewachsen war, und die vierte Gestalt war unverkennbar weiblichen Geschlechts, dabei aber noch kleiner als der Lichtmagier und rabenschwarz, mit schrägen, gelben Katzenaugen. Atlan trat durch die Tür und räusperte sich. Die Magier drehten sich nach ihm um, und er erschrak, denn er fürchtete, es könnte jeden Augenblick einer von ihnen in den gähnenden Abgrund stürzen. Sie waren keineswegs überrascht, den Arkoniden an diesem Ort zu sehen. Vermutlich hatte Opkul ihn längst entdeckt. Atlan empfand ein leises Unbehagen bei dem Gedanken, daß der Magier ihn die ganze Zeit hindurch beobachtet haben mochte, obwohl er sich keines Fehlers bewußt war. »Willkommen in Oth«, sagte Querllo mit seiner unangenehmen, schrillen Stimme. »Setz dich zu uns, Atlan. Wir sind gerade beim Frühstück, und wir teilen gerne mit dir!« Erst jetzt sah der Arkonide, daß die Magier kleine Beutel trugen, aus denen sie Blätter und Früchte fischten. »Er hat bereits gegessen«, bemerkte Opkul nüchtern. »Du kannst dir das Angebot sparen.« So harmlos diese Bemerkung klang – sie mußte einen unheilvollen, verborgenen Sinn in sich haben, denn alle vier starrten Atlan mißbilligend an. Atlan dachte an den entkräfteten Stimmenmagier, und Schuldgefühle stiegen in
19 ihm auf. Hatten die Magier nicht recht? Es war eine Unverschämtheit, Koratzos Vorräte zu plündern … Ärgerlich wischte er den Gedanken beiseite. Die Vorratskammer enthielt noch genug Lebensmittel. Ja, meldete sich plötzlich der Extrasinn. Aber von welcher Art? Mein Gott! dachte er. Darauf bin ich gar nicht gekommen. Es handelt sich ausschließlich um Nahrung tierischen Ursprungs. Aber das kann doch nicht wahr sein! Die Leute aus der Tronx-Kette wußten damals einen guten Braten sehr wohl zu schätzen! Damals! betonte der Extrasinn. Inzwischen hat sich die Lage geändert. Sie sind zu Vegetariern geworden. Na gut, dachte Atlan ungeduldig. Von mir aus sollen sie essen, was immer ihnen schmeckt. »Koratzo scheint krank zu sein«, sagte er laut. »Er braucht Hilfe.« »Das scheint nur so«, versicherte Querllo. »In Wirklichkeit braucht er nur ein bißchen Ruhe. Er arbeitet zu viel.« »Wie kannst du so reden«, mischte die schwarzhäutige Magierin sich ein. »Er tut es schließlich für uns alle!« »Schon gut, Antharia«, murmelte Querllo begütigend. »Aber du mußt zugeben, daß er es übertreibt. Jedenfalls«, wandte er sich an Atlan, »ist Koratzo nicht krank.« »Du solltest ihn dir ansehen, ehe du weiterziehst«, bemerkte der Arkonide. »Zweifelst du daran, daß ich recht habe?« erkundigte Querllo sich amüsiert. Atlan beobachtete den Zwerg aufmerksam. »Ja«, sagte er langsam. »Genau so ist es!« Er wußte, wie empfindlich die Magier in dieser Hinsicht waren. Die in der Tronx-Kette galten zwar als besonders fortschrittlich, weil sie es mit den uralten Traditionen nicht so genau nahmen, aber auch bei ihnen war es ratsam, sich jedes Wort der offenen Kritik zu verbeißen. Zu Atlans Erstaunen lächelte Querllo nur und wischte abwehrend mit der Hand durch die Luft. »Ich werde ihn mir
20 jetzt gleich ansehen«, verkündete er und schwang sich geschickt auf das Felsplateau. »Komm mit, Atlan, und überzeuge dich selbst.« Sie gingen in die Halle, und der Arkonide stellte fest, daß Koratzo sich immer noch nicht gerührt hatte. Querllo beugte sich über den Stimmenmagier und berührte mit seinen rissigen Händen Koratzos Gesicht. Da erst begriff Atlan, daß Querllo zu denen gehörte, die Krankheiten zu heilen verstanden. »Wecke ihn auf!« forderte der Arkonide spontan. »Ich muß mit ihm reden.« Querllo richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Ich könnte ihn wecken«, behauptete er. »Aber ich werde mich hüten, es auch zu tun. Er ist völlig ausgelaugt. Hilf mir, wir müssen ihn dort hinüber schaffen.« »Hätte er seit gestern abend dort gelegen«, bemerkte Querllo mißbilligend, »so wäre er jetzt vielleicht schon wieder ganz munter.« Er sah den Arkoniden nachdenklich an. »Du hast also noch nichts von dem allesumfassenden Frieden in dich aufgenommen?« fragte er. Atlan spürte, daß dem Magier ungeheuer viel an diesem ominösen Frieden lag, und er wollte es sich nicht mit ihm verderben. »Oh doch«, behauptete er darum. »Ich war schon immer ein friedlicher Mensch, und hier bei euch, in den Bergen …« »Du lügst«, stellte Querllo traurig fest. »Genauer gesagt: Du weißt gar nicht, wovon ich gerade gesprochen habe.« »Dann erkläre es mir!« Querllo lächelte schwach. »Das hätte wenig Sinn. Man muß es fühlen, sonst begreift man es nicht.« Der Arkonide starrte den Magier an. Er dachte an Duuhl Larx, an die Trugen, vor allem an Razamon und Lebo Axton, und kribbelnde Ungeduld befiel ihn. War er nach Oth gekommen, um sinnlose Diskussionen zu führen? »Paß auf«, sagte er grimmig, »hier bei euch in den Bergen mag es friedlich zugehen, aber da draußen ist die Hölle los. Es
Marianne Sydow muß endlich etwas geschehen, oder das Land erholt sich nie wieder. Ihr seid die einzigen Pthorer, die nicht unter der Herrschaft des Neffen zu leiden haben. Dafür solltet ihr dankbar sein. Aber gleichzeitig wäre es eure Pflicht, alles zu tun, damit dieser schreckliche Zustand beendet wird. Ihr seid es den Pthorern schuldig!« Querllo schwieg. »Und ihr seid es mir schuldig!« fuhr Atlan in wachsendem Zorn fort. »Wir haben einen Bund miteinander geschlossen. Erinnert ihr euch nicht mehr daran?« »Oh doch!« versicherte er eilig. »Wie kannst du annehmen, daß wir es vergessen hätten?« »Wenn es so ist«, rief Atlan wütend, »dann tut um Himmels willen endlich etwas!« »Aber siehst du denn nicht, daß wir bereits dabei sind?« fragte Querllo verwundert. »Ich sehe, daß ihr Blätter kaut und vom allesumfassenden Frieden träumt!« knurrte der Arkonide. »Wir träumen nicht davon«, korrigierte Querllo streng, »sondern wir arbeiten daran. Sieh dir nur Koratzo an. Was glaubst du wohl, warum er so erschöpft ist? Unablässig feilt er an seiner Heilssprache, die allen Lebewesen Glück und Frieden bringen wird.« Atlan atmete tief ein und zwang sich zur Ruhe. »Ich achte Koratzo«, sagte er langsam. »Und ich weiß seine Fähigkeiten zu schätzen. Er ist ein sehr mächtiger Magier – aber gegen die Trugen wird er mit seiner Heilssprache überhaupt nichts ausrichten, und gegen den Neffen selbst erst recht nicht.« »Du willst, daß wir Waffen gebrauchen«, stellte Querllo fest, und er sah den Arkoniden voller Abscheu an. »Waffen, die töten und verwunden und die Trugen samt diesem Neffen vernichten. Du hättest gar nicht erst zu uns kommen sollen, denn solche Wünsche hätten wir dir sowieso nicht erfüllen können. Nicht einmal zu der Zeit, als wir noch zum negativen Handeln neigten.« »Ich will keine Waffen«, sagte Atlan be-
Die Träumer von Oth schwörend. »Was willst du dann?« fragte der Lichtmagier verblüfft. »Ihr sollt mir helfen, Pthor zu befreien. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Daß wir keinen offenen Krieg gegen die Neffen und den Dunklen Oheim führen können, ist mir klar. Aber wenn wir zusammenarbeiten, werden wir diese düsteren Mächte mit List überwinden.« »Das hört sich gut an«, meinte Querllo, und der Arkonide schöpfte für einen Augenblick Hoffnung. Aber dann fuhr der Lichtmagier fort: »Aber es ist und bleibt ein übler Plan. Heimtücke, Hinterlist, Betrug – das alles ist negativ. Wir sind dafür eingetreten, daß du König von Pthor wurdest, denn alles, was du sagtest und tatest, war positiv. Du hast deine eigenen Ziele verraten, und wir sollen dir auch noch helfen, diesen Verrat weiterzuführen. Aber dazu wird es niemals kommen!« Atlan starrte den Magier fassungslos an. Er sollte seine Ziele verraten haben? Sie sind übergeschnappt, bemerkte der Extrasinn trocken. Nimm es dir nicht so zu Herzen. Er riß sich zusammen. Querllo ist nur einer von mehr als zweihundert Magiern, sagte er sich. Die Bewohner der Tron-xKette bilden eine Minderheit. Früher galten sie als Narren, die gefährlichen Träumen nachhingen. Vielleicht ist doch etwas Wahres daran. Und Breckonzorpf? Seit wann gehört er in die Tronx-Kette? Der Karsion ist nicht allzu weit von hier entfernt. Er sah zu Koratzo hinüber, und ein Verdacht keimte in ihm. Atlan hatte schon früher von der Sprache gehört, an der der Stimmenmagier arbeitete. Was, wenn Koratzo inzwischen Erfolg gehabt hatte? Das hätte alles erklärt. Selbst der Zustand, in dem der Stimmenmagier sich jetzt befand, paßte in dieses Bild. Koratzo hatte ein großangelegtes Experi-
21 ment gestartet. Er hatte seine den Frieden bringende Stimme erschallen lassen und war dabei über das Ziel hinausgeschossen. Hatte Koratzo nicht selbst berichtet, daß es nach der Ankunft Chirmor Flogs zu Kämpfen gekommen war? Atlan hatte keine Ahnung, was ein Schwarzschock war, aber da es offensichtlich mit dem Neffen in Zusammenhang stand, konnte es schwerlich etwas Gutes sein. Die Magier waren negativ geworden – nicht alle, aber die meisten von ihnen. Koratzos Experiment mochte ein letzter, verzweifelter Versuch gewesen sein, zu retten, was noch zu retten war. Er erwähnte noch einen Namen, bemerkte der Extrasinn. Ich weiß, dachte Atlan. Islar. Damals, nach dem Krieg der Magier, hat Koratzo von ihr gesprochen. Sie ist noch sehr jung. Vielleicht hat sie ihm assistiert. Inzwischen mußte der Magier gemerkt haben, daß etwas schiefgelaufen war, und er bemühte sich, den Schaden auszubügeln. Darum war er erschöpft! Es ist zu logisch! behauptete der Extrasinn. Du bist den Magiern gegenüber voreingenommen, konterte der Arkonide. Ich bin fast sicher, daß es sich so und nicht anders abgespielt hat. Und weißt du was? Ich möchte wetten, daß es sich nicht über die ganze Barriere verbreitet hat. Das ist einfach unmöglich. Ich muß zu Copasallior. Der Weltenmagier scheint nicht sehr interessiert daran, sich mit dir in Verbindung zu setzen. Atlan ignorierte diesen Einwand. Sein Entschluß stand fest. Er würde die Tronx-Kette verlassen und sich nach Westen wenden. Er warf noch einen Blick auf Koratzo. Vielleicht sollte er doch besser bleiben, bis der Stimmenmagier aus seinem Schlaf erwachte? Aber Koratzo würde ihm kaum helfen können, denn er hatte jetzt genug mit sich selbst und seiner Arbeit zu tun. »Ich werde euch nicht länger mit meinem Anliegen belästigen«, sagte er zu Querllo.
22 Mit dem Magier ging eine erstaunliche Verwandlung vor. Eben noch hatte er abweisend und streng gewirkt – jetzt senkte er reumütig den Kopf. »Was ist los?« fragte Atlan unwillig. »Hast du es dir anders überlegt?« Er bemerkte, daß die drei anderen die Köpfe zur Tür hereinsteckten. Antharia gestikulierte heftig, und der Magier mit dem roten Haarschopf und den grünen Flecken im Gesicht sah aus, als würde er im nächsten Moment in Tränen ausbrechen. »Es war nicht positiv von mir«, klagte Querllo. »Ich hätte nicht so mit dir reden dürfen. Du kommst von draußen, aus dieser barbarischen Welt – wie konnte ich von dir verlangen, daß du uns jetzt schon verstehst? Du bist noch nicht lange genug bei uns.« Atlan wartete. Er ahnte etwas, aber er hütete sich, dem Magier auch noch entgegenzukommen. »Sei unser Gast«, bat der Lichtmagier. »Bleibe für einige Tage hier in der TronxKette!« Aha! dachte Atlan triumphierend an die Adresse des Extrasinns. Merkst du, worauf das hinausläuft? Mir scheint, ich hatte recht. Der Logiksektor schwieg. »Ich habe sehr wenig Zeit«, gab Atlan zu bedenken. »Duuhl Larx hält Razamon und Lebo Axton an Bord der MARSAPIEN gefangen. Es wäre gefährlich, die Geduld des Neffen auf eine zu harte Probe zu stellen.« »Wir werden Copasallior bitten, daß er herkommt«, versprach Querllo lockend. Damit er auch in die Falle geht? dachte Atlan spöttisch. »Ich möchte lieber zu ihm gehen«, meinte er. »Er könnte sonst annehmen, ich wollte ihm Befehle erteilen.« »Gut«, nickte Querllo. »Trotzdem – bleibe wenigstens noch bis morgen. Du siehst müde aus und abgespannt. Etwas Ruhe wird dir gut bekommen. Morgen wird auch Koratzo wieder auf den Beinen sein. Sicher möchtest du gerne mit ihm reden. Und – es ist auch ein Gebot der Höflichkeit, daß du wartest, bis er aufwacht. Er hat dich in sei-
Marianne Sydow ner Wohnhalle aufgenommen. Du kannst nicht einfach verschwinden, ohne ihm zu danken.« »Er wird es schon verstehen«, meinte Atlan lächelnd. Querllo schien einzusehen, daß er so nicht weiterkam. Ratlos sah er zu seinen Freunden hinüber. »Erlaube uns wenigstens, dich ein Stück zu begleiten«, sagte er resignierend. Und als Atlan immer noch ablehnend schien, fügte er hinzu: »Dann kannst du die magischen Straßen benutzen und kommst fast so schnell voran, als würdest du in einem Zugor fliegen – wenigstens innerhalb der Tronx-Kette.« Atlan zögerte, und er dachte an den Weg, der vor ihm lag. Es war weit bis zum Crallion, rund einhundertsiebzig Kilometer Luftlinie, und das in einem der wildesten Gebirge, die er jemals in seinem langen Leben gesehen hatte. Erschwerend kam hinzu, daß er sich schließlich im Reich der Magier befand. Er wußte zwar über die neutralen Straßen Bescheid, aber diese Verkehrsverbindungen waren auf weiten Strecken für die Augen eines Nichtmagiers nicht mehr als kaum fußbreite Pfade, die über Stock und Stein führten, durch Täler, in denen Eis und Schnee herrschten, Sümpfe, in denen ein unvorsichtiger Wanderer leicht versinken konnte und Wälder, in denen die seltsamsten Tiere hausten. Abgesehen davon hatten sich die Magier bei der Anlage ihrer »Straßen« um Steigungen und Gefälle nicht gekümmert. »Gut«, sagte er. »Ich nehme dieses Angebot an.« Querllo strahlte. Atlan beobachtete den Zwerg, und er schüttelte kaum merklich den Kopf. Nicht einmal nach dem Sieg am Skatha-Hir hatte Querllo so glücklich und erleichtert ausgesehen wie in diesem Augenblick.
