Marc Tannous
Die Werwölfe von Prag Version: v1.0
Der kleine Laden lag in einer Seitengasse im Osten Prags. Schon aus ...
12 downloads
571 Views
528KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Marc Tannous
Die Werwölfe von Prag Version: v1.0
Der kleine Laden lag in einer Seitengasse im Osten Prags. Schon aus einiger Entfernung bemerkte Dan Walker, dass etwas nicht stimmte. Obwohl das Geschäft zu dieser späten Stunde ge schlossen hatte, war ein zuckendes Licht hinter der Schaufensterscheibe zu sehen, das abrupt stärker dann wieder schwächer wurde. Es sah aus, als würde jemand mit einer Taschenlampe durch den ansonsten dunklen Raum schleichen …
Walker beschleunigte seine Schritte, sodass sein schwarzer Mantel hinter ihm herwehte, und blieb vor der Front des schlecht verputz ten Fachwerkhauses stehen. Buchstaben waren halbkreisförmig und mit Goldfolie auf das Glas geklebt war. Ja u la s Mai c Bo Einige der Lettern waren irgendwann abgeblättert und nicht wieder ersetzt worden. Lediglich ihre auf dem Glas zurückgeblieben Umrisse lüfteten das Buchstabenrätsel. Jaruslav’s Magic Box. Im Halbdunkel dahinter erspähte Walker schwach die Silhouetten einiger Gestalten. Da ertönte ein ohrenbetäubender Laut, der Schrei eines Menschen in Todesangst! Sofort rannte Walker los, umrundete das Gebäude und blieb an dessen Rückseite stehen. Die Hintertür schwang lose im nächtlichen Herbstwind. Das Schloss war aus dem Holz gebrochen worden. Einen Moment lang dachte an Walker an die Unsichtbaren, mit denen er es erst gestern bei einer verfallenen Kirche in der Nähe von Mailand zu tun bekommen hatte. Er wusste nicht, wer sie waren, aber sie schienen das gleiche Ziel zu verfolgen wie er. Insofern hätte es ihn nicht überrascht, hätte er es erneut mit ihnen zu tun bekom men. Ein weiterer Schrei hallte durch die Stille der Nacht. »Verdammt!« Der Dämonenjäger des Vatikans riss die mit Silberkugeln gefüllte Magnum aus dem Oberschenkelholster unter seinem langen ledernen Mantel und stieß die Tür auf. Bevor er jedoch über die Schwelle treten konnte, stürmte ihm aus dem Flur dahinter eine schattenhafte Gestalt entgegen. Walker wich unwillkürlich zurück, wollte sie noch am Arm pa
cken, als sie auch schon um die Hausecke bog und in der Nacht verschwand. Er glaubte, im hellen Licht des fast vollen Mondes das Gesicht eines Jugendlichen erkannt zu haben. Und der gehetzte Ausdruck auf dessen Gesicht ließ nichts Gutes erahnen. Einen kurzen Moment schaute Walker ihm hinterher. Er war un schlüssig, ob er ihm folgen sollte … Da hörte er einen gedämpften Laut aus dem inneren und trat ins Haus. Er befand sich in einem kurzen Flur. Die Tür, die an dessen Ende in den Laden führte, stand weit offen. Im schwachen Zwielicht einer zu Boden gefallenen Taschenlampe erkannte Walker zwei Kerle, die in einen Kampf verwickelt waren. Da war ein blonder junger Mann mit einem Springmesser, das er immer wieder nach vorn stieß, um eine in Lumpen gekleidete, selt sam torkelnde Gestalt zurückzudrängen. Diese blieb davon völlig unbeeindruckt. Sie wich nicht einmal aus, sondern ließ es geschehen, dass die Klinge immer wieder in ihren Arm oder die Brust drang. Walker stürmte vor, den Lauf der Magnum nach vorne gerichtet. Erst beim Näherkommen erkannte er, dass er sich geirrt hatte. Die Gestalt war nicht in Lumpen gekleidet. Ihr Körper war von Kopf bis Fuß bandagiert, wobei sich einzelne Stofffetzen gelöst hatten und lose an ihm herunterhingen. Eine altägyptische Mumie?, erkannte Walker verblüfft. Dies war nicht das erste Mal, dass er einem solchen Phänomen be gegnete. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, es in mitteleuro päischen Gefilden anzutreffen. Die Frage war, wie er damit umzugehen sollte. Wenn es sich dabei um einen einfachen Erweckungszauber handelte, war es relativ einfach. Ein richtiger Mumienfluch konnte dagegen nur durch ein Ritual gebrochen werden, das nicht nur kom
pliziert und kräftezehrend war, sondern darüber hinaus ein Men schenopfer erforderte. Wie auch immer, die Zeit drängte – die Mumie streckte gerade die Hände nach dem Hals ihres Opfers aus. Der Junge hatte jegliche Gegenwehr aufgegeben. Gelähmt vor Angst starrte er, den Rücken an die Ladentheke gepresst, zu seinem Peiniger auf, der ihn einen guten Kopf überragte. Walker sah sich um. Mit seinem geweihten Kreuz würde er bei diesem orientalischen Zauber nicht weit kommen. Ebenso wenig wie mit den Silberkugeln. Die würden nur Löcher in das Monster stanzen. Natürlich standen ihm Waffen gegen Dämonen jeder nur erdenkli cher Mythologie zur Verfügung, doch die befanden sich zu Hause in Rom. Es waren einfach zu viele, als dass er sie auf Schritt und Tritt mit sich herumtragen konnte. Sein Blick glitt über gläserne Schaukästen und die verschiedenen Reliquien, die darin feilgeboten wurden. Und da stach ihm etwas in Auge, das ihm möglicherweise helfen konnte – ein Skarabäus! Jenes Amulett, das in der ägyptischen Mythologie für die Macht der Sonne, aber auch für Erneuerung und Wiedergeburt stand. Dunkel erinnerte sich Walker an einen magischen Bannspruch, der in Verbindung mit einem Skarabäus einem ägyptischen Erwe ckungszauber entgegenwirken konnte. Ohne noch länger zu zögern überwand er die Distanz zu dem Schaukasten und hämmerte den Lauf der Magnum gegen das Glas. Ein Scherbenregen ergoss sich klirrend in den mit dunklem Samt ausgeschlagenen Kasten. Walker packte die Kette mit dem Skarabäus und wirbelte herum. Die Aussicht auf sein drohendes Schicksal hatte den Blonden end lich aus seiner Apathie gerissen. Er stieß das Messer erneut nach
