Atlan - Minizyklus 05 Dunkelstern Nr. 06
Die Varganen von Cramar von Michael Marcus Thurner
Wir schreiben das Jahr 12...
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Atlan - Minizyklus 05 Dunkelstern Nr. 06
Die Varganen von Cramar von Michael Marcus Thurner
Wir schreiben das Jahr 1225 NGZ. Atlan, der unsterbliche Arkonide, ist gemeinsam mit der geheimnisvollen Varganin Kythara auf die Fährte der Lordrichter von Garb gestoßen, die mit riesigen Armeen ihrer Garbyor-Völker und geraubter varganischer Technologie an vielen Orten des Universums wirken. Zunächst wurden sie in der Southside der Milchstraße mit ihnen konfrontiert, und nun stehen sie in der Kleingalaxis Dwingeloo wieder im Kampf gegen die unheimlichen Invasoren. Zwar haben sie Unterstützung durch Cappin-Raumer, die aus Gruelfin hierher gelangt sind, doch die Übermacht des Feindes ist überwältigend. Mittlerweile wissen – oder ahnen – die beiden Unsterblichen zumindest, dass die Lordrichter mit einer Verkleinerungstechnologie und mit der weitgehend unerforschten Schwarzen Substanz experimentieren. Auch der Vargane Kalarthras ist davon befallen. Bei ihrer Suche nach Heilung entdecken Atlan und Kythara die VARGANEN VON CRAMAR …
Die Varganen von Cramar
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide sucht auf Cramar Heilungsmöglichkeiten für Kalarthras. Flink - Eine genetisch fehlerhafte Frau wird zur Stütze der Freiberufler. Fisker - Ein Cramar-Vargane lernt die Schrecknisse des Freiberuflertums kennen. Kalarthras - Der Vargane trifft seine »Kinder«.
1/a Zur internen Kenntnisnahme: Das Arbeitsantrittsformular 283/7 aus Dienststellenformulierungsabteilung 58 des Ministeriums für Verbeamtung muss zuverlässig zu Beginn jedes Arbeitsquintals bei der Magistratsabteilung 15 (Verwaltungspapiereinlaufstelle) eingehen. Dienstanweisung lt. DAG § 259, Version 342.2, gez. Z-Tomanet
* Der Schock raubte ihm den Atem, die Hände zitterten. Tomanet wandte furchtsam seinen Blick von dem Schriftsatz ab, der soeben im Einlaufordner gelandet war. Er hatte bei der Formulierung der Anweisung den falschen Paragraphen herangezogen! Er ahnte, was auf ihn zukam. Mit Schrecken dachte er an das Schicksal von Hansen aus dem benachbarten Beamtenversoldungs-Ministerium. Der gute Mann hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Gut, Hansen hatte seit jeher als labil und nicht sonderlich belastbar gegolten. Aber Tomanet wusste, dass Fehler dieser Art in offiziellen Verwaltungspapieren nicht so leicht ausgemerzt werden konnten und mit Sicherheit mehrere Jahre strengster Revisionsarbeit nach sich zogen. Oder noch schlimmer … Wie hatte ihm bloß dieser Fehler unterlaufen können? Er war dumm, dumm, dumm! »Probleme?«, fragte Plastorex hämisch und grinste ihn an, die kurzsichtigen Augen zusammengekniffen. Sein Gegenüber – klein, leptosom, schütteres, dunkelgoldenes Haar – war schon seit
mehreren Jahren darauf bedacht, Tomanet das Leben zur Qual zu machen. Er war scharf auf zusätzliche Ablagefläche – oder gar auf den ganzen Schreibtisch, und es mochte durchaus sein, dass Plastorex in Kürze sein Ziel erreichte. Wer einmal ins Visier der Revision geriet, musste bis zur so genannten Läuterung mit extremer Minderung der Lebensqualität rechnen. Und selbstverständlich mit Schikanen, wie zum Beispiel einer Verlegung des Arbeitsplatzes in die unteren Etagen, nahe den hausinternen Kläranlagen. »Kochfein?«, fragte Zigana, Verpflegungssachbeamtin im III. Rang und damit für Getränkeversorgung während der Dienstzeiten zuständig. Tomanet hielt eine Hand über die Tasse und schüttelte den Kopf. Er hatte heute bereits acht oder neun Gläser der dunkelbraunen Brühe gehabt. Was mach ich bloß, was mach ich bloß?, dachte er verzweifelt, während er nach außen hin seinen gewohnt unverbindlichen Gesichtsausdruck zur Schau stellte. »Blick immer interessiert und dienstbeflissen drein, Bub«, hatte ihm die Mutter auf dem Totenbett als Rat mit auf den Weg gegeben. »Aber nicht zu interessiert, sonst giltst du als ehrgeiziger Streber, und die Kollegen rammen dir den Kritzopump in den Rücken.« Mit einem letzten Seufzer hatte sie ihr Leben ausgehaucht und war noch am selben Tag gemäß der Befeuerungsverordnung in der hauseigenen Fernwärmezufuhrstelle verbrannt worden. Zigana umkreiste den Tisch, goss Plastorex auf dessen Wunsch hin die Tasse halb voll und setzte dann ihren Rundmarsch durch das Großraumbüro fort. Tomanet blickte unauffällig die langen Reihen zur Linken entlang. Eigentlich mus-
4 ste er dankbar sein, in dieser relativ kleinen Abteilung des Ministeriums für Verbeamtung untergekommen zu sein. Hier flappten die riesigen Ventilatoren unablässig und sorgten für ausreichende Frischluft – was längst nicht überall der Fall war. Auch saßen nicht mehr als sechshundert Männer und Frauen in dem blaugrau getünchten Seitentrakt des krakenförmigen Hauptgebäudes. Jeder der Mitarbeiter hatte einen eigenen Papierkorb, einen Vierteltisch, einen Kritzopump-Behälter und ein jährliches Quantum an Frischpapier, für das in anderen Ministerien mancher hohe Beamte ein bis zwei Beine hergegeben hätte. Tomanet hätte sich wirklich, wirklich glücklich schätzen müssen. Die ersten vierzig Jahre seines Lebens waren in ruhigen Bahnen verlaufen. Ohne allzu viel Aufregung – wenn man einmal von den intriganten Mobbing-Attacken Plastorex' absah. Die Besoldung reichte aus, um eine komfortable Einzimmerwohnung im mittelständischen Stadtteil Kar unterhalten zu können, und beim allwöchentlichen Gesellschaftstanz im »Haus der Freude« hatte er bereits den einen oder anderen Blick einer der Junggesellinnen auf sich ruhen gespürt. Er besaß einen ausgezeichneten Leumund, war angesehen und – darauf durfte er durchaus stolz sein – bot eine imposante Erscheinung. Dennoch: Irgendetwas hatte ihm bislang gefehlt, um sich wirklich wohl in seiner Haut zu fühlen. Doch was sollte das Grübeln über die Vergangenheit, wenn er ohnehin keine Zukunft mehr besaß? Dieser eine Schreib- oder Tippfehler würde sein Leben in neue Bahnen lenken. Tomanet sah an Plastorex vorbei, fixierte eine der vielen blinkenden Warntafeln, die in endlos scheinenden Reihen zwischen den einzelnen Sitzreihen von der Decke hingen. »Beamte des Ministeriums für Verbeamtung arbeiten fehlerfrei«, stand dort geschrieben. Als Erinnerung, Mahnung und Drohung zugleich. Immer mehr wurde sich Tomanet der
Michael Marcus Thurner Konsequenzen seines Fehlers bewusst. Er fühlte sein Gesicht rot werden. Spürte, wie sich Schweißporen öffneten und er zu transpirieren begann. Brachte das Zittern seiner Hände kaum mehr unter Kontrolle. Er hatte eine der wichtigsten Regeln, auf denen ein funktionierender Beamtenstaat beruhte, gebrochen. Was sollte er nur tun? Für einen Moment meinte er, einen kleinen Hoffnungsschimmer zu erfassen: Vielleicht würde niemand seinen Fehler bemerken? Nein. Unter keinen Umständen. Sein Verordnungsentwurf war zeitgleich 36 weiteren Beamten zugegangen, die penibelst nach Fehlern suchen würden. Ein jeder, der auf diesen Planstellen Dienst tat, würde das Schriftstück mit größtmöglicher Aufmerksamkeit überprüfen. Rechts von ihm blinkte wie zum Hohn ein neues Mahnschild auf: »Ein gefundener Fehler ist ein weiterer Schritt auf Ihrer Karriereleiter!« Tomanet dachte an die unzähligen freiwilligen Überstunden, die er mit der Überprüfung neuer Gesetzestexte verbracht hatte, um eben diese Karriereschritte auf Kosten anderer zu machen. Die Sirene heulte. Dienstende. Stühle wurden gerückt, Nachbarn grüßten einander formell zum Abschied. Man holte die einheitliche Oberbekleidung der Beamtenkaste aus den Spinden und trat den Nachhauseweg an. Einige Männer und Frauen blieben sitzen, um Korrekturlesungen zu Ende zu bringen. Der eine oder andere mochte bereits Tomanets Text in Händen halten. Sah vielleicht schon jemand zu ihm herüber, triumphierend und schadenfroh? Glücklich darüber, dass es einen anderen erwischt und man selbst die Chance auf eine Beförderung hatte? Nein, noch blieb es ruhig. Plastorex wandte sich soeben ohne Gruß ab, grinste schmierig in Richtung Ziganas, die ihren riesigen Kochfein-Behälter wie jeden Tag un-
Die Varganen von Cramar gereinigt stehen ließ, und begab sich den Massen hinterher, Richtung eigenes Heim. Tomanet blieb für einen Moment sitzen. Mit steifen Fingern packte er die halbe Paradosi weg, die er sich vom Mittagessen abgespart und für das Abendmahl zu Hause aufgehoben hatte. Das Wasser war ihm während der gesamten Nachmittagseinheit im Mund zusammengelaufen bei dem Gedanken, welche lukullischen Freuden ihn erwarteten … War ihm vielleicht deswegen der Fehler unterlaufen? Tomanet schüttelte verzweifelt den Kopf. Es gab keinen Ausweg. Er musste eine Selbstanzeige machen und die Dienstanweisungskorrektur beantragen. Nur so konnte er den Schaden einschränken. Er fingerte das rosarote Formular aus dem untersten Karteikasten, sog routiniert am Tintenbeutel und füllte das Blatt mit dem Kritzopump aus. Sein Leben würde von jetzt an ziemlich … ziemlich – nun, aufregend war wahrscheinlich das richtige Wort – verlaufen.
1/b Alarm! Wieder einmal. Gorgh-12 schreckte aus seinem Dämmerschlaf, griff nach den wenigen Reglern der Aktiv- und Passivortungseinheiten, mit denen er mittlerweile traumwandlerisch sicher umgehen konnte. Halbstoffliche Brustklammern wanden sich um mich, fixierten meinen Leib für den Fall der Fälle. »Garbyor?«, fragte ich knapp. »Haben sie unsere Spur erneut gefunden?« »Nein«, entgegnete Kythara. »Ich sehe keine fremden Schiffseinheiten.« Auch die Varganin schien ratlos, ein wenig desorientiert. »Alarm aus!«, befahl sie der Positronik. Das enervierende Geräusch, das wir in den letzten Tagen oft genug vernommen hatten, verklang augenblicklich. Am Rande registrierte ich, dass alle
5 Schutzschirme der AMENSOON auf höchste Leistung gefahren worden waren. Die Positronik reagierte atemberaubend rasch auf eine latente Gefahr, die wir noch nicht einmal entdeckt hatten. Nur Momente später explodierten die Bilder auf dem großen Holoschirm, zogen meine Blicke und die der anderen Anwesenden auf sich. Fehlfarbenes Gesprenkel weißer, roter und gelber Sonnen stob an uns vorbei, führte unsere Blicke durch die Schwärze des Weltraums in einen Sektor nicht allzu weit voraus auf unserem Schleichkurs, den wir seit nunmehr drei Tagen flogen. Ein Kreis markierte fünf knapp nebeneinander stehende Sterne. »Diese Sonnen sind soeben im Normalraum aufgetaucht«, sagte die Positronik. »Definiere aufgetaucht«, verlangte Kythara. »Es ist die gängige Definition«, erwiderte das Schiffsgehirn. »Dort, wo nichts war, ist plötzlich etwas.« Klang da etwa Verwunderung in der wohlmodulierten Stimme mit? »Strukturerschütterungen!«, sagte Gorgh, gänzlich unaufgeregt, wie es seinem Naturell entsprach. »Sie greifen mit Überlichtgeschwindigkeit um sich, von der neuen Sternengruppe aus. Eine Schockwelle kommt frontal auf uns zuge …« Strukturerschütterungen. Schockwelle. Hyperenergie. Dies waren aus Hilflosigkeit geborene Begriffe für Dinge, die aus einem fremden Kontinuum in unser Universum herüberschwappten; Ausprägungen einer andersartigen Entropie, die wahrscheinlich gerade mal die hundert klügsten Köpfe unserer Milchstraße verstandesgemäß erfassen konnten. »Können wir ausweichen?«, fragte Kythara. Sie wirkte beherrscht, ihre entzückende Nasenspitze glänzte bestenfalls ein wenig heller. In etwa wie Weißgold. Sehr witzig, kommentierte der Extrasinn, verhielt sich aber gleich wieder ruhig. »Nein«, antwortete die Positronik. »Ein
6 Umkehr- oder Abdriftmanöver kommt zu spät.« »Höchstbeschleunigung darauf zu. Nottransition!«, entschied Kythara sekundenschnell. »Das ist blanker Wahnsinn!«, rief ich. »Die Strukturerschütterungen beherrschen auch den höherdimensionalen Raum …« Sie ignorierte mich, ließ sich in ihrer Konzentration nicht stören. An den Anzeigewerten erkannte ich, dass die Sublichttriebwerke das Schiff mit nahezu 950 Kilometern pro Sekundenquadrat beschleunigten. Ein atemberaubender Wert – dennoch würden wir mehr als eine Minute benötigen, um in den Hyperraum vordringen zu können. Natürlich konnte ich nicht spüren, wie die AMENSOON auf die Notprogrammierung reagierte, und natürlich veränderte sich für uns an Bord des Schiffes scheinbar überhaupt nichts. Zumindest gemäß den Gesetzen der Logik. Denn arkonidische – und menschliche – Sinne verlangen danach, sich einer Gefahr körperlich bewusst zu werden. Und so glaubte ich, ein leichtes Zittern der Außenwandung des Schiffs zu bemerken, als die AMENSOON mit Höchstwerten beschleunigte. Ein Aufjaulen gequälter Aggregate. Ein Vibrieren, tief drinnen in meinem Magen, das Übelkeit hervorrief. »Die Ausläufer der hyperenergetischen Verwirbelungen erreichen mich in 18 Sekunden …« Warum, bei allen Sternenteufeln, wunderte ich mich just in diesen Momenten darüber, dass die AMENSOON in terranischen Einheiten rechnete? »… sechzehn …« »Alle Kraft in die Schutzschirme!«, schrie ich. »Kombischirm in Maximalentfernung zum Schiff errichten …« »Negativ!«, widersprach Kythara mit einem kurzen, wütenden Blick auf mich. »Weiterhin volle Beschleunigung auf den Ausgangspunkt der Strukturerschütterung zu.«
Michael Marcus Thurner »… zwölf …« »Das ist Unsinn!« Ich wollte aufspringen, wurde von den semitransparenten Brustklammern zurückgehalten. »Wir müssen unbedingt die Schutzschirme stärken!« Eine Gänsehaut zog über meinen Rücken. War die Varganin denn übergeschnappt? Ich fühlte mit jeder Faser meines Körpers, dass Kythara falsch entschied. Unlogisch, vielleicht von Panik oder von Hysterie gesteuert. »… acht …« »Bitte!«, bat ich sie, flehte sie geradezu an. Sie würdigte mich keines Blickes. Ich sah, wie sich ihre Hände verkrampften und der Oberkörper steif wurde, noch steifer als sonst. Gorgh hingegen blieb stoisch ruhig. Er nahm die Entscheidung der Kommandantin der AMENSOON kommentarlos hin. Hätte sie auf Kalarthras gehört, ihren ehemaligen Liebhaber? Kurz spielte ich mit dem Gedanken, den Varganen in seiner Kabine zu kontaktieren, ihn aus einem medikamentös geförderten Schlaf zu reißen und zu bitten, Kythara zur Räson zu bringen. Aber es war zu spät, die Zeit zu knapp. »… drei …« Ich zwang mich, die Augen offen zu lassen. Zu beobachten, wie die hyperenergetische Welle über uns hinwegschwappte. Wie würde sie sich auswirken? Was würde sie mit uns allen anstellen? »… eins, Kont …«
2/a Zur internen Kenntnisnahme: Dienstanweisung lt. DAG § 259, Version 342.2 ist vorerst außer Kraft gesetzt, da es sich um die Zitierung eines falschen Paragraphen handelt (259 statt 253). Bis zur Konkordanz der in Planung befindlichen Dienstanweisung Version 342.3 ist gemäß Rückgriffsrechtgesetz § 33 auf die Dienstanweisung Version 342.1 zurückzugreifen. Dienstanweisungskorrektur lt. DAK §11, Version 9.9, gez. Tomanet
Die Varganen von Cramar Schlimmer hätte es für ihn gar nicht kommen können. Seine Karriere, ja seine Existenz hing an einem seidenen Faden. Tomanet leerte das Kochfein nur so in sich hinein. Selbstverständlich musste er sich selbst bedienen – Zigana wich ihm seit heute Morgen bewusst aus. Er verlor wertvolle Arbeitsminuten und geriet mit seinem Soll immer weiter in Rückstand. Doch was machte das heute schon? Auch alle anderen Kollegen und Bekannten schnitten ihn, warfen ihm bestenfalls scheue Blicke zu. Lediglich Plastorex nahm ihn zur Kenntnis – allerdings nur, um ihn zu verhöhnen. Das rosafarbene Papier, so dünn, dass Tomanet es kaum zwischen seinen Fingern spürte, wog so schwer wie ein Schrank mit unerledigten Akten. Zum vielleicht fünfzigsten Mal las er sich die verhängnisvollen Zeilen durch. »… fordern wir Sie auf, nach Dienstschluss das Ministerium für Interne Revision, Abteilung III, Hrn. VB Zudalek, aufzusuchen.« »Schrecklich, nicht wahr?«, heuchelte Plastorex. »Da rackert man sich sein ganzes Leben lang ab, buckelt sich die Karriereleiter hoch, um schließlich in ein tiefes schwarzes Loch zu fallen. Hm. Haben Sie sich eigentlich überlegt, wer Ihr Papier-Kontingent erhalten soll?« »Noch ist es nicht so weit«, rief Tomanet zornig, konnte allerdings das verräterische Zittern in seiner Stimme nicht verhindern. »Es ist lediglich eine Aufforderung, in der Revision zu erscheinen. Das bedeutet noch lange nicht, dass ich verurteilt werde.« »Geben Sie sich bloß keinen falschen Hoffnungen hin.« Plastorex klappte eine handliche Nagelfeile hoch, kratzte den Schmutz unter seinen Fingernägeln hervor und schnippte ihn auf Tomanets Seite des Schreibtisches. »Haben Sie schon einmal gehört, dass jemand den Schergen im Schwarzen Ministerium entkommen wäre? Eine Vorladung bedeutet, unwiderruflich in die untersten Ränge hinabgestoßen zu werden.« Tomanet wandte sich angeekelt von sei-
7 nem Gegenüber ab. Plastorex suhlte sich in sadistischer Freude und gab sich erkleckliche Mühe, seine Ängste weiter zu schüren. Und leider, so musste Tomanet zugeben, hatte der Mann Recht. War man einmal ins Visier der Revision gelangt, war es vorbei mit einem geregelten, ordentlichen Leben. Die Sirene heulte. Was? Schon so spät? Tatsächlich. Das Flappen der Ventilatoren ließ nach, die Leuchtbalken mit den Lehrsprüchen verblassten. Ruhig, noch ruhiger als sonst, machten sich die Kollegen auf den Heimweg. Keiner wagte es, ihm Glück zu wünschen. Sie alle schlichen nach Hause, erleichtert darüber, nicht derjenige zu sein, den es erwischt hatte. Plastorex stand auf, kurvte um den Schreibtisch und platzierte demonstrativ mehrere leere Ablagefächer auf Tomanets Seite. »Sie erlauben doch?«, feixte er und marschierte davon, eine fröhliche Melodie auf den Lippen. Am liebsten hätte Tomanet ihm in den fetten, fleischigen Hintern getreten. Doch das hätte seine Verhandlungsposition in der Revision keinesfalls verbessert. Es wurde gemunkelt, dass in jeder Abteilung haufenweise Beobachtungskameras versteckt waren. Er fuhr sich mit fahrigen Bewegungen durchs dünner werdende Haar, faltete aus alter Gewohnheit das Revisionspapier sorgfältig an den Kanten zusammen und versorgte es in seiner speckig glänzenden Aktentasche, dem einzigen Erbstück seines Vaters. Tomanet gab sich einen Ruck, sah sich ein letztes Mal um und verließ das Büro. Heute war niemand geblieben, um unbezahlte Überstunden zu leisten. Niemand wollte ihm begegnen, niemand wollte ihm in die Augen blicken. Gab es ein grässlicheres Schicksal, als einem Beamten der Revisionsabteilung gegenüberzutreten?
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Michael Marcus Thurner
2/b Die Schiffswände um mich verschwammen zu undeutlichen Farbklecksen, die Stimme der Positronik wurde zu undeutlichem Geknurre. Übergangslos fühlte ich mich einem Säureregen ausgesetzt, der meine Haut zersetzte … Schließ die Augen, empfahl mir der Extrasinn. Deine Sinne sind überreizt. Das sind die üblichen Symptome einer hyperenergetischen Sturmflut. Ich hatte solche Effekte schon öfter erlebt, als mir lieb war, und sie konnten mich, obwohl sie jedes Mal in anderer Form auftraten, nicht mehr überraschen. Was mich allerdings verblüffte, war, dass wir lebten. Ich gehorchte dem Rat des Extrasinns keineswegs. Mühsam und gegen die Sinnesverwirrungen ankämpfend, wandte ich meinen Kopf den goldenen Anzeigedisplays zu. Schemen, feine Gespinste und hauchdünne Schleier tanzten durch die Zentrale. Rundherum, immer wieder rundherum, wie Derwische. Ich beutelte den Kopf, vertrieb die Phantasmagorien für wenige Momente. Die Belastungsanzeige der dreifach gestaffelten Schutzschirme war längst über den roten Bereich hinausgekrochen. Die Spitzenwerte des Hyperorkans lagen bei weit mehr als 180 Meg, und noch war der Höhepunkt des Sturms nicht erreicht … »Mehr Saft in die Schutzschirme«, wollte ich von Kythara, die neben mir saß und ins Leere stierte, fordern, brachte aber nur ein unartikuliertes Brabbeln über die Lippen. Die AMENSOON beschleunigte nach wie vor, musste allerdings gegen die bremsende Wirkung der hyperenergetischen Effekte ankämpfen. Konnte ich den wenigen Anzeigen, die noch funktionierten, Vertrauen schenken? Eine Welle weißgelben Lichts breitete sich aus, füllte die Zentrale, griff gierig nach uns. Das Wabern schien ein Gesicht zu ha-
ben, als es mich einhüllte, mir gewaltsam den Mund aufriss, in mich eindrang und … »… Überlichtgeschwindigkeit erreicht!«, meldete die Positronik, während die Effekte spürbar nachließen. Mein Oberkörper, verkrampft und wie gegen Sturmwind ankämpfend, fiel haltlos nach vor, hinein in die Fesselklammern meines Stuhls. Ich schwitzte. Ganze Bäche von Schweiß rannen über Stirn, Wangen und Kinn. Tropften hinab auf den glatt polierten Boden, wo sie zischend und spurlos vergingen. Die bioaktiven Selbstreinigungsfunktionen der AMENSOON arbeiteten also wieder. Ein gutes Zeichen. »Das war … der blanke Wahnsinn«, krächzte ich. »Es hat funktioniert«, entgegnete Kythara seelenruhig. Die Varganin blieb aufrecht sitzen. Sie bewegte lediglich da und dort einen Regler, strich über Tasten und betrachtete konzentriert ein Miniatur-Holo vor ihren Augen. »Wir sind durch«, sagte sie schließlich. »Wir haben die Schockwelle frontal durchstoßen und konnten, bevor ernsthafte Schädigungen des Schiffs auftraten, in den Hyperraum wechseln.« »Du bist, um die Strukturerschütterungen so rasch wie möglich zu durchfliegen, auf Frontalkurs gegangen, nicht wahr?« »Ja.« »Das war geplanter Selbstmord mit Anlauf!«, rief ich. »Woher konntest du wissen, dass die AMENSOON die Spitzenbelastungen verkraften würde?« »Es war die einzige Chance! Wären wir ausgewichen und hätten, so wie von dir vorgeschlagen, bloß die Schutzschirmstaffeln maximiert – wir wären den hyperenergetischen Effekten mehr als viermal so lang ausgesetzt gewesen.« »Unter dem Schutz der verstärkten Kombischirme!« »Es ist müßig, länger darüber zu diskutieren, Arkonide.« Kythara hielt die Augen zusammengekniffen und musterte mich kalt.
Die Varganen von Cramar »Ich habe entschieden, und ich habe Recht behalten.« Ich wollte erneut aufbegehren, ihr das Ausmaß ihrer Unvernunft nochmals begreiflich machen … Lass es gut sein, empfahl der Extrasinn. Diese Dame ist genauso halsstarrig wie du selbst. Ich bin nicht halsstarrig!, wehrte ich mich. Aber nein – du doch nicht! Seine gedankliche Stimme triefte vor Sarkasmus. Ich hab bloß immer Recht. Natürlich. »Die Positronik meldet, dass lediglich geringfügige Schäden aufgetreten sind, die sich mit Hilfe der Selbstreparaturmechanismen beseitigen lassen«, unterbrach Gorgh12 mein internes Zwiegespräch. »Gut«, murmelte Kythara und seufzte. Sie ließ sich erleichtert in ihren Stuhl zurückplumpsen. Die Varganin bemühte sich stets, nach außen hin möglichst beherrscht dazustehen. Insgeheim bewunderte ich sie für ihre Haltung. Doch jetzt zeigte auch sie Wirkung. Keiner von uns konnte sagen, wie knapp es diesmal gewesen war. Wie viele Sekunden oder Sekundenbruchteile angesichts der Unabwägbarkeiten hyperdimensionaler Verwerfungen zwischen uns und dem Tod gestanden hatten. »Es ist noch nicht vorbei«, sagte Kythara und wies auf flackernde Anzeigen. »Der Sturm ebbt zwar ab, ist aber weiterhin spürbar. Es besteht die Gefahr, dass wir in den Normalraum zurückgesogen werden – beziehungsweise dass das Schiff in einem Zwischenkontinuum zerrissen wird.« Wie zum Beweis für die Gefahr verschob sich das Licht der Zentrale in einen unangenehmen Blaubereich, während die MegAnzeige abrupt in die Höhe schnellte. Ich hielt mich krampfhaft an den Stuhllehnen an, wartete darauf, dass irgendetwas passierte – doch so abrupt, wie das Phänomen aufgetaucht war, verschwand es wieder. »Ein hyperenergetischer Nachzügler«,
9 sagte Gorgh unbeeindruckt. »Ich vermute, dass es der letzte war.« Nun – das konnte ich nur hoffen. Mein Nervenkostüm hatte in den letzten Tagen und Wochen ohnehin ziemlich gelitten.
