Mark Samuels
DIE WEISSEN HÄNDE und andere Geschichten des Grauens
Blitz
Aus dem Englischen übersetzt von Monika Ang...
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Mark Samuels
DIE WEISSEN HÄNDE und andere Geschichten des Grauens
Blitz
Aus dem Englischen übersetzt von Monika Angerhuber Originaltitel: „The White Hands and Other Weird Tales“ erschienen bei Tartarus Press, Leyburn, UK Zweien der enthaltenen Geschichten liegen autorisierte Neuversionen zugrunde, welche von den englischen Fassungen z. T. abweichen und dem Leser neue Aspekte der Erzählungen erschließen.
© der deutschen Ausgabe 2004 by BLITZ-Verlag GmbH Redaktion: Markus K. Korb Cover Artwork: Mark Freier Innenillustrationen: Denis Vidinski Lektorat: TTT, Mallorca Satz: M. Freier, München Druck und Bindung: Drogowiec, Polen All rights reserved www.BLITZ-Verlag.de
Warum läßt ein Journalist heimlich den Sarg einer Schriftstellerin des 19ten Jahrhunderts von Grabräubern aus ihrer Gruft holen? Kann man mit Hilfe eines Spiegels in der Isolationskammer des Appartements 205 den Kontakt zum Jenseits herstellen? Was verbirgt sich hinter dem Ritual zur Auslöschung des Lichts, das die mißgebildeten Bewohner eines Stadtviertels spät in der Nacht ausüben? Mark Samuels verbindet klassische Elemente und Einflüsse von Edgar Allan Poe und Arthur Machen mit seinem eigenen modernen Stil, in welchem der Geist von Thomas Ligotti mitschwingt. Mark Samuels zeichnet in den 9 Erzählungen des Bandes ein düsteres Bild von Einzelgängern und anderen Randexistenzen, welches letztendlich auf uns zurückweist.
Dieses Buch ist meiner Mutter gewidmet.
DIE WEISSEN HÄNDE
Alfred Muswell, der Liebhabern der unheimlichen Phantastik als Autor zahlreicher Artikel zur Gespenstergeschichte in der Literatur bekannt sein dürfte, starb vor einem Jahr in Zurückgezogenheit. Er war eine Zeitlang Dozent in Oxford gewesen, hatte die Weltabgeschiedenheit der Universität aber nach einem akademischen Skandal verlassen. Einer seiner früheren Studenten (jetzt Journalist) schrieb in einer privat veröffentlichten Biographie über ihn: Muswell versuchte im Alleingang, die akademischen Kriterien für höchste literarische Qualität zu ändern. Er trachtete danach, aus seinem Unterricht das auszurotten, was er als „die Tyrannei des Materialismus und Realismus“ bezeichnete. Er ragte bei den Vorlesungen und Kolloquien drohend in seinem schwarzen Talar über uns auf, zerriß als Pflichtlektüre verordnete Klassiker mit seinen behandschuhten Händen in Fetzen und drängte uns, statt dessen Werke von Sheridan Le Fanu, Vernon Lee, M. R. James, Lilith Blake und dergleichen mehr zu lesen. Es war ein vertrauter Anblick, wenn Muswell nachts auf den Plätzen und Höfen des College wie ein gelehrter Wiedergänger umging. Er hatte ein recht wohlgenährtes Gesicht und trug ein Paar kreisrunder Augengläser. Seine Augen spähten mit undefinierbarem Ausdruck in die Dunkelheit, der ziemlich verstörend auf sensible Gemüter wirken konnte – mich eingeschlossen. Muswells exzentrische Literaturtheorien waren in den fünfziger Jahren nicht lang, aber dafür berüchtigt sehr en vogue. In einer Reihe von Essays in dem kurzlebigen amerikanischen Phantastikmagazin „The Necrophile“ engagierte er sich für die übernatürliche Erzählung, während sich andere Akademiker und Kritiker angewidert von dem Genre abwandten – eine Folgeerscheinung der unliterarischen Exzesse von Schundmagazinen wie „Weird Tales“ und
Konsorten. Muswell argumentierte in knappen Worten, daß der auf anthropozentrische Belange bezogene Realismus die viel tieferreichende Ergründung des Unendlichen unterdrücke. Die Fähigkeit zur Kontemplation der Unendlichkeit, so behauptete er, sei das, was den Menschen vom Tier unterscheide. In seiner Sicht war der Realismus, nicht die Geschichten über geheimnisvolle Rätsel, die wahre prosaische Literatur. Muswell glaubte darüber hinaus, daß die Literatur in ihrer höchsten Form die Rätsel von Leben und Tod lösen sollte. Diese Anschauung wurde von ihm niemals völlig offen dargelegt, doch deutete er an, daß mit dem Erlangen dieses Wissens wirkliche Veränderungen der Struktur der Realität einhergehen würden. Dies führte unvermeidlich dazu, daß er als närrischer Mystiker abgetan wurde. Nach seiner heimlichen Vertreibung aus Oxford zog sich Muswell auf die Höhen von Highgate zurück und setzte von diesem Londoner Village aus, welches Samuel Taylor Coleridge während der Endphase seines Kampfes gegen die Opiumsucht beherbergt hatte, seinen literarischen Kreuzzug fort. Eine Fotoserie, die in der vierten Ausgabe von „The Necrophile“ veröffentlicht wurde, zeigt Muswell beim Spaziergang durch die grünen Straßen von Highgate, angetan mit seinem dreiteiligen schwarzen Anzug, eine Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, wohlbeleibt und Brille tragend. In einer seiner behandschuhten Hände befindet sich ein Buch mit Gespenstergeschichten der Autorin, die er am meisten von allen bewunderte: Lilith Blake. Diese viktorianische Schriftstellerin wird noch heute für ihre Kurzgeschichtensammlung „Die Wiedervereinigung und andere Erzählungen“ verehrt. Lang nicht erhältlich und eine sagenhafte Rarität, war dieses Buch in einer Auflage von nur einhundert Exemplaren gedruckt worden. Doch unter Kennern hat es einen legendären Status erlangt. Muswell war
unzweifelhaft die größte Autorität, was Blakes Leben und Werk anging. Er allein besaß das Wenige, das von ihrem Schriftwechsel noch vorhanden war, ihre Tagebücher, Fotografien und andere persönliche Wertgegenstände. Bei der Wahl von Highgate als Wohnort war Muswell vielleicht am meisten von der Tatsache beeinflußt worden, daß die Blake die zweiundzwanzig Jahre ihres kurzen Lebens in diesem Village gewohnt hatte. Sie war dort gestorben und auf dem alten West Cemetery in Swains Lane beigesetzt worden. Ich begegnete Alfred Muswell zum ersten Mal, nachdem ich ihm einen Brief geschrieben und Informationen über Lilith Blake für einen Artikel erbeten hatte, den ich schreiben wollte. Nachdem wir einige Briefe gewechselt hatten, schlug er mir ein nachmittägliches Treffen im Lesezimmer der Highgate Literary and Scientific Institution, South Grove, vor. Von dort aus wollte er mich zu seiner Wohnung führen, die ohne Hilfe schwer aufzufinden war, da sie ziemlich versteckt in dem Labyrinth enger Ziegeldurchgänge hinter Pond Square lag. Es war ein sehr kalter, klarer Winternachmittag, als ich am Untergrundbahnhof Highgate ausstieg und mich auf den Weg die Southwood Lane hinauf ins Village machte. In der vorigen Nacht war Schnee gefallen, und die Straße war menschenleer. Nur das Geräusch meiner Schritte, die auf dem Eis knirschten, durchdrang die Stille. Als ich das Village erreichte, verharrte ich kurz, um meine Umgebung auf mich wirken zu lassen. Die georgianischen Häuser waren in Schnee gehüllt und glitzerten im klirrend kalten Sonnenschein. Ein scharfer Wind wehte weiße Schneeböen über die durchhängenden Dächer und Schornsteinköpfe. Ein oder zwei Anwohner, dicht vermummt und in Überziehern, stapften vorsichtig durch die Schneewehen. Ich hielt einen dieser Passanten an, und er wies mir den Weg zum Institut. Dieses war ein weißgetünchtes Gebäude, zwei
Stockwerke hoch, und ging auf den Platz an der Ecke Swains Lane hinaus. Ich konnte durch ein Parterrefenster drinnen den Schein eines Kohlenfeuers und einen Mann sehen, der im Sessel las. Es handelte sich um Alfred Muswell. Als ich die Schneeflocken von meinen Kleidern geklopft hatte, trat ich ein und stellte mich ihm vor. Er kämpfte sich mühsam aus dem Sessel in eine aufrechte Haltung, wie ein Einsiedlerkrebs, der seine Muschelschale verläßt, und reckte mir seine behandschuhte Hand zum Händedruck entgegen. Er trug seinen gewohnten schwarzen Anzug, an seiner Unterlippe hing eine Zigarette. Seine Augen starrten mich ernst hinter den schwarzen Brillengläsern an. Sein Haar war dünn und weiß geworden seit jenen Fotografien in „The Necrophile“. Der Haarausfall war am stärksten um den Scheitel herum, was ihm ein leicht mönchisches Aussehen verlieh. Ich hängte meinen Dufflecoat und Schal auf und ließ mich auf dem Sessel ihm gegenüber nieder. „Wir können hier höchstens noch ein paar Minuten ungestört sitzen“, sagte er, „die anderen Mitglieder sind in der Bibliothek und hören sich irgendeine Vorlesung über diesen Scharlatan James Joyce an.“ Ich nickte wie zur Zustimmung, aber meine Aufmerksamkeit war von Muswells Lederhandschuhen gefesselt, und ich fragte mich, warum er sie wohl immer trug. Auf den Fotografien in „The Necrophile“, die vor Jahrzehnten gedruckt worden waren, hatte er ein ganz ähnliches Paar getragen. Dann fiel mir die Ausgezehrtheit der Hände und langen Finger auf, die von den Handschuhen umhüllt wurden. Seine rechte Hand spielte unausgesetzt mit der Zigarette, während sich die Finger seiner Linken wiederholt öffneten und schlossen. Es war beinahe so, als fühle er sich unwohl mit diesen Gliedmaßen.
„Ich freue mich sehr, mit einem gleichgesinnten Anhänger von Lilith Blakes Erzählungen zu sprechen“, sagte er in seinem seltsamen gekünstelten Tonfall. „Oh, ich würde mich selbst nicht als Anhänger bezeichnen. Ihr Werk ist bemerkenswert, natürlich, aber meine Präferenzen gehen in Richtung Blackwood und Machen. Der Blake scheint es mir an jeglicher Ausgeglichenheit zu mangeln. Ihre Welt ist voll von unaufhörlicher Düsternis und Verfall.“ Muswell schnaubte bei dieser Bemerkung. Er blies eine große Wolke Zigarettenrauch in meine Richtung und sagte: „Unaufhörliche Düsternis und Verfall? Ich würde eher sagen, daß sie die Trostlosigkeit zu etwas Glanzvollem erhob! Ich glaube, De Quincey schrieb einmal: ,Heilig war das Grab. Fromm seine Dunkelheit. Rein seine Fäulnis.’ Worte, die Lilith Blakes Werk aufs genaueste beschreiben. Machen, also wirklich! Dieser rotgesichtige alte Glatzkopf mit seinem irregeleiteten anglo-katholischen Blödsinn! Der Mann war ein betrunkener Clown, besessen von der Sünde. Und Blackwood? Pantheistischer Quatsch, der in die Steinzeit gehört, verseuchte seine Phantastik. Der Mann schrieb hauptsächlich für Geld, und er schrieb zu viel. Nein, nein. Glauben Sie mir, wenn Sie die Wahrheit hinter der Grenze der Äußerlichkeiten suchen, ist es Lilith Blake, an die Sie sich halten müssen. Sie macht niemals Kompromisse. Ihre Geschichten sind unendlich viel mehr als bloße Berichte von übernatürlichen Phänomenen…“ Seine Stimme hatte einen Höhepunkt der Schrillheit erreicht, der mich dazu brachte, mich auf meinem Sessel zu winden. Schließlich schien er seine Fassung wiederzugewinnen und fuhr sich mit einem Taschentuch über die schwitzende Stirn. „Sie müssen entschuldigen. Ich habe meiner Überzeugung gestattet, meine Manieren zu ruinieren. Ich diskutiere heutzutage so selten, daß ich mich viel zu sehr aufrege, wenn ich es doch einmal tue.“ Er sah nun ruhiger aus und wollte
gerade wieder zum Sprechen ansetzen, als eine Gruppe von Leuten durch eine Seitentür hereinkam und den Raum füllte. Sie schwatzten über die Joyce-Vorlesung, die anscheinend gerade zu Ende gegangen war. Muswell stand auf und steuerte auf seinen Hut und Überzieher zu. Ich folgte ihm. Als wir draußen in der kalten Nachmittagsluft waren, warf er einen Blick über die Schulter zurück und verzog sein Gesicht zu einer angewiderten Miene. „Wie ich diese Narren verabscheue“, stöhnte er. Wir stapften durch den Schnee, über den Platz und hinein in eine Reihe von aufeinanderfolgenden Durchgängen. Hohe Gebäude mit staubigen Fenstern drangen von beiden Seiten auf uns ein, und nach einer Reihe von Biegungen und Windungen erreichten wir das Haus, in dem Muswells Wohnräume lagen. Sie befanden sich im Souterrain, und wir stiegen im Freien einige abgetretene Stufen hinunter und ließen das Tageslicht oben zurück. Er öffnete die Wohnungstür, und ich folgte ihm hinein. Muswell betätigte einen Lichtschalter. Eine einzelne Glühbirne hing von der Decke. Auf halber Höhe über dem nackten Fußboden. An allen Wänden befanden sich lange, mit Büchern vollgestopfte Regale. In einer Ecke standen ein Sessel mit Fußschemel und ein kleiner kreisrunder Tisch. Einige Bücher lagen darauf. Muswell holte einen zweiten Stuhl (mit Leinwandrücken und -sitzfläche) aus einem angrenzenden Zimmer und bat mich, Platz zu nehmen. Bald darauf schleppte er einen großen Schrankkoffer aus demselben Zimmer herein. Er war sehr alt und trug das Monogramm „L. B.“ auf der Seitenwand. Muswell schloß ihn auf und setzte sich dann, wobei er sich schon wieder eine neue Zigarette ansteckte. Ich holte ein Notizbuch aus meiner Tasche und begann damit, Bündel von Manuskripten aus dem Koffer zu ziehen und
durchzusehen. Muswell ließ inzwischen eine melancholische Bemerkung fallen, so ganz nebenbei, deren Tragweite mir erst viel später aufgehen sollte. „Einsamkeit“, sagte er, „kann einen Menschen in geistige Regionen von äußerster Fremdheit treiben.“ Ich nickte abwesend. Ich hatte eine kleine Schachtel gefunden, bei deren Öffnen ich zu meinem großen Interesse feststellte, daß sie eine Porträtfotografie von Lilith Blake aus dem Jahr 1890 enthielt. Dies war das erste Bild, das ich von ihr sah, doch das letzte, das vor ihrem Tod aufgenommen worden war. Sie war von einer erstaunlichen Schönheit. Muswell beugte sich unvermittelt nach vorn; er beobachtete meine Reaktion mit beunruhigendem Interesse. Lilith Blakes rabenschwarzes und dichtes Haar fiel in Locken auf ihre Schultern herab. Die Augen, weitgeöffnet, durchdringend und durchscheinend, blickten scheinbar über den gewaltigen Zeitraum hinweg auf mich, der uns trennte. Ihr Hals war lang und blaß, ihre Stirn gewölbt, und einzelne verirrte Haarlocken fielen in ihre Schläfen. Die vollen Lippen waren leicht geöffnet, und ihre spitzen, weißen Zähnchen schimmerten. Ihr Gesicht war oval mit kleinem Kinn. Um ihren Hals hing eine Perlenschnur, und sie trug ein jettschwarzes Samtkleid. Die zartesten und liebreizendsten weißen Hände, die ich je gesehen hatte, waren über ihrem Busen gefaltet. Wenngleich die Haut ihres Gesichts und Halses äußerst bleich – wie Alabaster – war, übertrafen die Hände sie noch an Blässe. Sie waren weißer als der reinste Schnee. Es war, als hätte das Tageslicht sie nie berührt. Die Länge ihrer anmutigen Finger erstaunte mich. Muswell unterbrach meine Träumerei. Er entriß mir die Fotografie und hielt sie in die Höhe, während er redete und sich seine Stimme dabei zu fieberhafter Tonhöhe hob: „Hier ist die hoffnungslose Verzweiflung einer, die von der Nacht
heimgesucht wurde. Einer, die freudig in das Grab hinabgestiegen war, mit schwarzer Wonne im Herzen anstelle von Furcht!“ Ich saß sprachlos da. Muswell schien einem Nervenzusammenbruch nahe.
Später muß Muswell mir geholfen haben, die verschiedenen Papiere im Koffer durchzusehen. Aber ich agierte wie in Trance, und als ich seine Wohnung schließlich verließ und den Weg zurück zum Platz durch den Schnee fand, war mir bereits klar geworden, daß meine Forschungen über das Werk der Blake plötzlich von größter Bedeutung für mich waren. Meine Tage und Nächte wurden von ihr heimgesucht. Ich konnte das Traumgesicht der Blake nicht aus meinem Geist bannen. Die Korrespondenz zwischen mir und Muswell wurde umfangreicher, alldieweil ich eifrig versuchte, eine Verabredung zu arrangieren, bei der ich hoffte, weiter aus seinem Arsenal an Blake-Materialien schöpfen zu können. Zunächst schien er meinem wachsenden Interesse nur Argwohn entgegenzubringen, aber zuletzt akzeptierte er mich doch als einen Geistesverwandten. Ich mietete sogar ein Zimmer im selben Haus wie er. Und so, während die Wintermonate verstrichen, schloß ich mich mit Muswell ein und studierte die Briefe und persönlichen Wertgegenstände der Blake. Ich kann nicht verhehlen, daß es mir bei vielen dieser Dinge fast wie ein Sakrileg vorkam, sie zu berühren. Aber als ich die Briefe, Tagebücher und Notizbücher las, sah ich mich gezwungen, mir einzugestehen, daß Muswell die Wahrheit gesagt hatte, als er sagte, daß die Visionen der Blake aus der sonstigen übersinnlichen Literatur herausragten.
Er krabbelte wie eine Spinne durch seine Bibliothek, hinauf auf Trittleitern, zerrte Bände aus den Regalen, warf sie mir quer durch den Raum zu und wies mir gewisse Abschnitte darin, von denen er glaubte, daß sie mir zu einem tieferen Verständnis von Leben und Werk der Blake verhelfen würden. Draußen taumelten Schneeflocken in die Lücke zwischen seinem Kellerfenster und dem Trottoir. „Ich glaube“, sagte er einmal, „daß die Essenz der unheimlichen Literatur in der geistigen Isolation liegt. Isolation in der Konfrontation mit Krankheit, mit Wahnsinn, mit Grauen und mit Tod. Das ist der Widerhall der Ewigkeit, der uns quält. Es ist die Blake, die diese Echos der Verdammnis für uns festhält. Sie allein enthüllt unser unentrinnbares, blindes Dahinstolpern der ewigen Auslöschung entgegen. Sie allein zeigt unsere Seelen, die in der Finsternis schreien, ohne daß da jemand wäre, der unseren Schreien Beachtung schenkte. Ironisch, nicht wahr, daß eine so schöne junge Frau eine so dunkle und von Alpträumen zerfressene Phantasie besitzen sollte?“ Muswell nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und schien in Kontemplation seiner eigenen Worte durch alles Stoffliche hindurch ins Leere zu starren. Manchmal, wenn Muswell fort war, hatte ich die Sammlung für mich allein. Die persönlichen Briefe der Blake waren wie heilige Reliquien für mich. Ihre gerahmte Fotografie wurde zum Mittelpunkt meines Universums. Ich zeichnete voller Ehrfurcht mit den Fingern die Umrisse ihres Gesichtes nach.
Während die Zeit verstrich und meine Recherche über Lilith Blakes Oeuvre immer faszinierendere Ergebnisse ans Licht brachte, spürte ich, daß ich nunmehr bereit war, ihr posthum die Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, die sie so überaus verdiente. Während ich ursprünglich geplant hatte, in meinem
langen Artikel über die übersinnliche Literatur des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts lediglich auf ihr Oeuvre zu verweisen, erkannte ich nun, daß ihr allein ein gesamtes kritisches Werk gewidmet werden mußte, von solcher Wichtigkeit war ihr literarisches Vermächtnis, über das ich durch die Verbindung mit Muswell gestolpert war. Es schien mir offenkundig, daß der Mann nur eine unzureichende Vorstellung von der herausragenden Signifikanz der Materialien in seinem Besitz hatte, und daß ihn sein einsiedlerischer Lebenswandel dazu verleitete, alles als sein persönliches Eigentum zu betrachten, was mit diesem schönen toten Geschöpf zusammenhing. Seine Vorstellung war hoffnungslos verworren von (durch keinerlei Indizien gestützten) Behauptungen über die Wichtigkeit des „Werks hinter den Werken“, die er aufstellte, und die ich für nichts weiter als obskure mystische Interpretationen hielt, welche er sich in seinem wirren alternden Hirn zusammengebraut hatte. Eines Nachmittags traf er mich zufällig bei der Arbeit an meinem geplanten Buch an und stellte ein scheinbares, höfliches Interesse an dem, was ich schrieb, zur Schau; aber in dieses Interesse mischte sich ein aufreizender Sarkasmus. Ich verlieh meiner Überzeugung Ausdruck, daß die Blake einen viel höheren Platz im Pantheon der Literatur verdiente. Die einzig vernünftige Erklärung dafür, daß ihr Werk dies nicht erreicht hatte, war, wie ich entdeckt hatte, in dem beinah vollständigen Desinteresse ihrer Zeitgenossen zu suchen. Ich konnte in keinem Literaturmagazin existierende Rezensionen von „Die Wiedervereinigung und andere Erzählungen“ finden oder die Erwähnung ihres Namens in den Gesellschaftskolumnen ihrer Zeit entdecken. Als ich dies erwähnte, lachte er doch tatsächlich laut auf. Wegwerfend mit einer seiner Zigaretten herumwedelnd, die er zwischen den dünnen behandschuhten Fingern hielt, sagte er: „Ich hätte
eigentlich gedacht, Sie würden das Schweigen, das Person und Werk der Blake umgibt, aufschlußreich finden, so wie ich. Mißverstehen Sie Schweigen nicht als Gleichgültigkeit. Jeder Schwachkopf könnte diese falsche Schlußfolgerung ziehen, in der Tat haben viele sie in der Vergangenheit gezogen. Lilith Blake war kein Count Stenbock, der nur auf seine Wiederentdeckung wartete. Sie wurde ganz bewußt nicht erwähnt, ihr Werk wurde vorsätzlich außer acht gelassen. Was glauben Sie, wieviel man bezahlte, nur um sicherzustellen, daß sie ein passendes Grab auf dem Highgate Cemetery erhielt! Aber bitte, fahren Sie nur fort, erzählen Sie mir mehr von Ihrem Artikel, und ich werde versuchen, über Ihre jugendliche Naivität hinwegzusehen.“ Als ich meine Theorien weiter auszuführen begann, sah ich deutlich, wie er auf die unverschämteste Weise zu feixen begann. Es war gerade so, als ob er sich über mich lustig machte! Das Blut schoß mir ins Gesicht, und ich erhob mich mit vor Anspannung steifem Rücken von meinem Sitz. Ich war mit meiner Geduld am Ende und konnte die herablassende Haltung dieses alten Narren nicht mehr länger ertragen. Muswell trat einen Schritt zurück und verbeugte sich umständlich mit irgendeiner idiotischen Geste in der Art eines Gentlemans. Aber er verlor dabei fast das Gleichgewicht, so als würde er von einem Schwindelanfall übermannt. Ich war einen Moment lang erschrocken, als ich das sah, und er nützte die Gelegenheit, um das Weite zu suchen. Aber bevor er das tat, äußerte er noch ein paar Abschiedsworte: „Wenn Sie wüßten, was ich weiß, mein Freund – und vielleicht werden Sie es bald –, dann würden Sie diese Literaturkritik ebenso schrecklich belustigend finden wie ich. Aber ich bin sehr müde und werde Sie jetzt Ihrer Arbeit überlassen.“ Es schien mir zu diesem Zeitpunkt offenkundig, daß Muswell nicht der richtige Mann war, um als Treuhänder für Lilith
Blakes Nachlaß zu agieren. Überdies wiesen seine theatralische Art und sein Mangel an Anerkennung für meine Erkenntnisse auf fortschreitenden geistigen Verfall hin. Ich würde seiner geschwächten Hand die Kontrolle über den Nachlaß auf irgendeine Weise entringen müssen, dem Ruf der Blake zuliebe. Die Gelegenheit dazu ergab sich schneller, als ich zu hoffen gewagt hätte.
Eines Abends im Februar kehrte Muswell besonders erschöpft wirkend von einem Termin zurück. Mir war die schleichende Mattigkeit aufgefallen, die Besitz von ihm ergriffen hatte. Abgesehen davon, daß er sich fast immer abgespannt fühlte, hatte er einen beträchtlichen Teil seines Gewichts verloren. Sein anschließendes Geständnis kam für mich also keinesfalls übermäßig überraschend. „Das Spiel ist aus für mich“, sagte er. „Ich schwinde dahin. Die Ärzte sagen, daß ich es höchstens noch ein paar Wochen machen werde. Ich bin froh, daß der Augenblick meines Stelldicheins mit der Blake näherrückt. Sie müssen dafür sorgen, daß ich neben ihr beigesetzt werde.“ Muswell starrte mich durch die Dunkelheit an. Dann fuhr er fort: „Es gibt Geheimnisse, die ich Ihnen noch nicht enthüllt habe. Das werde ich jetzt tun. Es gibt Menschen, die – wenngleich tot – dem Zugriff der Verwesung entzogen in ihren Särgen liegen. Die Macht der ewigen Visionen bewahrt sie: Sie liegen da in sanftem Tod und träumen. Lilith Blake ist eine von ihnen, und ich werde auch einer sein. Und Sie werden unser Wächter in dieser Welt sein. Sie werden dafür Sorge tragen, daß unsere Körper ungestört bleiben. Wenn wir erst einmal tot sind, dürfen wir nicht aus dem ewigen Traum geweckt werden. Es dient dem Schutz
Liliths und meiner selbst, daß ich Ihnen gestattet habe, an meinen Gedanken und ihrem literarischen Erbe teilzuhaben. All das wird einen Sinn ergeben, wenn Sie erst ihre letzten Werke gelesen haben.“ Er kletterte eine Trittleiter hinauf in das Dämmerlicht der Zimmerdecke und holte eine metallene Kiste von der Spitze eines Bücherregals herunter. Er schloß sie auf und zog daraus ein altes Schreibheft hervor, das in schwarzes Leder gebunden war. Die Titelseite war mit Lilith Blakes charakteristischer Handschrift beschriftet und trug den Titel Die Weißen Hände und andere Erzählungen. „Dieser Band“, sagte er, indem er mir das Buch reichte, „enthält die letzten Geschichten von Lilith Blake. Sie beweisen die Wahrheit all der Dinge, die ich Ihnen erzählt habe. Das Buch muß jetzt veröffentlicht werden. Ich will rehabilitiert sein, wenn ich gestorben bin. Dieses Buch wird auf die schockierendste Weise den Beweis für den Vorrang der Horrorerzählung vor allen anderen Literaturgattungen erbringen. Wie ich Ihnen gegenüber schon einmal angedeutet habe, sind diese Geschichten keine Berichte von übernatürlichen Phänomenen, sondern sie sind selbst übernatürliche Phänomene.“ Nach einer Pause fuhr er wiederum fort: „Verstehen Sie eines: die Blake war tot, als diese Geschichten ersonnen wurden. Aber sie träumt noch immer und hat diese Bilder aus ihrem Grab zu mir übertragen, damit ich sie in ihrem Namen zu Papier bringe. Wenn Sie sie lesen, werden Sie wissen, daß ich nicht wahnsinnig bin. Alles wird Ihnen klar werden. Sie werden verstehen, wie der ewige Traum mit dem Zeitpunkt des Todes beginnt. Er macht es möglich, daß die Auflösung des Körpers im Zaum gehalten wird, solange man nur immer weiterträumt.“
Ich erkannte, daß Muswells Krankheit seinen Verstand in Mitleidenschaft gezogen hatte. Das waren die Phantastereien eines Irren. Um ihn halbwegs in die Wirklichkeit zurückzuholen, sagte ich: „Sie sagen, daß die Blake Ihnen telepathisch die Geschichten diktiert hat und Sie sie für sie niedergeschrieben haben? Für mich sieht es so aus, als hätten Sie bloß ihre Handschrift kopiert. Dieses Buch kann nicht mehr als ein paar Jahrzehnte alt sein.“ Muswell lächelte schmerzlich, hielt kurz inne und streifte dann zum ersten und letzten Mal seine Handschuhe ab. So enthüllte er die selben bleichen und schlanken Hände, die ich von Lilith Blakes Fotografie her kannte. „Ich habe um ein Zeichen zum Beweis dafür gebeten, daß ich nicht verrückt war“, sagte Muswell, „und es wurde mir gewährt.“
Vier Tage später starb Muswell. Auf dem Totenschein des Arztes stand Herzversagen als Todesursache. Nicht Gift. Ich hatte mich vergewissert, daß es nicht entdeckt werden würde. Offen gestanden hatte ich mich nie mit der Idee getragen, einer von Muswells Bitten nachzukommen; und so arrangierte ich die Einäscherung und Beerdigung seines Leichnams auf dem St. Marylebone Cemetery, auf jener Ebene voll mit kleinen, ausgeblichenen Beisetzungen und Grabsteinen. Er würde nicht auf dem Highgate Cemetery neben Lilith Blake ruhen. Die Zeremonie war eine einfache, und außer mir waren keine Trauergäste anwesend. Muswells Verweisung aus Oxford hatte sichergestellt, daß seine alten Kollegen sich hüteten, mit ihm in Verbindung zu bleiben, und es gab keine lebenden Familienmitglieder, die ihm den letzten Respekt zollen wollten. Die Urne, die seine Asche enthielt, wurde in einer
anonymen Grabstelle beerdigt, und der Priester, der den Vorgang leitete, murmelte die Riten mechanisch und gleichgültig herunter. Als die Zeremonie ihren Abschluß gefunden hatte und ich über diese triste sepulkrale Ebene schritt, unter einem grauen und trostlosen Himmel, hatte ich ein Gefühl der Endgültigkeit. Muswell war für immer fort und hatte genau die Vergessenheit gefunden, die er so ängstlich zu vermeiden angestrebt zu haben schien. Fünf Tage später stattete ich Lilith Blakes Gruft meinen ersten Besuch ab. Sie war im alten Westteil des Highgate Cemetery beigesetzt worden, und ich konnte mir allein keinen Eintritt verschaffen. Es gab nur offizielle Führungen dort, und ich nahm an einer davon teil; aber danach bestach ich den Führer, daß er mich zur Gruft der Blake brachte. Wir mußten uns unseren Weg durch ein Gewirr überwucherter Pfade und zerbröckelnder Grabsteine bahnen. Die Gruft lag in einem nahezu unbetretbaren Teil des Friedhofs auf dem Hügel, und als wir durch das Gestrüpp voranschritten und dicke Dornenranken sich in unseren Hosenbeinen verfingen, sagte mir der Führer, er habe ihn erst einmal zuvor besucht. Das war in Gesellschaft eines anderen Mannes geschehen, dessen Beschreibung die Schlußfolgerung implizierte, daß es sich um Muswell selbst gehandelt hatte. Der Führer erzählte mir, daß dieser besondere Bereich ein Born ziemlicher Neugier bei den verschiedenen Führern, Freiwilligen und Denkmalpflegern sei, die hier arbeiteten. Obwohl die Tierwelt in den anderen Ecken des Friedhofs gedieh, war es auffällig, wie wenig Tiere sich an diesem Ort aufhielten. Selbst die Vögel schienen ihn zu meiden. Ich erinnere mich genau, daß die Sonne gerade untergegangen war, als wir die Gruft in der Abenddämmerung erreichten. Die Sykomoren ringsum trugen noch zur Düsterkeit des Ortes bei. Dann erhaschte ich einen Blick auf ein mit Efeu
bedecktes, gewölbtes Dach kurz vor uns, und der Führer sagte, wir hätten unser Ziel erreicht. Als wir näherkamen und das Gebäude ganz in unser Sichtfeld rückte, spürte ich ein zunehmendes Gefühl der Erwartung. Das Mauerwerk war stellenweise abgebröckelt, aber es war immer noch ein eindrucksvolles Beispiel für die Architektur der hochviktorianischen Gotik. Die Ecken des quadratischen Baus waren mit Türmen geschmückt, und an jeder Seite prunkte ein Miniatur-Portikus. An einer der Wände, durch Vernachlässigung und Verfall beinahe unkenntlich gemacht, befand sich eine Gedenktafel mit dem Epitaph: „Lilith Blake. Geboren 25. Dezember 1874. Gestorben 1. November 1896.“ „Es ist schon spät“, flüsterte der Führer mir zu, „wir müssen zurück.“ Ich betrachtete sein Gesicht in der Düsternis, und es trug einen beunruhigten Ausdruck. Seine Worte hatten das merkwürdige Schweigen durchbrochen, das diesen Ort einhüllte. Ich nickte geistesabwesend, bahnte mir jedoch einen Weg um den Bau herum auf die Vorderseite der Gruft zu dem rostigen Gittertor, das den Eingang zu einer Treppe versperrte, die zu ihrem Sarg hinunterführte. Als ich zwischen den Gitterstäben hindurchspähte, konnte ich die von Flechten bedeckten Treppenstufen erkennen, aber die Dunkelheit verhüllte, was weiter unten lag. Der Führer stand nun neben meinem Ellbogen und zupfte mich am Jackenärmel. „Kommen Sie, kommen Sie“, raunte er, „ich könnte echten Ärger für das hier kriegen.“ Irgend etwas war dort unten. Ich hatte die nervenzermürbende Empfindung, daß ich ebenfalls eingehend von irgendeinem Wesen in der ewigen Finsternis gemustert wurde. Es war fast, als versuche eine mysteriöse Kraft mit mir zu kommunizieren, und Bilder begannen sich in meinem Geist zu formen, blitzten als verzerrte Szenen auf: Leichen, die nicht
verwesten; Träume, die etwas, das nicht länger menschlich ist, vielleicht träumen würde… Dann packte der Führer meinen Arm mit festem Griff und begann mich mit Gewalt wegzuzerren. Ich stolperte wie in Trance mit ihm davon. Die Sinnestäuschungen schienen nachzulassen, je weiter wir uns von der Gruft entfernten, und als wir schließlich das Haupttor erreichten, hatte ich meine Geistesklarheit wiedererlangt. Später weigerte der Führer sich immer wieder, wenn ich ihn bat, mich wieder zur Gruft zu führen, und seine Kollegen begegneten meinen Versuchen, sie dazu zu überreden, auf dieselbe Weise. Zum Schluß gestattete man mir nicht einmal mehr bei offiziellen Führungen Zutritt zum Friedhof. Ich erfuhr später, daß meine Verbindung mit Muswell aufgedeckt worden war, und daß er den Friedhofsbehörden in der Vergangenheit große Schwierigkeiten mit seinen Forderungen nach unbeaufsichtigtem Zutritt gemacht hatte. Einmal hatte man ihm sogar eine Klage wegen unbefugten Eindringens angedroht. Wie bereits angedeutet, hatte Muswell mich wissen lassen, daß er mich als Vollstrecker seines literarischen Testaments eingesetzt hatte, und so verblieb seine Blake-Sammlung in meinem Gewahrsam. Ich gelangte auch an seine Wohnräume. So wandte ich mich wieder dem Studium des Werkes der Blake zu, in der Hoffnung, dadurch das Rätsel besser verstehen zu lernen, das die Kontrolle über mein Leben übernommen hatte. Noch hatte ich die Lektüre von Die weißen Hände und andere Erzählungen vor mir, die mir aber dadurch verleidet wurde, daß Muswell immer behauptet hatte, diese Lektüre würde mir die Erleuchtung bringen. Ich hielt immer noch an der Ansicht fest, daß seine mystische Interpretation ein Trugschluß war, und der Gedanke, dieses Buch könne wirklich das sein, wofür er es hielt, war mir beinahe zuwider. Ich wollte
viel lieber glauben, Muswell hätte es selbst geschrieben, nicht als verlängerter Arm der Blake. Und doch – selbst wenn ich die Tatsache seiner eigentümlichen Hände außer acht ließ, die denen der Blake so sehr glichen, selbst wenn ich diese Ähnlichkeit auf irgendeine Verstümmelung reduzierte, die er sich in seinem schon lang gestörten Geisteszustand selbst zugefügt hatte – und ganz abgesehen von dem vergleichsweise jungen Alter des Buches –, war da immer noch mein Erlebnis an der Gruft, welches meine Gewißheit unterhöhlte. Und also wandte ich mich dem Buch Die weißen Hände und andere Erzählungen zu, in der Hoffnung, daß sich damit die Angelegenheit ein- für allemal erledigen würde. Ich hatte bislang nur die Titelgeschichte lesen können. Offen gestanden war das Buch in seiner Gesamtheit viel zu scheußlich für jeden Leser, außer einen Wahnsinnigen. Die Titelgeschichte glich einer Beschwörungsformel. Je weiter man vordrang, desto unverständlicher und unheilvoller wurden die Worte. Der Text war stellenweise rückwärts geschrieben und in zunehmendem Maße obszön. Die Worte in diesem Buch beschworen Visionen von ewiger, trostloser Verwüstung herauf. Das wenige, das ich bisher gelesen hatte, hatte auch meinen Geist bereits geschädigt. Die Vorstellung, die Blake liege in ihrem Sarg, träume und warte nur darauf, daß ich sie befreite, ergriff von mir Besitz. Während meiner schlaflosen Nächte rief mich ihre Stimme in der Dunkelheit. Wenn ich Schlaf finden konnte, befielen mich seltsame Träume. Ich fand mich zwischen fahlen Schatten in einer überwucherten und zerfallenden Nekropole herumirrend wieder. Das Mondlicht erschien mir unnatürlich hell und fiel sogar bis in die Katakomben hinunter, in die ich der in ein Leichentuch gehüllten Gestalt von Lilith Blake folgte. Die Welt der Toten schien an die Stelle meiner eigenen zu treten.
Wochenlang zog ich die Rouleaus in Muswells Bibliothek herunter, sperrte das Tageslicht aus und verlor mich in meinen Grübeleien. Während die Zeit verstrich, begann ich mich zu fragen, warum Muswell so ausdrücklich darauf bestanden hatte, um jeden Preis bei der Blake beigesetzt zu werden. Mein Erlebnis an ihrer Gruft und die seltsamen Sinnestäuschungen, an denen ich gelitten hatte – konnten sie nicht doch Wirklichkeit gewesen sein? War es möglich, daß Muswell echte Vorahnungen von einer anderen Lebensform nach dem Tode gehabt hatte, von der auch ich auf unvollkommene Weise bereits Kenntnis erlangt hatte? Dieses Urteil fiel mir nicht leicht. Ich hatte auf verschiedensten Wegen philosophische Nachforschungen betrieben, bevor ich wiederholt zu dem Schluß kam, daß ich mich vielleicht doch auf Muswells Theorie würde verlassen müssen. Das kritische Werk über die Blake, das ich schreiben wollte, geriet ins Stocken; durch seine gegebenen Einschränkungen wurde es zu einem aussichtslosen Unterfangen. Denn, so unbeschreiblich es auch schien: Die einzige Erklärung, die sich anbot, war, daß ihrem Leichnam wirklich eine Art von unnatürlichem Empfindungsvermögen innewohnte und daß der enge Kontakt mit ihr zum völligen Verständnis des Geheimnisses führen würde. Ich versuchte, ein Mysterium jenseits von Leben und Tod zu lösen, und fürchtete doch die Antwort. Das Bild, in dem die Lösung des Rätsels lag, welches mich quälte, war die Leiche Lilith Blakes. Ich mußte sie leibhaftig sehen.
Ich entschloß mich dazu, die Exhumierung und Überführung des Körpers in meine Wohnung zu veranlassen. Es kostete mich Wochen, die notwendigen Kontakte zu knüpfen und die erforderlichen Mittel aufzubringen.
Zu guter Letzt kam ich mit zwei namenlosen und sardonischen Grabräubern überein. In der verabredeten Nacht wartete ich in Muswells Bibliothek. Draußen fiel dichter Regen, und während ich angespannt im Sessel saß und eine Zigarette nach der anderen rauchte, sah ich vor meinem geistigen Auge, wie die Tat vollbracht wurde. Ich stellte mir die beiden Männer vor (in Regenmäntel gehüllt und mit Brecheisen und Spaten bewaffnet), wie sie über die hohe Mauer an der Swains Lane kletterten. Ich stellte mir vor, wie sie sich einen Weg durch den Sturm und das mit Wildwuchs bedeckte Gelände ertasteten, vorbei an steinernen Engeln und den Ruinen der Monumente. Nasses Laub mußte dicht auf den Pfaden liegen. Ich konnte vor mir sehen, wie der Regen über den Friedhof an der Hügelflanke fegte, als sie das Gittertor ihrer Gruft aufhebelten, während ihre Regenmäntel im Wind flatterten. Ich stellte mir vor, wie sie die Treppenstufen hinunter verschwanden und Minuten später wieder auftauchten, einen modrigen Sarg zwischen sich. Die ganze Zeit über saß ich da und starrte auf die Uhr. Ich glaubte zwei riesige und dünne weiße Spinnen über die Bücher auf den Regalen krabbeln zu sehen. Aber ich wollte es lieber gar nicht so genau wissen. Die Erinnerung an Lilith Blakes Gesicht stieg vor mir auf, während die Stunden verstrichen. Ich glaubte es in jedem Gegenstand zu erblicken, an dem mein Auge hängenblieb. Ich hatte das Rouleau nicht heruntergelassen und sah zu, wie der Regen an das Fenster über mir prasselte und das Wasser über die Scheibe floß. Ich fühlte mich wie ein Ausgestoßener des Universums und erkannte jetzt das volle Ausmaß der Tiefgründigkeit von Muswells Bemerkung über die Einsamkeit, die einen Menschen in Regionen von äußerster Fremdheit treibt.