vorn und rammte die Klinge tief in die sich ihm nähernde rechte Hand des Monsters. Der Stahl durchdrang die Bandagen mit einem ratschenden Geräusch und trat auf der anderen Seite wieder aus. Nur einen Herzschlag später schnellte die Linke der Mumie nach vorn, krallte sich schraubstockartig um seinen Hals und hob ihn einen halben Meter über den Boden. Walker näherte sich dem Monster vorsichtig von hinten, drehte den Skarabäus in seiner Hand, und forschte in seinem Gedächtnis fieberhaft nach den Worten des Bannspruchs, der übersetzt so viel bedeutete wie: Weiche Dunkelheit – Gehorche der Macht der Sonne Doch wie lautete der genaue arabische Wortlaut? Walker beherrschte fünf Fremdsprachen, darunter auch arabisch. Allerdings würde es nicht genügen, der Mumie eine ungefähre Übersetzung des Spruches entgegenzuschleudern. Ein falsches Wort – oder auch nur eine falsch betonte Silbe – konnte alles noch verschlimmern. Das Gesicht des Blonden lief bereits blau an. Kleine Speichelbläs chen zerplatzten vor seinen Lippen. Sei’s drum, dachte Walker. Er hielt die Kette des Skarabäus in der ausgestreckten Hand und sagte er langsam die Worte auf, so wie er sie aus den Tiefen seiner Erinnerung bergen konnte. Tatsächlich hielt das Monster abrupt inne, die bandagierte Pranke öffnete sich. Das Opfer fiel schlaff wie eine Puppe zu Boden und blieb dann röchelnd liegen. Da wirbelte die Mumie um die eigene Achse, den Arm noch immer ausgestreckt. Walker machte einen Satz zurück, um nicht getroffen zu werden, und hielt dem Monster den Skarabäus vor die bandagierte Fratze. Die Mumie wirkte irritiert. Der Blick aus ihren toten vertrockneten Augen ruhte starr auf dem goldenen Käfer, der wie ein Pendel vor
ihrem Gesicht schwang. Sie öffnete den Mund zu einem heiseren Knurren, holte erneut aus und schmetterte Walker das Amulett mit einem festen Hieb aus der Hand. »Mist!«, stieß der Dämonenjäger hervor. Irgendetwas schien mit dem Spruch nicht gestimmt zu haben. Ruckartig setzte sich die Mumie in Bewegung, kam torkelnd auf Walker zu. Dieser wich zurück, drehte sich zur Seite, den Blick abwechselnd auf das Monster und auf die zahlreichen Vitrinen gerichtet. Nun gut … Wenn es nicht auf die elegante Art ging, dann eben anders. Obwohl sich die Mumie langsam und abgehackt bewegte, blieb ihm aufgrund der geringen Distanz nicht viel Zeit. Er ging in die Knie, donnerte den Ellbogen in das Glas eines wei teren Schaukastens und griff nach dem Gegenstand, der dort auf ein weinrotes Kissen gebettet lag. Das Krummschwert eines Samurais. Das war zwar nicht unbedingt stilecht im Kampf gegen einen ägyptischen Wiedergänger, aber seinen Zweck würde es dennoch erfüllen. Walkers Plan B hatte schließlich nichts Magie zu tun, son dern einzig und allein mit roher Gewalt. Erneut stieß die Hand der Mumie in seine Richtung und hätte den Schädel eingedrückt, wäre er nicht im letzten Moment geschickt ausgewichen. Zum einem zweiten Schlag ließ er das Monstrum nicht mehr kom men, sondern Schwang das Schwert mit horizontaler Klinge von links nach rechts. Der scharfe Stahl fuhr durch den Hals der Bestie und trennte ihr den Kopf von den Schultern. Doch damit war die Gefahr längst nicht gebannt. Die Mumie war kein Lebenwesen, sondern ein untotes Geschöpf. Ein besserer Zom
bie, der nur von der Macht des Bösen beseelt wurde. Kopflos torkelte sie weiter und holte zu einem weiteren Schlag aus. Diesmal traf sie. Ein höllischer Schmerz zuckte durch Walkers Schulter, sein linker Arm war für einen Moment wie gelähmt. Nur mit der Rechten riss er das Schwert hoch und hackte es in den Bizeps des Gegners. Der Arm der Mumie fiel ab wie ein morscher Ast – und noch immer wollte das Biest keine Ruhe geben. Trotz sichtlicher Ko ordinierungsschwierigkeiten setzte es zu einem Hieb mit der Linken an. Walker sprang vor zu einem Ausfall, die Klinge zischte durch die Luft – und auch der linke Arm fiel zu Boden. Übrig blieb ein kopfloser Torso, der sich leicht nach vorn beugte und auf Walker zustürmte, um ihn mit seinem breiten Brustkorb zu rammen. Blitzschnell wich der Dämonenjäger aus, sodass die Mumie an ihm vorbeistolperte und mit voller Wucht in die Vitrine hinter ihm krachte. Walker kreiselte herum, das Schwert jagte nach unten und hackte der Mumie noch ein Bein ab. Unfähig, sich aus eigener Kraft in die Höhe zu stemmen, blieb sie liegen, mit dem verbliebenen Bein wild um sich tretend. Walker atmete tief durch und trat einen Schritt zurück. Nachdem er sich sicher war, dass von dem Monster keine Gefahr mehr aus ging, legte er das Schwert auf einem Sofa aus dem 17. Jahrhundert ab und ging auf den Blonden zu. Dieser lag noch immer keuchend am Boden, die Hand auf seinen Hals gepresst. »Wer bist du?« Walker, der einige Brocken tschechisch verstand, auch wenn er die Sprache nur unzureichend beherrschte, antwortete.