* Wir unterbrachen unseren Hyperraumflug und verkrochen uns im Ortungsschatten einer namenlosen Sonne. Mehr als 2900 Lichtjahre lagen nunmehr zwischen uns und dem Sothin-System, in dem wir einer Falle der Garbyor entkommen waren. Die »Schwarze Substanz«, die schlussendlich das ganze Sonnensystem in den Untergang gerissen hatte, war uns nach wie vor ein Rätsel. Nur langsam erschlossen sich die Zusammenhänge. Die schlimmste Befürchtung jedoch – jene, dass die Garbyor einen Zugang zum Mikrokosmos der Varganen suchten – gewann immer mehr an Wahrscheinlichkeit. Kythara hatte Kalarthras aus seinem »Schönheitsschlaf« geweckt. Der dunkle Vargane benötigte nach wie vor mehr Ruhe als unsereiner. Wir hatten die letzten drei Tage, die wir in »Schleichfahrt« auf der Flucht vor Garbyor-Truppen verbracht hatten, dazu genutzt, ihm eine Schlafkur angedeihen zu lassen. Die Medi-Einheiten der AMENSOON päppelten ihn überdies mit Hilfe vitaminreicher Nahrung und eines ausgeklügelten Fitnessprogramms weiter auf. Der Vargane nickte mir zu, nachdem er sich flüsternd mit Kythara unterhalten hatte, und ließ sich in einen Formenergie-Sessel fallen. Sein Hautteint war erneut nachgedunkelt. Noch konnte niemand etwas über die Zusammenhänge zwischen dem Dunkelstern und seinem veränderten Aussehen sagen. Die Vermutung, dass es welche gab, war zumindest für mich nahe liegend. Doch würden sie für den Mann existenzbedrohend werden? »Die Auswertungen sind abgeschlossen«, sagte Kythara schließlich und blickte uns der
10 Reihe nach an. »Jene fünf Planeten, die übergangslos im Normalraum aufgetaucht sind und die hyperenergetische Schockwelle ausgelöst haben, existieren in den Aufzeichnungen der AMENSOON. Auch Kalarthras kennt sie als markanten Bestandteil einer Sternengruppe namens Venad …« Venad … ein neuer Begriff in einer fremden Galaxis namens Dwingeloo. »… keine 90 Lichtjahre von unserem Ziel Cramar entfernt.« »Diese Sternenballung ist eurer Meinung nach also verschwunden, um heute unter hyperenergetischen Begleiterscheinungen zu rematerialisieren«, sagte Gorgh. »Habe ich das richtig verstanden?« »So könnte man es sagen«, antwortete Kythara zögernd. »Wie soll das vor sich gegangen sein?« »Ich vermute, dass es sich um einen weiteren Begleiteffekt handelt, der durch den Dunkelstern ausgelöst wurde.« Der Dunkelstern … Ein Begriff, den wir erst vor wenigen Tagen kennen gelernt hatten. Dennoch kreisten unsere Gedanken unablässig um diese blauweiße Riesensonne, die alle Merkmale eines enorm starken Hyperstrahlers aufwies. »Wir müssen uns endgültig mit der Idee anfreunden, dass die Lordrichter den Dunkelstern als Waffe einsetzen wollen«, sagte ich. Die beiden Varganen sahen mich nachdenklich an. Gorghs starren Blick vermochte ich nicht zu deuten, aber ihn beschäftigten wohl ähnliche Gedanken. »Ich plappere jetzt nur so aufs Geratewohl dahin«, fuhr ich fort. »Unterbrecht mich bitte, wenn ich Unsinn rede.« Niemand sagte etwas. Also stand ich auf, durchmaß die Zentrale mit wenigen Schritten, marschierte zurück. »Die Schwarze Substanz geht vom Dunkelstern aus. Sie springt mal hier, dann dahin, befällt andere Sonnen. Es kommt in grob einem Drittel von Dwingeloo zu schwerwiegenden Irritationen des RaumZeit-Gefüges, die offensichtlich mit der Schwarzen Substanz im Zusammenhang ste-
Michael Marcus Thurner hen. Überschreitet diese eine bestimmte Massekonzentration, verwandelt sich der befallene Stern in einem unkontrollierbaren Vorgang in eine Supernova – oder lässt ganze Sektoren raumzeitlich kollabieren.« Wieder drehte ich mich um, begann meinen Rundgang von neuem. »Der Gedanke, dass irgendjemand diesen Vorgang bewusst steuern könnte, ist schrecklich.« Bilder und Erinnerungen an Auseinandersetzungen, in denen Arkonbomben eingesetzt worden waren, kamen hoch. Vergehende Planeten, einem unumkehrbaren Atombrand ausgesetzt … oder jene an eine andere, ebenso schreckliche Waffe: überdimensionierte Paratronwerfer, die Masse und Energie großräumig in den Hyperraum abstrahlten. »Weiter«, forderte mich Kythara auf, die unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. »Kalarthras hat uns den wichtigen Hinweis geliefert, dass sich in der Verdickung der Dunkelstern-Akkretionsscheibe voraussichtlich eine Varganen-Station befindet.« ' Der Mann nickte leicht, als ich ihn anblickte. »All die Phänomene, denen wir in Dwingeloo permanent begegnen, wurden möglicherweise von dieser Station aus initiiert. Die weggeschleuderte Schwarze Substanz ist – noch – ein ungesteuertes Nebenprodukt.« Ich holte tief Luft. »Ist sie es vielleicht deswegen, weil die Varganen dieser Station mit Kräften hantiert haben, die außer Kontrolle geraten sind? Weil eure Gefährten gewaltsam versuchen wollten, ein Tor zum Mikrokosmos zu öffnen?« Der Extrasinn schwieg – was kein Wunder war, da er diese Theorie gemeinsam mit mir entwickelt hatte. »Ich erinnere mich an etwas«, murmelte Kalarthras, während er aufstand und mir den Rücken zukehrte. »Es gab in der Tat Versuche, in unseren Heimatkosmos zurückzugelangen.« Kythara blickte ihn ebenso verblüfft an wie ich. Warum hatte er das nicht schon früher er-
Die Varganen von Cramar wähnt? Die Antwort auf diese Frage liegt im beschränkten Erinnerungsvermögen der Varganen, meinte der Extrasinn. Eine Lebenszeit von 800.000 Jahren, unglaubliche Mengen an Namen, Orten, Sprachen, angelerntes Wissen und so weiter erfordern selektives Vergessen. Beziehungsweise assoziatives Erinnern, sobald die Notwendigkeit entsteht. So wie jetzt. Ich hatte Kalarthras ein paar Stichwörter hingeschmissen, und mit ein wenig Glück drängten die notwendigen Informationen aus den Tiefen seines Unterbewusstseins nach oben. »Haitogallakin«, flüsterte er, kaum verständlich. Ich kannte den Namen. Kalarthras hatte ihn bereits einmal erwähnt. »Der Chefwissenschaftler jener Varganen, die mit mir hierher ausgewandert sind«, fuhr er fort. »Er war nahezu besessen gewesen von dem Gedanken, ein Tor, das in die Heimat zurückführte, zu finden.« »Erzähl mir mehr«, forderte ihn Kythara auf. Ihre Augen leuchteten. Heimat – dieses Wort musste für die Varganen, die sich trotz ihres unglaublichen Alters noch immer als kosmische Vagabunden betrachteten, einen ganz eigenen Beigeschmack haben … »Da gibt es nicht viel zu sagen.« Kalarthras drehte sich der Frau und mir zu. »Als ich Dwingeloo verließ, vor ungefähr 350.000 Jahren, um Abenteuer und Wissen zu suchen, hatte Haitogallakin gewisse Teilerfolge erzielt. Möglich – oder wahrscheinlich –, dass ihm in den nachfolgenden Jahrhunderttausenden ein gewisser … Durchbruch gelungen ist.« »Und du hast dich nicht weiter für die Experimente dieses Mannes interessiert?«, bohrte Kythara nach. Kalarthras sah sie mit einem mitleidigen Lächeln an. »Denk an die Eisige Sphäre. Als viele von uns in den Mikrokosmos zurückkehrten und alles schief ging, was nur schief gehen konnte …«
11 Sie wandte sich ab, mit verbissen zusammengepressten Lippen. Als könnte sie die Erinnerung an das fürchterliche Debakel runterschlucken. »Sei's drum!«, führte der Vargane das Gespräch kurzerhand auf das Wesentliche zurück. »Ich kann keine weiteren Informationen liefern.« Dreieinhalb Jahrhunderttausende waren also an dem Mann vorübergegangen, seitdem dieser Haitogallakin, einer von nur 74 Varganen in Dwingeloo, erste Erfolge beim Durchbruch in den Mikrokosmos gefeiert hatte. Was mochte in diesem kaum überschaubaren Zeitrahmen alles passiert sein? Ich musste unvermittelt an die Vielzahl von Neutronenstern-Pulsaren denken, die alle mit einer übereinstimmenden Periode von etwas mehr als eins Komma drei Sekunden Strahlung im Radiofrequenzbereich emittierten. Ihre Geburt lag allesamt nur wenige hunderttausend Jahre zurück … »Es hilft nichts«, sagte Kythara. »Wissen werden wir nur vor Ort sammeln können, am Dunkelstern.« »An den Truppen der Lordrichter ist vorerst kein Vorbeikommen«, widersprach Kalarthras. »Die 15.000 Garbyor-Schiffe, die dort stationiert sind, zweifelsohne bewaffnet von Heck bis Bug, schießen uns in Gedankenschnelle aus diesem Universum.« »Ich weiß«, sagte Kythara und klopfte mit den Fingernägeln rhythmisch auf einen kleinen Beistelltisch. Ihre Ungeduld war nicht zu übersehen. »Zumal wir den Lordrichtern trotz aller Bemühungen nicht entkommen können.« Kalarthras schluckte den mitschwingenden Vorwurf, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. »Ich weiß, dass ich ein … Sicherheitsrisiko für die AMENSOON und ihre Besatzung darstelle«, sagte er nach kurzer Denkpause. »Wenn die Garbyor tatsächlich in der Lage sind, die Schwarze Substanz in meinem Körper anzumessen, werden sie uns immer und überall finden. Selbst in unmittelbarer Nähe und im Ortungsschatten einer Sonne wie dieser hier.« Er deutete zur Wan-
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Michael Marcus Thurner
dung des Schiffes. Dort, wo ein glühendes, gieriges Monster mit Temperaturen jenseits der 40.000 Grad Kelvin die Schutzschirme zu durchdringen und uns zu rösten versuchte. »Du willst also weiterhin, dass wir Kurs auf Cramar halten?«, fragte ich. »Unbedingt.« Er reckte das schwarzgoldene Kinn energisch nach vorne und blickte träumerisch geradeaus. Nicht zum ersten Mal spürte ich etwas von dieser unbändigen Energie, die der Mann besaß. Kythara war keineswegs die Frau, die sich bedingungslos jedem Mann in Leidenschaft hingab. Kalarthras stellte in ihrem Leben etwas ganz Besonderes dar. Nicht umsonst war er äonenlang ihr Liebhaber gewesen. »Cramar ist der richtige Ort für uns«, fuhr der Vargane fort. »Ein Hafen der Sicherheit. Eine Welt, in der ich mich in aller Ruhe um dieses … Problem in meinem Körper kümmern kann.« »Bist du sicher?«, fragte ich ein letztes Mal nach. »Zum letzten Mal: ja. Cramar ist wie das Kyriliane. Oder, wie du sagen würdest: wie das Paradies.«
3/a Cramar, seine Heimat, war für Tomanet seit heute nur eine bessere Umschreibung für »ewige Verdammnis«. Das dunkle Tor, der Eingang zum Ministerium für Interne Revision, schob sich erst quietschend zur Seite, nachdem er mehrmals den Türöffner betätigt hatte. Sein vorsichtiger Schritt hallte von den hohen, dunklen Wänden wider. Geduckte Gestalten mit eingefallenen Gesichtern schlurften an ihm vorbei. Es war nicht schwer, Delinquenten von Pragmatisten zu unterscheiden. Jene bemühten sich, möglichst unauffällig zu bleiben, an den Wänden entlangzuschleichen, während die anderen mit der Selbstverständlichkeit von geschulten Scharfrichtern umhermar-
schierten. Eine kleine Warteschlange hatte sich vor der Portiersloge in der Mitte der Vorhalle gebildet. Tomanet stellte sich hinten an. Zermürbend langsam und in gespenstischer Stille ging es voran. Keiner der Männer und Frauen hier wagte es, den anderen anzusehen. Sie alle wussten, warum sie hier waren. Es war unnötig, über die Schande auch noch zu reden. Endlich kam Tomanet an die Reihe. »Name?«, forderte ihn der Portier auf. Ein vierschrötiger Mann, dessen blasses Gesicht von Akne verunziert wurde. Sein Atem roch nach Alkohol und kaputten Zähnen. »Z-Tomanet«, antwortete er dienstbeflissen und hielt sogleich wieder die Luft an. Die fleischigen Finger des Portiers glitten über einen Listenausdruck, bis er seinen Namen gefunden hatte. »Sie sind zu spät!«, fuhr er ihn schließlich an. »Ich wusste nicht, dass ich mit längeren Wartezeiten zu rechnen hatte …« »Wollen Sie sich etwa beschweren?« Der Portier richtete sich halb auf, hob seinen massigen Körper ungelenk in die Höhe, während sein Gesicht dunkelgold anlief und die Eiterpusteln umso deutlicher hervortraten. »Keineswegs … ich …« »Dann antworten Sie gefälligst nur auf Fragen, die ich Ihnen stelle, und geben keine unnötigen Kommentare ab!« Tomanet nickte eingeschüchtert. Mit krakeliger Handschrift füllte der Portier ein Formblatt aus und überreichte es ihm. »Sie gehen links die Treppe hoch, mit dem Aufzug in die erste Etage, rechts zum Halbstock, linker Korridor, durch die große Schwingtür, über den Lichthof, hinab ins Mezzanin, rechts, den Gang entlang, halblinks, dann immer geradeaus bis zur Tür 867/II. Vertragsbediensteter Zudalek erwartet Sie dort. Der Nächste, und gefälligst ein bisschen schneller!« Tomanet wurde beiseite geschoben. »Die linke Treppe hoch, und dann …?«, fragte er verzweifelt nach.
Die Varganen von Cramar »Herr!«, brüllte der Portier. »Wollen Sie mich für dumm verkaufen? Kein Wunder, dass Sie revidiert werden sollen, wenn Sie sich nicht einmal die einfachste Anweisung merken können! Und jetzt verschwinden Sie und schauen gefälligst zu, dass Sie allein zurechtkommen!« Tomanet zog die Schultern noch weiter hoch. Er spürte die Blicke aller anderen auf sich. Sie hatten nur Spott und Häme für ihn übrig, froh, dass es nicht sie erwischt hatte. Die Suche nach dem richtigen Zimmer wurde zu einem Martyrium sondergleichen. Niemand, der ihm begegnete, wollte ihm auch nur im Geringsten weiterhelfen. Hochnäsig sahen die Beamten der Revision auf ihn herab oder lästerten bestenfalls darüber, dass »heutzutage schon jedes Subjekt hierher vorgelassen wird«. Es ging endlose Gänge entlang, in deren Wänden sich Werksküchenmief und Schweißgeruch ganzer Generationen festgefressen hatten. Treppauf und treppab, über Höfe, durch Großraumbüros, an automatisierten Kontrollstellen vorbei, Halbstock rauf, Zwischentreppen runter, mit einem knarrenden Aufzug in Etagen, die man zu Fuß nicht erreichen konnte … Ach, wie sehr sehnte er sich zurück nach seinem großzügig bemessenen Büro! Irgendwann und eher zufällig fand er schließlich vollkommen entnervt das richtige Zimmer. 867/II. Hier also würde seine Laufbahn enden. Zögerlich klopfte er an. »Nur herein, mein Bester, nur herein!«, schallte es dumpf durch die Tür. Tomanet öffnete und trat ein. Der Holzboden knarrte laut, als er auf den wuchtigen, aber wie leer gefegten Schreibtisch zuging. Dahinter saß ein kleines Männlein mit listig glitzernden Augen, die ihn aufmerksam beobachteten. Er registrierte fettige Haarsträhnen, die pedantisch genau über die hohe Stirn gescheitelt waren. Einen schäbigen grauen Anzug. Olivgrüne Ärmelschoner, offensichtlich selbst aufgenäht. Ein ausgewa-
13 schenes Hemd mit verblichenen Essensresten auf dem Kragen. Schmale, kleine Fingerchen, deren größter Kraftakt während der letzten vierzig Jahre wahrscheinlich das Öffnen von Aktenordnern gewesen war. Zudalek, kein Zweifel. Genau so hatte er ihn sich vorgestellt. »Sie sind also das Subjekt Z-Tomanet«, sagte der Beamte statt einer förmlichen Begrüßung. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich.« Tomanet ließ sich vorsichtig auf der einzigen Sitzgelegenheit nieder, einem wackeligen Hocker ohne Lehne. »Entschuldigen Sie mein Zuspätkommen …«, begann er zögerlich, wurde aber sofort unterbrochen. »Unser Portier hat mich bereits darauf hingewiesen, dass Sie ein Problem mit Pünktlichkeit haben.« Er kramte in einer Schublade umher und warf schließlich einen dicken Akt auf den Tisch. »Hm … er meint, Sie seien auch renitent geworden, meint er.« »Das stimmt gar nicht!«, sagte Tomanet und sprang empört auf. »Ich hatte den Mann nicht richtig verstanden und mich deswegen nochmals nach dem Weg hierher erkundigt!« »Soso, Sie bezeichnen sich also nicht als renitent, hm? Und wie würden Sie Ihr derzeitiges Verhalten nennen, hm? Soso …« Die Augenlider des kleinen Mannes verengten sich noch weiter, wurden zu schmalen Schlitzen. Tomanet hätte am liebsten geschrien, seinen ganzen Frust in die Welt hinausgebrüllt. Jedes Wort, das er sagte, wurde ihm im Mund umgedreht … Plötzlich hatte er eine Eingebung. Er wusste mit einem Mal, was hier geschah: Ich werde getestet! Seitdem ich das Ministeriumsgebäude betreten habe, wird mein Verhalten wahrscheinlich pedantisch genau festgehalten. Die Revisionsbeamten notieren jedes unbedachte Wort, jede unnötige Geste, jedes Zeichen einer Unsicherheit oder eines Fehlverhaltens … Er setzte sich behutsam nieder und zwang sich mit aller Gewalt zur Ruhe. Zudalek faltete die Hände ineinander, sag-
14 te ebenfalls kein Wort mehr und beobachtete ihn konzentriert. »Sie sehen den Fehler, den Sie in Ihrer Abteilung gemacht haben, ein, sehen Sie?«, fragte der Revisionär nach langer Zeit und völlig zusammenhanglos. »Selbstverständlich«, antwortete Tomanet leise. »Es war pure Schlampigkeit von mir.« »Soso.« Zudalek sog am Tintenbeutel und begann mit dem Kritzopump auf ein Formblatt zu schreiben. Er störte sich nicht daran, dass Tomanet genau mitverfolgen konnte, was er langsam niederschrieb: »Unangepasst. Erhöhtes Aggressionspotenzial. Intelligent. Täuscht Einsicht nur vor. Empfehle Entlassung aus dem Beamtendienst.« Das war es also. Fünf kurze Sätze oder Wortbrocken, die über sein weiteres Leben entschieden. Zu Papier gebracht von einer komplexbehafteten Kreatur, die keinen normalen Satz hervorbrachte. Das konnte nur ein Alptraum sein! »Sie können gehen, hm, können Sie«, sagte Zudalek schließlich und musterte ihn noch einmal kurz. »Ihre Entlassungspapiere liegen in zwei Tagen hier in der Auslaufstelle bereit für Sie, liegen bereit. Eine postalische Benachrichtigung wird nicht mehr möglich sein. Angesichts der Umstände werden Sie wohl mit einer kleineren Wohnung vorlieb nehmen müssen, werden Sie müssen.« »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!« Ungläubig schüttelte Tomanet den Kopf. »Ein einziger, winziger Fehler – und mehr als zwanzig Jahre treuester Mitarbeit im Dienste des Ministeriums für Verbeamtung sind weggewischt?« Zudalek klopfte mit flacher Hand zornig auf den Tisch. »Sie! Was erlauben Sie sich!« Erregt schüttelte er den Kopf. »Sie nennen das einen kleinen Fehler? Einen falsch zitierten Paragraphen, der das Gefüge ausgeklügelter Dienstrechtsanweisungen ins Wanken bringen kann, hm? Der Ihrem Ministerium haufenweise Klagen unbescholtener Be-
Michael Marcus Thurner amter einbringen kann, hm? Der ein sorgfältig konstruiertes, perfekt abgestimmtes Ineinander unserer Lebensmaximen ins Wanken bringen kann, hm?« »Fehler lassen sich ausbessern«, verteidigte sich Tomanet verzweifelt. »Sie können nicht jeden Kalaro'on, der sich irrt, seiner Lebensexistenz berauben.« Er wusste längst, dass er verloren hatte. Aber irgendetwas in ihm befahl ihm, weiter zu widersprechen, diesen fürchterlich bornierten Mann zu reizen … »Das ist die größte Impertinenz, die mir jemals untergekommen ist!« Zudalek krallte die Finger so fest um den Rand seines Schreibtischs, dass sie sich hellgold verfärbten. »Sie verhöhnen alles, was uns hoch und heilig ist, spucken auf die Gesetzblätter, ziehen den gesamten Beamtenstand in den Schmutz, tun Sie! Herr, wenn ich so könnte, wie ich wollte, würde ich … würde ich …« Allmählich entspannte sich Zudalek und kritzelte weitere Worte auf das Formblatt. Rollte es sorgfältig zusammen und steckte es in ein silbern glänzendes Rohr, das mit sattem Schmatzen in die Vakuumpost glitt. »Vom jetzigen Moment an sind Sie in den Ministerien von Cramar als unerwünschte Person registriert. Betrachten Sie sich von nun an als Freiberufler.« Freiberufler … das Wort dröhnte wie ein Todesurteil in Tomanets Kopf. Schlimmer hätte die Strafe nicht ausfallen können.
3/b Das Dagg'tzo-System schälte sich allmählich aus dem Schwarz des Weltalls. Eine orangefarbene Sonne geriet in den Blickpunkt unseres Interesses. Die AMENSOON sammelte Daten, die Kalarthras mit jenen aus seinem Wissenspool verglich. Was den zweiten Planeten Cramar betraf, war sein Erinnerungsvermögen wirklich bemerkenswert. Er ratterte die üblichen Standardinformationen wie aus der Pistole geschossen herunter und ging dabei durchaus ins Detail.
Die Varganen von Cramar Sein Enthusiasmus war groß; er fühlte sich diesem arkon- oder erdähnlich geformten Planeten offensichtlich sehr verbunden. Schwerkraft, Luftdruck, Zusammensetzung der Atmosphäre und Außentemperaturen lagen alle in einem akzeptablen Bereich. Automatisch registrierte ich die wichtigsten Informationen und Kriterien. Über alles andere wollte ich mir mein eigenes Urteil bilden. Eine Gefahr konnte, wenn überhaupt, nur von den Oberflächenbewohnern ausgehen. »Nie und nimmer!«, rief Kalarthras im Brustton der Überzeugung, als ich ihn darauf ansprach. »Das Leben wurde seinerzeit durch varganische Aktivierungskapseln hierher gebracht und sorgfältig ins Ziel gesetzt.« Aktivierungskapseln … Von den Varganen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie durften vor dem Erreichen ihres Bestimmungsortes nicht einmal berührt werden. Welten, die prädestiniert schienen, höheres Leben auszuformen, wurden mit den Kapseln beschickt. Konservierte Embryonen lagerten in ihnen oder Konzentrate des Lebendigen in seiner puren biochemischen Form. Dies waren schwammige Begriffe für gottähnliche Spielereien, die zu weit reichten, als dass ich sie mit meinem bescheidenen Verstand erfassen konnte. Auch die Kosmokraten betrieben mit den Biophoren die Aufzucht von Leben. Ich wusste ehrlich gesagt nicht, wie ich dazu stehen sollte … »Träumst du, Arkonide?«, fragte mich Kythara spöttisch lächelnd. Gleichzeitig griffen ihre Gedanken nach mir. Ich weiß, woran du denkst. Aber Antworten, die du verstehen – und akzeptieren – könntest, wirst du auf deine Fragen niemals erhalten. »Warum nicht?«, fragte ich laut. Kalarthras sah kurz von seinem Datenterminal hoch, kümmerte sich aber nicht weiter um mich. Diese merkwürdige Art der Verständigung war ihm wohl nur allzu gut bekannt. »Du bist kein Vargane«, antwortete Kythara knapp, als wäre damit alles gesagt.