5. Im Lauf des Tages kamen nacheinander alle Bewohner der Tronx-Kette, um den Kö-
Die Träumer von Oth nig von Pthor zu begrüßen. Sie behandelten den Arkoniden wie einen glücklichen Heimkehrer, und wenn er versuchte, ihnen die bittere Wahrheit zu erklären, lächelten sie nur. Sie waren zu höflich, um ihn zu unterbrechen oder Desinteresse zu zeigen, aber Atlan wußte, daß ihre Anteilnahme nur geheuchelt war. Am frühen Nachmittag erschien endlich auch Islar vor der Wohnhalle. Da Koratzo ihren Namen genannt hatte, hoffte Atlan, von ihr etwas über das zu erfahren, was den Magiern diesen »allesumfassenden Frieden« beschert hatte. Aber auch Islar wich ihm aus. »Ich habe nur das Werk eines anderen zu Ende geführt«, behauptete sie bescheiden. »Ich konnte nur sehr wenig tun.« Atlan nahm automatisch an, daß mit »dem anderen« Koratzo gemeint war, was ein Fehler war – aber das konnte er nicht einmal ahnen. »Erzähle mir mehr davon«, bat er. Islar, ein zierliches, sehr junges Mädchen, auf dessen Stirn acht winzige, zusätzliche Augen wie eine Kette aus schwarzen Perlen glänzten, lächelte schwach. »Es gibt nichts zu erzählen«, murmelte sie. »Du hast deine Magie eingesetzt«, vermutete Atlan. »Welche Kunst beherrschst du?« »Gar keine«, antwortete Islar nüchtern. »Ich bin erst vor kurzem aus dem Revier der Sterblichen gekommen. Meine Lehrzeit ist noch nicht vorüber.« »Auch Lehrlinge vollbringen mitunter große Werke«, bemerkte Atlan vorsichtig. »Und manchmal übertreffen sie ihre Meister. Was du getan hast, war offensichtlich sehr wichtig für die Magier von Oth, etwas, das von historischer Bedeutung ist. Darum möchte ich mehr darüber erfahren. Bitte, berichte mir, was geschehen ist.« Sie zögerte noch, aber er wußte, daß er gewonnen hatte. Sie würde reden, anfangs vielleicht nur in Andeutungen, aber spätestens in einer Stunde in aller Deutlichkeit. Da, sie setzte zum Sprechen an – und verstummte. Atlan sah, daß sie den Mund be-
23 wegte, aber kein Laut drang über ihre Lippen. Er fuhr herum. Koratzo stand an der Tür zur Wohnhalle. »Es ist schon gut, Islar«, sagte Atlan leise. »Kämpfe nicht dagegen an, das hat keinen Sinn.« Er stand auf und ging auf den Stimmenmagier zu. »Gib ihr die Stimme zurück, Koratzo!« forderte er. »Wie du willst«, murmelte der Magier. Er sah immer noch blaß und schmal aus, aber es war erstaunlich, wie gut er sich in dieser kurzen Zeitspanne erholt hat. Der Arkonide sah zu Islar hinüber. Die junge Magierin starrte Koratzo an. In ihrem Gesicht zeichneten sich Gefühle ab, die sich schwer beschreiben ließen. Islar hatte keine direkte Angst vor Koratzo – aber sie war aus irgendeinem Grund schuldbewußt. Innerhalb einiger Sekunden erhellte sich ihr Gesicht, und schließlich ging sie lächelnd davon. Atlan ahnte, daß die beiden Magier über den lautlosen Weg der Gedankenübertragung ein Gespräch geführt hatten. Er kannte solche Gespräche aus eigenem Erleben, und es berührte ihn eigenartig, dabeizustehen und nicht daran teilzunehmen. Er fühlte sich plötzlich wie ein Aussätziger. »Gehen wir hinein«, schlug Koratzo vor. Atlan schüttelte den Kopf. »Warum hast du sie am Sprechen gehindert?« fragte er grob. »Gibt es in der Barriere etwas, wovon ich nichts erfahren soll?« Zu seiner grenzenlosen Überraschung versuchte Koratzo nicht, seiner Frage auszuweichen. »Ja«, sagte er einfach. »Das gibt es.« »Und was ist es?« Koratzo lachte leise auf. »Ich bin nicht Islar«, murmelte er. »Zu deiner Beruhigung möchte ich dir jedoch verraten, daß es nichts ist, wovon dir Gefahr droht.« »Warum haltet ihr es dann geheim?« »Es geschieht nur zu deinem Besten.«
24 »Unter demselben Vorwand«, sagte Atlan nachdenklich, »wurden auf dem Planeten Terra in ferner Vergangenheit Menschen zu Tode gequält. Rede schon, worum geht es?« Früher hätte Koratzo zumindest betroffen reagiert, jetzt aber schüttelte er nur lächelnd den Kopf. »Was ist hier passiert?« fragte Atlan weiter. »Warum habt ihr Magier euch verändert?« »Ich würde Stunden brauchen, um es dir in allen Einzelheiten zu erklären«, sagte Koratzo gelassen. »Und dann hättest du es immer noch nicht verstanden.« Er sah das Funkeln in Atlans Augen. »Oh nein«, fügte er hastig hinzu. »So meine ich es nicht. Du bist sehr klug und würdest es sofort verstehen – wenn du es selbst fühlen könntest. Da liegt das Problem.« »Was ist mit dem Neffen?« »Chirmor Flog?« »Nun, falls ihr noch weitere Neffen des Dunklen Oheims in der Barriere aufbewahren solltet …« »Es ist nur einer«, sagte Koratzo ernst. »Chirmor Flog kam nach Pthor, weil er hoffte, hier Heilung zu finden. Wir holten ihn zu uns.« »Dann wart ihr schon damals nicht recht bei Trost!« murmelte Atlan, der genau wußte, daß es keine Rolle spielte, ob er gegenüber dem Stimmenmagier derartige Gedanken aussprach oder nicht – Koratzo konnte jederzeit auch gegen den Willen des Arkoniden dessen Gedanken lesen und ihn zweifellos auch beeinflussen. In dieser Hinsicht waren die Magier den terranischen Mutanten überlegen, denn gegen Mutanten konnte man sich wenigstens teilweise schützen. Koratzo lächelte milde. »Wir waren verblendet«, sagte er. »Wir dachten, den Neffen erpressen zu können. Gesundheit gegen Zugeständnisse in bezug auf Pthor und die Situation im Marantroner-Revier. Es hätte niemals geklappt.« »Erstaunlich, daß du das erkennst.« »Spotte nicht! Chirmor Flog saß in die-
Marianne Sydow sem Gestell – du kennst es, wie ich deinen Gedanken entnehme. Wir schickten das Gebilde zurück, denn ich fürchtete, es könnte eine Bombe enthalten oder etwas in dieser Art. Nun, das war ein Irrtum. Chirmor Flog selbst war die Waffe, mit deren Hilfe der Dunkle Oheim uns zu vernichten gedachte. Der Neffe war aufgeladen mit der negativen Energie, die ein gewisser Achtpforg auf ihn übertragen hatte. Achtpforg ist ein GersaPredogg, aber das wußten wir damals noch nicht.« »Ich kenne dieses Ding«, murmelte Atlan. »Razamon erzählte mir etwas von einem anderen Gersa-Predogg, dessen Aura geradezu tödlich ist.« »Achtpforg muß nach der Aufladung Chirmor Flogs wesentlich schwächer gestrahlt haben«, bestätigte Koratzo nüchtern. »Hätten wir damals die Zusammenhänge gekannt … Aber wir holten uns ahnungslos den Neffen, und kaum war er in der Barriere, da löste sich die negative Energie von ihm und breitete sich über ganz Oth aus.« »Das war der Schwarzschock«, vermutete Atlan. Koratzo nickte. »Und dann kam es zu Kämpfen?« »Die meisten Magier reagierten plötzlich negativ«, sagte der Magier. Er litt offensichtlich beim bloßen Gedanken an diese Zeit. »Nur wenige blieben normal.« »Copasallior, du, Parlzassel, Glyndiszorn und – Islar!« Koratzo wandte sich ab. »Wir kämpften um die ORSAPAYA«, flüsterte er. »Es war furchtbar. Hätten die Negativen gesiegt, so wäre zumindest die Barriere von Oth restlos zerstört worden, wahrscheinlich hätte ganz Pthor dem Ende nahe gestanden.« »Und dann kam Islar …« Der Magier fuhr herum. »Islar?« fragte er. »Wie kommst du darauf? Sie ist noch ein halbes Kind. Wir haben sie nicht einmal beim Kampf um das Luftschiff hinzugezogen.« Atlan nickte nachdenklich. Er erinnerte
Die Träumer von Oth sich sehr genau an die wenigen Worte, die Koratzo am Abend zuvor noch hatte sagen können. Aber gleichzeitig sah er es in Koratzos Augen aufblitzen, und er wußte, daß der Magier seine Gedanken verfolgt hatte. »Du kannst mir das Denken nicht verbieten«, sagte der Arkonide langsam. »Abgesehen davon – früher hast du nicht ohne jeden Anlaß und ohne Skrupel in anderer Leute Gehirn herumgeschnüffelt!« Koratzo sah ihn lange an, und Atlan hielt diesen Blicken stand. »Du solltest die Barriere verlassen«, sagte der Magier schließlich. Es klang beinahe feindselig. »Du paßt nicht in diese Welt.« »Meinst du? Ich denke, es ist genau umgekehrt. Das, was ihr Magier in der Barriere treibt, wird zu einer Gefahr für ganz Pthor – und du weißt das! Du unterliegst einem Zwang, gegen den du nicht ankommst, aber tief drinnen erkennst du genau, daß dies alles absolut falsch ist!« Sekundenlang war Koratzo wie erstarrt. »Wie kommst du darauf?« fragte er endlich. Atlan hatte den Stimmenmagier nie zuvor so verunsichert gesehen. »Du wußtest, daß ich komme«, erklärte er gelassen. »Mit Opkuls Hilfe konntest du jeden meiner Schritte verfolgen. Du hättest dich auf dieses Treffen vorbereiten können, und du hast es auch getan, wenn auch in einer Weise, die ich nicht gleich erkannte. Vielleicht hast du wirklich an deiner seltsamen Sprache gearbeitet, aber das spielt keine Rolle. Du hast dich selbst bis an den Rand der totalen Erschöpfung getrieben, denn du wußtest, daß du dann freier reden würdest. Leider bist du zu weit gegangen.« Der Magier schwieg. Aber er war noch bleicher geworden, und die Tatsache, daß er den Blicken des Arkoniden auswich, sagte genug aus. »Vorhin war ich bereit, zu glauben, daß alles auf ein unglücklich verlaufenes Experiment zurückzuführen wäre«, fuhr Atlan erbarmungslos fort. »Auf ein Experiment, daß du ausgeführt hast. Aber das stimmt nicht. Du hast vermutlich indirekt etwas mit der
25 ganzen Sache zu tun, aber mehr nicht. Es hängt mit Islar zusammen, nicht wahr? Was hat das Mädchen angestellt?« Koratzo antwortete nicht. Nachdem Atlan mehr als eine Minute gewartet hatte, wandte er sich schweigend ab und ging hinaus.
* Es hielt ihn nicht länger in der Tronx-Kette. Schon Minuten später war er auf dem Weg zum Crallion. Noch immer hegte er die Hoffnung, daß Copasallior und andere, weiter westwärts wohnende Magier unbeeinflußt geblieben wären. Er wußte, daß er sich unvernünftig benahm, denn er kam ohne die Hilfe der Magier auf jeden Fall langsamer voran, aber er ertrug es einfach nicht länger, lauter verklärte Gesichter um sich herum zu sehen. Eines hatten alle magischen Straßen miteinander gemein: Sie spiegelten die Fähigkeiten derer wider, die sie erschaffen hatten. Und da – vor dem Krieg der Magier am Skatha-Hir – keiner dem anderen grün war, stellten die Straßen überaus individuelle Gebilde dar. Die Tronx-Kette bildete auch hier eine Ausnahme. Aber in den übrigen Teilen der Barriere waren auch die Magier um Koratzo auf das Universal-Verkehrsmittel von Pthor angewiesen: Auf die ebenso schnellen wie zähen und genügsamen Yassels. Das waren weiße, pferdeähnliche Tiere, auf deren Stirn ein kurzer Hornansatz saß. Als Atlan sie zum erstenmal sah, dachte er unwillkürlich an die Einhörner der terranischen Märchenwelt. Inzwischen waren ihm diese Tiere soweit vertraut, daß ihr Anblick ihn nicht mehr zu Spekulationen reizte. In der Barriere von Oth lebten die Yassels halb wild. Sie taten, was immer ihnen einfiel, und sie besaßen eine Art von Narrenfreiheit. Darüber hinaus waren sie weitgehend tabu, was magische Beeinflussung anging. Der Preis, den die Yassels für ihr freies, ungebundenes und dennoch behütetes Dasein zu zahlen hatten, war relativ gering. Nur selten kam ein Magier, der auf ihnen zu
26 reiten wünschte. Irgendwann im Lauf der ungezählten Jahre waren die Yassels zu dem Schluß gekommen, daß es besser sei, ab und zu einen Reiter freiwillig zu transportieren, als sich ein Leben lang in ein Gatter sperren zu lassen. Atlan entdeckte schon bald einige dieser Tiere auf einer Weide nahe dem Pfad, der gemeinhin als Straße bezeichnet wurde. Langsam ging er auf die weißen »Einhörner« zu und redete dabei beruhigend auf sie ein. Der Erfolg war verblüffend. Die ganze Herde machte – sofern sie in der falschen Richtung stand – auf den Hinterhufen kehrt und rannte auf ihn zu. Einigermaßen erschüttert beobachtete er die Yassels. Sie gebärdeten sich, als hätten sie alle miteinander den Verstand verloren. Sie wirkten nicht mehr zahm, sondern geradezu aufdringlich. Einige legten sich nieder und rollten auf ihn zu, boten ihm ihre Rücken dar und flehten ihn mit langen Blicken aus ihren wimperverhangenen, tiefschwarzen Augen geradezu an, aufzusteigen und mit ihnen davon zu galoppieren. Abseits dieser Menge erblickte Atlan ein einzelnes, schneeweißes Tier, das mit stolz erhobenem Kopf dastand und das Treiben seiner Artgenossen als das zu empfinden, als was auch Atlan es einstufte: nämlich als geradezu entwürdigend. Der Außenseiter konnte nicht umhin, einige neugierige Blicke auf den Fremdling zu werfen, aber er widerstand jeder Versuchung. Und wieder handelte der Arkonide denkbar unvernünftig. Er konnte unter zwanzig Tieren wählen, und jedes davon war bereit, ihn bis zur totalen Erschöpfung im fliegenden Galopp durch die Barriere zu tragen – aber er mißachtete ihren Diensteifer. »Schert euch weg!« befahl er schroff. »Verschwindet! Ich will nichts von euch.« Ob die Tiere ihn tatsächlich verstanden, mag dahingestellt bleiben. Sie deuteten jedenfalls seine Worte, die Art, wie er mit den Armen wedelte, den Klang seiner Stimme und allerlei andere Hinweise richtig und zo-
Marianne Sydow gen sich redlich betrübt zurück. Der Außenseiter blieb stehen. Atlan ging langsam auf ihn zu. »Komm, mein Freund«, sagte er schmeichelnd. »Laß es uns versuchen. Wir werden sicher gut miteinander zurechtkommen, meinst du nicht auch?« Das Yassel drehte den Kopf und schnaubte durch die Nüstern. »Ruhig!« mahnte Atlan sanft. »Du bist ein kluger Bursche. Wir werden gute Freunde werden.« Er legte eine Hand auf den Rücken des Yassels, dann zwei, dann zog er sich hoch – und flog im hohen Bogen durch die Luft. Er landete unsanft im Gras. Von unten her sah er das Tier an. Es war ein prächtiger junger Hengst. Sein Fell spannte sich glatt und glänzend über den straffen Muskeln, und seine Beine waren schlank und edel, aber doch kräftig genug, um mit den steinigen Pfaden dieses Gebirges fertig zu werden. »Na schön, mein Freund«, murmelte Atlan und stemmte sich hoch. »Wir werden sehen, wer von uns den längeren Atem hat.« Er wußte, daß das Yassel sich problemlos reiten lassen würde, sobald es ihn als seinen Reiter akzeptierte. Es stand jetzt ganz still und betrachtete den Arkoniden mit funkelnden Augen. Es rührte sich nicht vom Fleck, als Atlan sich ihm näherte. Der Arkonide schnellte sich hoch, landete auf dem Rücken des Yassels und krallte sich mit beiden Händen in der Mähne fest. Das Yassel hüpfte mit allen vieren gleichzeitig in die Luft. Während es steifbeinig kreuz und quer durch das Tal sprang und bockte, um Atlan loszuwerden, sah dieser aus den Augenwinkeln heraus die anderen Yassels hinter den Büschen stehen. Vermutlich platzten sie fast vor Schadenfreude. Dieser Gedanke erfüllte den Arkoniden mit grimmiger Entschlossenheit und half ihm, den Kampf mit dem Yassel durchzustehen. Allerdings benahm sich das Tier auch bei weitem nicht so wild, wie ein terranischer Mustang es in der gleichen Situation getan
Die Träumer von Oth
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hätte. Von einer Sekunde zur anderen gab das Yassel seinen Widerstand auf. Atlan hatte den Eindruck, daß es sich für das Tier nur um ein Spiel gehandelt hatte. Er blieb auf dem Tier sitzen und dachte nach. Das Yassel trug natürlich keinen Halfter, und er besaß nichts, woraus sich ein solches Hilfsmittel hätte herstellen lassen. Er hatte gesehen, wie viele Magier die Tiere lenkten: Sie legten ihnen einfach die Hand an den Hals. Er probierte es aus und stellte fest, daß sein Yassel diese Methode akzeptierte: Es benahm sich jetzt so willig und geschickt, als wäre es schon seit Jahren an den Arkoniden gewöhnt. Atlan beschloß, dieses Yassel für die Dauer seines Aufenthalts in der Barriere bei sich zu behalten. »Ich werde dir einen terranischen Namen geben«, sagte er zu dem Tier. »Von jetzt an heißt du Stewball. Und jetzt vorwärts, mein Freund! Wir haben noch einen langen Weg vor uns.« Ein paar Stunden später suchten sie sich ein kleines, stilles Tal, um ein paar Stunden auszuruhen. Atlan ließ Stewball unbesorgt frei herumlaufen. Während er ein paar Früchte aß, suchte das Yassel nach Kräutern. Als Atlan sich nach einiger Zeit ins Gras legte und zu dem seltsam schimmernden Himmel über Oth hinaufblickte, kam Stewball zu ihm und legte sich, als sei das ganz selbstverständlich, neben dem Arkoniden zum Schlafen nieder. Als Atlan am nächsten Morgen erwachte, blickte er in die Gesichter von sechs Magiern.