Gestatten, Dan Walker, dachte er bei sich. Ehemaliger CIA-Agent. Seit einigen Jahren erster offizieller Dämonenjäger im Dienste des Vatikans. »Was hattet ihr hier zu suchen, du und dein Kumpel?«, fragte er stattdessen. Der Junge, der vermutlich noch keine achtzehn war, hob den Kopf und starrte Walker aus aufgerissenen Augen an. Er hatte eindeutig Angst – doch er schwieg. »Schon gut«, sagte der Dämonenjäger. »Verrätst du mir wenigs tens wie das da«, er deutete auf die zappelnden Überreste der Mumie hinter sich, »passieren konnte?« Walker hatte englisch gesprochen und war sich nicht sicher, ob ihn der Junge überhaupt verstand. »Wir haben nichts gemacht, ehrlich!« Der Teenager hatte zwar einen starken Akzent, sprach aber flüssig. »Da war so ein Zettel mit einem Satz in einer fremden Sprache. Bronco hat ihn laut vorgelesen … Und dann …« Walker folgte dem Blick des Jungen, der schräg an ihm vorbei ging, zu einem weit geöffneten Sarkophag, der aufrecht in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes stand. »Na gut«, sagte er und nickte. »Sprechen wir lieber darüber, was ihr mit dem Besitzer, diesem Jaruslav angestellt habt.« »Nichts«, versicherte der Junge schnell. »Der Alte hat sich hier schon seit Tagen nicht mehr blicken lassen. Auf einmal war sein Ge schäft geschlossen und …« »Und ihr dachtet, ihr müsstest mal nach dem Rechten sehen. Ver stehe schon.« Der Junge nickte. »Na los«, knurrte Walker. »Steh auf und sieh zu, dass du verschwindest!« Das ließ sich der Einbrecher nicht zweimal sagen. Umständlich stemmte er sich auf die Beine, quetschte sich an Walker vorbei und
lief humpelnd, aber dennoch eiligen Schrittes zur Hintertür. »Noch was«, rief Walker ihm hinterher, bevor er das Zimmer verlassen hatte. Der Junge stoppte und sah abwartend über seine Schulter. »Wenn du mal wieder in einem Zauberladen einen Zettel mit einem komischen Spruch darauf findest … Lies ihn nicht vor!« Der Blonde verzog das Gesicht, dann eilte er wortlos nach draußen. »Kinder …«, murmelte Walker. Er schüttelte den Kopf, während er den Blick durch den Raum wandern ließ. Nichts deutete daraufhin, dass der Besitzer den Laden für immer geschlossen hatte. Das gesamte Inventar schien vollzählig zu sein. Vielleicht war er für ein paar Tage verreist? Dennoch … Im Zusammenhang mit den Ereignissen der letzten Zeit war sein Verschwinden alarmierend. Walkers Gedanken schweiften zurück. Erst gestern war es gewesen, dass Walker in Mailand auf den Vampir Luigi gestoßen war, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Italiens Blutsauger unter seiner Herrschaft zu vereinen. Tatsächlich waren viele seinem Ruf gefolgt. Doch Walker hatte herausgefunden, dass die plötzliche charisma tische Aura dieser zuvor so erbärmlichen Kreatur auf den Einfluss eines magischen Relikts zurückzuführen war. Eine silberne Scheibe, bei der es sich offenbar um einen Teil jenes Silbertellers handelte, auf dem sich König Herodes dem AIten Tes tament nach den Kopf von Johannes dem Täufer bringen ließ. In Fachkreisen sagte man dem Teller magische Kräfte nach. Angeblich – so hatte es ihm Monisignore Travelli, Prälat des Va tikans und Walkers unmittelbarer Vorgesetzter erklärt – erlaubte er seinem Besitzer, die Massen allein Kraft seiner Worte in seinen Bann
zu ziehen, sodass sie ihm bedingungslos folgten. Travelli hatte ihm auch mitgeteilt, dass die Silberscheibe zum letz ten Mal im Jahre 1783 aufgetaucht war. Ein britischer Geschäfts mann hatte sie sich über dunkle Kanäle angeeignet, sie vierteilen lassen und jedem seiner drei Söhne eines der Teile vermacht. Kurz darauf waren alle vier unter mysteriösen Umständen gestorben. Walker war es gelungen, dem Vampir Luigi jenes Viertel abzu jagen, das dieser unrechtmäßig in seinen Besitz gebracht hatte – je doch nur um es kurz darauf selbst wieder zu verlieren. Unsichtbare hatte ihn überwältigt und ihm das Tablettstück gestohlen. Wer sie waren und was sie im Schilde führten, wusste Walker nicht. Er ahnte jedoch, dass der Besitzer des vollständigen Tabletts mühelos in der Lage wäre, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Und das, darin waren sich Walker und Monsignore Travelli einig, musste um jeden Preis verhindert werden. Walkers einzige Spur hatte nach Prag geführt. Zu jenem Händler, dem Luigi nach eigenen Angabe das Tablettstück gestohlen hatte. Den Laden hatte Walker mühelos gefunden, Verschwinden des alten Jaruslav verhieß nichts Gutes.
aber
das
Der Dämonenjäger verließ den Geschäftsraum und stieg die hölzerne Treppe rechts neben dem Hintereingang hinauf. Sie endete an einer angelehnten Tür. Walker drückte sie vorsichtig auf, die Magnum fest im Griff, und spähte durch den Spalt. Seine Hand fand den Lichtschalter, legte ihn um. Im nächsten Moment erhellte eine nackte Glühbirne einen kurzen, mit einem bunten Flickenteppich ausgelegten Flur. Offenbar war dies die Wohnung des alten Jaruslav. Walker ging bis zu einer Tür mit einer Milchglasscheibe am Ende des Flurs und öffnete sie. Ein altmodisch eingerichtetes Wohnzimmer erwartete ihn. Muf
figer Geruch schwebte zwischen den Wänden. Vermutlich war schon seit Tagen nicht mehr gelüftet worden. Walkers Aufmerksamkeit richtete sich auf den runden Holztisch in der Mitte des Zimmers, auf dem mehrere Zeitungsausschnitte wie eine Tischdecke ausgebreitet waren. Fast alle Beiträge waren in tschechischer Sprache verfasst. Das wenige, was Walker verstand, deutete darauf hin, dass es um meh rere grausige Morde ging, die sich in den letzten Tagen in Prag er eignet hatten. Da entdeckte Walker einen Ausschnitt aus einer englischspra chigen Zeitung. Wer stoppt die Bestie?, lautete die Schlagzeile. Der dreispaltige Text darunter berichtete von drei Morden, die sich innerhalb von zwei Nächten ereignet hatten. Die Toten, so die Zeitung, waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt und sahen aus, als seien sie einem Tier zum Opfer gefallen. Walker runzelte die Stirn. Warum hatte sich der alte Jaruslav so sehr für dieses Thema inter essiert? Und warum war er von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden? Warum auch immer. Jaruslav war jedenfalls seine derzeit einzige Spur auf der Suche nach dem Tablett des Johannes. Und das allein war schon Grund genug, ihn so schnell wie möglich zu finden …
* Walker verharrte stumm auf dem Stuhl neben der Tür, als diese ge öffnet wurde und ein Lichtstreifen durch den immer breiter werdenden Spalt in die Dunkelheit stach.