Endlich ertönte dreimal ein lautes Pochen an der Tür; ich fuhr in meinem Sessel zusammen, und das Herz hämmerte mir in der Brust. Draußen im strömenden Regen, nur schattenhafte Umrisse in der Nacht, standen die zwei Grabräuber. Sie trugen ein unangenehmes Lächeln im Gesicht, und ihr Haar klebte an ihren weißen, madenhaften Köpfen. Ich zog einige Banknoten aus meiner Tasche und stopfte sie dem nächststehenden der beiden in die Faust. Sie brachten schweigend den Sarg herein und setzten ihn in der Mitte des Zimmers ab. Und dann ließen sie mich mit dem Ding allein. Seine hölzernen Planken waren grün vor Schimmel. Der Deckel war festgenagelt. Ich ging in das andere Zimmer und kam mit Hammer und Meißel zurück. Nachdem ich den Deckel einmal angehoben und wieder gesenkt hatte, so daß die rostigen Nagelköpfe hervorragten, zog ich sie einen nach dem anderen heraus. Meine Lippen waren trocken, und ich konnte mit meinen schweißnassen Händen kaum den Hammer festhalten. Der Schattenriß des immer noch über das Fenster strömenden Regens wurde vom Licht der Straßenlampe draußen quer durch den Raum und über den Sarg geworfen. Unbeirrt hob ich den Deckel. Im Sarg ruhte eine Gestalt, gehüllt in ein Totenhemd aus Musselin, der im Lauf der Zeit ausgeblichen war. Jene langgliedrigen Hände mit den dünnen Fingern waren über dem Busen gefaltet. Ihr rabenschwarzes Haar schien noch länger geworden zu sein, während sie in der Gruft geruht hatte, und reichte ihr jetzt bis zur Taille. Ihr Kopf lag im Schatten; also beugte ich mich weiter herunter, um ihn zu betrachten. Ihren Zügen war keine Spur von Verfall anzusehen, sie waren dieselben wie auf der Fotografie, und doch bot das Gesicht jetzt einen grauenhaften Anblick, ganz anders als die
Verwesung, die ich vielleicht erwartet hätte. Die Haut war aufgequollen und weiß und ähnelte auf unbestimmte Art der Farbe, mit der man Schneiderpuppen lackiert. Ihre üppigen Lippen, die ich auf der Fotografie so anziehend gefunden hatte, wirkten nun abstoßend. Sie waren ohne jeden Schimmer und von den vergilbten, scharfen kleinen Zähnen zurückgezogen. Die Augen waren geschlossen, und selbst die Wimpern schienen länger zu sein, als ob auch sie gewachsen wären; sie erinnerten mich an die Beine einer Spinne. Als ich dieses Gesicht anstarrte und meinen Abscheu unterdrückte, hatte ich wieder diese Empfindung, die ich schon an der Gruft gespürt hatte. Mein Wachbewußtsein schien sich mit Träumen zu durchsetzen. Diese beiden Geisteszustände verschwammen zu einem einzigen, und ich erblickte Visionen von höllischer Entrücktheit. Zuerst sah ich wiederum Leichen, die nicht verwesten, so als sei eine Million Gräber geöffnet worden, erleuchtet von der Phosphoreszenz ihres hinausgezögerten Verfalls. Aber sie machten noch wilderen Alpträumen Platz, die ich nur undeutlich wahrnehmen konnte, wie durch Schwaden von Dunst; Nachtmahre, deren klarer Anblick zur Zerstörung meines Geistes geführt hätte. Und ich konnte nicht anders, als mich an die Vorstellung gemahnt zu fühlen, daß das, was wir geistige Gesundheit nennen, nur als Maß des Erfolges dient, mit dem wir den darunterliegenden Wahnsinn verbergen. Dann kam ich wieder zu mir und sah, wie Lilith Blake langsam die Lider öffnete. Als sie zu erwachen schien, war der Bann gebrochen, und ich blickte mit wachsendem Grauen in ihre Augen. Sie waren leer und abstoßend und gehörten nicht länger einem menschlichen Antlitz an; das waren die Augen einer Kreatur, die Dinge geschaut hatte, die kein lebendes Wesen hätte schauen können. Dann streckte sie eine Hand
nach oben, und ihre langen Finger strichen kraftlos über mein Gesicht, wie bei dem Versuch, mich zu kratzen oder vielleicht auch zu liebkosen. Bei der Berührung dieser feuchtkalten Hand gelang es mir, soviel Kontrolle über mich selbst zu gewinnen, daß ich den Deckel schloß und die Sargnägel wieder einschlug; dabei kämpfte ich gegen den Drang an, das wiedererweckte Phantom noch einmal zu betrachten. Dann, als der Regen zwischendurch einmal nachließ, verbrannte ich den Sarg und seinen tödlichen Inhalt im Hinterhof. Als ich die Flammen höher schlagen sah, glaubte ich ein Kreischen zu vernehmen – ähnlich einem Fluch, der in der unheilvollen, unverständlichen Sprache der Erzählung Lilith Blakes rezitiert wurde. Aber diese Laute wurden bald vom Prasseln der Flammen übertönt. Erst viele Tage später entdeckte ich, daß die Spuren, die ihre langen weißen Finger hinterlassen hatten, meiner Wange auf Dauer eingeprägt waren.
Danach reiste ich monatelang im Ausland umher und suchte nach Orten, die in warmem Sonnenlicht gebadet und mit kurzen Nächten gesegnet waren. Aber meine Gedanken schweiften allmählich immer öfter zu dem Buch Die weißen Hände und andere Geschichten des Grauens zurück, das ich nicht in seiner Gesamtheit zu lesen wagte. Ich fragte mich, ob es möglich sei, die Kontrolle darüber zu erlangen. Schließlich erwies sich die Verlockung als zu stark. Ich redete mir ein, daß ich die Schrecken überstanden hatte, die mich auf seine geheimen Enthüllungen vorbereiteten. Muswell und Lilith Blake waren schließlich nicht mehr. Und so, kaum nach London zurückgekehrt, begann ich die okkulte Sprache des Buches zu übersetzen und vertiefte mich in seine Mysterien. Wenn es mir gelang, konnte ich doch gewiß die Träume nach
meinem eigenen Willen formen, nicht nach dem eines anderen, und den Alptraum überwinden. Ich konnte für immer im Paradies weilen… Der Text eines Briefes von John Harrington während seines Gewahrsams im Maudsley Psychiatrie Hospital: Lilith, meine liebste Frau, ich weiß nicht, warum Du nicht geschrieben hast oder mich besuchen gekommen bist. Die Herren, die sich hier um mich kümmern, sind sehr freundlich, wollen mir aber keinen Spiegel gestatten. Ich weiß, daß etwas Schreckliches an meinem Gesicht ist. Alle schrecken vor seinem Anblick zurück. Sie haben mir Dein Buch weggenommen. Sie sagen, es sei nur unverständliches Kauderwelsch. Aber ich kenne jetzt alle Geheimnisse. Manchmal lache ich und lache. Aber ich mag die weißen Hände, die nachts wie zwei Spinnen um mein Bett herumkrabbeln. Sie lachen mit mir. Bitte schreib mir oder komm. Aus tiefstem Herzen, John
DAS LETZTE SPIEL DES GROSSMEISTERS
Die Kirche „St. Ignatius of Loyola“ schien menschenleer zu sein, aber Pfarrer Mooney, S J, saß noch immer wartend im Beichtstuhl und schielte im Dunkeln auf seine Uhr. Ob heute wohl noch jemand zur Beichte kommen würde, oder ob er sich jetzt in seinen bequemen Sessel zurückziehen und dem Studium von Schachproblemen widmen konnte? Seine Gedanken schweiften bereits ab zum Schachbrett und den intellektuellen Feinheiten, die ihn dort erwarteten. Alles schien ruhig zu sein. Er streckte die Beine, erhob sich, öffnete die Tür des Verschlags, warf einen Blick quer durch das Mittelschiff zum Eingang hinüber und vergewisserte sich, daß heute keine weiteren Absolutionen mehr zu erteilen waren. Wäßriges Licht fiel durch die bunten Glasfenster. Draußen herrschte ein grauer Oktobermorgen, Regen prasselte auf das Kirchendach. Der Regen schien dichter zu werden, sein Rauschen begann im Innern des Gebäudes widerzuhallen. Pater Mooney schritt zu dem Kruzifix über dem Altar hinüber, beugte das Knie und brachte ein stummes Gebet dar. Während er noch kniete, hörte er, wie sich hinter ihm die Kirchentür leise öffnete, das Regenrauschen kurz anschwoll und sich die Tür wieder schloß. Er erhob sich mühsam und sah einen Mann mit Hut, Schal und Regenmantel den Mittelgang auf den Beichtstuhl zu entlangtappen. Der Priester nahm hastig wieder seinen Platz im Verschlag ein und lauschte auf die patschenden und unsicheren Schritte. Der Mann ließ sich auf den Sitz hinter der zwischen ihnen liegenden, dünnen hölzernen Trennwand plumpsen. Pater Mooney versuchte, durch das vergitterte Fenster einen Blick auf ihn zu werfen, aber der Mann hielt den Kopf gesenkt, und die Krempe des Hutes verdeckte sein Gesicht. „Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt.“
„Möge Gott, der jedes Herz erleuchtet, dir helfen, deine Sünden zu erkennen und auf seine Gnade zu vertrauen…“ gab Pater Mooney zurück. „Vater, dies ist keine gewöhnliche Beichte.“ Die Stimme klang auf ungesunde Weise kurzatmig. „Bitte versuchen Sie, weiterzusprechen. Haben Sie keine Angst oder Scham. Lassen Sie Christus in Ihr Herz hinein, und seien Sie aufrichtig in Ihrer Reue. Es gibt nichts, was so schrecklich wäre, daß es Seine Vergebung von denen fernhalten würde, die wirklich danach trachten. Wann sind Sie das letzte Mal zur Beichte gegangen?“ „Ich bin vom Glauben abgefallen, Vater. Sagen Sie mir, glauben Sie, daß das Böse wirklich existiert?“ Pater Mooney bewegte sich unbehaglich auf seinem Sitz. Er lehnte sich zurück und fuhr nachdenklich mit den Fingern über sein Kinn. Schließlich sagte er: „Es gibt gewiß böse Menschen auf der Welt, aber viel Böses kann der Torheit oder Unwissenheit zugeschrieben werden.“ „Nein, Vater. Nicht in diesem Fall. Wenn ein Mann von den Toten zurückkehrt, heißt das, daß er sogar zu böse ist, als daß die Hölle ihn in Schach halten könnte. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil Sie der Einzige sind, der mir helfen kann.“ Na, dachte Pater Mooney, das ist ja ein komischer Fall. Er merkte, daß es in dem Verschlag ziemlich kalt war, und rieb sich die Hände, um sie zu wärmen. „Welchen Beistand kann ich Ihnen bieten, den nicht jeder andere Priester auch leisten könnte?“ sagte er. Der Mann holte tief und rasselnd Atem und sagte: „Ich weiß, daß Sie einer der besten Schachspieler Europas waren, bevor Sie die Priesterweihe empfangen haben.“ Pater Mooneys Stirn legte sich in Falten.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe“, erwiderte er. „Sie sollten mir das besser erklären.“ „Mein Name ist Leonard Hughes. Vielleicht haben Sie schon von mir gehört. Ich erregte beim Schachturnier in Hastings vor einigen Jahren Aufsehen. Ich betrat die Sektion der Herausforderer als Unbekannter und fegte alle Widersacher vor mir beiseite. Ich schlug – vor einer ziemlich knappen Niederlage durch das amerikanische Genie Billy Burns – den britischen Champion John Summers und den russischen Großmeister Dr. Kominov. Doch als ich im folgenden Jahr zum Turnier kam, schlugen alle drei mich mit Leichtigkeit. Mein System war sehr simpel. Ich habe ein phänomenales Gedächtnis. Ich konnte mir stets jede einzelne Information in Erinnerung rufen, die ich seit dem Alter von vier Jahren an gelernt hatte. Mein Gedächtnis brachte mir im Leben viele Vorteile. Im Verlauf einiger Jahre hatte ich durch Finanzgeschäfte ein Vermögen zusammengetragen, indem ich ein System benutzte, das darauf beruhte, daß ich Geld lieh und investierte und Geschäfte verkaufte, die ich ins Leben gerufen hatte, um wiederum andere zu erwerben. Ich kannte jedes Detail der Verträge, die ich ausgehandelt hatte, und jede Fluktuation der Aktienpreise meines Portefeuille. Und doch erlosch mein Interesse in dem Moment, als ich genug Wohlstand angehäuft hatte, um sicherzustellen, daß ich den Rest meines Lebens auf jede mir beliebige Art würde zubringen können. Ich hatte mich der Herausforderung gestellt und ihr standgehalten, und ich stellte fest, daß es eher die Jagd als die Beute gewesen war, was mich fasziniert hatte. Das mit meiner Schachbesessenheit kam so: Ich hörte zufällig eine Bemerkung mit, die ein Mann in einem Restaurant in der Charlotte Street zu seinem Gegenüber sagte, wo ich oft zu Mittag aß. Er sagte: „Wissen Sie, daß man ausgerechnet hat, daß es mehr mögliche Züge beim
Schachspiel gibt, als schätzungsweise Atome im gesamten Universum existieren?“ Von da an begann ich mich tief in das Thema einzulesen und mich in einem Zeitvertreib zu üben, von dem ich wußte, daß er mein Gedächtnis bis zur Grenze fordern würde. Bevor ich eine Partie spielte, analysierte ich jeden Schnipsel verfügbarer Informationen über die früheren Taktiken meiner Gegner (tatsächlich prägte ich mir jedes aufgezeichnete Spiel ein, das sie je gespielt hatten) und verwendete dieses Wissen dann gegen sie. Ich konzentrierte mich auf die Schwächen meines Gegners, während ich mich auf meine Erinnerung an die vorteilhaftesten Züge unter den Millionen möglicher Variationen verließ. Beim ersten Turnier hatte ich großartigen Erfolg, wie bereits erwähnt. Die Reporter schienen aufrichtig entsetzt über meine schonungslos mechanische Strategie, das gnadenlose Zermürben meiner Gegner zu sein. Selbstverständlich waren meine Rivalen beim nächsten Turnier besser vorbereitet. Sie hatten erkannt, daß ich nur Serien von Zügen aus historischen Spielen wiederholte, und so mußten sie einfach nur einen einzigen unpassenden oder irrationalen Zug dazwischenschieben, und ich konnte keinen Präzedenzfall mehr dafür finden. Es kostete mich einige Züge, bis ich mein Selbstvertrauen zurückgewann, und innerhalb dieser Zeit hatten sie mich geschlagen. Nachdem meine Schwäche erst einmal ans Licht gekommen war, erlitt ich Niederlage um Niederlage. Nach diesem Turnier beschloß ich, mich in meiner Villa in Highgate von der Welt zurückzuziehen, um jede Ablenkung zu vermeiden, bis ich alle möglichen Strategien des Spiels studiert hätte. Ich hatte mein Erinnerungsvermögen bis an seine Grenzen ausgelastet. Nun mußte ich lernen, mir selbst etwas auszudenken.
Es war ein schwieriges, einsames Unterfangen. Jeden Tag – vier Stunden Arbeit, dann eine Stunde Pause – beugte ich mich über das Schachbrett, rückte Spielfiguren, probierte endlose Kombinationen aus. Früher hatte ich jede Variation des Spiels, die ich in Schachmagazinen und Handbüchern auftreiben konnte, geistig verinnerlicht, aber jetzt versuchte ich zu verstehen, wie die siegreichen Strategien ersonnen worden waren. Ich sah niemanden. Ich sprach mit niemandem. Tatsächlich hatte ich nach Monaten dieser intensiven Monomanie Angst, daß ich nur noch fähig sein würde, in algebraischer SchachNotation zu denken. Und doch empfand ich ein extremes Hochgefühl. Wenn ich auch immer noch nicht natürlich oder kreativ spielen konnte, so spielte ich doch verwegene Variationen, die ich selbst erdacht hatte; und als sie sich als erfolgreich herausstellten, prägte ich mir diese Strategien endlose Alleen von schwarzen und weißen Quadraten hinunter ein und versuchte auf diese Art, meinen Mangel an Inspiration wettzumachen. Wenn ich das Schachspiel wirklich meisterte – das fühlte ich –, dann würde mir die Lösung einer komplexeren Aufgabe gelingen als die Enthüllung der Geheimnisse des Universums. Eines Morgens, nach sechs Monaten dieses Systems, fiel mein Blick im Garderobenspiegel auf ein blasses, abgezehrtes Gesicht, als ich auf dem Weg nach draußen war, um ein bißchen frische Luft zu schnappen. Ich erkannte mein eigenes Antlitz kaum wieder. Alles Leben schien ihm ausgesaugt worden zu sein. Ein freier Nachmittag. Ein Nachmittag des ziellosen Herumstreifens. Vielleicht würde die Ablenkung mir wohltun. Aber in Wirklichkeit brachte sie mir gar nichts. Meine Gedanken schweiften ständig zurück zu meinen Analysen, nichts anderes hinterließ irgendeinen Eindruck bei mir. Erst als
ich an einem Buchantiquariat vorüberging, fühlte ich einen Nadelstich des Interesses. Ich trat ein, mit der Absicht, nach weiteren Schachbüchern zu suchen. Die Regale in dem Laden standen sehr eng zusammen, und ich mußte mich durch die schmalen Gänge quetschen, vorbei an Schachteln voller Bücher auf dem Boden. Obgleich das Sortiment recht allgemein gehalten zu sein schien, fand ich tatsächlich ein oder zwei simple Schachfibeln und beschloß, die junge Verkäuferin zu bitten, mir weiterzuhelfen. Ich ging zum Ladentisch und räusperte mich; sie war vertieft in die Lektüre einer zerfledderten Ausgabe von Borges∗ Labyrinthen, die Penguin-Edition, aufgeschlagen bei Seite neunundvierzig. Sie legte das Taschenbuch hin, knickte die Ecke der Seite zum Anmerken um und spähte über ihre stahlgefaßte Brille weg zu mir herüber. „Nein“, sagte sie als Antwort auf meine Anfrage, „alles, was wir haben, befindet sich in den Regalen. Oh, wir haben neulich ein komisch aussehendes Schachspiel in einem Karton voller Bücher gefunden. Möchten Sie es sich ansehen?“ Ich nickte ohne große Begeisterung. Sie stand auf, ging in ein kleines Hinterzimmer und kam mit einer Holzkiste unter dem Arm zurück. Sie schob die Stapel staubiger Bände beiseite und legte die Schachtel vor mir auf den Tisch. Sie enthielt ein ziemlich grell aussehendes Schachbrett in Gold und Purpur. Noch bemerkenswerter war jedoch die bizarre Sammlung schwarzer Spielfiguren, die dazugehörten. Ich hob eine davon auf, die vielleicht eine Königin darstellen sollte, und betrachtete sie aus der Nähe. Irgend etwas an ihrer mißgebildeten Erscheinung wirkte grauenerregend; sie erweckte den Eindruck, als sei sie grob aus einem besonderen Stück Knochen geschnitzt worden. ∗
„The Strand“ ist eine Straße in London; Anm. der Übersetzerin.
In der Kiste befanden sich eingearbeitete Aussparungen, in denen die schwarzen Figuren ruhten. Aber ich konnte keine weißen Spielfiguren finden, und auch keine Aussparungen in der Schachtel dafür. Ich hob den Blick zu der Verkäuferin, die mich mit kaum verhohlener Langeweile beäugte. „Wieviel?“ fragte ich und wunderte mich, warum ich mich überhaupt mit dem Ding abgab. „Da es nur halb komplett ist, sagen wir zehn Pfund.“ Ich nickte zur Einwilligung, steckte die schwarze Königin in meine Tasche und stellte einen Scheck aus. Als die Verkäuferin ihn von mir entgegennahm, war ihre Miene angewidert – vielleicht als Konsequenz darauf, daß ich mein Konto bei Coutts, „The Strand“, hatte. Ich vermute, sie bereute es, keinen höheren Preis verlangt zu haben. Als ich den Laden verließ, regnete es draußen, und ich knöpfte hastig meinen Regenmantel zu. Die Kante der Schachkiste bohrte sich unangenehm in meine Rippen, während ich die menschenleeren, regennassen Straßen entlangging. Ich schob meine freie Hand in die Tasche und stieß auf die Königin, die ich dort hineingesteckt hatte. Als ich das Ding herauszog, fiel es mir aus der Hand auf das Trottoir. Es lag in einer Pfütze, und ich zögerte, es wieder aufzuheben. Ich war mir sicher, daß sich die Spielfigur in meiner Hand heftig gewunden hatte, wie ein Wurm… Bis ich nach Hause zurückkam, war es mir gelungen, mir selbst einzureden, daß die sich windende Spielfigur nur eine Sinnestäuschung gewesen war, hervorgerufen durch meine geistige Überanstrengung. Ich ließ mich auf einen Sessel fallen, holte das Schachspiel aus der Plastiktüte, die mir die Verkäuferin gegeben hatte, öffnete die Schachtel und ließ ihren Inhalt auf den Tisch purzeln. Mir kam der Gedanke, daß es vielleicht eine gute Idee wäre, eine Partie gegen mich selbst zu spielen, um meine Geistesschärfe zu testen.
Ich sammelte die verstreut herumliegenden schwarzen Figuren ein und plazierte sie auf dem Brett gegenüber gewöhnlichen weißen Figuren aus einem anderen Spiel. Die schwarzen sahen aus wie eine Kompanie mißgebildeter Dämonen. In diesem Augenblick kam mir der Gedanke, daß sich die Königin wirklich in meiner Faust gewunden hatte, gar nicht mehr so lächerlich vor. Ich eröffnete mit Weiß und schob einen Bauern auf E4. Doch bevor meine Finger den schwarzen Bauern berührten, rückte er von selbst auf C6 vor. Die Bewegung ging flink vonstatten, und ich hörte den leisen Aufprall, als sich die Figur mit Nachdruck auf dem Feld niederließ. Ich starrte ungläubig auf das Schachbrett. Nach einigem Zögern streckte ich meine zitternde Hand aus und spielte D4. Mein Blick konzentrierte sich und schweifte wieder ab, während ich auf den Gegenzug wartete. Der nächste schwarze Bauer ließ sich aggressiv auf D5 plumpsen. Ich biß in meine Faust, bis Blut kam. Mir wurde ganz schwummerig. Das Zimmer schien sich um mich herum zusammenzuziehen, die Schatten länger zu werden. Ich langte nach meinen Zigaretten und steckte mir eine davon in den Mund, entzündete sie und sog den Rauch gierig in meine Lungen. Ich atmete rasch ein und aus, während ich darum rang, wieder Herr über meine Geistesverfassung zu werden. Schwarz spielte eine ganz unerhörte Caro-Kann-Variation. Ich erkannte ihre Bedeutung nach zwei weiteren eigenen Zügen. Es war eine Strategie von titanischer Verschlagenheit. Wenn ich mich nicht zusammenreißen konnte, würde ich einen Springer verlieren. Unvermittelt wurde mir klar, daß ich dieses Spiel nicht verlieren durfte. Ich wußte nicht, was es bedeuten würde, wenn ich verlor, aber der schiere Gedanke daran erfüllte mich mit unfaßbarer Angst.
Die Zigarette, die ich hielt, war zu einem sich abwärts neigenden Aschenkegel heruntergebrannt. Die Asche löste sich und fiel auf das Schachbrett. Etwas wehte sie fort. Ich hörte ein rasselndes, hohles und pfeifendes Keuchen, ein asthmatisches Atmen, das langsam in der Stille versickerte. Ich spielte weiter, bewegte die Figuren mit schlüpfrigen Fingern, von denen ich immer wieder mit einem Taschentuch den Schweiß abwischen mußte. Fünf Züge später gelang Schwarz ein Vorstoß, und seine mißgestalteten Figuren tasteten sich allmählich auf meinen umzingelten König zu. Und schließlich, als Schwarz mir Schachmatt bot, fühlte ich, wie ein glühend heißer, unerträglicher Schmerz in mein Gesicht und meine linke Hand schoß. Der Schmerz war so groß, daß ich seitwärts umkippte und mich in Agonie auf dem Boden wand. Eine halbe Stunde später – auch wenn es mir wie eine Ewigkeit vorgekommen war – ließ die Schmerzempfindung langsam nach, und ich erhob mich auf meine Füße. Ich war nicht mehr derselbe. Pater Mooney saß geduldig während der Unterbrechung, die nun folgte. Leonard Hughes schien um Atem zu ringen, seine keuchenden Atemzüge ebbten besorgniserregend auf und ab. „Können Sie weitersprechen?“ fragte der Priester. „Ich glaube… es ist am besten… wenn ich es… Ihnen zeige, Vater“, sagte Hughes zwischen zwei Atemzügen. Bei der Anstrengung, die es ihn gekostet hatte, seine Geschichte zu erzählen, schien er sich völlig verausgabt zu haben. Pater Mooney hörte, wie die Tür des Beichtstuhls geöffnet wurde. Hughes stolperte heraus, und Pater Mooney folgte ihm. Da stand er in der Kirche, dem Fremden gegenüber, und war immer noch nicht in der Lage, dessen Gesichtszüge deutlich zu erkennen, was an dem hoch übers
Kinn hinaufgezogenen Schal und der heruntergezogenen Hutkrempe lag. Pater Mooney hatte noch nie zuvor so etwas erlebt. Es war eine Konfrontation mit einem Problem, das früher stets auf beruhigende Weise allein der Theologie des Mittelalters angehört zu haben schien. Konnte es wirklich sein, daß jemand, der nicht in Gottes Gnade stand, das Tor zu seiner Kirche durchschritten hatte? Langsam, widerstrebend, nahm Hughes Hut und Schal ab. Er rang immer noch nach Luft, schien jedoch immerhin ein Minimum an Kontrolle über seine Lungen erlangt zu haben. Der Mann litt offensichtlich immer noch, denn sein Gesicht wechselte ständig den Ausdruck von einer schmerzverzerrten Grimasse zu einem finsteren Stirnrunzeln. Immer, wenn sich seine Miene veränderte, schienen sich zugleich auch seine Gesichtszüge zu verändern; und obwohl dies Pater Mooney beunruhigte, faszinierte ihn doch zugleich die Tatsache, daß ihm das Gesicht des Fremden bisweilen irgendwie bekannt vorkam. „Erkennen Sie das Gesicht? Ich kann es an Ihren Augen sehen, Vater“, sagte Hughes. Jetzt, da man seinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hatte, hatte Pater Mooney auch das Gefühl, daß ihm der pfeifende Atem bekannt war. Dann fiel ihm auf einmal alles wieder ein. Pater Mooney erinnerte sich an Boris Petrovski. Er erinnerte sich an das teuflische Gesicht des Schachspielers auf der anderen Seite des Spielbretts bei den Meisterschaftsspielen in Kiew 1964: die zerfurchte Stirn; die grimmigen Augen, die zornig unter zottigen Brauen hervorstarrten; die sardonisch gekräuselten Lippen; die Art, wie er seine Zunge auf wilde Art über die langen Zähne gleiten ließ, und – vor allem – das Einund Ausatmen seiner schwachen Lungen, ohrenbetäubend asthmatisch, während des gesamten Spiels. Er war ein Spieler
von immenser Verschlagenheit gewesen. Mooney hatte nur eine einzige Partie gegen ihn gespielt, aber diese – insbesondere eine Folge von drei Zügen – zählte als brillant, gegen einen Spieler, der damals als einer der größten angesehen wurde, die jemals die Ränge der Schachwelt geziert hatten. Es gab absolut keinen Zweifel daran, daß Petrovski ein Genie allerersten Ranges war, aber er hatte auch etwas äußerst Beunruhigendes an sich. Er besaß ein unheimliches Talent, auf quasi telepathische Art seinen Gegner zu verwirren und dessen Konzentration zu ruinieren. Es war einem in solchen Momenten zumute, als würde man von purster Bösartigkeit durchseucht. Petrovski verkehrte mit niemandem gesellschaftlich. Bei den Turnieren wurde er gemieden und verabscheut. Aus diesem Grund erhielt er nicht die Anerkennung, von der er glaubte, daß sie ihm von seinesgleichen und von seiten der Sportberichterstatter zustand. Seine Fähigkeit, es sich sogar mit Bewunderern seiner Spieltechnik zu verscherzen, war bemerkenswert. So tief reichten die feindseligen Gefühle, die er hervorrief, daß die Berichte über seine Partien extrem fragmentarisch blieben. Petrovskis eigene Aufzeichnungen wurden nie veröffentlicht, und er sorgte dafür, daß sie kurz vor seinem Tod vernichtet wurden. Er haßte den Gedanken daran, daß irgendjemand einen Nutzen aus seinem Genie ziehen könne. Seine Kritiker behaupteten sogar, daß sich Petrovski nebenbei in dubiosen okkulten Praktiken versuchte, und daß darin der Grund für seine listenreiche Verschlagenheit und beängstigend zielgenaue Fähigkeit der Vorausberechnung zu suchen war. Als Mooney ihn dieses eine Mal besiegte, verdankte er seinen Sieg nur einer ständigen Änderung seiner Strategie, was eine beinahe unerträgliche Geistesgymnastik erforderte. Er hatte bewiesen, daß es möglich war, Petrovski zu kontern; aber man
riskierte den Abbruch des Spiels durch Überschreitung der Zeitvorgabe. Es war daher riskant, sich auf diese äußerst belastende Methode zu verlassen, doch war bislang keiner anderen Taktik Erfolg beschieden gewesen. Manche behaupteten, daß die geistige Überanstrengung des Spiels gegen Petrovski der Anlaß für Mooney gewesen war, seine Karriere als Schachprofi zu beenden. Danach hatte er sich in privates Studium der Theologie vertieft, was schließlich in seiner Aufnahme in den Priesterstand einige Jahre später gipfelte. „Werden Sie mit mir kommen, Vater?“ fragte Hughes. „Ich weiß, was ich zu tun habe“, erwiderte der Priester. Er wandte sich dem Altar zu, beugte das Knie und ging dann seinen Hut und Mantel holen.
Hughes’ Haus in Highgate war übersät mit Zeitungsausschnitten aus Schachkolumnen, gekritzelten Schachnotationen und Seiten, die er aus Schachhandbüchern gerissen hatte. Stapel von Sachbüchern waren in irgendwelche Ecken gestopft. Das Haus strömte den schalen Geruch von kaltem Zigarettenrauch aus. Inmitten des Arbeitszimmers stand ein großer Tisch mit einem Schachbrett: Ein jäher Schreck durchzuckte Pater Mooney, als er erkannte, daß es Petrovskis purpur- und goldfarbenes Brett war. Das Zimmer wurde von einer verschwenderischen Anzahl Kerzen beleuchtet, die in der voranschreitenden Abenddämmerung flackernde Schatten an die Wände warfen. Pater Mooney durchschritt das Arbeitszimmer und schaute auf die mißgebildeten Spielfiguren hinab. Sie waren sogar noch grausiger als die mentalen Bilder, die Hughes’ Erzählung in seiner Phantasie hervorgerufen hatte. Die weißen Figuren
entstammten einem gewöhnlichen modernen Spiel. Pater Mooney ließ seine Finger über die Stoppuhr gleiten. „Setzen Sie sich und spielen Sie, Vater“, japste Hughes. Seine Worte unterbrachen Pater Mooneys Gedankengang. Konnte es wirklich Petrovski sein, der da zu ihm sprach? Der Priester bemerkte, daß er einen starken, gutturalen russischen Akzent angenommen hatte. Es schien, als liefe alles unausweichlich auf eine Revanche zwischen ihm und dem Russen hinaus. Aber warum? Die wahrscheinlichste Erklärung war zugleich die haarsträubendste. Damals waren doch diese Gerüchte über Petrovskis Interesse am Okkulten umgegangen. Es gab Leute, die geglaubt hatten, daß Petrovski einen Weg gefunden hatte, sich die Mächte des Qlippoth zunutze zu machen – jener umgekehrten Struktur des Universums in der Magie der Kabbala. Wahrscheinlich verlieh das dem Schwarzen einen beinah unanfechtbaren Spielvorteil über das Brett. Die Gerüchte hatten gesagt, daß Petrovski so weit gegangen war, sein eigenes Schachspiel, auf diesem Arkanum basierendes Schachspiel zu erschaffen. Aber der Russe war tot, oder nicht? „Spielen Sie“, sagte die Stimme. Pater Mooney beugte sich über das Brett, begutachtete es zum fünften Mal und warf dann einen Blick auf seine Uhr. Wenn er so langsam weiterspielte, würde er das Spiel durch Abbruch verwirken. Sein Mund war so trocken, daß es schmerzte, und er sehnte sich nach einem Glas kühlen Wassers. Er wagte es nicht, das Gesicht seines Gegners noch einmal anzusehen. Er hatte diesen Fehler bereits gemacht. Er dankte Gott dafür, daß Kerzen anstelle von elektrischem Licht das Zimmer erhellten und das schemenhafte Grauen auf der anderen Seite des Spielbretts nur undeutlich zu sehen war. In Petrovskis Augen lag ein wölfisches Leuchten und ein
Hohnlächeln auf seinen Lippen, während er spielte, dem fortgesetzten, gequälten Pfeifen seiner Lungen zum Trotz. Das Spiel lief sehr schlecht für den Priester. Und doch spielte er zweifelsohne die beste Schachpartie seines Lebens. Seine facettenreiche Strategie war sogar noch brillanter als diejenige, die er vor all den Jahren gebraucht hatte, um Petrovski zu schlagen. Aber sein Gegner spielte mit herablassendem Tempo und voller Kraft. Er ließ Pater Mooneys Züge aussehen wie die Stümperei eines Anfängers. Pater Mooney sah nach, wie viele Minuten verstrichen waren, und schob seine Königin vorwärts. Er stoppte die Uhr auf seiner Seite. Petrovski machte augenblicklich einen Gegenzug, und der Priester mußte zu seinem Entsetzen erkennen, daß er das Spiel verlieren würde. Pater Mooney zog erneut und schob das absolute Desaster nur dadurch hinaus, daß er einen seiner Läufer und dazu die Königin opferte. Natürlich konnte er nicht aufgeben. Aber im Augenblick wankte er am Rande des Abgrunds. Er spürte, wie seine Konzentration nachließ. Das pfeifende Atmen von Petrovskis Lungen wurde lauter. Pater Mooney fand keinen Ausweg. Er saß da und starrte auf das Brett. Seine Uhr tickte immer weiter. Seine Zeit war quasi um. Jeder mögliche Gegenzug schien unentrinnbar auf den Sieg von Schwarz hinauszulaufen. Die Lage sah absolut hoffnungslos aus. In seiner Verzweiflung fühlte der Priester, wie er vom Glauben abfiel. Er begann zu glauben, daß sein Annehmen der Priesterwürde nichts als Heuchelei gewesen war. Es schien nur eine schwache Rechtfertigung dafür zu sein, daß er unfähig war, eine sinnvolle Beziehung mit einer Frau einzugehen. Er war ein impotenter, verängstigter alter Pharisäer. Ausgehöhlt und voll von Furcht.
Plötzlich dachte er an all die Menschen, die überall auf der Welt in genau diesem Augenblick wie Kerzenflammen ausgelöscht wurden. Die, welche allein in Krankenhausbetten starben; oder zusammengekrümmt neben schmutzigen Spritzen; auf Straßen, beschmiert mit ihrem eigenen Blut und Eingeweiden; oder im strahlenden Sonnenschein, mit leeren Bäuchen; in den Ozeanen, die Lungen gefüllt mit Meerwasser; oder mit Messerwunden in stinkenden Hintergassen; und all die, welche einfach so dahinschwanden, Tag für Tag ein bißchen mehr, in den Fängen eines unerträglichen Gefühls der Einsamkeit, ohne Absolution und den Gott verfluchend, an den sie nicht glaubten und der sie nicht aus ihrer Qual erlösen konnte. Aber dann bewegte Pater Mooney blitzschnell seinen verbliebenen Läufer und schob ihn in gewaltigem, diagonalem Zug triumphierend quer über das Brett. „Schachmatt in drei Zügen!“ schrie er. Sein Gegner heulte auf, starrte auf das Brett und warf alle Spielfiguren durcheinander. In der flackernden Dunkelheit ging eine Wandlung mit ihm vor. Die Gestalt Mooney gegenüber krümmte den Rücken und reckte sich, so wie eine riesige Katze es tun würde, wenn sie aus tiefem Schlaf erwachte. Aber das Recken ging immer weiter, bis der Körper länger wurde und sich über seine natürlichen Grenzen hinaus verzerrte. Das asthmatische Atmen war jetzt so laut wie Brecher, die gegen Felsen donnern, und das Ding streckte klauenbewehrte Hände gegen Pater Mooney aus. Die Kerzen flackerten unsicher. Schließlich erloschen sie, und die heulende Gestalt sprang ihn in der Finsternis an. Leonard Hughes erwachte mit einem wonniglichen Gefühl der Erleichterung. Ihm war, als sei er unvermittelt von einer qualvollen Krankheit genesen. Er wußte auf der Stelle, daß das Ding – was auch immer ihn besessen hatte – fort war; er war
wieder er selbst. Doch war eine anhaftende Spur der Erinnerung an jene Kreatur in seinem Hirn zurückgeblieben, ein Gestank von Schwefel, der hinter ihr herwehte. Er erhob sich und tastete sich zu der nächststehenden der Kerzen vor, steckte sie an und spähte im Zimmer umher. Das Schachbrett war eine geschwärzte, verbrannte Masse. Und auf dem Boden – ein schlaffer Haufen, den Kopf in einem schrecklichen Winkel zurückgebogen – lag der Leichnam von Pater Mooney. Sein Körper schien im Zimmer hin- und hergeschleudert worden zu sein. Wie eine Fetzenpuppe in der Gewalt eines zornigen Kindes. Hughes beugte sich über ihn und musterte sein Gesicht. Ihm war keine Spur von Gewalteinwirkung anzusehen. Dann, gerade bevor sich die letzte Erinnerung der Bestie endgültig auflöste, entsann er sich ihrer fürchterlichen Wut darüber, das Spiel verloren zu haben. Sie hatte – zu spät – bemerkt, daß Pater Mooney seinen Läufer auf ein Feld gesetzt hatte, das er nur durch Mogeln erreicht haben konnte.
MOMENTAUFNAHMEN DES SCHRECKENS
„Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war.“ Psalm 139
Das Bürohochhaus faszinierte mich schon seit langem. Das Gebäude beherrschte den Himmel der Gegend um Euston/London und bestand aus siebenundzwanzig Stockwerken mit einer Fassade aus dunkelgrünem Glas. Ich pflegte es von den Fenstern von Barlow and Barlow Associates aus anzustarren, dem Architektenbüro, wo ich seit fünf Jahren angestellt war. Während dieser Zeit hatte ich zugesehen, wie der Turm allmählich aufgegeben wurde und ihn eine Firma nach der anderen verließ. Der wirtschaftliche Erfolg schien vor jedem Unternehmen zu fliehen, das dort ansässig war. Eine zunehmende Anzahl von Fenstern blieb abends dunkel. Anhand der Informationen, die ich zusammentragen konnte, klagten die dort Arbeitenden über allgemeines Unwohlsein und fortschreitende Demoralisierung der Belegschaft. Ich erfuhr, daß verschiedentliche Gesundheits- und Sicherheits-Checks durchgeführt wurden, um dem Problem auf den Grund zu kommen, aber daß diese zu keinem bestimmten Ergebnis geführt hatten. Es kursierten Gerüchte, daß über die Klimaanlage irgendeine Abart der Legionärskrankheit verbreitet würde, aber umfangreiche Tests erbrachten keine Spur davon. Offiziell schob man die Schuld einer psychosomatischen Tendenz zu, die ohne Unterschied alle im Turm Arbeitenden befiel. Diese Schlußfolgerung befriedigte niemanden richtig und wurde nicht wirklich als Grund für die nebulöse Degeneration der Belegschaft und des Managements
akzeptiert. Beide Seiten hielten lieber zäh an ihren eigenen Theorien über die wahre Ursache des Problems fest. Schließlich sah ich, daß offenbar die letzte Firma ausgezogen war und die Fenster der einzigen Etage, die während der dunklen Stunden beleuchtet gewesen war, nun genauso schwarz und Teil der Nacht waren wie die der anderen. Vor meinem geistigen Auge sah ich die verlassenen und stillen Räume des Gebäudes, die leeren Büros und Labyrinthe frostiger Korridore. Die Leere des Bürohochhauses stand in krassem Gegensatz zu der von Menschen wimmelnden Metropole, die es umgab, wo die Straßen und Häuser von durcheinanderwuselnden Horden überlaufen waren. Ich begann zu glauben, daß der Büroturm eine tiefgreifende Wirkung auf die Ambitionen ausübte, die ich in bezug auf meine künftigen Arbeiten hegte. Meine früheren architektonischen Entwürfe, die ich im Auftrag der Firma geschaffen hatte, gaben mir nur wenig Befriedigung. Meine realisierten Projekte bestanden nur aus unscheinbaren Wohnhäusern, Nutzgebäuden der Versorgungsindustrie und einem unbedeutenden Busdepot im Norden des Landes. Ich sehnte mich nach der Gelegenheit, auf einer höheren Ebene zu arbeiten; an einer Konstruktion, die man kilometerweit sehen konnte, meine eigene Spitze im Diadem der Bürohochhäuser, die über die Stadt verteilt standen. Es war mein Ehrgeiz, Konstrukteur eines weiteren Turms zu sein, der denselben harten Eindruck hinterließ: Hoch über die menschenwimmelnden Straßen aufragend, nur vom Himmel eingerahmt, den Blick dazu einladend, sich von den geraden Linien nach oben leiten zu lassen. In müßigen Augenblicken zeichnete ich Entwürfe für meinen eigenen Turm, und unabänderlich spiegelte sein Äußeres das Gebäude wider, das den Großteil des Tages lang meine Aussicht beherrschte.