* Er richtete sich ächzend auf. Als er sich in der Nacht an diesem Ort zur Ruhe begeben hatte, war ihm der mit dichtem Gras bedeckte Boden weich und warm erschienen. Jetzt war Atlan steif und durchgefroren, und er spürte die Druckstellen von mindestens einem halben Dutzend kantigen Steinen, die sich heimtückisch vom Gras hatten über-
wachsen lassen. Stewball war bereits wach und auf den Beinen. Bezeichnenderweise hatte er sich von den Magiern abgewandt und weidete in der Nähe des Baches. »Was wollt ihr von mir?« fragte Atlan schroff. Die Magier erschraken. Sie blickten ihn an wie waidwunde Rehe, verwundert, erstaunt, ja, fassungslos angesichts der Grausamkeit dieser Welt. Er hatte eine ganze Reihe von Magiern kennengelernt, nicht nur Koratzo und Copasallior, die Ausnahmeerscheinungen waren, und oft genug hatte er sich über die Arroganz dieser Leute aufgeregt. Jetzt trat das genaue Gegenteil ein. Er empfand angesichts dieser verletzten Blicke nichts als gesunde Wut. »Schert euch weg!« schrie er die Magier an – und entsann sich, daß er dieselben Worte gegenüber den allzu dienstbeflissenen Yassels gebraucht hatte. Die Magier schwanden dahin wie Tau an der Sonne. Es war, als hätten sie sich in nichts aufgelöst. Verblüfft sah der Arkonide sich um. »Ich habe geträumt«, murmelte er ratlos. »He, Stewball, waren hier eben noch Magier, oder sehe ich schon Gespenster?« Das Yassel drehte den Kopf und schnaubte leise, was alles mögliche heißen konnte. Sie waren da, meldete der Logiksektor, und die Tatsache, daß dieser Extrasinn sich zu einer vergleichsweise banalen Frage äußerte, brachte Atlan für Sekunden aus dem Gleichgewicht. Er beschloß, die momentane Verwirrung, die in seinen Gedanken herrschte, schleunigst zu beseitigen. Er kannte ein hervorragendes Mittel gegen solche Beschwerden, und diese Wundermedizin floß in Gestalt eines klaren, kalten Gebirgsbachs in bequemer Reichweite an ihm vorbei. Er ging zum Bach, und wenig später fühlte er sich frisch genug, um es mit allen Arten von Traumgespenstern aufzunehmen. Stewball war unterdessen beim Dessert angelangt und zupfte gelangweilt ausgewählte Blätter
28 von den Zweigen eines goldblättriges Gesträuchs. »Du hast es gut«, murmelte Atlan. »Wenn ich jetzt auch ein vernünftiges Frühstück vorgesetzt bekäme …« »Nimm und iß!« Er sah verblüfft auf. Antharia stand vor ihm und hielt ihm ein paar Früchte hin, die reichlich mitgenommen aussahen. »Ich dachte, ich hätte euch verjagt«, bekannte der Arkonide verdutzt. Antharias Augen glühten geheimnisvoll. »Du bist der König von Pthor«, sagte sie leise. »Du befiehlst, und wir gehorchen!« Das wird ja immer schöner, dachte er. Die Magier als Befehlsempfänger! Was ist nur aus diesen Leuten geworden? Aber gleichzeitig war er sich der Tatsache bewußt, daß die Bereitschaft der Magier, ihm Gehorsam zu leisten, nur bis an jenen Punkt reichen konnte, an dem sie die Gesetze des »allesumfassenden Friedens« überschritten. »Gut«, sagte er. »Setz dich zu mir und erzähle mir, was sich alles ereignet hat, seit ich das letztemal in der Barriere war.« Er ahnte, daß er der Magierin mit dieser Bitte keine leichte Aufgabe stellte, denn zweifellos hatte Koratzo seine Leute eindringlich vor den Fragen des Arkoniden gewarnt. Er nahm die Blätter und die Früchte entgegen und begann zu essen, während Antharia zögernd zu berichten begann. Sie war vorsichtig genug, von Dingen zu sprechen, die schon ziemlich weit zurücklagen – zum Beispiel von der mißglückten Expedition nach Cyrsic. »Ihr wolltet die Große Plejade holen?« fragte er verblüfft. »Aber das hieße doch, daß ihr die Möglichkeit hattet, nach Cyrsic zu reisen! Womit, Antharia?« Die Magierin zuckte plötzlich zusammen und schwieg. Atlan dachte sich sein Teil. Mit Sicherheit steckte Koratzo dahinter. Der Stimmenmagier mochte das Gespräch aus sicherer Entfernung verfolgt haben, und als er feststellte,
Marianne Sydow daß Antharia drauf und dran war, Geheimnisse auszuplaudern, da hatte er sie zurückgepfiffen. Zum erstenmal erfaßte Atlan in allen Konsequenzen, welche Gefahr von den Magiern ausging, wenn diese beschlossen, ihre Fähigkeiten als Waffen zu gebrauchen. Zum Glück waren die Bewohner von Oth – beziehungsweise die der Tronx-Kette – zur Zeit keineswegs kriegerisch gestimmt, und Atlan hoffte inständig, daß es dabei bleiben möge. Aus Antharia war nichts mehr herauszubekommen, und so erhob er sich und ging zu Stewball. Aber schon nach wenigen Schritten stutzte er. Das Yassel stand merkwürdig still da, und es hielt den Kopf auf eine Weise hoch, die dem Arkoniden unnatürlich vorkam. Fast sah es aus, als wären unsichtbare Hände da, die das Tier in diese Stellung zwangen. Die Magier! Er rannte mit wenigen Schritten zu dem Yassel hin und bekam tatsächlich einen Körper zu fassen, der schmal und biegsam war. Eine Magierin wurde sichtbar. Sie war groß und knabenhaft schlank, und ihre graugrünen Augen blickten so entsetzt, daß der Arkonide unwillkürlich zurückzuckte und seine Gefangene freigab. »Was tust du hier?« fuhr er sie an. »Ich wollte dir nur helfen«, versicherte sie. »Das Yassel hat von den Goldbuschblättern gefressen, und davon werden diese Tiere übermütig und unachtsam. Es hätte dich verletzen können.« »Wie heißt du?« »Torla.« »Paß auf, Torla«, sagte Atlan grimmig. »Ich weiß, daß du es gut gemeint hast, aber was du getan hast, gefällt mir trotzdem nicht. Es hätte gereicht, mir das mit den Blättern zu sagen. Ich hätte mich dann schon vorgesehen.« Torla sah tief bekümmert zu Boden. »Ich will nicht, daß unsichtbare Magier um mich herumwimmeln und mir ihre Hilfe aufdrängen«, fuhr der Arkonide ärgerlich fort, und unwillkürlich sprach er lauter, als nötig gewesen wäre. »Ich komme auch ohne
Die Träumer von Oth euch zurecht. Vor allem aber: Laßt die Finger von diesem Yassel!« »Warum machst du es uns so schwer?« fragte Torla kläglich. »Erlaube uns doch, dir zu helfen. Du wirst bestimmt zufrieden mit uns sein!« »Was habt ihr davon, mir nachzulaufen?« »Wir wollen dir doch nur dienen!« rief Torla verzweifelt. »Ihr seid aber keine Diener!« sagte Atlan eisig. »Ihr seid freie Magier. Warum, zum Teufel, benehmt ihr euch nicht so, wie es sich für euch gehört?« Torla starrte ihn an, und plötzlich brach sie in Tränen aus, drehte sich um – und war verschwunden. Atlan hörte noch ihr Schluchzen, das sich schnell von ihm entfernte, aber er sah nicht einmal die Fußspuren der unsichtbar gewordenen Magierin im Gras erscheinen. Kopfschüttelnd wandte er sich dem Yassel zu. Stewball wirkte tatsächlich etwas nervös, aber Atlan vermutete, daß dies eher auf die Einmischung der Magier als auf den Genuß der goldfarbenen Blätter zurückzuführen war. Du benimmst dich kindisch! meldete sich der Extrasinn plötzlich zu Wort. »Halte du dich da heraus!« knurrte Atlan schlechtgelaunt. Die Magier haben wirklich nichts Böses im Sinn, fuhr der Extrasinn ungerührt fort. Du solltest ihnen den Spaß lassen. Dann hast du sie auch gleich unter Kontrolle. »Ich will es aber nicht!« schrie Atlan wütend. Das ist keine logische Begründung! Und damit hatte der Extrasinn natürlich recht. Atlan hatte selbst keine Erklärung dafür, warum sich alles in ihm dagegen sträubte, die Dienste dieser viel zu friedlichen Magier in Anspruch zu nehmen. Er fühlte sich abgestoßen, wenn er nur diese unterwürfigen Blicke sah. Er schwang sich auf das Yassel. Nur heraus aus der Tronx-Kette, dachte er, dann sieht wahrscheinlich alles ganz anders aus. Er war so mit diesem Gedanken
29 beschäftigt, daß er die Veränderung, die mit dem Tier vorging, beinahe zu spät bemerkte. Stewball spannte plötzlich die Muskeln, und dann schoß er aus dem Stand vorwärts und raste mit irrsinniger Geschwindigkeit davon. Der Arkonide konnte sich gerade noch in der dichten Mähne verkrallen, und irgendwie brachte er es fertig, sich auf dem Rücken des Tieres zu halten, aber mehr als einmal glaubte er, daß der nächste Sprung das Ende bringen müsse. Der einzige Vorteil – auf den Atlan gerne verzichtet hätte, wäre es ihm dafür gelungen, das Yassel anzuhalten – bestand darin, daß der rasende Ritt genau in die richtige Richtung führte. Stewball flog förmlich über den steinigen Pfad, der nach Westen führte. Irgendwann, als bereits der ganze Körper des Yassels mit flockigem Schweiß bedeckt war, tauchte vor ihnen eine Brücke auf. Sie war lang und schmal und spannte sich über eine Schlucht, in der schwarze Nebel wallten. Stewball raste auf die Brücke hinaus und mit donnernden Hufen über die glatten Steinplatten hinweg. Atlan klammerte sich fest und schloß ab und zu die Augen, denn er rechnete fest damit, daß sie schon bald in den schwarzen Abgrund stürzen würden. Der Nebel benahm sich, als wäre er lebendig. Er kroch über die Ränder der Brücke, die weder ein Geländer noch eine Brüstung besaß, aber sobald er in die Nähe des Yassels kam, war es, als würde er von unsichtbaren Händen zurückgedrängt. Diese Brücke war ein Alptraum, und sie schien kein Ende zu nehmen. Atlan lauschte angstvoll dem lauten Stöhnen und Keuchen Stewballs. Er war überzeugt davon, daß das Tier längst von selbst stehengeblieben wäre, hätte es sich frei entscheiden können. Kein lebendes Wesen, das seine Sinne beisammen hat, geht bis an die Grenzen seiner körperlichen Kräfte und bringt sich freiwillig in Lebensgefahr. Wenn Stewball diesen rasenden Lauf durchhielt, bis sie das Ende der Brücke erreichten, würde er total erschöpft zusammenbrechen, ja, Atlan machte sich sogar darauf gefaßt, daß das Tier schon in der
30 nächsten Sekunde stürzte. Es wurde beeinflußt, und wer dahintersteckte, war für den Arkoniden kein Rätsel mehr. Stewball kam aus dem Tritt. Er stolperte und geriet mit einem Huf über den Rand der Brücke hinaus. Er wieherte schrill und angstvoll auf, und der Arkonide ließ die Mähne los und ließ sich fallen. Bevor er aufschlug, sah er noch, daß Stewball endgültig das Gleichgewicht verlor und in die Tiefe stürzte. Minutenlang blieb er liegen, halb bewußtlos nach dem schweren Sturz, dann stemmte er sich mühsam hoch. Für ein paar Sekunden flammte der Himmel über der Barriere in goldenem Licht auf, und hinter dünnen Schwaden von schwarzem Nebel sah Atlan das Ende der Brücke vor sich liegen. Er taumelte darauf zu, aber schon nach zwei Schritten war der Nebel um ihn herum so dicht, daß er den Boden unter seinen Füßen nicht mehr zu sehen vermochte. Er fürchtete, die Orientierung zu verlieren und seinem Yassel in die Schlucht zu folgen. So ließ er sich auf die Knie hinab und kroch auf allen vieren vorwärts, bis er Sand und Gras unter seinen Händen fühlte. Erschöpft ließ er sich fallen, während die Nebel sich über die Ränder der Brücke zurückzogen und in die Tiefe zurückkehrten. Diesmal hatten die Magier ihn mit ihrer Hilfsbereitschaft beinahe umgebracht. »Koratzo«, sagte er. »Du verdammter Narr – was hast du dir dabei gedacht?« »Ich wollte es nicht«, antwortete eine lautlose Stimme, die scheinbar mitten in Atlans Kopf entstand. »Du wolltest nur unbedingt aus der Tronx-Kette hinaus, so schnell wie möglich …« »Das wäre kein Grund gewesen, mich umzubringen!« »Es tut mir leid«, antwortete Koratzos Stimme unglücklich. »Wir haben versagt.« »Wir?« »Parlzassel und ich. Ich hätte das Yassel nicht voll beeinflussen können. Der Tiermagier …«
Marianne Sydow »Er ist bei euch in der Tronx-Kette?« »Ja.« Atlan vergaß sogar, wie erschöpft er war. Er richtete sich so hastig auf, daß ihm schwarz vor Augen wurde. Parlzassel – er hatte ihn nicht zu Gesicht bekommen. Nur die Freunde Koratzos waren nacheinander vor der Wohnhalle erschienen. Aber der Tiermagier war einer der Mächtigen in Oth, und für Breckonzorpf galt dasselbe. »Koratzo!« sagte er scharf. »Ist Copasallior bei euch?« »Nein.« »Wo hält er sich auf?« »Er ist am Crallion.« »Ist das die Wahrheit?« »Ja.« Wie weit konnte man einem Magier trauen, der diesen mysteriösen »allesumfassenden Frieden« verehrte? Noch bis vor kaum einem Tag hatte Koratzo zu jenen Wesen gehört, denen Atlan blind vertraute – und das galt nicht für viele. Er war überzeugt davon, daß der Stimmenmagier auch jetzt die Wahrheit sagte. Aber wer wußte, wie die Wahrheit für Koratzo inzwischen aussah? »Du tust mir unrecht«, klagte der Magier. »Es tut mir so leid, daß das Yassel sterben mußte. Sage mir, welche Strafe du für mich bestimmst.« Hätte Koratzo an alte Erinnerungen appelliert und den Arkoniden darauf hingewiesen, daß er ihn noch nie belogen hatte, so wäre Atlan auf der Stelle umgekehrt, um die Tronx-Kette zu durchsuchen. So aber sagte er nur: »Du wirst mich in Ruhe lassen, und du wirst dafür sorgen, daß auch deine Freunde sich daran halten. Keine Einmischung mehr, hast du verstanden? Merke ich trotzdem etwas, dann werde ich dir das Fell über die Ohren ziehen!« »Ich habe verstanden.« »Ich will auch keinen Kontakt mehr. Du sollst nicht in die Versuchung geraten, mir noch einmal helfen zu wollen.«
Die Träumer von Oth
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»Ich gehorche«, versicherte Koratzos Stimme traurig – und dann spürte Atlan eine seltsame Leere in sich. Der Stimmenmagier hatte dem Befehl Folge geleistet und sich zurückgezogen. »Das wäre überstanden«, sagte Atlan zu sich selbst. Er richtete sich vorsichtig auf. Wieder drang helles Licht aus dem Großen Knoten und zeigte ihm, welches Hindernis er überwunden hatte. Er sah die Brücke, die sich über der tiefschwarzen Schlucht spannte, mindestens fünf Kilometer lang, ein dünnes, im silbrigen Licht glänzendes, steinernes Band. Eine solche Brücke konnte nicht existieren. Das sagte ihm die Logik. Sie mußte zusammenbrechen, ehe sie noch vollendet wurde. Und doch verband sie die Tronx-Kette mit den tieferen Regionen des Karsion, und das war vermutlich schon seit Jahrtausenden so. Schaudernd wandte Atlan sich ab. Er sah zum Karsion hinauf, dem düsteren, wolkenumhangenen Sitz des Wettermagiers. Er würde den Berg umgehen müssen. Seufzend begab er sich auf die Suche nach einem anderen Yassel.