Eine junge Frau mit langem schwarzem Haar trat über die Schwelle, knipste den Deckenstrahler an, schlug die Tür hinter sich zu und stürmte ohne sich umzusehen auf den Schrank auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers zu. Sie riss beide Türen gleichzeitig auf, schaute hinein – und erstarrte. »Suchst du das hier?«, fragte Walker von dem Stuhl aus und hielt einen handflächengroßen Flakon in die Höhe, der mit einer dunklen, rötlich schimmernden Flüssigkeit gefüllt war. Die Frau fuhr herum und starrte ihn entgeistert an. »Walker! Was, zur Hölle, suchst du hier?« »Ich war dachte, ich statte dir einen kleinen Besuch ab, Marelene. Oder sollte ich besser sagen, Gräfin Anastasia?« »Pssscht!«, machte die 250-jährige, die allein nach ihrer Optik zu urteilen keine zwanzig Jahre alt sein konnte. »Die Wände hier sind dünn wie Papier.« Walker ließ den Blick abschätzend an ihrem schlanken Körper entlanggleiten. Sie trug ein rotes Abendkleid aus der Kollektion eines russischen Modezaren. Nicht, dass Walker das von sich aus gewusst hätte. Vielmehr war der Kommentar des Ansagers auf dem Laufsteg so laut gewesen, dass er bis in die Garderobe zu hören ge wesen war. »Komm schon, gib mir das!«, zischte sie und versuchte nach dem Fläschchen zu schnappen. Walker war schneller und zog seine Hand blitzschnell zurück. »Was soll das? Ich muss in einer halben Stunde noch mal raus.« »Deine neue Karriere scheint gut zu laufen«, meinte Walker und wiegte den Kopf. »Dein Gesicht ist auf allen Litfasssäulen der Stadt zu sehen.« »Man muss zusehen, wo man bleibt«, gab die Gräfin zurück und verzog ihren kirschroten Mund zu einer beleidigten Schnute. Walker überraschte es nicht, dass sich die Photographen und
Modeschöpfer die Finger nach ihr leckten. Mit ihrer aristokratischen Blässe, dem dunklen Haar und den vollen roten Lippen stach sie aus der Masse der Modepüppchen deutlich hervor. Er fragte sich jedoch, wie lange sie dieses Spiel würde treiben können, bis jemandem auf fiel, dass sie keinen Tag älter wurde. »Sag endlich was du von mir willst und dann hau ab!«, verlangte sie mit grimmigem Blick. »Ich brauche nur eine kleine Information«, sagte Walker und schlug unbeeindruckt die Beine übereinander. Er griff in die In nentasche seines Mantels und zog einen der Zeitungsausschnitte hervor, die er aus Jaruslavs Wohnung mitgenommen hatte. »Was weißt du darüber?«, fragte er, während er ihr den Artikel in der aus gestreckten Hand entgegenhielt. Die Gräfin schien ihn bereits zu kennen, denn ihr Blick glitt nur kurz darüber. »Wieso sollte ich etwas darüber wissen?« »Weil ein Mensch als Täter höchstwahrscheinlich ausscheidet. Dem Bericht nach sehen die Toten aus, als seien sie in die Klauen einer Bestie geraten. Und mit so etwas kennst du dich doch bestens aus.« Tatsächlich hatte die ungarische Gräfin beste Kontakte zur Szene der hiesigen Schwarzblüter. Wenn in diesen Kreisen irgendetwas Außergewöhnliches vor sich ging, musste sie etwas davon mitbe kommen haben. »Keine Ahnung, was du meinst«, behauptete Anastasia. »Ach nein?« Walker zuckte mit den Schultern, ließ das Fläschchen in der Tasche verschwinden und stand auf. »Mal sehen, wo du auf die Schnelle frisch gezapftes Jungfrauenblut auftreibst.« »Walker! Ich schwöre, ich weiß nichts!« Der Dämonenjäger war beeindruckt. Entweder sagte sie die Wahr heit, oder sie hatte nach ihrer Modelkarriere noch eine große Lauf bahn als Schauspielerin vor sich.
Walker runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber für mich sieht das hier«, er tippte mit dem Zeigefinger auf den Artikel, »ganz nach der Tat eines Werwolfs aus.« Anastasia senkte einen Moment den Blick. Ihre Reaktion war kaum wahrzunehmen, doch sie hatte sich verraten. Gotcha!, dachte Walker und setzte sofort nach. »Ich wusste gar nicht, dass es in Prag noch Lykantropen gibt.« »Es existiert eine Sippe von knapp zwanzig Wölfen«, verriet Ana stasia. »Sie haben der Gewalt gegen Menschen jedoch seit Jahren abgeschworen und halten ihren Fluch unter Kontrolle.« »Sehr kontrolliert erscheint mir das nicht«, meinte Walker im Hin blick auf die Einzelheiten der Morde. »Ich glaube nicht, dass es ein Mitglied der Prager Wolfssippe war. Der Kodex wird seit über einem Jahrzehnt strengstens eingehalten und jede Übertretung sofort vom Ältesten des Rudels geahndet.« Walker nickte stumm und forschte in ihrer Mimik nach einem Anzeichen dafür, dass sie log. Ihr Gesicht hatte bereits damit begonnen, sich zu verändern. Ein Netzwerk winziger Falten durchzog die eben noch so makellose Haut. Gleichzeitig bildeten sich leichte Schatten unter ihren Augen, und ihr Haar schien mit jeder Sekunde an Glanz zu verlieren. Obwohl sie sich selbst nicht sehen konnte, schien auch Anastasia die Veränderung zu spüren, die ihren Körper innerhalb weniger Mi nuten in den der Greisin verwandeln würde, die sie in Wahrheit war. Zwei Jahrhunderte lang hatte sich die Gräfin äußerlich jung gehal ten, indem sie regelmäßig im Blut junger Mädchen gebadet hatte. Diesem Brauch war bereits ihre Großmutter nachgegangen und da mit angeblich über fünfhundert Jahre alt geworden. Aber Anastasia tötete im Gegensatz zu ihrer Ahnin ihre Opfer nicht. Walker vermu tete, dass diese Entscheidung weniger mit Nächstenliebe zu tun hatte, als vielmehr mit der Tatsache, dass es im Zuge der Neuzeit
