Eckhard Heftrich Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
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Eckhard Heftrich Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
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Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Von Eckhard Heftrich
Obwohl von Beginn an und bis in unsere Tage immer wieder als Roman bezeichnet, darf man diesen Text mit gutem Recht, schon des geringen Umfangs wegen, auch eine Erzählung nennen. Doch ist in Anbetracht der Offenheit der einen wie der andern Gattungsbezeichnung die Zuordnung letztendlich ohne Gewicht. Das Manuskript entstand zwischen 1902 und 1905, fand die fördernde Zustimmung von Alfred Kerr und erschien, nach Ablehnung durch mehrere Verlage, 1906 im Wiener Verlag (2. Auflage 1911 bei Georg Müller, München). Musil hat später über die Entstehung dieses seines ersten Buches gesagt, er habe sich, 22 Jahre alt, aber trotz seiner Jugend schon Ingenieur, in diesem Beruf unzufrieden gefühlt und aus Langeweile zu schreiben begonnen. Der »Stoff« dazu habe »gleichsam fertig« dagelegen (7,954).1 Man wird diese Untertreibung kaum für bare Münze nehmen dürfen, doch ist in der Koketterie der Hinweis auf den experimentellen Charakter dieses Anfangs versteckt. Davon hat auch der junge Autor eine Ahnung, bietet er doch sein Manuskript als einen »Wechsel für die Zukunft« an und charakterisiert den Roman als einen »von abweichender Art, der einer neuen Weise zu schreiben zustrebt«.2 Der Stoff: das waren die Leiden des jungen Musil, des Zöglings von 1894 bis 1897, im militärischen Internat zu Mährisch-Weißkirchen. Die Anstalt wird in der Erzählung eingeführt als ein »weitab von der Residenz« gelegenes »berühmtes Konvikt«, hier »erhielten die Söhne der besten Familien des Landes ihre Ausbildung, um nach Verlassen des Institutes die Hochschule zu beziehen oder in den Militär- oder Staatsdienst einzutreten, und in allen diesen Fällen sowie für den Verkehr in den © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Kreisen der guten Gesellschaft galt es als besondere Empfehlung, im Konvikte zu W. aufgewachsen zu sein« (8). Das so hoch eingestufte paramilitärische Internat diente also nicht etwa der Züchtung bloßer Untertanen, sondern war eine wirkliche Eliteschule mit Karrieregarantie. Aber das Privileg dieser Erziehung ebnete die Unterschiede der Herkunft der Zöglinge keineswegs ein, sondern spiegelte die gesellschaftliche Hierarchie wider. Das Rollenspiel der abgestuften Privilegierungen von Bürgertum und Aristokratie wurde hier eingeübt, das sich dann im militärischen, bürokratischen oder diplomatischen Dienst der Monarchie fortsetzte. Derart geschlossene Systeme von komplizierter Durchlässigkeit gab es zwar auch in anderen europäischen Staaten, doch zeichnete sich der habsburgische Vielvölkerstaat auch in dieser Hinsicht durch jene originelle Subtilität aus, deren ironische Überhöhung dann im »Kakanien« von Musils Mann ohne Eigenschaften begegnet. Dem jugendlichen Verfasser des Törleß fehlt noch der scharfe Blick des reiferen Autors, der nach dem Untergang des Habsburgerreiches durch die Erschaffung jenes »Kakanien« einen der bedeutendsten Beiträge zum habsburgischen Mythos geliefert hat. Doch haben schon die psychologischen Experimente, die im Törleß beschrieben werden, eben diese konkrete gesellschaftliche Basis, die das »Konvikt zu W.« als ein nicht der Phantasie, sondern der Realität entstammendes Milieu so glaubhaft machen. Nur auf dem Boden solcher Wirklichkeit konnte die Verdichtung der Pubertätsnöte und der Machtkämpfe gelingen, die einen Teil des Stoffes der Erzählung ausmachen. Schul- und Internatsquälereien mit sensiblen Außenseitern als Opfer sind ein beliebtes Sujet der Literatur der Jahrhundertwende. In der Regel ist das Böse auf Seiten der verknöcherten Lehrer zu suchen, die für das bornierte Drillsystem stehen. Auch der ehrgeizige Klassenprimus, dem der zukünftige Direktor schon ins jugendliche Antlitz geschrieben steht, passt so gut ins Bild wie der anpassungswillige Durchschnitt, dessen bessere Fähigkeiten durch die verkehrte Erziehung unterdrückt werden. Törleß © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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ist