* Unweit der Schlucht entdeckte er eine kleine Yasselherde, deren Mitglieder samt und sonders von einem unnatürlich starken Bedürfnis erfüllt waren, ihm zu dienen. Es war kein Außenseiter wie Stewball dabei, und so mußte er schließlich mit einem der aufdringlichen Tiere vorlieb nehmen. Die anderen waren sichtlich enttäuscht. Ein paar Minuten lang folgten sie dem Arkoniden. Atlan fürchtete schon, sie würden ihn bis zum Crallion nicht mehr aus den Augen lassen, aber schließlich blieben sie doch zurück. Er ritt durch eine Landschaft, die von einer fremden, seltsamen Schönheit war. Es war ein wildes Land, voll von Gefahren, aber diese bestanden in den Wegverhältnissen, in den Abgründen, die sich unvermittelt hinter einer Wegbiegung auftaten, dem
lockeren Geröll, das unter den Hufen des Yassels in Bewegung geriet, und in den Temperaturwechseln, die immer dann eintraten, wenn der Pfad den Einflußbereich eines anderen Magiers berührte. Tropische Hitze wechselte mit arktischer Kälte. In der Großen Barriere von Oth schienen die Naturgesetze nur dazu da zu sein, daß man sie ignorierte. Er sah Bauwerke, die scheinbar schwerelos an senkrecht abfallenden Felswänden klebten, und Paläste, die aus gefrorenem Licht zu bestehen schienen. Jenseits des Karsion tat sich abermals eine gigantische Schlucht auf, und wieder gab es eine Brücke. Sie sah noch gefährlicher aus als die, die Atlan bereits hinter sich gebracht hatte. Sie bestand aus haarfeinen kristallinen Fäden, die ineinander verwoben waren. Wie ein schimmerndes Band, das beim leisesten Windhauch zerreißen mußte, spannte sie sich über einen Abgrund, der unermeßlich tief zu sein schien. Atlan, der von dem Yassel gestiegen war, warf einen Stein hinab, aber er wartete vergebens auf das Geräusch des Aufpralls. Er empfand einen starken Widerwillen gegen diese »Brücke«. Das Band war kaum drei Meter breit, und es war durch absolut nichts gesichert. Atlan hielt sich für durchaus schwindelfrei. Hätte dieses Band aus massivem Gestein bestanden, oder auch nur aus Holz, so wäre er ohne Zögern über die Schlucht hinweggegangen. Dem kristallinen Gespinst dagegen konnte er kein Vertrauen entgegenbringen. Irgendwie erwartete er, daß Koratzo sich meldete und ihm sagte, was es mit dieser Brücke auf sich hatte. Aber der Stimmenmagier versteifte sich wohl ausgerechnet in diesem Augenblick darauf, sich strikt an den letzten Befehl des Arkoniden zu halten. Atlan sah schließlich keinen anderen Ausweg, als ein Stück am Karsion hinaufzuklettern, um den Verlauf der Schlucht besser beurteilen zu können. Zum Glück waren die Hänge auf der Westseite des Wetterbergs nicht gänzlich unbezwingbarer. Nach etlichen Minuten angestrengten Kletterns stieß Atlan
32 sogar auf einen schmalen Pfad, der zwischen gigantischen Felsblöcken verlief. Die Felsen waren rötlichgrau mit schwarzer Maserung, und Wind und Wetter hatten sie zu absonderlichen Figuren geschliffen. Nachdem er sich durch diesen Felsenbereich hindurchgearbeitet hatte, fand er eine Stelle, von der aus er die Schlucht viele Kilometer weit überblicken konnte. Von oben sah es aus, als hätte ein Riese ein Messer in die Barriere gestoßen und es in engen Schlangenlinien quer durch die Berge gezogen. Der Spalt war an allen Stellen gleich breit. Es gab keine natürlichen Übergänge, und so weit Atlan sehen konnte, war die Schlucht auch überall gleich tief. An einer Stelle hatte das imaginäre Messer sogar einen Kringel beschrieben – mitten in der Schlucht gab es eine kreisrunde Insel, deren Ufer aus senkrecht in die Schwärze abfallenden Felswänden bestanden. Der einzige Weg, der über die Schlucht führte, war das kristalline Band. Im Norden, an der Grenze der Barriere von Oth, mußte dieser Abgrund enden. Aber dorthin zu reiten, hätten den Arkoniden eineinhalb Tage gekostet, und es war nicht einmal sicher, daß auf der richtigen Seite des Großen Knotens ein Weg existierte, der um das Ende der Schlucht herumführte. Er kletterte wieder nach unten, schritt zögernd auf die Brücke hinaus und stellte fest, daß sie wider Erwarten fest und sicher war. Sie schwankte auch nicht unter seinem Gewicht. Er kehrte um und machte dem Yassel mit einiger Mühe klar, daß er seine Hilfe nicht mehr benötigte. Das Tier war damit gar nicht einverstanden. »Ich kann dich nicht mitnehmen«, sagte Atlan schließlich grob. »Diese Brücke ist zu schmal. Und es wird auch auf der anderen Seite genug Yassels geben, die mich mit Vergnügen durch die Gegend tragen werden. Gönne doch deinen Artgenossen auch etwas – das wäre positiv, wie Koratzo es sicher ausdrücken würde.« Das Yassel warf dem Arkoniden
Marianne Sydow schmachtende Blicke zu, aber er wandte sich strikt ab und trat auf das kristallene Band. Als er sich nach einigen Metern umblickte, sah er, daß das Yassel ihm zu folgen versuchte. Es tastete vorsichtig mit dem rechten Vorderhuf über die Kristallfäden, die am Rand der Schlucht unvermittelt aus den Felsen hervorwuchsen, scheute aber immer wieder zurück. Nach einiger Zeit siegte die Furcht vor der seltsamen Brücke über die Sehnsucht nach einem Wesen, dem das Yassel dienen konnte. Das Tier warf sich herum und verschwand zwischen den Felsblöcken. Atlan brauchte eine volle Stunde, um die Schlucht zu überqueren. Ab und zu warf er einen Blick über die Ränder des Kristallbands. Tief unter ihm ragten ab und zu spitze Felsen auf, aber der Grund der Schlucht blieb seinen Blicken verborgen, denn es schien, als dringe kein Lichtstrahl bis dorthin vor. Ab und zu hörte er das Rauschen gigantischer Wasserfälle, und einmal vernahm er einen dumpfen, langgezogenen Schrei. Als er endlich wieder festen Boden erreichte, war er hungrig und durstig. Das Kristallband endete auf einem breiten Sims. Rechts und links ragten die Felsen senkrecht auf, aber geradeaus zeichnete sich zwischen großen Steinen, die mit seltsamen Zeichen versehen waren, ein schmaler Pfad ab. Atlan folgte diesem Weg und gelangte in ein kleines Tal, in dem es eine Quelle gab. Der Boden war mit weichem Gras bewachsen, und zwischen fruchttragenden Sträuchern, die man offenbar überall in der Barriere antraf, weidete ein einsames Yassel. Das war beinahe zu viel an glücklichen Zufällen, und so näherte er sich der Quelle mit großer Vorsicht. Als er es neben dem Wasser metallisch blinken sah, war er schon beinahe sicher, daß er sich einer Falle näherte. Das Blinken kam von einem Messer, dessen Spitze abgebrochen war. Atlan hob das Messer auf und behielt es in der Hand, während er lautlos weiterschlich. Er erreichte den ersten Strauch und entdeckte die Feuerstelle. Sie war schon mindestens eine Woche
Die Träumer von Oth alt, denn die Asche war fast verweht. Zwischen rußgeschwärzten Steinen steckten noch die gegabelten Äste, auf denen der Spieß gehangen hatte. Das hieß, daß diese Feuerstelle angelegt worden war, bevor der »allesumfassende Frieden« die Barriere erfaßt hatte. Atlan untersuchte die Umgebung der Lagerstätte und fand ein paar Knochen, die im Gras liegen geblieben waren. Es waren starke Knochen, und doch waren sie aufgebrochen worden. Atlan entdeckte die Kerben, die neben den Bruchstellen saßen, und plötzlich glaubte er zu wissen, wer hier die Reste seiner Mahlzeit zurückgelassen hatte. Lebo Axton hatte ihm berichtet, daß Kolphyr und Koy mit dem Fenriswolf in der Barriere geblieben waren. Fenrir mochte solche großen Knochen sehr, er knackte sie, als handelte es sich um Nüsse mit dünnen Schalen, und leckte das Mark heraus. Die kleine, sehr ordentlich angelegte Feuerstelle konnte gut von Koy stammen, und der Abstand zwischen den gegabelten Stangen war auffallend gering. Auf dem Spieß konnte nur ein relativ kleines Stück Fleisch gesteckt haben, eines, daß gerade für eine Person ausreichte. Da der Bera überhaupt keine Nahrung zu sich nahm, war es sehr leicht möglich, daß die drei Freunde hier Rast gemacht hatten. Atlan ärgerte sich darüber, daß er vergessen hatte, Koratzo nach dem Dimensionsforscher, dem Trommler und dem Wolf zu fragen. Vielleicht waren sie alle drei noch in der Nähe. Ob auch sie sich verändert hatten? Vergeblich suchte der Arkonide nach Hinweisen darauf, in welcher Richtung die drei Freunde weitergezogen waren. Er gab die Suche schließlich auf und löschte endlich seinen Durst. Ein kurzer Versuch zeigte, daß das Yassel zur dienstbesessenen Sorte gehörte – es würde ihm nicht weglaufen. So nahm Atlan sich Zeit, von den Früchten zu essen und sich ein wenig auszuruhen. Eigentlich hätte es inzwischen dunkel sein müssen. Aber aus Gründen, die dem Arkoniden unbekannt waren, glühte der Große Knoten so stark, daß die Nacht zum Tag
33 wurde. Rötliches Licht ergoß sich über die Barriere. Die Spitzen der Berge sahen aus, als hätte jemand sie mit Blut übergossen. Da das Licht aus allen Himmelsrichtungen zugleich kam, war es schwer, die zahlreichen Unebenheiten des Weges zu erkennen. Atlan ließ das Yassel langsam gehen und hoffte, daß das Tier genug Verstand besaß, um allen Hindernissen auszuweichen, auch wenn es keinen direkten Befehl dazu bekam. Der Pfad wurde schon nach einer kurzen Strecke breiter, und als sie die verzierten Felsen hinter sich gelassen hatten, gelangten sie auf eine regelrechte Straße, deren Boden glatt und eben war. Die Straße führte durch eine Kette von verschieden großen Tälern, in denen allerlei seltsame Behausungen standen. Atlan nahm an, daß er sich in den sogenannten Dunklen Tälern befand, deren ausnahmslos negative Bewohner am Skatha-Hir in die Verbannung gegangen waren. Er fand neben der Straße noch mehrere Feuerstellen, die alle nach demselben Muster angelegt waren. Mittlerweile war er völlig davon überzeugt, daß es sich tatsächlich um Spuren handelte, die Kolphyr und seine Begleiter hinterlassen hatten. Als er eine Feuerstelle fast vor der Tür zu einem abstrakt geformten Gebäude fand, stieg er vom Rücken seines Yassels und untersuchte den Eingang. Die Tür ließ sich leicht öffnen. Das Innere des Gebäudes bestand aus einem einzigen, sehr großen Raum, der von einem Gewirr von freitragenden Treppen und Plattformen erfüllt war. Überall standen Figuren, Gefäße und Apparate, die fremdartig und verdreht aussahen. Es gab erstaunlicherweise fast keinen Staub in dieser riesigen Halle. Trotzdem glaubte Atlan, auch hier drinnen Spuren finden zu können, die von dem Bera oder von Koy stammten. Er entdeckte auch wirklich einige Stellen, an denen offensichtlich Gegenstände gestanden hatten, die entfernt worden waren. Aber der endgültige Beweis dafür, daß Kolphyr sich in dieser Halle aufgehalten hatte, präsentierte sich ihm, als er eine schmale Tür öffnete, hinter der eine winzige Kammer lag. Und in dieser
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Kammer hing noch ein Geruch, der in Pthor einzigartig war: Es duftete nach Zimt. Aus alledem zog Atlan den Schluß, daß Kolphyr und der Trommler hier eingedrungen waren, um verschiedene Gegenstände an sich zu bringen. Der ehemalige Besitzer des Bauwerks konnte dagegen ohnehin nichts mehr einzuwenden haben, aber wie stand es mit den anderen Magiern? Gegen ihren Willen hätten die beiden keinen Fuß in die Dunklen Täler setzen können. Welchem Zweck diente dieses Unternehmen? Atlan zerbrach sich den Kopf darüber, während er weiterritt, aber er fand keine Erklärung, die ihn hätte zufriedenstellen können. Über diesen Aktivitäten vergingen die Nacht und der nächste Tag. Atlan legte ab und zu eine Rast ein und sorgte dafür, daß das Yassel ausreichend Futter zu sich nahm – das Tier war so ängstlich darauf bedacht, den Arkoniden ja nicht aus den Augen zu lassen, daß es sich kaum Zeit zum Weiden nahm. Am Abend erreichten sie die Grenze der Dunklen Täler und damit auch das Ende der breiten Straße. Vor ihnen stieg das Land steil an. Weit oben leuchtete der Gipfel des Gnorden.