zunehmend schwieriger geworden war, unbemerkt Dutzende junge Frauen über die Klinge springen zu lassen. Heute beschäftigte die Gräfin mehrere Zulieferer, die junge Mäd chen dafür bezahlten, dass sie ihnen einen Teil ihres Blutes abtraten und ihr Leben dabei behielten. So war es zwar wesentlich mühsamer, aber zumindest sorgte es für weniger Aufsehen. »Ich würde der Sippe gerne auf den Reißzahn fühlen«, sagte Wal ker schließlich. »Verrätst du mir, wo ich ihren Anführer finde?« »Ich kenne ihn nicht«, krächzte Anastasia, während sie mit den Fingerkuppen ihrer rechten Hand hektisch über die Falten in ihrem Gesicht fuhr, die mit jeder Sekunde tiefer wurden. »Niemand, der nicht wie sie ist, kennt ihn.« Ihre Stimme knackte wie ein Holzscheit im Feuer. Das Sprechen bereitete ihr zunehmend Probleme. Es musste die Hölle sein, einen Alterungsprozess von über zwei hundert Jahren innerhalb weniger Sekunden ertragen zu müssen. »Was ist mit einem der anderen Wölfe? Du wirst doch wohl einen von ihnen kennen.« Deutlich konnte Walker erkennen, wie sich ihr Rücken immer mehr krümmte, sodass es zunehmend schwerer fiel, das Gleichge wicht zu halten. Sie hustete dreimal kurz in ihre hohle Hand, dann nickte sie und wollte zu einer Antwort ansetzen, als es unvermittelt an der Tür klopfte und eine besorgt klingende männliche Stimme fragte: »Marlene? Wo bleibst du? Du bist in acht Minuten dran.« »Ich komme gleich«, krächzte sie mit der Stimme einer Achtzigjäh rigen. »Ist dir nicht gut, Cherie? Du klingst grauenhaft.« »Nein!«, protestierte sie. »Ich habe nur einen Frosch im Hals. Bitte geh! Ich bin sofort bei dir.« Erst als sie leise Schritte hörte, die sich von der Tür entfernten, beugte sie sich zu Walker hinab.
»Sein Name ist Pavlo Cervenca«, krächzte sie. »Er ist kein gebür tiger Werwolf, sondern ein Geschäftsmann, der vor einigen Jahren auf einer Reise von einem Wolf gebissen wurde, der den Keim in sich trug. Er hat gute Kontakte zur Prager Sippe. Bestimmt kann er dir weiterhelfen.« Walker zögerte noch kurz, doch schließlich nickte er und hielt ihr den Flakon entgegen. Ihre mit braunen Alterflecken übersäte Hand schnellte nach vorn, aber bevor sie das Fläschchen zu fassen bekam, zog Walker es noch einmal zurück. »Wenn du mich belogen hast, komm ich wieder«, drohte er. Erst jetzt überließ er es ihr. Die Gräfin konnte gar nicht schnell genug auf den Zerstäuber drücken. Eine Wolke aus dunklem Blut sprühte ihr entgegen und überzog ihr Gesicht mit einem roten Belag. Innerhalb von Sekunden wurde es jedoch von der Haut absorbiert, die sich ebenso schnell wieder glättete. Walker verzog das Gesicht, stand auf und verließ den Raum. Kurz nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, eilte ihm ein kleiner untersetzter Mann mit Halbglatze entgegen. Es schien der Kerl von vorhin zu sein. Vor der Tür zu Anastasias Garderobe blieb er stehen, wollte erneut klopfen, als Walker ihm im Vorbeigehen auf die Schulter klopfte und sagte: »Geben Sie ihr noch einen Moment. Sie macht sich gerade frisch.« Damit drückte er sich an ihm vorbei, schlug den Kragen seines Mantels hoch und trottete den Gang hinunter …
* Dan Walker nahm den Fuß vom Gas seines Mietwagens, als die
Lichtlanzen der Scheinwerfer aus der Auffahrt auf der rechten Stra ßenseite stachen. Wenn ihn nicht alles täuschte, führte sie zum Anwesen eben jenes Mannes, wegen dem er in den Süden der Stadt gefahren war. Es war nicht schwer gewesen, Cervencos Adresse ausfindig zu machen. Ein Anruf bei einem seiner Informanten, den er noch aus alten CIA-Tagen kannte, hatte ergeben, dass Cervenco ein hohes Tier der Prager Wirtschaftswelt war, und mit seiner Frau und drei Kindern in einer Villa am Stadtrand lebte. Walker hatte keine Zeit verloren und war sofort aufgebrochen. Ob wohl es bereits einige Minuten nach Mitternacht war, hätte er keine Skrupel gehabt, den Geschäftsmann aus dem Bett zu klingeln. Doch wie es schien, dachte Cervenco nicht einmal ans Schlafen. Walker warf einen unauffälligen Seitenblick durch das Fahrerfens ter der Luxuskarosse, als diese ihn im Schritttempo auf der Gegen fahrbahn passierte. Am Steuer saß ein Mann Ende dreißig, auf den die Beschreibung von Cervenco, die Walker sich von seinem Informanten hatte geben lassen, durchaus zutraf. Wo will der Kerl denn um diese Zeit noch hin?, fragte sich der Dä monenjäger. Er ließ den Wagen noch einige Meter weiterrollen, während er die Rücklichter der Limousine im Rückspiegel beobachtete, um dann auf einer freien Garageneinfahrt unauffällig zu wenden. Cervenco war mittlerweile nach links abgebogen und nicht mehr zu sehen. Deutlich schneller als erlaubt jagte Walker den Wagen zu rück bis zur Kreuzung und blickte nach links. Die Rücklichter der Limousine glommen in einiger Entfernung. Schnell folgte Walker ihr, wobei er darauf achtete, den Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen nicht zu klein werden zu lassen. Da in dieser Gegend und um diese Uhrzeit kaum Verkehr herrsch