zwar nicht gänzlich frei von diesem Cliché, doch sind die Unterschiede zu anderen Schülergeschichten der Zeit sehr viel größer als die Ähnlichkeiten. Zum frühen, freilich begrenzten Erfolg des Törleß hat entscheidend beigetragen, dass die Reformpädagogen in dem Buch die verhängnisvollen Konsequenzen des von ihnen bekämpften Erziehungssystems dokumentiert sahen. Musil spricht Jahre später von Zuschriften, die ihm aus aller Welt zugegangen seien, und er kommentiert sie so: Weil mein Buch Geschehnisse in einem Jünglings- und Knabeninternat erzählte, die haarsträubend sein mußten für einen, der sich die üblichen Vorstellungen von der Quellreinheit der Jugend macht, glaubten die schärfer blickenden Reformatoren der Erziehung in mir einen Bundesgenossen zu erblicken [. . .]. Ich weiß heute, daß ich damals wirklich etwas beschrieben habe, das sich im Lauf der Zeit als typisch herausstellte [. . .]. (7,947). Doch wehrt Musil ab, dass es ihm eben darum gegangen sei; auch heute wüssten »allerhand Menschen noch nicht«, dass ihm eben das »völlig nebensächlich sein mußte« (ebd). Während Musil sich im Nachhinein gegen das Missverständnis verwahrte, mit seinem Erstling einen reformerischen Tendenzroman verfasst zu haben, bereitete er einer anderen, nach dem Zweiten Weltkrieg geläufig gewordenen Auslegung durch eine Selbstinterpretation den Weg: Hier seien bereits am Modell des Militärinstituts Muster jenes sadistischen Terrors aufgezeigt worden, der sich dann in Gestalt der Konzentrationslager-Herrschaft als das wahre Wesen des Faschismus verwirklichen sollte. Man muss freilich den Begriff des Faschistischen bis zur gänzlichen Vagheit verallgemeinern, will man in Beineberg und Reitling, den Quälgeistern ihres Mitschülers Basini, vor allem präformierte Faschisten sehen. Auch Törleß nimmt, auf seine viel © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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subtilere Weise, an den inquisitorisch-sadistischen Geheimsitzungen der kleinen Gruppe teil. Zunächst also handelt es sich um Ritualien, wie sie sich in der Vermischung von pubertärer Sexualität und jugendlichem Gewaltpotential besonders krass in den geschlossenen Gesellschaften von Internaten entfalten können. Wie aber schon der Titel des Buches es treffend sagt, machen nicht die durch die besonderen Lebensumstände bedingten, geförderten oder gar erst erzeugten Irr- und Abwege der Heranwachsenden überhaupt das eigentliche Thema aus, und nicht einmal die Umwege von Törleß, sondern dessen sogenannte Verwirrungen. Der Leser muss daher vor allem darüber Klarheit gewinnen, was der Autor mit diesem vieldeutigen Wort zu treffen versucht hat und wie er die Befreiung seines Protagonisten aus diesen Verwirrungen zeigt. Ist doch deren Beurteilung erst im Rückblick, also von ihrer Überwindung her, möglich. Die unmittelbar erzählte Geschichte spielt in den letzten Wochen von Törleß’ vierjährigem Aufenthalt im berühmten Konvikt. Die Atmosphäre der späten Jahreszeit wird am Beginn mit wenigen Worten beschworen: Im bleichen, kraftlosen, durch den Dunst ermüdeten Licht der Nachmittagssonne haben Gegenstände und Menschen »etwas Gleichgültiges, Lebloses, Mechanisches an sich«. Dass nicht weiche, herbstliche Melancholie heraufgerufen werden soll, wird schon durch den zweiten Satz deutlich, mit dem zeichenhaft, aber in trister Negation, auf die für Törleß später so erregende Empfindung des Unendlichen (62) vorausgedeutet wird: »Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes«. Die trostlos öde Bahnstation ist die Bühne für die Eröffnung, den Abschied der Eltern, die den Sohn im Internat besucht haben. Von einer Bühne darf man zu Recht reden, wirken doch die Menschen und Gegenstände, »als seien sie aus der Szene eines Puppentheaters genommen« (7). Die kleine Komödie der Irrungen und der Täuschung, die da vorgeführt wird, kann der Zuschauer, also der Leser, zwar erst © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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später ganz durchschauen. Aber es ist bereits zu ahnen, dass der Marionetten-Vergleich mehr als nur metaphorische Bedeutung haben dürfte. So heißt es bereits von den jungen Leuten, denen Törleß sich freundschaftlich angeschlossen hatte, und »in deren Gesellschaft er heute seine Eltern zur Bahn begleitete«, es seien dies »merkwürdigerweise« und trotz ihrer guten Herkunft »gerade die übelsten seines Jahrganges« (12); und ausgerechnet zu einem der übelsten hören wir den Hofrat Törleß sagen: »›Also nicht wahr, lieber Beineberg, Sie geben mir auf meinen Buben acht?