6. Die ganze Zeit hindurch hatte Atlan keinen einzigen Magier zu Gesicht bekommen. So wußte er immer noch nicht, ob nur die Bewohner der Tronx-Kette und der benachbarten Reviere von der Sucht nach dem »allesumfassenden Frieden« erfaßt worden waren, oder ob am Ende die ganze Barriere von dieser Krankheit befallen war. Denn um eine Krankheit handelte es sich nach Atlans Meinung auf jeden Fall, egal, was der auslösende Faktor sein mochte. Was Koratzo und die anderen jetzt trieben, das hatte nichts mehr mit ihren früheren positiven Zielen zu tun. Die Basis dieser positiven Magie war die Toleranz gewesen, und gerade sie hatten
die Magier um Koratzo mittlerweile völlig vergessen. Je näher er dem Gnorden kam, desto unruhiger wurde er. Was sollte er tun, wenn auch Glyndiszorn von diesem Wahn erfaßt war? Und wenn die ganze Barriere nun von träumenden Magiern bewohnt war? Mit jedem Tag, der verging, stieg die Gefahr, daß Duuhl Larx die Geduld verlor und seinen Ärger über die eintretenden Verzögerungen an seinen Gefangenen ausließ. Es hätte eine einfache Lösung gegeben, an die Atlan jedoch nicht einmal denken mochte: Er konnte die Magier bitten, den Großen Knoten aufzulösen. Sie würden es mit Freuden tun. Und dann würden die Trugen hereinströmen und den Tod in die Täler von Oth tragen. Derart friedenssüchtige Leute, wie die Magier es im Moment waren, würden auf Duuhl Larx wirken wie das berühmte rote Tuch auf den Stier. Egal was geschah, die Magier mußten sich weiterhin abschirmen. Solange man draußen nicht wußte, wie es um sie stand, würde man sich weiterhin vor ihnen fürchten. Er mußte, wenn gar keine andere Möglichkeit mehr blieb, die Magier dazu überreden, daß sie ihn nach draußen ließen und den Tunnel hinter ihm abbrachen, und er mußte ihnen auch noch klarmachen, daß sie niemanden außer ihn selbst in die Barriere holen durften. Aber wie sollte man das diesen närrischen Leuten begreiflich machen? Noch ist nicht erwiesen, daß sie alle sich verändert haben, bemerkte der Extrasinn. Der Arkonide erkannte erschrocken, daß er sich bereits mit dem Gedanken abfand, daß es doch so war. Er war so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er gar nicht mehr auf seine Umgebung achtete. Es schien auch ganz überflüssig zu sein, sich in diesen Bergen besonders vorsichtig zu verhalten. Er hatte viele Tiere gesehen, und keines davon hatte auch nur Ansätze zu aggressivem Verhalten gezeigt. Plötzlich aber löste sich ein großes, fau-
Die Träumer von Oth chendes Wesen aus dem Schatten neben dem Weg und stürzte sich auf Atlan. Der Arkonide war so überrascht, daß er viel zu spät auf diesen Überfall reagierte. Das Yassel setzte seinen Weg unbekümmert und im alten Trott fort, als merke es gar nicht, wie Atlan von seinem Rücken heruntergerissen und zu Boden geworfen wurde. Atlan sah zunächst nur einen Rachen mit einem mächtigen Raubtiergebiß, eine Pranke mit langen Krallen und eine Unmenge von zottigem Fell vor sich. Er trug noch das Messer mit der abgebrochenen Spitze bei sich, sonst war er unbewaffnet. Aber bevor er das Messer aus dem Gürtel ziehen konnte, ließ die unbekannte Bestie sich mit ihrem vollen Gewicht auf den Arkoniden fallen. Er lag auf dem Rücken und hatte Mühe, wenigstens ein paar Atemzüge zu tun, wobei ihm die langen Haare des Tieres in Mund und Nase drangen. Er war überzeugt davon, daß er binnen kürzester Zeit ersticken würde. Verzweifelt kämpfte er gegen den schweren Körper an, und endlich gelang es ihm, sich wenigstens auf den Bauch zu drehen. Er stemmte sich ein paar Zentimeter weit hoch und atmete ein paarmal tief durch. Aber er spürte, daß er das Gewicht des Tieres nicht lange würde ertragen können. Merkte die Bestie überhaupt, wie verzweifelt er um sein Leben kämpfte? Das Tier rührte sich nicht. Dem Arkoniden kam das allmählich unheimlich vor. Wütend und mit all der Kraft, die die Angst um das nackte Leben ihm verlieh, stemmte er sich mit den Zehenspitzen gegen den Boden, zog sich auf den Armen vorwärts und zwängte sich zentimeterweise unter dem Körper der Bestie hindurch. Er war in Schweiß gebadet, und der Luftmangel zauberte dunkle Schleier vor seine Augen, die ohnehin nichts sahen, weil es unter dem Tier stockfinster war. Plötzlich aber schien er einen kritischen Punkt erreicht zu haben. Er spürte, daß etwas über ihm nachgab, und sofort spannte er sich wie eine Feder, stieß den Kopf in das zottige Fell und drückte sich mit den Hän-
35 den vom Boden ab. Die Bestie gab nach. Atlan kam auf die Knie, dann sogar auf die Füße, und mit einer letzten, ungeheuren Anstrengung stieß er den schweren Körper von sich. Er war frei. Sofort riß er das Messer hervor und wirbelte herum, bereit, sein Leben bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Es dauerte eine Weile, bis er das, was seine Augen ihm vermittelten, zu glauben vermochte. Die Bestie war tot. Das Tier, das einem gigantischen Löwen ähnlich sah, lag auf der Seite, alle viere von sich gestreckt. Vorsichtig trat Atlan näher heran, und ein Blick auf die gebrochenen Augen überzeugte ihn endgültig. Hier drohte ihm keine Gefahr mehr. Erst danach fiel ihm auf, wie unglaublich mager der »Löwe« war. Er bückte sich, um das Tier genauer zu untersuchen, aber plötzlich sagte eine Stimme leise und traurig: »Hat dir das Freude gemacht?« Er kannte diese Stimme. Langsam drehte er sich um und sah Copasallior am Wegrand stehen. Rein äußerlich hatte der Magier sich überhaupt nicht verändert. Er war schon immer sehr mager gewesen, und seine großen Basaltaugen verrieten selten, was in ihm vorging. Aber allein der Klang seiner Stimme machte dem Arkoniden klar, daß er seine letzten Hoffnungen begraben mußte. »Dich hat es also auch erwischt«, bemerkte er bitter. »Du hältst uns für verrückt, nicht wahr?« fragte Copasallior unbewegt. »Da du es so drastisch auszudrücken beliebst, bleibt mir nichts anderes, als deinen Verdacht zu bestätigen«, gab Atlan spöttisch zurück. Er beobachtete Copasallior aufmerksam, denn er rechnete damit, daß der Magier über dieser ungebührlichen Antwort den »allesumfassenden Frieden« vergaß und zum Angriff überging. Copasallior aber stand da wie eine Statue, kerzengerade aufgerichtet, von seinem wei-
36 ten, dünnen, schwarzen Gewand umweht. Er hatte alle sechs Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete den Arkoniden mit seinen steinernen Augen. Er wirkte unsagbar arrogant. »Warum hast du ihn getötet?« fragte er nach einer langen Pause. Atlan schüttelte fassungslos den Kopf. »Sieh dir den Burschen an«, empfahl er, und er zog das Messer hervor. »Und dann überlege dir, wie man ihn mit einer so lächerlich kleinen Waffe besiegen soll. Das ist alles, was ich habe – ein kleines Messer, dem die Spitze fehlt.« »Du bist genau der Mann, dem dieses zweifelhafte Kunststück gelingen könnte«, antwortete Copasallior, ohne seine starre Haltung aufzugeben. »Das kommt davon«, seufzte Atlan. »Leuten wie dir sollte man nicht zuviel von sich verraten. Paß auf, Copasallior, ich mache dir einen Vorschlag. Ich lege das Messer hierhin, und du versetzt mich auf den Stein da drüben, damit ich dir nicht davonlaufen kann. Und dann untersuchst du den Kadaver. Du wirst keine Wunde finden, das garantiere ich dir!« Er nahm nicht an, daß Copasallior auf dieses Angebot eingehen würde, denn so verrückt konnte der Weltenmagier gar nicht sein. Aber aus dem Gewirr von Armen lösten sich zwei schmale Hände, und im nächsten Augenblick stand Atlan auf dem hohen, steilen Felsen, den er dem Magier gezeigt hatte. Resignierend setzte er sich hin. Er beobachtete Copasallior, der langsam an die tote Bestie herantrat. Ihm wurde plötzlich bewußt, daß ihm möglicherweise ein fataler Fehler unterlaufen war. Diese Bestie war so dünn, das Fell saß so locker an ihrem Körper, daß es geradezu unglaublich erschien, wie sie noch die Kraft zu diesem Überfall aufgebracht hatte. Sie mußte einen sehr konkreten Grund gehabt haben, den einsamen Reiter anzugreifen. Hunger war sicher ein Motiv für eine solche Tat. Aber genauso gut konnte es sein, daß Schmerz den Bann des »allesumfassenden Friedens« gebrochen hatte. Ein anderer, der
Marianne Sydow ebenfalls nicht dieser Beeinflussung erlegen war, mochte das Tier angegriffen haben, und er, Atlan, hatte die Zeche für die Ungeschicklichkeit seines Vorgängers zu zahlen. Unter dem langen, zottigen Fell des »Löwen« konnte sich vieles verbergen, und eine Wunde muß nicht immer groß sein, um das Leben eines Wesens zu gefährden. Copasallior ging ungeheuer gründlich vor. Mit seinen sechs Händen untersuchte er das Tier. Er ließ keinen Quadratzentimeter Haut aus. Atlan saß inzwischen auf dem Felsen, der ihm im Ernstfall nur zwei Möglichkeiten offenließ: Entweder zu verhungern oder sich bei dem Versuch, hinunterzuklettern, zu Tode zu stürzen. In dem rötlichen Licht, das der Große Knoten zu dieser späten Stunde spendete, sah Copasallior wie eine überdimensionale Fledermaus aus, die sich träge flatternd über den gewaltigen Kadaver bewegte. Endlich richtete Copasallior sich auf und sah zu Atlan hinüber. Unwillkürlich stand der Arkonide auf. »Bewege dich nicht!« rief der Weltenmagier ihm zu. Für einen Augenblick war ein seltsames graues Nichts um den Arkoniden herum. Dann stand er neben dem Sechsarmigen und vernahm dessen Frage: »Was ist geschehen?« »Das weiß ich nicht«, murmelte Atlan. »Dieses Tier griff mich an, riß mich vom Yassel und brach offenbar über mir zusammen. Ich kroch mit viel Mühe unter ihm hervor und stellte fest, daß es tot war.« »Das war alles?« »Ja«, bestätigte der Arkonide und zuckte zusammen, weil ein Insekt von der Größe einer Hummel mit zornigem Gesurre an seinem Gesicht vorbeiraste. »Kleiner Bruder, du tust mir weh!« sagte Copasallior zwei Sekunden später mit seltsam flacher Stimme. Atlan sah den Weltenmagier erstaunt an – und entdeckte das Insekt, das an Copasalliors Hals saß und mit hektischen Bewegungen seiner Kieferzangen die Haut des Wel-
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tenmagiers aufsäbelte. Atlans Hand zuckte ganz von alleine hoch, aber er kam nicht dazu, das aufsässige kleine Biest zu erschlagen. Plötzlich hörte es nämlich von ganz alleine auf mit dem, was es bisher getan hatte. Winzige Flügel streckten sich zitternd, die Kieferzangen öffneten sich weit, und das Insekt stürzte ab. Hastig bückte sich der Arkonide und hob das Tier mit spitzen Fingern auf. »Was ist denn das für ein mordgieriges kleines Monstrum?« fragte er verblüfft. Copasallior antwortete nicht. Aus der Wunde an seinem Hals sickerte Blut. Lange Zeit sah er von dem Insekt in Atlans Hand auf den Kadaver des Pseudo-Löwen und wieder zurück. Dann nahm er dem Arkoniden das tote Insekt ab, warf es achtlos ins Gras, ergriff Atlans Hand und versetzte sich mit ihm zum Crallion.
* »Warum hast du es so eilig?« fragte Atlan, als er wieder etwas sehen konnte. »Ich hätte mich gerne in dieser Gegend noch ein wenig umgesehen.« »Das wäre zu gefährlich«, lehnte Copasallior kühl ab. »Aber es scheint doch etwas an diesem Ort nicht zu stimmen!« »Die Morrigs gehörten schon immer zu den blutgierigsten Bewohnern der Barriere.« »Was ist ein Morrig?« »Du hattest doch einen in der Hand!« »Aha. Und warum greifen diese Biester immer noch an?« »Der allesumfassende Frieden«, sagte Copasallior nachdenklich, »braucht Zeit, um auf alle Wesen in unserem Land zu wirken. Je kleiner die Tiere sind, desto länger dauert es, bis sie zur Vernunft kommen.« Atlan hätte sich gerne zu diesem Thema geäußert, aber aus naheliegenden Gründen beherrschte er sich. »Damit hätten wir eine Erklärung für das, was das Insekt getan hat«, nickte er. »Aber was ist mit diesem merkwürdigen Löwen?