te, war es leicht, die Limousine auch auf große Distanz nicht aus den Augen zu verlieren. Nach einer knapp vierzigminütigen Fahrt in den Norden der Me tropole, bei der sie den Stadtkern weiträumig umfuhren, wurde die Limousine zunehmend langsamer und blieb manchmal ganz stehen. Doch jedes Mal fuhr Cervenco dann doch weiter. Es sah aus, als wisse ihr Fahrer selbst nicht so genau, wo sich sein Ziel befand. So verging eine weitere Viertelstunde, in der es Walker wohl nur deshalb gelang, unentdeckt zu bleiben, weil Cervenco zu sehr damit beschäftigt war, sich in dieser für ihn offenbar fremden Umgebung zurechtzufinden. Daher hatte der Wirtschaftsmagnat keine Zeit, in den Rückspiegel zu blicken. Andernfalls wäre ihm der Walkers Wagen sicherlich aufgefallen. Endlich waren sie am Ziel. Die Limousine fuhr auf die Einfahrt eines Geländes, das Walker beim Näherkommen als einen Schrott platz identifizierte. Den Blick nach vorne gerichtet fuhr er selbst an der Zufahrt vorbei und bis zum Ende des mit einem Maschendrahtzaun umfriedeten Geländes. Erst dort lenkte er den Wagen an den Fahrbahnrand, stellte den Motor ab und huschte einige Meter zurück. Er schaute sich noch einmal in alle Richtungen um. Die Luft schien rein zu sein. So leise wie möglich kletterte er über den knapp zwei Meter hohen Zaun, sprang auf der anderen Seite in die Tiefe und verharrte einige Sekunden lang kniend hinter den Reifen, die sich hier in die Höhe türmten. Nichts wies daraufhin, dass er bemerkt worden war. Alles blieb ruhig – bis auf das leise Schnurren des Motors von Cervencos Limu sine, das der kühle Nachtwind an sein Ohr wehte, und das nur einen Augenblick später erstarb. In gebückter Haltung umrundete Walker die Reifen, schlich vorbei an einer langen Reihe aufeinander gestapelter Schrottwagen, bis er
Cervencos Limousine entdeckte. Sie stand auf einem freien Platz in der Mitte des Grundstücks. Der Motor war abgestellt, doch die kegelförmigen Strahlen der Scheinwerfer bohrten sich noch immer in die Dunkelheit und projizierten zwei diffuse, ineinander überge hende Lichtkreise auf die Seitenwand der Wellblechhütte, die einige Meter entfernt stand. Tief in den Schatten eines räderlosen Fahrzeugwracks gepresst, be obachtete Walker, wie der Geschäftsmann neben seinem Wagen un ruhig auf und ab ging, dabei abwechselnd auf die Uhr und in den wolkenverhangenen Nachthimmel blickte. Die silberne Scheibe des Mondes, die durch einen Riss in der Wolkendecke schimmerte, war noch nicht ganz voll. Zwei Nächte noch, dachte Walker, dann würde sich seine ma gische Kraft vollends entfalten. Ihm war jedoch klar, dass es entgegen des allgemeinen Volksglau bens nicht zwingend eines vollen Mondes bedurfte, um die Verwandlung eines Lykanthropen einzuleiten. Dieser verstärkte zwar das Aufbegehren des Tieres, das durch den Keim in die menschliche Seele gepflanzt worden war. Doch die meisten Men schen, die von dem Fluch befallen waren, vermochten nach einer Eingewöhnungszeit ihre tierische Seite selbst in klaren Vollmond nächten in Zaum zu halten. Cervenco, wenn er überhaupt wirklich ein Träger des Fluchs war, schien seine innere Bestie problemlos im Zaum zu halten. Zwar wirkte er leicht nervös, doch es wies nichts darauf hin, dass er dabei war, einen schweren inneren Kampf mit sich selbst auszufechten. Einige Minuten vergingen, bis sich plötzlich zwei Gestalten aus den Schatten der Wellblechhütte lösten. Sie achteten darauf, sich vom Licht der Scheinwerfer fern zu halten. Walker sah deshalb nur ihre scharf konturierten Silhouetten. Der eine war ein langer, schlaksiger Kerl, der sich mühelos hinter einer Zaunlatte hätte verstecken können. Der andere schien recht
muskulös, dafür jedoch gut zwei Köpfe kleiner als sein Begleiter zu sein. Cervenco, der ihnen bis zu diesem Moment den Rücken gekehrt hatte, fuhr herum, als er das Geräusch ihrer auf dem Kies knir schenden Schritte vernahm, und sagte etwas. Walker verstand wegen der Entfernung kein Wort. Er musste nä her heran, wollte er mitbekommen, was die drei Männer zur Geis terstunde auf einem Schrottplatz zu besprechen hatten. Er wartete, bis er sich sicher war, dass keiner der drei auch nur un gefähr in seine Richtung schaute. Jetzt huschte er gebückt bis zu einem weiteren Reifenstapel, der wie ein Findling nur knapp zehn Meter von den Männern entfernt auf dem freien Gelände stand. Schnell tauchte er dahinter ab und spähte über den Rand. Die beiden Neuankömmlinge hatten Cervenco inzwischen in ihre Mitte genommen. Der Lange hatte die Arme ausgebreitet und drehte sich langsam um die eigene Achse, den Blick zum nächtlichen Himmel gerichtet. Er sah aus, als würde seinen schlanken Körper im Licht des Mondes baden. »Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit«, sagte Cervenco plötzlich. »Was ist nun mit euerem Anführer?« Der kleine Muskulöse trat dicht neben ihn und blickte angestrengt zu ihm auf. »Wir bringen dich zu ihm. Sobald du uns davon über zeugt hast, dass du seiner würdig bist.« Cervenco nickte wie in Zeitlupe, wirkte dabei jedoch zunehmend nervöser. »Was soll ich tun?« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Befreie dich von den Ketten, die du dir selbst auferlegt hast. Widersetze dich nicht länger deiner wahren Natur. Vereine dich mit der Kraft deines Beschützers und lass es geschehen!« »Jetzt? Hier?« Cervenco wirkte unsicher. Immer wieder sah er sich