‹« (15) Mit eben diesem Beineberg wird Törleß auf dem Rückweg von der Bahnstation die Spelunke am Fluss aufsuchen, wo sie die Dorfhure Božena besuchen. Am Anfang der Abschiedsszene war von »Frau Hofrat Törleß«, einer »Dame von vielleicht vierzig Jahren«, gesagt worden: Sie »verbarg hinter ihrem dichten Schleier traurige, vom Weinen ein wenig gerötete Augen« (8). Die Prostituierte ist für Törleß »ein Knäuel aller geschlechtlichen Begehrlichkeiten«, aber während er sich daran mit den Augen sättigt, kann er »seiner Mutter nicht vergessen; durch ihn hindurch verkettete die beiden ein Zusammenhang: Alles andere war nur ein sich Winden unter dieser Ideenverschlingung« (33). Diese Verschlingung ist zwar in der Lineatur der Verwirrungen erkennbar, dominiert sie aber nicht. Vor einer allzu einfachen psychoanalytischen Erklärung des Törleß muss umso deutlicher gewarnt werden, als der Schluss der Erzählung sie nahe zu legen scheint. Da wartet Törleß »still und nachdenklich auf den Abschied« vom Konvikt; seiner Mutter, die ihn abholt, und die geglaubt hat, »einen überreizten und verwirrten jungen Menschen zu finden«, fällt seine kühle Gelassenheit auf: Als sie zum Bahnhof hinausfuhren, lag rechts von ihnen der kleine Wald mit dem Hause Boženas. [. . .] © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Törleß erinnerte sich da, wie unvorstellbar ihm damals das Leben seiner Eltern gewesen war. Und er betrachtete verstohlen von der Seite seine Mutter. »Was willst du, mein Kind?« »Nichts, Mama, ich dachte nur eben etwas.« Und er prüfte den leise parfümierten Geruch, der aus der Taille seiner Mutter aufstieg. (140) Wohl schließt sich hier die Linie, die mit dem Abschiedsschmerz der Mutter am Bahnhof begann und mit dem Besuch bei Božena sich unmittelbar fortsetzte. Aber dass sie über den breit ausgemalten Basini-Episoden sich zu verlieren drohte, ist weder dem Zufall, also der Nachlässigkeit des Autors, noch seiner Erzählstrategie zuzuschreiben. Die Geschehnisse, die schließlich über die kleine Gruppe hinaus die ganze Zöglingsschar samt ihren Lehrern einbeziehen, machen mit Grund, und zwar nicht nur dem Umfang nach, den Hauptteil der Erzählung aus. Sind sie doch das Erlebnismaterial, dem Törleß seine reflexiv durchsetzten Erfahrungen abgewinnt. Eben davon wird unmittelbar vor der effektvollen Schlussszene mit der Mutter noch einmal konzentriert gesprochen und damit erkennbar gemacht, wie viel Musil an der im Unterschied zum erzählten Geschehen so schwer zu beschreibenden Innenhandlung liegt. Törleß hat nun »die Erinnerung an einen fürchterlichen Sturm in seinem Inneren, zu dessen Erklärung die Gründe, die er jetzt noch in sich dafür vorfand, beiweitem nicht ausreichten« (139). Er erkennt jedoch, dass »das Eigentliche« schon »vor der Leidenschaft dagewesen« und von ihr »nur überwuchert worden war«. Mit seinem Protagonisten tastet der Autor selbst sich noch einmal an das Eigentliche heran, nennt es die »wechselnde seelische Perspektive«, den »unfaßbare[n] Zusammenhang, der den Ereignissen und Dingen je nach unserem Standpunkte plötzlich Werte gibt, die einander ganz unvergleichlich und fremd sind« (139). © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Dass damit weit mehr gemeint ist als die uns heute so selbstverständliche Polyperspektivität der Moderne, lässt sich dem Frühwerk am ehesten entnehmen, wenn man darauf zurückprojiziert, was Musil dann in dem unendlichen Schreibexperiment seines Hauptwerkes versucht hat. »[. . .] das Eigentliche, das Problem, saß fest«, heißt es am Ende von Törleß (139). Im Mann ohne Eigenschaften wird es, mit dem gereifteren geistigen und artistischen Vermögen, wieder aufgenommen. Wie Musil den Zustand von Törleß am Ende der Erzählung umschreibt, verrät die Nähe des Autors zur Figur: Er