15 Und wahrscheinlich war es auch so. »Erzähl mir mehr über die Zeit, die du auf Cramar verbracht hast«, forderte ich Kalarthras schließlich auf. »Aber bitte keine weiteren Daten. Ich will vielmehr wissen, warum diese Welt für dich etwas derart Besonderes ist.« Der Mann strahlte richtiggehend, als er antwortete. »Von den 400.000 Jahren, die ich in Gantatryn – beziehungsweise Dwingeloo, wie du dazu sagst – verbracht habe, hatte ich meine schönste Zeit auf Cramar. Meine größten Forschungserfolge passierten hier. Das Leben, das sich hier ausbreitete, war hundertprozentig so, wie ich es mir immer erdacht hatte. Varganoid. Friedlich. Mentalgenetisch so konditioniert, dass es nicht einmal die Idee von Kampf oder Krieg kannte. Ich konnte mich unter meine … Erzeugnisse mischen, mich mit und durch sie fortpflanzen!« Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass Kythara zusammenzuckte. »Du hast auf Cramar Kinder gezeugt?«, fragte ich nach. »Selbstverständlich«, antwortete der Vargane mit einer Selbstverständlichkeit, die mir gar nicht behagte. Irgendwie missfiel mir der Gedanke – nein, die gesamte Gedankenkette! –, dass sich jemand mit Geschöpfen, die er gezüchtet und jahrhunderttausendelang ausgebrütet hatte, vereinigte und Kinder in die Welt setzte. Es klang verdreht und … pervers. Ich war eben – wie Kythara bereits gesagt hatte – kein Vargane. Und ich war froh darüber. Wurde man so, wenn man zu lange lebte? Stand auch mir irgendwann eine solche Einstellung bevor? »Weiter im Text!«, forderte ich Kalarthras auf, vielleicht ein wenig zu schroff. »Ich hatte Kinder. Kindeskinder. Generationen an Kalaro'on – so nannten sie sich –, die neben und mit mir lebten. Selbst heute noch muss es Nachkommen von mir geben …« »Wie sieht es mit dem technischen Entwicklungsstand aus?«, unterbrach ihn Ky-
16 thara. Seltsam. Sie müsste eigentlich über Kalarthras' Treiben hier in Dwingeloo Bescheid wissen. Sie hat es vergessen … oder verdrängt, meinte der Extrasinn. Das mochte gut möglich sein. Meines Wissens waren sich die beiden Varganen vor 50.000 Jahren das letzte Mal über den Weg gelaufen, wenn man das so salopp formulieren durfte. Hatte Kalarthras ihr tatsächlich nichts über Cramar erzählt? »Der zivilisatorische Standard war stets sehr hoch, aber nicht auf Expansion ausgerichtet«, beantwortete der Mann Kytharas Frage. »In meinen Wachphasen achtete ich persönlich darauf, dass die genetische Konditionierung beibehalten wurde. Keinerlei Aggressionen, die über einen gewissen Selbsterhaltungstrieb hinausgingen. Ausgeglichenheit. Das Streben nach optimaler Lebensordnung. Chancengleichheit für alle«, zählte er an seinen Fingern auf. »Und diese Konditionierung hat deiner Meinung nach gehalten?«, hakte ich nach. »Sicherlich.« Kalarthras nickte bestimmt. »Es ist einfach ein lebensnotwendiger Bestandteil von ihnen.« »Dann lassen wir das mal so stehen.« Ich wandte mich Gorgh-12 zu, der immer besser mit den technischen Gegebenheiten der AMENSOON zurechtkam. »Hast du schon direkte Informationen von Cramar erhalten? Hyperfunksignale? Hast du Wachraumschiffe oder Stationen geortet? Oder gar … Schiffseinheiten der Garbyor?« »Noch nicht«, antwortete der Insektoide knarzend. »Es gibt aber eine kleine Überraschung.« »Und zwar?« »Das Dagg'tzo-System bestand ursprünglich aus vier Planeten, von denen einer vernichtet wurde. Ein Asteroiden- und Planetoidenring umkreist die Sonne in einem Abstand von 375 bis 415 Millionen Kilometern. Wir durchstoßen ihn soeben an der sonnenabgewandten Seite zu Cramar. Du siehst unsere Position hier schematisch darge-
Michael Marcus Thurner stellt.« Mit seinen dünnen, scheinbar so fragilen Chitinfingern deutete er auf ein Holo, das den breiten Trümmerring aus einer Schemadarstellung farblich hervorhob. Ein goldener Punkt schwebte mittendrin und bewegte sich langsam näher auf das Muttergestirn zu. »Und?« Ich blieb betont nüchtern. Ich war in meinem Leben zu vielen Hinweisen auf schreckliche Vernichtungstaten begegnet. Oftmals stammten sie aus anderen Zeitepochen, deren Geschichte und Geschichten für das heutige Leben keinerlei Bedeutung mehr hatten. Mochten sich Wissenschaftler und Historiker darum kümmern. »Manche der Gesteinsbrocken oder Planetoiden erreichen einen Durchmesser von bis zu 2000 Kilometern. Ich habe sozusagen im Vorbeiflug die Oberflächensubstanz mehrerer von ihnen analysieren lassen.« Gorgh war Forscher durch und durch. Unermüdlich grübelte und suchte er. Was er durch sein starres, ihm angeborenes Schema-Denken als scheinbares Manko besaß, glich er durch wissenschaftliche Akribie mehr als aus. Niemand von uns hätte mehr Arbeit als notwendig in die Erforschung des Asteroidenrings investiert. Gorgh hingegen nahm en passant komplexe Tiefenstrukturmessungen vor. »Was hast du also gefunden?«, hakte ich nach. »Weitere Hinterlassenschaften der Rhoarxi«, sagte der Insektoide. Ich dachte zurück an die Inselwelt Alarna, auf der ich erstmals die Relikte der nunmehr ausgestorbenen Avoiden zu Gesicht bekommen hatte. Riesige Steinblöcke, fugenlos aufeinander gestapelt zu monumentalen Hochbauten, architektonisch durchbrochen durch feine, fast zerbrechlich wirkende Brücken und Viadukte … Die Rhoarxi … ein hoch technisiertes Volk, das Dwingeloo vor langer Zeit mit seinen atemberaubenden Bauten überzogen hatte, aber vor mehr als 1,1 Millionen Jahren rätselhafterweise von der kosmischen Bühne abgetreten war.
Die Varganen von Cramar »Wusstest du von diesen Relikten?«, fragte ich Kalarthras. »Ich kann mich, ehrlich gesagt, nicht mehr erinnern.« So selbstbewusst der Vargane manchmal auftrat – wenn er auf seine Gedächtnislücken angesprochen wurde, klang er regelrecht kleinlaut. Noch wusste ich nicht, wie ich Kalarthras einordnen sollte. Er stellte sich mir als durch und durch ambivalent dar. »Lassen wir diese Informationen über die Rhoarxi-Relikte einfach mal so stehen«, meinte Kythara, die Eigentümerin der AMENSOON. »Gorgh – du speicherst das eingefangene Datenmaterial vorläufig nur ab und sorgst dich wieder hundertprozentig um die Aktivortung.« Leichter Tadel klang in ihrer Stimme durch. »Wir werden nicht noch einmal blindlings in eine Falle der Garbyor tappen. Die Kennungen der lordrichterlichen Schiffe sind mittlerweile hinlänglich bekannt, also kümmere dich um einkommende Funksignale. Wir werden auch den Ortungsschatten der Sonne bestmöglich durchkämmen. Achte auf unbekannte StrahlungsEmissionswerte, ungewöhnliche Partikelströmungen und -verwirbelungen. Ich möchte bei der Annäherung an Cramar unsere Risken minimieren und mich nicht nur auf die Positronik des Schiffs verlassen müssen. Ich will eine Garantie haben, dass der Planet sauber ist. Wir sollten zudem so viele Ortungssonden wie möglich in breit gefächerten Umlaufbahnen um die Sonne platzieren. Die wahrscheinlichen Einflugschneisen ins innere System gehören bestmöglich überwacht, während wir uns auf Cramar tummeln oder herumtreiben.« Gorgh-12 erzeugte mit den kräftigen Mandibeln ein scharrendes Geräusch der Zustimmung und kümmerte sich dann um sein Instrumentarium. Wenn es um pedantische Arbeit ging, war der Insektoide mit Sicherheit der richtige Ansprechpartner. Kythara schlug ihre aufregend langen Beine übereinander. Zu Kalarthras sagte sie: »Und du, mein Lieber, erzählst ein bisschen mehr über deinen so genannten Lieblings-
17 planeten. Wenn wir schon das Risiko einer neuerlichen Landung eingehen, will ich über alles Bescheid wissen, was uns dort unten erwarten könnte …«
4/a Tomanet war – wie jeden Morgen – zeitig aufgestanden, hatte eine Scheibe trockenen Fruchtbrotes gegessen und die übliche Körperpflege betrieben. Seitdem saß er auf seinem Sofa und wartete – auf was? Er fühlte sich wie betäubt, seines Nutzens und seines Lebensinhaltes beraubt. Es läutete. Tomanet erhob sich mit klopfendem Herzen. Er ahnte, wer vor der Tür stand. Ein Beamter des Wohnungsministeriums, in adrettes Blassgrün gekleidet, trat ein und las aus einem mehrfach abgestempeltem und paraphierten Schriftstück vor: »Aufgrund Ihrer Entlassung aus dem Staatsdienst wird Ihnen die Zuteilung der Wohneinheit Graublockplanade Ost Schrägstrich Drei Schrägstrich Zwei Bindestrich Achtzehn mit sofortiger Wirkung entzogen.« Kurz sah ihm der Mann in die Augen, um den Blick gleich darauf wieder abzuwenden. »Suchen Sie Ihre persönliche Habe zusammen und entfernen Sie sich bis zur Mittagssirene aus diesem Wohnviertel«, ratterte er seinen Text weiter herunter. Wahrscheinlich wiederholte er diese Worte tagtäglich dutzende Male. Wie viele Tragödien hatte er bereits mit angesehen? Wie weit reichte seine persönliche Anteilnahme? Tomanet nahm seinen ganzen Mut zusammen. »Wie … wie heißen Sie?« Der Beamte drehte sich überrascht zu ihm um. »S-Kalfarak«, antwortete er zögernd. »Herr Kalfarak also.« Was sollte er sagen? Wie sollte er mit dieser radikalen Wende in seinem so schön durchgeplanten Leben umgehen? Tomanet hob die Schultern. »Was soll ich jetzt machen?«, fragte er ratlos.
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Der Beamte starrte intensiv auf seine Unterlagen, um ihm nur ja nicht wieder in die Augen blicken zu müssen. »Sie sind degradiert zum … Freiberufler ohne besondere Verwendung«, murmelte er. »Sie müssen sich also an das Ministerium für Privatisierung wenden.« »Ministerium für Privatisierung?«, echote Tomanet. Das kannte er nicht. Obwohl er bislang geglaubt hatte, einen recht guten Überblick über die Verwaltung Cramars zu besitzen. »Ja. Es liegt an der nördlichen Peripherie von Arym.« Arym … der mit Abstand schäbigste Stadtteil von Cramalvet. Und noch dazu am nördlichen Rand … Tomanet war nie dort gewesen, hatte aber hinter vorgehaltener Hand schauderhafte Geschichten erzählt bekommen. Nur Abschaum und gestrandete Existenzen lebten – nein, vegetierten! – dort. Und in Zukunft wohl auch ich, dachte er. Kalfarak wandte sich ab und setzte seinen geschäftsmäßigen Blick auf. »Mehr kann und darf ich Ihnen nicht helfen. Im Übrigen muss ich Sie bitten, sich zu beeilen. Der Nachmieter dieser Wohnung wird jeden Moment …« Es klopfte leise. »Ah – da ist er. Es wird Zeit, dass Sie gehen, Herr … ähm …« »Tomanet«, sagte er und wiederholte seinen Namen verzweifelt, als könnte er solcherart dafür sorgen, dass er nicht für alle Ewigkeiten aus der staatlichen Geschichtsschreibung entfernt werden würde. »Z-Tomanet.«
* »Deiner Mutter wurde zu deiner Geburt von der Obersten Ministeriumsverwaltung ein Name zugeteilt«, belehrte ihn ein gelangweilter Sachbearbeiter. »Wegen deines Fehlverhaltens hast du kein Anrecht mehr auf diesen Namen. Für zukünftige Verwaltungsangelegenheiten erhältst du die Nummer Z-1959, die du bei allen Eingaben in
das dafür vorgesehene Blatt einzutragen hast. Die Ministeriums-Bekleidung ist in der Materialkammer nebenan abzugeben. Einen Raum weiter erhältst du neue Kleidung. Wiederum ein Zimmer weiter wird deine körperliche Eignung überprüft, um feststellen zu können, für welche freiberufliche Tätigkeit du eingesetzt werden kannst. Die Wohngruppenzuteilung erfährst du beim Ausgang. Und nun Abmarsch! Ein bisschen rascher gefälligst! Der Nächste!« Tomanet wankte wie betäubt weiter. Wenn er geglaubt hatte, dass nichts mehr die Ereignisse des heutigen Vormittags und die abenteuerliche Anreise hierher übertreffen konnte – nun, er wurde eines Schlechteren belehrt. Man riss ihm die geliebte braungraue Bekleidung förmlich vom Körper. Selbst die kreisrunde Ausgeh-Melone, über die Jahre hinweg sorgfältig gepflegt, musste er abgeben. »Die Tasche!«, forderte ihn ein schmalbrüstiger Kalaro'on unwirsch auf. »Die gehört mir … ist ein Erbstück meines Vaters«, stotterte Tomanet. »Du bist jetzt Freiberufler«, sagte der Mann schroff. »Du hast kein Anrecht mehr auf Besitztum. Gib die Tasche gefälligst her. Wir werden jemanden finden, der damit auch etwas anfangen kann!« Ungeahnter Hass brodelte in ihm hoch. Zorn auf diesen Mann, Zorn auf das Ministerium für Privatisierung, Zorn auf das System. Er wollte seinen Frust hinausbrüllen, Dampf ablassen, angestaute Emotionen loswerden … Es ging nicht. Tomanet holte stattdessen tief Luft und legte die speckig lederne Aktentasche vorsichtig auf den Tisch, öffnete sie, zog zwei Fotos heraus … »Nein!«, sagte der Beamte bestimmt, nahm ihm die Aufnahmen aus der Hand und warf sie achtlos in einen Papierkorb. »Das sind meine Eltern!«, rief Tomanet. »Die einzige Erinnerung an sie! Mein einzi-
Die Varganen von Cramar ger Beweis, dass sie überhaupt gelebt haben …« »Na und?«, fragte der Mann achselzuckend. »Freiberufler sind besitzlos. Weitergehen, Subjekt Z-1959!« Tomanet schlich aus dem Raum. Es zerriss ihm schier das Herz. Aber die Tränen, sie wollten nicht fließen.
* Man schmiss ihm einen Ranzen mit gebrauchter, stinkender Bekleidung zu, die in den widerlichsten Farbtönen gehalten war. Die Schuhe waren zu groß und abgetragen, die Schirmkappe zu klein und löchrig. Es ging einen ausgetretenen, kalten Gang entlang, an dessen Wänden Schimmel wucherte. Hinein ins nächste Zimmer, zur ärztlichen Untersuchung, die einen neuen Höhepunkt der Demütigungen mit sich brachte. Er musste sich bücken. Eine gleichgültig dreinblickende Ärztin fuhr ihm mit zwei Fingern in den Anus, notierte etwas und betastete gleich darauf seine Hoden. Ohne die dünnen Latex-Handschuhe zu wechseln. Sein Gebiss wurde wie das eines wilden Tieres begutachtet. Die Nasenschleimhäute mit einem überdimensionierten Spiegel durch die Nasenlöcher kontrolliert. Der Magen mit einer Brechreiz erzeugenden Sonde untersucht. Man stülpte eine topfartige Hülle über seinen Kopf und schor ihm die Haare. Augen, Ohren, Füße, Finger – alles wurde vermessen und teilweise schmerzhaften Prozeduren unterzogen, bis endlich das unfreundliche Kommando »Anziehen!« erschallte. Müde und gleichgültig nahm er zur Kenntnis, dass er gemeinsam mit 17 weiteren Freiberuflern einem Gemeinschaftsraum zugeteilt wurde. Am nächsten Morgen, so sagte man ihm, würde er erfahren, in welcher Berufssparte er Arbeit finden würde.
*
19 »Willkommen in Lager 3!«, empfing ihn Subjekt B-1963, wie Tomanet anhand der krakelig beschriebenen Brusttasche an einer zerlotterten Stoffjacke feststellen konnte. »Ich bin ebenso Abschaum der Gesellschaft wie ihr alle«, fuhr die etwa vierzigjährige Frau fort. »Ich erinnere mich nur zu gut, wie ich mich gefühlt habe, als ich vor langer Zeit hier landete, und ich kann mir vorstellen, dass ihr eine Menge Fragen habt. Ich bitte euch, ein wenig Geduld zu haben, bis wir die notwendigen Formalitäten hinter uns gebracht haben.« Tomanet hörte, wie Nummern aufgerufen und die neuen Freiberufler auf Barackenzimmer aufgeteilt wurden. Es kümmerte ihn nicht weiter. Er stierte in dem großen Versammlungsraum vor sich hin, an den anderen Delinquenten vorbei, nur ja keinen von ihnen anblicken, sonst würde er sich selbst wieder erkennen, wie in einem Spiegel … »Zum letzten Mal: Z-1959!«, schrie die Frau mit hochrotem Kopf. »Hier!« Tomanet fuhr aus seinen Gedanken hoch, reckte instinktiv die Hand in die Höhe. »Wird auch Zeit, du Träumer!« Die Frau B-1963 schnaufte heftig und blickte auf ihren Schreibblock. »Das auch noch – du Schnarchbacke bist meinem Trupp und meinem Schlafsaal zugeteilt. Baracke 3B, Bett 48. Geh durch diesen Korridor und bring dein Zeugs dort hin. Ich komme nach.« Er musste mit diesem Mannweib – oder vielleicht sogar mit mehreren Frauen – in einem Raum schlafen? »Was soll's!«, murmelte er abgestumpft und schlurfte davon. Er sah durch ein Fenster des Ganges. Parallel dazu führten weitere Schläuche in ähnlich aussehende Gebäude. Die Baracken glichen sich äußerlich wie ein Ei dem anderen. Grau getüncht, mit abbröckelndem Putz und feuchten Flecken in Bodennähe. Zögerlich, wegen der vielen unbekannten Menschen, die ihn erwarteten, ängstlich geworden, ging er weiter.
20 Doch das Innere überraschte ihn. Der hohe Saal mit den weit herabragenden Hängelampen sah nicht gerade anheimelnd aus – aber die Bettgestelle und deren Umfelder wirkten auf seltsame Art und Weise sehr persönlich, fast intim. Da standen Blumensträuße in rostigen Gefäßen auf einem Arbeitstisch und sorgten für ungewohnten Farbzauber. Dort waren in blutroter Farbe, quer über einen wackeligen Spind, die Worte: »Ich bin keine Nummer – ich heiße Kalaphas!« gesprayt. Jedes Abteil besaß Abschirmungen aus Stoff, die derzeit allerdings großteils beiseite geschoben waren. Und er spürte etwas ganz Seltsames. Etwas, das er seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt hatte und nur unter großen Schwierigkeiten benennen konnte. Dieser Raum, diese Halle, diese Baracke – sie strahlte Fröhlichkeit aus. Tomanet schloss die Augen, versetzte sich gedanklich zurück in seine Vergangenheit. Erinnerte sich an Mutter, an ihren süßlichen Geruch. Wie sie ihn geherzt und liebkost hatte, ihm Spiele beigebracht und ihn mit einfachen Reimen das Zählen gelehrt hatte. Fröh-lich-keit. Seltsam. »Dein Abteil ist dort vorne!«, hörte er die rotzige Stimme der Frau, die ihn im Freien so ungehobelt angebrüllt hatte. »Los, beweg dich endlich, Schwabbelbauch!« Schwabbelbauch? Er war doch nicht dick! Instinktiv griff er an seine Leibesmitte, fühlte die kleine Doppelfalte, wollte etwas entgegnen … Die Frau klopfte ihm auf die Schulter, dass er meinte, sein Oberarmknochen würde aus der Pfanne springen. »Mach dir nichts draus! Ein paar Wochen harte Arbeit, und du fühlst dich wie neugeboren, Wackelpudding.« Sie provozierte ihn! Erneut fühlte er das Grummeln in seinem Magen, das Engwerden in seiner Brust. Tomanet ballte die Hand, wollte sie heben, noch näher auf die Frau zugehen und
Michael Marcus Thurner … und … Er entspannte sich wieder. »Na?« Sie grinste ihn frech an. »Hast du Schiss vor Flink?« »Flink?«, wiederholte er irritiert. »Jeder hier nennt mich so. Schon solange ich zurückdenken kann. Vergiss die Nummer hier.« Sie deutete auf den Schriftzug an ihrer Brust. »Das ist das Wichtigste in Lager 3: Wir sind keine Nummern. Wir haben einen Namen.« »Das … das ist schön«, war alles, was Tomanet hervorbrachte. »Dann such dir einen aus!« »Aussuchen?« »Ja! Einen neuen Namen. Wer hierher kommt, muss alles ablegen, was er einmal war. Folgerichtig geben wir auch unseren Geburtsnamen ab und suchen uns selbst einen neuen aus. Also: Lass deine Fantasie sprechen.« »Fantasie?« »Stimmt bei dir etwas nicht, dass du ständig alles wiederholst?« »Nein«, beeilte er sich zu sagen. »Verzeihung.« »Also?« Er sollte einen Namen finden. Erfinden. Er hatte noch nie irgendetwas erfunden. »Fisker«, murmelte er. Sie betrachtete ihn aufmerksam. »Fisker. Hm. Gar nicht mal so schlecht. Vielleicht hab ich mich geirrt …« »Was meinen Sie?« »Sag nie mehr Sie zu mir, du Steifling!« Sie drohte ihm mit der Faust, doch er spürte, dass Flink es nicht ganz so ernst meinte. »Ich werde mich bemühen«, versprach er, drehte sich um und suchte seinen Platz.
* »Wir alle hier sind Individuen«, brüllte Flink, sodass es jeder in der Baracke hören konnte. Das gute Dutzend Neuankömmlinge stand dicht beieinander. Eingeschüchtert, unsicher,
Die Varganen von Cramar verängstigt. Fisker, der früher einmal ZTomanet geheißen hatte, mittendrin. »Man hat euch zeit eures Lebens einzureden versucht, dass es eine Schande ist, außerhalb des Beamtentums zu leben. Dass die Existenz als Freiberufler einem Todesurteil gleichkommt.« Sie blickte umher und rollte wild mit den Augen. »Das ist eine verfluchte Lüge!« Fisker reagierte nicht. Er glaubte der Frau genauso wenig wie seine Leidensgenossen. Natürlich musste die Lagervorsteherin etwas sagen, um ihren Lebensmut hochzuhalten. »Ihr habt bislang ein behütetes Leben gehabt. Alle Sorgen wurden von euch fern gehalten. Ihr habt keine Ahnung, was wirkliche Arbeit bedeutet – aber ihr werdet es erfahren …« »Haben Sie Freude mit Ihren neuen … Mitarbeitern?«, unterbrach sie eine hohe, sonore Männerstimme. Flink drehte sich langsam um und musterte den Neuankömmling. Der Mann war sehnig und hager, sein Gesicht blassgold und von tiefen Falten zerfurcht. Auf seinem geschorenen Kopf prunkte eine zerrissene Dienstmelone in Grünblau, der Farbe des Ernährungsministeriums. Er stand steif und starr im Eingang zur Baracke; nur seine linke Hand klopfte ungeduldig gegen den Türstock. Flink seufzte. »Darf ich euch vorstellen: Das ist A-Petri. Lagerbeauftragter von eigenen Gnaden.« »Eines Tages werden Sie an Ihrem Zynismus ersticken«, sagte der Mann. Er wandte sich dem kleinen Häuflein der Neuankömmlinge zu, räusperte sich und sagte: »Sie wurden gemäß Ausgliederungsgesetz Paragraph 152 auf Zeit in diese Zweigstelle des Privatisierungsministeriums verlegt. Ein gutes Verhalten über einen angemessenen Zeitraum vorausgesetzt, sind für jeden von Ihnen eine Neueinstellung und, damit verbunden, die Repragmatisierung im Bereich des Möglichen, nach Paragraph …« »Es ist genug!«, rief Flink und stampfte
21 heftig mit dem Fuß auf. »Verunsichere mir nicht die Neuzugänge.« »Die Ausgegliederten haben gemäß Informationsgesetz Paragraph 29 Strich 2 Absatz 3 das Recht, zu wissen, was ihnen bevorsteht.« Abrupt wandte sich Petri ab und ging davon. Flink schüttelte den Kopf und sagte in Richtung der Neuankömmlinge: »Dieser Mann lebt seit mehr als dreißig Jahren hier in Lager 3. Und genauso lang hofft er schon, in sein altes Ministerium zurückgerufen zu werden. Betrachtet sein Schicksal als warnendes Beispiel. Wer sich nicht damit abfindet, für den Rest seines Lebens Freiberufler zu bleiben, verliert sich in seinen Fantasien.« Fisker war verwirrt. Was meinte die Frau damit? Seiner Meinung nach verhielt sich Petri völlig normal. Er richtete sich an der – berechtigten? – Hoffnung auf, irgendwann einmal in den Staatsdienst zurückberufen zu werden. Flink fuhr fort: »Unsere Lageraufzeichnungen reichen mehr als fünfhundert Jahre zurück. Noch nie ist jemand rehabilitiert worden! Die meisten von uns akzeptieren dies und finden ein gutes Auskommen mit der Situation. Andere hingegen« – sie deutete in Petris Richtung – »schaffen's nicht.« Damit war die Sachlage für Fisker geklärt: entweder Anpassung – oder Wahnsinn.