mit fiebrigem Blick um, als würde er noch irgendjemanden erwarten. Da bemerkte Walker die Zuckungen, die den Körper des Langen erfassten. Urplötzlich fiel dieser nach vorn, stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab, während ein heiseres Grollen seine Keh le verließ. Walker beugte sich weiter vor. Die Gestalt kauerte jetzt im Schatten des Wagens und war deshalb nur schwer zu erkennen. Alles, was er erahnte, waren einige unkontrollierte Bewegungen, bis sich der Kerl urplötzlich aufbäumte, die Arme in die Höhe reckte und ein lautes Heulen ausstieß. Jetzt sah Walker ganz deutlich die Silhouette, die sich im Schein werferlicht abzeichnete. Sie hatte so gut wie nichts Menschliches mehr an sich. Da waren Krallen, die wie kleine Messer aus knorrigen, über langen Fingern stachen. Haare, die in Sekundenschnelle aus den hochgereckten Armen sprossen. Eine lange Schnauze, die sich mit jedem Moment stärker herausbildete, als würde eine unsichtbare Kraft sie in die Länge ziehen. »Lass es geschehen«, zischte der Kleinere noch einmal zu Cerven co. Er war sichtlich erregt und sah aus, als würde ihm der Anblick seines sich verwandelnden Kumpels einiges an Selbstbeherrschung abverlangen. »Kannst du dich überhaupt noch daran erinnern, wie es ist, auf die Jagd zu gehen?«, säuselte er weiter. »Die Zähne in das Fleisch deines Opfers zu schlagen und zu spüren, wie sich sein vor Todesangst kochendes Blut in deinen Rachen ergießt?« Seine Worte schienen allmählich Wirkung zu zeigen. Walker bemerkte, dass Cervencos Körper zu zittern begann. Wie sich seine bisher geballten Fäuste öffneten und er zum Erdtrabanten aufblickte. Im nächsten Augenblick geschah es. Genau wie der Lange, dessen Verwandlung so gut wie abge
schlossen war, wurde auch Cervenco von krampfartigen Zuckungen erfasst und sackte vornüber. Im Licht des Mondes sah Walker, wie sich der Mund des Verfüh rers zu einem zufriedenen Lächeln kräuselte, bevor auch er seinem inneren Verlangen freien Lauf ließ. Walker griff nach der mit Silberkugeln geladenen Magnum in sei nem Holster. Ein gezielter Schuss würde im Notfall jede dieser Bes tien von ihrem Schicksal erlösen. Dennoch schreckte Walker davor zurück, diesen Schritt zu gehen. Auch wenn sie die Macht besaßen, sich in gefährliche Monstren zu verwandeln, so waren Lykantropen doch keine Dämonen, sondern Menschen, die entweder durch Vererbung oder durch einen dum men Zufall zu solchen gemacht worden waren. Streng betrachtet war der Fluch also eher eine Krankheit, für die der Werwolf nichts konnte. Entsprechend verantwortungsvoll gingen die meisten Angehörigen dieser Spezies mit ihrer absonderli chen Fähigkeit um. Vielen gelang es, die Bestie zu unterdrücken. Manchen sogar, sie ganz aus sich zu vertreiben. Selten war Walker Exemplaren begegnet, die ihre Verwandlung ganz bewusst und zur Befriedigung ihrer niedersten Instinkte auslösten. Mit dem Langen und dem Kräftigen hatte er offensichtlich wieder einmal zwei Angehörige dieser Kategorie gefunden. Und wie es aus sah war es ihnen gelungen, Cervenco mit ihren Verlockungen zu ködern. Aber was hatte das zu bedeuten? Wieso hatte sich Cervenco mit ihnen auf diesem Schrottplatz verabredet? Warum versuchten sie, ihn auf ihre Seite zu ziehen? Und wer verbarg sich hinter diesem mysteriösen Anführer? Nun, diese Fragen würde Walker wohl fürs Erste zurückstellen müssen. Die Verwandlung aller drei Männer in blutgierige Bestien war mittlerweile abgeschlossen. Ein hungriges Knurren aus drei Kehlen erinnerte Walker daran,
dass es Zeit wurde, etwas zu unternehmen. Auch wenn sie in ihrem Innern noch immer Menschen waren, so durfte er dennoch auf keinen Fall zulassen, dass sie sich ein weiteres Opfer holten. Walker wollte gerade aufspringen, als ein Geräusch ertönte, das seine Planung zunichte machte – das hohe Lachen einer Teenagerin … Mein Gott!, zuckte es wie ein Blitz durch seinen Kopf. Es sind Men schen hier auf dem Schrottplatz! Der Dämonenjäger fuhr hoch, riss die Pistole in Anschlag – zu spät. Gerade verschwand der letzte der Werwölfe hinter einigen Schrottautos. »Verdammt!« Fluchend rannte Walker los. Doch er wusste, dass er den Vor sprung des mörderischen Trios niemals würde wettmachen können. In ihrer jetzigen Gestalt besaßen die Biester Kräfte, die denen eines normalen Menschen weit überlegen waren. Schon gellte der erste schrille Schrei durch die Nacht. Walker rannte noch schneller, während Kies unter seinen Schritten zur Seite spritzte. Vorbei an unzähligen Autowracks, die sich wie moderne Plastiken links und von ihm auftürmt. Da waren sie! Einer der Werwölfe hatte das Dach eines alten Volvos erklommen, während sich die beiden anderen dem Wagen von vorn und von hinten näherten. Und in dem Fahrzeug saßen ein Junge und ein Mädchen, beide nicht älter als sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Vermutlich hatten sie sich auf den Schrottplatz geschlichen, um hier ein paar roman tische Momente zu verbringen. Doch mit der Romantik war jetzt Schluss. Beide klammerten sich in wilder Panik aneinander, während ihre
entsetzten Blicke auf die Bestie vor ihnen gerichtet waren. Das Mädchen kreischte erneut auf, als der Wolf auf dem Dach des Fahrzeugs auf und ab hüpfte. Es klang hohl, als sich das Blech ver formte. Walker wusste, was die Bestie damit bezweckte. Sie wollte das Pärchen dazu bringen, den Wagen zu verlassen, um in einem sinn losen Versuch die Flucht anzutreten. Erst die Jagd verschaffte diesen Monstern jene Befriedigung, nach der sie so sehr lechzten. Opfer, die tatenlos auf ihr Schicksal warte ten, waren dagegen das reinste Dosenfutter. Walker hob die Magnum, nahm den Wolf auf dem Wagendach ins Visier und wollte gerade abdrücken, da … Er sah den Schatten, noch bevor die Werwölfe ihn bemerkten. Wie ein Geist schälte er sich von einem Moment zum anderen aus der Dunkelheit jenseits des Wagens und verharrte in einigem Abstand. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Walker den Lauf eines Ge wehrs, der aus dem langen weiten Mantel des Unbekannten ragte. Ein Schuss krachte durch die Nacht, und der Wolf auf dem Dach brach jaulend zusammen. Walker duckte sich zurück. So lange er nicht sicher wusste, wer dieser mysteriöse Fremde war, erschien es ihm nicht ratsam, sich ihm zu erkennen zu geben. Die beiden anderen Werwölfe hatten mittlerweile von ihrem Treiben abgelassen und sahen überrascht in die Richtung des Schützen. Der hatte die Waffe bereits durchgeladen, legte an und schoss er neut. Diesmal war der Wolf, auf den er gezielt hatte, vorgewarnt. Blitz schnell stieß er sich ab und versuchte, seinen sehnigen Körper aus der Schussbahn zu wuchten. Doch es war zu spät. Noch im Sprung peitschte das tödliche Ge