konnte nicht viel davon erklären. Aber diese Wortlosigkeit fühlte sich köstlich an, wie die Gewißheit des befruchteten Leibes, der das leise Ziehen der Zukunft schon in seinem Blute fühlt. (140) Diese Zukunft will Wort werden. Es zu finden und auszusprechen, wird nur ein Dichter vermögen. Beineberg sagt einmal zu Törleß: »›du wirst einmal Hofrat werden oder Gedichte machen‹« (58). Dass Musils Interesse nicht einem möglichen Hofrat, sondern einem werdenden Dichter galt, versteht sich von selbst. So wird diesem Werden intensiv nachgeforscht, und übrigens bereits mit denselben Mitteln, die noch im Mann ohne Eigenschaften das Schreibexperiment tragen. Schon Törleß unterscheidet sich von zahlreichen Fin-de-siècle-Geschichten mit scheinbar verwandtem Stoff durch die rigide Art, wie die narrativen und die essayistischen Partien nebeneinander stehen, aber oft auch ineinander geschoben werden. Am Anfang der Internatszeit schreibt der kleine Törleß, »an fürchterlichem, leidenschaftlichem Heimweh« leidend, beinahe täglich nach Hause, »und er lebte nur in diesen Briefen«. Das könnte auch einem zukünftigen Hofrat passieren. Kaum aber würde ein solcher beim Schreiben »etwas Auszeichnendes, Exklusives« in sich © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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verspüren, so wenig wie der, wenn er untertags an den abends zu schreibenden Brief denkt, die Empfindung hätte, »als trüge er an unsichtbarer Kette einen goldenen Schlüssel verborgen, mit dem er, wenn es niemand sieht, das Tor von wunderbaren Gärten öffnen werde« (8 f.). Den Schreibakt vom Gegenstand trennen zu können, diese Fähigkeit, wodurch sich der Künstler vom Dilettanten unterscheidet, wird bereits dem kleinen Törleß als eine Art instinktives Vermögen zugesprochen. Später sinniert er darüber, was »für eine besondere Eigenschaft« es sei, die er besitze, und diese Kraft wird da auch die »illusionierende« genannt. Noch weiß er nicht, wo in ihm sie zu suchen sei: Er ahnte nur dunkel, daß sie mit jener rätselhaften Eigenschaft seiner Seele zusammenhänge, auch von den leblosen Dingen, den leblosen Gegenständen, mitunter wie von hundert schweigenden, fragenden Augen überfallen zu werden. (91) Von der »Intuition großer Künstler« weiß er zwar noch nichts, doch kommt er sich »wie ein Auserwählter« vor, wie ein »Heiliger, der himmlische Gesichte« hat (92). In seiner »Gier nach Büchern« hat der kleine Törleß verschlungen, was sich in der Bibliothek des Internats neben den für langweilig geltenden Klassikern fand, »sentimentale Novellenbände und witzlose Militärhumoresken«, und er beginnt »unter dem Einflusse dieser Lektüre« selber zu schreiben (13). Aber im Unterschied zu den Briefen stehen diese anempfindenden Imitationen eher für eine uncharakteristische Verirrung als für eine vorausweisende Regung. Folgerichtig tauchen sie eben dort wieder auf, wo Törleß zwar plötzlich zumute ist »wie einer Mutter, die zum ersten Male die herrischen Bewegungen ihrer Leibesfrucht fühlt« – aber gerade mit der Folge, dass er »alle seine poetischen Versuche« hervorholt, um sie zu verbrennen! (79) Auf dem © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Umweg über ein enttäuschendes Gespräch mit dem Mathematiklehrer ist Törleß an die Philosophie geraten, denn der ob der bohrenden Fragen verlegene professorale Philister hat ihm einen »Renommierband Kant« gezeigt. Aber nicht, um ihn zum Studium zu ermuntern, denn »›vorläufig dürfte es wohl noch zu schwer‹« für ihn sein (77 f). Womit der Lehrer vordergründig Recht behält, denn Törleß versteht »vor lauter Klammern und Fußnoten« kein Wort, »und wenn er gewissenhaft mit den Augen den Sätzen folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe« (80). Kant erscheint ihm dann sogar noch im Traum als kleines Männchen, wird aber gleichsam verabschiedet, als »unklar der Vorsatz« auftaucht, »morgen nochmals ganz genau über sich« nachzudenken, »am besten mit Feder und Papier« (87). Das dann folgende, ironisch beschriebene Schreibexperiment hat gerade dadurch, dass es, in diesem Stadium der Verwirrungen, scheitern muss, Schlüsselcharakter, und das wird in psychologischer Stringenz vorgeführt. Weniger erhellend für die