Groß genug dürfte er doch wahrhaftig sein, und er dürfte auch schon lange genug gehungert haben, wie euer vielzitierter Frieden es von ihm verlangt.« »Ein Morrig wird ihn angegriffen haben«, meinte Copasallior. »Diese Tiere wühlen sich tief in das Fleisch ihrer Opfer ein, und das ist sehr schmerzhaft. Durdon hat darüber den Verstand verloren.« »Durdon ist der Name des Löwen?« »Ja.« »Das heißt dann wohl, daß du ihn kennst – oder gekannt hast.« »Er gehörte zu Parlzassels Familie.« »Dann hat er sich ziemlich weit von seinem Herrn entfernt.« Copasallior schwieg. Atlan beobachtete den Weltenmagier nachdenklich. Er hätte diese Erklärung vielleicht akzeptiert, wenn er nicht vorhin mit eigenen Augen Copasalliors Reaktion auf den Angriff des Morrig hätte verfolgen können. Er zweifelte nicht daran, daß der Magier über eine ungewöhnliche Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen, verfügte. Aber wenn, wie in diesem Fall, ein völlig unerwarteter Angriff erfolgt und plötzlicher Schmerz den Körper durchfährt, dann nützt alle Selbstbeherrschung nichts: Es folgt zumindest der Ansatz zu einer instinktiven Abwehr. Copasallior aber hatte überhaupt nichts getan, um das Insekt loszuwerden! Er war so tief in seinem Wahn gefangen, daß die in seinem Körper wohnenden Instinkte nicht mehr zur Wirkung kamen. Er hätte sich – davon war der Arkonide überzeugt – eher bei lebendigem Leibe auffressen lassen, als das verflixte Insekt dahin zu befördern, wohin es nach Atlans Meinung gehörte. Auch Durdons Instinkte hatten nicht mehr funktioniert. Wäre es anders gewesen, so wäre Durdon nicht verhungert, und zweifellos hätte er sich auch nicht mit dem Zweibeiner angelegt, sondern sich das Yassel geschnappt. Etwas anderes hatte Durdon zum Wahn-
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sinn getrieben, und Atlan glaubte zu wissen, warum es sich dabei handelte. Es war kein Morrig. Es war schlicht und einfach der Hunger. Er und die Spannung, die in dem armen Tier entstanden sein mußte, als es gezwungen war, gegen seine Natur zu handeln. Würden auch die Magier über kurz oder lang den Verstand verlieren, wenn es ihnen nicht gelang, sich aus ihrer Traumwelt zu lösen? Mit Sicherheit, lautete kurz und trocken der Kommentar des Extrasinns. Damit sah alles plötzlich ganz anders aus. Es ging nicht mehr nur darum, den Zustand der Magier vor Duuhl Larx geheimzuhalten. Atlan mußte vielmehr versuchen, zu helfen. Auch wenn andere Probleme noch so dringend erscheinen mochten, konnte er sich doch nicht vor dieser Entscheidung drücken, denn er war der einzige, der überhaupt wußte, was sich in Oth abspielte. Er hätte Verbündete brauchen können. Mit den Magier war nichts mehr anzufangen, aber es gab noch drei Wesen, die nicht aus Oth stammten und sich dennoch im Schutz des Großen Knotens aufhielten. Atlan wollte Copasallior gerade fragen, wo Kolphyr und Koy sich befanden und was der Fenriswolf von den Gesetzen des »allesumfassenden Friedens« hielt, da wandte der Weltenmagier sich abrupt ab. »Sie sind da«, sagte er. »Wir sollten sie nicht zu lange warten lassen.« »Von wem sprichst du?« erkundigte der Arkonide sich, obwohl er bereits etwas ahnte. »Von den Magiern«, antwortete Copasallior. »Ich habe sie hergerufen. Wir haben große Pläne geschmiedet, und du sollst uns sagen, ob wir damit Erfolg haben werden.«
* Mit anderen Worten, dachte Atlan. Ich soll euch in eurem Irrsinn bestätigen, denn wenn ich euch kritisiere, werdet ihr mich als negativ bezeichnen und gar nicht mehr zu-
hören, egal, was ich sage. Copasallior ging voran und führte den Arkoniden auf den Platz vor seiner Höhlenwohnung, die unter dem Gipfel des Crallion lag. Der von Glyndiszorns Knoten gebildete Himmel über Oth erstrahlte in tiefem Orange, und in diesem seltsamen Licht sah Atlan die Magier, die dicht gedrängt auf dem harten Felsboden saßen, Reihe um Reihe, und er zweifelte nicht mehr daran, daß wirklich alle erschienen waren. Nur einer fehlte. Das war Koratzo. Atlan vermutete, daß der Stimmenmagier wieder einmal bis zur Erschöpfung an seiner magischen Sprache gearbeitet hatte. Das sah ihm wirklich ähnlich – seine Sprache war wichtiger als diese Versammlung. Der Arkonide wünschte sich, die restlichen Magier wären ähnlich pflichtbesessen gewesen. Copasallior eröffnete die Versammlung, indem er eine Hand auf Atlans rechte Schulter legte und lapidar erklärte, der König von Pthor sei gekommen und hätte sich bereit erklärt, die Meinung der Magier anzuhören. Trotz der freundschaftlich anmutenden Geste hatte Atlan das Gefühl, in nicht allzu gutem Ruf zu stehen. Vermutlich wußten alle, die hier anwesend waren, daß er sich nicht immer so verhalten hatte, wie es ihren Idealen entsprach. Im übrigen mochte sich in Oth noch so viel geändert haben – der Weltenmagier war noch immer derjenige, der das Wort führte. Niemand machte ihm dieses Recht streitig. Der Sinn der kurzen Rede, die Copasallior hielt, war leicht zu verstehen. Er pries die Vorzüge des »allesumfassenden Friedens« und legte dar, welch glückliche Zukunft dem Lande Pthor bevorstand, wenn es gelang, alle, die außerhalb des Großen Knotens lebten, zu der neuen Lehre zu bekehren. »Du bist der König von Pthor«, wandte er sich abschließend an Atlan. »Du alleine mußt entscheiden, welchen Weg dieses Land gehen soll. Sage uns, ob du bereit bist, in Frieden zu herrschen.« Natürlich sollte das eine rein rhetorische
Die Träumer von Oth Frage sein. Man erwartete von ihm, daß er begeistert zustimmte und auf der Stelle loszog, um ganz Pthor in ein Asyl für Träumer zu verwandeln. Atlan betrachtete die Magier, die andächtig zu ihm aufsahen. Minutenlang produzierte der Große Knoten eine goldflirrende Helligkeit, so daß er die vielen Gesichter deutlich erkennen konnte. Er sah Magier, die nur noch Haut und Knochen waren – zweifellos Wesen, die auf tierische Kost angewiesen waren und sich zu Tode hungerten, weil sie sich an die Gesetze halten wollten. Aber selbst diese armen Kreaturen blickten ihn mit leuchtenden Augen an und zweifelten keinen Augenblick lang daran, daß Copasallior in allen Punkten recht hatte. Sie hatten die Realität vergessen. Die Schwarze Galaxis, der Dunkle Oheim, der Neffe Duuhl Larx, die Trugen – für sie gab es das alles gar nicht mehr. Sie dachten nicht mehr an die Gefahren, die dem Dimensionsfahrstuhl drohten, sondern nur noch an ihren unerfüllbaren Traum – und das galt selbst für jene, die schon bald mit ihrem Leben dafür bezahlen würden, daß sie den neuen Gesetzen gehorchten. Atlan erkannte, daß es keinen Sinn hatte, irgend etwas zu erklären und die Magier auf die rauhe Wirklichkeit hinzuweisen. Sie hätten ihn nicht verstanden und ihm kein einziges Wort geglaubt. »Ich werde nach Pthor hinausgehen«, sagte er resignierend, »und dafür sorgen, daß alle, die in diesem Land leben, von euren Gesetzen erfahren.« Zweifellos hatte man sich mehr von ihm erwartet, aber er drehte sich um und kehrte in die Höhlenwohnung zurück. Copasallior folgte ihm. »Du hättest dich nicht kürzer fassen können«, bemerkte der Weltenmagier vorwurfsvoll. Atlan war müde und gereizt, und er machte sich Sorgen. Er setzte zu einer scharfen Bemerkung an, da sah er am Hals des Weltenmagiers eine bläuliche Schwellung. Die Wahnsinnstat des hungrigen Insekts war of-
39 fenbar nicht ohne Folgen geblieben. »Sind die Morrigs giftig?« fragte er. »Nein«, erwiderte Copasallior irritiert. »Dann handelt es sich also um eine Entzündung«, stellte Atlan fest. »Du solltest schleunigst etwas dagegen unternehmen.« Copasallior strich sich vorsichtig über den Hals und lächelte schwach. »Eine Entzündung, die von lebenden Wesen verursacht wird«, sagte er leise. »Auch sie haben ein Recht darauf, zu existieren und sich auszubreiten.« »Laß sie das nicht hören«, warnte Atlan. »Sie könnten dich beim Wort nehmen.« »Wäre das so schlimm? Ich wünschte, wir könnten uns miteinander verständigen. Sie sind so winzig. Es wäre interessant, zu erfahren, wie sie diese Welt sehen.« »Sie werden dich umbringen«, sagte Atlan grob. »Das ist anzunehmen«, erwiderte Copasallior, und dabei lächelte er immer noch. »Macht dir das nichts aus? Hast du keine Angst davor, zu sterben?« »Ich lebe seit so undenkbar langer Zeit«, sagte Copasallior nachdenklich. »Es war ein Leben, das ich auf Kosten anderer geführt habe. Abgesehen davon – ich bin nur einer, die, die da drinnen hausen, sind viele. Sollen sie alle um meinetwillen sterben müssen?« Atlan starrte den Weltenmagier fassungslos an. Ein Magier trat an die Tür zu den Wohnhallen, und sein Schatten fiel lang und schmal über den Mosaikboden. Copasallior drehte sich langsam um. »Zu welchem Urteil seid ihr gekommen?« fragte er. »Er wird nicht nach draußen gehen«, erwiderte der Magier, dessen Gesicht Atlan nicht erkennen konnte. »Er wird die neue Lehre nicht verbreiten.« Sie hatten über ihn abgestimmt! Und das, während Copasallior sich mit ihm hier drinnen unterhielt. »Du hast es gehört«, sagte Copasallior bedauernd. Du mußt sie überreden! drängte der Extrasinn. Draußen gibt es Medikamente und
40 Waffen. Du wirst zurückkommen, und dann kannst du vielleicht etwas für sie tun. Jetzt hast du keine Chance, etwas zu erreichen! »Ihr habt mich falsch verstanden«, sagte Atlan gedehnt zu dem fremden Magier. »Ich bin bereit, mich mit all meiner Kraft für eure Ziele einzusetzen. Aber ich bin erst vor wenigen Tagen in die Barriere von Oth gekommen, und die Bilder des Schreckens sind noch zu frisch in mir. Ich bezweifle, daß eure – unsere Lehre etwas gegen jene Macht ausrichten kann, die zur Zeit in Pthor herrscht.« Der fremde Magier legte den Kopf schräg, und Copasallior tat einen Schritt auf Atlan zu. »Du bist also bereit, dich nach unseren Gesetzen zu richten?« fragte er ernst. »Ja.« »Du wirst es denen da draußen sagen müssen.« »Wann?« fragte Atlan. »Jetzt gleich.« »Gut. Gehen wir noch einmal hinaus.« Er würde lügen müssen. Aber das erschien ihm als völlig unwichtig. Er würde zu Duuhl Larx zurückkehren und behaupten, daß die Magier ihn zu ihrem Verbindungsmann gemacht hatten. Dann konnte er den Neffen sicher dazu überreden, ihm gewisse Materialien zur Verfügung zu stellen. Er würde natürlich nicht im ersten Anlauf Erfolg haben, aber irgendwann mußte es gelingen – wenn er erst wußte, auf welche Weise er den unheilvollen Bann brechen konnte, war die Schlacht schon so gut wie gewonnen. Er trat neben Copasallior, und der Weltenmagier fragte ihn noch einmal: »Gehorchst du den Gesetzen des allesumfassenden Friedens?« »Ja!« sagte Atlan mit fester Stimme. Er sah, daß die Magier sich steil aufrichteten, und vernahm gleichzeitig die zweite Frage: »Du bist bereit, diesen Gesetzen im ganzen Land Pthor Geltung zu verschaffen?« »Ich werde tun, was in meiner Macht
Marianne Sydow steht.« Einige Magier sprangen auf. Drohende Stimmen wurden laut. Copasallior hob befehlend die Arme, und Totenstille senkte sich über das Plateau. »Du trägst den Frieden tief in dir?« Für einen Augenblick zögerte der Arkonide. »Ja«, sagte er dann. Die Magier sprangen auf. Copasalliors beschwichtigende Gesten wirkten nicht länger. Viele seltsame Gestalten drangen auf den Arkoniden ein, und als er versuchte, angesichts dieser Situation nach seinem Messer zu greifen, stellte er fest, daß er seine einzige, kümmerliche Waffe verloren hatte: Sie lag noch immer neben dem löwenähnlichen Raubtier namens Durdon. Er hätte nie gedacht, daß diese friedfertigen Magier noch fähig waren, derart intensiv zu hassen. Unter anderen Umständen hätte er sogar triumphiert, denn er sah den Beweis dafür, daß wider Erwarten doch noch nicht alles verloren war. Für solche Gedanken blieben ihm jedoch nur wenige Sekunden. Dann begriff er, daß die Magier es ernst meinten. Sie würden ihn töten. Er war nicht so, wie er behauptet hatte, daß er es sei, und das nahmen sie ihm übel. Er war in ihrem Sinn negativ. Bisher hatten sie sich darauf beschränkt, Wesen von seiner Art zu isolieren und auf diese Weise umzubringen, ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Atlan aber hatte nicht nur den Fehler, einfach anders zu sein – er hatte die Magier auch noch belogen, und sie wußten das. Er selbst hatte es ihnen unfreiwillig gesagt – mit seinen Gedanken, die sie Wort für Wort mitgehört hatten. Als die ersten unsichtbaren Fesseln sich um ihn legten und Hände ihn berührten, erscholl eine Stimme, die dem Arkoniden nur zu vertraut war. »Zurück!« befahl diese Stimme. »Ihr vergeht euch gegen das Gesetz!« Es lag eine Kraft in diesen Worten, die eine erstaunliche Wirkung auf die Magier aus-
Die Träumer von Oth übte. Sie wichen tatsächlich zurück und bildeten eine Gasse. Atlan erblickte am Ende dieses Weges Koratzo, der auf ihn zukam und ausdruckslos auf ihn hinabsah. »So sieht man sich wieder!« sagte Atlan in einem Anflug von Galgenhumor. »Spotte nicht schon wieder!« mahnte der Stimmenmagier. »Ich könnte es mir anders überlegen!« Könntest du das wirklich? dachte Atlan. Reicht es nicht, daß du mich verraten hast? Sprich jetzt nicht, antwortete Koratzo lautlos. Copasallior wird dich an einen Ort bringen, an dem du alles findest, was du brauchst. Nutze diese Gelegenheit und höre auf jeden, der dir einen Rat geben kann! Kannst du dich nicht genauer ausdrücken? Nein. Es gibt noch andere Magier, die das nicht Gesprochene hören können. Ich konnte sie bis jetzt unter Kontrolle halten, aber weiter reichen meine Reserven nicht. Denke nicht mehr daran, bis du am Ziel bist! Atlan war erwiesenermaßen sehr widerstandsfähig gegen hypnotische Einflüsse aller Art, aber die Magier waren etwas, was man weder auf Terra noch auf Arkon jemals gekannt hatte. Er vergaß das lautlose Gespräch wirklich. Er sah, daß Copasallior die Hand ausstreckte und ihn berührte, und plötzlich befand er sich in einer völlig fremden Umgebung. Es mußte eine Höhle sein. Der Raum wurde auf allen Seiten von rauhem Fels begrenzt, und diese Wände waren nicht glatt und gleichmäßig. Er stand auf sandigem Boden und sah immer noch Copasallior, der ihn ausdruckslos anstarrte. Dann verschwand der Weltenmagier lautlos von der Bildfläche. Der nächste Eindruck war etwas, was seine Nase ihm vermittelte: Es roch nach Zimt. Er drehte sich langsam um. Das erste, was er sah, war ein halbverhungerter, sehr großer Wolf. Neben Fenrir stand Koy, und das war bereits merkwürdig, denn die beiden waren seit jeher nicht die besten Freunde. Das faltige Gesicht des Trommlers hatte noch ein paar Falten mehr bekommen,
41 seine Broins hingen ihm schlaff über die Stirn. Neben Koy stand der Forscher aus dem Volke der Bera, und er war der einzige, der sich nicht verändert hatte. Er hatte einen lachenden Froschmund, und seine Stimme klang noch so hell, wie Atlan sie in Erinnerung hatte. »Atlan! Bist du das wirklich, oder wollen die verdammten Magier uns einen Streich spielen?« »Ich bin es, Gloophy!« sagte Atlan und benutzte mit voller Absicht den alten Namen, den sie Kolphyr gegenüber gebraucht hatten, als der Bera gerade erst aus der Eiszitadelle befreit und des Pthora noch nicht mächtig gewesen war. Kolphyr stand ganz still da. »Hast du Lebo Axton gesehen?« fragte er nach einiger Zeit. »Er wollte dich suchen.« »Er hat mich gefunden«, bestätigte Atlan, und seine Blicke irrten ab. Im Hintergrund der Höhle stand eine … Maschine, ein Ding, mit dem er nichts anzufangen wußte. »Was ist das?« fragte er. »Ich wollte, ich wüßte es«, seufzte Kolphyr. »Ich habe es gebaut, um Chirmor Flog damit am Leben zu erhalten.« »Der Neffe! Wo ist er?« »Komm!« Er folgte dem Bera und blickte in die Maschine hinein. Atlan erkannte dieses Gesicht sofort. Da waren die Augen mit ihren jeweils drei Pupillen, von denen die eine rot und rund, die zweite gelb und dreieckig und die vierte schwarz und viereckig war, und da war der Körper, der aus wurzelähnlichen Strängen bestand. Die Körperprothese fehlte. »Er ist tot«, stellte Atlan enttäuscht fest. »Nein«, widersprach Kolphyr. »Er befindet sich in diesem Zustand, seit er den Schwarzschock auslöste. Einmal, als Islar dieses Gerät in Betrieb setzte, schien es, als ob er aufwachen wollte …« »Islar!« stieß Atlan überrascht hervor. »Was hat sie getan?« »Keine Ahnung. Sie griff in dieses Gewirr hinein und veränderte etwas, aber es ging so schnell, daß ich mir nicht alles merken
42 konnte.« »Was geschah danach?« »Ich merkte es zuerst an Koy. Er wollte plötzlich nicht mehr jagen. Später fand ich heraus, daß niemand in der ganzen Barriere noch ein Interesse daran hatte, irgendein Tier zu töten. Die Magier wurden so friedlich, daß ich mich vor ihnen zu fürchten begann.« Atlan nickte nachdenklich. »Ich bin sicher, daß diese Maschine der Schlüssel zu der ganzen Angelegenheit ist«, murmelte er. »Weißt du wenigstens, wie Islar dieses Ding eingeschaltet hat?« »Sie hat diese goldenen Kugeln bewegt.« »Wie? Zeige es mir!« Der Bera sah Atlan kläglich an. »Wenn ich einen Fehler mache …« »Es kann nicht mehr schlimmer werden, Kolphyr. Ich war ein paar Tage lang in der Barriere unterwegs. Wenn die Magier so weitermachen, werden sie alle miteinander wahnsinnig werden und schließlich sterben, es sei denn, sie werden dazu veranlaßt, den Großen Knoten zu öffnen.« »Es dürfte nicht schwierig sein, sie dazu zu bringen.« »Nein. Das ist ja das Schlimme. Weißt du, warum sie euch hier eingesperrt haben?« »Wir passen einfach nicht in ihre Welt.« »So ist es. Da draußen in Pthor gibt es kein einziges Wesen, das ihren Ansprüchen entsprechen könnte. Sie sind immer noch mächtig, und wahrscheinlich haben sie sogar gegen die Trugen eine gute Chance. Sie sind inzwischen soweit, daß sie alles tun werden, um ihrem allesumfassenden Frieden zum Sieg zu verhelfen. Ihre Methoden werden noch härter werden, und sie werden ganz Pthor ins Elend stürzen.« Kolphyr betrachtete die seltsame Maschine. »Ich habe Angst vor dem Ding«, sagte er leise. »Wenn ich etwas falsch mache – wer weiß, was passiert, wenn man daran herumschaltet!« »Dieses Risiko müssen wir in Kauf nehmen«, sagte Atlan hart. »Fang endlich an.«
Marianne Sydow Kolphyr ging vor der Maschine in die Hocke und streckte seine vierfingrigen Hände nach den goldenen Kugeln aus.