Ich redete mir ein, daß mein sehnlicher Wunsch, im Innern des Büroturms umherzustreifen, nur dem Zweck meines Hobby-Architekturprojekts diente. Aber es war vielleicht auch das Verlangen nach Abgeschiedenheit, das mich dorthin zog. Sicher war ich mir der wachsenden Anziehung bewußt, die immer stärker wurde, je mehr der Fenster des Hochhauses abends dunkel blieben, und so – nunmehr vollständig verlassen – erschien es mir wie ein Höhepunkt schrecklicher Schönheit inmitten des unerträglichen Gewühls stupider menschlicher Aktivität. Ich betrachtete es als eine vertikale Einöde, von der Außenwelt abgeschnitten; eine Region, frei von jeglicher Unruhe. Einige Tage, nachdem die Lichter des letzten besetzten Stockwerks für immer erloschen waren, versuchte ich, mir Einlaß zum Büroturm zu verschaffen. Ich hatte meine Arbeit im Architektenbüro für diesen Tag beendet und ging durch die Straßen, die zwischen meinem Arbeitsplatz und meinem Ziel lagen. Sollte ich einem draußen patrouillierenden Wachmann begegnen, so hoffte ich, daß es mir gelänge, meinen Vorteil daraus zu ziehen, indem ich ihn bestach, damit er mir Eintritt zum Innern des Gebäudes verschaffte. Während ich näher herankam, verdrehte ich ab und zu den Hals, um zu dem gigantischen Monolithen aufzusehen, der den Nachthimmel verdeckte. Aber als ich mein Ziel schließlich erreichte, sah ich mich gezwungen, die Tatsache zu akzeptieren, daß es so gut wie unmöglich war hineinzugelangen. Das Foyer war mit Brettern vernagelt und mit Vorhängeschlössern versehen und das Glas der untersten zwei Etagen mit Wellblechplatten abgedeckt worden. Als ich erneut zu den dunklen Fenstern über dieser Barriere aufblickte, glaubte ich kurz ein bleiches, weißes Gesicht in einem davon zu sehen, aber mir wurde schnell bewußt, daß es sich um eine Sinnestäuschung gehandelt haben mußte. Das gesamte
Gebäude war offensichtlich verlassen, und es gab keinen Grund, ja nicht einmal die Möglichkeit für jemanden, dort zu sein. Eine Zeitlang wanderte ich ziellos um das Gelände herum und über den menschenleeren Platz mit den Betonloggias und unbenutzten Parkgelegenheiten, auf dem das Gebäude stand. Irgendwann gab ich dann aber mein hoffnungsloses Ansinnen auf und machte mich auf den Heimweg zu meinem Appartement auf der anderen Seite der Stadt. Noch Wochen später kehrte ich tagsüber in das Reich meiner Phantasie zurück und träumte bei Nacht davon, wie ich die verlorenen Flure und leeren Büros, die Kantinen, Treppen, Lagerräume und Waschräume betrat. Während meiner Mittagspausen in der Firma, wo ich arbeitete, fertigte ich Skizzen des Büroturms an und zeichnete seine Winkel und Linien detailgetreu nach. Meine Faszination für den Turm machte meine Kollegen neugierig, und ein paar von ihnen baten mich sogar, ihn durch den Feldstecher ansehen zu dürfen, den ich mir gekauft hatte, um das Gebäude genauer aus der Ferne betrachten zu können. Ich empfand Ärger bei ihrem Interesse, da ich glaubte, daß nur ich allein der herrlichen Eintönigkeit seines Designs und der trostlosen Verlassenheit, die in ihm herrschte, die richtige Wertschätzung entgegenbringen konnte. Ich hatte schon lange das Gefühl gehabt, daß die Leute, die mich kannten, mir mit gewissem Argwohn begegneten. Ihre Haltung schien hauptsächlich von ihrem Wissen um den Gedächtnisverlust herzurühren, den ich vor fünf Jahren erlitten hatte. Meine erste wirkliche Erinnerung war die, daß ich ziellos durch die Straßen der Stadt irrte und nicht in der Lage war, irgendjemandem zu sagen, wer ich war oder woher ich kam. Persönliche Erinnerungen an mein vergangenes Leben stellten
sich nicht wieder ein, und meine neue Identität wurde hernach Stück für Stück konstruiert. Eine Konsequenz meines Gedächtnisschwundes war, daß ich für ein Jahr Gegenstand polizeilicher Aufmerksamkeit wurde; und was ihrem Verdacht Vorschub leistete, war die Tatsache, daß man meine Gesichtszüge radikal verändert hatte. Den offensichtlichen Beweis für plastische Chirurgie lieferten die Narben, die ich hatte, auch wenn meine glatten, linienlosen Fingerabdrücke die Polizei der Möglichkeit beraubten, mich als irgendeinen Kriminellen oder Verdächtigen zu identifizieren, den sie in ihren Akten hatten. Daß ich einem Angriff oder Unfall zum Opfer gefallen sein mußte, war unverkennbar, denn meine Haare und Zähne waren mit den Wurzeln ausgerissen, und ich war gezwungen, auf künstlichen Ersatz für sie zurückzugreifen. Somit boten eventuelle zahnärztliche Aufzeichnungen ebensowenig Nutzen wie meine Fingerabdrücke bei der Rekonstruktion meiner früheren Identität. Schließlich mußte die Polizei einräumen, daß es keinen triftigen Grund gab, mich weiter unter Beobachtung zu halten. Das war der Augenblick, in dem ich versuchte, mein Leben noch einmal ganz neu zu beginnen. Alle freien Arbeitsstellen, auf die ich mich beworben hatte, waren in Architekturbüros, und ich fühlte einen unerklärlichen Widerwillen dagegen, diese Art von Arbeit anzunehmen. Nach Monaten ergebnisloser Vorstellungsgespräche willigten die Architekten Barlow and Barlow Associates ein, mich als Praktikanten auf Probezeit für ein sehr niedriges Gehalt zu übernehmen. Doch es wurde bald offenkundig, daß ich mit den Voraussetzungen schon vertraut war, die diese Position erforderte. In der Tat begleitete mich bei der Arbeit beinahe unablässig eine Empfindung des déjà vu, und spezielles Fachwissen, von dem ich nicht wußte, daß ich es besaß, kam mir wieder zu Bewußtsein. Die Konsequenz
davon war, daß ich rasch in der Hierarchie der Firma aufstieg und bald mit höheren Projekten betraut wurde, auch wenn ihr stark begrenzter Spielraum mir keine wirkliche Befriedigung brachte. Eines Nachmittags wurde mir auf dem Rückweg von einem Café, wo ich mir in der Mittagspause ein Sandwich gekauft hatte, ein Flugblatt ausgehändigt. Ich war gerade um eine hektische Ecke am U-Bahnhof gebogen, als jemand einen Schritt auf mich zutrat und mir ein Stück Papier in die Hand drückte. Ich hatte automatisch zugegriffen, aber als ich es näher betrachtete, war ich völlig perplex: Das Reklameblatt trug den Namen Golmi, in Fettbuchstaben quer über den oberen Rand gedruckt. Das war ein Name, den ich gut kannte. Ich schaute über meine Schulter zurück, um den Mann ausfindig zu machen, der die Flyer herumreichte, aber er war in der Menschenmenge verschwunden. Ich wandte mich wieder in die Richtung, aus der ich gerade gekommen war, und drängelte mich zwischen den Leuten durch, die mir entgegenkamen, bis ich an der Stelle war, wo man mir den Flyer gegeben hatte – genau vor dem Bahnhof. Ich konnte niemanden sehen, der Flugblätter verteilte. Da waren ein in eine Decke gewickelter Obdachloser, der um Kleingeld bettelte, und eine Frau, die Gratis-Stadtmagazine verteilte, aber keine Spur von dem Gesuchten. Dann erhaschte ich aus dem Augenwinkel einen Blick auf einen steifrückigen Mann, der unbeholfen auf die Fahrkartensperren im Bahnhof zusteuerte und sich halb umwandte, um mich hinter dunklen Gläsern hervor zu mustern. Unsere Blicke trafen sich kurz, und obwohl ich seine Augen hinter der Brille nicht ausmachen konnte, fiel mir doch ganz unvermittelt auf, wie merkwürdig seine Haut mit ihrem plastikartigen Glanz war. Kaum zurück in meinem Büro, sah ich mir das Flugblatt genauer an. Es handelte sich um eine Einladung zu einer
Kunstinstallation, die schon länger in den obersten Stockwerken des verlassenen Büroturms untergebracht war. Diese Ausstellung, geschaffen von dem Künstler Eleazer Golmi, lief offenbar bereits seit unbestimmter Zeit, aber ich hatte nichts davon gewußt. Das Projekt trug den Titel Momentaufnahmen des Schreckens, und das Faltblatt tat kund, daß sich die Besucher eines auralen und visuellen Kunstgenusses von „unendlicher Klaustrophobie“ erfreuen würden. Golmis Werk war mir gut bekannt, wenngleich nicht im Kontext der Kunstwelt. Er war der Architekt, der den Büroturm gebaut hatte, der seine Ausstellung beherbergte. Aufgrund meines Interesses an seinem Gebäude hatte ich verschiedentlich den Versuch unternommen, Golmi ausfindig zu machen, um ihm meine Wertschätzung seiner Entwürfe auszudrücken; aber man sagte mir, er arbeite nicht mehr in dem Beruf und sei nach einer ernsten persönlichen Krise vor zehn Jahren quasi „untergetaucht“. Die Leute, mit denen ich über Golmi sprach, hatten mir erzählt, daß eine Art Nervenzusammenbruch der Grund für sein Verschwinden gewesen war. Aber jetzt sah es so aus, als sei er zurückgekehrt und führe sich als Konzeptkünstler∗ wieder in die Gesellschaft ein. In dem Flugblatt stand, die Installation sei vorübergehend geschlossen gewesen, weil einige Ergänzungen zu dem Werk hinzugefügt worden waren, aber sie sollte am letzten Tag der kommenden Woche wiedereröffnet werden. Einlaß war an der Tür, ohne Vorbestellung.
Als ich am entsprechenden Abend am Büroturm ankam, sah ich, daß man die Vorhängeschlösser entfernt, die Abdeckungen ∗
„Conceptual Art“ = Konzeptkunst, eine Kunstrichtung; Anm. der Übersetzerin
von den Fenstern abgenommen und das Foyer geöffnet hatte. Ein Plakat auf einer kleinen Anschlagtafel neben dem Eingang warb für die Ausstellung. Das Plakat hatte einen grellgelben Hintergrund mit schwarzem Druck in gotischen Lettern. In der Mitte befand sich eine grobkörnige Fotografie des Künstlers. Sie zeigte einen circa fünfzigjährigen Mann mit grauem Haar. Er besaß eine hohe Stirn und dunkle Augen, deren eines – das rechte – beträchtlich größer als das andere zu sein schien, was dem Gesicht ein seltsam asymmetrisches Aussehen verlieh. Aber auch abgesehen von dieser Eigenheit war das Gesicht auf dem Foto recht bizarr. Sein Ausdruck erinnerte mich an jene starren Mienen, die man auf Daguerrotypien aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sieht, bei denen der Betreffende vier oder fünf Minuten lang absolut stillhalten mußte, weil der Verschluß der Kamera so lange zur Belichtung offenblieb. Ich schaute einmal wieder an Golmis Monolithen hoch, dessen Gegenwart die Leere repräsentierte, in die einzutauchen ich mich sehnte. Die Tatsache, daß der Entwurf des Gebäudes, das er als Kulisse für seine Kunstinstallation gewählt hatte, von Golmi selbst stammte, ließ vermuten, daß auch er das gespenstische Potential des Büroturms erkannt hatte, und daß auch er die verlassenen Orte in der übervölkerten Metropole zu schätzen wußte. Deutete etwa nicht der Umstand darauf hin, daß er seine Installation weiter dort ausstellte, während der Büroturm von allen Ansässigen verlassen wurde? Ich fragte mich, ob es sich vielleicht so verhalten haben mochte, daß ihm schon während seiner Tage als Architekt eine dunkle Ahnung über die finale Bestimmung seines Projektes dämmerte: ein Heim für seinen eigenen, höchstpersönlichen Alptraum zu errichten, indem er ein Bauwerk schuf, wo menschliche Wesen nicht funktionieren konnten. Konnte die Blaupause mit ihren komplizierten Winkeln und Linien, aus der sein Büroturm entstanden war, von ihm zu dem Zweck ersonnen worden sein,
das Unwohlsein zu verursachen, an dem die dort Arbeitenden litten? Waren die auf dem Plakat erwähnten Schaufensterpuppen in seinem jüngsten Projekt, der Kunstinstallation, vielleicht Metaphern für die im inneren Vakuum des Büroturms befindlichen Menschen? Ich dachte an diese künstlichen Nachahmungen des menschlichen Körpers: gedankenlos, leer; Form ohne Inhalt; Augen, die starren, aber nicht sehen; Hände, die sich ausstrecken, aber nicht zupacken; Münder, zur Lauterzeugung geformt, aber der Sprache nicht mächtig. Ich betrat das Foyer und begab mich zu einem einzelnen Tisch, wo sich nichts weiter befand als ein Schild, auf dem stand, daß die Installation in der sechsundzwanzigsten Etage begann und die Bezahlung am Schluß fällig war, wenn ich alles gesehen hatte. Neben dem Schild befand sich eine Auflistung der Eintrittszeiten. Ich sah auf meiner Armbanduhr, daß mein eigener Termin in fünf Minuten angesetzt war. Der letzte Besucher hatte das Gästebuch fünf Minuten zuvor abgezeichnet und dabei genau die Zeit festgehalten. Es schien, daß der Einlaß gestaffelt wurde, um die für jeden Besucher erforderliche Isolation zu gewährleisten. Zum anberaumten Zeitpunkt zeichnete ich getreulich das Gästebuch ab, ging hinüber zu einem der Aufzüge und drückte den Knopf, um den Lift zu rufen. Ein Schild wies darauf hin, dies sei der Aufzug, den man zum Besuch der Ausstellung nehmen solle. Ich sah zu, wie die Nummern der Anzeige über der schmalen Tür von sechsundzwanzig abwärts aufleuchteten, während die Liftkabine sank. Während ich wartete, betrachtete ich die Leerräume, von denen man die Holzschilder abgerissen hatte, die früher die Namen der im Turm ansässigen Firmen trugen. Als der Aufzug hielt, öffnete ich die äußere Tür und zog das Scherengitter zur Seite, das mich von der holzgetäfelten
Kabine trennte. Das Innere war nicht groß, es bot Raum für höchstens vier Menschen. Die Rückwand bestand aus einem wandhohen Spiegel. Als ich hineinschaute, erschrak ich ziemlich über mein ängstliches Gesicht. Meine Augen schienen wild hinter meinen Brillengläsern hervorzustarren, und meine Wangen waren bleich und eingefallen vor Anspannung. Der Straßenanzug, den ich bei der Arbeit zu tragen hatte, wirkte irgendwie dazu passend, ebenso die Aktentasche, die ich bei mir trug, denn ich war direkt aus dem Büro hierhergekommen und hatte keine Gelegenheit gehabt, mich umzuziehen. Immer noch erfüllte mich Unbehagen bei dem Gedanken, daß die Sterilität und Leere des Büroturms von einer Kunstausstellung modifiziert wurde. Schlimmstenfalls, so dachte ich, würde ich vielleicht die Ausstellung umgehen und die Regionen erkunden können, die von ihr nicht beeinträchtigt wurden. Zweifelsohne leistete diese Unsicherheit dem Gefühl der Spannung noch Vorschub, das in mir aufwallte. Die Kabine rumpelte durch den Aufzugschacht höher, und Etage um Etage zog vorüber, bis ich den sechsundzwanzigsten Stock erreichte, wo die Ausstellung begann. Ich zog das Gitter zurück, öffnete die Außentür und betrat einen langen, nur düster beleuchteten Flur. Der Fußboden war mit grünem Linoleum bedeckt. Es rollte sich vor Alter auf, wo es die Wände berührte. Stellenweise hatte es sich ganz gelöst und ließ den fleckigen Beton sehen, der darunter lag. Außerdem sah ich Löcher in der Zwischendecke, wo die Styropordeckenfliesen heruntergefallen waren und Kabel und Drähte heraushingen. Zu meiner Linken befand sich eine Tür, und ich trat aus purer Neugier ein und kam in eine Toilette, wo dicker Staub lag. Die Kabinentüren standen offen, die Toilettenschüsseln waren zerbrochen, Bruchstücke des Porzellans lagen verstreut auf dem Boden herum. Ich trat wieder auf den Flur hinaus und sah
ein Stück weiter ein Hinweisschild, in welche Richtung ich gehen sollte. Ich bog nach rechts ab. Bis zu diesem Punkt konnte ich keine Spur der Kunstausstellung entdecken, denn dieser Korridor schien mir genau wie der erste. Doch fühlte ich langsam eine Empfindung der Leere über mich kriechen, meine Lebensgeister abtöten und die Anspannung ersetzen, die ich vorher empfunden hatte. Die Isolation war vollkommen. Ich fühlte mich aufs äußerste allein, und während ich durch die Grenzen dieser künstlichen Leere schritt, wurde die Atmosphäre von Verwahrlosung und Verfall immer stärker, beeinflußte meinen Geist und näherte ihn immer mehr der Abgestumpftheit an, nach der ich mich sehnte. Und dann glaubte ich wie aus weiter Ferne ein Geräusch zu hören, das wie das weiße Rauschen klang, das man auf den Frequenzen zwischen den Fernsehsendern findet. Es behielt die gleiche Lautstärke bei, als ich weiterging, und ich konnte seine Quelle nicht entdecken, obgleich ich vermutete, daß es durch versteckte Lautsprecher ausgestrahlt wurde. Als ich durch die Fenster zu meiner Linken blickte, sah ich das weite Panorama der Stadt unter mir, ihre funkelnden orangefarbenen Straßenbeleuchtungskörper, die so weit von dieser Enklave der Verlassenheit entfernt zu sein schienen. Im Innern des Gebäudes herrschte ewiges Zwielicht, grau und unbestimmt. Zu meiner Rechten lag ein weitläufiges Büro, und ich betrat es. Der Raum war vollkommen leer, und auf dem dünnen Teppich waren Abdrücke zu sehen, wo früher Schreibtische, Stühle und Aktenschränke gestanden haben mochten. Ich ging weiter. Inzwischen konnte ich das unablässige Rauschen der atmosphärischen Störungen im Hintergrund nur noch bei bewußter Anstrengung wahrnehmen, durch die Gewöhnung war es unterschwellig geworden.
Als ich durch den nächsten Flur ging, sah ich ein Schild. Es war ein ausgefranstes Stück Pappe mit Buchstaben, die wie von Kinderhand darauf gekritzelt waren. Dort standen die Worte: „Momentaufnahmen des Schreckens“. Dann stieß ich auf die erste der Schaufensterpuppen. Im Dämmerlicht des Korridors und aus der Ferne hatte ich sie ursprünglich für einen Aufseher gehalten, aber ihre völlige Reglosigkeit ließ etwas anderes vermuten. Als ich näher an die Puppe herankam, fiel mir auf, daß das Hintergrundrauschen eine neue Facette dazugewonnen hatte. Diese Veränderung machte mich wieder auf das Statikgeräusch aufmerksam. Da waren jetzt definitiv auch Worte, wenngleich abgehackt und unverständlich, wie eine durch schlechten Radioempfang verzerrte Ansprache. Ich konnte die Worte nicht unterscheiden, aber die Stimme klang so, als spräche jemand unter schrecklichen Qualen, unzusammenhängend vor Schmerz. Ich glaubte, eines der Worte wäre vielleicht „lebendig!“ und würde immer wieder und wieder gekrächzt, aber ich konnte es nicht mit Gewißheit sagen. Nun war ich nahe genug herangekommen, um das Gesicht der Schaufensterpuppe zu sehen. Der Künstler hatte damit ein Werk vollbracht, das auf heimtückische Weise beunruhigend wirkte. Das Gesicht war starr – in krasser Panik erstarrt –, wie beim Anblick von besonders Grauenhaftem. Die Arme waren erhoben, wie um eine sich nähernde Bedrohung abzuwehren. Während ich die Puppe anstarrte, fühlte ich mich irgendwie von ihrem Anblick angesteckt, und ich konnte nicht anders, als mir vorzustellen, daß mein eigener Gesichtsausdruck den der Puppe nachahmte. Und ich dachte an den klaffenden, leblosen Mund, der die abgehackten Worte aussprach, die sich noch immer mit dem leisen statischen Hintergrundrauschen vermischten und meinen Geist dem unendlichen Moment der Furcht entgegentrieben, in dem die Puppe erstarrt war.
Das Geräusch erstarb langsam, als ich den staubigen Flur weiter hinunterging, und wurde nach und nach von einem anderen Geräusch ersetzt. Es klang, als raunten Leute leise bei der Büroarbeit miteinander, in irgendeinem nahegelegenen Teil des Gebäudes. Dieses Stimmengemurmel war deutlich wahrnehmbar, und ich konnte das Gefühl nicht loswerden, daß sie sich meiner Gegenwart genau bewußt waren, ja sogar über meine kurz bevorstehende Ankunft sprachen, obwohl allein diese Vorstellung schon absurd war. Ich begann mir nun unwillkürlich selbst zuzumurmeln, und der Klang meiner Stimme bot mir einen schwachen Trost, auch wenn ihre leise, gedämpfte Lautstärke den Beweis für meine Beklommenheit offen zeigte, während ich mich dem Ursprung des Geräusches näherte. An der nächsten Biegung befand sich ein Büro, das auf den ersten Blick noch in Gebrauch zu sein schien, denn es war im Unterschied zum Rest des sechsundzwanzigsten Stockwerks hell erleuchtet. Ich hielt einen Augenblick lang inne, getäuscht von der Illusion, bis ich erkannte, daß die Gestalten im Büro völlig reglos waren. Ich betrat den Raum und hatte den irritierenden Eindruck, daß sie ihre Aktivitäten in dem Augenblick eingestellt hatten, als ich den Blick auf sie richtete. Das Geräusch ihrer Tätigkeit, besonders das Gemurmel, das ich mit zunehmender Deutlichkeit gehört hatte, schien genau im selben Moment ebenfalls verstummt zu sein. Ich redete mir ein, daß ein versteckter Bewegungsmelder mich aufgespürt und einfach nur eine Bandaufnahme der Stimmen angehalten hatte, die zur Installation gehörte; aber der irrationale Teil meines Geistes hielt an der Vorstellung fest, daß ich beobachtet und – schlimmer noch – auf unbestimmte Art kontrolliert wurde.
Vier Schaufensterpuppen besetzten das Büro. Alle von ihnen – bis auf eine – saßen gebeugt vor toten Computerbildschirmen. Ihre Hände lagen auf den Tastaturen, als wären sie mitten in der Dateneingabe unterbrochen worden. Die Puppen trugen Straßenanzüge, die Zeugnis ihres hohen Alters und ihrer Abgetragenheit ablegten. Die Ellbogen und Manschetten waren ausgefranst, und Flecken häßlicher Ausgebleichtheit zogen sich über den Nadelstreifenstoff. Die Schaufensterpuppen schienen zu lächeln, aber als ich mich näherte, um sie genauer in Augenschein zu nehmen, sah ich, daß dies kein freundliches Lächeln war, sondern vielmehr so gestaltet, daß es das Maulsperre-Grinsen von Wahnsinnigen nachahmte, welches bar jeder Fröhlichkeit oder Wärme ist. Die einzige aufrechtstehende Schaufensterpuppe war – wie die anderen – in einen ähnlich schäbigen Anzug gekleidet, aber ihr Gesichtsausdruck war vollkommen anders. Die Augen quollen hervor, und der Mund stand in einer Grimasse der Qual offen. Viel weiter offen, als ein Mund aus Fleisch und Bein das wirklich zu tun vermochte; eine Grimasse, die buchstäblich über die ganze Breite des Plastikgesichts reichte. Der Körper war in einer Verrenkung der Agonie zur Seite gekrümmt. Dieses zutiefst deformierte Ding schien zu dem einzigen Zweck geschaffen worden zu sein, kein anderes Gefühl als Abscheu in jedem Betrachter hervorzurufen. Als ich dieses Büro verlassen hatte und den Flur weiter hinunterging, setzten die Geräusche der Tätigkeit hinter mir wieder ein, verstohlen zunächst, doch unverfrorener mit jedem Schritt, den ich mich weiter von der Quelle entfernte. Ich konnte nicht anders, als einen Blick zurückzuwerfen, denn ich hatte die irrationale Angst, daß die aufrechtstehende Schaufensterpuppe unter spasmischen Zuckungen zum Leben erwachen und hinter mir herkommen könnte. Ich konnte dieses Bild nicht aus meinen Gedanken verbannen.
Dieses ganze Erlebnis entsprach nicht meiner ursprünglichen Erwartung. Die Schaufensterpuppen schienen nicht die Leere zu symbolisieren, die ich mir vorgestellt hatte. Sie schienen vielmehr für einen größeren Abgrund zu stehen, der noch weit dahinter lag; eine Einöde, wo die Gedanken nicht ersterben, sondern endlos wiederholt werden, wo der Wahnsinn unausgesetzt und ohne Ende ist. Ich hatte inzwischen eine Treppe zum nächsten Stock und einen Zettel erreicht, auf dem stand, daß man hinaufsteigen sollte. Die Wände waren hier in einem schockierenden Zustand, zerfressen von Rissen und Flecken, wo der sepiafarbene Anstrich abgeblättert war. Ein Luftzug, der von oben herabdrang, trug den unverwechselbaren Geruch von Schimmel mit sich. Hier auf der Treppe wurde das Geräusch der Bewegungen vor mir immer lauter, und ich konnte mich kaum zum Aufstieg durchringen. Die Echos drangen durch eine Tür direkt zu Haupten der Treppe, und jetzt, da der Ton deutlicher war, glaubte ich mehrere Stimmen zu unterscheiden. Diese waren jedoch nicht wie das leise Raunen, das ich vorhin gehört hatte. Sie waren viel klarer hörbar und unternahmen keinerlei Versuch, sich zu verbergen. Sie erfüllten mich mit Furcht. Diese Stimmen hatten einen atemlosen und hohlen Klang, so als würden die unverständlichen Worte, die sie sprachen, von mangelhaften Nachbildungen des Menschen hervorgebracht; und sie sprachen mit einem Akzent, der ihre Absicht der Imitation verriet. Ich dachte an Lippen, die nicht zum Sprechen geschaffen waren, und wie sie bei dem vergeblichen Versuch der Kommunikation qualvoll Worte krächzten, behindert durch ihre Starrheit. Ich stand dort im Treppenhaus – wie es schien, für Stunden. Ob es die entsetzliche Atmosphäre war, die auf mein Gehirn einwirkte, oder ob die Geräusche echt waren, wußte ich nicht zu sagen; aber ich hörte unbeholfene Schritte, die sich der
Treppe auf der unteren Etage näherten. Etwas taumelte näher und schleppte dabei die Glieder unbeholfen wie ein Betrunkener nach. Dieses Geräusch versetzte mich in Schrecken, und ich raste auf die vor mir liegende Tür zu und durch sie hindurch, ohne einen anderen Gedanken als den an Flucht. Als ich auf der anderen Seite der Tür war, verebbte der Klang der abgehackten Stimmen. Ich stand in einem Flur mit dem Rücken zur Tür, zitterte und lauschte auf Bewegungen hinter ihr. Da waren keine. Und ich fragte mich (falls ich es wagen würde, die Tür zu öffnen), ob da eine zusammengesackte Gestalt auf der Treppe liegen würde, eine grauenhaft vertraute Gestalt, jetzt wieder leblos – oder ob sie mit triumphierendem Blick dort stehen würde, den unmöglich großen Mund zu dieser Grimasse verzerrt, die von Ohr zu Ohr reichte, und die Arme ausgestreckt, wie um mich in tödlicher Umarmung zu umklammern? Doch ich hörte nichts mehr, und so ging ich weiter, da ich wußte, daß ich es nicht über mich bringen würde, zurückzugehen. Wenn jetzt auch alles ruhig war, der Geruch des Schimmels war überwältigend. Er wucherte überall in diesem Korridor. Da waren große Flecken an den bloßen Wänden, sogar am Boden auf dem abgetretenen Linoleum. Auf einem Hinweisschild stand, man solle sich links halten, und ich fand mich in einem verlassenen Büro wieder. Auf einem Schreibtisch lagen einige kopierte Blätter Papier, beschriftet mit handgeschriebenen Worten. Die Neonbeleuchtung war hier so düster wie überall sonst im Haus, und das machte es zusammen mit der ungelenken Schrift schwierig, das Geschreibsel zu entziffern. Aber ich trug die Blätter zu dem staubigen Fenster hinüber, wo das schwache Licht von draußen das Lesen ein wenig einfacher machte. Das Manuskript schien eine Art Manifest oder Stellungnahme darzustellen, geschrieben von dem Künstler Golmi:
Momentaufnahmen des Schreckens: Eine Kunst-Installation von Eleazer Golmi Diese Kunst-Installation ist eine Einführung in den Schrecken und dient ihrer Konzeption nach zur Erschaffung einer Situation, in der das Individuum direkt Teil seiner Bestimmung wird. Hier spielt man keine Rolle, so wie ein Schauspieler in einem Theaterstück; man ist diese Rolle. Der Künstler selbst darf sich von dieser unabdingbaren Einführung nicht ausnehmen. Damit das Kunstwerk authentisch ist, muß er den Schrecken fühlen, den er erschafft. Die Dich umgebende Ödnis der Räume ist mein eigenes kleines Universum des Schreckens. Und die Schaufensterpuppen sind meine hübschen Schöpfungen, mit denen ich in der Wildnis der Pein spiele, in der Qual eines Augenblicks von alles überragendem Schrecken. Unser Fleisch und Blut stirbt, und mit ihm zusammen stirbt der Geist. Aber imaginiere einen Geist in einem Körper, der nicht sterben kann: ein Körper aus Plastik und Farbe, sorgsam zu einer Momentaufnahme des Schmerzes geformt, des Schreckens, der Krankheit, Verstümmelung, des Wahnsinns oder Verfalls. Die äußere Form spiegelt die innere Qual wider. Und dann stell Dir vor, wie es wohl sein mag, empfindungsfähig und für immer in diesem künstlichen Körper gefangen zu sein. Was für einen Unterschied gibt es zwischen Geist und Materie? Gefangen in einer Schaufensterpuppe, in einer Momentaufnahme des Schreckens, werden beide eins. Der Geist, nunmehr zerfressen von der unaufhörlichen Agonie seines neuen Körpers, welcher ausdrücklich zum
Zwecke des Leidens erschaffen wurde, glaubt, daß dies die einzige Existenz sei, die er je gekannt hat. Plastik und Farbe scheinen ihm realistischer als Fleisch und Blut. Wer vermöchte dann noch zu sagen, welches von beidem künstlich ist? Laß mich mit meinem Dank dafür schließen, daß Du die Wahl getroffen hast, meine Installation zu erleben; dafür, daß Du die Wahl getroffen hast, an meiner hübschen kleinen Vision teilzunehmen, wo Du von Stund an nurmehr durch meine Augen sehen wirst. YHVHE lohim Met. Gott ist tot. Als ich zu Ende gelesen hatte, überwältigte mich die Vorstellung, daß ich im Alptraum eines anderen Menschen gefangen war, wie die Schaufensterpuppen, die ich entdeckt hatte. Diese Idee war natürlich lachhaft. Niemand hatte meine Existenz „erträumt“. Und doch schien dieses Dasein, das ich mir in den vergangenen fünf Jahren zurechtgeschmiedet hatte, in diesem „kleinen Universum des Schreckens“, wie Golmi es nannte, unmittelbar bedroht zu sein. Was war ich schließlich anderes als ein Mann ohne Vergangenheit, ein an Amnesie Leidender, dessen Leben durch einen unbekannten Unfall teilweise ausgelöscht worden war? Ich verließ das Zimmer mitgenommen und angespannt und ging wieder einmal einen verdreckten Korridor entlang. Alle Türen, an denen ich vorbeikam, waren verschlossen, aber viele davon hatten Glasscheiben, und hinter diesen konnte ich weitere Schaufensterpuppen sehen. Manche hatten die Gesichter den Wänden zugewandt und standen in zusammengekrümmter Haltung, wohingegen wieder andere inmitten von Schutt zu Kugeln zusammengerollt waren. Doch war da auch eine Schaufensterpuppe, die man mit dem Gesicht
zur Glasscheibe der Tür gestellt hatte. Sie war grauenhafter als alle, die ich bisher gesehen hatte. Das Gesicht der Puppe – falls man ein dermaßen korrodiertes und unvollkommenes Etwas überhaupt als Gesicht bezeichnen kann – befand sich nahe der Glasscheibe. Der Kopf war zurückgeworfen und die Augen in den Höhlen nach oben verdreht. Alles, was von dem künstlichen Haar noch übrig war, waren ein paar verkohlte Strähnen, die von der entstellten Kopfhaut herabhingen. Die Farbe, die dieses schreckenerregende Antlitz überzog, war verbrannt, das darunterliegende Plastik zernarbt und mit Löchern übersät. Doch war es immer noch möglich, in den Überresten dieser Gesichtszüge das Bewußtsein über das Ausmaß der kreativen Zerstörung zu erkennen, die der Künstler erzielt hatte. Das Ding schien sich der Tatsache bewußt zu sein, daß es zu keinem anderen Zweck als dem des Leidens existierte. Ich wußte, daß dies nicht einfach nur auf meine eigene visuelle Interpretation zurückgeführt werden konnte. Dieses Wissen war verbunden mit einem beängstigenden Gefühl meiner Verwandtschaft mit dem Ding. Je länger ich mich in seiner Gegenwart befand, desto stärker ergriff dieses Gefühl Besitz von mir. Und mir kam der grauenvolle Gedanke, daß mein eigenes Fleisch-Sein vielleicht nur eine Art vorübergehender Gnadenfrist darstellte, ein Zwischenstadium zwischen Flucht und Wiederergreifung. Schließlich wandte ich mich bestürzt ab. Aber ich war weit gekommen und schloß daraus, daß ich nun fast das Ende dieser „Kunstinstallation“ erreicht hatte. Ich bog nach links in einen weiteren Flur ein. An seinem Ende befand sich ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift „Ausgang“. Es gab keinen anderen Weg als den nach vorn, um dieses Erlebnis zu beenden. Als ich auf die Doppeltür am Ende des Flures zuging, spürte ich eine gewisse Steifheit in den
Gliedern, wie beim Einsetzen eines Krampfes, und meine Bewegungen wurden unbeholfener. Ich redete mir ein, daß mich nur die Erschöpfung schwerfälliger machte – daß die grauenhaften Empfindungen, die ich hatte, nur die Folge eines drohenden Nervenzusammenbruchs waren. Aber gleichzeitig war ich mir dessen bewußt, daß mir die Beherrschung meiner Bewegungen zu entgleiten schien, so als würde ich zu einem bloßen Automaten. Sogar mein Blick schien von einem fremden Willen gesteuert zu werden. Als ich das Ende des Flures erreicht hatte, war der Schmerz in meinen Gliedmaßen unerträglich geworden. Ich stieß die Doppeltür ohne eigenen Willen auf, und hinter ihr lag ein großer Raum, der früher als Kantine gedient hatte. Die Eßtische und Stühle waren noch vorhanden, auch wenn einige zerbrochen und andere umgekippt waren. Abfälle, hauptsächlich Plastikbecher und leere Kartons, lagen auf dem Linoleumboden der Kantine herum, und die gefliesten Wände waren mit Fett beschmiert. Zwischen all den Trümmern lag verstreut eine Vielzahl von Schaufensterpuppenteilen. Es gab keine Türen, die aus diesem Raum hinausführten, nur Fenster, die den mattgelben Schein der Lichter der Stadt hereinließen. Die Schaufensterpuppen hier waren in Stücke gerissen worden. Köpfe, Torsi und Gliedmaßen lagen umher. Es schien, als habe jemand diese Puppen erst erschaffen und dann absichtlich zerstört. Meine eigene Pein war inzwischen so groß, daß ich die Ungeheuerlichkeit der vor mir liegenden Szenerie kaum als solche wahrnehmen konnte. Die Puppe, die mir am nächsten lag, sah aus wie das Opfer eines Autounfalls. Gesicht und Rumpf waren eingeschlagen und einer der Arme abgerissen. Nur die Kunstaugen waren noch heil, und als ich in sie blickte, wußte ich mit furchtbarer Gewißheit, daß allem zum Trotz ein Bewußtsein in diesen Überresten weilte. Der Künstler, Schöpfer dieser Puppen, hatte
die Grenzen von Schmerz und Schrecken in seinem Werk überschritten. Es gab einen Verstand, der in dieser gebrochenen Hülle gefangen war und eine Agonie spürte, die kein lebendes Wesen hätte ertragen können, die Fleisch und Blut unmöglich ausgehalten hätten. Das Wort „Agonie“ konnte nicht einmal den Abglanz dieses Leidens wiedergeben: für immer im Sterben zu liegen und niemals erlöst zu werden. Aber ich ging weiter und schrie dabei lautlos im Geiste. Und überall um mich her waren die zerstückelten Puppen in ihrem ewigen Todeskampf, jeder ihrer Einzelteile von Schmerz zerfressen. Meine Augen drehten sich unwillkürlich in den Höhlen nach hinten. Meine Knie knickten unter mir ein, und mein Körper sackte zusammen und mit lautem Gepolter vornüber auf den Boden zwischen die Haufen verstümmelter Plastiküberreste. Ich hörte, wie sich Schritte näherten, und fühlte, wie ich auf den Rücken gedreht wurde. Über mir ragte bedrohlich ein Mann auf, dessen Haut eher Plastik als lebendem Fleisch ähnelte. Sein rechtes Auge war größer als das linke und verlieh seinem Gesicht ein asymmetrisches Aussehen. Er erzeugte ein leises, mahlendes Geräusch – wie das kaputte Räderwerk einer Maschine – bei dem Versuch, Kontrolle über einen Mund zu gewinnen, der eigentlich gar keine Geräusche hätte ausstoßen dürfen. Wenngleich die Worte undeutlich herauskamen, schien er zu sagen: „Schön, dich wieder hierzuhaben.“ Er griff tief in eine lederne Werkzeugtasche, die er bei sich trug, zog eine Lötlampe hervor und entzündete den zischenden Gasstrahl. Die aus der Düse austretende blaue Flamme glitzerte in seinen toten, kalten Augen. Und ich wußte, daß die Qualen, die ich bis zu diesem Moment gespürt hatte, nur ein Vorgeschmack auf die ewige Qual waren, die einsetzen würde, wenn der Künstler Golmi mit der Arbeit an meinem hilflosen und unbeweglichen Körper begann.
APPARTEMENT 205
Pieter Slokker erwachte aus einem Traum von einem dunklen, fensterlosen Raum, wo er in der Falle gesessen hatte. Es war drei Uhr morgens, und es klang so, als ob jemand gegen die Tür seiner Wohnung hämmerte. Slokker lebte noch nicht lange in Paris. Er war erst vor ein paar Monaten aus Brügge in dieses enge Appartement nahe dem Gare du Nord gezogen, um hier sein Medizinstudium abzuschließen. Er kannte niemanden in dem schimmligen alten Gebäude – bis auf den geschwätzigen Portier – und begegnete sonst nur selten einem anderen Mieter auf dem Auf- oder Abstieg über die quälende Wendeltreppe, die zu seinen Zimmern im vierten Stock führte. Während er völlig zu Bewußtsein kam, hatte Pieter ein stärker werdendes Gefühl der Beklommenheit. Die Schläge hämmerten weiter gegen die Tür; er hatte keine Ahnung, wer das sein mochte, aber es war nicht länger möglich, den Ruf zu ignorieren. Slokker erhob sich aus dem Bett, warf sich einen Morgenrock über und begab sich in die Diele. Als er durch den Spion spähte, konnte er zuerst nur den dunklen Umriß eines Mannes erkennen. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, konnte Slokker mehr von den Gesichtszügen des Mannes sehen. Die Erscheinung des Mannes war dergestalt beschaffen, daß er zögerte, die Tür aufzuschließen. Pieter hatte während seiner medizinischen Ausbildung einige Patienten kennengelernt, denen ihre Krankheit schwere Entstellungen zugefügt hatte, aber dieser hartnäckige Besucher sah schlimmer aus als die meisten. Er war leichenhaft abgemagert, hatte ein knochiges, weißes Gesicht und einen kahlrasierten Kopf. Aber die eingesunkenen, schwarz umränderten Augen und die hohlen Wangen beunruhigten Slokker am meisten. Er fühlte sich an eine Führung durch das Leichenhaus des Hospitals mit seinen
Kommilitonen erinnert. Ein Pathologe hatte ihnen dort die Leiche eines Mannes gezeigt, der verhungert war, nachdem ihn seine wahnsinnige Frau in einem lichtlosen Keller eingeschlossen hatte. Die Erinnerung daran, wie dieser Mann ausgesehen hatte, war noch lang danach durch Slokkers Träume gegeistert, und der nächtliche Besucher sah ihm so ähnlich, daß er beinahe hätte glauben mögen, jener Leichnam stünde draußen. Er fragte sich, ob es möglich war, daß er immer noch träumte? Daß Slokker bei vollem Bewußtsein war, wurde jedoch bald von einer weiteren Salve von Schlägen gegen das Holz bestätigt, diesmal so laut, daß die Echos durch den leeren Flur dröhnten. Slokker begann die Riegel zurückzuziehen, war jedoch wachsam genug, die Kette vorgelegt zu lassen, was gerade genug Freiraum gestattete, um mit dem Besucher sprechen zu können. Da er inzwischen klarer dachte, hatte er mit dem Stellen einer Diagnose begonnen. Gewiß war der Mann drogenabhängig und hatte herausgefunden, daß ein Medizinstudent in diesem Haus wohnte? Vielleicht war er auf der Suche nach Nachschub herkommen? Obwohl die Tür nur einen Spalt breit geöffnet war, zwängte der draußen Stehende sein ausgezehrtes Gesicht in die Öffnung. Seine wilden Augen suchten hektisch nach dem Bewohner, und er rief in verzweifeltem Tonfall: „Bitte! Sie müssen mir helfen, Monsieur. Ich kann es nicht mehr ertragen, allein zu sein! Wenn Sie eines menschlichen Gefühls mächtig sind, dann öffnen Sie die Tür!“ Slokker wich einen Schritt zurück; der Anblick dieses schrecklichen Gesichtes so aus der Nähe und das pathetisch drängende Flehen hatten ihn verunsichert. Er rief sich ins Gedächtnis, daß er als Medizinstudent dazu verpflichtet war, jede Hilfe zu leisten, die ihm nur möglich war. Schließlich schien der Mann bei genügender Geistesklarheit zu sein, wenn
auch ziemlich verstört. Seinen Morgenrock enger um sich ziehend, nahm Slokker die Kette vor der Tür ab und winkte dem Mann, er möge eintreten. Der Besucher stolperte ohne ein Wort durch das Zimmer und ließ sich auf einen Sessel fallen. Vielleicht versuchte er, seine Fassung wiederzuerlangen, aber seine Augen schossen ruhelos in der Dunkelheit hin und her. Er schien den Blick auf die Fenster zu meiden; sobald er sich unabsichtlich in ihre Richtung drehte, vergrub er den Kopf in den Händen. Nachdem er den Mann ein paar Minuten lang schweigend beobachtet hatte, revidierte Slokker seine anfängliche Diagnose; er begann zu vermuten, daß Drogen wahrscheinlich nicht der Grund für die offensichtlich elende Verfassung seines Besuchers waren. Seine Ärmel waren bis zu den Ellbogen aufgekrempelt, und die totenbleiche Haut wies keine verräterischen Spuren auf. Vielleicht war der Mann einfach geistig verwirrt und aufgrund von Selbstvernachlässigung so ausgelaugt. „Bitte, es ist schon spät. Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann. Vielleicht würde Sie etwas Brandy beruhigen?“ Slokker sprach in der besänftigendsten Krankenbesuchs-Manier. Der Mann wandte Pieter den Blick zu und gab sich große Mühe, ihn ruhig zu halten. Dann lachte er – ein spöttisches Gelächter, wie über einen heimlichen Witz. „Sie sind freundlich, ja. Ich werde mit Ihnen trinken.“ Er stürzte den Brandy hinunter, als litte er entsetzlichen Durst, aber der Alkohol zeitigte wenig sichtbare Wirkung auf ihn. Trotz Slokkers Fragen schien er nicht die Absicht zu haben zu reden. Der Medizinstudent konnte nicht viel tun, als dazusitzen und seinen stillen Gast zu beobachten, obwohl ihn dessen Gegenwart mit Unbehagen erfüllte. Dem Mann haftete etwas wirklich Unirdisches an.
Im Lauf der Nacht schien er gelegentlich fast im Begriff zu sein, etwas über sich selbst preiszugeben, versank aber stets wieder in sein In-den-Raum-Starren, wobei er immer wieder wie über den selben makabren Witz lachte. Wenn Slokker die Bitte äußerte, der Besucher möge nun doch wieder gehen, führte dies nur zu neuerlichem mitleiderregenden Flehen, und er sah sich gezwungen, sich mit dieser merkwürdigen Gesellschaft abzufinden. Endlich, als die Dämmerung gerade anbrach, machte der Besucher Anstalten zum Aufbruch, und Slokker sah ihm hinterher, wie er den Flur entlang wankte. Zu seiner Überraschung und seinem Interesse betrat er ein Appartement nur vier Türen weiter. Hatte er es auch an den drei anderen Türen probiert, die sie trennten, bevor er an Slokkers Tür hämmerte? Als er müde seine Tür wieder verschloß und ins Bett zurückkehrte, beschloß Slokker, die Affäre später am Morgen mit dem Portier zu besprechen. Sein merkwürdiger Nachbar hatte es nötig, daß man sich schnell um ihn kümmerte, möglicherweise sogar durch Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Und Pieter seinerseits würde sehr froh sein, wenn es keine weiteren mitternächtlichen Besuche gab.