Erzählung als vielmehr für die Problematik ihres jugendlichen Autors ist hingegen, wie er die Faszination des Namens Kant auf Törleß plausibel zu machen versucht und welche Folgerung für Törleß er daraus ableitet. Angeblich soll schon für ihn der ihm wohlbekannte Name Kants denselben »Kurswert« haben, »den er allgemein in der sich mit den Geisteswissenschaften nur von ferne befassenden Gesellschaft hat – als letztes Wort der Philosophie«. Dergleichen dem kleinen Törleß zu unterstellen ist schon fragwürdig genug, aber nur wohlwollender Euphemismus wäre es, die Konsequenz lediglich als gewagt zu bezeichnen: Soll doch die »Autorität« Kants sogar »mit ein Grund« gewesen sein, »daß sich Törleß bisher so wenig mit ernsten Büchern beschäftigt hatte« (78). Musil riskiert sogar die Behauptung, dieses »schiefe Verhältnis zu Philosophie und Literatur« habe später auf Törleß’ weitere Entwicklung den unglücklichen Einfluss gehabt, der den ziellos Suchenden schließlich »unter den © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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brutalen und entschlossenen Einfluß seiner Gefährten« brachte (79). Híer wird auf den sensiblen Außenseiter Törleß zurückverlegt, was seinen Erfinder selbst zur Zeit der Niederschrift und noch lange danach den eigenen Weg zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Literatur suchen lässt –, welcher Suche sich dann auch noch Figur und Schicksal des Mannes ohne Eigenschaften verdanken wird. Diesem Einschub fehlt die Überzeugungskraft. Wohl aber gelingt es Musil, den neuerlichen Schreibversuch von Törleß als eine wichtige Episode für die Entwicklung glaubhaft darzustellen. Am Ende der Erzählung taucht schattenhaft jener zukünftige Schriftsteller auf, der in Törleß steckt und der auf neuer Stufe das eigentliche Problem angehen wird. Darum muss der noch ganz in den Verwirrungen Tastende beim Schreibversuch scheitern, freilich auf gleichsam positive Weise. Der Erzähler schafft Distanz zum Protagonisten, indem er ironisch dessen Bemühung schildert: Törleß hatte sich ein Heft gekauft und richtete sorgfältig Feder und Tinte zurecht. Dann schrieb er auf die erste Seite, nach einigem Zögern: De natura hominum; er glaubte den lateinischen Titel dem philosophischen Gegenstande schuldig zu sein. (88) Der so anspruchsvolle wie leere Traktat-Titel lässt einen Augenblick befürchten, Törleß könnte der Ridikülität preisgegeben werden. Doch wird die grelle Pointierung trotz Beibehaltung der Ironie gedämpft. Törleß habe sich »schon untertags zurechtgelegt, was er eigentlich notieren wolle«, heißt es, und es wird hinzugefügt: »Und mehr wollte er nicht.« (88) Da dieses Wenige aber »die ganze Reihe« der Erfahrungen, von jenen bei Božena bis zu den letzten mit Basini, umfasst, müsste dies »Faktum für Faktum«Aufgezeichnete nicht mehr und nicht weniger sein als eben das, was wir bis zu dieser Seite als den Text der Erzählung selbst kennen. © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Was Törleß dann wirklich zu Papier bringt, ist daher lediglich eine hilflose Andeutung dessen, was Musil selbst nur mit Mühe, stilistisch durch die Häufung von Metaphern und Als-ob-Vergleichen dem diffusen Zwielicht des bloß Gefühlten entwinden kann. Schärfe gewinnt die Umschreibung, wenn vorgeführt wird, wie die gewöhnlichen Naturen, vor allem die Erwachsenen, und hier also die Lehrer, auf die ihnen eigene Banalität zurückführen, was ihnen von den Nöten dieses für ihr Institut offenbar ungeeigneten sensiblen Zöglings zur Kenntnis gelangt. Der mit Hilfe von Feder und Papier um Klarheit Ringende bleibt indessen vorerst »in dem tollen Wirbeln seines Inneren befangen«, aus dem immer wieder »die eine Frage« auftaucht: »Was ist das für eine besondere Eigenschaft, die ich besitze?« (91) Ihm ist, als ob er »einen Sinn mehr hätte als die anderen, aber einen nicht fertig entwickelten« (89). Der Versuch, wenn nicht gar die Natur des Menschen, so doch die eigene Besonderheit zu ergründen, mittels der analysierenden Beschreibung seiner erotisch getönten Verwirrungen, führt ihn wieder einmal in den Zustand, in dem er sich schon früher »gerne jenen Erinnerungen hingegeben, welche das Weib hinterlässt, wenn sein warmer Atem zum ersten Male an solch einer jungen Seele vorbeistreift« (91). In der müden Wärme solcher Stimmung erwacht denn auch die Erinnerung an das Urerlebnis des ganz kleinen Törleß. Auf einer Italienreise seiner Eltern hatte er am offenen Fenster des Gasthofes Abend für Abend derselben, im Freien aufgeführten Oper gelauscht. »Aber er war der Sprache nicht mächtig.