* Flink zog ihn mit sich, quer durch eine leer stehende, mit rauen Betonplatten ausgelegte Halle. Durch eine Fensterfront zur rechten Hand sah er ein scheinbar endlos weit reichendes Betonfeld. Links hingegen schimmerte Rot durch nahezu taubes Glas. »Wir alle sind behütet aufgewachsen. Sozusagen im Schoß der Ministerien«, durchdrang ihre Stimme seine Gedanken. »Unseren Vater kennen wir in der Regel nicht. Nur bis zum dritten Lebensjahr gehö-
22 ren wir unserer Mutter. Dann folgen der ministeriell geführte Kindergarten, Schulausbildung, Berufseignungstest, berufsspezifische Vorbereitung, Arbeitsleben bis zum Tod oder Aufbewahrung in einer Altersanstalt.« »Klingt das nicht schön?«, seufzte Fisker. »Alles ist geregelt. In allem, was wir tun, gibt es Sicherheit.« »Nun – ich habe mittlerweile ein anderes Bild davon, was schön ist.« Flink grinste, wurde aber gleich wieder ernst. »Hast du dir schon einmal Gedanken darüber gemacht, was die Aufgabe eines Beamten ist?« »Ein Beamter dient dem Staat, er ist der Staat, er ist Systemerhalter und sorgt für ein Funktionieren und problemloses Ineinandergreifen der staatlichen Einrichtungen«, zitierte Fisker eine der Maximen Cramars, die sich seit der Jugendzeit unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt hatten. »Jaja«, seufzte Flink. Sie schob ihn nach links. An Maschinen und Geräten vorbei, die eindrucksvoll wirkten, aber keinerlei Sinn erkennen ließen. Weit voraus blinkte ein Licht und kennzeichnete den Ausgang. »Ich will es mal andersherum formulieren«, sagte sie. »Ein Beamter erhält den Staat, und der Staat erhält den Beamten. Richtig?« »So habe ich es gelernt«, antwortete Fisker vorsichtig. Worauf wollte die Frau hinaus? »Wer, so frage ich dich, produziert dann etwas?« »Was verstehst du unter produzieren?« »Als Beamter erhältst du regelmäßiges Essen. Eine Wohnung. Bekleidung. Ein Radio. Medizin. Regelmäßige Nachrichten-Bulletins in Zeitschriften-Format. Fachbücher.« »… wofür ich meine Arbeitsleistung einbringe«, unterbrach Fisker sie. »Ist ja schön und gut – aber woher kommen die Nahrungsmittel? Die Einrichtung deiner Wohnung, die Stoffe für Kleidung, Medikamente, das Papier?« Fisker lächelte. Hatte er denn hier eine
Michael Marcus Thurner Schwachsinnige vor sich, dass sie derart naive Fragen stellte? »Das alles stellt uns das Wohnungs- und Versorgungsministerium zur Verfügung. Dafür bezahlen wir mit unserer Lebenszeit. Tagtäglich stempeln wir ab, soundso viel Zeit im Dienste des Staates geleistet zu haben, und es wird uns auf unserer Lebenskartei gutgeschrieben …« »Mann, verstehst du nicht, worauf ich hinauswill?« Flink stampfte mit einem Fuß auf, ballte die Hände. Ihr Kopf färbte sich rotgolden, die Haare standen ihr zu Berge, und sie atmete schwer. Ein Angst erregender emotionaler Ausbruch, wie er ihn noch nie zuvor bei einer Kalaro'on erlebt hatte. »Ich will von dir nicht wissen, wo all die Sachen herkommen, sondern wer sie erzeugt!«, fuhr sie schließlich fort. »Wer sie erzeugt?« Nun – mit dieser Frage hatte er sich nie auseinander gesetzt. »Maschinen vielleicht?«, fragte er hilflos. »Und wer, zum Kalatas, bedient die Maschinen?« »Ich … ich weiß es nicht.« »Du fantasieloser, engstirniger Beamtenkopf!«, schimpfte sie ihn. Sie erreichten das Ende der Halle. Flink drückte ihm zwei seltsam anmutende Geräte in die Hand. Einen langen Stab aus merkwürdig rauem Material, an dessen einem Ende mehrere scharfgratige Metallzinken in rechtem Winkel abgebogen waren. Und eine Art überdimensionale Schere, deren Klingen rostig und schrundig waren. »Wir bedienen die Maschinen!«, sagte sie mit seltsam anmutender Begeisterung. »Wir sorgen dafür, dass sorgsam behütete Pragmatisten tagtäglich Essen auf dem Tisch stehen haben, auf einem Stuhl sitzen können und ausreichend Papier zur Verfügung haben.« Flink riss die Tür auf und stieß ihn hinaus ins Freie. Ein dunkelblauer Himmel und strahlender Sonnenschein empfingen sie. Es erschien ihm wärmer, als er es jemals zwischen den Hochhausschluchten seines Heimatbezirkes empfunden hatte. Die Luft – sie
Die Varganen von Cramar war so … anders. Er atmete tief ein, roch eine strenge Würze, die ihn an irgendetwas erinnerte. Es kam von den roten, nahezu faustgroßen Früchten. Die Stauden, auf denen sie hingen, bogen sich unter der großen Last beinahe bis zum Boden. »Paradosi-Felder«, sagte Flink. »So weit das Auge reicht, so weit du an einem Tag marschieren kannst. Die Pflanzen wachsen und gedeihen hier in freier Natur. Wir setzen sie, ziehen sie hoch und ernten zweimal im Jahr. Und versorgen damit nahezu 100.000 Kalaro'on der Hauptstadt.« Paradosi! Die süßlich schmeckende Götterspeise mit dem weichen Fruchtfleisch, das er so sehr liebte! Ein gefährlich klingendes Tuckern ertönte ganz in der Nähe. Fisker schob sich die zerrissene Schirmkappe tief über die Augen und betrachtete das näher kommende Monstrum. »Nur keine Angst.« Flink schien genau zu wissen, wie er sich fühlte. »Das ist eine Erntemaschine. Achte bloß darauf, dass du ihr nicht zu nahe kommst.« »Erntemaschine?« »Bitte hör endlich mit diesen ständigen Wiederholungen auf!« Theatralisch verdrehte sie die Augen. »Also, mein Junge: In den nächsten Tagen werde ich dich von einem Arbeitsplatz zum nächsten weiterreichen. Du sollst den Betrieb erst einmal richtig kennen lernen. Für heute gilt: Komm dem Ernter nicht in die Quere, halte dich stets nahe den Gebäuden auf und pflück die Paradosi in jenen Reihen, die die Maschine nicht erreicht.« »Wie mache ich das?« Flink grinste. »Mit den beiden Werkzeugen in deinen Händen wirst du zurechtkommen, glaub mir.« Sie reichte ihm einen überdimensionierten Sack aus einem Depot nahe der Tür. »Füll die Sammelboxen bis zum Rand hin mit Paradosi und lass sie einfach stehen. Träger werden sie aufnehmen und abtransportieren.« »Das ist … alles?«
23 »Ja. Ich hole dich am Abend hier ab. Nimm dich vor der Sonne in Acht. Ihre Wirkung ist stärker, als du es gewohnt bist. Und jetzt mach endlich voran – ich muss mich um die anderen Neuen kümmern.« »Ja. Danke.« Er wandte sich ab und überlegte, wie er das Stabding mit den gekrümmten Zinken handhaben sollte. Da fiel ihm noch etwas ein. »Warte bitte!«, rief er Flink hinterher. »Bekomme ich auch etwas zu essen?« »Zu Mittag kommt Jul vorbei und bringt ein paar Fruchtbrote.« »Kann ich … kann ich auch …« »Ob du von den Paradosi-Früchten essen darfst?« Sie lachte hell auf. »Das hier ist Eigentum des Ministeriums für Nahrungsmittel.« Verschwörerisch zwinkerte sie ihm zu. »Ich glaube nicht, dass die Behörden in der Stadt bemerken werden, dass zehn, fünfzig oder meinetwegen auch hundert Stück fehlen.« »Du meinst …« »Du bist von nun an Freiberufler. Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass das auch Vorteile haben könnte?« Nein, war es nicht. Aber so betrachtet … Hm. »Arbeite zügig und mach zwischendurch längere Pausen«, riet sie ihm, während sie sich immer weiter im Dunkel der Halle verlor. »Trink ausreichend Wasser aus den Hähnen, die überall aus dem Boden kommen. Überanstrenge dich nicht zu sehr. Und heute Abend werden wir uns über das Thema Muskelkater unterhalten …« »Danke«, murmelte er. Die Frau hatte wohl einen Narren an ihm gefressen. Denn als die Sonne unterging, er mit schmerzendem Rücken und vollem Magen abgeholt wurde, angefüllt mit den leckersten Paradosi, die er jemals gegessen hatte, massierte ihm Flink die Verspannungen aus der Muskulatur und brachte ihm anschließend bei, dass man auch in der Horizontalen Bewegung haben konnte.
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Michael Marcus Thurner
4/b »Adlorm«, murmelte Kalarthras. »Der Raumhafen.« »Haben wir schon Kontakt?«, fragte Kythara in Gorghs Richtung. »Nein«, antwortete der Insektoide. »Man reagiert weder über Normal- noch über Hyperfunk auf unsere Signale.« »Adlorm ruft unbekanntes Raumschiff«, dröhnte es plötzlich auf Varganisch über die Lautsprecherfelder der AMENSOON. »Landeerlaubnis … erteilt.« Eine Sichtverbindung kam nicht zustande. Manche Vokale klangen länger, andere abgehackter, als ich es vom umgangssprachlichen Varganisch gewohnt war. Die Betonungen hatten sich wohl im Laufe der Jahrtausende leicht verschoben. Eigentlich sind diese Änderungen viel zu gering, wenn man die Dauer der Isolation betrachtet, meinte der Extrasinn. War es denn eine Isolation gewesen? Hatten die so genannten Kalaro'on, Kalarthras' Erzeugnisse und Kinder, die genetische Verankerung durchbrochen und Kontakt zu anderen Völkern gesucht? Lautes Knacksen überlagerte für kurze Zeit den Funkverkehr, bis die Positronik die atmosphärischen Störungen ausgefiltert hatte. Kythara schaltete auf Manuellsteuerung. »Ersuchen um Zuteilung einer Landeposition«, sagte sie. Lange Pause. »Landet, wo ihr wollt«, sagte die Stimme am anderen Ende der Verbindung. Ein neuerliches Knacken zeigte, dass die Leitung unterbrochen worden war. Kythara blickte uns einen nach dem anderen an. »In deinem Paradies stimmt einiges nicht, würde ich sagen. Was soll das für ein Empfang gewesen sein?« Auch ich hatte eine dumpfe Ahnung, dass dort unten etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Alle meine Instinkte sprachen an, eine Gänsehaut zog über meinen Rücken, der
Extrasinn schickte undifferenzierte, warnende Impulse. Auch diesem alten Klugschwätzer war also mulmig zumute, ohne dass er es genauer spezifizieren konnte. »Vorsicht!«, mahnte ich. »Ich fahre die Schutzschirme hoch und bleibe auf Alarmbereitschaft«, sagte Kythara und strich mit langen Fingern über eine Reihe von Tastfeldern. Es war eine Eigentümlichkeit, die sowohl den Varganen als auch mir eigen war: Je mehr Besatzungsmitglieder sich an Bord der AMENSOON versammelten, desto mehr Aufgaben der Positronik des Schiffes übernahmen wir. Das Gefühl, mit aktivem Handeln etwas zum Gelingen einer Mission beizutragen, war wichtig. Immer in dem beruhigenden Wissen, dass uns das Schiffsgehirn, wenn es auf Sekundenbruchteile ankam, ohnehin hilfreich zur Seite stehen würde. »Es muss sich um ein Missverständnis handeln«, riss mich Kalarthras mit verzweifelter Stimme aus den Überlegungen. »So sollte es hier auf keinen Fall zugehen!« Statt zu antworten, deutete ich auf Holoaufbereitungen, die uns den Raumhafen aus allen möglichen Perspektiven zeigten. Die Bilder bewiesen eindeutig, dass auf Cramar etwas gehörig aus dem Lot geraten war. Sechs ungenutzte Vierkantpyramiden, ungefähr 150 Meter hoch, standen in einem separierten Randbereich des kreisrunden Raumhafens. Die Messgeräte der AMENSOON übermittelten uns keinerlei Wärmeund Energieemissionen. Die Schiffe waren seit längerer Zeit nicht mehr im Raum gewesen. Kalarthras hingegen hatte uns erzählt, dass die Kalaro'on zu Zeiten seines letzten Aufenthalts Kontakt zu anderen Varganenvölkern gehabt hatten. Ihre genetischen Imprints hatten ihnen befohlen, keinerlei expansionistische Politik zu betreiben und bloß im Bereich ihres kleinen Sonnensystems Kolonialbemühungen zu forcieren. Der Raumhafen Adlorm maß beeindruckende 50 Kilometer im Durchmesser. Aber schon der zweite Blick offenbarte, dass die Flächen kaum genutzt wurden. An vielen
Die Varganen von Cramar Stellen drang Pflanzenwuchs zwischen aufgebrochenen Bodenfugen hindurch; Gestrüpp und Unkraut rankten ungezähmt in die Höhe. Viele der flachen und rechteckigen Zweckbauten an der Peripherie Adlorms wirkten ungenutzt und verlassen. »Was ist da bloß geschehen, was ist da schief gelaufen?«, murmelte Kalarthras. »Die Genprogrammierung war so präzise auf die Bedürfnisse der Kalaro'on abgestimmt …« »Es lässt sich nun einmal nicht alles genau vorhersehen«, entgegnete ich, nicht ohne Schadenfreude zu empfinden. »Leben ist etwas, das sich kaum steuern lässt.« Der Vargane ignorierte meinen Spott und sammelte weiter Daten aus der Peripherie des Raumhafens. »Ich habe die Funkleitstelle lokalisiert«, meldete Gorgh. »Sie ist in einem dieser Längsbauten untergebracht, unweit der südöstlichen Anbauflächen mit den roten Früchten.« Wir schwebten in einer Höhe von ungefähr zehn Kilometern über dem Meeresspiegel. Die Bildauflösung reichte längst aus, um die Oberfläche quadratzentimeterweise abzusuchen – doch wozu? Ich bemühte mich vorerst, einen Gesamtüberblick über das Land zu erhalten. Nordwestlich von uns tauchten Ausläufer der höchsten Gebirgsfaltung des Planeten aus morgendlichem Frühnebel. Hügeliges Land mündete in eine flache Ebene, auf der großflächig Landwirtschaft betrieben wurde. Gelbe, rote und braune Streifen wechselten einander ab, wie vom Lineal gezogen. Der Raumhafen unter uns, diese riesige kreisförmige Betonfläche, wirkte wie ein Abszess in einem kunterbunten Allerlei. Im Süden schmiegte sich die Hauptstadt Cramalvet hufeisenförmig um die L'arama-Bucht. Dichte Regenwolken hingen über den meist turmartigen, nüchtern wirkenden Gebäuden. Dahinter, nur als Grauschleier auszumachen, tobten heftige Stürme über Syvanim, dem Zentralmeer. Syvir, ein lang gezogenes Eiland mit einem
25 schroff hochragenden Tafelberg, war im Nebel zu ahnen. Die Regierungsinsel Coraak hingegen, ein gutes Stück östlich gelegen, blieb verborgen. Du hast wieder einmal eine Narretei im Kopf, flüsterte mir der Extrasinn zu. Narretei? Wohl kaum. Ich wollte nur nicht einsehen, warum wir hier landen und Zeit vergeuden sollten. Auf einem Raumhafen, mehr als vierhundert Kilometer von dem Ort entfernt, zu dem wir eigentlich vordringen wollten. Warum nicht gleich über der Regierungsinsel Position beziehen und hinabschweben? Diese Ungeduld kann unmöglich ein Resultat der Unsterblichkeit sein, spottete der Extrasinn. Und vergiss diese Möglichkeit. Es ist Kalarthras' Welt. Er weiß am besten, wie wir vorgehen müssen, welche Formen der Höflichkeit gewahrt werden müssen, welche Taktik am zweckdienlichsten ist. Kalarthras wusste gar nichts! Nach 50.000 Jahren wieder mal in der ehemaligen Lebensabschnittsheimat vorbeischauen und darauf vertrauen, dass alles beim Alten geblieben war – das erschien mir einigermaßen weltfremd. »Landen wir?«, fragte ich seufzend. Kalarthras nickte energisch. Neugierde und ein Hauch von Verzweiflung trieben ihn an. Kythara stimmte zögernd zu, Gorgh klickte mit den Mandibeln. Ich konnte es ihnen ansehen: Sie fühlten sich ebenso unwohl wie ich. »Gut«, sagte Kythara und bewies erneut, dass sie ihre Rolle als Kommandantin ernst nahm. »Wir setzen unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen auf Adlorm auf. Ein erstes Anzeichen von Gefahr – und wir sind eine große Wolke.« Hoffentlich keine, die im Fadenkreuz einer Strahlwaffe verging …
5/a Es dauerte nicht allzu lange, den Mief aus der Kleidung zu bekommen. Ein paar Wo-
26 chen in der freien Natur, harte, schweißtreibende Arbeit und gesunde Ernährung stählten seinen Körper und machten aus ihm einen neuen Kalaro'on. Flink bereitete es ein ausgesprochen sadistisches Vergnügen, ihn ausschließlich zu schweren Tätigkeiten einzuteilen. »Aus Eigeninteresse«, antwortete sie auf seine entsprechende Frage. »Wenn du wieder halbwegs in Form bist, werde ich dich in den Baracken einteilen. Dort warten ein paar Herausforderungen für deinen Intellekt.« »Akten schleppen?«, fragte Fisker erschrocken. Sie lachte. »Vergiss endlich dein altes Leben! Das meiste, was wir hier machen, hat einen Nutzen.« Es war schwierig, die oftmals abstrusen Gedankenwege eines pragmatisierten Beamten aus dem Kopf zu verdrängen. Immer wieder fiel er in alte Rollenmuster zurück. Dann wollte sich Fisker vor Verantwortung drücken oder diese auf andere abwälzen. Stets hatte er ein Zitat aus irgendeinem Gesetzbuch parat, mit dem er nicht korrekt formulierten Befehlen begegnen konnte. Auch die Vielzahl der Tätigkeiten und die ungewöhnlichen Arbeitsbedingungen machten ihm schwer zu schaffen. Doch Flink stand ihm bei, so gut sie konnte. Fisker bewunderte sie aufrichtig. Die Frau trug Verantwortung für mehr als zweihundert Kalaro'on auf ihren breiten, sehnigen Schultern und fand zudem auch noch Zeit, sich ihm mit ungeahntem Einfühlungsvermögen und hingebungsvoller Zärtlichkeit zu widmen. »Du bist weder schön noch klug«, keuchte sie ihm nach einer heftigen, von besonderer Leidenschaft gekennzeichneten Liebesnacht ins Ohr, »aber ich mag dich.« Sie mochte ihn wirklich. Wie sollte er das bloß einordnen? Würde sie ihn wie einen verfaulten Paradosi fallen lassen, wenn ein anderer, Besserer daherkam? Oder würde diese Beziehung anhalten, sich weiterentwickeln, bis … ja, bis was passieren würde?
Michael Marcus Thurner »Können wir Kinder bekommen?«, fragte er sie flüsternd. Ihr Körper, den er von hinten fest umklammert hielt, versteifte spürbar. »Es ist nicht erlaubt«, erwiderte sie nach einer Weile mit trockener Stimme. »Die Pragmatisten vom Ministerium für Privatisierung trauen sich kaum einmal aus ihren Tintenburgen hierher, um uns zu überprüfen. Aber begegneten sie einem Kind – sie nähmen es mit sich und überreichten es einer Pflegemutter. Willst du im Ernst, dass ein Kind all den Zwängen ausgeliefert ist, die du erleben musstest? Noch dazu mit einer Mutter, die nicht die seine ist?« Fisker streichelte über ihren entblößten Po. »Wir könnten die Geburt geheim halten. Das Kind verstecken …« Flink lachte bitter, und es klang wie ein Schluchzen. »Denk an Petri«, war alles, was sie an diesem Abend noch zu ihm sagte. Ja. Petri und die Seinen. Fast jeder dritte der Neuankömmlinge verrannte sich in der abstrusen Idee, dass er irgendwann rehabilitiert werden könnte. Die so genannten Fedos richteten sich bei den Arbeiten, zu denen sie eingeteilt wurden, pedantisch genau nach den Zeitplänen ihres früheren Lebens. Den Rest des Tages verschanzten sie sich in staubigen, nicht mehr genutzten Hallen und Bürotrakten von Lager 3 und erledigten dort sinnlose Pseudoarbeiten. Sie schichteten Aktenordner, schoben willkürlich Tische von einer Ecke zur anderen, rezitierten Gesetzestexte aus allen möglichen Bereichen oder notierten pedantisch genau, was die anderen Freiberufler, die »Abnormalen«, so trieben. Fröhlichkeit war ihnen fremd, ebenso wie Freude und Lust. Petri selbst hetzte mit messianischem Eifer gegen Flink und andere Barackenleiter, die für sich und ihre Leute das Beste aus dem Leben zu machen suchten. Manchmal machte der selbst ernannte Lagerverwalter selbst Fisker so wütend, dass er am liebsten zu ihm hinmarschiert wäre, um ihn … um ihn …
Die Varganen von Cramar Ja, was eigentlich? Er wusste es nicht.
* »Ich bin wahrscheinlich die einzige wirklich Entartete in Lager 3«, sagte Flink am nächsten Morgen. »Ich verstehe nicht.« Fisker zog sein rissig gewordenes Hemd an und roch voll Inbrunst an der blutroten Blüte einer hochgewachsenen dornigen Blume, die seine Freundin so sehr liebte. Erst dann zog er den schweren Stoffvorhang beiseite, der sie von den anderen Schlafeinheiten der Baracke trennte. Flink winkte ihrer Nachbarin zu und zog ihn mit sich, weiter nach hinten, in den Frühstücksbereich. Kochfein brodelte bereits in einem großen Kessel, und mit hölzernen Schalen schöpften sie sich beide ihr morgendliches Quantum heraus. Sie setzten sich an einen der wackeligen Tische. »Bevor ich hierher geschickt wurde, untersuchte mich ein Arzt«, setzte sie nach langem Schweigen ihre Unterhaltung fort. »Du warst bei einem Arzt?« Fisker schüttelte überrascht den Kopf. »Ich habe gehört, dass es noch welche gibt …« »Klar doch«, unterbrach sie ihn. »Aber es werden immer weniger. Heutzutage ordinieren sie wahrscheinlich nur noch auf Coraak, bei den Großkopfeten. Aber ich wollte eigentlich auf etwas ganz anderes hinaus.« Fisker nickte ihr auffordernd zu, weiter zu erzählen. »Die Frau war eine so genannte Fachärztin. Eine, die nur einen ganz gewissen Bereich der kalaro'onschen Medizin abdeckte. Sie sei eine Neu … Neurolügin, so sagte sie.« »Und was hat dir diese Neurolügin erzählt?« »Sie untersuchte meinen Kopf ganz genau. Mit zischenden und britzelnden Geräten, sodass man jeden Moment Angst haben musste, sie würden in die Luft gehen.« »Offensichtlich hast du's überlebt …«
27 »Offensichtlich – wenn du das hier spüren kannst.« Sie zwickte ihn in den flachen, muskulösen Bauch. »Au!« »Mach nicht so einen Aufstand – man beobachtet uns.« Flink grinste. »Jetzt erzähl endlich weiter!« »Ja, verzeih. Also – diese Neurolügin sagte, dass etwas in mir nicht in Ordnung sei. Ich sei unkontrollierbar und könne Dinge tun, zu denen andere Kalaro'on nicht imstande wären.« »Was meinte sie damit?« »Ich kann anderen Schmerz zufügen.« Sie grinste, doch da war kein Humor in ihrem Lächeln. »Irgendeine Barriere, die dich davon abhält, auf jemanden böse zu sein oder ihn gar zu … zu schlagen, existiert bei mir nicht.« Fisker verschluckte sich fast an dem harten Fruchtbrot. Was sollte er darauf sagen? Erwartete sie einen Kommentar? Er dachte an die Leidenschaft und Wildheit in ihrem gemeinsamen Bettlager. Und er rief sich ins Gedächtnis, wie sie in manchen Situationen mit zornig rotem Gesicht stehen geblieben war, zitternd, die Hände zu Fäusten geballt … »Seitdem ich hier in Lager 3 bin«, fuhr sie leise fort, »habe ich niemals jemandem wehgetan – sosehr mich auch manchmal die Wut packte. Das musst du mir glauben. Bitte!« Ihre Stimme klang traurig und gleichzeitig fordernd, wie die eines kleinen Kindes. »Es kostet so viel Kraft, ruhig zu bleiben. Alles ruhig hinzunehmen. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich die einzige Normale in einem Haufen von Verrückten.« Es war demütigend, sie so sprechen zu hören. Aber hatte sie vielleicht Recht? Wie oft hätte er gerne das ausgedrückt, was ihn bewegte. Geweint. Geschrien. Lauthals drauflosgelacht. Und nur ab und zu gelang es ihm, tatsächlich ein wenig davon aus sich herauszuquetschen. Am besten … nun, am besten funktionierte es beim mitternächtlichen Gerangel im Bett. War es das, was Flink an ihm so mochte?