Der Portier, ein älterer Mann mit einer Abneigung gegen Belgier, rieb sich mit den Fingern über die weißen Stoppeln auf seinem Kinn. Eine unangezündete Gauloise klebte an seiner Unterlippe. „Er kam aus Appartement 205, sagen Sie?“ „Ja. Ich kenne seinen Namen nicht. Der Mann braucht dringend medizinische Behandlung. Ich glaube, er könnte eine Gefahr sein; für sich selbst, wenn nicht für andere.“
„Ich finde das schwer vorstellbar. Der Herr, der dieses Zimmer bewohnt, ist Monsieur Deschamps. Ein bißchen komisch, da gebe ich Ihnen recht, aber er achtet auf seine Erscheinung und gibt mir immer ein gutes Trinkgeld. Ich habe ihn ein paar Wochen nicht gesehen, aber er war immer ein recht auf Privatsphäre bedachter Mensch. In letzter Zeit läßt er sich sogar das Essen liefern.“ Er kratzte sich das Kinn. „Obwohl ich den Botenjungen eine Zeitlang nicht gesehen habe… Aber ich würde nicht…“ Slokker unterbrach den Monolog des Alten. „Also, ich gehe nicht eher, bis Sie mit mir hinaufkommen und selbst nachsehen. Wenn Sie das nicht tun, werde ich mich beim Vermieter beschweren.“ Der alte Mann stand mit der Miene eines Schwergeprüften auf und holte den Zweitschlüssel für Appartement 205 vom Haken. Einige Augenblicke später stiegen die beiden die Wendeltreppe zum vierten Stock hoch. Der Portier murmelte während des Aufstiegs vor sich hin. Er hielt ein paarmal inne, um an seiner jetzt brennenden Zigarette zu ziehen. Es schien Slokker, als lasse er sich so viel Zeit wie nur möglich. „Sie sind Medizinstudent, sagen Sie? Na, dann will ich Ihnen mal sagen, Monsieur, ich habe nicht viel Zeit für Ärzte. Einer von euch Scharlatanen gab mir noch sechs Monate zu leben, und das ist jetzt zwanzig Jahre her! Was halten Sie nun davon, eh?“ „Was ich gerne wüßte, ist, was Sie gemeint haben, als Sie sagten, daß dieser Deschamps ein bißchen komisch ist.“ „Komisch, eh, komisch? Na, ist denn nicht jeder auf seine Art ein bißchen komisch? Wenn Sie mal so alt sind, wie ich jetzt bin, dann merken Sie das vielleicht auch. Komisch? Ich habe gar nichts damit sagen wollen. Nur das, als ich Monsieur Deschamps geholfen habe, seine Habseligkeiten hochzutragen,
oh, wann war das?“ Er war wieder stehengeblieben. „Ja, als ich ihm geholfen habe, da warf ich zufällig einen Blick auf seine Bücher.“ „Und?“ „Na, das waren ungewöhnliche Bücher. Solche über Vorahnungen, Wahrsagerei, Zauberei und sowas. Er schien sich dafür zu schämen. Oh, und ein paar über schwarze Magie! Also, was denkt man sich denn dabei, eh, mein junger flämischer Freund! Eh? Schwarze Magie!“ Bei welcher Bemerkung der Portier lachte. Dies setzte einen heftigen Hustenanfall in Gang. Er warf seine Zigarette zu Boden und bestand darauf, daß sie noch ein bißchen warteten, damit er sich erholen konnte. Als sie schließlich Nummer 205 erreichten, pochte der Portier zunächst leise an die Tür und rief in bedauerndem Tonfall nach Deschamps, wobei er die ganze Zeit über mißbilligend Slokker ansah. Aber keine Antwort erfolgte, nicht einmal, als der Medizinstudent durch das Schlüsselloch hineinrief und sie beide hemmungslos gegen die Tür trommelten. Der Tumult hatte eine kleine Ansammlung von Leuten auf den Flur herausgelockt. „Haben Sie denn keinen Schlüssel?“ fragte Slokker den Portier. „Aber er ist vielleicht gerade ausgegangen“, gab der Alte mürrisch zurück. „Öffnen Sie die Tür und seien Sie nicht so ein Narr! Es könnte ihm doch etwas zugestoßen sein!“ sagte eine dicke, gepuderte Dame, die eine weißflauschige Katze im Arm wiegte. Sie schien mehr Einfluß auf den Portier zu haben als Slokker, denn zum Ärger des Medizinstudenten machte er einen unterwürfigen Bückling und murmelte: „Natürlich, natürlich, ganz wie Sie wünschen, Madame“, bevor er den Schlüssel aus seiner Tasche zog und ihn in das Schloß steckte.
Es bereitete dem Portier einige Schwierigkeiten, die Menge davon abzubringen, ihnen in das Appartement zu folgen, besonders bei der gepuderten Frau mit der Katze, aber nachdem er sie weggescheucht hatte, gingen er und Slokker vorsichtig den teppichlosen Flur hinunter und in das Wohnzimmer. Der Boden war mit Papieren und ausrangierten Lebensmittelkartons bestreut. Eine dicke Staubschicht lag über allem. Kleider, alte Zeitungen und Bücher waren auf dem Fußboden aufgehäuft, und Pieter und der Portier mußten gut aufpassen, wohin sie die Füße setzten. Die Vorhänge waren halb zugezogen und ein schaler, kränklicher Geruch durchdrang den Raum. Hinter den Vorhängen hatte jemand Zeitungen an die Fensterscheiben geklebt, woraus ein permanentes gelbes Dämmerlicht resultierte. Eine kurze weiterführende Inspektion zeigte, daß sich die anderen Zimmer in einem ähnlichem Zustand des Chaos und der Vernachlässigung befanden. Es gab keine Spur von Deschamps. Und dann stießen sie auf einen kleinen, fensterlosen Raum. Seine Wände waren mit schwarzen Samtvorhängen drapiert. Da waren ein großer Spiegel an der Wand, zu dessen beiden Seiten die Vorhänge zurückgezogen waren, und ein einzelner Stuhl mit einer elektrischen Lampe, die genau hinter ihm stand. Die Glühbirne hatte nur eine sehr niedrige Wattzahl und die Beine des Stuhles waren abgesägt, so daß er sich nach hinten neigte. Wenn man auf dem Stuhl saß, dann starrte man genau in den Spiegel, nur daß es – seiner Höhe nach zu urteilen – nicht möglich sein würde, die eigene Reflexion zu sehen, sondern bloß das Spiegelbild der Dunkelheit im Zimmer. „Eh, mein Freund? Was sagt man dazu?“ fragte der Portier. Slokker fand sich außerstande, etwas zu sagen.
Was auch immer mit Deschamps geschehen sein mochte, es blieb ein Geheimnis. Es schien, daß er seine Wohnung für immer verlassen hatte und Pieter Slokker der letzte Mensch gewesen war, der ihn gesehen hatte. Der Portier meldete Deschamps’ Verschwinden der Polizei, und sein Name wurde auf die Liste der vermißten Personen gesetzt. Im Verlauf der Tage traten keine neuen Informationen zutage. Deschamps hatte seine Miete für den Monat im voraus bezahlt, und der Vermieter entschied, daß die Räume für diesen Zeitraum unvermietet bleiben würden, nur für den Fall, daß der Mieter zurückkommen sollte. Doch am Ende des Monats sollte das Appartement wieder annonciert werden. Kurz nach dem Verschwinden seines Nachbarn ertappte sich Slokker, der sich – sofern er nicht von geistig verwirrten Nachbarn geweckt wurde – normalerweise eines gesunden Schlafes erfreute, beim Schlafwandeln. Eines Nachts erwachte er, nur um festzustellen, daß er seine Wohnung verlassen hatte, den Flur entlanggelaufen war und versuchte, die Tür von Appartement 205 zu öffnen. Dieses somnambule Muster wiederholte sich jede Nacht der darauffolgenden Woche zweibis dreimal, und schließlich war Slokker gezwungen, Zuflucht zu einem ausgeklügelten System von Schnüren zu nehmen, mit denen er seine Fußknöchel an der Bettstatt festband, um auch ja im Bett zu bleiben. Er knüpfte die Knoten auf eine so komplizierte Weise, daß jeder Versuch, sie im Schlaf zu lösen, von Rechts wegen fehlschlagen mußte. Er wachte oft vor Schmerzen auf, die Fingerspitzen wund und blutig vom Zupfen an den unnachgiebigen Strippen. Es war wohl unvermeidbar, daß Pieters Studium darunter zu leiden begann. Nach zwei Wochen der Erschöpfung fühlte er, daß der einzige Weg zur Beendigung seines inneren Zwanges darin bestand, eine Möglichkeit zum nochmaligen Betreten
von Deschamps’ Appartement zu finden. Am nächsten Tag gelang es Slokker, sich den Zweitschlüssel aus der Portiersloge zu „borgen“, während ein Lieferant den Portier praktischerweise mit einer angefochtenen Quittung ablenkte. Er preßte den Schlüssel vorsichtig in eine Wachstafel, die er aus ein paar Kerzen zusammengeschmolzen hatte. Wie sich herausstellte, war es ein Leichtes, einen Nachschlüssel anfertigen zu lassen. Der Schlüsselschneider in der Bude auf dem Boulevard stellte keine unbequemen Fragen und fertigte den Schlüssel gleich an, während der Medizinstudent auf der Straße wartete. Später am Abend, als das Haus ruhig war, begab sich Slokker den Korridor hinunter. Er trug eine Taschenlampe bei sich, um durch das Einschalten der Flurbeleuchtung keine unliebsame Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Innere des Appartements war nachts sogar noch öder. Man hatte nichts angerührt, die einzige Veränderung bestand darin, daß jetzt eine noch dickere Staubschicht den Kram bedeckte, der auf den Dielenbrettern verstreut herumlag. Slokkers Umherleuchten mit der Taschenlampe erzeugte Schatten, die aus den abblätternden Wänden hervorzuckten. Sobald er in dem fensterlosen Raum war, schaltete er die schwache Glühbirne hinter dem Stuhl an und löschte seine Lampe. Er setzte sich auf den schräggestellten Sitz und richtete seinen Blick auf den Spiegel. Die Reflexion zeigte nur die Samtvorhänge hinter ihm. Er blickte auf eine rechteckige Tafel vollkommener Schwärze. Zuerst konzentrierte er sich auf die Oberfläche des Spiegels, aber da es dort nichts von Interesse zu sehen gab, gestattete er es seinem Blick allmählich, sich zu entspannen. Eine Zeitlang geschah gar nichts, aber dann veränderte sich der Brennpunkt seiner Augen, und er schien durch den Spiegel hindurch auf ein Objekt zu starren, das in der Tiefe verborgen war. Slokkers
Blick schien etwas aus dem Dunkel hervorzulocken. Was es auch sein mochte – und er konnte sich ja nicht sicher sein, daß dort überhaupt etwas war –, es war von einem silbrigweißen Leuchten umgeben. Das Objekt schien immer näher zu kommen, je mehr er sich darauf konzentrierte, und einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, irgendetwas oder -jemand erwidere seinen Blick, wenn auch aus weiter Ferne. Slokker konnte nicht genau wissen, ob die ferne Vision nur ein Produkt seiner eigenen Phantasie war. Der ganze Prozeß war ermüdend, und er stellte fest, daß er pochende Kopfschmerzen davon bekam. Schließlich gab er die Übung auf und begab sich so leise er konnte aus der Wohnung zurück auf den Korridor. Wieder in seinem Appartement angekommen, stellte Slokker erstaunt fest, daß vier Stunden vergangen waren. Er ließ sich dankbar auf sein Bett fallen und fiel ausnahmsweise einmal sofort in einen tiefen, ungestörten Schlaf.
In den nächsten paar Nächten nach diesem Erlebnis erlitt Slokker keine weiteren Anfälle von Schlafwandelei. Es sah so aus, als ob sein Plan gefruchtet hatte und sein seltsamer Drang, den fensterlosen Raum zu besuchen, gestillt worden war. Er gab die Praktik auf, sich selbst mit Schnüren an das Bett zu fesseln, aber in der vierten Nacht erwachte er und ertappte sich selbst dabei, wie er auf Händen und Knien auf Nr. 205 zukroch. Obwohl er das Heilmittel für seinen Somnambulismus kannte, wollte Slokker nur ungern wieder dort Zuflucht suchen. Der Besuch in dem Raum mit dem Spiegel war verstörend und unangenehm gewesen, und auch wenn er dazu neigte, das ferne Gesicht im Spiegel als eine Illusion zu betrachten, erzeugt durch seine Erschöpfung, blieb eine Furcht davor in ihm haften, die abzulegen ihm schwer fiel. Dennoch
brauchte er ungestörten Schlaf, wenn er sein Studium erfolgreich fortsetzen wollte, und so verschaffte er sich am folgenden Morgen Einlaß zu dem verlassenen Appartement. Dieses Mal begann er Deschamps’ Zimmer in der Hoffnung zu durchsuchen, er würde vielleicht etwas entdecken, das ihm helfen würde, den Zweck des fensterlosen Raumes zu verstehen. Deschamps’ Bücher schienen nach keinem speziellen System geordnet zu sein. Sie waren in Ecken aufgehäuft und bunt durcheinander über den Boden des Wohnzimmers verstreut. Doch als er sie genauer betrachtete, schien es Pieter, als befänden sich die zuletzt Gelesenen im Umkreis um die Beine eines mit Leinwand bespannten Faltstuhls herum. Deschamps schien sich Notizen auf Fetzen von Altpapier gemacht zu haben, die er in die Bände gesteckt hatte. Er hatte auch Anmerkungen direkt auf die Ränder einiger Texte gekritzelt. Im Gegensatz zu den Behauptungen des Portiers handelten nur wenige der Bücher von schwarzer Magie, und diese waren mit abwertenden Bemerkungen in Bleistift übersät: „Mit anderen Worten, eine Entschuldigung für sexuelle Selbstbefriedigung“, „das Verlangen nach Macht über andere durch ein System der Vernebelung“, „drogenbedingte Halluzinationen“, „Autosuggestion und Hypnose“, etc. Die Texte, die für Deschamps die größte Faszination besessen zu haben schienen, waren direkt neben dem Stuhl aufgestapelt. Hier fand Slokker eine Reihe Privatdrucke von Pamphleten, die aus den frühen 1890er Jahren stammten. Er bemerkte, daß alle Pamphlete den offiziellen Stempel der Bibliothéque Nationale tragen: zweifelsohne hatte Deschamps durch ihren Diebstahl aus einer öffentlichen Bücherei seine okkulten Forschungen vorangetrieben. Slokker setzte sich auf den Leinwandfaltstuhl, um sie zu lesen.
Es schien, daß sie vom Gebrauch einer gewissen Kammer handelten, die „Psychomantium“ genannt wurde. Die Pamphlete waren von einer obskuren parapsychologischen Sekte herausgegeben worden und mit fotografischen Aufzeichnungen von Experimenten illustriert, die man in Räumen durchgeführt hatte, die sehr stark dem ähnelten, den Deschamps in seinem Appartement nachgebaut hatte. Die Fotografien waren offensichtlich mit langer Belichtungszeit aufgenommen worden und gaben verwischte und verzerrte Abbilder von Gesichtern wieder, die, wie es schien, von einem Spiegel reflektiert wurden. Die Pamphlete behaupteten, daß es sich um „die Gesichter der Toten“ handelte. In Wirklichkeit war die Qualität der Wiedergabe so schlecht, daß sie eher roh gefertigten Puppenköpfen in verschiedenen Stadien der Auflösung glichen. Nichtsdestoweniger behaupteten die Begleittexte, sie seien authentische Erscheinungen und der Spiegel diene als Tor zum Jenseits. Erneut fühlte Slokker den Zwang, den fensterlosen Raum zu betreten. Er schaltete die schwache Lampe an, setzte sich vor dem Spiegel nieder und versuchte, seinen Geist frei zu machen. Er starrte in die Leere. Die ersten paar Minuten sah er überhaupt nichts. Er begann sich zu entspannen. Dann fühlte er ein Prickeln im Nacken, und ihn schauderte, als er entdeckte, daß er wieder das silbrigweiße Leuchten in den Tiefen der gespiegelten Dunkelheit sehen konnte. Und dann sah er, daß sich ein Gesicht inmitten des Lichtscheins befand. Je länger Slokker hinstarrte, desto näher schien es zu kommen, und desto heller wurde das Licht, wie beim unaufhaltsamen Heranzoomen einer Kamera. Er wußte nicht, wie lange er hinstarrte; seine Sinne verwirrten sich. Daß das Gesicht das eines Toten war, daran hatte Slokker keinen Zweifel. Die gelbliche Tönung der blutleeren Haut verriet dies, und die Augenlider der
Erscheinung bewegten sich nicht. Aber was ihn dazu veranlaßte, den Stuhl umzustoßen und in blinder Panik aus dem Psychomantium zu taumeln, war, daß das Gesicht, das er im Spiegel sah, sein eigenes war.
Es fiel Slokker nicht schwer, sich die Drogen zu beschaffen, die er zur Beruhigung seiner Nerven benötigte; aber er tat es so diskret wie möglich, denn sein Medizinstudium befand sich in einem Stadium kurz vor dem Chaos, und seine Unfähigkeit, zu Seminaren und Vorlesungen zu erscheinen, erregte Gerede. Es gab jedoch wirklich keine Alternative, denn die nervliche Anspannung wurde unerträglich. In einem der Pamphlete, das er in der vorangegangenen Nacht nicht gelesen, jedoch geistesgegenwärtig genug in seine Wohnung mitgebracht hatte, fand Slokker eine kurze Historie der Gruppe, die sich La Société des âmes mortes nannte. Sie hatten ihre ersten Untersuchungen des Jenseits mittels Seancen unternommen, aber diese Forschungsmethodik nach einer Reihe von Begegnungen mit betrügerischen Medien aufgegeben. Danach hatten sie die „Wissenschaft“ der OuijaBretter erforscht und behaupteten, daß der anschließende Gebrauch der psychomantischen Kammern in der Folge einer Geisterbotschaft zustande gekommen war, die sie so erhalten hatten. Die ersten Experimente waren ereignislos verlaufen, und die Methoden, die sie der zeitgenössischen parapsychologischen Literatur entliehen – darunter auch ein Medium, das sich auf Fotografien konzentrierte und mit den Wertgegenständen von Toten agierte – hatten Ergebnisse gezeitigt, die man leicht als bloße Einbildung abtun konnte. Gerade nachdem die Gesellschaft die Einstellung dieser neuen Forschungsreihe beschlossen hatte, begann ein männliches Medium außergewöhnliche Behauptungen über
seine Kommunikation mit den Toten aufzustellen. Er beharrte darauf, daß ihm ein grauenhaftes Geheimnis enthüllt worden sei. Untersuchungen des Sitzungsprotokolls, das er während der Geistererscheinungen angefertigt hatte, enthüllten beunruhigende Hinweise auf die Beschaffenheit des Bewußtseins nach dem Tode. Aber die außergewöhnlichste Behauptung von allen war, daß er begonnen haben wollte, mit seinem eigenen toten Geist zu kommunizieren. Doch wollte er sich über die genaue Natur dieses Austausches nicht äußern. Es war jedoch offensichtlich, daß sein Geist auf dramatische Weise kollabiert war, und wenige Wochen später wurde ruchbar, daß er Selbstmord begangen hatte. Es gab Mitglieder der Gesellschaft, die es ihm gleichtaten, unfähig, dem Lockreiz des verbotenen Wissens zu widerstehen, das ihnen ihre toten Ichs vielleicht übermitteln würden. Diejenigen, die der Verlockung nicht erlagen, gaben jeden Umgang mit der Parapsychologie auf. Es gab Hinweise darauf, daß die erlebten Enthüllungen auf dem Konzept basierten, daß es die Toten sind, welche die Struktur der Wachwelt in ihren Träumen aufrechterhalten, und daß jegliche lebendige Existenz illusorisch ist. Als Slokker an einen Abschnitt des Pamphlets gelangte, der eine sepiafarbene, hundert Jahre alte Fotografie der Mitglieder der Société des âmes mortes zur Schau stellte, hätte er es fast vor Schrecken fallengelassen. Selbst wenn es keine Namensliste unter der Fotografie gegeben hätte, so hätte er doch das Gesicht des Mannes in der zweiten Reihe ganz rechts wiedererkannt. Es war das von Deschamps oder von einem identisch aussehenden Vorfahren. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Die anderen Gesichter kamen ihm ebenfalls bekannt vor, obwohl sie unscharf waren. Eines davon hatte eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem alten Portier. Und neben ihm war jemand, über dessen Identität er sich schwerlich
irren konnte. Es war Slokkers eigenes Gesicht, das seinen Blick aus dem Foto heraus erwiderte. Obwohl Slokker versuchte, diese seltsamen Ereignisse und Enthüllungen aus seinen Gedanken zu verbannen, stellte er fest, daß sein nächtlicher Drang, zurückzukehren und in den Spiegel des Psychomantiums zu starren, überwältigend stark war. Die Drogen halfen ihm, Schlaf zu finden, und er hatte immer noch die Möglichkeit, seine Füße an das Bett zu fesseln; aber die Ereignisse überrannten ihn schon bald, allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz. Eines Morgens, als er gerade mit dem Rasieren fertiggeworden war, füllte sich der Spiegel über dem Waschbecken mit dem silbrigweißen Leuchten. Slokkers gewöhnliches, schlaftrunkenes Konterfei im Spiegel wurde von dem Abbild seines heimtückisch grinsenden Totengesichts ersetzt. Seine Augen waren tief in schwarzumränderte Höhlen eingesunken, die gelbliche Haut spannte sich straff über dem Schädel und zog die Lippen von den Zähnen zurück, die durch das verweste Fleisch hervorstachen. Die Haare waren auf grauenhafte Art über die leichenfleckige Stirn geklebt. Das Gesicht war zum Greifen nahe, und wenngleich es sich nur einen Augenblick lang materialisierte, konnte Slokker jede Einzelheit seines Verfalls genau wahrnehmen. Es schien sich vertraulich zu ihm zu neigen und flüsterte: „Du bist einfach nur ein Traum… und ich bin des Träumens müde.“ Dann war es verschwunden.
Nach dieser Episode konnte Slokker das Alleinsein nicht mehr ertragen. Stundenlang zog er durch die Straßen der Stadt, auf der Suche nach Leuten, Menschenmassen. Er saß nachmittags in Cafés und mischte sich nachts unter die Feiernden; aber unbesehen all seiner Versuche, Anschluß zu finden, hielt ihn
die Vorstellung gepackt, daß all das nur Kulissen waren, die man hinter der Bühne stehengelassen hatte. Als er einmal ausging, um sich in einer Bar in der Nähe von Sacre Cœur in einen Zustand der Bewußtlosigkeit zu trinken, stieß zufällig eine Schar seiner Mitstudenten auf ihn, wie er so über einen Ecktisch zusammengesackt dalag. Sie nötigten ihm ihre Gesellschaft auf und erkundigten sich mit echter Anteilnahme nach seiner Gesundheit. Slokker war froh über ihre Aufmerksamkeit und verlor sich in Ausflüchten und der Behauptung, er werde bald auf die Universität zurückkehren und sein Studium abschließen. Aber als seine trunkene Hochstimmung ihren Höhepunkt erreichte, als er selbst schon halb glaubte, daß seine Ängste nur von nervöser Erschöpfung herrührten, die er mit der Zeit schon überwinden würde, warf er zufällig einen Blick auf einen Spiegel, der an der Wand hinter dem Kopf eines seiner Freunde hing. Da war sie wieder, die silbrige Helligkeit – und sein totes, verwesendes Gesicht, zu einer Miene von böser Geringschätzung verzerrt. Aber diesmal war es nicht nur eine vorübergehende Erscheinung; das Bild blieb bestehen. Und er glaubte durch das Gelächter ringsum ein spöttisches Lachen zu hören, das auf seine Kosten ging. Das tote Gesicht schien auch zu lachen, und Slokkers Freunde warfen einander besorgte Blicke zu, als sein eigenes Lachen zu einem Gekreisch des Grauens wurde. Er sprang auf die Füße und schob sich durch die Menge, indem er die Leute grob zur Seite stieß, bis er draußen auf der nächtlichen Straße stand. Von da an schienen alle Spiegel verwunschen zu sein. In der Dunkelheit leuchteten sogar die Schaufenster der Läden in dem silbrigweißen Lichtschein. Als er zurück in seinem Appartement war, zerschlug er alle Spiegel in seinen Zimmern und bedeckte die Fenster mit Zeitungen, um jegliches Spiegelbild zu verdecken.
Kurz nachdem Slokker begonnen hatte, sich von der Welt zurückzuziehen, erhielt er von seiten des Portiers einige aufregende Informationen. Als er einmal vom Brotkaufen an der Portiersloge des Alten vorbeigekommen war, hatte dieser ihn herangewunken. Es sah so aus, als sei Deschamps’ Leiche endlich doch gefunden worden. Ein Polizeiboot hatte sie einige Kilometer flußabwärts in der Seine treibend angetroffen, nachdem die seit Wochen fortschreitende Zersetzung den Leichnam an die Oberfläche getrieben hatte. Es schien, daß sich der Mann ertränkt hatte. Appartement 205 sollte wieder vermietet werden – selbstredend erst nach umfangreichen Renovierungsmaßnahmen.
Slokkers mentaler Zustand verschlechterte sich weiterhin. Einige der Medizinstudenten, die von dem Vorfall in der Bar gehört hatten, wollten ihn besuchen kommen, aber er weigerte sich, sie einzulassen. Sogar sein alter Dozent kam einmal zu seiner Wohnung, doch sein anfängliches Mitgefühl wandelte sich bald zu der Drohung, die Polizei zu rufen, als er mit Slokkers sturer Redeverweigerung konfrontiert wurde. Aber Slokker betrachtete all diese Besucher nur als eine Reihe von Schatten. Er hatte Angst, das tote Gesicht im Spiegel sei ihm nun wirklich auf die Schultern gepflanzt – der Tatsache zum Trotz, daß sein Tastsinn ihm etwas anderes sagte. Es lag Tage zurück, seit er zum letzten Mal in einen Spiegel geschaut hatte. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Morgen und Abende in der Wohnzimmerecke sitzend zuzubringen und zuzusehen, wie die Fliegen um den Mittelpunkt der Decke kreisten. Und wenn es Nacht war, saß er im Dunkeln und starrte in den Raum, in der Hoffnung, sich darin zu verlieren. Er wagte es nicht mehr zu schlafen. Selbst wenn er sich an das
Bett fesselte, stellte er fest, daß ihn der einst mühsame Vorgang des Knotenlösens nun nicht mehr zu wecken vermochte. Er hatte gelernt, selbst die schwierigsten Knoten zu entwirren, während er weiterschlief. Erschöpft und ausgezehrt verlor Slokker allmählich die Kraft, dem stummen Lockruf zu widerstehen, der ihn zum Psychomantium zog. Bald, so wußte er, würde er sich dem inneren Zwang ergeben, das tote Gesicht wiederzusehen und alles anzuhören, was es ihm erzählen mochte. Spät eines Nachts, als Slokker versuchte, den Drang niederzukämpfen, erinnerte er sich an die Absicht des Vermieters, Appartement 205 renovieren zu lassen. Von plötzlicher Panik erfaßt, eilte er aus seiner Wohnung und den kurzen Flur hinunter. Er konnte kaum den Schlüssel im Schloß umdrehen vor Angst, das Psychomantium könnte nicht mehr da sein, aber als er eintrat, sah er, daß die Arbeiten noch nicht begonnen hatten, obgleich die Anstreicher ihre Leitern und Eimer im Wohnzimmer abgestellt hatten. Er betrat den fensterlosen Raum, und das tote Gesicht, verwester denn je aussehend, tauchte unmittelbar danach auf, als habe es nur auf ihn gewartet. Im Hintergrund befand sich der vertraute Lichtschein wie ein ununterbrochen aufleuchtender Blitzstrahl, der nur bis zur Oberfläche des Spiegels reichte. Slokker saß stundenlang in der Dunkelheit, und das verfaulende Gesicht mit der flüsternden, hohlen Stimme sprach zu ihm. Es drängte ihn, sein Leben aufzugeben, diese Fata Morgana, diesen Traum in den zerfallenden Gehirnen der Toten. Es sprach von der grauen, fühllosen Leere, wo die Hoffnungen und Qualen der lebendigen Existenz keine Bedeutung haben. „Die Welt, in der du umhergehst, ist nicht real“, sagte das Gesicht zu Slokker. „Die Gedanken, die du denkst, sind nicht deine eigenen. Dort unten in ihren modrigen Gräbern, wo die Würmer kriechen, erhalten die Toten die Illusion, die ihr
Leben nennt, aufrecht und warten darauf, daß ihr lebenden Wesen in euren engen Behausungen erwacht – bis in alle Ewigkeit. Du wirst nicht sterben“, sagte die Stimme, „denn du bist nie am Leben gewesen.“ Und als Slokker in den Spiegel blickte, sah er das Gesicht des Revenants beinahe gütig lächeln.
Einige Tage später begab sich der alte Portier hinauf zu Slokkers Appartement. Er hatte den jungen Mann während dieser Mietperiode nicht zu Gesicht bekommen, und auch wenn er ihm ziemlich gleichgültig war, so war es doch seine Pflicht, nachzuforschen, denn die Eigentümer des Gebäudes hatten angemahnt, daß die Miete nicht bezahlt worden war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Portier die verschiedenen drängenden Nachfragen von Slokkers Medizinfreunden ignoriert; seine Abneigung gegen ihren Berufsstand ließ ihn sie als „Weltverbesserer“ abtun. Der alte Mann hatte seine eigene Theorie: Slokker hatte sich in den letzten Tagen einfach heimlich davongemacht, ohne ein Wort irgendjemandem gegenüber, um seinen Gläubigern zu entwischen. So etwas kam vor. Was sollte man auch sonst von ausländischen Studenten erwarten? Niemand reagierte auf sein Klopfen, also verschaffte er sich mit dem Zweitschlüssel Einlaß. Er hatte leise geklopft, denn er hatte kein Verlangen danach, die übliche Ansammlung von Nachbarn hervorzulocken. Drinnen sah das Appartement so ziemlich genauso aus wie vorher. Der alte Portier schlurfte umher und durchsuchte Slokkers persönliche Wertgegenstände. Seine Kleider hingen immer noch im Schrank, und sogar seine Uhr lag auf dem Nachttischchen neben dem ungemachten Bett. Der Spiegel an der Schranktür war zerschlagen, ebenso wie der über dem Waschbecken im
Badezimmer. Zeitungen waren an die Fenster geklebt, und er bemerkte einen Stapel Pamphlete, die Slokker aus Deschamps’ Appartement entwendet haben mußte. Der Portier schloß leise die Tür und ging still den Flur zu Nr. 205 hinunter. Er tat sein Möglichstes, um seine Nerven zu beruhigen, aber er mußte sich eingestehen, daß die ganze Sache komisch roch. Nach dem Eintreten stellte auch er fest, daß die Arbeiten noch ausstanden, obgleich die Malerausrüstung da war. Nichtsdestotrotz sah es so aus, als sei jemand anders, wahrscheinlich Slokker, vor ihm hier gewesen. Gegenstände waren vom Platz gerückt worden. Als er den fensterlosen Raum überprüfte, mußte er die Tür offenstehen lassen, um in der unbeleuchteten Kammer deutlicher sehen zu können. Da war ein merkwürdiger Schatten in der Düsternis, deshalb schaltete er die schwache Lampe an. Das Licht enthüllte Slokkers ausgemergelten Körper, der mitten in der Luft baumelte. Das Gesicht war zu einer Schmerzensgrimasse erstarrt und die Lippen von den aufeinandergebissenen Zähnen zurückgezogen. Die blicklosen Augen starrten hinunter auf seine Reflexion im Spiegel. Slokker mußte seinen Hosengürtel genommen und ihn um seinen Hals gelegt haben, auf den Stuhl geklettert sein und die Schnalle an der altmodischen Lampenfassung an der Decke befestigt haben. Dann hatte er den Stuhl mit den Füßen beiseite gestoßen. Der Portier zwang sich, die Augen von diesem Anblick abzuwenden, und sein erster Gedanke galt dem fürchterlichen Ruf, in den ein weiterer Selbstmord das Haus bringen würde. Zuerst Monsieur Deschamps (obwohl der wenigstens den Anstand besessen hatte, sein Leben anderswo zu beenden), und jetzt dieser junge Narr! Er schloß die Tür hinter sich, vergewisserte sich, daß sie wieder sicher verriegelt war, und begab sich zurück in seine Pförtnerloge im Parterre. Während
er dort saß und auf die Ankunft der Gendarmen wartete, merkte er, daß er unbewußt einige der Pamphlete in Slokkers Zimmer aufgehoben haben mußte. Da lagen sie vor ihm auf dem Schreibtisch. Er mußte sie dorthin gelegt haben, bevor er die Polizei rief. In dieser Nacht, nachdem sie Slokkers Leiche fortgetragen hatten, wurde der Portier von einem Traum geplagt, in dem er in einem dunklen, fensterlosen Raum gefangen war.
DIE SACKGASSE
Die Ulymas Organisation lag in einer Landschaft baufälliger Gebäude weit im Westen der Stadt. Keines der Häuser war höher als vier Stockwerke, die Außenmauern bestanden aus nichtssagendem, weißgetünchten Ziegelmauerwerk, und von den Wänden blätterte die Farbe ab. Die Fenster waren außen mit Gittern versehen und stets schmutzig, wie um die innen Weilenden daran zu hindern, die Außenwelt zu sehen. Diese Vernachlässigung verlieh der Firma ein Flair der Unwichtigkeit, als sei die Arbeit, die hier getan wurde, nur nebensächlich. Wären nicht die paar Arbeitnehmer gewesen, die sich morgens dorthin begaben und abends wieder davonschlichen, hätte man annehmen können, daß der gesamte Gebäudekomplex ganz aufgegeben worden war. Die Angestellten kamen mit der Untergrundbahn, deren Endhaltestelle die meiste Zeit über nur den Fahrgästen diente, die für die Organisation arbeiteten. Abgesehen von einigen heruntergekommenen Läden dem Bürokomplex gegenüber war die Gegend eine Einöde aus verfallenen Gebäuden und Schutthaufen. David Cohen war auf dem Weg von seinem möblierten Zimmer in der Nähe des Stadtzentrums zum Ulymas-Gelände, um seinen ersten Arbeitstag anzutreten. Er nahm an, daß die anderen Passagiere in der Untergrundbahn Kollegen von ihm waren. So weit im Westen und so nahe der Endhaltestelle gab es kein anderes Ziel, das Reisende in der Stoßzeit ansteuern konnten. Er bemerkte ihre verdrießlichen Gesichter und die schäbigen Straßenanzüge. Viele der Männer waren nicht rasiert, und die Frauen trugen kein Makeup. Allem Anschein nach unternahmen sie nur einen halbherzigen Versuch, sich dem allgemeingültigen Standard von Bürobekleidung und -erscheinung anzupassen. Cohen selbst war in einen
gepflegten, dreiteiligen schwarzen Anzug gekleidet und glattrasiert. Zu seinem Vorstellungsgespräch vor einer Woche war er in einer menschenleeren vormittäglichen U-Bahn gefahren. Zuerst hatte ihn der Zustand der Zentrale der Organisation mit ihrer Atmosphäre drohender Verlassenheit beunruhigt. Es sah für ihn nicht so aus, als sei die Firma überhaupt in der Lage, ihm eine Stellung mit Zukunft anzubieten. Aber das Gespräch schien gut zu verlaufen, und man sagte ihm ein besseres Gehalt zu, als er erwartet hatte. Die beiden anderen Gesprächsteilnehmer waren etwas geistesabwesend und stellten ihm keine besonders prüfenden oder unangenehmen Fragen. Er konnte sich an wenig erinnern, was diese Gestalten anging, abgesehen davon, daß sie im Dunkeln im Hintergrund des Zimmers saßen. Sie waren nicht näher auf die exakte Natur seiner Pflichten eingegangen, hatten ihm aber zu verstehen gegeben, daß sie ein Gebiet betreffen würden, mit dem er vertraut war – Rechte an geistigem Eigentum –, auch wenn man ihm nicht sagte, in welchem speziellen Bereich er operieren müssen würde. Wenngleich er vertraut mit verschiedenen Sende- und Druckmedien war, wo derlei Rechte normalerweise genutzt wurden, hatte Cohen noch nie von der Ulymas Organisation gehört. Als er (vor seinem Vorstellungsgespräch) etwas Hintergrundrecherche betrieben hatte, war es ihm nicht möglich gewesen, die Firma in irgendeinem Firmenverzeichnis zu finden. Cohen stieg an der Endstation aus und folgte seinen circa zwölf Mitarbeitern über eine Brücke, die ein Bahngleis überspannte, und dann durch eine Reihe von Unterführungen, die auf die Straße hinter dem Geschäftsgelände führten. Keiner der Angestellten redete mit irgendeinem anderen, sie zogen nur mit gesenkten Köpfen in einer Reihe hintereinander durch die Tore der Organisation.
Cohen war darüber informiert worden, in welches Gebäude er sich bei seiner Ankunft begeben sollte, und wie sich herausstellte, lag dieses in einiger Entfernung von der Personalabteilung, wo sein Vorstellungsgespräch stattgefunden hatte, im Herzen des Firmenkomplexes. Er lief über unkrautüberwucherte Höfe zwischen unfreundlichen Flachdachgebäuden. Cohen konnte sich über das ungeheure Ausmaß der Vernachlässigung nur wundern. Viele der Fenster waren mit einem Netzwerk von Sprüngen überzogen, einige waren ganz zerbrochen. Türen zu verlassenen Außenlagerräumen hingen schief in den Angeln. Viele Bodenplatten waren zerbrochen, und Unkraut gedieh in den Lücken dazwischen und an den Ecken und Rändern, wo nur selten der Fuß eines Menschen hintrat. Abgesehen von dem draußen angebrachten Schild, auf dem stand, daß sich hier die Büros der Firmenleitung befanden, war das Gebäude, in dem Cohen arbeiten sollte, nicht von den anderen zu unterscheiden. Drinnen gab es ein Foyer, und am Empfangstisch saß ein gelangweilt aussehender Sicherheitsbeamter, der mit leerem Gesichtsausdruck auf eine Reihe Überwachungsbildschirme hinter dem Tresen starrte. Cohen sagte ihm, wer er war, und der Mann wählte eine Telefonnummer. Nachdem – wie es schien – eine Ewigkeit verstrichen war, informierte er Cohen, daß Mr. Franklin in Kürze herunterkommen würde, um ihn abzuholen. Zu gegebener Zeit erschien ein korpulenter Mann. „Franklin“, stellte er sich ohne Enthusiasmus vor, wobei er eine feuchte, schlaffe Hand zum Schütteln darbot und jeden Blickkontakt vermied. Er war um die Sechzig und trug einen schmuddeligen grauen Anzug. „Cohen“, erwiderte der neue Mitarbeiter. „Es ist gut…“ Aber Franklin hatte ihm schon den Rücken zugedreht und entfernte sich. Einigermaßen konsterniert folgte Cohen ihm. Während
sie so dahingingen, bemerkte Cohen, daß das lange weiße Haar des Mannes hinten bis über seinen schmutzigen Kragen hing. „Ich bin Ihr direkter Vorgesetzter“, sagte der Mann, während Cohen versuchte, mit ihm aufzuschließen. Der enge Flur mit dem fadenscheinigen grünen Teppich war jedoch nicht breit genug, um ihnen beiden nebeneinander Platz zu bieten, deshalb blieb er wieder zurück und folgte hintendrein. „Wie lange arbeiten Sie schon hier?“ fragte Cohen. Der Mann lief weiter, ohne sich umzudrehen. „Ich bin schon hier, seit die Ulymas Organisation anfing“, antwortete er und führte den Jüngeren nun ein gefliestes Treppenhaus hinauf. Die Anlage des Gebäudes wirkte unregelmäßig, beinahe planlos. Einige der Flure machten offenbar Kurven, so daß es nicht immer möglich war, bis zum Ende zu blicken. Cohen war bestürzt, als er sah, daß das Innere des Gebäudes ebenso heruntergekommen wie das Äußere war, und daß verdreckte Neonröhren die einzige Beleuchtung in den Fluren boten. Er hoffte, daß die Büros heller und besser in Schuß sein würden, aber er war nicht besonders zuversichtlich. Unterwegs hob sich seine Stimmung ein wenig, als er eine junge Frau auf sie zukommen sah, die in einen weißen Kittel gekleidet war und etwas vor sich herschob, das wie ein Teewagen aussah. Sie hielt inne, um Cohen anzusehen, als die beiden Männer vorbeigingen, und er glaubte einen Ausdruck von Mitleid in ihrem Blick wahrzunehmen, gemischt mit einem gewissen Unbehagen. „Sie werden hier drin arbeiten.“ Franklin öffnete die Tür zu einem deprimierend kleinen Zimmer. Cohen ging hinein und fühlte sich gleich noch niedergeschlagener. Sein neues Büro war winzig, Abstellfläche boten an die Wände montierte Regale, die bis zur Decke reichten. Das Zimmer wirkte höher als breit, es hatte vielleicht eine Bodenfläche von elf Quadratmetern, indes die Höhe ungefähr vier Meter sechzig
betrug. Da es in der Mitte des Gebäudes im ersten Stock lag, ging das einzige Fenster auf einen Lichtschacht mit einer flechtenbedeckten Ziegelwand auf der anderen Seite hinaus. Cohens Mut sank noch tiefer, als er erkannte, daß er nicht einmal in der Lage sein würde, diese begrenzte Aussicht zu genießen, wenn er an seinem Schreibtisch saß, denn das kleine, vergitterte, schmutzige Fenster war in Schulterhöhe und befand sich in seinem Rücken, wenn er arbeitete. Er nahm sich vor, daß er sich große Mühe geben würde, optimistisch zu bleiben. Dann reckte er sich auf den Zehenspitzen hoch und spähte durch die schmierigen Scheiben. Er konnte sehen, daß es unterhalb des Parterres noch ein Kellergeschoß gab. „Sie werden nicht gestört werden“, sagte Franklin, der immer noch neben der Tür stand. „Nur wenige Leute werden Sie aufsuchen müssen. Jemand wird kommen und Ihnen Ihre Schreibarbeit bringen und sie wieder mitnehmen, wenn sie erledigt ist.“ „Ich hätte nichts dagegen, ein paar Leute zu sehen!“ Cohen rang sich ein Lächeln ab. „Zweimal täglich wird die Frau, an der wir vorhin vorübergegangen sind, vorbeikommen und Erfrischungen servieren.“ „Wenn sie sich daran erinnert, daß ich hier bin“, gab Cohen zurück. Er konnte den Gedanken nicht abwehren, daß dieses Büro eine Sackgasse in einem Labyrinth war. Er wandte sich dem Schreibtisch zu. Darauf standen ein alter Computer und neben ihm ein paar Ablagekörbe, deren oberster mit dick mit Papier gefüllten Aktenordnern beladen war. „Diese Akten“, erklärte Franklin, „hängen mit den Fällen von geistigem Eigentum zusammen, von denen die Ulymas Organisation wünscht, daß Sie sie übernehmen. Was Sie hier haben, sollte Sie für die erste Woche beschäftigen. Alle diese
Fälle betreffen ernsthafte Verletzungen von UlymasUrheberrechten und bedürfen der dringlichen Bearbeitung.“ „Wie sieht die Firmenpolitik bei Reaktionen auf Urheberrechtsverletzungen aus?“ „Ich verstehe nicht.“ „Geht die Tendenz dahin, daß wir einfach eine Warnung aussprechen? Oder drohen wir rechtliche Schritte an? Sind rechtliche Schritte oft notwendig?“ „Das liegt in Ihrem eigenen Ermessen. Untersuchen Sie die Fälle auf Ihrem Schreibtisch und lassen Sie sich von ihnen leiten.“ Cohen griff nach der obersten Akte, und als er den Blick wieder hob, sah er, daß Franklin gegangen war. Er schaltete den uralten Computer an und ließ sich auf dem mitgenommenen Bürostuhl wieder, der – wie er erleichtert feststellte – leidlich bequem war. Obwohl er sich auf die Papiere vor sich konzentrierte, war ihm bewußt, daß keine Ladevorgangsanzeige auf dem Bildschirm neben ihm erschien. Er hob den Blick zum Monitor und entdeckte zu seiner Verblüffung, daß man eine Masse von zerknittertem Papier in ihn hineingestopft hatte. Dieses wurde von hinten durch eine innen angebrachte Glühbirne beleuchtet. Er beugte sich vor und zog ein zusammengeknülltes, vergilbtes Blatt heraus. Es war bedeckt mit irgendwelchem Geschreibsel. Er untersuchte andere Blätter, und diese waren genauso. Die handschriftlichen Notizen wiesen weder Interpunktion noch Absätze auf; sie waren einfach nur eine Reihe von unlogischen Schlußfolgerungen, Weitschweifigkeiten oder sich wiederholenden Phrasen. Aber es schien doch irgendwie ein Thema vorhanden zu sein. Der Name Ulymas erschien wiederholt und unveränderlich in Verbindung mit solchen Worten wie „Schrecken“, „grauenhaft“, „unendlich“ und „allwissend“. Konnte es sein,
daß seine neuen Arbeitskollegen ihm damit einen Streich spielen wollten? Es fiel ihm schwer, seinen säuerlichen Vorgesetzten Franklin mit dieser Art Ulk zu identifizieren. Vielleicht war der Computer, ja sogar sein „Büro“ ein solcher Witz? – Doch ein schneller Blick aus der Tür versicherte ihm, daß es kein ersticktes Gekicher auf dem Flur gab. Der Flur war in der Tat menschenleer. David lehnte sich argwöhnisch im Stuhl zurück und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Inhalt der Aktenordner. Der erste Ordner enthielt verschiedene Schriftstücke, die mit einer Streitigkeit zusammenhingen, deren oberflächlichste Inaugenscheinnahme bereits vermuten ließ, daß die Position der Ulymas Organisation legal und moralisch unhaltbar war. Franklin hatte einen Hinweis auf dem Ordner hinterlassen, daß dieser Vorgang nur zu Cohens Information dienen sollte, da er vor kurzem abgeschlossen worden war. Es schien, daß ein Schriftsteller (dessen Buch vor einigen Monaten veröffentlicht worden war) eine Warnung erhalten hatte, er habe das Urheberrecht der Organisation verletzt, indem er gewisse metaphysische Spekulationen in sein Werk eingebaut hatte. Diese Spekulationen, so wurde argumentiert, konnten unmöglich anderswoher stammen als von der Ulymas Organisation. Obgleich die Organisation nicht behauptete, daß die Urheberrechtsverletzung auf andere Art als durch reinen Zufall zustande gekommen sei, hatte sie doch darauf bestanden, daß der Ausbeutung dieses „psychischen Lecks“ (so bezeichnete die Organisation es) Einhalt geboten werden mußte. Das fragliche Buch war eine Sammlung von SchundHorrorgeschichten mit dem Titel „Dunkelheit bricht herein“. In der Akte befand sich ein Exemplar des Paperbacks; als Cohen es zur Hand nahm, sah er, daß der Name des Autors auf dem Cover, der Titel- und Copyrightseite komplett geschwärzt
worden war. Auch aus der gesamten Korrespondenz hatte man ihn auf diese Weise ausgemerzt. Cohen blätterte rasch durch das Buch und sah, daß besonders bei einer Geschichte verschiedene Stellen mit gelbem Textmarker hervorgehoben waren. Seine neuen Arbeitgeber hatten offenbar großen Anstoß an der haarsträubenden Auflösung der Geschichte genommen, in der das Gehirn des Protagonisten von einer riesigen Spinne verschlungen wurde. Die Überreste des armen Mannes blieben in einem verlassenen Zimmer hängen, wo er in einem Spinnengewebe, das von der Arachnide gesponnen worden war und strahlenförmig von seiner leeren Schädelhöhle ausging, baumelte. Cohen wußte nicht, wie in diesem Fall beschieden worden war, aber gewiß konnte es nicht zugunsten der Organisation gewesen sein. Er ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken und zog eine Zigarettenschachtel aus der Tasche. Er steckte sich eine davon an, während er den Rest des nicht enden wollenden Schriftwechsels durchlas. Es konnte keinen Zweifel daran geben, daß der ganze Vorgang reine Zeitverschwendung gewesen war. Er wünschte sich, daß auch dies ein Teil des Streiches war, aber es war viel zu detailliert, zu ernsthaft und nur allzu offensichtlich authentisch. Als Cohen noch mehr Akten durchblätterte, sah er, daß der Haupttenor der Fälle seines Vorgängers aus Eigentumsrechten der Organisation an Gedanken bestand, so als sei das menschliche Bewußtsein nur ein Teilaspekt der Rechte an geistigem Eigentum. Dem Schriftwechsel konnte Cohen entnehmen, daß seine Vorgesetzten – einschließlich Franklin – dieses Vorgehen billigten. Es gab sogar positive Kommentare von Ulymas selbst, dem Gründer und Geschäftsführer der Organisation.