7. »Wo ist meine Körperstütze?« fragte eine laute, drohende Stimme. »Welcher Narr hat es gewagt, mich in dieses Gewirr hier zu stecken? Holt mich sofort heraus!« Atlan war beim ersten Laut herumgefahren, und Kolphyr ließ erschrocken die Kugeln los. Im Hintergrund der Höhle kam Fenrir taumelnd auf die Pfoten, legte die Ohren an und knurrte. Koy, der Trommler, versuchte, seine Broins aufzurichten, was ihm aber nicht gelang. »Beeilt euch!« rief die fremde Stimme. »Wie lange wollt ihr mich noch warten lassen?« »Es ist der Neffe«, stieß Atlan hervor und eilte um die Maschine herum. Als er Chirmor Flog sah, blieb er erstaunt stehen. Die Augen des Neffen funkelten, sein Gesicht hatte sich gerötet. Die wurzelähnlichen Körperstränge bewegten sich unruhig. Chirmor Flog versuchte, sich gegen die Maschine zu stemmen und aus eigener Kraft herauszukriechen, aber obwohl er kräftiger und gesünder wirkte, als Atlan ihn je zuvor gesehen hatte, gelang es ihm nicht. Dieser Körper war einfach nicht mehr fortbewegungsfähig. Chirmor Flog blickte Atlan interessiert an. »Dich kenne ich«, bemerkte er, und seine Stimme war jetzt so laut, daß man sie auch ohne Verstärker bis vor die Höhle hören mußte. »Hilf mir.« »Nein«, sagte Atlan ruhig. »Du weigerst dich?« fragte Chirmor Flog verwundert. »Aber warte, jetzt erinnere ich mich. Du hattest auch damals schon deine eigenen Ansichten, nicht wahr? Ich kann mich vage daran erinnern, daß du für gewisse Elemente Partei ergriffen hast. Du solltest vorsichtig sein. Wenn du es zu weit treibst, werden meine Scuddamoren sich deiner annehmen.«
Die Träumer von Oth »Deine Scuddamoren sind weit von hier entfernt, Chirmor Flog, so weit, daß sie uns nichts mehr anhaben können. Darum bist du es, der sich in acht nehmen sollte.« Chirmor Flog sah aus, als könne er diese Antwort nur mit Mühe verdauen, aber plötzlich glitt ein bösartiges Lächeln über sein fremdartiges Gesicht. »Berichte mir, was sich zugetragen hat«, forderte er. Atlan erklärte ihm, wie er, der Neffe, nach Pthor gekommen war, um Heilung zu suchen, und daß die Magier ihn zu sich in die Barriere geholt hatten. Er sprach von der List des Dunklen Oheims und von dem Schwarzschock, von Islars Maschine und dem Positionswechsel, den der Dimensionsfahrstuhl vorgenommen hatte. »Ich befinde mich also im Rghul-Revier?« vergewisserte sich der Neffe ungläubig. »So ist es.« Chirmor Flog lachte, aber es war ein schreckliches Lachen, bei dem Fenrir die Nerven verlor und versuchte, die Höhle zu verlassen. Er prallte gegen ein unsichtbares Hindernis und verkroch sich daraufhin winselnd in einer Ecke. »Nun gut«, murmelte der Neffe schließlich. »Die Rechnung des Dunklen Oheims ist nicht aufgegangen. Die Magier sind immer noch auf ihre eigene Weise aktiv, und ich habe das Ganze überlebt. Duuhl Larx … Er ist unfähig und wird nicht viel erreichen. Es sollte nicht besonders schwierig sein, ihn zu Fall zu bringen. Der Dunkle Oheim wird natürlich sehr wütend sein, wenn er erfährt, daß ich die Arbeiten an diesem Dimensionsfahrstuhl störe, aber das kann mir nur recht sein. Mein Leben lang war ich nichts als ein Werkzeug für ihn. Selbst wenn ich gewollt hätte – es war mir unmöglich, mich gegen ihn aufzulehnen. Jetzt bin ich frei.« »Bist du dir da ganz sicher?« »Sehr sicher«, antwortete Chirmor Flog ernst. »Ich habe dich vorhin gebeten, mich aus dieser Maschine herauszuholen. Ich bin sehr froh, daß du nicht gehorcht hast. Hier
43 drin bin ich vom Dunklen Oheim nicht länger abhängig.« Atlan bekam feuchte Augen vor Aufregung. Er wußte, daß er einem der größten Geheimnisse der Schwarzen Galaxis auf der Spur war, und er hoffte, daß Chirmor Flog weitersprechen und enthüllen würde, was eigentlich mit den Neffen geschah, damit sie im Sinn des Oheims herrschten. Aber Chirmor Flog wechselte abrupt das Thema. »Wie haltbar ist diese Apparatur?« fragte er. Atlan sah sich hilfesuchend nach Kolphyr um. Der Bera gab ihm ein Zeichen. »Wir wissen es nicht«, sagte der Arkonide. »Die Funktionen der Maschine sind größtenteils magischer Natur.« »Aber ihr seid keine Magier«, setzte Chirmor Flog nachdenklich hinzu. »Das war mir schon auf den ersten Blick klar. Könnt ihr einige von den Magiern an diesen Ort rufen?« »Warum?« »Mußt du denn alles wissen?« brauste Chirmor Flog auf. »Ja«, sagte Atlan ungerührt. »Na schön«, murmelte der Neffe. »Ich möchte nicht zu sehr von dieser Maschine abhängig sein. Die Magier sollen etwas für mich erschaffen, das mir die Unabhängigkeit vom Dunklen Oheim garantiert und dennoch klein und leicht genug ist, daß man es zusammen mit meinem Körper tragen kann.« Der Arkonide sah nachdenklich zu Koy hinüber. Er konnte noch nicht beurteilen, wie weit der Trommler sich verändert hatte. Vielleicht bestand der einzige Effekt, den Kolphyr mit seinem Versuch erzielt hatte, in der Aktivierung des Neffen. »Ich werde die Magier fragen, ob sie so etwas konstruieren können«, versprach er trotzdem, um Chirmor Flog bei Laune zu halten. »Willst du mit mir über deine Pläne sprechen?« »Warum nicht? Schließlich habe ich ja auch dir eine Rolle darin zugedacht. Was hältst du davon?«
44 »Wie soll ich das jetzt schon wissen? Sage mir, was du vorhast, dann kann ich dir eine bessere Antwort geben.« »Wir werden gemeinsam dafür sorgen, daß weder Duuhl Larx, noch der Dunkle Oheim ihr Ziel erreichen, soweit es Pthor betrifft!« verkündete Chirmor Flog. Atlan nickte nur. Er hatte so etwas erwartet. »Wir sind Verbündete?« vergewisserte er sich. »Mit allem, was dazu gehört«, erwiderte Chirmor Flog feierlich. »Vielleicht werden wir eines Tages sogar Freunde sein.« »Wer weiß«, murmelte der Arkonide. »Hast du keine Angst vor dem Dunklen Oheim? Was du planst, ist Verrat. Wenn er dich erwischt, wird er dich auf schreckliche Weise bestrafen.« »Er kann mir nichts mehr anhaben«, behauptete Chirmor Flog. »Ich war sein Neffe und sein Werkzeug – eine schlimmere Strafe gibt es nicht. Alles, was er sich sonst noch ausdenken mag, wird dagegen harmlos sein.« Atlan fragte sich, ob Chirmor Flog nicht ein wenig zu dick auftrug. Er traute diesem Wesen nicht. Zweifellos hatte Chirmor Flog zahlreiche Gründe, den Dunklen Oheim zu hassen und nach Rache zu dürsten, aber es war schwer vorstellbar, daß diese noch immer spürbare Bösartigkeit, die von Chirmor Flog ausging, diesen in irgendeiner Weise positiv handeln lassen würde. »Was geschieht mit Pthor, wenn wir es vor Duuhl Larx und dem Dunklen Oheim in Sicherheit gebracht haben?« fragte Atlan. »Das bleibt dir überlassen. Mach damit, was du willst. Ich werde mich nicht einmischen, es sei denn, du bittest mich um Rat.« Atlan beschloß, die Unterhaltung an diesem Punkt vorerst abzubrechen. Er fürchtete, sein Mißtrauen dem Neffen gegenüber nicht gut genug verbergen zu können. Ob Chirmor Flog es ehrlich meinte oder nicht, das würde sich vermutlich sehr schnell zeigen. Zuerst aber galt es, sich um die Magier
Marianne Sydow zu kümmern. Kaum hatte Atlan dies gedacht, da erwies es sich, daß die Magier durchaus fähig und bereit waren, für sich selbst zu sorgen. Copasallior und Koratzo erschienen in der Höhle.
* Die Ankunft der Magier kam überraschend, und Atlan, der noch immer bei der Maschine stand, setzte sich unwillkürlich in Bewegung und ging auf die beiden zu. Sie lächelten nicht mehr verklärt, und dieser unnatürliche Glanz war aus ihren Augen verschwunden. Koratzo blickte dem Arkoniden freundlich entgegen. »Ihr seid wieder normal«, sagte Atlan erleichtert. »Oder irre ich mich?« »Nein«, antwortete Koratzo, blieb aber neben dem Weltenmagier stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr habt an Islars Maschine herumgeschaltet?« »War das nicht von vornherein deine Absicht?« fragte Atlan. Etwas machte ihn mißtrauisch. Der Stimmenmagier gab sich reserviert. »Wie meinst du das?« erkundigte sich Copasallior und rückte ein wenig von Koratzo ab. Atlan öffnete den Mund, um dem Weltenmagier eine Erklärung zu geben – da spürte er, daß ihm die Stimme versagte. Er sah Koratzo an, und erschrak zutiefst. Die Augen des Magiers funkelten tückisch. Du wirst schweigen! dröhnte eine Stimme durch Atlans Gedanken. Oder du wirst nie wieder sprechen können. Da du mich so freundlich dazu aufforderst, gab Atlan stumm zurück, werde ich deine Bitte erfüllen. Dir wird dein Spott schon bald für immer vergehen! versicherte Koratzo wütend. Der Stimmenmagier wandte sich an Copasallior. »Wir sollten uns beeilen«, sagte er. »Die anderen werden bald hier sein. Bringen wir diese Leute also in die FESTUNG!«
Die Träumer von Oth »Ich werde sie hinbringen«, entschied Copasallior. »Deine Magie taugt nicht dazu.« »Ich dachte mir gleich, daß du dich nicht an die Abmachungen halten würdest«, zischte Koratzo empört. »Da ihr gerade von Abmachungen sprecht«, fuhr eine keifende Stimme dazwischen, und Glyndiszorn stand wie hingezaubert einen Meter hinter den beiden Magiern, »mich habt ihr wohl völlig vergessen? Die Gefangenen gehören mir, oder ist euch das nicht klar? Ich habe sie durch die Wand des Knotens gebracht!« »Nachdem wir aus der Tronx-Kette dich darauf aufmerksam gemacht hatten, daß sie eingelassen werden wollten«, bemerkte Koratzo höhnisch. »Wir?« fragte Copasallior voller Spott. »Opkul war es, der sie entdeckte.« »Aber ich übermittelte die Nachricht.« »Und was ist mit Breckonzorpf? Er spielte den Lotsen für Atlan!« »Du hast doch am wenigstens dazu getan, daß sie jetzt in der Barriere sind!« schrie Glyndiszorn den Weltenmagier an. Copasallior wurde bleich vor Zorn. »Nur ich kann sie in die FESTUNG schaffen!« behauptete er. »Das ist eine Tatsache.« »Tatsache ist, daß sie mit deiner Hilfe in der FESTUNG am falschen Platz landen werden«, bemerkte Koratzo eisig. »Seid ihr Magier?« dröhnte Chirmor Flogs Stimme dazwischen. Die drei Männer zuckten zusammen und fuhren herum. Atlan, der sich vergeblich bemühte, ein Wort über seine Lippen zu bringen und damit Koratzos Bann zu brechen, sah den Bera mit erhobener Faust hinter Glyndiszorn stehen und schloß ergeben die Augen. Kolphyr schlug zu – aber seine Faust prallte wenige Millimeter über dem Schädel des Knotenmagiers auf ein unsichtbares Hindernis. Glyndiszorn schien den Angriff des Beras gar nicht bemerkt zu haben. Er watschelte eilig um die Maschine herum. Als er Chirmor Flog erblickte, blieb er wie erstarrt ste-
45 hen. »Es ist der Neffe!« rief er. »Er lebt!« »Das zwingt uns natürlich, unsere Pläne zu ändern«, murmelte Koratzo. Er warf Atlan einen düsteren Blick zu. Gib mir meine Stimme zurück! forderte der Arkonide. Du selbst hast einmal ein terranisches Sprichwort erwähnt, gab der Stimmenmagier spöttisch zurück. Es lautete: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Du solltest dich daran halten, denn es paßt genau auf deine Situation. Du verdammter Narr! dachte Atlan wütend. Begreifst du denn nicht, was geschehen ist? Oh doch. Wir haben endlich den richtigen Weg gefunden, und das ausgerechnet durch eure Hilfe. Es wäre fast zum Lachen, wenn es da nicht gewisse Dinge gäbe … Ich wollte, daß Copasallior dich und die anderen zur FESTUNG schickt, damit ihr Duuhl Larx berichten könnt, daß wir Magier mit ihm zusammenarbeiten werden. Diese Chance ist nun vertan. Chirmor Flog wird nicht erlauben, daß du seinem ärgsten Konkurrenten zum Erfolg verhilfst. Vielleicht doch, dachte Atlan, und er fragte sich, ob Koratzo nun tatsächlich negativ geworden war oder nicht. Alles sprach dafür, und doch … Was haben übrigens die beiden anderen mit uns vor? Wir haben uns viele Tage lang wie perfekte Narren aufgeführt, antwortete Koratzo düster. Ihr seid die einzigen Zeugen, die davon berichten könnten. Copasallior will euch darum in die Welt jenseits der Wirklichkeit schleudern. Glyndiszorn dagegen ist mehr dafür, euch am Leben zu lassen und euch für verschiedene Experimente aufzuheben. Der Bera mit seinem Körper aus Antimaterie ergäbe zum Beispiel eine großartige Waffe von ungeheurer Kraft. Atlan sah den Stimmenmagier forschend an. Die Augen dieses Mannes funkelten gnadenlos. Resignierend senkte der Arkonide den Kopf. Ihm war zumute, als hätte er gerade einen Freund sterben sehen.