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Michael Marcus Thurner
Leidenschaft beim Sex? Sie blickte ihn an, also könne sie seine Gedanken lesen, und grinste schief. »Keine Angst – ich mag dich nicht nur wegen deiner … Potenz. Du hast gute und liebenswerte Eigenschaften in dir, die ich viel mehr schätze.« Sie streichelte ihm über die Wange. »Warum erzählst du mir das alles?«, fragte Fisker schließlich. »Es soll nichts zwischen uns stehen«, antwortete Flink. »Wenn ich einmal nicht so reagiere, wie du es erwartest, sollst du zumindest wissen, warum es so ist.« Das war wohl ihre Art, ihm ihre Liebe mitzuteilen. Wie sollte er darauf reagieren? »Danke«, murmelte er schließlich und blickte sie an. Hilflos, sich plötzlich seiner emotionalen Eingeschränktheit bewusst werdend. »Gern geschehen«, sagte sie zärtlich, und er wusste, dass er zumindest nichts Falsches gesagt hatte …
* »Raumschiff im Anflug!« Eine Sirene lief jaulend an. Verhaltensmaßregeln wurden über Lautsprecher weitergegeben. »… werden alle Freiberufler aufgefordert, sich bei ihrem Barackenleiter einzufinden und weitere Instruktionen abzuwarten …« Das Alarmsignal brach abrupt ab, die Stimme verstummte. Offensichtlich versagte das Lautsprechersystem. Kalaro'on liefen hektisch und verstört an Fisker vorbei, auf die Barackenlager zu. Ein Raumschiff? War dies denn wirklich so eine große Sensation, dass ein großflächiger Alarm ausgelöst werden musste? Er rief sich Bulletins in Erinnerung, die er während der Dienstzeit – in seinem früheren Leben – gelesen hatte. Immer wieder waren aufregende Erfolgsmeldungen verbreitet worden. Hamag und Manag, der innere und äußere Planet ihres kleinen Sonnensystems, seien Fixpunkte einer Rohstoff gewinnenden
Industrie, ebenso wie der breite Asteroidenring ein gutes Stück weiter draußen im All und Vagrym, ihr Mond, der jede Nacht auf sie herableuchtete. Er dachte an die Erregung, die ihn beim Lesen dieser Nachrichten gepackt hatte. Es gab Kalaro'on, die jetzt, während er darüber las, auf einem fremden Planeten atmeten, gingen, arbeiteten … Die Alarmsirene fing wieder an zu heulen. Erschrocken setzte er sich in Bewegung. Er schloss sich den anderen an. Quer durch die Maschinenhalle ging es, den Rain eines schmalen Erdbirnenfelds entlang, an der Werkstätte vorbei, durch die Versammlungsaula. Auf einem alten, verblichenen Schriftzug konnte er »… nftshalle« lesen. Er hetzte nach links, geradeaus weiter … »Du bist der Letzte!«, empfing ihn Flink mit leisem Vorwurf. »Warum diese Aufregung?« »Ein Raumschiff nähert sich.« »Na und?« »Ein fremdes Raumschiff!« Na gut. Das war natürlich ein wenig Nervosität wert. Die Kalaro'on hatten, wie er wusste, immer wieder Kontakt zu anderen raumfahrenden Völkern gehabt. Die Treffen waren stets freundschaftlich geblieben. Dennoch hatte man darauf geachtet, selbst nicht über die Grenzen des Sonnensystems hinaus zu forschen. »Erst wenn das Ordnungswesen Cramars einen Optimierungsgrad gemäß Verwaltungsparagraph 133/2 erreicht hat, werden wir uns anschicken, die Grenzen unseres Staatsgefüges weiter auszudehnen«, so hatten die offiziellen Bulletins gelautet, wenn er sich recht erinnerte. »Was weißt du über solche Begegnungen?«, fragte er mit wachsender Aufregung, während sie sich in die Baracke zurückzogen. »Sie passieren«, antwortete Flink. »Ich kann mich an insgesamt drei erinnern, seitdem ich hier bin.« »Wie haben die Außerirdischen ausgese-
Die Varganen von Cramar hen? Hatten sie sechs Glupschaugen? Tentakel? Wollten sie Cramar besetzen?« »Spar dir deinen Humor.« Sie boxte ihm sanft die Seite. Fisker schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, warum die Ministerien uns diese Begegnungen verheimlicht haben, während die Freiberufler darüber Bescheid wussten. Drei, sagstest du, in den letzten zwanzig Jahren?« Flink nickte und begann gleich darauf zu kichern. Sie setzte sich auf das gemeinsame Bett. »Mein ahnungsloser Mann! Mach doch endlich die Augen auf und sieh!« »Was soll ich sehen?« »Seitdem du hier bist, kümmerst du dich mit deinem ganzen Ehrgeiz um Pflanzenpflege, Düngung, Bewässerung und Ernte. Immer schaust du nur auf die eine Seite des Feldes – und ich meine das nicht nur metaphorisch.« »Ich verstehe nicht …« »Das große Betonfeld rechts von den Hallen, du Blindmuck! Was, glaubst du, ist das?« »Ich habe keine Ahnung. Es interessiert mich auch nicht. Dort passiert nichts Produktives, würdest du an meiner Stelle sagen.« Flink seufzte tief. »Der kleine Beamte steckt noch immer ganz tief in dir drin. Du bist auf deine Aufgabe fixiert und stellst viel zu wenig Fragen.« Er verdrehte die Augen. »Also schön, wenn's denn sein soll: Was ist diese Betonfläche, was kann sie, was hat das, bei Kalatas, mit der Ankunft eines Raumschiffs zu tun?« »Alles und nichts.« Sie zog ihn zu sich herab. »Das hier, mein Bester, ist Adlorm. Die Ebene auf der anderen Seite der Baracken ist das größte Raumlandefeld des Planeten, und unsere Gäste aus dem All werden wohl in den nächsten Augenblicken drauf aufsetzen.«
* Es war keine Landung in jenem Sinn, wie
29 Fisker es sich vorgestellt hatte. Die goldene Doppelpyramide senkte sich mit einer Spitze voraus herab, ohne den Boden zu berühren. Vielleicht eine Körperlänge oberhalb des Betonfeldes stoppte das prachtvolle Schiff, dessen äußere Form an einen perfekt geschliffenen Kristall erinnerte. Ein langer, wie mit einem Lineal gezogener Schlagschatten reichte bis zu ihren Baracken. Staub wehte über die Betonwüste, die er erstmals bewusst in Augenschein nahm. Saftloses Buschwerk wurde über das Landefeld hinweggetrieben, offensichtlich von Luftverwirbelungen, die das Raumschiff während des Anfluges verursacht hatte, entwurzelt. Bislang hatte er stets den Blick von der Ebene abgewandt. Ihre Leb- und Farblosigkeit weckte eine gruslige Erinnerung an seine frühere Existenz; eine Assoziation zu den betonierten Häuserschluchten, grau in grau, denen er auf so wundersame Weise entkommen war. »Wir sollten hinausgehen und sie begrüßen«, murmelte er. Das Fenster, durch das sie blickten, war staubig und von eingetrockneten Regenschlieren bedeckt. »Lass das das Empfangskomitee übernehmen«, sagte Flink und hielt ihn fest. Sie wirkte ebenso aufgeregt wie er selbst. »Das Empfangskomitee?« »Wir haben ein paar Leute hier sitzen, die mit solch einer Situation Erfahrung haben. Funker und Ortungstechniker. Sie haben mittels Orbit-Satelliten Kontakt mit dem fremden Schiff aufgenommen. Wenn wir Glück haben, macht auch Glimm gerade Dienst. Er hat ein Buch über FremdrassenPsychologie gelesen. Und er war bei der letzten Begegnung mit Außerkalaro'onischen ebenfalls mit dabei.« »Das nennst du Leute mit Erfahrung?« Nun war es an ihm, sich über Flinks Naivität zu wundern. »Diese Funker und Orter – sie sind also Freiberufler wie du und ich? Ohne irgendeine Ausbildung?« »Was hast du denn gedacht?« Sie blickte
30 nach wie vor neugierig durch das Fenster. Eine weitere heftige Windbö fuhr gegen die Baracke, da und dort blies staubige Luft durch Ritzen. »Jeder von uns wird so vielfältig wie möglich ausgebildet. Wir erzählen uns gegenseitig von unseren Erfahrungen. Wir warten und reparieren die Geräte, soweit es geht, oder ersetzen sie durch solche aus den Lagern.« Flink blinzelte und sagte aufgeregt: »Ein paar Leute der fremden Besatzung sind ausgestiegen!« Ja, jetzt konnte er die Gestalten auch erkennen! Sie schwebten aus einer kleinen Lücke ungefähr in der Mitte des riesenhaften Kristalls. Drei kleine Punkte – so wenige angesichts des riesigen Schiffes? – waren es, die sich von der metallenen Hülle abhoben, sich rasch herabsenkten und sich ihnen näherten. »Wo steckt das Empfangskomitee?«, fragte Fisker seine Freundin. Aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Es war schließlich nicht er, der hinaus und mit diesen fremden Gestalten Kontakt aufnehmen musste. »Das ist nicht gut, gar nicht gut«, murmelte Flink. »Die Außerkaralo'onischen reagieren viel zu schnell. Unsere Bereitschaftsbesatzung sitzt ein gutes Stück von hier entfernt im Tower.« »Diese Wesen kommen aber auf uns zu!« Sie hielten ihre leicht leuchtenden Helme geschlossen. Einer von ihnen blieb stets ein paar Schritte im Hintergrund, als hätte er Angst, sich zu zeigen. Unweit der Versammlungsaula blieben sie schließlich stehen. Der Größte von ihnen gestikulierte wild – und deutete plötzlich mit einer Hand in Fiskers Richtung. Hastig sprang er beiseite, in die Deckung festen Mauerwerks. Hatte der Außerkalaro'onische etwa auf ihn gedeutet? Er war sich der Sinnlosigkeit seiner instinktiven Reaktion wohl bewusst. Jemand, der den Weg durch das weite All hierher gefunden hatte, würde sich auch durch Ziegel und Stein nicht bremsen lassen, wenn er etwas haben wollte.
Michael Marcus Thurner »Bleib ruhig«, murmelte Flink. Doch auch sie hatte sich versteckt. Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, und er zitterte an allen Gliedern. Hier ging Bedeutsames vor sich – und er hasste es, in den Mittelpunkt gerückt zu werden. Das Fremdwesen hatte tatsächlich auf ihn gezeigt! Aus irgendeinem Grund war er … auserwählt worden. Oder irrte er sich? Komm zu uns heraus! Der Gedanke platzte in seinen Kopf, war plötzlich da. Er war mit keinerlei Zwang verbunden – und dennoch war ihm klar, dass er den Wunsch des Wesens nicht einfach ignorieren konnte. Seine Füße drängten vorwärts, setzten sich automatisch in Bewegung … »Was tust du?«, schrie ihm Flink entsetzt hinterher, als er sich schon auf halbem Weg zum Barackenausgang befand. Fisker kümmerte sich nicht weiter um die Frau. Es war nicht nur der geistige Eingriff des Außerkalaro'onischen. Es steckte viel mehr dahinter. Ein Wunsch, der lange in ihm gereift war und nunmehr eine Definition gefunden hatte. Fisker war lange genug durch ein Leben geschlichen, ohne Zweck und Ziel. Und dieser Moment, der mit atemberaubender Plötzlichkeit gekommen war, stellte seine Chance dar. Mit einem Mal hing alles so klar und deutlich vor seinen Augen: Er würde Verantwortung für andere übernehmen – und er fühlte sich gut bei diesem Gedanken. Fisker ging den Gang entlang, nunmehr ohne Angst, achtete nicht weiter auf Flinks Schreckensschreie und die verblüfften Blicke, die ihm andere Freiberufler zuwarfen. Er öffnete die letzte Tür und trat hinaus ins Freie. »Ich bin Fisker«, sagte er laut und mit fester Stimme. »Kann ich euch helfen?«
Querverweis I »Wir haben Besuch bekommen, Oberster Noturierter! Die Freiberufler aus Adlorm
Die Varganen von Cramar melden die Landung eines Raumschiffes in Form eines geschliffenen Edelsteins …« »Hör auf zu bibbern und beherrsch dich gefälligst! Ich weiß längst Bescheid.« »Woher …« »Ich habe eben meine eigenen Quellen.« »Gewiss, Oberster Noturierter! Wie konnte ich das nur vergessen, verzeiht mir. Soll ich die Außerkalaro'onischen in das Kanzleramt vorladen?« »Keineswegs, du Einfaltspinsel! Sie sollen die übliche Prozedur durchlaufen. Das wird sie mürbe machen.« »Sehr wohl, Oberster Noturierter! Ein sehr guter Vorschlag, wenn ich das so sagen darf.« »Darfst du nicht, du Speichellecker. Und jetzt bring mir Kochfein. Eine große Tasse.« »Speichellecker, haha, sehr lustig, wenn ich das so sagen darf. Ich laufe, ich eile, ich gehorche …«
6. Kythara war freiwillig an Bord der AMENSOON zurückgeblieben. Mit dem ihr eigenen Sinn für Disziplin hatte sie der Versuchung auf einen Landgang widerstanden. Auch wenn sie es nicht offen aussprach – sie machte sich Sorgen um ihr Schiff. Zu oft war es in den letzten Tagen und Wochen ins Kreuzfeuer genommen worden, zu oft hatten wir unter Vergeudung irrsinniger Energiewerte unser Glück ausgereizt. Ein Check aller Systeme war ihr wichtiger als der Reiz, ein Varganenvolk neu zu entdecken, das Kalarthras erzeugt hatte. Zurück in die Gegenwart!, wies mich der Extrasinn streng zurecht. Ich öffnete wie Kalarthras den Helm und fixierte die erbärmliche Gestalt, die uns als einzige beim Eingang zur Ankunftshalle des Raumhafens empfing. Der Mann war nicht ganz freiwillig hier. Mir kamen Zweifel, ob mein Vorschlag gut gewesen war, einen der Kalaro'on-Varganen aus den baufälligen Gebäuden mit Hilfe von Kalarthras' geistigen Fähigkeiten herauszu-
31 picken. Diese unterernährte Vogelscheuche, die mit hängenden Schultern vor uns stand, würde uns wohl keine große Hilfe sein. »Nenn uns deinen Namen!«, forderte Kalarthras den Mann auf. »Ich bin Fisker.« »Fisker? Ein merkwürdiger Name …« Der Vargane grübelte offensichtlich noch immer über die Fehler in der genetischen Programmierung seiner Erzeugnisse. »Früher … früher hieß ich Z-Tomanet«, stotterte unser Erstkontakt. »Das klingt schon besser«, flüsterte Kalarthras mir zu. »Ein Hinweis auf das Geburtsjahr in Form eines einzelnen Buchstaben sowie ein Eigenname aus einem Pool von nicht mehr als dreihundert Worten. So war es geplant.« Da war sie wieder: jene unterschwellige Lust des Varganen, eine Art Cäsarenwahn, mit der er – wohl eher unbewusst – seinen Geschöpfen das Anrecht auf freien Willen absprach. »Mir … mir wäre es lieber, du würdest mich mit meinem neuen Namen ansprechen«, unterbrach der Kaiaro'on meine Gedanken. Oha! Steckte etwa mehr Wille und Selbstachtung hinter diesem Persönchen, als ich mir gedacht hatte? Vorsicht, Arkonide!, mahnte mich der Extrasinn. Auch in dir steckt öfter mal eine gehörige Portion Überheblichkeit. Genau aus diesem Grund bin ich überaus dankbar, dich an Bord zu haben!, entgegnete ich gedanklich und meinte es durchaus ernst. Ich räusperte mich laut und zog die Aufmerksamkeit des Kaiaro'on auf mich. »Gut, Fisker. Wir respektieren natürlich deinen Wunsch. Mein Name ist Atlan, und das hier ist Kalarthras.« »Und das Wesen hinter euch?« Er deutete an mir vorbei auf Gorgh, der sich bewusst im Hintergrund gehalten hatte. Er hatte seinen eigenen graumetallischen Schutzanzug gegen einen goldenen aus var-
32 ganischen Beständen eingetauscht. Sein goldeloxierter Sichtschutz war nach wie vor geschlossen. Aber ein Blinder mit Krückstock konnte erkennen, dass er anders gebaut war als der Vargane und ich. »Das ist Gorgh aus dem Volk der Daorghor«, sagte ich vorsichtig, während der Insektoide langsam den semienergetischen Schutzhelm in den Nacken zurückgleiten ließ. Er entfaltete das hintere Beinpaar, das er bislang angezogen gehalten hatte, um wenigstens in Ansätzen arkonoid zu erscheinen. Die viergliedrigen chitingepanzerten Greifenden schnappten leise auf und zu, offensichtlich, um den steif gewordenen Körper ein wenig aufzulockern. Fisker rückte einen Schritt zurück, zeigte aber sonst kein Anzeichen von Panik. Wohl ein gutes Zeichen. Denn wer den Daorghor begegnete, lernte normalerweise Furcht und Schrecken kennen. Als Hilfsvölker der Lordrichter waren die Insektoiden immer wieder an Gräueltaten beteiligt, über die ich hier und jetzt gar nicht nachdenken wollte. »Gorgh ist so wie wir ein Forscher. Ein Reisender auf der Suche«, sagte ich kryptisch zu dem Kalaro'on. Vorsicht!, mahnte mich der Extrasinn erneut. Du behandelst den Kalaro'on so herablassend wie jemanden, dem du Glasperlen andrehen willst. Unterschätze diesen Fisker unter keinen Umständen. Und wieder hatte mein Untermieter Recht! Ich zerbiss einen Fluch auf den Lippen. »Wir … andere unseres Volkes haben diesen Planeten schon vor langer Zeit besucht. Es hat sich viel geändert seit damals«, fuhr ich vorsichtig fort, während Fiskers Blicke immer wieder interessiert zwischen uns dreien hin und her pendelten. »Das muss lange her sein«, sagte der Einheimische in seinem sonoren, etwas schleppend klingendem Varganisch. »Soviel ich weiß, hatten wir in den letzten zwanzig Jahren nur dreimal Besuch aus anderen Sonnensystemen.«
Michael Marcus Thurner Weder Sprachmuster noch Verhalten dieses Wesens stimmen mit meiner genetischen Programmierung überein, vermittelte mir Kalarthras mit gelinder Verwunderung und einem Hauch von wissenschaftlichem Interesse in seinen Gedanken. Der Vargane machte mich zornig. »Wie wäre es, wenn du dich von nun an um unsere Probleme kümmertest?«, raunte ich ihm zu. »Beziehungsweise um die Defekte in deinem Körper, die es den GarbyorHorden immer wieder erlauben, unsere Spur aufzunehmen?« Das saß! Kalarthras zuckte zusammen und ballte die Hände. Ich hatte ihn mit wenigen Worten auf die gleiche Stufe wie seine Geschöpfe gestellt. »Über diese Bemerkung unterhalten wir uns später in aller Ruhe, Arkonide!«, flüsterte er mühsam beherrscht zurück. Ich ignorierte ihn vorerst und schenkte Fisker wieder meine ganze Aufmerksamkeit. »Wir sind hier gelandet, weil wir Nachrichten besitzen, die wir gerne eurem … hm, Präsidenten mitteilen wollen. Sehr, sehr wichtige Informationen.« Obacht! Du rasselst schon wieder mit den Glasperlen, ätzte der Extrasinn. Diesmal ignorierte ich ihn. »Präsident?«, fragte Fisker mit gerunzelter Stirn. »Der Präses«, versuchte ich es erneut. »Obmann. Planetenrat. Kaiser. Direktor. Häuptling. Wer oder was auch immer. Wir müssen dringend mit jemandem sprechen, der auf Cramar das Sagen hat.« Endlich zeigte sich Begreifen in Fiskers Gesicht. »Du meinst den Obersten Noturierten!« »Ja.« Der Kalaro'on legte die Stirn in Runzeln. »Nun – das dürfte ein paar Probleme bereiten.« »Besondere Gäste aus dem Weltraum wie uns wird der Oberste Noturierte wohl bevorzugt behandeln, zumal wir wichtige Nachrichten überbringen.« »Das mag ja sein …« Der Mann leckte
Die Varganen von Cramar sich über die Lippen. Es war ihm offensichtlich peinlich, was er zu sagen hatte. »Wir alle hier sind … Freiberufler. Unser Wort zählt nicht allzu viel, wenn man ein Ansuchen um Anhörung während einer Sprechstunde haben will. Die Paragraphen …« »Was interessieren uns Paragraphen!«, mischte sich Kalarthras zornig ein. »Wir haben trotz unserer Eile den höflichen Weg gewählt und sind hier auf dem Raumhafen gelandet. Wir hätten auch direkt auf der Regierungsinsel Coraak landen können und uns den Weg zu deinem … deinem Noturierten suchen können.« »Zweifellos.« Fisker lachte bitter auf. »Aber du kennst die Sturheit dieser Beamten nicht. Sie würden sich lieber erschießen lassen, als jemanden vorzulassen, der nicht hochoffiziell um Besuchszeit während der öffentlichen Sprechstunde angesucht hat.« Wenn das ein Scherz sein sollte, so fand ich ihn nicht besonders gelungen. Wir sollten was? Kalarthras neben mir stand kurz vor der Explosion. Geduld war offensichtlich nicht seine Stärke. »Ich bin sicher, dass der Oberste Noturierte Verständnis für unsere Situation haben wird, wenn du oder ein anderer hier am Raumhafen die Nachricht weitergibt, wer und was wir sind. Wenn die Neuigkeit nicht ohnehin schon bis nach Coraak vorgedrungen ist.« »Das mag sein, Atlan.« Der Kalaro'on gewann immer mehr an Sicherheit. »Aber wir hier sind Ausgestoßene. Wir zählen nichts, unser Wort zählt nichts. Wir sind sozusagen lebendig begraben.« Er grinste schief. »Und, im Vertrauen: Ich bin nicht einmal unglücklich darüber.«
* Fisker zeigte berührende Naivität. Unsere Raumanzüge faszinierten ihn ebenso wie das Braungelb eines Getreidefeldes oder Gorghs Reinigungsgesang, den er kurz nach unserer
33 Ankunft in einer stillen Ecke anstimmte. Kalarthras beäugte den Kalaro'on nach wie vor mit dem Interesse eines Chirurgen, der seinen Patienten unbedingt sezieren wollte, um herauszufinden, wie er denn funktionierte. Noch nahm ich Rücksicht auf den schwarzen Varganen, noch schob ich Gefühlsarmut und Überheblichkeit auf Fehlreaktionen nach der jahrtausendelangen Schlafphase auf Vassantor. Aber irgendwann würde mir der Geduldsfaden endgültig reißen. »Zusammenfassend bedeutet das also, dass alle Freiberufler aus ihrem eigentlichen Funktionsbereich aussegmentierte Verwaltungsbeamte sind«, sagte Gorgh. Wir hatten uns zwecks einer kurzen Lagebesprechung in eine der vielen leer stehenden, von einer dicken Staubschicht bedeckten Nebenräumlichkeiten zurückgezogen. Der Insektoide formulierte soeben einen Bericht, den er an Kythara und die AMENSOON weiterleitete. »Sie werden in Strafkolonien verlegt, um produktive Tätigkeiten zu erledigen, zu denen große Teile der Bevölkerung nicht mehr bereit sind.« So stellte sich uns das Leben in diesem Teil Cramars oberflächlich dar. In anderen Gebieten dieser Welt mochte es anders aussehen – obwohl ich das bezweifelte. Über das Wie und Warum konnten wir vorerst nur mutmaßen. Fisker selbst war kaum in der Lage, darüber Auskunft zu geben. »Degeneration«, sprach Kalarthras heiser das aus, was Gorgh und ich vermuteten. »Obwohl diese Möglichkeit dank meiner genetischen Programmierung faktisch ausgeschlossen war.« »Jetzt hör doch endlich mit deiner Selbstbeweihräucherung auf!«, fuhr ich ihn an, etwas lauter als notwendig. »Den Spieltrieb von Mutter Natur kann auch ein Vargane nicht über eine derart lange Zeitspanne im Zaum halten.« Er schüttelte vehement den Kopf. »Ich weiß, was ich geleistet habe! Nichts deutete damals darauf hin, dass die Entwicklung der
34 Kalaro'on in diese Richtung gehen würde. Wir müssen uns dieses seltsame Sozialgefüge unbedingt aus nächster Nähe ansehen«, forderte er. »Fiskers Worte in allen Ehren – aber als Geächteter hat er sicherlich eine andere Sicht der Dinge als die hiesige Herrscherkaste.« »Haben wir die Zeit dazu?«, fragte Gorgh nüchtern. »Ich betrachte unsere Mission als gescheitert. Hilfe für dein Problem werden wir hier keine finden. Ein weiterer Aufenthalt ist nicht zielführend. Im Gegenteil: Er gefährdet unsere weiteren Pläne. Wir sollten Cramar so rasch wie möglich verlassen.« »Auf keinen Fall!«, rief Kalarthras laut und sprang auf. »Wenn du dich auf Forscherehre, gekränkte Eitelkeit und Neugierde berufst, muss ich leider zugeben, dass Gorgh die besseren Argumente auf seiner Seite hat«, sagte ich möglichst ruhig. »Solange die Garbyor uns orten, weil sie dich aufspüren können, müssen wir mit der AMENSOON in Bewegung bleiben und woanders nach Auswegen aus dieser Misere suchen …« Der Vargane schwieg und wandte sich von uns ab. Sein Stolz verbot es ihm sichtlich, um mehr Zeit zu bitten. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass er Geheimnisse vor uns hatte. Es war nicht nur die Sorge um seine Nachkommen, die ihn antrieb. Da steckte mehr dahinter. Oder … versuchte er etwas ausfindig zu machen, an das er sich nur unzureichend erinnerte? Das musste es sein! Egal, wie du es auch siehst – der Vargane hat offensichtlich gewichtige Gründe, vorerst hier zu bleiben, meinte der Extrasinn. Ein Vargane mit seinem Intellekt würde angesichts der drohenden Gefahren sonst nicht darauf beharren, hier zu bleiben. Möglicherweise ist ihm auch sein Stolz im Weg. Er will nicht zugeben, wie groß die Lücken in seiner Erinnerung sind. Du solltest ihm eine goldene Brücke bauen. Der redete sich leicht! Auch ich hatte ein Gesicht zu verlieren …
Michael Marcus Thurner »Nun gut«, seufzte ich schweren Herzens. »Ein wenig Spielraum haben wir sicherlich. Die Beobachtungssonden im Orbit verschaffen uns einen Minimalvorsprung, sollten sich tatsächlich gegnerische Flottenverbände nähern und wir flüchten müssen. Aber richte dich darauf ein, dass es kein ausgedehnter Landurlaub werden wird.« Kalarthras nickte knapp, während Gorgh zu meinem Meinungswandel schwieg. Seine Denkschemata waren oftmals nicht geeignet, die manchmal wankelmütig scheinenden Entscheidungen arkonoider Wesen nachzuvollziehen. Ich verließ den kleinen Raum und suchte Fisker. Der Kalaro'on umarmte soeben mit linkischen Bewegungen die Hüften seiner Freundin. Es wirkte so, als hätte der Mann auch in zwischenmenschlichen Beziehungen ein erhebliches Manko. »Wir möchten trotz unseres Zeitdrucks zum Obersten Noturierten vordringen«, sagte ich. »Wirst du uns helfen?« Fisker blickte mich verunsichert an. »Wie sollen wir nach Cramalvet gelangen? Nur dort können wir, wenn überhaupt, etwas erreichen.« »Das lass unsere Sorge sein. Du erhältst von uns kostenlosen Flugunterricht.« Er schluckte schwer, schüttelte verzweifelt den Kopf – und nickte schließlich doch. »Ich werde tun, was ich kann. Aber erwartet keine Wunderdinge von mir. Nicht einmal der geringste Beamte wird irgendetwas auf meine Intervention geben. Ich kann euch bestenfalls die notwendigen Schritte zeigen …« »Das reicht vollkommen«, unterbrach ich ihn in seiner etwas geschraubten Redensweise. »Dann pack deine Siebensachen. Ich möchte in der Stadt sein, bevor die Sonne untergeht.« »Es wäre besser, wenn wir erst morgen früh abreisen …« »Nichts da! Auch wenn die Ämter sicherlich schon geschlossen haben, wäre es besser, wenn wir uns bereits heute ein wenig in Cramalvet umsehen. Wir haben keine Zeit
Die Varganen von Cramar zu verlieren.« »Wie du meinst«, murmelte Fisker. Er wirkte nicht sonderlich begeistert von meinem Vorschlag.
* Der Kalaro'on überraschte uns einmal mehr. Binnen kurzem kam er mit der Steuerung des Anzugs zurecht, den wir ihm übergezogen hatten. Nur ab und zu mussten wir mit Fesselfeldern korrigierend eingreifen. »Lernbegierig und von rascher Auffassungsgabe«, sagte Kalarthras zufrieden über Normalfunk zu mir. »Wie du es geplant hattest – nicht wahr?« »Ja. So erwarte ich, dass meine Produkte funktionieren.« Es war zu viel für mich! »Verdammt noch mal!«, rief ich zornentbrannt. »Kannst du den armen Kerl nicht für einen einzigen Moment als ein Individuum ansehen? Eines, dessen Schicksal nicht fremdbestimmt ist?« »Warum regst du dich so auf, Arkonide? Ich sorge mich bloß um meine Erzeugnisse …« Ich flog näher zu ihm heran, hatte keine Augen für die goldgelben und dunkelroten Felder, die vielleicht fünfzig Meter unter uns hinwegzogen, schüttelte ihn an den Schultern. »Du hast kein Recht, ihn wie ein Kind zu behandeln und schon gar nicht wie dein Erzeugnis! Vor ein paar Ewigkeiten hast du Gott gespielt und diese Wesen dann sich selbst überlassen. Damit hatte es sich, deine Aufgabe war erfüllt. Und wage es ja nicht, Fisker oder irgendeinen anderen spüren zu lassen, als was du sie siehst!« Die Flugkontrollen unserer Anzüge hatten größte Probleme, meine Rüttelbewegungen auszugleichen. Abrupt ließ ich vom Varganen ab, wurde mir meiner Unbeherrschtheit bewusst. Ich beschleunigte und schoss vorneweg, ohne auf Kalarthras, Gorgh oder Fisker zu warten. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte und auch wenn ich den Großteil der
35 Schuld für diese Eskalation bei dem Varganen fand – es war die Situation, die an meiner Substanz zehrte. Wie hätte ich ahnen sollen, dass mein Nervenkostüm in den nächsten Tagen noch weitaus stärker strapaziert werden würde?