Während er rauchend dasaß, versuchte sich Cohen eine Meinung darüber zu bilden, was er tun sollte. Es war sein erster Arbeitstag, und Franklin hatte ihm gesagt, daß man ihm freie Hand ließ, diese Angelegenheiten so zu regeln, wie er es für angemessen hielt. Cohens professioneller Ansicht nach taugten all die Fälle, die er sich bisher angeschaut hatte, nur für den Papierkorb. Warum so viel Zeit an sie vergeudet worden war, ging über sein Begriffsvermögen. In den nächsten Fällen, die er untersuchte, schien die Organisation auf rückwirkende Verletzung von Urheberrechten zu beharren. Das heißt, die Organisation behauptete, gewisse Werke, die vor der Gründung der Firma geschrieben worden waren, hätten Ideen ausgebeutet und plagiarisiert, über welche die Organisation das alleinige Eigentumsrecht besaß. Die letzten beiden Fälle betrafen Urheberrechtsverletzungen, die noch nicht stattgefunden hatten, aber als unausweichlich angesehen wurden. Alle diese Ansprüche konzentrierten sich ausnahmslos auf fiktive Werke von bizarrer Natur. Die Organisation rechtfertigte solche obskuren Erklärungen mit einer komplizierten Widerlegung der allgemeingültigen Auffassung eines linearen Zeitablaufs. Soweit Cohen die Ausführung dieser These in den Papieren vor ihm erfassen konnte, wurden aufeinanderfolgende Ereignisse als rein illusorisch betrachtet. Ulymas vertrat die Ansicht, daß sich die Zeit in Wirklichkeit strahlenförmig wie eine Spirale oder ein Netz ausbreitete. Auf diese These gestützt, hatte Cohens Vorgänger bestätigt, daß alle Erinnerungen, die wir besitzen, nicht von Ereignissen selbst herrühren, sondern von der letzten Erinnerung, die wir an dieses Ereignis haben. An je mehr wir uns erinnern, desto weiter sind wir von der Realität entfernt. Er hatte die Theorie vertreten, daß das Verstreichen der Zeit nur ein Trick des Gedächtnisses sei, ein unaufhörliches déjà vu; die
Vergangenheit eine Schöpfung unseres Kopfes, eine Spirale ohne Mittelpunkt. Cohen stellte fest, daß sich sein eigener Kopf drehte. Sein Dilemma war gewaltig. Alles deutete darauf hin, daß er für eine Organisation arbeitete, welcher es – milde ausgedrückt – am geringsten Bezug zur Wirklichkeit mangelte. Sollte er mit Franklin reden? Das schien zwecklos; der Mann hatte höchstpersönlich viele der phantastischen Rechtsverletzungsansprüche seines Vorgängers gebilligt. Erwartete man wirklich von ihm, daß er weitere Briefe derselben Machart schrieb und die Charade weiter fortführte? Vielleicht war es das beste, jede Entscheidung zu verschieben, bis er mit ein paar anderen Kollegen in der Abteilung gesprochen hatte. Franklin hatte nichts davon gesagt, daß er irgendjemandem formell vorgestellt werden sollte, also beschloß er, selbst nach ihnen Ausschau zu halten. Nachdem der Großteil des Vormittags nun vorüber war und die Mittagspause näherrückte, verließ er sein Büro auf der Suche nach Gesellschaft. Er spähte durch den Glaseinsatz in der Tür seines Nachbarn, aber das Zimmer war leer. Das zweite Büro danach schien ebenso leer, aber das dritte Fenster zeigte einen einzelnen Insassen, der über einen Computermonitor gebeugt dasaß. Cohen klopfte mit der Absicht an die Tür, sich vorzustellen, aber der Mann starrte mit leerem Blick durch das Glasquadrat zu ihm auf und drehte ihm dann wieder wie ein Automat den Rücken zu. Cohen machte denselben Versuch an einigen weiteren Türen, bis schließlich ein Arbeitender mit einem schwachen Handwinken seinen Gruß erwiderte und ihn hereinbat. Doch selbst da konnte er den Gedanken nicht abschütteln, daß die Reaktion lethargisch und gleichgültig war, als stünde der Mann unter Drogen.
Sein Name, so sagte er, sei Mr. Kromer. Er war in mittlerem Alter, hatte lockiges schwarzes Haar, einen ungepflegten Schnurrbart und tiefliegende dunkle Augen. Seine kleine und schmale Gestalt war in einen schwarzgrauen Anzug gekleidet, der an den Manschetten sichtlich abgetragen war. Cohen versuchte, seine Neugier über die bizarre Interpretation der Urheberrechtsgesetzgebung seitens der Organisation hinter Smalltalk zu verbergen. Er ließ Kromer fröhlich wissen, daß dies sein erster Arbeitstag sei, aber Kromer lächelte nur matt und fragte schließlich höflich, aber kühl, was genau Cohen wollte, da dringende Aufgaben seiner Aufmerksamkeit bedurften. Cohen hatte nun keine andere Wahl mehr, als Kromer direkt von der mißlichen Lage zu erzählen, in der er sich befand. Zu seiner nicht geringen Überraschung schien Kromer, der konzentriert und ausdruckslos zuhörte, nicht im mindesten von der Situation beunruhigt. Als Cohen zu Ende erzählt hatte, erklärte Kromer, dies sei Teil der Firmenpolitik und Cohen würde – zu gegebener Zeit – schon noch die volle Rechtmäßigkeit ihrer Ansprüche durchblicken. Was den Zustand seines Computers anbetraf, so schien Kromer nicht in der Lage zu sein, den Grund für Cohens Verwirrung zu verstehen. Er gestikulierte mit der Hand zu seiner eigenen Maschine hinüber, und Cohen sah, daß sie sich in genau demselben nichtfunktionablen Zustand befand wie seine eigene: nur das Gehäuse eines Monitors, vollgestopft mit zerknitterten Dokumenten. Kromer erklärte, daß sich die darin enthaltenen Informationen täglich änderten und jeden Morgen frische Schreibarbeit hineingelegt würde. Cohen kehrte in sein Zimmer zurück. Wenn er auch äußerst verwirrt über die schiere Vergeudung von Zeit und Mühe war, die Teil seiner Arbeit zu sein schien, so beschloß er doch, zu versuchen, seinen Pflichten nachzukommen, da ihn seine
Arbeitgeber so gut bezahlten. Er verbrachte den Rest des Tages mit dem Aufsetzen von Briefen, die imaginäre, unhaltbare künftige Rechtsansprüche verteidigten; und war erleichtert, als er feststellte, daß ihm die Aufgabe um so leichter fiel, je länger er das tat. Es war beinahe so, wie einen Roman zu schreiben, vermutete Cohen, und er setzte all sein Können und seine Phantasie ein, um eine nebulöse Begründung für die Position der Organisation zu erfinden. Gegen Ende des Tages stellte er fest, daß er mit großem Tempo schrieb, und daß ungebetene, wenngleich reizvolle Extravaganzen in bezug auf „psychisches Durchsickern von Informationen“ in seine handschriftliche Korrespondenz integriert waren. Um sechs Uhr abends legte Cohen die Akten in den Ablagekorb mit den anhängigen Verfahren und bereitete sich zum Antritt des Heimweges vor. Er konnte sich nicht daran erinnern, ob er es geschafft hatte, an diesem Tag zu Mittag zu essen, aber er wußte genau, daß die Frau mit dem Wägelchen nicht vorbeigekommen war. Er rauchte eine letzte Zigarette und schaute, vor dem kleinen vergitterten Fenster stehend, hinaus auf die gegenüberliegende Ziegelwand. Es war dunkel draußen. Am Rande seines Gesichtsfelds entdeckte er Kromers Spiegelbild. Kromer stand in der Tür, jetzt in langem schwarzen Mantel und ramponiertem Hut mit weicher Krempe. „Sind Sie aufbruchsbereit, Cohen? Wollen wir die Fahrt zusammen antreten?“ Cohen gab gerne seine Zustimmung. Er hatte den ganzen Nachmittag mit niemandem gesprochen und konnte etwas Gesellschaft gebrauchen. Während des Weges zurück durch die labyrinthischen Korridore des Direktionsgebäudes fand Cohen Kromer mitteilsamer als zuvor. „Sie fragten doch nach unserer Methode im Hinblick auf Urheberrechtsangelegenheiten?“
„Ja. Es fällt mir schwer, zu glauben, daß wir legitimerweise das uneingeschränkte Eigentumsrecht über so viele Ideen und Konzepte beanspruchen können.“ „Nun, also, Ulymas will nur das Eigentumsrecht über das beanspruchen, was der Organisation von Rechts wegen gehört.“ „Und wie ich die Akten durchgelesen habe, war ich doch überrascht, daß sich so viele Vorgänge spezifisch mit dem… nun, also… mit dem Unheimlichen und Grausigen beschäftigen.“ „Ich war an meinem ersten Tag ebenso ratlos wie Sie.“ Kromer zeigte Mitgefühl. „Ich erinnere mich an ein Gefühl von – sagen wir – Absurdität bei den Forderungen der Organisation. Aber mit der Zeit ist mein Skeptizismus geschwunden. Wissen Sie, ich habe einmal gewisse Memoranda von Ulymas selbst erhalten…“ Er hielt inne und schien sich mit großem Genuß an das Ereignis zu erinnern. „Sie waren in fürchterlich krakeliger Handschrift geschrieben, aber sie richteten sich genau an meine Sorgen. Tatsächlich taten sie sogar mehr, als sich an meine Sorgen zu richten.“ „In welcher Hinsicht?“ „Sie waren Antworten auf Gedanken, die ich nicht mit irgendjemandem zu teilen gewagt hatte. Und die Memoranda von Ulymas waren immer in meinem Computermonitor abgelegt. Die Worte waren in Spiralenform geschrieben, von der Mitte nach außen…“ Cohen unterbrach ihn: „Sie wollen doch nicht andeuten, daß Ulymas über irgendeine Art telepathischer Intuition verfügt?“ „Warum nicht?“ „Es kommt mir wahrscheinlicher vor, daß er seine Angestellten ausspioniert.“
„Sie deuten doch nicht ernsthaft an, daß er versteckte Kameras hat?“ „Nein, ich glaube nicht.“ Während sie so redeten, bemerkte Cohen die ausdruckslosen Gesichter der anderen Ulymas-Angestellten, die auf dem Heimweg leeren Blickes geradeaus starrten. Er hatte das Gefühl, daß sie seine Konversation mit Kromer belauschten oder immerhin irgendwie in sich aufnahmen. Kromer schien Cohens Unbehagen zu spüren. „Es gibt keine Geheimnisse bei der Ulymas Organisation“, erklärte er mit traurigem Lächeln. „Je länger man hier arbeitet, desto unwichtiger scheinen einem unabhängige Gedanken.“ „Haben Sie Ulymas je getroffen? Leibhaftig?“ fragte Cohen Kromer. „Ich hatte noch nicht das Vergnügen. Ich kenne niemanden, der es hatte. Tatsächlich erfreuen sich einige unserer Kollegen an dem privaten kleinen Witz, daß er überhaupt nicht existiert!“ Die Vorstellung, daß die Ulymas Organisation ein Ort war, wo irgendjemand Witze machte, schien noch abwegiger. Cohen wurde sich dessen bewußt, daß sie schon ziemlich lang durch die Korridore gingen, ohne irgendwo anzukommen. „Ist das wirklich der Weg hinaus?“ fragte er Kromer. „Äh, das ist aber wirklich eine schwierige Frage. Wissen Sie, ich bin mir nicht sicher, daß ich mich erinnere, jemals einen Weg hinaus gefunden zu haben“, erwiderte er. „Was meinen Sie?“ Cohen wußte, daß er anfing, etwas von seiner Nervosität und Verzweiflung durchscheinen zu lassen. „Nur das: Ich weiß nicht, ob ich je den Ausgang gefunden habe. Das ist schon komisch. Ich versuche es jeden Abend, und irgendwie finde ich mich am nächsten Tag in meinem eigenen Büro wieder, aber ohne Erinnerung daran, was in den dazwischenliegenden Stunden passiert ist.“
Cohen blieb stehen, und Kromer sah überrascht drein: „Sie müssen es weiter versuchen. Wissen Sie, es könnte ja nur einmal eine Ausnahme geben.“ „Aber es gab bisher keine?“ „Nun, also, nein.“ „Und das macht Ihnen gar keine Sorgen?“ „Ich glaube, doch, das tut es. Es impliziert, daß alle Angestellten der Organisation des Rechts auf irgendeine Existenz über die Erfüllung der Pflichten hinaus beraubt worden sind, welche die Organisation für sie als angemessen erachtet.“ Kromer wirkte beinahe ängstlich, als er Luft holte und mit seinen Spekulationen fortfuhr. „Wissen Sie, ich kann mich an nichts aus meinem früheren Leben erinnern, außer an ein vages Gefühl, daß ich einmal irgendwie, auf irgendeine Weise gegen die Ulymas Organisation gehandelt habe.“ Er lächelte tapfer und sah sich verstohlen um, bevor er fortfuhr. „Vielleicht stellt die Arbeit hier irgendeine Art von Rache dar. Die meisten Angestellten, mit denen ich gesprochen habe, können sich nicht daran erinnern, wie sie eigentlich dazu kamen, für die Organisation zu arbeiten.“ Cohen ergriff Kromers Arm. „Also kommen Sie, das kann doch nicht stimmen. Sie sind nur ein bißchen erschöpft, das ist alles. Kommen Sie mit mir. Wir werden zusammen den Ausweg finden.“ Aber als er versuchte, sich daran zu erinnern, wo der Ausgang war, stellte Cohen fest, daß die Erinnerung an seine morgendliche Ankunft am Arbeitsplatz zu verblassen begann. Sie liefen recht ziellos von Korridor zu Korridor, wobei sie gelegentlich an anderen Leuten vorbeikamen, die sich in einem offenbar ähnlichen Zustand verwirrter Desorientierung befanden. Tatsächlich jagte einer der Kollegen Cohen einen furchtbaren Schrecken ein. Er hatte nur einen kurzen Blick auf sein Gesicht erhascht, als der Mann zu ihm aufschaute, aber es
war ihm so vorgekommen, als habe der Mann keine Augen, nur leere Höhlen, in die zerknüllte Papierfetzen gestopft waren. Schließlich fanden Cohen und Kromer das geflieste Treppenhaus, das hinunter zum Foyer führte. Der Sicherheitsbeamte saß nicht an seinem Schreibtisch, die Fensterläden waren geschlossen. Sie schauten durch die Gittertüren, konnten aber nur eine schwarze und sternenlose Leere erkennen. Das Gebäude schien über einem Abgrund zu schweben. Sonst gab es nichts anderes. Überhaupt nichts.
Als sie wieder in Kromers Büro ankamen, war Cohens Erinnerung an das, was geschehen war, verblaßt; so sehr verblaßt, daß er anfangen wollte, zu glauben, er habe es nur geträumt. Kromer schien in seine frühere Lethargie zurückgesunken zu sein und beschäftigte sich wieder mit dem Papierkram. Cohen beobachtete ihn dabei, wie er sich vor seinen Computerbildschirm setzte. Auf dem Schreibtisch vor dem Monitor lag ein Blatt Papier, auf das Kromer zuvor etwas gekritzelt haben mußte. „Aber was habe ich hier geschrieben?“ fragte er Cohen. Cohen trat vom Tisch zurück. Er hatte plötzlich Angst. Zurück in seinem eigenen Büro, sah er sofort, daß die Papiere, an denen er gearbeitet hatte, fortgenommen worden waren. Franklin hatte ihm ein Memorandum hinterlassen, auf dem stand, daß er nicht zufrieden mit Cohens Briefentwürfen war, ja daß er sich sogar verpflichtet gefühlt hatte, die Angelegenheit wiederum seinem Vorgesetzten zu melden. Cohen blickte an seinem Anzug hinunter und sah, daß er zerknittert und beschmutzt war. Sein Kinn war unrasiert. Wie lange er schon hier war, war bereits unmöglich zu sagen. Überdies schien es keine Rolle zu spielen. Er las das
Memorandum von Franklin zu Ende und sah die Worte: „Es ist an der Zeit, daß wir Strafmaßnahmen ergreifen.“ Von irgendwo weiter hinten den Korridor hinunter hörte Cohen ein leises Lachen, aber es klang kein Humor darin mit.
KOLONIE
Wohnung zu vermieten. Ein Schlafzimmer. Ravel Street. Sehr ruhige Gegend. £100 pro Woche. Kontaktieren Sie Mr. Mangan. Abends. Da stand auch eine Telefonnummer. Ich vereinbarte mit dem rauhkehligen Mangan einen Wohnungsbesichtigungstermin am selben Abend. Ich war schon seit Monaten auf der Suche nach einer neuen Bleibe, aber es war schwierig, etwas in dem Teil der Stadt zu finden, den ich bevorzugte. Ich hatte das Viertel durch Zufall während einem meiner vielen nächtlichen Erkundungsgänge entdeckt. Die schäbigen Straßen, die sich einen steilen Hügel hinunterwanden, faszinierten mich, und am Fuß des Hügels befand sich ein breiter schwarzer Fluß. Bei Nacht schien nichts auf der anderen Seite des Flusses zu existieren; kein Zeichen von menschlicher Bewohntheit, keine Straßen- oder Hauslampen. Als ich das Viertel tagsüber besuchte, fand ich heraus, daß dort ein großes, ödes Sumpfland lag, das sich bis weit in die Ferne erstreckte. Ich kannte die Ravel Street, denn ich war auf meinen nächtlichen Wanderungen mehrmals durch sie gegangen. Wie die anderen Straßen auf dem Hügel war sie gesäumt von der üblichen Doppelreihe amputierter Bäume mit Aststümpfen an den Stämmen. Die Häuser selbst waren ziemlich verschieden in Größe und Stil, wenngleich allesamt heruntergekommen. Einige waren ziemlich pompös, mit Giebeldächern und Veranden, andere hingegen nur ein Stockwerk hoch, und manche wenig mehr als Hütten. Viele sahen seit langem verlassen aus, und die Bewohner, die geblieben waren, schienen recht abgerissen zu sein – der Bodensatz der Gesellschaft. Die spärliche Einwohnerschaft des Viertels hauste offenbar seit Generationen hier und mochte – wie ich mir schließlich
zusammenreimte – früher vielleicht einer fremden ethnischen oder religiösen Gruppe angehört haben, auch wenn jeglicher Gott, den sie angebetet hatten, seit langem abgesetzt oder vergessen worden war. Während meiner Erkundungsgänge entdeckte ich Gebäude, die ich für Exemplare ihrer verlassenen Tempel hielt. Sie hatten eingestürzte Dächer und zerbrochene, gähnende Fenster. Ihr Inneres war mit kaputten Reliquien und verrottenden religiösen Inkunabeln übersät, geschrieben in einer Sprache, die mir wie eine uralte und tote vorkommen mußte. Ich war den seltsamen Leuten des Viertels während meiner mitternächtlichen Ausflüge in ihren Bezirk begegnet, und zunächst hatten sie mich ignoriert. Viele von ihnen waren nachts auf der Straße und wanderten wie Gespenster ohne einen für mich erkennbaren Zweck oder Ziel vor sich hin. Vielleicht, so fühlte ich, bestand die gemeinsame Identität, die sie miteinander verband und von Außenstehenden abschied, hauptsächlich aus einem gemeinsamen Gefühl des Verlusts, da ihre alten Gebräuche und religiösen Praktiken der Vergessenheit anheimgefallen waren? Vielleicht war dieser Verlust wie ein schwarzes Loch im Zentrum ihres geistigen Universums, das sie unablässig in sich hineinsog? Diese Theorie schürte den Wunsch in mir, hier nicht länger bloß Tourist zu sein, sondern Einwohner, und dadurch vielleicht dem Mysterium auf den Grund zu gehen. Während meiner jüngsten Nachtbesuche war mir aufgefallen, daß die Menschen, denen ich begegnete, endlich nicht mehr mit ihren trostlosen Augen meinem Blick auswichen und mich so als einen der ihren anerkannten. Und ich meinerseits empfand großes Mitgefühl mit diesen Leuten. Ihr entfremdetes Vorsichhinstarren, ihre weißen Pappmachegesichter und die Hoffnungslosigkeit ihrer Gesichter verliehen ihnen Faszination
und hoben sie von denjenigen ab, die nicht diesem Viertel entstammten. Ich langte zur verabredeten Zeit in der Ravel Street an und, wartete vor dem Haus, dessen Adresse mir Mangan genannt hatte. Es war ein hohes, schlecht erhaltenes Gebäude, fünf Etagen hoch, mit bogenüberwölbten schmalen Fenstern und einem spitzen Dach, das die Giebel an allen vier Fassaden überragte. Große Teile des äußeren Ziegelmauerwerks und Verputzes waren brüchig und verrottet. Die Fenster der ersten drei Stockwerke waren mit Brettern vernagelt, die in den oberen Stockwerken dunkel. An der Front des Gebäudes gab es einen zerfallenden dorischen Portikus. Ich schaute in beide Richtungen der Straße mit ihren amputierten Bäumen, kahl und fahl im Mondlicht. Ein brandneu aussehender Wagen mit blitzenden Scheinwerfern kam langsam die Straße entlang. Wenn das Mangan war, dann konnte man mit ziemlicher Sicherheit darauf wetten, daß er nicht vor Ort lebte: Es gab hier nur wenig parkende Autos, und diese waren allesamt ramponierte und veraltete Modelle. Tatsächlich grüßte mich der Fahrer und bremste am Randstein. Ein kleiner Mann in Regenmantel und schmalkrempigem Hut kletterte aus dem Wagen. Er mußte Anfang Fünfzig sein, und das, was ich von seinem Gesicht sehen konnte, war von tiefen Falten durchzogen. „Sie sind… Mr. Conrad Smith, richtig? Um die Wohnung zu besichtigen?“ fragte er. Ich nickte und schüttelte ihm die Hand. Er führte mich zur Tür des Hauses, und ich fragte, ob es irgendwelche anderen Mieter im Haus gäbe. „Oh nein, es ist eine Zeitlang unbewohnt gewesen. Im Moment ist nur die Dachwohnung bezugsfertig. Die anderen Wohnungen werden bald renoviert.“
Er sperrte die Haustür auf, und wir traten in eine Diele, die abgesehen von einem großen Spiegel leer war. Es war jedoch ein etwas unpassend wirkender neuer Teppich auf der steilen Treppe nach oben verlegt worden. Nach sechs Treppenabsätzen führte Mangan mich in die Dachwohnung. Obwohl ich die Wohnung in jedem Zustand übernommen hätte – so groß war mein Verlangen, in dem Viertel zu wohnen –, war es eine angenehme Überraschung für mich, als ich entdeckte, daß sich die Räumlichkeiten in gutem Zustand befanden. Wohnzimmer und Küche waren zu einem großen Lförmigen Raum zusammengelegt worden, während das Schlafzimmer separat an der Rückseite des Hauses lag. Mir gefielen die schrägen Wände und das einzelne Erkerfenster unter einem der Giebel. Ich würde an diesem Fenster sitzen und hinunter über die Dächer bis zu dem schwarzen Fluß und den Sümpfen auf der anderen Seite blicken können. Mangan warnte mich, daß das Haus im Winter besonders kalt sein würde (es war jetzt Oktober), und daß ich die Gasheizung beinahe ohne Unterlaß würde brennen lassen müssen. Er klärte mich darüber auf, daß die Heizkosten in der Miete inbegriffen waren. Wir einigten uns auf einen Halbjahresvertrag, und ich stellte an Ort und Stelle einen Scheck für die Kaution und die erste Monatsmiete aus. Er sagte, es stünde mir frei, einzuziehen, sobald bestätigt wurde, daß mein Scheck gedeckt war. Er versprach mich anzurufen, wenn das geschehen war, damit ich dann die Schlüssel abholen konnte. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß, bevor er zurückkam. Er sah ein bißchen durcheinander aus und sagte, daß er jetzt gerne das Haus abschließen und nach Hause gehen wolle. Während seiner Abwesenheit hatte ich herausgefunden, daß die Bewohner der Ravel Street die Dunkelheit dem Licht vorzuziehen schienen. Ich fand es faszinierend, daß ich –
obwohl ich keine einzige Lichtquelle in irgendeinem der Fenster der Straße unter mir sehen konnte – hin und wieder den Blick auf eine sich bewegende fahle, hagere Gestalt in einem der Häuser erhaschen konnte. Ein paar Tage später holte ich die Schlüssel aus Mangans kleinem Büro im Geschäftsviertel und mietete mir einen bescheidenen Lastwagen mit Fahrer, der meine Habseligkeiten und mich zu meinem neuen Heim transportierte. Als wir in die Gegend kamen, zeigte sich der Fahrer verwundert: Er behauptete, nie zuvor hier gewesen zu sein, obwohl er sich, wie er sagte, im Großteil der Stadt gut auskannte. Erstaunt äugte er durch die Windschutzscheibe auf die Prozession baufälliger Häuser und abgesägter Bäume. Es begann gerade zu dunkeln, als wir in der Ravel Street ankamen, aber für ein kleines Trinkgeld war der Mann bereit, mir zu helfen, meine Besitztümer hinauf in die Mansarde zu bringen – trotz der vielen Treppen. Doch spürte ich, daß er ängstlich darauf bedacht war, vor Einbruch der Dunkelheit aufzubrechen, und er riß mir fast die Banknoten aus der Hand, bevor er so schnell davonfuhr, wie es sein verbeultes Lastauto nur zuließ. Ich beobachtete seine Abfahrt von meinem Sitzplatz am Erkerfenster aus. Die Atmosphäre des Hauses schien ihn so verstört zu haben. Als die Nacht hereinbrach, schaute ich den ersten der Nachtwandlern dabei zu, wie sie auf die Straßen herauskamen. In dieser Nacht wurde mein Schlaf von Träumen heimgesucht, in denen ich selbst mit den anderen auf den dunklen Straßen unten umherging. Als ich am nächsten Morgen erwachte, empfand ich eine beinahe unüberwindbare Apathie, und ich mußte all meine Willenskraft aufwenden, um mich für die Arbeit fertigzumachen und durch die nun leeren Straßen den Hügel
hinaufzugehen. Ich nahm einen Bus zum Büro, wo ich arbeitete, und stellte fest, daß es mir beinahe körperlichen Schmerz bereitete, das Viertel zu verlassen. Nichts außerhalb der Gegend schien ganz real zu sein, alles hinterließ nur die vagesten Eindrücke in meinem Bewußtsein, wie eine Erinnerung, die man lieber vergessen möchte. Ich verrichtete meine Arbeit kompetent genug, aber sie erregte keinerlei Interesse in mir, und ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder auf die Uhr starrte und mich danach sehnte, daß es Zeit wurde, zur Ravel Street zurückzukehren. Meine Arbeitskollegen bemerkten meine Geistesabwesenheit und fragten mich nach dem Grund dafür aus. Ich diskutierte jedoch niemals irgendwelche Privatangelegenheiten im Büro, und so hatten sie nicht die Möglichkeit, mein Verhalten mit meinem kürzlich erfolgten Umzug in Verbindung zu bringen. Ich fragte mich, ob noch jemand anders von der Existenz des Viertels wußte. Ganz gewiß wurde es niemals erwähnt, aber es besaß ja auch keinen Namen, von dem ich gewußt hätte. Um 17.30 Uhr schaltete ich wie üblich meinen Computer aus, nahm meine lederne Aktentasche und machte mich bereit zum Aufbruch. Aber auf dem Flur wurde ich von drei Kollegen angesprochen, die hartnäckig darauf bestanden, daß ich mit ihnen in einem nahegelegenen Pub etwas trinken ging. Sie wollten den Geburtstag einer Sekretärin feiern und weigerten sich, meine Entschuldigungen zu akzeptieren. Ich unternahm im Verlauf des Abends einige Anläufe, von ihnen wegzukommen, aber all diese Versuche erwiesen sich als vergeblich. Ein paar Stunden später fand ich mich draußen auf der Straße wieder, angetrunken und in Begleitung der Sekretärin. Ich erkannte an ihrer Hartnäckigkeit, daß sie gern mit mir nach Hause gegangen wäre. Sie würde enttäuscht sein, das wußte ich, aber wie konnte ich ihr erklären, daß menschliche
Intimitäten keine Bedeutung mehr in meinem Leben hatten? Im Taxi fragte ich sie, wo sie wohnte, damit ich dem Fahrer sagen konnte, wo er sie absetzen solle, und ihre selbstbewußte Art wurde sofort zu verletzter Unsicherheit. Sie wandte sich ab, und wir fuhren den Rest des Weges in willkommenem Schweigen dahin. Nachdem sie sicher abgefertigt war, sagte ich dem Fahrer, er solle mich zu einer Straße in einiger Entfernung meines Heims bringen, damit ich den Rest des Weges zu Fuß gehen konnte. Der Alkohol, der durch meine Adern kreiste, hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht, und ich wollte sehen, welchen Effekt er auf meine Wahrnehmung des Viertels zeitigen würde. Ich ging durch die Straßen und begegnete von Zeit zu Zeit einem jener hageren Nachtwandler. Die Schatten selbst schienen in dieser Nacht lebendig geworden zu sein und ergossen sich wie Tusche über eine zernarbte Landschaft. Die Bäume schienen mit weißem Fleisch statt Borke bedeckt zu sein. Im hellen Mondschein ähnelten sie den Torsi enthaupteter Körper von riesenhafter Größe, die man in aufrechter Haltung halb begraben hatte. Fast hätte ich einen der Bewohner des Viertels während meiner Wanderung angesprochen, als ich dachte, seine Augen hätten sich absichtlich auf die meinen gerichtet. Aber ich hatte mich geirrt. Der Eindruck währte nur für den allerkürzesten Moment, dann senkte er den Blick, hoffnungslos, als wäre er über alles Maß verzweifelt und einsam. Ich hätte nicht sagen können, wieviel später es war, als mir klar wurde, daß ich den Treidelpfad am Fluß entlanglief. Ich ging vorbei an verrotteten hölzernen Lagerhäusern und einigen Hausbooten, die an den Ufern angelandet waren. All diese Boote waren schlecht in Schuß, einige davon halb versunken; nur armselige Rümpfe waren von ihnen geblieben, teilweise bedeckt von dem öligen Wasser, unbestattete Leichen auf
einem schlammigen Schlachtfeld. In den Booten brannten keine Lampen, aber genau wie bei den Häusern konnte ich gelegentlich den Blick auf ein geisterhaftes Gesicht in einem davon erhaschen, das herausspähte, bevor es wieder vom Dunkel des Bootsinnern verschluckt wurde. Den Weg zurück zur Ravel Street zu finden, stellte sich als schwierig heraus. Ich konnte keinen direkten Heimweg entdecken, nur eine Reihe von Umwegen und Sackgassen. Über mir schien der volle Mond, folgte mir hinter den Schornsteinen und spitzen Dächern und badete die weitläufigen Sümpfe in einem gespenstischen Licht.
Ein Aspekt der verfallenen Häuser des Viertels verwirrte mich gewaltig, und zwar selbst noch, als ich am folgenden Morgen erschöpft, mit pochenden Kopfschmerzen und vollständig bekleidet auf meinem Bett erwachte. Ich hatte schon zuvor bemerkt, daß einige der Häuser mit Brettern zugenagelt worden waren, aber nun hatte ich entdeckt, daß einige davon immer noch bewohnt waren. Als ich an einem solchen Gebäude vorbeigekommen war, hatte ich darin Schritte und leise, hohle Stimmen gehört, die in einer Sprache flüsterten, die ich nicht kannte. Ich konnte durch ein teilweise verrutschtes Brett in eins der Häuser hineinsehen und erhaschte einen Blick auf ein verwüstetes Gesicht. Es war dunkel, und mir wurde klar, daß ich die von der Sonne beschienenen Stunden durchgeschlafen hatte. Ich zog meine schmuddeligen Kleider aus und wusch mich. Obgleich ich keinen Appetit hatte, spürte ich, daß es besser wäre, etwas zu essen, und so bereitete ich mir eine Mahlzeit aus dem Kram, den ich mit in die neue Wohnung gebracht hatte. Ich nahm meine Schüssel mit hinüber zum Erkerfenster und spähte hinaus in die Nacht. Zu meinem Erstaunen sah ich eine
ungewöhnliche Menge Licht aus einer der Wohnungen im gegenüberliegenden Haus dringen. Ich konnte Dutzende von Kerzen hinter einem großen Oberlicht brennen sehen. Ich war fasziniert, als mir klar wurde, daß ich einen unverstellten Blick in diese Wohnung hatte, da sie nicht nur direkt gegenüber lag, sondern überdies nur eine Etage unter meiner eigenen. Die Kerzen waren auf den blanken Dielenbrettern in einem Kreis aufgestellt, und es gab keine Spur von irgendwelchem Mobiliar in dem Zimmer. Dann, gerade als ich mir eine Zigarette angesteckt hatte, erschien eine Gestalt. Sie war eine nackte Frau mit unbeschreiblich weißer Haut. Ihr Gesicht wurde von sehr langem, schwarzem Haar verhüllt, das glatt bis auf ihren Bauch hinunterhing. Sie kniete in der Mitte des Kerzenkreises nieder und las laut aus einem Ding vor, das wie eine der Inkunabeln aussah, die ich in den verlassenen Tempeln herumliegen sehen hatte. Ich horchte aufmerksam und glaubte ein Wispern zu vernehmen. Während ich angespannt lauschte, um mehr zu hören, beugte ich mich vor, um einen besseren Blick aus dem offenen Fenster zu haben. Sie warf den Kopf zurück, und ihr langes schwarzes Haar teilte sich und enthüllte ihr Gesicht. Es war das einer halbfertigen Pappmachepuppe. Die Augen waren tot und leer, als wären sie nur offene Höhlen. Ich zog noch einmal an meiner Zigarette und schnipste sie dann fort. Der Kopf der Frau sank herunter, und das lange schwarze Haar bedeckte wieder ihr schreckliches Gesicht. Ihr Kinn ruhte nun fast auf ihrer Brust, und der Vorhang ihres Haars floß über ihre Knie. Das Flüstern wurde fieberhaft. Dann ließ sie die Inkunabel aus den Händen fallen und blies die Kerzen aus, eine nach der anderen, bis nur noch der kalte Mondschein ihren Körper beleuchtete. Ich beobachtete voll entsetzter Faszination, wie sie auf dem Bauch über die Bodendielen zu kriechen begann. Wie eine große weiße
Spinne, ihre Haare hinter sich herziehend. Ich sah ihr zu, bis der Mond über den Himmel in eine Position gewandert war, wo sein Licht die Szenerie nicht mehr erhellte. Doch selbst als er vorbeigezogen war und ich nichts mehr sehen konnte, konnte ich die Frau leise vor sich hin flüstern hören. War dies der Überrest eines unbekannten uralten Rituals, vielleicht eine korrumpierte Abart der ursprünglichen Gottesanrufung in diesem Viertel? Das Ritual schien die Auslöschung des Lichts zu beinhalten, vielleicht, um das Ende der Hoffnung und den Abstieg in das Vergessen zu symbolisieren. Am darauffolgenden Tag ging ich zu einem der verlassenen Tempel und nahm eine Inkunabel für mich selbst mit.
Als die Wochen ins Land gingen, begann mir mein Leben außerhalb des Viertels wie eine grelle Halluzination vorzukommen, und ich verlor allmählich jegliches Interesse daran. Ich gab meine Anstellung auf. Meine Arbeit hatte ohnehin keine verständliche Form mehr, und die Firma akzeptierte dankend mein Kündigungsgesuch. Niemand dort schien mein Fortgehen zu bedauern. Ich glaube, ich muß zu einer anstößigen Gestalt für sie geworden sein. Es gab keine lebenden Familienangehörigen, die ich hätte meiden müssen; und die paar Freunde, die ich hatte, suchten meine Gegenwart nicht. Es war leicht, meine Verbindungen zur Außenwelt zu durchtrennen. Ich widmete nunmehr meine ganze Zeit dem Studium antiker Sprachen: Zend, Aramäisch, Akkadisch, Hebräisch, Etruskisch, Phönizisch – in der Hoffnung, daß sie mir bei dem Versuch dienlich sein würden, die okkulte Sprache des Viertels zu entziffern. Eines Tages bekam ich Besuch von meinem Vermieter Mangan. Es war sehr früh am Morgen, und der Klang seiner rauhkehligen Rufe, begleitet von Getrommel an meiner Tür,
weckte mich. Er hatte sich offenbar zum Gebäude Eintritt verschafft und war nur deshalb nicht in meine Wohnung gekommen, weil ich einen neuen Riegel angebracht hatte. Ich bat ihn zu warten, während ich mich ankleidete und die Tür aufschloß. Er warf mir nur einen kurzen Blick zu und trat dann zurück; aber er blieb auf der Treppe stehen, und seine Augen huschten über das Wirrwarr von Büchern und Papier. „Ähm… Mr. Smith… Ihre Miete… ist um einen Monat im Rückstand. Nicht akzeptabel. Sie müssen zahlen oder ausziehen.“ Ich erinnerte mich daran, daß ich etwas Geld in einem Umschlag irgendwohin gelegt hatte, holte es aus dem Versteck und händigte es ihm aus. Mangan öffnete den Umschlag und zählte die enthaltenen Banknoten. „Mr. Smith, das ist die Miete für sechs Monate im voraus. Wollen Sie so lange bleiben?“ Ich nickte geistesabwesend. „Ah, dann, gut, gut.“ Er schob das Geld in die Tasche. „Also, hören Sie mal“, sagte er. „Ich weiß, es geht mich nichts an, aber wenn ich Sie wäre, dann würde ich zu einem Arzt gehen. Sie sehen krank aus, wie diese Ausgeflippten, die hier in der Gegend leben. Und dieses viele Papier überall auf dem Boden. Ein Brandrisiko. Sie sollten mal aufräumen…“ Ich schloß die Tür sehr langsam, während er redete, und verriegelte sie. Ich konnte hören, wie er die Treppen hinunterging, und das leise Puckern seines Automotors, als er davonfuhr.
In dieser Nacht, als ich am Erkerfenster saß und über die Dächer, den Irrgarten enger Straßen und die zugenagelten Häuser hinausschaute, entdeckte ich eine Ansammlung von Nachtwandlern am oberen Ende der Ravel Street. Dort zog
eine Art gespenstischer Prozession durch das Mondlicht die Straße entlang auf mein Haus zu, vorbei an den Reihen amputierter Bäume. Zu meiner Überraschung versammelte sich die Menschenmenge vor meinem Haus, und ihre fahlen, ausdruckslosen Gesichter starrten zu meinem Fenster hoch. Wie verwischte Konterfeis auf einem schlechten Foto. Es waren hunderte von ihnen. Ich hörte, wie die Haustür aufgebrochen wurde, und den Lärm schwerer Fußtritte, als Dutzende der Nachtwandler die Treppen heraufstolperten. Bevor sie die Mansarde erreichten, durchquerte ich den Raum und entriegelte die Tür. Sie taumelten wie Schlafwandler herein und kamen auf mich zu, und ihre weißen Gesichter waren überall um mich herum, ununterbrochen flüsternd. Die Frau aus der Wohnung gegenüber war auch da. Sie sprach mit mir; halb in Englisch, halb in jener toten Sprache, und ich verstand endlich…
Wir alle sind verloren in der weiten, endlosen Nacht, die wir selbst sind. Wir wandern, hoffnungslos und auf ewig verlassen, durch unsere eigenen geheimen Höllenkammern. So wie die Schatten von der Nacht verschluckt werden, so rufen unsere Seelen nach ihrem Ursprung. Und alles, was dann noch bleibt, ist die Wahrheit: Es gibt nichts zu verstehen; die Worte der toten Sprache können nicht entziffert werden, und alles ist schwarz und eisig und trostlos, ohne einen Sinn oder eine endgültige Lösung…
VROLYCK
Ich wohnte damals in einem überfüllten Appartement draußen in der Vorstadt im Süden der Stadt. Das Appartement bot Ausblick über eine düstere Straße, die wegen der überwiegenden Anzahl von Fastfood-Restaurants stets mit Abfällen übersät war. Darunter auch ein Café, das vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet hatte, sieben Tage die Woche. Das Café war mir von Nutzen. Nach ein Uhr nachts war es normalerweise menschenleer, und ich verbrachte oft meine Zeit dort, schlürfte einen öligen Kaffee und las. Meine Schlaflosigkeit machte mir den Schlaf in den meisten Nächten unmöglich, und die Cafébesitzer waren ungesprächige Ausländer, die kein Interesse an ihren Kunden hatten. Die Ausstattung (Plastikgußstühle und Resopal-Tische) schien seit den Siebzigern unverändert zu sein. An der Decke verlieh Neonröhrenbeleuchtung dem Ort ein strahlend weißes, sanitärhygienisches Flair gleich einer Krankenhauskantine. Eines Nachts, als ich in dem Café saß und in meiner üblichen Ecke einen lauwarmen Kaffee trank, trat eine Frau Anfang Dreißig in pelzbesetztem schwarzen Mantel an meinen Tisch. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ fragte sie. „Es macht mir nichts, wenn Sie lieber Ihre Ruhe haben wollen.“ Meine erste Reaktion war ein Gefühl der Beunruhigung; ich war überrascht, daß sie meinte, ungebeten in meine Privatsphäre eindringen zu müssen. Aber ihr Gebaren war entschuldigend und harmlos, und ich hatte nicht den Wunsch, eine Szene heraufzubeschwören, indem ich unhöflich zu ihr war. Sie gab mir noch einen Kaffee aus. Ich hatte schon seit der letzten halben Stunde am Bodensatz des vorigen genippt. Die Frau sagte mir, ihr Name sei Emily Curtis.