« Mit dem italienischen Text, so darf man schließen, blieb ihm auch die Handlung verschlossen. Und weil er, unberührt von der üblichen Trivialität der Handlung, allein die »Leidenschaft der Melodien wie Flügelschläge großer dunkler Vögel« empfand, verliebte er sich »in eine der Schauspielerinnen, ohne sie je gesehen zu haben« (91). Auch diese Erinnerung an den frühen, mit Hilfe der Musik gelungenen Schöpfungsakt seiner Imagination führt Törleß wiederum nur an die Schwelle, die der Autor durch © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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einen jener allzu zahlreichen Vergleiche zu verdeutlichen sucht, die dem Text seine manieristische Fin-de-siècle-Patina verleihen, auf die schon das von Maeterlinck entnommene Motto des Buches vorbereitet:3 Aber es war ihm bisher wie einem Fischer ergangen, der zwar am Zucken des Netzes fühlt, daß ihm eine schwere Beute ins Garn gegangen ist, aber trotz aller Anstrengungen nicht vermag, sie ans Licht zu heben. (88) Der Schreibversuch führt nicht zu dem erhofften Ergebnis, wohl aber bereitet er den von Törleß seit je geliebten Zustand »eines mehr seelischen als körperlichen Fiebers« vor, diese »Stimmung, der auch zärtliche Regungen beigemengt« sind (91), und in der die unwillkürlich aufsteigenden Erinnerungen die Zeit aufheben. Nur in der Kunst könnte die Vision vor dem neuerlichen Erlöschen gerettet werden. Das leitende Motiv von Marcel Prousts späterem Riesenwerk wird hier als Miniaturskizze einer Idee der schöpferischen Imagination vorweggenommen, wenn Törleß, »mit der Geschwindigkeit der Angst« nach der Feder greift, um »sich einige Zeilen über seine Entdeckung« zu notieren. Dass diese Zeilen nichts zu bewahren vermögen, überrascht nicht, Musil macht sich nicht einmal die Mühe, sie zu ›zitieren‹ oder wenigstens zu umschreiben; stattdessen: »[. . .] noch einmal schien es in seinem Innern weithin wie ein Licht zu sprühen, – – – – – dann brach ein aschgrauer Regen über seine Augen, und der bunte Glanz in seinem Geiste erlosch.« (92) Licht im Innern, Glanz im Geiste: Ob Musil die Worte im Bewusstsein ihrer geistesgeschichtlichen Herkunft gewählt hat, oder unbewusster Traditionszwang ihn danach greifen ließ, kann unentschieden bleiben, denn von größerer Bedeutung ist, dass abgegriffene Topoi der Überlieferung hier dazu dienen, schon auf der Törleß-Stufe
© 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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zu umkreisen, was Musil dann im Hauptwerk in immer neuen Anläufen als das konstitutive Verhältnis von Ratio und Mystik zu erhellen sucht. Im Mann ohne Eigenschaften wird die echte, genauer, die von Musil als authentisch gesetzte mystische Erfahrung dem modischen, irrationalistischen Mystizismus entgegengehalten; dass zu letzterem inzwischen auch die symbolistische Schwärmerei des einst so verehrten Maeterlinck gezählt wurde, verrät die Distanz des gereiften Autors zu seinem Frühwerk. Als Jugendsünde brauchte er es dennoch nicht abzutun, auch nicht im Hinblick auf jene naturgemäß diffusen Bemühungen seines Protagonisten, die dazumal noch ganz seine eigenen waren. Immerhin wird schon im Törleß die Grenze gezogen und der Verwechslung vorgebeugt. Denn Beineberg tritt auf als Verkünder einer Pseudomystik von angeblich fernöstlicher Provenienz und faselt von den wahren Menschen, den kosmischen Menschen. Das sollen jene sein, die in sich selbst eindringen und »sich bis zu ihrem Zusammenhange mit dem großen Weltprozesse zu versenken« vermögen (59). Aber weil Beineberg diese Spekulationen in Beziehung zu den Quälereien des masochistischen Opfers Basini setzt, in die Törleß selbst auf seine Art tief verstrickt ist, wird der Ratlose aufs Neue davon verwirrt: Törleß träumte mehr als er dachte. Er war nicht mehr imstande, sein