7. Cramalvet war … seltsam. Wir bewegten uns wie bunte Farbkleckse durch einen Alptraum aus Nicht-Farben und Tristesse. Männer und Frauen, unisex und grau in grau gekleidet, marschierten interesselos an uns vorbei. Den Blick starr geradeaus gerichtet, strebten sie ihren eigenen Zielen zu. »Es ist gerade Feierabend«, sagte Fisker, der sich sichtlich unwohl fühlte und meist hinter uns hertrippelte. Der breite und kerzengerade Straßenzug wurde hauptsächlich von Fußgängern belebt. Nur ab und zu surrte ein offensichtlich elektrisch betriebenes Schienenfahrzeug an uns vorbei. Kein Geräusch außer dem Klappern genagelter Absätze war zu hören. »Entschuldige bitte …«, fragte Kalarthras. Die Frau sah ihn kurz angewidert an, wich ihm mit zwei seitlichen Schritten aus und marschierte, ohne das Tempo zu verändern, weiter, einem unbekannten Ziel entgegen. »Sie gehen alle nach Hause«, murmelte Fisker. »Dann Abendessen, Lesen von Fachliteratur, Körperpflege und Schlafen.« Ich konnte spüren, wie unangenehm ihm das Thema war. Wie wir mittlerweile wussten, war er selbst noch vor wenigen Wochen Teil dieser anonymen Masse gewesen. »Und was macht ihr an euren freien Tagen?« »Ich verstehe nicht …« »Was«, hakte ich geduldig nach, »unternimmt man in Cramalvet, wenn man einmal nicht arbeitet? Wo amüsiert man sich, wo trifft man Freunde, was für Freizeitbeschäftigungen gibt es?« »Wie kommst du darauf, es gäbe Zeiten,
36 in denen wir nicht arbeiten?« »Bitte?« »Das Jahr ist in 140 Tage unterteilt.« Fiskers Blick war in weite Ferne gerichtet. Er rezitierte wohl Texte, die er in- und auswendig kannte. »An 127 Tagen arbeiten wir in den Büros der Ministerien. Jeder zehnte Tag ist der Hausarbeit und intensiven Fachtextlektüre gewidmet. Mitarbeiter des Mitarbeitsministeriums besuchen uns stichprobenartig an diesen Tagen und überprüfen, ob wir ausreichend mitlernen.« »Was sind das für Texte, die ihr lernen musst?«, fragte Gorgh interessiert. Er hatte von uns dreien wohl am meisten Verständnis für diese abstruse Art von Leben. »Paragraphen. Richtigstellungen von Paragraphen. Regelungen. Gesetze. Richtlinien. Normierungen. Definition von akuten Sonderfällen …« »Ja – aber was steht in all diesen Papieren drinnen? Worum geht es?« »Nun … wie unser Leben geregelt sein soll, sodass wir möglichst effizient arbeiten können.« »Und woraus besteht die Arbeit?« Ich konnte nur verwundert den Kopf schütteln. »Was zum Beispiel hast du getan, bevor du zum … Freiberufler degradiert wurdest?« »Ich war im Ministerium für Verbeamtung in einer kleineren Abteilung eingesetzt.« Stolz schwang in der Stimme des Kalaro'on mit. Sein Job musste in der hiesigen Kultur einige Bedeutung gehabt haben. »Meist war ich mit hierarchischen Feststellungsverfahren beschäftigt, in denen die Kompetenz einzelner stablinienförmig angebrachter Strukturen definiert wurde, um …« »Danke!«, rief ich ausreichend erschrocken, bevor sich der Mann weiter in seine ehemalige Rolle hineinsteigern konnte. »Wie viele Beamte gibt es in Cramalvet?«, fragte Kalarthras, während wir in einen kleinen Seitenstrang der Fußgängerpassage abbogen. »Laut letzter Statistiken 22,9 Millionen«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
Michael Marcus Thurner »Und wie viele Kalaro'on leben insgesamt in der Stadt?« »Knapp 23,1 Millionen.«
* Fisker war ein wandelndes Zahlenlexikon. Er zitierte aus Statistiken, Hochrechnungen und Fachliteratur, ohne darüber nachdenken zu müssen. Auch wenn die Zahlen möglicherweise geschönt waren – das Ungleichgewicht zwischen Systemerhaltern und produktiven Kräften war mehr als beunruhigend. Knappe zwanzig Millionen Freiberufler mussten auf Cramar mit allem Einsatz an die 1,5 Milliarden Beamte ernähren. Von früher Jugend an wurde den Kindern eingetrichtert, dass es im Leben ausschließlich um Ordnung und Systematik gehe. Jemand, der in der Gütererzeugung oder auch in Dienstleistungsgewerben arbeitete, wurde scheel angesehen und galt als minderwertig. Irgendwann einmal, wahrscheinlich vor noch nicht allzu langer Zeit, hatte sich für diese Versager der Begriff Freiberufler als Schimpfwort eingebürgert. Man musste nicht unbedingt ein Genie sein, um sich ausrechnen zu können, dass das System über kurz oder lang zusammenbrechen würde. Schon jetzt wurden unter fadenscheinigsten Gründen Beamte revidiert, wie es hier so schön hieß, um die dringendsten Produktionsposten mit Arbeitskräften nachbesetzen zu können … »Wie konnte es nur so weit kommen?«, rätselte Kalarthras ein ums andere Mal. »Das lässt sich leicht beantworten«, sagte ich, darauf achtend, dass Fisker nicht mithören konnte. »Erinnerst du dich, was du auf der AMENSOON über die genetische Konditionierung der Kalaro'on erzähltest?« »Ja.« »Ich zitiere dich jetzt wörtlich: › … keinerlei Aggressionen, die über einen gewissen Selbsterhaltungstrieb hinausgehen. Ausgeglichenheit. Das Streben nach optimaler Lebensordnung. Chancengleichheit für al-
Die Varganen von Cramar le.‹« »Und?« »Die Kalaro'on haben für sich einen Weg gefunden, um diese Vorgaben perfekt umzusetzen. Es gibt keinerlei Aggressionen, das Leben ist perfekt durchsortiert, und jeder besitzt dieselbe Chance. Die Lösung ist, wenn man darüber nachdenkt, in ihrer Absurdität schlichtweg genial. Ein sich selbst stützender Beamtenapparat, aus dem die Produktivität so weit wie möglich ausgegliedert wurde. Es gibt keinen Konkurrenzkampf, kein Leistungsdenken, jeder ist gleich glücklich beziehungsweise unglücklich …« »Hör auf damit!«, fuhr mich Kalarthras an. Der Gedanke, dass er diese Misere selbst verschuldet hatte, machte ihm sichtlich schwer zu schaffen. Wir gingen aufs Geratewohl weiter und gerieten dabei immer tiefer in ein schlecht beleuchtetes Wohnviertel. Die Häuserschluchten rückten näher an uns heran – und mit ihm auch der Mief verwahrloster Hinterhöfe. Natürlich; wer sollte sich schon um eine ausreichende Abfallentsorgung kümmern? Es gab zwar wohnblockeigene Unratdepots, aber die wurden mangels Arbeitern immer seltener geleert. Und? Kümmerte es wen? Natürlich nicht. Denn zeigte sich ein Mieter verantwortungsbewusst und tat etwas in Eigeninitiative, erhob er sich bereits über das hiesige Ordnungssystem. Folgerichtig bekam er einige dicke Schwarten mit Gesetzen oder Verordnungen um den Kopf geschmissen und konnte sich tags darauf bereits in die Reihen der unfreiwilligen Freiberufler einordnen. Nur nicht auffallen, hieß die Devise. Nur nicht herausragen aus der Menge – und ja kein Ziel für Nachbarn oder Arbeitskollegen abgeben. Denn das Denunziantentum erlebte hier eine Hochblüte, wie es anderswo kaum möglich war. »Wo finden wir ein Quartier?«, fragte ich
37 mit einem Seitenblick auf Kalarthras und Gorgh. Beide wirkten müde. Der Vargane war längst noch nicht so belastungsfähig, wie er es selbst gerne gehabt hätte, und unser insektoider Mitstreiter hatte in den letzten paar Tagen seinen Platz in der Zentrale der AMENSOON kaum verlassen. »Was meinst du mit Quartier?« Fisker sah mich ratlos an. »Ein Hotel!«, entgegnete ich ungeduldig. »Einen Platz, wo wir uns ausruhen und vielleicht einheimische Speisen und Getränke ausprobieren können.« »So etwas gibt es hier nicht«, erklärte der Kalaro'on leise. »Bitte?« »Du musst es akzeptieren«, mischte sich überraschenderweise Gorgh-12 ein. »Es gibt für Kalaro'on keinen Grund, an einem fremden Ort zu übernachten. Sie leben in ihren Wohnungen, bis sie sterben oder als Freiberufler aus dem System entfernt werden.« Ich konnte mir nicht helfen – ich musste lachen, während Kalarthras heftig und verzweifelt den Kopf schüttelte. Die Situation war grotesk. »Ich verstehe deinen Humor nicht«, knarzte Gorgh. »Auch wir Daorghor kennen lediglich gemeinschaftliche Schlafstätten oder Kasernen, in denen wir untergebracht werden, wenn wir nicht in unseren eigenen Gruppengehegen nächtigen. Individuelle Unterkünfte wie an Bord der AMENSOON sind in meinen Facetten eine unnötige Verschwendung von wertvollen Platzressourcen.« »Das lassen wir einmal dahingestellt«, sagte ich, bevor es zu einer Grundsatzdiskussion kam. »In erster Linie sollten wir zusehen, dass wir ein Dach über dem Kopf bekommen.« »Wir können jederzeit umkehren und morgen früh nochmals von vorne beginnen«, meinte Kalarthras ohne große Begeisterung. Ich sah ihm an, dass er sich genauso wenig von den widrigen Umständen beirren lassen wollte wie ich. »Wo hast du früher gewohnt?«, fragte ich
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Michael Marcus Thurner
Fisker. »Nicht weit von hier, nahe der Meeresbucht im Kar-Viertel. Warum …?« Er wurde blassgold. »Wir können doch nicht einfach dort hineinspazieren … Ich meine, die Wohnung ist schon nachbesetzt und …« »Möchtest du auf der Straße schlafen?« »Nein, aber …« »Dann werden wir deinen Nachmieter überzeugen müssen, dass er uns für eine Nacht Quartier gewährt.« »Das wird er ganz und gar nicht gern haben«, jammerte Fisker. »Aber er wird sich nicht dagegen wehren, oder?« »Wie sollte er das auch tun?« »Gibt es eine Art … Polizei in Cramalvet?« »Eine was?« »Ich meine einen Sicherheitsdienst.« »Ach so.« Fisker war sichtlich erleichtert, etwas von dem zu verstehen, was ich von ihm wollte. »Jedes Ministerium besitzt einen eigenen Sicherheitsdienst.« Wiederum zitierte er auswendig Gelerntes. »Diese Einheiten besitzen das Eingreifrecht in die Privatsphäre und sind für die Durchsetzung aller Vorschriften und Rechtsverbindlichkeiten ihrer Abteilung verantwortlich. In heiklen Fällen haben sie sogar die Erlaubnis, an Ort und Stelle Revisionen auszusprechen.« »Und wie setzen sie sich durch?« »Nun – indem sie die Außerdienstgesetzten laut und deutlich auffordern, mit ihnen zu kommen.« Kalarthras und ich schüttelten im Duett den Kopf. Es würde uns problemlos gelingen, einen Schlafplatz für die heutige Nacht zu finden.
* Unser unfreiwilliger Quartiergeber war ein frühzeitig schwabbelig gewordener Mann, den die Situation vollkommen überforderte. Ein böser Blick und ein paar strenge Worte von mir – und er zog sich hastig in sein kleines Schlafgemach zurück.
Ich winkte Gorgh und Fisker, die vor der Tür gewartet hatten, in die Wohnung. Hätte unser Gastgeber die beiden gesehen, wäre er vielleicht misstrauisch geworden. Vielleicht, wisperte der Extrasinn zynisch. »Was ist dieses ›Schergenamt aus der Himmelpfortgasse‹, als dessen Beamter du dich ausgegeben hast?«, fragte mich Fisker erstaunt. »Ein Begriff aus meiner Vergangenheit, mit dem ich nur Unannehmlichkeiten verbinde«, sagte ich lächelnd. »Es kommt aber gar nicht so sehr darauf an, was man sagt, sondern wie man es sagt.« Ein leises Geräusch ließ mich herumfahren. »Nase rein!«, brüllte ich unserem Gastgeber zu, als sich die Schlafzimmertür einen kleinen Spalt öffnete. Ein Aufschrei war zu hören, dann rasche Schritte und ein lautes Plumpsen. Der Mann hatte sich wahrscheinlich unter der Bettdecke verkrochen und zitterte nun wie Espenlaub. Grinsend wandte ich mich Gorgh und Kalarthras zu. »Ihr solltet ein wenig schlafen. Hier haben wir bis morgen sicherlich nichts zu befürchten.« »Und du?«, fragte Gorgh, während er seinen Chitinrücken an einer hässlichen Stehlampe rieb. »Ich werde mich ein wenig mit Fisker unterhalten. Je mehr wir über die Ministerien und ihre Strukturen wissen, desto rascher kommen wir voran.« Kalarthras nickte mir dankbar zu und ließ sich schwer auf eine abgenutzte, von grauem Stoff überzogene Couch sinken. Binnen weniger Sekunden war er eingeschlafen. Gorgh hingegen zog das hintere Beinpaar an und stemmte sich mit dem vorderen gegen die Wand. Gelenke knackten unangenehm laut, und leiser Singsang verriet mir, dass er sich allmählich in eine Schlaftrance versetzte. Auch ich fühlte mich seltsam abgespannt, aber die Neugierde überwog. »So«, forderte ich Fisker auf, »und du er-
Die Varganen von Cramar zählst mir jetzt, wie es auf einem kalaro'onischen Ministerium zugeht.« »Was soll ich bloß sagen? Wenn ich darüber nachdenke, bestand die Arbeit nur aus Routine und dem Bemühen, sich möglichst unauffällig zu verhalten.« »Mag schon sein. Auch wenn es für dich noch so fade klingen mag: Erzähl mir einfach, was dir so einfällt.«
Querverweis II »Die Außerkalaro'onischen wurden bereits in Cramalvet gesichtet, Oberster Noturierter! Mehrere beunruhigte Passanten meldeten sich bei diversen Sicherheitsdiensten …« »Du langweilst mich, Speichellecker! Mehr hast du nicht zu berichten?« »Die Personenbeschreibungen sind sehr … verwirrend. Manche Zeugen sprechen von einem ausgebleichten Mann mit rot glühenden Augen, andere von einer aufrecht gehenden Ameise, die mit langen Beißzangen in der Luft umherschnappt. Angeblich sind sie zu viert unterwegs; unter ihnen auch ein Freiberufler.« »Weiter!« »Leider konnten wir ihre Spuren nicht verfolgen. Mir ist es ohnehin ein Rätsel, wo sie sich die Nacht über aufhalten wollen.« »Sie werden einen Weg finden.« »Was sollen wir nun tun, Oberster Noturierter?« »Warten. Morgen in der Früh werden wir sie sicherlich wiederfinden.« »Nun, ich dachte …« »Du sollst nicht denken, sondern meine Anweisungen befolgen. Haben wir uns verstanden?« »Ja, Oberster. Danke, vielen Dank für die Ehre …« »Raus!«
8. Amt für alienale Einbürgerungsansuchen: Parteienverkehr von 9 bis 11 Uhr, stand auf
39 dem verstaubten Schild neben einem düster wirkenden Eingang. Die Tür quietschte leise, als ich sie öffnete. Trübes Dämmerlicht erfüllte den Raum. Ein einzelner Lichtbalken hing über dem staubigen Treppenfortsatz. An einer verlassenen Portierloge links von uns hing ein Schild. »Komme gleich!«, entzifferte Fisker. Eine Spinne mit grünen Netzaugen hatte den Karton mit den krakeligen Buchstaben großflächig eingewebt und seilte sich soeben gelangweilt ab. »Nicht viel los hier«, murmelte Kalarthras. Der Schlaf hatte ihm sichtlich gut getan. Er wirkte wesentlich entspannter als gestern. Gorgh-12 kam mit seltsam anmutenden Seitenschritten herein. Seine Hornzehen kratzten über den glatten Stein und fanden kaum Halt. »Wir müssen in den ersten Stock«, sagte Fisker und ging zögernd voran. Ich konnte mir nicht helfen; trotz aller Lebenserfahrung, auf die ich mich verlassen konnte, fühlte ich mich hier äußerst unwohl. Waren es unsere widerhallenden Stimmen in einem verlassen wirkenden Gebäude? Der Mief von Jahrhunderten, der sich in die Mauern gebrannt hatte? Das zombiehafte Gehabe des ersten Kalaro'on, dem wir begegneten? Ich stellte mich dem Mann in den Weg und fragte mit ausgewählter Höflichkeit: »Entschuldigung, guter Mann! Wo finden wir …« »Für Auskünfte bin ich nicht zuständig!«, sagte er pampig und fügte hinzu: »Fragen Sie beim Portier nach!« Er warf einen verstörten Blick auf Gorgh, um anschließend in einen Quergang zu flüchten. »Bleib da!«, rief ich Kalarthras hinterher, der dem Mann mit geballten Händen folgen wollte. »Es hat wenig Sinn, wenn du ihn für das System strafst, in das er hineingewachsen ist.« »Mag sein«, antwortete er, »aber ich würde mich bedeutend wohler fühlen.«
40 »Komm schon! Wir versuchen es mit aller Freundlichkeit im ersten Stock. Wenn alle Stricke reißen, können wir es immer noch auf die harte Tour probieren.« Ich zog ihn mit mir, die Treppen hinauf. Über Halbstock, Untergeschoss, Mezzanin und Obergeschoss gelangten wir in den ersten Stock. Kalarthras, etwas atemlos, aber voller Ingrimm, wollte den nächsten Kalaro'on, dem wir ohne Zweck und Ziel in einem der Gänge stehend begegneten, würgen, während ich erneut nicht wusste, ob ich weinen oder lachen sollte. Immer tiefer hinein ging es nun, hinein in die Eingeweide eines verwinkelten und architektonisch unglaublich sinnlos angelegten Gebäudes. »Hier sind wir richtig«, sagte Fisker am Ende einer langen, einsamen Gangflucht. Er las ein verblasstes Namensschild an der Wand und deutete auf die Tür. Ich klopfte an und trat ein. »Warten Sie gefälligst draußen!«, herrschte mich eine Frau mit lauter Stimme an. Sie war fett und unförmig und saß an einem Tisch, der leer geräumt war. Lediglich drei Stifte mit schlauchförmigen Verlängerungen, deren Enden in einer Art Tintenfass mündeten, lagen in Reih und Glied. Darunter befand sich ein unbeschriebenes Blatt Papier. Staubbedeckt. »Ich sehe nicht, dass du … Sie derzeit etwas zu tun hätten.« »Das können Sie nicht beurteilen, Herr! Haben Sie eine Nummer gezogen? Habe ich Sie aufgerufen?« »Nein, aber …« »Dann raus!« Zähneknirschend verließ ich den Raum. Fisker hatte mich eindringlich vor möglichen Problemen in den Ämtern gewarnt. Je mehr ich auf meine Rechte pochen würde, so hatte er gemeint, desto weniger würde ich erreichen. Geduld war die wichtigste Tugend auf Cramar. Noch war ich bereit, auf die hiesigen Sit-
Michael Marcus Thurner ten Rücksicht zu nehmen, noch … »Wo zieht man hier eine Nummer?«, fragte ich Fisker. Der Kalaro'on sah sich um und deutete schließlich auf ein sechseckiges Kästchen mit einer Art Kurbel daran. Er drehte einmal, zweimal – und heraus kam … nichts. Wenn man die Staubwolke außer Acht ließ, die uns einnebelte und alle, mit Ausnahme von Gorgh-12, zum Husten reizte. Erneut klopfte ich an. Mit einem Ausdruck der Empörung in ihrem Gesicht sagte die Beamtin: »Ich habe Sie bereits darauf hingewiesen …« »Die Nummernvergabe funktioniert nicht!«, unterbrach ich sie und hustete erneut. »Dann gehen Sie in den ersten Halbstock, rechter Flügel, Tür 3/A/c, und lassen sich in der Materialausgabe ein neues Nummernband geben.« »Das kann doch wohl nicht meine Aufgabe sein …« »Wenn Sie ein Gespräch mit mir als oberster Vertretung der Verwaltungsstelle für alienale Einbürgerungsansuchen wollen, wird es zu Ihrer Aufgabe werden müssen.« Mein Kopf drohte zu explodieren. Mit einer unarkonidischen Gewaltanstrengung brachte ich es fertig, mich umzudrehen und das Zimmer zu verlassen, ohne es kurz und klein zu schlagen. »Materialausgabe«, sagte ich grob zu Fisker. »Tür 3/A/c. Du bringst mich hin.« Ich blickte Kalarthras und Gorgh an. »Ihr sorgt dafür, dass diese … Person den Raum in der Zwischenzeit nicht verlassen kann.« Kalarthras konnte ein Schmunzeln nicht verkneifen, während sich Gorgh belustigt über den Bauch schabte. Die nächsten eineinhalb Stunden, die uns kreuz und quer durch das Ministeriumsgebäude führten, hätte ich am liebsten aus meiner Erinnerung verdrängt. Schließlich gelang es uns, die erforderliche Nummernrolle aus einem Depot zu stehlen, während Fisker die zuständige Beamtin ablenkte. »Ist diese … Dame … herausgekommen,
Die Varganen von Cramar während wir unterwegs waren?«, fragte ich Kalarthras, als wir zurückkehrten. »Nein«, entgegnete er belustigt. »Ist dir etwa heiß? Du bist so verschwitzt.« »Mir geht es gut. Sehr gut sogar.« Ich zeigte ihm die Papierrolle, legte sie auf das sechseckige Kästchen, riss die erste Nummer ab und marschierte, ohne anzuklopfen, ins Zimmer. »Hier bin ich wieder«, sagte ich. »Mit Nummer eins der neuen Rolle. Wie Sie es wollten.« »Und?« »Was und? Würden Sie mich jetzt bitte drannehmen?« Die Dicke blickte an die Wand hinter mir. »Können Sie nicht lesen? Parteienverkehr zwischen 9 und 11 Uhr. Es ist schon zu spät. Kommen Sie morgen wieder, und schließen Sie leise die Tür, wenn Sie hinausgehen …« Ich hechtete über den Schreibtisch, packte die Frau mit der Linken am Kragen ihres hellgrauen Hemdes und ballte die Rechte. Nacktes Entsetzen stand in ihren Augen. Pure Angst – und Unverständnis. Sie hatte keine Ahnung, was sie soeben falsch gemacht hatte. Zeit ihres Lebens war sie niemals anders verfahren, kannte kein anderes Vorgehen. Gehässigkeit und Ignoranz waren auf Cramar der Ausdruck purer Angst um eine Existenz in Frieden. Jede Freundlichkeit, jeder mitleidvolle Umgang mit anderen konnte einem Kalaro'on falsch ausgelegt werden. Zögernd entspannte ich mich, hielt die Frau aber nach wie vor fest. Was würde passieren, wenn ich mir die Informationen und Unterlagen, die ich von ihr wollte, mit Gewalt aneignete? Sie wird degradiert, flüsterte mir der Extrasinn zu. Aus der Gesellschaft ausgestoßen. Man wird sie zur Freiberuflerin machen. Aber das ist schließlich nicht unser Problem, nicht wahr? In seiner kühlen, logischen Unbarmherzigkeit hatte er Recht. Ich konnte nicht auf jeden Einzelnen Rücksicht nehmen oder ihn zu retten versuchen.
41 Dennoch fiel es immens schwer, über ein Leben, das ich wortwörtlich in meinen Händen hielt, zu urteilen. Ich seufzte laut. Und rief dann meine Kameraden herein. »Wir müssen unsere Strategie überdenken«, sagte ich. »Ich habe unser Problem unterschätzt. Ich denke, wir müssen uns gewaltsam das holen, was wir wollen.«
* Ich hatte eine Vision. Wenn ich alle Angehörigen des hiesigen Ministeriums zwingen würde, ihre Vorschriften und Anweisungen zu missachten? Wenn ich ihnen erst etwas später als vorgesehen erlaubte, nach Hause zu gehen, und sie dazu brachte, über gewisse Dinge nachzudenken, damit sie die dahinter steckende Sinnlosigkeit erkannten? Würde ein System wirklich alle daran Beteiligten zu schuldigen Mittätern erklären? »Ja«, entgegnete Fisker auf meine diesbezügliche Frage. »Freiberufler werden ohnehin dringend benötigt. Wenn nun ein paar hundert Kalaro'on dazukommen, wird die Erleichterung allerorts groß sein – außer bei jenen, die es erwischt.« »Das mag dann zutreffen, wenn es nur einmal passiert«, sagte ich grinsend. »Aber was wäre, wenn jemand da und dort Fehler ins System einschleust? Wenn derjenige zivilen Ungehorsam in die Köpfe der Kalaro'on trägt?« »Ich dachte, ihr hättet nicht genügend Zeit, um euch um unsere Probleme zu kümmern?« »Haben wir auch nicht – aber gesetzt den Fall, wir würden dir und Flink ein paar Werkzeuge hinterlassen, mit denen ihr diese kleine Revolution anzetteln könntet?« Ich grinste. Es war tatsächlich eine Vision, aber nicht die schlechteste. Ich konnte hier nichts erreichen. Dazu fehlte mir nach wie vor der Einblick in die Zusammenhänge. Aber jemand, der die Probleme im Inneren der Gesell-
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schaft kannte – nun, der konnte möglicherweise Wunder bewirken. Ich ließ Fisker einfach stehen. Ich konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann.
* Wir hielten uns nicht länger auf. Fisker beschaffte uns dank der unfreiwilligen Mithilfe jener feisten Dame namens DKaltropie die notwendigen Informationen, um zur Regierungsinsel Coraak vorgelassen zu werden. Das Eiland befand sich ungefähr 100 Kilometer westlich des Festlandes. Eine Fährverbindung war das Einzige, was zur Verfügung stand. Ich sträubte mich, mit Hilfe der Flugaggregate oder gar der AMENSOON unser Ziel zu erreichen. Wir richteten mit unserem Eindringen in diese sensible, leicht zu erschütternde Kultur bereits genug Schaden an. Das Raumschiff Kytharas mit seinen beachtlichen Ausmaßen einfach über die Regierungsinsel Coraak zu stellen erschien mir als nicht angebracht. Vorerst. Die Garbyor werden keinesfalls so rücksichtsvoll vorgehen, sobald sie diesen Planeten entdeckt haben, argumentierte der Extrasinn. Wenn wir uns beeilen und rechtzeitig von hier wegkommen, bevor sich der Feind auf Kalarthras' Körperwerte einjustiert – wie auch immer er das schaffen mag –, bleibt Cramar unentdeckt. Meine innere Stimme schwieg daraufhin. Einmal mehr durchwanderten wir die Straßen Cramalvets, diesmal Richtung Hafen. Kaum einer der Bewohner war zu sehen; sie alle »arbeiteten« zu dieser Zeit. Den wenigen Fußgängern, die bis auf Schattierungsunterschiede der Oberbekleidung uniform gekleidet waren, grüßten wir freundlich zu. Mehr als ein paar indignierte Blicke erhielten wir nicht als Antwort.