„Entschuldigen Sie meine Neugier“, sagte sie, „aber Sie sehen sehr müde aus. Leiden Sie etwa auch an Schlaflosigkeit?“ Wir führten eine Unterhaltung über schlaflose Nächte und die verschiedenen Arten von Medikamenten, die einem zur Linderung dieses Zustands verschrieben werden. Sie hatte viele der gleichen Mittel probiert wie ich und gleich mir herausgefunden, daß die Nebenwirkungen sie dazu bewogen, auf ihren Gebrauch zu verzichten. „Haben Sie das letzte probiert“, fragte sie, „dieses angeblich extrem starke, das gerade erst auf den Markt gekommen ist?“ „Triaxopol?“ fragte ich. „Das hat die ersten paar Wochen gut gewirkt. Aber die Magenkrämpfe wurden unerträglich. Die einzige Art, wie ich dem Schmerz Herr werden konnte, waren Stimulanzien, die die Wirkung des Schlafmittels verminderten! Am Schluß habe ich herausgefunden, daß ich lieber mit der Erschöpfung lebe.“ „Ich glaube, mein Zustand ist erblich bedingt“, sagte sie, „meine Mutter leidet am selben Problem. Entweder sie oder ich sind in den frühen Morgenstunden wach. Doch wir leisten uns gegenseitig Gesellschaft.“ „Ich wohne allein. Ich finde, daß ich nicht viel mit anderen Leuten gemeinsam habe“, erwiderte ich. Ich erfuhr, daß sie und ihre Mutter auf der Nordseite der Stadt lebten, und daß sie ein paar Freunde in diesem Viertel besucht hatte. Sie war in das Café gekommen, um sich hier die Stunden bis zur Morgendämmerung wartend zu vertreiben. Ich vermute, ich beneidete sie um ihre Fähigkeit, auf einen Fremden zuzugehen, ohne eine Spur von Befangenheit an den Tag zu legen, denn mein eigenes Temperament ist von ausgesprochen einzelgängerischer Natur. Nach einer halben Stunde oder so fragte sie mich wegen des „weißen Make-up“, das meine Hände und Gesicht vollständig
bedeckte. Ich vermute, die Frage war unausweichlich, und ich war überrascht, daß sie so lange gebraucht hatte, bis sie das Thema anschnitt. „Bitte verzeihen Sie, daß ich das sage“, meinte sie, „aber es verleiht Ihnen ein gespenstisches Aussehen. Ich dachte, Sie tragen das Make-up vielleicht bewußt, wie manche Gothics es tun, um morbid zu wirken.“ „Wohl kaum“, erwiderte ich. „Ich habe keine andere Wahl. Es maskiert die schlimmsten Anzeichen der chronischen Schuppenflechte. Das ist eines der Kreuze, die ich neben der Schlaflosigkeit trage. Mir wurde gesagt, daß es psychosomatisch ist und durch den Streß nach einem Unfall hervorgerufen wurde, den ich vor kurzem erlitten habe.“ „Sie sind aber wirklich in schlechter Verfassung, nicht wahr?“ „Ist das nicht jeder?“ Obschon unser Gespräch recht natürlich floß und ich sie geistig verwandter fand als alle anderen, mit denen ich seit vielen Wochen gesprochen hatte, begann ich mich doch bald über die Störung zu ärgern und sehnte mich danach, in mein Appartement zurückzukehren. Die Frau sah das Buch, das ich beiseite gelegt hatte, um mit ihr zu sprechen. Es war ein mitgenommenes altes Exemplar von „The Noctuary of Time“, und sie hob es auf und blätterte neugierig die Seiten um. „Ich liebe dieses Zeug“, sagte sie, „schon so lange, wie ich mich zurückerinnern kann. Als ich, oh, ungefähr vier Jahre alt war, fand ich ein Exemplar von Struwwelpeter unter den Büchern in der örtlichen Bibliothek. Die Bilder haben meine Obsession für merkwürdigen Horror geweckt.“ „Und jetzt, da Sie älter sind?“ „Ich lese die europäischen Schriftsteller, diejenigen, deren Werk sich um Grausamkeit und Schmerz dreht: zum Beispiel
Hanns Heinz Ewers, Stefan Grabinski und Leonid Andrejew. Kennen Sie ihre Werke?“ „Ich kenne sie, in der Tat.“ Sie lachte: „Ich glaube, meine Lesegewohnheiten haben zu meiner Schlaflosigkeit beigetragen, wissen Sie. Wenn ich dann doch schlafe, sind einige meiner Träume wirklich furchtbar!“ „Meine auch. Aber ich kann sie zumindest verwenden; ich schreibe.“ „Wirklich? Wurde schon etwas von Ihnen veröffentlicht?“ „Nur ein paar dünne Büchlein mit unheimlichen Geschichten. Sie waren nicht sehr erfolgreich, aber sie haben mir ein bißchen Aufmerksamkeit bei den Leuten eingebracht, die solche Werke lesen. Nur in letzter Zeit habe ich nicht viel geschrieben. Ich habe versucht, etwas zu Ende zu bringen, das ich gerade vor meinem Unfall angefangen hatte.“ „Wie heißt es?“ „Der Arbeitstitel ist ,Die Dybbuk-Pyramide’.“ „Ich würde es so gern lesen“, erbot sie sich. „Ich weiß nicht. Es braucht noch einiges an Bearbeitung, auch wenn ich im Augenblick nicht wirklich erkennen kann, was ich damit anfangen soll.“ „Vielleicht könnte ich Ihnen ein paar Vorschläge machen?“ Ich dachte einen Moment darüber nach, nickte dann zur Zustimmung. Inzwischen war es nach vier Uhr morgens und ich konnte den Drang, allein zu sein, nicht länger unterdrücken. Als ich aufstand und meinen schwarzen Mantel anzog, dankte sie mir für das Gespräch und sagte, sie würde in achtundvierzig Stunden wieder in das Café kommen und hoffe, wir würden dann vielleicht wieder miteinander sprechen. Ich versprach, das Manuskript der ,Dybbuk-Pyramide’ mitzubringen.
Die Tatsache, daß sie gestanden hatte, an literarisch inspirierten Alpträumen zu leiden, faszinierte mich, und ich faßte den Entschluß, die Verabredung einzuhalten.
Unser nächstes Treffen war ziemlich flüchtig. Wir unterhielten uns nur kurz, da sie ziemlich benebelt war, aber ich gab ihr das Manuskript meiner Geschichte und rief ein Taxi, das sie nach Hause bringen sollte. Wir verabredeten uns jedoch auf ein weiteres Mal im Café, und sie bestand darauf, mir ihre Telefonnummer zu geben. Bevor ich sie in das Taxi setzte, drückte sie mir auf zärtliche Weise die Hand. Ich merkte peinlich berührt, daß Reste von meiner Maskierungs-Lotion an ihren Fingern hängenblieben.
Unser drittes Treffen stellte sich als das bislang interessanteste heraus, da es den Grad offenbarte, zu dem mein Einfluß über sie angewachsen war. Sie war im Café, bevor ich ankam, wachte über einen Kaffee und rauchte dieselbe Marke Zigaretten, die ich auch kaufte. Mir fiel eine Veränderung an ihrem Gesicht auf; die Naivität schien unterdrückt und durch einen ungewöhnlichen Ausdruck, beinahe den von geistiger Verwirrtheit, ersetzt worden zu sein, der mir in der Tat sehr gut vertraut war. Sie hatte die DybbukPyramide auf dem Tisch vor sich ausgebreitet. Ich setzte mich und nahm die Zigarette an, die sie mir anbot. Ohne Umschweife äußerte sie das folgende: „Diese Geschichte ist zweifellos das Merkwürdigste, das ich je gelesen habe. Es ist, als ob der Text eine Spiegelung meiner eigenen Gedanken wäre. Nein – das stimmt nicht. Es ist, als ob meine Gedanken nur eine Spiegelung der Story wären. Als ich sie las, konnte ich meine Augen nicht von den Seiten abwenden und vergaß
die ganze Welt um mich herum. Es kam mir so vor, als ob mein Geist ein Teil des Textes würde. Und das wirklich Bizarre daran ist, daß es oberflächlich betrachtet nur ein wirres Durcheinander von unzusammenhängenden Worten zu sein schien!“ „Es ist ein Experiment“, sagte ich zu ihr, „eine neue Technik, die ich zu perfektionieren versuche.“ „So wie Joyces Bewußtseinsstrom oder Burroughs’ ,Cutups’∗?“ „So ähnlich“, stimmte ich vorsichtig zu. Ich vermute, die Mehrzahl der Schreiberlinge wäre erfreut und geschmeichelt über solche Bemerkungen. Es war immerhin ein Zeichen dafür, daß die Geschichte genau den gewünschten Effekt zeitigte. Doch persönliche Befriedigung als Schriftsteller war überhaupt nicht mehr von Belang für mich. „Was hat Sie dazu inspiriert, das zu schreiben?“ fragte sie. „Ich habe hier ein paar Notizen, die ich bei dem Versuch gemacht habe, mir über die Dinge in meinem eigenen Kopf klar zu werden, als alles begann. Sie sind sehr kurz. Sie können sie gern lesen.“ Ich gab ihr ein Blatt Papier, das ich aus meinem Notizbuch gerissen hatte: ,Die Dybbuk-Pyramide ist der Versuch, ein völlig fremdes Bewußtsein darzustellen, das mit dieser Welt in Kontakt tritt und mit ihr interagiert. Es ist nicht so, daß das Wesen böse ist – eine solche Interpretation entspringt nur der menschlichen Denkweise –, sondern vielmehr so, daß seine Existenz an sich der Menschheit Feind ist. ∗
Cut-up ist eine Technik, die von W. S. Burroughs verwendet wurde. Ein Blatt Papier mit einem Text wird in Stücke geschnitten und nach dem Zufallsprinzip wieder zusammengesetzt. Dadurch kommen neue Worte, Sätze und Bedeutungen zustande. (Anm. der Übersetzerin)
Der erste Entwurf versuchte, die Geschichte aus der Sicht der fremden Kreatur zu präsentieren: ihre Denkvorgänge mußten sich wesentlich von denen der Menschen unterscheiden, und natürlich ging es nicht an, ein Vokabular zu verwenden, das der menschlichen Erfahrung entspricht. Ich stellte bald fest, daß der erste Entwurf unmöglich funktionieren konnte. Er las sich als totales Kauderwelsch. 99 % der Erfahrungen eines fremdartigen Wesens würden für uns keinerlei Sinn ergeben. Selbst wenn sich die Erzählung auf eine einfache Begegnung mit der menschlichen Rasse beschränkt hätte, so hätte die Technik der immens verzerrten Darstellung zur Folge gehabt, daß sie noch am ehesten dem sinnlosen Gekritzel geähnelt hätte, das manche Schizophrenen hervorbringen. Dann wurde mir klar, daß es vielleicht möglich sein könnte, so eine Geschichte als Erzählung in der Ich-Form zu schreiben, in der sich das Alien-Bewußtsein mit dem eines Mannes oder einer Frau verbindet, vielleicht als Einleitung für eine Invasion außerirdischer Mächte. Dadurch könnte der Alien-Aspekt durch menschliche Wahrnehmung gefiltert sein, um der Erzählung genügend Zusammenhang und Vertrautheit zu verleihen, die es ihr ermöglichen würde, der menschlichen Leserschaft vermittelbar zu sein. Die Curtis hatte zu Ende gelesen und schien über das Geschriebene nachzudenken. Während ihres Schweigens steckte ich mir eine meiner eigenen Zigaretten an, bot ihr eine davon an und sah zu, wie sich der Rauch den Neonröhren an der Decke entgegenkräuselte. „Es ist Ihnen gelungen“, sagte sie schließlich. „Die Story ist wie eine Beschwörungsformel. Es liegt eine mysteriöse Macht darin, die man mit Worten nicht beschreiben kann. Vielleicht ist die nächste Analogie, die ich finden kann, daß man sich
fühlt, als ob alles Menschliche Lug und Trug wäre: nur Fassade für etwas gänzlich anderes. Und was hinter dieser Fassade liegt, das kann man nicht verstehen.“ Ich nickte und schnippte Asche in die Untertasse meines Kaffeebechers. „Sie sind so nah dran, wie man nur an die Wahrheit herankommen kann“, sagte ich. Das Wort „Kontaminierung“ stieg ungerufen in meinem Geist auf. Ich drückte meine Zigarette in der Untertasse aus, trank den Rest meines Kaffees und sagte zu ihr, daß es spät sei und ich wirklich gehen müsse. „Ich bin jemand“, sagte ich, „der die Abgeschiedenheit von anderen Menschen braucht.“ Ich hatte herausgefunden, daß zuviel Kontakt mit ihnen ohne Ausnahme den Status der Zurückgezogenheit empfindlich störte, der es mir erlaubte zu funktionieren. Außerdem wußte ich, daß meine Arbeit hier praktisch erledigt war. Sie lächelte, als verstünde sie mein Dilemma, und dann streckte sie eine ihrer behandschuhten Hände über die meinige und streichelte sie mit den Fingerspitzen. „Eine Sache, die ich nicht erwähnt habe“, sagte sie, „ist das Gefühl der Isolation, das in der Story ‘rüberkommt. Es ist, als ob der Autor dieser Welt völlig ratlos gegenübersteht, ganz allein. Vielleicht ist es ein Hilfeschrei?“ Ich zog meine Hand unter der ihren hervor, stand mit Entschiedenheit auf und dankte ihr. Meinen schweren Wintermantel um mich ziehend, ging ich auf die Tür zu. Es gab keine Notwendigkeit dafür, daß wir uns erneut trafen, sofern es keiner weiteren persönlichen Intervention zur Beschleunigung des Prozesses bedurfte.
Der Fußweg zurück zu meiner Wohnung war nur eine Sache von Minuten. Ich empfand stets Gefallen beim Anblick der menschenleeren Straßen zu dieser Zeit der Nacht. Tagsüber wimmelte die Hauptdurchgangsstraße geschäftig vor Verkehr und Fußgängern, aber nach Mitternacht hatte sie das Flair von angenehmer Verlassenheit. Ich verschaffte mir Einlaß zu dem unauffälligen Wohnblock und begab mich die Treppen hinauf zu meiner Wohnung. Soviel ich wußte, gab es nur drei andere Mietparteien, und das kam mir sehr gelegen, denn so war das Haus in der Nacht totenstill. Drinnen angekommen, setzte ich mich in den Sessel am Fenster. Die Vertrautheit meiner Umgebung gestattete es mir, nach der Begegnung mit Emily Curtis Entspannung zu finden. Ich schaute hinüber auf die andere Seite des Zimmers zu dem niedrigen Bücherschrank, der gefüllt war mit den ungefähr drei Dutzend zerfledderten Büchern, die ich immer wieder gelesen hatte. Ich kannte die Bände in- und auswendig, von den Beschädigungen und Tränen auf den Schutzumschlägen bis zum dunklen Grauen ihres Inhalts. Ich hatte sie als Beispiele für die Perfektionierung meiner Methode verwendet. Aus dem Sessel streckte ich die Hand zum Fenster hinüber und zog die Vorhänge auf, um zu den Sternen emporsehen zu können. Wie üblich hatte ich das köstliche Gefühl eines Aufwärtssturzes in einem Aufwallen kosmischen Schwindels, als befände sich der Himmel unter statt über mir. Ich öffnete das Fenster und beugte mich hinaus, um einen klareren Blick zu haben. Eine Zeitlang gestattete ich der angenehmen Übelkeit, mich zu überrollen, aber schließlich mußte ich meinen Blick wieder auf die Straße richten. Ich hatte Angst, daß ich das Gleichgewicht verlieren und auf das Pflaster unten hinabstürzen würde, wie es mir schon einmal widerfahren war.
Dort, unter einer Straßenlaterne, sah ich das bleiche Gesicht von Emily Curtis, die mich mit konzentriertem Starren betrachtete. Ich zog die Gardinen zum Schutz vor diesem Anblick zu, und als ich sie eine halbe Stunde später wieder öffnete, war sie verschwunden.
Es gelang mir, ein paar Stunden zu schlafen. Später am Morgen, als ich gebadet und die maskierende Lotion auf meine Haut aufgetragen hatte, klingelte das Telefon. Es war Emily. Ich klemmte mir den Hörer zwischen Schulter und Ohr und hörte mir an – während ich mir eine Zigarette anzündete –, wie sie sich für ihre Aufdringlichkeit entschuldigte. „Vrolyck, ich kann die Nachwirkungen dieser Geschichte einfach nicht abschütteln“, erklärte sie. „Sie geht mir Tag und Nacht nicht aus dem Kopf. Sie ist ein Teil von mir geworden. Was ich auch tue, ich kann nicht aufhören, daran zu denken. Sogar jetzt, wo ich mit Ihnen spreche, sehe ich die Wörter auf den Seiten.“ „Ah“, sagte ich zwischen zwei Zügen an meiner Zigarette. „Ich muß mich mit Ihnen treffen. Wir müssen darüber reden. Es ist nicht richtig. Ich habe Angst, ich verliere meinen…“ „Ich würde es vorziehen, nicht länger über die Geschichte zu diskutieren“, unterbrach ich sie. „Im Augenblick brauche ich vollkommene Abgeschiedenheit.“ „Für wie lange?“ „Für unbestimmte Zeit.“ Als ich den Hörer auflegte, erinnerte ich mich daran, daß sie nicht nur meine Telefonnummer wußte, sondern auch, wo ich wohnte. Ich hoffte, daß sie auf meine Bitte, sich fernzuhalten, hören würde. Es war von dringender Notwendigkeit, daß ich herausfand, ob meine eigene physische Gegenwart ein Faktor für die weitere Entwicklung war oder nicht.
Wochen verstrichen, und ich nahm meine nächtliche Gewohnheit wieder auf, das Café gegenüber heimzusuchen und durch das Fenster zuzusehen, wie die Sterne über mir wirbelten. Was mit Emily Curtis geschehen war, war – wie ich befürchtete – wohl nur ein Einzelfall gewesen; die Konsequenz einer kurzen Einflußnahme, die ohne bleibende Wirkung verblassen würde. Solche Vorkommnisse hatte es schon früher gegeben, und sie waren schwere Enttäuschungen für mich gewesen. All meine früheren Kontakte waren Subjekte mit wenig Phantasie, und auch wenn einige wenige davon nach der Lektüre von „Die Dybbuk-Pyramide“ an sonderbaren und grauenhaften Träumen gelitten hatten, war diese Wirkung nicht von langer Dauer gewesen. Ich fragte mich, ob – vielleicht, wenn ich sie in ein einfacheres Englisch übertrug – eine dauerhafte Kontamination erreichbar wäre. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt kein großes Interesse am Schicksal Emily Curtis’, der Tatsache zum Trotz, daß einer meiner Brieffreunde, der in derselben Stadt wohnte, mir schrieb, er habe sie auf der Straße getroffen. Das war möglicherweise in der Nacht geschehen, in der ich sie beim Heraufstarren zu meinem Fenster ertappt hatte. Scheinbar war sie wie benommen umhergelaufen, und als er auf sie zuging, war sie vor Schrecken geflohen. Sie schien ihn nicht erkannt zu haben, wenngleich sie sich seit unserer Zusammenkunft des öfteren verabredet hatten, um über meine veröffentlichten Storysammlungen zu diskutieren. Zwei Wochen später erhielt ich ein Manuskript, das Emily Curtis mit der Post an mich gesandt hatte. Es schien, daß sie selbst eine Geschichte geschrieben hatte, die sie „Die Übertragung“ nannte. Es lag auch ein Brief bei. Ein Blick genügte, um mir zu bestätigen, daß die Kontamination von voranschreitender und nicht nur vorübergehender Natur war.
Es war ein sehr kurzer Brief, und die Hauptaussage lautete wie folgt: Ich befinde mich in einem verwirrten Geisteszustand. Ich vergesse sogar meinen eigenen Namen und oft selbst, wo ich bin. Tagsüber beobachte ich die Schatten vom Fenster aus, wie sie auf mich zukriechen. Und nachts beobachte ich die Männer, die arbeiten. Die beigefügte Geschichte, die ich vor einer Woche begonnen habe, gehört Ihnen. Ich habe vielleicht keine Zeit mehr, sie zu beenden. Bevor das, was ich einmal war, für immer verloren ist, ist es das beste, daß Sie die Story sehen. Es war so, wie ich es erwartet hatte: das Manuskript wirkte unverständlich. Auf Kanzleipapier geschrieben, bestand es aus scheinbar zufällig gesetzten Worten. Diese waren nicht in horizontalen Zeilen geschrieben, sondern in variierenden Winkeln zueinander, in Spiralen und um die Ecken des Papiers herum. Einige der Wörter waren in Englisch, andere in verschiedenen anderen Sprachen, und eine Anzahl davon bestand aus extravaganten Schriftzeichen, die für jeden außer mir bloßes Kauderwelsch dargestellt hätten. Die Stellen, die in Englisch waren, habe ich unten zitiert, nachdem ich sie in linearer Weise angeordnet und Übersetzungen eingefügt habe, wo notwenig. Sie spiegeln fast exakt meine eigene Geschichte „Die Dybbuk-Pyramide“ wieder. Im Traum hatte sie sich in einer seltsamen und unbekannten Stadt wiedergefunden. Ihr Körper war ihr nicht vertraut und schien der eines beinahe haarlosen Zweibeiners zu sein, umhüllt von dunklen Tüchern. Dieser Körper war eine Quelle
des Abscheus für sie; eine aufrechtstehende Masse von Gewebe, gefüllt mit Wasser, Fäkalien und Schleim. Seine Sinneswahrnehmungen waren überwältigend; unvereinbar widersprüchliche, aber kontinuierliche Bilder von lebhafter Farbe und verwirrende, durch die Luft getragene Empfindungen schienen durch die Löcher im Kopf einzutreten; Vibrationen, die keinen Sinn ergaben, drangen durch andere Löcher auf beiden Seiten, und Druckempfindungen von unerträglicher wechselnder Stärke spielten über die äußere Schicht des Zweibeiners. Während diese Kreatur durch die menschenleere und dunkle Stadt aus Monolithen stolperte und vorbei an schwarzen, vertikalen Säulen, die fächerförmig in raschelnde Gliedmaßen ausliefen, sog sie immer wieder Luft in sich hinein, mit der grauenhaften Empfindung dieses ungleichmäßigen Rhythmus. Der Traum schien nicht sehr lang zu währen und wurde beendet, als das Geschöpf auf ein anderes seiner Art traf Dieses andere zu sehen und zu wissen, daß das die Gestalt war, in der sie auch selbst gefangen war – Curtis fand, daß dieses Grauen mehr war, als sie ertragen konnte. Das Wesen torkelte auf sie zu, gehüllt in ähnliche Tücher, aber diese verbargen nicht die Monstrosität seines schrecklichen Gesichtes, das dem eines derangierten weißen Affen glich. Als es eine Miene aufsetzte, die ihr völlig fremd war, floh sie, nur um von ihren eigenen Schreien geweckt zu werden, vollständig bekleidet auf dem Bett in der Wohnung, die sie mit ihrer alten Mutter teilte. Ob es der Traum selbst gewesen war, der sie geweckt hatte, oder die Erinnerung an den Traum in einem Zustand des Halbbewußtseins, konnte sie nicht sagen. Mir wurde klar, daß das, was ich in Gang gesetzt hatte, nunmehr meiner Intervention bedurfte: Es war an der Zeit, daß auch Emily einen Unfall hatte. Zweifelsohne würde ihr das
ohnehin irgendwann zu gegebener Zeit zustoßen; aber die Zersetzung meiner eigenen körperlichen Hülle war inzwischen so weit fortgeschritten, daß mein Terminplan vorgezogen werden mußte, wenn ich den Erfolg meines Planes beurteilen können wollte. Meine Schuppenflechte hatte sich zu etwas mehr der Lepra Ähnelndem verschlimmert; und ich war mir nicht sicher, wie lange mein Gesundheitszustand noch standhalten würde.
Die Busfahrt in Curtis’ Teil der Stadt dauerte etwas weniger als eine Stunde. Abgesehen vom Fahrer und mir war der Bus leer. Eines der kleinen Fenster, die Luftzirkulation gewährten, stand offen, und eiskalte Luft wehte auf das Deck. Ich hatte vorher angerufen, und Curtis’ Mutter war ans Telefon gegangen. „Hallo?“ Sie hatte gezwungen und angespannt geklungen. „Mrs. Curtis? Hier ist Trefusis Vrolyck. Ich bin ein Freund ihrer Tochter. Entschuldigen Sie, daß ich anrufe, aber ich habe erfahren, daß sie krank ist, und ich mache mir Sorgen um sie.“ „Oh, Mr. Vrolyck, danke für Ihren Anruf. Emily hat Sie mehrmals mir gegenüber erwähnt.“ „Wie geht es ihr?“ „Der Arzt denkt, es ist ein Nervenzusammenbruch. Sie hat ihr Bett seit Tagen nicht verlassen. Sie spricht nicht und ißt nicht, liegt nur da und starrt vor sich hin.“ „Vielleicht könnte ich sie sehen? Es könnte ihr helfen.“ „O ja, bitte. Ich bin am Ende meiner Weisheit. Sie hat mir oft gesagt, wie sehr sie Sie bewundert hat, und wenn sich ihr Zustand nicht ändert, hat der Arzt gesagt, dann muß sie in eine dieser gräßlichen psychiatrischen Einrichtungen gebracht werden. Ich könnte es nicht ertragen, wenn das geschieht.“
„Ich kann in einer Stunde oder so da sein. Würde Ihnen das passen?“ „O ja, das wäre wunderbar. Ich danke Ihnen so sehr, Mr. Vrolyck.“ „Wir sehen uns dann also demnächst.“ Und so trat ich aus dem Bus auf das Trottoir neben einer sehr geschäftigen zweispurigen Straße, flankiert von Fünfzigerjahre-Sozialbauten. Die Gebäude waren Blocks, sieben Stockwerke hoch, alle aus identischem, einfach grauem Beton mit Flachdächern und offenen Fußwegen. Das CurtisAppartement lag in einem der Blocks am Südrand. Alle Wände waren mit Graffiti bedeckt, die meisten davon stellten einfach nur die Namen derer dar, die ihre Spraydosen gegen diese Wände gerichtet hatten, aber es gab auch ein paar Symbole, die auf eine mir bekannte Quelle hinwiesen. Es waren die Symbole, die ich versucht hatte, via „Die DybbukPyramide“ ins Englische zu übertragen. Ich mußte eine dem Vandalismus zum Opfer gefallene Treppe emporsteigen, um den zweiten Stock zu erreichen. Auf dem Aufwärtsweg kam ich an einem Stadtstreicher vorüber, der in irgendein eigenes, privates Ritual vertieft zu sein schien. Er murmelte vor sich hin und arrangierte den Abfall, der auf den Stufen herumlag, zu einem kleinen Haufen. Er beäugte mich neugierig, als ich vorbeiging, und sein Gesicht hatte etwas an sich, das mich stutzen ließ. Bei näherer Inspektion sah es so aus, als sei er das Fleisch und die Muskeln nicht gewohnt, die seinen Schädel umhüllten. Er verzog das Gesicht unablässig auf eine verkrampfte Art und Weise, als wisse er nicht genau, welcher Gesichtsausdruck zur Zurschaustellung anderen Menschen gegenüber angemessen war. Ich hatte nach meinem Unfall meine eigenen Erfahrungen mit diesem Dilemma gemacht.
Als ich das Curtis-Appartement erreichte, mußte ich ein paarmal auf den Klingelknopf drücken, bevor ich schlurfende Schritte hörte. Die Tür wurde einige Zentimeter weit geöffnet, war aber von einer Kette gesichert. Eine alte Frau spähte zu mir heraus. „Mr. Vrolyck?“ fragte sie. Zuerst dachte ich, sie wäre von meinem Aussehen verunsichert, denn in Wirklichkeit verbarg die maskierende Lotion, die ich verwendete, schon nicht mehr die Verwüstungen, welche die Zeit an meiner Haut gewirkt hatte. Doch dann wurde mir klar, daß ihre Sehschärfe nicht gut war und sie mich nur kurzsichtig anblinzelte, da sie zu eitel oder zu dumm war, eine Brille zu tragen. „Das ist richtig. Sie müssen Emilys Mutter sein.“ „Ja. O bitte, kommen Sie doch herein“, sagte die Frau. Sie nahm die Kette ab und winkte mir, ihr zu folgen, während sie in ihren Pantoffeln den Flur entlangschlürfte. „Ich bekam gerade einen Anruf von Dr. Phelps, der mir gesagt hat, er findet, daß ich wirklich diese Papiere unterschreiben sollte. Wissen Sie, die, die ihn dazu ermächtigen, zu veranlassen, daß Emily in Gewahrsam kommt? Das alles ist so erschütternd.“ „Ich kann mir vorstellen, daß es schrecklich für Sie sein muß. Aber ich glaube, es ist klug von Ihnen, daß Sie jede Möglichkeit ausprobieren, bevor Sie dieser Vorgehensweise zustimmen“, erwiderte ich. „Wissen Sie, was ich glaube, was die Ursache für all das ist?“ fragte sie. „Bitte sagen Sie es mir.“ „Es sind die Vandalen in dieser Siedlung. Die nehmen alle Drogen, wissen Sie. Aus irgendeinem Grund hat sie Interesse an ihren Graffiti bekommen, und die haben sie einfach mißbraucht.“ „Wirklich?“
„Ein paar von den Nachbarn haben mir erzählt, daß sie ihnen was dafür bezahlt hat, daß sie Emilys eigene Muster an die Wände sprühten. Aber warum hätte sie das tun sollen? Ich glaube ihnen nicht. Das sind doch nur Tratschtanten. Garstige Leute. Und seit diese Vandalen tot aufgefunden worden sind, Sie haben bestimmt in der Zeitung davon gelesen, haben diese Leute das Gerücht verbreitet, daß meine Emily irgendeine Schuld daran hatte!“ „Wie das?“ „Ich habe keine Ahnung. Jeder weiß, daß die sich selbst umgebracht haben. Das lag wahrscheinlich an den Drogen, und meine Tochter hat niemals Drogen genommen. Können Sie glauben, was diese Leute sagen? Meine Tochter! Können Sie das glauben, Mr. Vrolyck?“ „Es ist natürlich lächerlich…“ „Selbstverständlich ist es das. Und überhaupt, ich habe eine Bande von denen gerade neulich nachts wieder die Wände vollsprühen sehen, die gleiche Bande, mit der sich Emily immer getroffen hat. Wie erklären Sie sich das, eh? Ich glaube, die Zeitungen erfinden diese Geschichten nur.“ „Das ist wahrscheinlich die Antwort.“ „Es ist eine absolute Schande.“ „Ich verstehe, wie Ihnen zumute ist.“ Wir standen vor Emilys Zimmer. Ihre Mutter öffnete die Tür, und obwohl es drinnen dunkel war und die Vorhänge zugezogen waren, konnte ich gerade noch eine Gestalt erkennen, im Bett und mit einigen Kissen als Stütze. Als ich nähertrat, konnte ich sehen, daß Emily Curtis’ Gesicht ausdruckslos war und ihre Augen ohne zu zwinkern gerade vor sich hinstarrten. Aber ich glaubte den Hauch einer Regung wahrgenommen zu haben, als ich in ihr Blickfeld trat. „Meinen Sie, ich könnte eine kurze Weile mit ihr allein sein?“ fragte ich ihre Mutter.
„O ja. Ich werde uns Tee machen und ihn hereinbringen. Sie setzen sich hier neben sie.“ Mit Emily alleingelassen, setzte ich mich auf der Bettkante nieder. Ich sagte leise ihren Namen, und ihre Augen drehten sich in die Richtung, aus der meine Stimme kam, und ein vages, unnatürliches Lächeln verzerrte ihre zuvor friedvollen Züge. Zwei Kräfte führten in ihrem Gehirn Krieg gegeneinander, und der darauf ausgeübte Druck konnte nur nachlassen, wenn eine dieser Mächte die Kontrolle übernahm. Die Geräusche der Tee zubereitenden Mutter drangen den Flur herunter. Ich hörte das Klirren der Tassen und wie ein Kessel gefüllt wurde. Ich würde nicht viel Zeit haben. Ich zog eines von den Kissen unter Emilys Kopf heraus, packte es fest mit beiden Händen und preßte es auf ihr Gesicht, so hart ich nur konnte. Ich hörte ein Gurgeln, dann schlug ihr Körper für eine scheinbare Ewigkeit wild um sich. Schließlich sackte sie zusammen, und ich nahm das Kissen von ihrem Gesicht. Ihr Mund stand offen und die Augen waren im Tod weit aufgerissen. Sanft schloß ich ihre Lider und drehte ihren Kopf zur Seite. Ich stopfte das Kissen zurück an seinen ursprünglichen Platz und ließ alles so aussehen, als schliefe sie. Ein paar Sekunden später kam die Mutter herein, ein Tablett in den Händen. Bevor sie einen Platz finden konnte, wo sie es abstellen konnte, gab ich ihr zu verstehen, daß wir lieber das Zimmer verlassen sollten. „Hat sie irgendwie reagiert?“ fragte sie mit gedämpfter Stimme, als wir den Flur zurückgingen. „Ich glaube schon, ja. Sie schien meine Stimme zu erkennen, bevor sie in den Schlaf sank. Sie lächelte sogar.“ Die Mutter schenkte uns den Tee in der Küche ein, ich setzte mich, schlürfte die schwache Flüssigkeit und erklärte, es sei das Klügste, wenn wir Emily schlafen ließen. Ich ließ die Andeutung fallen, daß die Reaktion, deren Zeuge ich geworden
war, vielleicht das erste Anzeichen für eine erfreuliche Besserung ihres Zustands sei. Als ich ging, standen Tränen der Dankbarkeit in den Augen der alten Frau. „Vielleicht könnten Sie bald wiederkommen?“ Aber ich gab vor, nichts zu hören. Als ich mich die verwüstete Treppe hinunterbegab, war der Stadtstreicher immer noch da. Er war während meiner Abwesenheit fleißig gewesen und hatte das Arrangement aus zerknülltem Verpackungsmaterial, Asche und Zigarettenkippen vollendet. Es sah wie ein Haufen Abfall aus, aber bei näherer Betrachtung konnte ich sehen, daß er eine grobschlächtige Pyramide daraus geformt hatte. Sein Gesicht kämpfte immer noch mit seinem Mienenspiel, und von Zeit zu Zeit folgte eine seiner schmutzigen Hände einem Pfad zwischen den Graffiti an den Wänden. Aber als er dann etwas sagte, wußte ich, daß die Kontamination nicht nur auf meine eigenen Kontaktpersonen beschränkt geblieben war. Denn der Tramp mit dem blassen und toten Gesicht brachte mit Anstrengung folgende Worte hervor: „Es ist die Zeit der schwarzen Strahlung von den Sternen.“ Obgleich seine Worte in Englisch gesprochen wurden, war es doch meine eigene Sprache, in der ich seine telepathische Übertragung empfing. Das war brillant. Die ganze Stadt war überzogen mit diesen Graffiti, die Symbole vermehrten sich wie Bakterien. Um wie vieles effektiver als meine eigenen Versuche, sie unter der Maske meines Geschreibsels zu verbreiten! Wie Sie vielleicht schon erraten haben, waren die Symbole ein Zeichen, eine Art kosmisches Positionslicht, das andere meiner Art hierherlenkte, damit sie in die Körper von Menschenwesen schlüpften. Und ich dachte mir, welche Ironie doch darin lag, daß es nach all meinen Anstrengungen ausgerechnet diese von
der Curtis kontaminierten Vandalen waren, diese selbsternannten „Popkünstler“, die sich als die effektiveren Überträger herausgestellt hatten.
Zuletzt sah ich Emily Curtis in dem Café, wo wir uns zum ersten Mal getroffen hatten. Ein paar Tage nach dem Vorfall, von dem ich gerade erzählt habe, war ich wieder auf der Straße und suchte nach neuen Anzeichen für die Kontamination. Es gab tatsächlich reichlich Beweise für ihre ungehemmte Ausbreitung. Die Symbole waren an Brücken, Bahnwaggons, Busse und alle Wände gekleistert, die eine ausreichend deutliche Darstellung zuließen. Ich bin mir nicht sicher, daß den Leuten das besonders aufgefallen wäre, natürlich mit Ausnahme der Curtis, des unbekannten Stadtstreichers, der Vandalen und selbstredend meiner eigenen Person. Ich war einer der ersten gewesen, der Wegbereiter sozusagen. Da draußen warteten weitere zwölf Milliarden unserer Art, also konnte nur ungefähr die Hälfte von uns Zuflucht in den Menschen dieses Planeten finden. Damit ein erfolgreicher Transfer stattfinden konnte, mußten alle menschlichen Gedanken aus dem Individuum getilgt werden, und zwar für einen Zeitraum, der lang genug war, unseren eigenen Gedanken zu gestatten, Fuß zu fassen; deshalb war der vorherige Tod des Gehirns unumgänglich. Emily Curtis saß am Fenster und schaute durch das beschlagene, kondenswasserfeuchte Glas des Cafés vor sich hin, den Blick auf nichts Spezielles gerichtet. Ihre Haut war noch blasser, als sie im Leben gewesen war, und mit derselben weißen Grundierung überkrustet, die auch ich trug. Als ich vorbeiging, begegneten sich unsere Blicke einen kurzen
Moment lang. In ihren Augen lauerte ein schwarzes Leuchten, das von den Sternen hereinfiel. Sie wußte jetzt genau wie ich, daß wir nur für eine begrenzte Zeit hier waren, bis diese körperlichen Hüllen zerfielen. Dann würden wir weiterziehen müssen, auf der Flucht vor dem Tod, der uns verfolgte. Aber für den Augenblick war sie wie ich in einem menschlichen Kadaver gefangen und erduldete die grauenhafte Existenz der zweibeinigen Affen und die unerträglichen Gedächtnisreste, die im Gewebe ihrer Hirne hängenblieben: Erinnerungen der Toten, in den Sand geschriebene Namen kurz vor der Auslöschung durch die Wogen, die über einen schwarzen Ozean heranrollen.
DIE SUCHE NACH KRUPTOS
Der Mann, der diese Zeilen niederschreibt, hat nur noch verschwindend geringe Ähnlichkeit mit dem brillentragenden Studenten der Wachwelt, der vor Äonen im dreiteiligen Anzug seines Vaters Dublin verließ. Diese Erinnerung stellt jetzt meine einzige Verbindung mit der Vergangenheit dar. Viele Menschen suchen Zuflucht in fremden Ländern, aber was ist mit denen, die sich in das Exil der Träume aufmachen? War ich wirklich der „gefährliche“ Atheist, der den Judaismus seiner direkten Vorfahren und den Römischen Katholizismus seiner Wahlheimat verwarf und sich der Welt der weltlichen Phantasie zuwandte? Ich studierte Metaphysik in Trinity, und es muß dort in der Bibliothek gewesen sein, daß ich zum ersten Mal über einen Hinweis auf die Werke von Thomas Ariel stolperte, während ich halb über den uralten und schimmligen Bänden döste. Es scheint mir jetzt offensichtlich – ganz gleich, welche Einblicke ich auch in das Leben und Werk Ariels gewonnen haben mag –, daß diese meine Blicke auf Stellen fielen, wo (wie Poe behauptete) „die Gemarkungen unseres Wachseins sich denjenigen der Traumwelt vermählen“.
Ariel war der Autor einer Reihe von provokativen Büchern, die in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts veröffentlicht wurden. Seine ontologischen Spekulationen waren von derselben Natur wie die wildesten Phantasien von Poe oder De Quincey. Es war sein fundamentaler Glaube, daß der Mechanismus des Träumens eine Funktion mit grenzenlosen Möglichkeiten darstellt. Als er die Privatveröffentlichung seiner kurzen Abhandlung „Die Mysterien des Träumens“ anstrebte, weigerten sich die Drucker, sie zu verarbeiten. Details ihres Inhalts wurden an die Obrigkeit übermittelt, und gegen Ariel wurde Haftbefehl
erlassen. Er floh im Jahre 4 Zitat entnommen aus den Marginalien von Edgar Allan. Poe, erschienen in der Gesamtausgabe seines Werks Band 10, Verlag Manfred Pawlak 1979, übersetzt von Friedrich Polacovics. 1824 aus England. Danach folgte eine kurze Periode der Bücherverbrennung und Ausrottung seines Namens aus den meisten bibliographischen Aufzeichnungen. Blackwoods „The Quarterly“ und ähnliche Publikationen ließen fortan seine Briefe und beiliegenden Manuskripte ungeöffnet an ihn zurückgehen. Aber ich habe es bewerkstelligt, eine kleine Anzahl von Dokumenten, Artikeln usw. von Ariel zusammenzutragen, ebenso eine angekohlte Daguerrotypie, die während seines langen Exils in Norddeutschland aufgenommen wurde und das Datum „1842“ auf der Rückseite eingeritzt trug. Das Bild stellte den Kopf eines bereits teils kahlen, glattrasierten Mannes in den Fünfzigern mit Resten von weiß werdendem Haar um die Schläfen herum dar. Sein breites Gesicht war von Schatten befallen. Die Augen saßen tief in den Höhlen, und in ihnen schien die Andeutung eines weltüberdrüssigem Nihilismus zu lauern. Ein schwarzes Halstuch war um seine Kehle gewunden. Der Gesamteindruck war ein ziemlich trister. Aufzeichnungen von Ariel während seines Exils in Europa sind extrem fragmentarisch. Eine oder zwei Quellen schenkten dem Gerücht Glauben, daß er im hohen Alter von neunundachtzig im Jahre 1879 unerwartet in der Kathedralenstadt Basel aufgetaucht sei und einem bekannten Professor der klassischen Philologie einen Besuch abgestattet habe. Danach folgt nurmehr Schweigen – denn Ariel schien entschlossen, auf dem nördlichsten Breitengrad zu sterben, den er erreichen konnte; offenbar in der Absicht, seine Augen an der aurora borealis zu weiden, während er seine Lungen mit Opiumrauch füllte.