psychologisches Problem von Beinebergs Phantastereien zu unterscheiden. Er hatte schließlich nur das eine Gefühl, daß sich die riesige Schlinge immer fester um alles zusammenziehe. (61) Ein weiterer Versuch, diese Schlinge mit Hilfe der Ratio zu lockern, gerät ihm zur Groteske. Das von erzählerischer Ironie durchsetzte Schreibexperiment war zwar nicht geglückt, hatte aber doch in die Tiefe der Erinnerung geführt und damit in den Grenzbereich von Mystik und poetischer Imagination. Jetzt hingegen wird die erneute © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Kant-Lektüre als Parodie eines Leseexperimentes vorgeführt. Törleß, allein mit Basini im Saal, hat sich in die hinterste Ecke gesetzt und versucht zu lesen: Es war zum ersten Male wieder das gewisse Buch, und Törleß hatte sich die Situation sorgsam so ausgedacht gehabt: Vorne saß Basini, hinten er, mit den Augen ihn festhaltend, sich in ihn hineinbohrend. Und so wollte er lesen. Nach jeder Seite sich tiefer in Basini hineinsenkend. So mußte es gehen; so mußte er die Wahrheiten finden, ohne das Leben, das lebendige, komplizierte, fragwürdige Leben, aus den Händen zu verlieren . . . (95) Dem kann natürlich nur die lapidare Feststellung des Erzählers folgen: »Aber es ging nicht.« Doch geht es allein um das verfehlte Experiment, nicht aber um eine Absage an die Philosophie, auch nicht die Kantische, wenn Törleß jetzt »wütend das Buch zur Erde« wirft (95). Warum »es« nicht ging, wird daher so erläutert: »Wie immer, wenn er sich etwas allzu sorgfältig vorher ausdachte.« Nicht nur ein zukünftiger Dichter steckt in Törleß, sondern auch ein Philosoph. Freilich nicht einer von der Art der beamteten Weisheitsverwalter. Zwar nimmt Musil den bekannten Satz der platonisch-aristotelischen Überlieferung auf, das Staunen, thaumazein, sei der Anfang der Philosophie. Aber er legt ihn nicht als Gemeinplatz einer Figur in den Mund, um jugendliche Naivität aufzudecken, sondern wandelt ihn so ab, dass in der psychologischen Ausdrucksweise die noch ungeteilte Wurzel des Denkens und Dichtens sich zeigt: Törleß’ Vorliebe für gewisse Stimmungen war die erste Andeutung einer seelischen Entwicklung, die sich später als ein Talent des Staunens äußerte.4 (25)
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Im weiteren Verlauf der Erzählung wird dieses so früh eingebrachte Motiv immer wieder einmal als Ariadne-Faden erkennbar, der den Leser durch das Labyrinth der Verwirrungen führt. Da aber der Weg nicht zum Eingang zurück-, sondern als Entwicklung zu jenem Ausgang hinlenkt, der über das Erzählte hinaus in die Zukunft des gereiften Törleß weist, erscheint das Talent des Staunens am Beginn noch nicht als Erklärung, sondern als Ursache der Verwirrung. Von einer »eigentümlichen Fähigkeit« – so die nächste Umschreibung des Talentes zum Staunen – »geradezu beherrscht«, sei er dann gezwungen gewesen, Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst häufig so zu empfinden, daß er dabei das Gefühl sowohl einer unauflöslichen Unverständlichkeit als einer unerklärlichen, nie völlig zu rechtfertigenden Verwandtschaft hatte. Sie schienen ihm zum Greifen verständlich zu sein und sich doch nie restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen. (25) Man sollte der Versuchung widerstehen, der vielberedeten und bis zum Überdruss an Hofmannsthals Chandos-Brief demonstrierten sogenannten Sprachskepsis zuzuordnen, was Musil hier als die Erfahrung von Törleß darzustellen versucht: dass nämlich, »je genauer« dieser »seine Empfindungen mit den Gedanken umfaßte, je bekannter sie ihm wurden, desto fremder und unverständlicher« sie ihm gleichzeitig zu werden schienen (25). Die Erzählung greift da noch weiter zurück als bei der Vision, die dem Knaben zuteil wurde, als er der italienischen Oper lauschte; zurück bis in die Kindheit, als er, »sehr klein« noch (23), sich »im Stiche gelassen« gefühlt und im Walde geweint hatte (25). Da hatte das Kind »seine Art der Einsamkeit« empfunden; aber es war eine Empfindung, die bereits »den Reiz eines Weibes und einer Unmenschlichkeit« besaß. © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Der kleine Törleß fürchtete die »Phantasie, denn er war sich ihrer ausschweifenden