»Das ist der Hafen«, sagte Fisker nach einer Weile und deutete auf ein einbetoniertes hufeisenförmiges Wasserloch mit brackigem, stinkendem Wasser. Einige Fischtrawler lagen ein wenig abseits, außerhalb der Kaimauern. An den bunten Farbklecksen konnte ich erkennen, dass dort Freiberufler an Bord waren und Fischernetze ausbreiteten. Vor uns, an der einzigen Mole, die eine solche Bezeichnung überhaupt verdiente, schunkelte ein rostiger Kutter mit niedrigem Kiel vor sich hin. »Das ist die Fähre?«, fragte ich entsetzt, obwohl ich etwas Ähnliches erwartet hatte. Fisker zuckte mit den Schultern. »Ich war noch nie hier. Die wenigen Bulletins, die ich zum Lesen hatte und in denen die WUNDERBAR abgebildet gewesen war, dürften ein wenig geschönt gewesen sein.« »Ein wenig!«, wiederholte Kalarthras, der neuerdings eine gehörige Portion Fatalismus zur Schau stellte. Ab und zu sah er sich interessiert um. Offenbar suchte er nach markanten Punkten, anhand deren er sich orientieren und vielleicht seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen konnte. Entdeckte er etwas, das seinem Gedächtnis auf die Sprünge half? Ich tat mich immer schwerer, diesen verlängerten Aufenthalt auf Cramar vor mir selbst zu rechtfertigen. Der dunkle Vargane war der einzige Grund, dass wir die Mission nicht schon längst abgebrochen hatten. Was sollte ein Besuch beim Obersten Noturierten bringen? Glaubte Kalarthras tatsächlich, dort wichtige Informationen zu erhalten? Als habe er meine Zweifel gespürt, erklang die mentale Stimme des Varganen in meinem Kopf: Irgendetwas lockt mich zur Insel. Eine Ahnung. Etwas Verschüttetes, von dem ich weiß, dass es wichtig sein muss. Kalarthras' Art, mir seine geistigen Botschaften zu übermitteln, behagte mir nicht. Gucky, mein alter Freund, setzte telepathische Botschaften derart in mir ab, dass ich ein leichtes Kitzeln im Gaumenbereich spürte. Kythara hingegen erweckte die Assoziati-
Die Varganen von Cramar on von frischen, duftenden Blumen, die sanft über meine Haut streichelten. Kalarthras aber – nun, es fühlte sich an, als würde er die Nachrichten mit einem Vibromesser in meine Gehirnwindungen tätowieren. Das ist blanker Unsinn!, mahnte mich der Extrasinn zu mehr Objektivität. Sinnlose Vorurteile und Gefühle helfen euch beiden nicht weiter. Es muss wohl so sein, dachte ich lakonisch in seine Richtung. Hier trifft AlphaMännchen auf Alpha-Männchen. Wir erreichten die Mole. Der Bug der WUNDERBAR scherte leise über die Hafenmauer. Eine Hundertschaft schwarzer, rabenähnlicher Vögel mit breiten Greifklauen schimpfte auf uns herab. Immer wieder stürzten sie sich im Sturzflug ins dunkle, stinkende Hafenwasser und kehrten mit kleinen, bunt schillernden Fischen zurück an die Oberfläche. »Jemand an Bord?«, rief ich in Richtung des Schiffes. Keine Antwort. »Sie sind da«, behauptete Fisker und grinste. Es war eine sehr entspannte Reaktion. Er belächelte wohl seine eigene Vergangenheit. »Die Matrosen glauben, dass wir weggehen, wenn sie sich nicht rühren.« »Diese Spielchen habe ich endgültig satt.« Kalarthras sprang geschickt über die Reling und legte uns eine wurmzerfressene Planke aus, die ich nur mit Vorsicht betrat. Gorgh misstraute ihr vollends. Er stieß sich mit dem hinteren Beinpaar ab und landete grazil, mehr als acht Meter von uns entfernt, auf dem verglasten Vorbau des Steuermanns. »Ich suche den Bugbereich ab, du das Heck«, sagte Kalarthras zu mir. »In Ordnung …« »Das ist nicht notwendig«, zirpte Gorgh. »Hier befinden sich zwei Männer.«
* Die Matrosen und der Kapitän des Marineministeriums akzeptierten nach kurzer
43 Zeit und dank unserer Überzeugungskraft jene Unterlagen, die D-Kaltropie für uns ausgestellt hatte. Ich war froh, keinen Terraner bei uns zu haben. Moralische Bedenken hätten mir bei unserem etwas rüden Vorgehen gerade noch gefehlt. Doch auch so war die Überfahrt von Pannen geprägt, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich hätte auf die siebenköpfige Besatzung gerne verzichtet, aber wir kannten weder Schiff noch Route. Soweit es ging, überwachten wir die Kalaro'on. Dennoch forderten die Matrosen immer wieder ihre vorschriftsmäßigen Ruhe- und Essenspausen ein. »Was macht ihr, wenn es stürmt?«, brüllte ich den Kapitän an. »Beruft ihr euch dann noch immer auf Verordnungen, während das Schiff untergeht?« »Es ist aber schönes Wetter!«, sagte der Mann namens A-Bodie trotzig. Er kühlte sein blaues Auge mit einem nassen Tuch. »Wenn es aber doch so wäre?«, fragte ich erneut, mit meiner Faust auf sein anderes Auge zielend. »Dann … dann würde die maritime Notrechtsverordnung Paragraph 33b in Kraft treten. Die uns gesetzlich zustehenden Ruhephasen samt Überstundenpauschalzeit würden uns nachträglich gewährt werden …« »Dann denk dir ganz rasch schlechtes Wetter.« Ich drängte ihn in die Ecke der Kombüse. »Dies ist der schlimmste Sturm, der jemals über dich und deine Besatzung gekommen ist. Wenn ihr ihn überleben wollt, rate ich dringend, diesen Paragraphen soundso sofort wirksam werden zu lassen.« A-Bodie ging wie ein Sack in die Knie. »Aber das wäre ein strenges Vergehen gegen die Leumunds Verordnung! Wir werden mit Sicherheit freigestellt und enden als Freiberufler wie der da!« Er deutete auf Fisker. Fast tat mir der Kapitän Leid, wie er da saß und jammerte. Fast. »Was ist dir lieber?«, fragte ich ihn grim-
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mig, während ich ihm sein graues Matrosenhemd enger und enger zog. »Ein sehr schmerzvoller Tod oder die Aussicht auf das Freiberuflertum?« Die Antwort war erschütternd.
* In den frühen Morgenstunden des übernächsten Tages gingen wir endlich im Hafen der Regierungsinsel Coraak vor Anker. Funksprüche eines kleinen Kutters, dessen Besatzungsmitglieder sich als »Hochseevertragsbeamte der Hafenkontrolle« zu erkennen gaben, ließen wir unbeantwortet – und stellten die Kalaro'on damit voraussichtlich vor unlösbare Probleme. Den Matrosen der WUNDERBAR forderte ich das Versprechen ab, das Schiff während des nächsten Tages nicht zu verlassen. Ich war mir sicher, dass sie sich daran halten würden; unsere Argumente waren gegen Ende unserer Reise hin immer schlagkräftiger geworden. »Der Zustand der Stadt ist besorgniserregend«, sagte Gorgh. Er hielt den Oberkörper geduckt und begab sich auf alle sechse, wie zum Sprung bereit. Ich konnte durchaus nachvollziehen, was er meinte – denn Coraak wirkte tot wie eine Geisterstadt. Niemand war auf den breiten Boulevards zu sehen, die kerzengerade an Hochhäusern und monumentalen Bauten vorbeiführten. Die Sonne namens Dagg'tzo ging soeben auf, kroch zwischen den Häuserfronten empor und warf lange Schlagschatten, die den unheimlichen Eindruck weiter verstärkten. »Lebt hier eigentlich jemand?«, fragte Gorgh. »Zumindest nicht in der Hafengegend«, erwiderte Kalarthras. Manche der Gebäude waren in sich zusammengefallen. In vielen fehlten Fensterscheiben und Türrahmen. Gestrüpp wucherte zwischen Ruinen- und Schuttbergen aus gelbfarbenem Sandstein. Das Geröll versperrte nahezu überall den Zugang zu den
Straßen, die erhöht auf wuchtigen Pfeilern standen. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, nochmals an Bord der WUNDERBAR zurückzukehren und den Kapitän auszuquetschen, was hier vor sich ging. Aber ich ahnte, dass ich keine vernünftige Antwort erhalten würde. Schließlich ging es den Mann – zumindest nach kalaro'onischer Logik – nichts an, was hier, an seinem Zielhafen, passierte. »Alles in Ordnung bei euch?«, meldete sich Kythara über Normalfunk. Wir hielten, wie vorher abgemacht, regelmäßigen Kontakt. »Alles bestens«, antwortete ich wider meine Überzeugung. »Wie steht's mit der AMENSOON?« »Die Reparaturroutinen sind durchlaufen. Ich mache einen letzten Sicherheits-Check, dann steht von meiner Seite aus einem Weiterflug nichts mehr im Weg.« Mit einem Seitenblick auf Kalarthras sagte ich: »Wir haben's bald geschafft. Halte dich aber startbereit.« »Das tue ich ohnehin die ganze Zeit!«, schnappte sie, wohl ein wenig in ihrer Ehre gekränkt, und unterbrach abrupt die Verbindung. Es war nicht leicht, mit Varganen auszukommen. Und schon gar nicht mit den weiblichen Vertretern dieses unsterblichen Volkes. »Dort ist ein ausgetretener Weg, der auf eine der Straßen führt«, sagte Fisker und deutete nach links. »Dann los!«, befahl ich. Kalarthras blickte kurz in meine Richtung, fügte sich aber schließlich. Die Situation war denkbar ungeeignet, um über Rangund Hackordnungen zu streiten. »Die Häuser wurden nach äußerst primitiver Bauweise errichtet«, murmelte Gorgh, der beim Überklettern der Schuttberge wie selbstverständlich seiner wissenschaftlichen Neugierde nachgab. »Sie bestehen aus einem spröden Naturstein. Die Brücken und Straßen hingegen aus einem Gemisch von Sand, Kies, Kalkstein und Wasser, die Ar-
Die Varganen von Cramar mierung aus Glasfasermatten. Dies alles sind unzulängliche und notdürftige Materialien, die keine tausend Jahre lang halten. Tsss«, zischte er verächtlich. »Ich erinnere mich an den Grundriss der Stadt«, sagte Kalarthras nachdenklich. »Er hat sich nicht viel verändert. Nur die Bauweise ist, so, wie Gorgh sagt, viel primitiver geworden.« »50.000 Jahre sind nun mal verdammt lang«, erinnerte ich ihn. »Ganze Imperien kommen und gehen während dieser Zeitspanne.« »Aber es war nicht so geplant!«, schrie er mich plötzlich an. »Dieses Thema hatten wir bereits!« Ich war seine endlosen Zweifel und Launen leid. Kalarthras musste endlich akzeptieren, dass ihm die Kontrolle über die varganischen Nachkommen, die er geformt hatte, entglitten war. »Der Palast!«, rief er plötzlich. »Er steht sicherlich noch!« Er schwieg plötzlich und lief davon, den Gesteinshügel hinan. Sein Tempo war derart hoch, wohl getrieben von den Gespenstern seiner Erinnerung, dass ich ihm zu Fuß nicht folgen konnte. »Hinterher!«, befahl ich Gorgh. »Halte ihn nicht auf, sondern verfolge ihn bloß. Er sucht irgendetwas – und ich möchte endlich wissen, was es ist. Wir halten Funkkontakt.« Der Insektoide klackerte zustimmend und eilte dem dunklen Varganen in sicherem Abstand nach. »Ich verstehe nicht«, sagte Fisker, der hinter mir herkeuchte. »Ich habe nur Vermutungen«, erwiderte ich. »Kalarthras hat Gedächtnislücken, die er unbedingt schließen muss.« »Er will zum Palast des Obersten Noturierten …« »Was weißt du darüber?« »Hm … nur das, was in den offiziellen Bulletins gestanden hat.« »Erzähl mir trotzdem davon.«
Querverweis III
45 »Sie sind tatsächlich auf Coraak gelandet, Oberster! Sie haben es gewagt, die WUNDERBAR, den Stolz der kalaro'onischen Flotte, zu kapern und hierher zu entführen …« »Ich weiß längst Bescheid. Sorg dafür, dass sie unbehelligt in den Palast gelangen. Es ist Zeit, dass ich sie treffe und ihre … Fragen beantworte.« »Außerhalb der Amtsstunden? Aber Oberster …« »Schweig, Speichellecker! Befolge gefälligst meine Anordnungen und denk nicht darüber nach.« »Aber das ist ein Bruch ältester Traditionen …« »Ein Wort noch, und es sind nicht nur die Traditionen, die in diesem Raum zerbrochen werden!« »Ja, Herr! Ich eile, ich gehorche, ich folge den Befehlen …«
9. »Er läuft auf das Zentrum dieser Stadt zu«, meldete sich Gorgh nach einer Weile. »Trotz seiner nur vier Extremitäten ist er so rasch, dass ich ihm zu Fuß nur schwer folgen kann.« Kalarthras war ein getriebenes Wesen. Ich kannte diese Art der Motivation gut. Ich wusste, dass sie zu wahrhaft unglaublichen Steigerungen der Leistungsfähigkeit führen konnte. »Bleib unter allen Umständen an ihm dran!«, wies ich Gorgh an, und im selben Atemzug aktivierte ich Fiskers und mein Flugaggregat. Wir bewegten uns auf die Lösung eines Rätsels aus der Vergangenheit des dunklen Varganen zu, und ich verspürte keine Lust, die entscheidenden Momente zu verpassen. Endlich erreichten wir das Ende des Schutthaufens. Der Boulevard, der auf seinen Stelzen vom Hafen aus so prächtig gewirkt hatte, erwies sich als von breiten Rissen durchzogene Notstraße. Da und dort war unzulängliches Flickwerk angebracht wor-
46 den. Über die größten Lücken, sicherlich mehr als zwei Meter breit, führten Holzplanken. »Erschütternd«, murmelte Fisker, während wir darüber hinwegschwebten, und schüttelte, wie schon so oft seit unserer Ankunft, den Kopf. »Diese Stadt ist tot, da gibt es nichts zu beschönigen.« Der Kaiaro'on schluckte schwer und flüsterte: »Alle Berichte über die Pracht und Schönheit Coraaks sind gefälscht. Wir werden belogen und betrogen …« »Hoffen wir zumindest, dass der Oberste Noturierte tatsächlich im Palast sitzt. Sonst war die ganze Reise hierher den Aufwand nicht wert.« Während die Sonne immer höher stieg und uns wärmte, folgten Fisker und ich den Impulsen, die uns Kalarthras' Standort angaben. Das Infrarot identifizierte einige wenige Wärmewerte hinter den ersten Häuserfronten. Trotz unserer Hast blieben wir stehen und blickten hinein in die Ruinen der kalaro'onischen Vergangenheit, ohne auch nur einen der Einwohner zu Gesicht zu bekommen. Sie verbargen sich vor uns. Manche der Gebäude, flach und bedrückend niedrig gebaut, schienen mich mit ihren leeren Fensterhöhlen anzustarren. Andere wiederum stachen hochmütig weit über zweihundert Meter in den Himmel. »Dies alles kann jederzeit zusammenbrechen«, flüsterte ich, als ob schon ein zu lautes Wort den Zusammensturz herbeiführen würde, Fisker antwortete nicht. Er flog wackelig hinter mir her. »Wir haben den Palast erreicht!«, funkte mir Gorgh plötzlich zu. »Kalarthras ist stehen geblieben und sieht sich um.« »Wie reagiert er?« »Ich kann das Gemütsleben eines Varganen nur schwer deuten, aber ich vermute, dass er schockiert ist.« »Dann lass ihn in Ruhe. Beobachte ihn weiter. Fisker und ich sind auf dem Weg.« Ich holte Fisker zu mir heran, schaltete unsere Antriebsaggregate simultan und be-
Michael Marcus Thurner schleunigte. Es ging den Boulevard entlang, vorbei an weiteren Schutthalden, urwaldähnlichem Gestrüppdschungel und wenigen Anzeichen kalaro'onischen Lebens. »Dort vorne ist der Palast!«, rief Fisker und zeigte geradeaus. Die Straße endete an einer breiten, wuchtigen Häuserfront. Sie war tiefschwarz, kaum mehr als vier Körperlängen hoch. Darüber zogen sich vier Kuppeln, von denen eine eine sich dreifach verästelnde Spitze aufwies. »Was für ein hässliches Ding!«, sagte ich impulsiv. »Nun, in den Bulletins wirkte der Palast wesentlich imposanter«, sagte Fisker kopfschüttelnd. »So wie vieles hier.« Gorgh kam mit Riesensätzen hinter einem Wirrwarr an Stahlträgern hervorgeschossen auf uns zu. »Kalarthras ist soeben hineingegangen«, meldete er so unaufgeregt wie meist. »Wo ist der Eingang?«, fragte ich. »Etwa auf der Rückseite?« »Das ist das Problem: Er ging schnurstracks auf die Vorderfront des Palastes zu – und war im nächsten Moment verschwunden. Wie verschluckt.« »Konntest du irgendwelche Energiewerte anmessen?« »Ja. Den Peak eines hochenergetischen Feldes, das überhaupt nicht zu der Primitivität dieser Stadt passt.« Ich aktivierte das Funkgerät. »Kythara – bist du da?« »Selbstverständlich.« »Dann wirf die Maschinen an. Gut möglich, dass wir dich in Kürze hier brauchen.«
* Vorsichtig und mit aktivierten Schutzschirmen näherten wir uns der klotzigen Front des Palastes. Aus der Nähe konnte ich erkennen, dass der Zahn der Zeit hier keinerlei Spuren hinterlassen hatte. Die schwarze Wand fühlte sich glatt und warm an.
Die Varganen von Cramar »Sollten wir uns nicht auf den Schutz der Deflektoren verlassen?«, fragte Gorgh, der seitlich von mir energetische Messungen vornahm. »Sinnlos«, antwortete ich knapp. »Wer auch immer uns erwartet – er hat uns sicherlich längst entdeckt.« »Ein neuerlicher Peak!«, rief der Insektoide. »Und zwar direkt … vor uns.« Ein Tor mit blendend weißen Rändern bildete sich in der Frontstruktur des Palastgemäuers. »Das ist wohl eine Einladung«, sagte ich. Die du natürlich nicht befolgen wirst!, mahnte der Extrasinn. In solchen Fällen galt: Verstand und Extrasinn ausschalten, Augen zu – und durch. Kalarthras brauchte möglicherweise Hilfe, und hinter diesen Mauern warteten mit großer Wahrscheinlichkeit Antworten auf viele Fragen. Ich nickte Gorgh und Fisker zu, öffnete das Tor und betrat den Palast.
Querverweis IV »Sie sind eingetroffen, Oberster Noturierter!« »Ich habe Augen und kann sehen, dass sie da sind.« »Wie sollen wir verfahren? Ein offizieller Empfang? Eine Willkommensrede? Ein diplomatisches Aviso?« »Gar nichts, Wurm. Führ sie direkt hierher.« »Bitte nicht, Herr! Das Protokoll …« »Gehorche!« »Ich muss protestieren, Herr! Die Aliens müssen zumindest in der Empfangskanzlei die allernotwendigsten Formalitäten erledigen.« »Ein Wort noch, Speichellecker, und du bist ein toter Speichellecker.« »Auch mein Tod würde das Protokoll empfindlich stören. Denkt nur an die vielen Formalitäten mit Totenschein, Todesanzeige, Verbrennungsgenehmigung und so weiter …«
47 Das leise Zischen einer Strahlwaffe ertönte.
10. Es war alles nur Tarnung. Jene schwarze Außenfront, die wir gesehen hatten, war bloß eine raffinierte energetische Umhüllung, die wir trotz unserer empfindlichen varganischen Messgeräte nicht hatten erkennen können. Vor uns erstreckte sich der richtige Palast. Ein Schutthaufen, der alles andere, was wir bislang auf Coraak gesehen hatten, in den Schatten stellte. Kein Stein stand hier mehr auf dem anderen; nur noch andeutungsweise war die architektonische Struktur des ehemaligen Verwaltungszentrums Cramars zu erkennen. Kalarthras grub und wühlte unweit von uns im Schutt. Seine Finger waren blutig gestoßen, die so dunkle Haut von einer dicken Staubschicht gebleicht. Er stieß verzweifelte Schreie aus, als wäre er nunmehr völlig übergeschnappt. Wahrscheinlich ist er das auch, fügte, der Extrasinn hinzu. Der Schock, hier im Allerheiligsten Cramars totale Verwüstung vorzufinden, muss seiner Psyche enorm zugesetzt haben. Es passt nicht zu ihm, dachte ich konzentriert. Er mag seine Probleme haben – aber so rasch kippt ein Vargane nicht in den Wahnsinn. »Willkommen in der präsidialen Kanzlei Coraaks!«, ertönte eine süßliche, einschmeichelnde Stimme. Ich fuhr herum, die Waffe im Anschlag, zielte reflexartig auf den Kopf des Mannes. »Aber mein Herr! Bewahren Sie doch bitte die Contenance!«, sagte er, während von einem notdürftig gewickelten Verband um seine linke Hand dunkles Blut tropfte. Weitere Gestalten, ähnlich gekleidet, die sich hinter den Trümmern verborgen gehalten hatten, kamen ans Tageslicht und blickten uns mit stumpfen Augen an. »Wer bist du?«, fragte ich, ohne die Waf-
48 fe zu senken. »Präsidialminister und Noturiertentrabant F-Valmir«, antwortete der Kalaro'on. »Ich bin der Hausherr hier im ›Palast der Reinsten Ordnung‹.« »Du bist der Oberste Noturierte?« Ich konnte es kaum glauben. Diese traurige Gestalt, unrasiert, unfrisiert, Gesicht und Hals von pockenähnlichen Narben verunstaltet, den ausgemergelten Leib in Fetzen gehüllt, sollte der Verwalter all des Wahnsinns auf Cramar sein? »Bewahre!«, antwortete F-Valmir. »Ich bin sein treuer Statthalter, zuständig für das Tagesgeschäft und dafür, dass nichts an den Obersten herantritt, was seiner Aufmerksamkeit nicht würdig ist.« »Und wo befindet sich dein Chef?« »In der Präsidialkanzlei im ersten Stock. Er hat mich gebeten, euch zu ihm zu bringen.« Er deutete auf die Ruinenfelder hinter sich. »Präsidialkanzlei? Es tut mir Leid – ich sehe nur Schutt und Trümmer.« »So?« F-Valmir überlegte kurz. »Dieser Halluzination sind unsere Gäste anlässlich diverser Audienzen und Sprechstunden schon mehrmals aufgesessen. Hm.« Er dachte kurz nach und fügte dann hinzu: »Einerlei. Ich bitte euch, mir zu folgen.« Er sieht die Trümmer wirklich nicht, bestätigte mir der Extrasinn. Genauso wenig wie die anderen Kalaro'on um dich. Nimm dich vor ihnen in Acht. Diese Männer sind hochgradig verrückt. »Was ist das für eine Wunde an deinen Fingern?« »Bitte? Ach, diese kleine Schnittwunde? Das ist eine vernachlässigenswerte Irritation. Ich benötige bloß ein frisches Pflaster. Hier entlang, meine Herren, die Treppe hinauf. Vorsicht – der Durchgang ist recht schmal und niedrig. Achtet auf die Köpfe.« »Es gibt hier keine Treppe mehr, geschweige denn eine stehende Mauer«, bestätigte Fisker beunruhigt meine eigene Beobachtung. »Er benimmt sich ähnlich verwirrt wie
Michael Marcus Thurner Petri und seine Freunde im Lager von Adlorm«, beruhigte ich den Freiberufler. »Ich glaube nicht, dass von ihm irgendeine Gefahr droht.« »Was machen wir mit unserem eigenen Verrückten?«, fragte Gorgh und deutete auf Kalarthras, der sich nach wie vor wie ein Besessener durch die Gesteinsreste wühlte. »Bleib bei ihm und achte darauf, dass er sich nichts antut. Und informiere Kythara über das, was hier vor sich geht.« »Ihr wollt F-Valmir tatsächlich folgen?« »Ja. Vielleicht besitzt sein Vorgesetzter, der Oberste Noturierte, mehr Verstand.« Ich drehte mich um und kletterte tiefer in die Ruine hinein, dem Wahnsinnigen hinterher.
* Die so genannte Präsidialkanzlei war ein von der Verwüstung halbwegs verschont gebliebener Raum, der mit Hilfe einer notdürftig befestigten Glaskuppel gegen Umwelteinflüsse von oben abgesichert war. Ein Schreibtisch mit steinerner Deckplatte, deren Oberfläche glatt poliert war, stand hier in seltsamer Diskrepanz zu der sonst herrschenden Unordnung. Schränke voll vergilbter Akten waren an zwei Seiten gegen provisorisch gezimmerte Holzwände gelehnt. Die dritte Wand war frei und bot einen etwas erhöhten Ausblick auf den so genannten Palast. Neben dem Aufgang, durch den wir mehr gekrochen als gegangen waren, befand sich ein zweiter Zugang, der hinab in den Schuttbereich führte. Meine internen Alarmglocken schlugen an. Dieser Zugangsbereich wies eine verglaste Oberfläche auf, wie durch Ultrahocherhitzung geformt. Oder durch gleichmäßigen Beschuss mit einer Strahlenpistole, setzte der Extrasinn hinzu. »Halt dich stets hinter mir«, flüsterte ich Fisker zu. Unsere Schutzschirme, die leicht flimmerten, ließ ich aktiviert. »Wo ist nun dieser Oberste Noturierte?«,
Die Varganen von Cramar fragte ich laut in Richtung des Wahnsinnigen. »Er wird gleich kommen. Macht euch keine Sorgen, meine Herren. Wollt ihr eine kleine Erfrischung? Kochfein? Ein paar Biskuits?« Er holte wurmzerfressene Kekse aus einem feuchten Säckchen hervor und legte sie sorgfältig auf eine zerbrochene Schale, die von rötlich grünem Schimmelpilz belegt war. »Bedient euch nur, edle Herren aus dem Weltraum, gleich wird er da sein …« Sein Geschwafel verlor sich in unzusammenhängenden Satzfetzen, während er den Verband um seinen Finger neu zu wickeln versuchte. Auch wenn F-Valmir völlig närrisch war – er tat mir Leid. »Diese Schnittwunde blutet ziemlich heftig«, sagte ich und trat näher auf ihn zu. »Ich habe ein wenig Erfahrung mit solchen Dingen. Lass mich den Verband überprüfen.« Der Kalaro'on sah mich irritiert an. Hilfsbereitschaft war wohl etwas Unbekanntes für ihn. Doch er wehrte sich nicht, als ich das blutdurchtränkte Tuch entfernte … … und die Stummel von drei abgetrennten Fingern in der Hand hielt. Die Hand selbst war schorfig; aus den dunkelblau gefärbten Fingerstumpen tropfte zähes Blut. »Was zur Hölle …« »Der Oberste Noturierte meinte, die Finger würden wieder anwachsen, wenn ich sie nur lange genug gegen die Hand presste«, sagte F-Valmir und begann leise zu summen. »Wer hat das getan? Etwa dein Chef?« »Der Oberste war etwas ungehalten über mein Gebaren und meinte, ich hätte eine Zurechtweisung verdient.« Sein Gesicht drückte Rat- und Hilflosigkeit aus. Selbst der Irrsinn, in den er sich geflüchtet hatte, half ihm in dieser Situation nicht weiter. »Warum hat er mir das angetan?«, flüsterte er mir plötzlich zu, während Tränen langsam sein narbiges Gesicht hinabrannen. »Warum? Ich war doch der beste
49 Kanzleileiter, den er nur bekommen konnte!« »Hast du Schmerzen?«, fragte ich. Sorgfältig legte ich die abgetrennten Finger auf den Tisch, auch wenn keine Hoffnung mehr bestand. Die Stumpen waren bereits blauschwarz angelaufen. Aber vielleicht konnte man den Arm – oder zumindest die Hand – retten? »Ich habe keine Schmerzen«, fuhr FValmir fort. »Weil ich arbeiten darf. Ich bin kein Freiberufler, werde es auch nie sein, ich bin der beste Kanzleileiter, den Coraak jemals gesehen hat, und ich bin der Noturiertentrabant von Seiner Gnaden Segen …« »… und vor allem bist du entlassen!«, erklang eine tiefe Stimme. Das Zischen eines Handstrahlers ertönte, der Geruch von verbranntem Stoff und Fleisch breitete sich augenblicklich aus, und F-Valmir kippte mit verdrehten Augen in meine Arme.