Vielleicht hatte er sich geistig nicht weit von jenen frühen Tagen entfernt, als De Quincey, diskret maskiert von seinem Pseudonym X.Y.Z. in The London Magazine sein Werk pries: „Daher fahre ich fort, das Werk von Mr. A – weiter zu empfehlen. Wenngleich sie nicht moralischer Natur sind, kann man doch von seinen Geistesstandpunkten dasselbe sagen wie von einem der zwölf Caesaren: Ut puto, Deus fio. Wunderbar, in der Tat, ist es diesem Autor gelungen, verlockende Einblicke in jene altehrwürdigen Bände zu enthüllen, die in Kammern außerhalb der Reichweite des gegenwärtigen menschlichen Wissens ruhen, bislang nur dem Mondsüchtigen und dem Opiumesser vertraut. Kein Mann wäre mehr qualifiziert, diese beschränkten Spekulationen einer metaphysischen Riege zu erforschen, die die Exzesse der Rationalisten wettmachen. Sein in Vorbereitung befindliches Buch Kruptos verspricht ein höchst bemerkenswertes Werk zu werden.“ Es war vor allem das Manuskript von Kruptos, das ich suchte. Ariel hatte vor seiner erzwungenen Flucht aus England angefangen, daran zu arbeiten, und es aller Wahrscheinlichkeit nach während des gesamten Exils quer durch Europa mitgenommen. Es mußte das magnum opus sein, das ihm seinen Rang sichern würde. Aber es schien, als hätte er es nie fertiggestellt, und ich begann zu glauben, daß er das unfertige Manuskript 1880 mitgenommen hatte, als er nach Norden reiste, seinem absonderlichen, selbstgeplanten Tod im Polarkreis entgegen. Ich beabsichtigte, seiner Fährte zu folgen, und hatte seine Reiserouten bis zu seinem letzten Ruheplatz in der Stadt Karnswilloch aufgespürt. Das ist ein Ort, den man auf keiner Karte findet (ein Ort, der aus Schnee und Eis aufgetaucht und nach Ariels Ankunft wieder verschwunden zu sein schien),
aber ich wußte, daß er irgendwo auf der Varanger-Halbinsel liegen mußte. Und so unternahm ich 1940, zu einer Zeit, als die Nazis praktisch ganz Europa okkupierten, eine tollkühne Reise nach Karnswilloch in der nördlichsten Ecke des Kontinents. Ich reiste mit Dokumenten, die meine neutrale irische Nationalität belegten und meine rassische Abkunft verschleierten. Aber zuerst besuchte ich Paris, dessen Boulevards vor Hakenkreuzfahnen strotzten, um einige Manuskripte in der Bibliothéque Nationale zu Rate zu ziehen, die seit fünfzig Jahren niemand mehr angefaßt hatte. Ich traf meine letzten Reisevorbereitungen in einer staubigen Dachkammer in der Rue Duval im Bezirk Montmartre. Ich stopfte meine Koffer mit Büchern und Manuskripten voll, mit Schneestiefeln, Schals, Fäustlingen und einem riesigen Robbenfellmantel. Ein beträchtliches Schmiergeld war nötig, um mir einen Platz und eine Schlafkoje in einem der Etoile du AfordPullmanwaggons nach Hamburg zu sichern. Ich schaute hinaus auf verödete Felder und Städte, während wir durch Frankreich, Belgien und die Niederlande fuhren. Als der Zug die deutsche Grenze erreichte, stieg eine Gruppe von SS-Männern zu und defilierte durch die Waggons, sie waren offenbar auf Beute aus. Einer von ihnen betrachtete meine Papiere sehr genau und starrte mich dann ungefähr eine Minute lang unverwandt an. Ich konnte ihm nicht in die Augen blicken und erklärte in gebrochenem Deutsch, daß ich Student und auf dem Weg nach Finnland sei, um eine akademische Recherche durchzuführen. Schweißperlen standen mir auf Stirn und Schläfen, und meine Hände zitterten unkontrolliert, als ich versuchte, mir eine Zigarette anzustecken. Der SSMann trat zu einem seiner Begleiter hinüber und wies auf mich. Beide lächelten auf unangenehme Weise, blätterten meine Dokumente durch und hielten sie hoch gegen eine der
Glühbirnen an der Waggondecke, bevor sie sie mir wieder aushändigten, als seien sie etwas Ekelerregendes. Bald rumpelte der Zug in Richtung Norden nach Deutschland hinein. Ich mußte in Hamburg umsteigen und wanderte ungefähr eine Stunde lang in der Gegend dieses grauen, trostlosen Hafens herum. Ich sah, wie Juden angegriffen und von der Straße weggeschleppt wurden. Der Davidsstern war mit blutroter Farbe auf zugenagelte Ladenfenster und -türen gemalt. Dieses Schauspiel widerte mich mehr an, als man sich vorstellen kann. Ein Hurrikan von Bigotterie fegte von Deutschland über das übrige Europa und zerrüttete die Seelen der Menschen. Wir fuhren durch Dänemark und nach Schweden hinein, und die Landschaft wurde zunehmend monochrom. Der Zug, den ich in Malmö bestieg, dampfte über weite Schneeflächen, durch Stockholm, Sundsvall und Vannas. Wenn ich aus dem Abteilfenster blickte, sah ich in der Ferne den vereisten Bottnischen Meerbusen; ein weitgestrecktes und flaches Panorama aus Packeis, das sich so weit nach Osten erstreckte, wie das Auge blicken konnte. Die Heizung im Abteil war nicht stark genug, um die Eiseskälte der Winterluft abzuwehren, und ich wickelte mich in meinen Robbenfellmantel und Schal. Ich begann, meine Dokumente durchzublättern, um meine Gedanken davon abzuhalten, daß sie bei der grimmigen Landschaft und dem scharfen Zugriff der Kälte verweilten. Etwas zog meine Aufmerksamkeit besonders auf sich; ein altes skandinavisches Reisetagebuch, das ich in Paris aufgetrieben und noch nicht die Gelegenheit gehabt hatte durchzusehen. Es beinhaltete einen Bericht des englischen Autors George Burgess über ein zufälliges Zusammentreffen
mit Thomas Ariel in einer Schenke, als sich letzterer auf seinem Weg nach Norden in Richtung Karnswilloch befand: Kurz nach meinem knappen Entkommen aus den Klauen der schwarzen Gefahr in Råbåck fand ich mich selbst beim Ertränken der Erinnerung an dieses Erlebnis in einer gewissen Schenke in Jokkmokk wieder. Draußen tobte ein gräßlicher Schneesturm, ein krasser Kontrast zu dem Feuer, vor dem ich, heißen Grog schlürfend und der Vorsehung dankend, saß. Ich mußte schon meinen dritten oder vierten Humpen geleert haben, als die Tür aufflog und eine mächtige Bö eiskalten Windes und Schnees sowie eine vermummte Gestalt in dunklem Mantel und Hut, einen dicken Wälzer in der Hand, hereinließ. Einen Augenblick lang hämmerte mir das Herz in der Brust, und die Farbe muß aus meinem Gesicht gewichen sein – ich dachte, ich hätte das Grauen von Råbåck vielleicht doch nicht hinter mir gelassen. Aber dann legte der Fremde Hut, Schal und Mantel ab und betrachtete den Raum, der ihn umgab. Ich sah das Gesicht eines sehr alten Mannes. Es war zerfurcht und wettergegerbt und hatte Ähnlichkeit mit zerknittertem Leder. Seine tiefliegenden Augen waren halb unter herabhängenden Lidern verborgen; das waren die Augen eines Mannes, der lang und intensiv in die Unendlichkeit geschaut hatte. Die Pupillen waren bodenlos. Er war vollkommen kahlköpfig. Sein Blick blieb an dem meinigen hängen, und er kam durch das Zimmer wie ein Habicht, der auf mich herabstieß. Er warf dem Wirt seine abgelegten Kleider zu und stellte sich mir vor. Er war kein Geringerer als Thomas Ariel, der berüchtigte Metaphysiker und Autor, dessen Name zu einer geflüsterten Legende geworden war. Er legte den dicken, ledergebundenen Band auf den Tisch zwischen uns.
Seine Konversation wurde durch die große Vielseitigkeit und Neuheit seiner metaphysischen Spekulationen zu etwas Besonderem. Es war, als sei er durch die Tore des Vergessens in diese Schenke hereinspaziert. Seine Stimme hatte einen gewissen hohlen, grabesartigen Klang, und die Dinge, über die er sprach, waren von unendlichem Glanz und von Visionen durchdrungen. Er brachte mich dazu, zu glauben, daß er nicht länger ganz von dieser Welt war, sondern zum Botschafter eines unbekannten Zwielicht-Bezirks geworden war, wo die Träume niemals enden. Zu diesem Zeitpunkt war ich wie verzaubert. Aber als er dann fort war, schien ich nicht in der Lage zu sein, die Erinnerung an seine Enthüllungen in meinem Gehirn zu bewahren. Sie schienen viel zu immens für mein Blickfeld zu sein. Nichtsdestoweniger öffnete die flüchtige Begegnung einen unbeschreiblichen Ausblick in meinem Geist, der seitdem unablässig vom Abglanz phantastischer Mysterien heimgesucht wird. Doch glaube ich mit Bestimmtheit zu wissen, daß seine mystische Pilgerfahrt immer weiter nach Norden, in die verlorenen Ebenen des Eises und der Tundra, dergestalt war, daß kein Sterblicher sie je überleben könnte. Und gewiß war jenes Buch, Kruptos, das die ganze Zeit über zwischen uns lag, nicht mehr für das Verständnis von Menschen bestimmt. Ich legte den kuriosen Reisebericht nieder und steckte mir eine Zigarette an. Der Rauch drang mir bitter und kalt in Kehle und Lunge. Ich kratzte das Eis vom Fenster des Abteils und sah zu, wie die Landschaft der Fjorde vorbeizog. Sie änderte sich nie: endloser Schnee und Tundra und das Meer aus Eis in Richtung Osten. Die Lokomotive kämpfte sich durch Boden, Kiruna und dann über Tome Lappmark nach Finnmarksvidda und weiter voran.
Ich muß eine Weile gedöst haben und wurde geweckt, als der Zug rüttelnd in einer mächtigen Dampfwolke zum Stehen kam. Ich raffte meine Habseligkeiten zusammen, schleppte sie durch den Flur und ließ sie auf einen menschenleeren Bahnsteig hinunter. Der Schnee fiel dicht, und die Kälte war unerträglich. Ich schaute mich nach irgendwelchen Anzeichen für Leben um. Niemand außer mir war aus dem Zug gestiegen, und so lief ich auf der Suche nach dem Lokführer seine gesamte Länge bis zur Zugmaschine am Vorderende entlang. Sein Führerhäuschen war menschenleer. Der Ortsname auf dem Bahnsteig war schon lange nicht mehr lesbar. Dies war das Ende der Strecke. Ich schleppte meinen Schrankkoffer und die Taschen auf eine Fahrspur vor dem Bahnhof. In ungefähr einer Stunde würde die Bahnstrecke bei der Dichte, mit der der Schnee jetzt fiel, unpassierbar sein. Tatsächlich würden die Strecke, der Bahnhof, ja alles unter dem Schnee begraben sein. Ich stand erst ein paar Minuten lang dort und stampfte dabei mit den Füßen, um die Blutzirkulation anzuregen, als ich etwas die Fahrspur entlang auf mich zukommen hörte. Es war ein Bauer mit einem Rentier und einem kleinen Karren. Er hatte offenbar versucht, Feuerholz zu sammeln. Ich trat ihm in den Weg und schrie „Hallo!“, während ich mit den Armen winkte. Er zog an den Zügeln des Rentiers. Man hätte fast glauben können, daß er nur ein großer Haufen aus Pelzen sei, der den Karren lenkte. Sogar die Augen des Bauern waren hinter einer dicken Schutzbrille verborgen. Er kletterte herunter und half mir, meine Habseligkeiten auf den Karren zu laden, oben auf den kleinen Stapel Feuerholz, und dann kletterten wir auf den Sitz hinter dem Rentier. Der Bauer schien kein Englisch zu sprechen und verstand keinen meiner Kommunikationsversuche in verschiedenen skandinavischen Sprachen. Am Ende wies ich einfach nur die Fahrspur
hinunter, die parallel der Bahnstrecke und über deren Ende hinaus verlief. Mit einem Zügelklatschen fuhren wir los, nordwärts in den nahen Schneesturm hinein. Wir fuhren stundenlang dahin, und ich dachte mir, daß fast ein Wunder war, daß der Schneesturm uns nicht zum Haltmachen zwang. Zu guter Letzt ließ der Sturm jedoch nach, und ein gewaltiges Fenster tiefblauen Himmels öffnete sich vor uns. Dann wurden wir in einem spektakulären Sonnenuntergang gebadet, der in Raum und Zeit erstarrt zu sein schien; Gespenster am Rand des Universums. Wir gelangten an eine Ebene aus Eis, die den Himmel oben widerspiegelte, und ich sah Karnswilloch in der Ferne. Es war in Kreuzform auf fünf Hügeln errichtet worden. Der mittlere und höchste Hügel trug einen zerfallenden Turm, der die Ansammlung ihn umgebender Dächer beherrschte. Schwaden eisigen Nebels kräuselten sich um die verfallenen Türme, Kuppeln und Schornsteine. Die Stadt war eingeschneit, und ihre halbbegrabenen Straßen wanden sich auf labyrinthische Weise um die Hügel herum, durch verlassene Höfe und Plätze und stille Durchgänge. Dann, ganz unvermittelt, erschien die aurora borealis am Himmel. Der Funkenregen aus vielfarbigem Licht türmte sich und flammte herrlich über unseren Köpfen auf. Wir näherten uns der Stadt und fuhren unter einem titanischen Bogen mit vier Pfeilern hindurch. Ich sah enge und ineinander verschlungene Straßen und Brücken, die über gefrorenen Kanälen hingen. Die Türme und Kuppeln waren von extrem hohem Alter; ihr Inneres war leer geräumt, düster und quoll über von zerfledderten Büchern. Ich habe nie zuvor so viele Bücher gesehen. Sie waren überall, auf den vereisten Straßen, den Böden, in Hauseingängen, und blockierten die Fenster. Und manchmal sah ich geisterhafte Gestalten – wie Figuren auf
ausgeblichenen Fotografien – endlos durch die Bände blättern, während wir durch das altersschwache Chaos und vor den verfallenen Fassaden toter Bauwerke auf und ab fuhren. Über und unter uns waren Reihen durchhängender oder eingestürzter Dächer und endlose Labyrinthe ausgehöhlter Stufen, die zu den von Geländern gerahmten Straßen hinaufführten. Die Häuser schwankten, und ihre Dachstuben verstreuten Bücher aus hochgelegenen Fenstern wie Herbstblätter, die vom Wind davongewirbelt wurden. Wir waren wie Gespenster in all dem Schnee und Nebel, wie wir so langsam durch die seltsame Bibliopolis fuhren, indes unser Wagen immer hügelauf und hügelab auf den großen Zentralhügel zustrebte. Dann und wann verlor ich den baufälligen Turm aus den Augen, den wir aus der Ferne gesehen hatten. Schließlich gelangten wir hinaus auf einen großen zentralen Platz und rollten über eine Überfülle zerfetzter Bücher und Buchseiten. Der Wind war von furchtbarer Stärke und wirbelte Papier und Schnee über den offenen Platz. Es war schwierig, sich aufrecht zu halten. Wir sahen zu, wie sich der Nebel um die Dächer und Türme unter uns schlängelte. Der Turm lag auf einem Plateau, das von einer hohen Böschung gesäumt wurde, ungefähr dreieinhalb Meter über dem Bodenniveau des Platzes. Zerbröckelnde Stufen, die der Wind vom Schnee befreit hatte, führten zu dieser höheren Ebene hinauf. Mein Begleiter half mir beim Abladen meines Schrankkoffers und meiner anderen Habseligkeiten. Wir hatten kein einziges Wort gesprochen, seit wir den Bahnhof verlassen hatten, und ich hatte sein Gesicht nicht gesehen. Er streckte mir seine mit einem Pelzfäustling bedeckte formlose Hand hin, und ich drückte sie mit beiden Händen. Sicher mußte dies ein Tagtraum sein. Die Reise durch die Länder hatte scheinbar Jahrhunderte gedauert, und schließlich
war ich in einer Fabelwelt angekommen. Das vom Krieg zerrissene Europa, das ich hinter mir gelassen hatte, schien ebenso weit entrückt wie die andere Seite des Mondes. Die Geheimnisse, die ich zu entdecken gehofft hatte, hatten gewiß all die Jahrhunderte überlebt, während Hitler neben Dschingis Khan zur bloßen historischen Kuriosität wurde. Ich suchte nach Begriffen für eine Größenordnung, die – bislang unergründet – über die Unsterblichkeit hinausging und unendlich bedeutungsvoller war als jede vorhergegangene Philosophie. Ich stand allein auf dem windumtosten Platz. Der Bauer und sein Rentier ließen mich allein, und ich sah zu, wie der Karren, aufgeschluckt von dem weißen Nebel, still verschwand. Vor mir stand der Turm, errichtet aus zerfallenden Ziegeln, mit einigen rhombenförmigen Fenstern, die ihn auf allen Seiten umgaben. Ich ging die ausgehöhlten Stufen hinauf, die zu dem Plateau führten, auf dem der Turm stand, über die Böschung und die glatte Oberfläche des Plateaus zum Turmeingang. Ich trat durch ein prunkvolles Tor mit unverschlossener Pforte in das Innere ein. Es war schwierig, mir Einlaß zu verschaffen, da ein Stapel verrotteter Bücher den Weg halb blockierte. In der Tat war das gesamte Innere mit ausrangierten Bänden vollgestopft. Der Turm schien aus mehreren Bibliotheken zu bestehen, die von alten Wälzern überquollen, immer eine über der anderen. Es gab eine teilweise verfallene Wendeltreppe, die sich durch alle Etagen wand, aber auch sie war fast unbegehbar, was an der Masse von Büchern lag, die von den oberen Stockwerken heruntergestürzt waren. Ich kletterte hinauf, so gut ich konnte, fest entschlossen, die Turmspitze zu erreichen, doch stolperte ich dabei über die Kadaver von Hunderten von Büchern. Selbst die Wände und Böden der oberen Kammern schienen aus lauter Buchrücken
zusammengesetzt zu sein. Durch die Fenster konnte ich das ganze Panorama der Stadt draußen überblicken. Sie sah weltentrückt aus, beleuchtet von den zarten Farbtönen des Nordlichts. Im höchsten Gelaß des Turms war eine von einem Bogen überwölbte, schmale Tür. Im Zimmer dahinter, eingerahmt von Büchern in den verschiedensten Stadien des Verfalls, befand sich eine unverwechselbare Gestalt. Dieser Mann war in einen schwarzen Gehrock und steifen Kragen mit Halsbinde gekleidet. Auf dem Tisch vor ihm stand eine einzelne Kerze. Er beugte sich nach vorn und schrieb furios mit einer Feder. Sein kahler Kopf und Antlitz waren tief von tausend Falten durchfurcht. Die unstete Beleuchtung fiel auf sein Gesicht, als er sich umwandte, um mich zu mustern. Seine Augen bohrten sich unter schweren Lidern hervor direkt in meine Seele. Welch unschätzbares Wissen leuchtete ihn ihnen! Ihre Pupillen waren unnatürlich groß und schwarz; sie hatten weder Anfang noch Ende, sondern waren wie zwei Abgründe, unbegrenzte Pforten zu den Geheimnissen von Zeit und Raum. Ich trat näher, und Ariel legte seine Feder nieder. In dieser unglaublich alten menschlichen Form – die jetzt nicht mehr viel anderes war als eine bloße Hülle – hauste ein unerschöpfliches Wesen. Ariel hatte menschliches Denken und Wissen vollständig hinter sich gelassen und war zu einem lebendigen Geheimnis geworden, nicht eingeengt von menschlichen Denkensweisen, ein Avatar der höchsten Mysterien. Es war, als stünde man vor all den Sternen und Ozeanen. Ich unternahm den Versuch, mit ihm zu sprechen, aber mir fehlten schlichtweg die Mittel zur Kommunikation. Sprache war hier absolut nutzlos. Es war ebenso vergeblich, ihn anzusprechen, wie das Universum selbst anzusprechen.
Und doch erhob er sich und ging langsam durch die Kammer, um einen mitgenommenen alten Lederband zwischen einem Dutzend anderer hervorzuziehen und mir zu reichen. Es war das Buch, nach dem ich so lange gesucht hatte. Zu guter Letzt war es Kruptos. Als ich mich mit dem Werk in der Hand abwandte, warf ich einen Blick über meine Schulter und bildete mir ein, einen merkwürdigen Ausdruck auf dem Gesicht des uralten Metaphysikers zu sehen. Ich hatte einen ähnlichen Ausdruck bereits in jenem Anflug von Nihilismus gesehen – auf seiner Daguerrotypie von 1842. Aber jetzt mischte sich noch etwas anderes darein. Etwas, das Ironie gräßlich nahe kam. Ich bahnte mir den Weg zurück zu der überfüllten Treppe und aus dem Turm hinaus, wobei ich meinen Schrankkoffer und meine Habseligkeiten mitschleppte. Auf der anderen Seite des Platzes stand ein tristes Haus, das weniger verwahrlost aussah als die anderen, und ich verschaffte mir mit Gewalt Eintritt. Hier konnte ich das Buch in seiner vollen Länge studieren und seine innersten Geheimnisse für mich enträtseln. Das triste alte Haus ging auf den Zentralturm hinaus, und ich konnte ihn durch ein langes, schmales Erkerfenster sehen, das bis zur Spitze der hohen Decke des Zimmers reichte. Dieses Gebäude quoll wie all die anderen von ausrangierten Büchern über, und ich mußte viele davon beiseite räumen, um Platz für meine Habseligkeiten zu schaffen. Im Keller war Holz aufgestapelt, und bald hatte ich eine wild flammende Feuerlohe, die im Kamin knisterte. Ich konnte mein Verlangen, Kruptos zu lesen, kaum bezwingen. Alles andere tat ich ganz benommen. Schließlich setzte ich mich auf einem Haufen Bücher vor dem Feuer nieder und arbeitete mich durch die ersten Seiten. Es war ein gewaltiger Band, über zweitausend Seiten stark, und ich studierte ihn im Verlauf der folgenden Tage
aufmerksam. Ich legte nur Pausen ein, um die Nahrung zu mir zu nehmen, die ich in meine Siebensachen gepackt hatte, und um in erschöpfte Schlummerphasen zu sinken. Weiter und weiter las ich in dieser verlorenen und sagenhaften Stadt, die heimgesucht war vom endlosen Zwielicht und der aurora borealis. Die Mutmaßungen und Spekulationen in Kruptos stellten in der Tat die gesamte bisherige Metaphysik und Philosophie in den Schatten. Die Argumente waren mit der Erhabenheit einer titanischen gotischen Kathedrale konstruiert, Argument um Argument erhob sich der Text höher und höher wie ein himmlischer Kirchturm und überschritt die Grenzen meines Verständnisses. Es würden viele Jahrhunderte vonnöten sein, um diese Vorstellungen vollständig zu durchblicken und den letzten Kapiteln in ihre obersten Bereiche zu folgen, aber nach dem zu urteilen, was ich von den ersten zwei- oder dreihundert Seiten verstanden hatte, würde Kruptos den menschlichen Geist für immer revolutionieren. Zuletzt fühlte sich mein Gehirn an, als wolle es vor gewaltigen Gedanken und Ideen bersten, und ich sah mich gezwungen, das Buch beiseite zu legen. Als ich dort saß und rauchte, begann mein Geist – Erleichterung von den tiefgründigen Abstraktionen suchend, die ihn besessen hatten – über Fragen zu meditieren, die ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht völlig berücksichtigt hatte. Was war Karnswilloch? Wer waren diese schwer faßbaren Wesen, die in Hüten und Überziehern endlos zwischen den Ruinen herumstöberten? Die Stadt schien sich im Niemandsland zwischen Traum und Wachbewußtstein zu befinden. Sie existierte und doch existierte sie nicht.
Ein anderer Gedanke stieg in mir auf. Was waren die unzählbaren Bücher, die verstreut im Schnee und den leeren Häusern herumlagen? Ich hob aufs Geratewohl eines aus der Menge der Bücher auf und drehte es um, um den Titel auf dem Vorsatzblatt zu lesen. Dort stand: Kruptos, Band CLVII Ich hob aufs Geratewohl ein anderes auf: Kruptos, Band MCMIV Und noch eins: Kruptos, Band MMXIII Ich betrachtete die Einbände von zwei Dutzend weiteren Büchern. Sie alle waren in dieser Weise numeriert. Daraufhin muß ich meinen Verstand verloren haben, in den Schnee hinausgesprungen sein und wie ein Irrsinniger zum Turm hinaufgebrüllt haben, während Ariel gleichgültig und unbeirrbar weiterarbeitete, da sein Gehirn schon seit langem den sich entwirrenden Mysterien jenseits des menschlichen Verständnisses hingegeben war. Ich erinnere mich, daß ich als nächstes in einem Zustand äußerster geistiger Erschöpfung zurück in das Haus stolperte, wo die Bücher nur noch mehr zu meiner Verzweiflung beitrugen. Nicht all der Inhalt jener abertausend Bände vermochte die Leere in mir zu füllen. Sie waren nichts als Pforten zu weiteren Pforten ohne Ende. Und wenn ich mich jenen anderen Gespenstererscheinungen in ihrer ewigen Suche anschloß – jenen Wesen, die aus der Wachwelt verbannt waren –, wäre ich dann immer noch menschlich oder nur noch ein bleiches, unirdisches Abbild von Ariel? Ich setzte mich vor das Feuer und sah den Flammen zu, wie sie sich wanden und in den Kamin emporloderten. Dann fegte eine große Sturmbö über die Stadt, und in ihrem Gefolge
leckten die Flammen aus der Feuerstelle heraus nach mir. Ich stolperte rückwärts, verlor den Halt auf den Stapeln von Büchern und stürzte in eine Ecke. Die Flammenzunge peitschte über die unzähligen Ausgaben von Kruptos, und die Bücher loderten wie Zunder auf. Das Feuer breitete sich im Zimmer aus, verschlang hungrig alles in seinem Weg Liegende und spie geschwärzte Fetzen und Rauch zur hohen Decke. Ich kam wieder zu mir und bahnte mir gewaltsam einen Weg durch das Inferno hinaus ins Freie. Ich kroch durch den Schnee, die Flammen im Rücken. Sie sprangen von Haus zu Haus über, Rauch wölkte in die Atmosphäre empor. Karnswilloch fiel der Zerstörung anheim. Die Apokalypse war nun auch in diese Region zwischen Traum und Wachbewußtsein gelangt. In meinen Ohren dröhnte ein gewaltiges Brausen, das alles andere übertönte. Ich befand mich mitten im Herzen der Sonne. Die Flammen leckten an meiner Haut. Licht, nur noch Licht existierte. Ekstatisches, unerträgliches Licht. Und ich dachte an Ariel und jene gespenstischen Exilanten, und ich…
Zwei Wachen in einem deutschen Konzentrationslager schauten hinab auf die sterbende Gestalt des irischen Juden zu ihren Füßen. Es war immer noch ein Funken von Leben in ihm, denn er kroch kraftlos noch ein Stückchen weiter von ihnen weg, bis er sich schließlich nicht mehr bewegte. Einer der Wachtposten steckte seine qualmende Luger zurück in das Halfter. Er lächelte seinem Kameraden zu. „Hat er wirklich geglaubt, er könnte zum Zaun kommen und im hellen Tageslicht entwischen?“
„Hans, der ist wahnsinnig. Er ist im Zug übergeschnappt, der ihn hergebracht hat. Wir haben ihm einen Dienst erwiesen. Immerhin muß er jetzt nicht mit den anderen zusammen in die Gaskammer.“ Hans Kohler nickte Wolfgang Ewers zu. Er beugte sich hinunter zu dem jüdischen Studenten mit den vier Kugeln im Rücken, der versuchte, mit dem letzten ersterbenden Atem etwas zu murmeln. Kohler erschrak beim Anblick der Augen des Sterbenden. Sie waren wie die eines unvorstellbar alten Menschen, überhaupt nicht wie die eines jungen Mannes. Dann sah er ein paar Papiere aus seiner Tasche ragen. Er begutachtete sie. Sie waren in Englisch, und er konnte sie nicht auf Anhieb entziffern, also stopfte er sie in seine Jacke. Seine Englischkenntnisse waren begrenzt, aber er dachte, es könnte amüsant sein, die Blätter an einem freien Abend zu übersetzen. „Erstaunlich. Er muß Papier und Bleistift hereingeschmuggelt haben. Diese Juden sind schon gerissene Teufel“, sagte Kohler. Kohler erhob sich und drehte den Leichnam mit dem Stiefel um, so daß er nun nach oben starrte. Da sah auch Ewers den Ausdruck in seinen Augen.
SCHWARZ WIE DIE FINSTERNIS
Jack Wells leerte seine zweite Dose eiskalten Bieres und wedelte eine fette Schmeißfliege beiseite, die behäbig durch sein Sichtfeld gebrummt war. Die Hitze war unglaublich. Er konnte sich an keinen solchen Sommer erinnern, oder zumindest nicht seit ‘76 oder vielleicht auch ‘47. Heute wie damals war der Asphalt auf den Straßen klebrig geworden und die Bürgersteige aufgeplatzt. London war äußerst still, erschöpft von der heißen Luft, die seine Straßen füllte. Nur ein paar mutige Seelen und ein oder zwei verrückte Hunde wagten sich hinaus. Er lebte in einem eleganten Haus in Highgate, das bequem nah an der U-Bahn-Station lag. An diesem unmöglich heißen Augusttag saß er in seiner offenen Haustür und schaute die zwei Treppenabsätze hinunter, die zum Trottoir führten. Er hatte im Morgengrauen alle Türen und Fenster geöffnet, da er wußte, daß der Tag sogar noch unerträglicher werden würde als die schlaflose Nacht zuvor. Ein paar Stunden später hatte er zugesehen, wie der Postbote mit seiner schweren Tasche die Straße herauftaumelte und sich in unregelmäßigem Zickzack von einem Haus zum anderen bewegte, schwitzend und stumme Flüche über die hohen Vordertreppen der Häuser auf Wells’ Seite der Straße murmelnd. An diesem speziellen Morgen brachte der Postbote einen Brief von Ben Gibbs. Ben war Jacks ältester Freund, aber Jack nahm den Brief mit einem Gefühl der Unsicherheit entgegen und öffnete ihn nicht gleich. Er und Gibbs hatten jetzt seit mehr als zwei Wochen keinen Kontakt mehr gehabt; Ben hatte sich aus keinem für Jack nachvollziehbaren Grund in seinem Haus in Hampstead Heath eingeigelt. Er ging nicht ans Telefon, und bei den paar Gelegenheiten, als Jack die Reise hinüber zu Bens Haus in dem Irrgarten aus Treppen und Höfen außerhalb von The Mount unternommen hatte, war es ihm
nicht gelungen, ihn zu herauszulocken. Beim letzten Mal hatte Jack eine Stunde damit verbracht, auf den Klingelknopf zu drücken und draußen zu stehen. Irgend etwas hatte den Blick durch den Briefschlitz versperrt, und die inneren Jalousien waren vor den Fenstern heruntergelassen gewesen. Trotzdem war sich Jack sicher, daß Ben zu Hause gewesen war. Jack war verletzt. Wenn es in der Vergangenheit Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben hatte, war stets er es gewesen, der sich entschuldigt und es zuwege gebracht hatte, daß sie über die Sache sprachen. Aber diesmal war er sich nicht einmal dessen bewußt, daß sie Streit hatten! Jetzt, als er den Brief mit in sein Studierzimmer nahm, das mit seinen überladenen Bücherregalen und Haufen von Papier unordentlich wie immer war, fiel sein Blick auf das gerahmte Schwarzweißfoto Bens und seiner selbst. Es war 1944 in Paris aufgenommen worden, gerade nach der Befreiung der Stadt von den Nazis. Es zeigte zwei junge Männer in Offiziersuniformen, die Mützen verwegen aufs eine Ohr geschoben und mit Zigaretten, die aus den Winkeln der grinsenden Münder ragten. Ben trug einen dicken Schal und seine Jacke, und Jack erinnerte sich, daß Ben – wie immer – über die Kälte geklagt hatte, obwohl es ein warmer Tag gewesen war. Jack saß da und starrte den Briefumschlag an, besorgt über seinen Inhalt. Ja, sie waren sich von Zeit zu Zeit uneins gewesen, aber sie hatten sich nur einmal wirklich ernsthaft gestritten. Es war damals in Paris gewesen, in jenen unbesonnenen Tagen unmittelbar nach der Befreiung, als sie sich in den Bordellen der Stadt ein bißchen die Hörner abgestoßen hatten. Sogar der von Natur aus eher prüde Ben war von der Euphorie des Augenblicks mitgerissen worden. Es war nur ein harmloses Vergnügen, aber dann hatten sie Verna Karndess getroffen. Natürlich war Karndess nur ein
Bühnenname; sie hieß in Wirklichkeit Miranda Hughes. In Jacks Augen war es eine Sache, ein paar Prostituierte zu besuchen – aber die Karndess war weiß Gott eine andere… Jack war entsetzt gewesen, als Ben seine Verlobung mit der Schauspielerin bekanntgab. Es erscheint vielleicht merkwürdig, daß der ungeöffnete Brief seine Gedanken zurück zur Karndess und den Ereignissen von vor mehr als fünfzig Jahren lenkten, aber es kam selten vor, daß ein Tag verstrich, ohne daß er darüber nachdachte, was sich zwischen den dreien abgespielt hatte. Es schien so, als würde er nie fähig sein, es zu vergessen… seine Freundschaft mit Ben rief es ihm ständig ins Gedächtnis zurück…
Zwei Wochen früher, bevor die Hitzewelle hereingebrochen war, hatte sich Ben Gibbs auf einem Spaziergang in der Nähe der Holloway Road wiedergefunden. Ben erinnerte sich daran, daß er sein Haus in Hampstead verlassen, die Heath quer über Parliament Hill gekreuzt und die Straßen in Darmouth Park durchwandert hatte. Er lief ohne spezielles Ziel, vielleicht abgesehen von der Entdeckung irgendeiner neuen und ungewohnten Erfahrung. Er hatte ein paar leere Stunden totzuschlagen, bevor er Jack besuchte. Vieles von dem, was er gesehen hatte, war geschmacklos und mondän gewesen, und auf der Hornsey Road war er vor einer Videothek stehengeblieben. Der Laden war unauffällig, nur einer unter vielen anderen auf diesem äußerst bedrückenden Straßenabschnitt von Geschäften und Sozialbauten. Er wurde von einer Dönerbude und einem 24-Stunden-Geschäft flankiert, und über den schmutzigen Fenstern befand sich ein elektrisch beleuchtetes Schild, das verkündete: „Videos zur Leihe Ltd.“ Streifen aus rotem Plastik hingen im Eingang und flatterten im Wind.
Ben wußte wirklich nicht, warum er sich dort hineinwagte. Er hatte sich ein bißchen ermattet gefühlt. Obwohl bereits in den Siebzigern, war er immer noch fit und viel aktiver als Jack, der in den letzten zwanzig Jahren fett geworden war. Er betrat das düstere Innere des Ladens und sah sich um. Zuerst hatte er Probleme beim Entziffern der Titel. Das schmierige Fenster weigerte sich, viel Sonnenlicht durchzulassen, und wenngleich der Laden mit Neonröhren beleuchtet war, funktionierte die Hälfte von ihnen nicht. Ben gefiel der Laden nicht besonders. Er trat zurück von den Reihen von Videohüllen, die auf den billigen FertigbauteilRegalen ausgestellt waren, und entschloß sich zu gehen. Er konnte niemanden hinter der Durchreiche am hinteren Ende des Ladens sehen, also würde sein plötzlicher Abschied nicht sonderlich auffallen. Müßig las er das Schild über der Durchreiche: „Alle Filme £1,50 pro Nacht. Filme müssen bis 22.00 Uhr am nächsten Tag zurückgegeben werden.“ Vielleicht könnten sich Jack und er diesen Abend einen Film ansehen? Normalerweise machte Ben, was Jack vorschlug, also wäre das mal eine Abwechslung. Er musterte noch einmal die Titel, da sich seine Augen inzwischen an die dämmrige Ladenbeleuchtung gewöhnt hatten. Es schien so, als hätte man sich hier auf Horrorfilme und Thriller spezialisiert, und auch wenn er wenig Interesse an solchem Stoff hatte, dachte er, daß er doch etwas finden könnte, was das Anschauen wert war. Als er sich an den Videos entlangarbeitete, tauchte ein ziemlich gelangweilt und geistesabwesend aussehender junger Mann an der Durchreiche auf. Er hatte einen kahlrasierten Kopf und machte einen irgendwie bedrohlichen Eindruck auf den alten Mann. Er starrte Ben ziemlich aggressiv an, während er sich eine Zigarette ansteckte, aber dann vertiefte er sich in das Öffnen eines Paketes voller Videos.
Ben nahm eine der leeren Hüllen aus dem Regal. Es war ein Film mit dem Titel „Der Fluch des Dämonen“ mit Dana Andrews in der Titelrolle, ein Schauspieler, an den er sich aus einigen anderen Filmen erinnerte, die er gesehen hatte. Er stellte die Hülle zurück und nahm eine andere. Dabei schien es sich um eine noch trashigere Angelegenheit mit dem Titel „Children Shouldn’t Play With Dead Things“.∗ zu handeln. Da es ihm schon allein peinlich war, die Hülle in der Hand zu halten, stellte er sie rasch auf ihren Platz im Regal zurück. Er hatte seinen Enthusiasmus verloren, was das Leihen eines Filmes betraf – zumindest in dieser Videothek. Ben nahm eine aufrechte Haltung an und wandte sich in Richtung Tür. Während er sich umdrehte, hörte er den jungen Mann in erstauntem Ton sagen: „Vera Karndess.“ Dies ließ Ben mitten in der Bewegung innehalten. Der junge Mann drehte eine Videocassette in seinen Händen hin und her. Ungewiß, ob er den Mann richtig verstanden hatte, ging Ben vorsichtig zur Durchreiche hinüber. Der junge Mann hob den Blick und grinste ihn an. „Gerade erst angekommen“, sagte er stolz. „Eine Raubkopie von ,Schwarz wie die Finsternis’. Sie werden den Film nicht kennen: Er wurde nie veröffentlicht. Er ist ein bißchen so wie dieser Ealing-Film ,Traum ohne Ende’. Wirklich finster.“ „Ich habe davon gehört“, sagte Ben leise. „Wirklich, echt finster ist der“, fuhr der junge Mann fort, ohne zuzuhören. „Verna Karndess ist darin. Sie wissen schon, so ähnlich wie Theda Bara?“
∗
Dieser Film hat keinen deutschen Titel, er wurde auch in Deutschland unter dem Originaltitel vertrieben. Von den anderen Filmen habe ich die Titel wiedergegeben, unter denen die Filme in Deutschland erhältlich sind oder gezeigt wurden. (Anm. der Übersetzerin)
„Ja, ich weiß“, nickte er. „Woher wissen Sie das?“ Er hob den Blick, mißtrauisch und ungläubig. „Ich war mit Verna Karndess verheiratet.“
Sobald er wieder in seiner Wohnung in Hampstead war, schob Ben das Band in seinen Videorecorder. Das Angebot von £100 hatte sich als stärker erwiesen als das Widerstreben des jungen Mannes, den Film zu verkaufen; zusammen mit dem Versprechen, daß Ben ihn zurückbringen und ihn irgendwann später mal eine Kopie machen lassen würde. Ben ertappte sich selbst beim Zaudern, als er den Play-Knopf drücken wollte. Er hatte den Film nie gesehen, da er an der privaten (und, wie sich herausstellte, einzigen) Studio-Vorführung nicht teilgenommen hatte. Verna hatte ihm später erzählt, daß die Vorführung ein Fiasko war. Es hatte sich herausgestellt, daß der Großteil des Filmmaterials ernsthaft beschädigt war, und diese Beschädigungen hatten inakzeptable Verzerrungen des Filmpositivs bewirkt. Niemand konnte für die Fehler verantwortlich gemacht werden: während der Bearbeitung hatte der Film makellos ausgesehen. Das Ergebnis davon war, daß die Figuren wie Reflexionen in diesen Jahrmarktszerrspiegeln wirkten, beinahe bis zur Unkenntlichkeit gestreckt und verzerrt. Und als sei das noch nicht schlimm genug, war die Tonqualität auch noch von unerklärlichen Geräuschen auf der Tonspur ruiniert. In jener Zeit verfügte man noch nicht über die Mittel, derlei herauszufiltern; es klang, als ob eine kleine Menschenansammlung unaufhörlich im Hintergrund wisperte. Fast unmittelbar nach dem Beginn der Probevorführung flogen Anschuldigungen hin und her, und zwischen dem Regisseur und dem Produzenten kam es zu einer Prügelei.
Ersterer behauptete, daß jemand Sabotage an dem Film verübt hätte: abgesehen von den Verzerrungen waren ganze Szenen entfernt und durch idiotische Traumsequenzen ersetzt worden, die weiß Gott woher stammten. Es handelte sich um Nahaufnahmen eines Mundes, dessen Bewegungen auffällig synchron mit dem abwegigen Hintergrundgeflüster übereinstimmten. Der Produzent war wütend über die Anschuldigungen des Regisseurs – er machte ihm Vorwürfe wegen des Films und war entsetzt über das avantgardistische Mischmasch, das daraus geworden war. Falls jemand ihnen einen Streich gespielt hatte, so gab niemand es zu; und niemand hatte eine zufriedenstellende Erklärung für die Vorkommnisse. Der Film schien von Anfang an verflucht gewesen zu sein, und Verna war ganz besonders entgeistert. Sie hatte ihn als die Gelegenheit betrachtet, endlich zu dem Ruhm zu gelangen, den sie so verzweifelt ersehnte. Er war eigentlich als Episodenfilm von mehreren Gespenstergeschichten geplant gewesen; sie spielte die Hauptrolle in der zweiten Geschichte, die auf der Erzählung „Die Wiedervereinigung“ der weitgehend unbekannten viktorianischen Autorin Lilith Blake basierte. Die Geschichte von „Schwarz wie die Finsternis“ wurde natürlich zu einer Art Filmlegende. „Die Wiedervereinigung“ handelte von einer gespenstischen Mörderin, die in den Straßen umging. Schon bevor der Film in die Produktion gelangte, hatte der Drehbuchschreiber Probleme mit der Adaption der Blake-Geschichte, die er zu modernisieren versuchte, indem er sie in einem regnerischen Vorkriegs-Berlin spielen ließ. Ein Oxford-Dozent namens Muswell hatte ihm geschrieben und ihn angefleht, die Geschichte nicht für den Film zu transponieren. Der Mann hatte die bizarre Behauptung aufgestellt, daß das Werk der Blake in Wirklichkeit gar keine Fiktion sei, sondern eine Aneinanderreihung kryptischer
Beschwörungen, deren Verbreitung beunruhigende Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Er gab dem Drehbuchautor zu verstehen, daß die Verwendung von Blakes Erzählung zu einem Triumph der dunklen Mächte führen würde. Alle im Studio taten dies als böswilligen Humbug ab, und man betrachtete es als unglücklichen Zufall, daß der Drehbuchautor von eigener Hand erhängt aufgefunden wurde – nur wenige Tage, nachdem er die Adaption abgeliefert hatte. Die Gerüchte um den Film hatten die arme Verna ganz aus der Fassung gebracht, und sie kam sogar auf den Gedanken, daß es eine Art Verschwörung gegen sie gab. Sie hatte schon immer an einem gewissen Quantum egozentrischer Paranoia gelitten, sogar schon damals in den Tagen ihrer Romanze, als sie Ben erzählte, daß sie ihren Künstlernamen nur zu dem Zweck verwendete, einen alten Feind von ihrer Spur abzubringen. Aber trotz ihrer Eigenheiten hatte sich Ben heftigst in sie verliebt. Sie waren unzertrennlich gewesen und hatten ihre Verlobung schon wenige Wochen nach dem Kennenlernen bekanntgegeben. Jack hatte ihre Verbindung anfangs amüsant gefunden, besonders da Ben noch so jung war – gerade einmal zwanzig –, aber das Lächeln war ihm vergangen, als Ben ihm die Nachricht ihrer bevorstehenden Hochzeit überbrachte. Verna und Jack hatten sich nie wirklich gut verstanden, und Ben wußte ganz genau, daß Jack ihretwegen ernsthafte Bedenken hegte. Er konnte sich immer noch nicht dazu durchringen, das Videoband abzuspielen. Er saß da und starrte auf seinen Fernsehschirm und fragte sich, wie es wohl sein würde, Verna noch einmal zu sehen. Er hatte keine Fotografien von ihr; er hatte sie alle in einer volltrunkenen Nacht vernichtet. Er fragte sich, ob die Raubkopie dieselbe Fassung sein würde wie der verzerrte Originalfilm. Vielleicht war er restauriert worden,
denn mit moderner Computertechnik, so nahm er an, war alles möglich. Was würde Verna denken, wenn sie wüßte, daß sie eine Art posthumen Ruhm erlangt hatte, wenn auch nur unter einer kleinen Zahl von Filmfanatikern? Wußte sie das? Es war möglich, daß sie noch am Leben war. Als er in seinem Sessel vor dem leeren Fernsehschirm saß, dachte Ben an Vernas Mißerfolg zurück, ihre Ziele zu erreichen. In den vierziger Jahren, während des Krieges und kurz danach, hatte sie diverse Nebenrollen in ProvinzRepertoiretheatern übernommen. Er fragte sich insgeheim, ob sie überhaupt in der Lage gewesen wäre, irgendeine Arbeit zu finden, wenn sie nicht dieses umwerfende Aussehen besessen hätte. Er konnte es sich jetzt, nach all der Zeit, eingestehen – offen gesagt war sie eine schreckliche Schauspielerin. Die Vorstellung, daß sie hart arbeiten mußte, daß die Dinge nicht einfach so von selbst für sie liefen, ging über ihr Verständnis hinaus. Und sie glaubte ernsthaft, daß sie ein gottgegebenes Talent besäße. Doch konnte man nicht abstreiten, daß sie eine bemerkenswert schöne Frau gewesen war. Ihre Figur war üppig und wurde durch das tief ausgeschnittene, bodenlange, schwarze Kleid ins vorteilhafteste Licht gerückt, das sie am liebsten mochte. Sie trug prunkvolle Ringe an sechs ihrer außergewöhnlich langen Finger, und um ihren blassen Hals lag das unvermeidliche enge Perlenhalsband. Er erinnerte sich mit Staunen zurück an ihre Haut, die makellos gewesen war, beinahe wie Porzellan; aber dann lachte er fast laut, als ihm der Samtturban einfiel, für den sie eine Schwäche hatte und unter dem sie ihr lockiges schwarzes Haar verbarg. Damals hätte er nicht über sie gelacht. In ihrem Gesicht lag eine grausame Sinnlichkeit; es war das Gesicht einer Frau, der die gewöhnlichen Freuden des Lebens schal erschienen. Ihre
Augenlider waren mit dichten schwarzen Wimpern gesäumt, die echt gewesen sein mochten oder auch nicht. Unter ihnen lagen, Halbmonden gleich, die unvorstellbarsten kristallblauen Augen. Sie fesselten hypnotisch den Blick. Ben erinnerte sich daran, wie kalt Vernas volle Lippen gewesen waren, als er sie küßte, und wie sie sich wie ein Panther bewegte. Er drückte den Abspielknopf, und der Bildschirm färbte sich augenblicklich schwarz. Dann flackerten darauf weiße Linien, die Musik setzte ein, und der Titel erschien: „Schwarz wie die Finsternis“.