46 »Ich bin der Neffe Chirmor Flog!« hörte er die Stimme aus dem Innern der magischen Maschine. »Und darum schuldet ihr mir Gehorsam, denn ich bin der Vertreter des Dunklen Oheims.« »Das mag im Marantroner-Revier der Fall sein«, bemerkte Copasallior, der bereits neben Glyndiszorn stand. Auch Koratzo begab sich jetzt hinter die Maschine. »Aber wir befinden uns nicht mehr in deinem Herrschaftsbereich.« »Hoffentlich weiß der Kerl, mit welchen Mächten er sich da anlegt!« murmelte Kolphyr. »Das ist in gewisser Weise richtig«, sagte Chirmor Flog. »Und es gilt für den Rest von Pthor, nicht aber für die Barriere von Oth. Ich wurde zu euch geschickt, um euch zur Vernunft zu bringen …« »Du warst ein Werkzeug«, sagte Copasallior verächtlich. »Du konntest überhaupt nichts mehr tun, und dir fehlte längst die Kraft, uns zu beeinflussen.« »Ihr schuldet mir Gehorsam!« schrie der Neffe so zornig, daß nicht nur die Magier, sondern auch Atlan, Koy und Kolphyr sich unwillkürlich duckten. Die bösartige Ausstrahlung Chirmor Flogs war sekundenlang so stark, daß der Arkonide körperliches Unbehagen empfand. Koratzo faßte sich als erster. »Wie lauten deine Befehle?« fragte er höflich. »Warum nicht gleich so! Erstens: Die Gefangenen gehören mir. Ich allein bin dafür zuständig, was mit ihnen geschieht. Ihr werdet sie in Ruhe lassen. Ihr werdet diesen Befehl allen anderen Magiern übermitteln und dafür sorgen, daß sie sich daran halten!« Sekundenlang war es totenstill in der Höhle. »Wir werden dafür sorgen«, versprach Copasallior dann endlich. »Sehr gut«, lobte Chirmor Flog. »Mein zweiter Befehl lautet, daß ihr einen magischen Lebensspender für mich erzeugt. Er darf nicht größer als mein Kopf sein und muß die Fähigkeit haben, mich zu ernähren
Marianne Sydow und alle entsprechenden Funktionen zu erfüllen, die zur Zeit von dieser Maschine übernommen werden. Ihr werdet diesen Lebensspender innerhalb von zwei Tagen mit meinem Körper verbinden.« »Zwei Tage sind schnell vorüber«, gab Copasallior zu bedenken. »Gib uns eine längere Frist.« »Zwei Tage!« beharrte der Neffe stur auf seiner Forderung. »Und keine Stunde länger.« »Willst du uns drohen?« fragte Glyndiszorn beinahe amüsiert. »Womit, Chirmor Flog? Was wirst du tun, wenn wir die Frist überschreiten oder es sogar ganz ablehnen, deine Befehle anzunehmen?« »Ihr könnt es ausprobieren«, sagte Chirmor Flog eisig. »Ich brauche keine Rücksichten auf euch zu nehmen. Ihr habt mehr Ärger verursacht, als der Oheim irgendeinem von seinen Untertanen nachzusehen bereit ist.« Die Magier schwiegen betroffen. Atlan dagegen fragte sich, über wieviel Macht Chirmor Flog tatsächlich verfügte. Spielte der Neffe zu hoch, oder gab es etwas, wovon sie alle noch nichts wußten? Und noch eine Frage beschäftigte den Arkoniden: Was hatte Chirmor Flog wirklich vor? Spielte er jetzt Theater – oder war das, was er dem Arkoniden gesagt hatte, nichts als Schauspielerei gewesen? Eines stand fest: Das Bündnis mit dem Neffen war etwas, womit man ungeheuer vorsichtig umzugehen hatte. Er bemerkte, daß Koratzo zu ihm hinübersah und verbannte seine Gedanken wütend, denn er ahnte, daß der Stimmenmagier jeden seiner Gedanken verfolgt hatte und somit gewarnt war. Koratzo lächelte plötzlich. Du wirst über diese Dinge schweigen! befahl er dem Arkoniden. Von mir aus! dachte Atlan resignierend zurück. Aber dafür solltest du uns endlich frei geben. Öffne den Weg aus der Höhle und laß mich wieder sprechen können.
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Einverstanden, sagte Koratzo. Aber merke dir eines: Da draußen in der Barriere gibt es keinen einzigen Magier, von dem du Hilfe zu erwarten hast, mich eingeschlossen. Solltest du diesmal versuchen, auch nur einen von uns in irgendeiner Weise zu beeinflussen, dann hast du endgültig ausgespielt. Und wage es nicht, meiner Wohnhalle zu nahe zu kommen. Die Sperren, die ich dort errichte, werden speziell auf dich abgestimmt sein und tödlich wirken. Atlan verzichtete auf eine Antwort und bemühte sich, nur noch an Koy und den Wolf zu denken, die dringend Hilfe brauchten. »Geht jetzt!« befahl Chirmor Flog. »Ich brauche euch nicht mehr.« Copasallior und Glyndiszorn verschwanden sofort. Koratzo dagegen schritt langsam zum Ausgang der Höhle. »Ihr seid jetzt frei«, sagte er mit seltsamer Betonung, bevor er ins Freie trat. Er drehte sich um und deutete auf Kolphyr. »Wirf den Kristall weg!« Der Bera ging schweigend zu der Nische, in der er seine spärliche Habe aufbewahrte, holte einen kleinen, bläulichen Kristall hervor und hielt ihn hoch. »Willst du ihn nicht zurückhaben?« fragte er. »Wirf ihn auf den Boden«, befahl Koratzo. Kolphyr gehorchte resignierend, und der Stimmenmagier stieß einen seltsamen Laut aus. Der Kristall glühte auf und zerfiel. »Damit ist auch diese Verbindung zerstört«, bemerkte Koratzo und lächelte, aber es war ein fremdes, böses Lächeln.
* In den nächsten Tagen ging Atlan auf die Jagd und sorgte dafür, daß Koy und Fenrir wieder zu Kräften kamen. Es würde zwar eine Weile dauern, bis sie sich auch rein äußerlich wieder erholt hatten, aber zu Atlans großer Erleichterung hatten sie wenigstens keinen psychischen Schaden davongetragen. Wann immer sie Zeit dazu fanden, sprachen Atlan und Kolphyr über die Maschine,
die in der Höhle stand. »Wir könnten versuchen, die Schaltung rückgängig zu machen«, schlug Kolphyr vor. Der Bera war sehr unglücklich, denn er gab sich selbst die Schuld an allem, was geschehen war. Hätte er Chirmor Flog nicht in die Höhle geschleppt und das Lebenserhaltungssystem für ihn gebaut, so wäre alles ganz anders gekommen – meinte er. Und nun hatte er wieder versagt. Die Magier waren zwar aus ihren gefährlichen Träumen gerissen worden, aber dafür gebärdeten sie sich bösartiger denn je zuvor. »Du mußt es immer wieder probieren«, meinte Atlan. »Irgendwann wirst du den Fehler finden. Du hast dieses Ding schließlich gebaut. Die Veränderungen, die Islar daran vorgenommen hat, können nicht sehr umfangreich gewesen sein. Sieh dir alles noch einmal genau an. Versuche, dich an jede Einzelheit zu erinnern.« »Ich bemühe mich ja schon«, klagte Kolphyr, »aber diese Maschine ist unberechenbar. Was soll man dagegen tun?« Atlan schwieg. Sie hatten, sobald die Magier aus der Höhle hinaus waren, abermals die Kugeln berührt, und Kolphyr war ganz sicher, sie in die ursprüngliche Position zurückgebracht zu haben – aber die Magier benahmen sich immer noch negativ. Ab und zu rief Chirmor Flog den Arkoniden zu sich. Sie sprachen ausführlich über Duuhl Larx, die allgemeine Situation in Pthor und die Trugen, und Atlan stellte bisweilen überrascht fest, daß der Neffe tatsächlich Ansätze zu einer positiveren Denkweise zeigte. Chirmor Flog war imstande, ganz vernünftig und vorurteilslos zu reden und zum Beispiel seinem Konkurrenten mildernde Umstände zuzubilligen. »Er ist doch nur ein Werkzeug«, sagte er einmal. »So, wie ich eines war. Der Oheim benutzt uns alle nach seinem Willen, und wir können uns nicht dagegen wehren. Keiner der Neffen ist für das, was er im Namen des Oheims tut, verantwortlich. Es hat also keinen Sinn, Duuhl Larx zu hassen. Alle, die
48 das tun, sind Narren. Sie verschließen ihre Augen vor der Wirklichkeit, weil sie Angst haben. Vor langer Zeit mußte ich im Namen des Oheims ein Volk vernichten, und ich benutzte eine besondere Waffe dazu. Einige Angehörige dieses Volkes entkamen dem Inferno, und sie konzentrierten all ihren Haß auf die Waffe, die doch ganz unschuldig war. Urteile selbst – ist das nicht unvernünftig?« »Manchmal«, sagte Atlan, »ist eine Waffe so groß und mächtig, daß ihr Besitzer sich hinter ihr verbergen kann. Wer verbirgt sich hinter euch Neffen? Wer ist der Dunkle Oheim?« »Das wissen auch wir Neffen nicht«, antwortete Chirmor Flog, und Atlan konnte beim besten Willen nicht herausfinden, ob es sich dabei um eine Lüge handelte oder nicht. Immer wieder versuchte er, Chirmor Flog zu Aussagen über den Dunklen Oheim zu bewegen, und stets blieb ihm der Neffe die Antwort schuldig. Vielleicht wußte er wirklich nichts. Vielleicht betrieb er aber auch nur ein geheimes Spiel. Atlans Extrasinn enthielt sich in dieser Angelegenheit der Stimme, ja, manchmal schien es dem Arkoniden, als empfinde dieser spezielle Sinn Furcht vor dem Neffen. Und die bösartige Aura, die Chirmor Flog umgab und von der er behauptete, sie hätte keinen Einfluß auf seine Gedanken, da es sich um eine rein äußerliche Erscheinung handelte, wurde von Tag zu Tag ein wenig stärker. Die Magier erschufen unterdessen den »Lebensspender«, nach dem Chirmor Flog verlangte. Sie erschienen pünktlich vor Ablauf der Frist und setzten einen formlosen Klumpen in das Gewirr von Chirmor Flogs Körpersträngen. Offenbar war der Neffe mit diesem seltsamen Ding zufrieden, denn völlig überraschend ließ er sich dazu herab, den Magiern zu danken, was auf die Magier allerdings gar keinen Eindruck machte. Sie nahmen auch Chirmor Flogs Befehl, den Arkoniden nach Ablauf einer Stunde aus dem noch immer bestehenden Knoten hinauszubefördern, ohne erkennbare Gemütsbewe-
Marianne Sydow gung auf. »Du wirst zu Duuhl Larx zurückkehren«, sagte Chirmor Flog anschließend zu Atlan. »Erstatte ihm Bericht. Sage ihm, daß die Magier negativ sind und im Sinn des Dunklen Oheims arbeiten. Erkläre ihm, daß er nach Pthor kommen und die Magier darum bitten muß, den Schirm über der Barriere zu öffnen. Er muß ihnen dies persönlich befehlen.« »Er wird mir nicht glauben.« »Es gibt ein Mittel, ihn zu überzeugen. Bestelle ihm Grüße aus dem Kreis des immerwährenden Lebens. Es ist ein Ausdruck, der nur von uns Neffen und dem Dunklen Oheim benutzt wird. Er wird dann wissen, daß ich hier bin, aber das wird ihn nicht davon abhalten, nach Oth zu kommen. Denke immer daran: Er braucht den Erfolg, denn ein Werkzeug, das sich als nutzlos erweist, wird aussortiert werden!« Als Atlan kurz darauf vor der inneren Wand des Großen Knotens stand, war er sich immer noch nicht darüber im klaren, wie weit er Chirmor Flog trauen durfte. Dennoch würde er die Botschaft überbringen. Duuhl Larx war über alle Maßen mißtrauisch. Auch dieses spezielle Kodewort würde ihn nicht dazu bringen, Hals über Kopf die MARSAPIEN zu verlassen. Es würde Zeit vergehen, und damit bekam Kolphyr eine Chance, Islars Maschine doch noch richtig zu schalten und die Magier zu dem werden zu lassen, was sie immer gewesen waren. Reagierten diese Leute erst wieder normal, so konnte Duuhl Larx in der Barriere erscheinen – die Magier würden wissen, wie man mit ihm umzugehen hatte. Dann konnte man sich auch mit der Rettung Pthors befassen und all das wieder in Ordnung bringen, was in der letzten Zeit so gründlich schiefgegangen war. Der Tunnel öffnete sich vor dem Arkoniden, und Atlan schritt hinein.
Die Träumer von Oth
49 ENDE
Weiter geht es in Atlan Band 442 von König von Atlantis mit: Invasion aus dem Nichts von Horst Hoffmann