Heimlichkeit bewußt« (25). Die »Vorstellungen« überkommen ihn gerade dann, wenn er sich »am ernstesten und reinsten« glaubt. Eigens nennt der Erzählerkommentar solche Phantasien eine »Reaktion auf diese Augenblicke, wo er empfindsame Erkenntnisse ahnte, die sich zwar in ihm schon vorbereiteten, aber seinem Alter noch nicht entsprachen« (25). Empfindsame Erkenntnisse: In der Paradoxie der Formel steckt, was als taghelle Mystik im Mann ohne Eigenschaften wiederkehren wird. Auch die beiden Schlüsselworte Staunen und Einsamkeit tauchen im großen Roman wieder auf: [. . .] und es wollte ihm scheinen, daß alle entscheidenden Augenblicke seines Lebens von einem solchen Eindruck des Staunens und der Einsamkeit begleitet worden waren. (2,596) Dass Törleß von Beginn an über die erzählte Geschichte hinaus auf Zukünftiges angelegt war, bestätigt sich nicht nur, wenn man vom Hauptwerk zurückblickt. Freilich hilft solcher Rückblick, schärfer zu sehen, was, für sich genommen, im Frühwerk oft undeutlich oder rätselhaft erscheint. So etwa, wenn die Reflexion über die Ahnung der empfindsamen Erkenntnisse in die folgende Erklärung mündet: Denn in der Entwicklung einer jeden feinen moralischen Kraft gibt es einen solchen frühen Punkt, wo sie die Seele schwächt, deren kühnste Erfahrung sie einst vielleicht sein wird, – so als ob sich ihre Wurzeln erst suchend senken und den Boden zerwühlen müßten, den sie nachher zu stützen bestimmt sind, – weswegen Jünglinge mit großer Zukunft meist eine an Demütigungen reiche Vergangenheit besitzen. (25) © 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
Eckhard Heftrich Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
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Da sich schon mit Törleß der denkende Dichter Musil abzuzeichnen beginnt, ist bemerkenswert, wie selbstverständlich hier anstatt vom produktiven Vermögen von der feinen moralischen Kraft gesprochen wird. Dass es sich auch schon um eine zentrale Idee des jungen Musil handelt, verrät ihre Wiederholung, mündet doch die grundlegende Betrachtung über die Notwendigkeit der Verwirrungen im Verhältnis zur »moralische[n] Korrektheit« (112) in die Feststellung: Denn auch die ethische Widerstandskraft, dieses empfindliche Fühlvermögen des Geistes, das er später so hoch schätzte, fehlte damals noch. Aber doch kündigte es sich schon an. (114) Zur Verdeutlichung seiner Ideen wählt Musil im Törleß mehrfach Bilder aus dem Bereich des organischen Wachstums. Hier aber wandelt er, und das gibt der Textstelle erst ihr ganzes Gewicht, das berühmteste Beispiel der philosophischen Tradition ab, Platons Höhlengleichnis: Törleß irrte, er sah erst die Schatten, die etwas noch Unerkanntes in ihm in sein Bewußtsein warf, und er hielt sie fälschlich für die Wirklichkeit: aber er hatte eine Aufgabe an sich selbst zu erfüllen, eine Aufgabe der Seele – wenn er ihr auch noch nicht gewachsen war. (114) Erst dem reifen Autor wird im unabgeschlossenen, weil unabschließbaren Schreibexperiment Mann ohne Eigenschaften das noch Unerkannte wo nicht als Entwurf, so doch als das Postulat einer neuen Moral erkennbar.
© 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Anmerkungen 1
Zitiert wird nach: Robert Musil, Gesammelte Werke in neun Bänden, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978. (Diese Paperback-Ausgabe ist text- und seitenidentisch mit der gebundenen Ausgabe in zwei Bänden.) Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, im Folgenden als Titel abgekürzt Törleß, Bd. 6, S. 7–140, wird im laufenden Text ohne Bandangabe nur mit der Seitenzahl zitiert. 2 Robert Musil, Tagebücher, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1983, Bd. 2, S. 895. 3 Das Motto aus: Maurice Maeterlinck, Der Schatz der Armen, in der Übers. von Fr. von Oppeln-Bronikowski, Leipzig 1902: »Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.« 4 Mit »später« ist hier die Zeit des Aufenthalts von Törleß im Konvikt gemeint.
© 1996, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Erstdruck: Interpretationen. Erzählungen des 20. Jahrhunderts 1. Stuttgart: Reclam, 1996. (Reclams Universal-Bibliothek. 9462.) S. 99–119.
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