Jack Wells schaltete den elektrischen Ventilator in seinem Studierzimmer ein und öffnete sein Hemd, um die aufgewirbelte Luft über seinen sich vorwölbenden Bauch spielen zu lassen. Er setzte seine Lesebrille auf und drehte den ungeöffneten Umschlag in den Fingern hin und her, dann schlitzte er ihn vorsichtig mit einem Papierdolch an der Oberkante entlang auf. Der Brief trug das Datum des vorigen Tages. Lieber Jack, Du wunderst Dich vielleicht, was mit mir los ist. Ich weiß, ich bin Dir aus dem Weg gegangen, aber es ist etwas ganz Phantastisches geschehen. Ich habe ein Videoband von diesem Film mit Vernagefunden. Ich habe ihn mir die ganze Zeit lang angeschaut. Sie hat mir alles erzählt. Ich kann das nicht in einem Brief erklären. Muß mich mit Dir treffen. Ich werde morgen um 2 Uhr vorbeikommen. Sie ist wieder da. Ben
Ein Schweißbächlein rann über Jacks Stirn und in sein linkes Auge. Er nahm die Brille ab und wischte es fort. Zwei aufgedunsene Fliegen waren auf dem Brief gelandet und krabbelten über die Handschrift. Er wischte sie ärgerlich beiseite und ließ den Brief auf den Schreibtisch fallen. Obwohl er irgendwie gewußt hatte, daß er schlechte Neuigkeiten beinhaltete, hätte er sich nicht gedacht, daß es das sein würde. Hatte sein alter Freund eine Art Nervenzusammenbruch? War es möglich, daß er herausgefunden hatte, was passiert war? Jack setzte sich, die Hitze des Tages war plötzlich vergessen. Von dem Augenblick an, als Jack Wells zum ersten Mal Verna Karndess gesehen hatte, hegte er einen tiefen Abscheu gegen sie, aber er hätte sich nicht vorstellen können, daß sie fünfzig Jahre später immer noch der Grund für Ärger sein würde. Wie um alles in der Welt hatte Ben eine Kopie dieses Films aufgetrieben? Er hatte die Frau zu seinem Idol gemacht und schien wirklich geglaubt zu haben, daß sie Talent besaß. Das unselige Weib hatte darauf bestanden, in „Schwarz wie die Finsternis“ ihren größten Auftritt geliefert zu haben, aber wenigstens sah Ben wohl jetzt, daß sie niemals wirklich Schauspielen konnte. Sie hatte behauptet, jedermann am Set hätte ihr gratuliert, und Ben hatte, nachdem er einer der Drehsitzungen beigewohnt hatte, darauf beharrt, daß sie vor der Kamera noch eine weitere Dimension dazugewann. Es handelte sich dabei jedoch bestimmt nicht um eine Eigenschaft, die sich manifestierte, wenn Jack sie auf der Bühne sah. Jack hatte über die Idee gelacht, die Kamera habe die Karndess eigentlich erst zum Leben erweckt; aber das lag lang, lang zurück. Es spielte keine Rolle, ob sie in dem Film gut gewesen war oder nicht, denn der Film war geplatzt; und Verna hatte sich gezwungen gesehen, sich wieder auf das Niveau tödlicher Repertoire-Produktionen zurückzubegeben.
Diese Erfahrung verbitterte sie mehr als alles andere, und sie hatte schlimme Wutausbrüche, in denen sie behauptete, daß ihr Talent nicht gebührend gewürdigt würde. Sie begann an öffentlichen Orten Szenen zu machen – zur Qual von Ben, über dessen schüchternes und leicht zu beschämendes Naturell sie ganz genau Bescheid wußte. Und das war noch nicht das Schlimmste. Immer öfter kam sie nicht nach Hause, verschwand für Tage und sogar Wochen am Stück, für gewöhnlich mit irgendeinem aus dem Showbusiness, den sie auf einer Party aufgegabelt hatte. Jack würde diese furchtbare Nacht des sturzbachartigen Regens nie vergessen, in der Ben um drei Uhr früh in elendem Zustand auf Jacks Schwelle aufgetaucht war. Ben hatte stundenlang bei ihm gesessen und kläglich Vernas Reihe von Liebhabern heruntergebetet: Schauspieler, Produzenten, Agenten; jeder, von dem sie glaubte, daß er ihre auf dem absteigenden Ast befindliche Karriere wiederbeleben könne… Er war nie wirklich darüber hinweggekommen, als sie nicht mehr nach Hause kam.
Kurz vor zwei Uhr an diesem Nachmittag schlenderte Jack zum offenen Fenster hinüber und sah hinaus, wobei er den Unterarm an den heißen Rahmen lehnte. Für einen Sekundenbruchteil fühlte er einen Schmerzensstich in den Augen, als sich seine Pupillen zusammenzogen, um sich an die Helligkeit draußen anzupassen. Alles war so still und ruhig; die Straße war menschenleer. Wenn er zum Ende der Straße hinaufschaute, konnte er Hitzewellen sehen, welche die Gegenstände in der Ferne verzerrten, deren Abbilder von der scheinbar flüssigen Luft verfremdet wurden, die von Trottoir und Straßenasphalt aufstieg.
Durch den wabernden Dunst sah er eine Gestalt auf das Haus zukommen, wobei ihre Umrisse immer schärfer wurden, je näher sie kam. Es gab keinen Zweifel darüber, wer das war; nur Ben Gibbs trug in dieser Hitze einen Pullover. Es war eine Erleichterung, zu sehen, daß er nicht wirklich übergeschnappt wirkte, obwohl sein Gesichtsausdruck alarmierend war. Er war fuchsteufelswild. Jack empfing ihn an der Haustür, folgte ihm ins Studierzimmer und ging dann Dosenbier aus dem Kühlschrank holen. Er kam widerstrebend aus der Küche zurück, und viele Minuten lang tranken sie schweigend. Ben schien nicht das Bedürfnis zu haben, sich zu entspannen. Ab und zu strich er sich mit den Fingern durchs Haar, so wie er es in der Nacht getan hatte, als Verna verschwand. „Ben“, sagte Jack vorsichtig. Er konnte seine Ungeduld nicht mehr zügeln. „Was soll das alles? Das Zeug, das du in dem Brief geschrieben hast, ich verstehe es nicht.“ „Sag mir“, verlangte Ben, „schaust du dir jemals alte Schwarzweißfilme an und denkst drüber nach, was du siehst? Diese toten Schauspieler und Schauspielerinnen, die dieselben Rollen immer und immer wieder spielen? Sind sie nicht ein bißchen wie Gespenster? Glauben nicht manche Leute, daß Gespenster genau das sind: Abbilder, dazu verdammt, Ereignisse nachzuspielen – an einen Ort gefesselt – diesen Ort heimsuchend?“ „Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Nein? Vielleicht tust du das wirklich nicht.“ Jack sagte nichts. Ben fuhr fort: „Du erinnerst dich an das eine Mal, als ich zu dir kam, um dir von Verna und all den anderen Männern zu erzählen? Ich wußte zu dem Zeitpunkt noch nicht, daß ich sie nie wiedersehen würde.“ „Ich erinnere mich, Ben.“
„Ich glaube mich zu entsinnen, daß du gesagt hast, sie wäre vielleicht aufs Land gefahren; nach Hollywood, für einen letzten Griff nach dem Starruhm, wahrscheinlich mit ihrer letzten Eroberung?“ Jack nickte voller Unbehagen. „Es vernichtete mich“, fuhr Ben fort. „Ich war so deprimiert. Ich trank zu viel, versank wochenlang am Stück im Suff. Sogar als ich den Versuch aufgegeben hatte, sie zu finden, bereitete mir jede Erwähnung ihrer Person solchen Schmerz…“ „Ich hielt zu dir. Wir waren Freunde.“ „Ha!“ Er spuckte Jack beinahe an, der tief in seinen Sessel gesunken saß und ängstlich noch einen Schluck aus der Bierdose nahm. „Ich bin nie über sie weggekommen. Ich habe mich mit meinem normalen Leben weitergeplagt, habe niemals wieder geheiratet. Was für ein vergeudetes Leben.“ „Ich habe dich unterstützt, wo ich konnte.“ „Und wir sprachen nie über Verna.“ „Nein.“ „Weil wir Freunde waren? Weil du wußtest, wie weh es mir getan hätte?“ Jack schwieg. „Du weißt, daß ich sie in diesem Film gesehen habe, , Schwarz wie die Finsternis’? Als sie auf der Mattscheibe erschien, fing sie mit mir zu sprechen an. Ich weiß nicht, ob die Worte auf der Tonspur zum Dialog gehörten, den sie dem Skript nach sagen sollte, aber ich konnte sehen, daß sie sie direkt zu mir sagte. Ab und zu schaute sie mich sogar an. In ihren Augen ist Haß, Jack.“ „Ben, das passiert alles nur in deiner Einbildung.“ „Warum sagst du das?“ „Warum sollte sie dich denn hassen?“ „Ich bin es nicht“, lachte er. „Du bist es, den sie haßt.“
Jack wich noch weiter zurück, das Gesicht voller Angst und Verzweiflung. Ben musterte ihn. „Warum? Das konnte ich nicht herausfinden… anfangs. Ich habe den Film tagelang gesehen und versucht, es herauszufinden.“ „Vernichte das Video. Wir werden Hilfe für dich suchen…“ „Gestern habe ich den Fernseher zerschlagen und das Video in Fetzen gerissen. Aber es ist zu spät. Sie ist hinter dir her. Sie hat mir alles über jene Nacht erzählt, Jack.“ Jack starrte hinaus auf die grell von der Sonne erleuchtete Straße, es widerstrebte ihm, seinen alten Freund anzuschauen. Er glaubte kein Wort von dem Blödsinn über Verna, die mit Ben sprach. Aber irgendwie hatte Ben herausgekriegt, was er getan hatte. Er zwang sich, den anderen anzusehen: „Du weißt, was passiert ist?“ „Ja, aber ich möchte es von dir selbst hören.“ Jack brauchte einige Augenblicke, um sich zu sammeln. Er fühlte sich auf gewisse Weise erleichtert. „Ich habe es nie vergessen können. Du hast um drei Uhr morgens an meine Tür gehämmert. Wieso du sie nicht aufgeweckt hast, weiß ich nicht. Ich hatte mich betrunken und war mit ihr im Bett gelandet, oder sie hat mich verführt. Ich weiß es nicht…“ „Aber warum? Du warst mein Freund. Und du sagtest, du würdest sie hassen!“ „Ich weiß, ich weiß. Das Schlimmste daran war, daß es ihre Teuflichkeit war – die mich so abstieß –, was mich dazu trieb, es zu tun. Es war wie ein schwarzes Verlangen. Ich wollte in ihrer pantherhaften Umarmung versinken und verdammt sein.“ „Und…“, forderte Ben. „Du sprachst von all den Männern, die sie gehabt hatte, während sie oben in meinem Bett schlief! Ich fühlte mich so
mies, daß ich beschloß, allem ein Ende zu bereiten. Gleich nachdem du weg warst, ging ich hinauf und warf sie raus. Erst glaubte sie mir nicht, dann war sie wutentbrannt und ging auf mich los… Ich sah sie niemals wieder…“ „Ich habe dir gesagt, ich weiß alles. Sie erzählte mir…“ „Was hat sie dir gesagt?“ fragte Jack langsam und bedächtig. „Daß du sie geschlagen und ihr gesagt hast, sie solle mich endgültig verlassen.“ „Ja, das tat ich.“ Jack zitterte vor Wut. „Und erzählte sie dir auch, daß sie mich nur angrinste? Sie wollte es dir sagen. ,0 nein’, zischte sie, ,ich finde, er sollte wissen, wie sein kostbarer Freund wirklich ist. Laß uns sehen, wie er reagiert, wenn er herausfindet, was für ein grundfalscher Heuchler du bist. Was meinst du, wie wird er sich fühlen, wenn er erfährt, daß seine Frau und sein bester Freund alle beide herzlose Betrüger sind?“ „Oh ja, das erzählte sie mir. Du hast sie die Treppe hinuntergestoßen.“ „Sie lag dort am Boden, halb bewußtlos… sie sah so still und friedlich aus… ich erdrosselte sie.“ Jack Wells zitterte jetzt unkontrolliert. Er konnte nicht glauben, daß er es geschafft hatte, ihren immer noch warmen, erstaunlich schweren Leichnam zu seinem Auto zu schleppen. Zuerst hatte er nicht gewußt, wohin er fuhr oder wo er sie verstecken sollte, aber dann war ihm eine kranke Inspiration gekommen, und er hatte sich den einen Platz ausgedacht, wo niemand sie finden würde. Ein frisches Grab auf dem Friedhof, einfach auf dem Deckel des Sarges. Das war perfekt. Welches Versteck ist für ein Blatt schließlich besser geeignet als ein Wald? Gott, es hatte geregnet und geregnet… Jack stand von seinem Sessel auf und trat unsicher ans Fenster. Das Sonnenlicht, das immer noch ins Zimmer strömte, fühlte sich unangenehm heiß auf seinem schwitzenden Gesicht
an. Er schaute die menschenleere Straße hinunter und in den Hitzedunst in der Ferne. Eine Gestalt kam das Trottoir entlang auf das Haus zu. Ihr Umriß waberte nicht einmal in den Wirbeln heißer Luft. Als sie näherkam, sah er, daß sie monochrom war. Sie trug einen langen Regenmantel, und ihr nasses Haar hing strähnig über ihr gesenktes Gesicht. Ihre langen weißen Finger krümmten sich an ihren Seiten. Etwas allzu Vertrautes haftete der üppigen Figur und dem katzenhaften Gang an. Jack umklammerte den Fensterrahmen und hatte das Gefühl, sein Herz habe zu schlagen aufgehört. Sie bewegte sich beinahe wie in Zeitlupe, dennoch schien sie monströs schnell näherzukommen. Als sie am Fuß der Treppe anlangte, die zur Haustür hinaufführte, konnte Jack den teuflischen Haß in ihren Augen sehen. Als sie den Mund öffnete und einen lautlosen Schrei ausstieß, knisterte es leise im Hintergrund – wie auf der Tonspur eines alten Filmes, vermischt mit dem Klang flüsternder Stimmen. Und in den letzten Augenblicken, bevor sie ihn erreichte, schienen all die Farben der Welt auszubluten, während der Regen zu fallen begann.
Allein auf dem fremdesten aller Planeten: Die urbane Phantastik des Mark Samuels von Thomas Wagner
„Im Phantastischen offenbart sich das Übernatürliche wie ein Riß in dem universellen Zusammenhang. Das Wunder wird dort zu einer verbotenen Aggression, die bedrohlich wirkt und die Sicherheit einer Welt zerbricht, in der man bis dahin die Gesetze für allgültig und unverrückbar gehalten hat. Es ist das Unmögliche, das unerwartet in einer Welt auftaucht, aus der das Unmögliche per definitionem verbannt worden ist.“ Roger Callois, Phaicon I
I.
Mark Samuels wurde 1967 in London geboren und lebt auch heute noch in dem „großen Labyrinth“, wie er seine Heimatstadt scherzhaft-liebevoll bezeichnet. Seine erste Veröffentlichung erfolgte 1988 mit der Kurzgeschichte Caught In The Rain in dem Magazin „Back Brain Recluse“. Seitdem erschienen Erzählungen von ihm in diversen Magazinen (so z. B. „Dagon und Black Tears“); ferner verfaßte er Artikel und Essays zur phantastischen Literatur, die u. a. in den Publikationen „Edgar Allan Poe and Arthur Machen, Wormwood und Aklo, A Volume of the Fantastic“ veröffentlicht wurden. 2003 kam es mit „The White Hands and other Weird Tales“ (das hier unter dem Titel „Die weißen Hände und andere Geschichten des Grauens“ als deutsche Erstveröffentlichung vorliegt) zu seinem Buchdebüt. Diese Storykollektion erschien in einer Auflage von nur 350 Exemplaren bei dem britischen Kleinverlag Tartarus Press, der sich auf gediegene Sammlerausgaben spezialisiert hat und dessen Programm u. a. so illustre Klassiker wie Robert Aickman, Arthur Machen und Jean Lorrain umfaßt. Im Verlauf des gleichen Jahres erschien bei Rainfall Books auch „Black Altars“, eine weitere Sammlung von Kurzgeschichten. Eine dritte Sammlung von Horrorgeschichten sowie ein erster Roman sind derzeit in Vorbereitung. Samuels arbeitet übrigens in der Verwaltung eines Londoner Unternehmens; an einer Karriere als Berufsautor glaubt er nach eigenen Aussagen nicht – eine leider wohl realistische Einschätzung der Lage, denn von anspruchsvoller Phantastik kann heutzutage wahrscheinlich kaum jemand existieren.
In seinen Erzählungen schöpft Samuels aus den phantastischen Traditionen des 20. und späten 19. Jahrhunderts, verknüpft diese Inspirationen mit modernen urbanen Elementen und erschafft so Literatur, die sich durch eine höchst eigenständige Phantasie und sprachliche Qualität auf hohem Niveau auszeichnet. Sein Schreibstil ist flüssig und modern, dabei aber weit entfernt von den Platitüden diverser Bestsellerautoren und ihrer Epigonen. Er verzichtet auf simple Identifikationsfiguren ebenso wie auf Manierismen und grauenbeschwörende Adjektivhäufungen und befleißigt sich statt dessen eines – für die psychologische Phantastik in Großbritannien typisch erscheinenden – literarischen Understatements. Zurückhaltend in der plakativen Schilderung gängiger Horrorelemente, gelingt es ihm mit einem feinsinnigen Gespür für untergründige Nuancen und mit subtilen Mitteln, den Leser zu fesseln und in seine urbanen Nachtmahrwelten zu entführen. Die vertrauten großstädtischen Kulissen aus Beton, Stahl und Glas werden in seinen Erzählungen zu einem modernen Äquivalent der klassischen Spukschlösser, und trotz dieses quasi-realen Settings gelingt es dem Autor, diesen oft desolaten, in einem Zustand vorzeitigen Verfalls befindlichen Orten eine Atmosphäre unirdischer Alptraumhaftigkeit zu verleihen. Liest man Samuels’ Geschichten, wird schnell offensichtlich, daß man es hier mit einem Kenner der phantastischen Literatur zu tun hat, dem all ihre Spielarten vertraut sind. Geschickt nutzt er dieses Wissen, um mit Stilmitteln zu spielen, Querverweise einzufügen oder auch – stets wohl dosiert und mit Bedacht – bewußt Einflüsse in seine Geschichten einzubringen, die diese jedoch nie zur bloßen Pastiche werden lassen. In „Die weißen Hände und andere Geschichten des Grauens“ finden sich einige besonders gelungene Beispiele dafür: So wurde „Momentaufnahmen des Schreckens“ von
Bruno Schulzs „Die Mannequins“ inspiriert und zugleich – gewissermaßen als eine weitere Referenz an den polnischjüdischen Autor Schulz – mit kabbalistischen Elementen verwoben. „Vrolyck“ ist eine bizarre, höchst eigenständige Hommage an Thomas Ligotti, an dessen Person sogar die schlaflose Titelfigur der Geschichte angelehnt ist. Die phantastische Bibliopolis in „Die Suche nach Kruptos“ schließlich erscheint wie eine surreale Adaption der gigantischen Bibliothek in Jorge Luis Borges’ La biblioteca de Babel. Mit der Erwähnung des fiktiven Autors George Burgess – einer Anglisierung des Namens Jorge Borges – baute Samuels noch eine weitere, versteckte Würdigung des großen Argentiniers ein. Auch hier finden sich wieder mythologische Querverweise, namentlich personifiziert durch den Metaphysiker Ariel: So war Ariel eine alte biblische Bezeichnung Jerusalems, zugleich auch der Name von Luftgeistern in Shakespeares „The Tempest und Goethes Faust II“ und letztendlich auch der Engel des Wassers und des Windes in der jüdischen Mythologie (laut Samuels waren übrigens all diese Bezüge ausschlaggebend für die Namenswahl seiner Figur).
II.
„Einsamkeit kann einen Menschen in geistige Regionen von äußerster Fremdheit treiben“, bemerkt der Gelehrte Alfred Muswell in der Titelgeschichte, und diese Feststellung erscheint signifikant für alle neun Erzählungen in „Die weißen Hände“. Neben anderen Ängsten unserer modernen Gesellschaft stellen insbesondere Vereinsamung und
Entfremdung zentrale Elemente in dieser Sammlung dar. Die Isolation des Individuums inmitten von Millionenstädten zieht sich – obgleich dies vom Autor nicht bewußt so konzipiert wurde – als thematischer Schwerpunkt wie ein roter Faden durch den Großteil der hier versammelten Geschichten. Es wäre allerdings völlig verfehlt, dies als simplifizierte Zivilisationskritik zu interpretieren und Samuels’ Protagonisten als unglückliche „Opfer“ großstädtischer Anonymität zu sehen. Oftmals sind sie ohnehin Fremde in der modernen Gegenwart; Heimatlose in einer von Logik, Ordnung und scheinbar unumstößlichen Gesetzmäßigkeiten dominierten Welt. Es sind Zweifler und Suchende, und ihre erzwungene Anpassung an die Anforderungen des Alltags bildet nur eine dünne Makulatur über verborgenen Sehnsüchten und Obsessionen. Sie fühlen sich hingezogen zum Seltsamen, zur anderen Welt jenseits der Profanität des irdischen Diesseits. Meist beginnt alles mit einem Rückzug aus dem Alltag, mit einer fortschreitenden Selbstisolation, die schließlich zur Initiation für den Schritt in die andere Welt, in den Kosmos des Unheimlichen wird. Orte (z. B. das seltsame Viertel in „Kolonie“) ebenso wie Dinge (z. B. Lilith Blakes Buch in „Die Weißen Hände“ oder das Schachspiel in „Das letzte Spiel des Großmeisters“) können hierbei als Mittler fungieren, zu Portalen und Schlüsseln für den Eintritt in die andere Welt werden. Manchmal manifestiert sich das Unheimliche in einer übernatürlichen Wesenheit, und auch diese muß erst von den Protagonisten heraufbeschworen werden: So steigert sich in „Die Weißen Hände“ die zunehmende Faszination, die der Journalist Harrington für die geheimnisvolle Autorin Lilith Blake empfindet, irgendwann zur Besessenheit mit fatalen Folgen, was in einem geradezu poesken Finale gipfelt. In „Schwarz wie die Finsternis“ wird die Schauspielerin Verna Karndess durch die Sehnsucht ihres
Mannes aus dem Grab gerufen, nachdem dieser in Form einer Videocassette praktisch einen „Schlüssel“ zur Kontaktaufnahme erhalten hat. In „Vrolyck“ schließlich (diese Erzählung ist übrigens ein Ausnahmefall, denn hier steht das übernatürliche Wesen als Erzähler im Mittelpunkt) wird Emily Curtis zum Werkzeug und Opfer des obskuren Titelhelden, weil sie sich ihm sozusagen freiwillig als solches darbietet.
Ist der Kontakt mit der anderen Welt erst einmal hergestellt, beginnt sich die Realität zu wandeln, die bekannten und vertrauten Strukturen lösen sich auf, sogar Zeitdimensionen können – wie in „Die Suche nach Kruptos“ – ihre Gültigkeit verlieren. All das, was unsere scheinbare Wirklichkeit ausmacht, stellt sich als nichtig heraus; was bleibt, ist eine Ewigkeit des Chaos und der Schwärze. Dies mag auf den ersten Blick durchaus an H. P. Lovecrafts Konzept eines kosmischen Grauens erinnern, doch im Mittelpunkt von Samuels’ Erzählungen steht nicht die Vorstellung eines von Grund auf bösartigen Kosmos, geschweige denn die Bedrohung durch außerirdische, gottgleiche Kreaturen. Von weitaus größerer Relevanz ist der tiefe Skeptizismus, der hier den Gesetzmäßigkeiten einer Realität entgegengebracht wird, die sich immer wieder als wandelbar und instabil, ja oft auch als völlige Illusion entpuppt. Dieses philosophische Element findet sich in der neueren phantastischen Literatur bei J. L. Borges und Thomas Ligotti, die beide zu Samuels’ Haupteinflüssen gehören. Doch anders als beispielsweise Ligotti, dessen Werk von einer zutiefst pessimistischen Weltsicht dominiert ist und dessen Figuren (vor allem in den älteren Erzählungen) oft eher eine Randfunktion einnehmen, thematisiert Samuels das Individuum und konfrontiert es – ganz in der Tradition der
psychologischen Phantastik eines Edgar Allan Poe oder Robert Aickman – mit den Abgründen und Ängsten des eigenen Ichs. Wenn Samuels’ Protagonisten dann schließlich tatsächlich dem – sich in den Erzählungen in mannigfachen Facetten manifestierenden – Seltsamen begegnen, geschieht dies ohne das brachiale Eindringen einer monströsen Macht und die dazugehörigen konventionellen Schockeffekte. Das Unheimliche sucht hier nicht die „heile“ Welt heim und stellt diese auf den Kopf, vielmehr finden diese Charaktere auf ihrer (bewußten oder unbewußten) Weltflucht und der damit verbundenen Loslösung von der Realität schließlich zu ihm, und oft genug sogar eine letztendliche Heimat darin – wie alptraumhaft diese auch immer beschaffen sein mag…
III.
Ausschnitte aus einem Interview mit Mark Samuels, Mai 2004: TW: Beginnen wir mit einer unvermeidlichen Frage: Wie sind Sie zum Schreiben gekommen? Und wieso ist es gerade die phantastische Literatur, die es Ihnen angetan hat? Was macht für Sie die Faszination daran aus? MS: Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals kein Interesse am Schreiben gehabt zu haben. Als kleiner Junge war eines meiner Hobbys, mir meine eigenen Comics auszudenken und zu zeichnen. Später versuchte ich mich dann am Schreiben von Geschichten, doch die Ergebnisse waren ziemlich furchtbar. Ich glaube wirklich nicht, daß ich irgend etwas Lesenswertes fabriziert habe, bevor ich Ende zwanzig war. Was nun mein Interesse an phantastischer Literatur betrifft, so glaube ich, daß
dies eine Folge davon war, daß ich als Teenager Lovecraft gelesen habe. Danach war ich von seiner Arbeit und seinem Leben besessen. Ich begann, die von ihm empfohlenen Autoren zu lesen, und bahnte mir schließlich durch zahlreiche Paperback-Anthologien den Weg zu den modernen Phantastikautoren. Ich vermute, der Grund für mein besonderes Interesse an dieser Literatur ist der gleiche, aus dem Menschen vom Anblick einer Sonnenfinsternis fasziniert sind. Die Sonne vom Mond ausgelöscht zu sehen, ist zur gleichen Zeit schrecklich und wunderschön. TW: Die Masse der modernen Horrorliteratur basiert vorwiegend auf Stereotypen und gängigen Schockeffekten, Ihre Geschichten heben sich mit ihrer sehr eigenen Atmosphäre und den subtilen Untertönen jedoch wohltuend davon ab. Ich fühlte mich beim Lesen Ihrer Kurzgeschichten an Robert Aickman, Arthur Machen und Thomas Ligotti erinnert, aber gerade auch kontinentale Autoren wie z. B. Stefan Grabinski bieten sich zum Vergleich an. Was sind Ihre stärksten Einflüsse und Inspirationen – gibt es einen „literarischen Helden“ für Sie? MS: Ich verehre all die von Ihnen genannten Autoren. Ich würde außerdem auch noch Franz Kafka, Jorge Luis Borges, T.E.D. Klein, J.G. Ballard, Algernon Blackwood, Philip K. Dick und M.R. James nennen. Auch H. Russell Wakefield, A.M. Burrage, L.A. Lewis, Hanns Heinz Ewers, Eleanor Scott, L.T.C. Rolt und andere, die mir jetzt gerade nicht einfallen, haben eine Reihe brillanter Erzählungen verfaßt. TW: Ihr Buch „The White Hand and other Weird Tales“ wird in Kürze auch in Deutschland erscheinen. Lassen Sie uns also ein wenig über die darin enthaltenen Geschichten plaudern… Beginnen wir doch gleich mit der Titelgeschichte „Die Weißen Hände“: Der Gelehrte Alfred Muswell ist ein wunderbar kauziger Charakter, ein wirkliches Original. Man hat den
Eindruck, Sie hatten viel Spaß daran, diese Figur auf dem Papier lebendig werden zu lassen. Auch in Ihren anderen Erzählungen wirken die Charaktere – auch wenn sie niemals als platte Sympathieträger auftreten – diffizil und glaubhaft gestaltet. Mag der Autor Mark Samuels seine Figuren? Steckt etwas Persönliches in ihnen? MS: Ja, Alfred Mus well ist einer der wenigen Charaktere in meinen Geschichten, der auf dem Papier wirklich lebendig wird. Meistens sind meine Figuren wenig mehr als Marionetten oder Affen im menschlichen Gewand. Muswell ist sehr stark ein geradezu überlebensgroßer, dickensscher Charakter. Die Geschichte „Die Weißen Hände“ mußte für ihn geschrieben werden, nicht umgekehrt. Im allgemeinen bin ich jedoch nicht davon überzeugt, daß sich ein Autor mit seiner Figur identifizieren muß. Es reicht aus, wenn diese im Bezug auf die Geschichte von Interesse ist. Im realen Leben würde ich keinen gesteigerten Wert darauf legen, die Gestalten aus meinen Geschichten zu treffen. TW: Ich möchte kurz Alfred Muswell zitieren: „Ich glaube, daß die Essenz der unheimlichen Literatur in der geistigen Isolation liegt. Isolation in der Konfrontation mit Krankheit, mit Wahnsinn, mit Grauen und mit Tod.“ Teilen Sie die Ansichten Muswells? Ist es so, daß wirklich gute Künstler keine „normalen“ Zeitgenossen sind, speziell wenn es um unheimliche Literatur geht? MS: Ich glaube, es steckt Wahres in dieser Äußerung, doch es ist nicht die ganze Wahrheit. Meistens wird doch gerade die entsetzlichste Einsamkeit durch ein äußeres Gehabe von Geselligkeit verborgen. Das Schreiben phantastischer Literatur bedingt naturgemäß sicherlich einen Akt des Loslösens vom Alltäglichen und einen Rückzug in die eigene Phantasie. TW: Ich würde „The White Hands and other Weird Tales“ als modernen, urbanen Horror bezeichnen: Die meisten
Geschichten sind in modernen Großstädten angesiedelt, Hochhäuser ersetzen hier die Schlösser und Spukhäuser der Gothic Novel. Gibt es bestimmte Orte, die Sie faszinieren, aus denen Sie Inspirationen schöpfen? MS: Meiner Meinung nach sind Krankenhäuser, Bürogebäude, U-Bahnhöfe, Autobahnen und dergleichen mehr heutzutage weitaus effektivere Schauplätze als die von Ihnen genannten alten gotischen Kulissen. Alles Moderne, doch rapide Baufälligwerdende fasziniert mich auf eine bestimmte Art. In der Architektur ebenso wie in der Literatur, fühle ich mich zu dem hingezogen, was für mich Beispiele „verfallener Zukunft“ sind. Ich fühle mich jedoch ebenso von den zahlreichen Friedhöfen und verlassenen Kirchen angezogen, die man in London finden kann. Die meisten sind Jahrhunderte alt. Diese beiden Facetten der Metropole in einer Geschichte zu kombinieren, wäre ideal. TW: Starke Elemente in „Das letzte Spiel des Großmeisters“ sind Glaube und Religion: Ein Jesuit als Hauptfigur, die Kirche namens St. Ignatius von Loyola… Zu meiner Überraschung entpuppte sich der fromme Pater jedoch als Falschspieler. Wie stehen Sie zu Religion? Zu Mystizismus? MS: Es gibt ein Sprichwort, daß den Jesuiten zugeschrieben wird: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ So betrachtet ist Pater Mooneys Betrug vielleicht weniger überraschend. Meine eigenen religiösen Ansichten sind ziemlich komplex, doch essentiell lebe ich in der Hoffnung, daß Gott Liebe ist. Ich halte Mystizismus für den faszinierendsten Aspekt am Glauben. TW: Bleiben wir bei der Mystik: In „Momentaufnahmen des Schreckens“ unterzeichnet der obskure Architekt Golmi sein Manifest mit YHVH Elohim Met. Das Tetragrammaton YHVH ist in der jüdischen Mystik der heilige, wahre Name Gottes…
Haben Sie sich intensiver mit dieser Materie beschäftigt, mit Kabbalistik? Lehnt sich der Name Golmi an den Golem an? MS: Die Worte „YHVH Elohim Met“ ergeben übersetzt ungefähr den Satz „Gott ist tot“. Die Kabbala interessiert mich – ebenso wie andere okkulte Traditionen – einzig und allein im Hinblick auf ihre Nützlichkeit für meine eigenen literarischen Zwecke. Die Gnostiker sind eine weitere Hauptinspirationsquelle in dieser Hinsicht. Der Name Golmi bezieht sich übrigens tatsächlich direkt auf den Golem. TW: In „Appartement 205“ schreiben Sie: „Es gab Hinweise darauf,… daß es die Toten sind, welche die Struktur der Wachwelt in ihren Träumen aufrecht erhalten und daß jegliche lebendige Existenz illusorisch ist.“ Dieses Konzept der Illusion, des Scheins, der Scheinsicherheit ist etwas, das sich oft durch Ihre Erzählungen zieht… MS: Ich denke, diese Tendenz in meiner Schreiberei hängt mit der Vorstellung zusammen, daß es dort draußen zwar eine reale Welt gibt, wir diese aber – bedingt durch die limitierten menschlichen Sinneswahrnehmungen und Denkprozesse – nur gefiltert, ja vielleicht auch verzerrt wahrnehmen. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß jede philosophische Interpretation des Universums nur Teil einer größeren und unbeschreiblichen Wirklichkeit sein kann. TW: „Die Sackgasse“ ist ein perfekter kafkaesker Alptraum: es gibt keinen Ausweg aus dem unheimlichen Firmenlabyrinth der Ulymas Organisation, der dort tätige Mensch wird seines (Privat-)Lebens beraubt, seine Existenz als Individuum letztendlich negiert und ausgelöscht. Man könnte diese Geschichte durchaus als eine phantastische Metapher auf die Zustände an vielen modernen Arbeitsplätzen betrachten… MS: In einem Büro angestellt zu sein, erscheint mir, als würde man für fünf Tage in der Woche von 9.00 bis 17.00 Uhr zum Insassen einer Irrenanstalt. Man bekommt Tätigkeiten
zugewiesen, an denen man kaum oder gar kein Interesse hat. Es wird von einem verlangt, mit Leuten zusammenzuarbeiten, mit denen man normalerweise nichts zu tun haben will, und man muß auch noch eine permanente Fassade aus Eifer und Begeisterung vortäuschen. Es ist unvermeidlich, daß einige der Insassen glauben, dieser Zustand wäre tatsächlich erstrebenswert, und in diesen Anstalten enden. TW: Um eine Form der Auslöschung geht es auch in „Kolonie“, allerdings ist der Sachverhalt hier umgekehrt: der Protagonist zieht sich völlig zurück, kündigt seinen Job, geht nicht mehr an Öffentlichkeit… Irgendwann beschreibt er seine Situation mit den Worten „Als die Wochen ins Land gingen, begann mir mein Leben außerhalb des Viertels wie eine grelle Halluzination vorzukommen, und ich verlor allmählich jegliches Interesse daran.“ Auch in „Vrolyck“ ist die Einsamkeit des Protagonisten selbstgewählt, jedoch aus einem anderen Grund, denn Mr. Vrolyck ist im wahrsten Sinn des Wortes nicht von dieser Welt… Weltflucht und das Gefühl der Fremdheit sind starke Elemente in diesen beiden Erzählungen. Kennen auch Sie das Gefühl „nicht zu dieser Welt zu gehören“ – ein Alien zu sein? MS: „Kolonie“ und „Vrolyck“ sind die beiden Geschichten, die Thomas Ligotti am meisten verdanken. Ich lehnte die Figur Vrolyck an Ligotti an und er sah das Manuskript für mich durch und schlug ein oder zwei Änderungen vor, die ich später übernahm. Als ich „Kolonie“ schrieb, lebte ich allein in einer merkwürdigen Londoner Gegend, die den meisten Einwohnern der Stadt kaum bekannt sein dürfte. Diese Gegend existiert tatsächlich und kann besucht werden, allerdings sollte der Leser bedenken, daß gewisse Aspekte durch meine Phantasie gefiltert wurden. Während dieser Zeit kaufte ich ein Exemplar von Ligottis „The Nightmare Factory“ und begann seine Geschichten nochmals gründlich zu lesen. Ich las damals auch
erstmals die Teatro Grotesco-Geschichten, die in diesem Band enthalten sind. Ja, ich denke schon, daß der fremdeste aller Planeten unser eigener ist. Ob man nun daran glaubt, daß wir unsterbliche Seelen sind, die nur vorübergehend in Körpern hausen, oder daß wir einfach nur biologische, durch Zufall entstandene Maschinen sind – das Gefühl, hier ein Eindringling zu sein, bleibt das gleiche. TW: „The White Hands and other Weird Tales“ erschien in Großbritannien bei dem renommierten Kleinverlag Tartarus Press. Diese Veröffentlichung enthielt jedoch Änderungen in den Erzählungen „Die Weißen Hände“ und „Momentaufnahmen des Schreckens“, die auf mich ziemlich verwirrend wirkten: Teilweise wurden ganze Absätze entfernt und auch im Finale wurden beide Geschichten recht gravierend abgeändert. Die meisten dieser Änderungen ergeben für mich recht wenig Sinn, höchstens den, die Geschichten ein wenig konventioneller wirken zu lassen. Wie kam es zu dazu? Die deutsche Veröffentlichung Ihres Buches wird die Originalversionen der Geschichten erhalten, sozusagen den Director’s Cut… (Eine nachträgliche Anmerkung zu dieser Frage: Die Lektoratseingriffe in der Tartarus Press-Veröffentlichung sind in der Tat irritierend. So wurde in „Die Weißen Hände“ ein kompletter Absatz entfernt, der u. a. die Besessenheit des Erzählers von Lilith Blake verdeutlicht und auch die erste Szene an Blakes Grab fehlt völlig. Auch das Finale wurde abgeändert: In der Tartarus-Version der Geschichte erscheint Lilith Blake nach dem Öffnen ihres Sarges nach wie vor wunderschön und läßt jegliche vom Autor beschriebenen abstoßenden Züge vermissen. Der Protagonist küßt sie, im Anschluß versucht sie ihn zu erwürgen und beginnt letztendlich zu verwesen – ein Showdown, der Erinnerungen
an Roger Cormans Horrorfilme wecken mag, auf dem Papier jedoch ein wenig platt erscheint. Auch „Momentaufnahmen des Schreckens“ erlitt drastische Änderungen, die sich wohl kaum als Verbesserungen bezeichnen lassen: Während Golmis Büroturm in der Originalfassung der Geschichte als durchaus faszinierendes Bauwerk geschildert wird und sich der Erzähler von dieser Architektur angezogen fühlt, ist in der Tartarus-Version von einem „unmenschlichen Design“ die Rede. Kurzerhand hinfortlektoriert wurden der Gedächtnisverlust und die Schaufensterpuppenvergangenheit des Erzählers sowie einige Szenen in Golmis Ausstellung, u. a. die recht drastische Schlußszene mit der Lötlampe.) MS: Nun, ich hatte kein endgültiges Mitspracherecht bei der Auswahl, die die Tartarus-Herausgeber trafen. Ich hatte das Gefühl, daß die Kürzungen und Änderungen diesen beiden Geschichten schadeten. Als ich die so lektorierten Fassungen sah, erhob ich Einspruch, doch dieser wurde abgelehnt. Die Originalfassung von „Die Weißen Hände“ wird jedoch im Oktober 2004 auch in der für den angloamerikanischen Massenmarkt konzipierten Anthologie Year’s Best Horror erscheinen. Ich hoffe, daß im Verlauf des Jahres auch „Momentaufnahmen…“ in der authentischen Form gedruckt wird. TW: Wie sehen Sie den derzeitigen Zustand der phantastischen Literatur in Großbritannien? In Deutschland gelten US-Bestsellerautoren à la Stephen King oft als das Maß aller Dinge, was dazu führt, daß es immer weniger eigene und originelle Stimmen in der deutschsprachigen Horrorliteratur gibt. MS: Ich glaube, Stephen King definierte den Horrorroman in der Hinsicht neu, daß der Familienzusammenhalt bedroht wird. Ich kann verstehen, daß er solch eine weltweite Popularität und
Leserschaft erreicht hat. Ich glaube auch, daß er einen sehr zugänglichen Prosastil besitzt, der zu einem großen Einfluß auf nachfolgende Autoren wurde, die kommerziellen Erfolg suchten. Die Situation in Großbritannien scheint mir der in Deutschland sehr zu ähneln: deprimierend. TW: Können Sie uns etwas über zukünftige Projekte verraten? MS: Kürzlich habe ich eine dritte Sammlung mit Horrorgeschichten fertiggestellt, und diese wird momentan von einem der führenden Kleinverlage begutachtet. Mein nächstes Projekt wird die Überarbeitung des ersten Entwurfes zu meinem Horrorroman „The Face of Twilight“ sein. Darüber hinaus sind die Dinge eher unklar, aber ich habe mir selbst versprochen, daß eine eventuelle vierte Kurzgeschichtensammlung keinen reinen Horror beinhalten, sondern sich mehr mit märchenhafter Phantastik beschäftigen wird. Ich beabsichtige auch, den Vampirroman „The Thirst“ meiner Lebensgefährtin Adriana Diaz-Encisco aus dem Spanischen ins Englische zu übersetzen.