* »Hier muss es sein! Ich weiß, dass es hier ist!« »Was soll sich hier befinden?« »Der Durchgang, Gorgh! Hier war der Eingang zur Station.« »Ich glaube, dass du krank bist, Kalarthras.« »Unsinn! Ich war mir meiner Sache noch nie so sicher wie in diesen Augenblicken. Vertrau mir, Gorgh! Hier, unter dieser Steinplatte, ist der Zutritt. Bitte hilf mir!« »Ich weiß nicht …« »Glaubst du denn wirklich, ich wühle mich wie ein Geisteskranker ohne Sinn und Zweck durch die Ruinen eines verfallenen Gebäudes? Ich bin Wissenschaftler, und ich bin Vargane!« Schweigen. Schließlich: »Ich helfe dir, Kalarthras.«
11. »Wie war die Reise?«, fragte mich der Humanoide, dem ich gegenüberstand. Mein
50 Translator übersetzte fließend. Ich reichte dem Zaqoor gerade bis zur Brust. Sein breites und dennoch fein gezeichnetes Gesicht strahlte. Als hätte er nicht soeben ein Leben ausgelöscht, sondern bloß eine lästige Fliege beiseite gewischt. »Anstrengend«, antwortete ich vorsichtig. Sachte legte ich den toten Kalaro'on zu Boden, ohne den Blick von dem Bewaffneten abzuwenden. All die Mühen und Plagen, all die Rücksichtnahme auf das Volk der Kalaro'on waren umsonst gewesen. Denn der Feind, die lordrichterlichen Truppen, hatte längst Fuß gefasst. »Ich heiße Pentipalu«, sagte der hünenhafte Humanoide. »Merk dir den Namen. Er wird auf der langen Ehrentafel meines Volkes einen besonderen Platz einnehmen. Als jener Zaqoor, der Atlan den Listigen einfing.« Drei weitere Soldaten seines Volkes wühlten sich unter den Ruinen hervor. Alle waren sie bewaffnet und bewegten sich im Schutz leuchtender Individualschirme. Die Läufe schwerer Strahler waren auf mich und Fisker gerichtet. Es stand für mich außer Zweifel, dass der konzentrierte Beschuss der vier Zaqoor ausreichen würde, um meinen varganischen Schirm außer Gefecht zu setzen. »Warum diese Tarnung bis zuletzt?«, fragte ich Pentipalu. »Warum habt ihr uns nicht schon früher angegriffen?« »Nennen wir es … Genugtuung.« Pentipalu tat einen Schritt auf mich zu. »Seit mehr als hundert Tagen sitzen ich und meine Truppen auf diesem jämmerlichen Planeten fest. Eine derart frustrierende Eroberung habe ich noch nie erlebt! Da steht es uns zu, ein wenig Spaß zu haben.« »Spaß?« Ich deutete auf den Toten. »Wusste dieser arme Narr etwa, welchen Platz er in deinem Schauspiel einnehmen würde?« »Kollateralschäden lassen sich niemals vermeiden.« Der Zaqoor lachte dröhnend. »Sein Wahn war ohnehin so weit fortge-
Michael Marcus Thurner schritten, dass der Tod eine Erlösung für ihn war.« Wo bist du, Kalarthras?, dachte ich intensiv. Wir brauchen dich! »Wenn du dir Hilfe von deinem varganischen Kumpan erhoffst, muss ich dich enttäuschen«, sagte Pentipalu, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Es erschwert die Sache zwar ein wenig, dass ihr euch getrennt habt, aber das ist kein echtes Problem. Ein weiterer Trupp meiner Männer entwaffnet ihn und diesen verräterischen Daorghor soeben. Lass die Hände gefälligst dort, wo ich sie sehen kann! Denk nicht einmal daran, den Funk zu aktivieren. Deine Mätresse in ihrem Schiff steht zwar ebenfalls unter Beobachtung, aber wir wollen jegliches Risiko ausschließen, nicht wahr?« Erneut grinste er. »Sei bloß froh, dass dich das Oberkommando und die Lordrichter lebend haben wollen. Sonst hätte ich schon längst Haggariss aus dir gemacht.« Was auch immer dieses Haggariss sein mochte – ich war mir sicher, dass es mir nicht schmecken würde. »Was habt ihr mit Cramar vor?«, fragte ich, verzweifelt auf Zeit spielend. »Wollt ihr weiterhin die dunklen Hintermänner geben und zusehen, wie die Kalaro'on weiter in den Untergang treiben?« »Was geht uns das an? Wir haben diese Entwicklung nicht eingeleitet. Wenn es nach mir ginge, könnten diese Schwachsinnigen ruhig krepieren. Und jetzt wird es Zeit, dass wir uns auf den Weg machen – alleine.« »Was meinst du damit?« »Dein Begleiter hier ist für die Lordrichter von keinerlei Nutzen.« Er visierte Fisker mit seiner Waffe an und feuerte.
* »Wir sind durch, Gorgh! Ich sehe das Tor!« »Bist du dir sicher, Kalarthras? Ich kann absolut nichts erkennen. Der Staub …« »Still!« »Was ist los?«
Die Varganen von Cramar »Still, habe ich gesagt! Ich spüre Atlan. Er ist in Gefahr …« »Ich verstehe nicht – was hat das zu bedeuten?« »Schutzschirm ein – und in Deckung!« Breitflächige Paralysestrahler strichen im nächsten Moment über das Ruinenfeld.
12. Der Schuss des Anführers verfing sich in Fiskers Schirm. Eine zweite Lohe, von einem der Soldaten abgefeuert, umwaberte meinen Begleiter, ließ das Schutzfeld in kritischem Dunkelrot aufleuchten. Ich stürzte mich mit meinem gesamten Gewicht auf den Kalaro'on, durchdrang seinen Schutzschirm und stieß ihn beiseite, aus dem unmittelbaren Feuerbereich der Zaqoor. Ich hechtete hinter den Tisch, warf ihn um, nutzte die steinerne Platte als Deckung. Zwei Sekunden Zeit zum Nachdenken gewonnen. Kalarthras!, dachte ich erneut. Mit aller Intensität konzentrierte ich mich auf den Varganen, zog gleichzeitig den völlig verwirrten Fisker zu mir herüber. Ich feuerte zwei gezielte Strahlenschüsse über die Deckung hinweg auf die Steher der beiden Bücherbordwände. Getroffen! Sie kippten vorneweg, auf die drei Soldaten herab, die nach wie vor breitbeinig dastanden und die steinerne Tischplatte, unsere bescheidene Deckung, zerstäubten. Die Wucht der tonnenschweren Regale riss die Zaqoor zu Boden, begrub sie unter sich. Ich leistete mir nicht den Luxus, mich darüber zu freuen. Über kurz oder lang würden sich die Soldaten darunter hervorwühlen. »Schieß auf ihn!«, befahl ich Fisker, stand auf und legte auf Pentipalu an. Sein Schutzschirm hielt dem Treffer stand. Noch. Denn als der Kalaro'on seine Angst und seinen Schock überwunden hatte und mit einem Wutschrei auf den Lippen ebenfalls
51 feuerte, begann er bedenklich zu flackern. Der Zaqoor flüchtete in den verglasten Abgang. Seine unbeherrschten Flüche hallten von den Röhrenwänden wider. Unter den zusammengekrachten Regalen bewegte sich etwas. Die Soldaten gruben sich mit Hilfe ihrer Anzugaggregate daraus hervor. Kommt zu mir!, hörte ich endlich jene gedankliche Stimme, auf die ich die ganze Zeit gewartet hatte. Ich habe einen Fluchtweg gefunden. Aber wir brauchen deine Unterstützung hier. Unsanft schubste ich Fisker den Weg vor mir her, den wir gekommen waren. Bevor ich mich durch die Trümmerlücke zwängte, löste ich mit drei weiteren gezielten Strahlenstößen die Glaskuppel aus ihren notdürftigen Halterungen und ließ sie auf unsere Gegner niederkrachen. Das tonnenschwere Konstrukt blieb ganz, als es auf den Trümmern aufprallte, erzeugte aber ein grauenhaftes Schwingungsgeräusch in den niedersten Bereichen des Hörbaren. Weitere Sekundenbruchteile waren gewonnen. »Weiter!«, befahl ich dem Kalaro'on, stieß ihn unsanft vor mir her. Unbeschadet erreichten wir den Vorplatz, auf dem uns FValmir in Empfang genommen hatte. Aber wie sehr hatte sich alles hier geändert! Jene Kalaro'on, die wir zuvor gesehen hatten, lagen tot in den Trümmern. Aus gut einem Dutzend Richtungen kommend, kreuzten sich Strahlenbahnen hinter jenem Schuttberg, in den sich Kalarthras eingegraben hatte, bevor wir in die Präsidialkanzlei aufgestiegen waren. Der Schütze rechts von dir!, erhielt ich die gedankliche Anweisung des Varganen. Sofort eröffnete ich das Feuer, befahl Fisker, das Gleiche zu tun. Auch Kalarthras zielte auf den einen Zaqoor, und sofort brach der Schutzschirm des Soldaten zusammen. Der Rest war eine Sache von Augenblicken. Gleich links daneben!, folgte das nächste Kommando. Diese Form einer Anleitung funktionierte wesentlich rascher und präziser
52 als via Funk; der mühsame Umweg über Gehör und Verarbeitung der Informationen fiel durch die gedankliche Übertragung weg. Erneut schossen wir zu zweit, dann zu dritt, erneut verglühte ein Zaqoor. »Kythara!«, rief ich die Kommandantin der AMENSOON. »Kein Durchkommen per Funk!«, keuchte Kalarthras auf derselben Wellenlänge. »Sie haben uns abgeschirmt!« Gleichzeitig sandte er mir das Bild des nächsten Soldaten, den wir uns vornehmen sollten. Auch ihn erwischten wir, bevor sich die Überraschung bei den feindlichen Truppen legte. Ein Teil der Männer wandte sich daraufhin uns zu, während der andere näher auf Kalarthras zurückte. Kommt her!, forderte der Vargane. »Wir müssen zu Gorgh und Kalarthras!«, sagte ich zu Fisker. »Ich … ich habe getötet!«, schluchzte der Kalaro'on. »Ich …« »… nur um dein eigenes Leben zu retten!«, unterbrach ich ihn. »Mach mir jetzt nur nicht schlapp. Wir fliegen mit voller Beschleunigung auf Kalarthras zu – hast du mich verstanden? Spann die Muskulatur an. Kann sein, dass die Schwerkraft ein wenig durchschlägt.« Hastig synchronisierte ich die Positroniken unserer beiden Anzüge, gab mehrere ungezielte Schüsse in alle Richtungen ab und zog Fisker zu mir. »Jetzt!«, rief ich – und startete. Mit der Beschleunigung eines Geschosses zogen wir eine flache Kurve, direkt hinein in den Schuttturm im Rücken unserer eingekesselten Begleiter. Für Sekunden drehte sich alles um mich, war ich begraben unter einer Flut von Sinneseindrücken, wusste nicht mehr, wo oben und unten waren. Hitze umwaberte mich, hüllte mich ein. Flüssiges Metall tropfte auf mich herab und verging zischend im varganischen Schutzfeld. »Runter da!«, hörte ich Kalarthras' Stimme und fühlte mich von starken Händen gepackt, aus der ineinander verbackenen und verkeilten Masse des
Michael Marcus Thurner Schutthaufens befreit. Die ungeheuer flinken Greifarme Gorghs zerrten mich und Fisker aus dem Müll und setzten uns in der zweifelhaften Deckung weiteren Mülls ab. »Zuerst haben sie es nur mit Paralysatoren versucht«, keuchte Kalarthras, »aber als wir uns zu wehren begannen, sind sie auf Impulsbeschuss umgestiegen.« »Solange ich bei euch bin, werden sie vorsichtiger agieren«, entgegnete ich und zog die schmerzenden Schultern nach oben. Die Schwerkraft hatte bei der Landung mit zwei oder drei Gravos durchgeschlagen. »Sie wollen mich nach wie vor lebend.« Ich schoss mehrmals willkürlich in die Luft. Ein leises Sirren verriet mir, dass die Zaqoor nunmehr verstärkt ihre Flugaggregate einsetzten. »Ich brauche nur noch wenige Augenblicke«, stöhnte Kalarthras und zog an einem bizarr verformten Trägerelement. »Hilf ihm«, wies ich Fisker an, der seinen Schock bereits wieder überwunden zu haben schien. Gorgh und ich feuerten unterdessen Sperrfeuer in die Luft. Nur von dort oben sowie durch eine schmale Schneise, in der ein toter Zaqoor lag, konnten die gegnerischen Soldaten nachdrängen. Doch wenn sie schlau waren, würden sie uns einfach die Deckung wegschießen. Der Schuttberg würde einem energischen Beschuss vielleicht 20 oder 30 Sekunden standhalten. Wenn wir bis dahin unseren Standort nicht gewechselt hatten, war es um uns geschehen. »Ich hab's!«, rief Kalarthras laut und begeistert aus. »Was?« »Unseren Fluchtweg. Das Tor …« Ein Schatten tauchte links von mir auf. Instinktiv hob ich die Waffe, feuerte. Gorgh reagierte ebenso reaktionsschnell. Der Soldat starb, ohne einen Laut von sich zu geben – und zwei weitere rückten nach. Dann drei, vier, die sich in der Tarnung ihrer Deflektorschirme an uns herangearbeitet hatten. Die Alarmsysteme meines varganischen Anzugs spielten verrückt, zeigten weitere fünfzehn Gegner in unmittelbarer Umgebung.
Die Varganen von Cramar »Kommt schon!«, schrie der Vargane, zog mich mit sich, tiefer hinab, während ich wie wild um mich feuerte, die Zaqoor mit meiner Strahlenpistole bestrich …. Ich sah nicht, wohin er mich schleppte, hatte bloß Augen für die Gegner, diese unbarmherzigen Soldaten, die blindlings vorwärts stürmten und keinerlei Furcht vor dem Tod zu haben schienen … »Hinein!« Er zog und schob mich in einen engen Kanalgang, während mein Schutzschirm rot zu glühen begann. Würden die Zaqoor es wagen, mich zu töten, entgegen dem ausdrücklichen Befehl der Lordrichter? Ich glaubte es nicht, wollte es nicht glauben … Ein kreisrundes Tor schwang nieder, schlug metallen scheppernd auf – und trennte uns von den Soldaten. Sogleich leuchtete ein Schutzschirm auf, den ich als varganisch einstufte. »Rasch weiter!«, rief Kalarthras. Er stand wenige Meter von mir entfernt und hantierte an einer Schalttafel. Weißes Licht, stroboskopisch blitzend, erhellte einen langen und schmalen Gang, der ein leichtes Gefälle aufwies. »Wo sind wir?« »Das«, antwortete der Vargane erschöpft grinsend, »ist der Zugang zu meinem kleinen persönlichen Reich auf Cramar. Das habe ich gesucht, seitdem wir auf dem Planeten gelandet sind.« »Hier, unter dem Palast, besitzt du ein Versteck?«, fragte ich zweifelnd. Das konnte ich mir bei bestem Willen nicht vorstellen. Es hätte nicht dem Sicherheitsdenken eines Varganen entsprochen, wenn er sein Versteck direkt unter dem Regierungsgebäude angelegt hätte. »Wir befinden uns bloß in einem der geheimen Zugänge«, bestätigte Kalarthras meine Vermutung, während wir rasch ausschritten. »Aber keine Sorge – es ist nur ein kleiner Schritt in die vorläufige Sicherheit.« Er deutete auf ein Transmittertor, dessen Lichtbogen nach fünfzigtausend Jahren erstmals wieder ansprang.
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* »Dies ist mein Reich!«, rief Kalarthras enthusiastisch, während er das Transmitterfeld hinter uns desaktivierte und gleich darauf mit wenigen Handgriffen mehrere Aggregate zum Leben erweckte. Ich drehte mich im Kreis, schweigend und beeindruckt. Die Umgebung erinnerte mich an … »Eine Tiefschlafanlage«, sagte der Vargane. »Hier habe ich Jahrtausende meines Lebens verbracht, immer wieder unterbrochen von kurzen Wachphasen, um den Kalaro'on auf der Oberfläche in ihrer Entwicklung da und dort Denkanstöße zu geben.« Er deutete auf eine fragile Darstellung der Station, die sich im Zentrum des Raumes um die eigene Achse drehte. Vier im Quadrat platzierte Oktaederbeiboote bildeten in einer unterseeischen Kaverne das Grundgerüst der Station. Tunnel und Schächte, Rampen und Treppen verbanden sowohl das Quartett der Schiffe als auch diesen Kernbereich mit extern verborgenen Gleitern, Notstationen, Transmittertoren und Beobachtungsposten. An drei Stellen gleichzeitig leuchteten braune Lämpchen, in der varganischen Farbe für Warnsignale. »Für einen derart langen Winterschlaf sind das anständige Werte«, sagte Kalarthras zufrieden. »Wo sind wir hier?«, fragte Fisker völlig überfordert. »Im Inneren Syvirs.« »Der Insel Syvir?« »Du kennst sie?« Kalarthras sah ihn überrascht an. »Nun – nicht unmittelbar. In den Bulletins des Planungsministeriums wurde lediglich erwähnt, dass sie ›für die Erschließung neuer Bürogebäude bedauerlicherweise nicht geeignet sei, weil vulkanisch-tektonische Aktivitäten Gefahrenquellen darstellten‹.« »Man wollte die Insel mit Häusern zupflastern?« Das Gesicht des Varganen gewann einen rotgoldenen Schatten.
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Michael Marcus Thurner
»Nach dem, was ich heute auf Coraak erlebt habe, glaube ich nicht, dass es jemals so weit kommen wird«, murmelte Fisker bedrückt. »Jetzt ist keine Zeit für irgendwelche Mutmaßungen«, mischte ich mich ein. »Wir sind vorläufig in Sicherheit – aber was ist mit Kythara und der AMENSOON?« »Es geht ihr gut, und sie wird uns in Kürze hier abholen.« »Woher weißt du das? Ich dachte, der Funkverkehr war von Coraak aus nicht möglich?« »Wenn zwei Varganen miteinander kommunizieren wollen, geht das durchaus auch über größere Distanzen«, beschied er mir leicht überheblich und klopfte mit einem Finger gegen die Schläfe. »Hast du noch weitere solcher Überraschungen auf Lager?«, fragte ich verärgert. Tatsächlich hatte ich nicht geglaubt, dass Kythara und Kalarthras über eine Entfernung von mehr als dreihundert Kilometern miteinander geistigen Kontakt würden halten können. »Sie ist vor wenigen Minuten gestartet, nachdem sie von mir gewarnt wurde, und fliegt ein Ablenkungsmanöver.« »Wer ist hinter ihr her?« »Kleinere Einheiten der Zaqoor, die nur für den Atmosphärenflug geeignet sind. Da und dort gibt es ein paar bodengebundene Verteidigungsstellungen, mit denen sie problemlos fertig wird. Vorerst läuft alles planmäßig …« Eine Alarmsirene ertönte, während die Signalgeräte unserer Anzüge verrückt spielten. »Die Sonden im Orbit sprechen an …«, knarzte Gorgh. »Die Zaqoor nähern sich mit einem Flottenverband …«, ergänzte Kalarthras. »Siebzehn Kampfraumschiffe. Vorbei ist es mit aller Planmäßigkeit«, schloss ich.
* Mein eben erst erwachtes Interesse an der geheimen Station des Varganen erlosch au-
genblicklich. Nun galt es, das nackte Leben zu retten. »Eine Verbindung zur AMENSOON!«, rief ich Kalarthras zu. Augenblicklich reagierte er. Kommunizierte verbal und auf geistiger Ebene mit der unsichtbaren Positronik, drückte Knöpfe und streichelte routiniert über Regelfelder, als wäre dies sein Wohnzimmer, als hätte er niemals ein riesiges Loch in seinen Erinnerungen gehabt. Ein riesiger Bildschirm explodierte aus einem singulären Punkt heraus, flackerte kurz und zeigte uns Kytharas Schiff nur wenige Kilometer hoch über Coraak schweben. Vereinzelte Strahlschüsse prallten wirkungslos gegen die gestaffelten Schutzschirme, während die Varganin ihrerseits rücksichtslos in die Ruinen hineinfeuerte. »Die Zaqoor vermuten uns nach wie vor auf der Regierungsinsel«, sagte Kalarthras mit schief gelegtem Kopf. »Kythara erhält diesen Eindruck aufrecht.« »Was ergibt das für einen Sinn?« Ich konnte mich über den Leichtsinn der beiden Varganen nur wundern – beziehungsweise ärgern. Kythara stand dort, wo mit Sicherheit die Hauptstreitkräfte der Zaqoor verborgen waren. »Die Station auf Syvir muss unbedingt geheim bleiben. Komme, was wolle.« Er stand mittlerweile an der Breitseite des Raumes und hantierte mit mehreren Datenkristallen. »Warum?«, schrie ich ihn an. »Würdest du eher Kythara opfern als dein Idioten-Paradies?« »Ich habe eine Schuld zu begleichen«, antwortete Kalarthras. Er blickte mich an. Das Schwarz seiner Augen, längst mit dem der Pupillen verschmolzen, wirkte in diesen Momenten erschreckend, alles verschlingend. »Anjustiert!«, unterbrach die ruhige Stimme Kytharas den merkwürdigen Moment. »Der Austausch kann stattfinden.« »Austausch?«, echote ich. »Was hat das zu bedeuten? Wenn ich nicht sofort eine ver-
Die Varganen von Cramar nünftige Antwort von euch beiden erhalte, dann …« Kalarthras wandte sich Fisker zu, der wie verloren zwischen den varganischen Hinterlassenschaften stand, und drückte ihm mehrere Kristalle in die Hand. »Ich habe Fehler gemacht«, sagte der Vargane leise, kaum verständlich. »Und ich möchte sie gutmachen. Ich ernenne dich zu meinem Stellvertreter auf Syvir und beauftrage dich, den Widerstand der Kalaro'on zu steuern.« »Ich? Aber wie …« »In den Kristallen sind alle Informationen abgespeichert, die du benötigst. Eine Tausendschaft kampffähiger Varg-Roboter steht zu deiner Verfügung, solltest du sie benötigen. Hypnoschulung wird dir helfen, alles so rasch wie möglich zu verstehen.« »Was soll ich nur tun? Gegen diese … Monster ankämpfen?« »Das brauchst du nicht.« Die Stimme Kalarthras' klang sanft wie selten zuvor. »Du sollst lediglich Dinge in Bewegung setzen. Den Boden für den Widerstand aufbereiten. Lernen, gegen deine genetisch verankerten Blockaden anzugehen.« »Das kann ich nicht!« »Erst vor kurzer Zeit hast du einen Zaqoor, einen Feind, getötet.« »Ich wusste nicht, was ich tat!«, rief Fisker verzweifelt. »Dann erfahre es. Lerne dich selbst kennen. Teile das Wissen mit anderen. Ich werde wiederkommen, denn dies hier ist ein Teil von mir. Ich weiß nicht, wann und ob du es erleben wirst – aber ich lasse Cramar nicht noch einmal im Stich. Das verspreche ich.« »Beeilung!«, drängte Kytharas Stimme. »Die Bodenverteidigung schießt sich allmählich auf mich ein. Und die Flotte …« Unzusammenhängendes Kreischen und Krächzen ertönte, die Verbindung streikte. »Viel Glück!«, sagte Kalarthras zu Fisker. Er wandte sich steif ab und winkte Gorgh und mir, ihm zu folgen. Ich legte dem Kalaro'on die Hand auf die
55 Schulter. »Warum straft er mich so?«, fragte Fisker kopfschüttelnd. »Wie soll ich ganz allein seinen Wünschen entsprechen?« »Es war kein Befehl, sondern eine Bitte«, sagte ich hastig. »Dies ist das größte Geschenk, das du von einem Varganen erhalten kannst.« »Aber wie …?« »Vertrau auf dich selbst! Vieles, was er besitzt, steckt auch in dir. Weck es auf und …« »Komm endlich, Arkonide!« Kalarthras und Gorgh standen bereit, vor dem aktivierten Feld eines Transmitters. In dem soeben eine Gestalt materialisierte. »Sie wird dir helfen. Ihr werdet euch gegenseitig helfen«, sagte ich, drückte ein letztes Mal Fiskers Schulter, lief auf den Transmitter zu, vorbei an der völlig desorientiert wirkenden Flink, und gemeinsam sprangen wir an Bord der AMENSOON, einem unbekannten Schicksal entgegen. Und wie immer auf der Flucht vor den Lordrichtern und ihren Handlangern.
Nachspiel »Er hat uns diese Station überlassen?«, fragte Flink und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Das ist nicht ganz korrekt. Er hat mich zum Verwalter dieser wundersamen Anlagen ernannt. Ohne dass ich ein Formular ausfüllen oder eine Unterschrift leisten musste!« »Vergiss endlich einmal diesen Beamtenkram, du Bürohengst! Erzähl mir lieber, wie es dir auf Coraak ergangen ist. Kythara hat mich ohne Warnung von ihrem riesenhaften Raumschiff aus hochgehoben, zwischen seltsam leuchtenden Bögen abgesetzt – und schwups war ich bei dir.« »Es war aufregend und traurig und spannend und widerlich.« »Das sind Abenteuer immer.« »Na gut – aber sollte ich nicht ein Ge-
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dächtnisprotokoll anfertigen, bevor ich die Details vergesse?« »Nein.« »Aber …« »Nein.« »Es wäre …« »Nein, zum letzten Mal. Und bevor du zu erzählen anfängst, sollten wir den Grundstein für künftige Generationen ohne emotionale Kastration legen.« »Aber … du bist doch die einzige, die … ich meine … mit dem genetischen Programmfehler …« »Ganz genau.« Sie lächelte breit. »Ich und
meine Kinder.« Fisker starrte sie an, als habe bei ihr das Denken ausgesetzt. »Du hast keine Kinder«, wies er sie auf die Lücke ihrer Argumentation hin. Ihr Lächeln wurde noch breiter. »Richtig. Noch nicht.« »Oh.« Und jetzt verstand er. ENDE
ENDE
Angriff der Togronen von Michael H. Buchholz Wieder einmal gelingt Atlan mit seinen Begleitern die Flucht vor den Garbyor in letzter Sekunde. Und wieder kristallisiert sich heraus, dass die Feinde den unsterblichen Arkoniden unter allen Umständen lebend in ihre Gewalt bringen möchten. Die Sicherheit auf der AMENSOON währt jedoch nur von kurzer Dauer.