schoss in sein Fell. Unter einem ohrenbetäubenden Heulen stürzte der Wolf sich mehrmals überschlagend zu Boden und blieb schließ lich winselnd liegen. Sein verbliebener Artgenosse reagierte fast im selben Moment. Er katapultierte sich in die Luft und jagte wie eine aus Fell, Zähnen und Klauen bestehende Kanonenkugel auf den Schützen zu. Dieser wollte den Lauf des Gewehrs noch in die Höhe reißen, als ihn die Bestie auch schon mit sich zu Boden riss. Walker zögerte nicht länger, hob erneut die Magnum, die er hatte sinken lassen. Sein Finger krümmte sich um den Abzug. Doch wieder wollte es das Schicksal anders. Der Fremde bäumte sich auf. Walker konnte ihn nicht richtig erkennen, da der Werwolf noch immer auf ihm lag. Er sah nur seine Beine, die unkontrolliert um sich schlugen, während die Nähte seiner Hose aufplatzten. Wie sich lange scharfe Krallen durch die Spitzen seiner Schuhe bohrten … Walker spürte, wie seine Kehle trocken wurde. Der Kerl war ebenfalls ein Lykantrop – wenn auch offensichtlich nicht gut auf seine Artgenossen zu sprechen. Der Dämonenjäger wagte sich einige Schritte vor und versuchte, sich den Insassen des Volvos bemerkbar zu machen. Beide standen sichtlich unter Schock. Ihre Blicke trafen ihn zwar, doch Walker hatte nicht den Eindruck, dass sie ihn wirklich regis trierten. Er huschte weiter bis zur Fahrerseite des Wagens. Der Werwolf auf dem Dach hatte bereits damit begonnen, sich zurückzu verwandeln. Ein sicheres Zeichen dafür, dass ihn die Kugel getötet hatte. Walker sah, wie sich die menschlichen Züge immer weiter aus der Fratze des Monsters hervorschälten. Es waren die des Kleineren. Er wandte sich von dem schaurigen Anblick ab und riss die Hin
tertür des Volvos auf. Endlich löste sich der junge Mann aus seiner Starre, packte das Mädchen am Arm und zog sie mit sich aus dem Wagen. Walker dirigierte sie in die Richtung, aus der er gekommen war, und wenig später waren sie über alle Berge. Er selbst warf vorsichtige Blicke auf das brüllende und fauchende Knäuel, das einige Meter weiter über den Boden rollte. Die beiden Werwölfe waren so in ihren Kampf vertieft, dass sie nichts von dem mitbekamen, was um sie herum geschah. Er beschloss, im sicheren Abstand abzuwarten. Sollten sich die Biester doch gegenseitig zerfleischen. Um den Sieger des Kampfes konnte er sich später immer noch kümmern. Im Augenblick war schwer zu sagen, wer von beiden die Oberhand behielt. Die Bestien hatten sich so ineinander verkrallt, dass es so gut wie unmöglich war, sie in der Dunkelheit auseinander zu halten. Erst nach einem minutenlangen Kampf wich einer der beiden rö chelnd zurück. Blut strömte aus einer feucht glänzenden Wunde an der Kehle. Der andere schien einen entscheidenden Treffer gelandet zu haben. Jetzt setzte er nach, holte aus und versetzte seinem Gegner einen deftigen Schlag in die Schnauze. Die getroffene Kreatur brüllte auf, taumelte zu Boden und blieb dort keuchend liegen. Auch der Sieger des Kampfes war nicht unversehrt geblieben. Dunkles Blut pulsierte aus unzähligen Wunden, sein Brustkorb hob und senkte sich unter schweren Atemzügen. Die Reste der Kleidung, die an seinem behaarten Körper hingen, verrieten, dass es sich bei ihm um den mysteriösen Fremden handelte, der bereits zwei seiner Artgenossen niedergestreckt hatte. Er sank direkt vor seinem auf dem Boden liegenden Widersacher
auf die Knie, während sich seine Schnauze langsam zurückbildete, seine Finger kürzer wurde und seine Krallen verschwanden. Erst als die Verwandlung abgeschlossen war, erkannte Walker, dass es ihn schlimmer erwischt hatte als zunächst vermutet. Die Brust des Fremden war eine einzige klaffende Wunde und auch im Hals- und Nackenbereich hatte er einiges abbekommen. Leise stöhnend sank er zurück, während sich sein glasiger Blick in den Himmel richtete – auf den Mond, der jetzt von dunklen Wolkenfetzen zum Großteil verdeckt wurde. Walker ging zu ihm, ließ dabei den Lauf seiner Waffe zu Boden zeigen. Die Gefahr schien erst einmal gebannt. Auch der andere Werwolf hatte sich während der letzten Minuten zurückverwandelt. Wie sein Gegenspieler lag er auf dem Rücken, hatte die Augen jedoch ge schlossen. Walker trat an ihm vorbei und ging vor dem Fremden in die Knie. Dieser sah ihn aus geweiteten Augen an. Seine Lippen bebten. Er sah aus, als würde es ihm große Mühe breiten, die Worte, die sich in seiner Kehle formten, über seine Lippen zu bringen. Er war schon etwas älter. Sein dunkles Haar war an den Schläfen leicht ergraut, und das Weiße in seine Augen wurde von einem Netzwerk winziger Äderchen durchzogen. »Schonen Sie sich«, sagte Walker leise. »Ich hole einen Arzt.« Er musste sich allerdings eingestehen, dass diese Hilfe wohl zu spät kommen würde. »Nein …!«, protestierte der Verletzte auf Englisch, während blut rote Speichelbläßchen auf seinen Lippen zerplatzten. »Du musst … diese Bestien … zur Strecke … br …« Ein Hustenanfall schnitt sei nen plötzlichen Wortschwall ab. »Sprichst du von deinen Artgenossen?«, fragte Walker, nachdem sich sein Gegenüber beruhigt hatte.
Der Mann schüttelte schwach den Kopf. »Sie sind nicht wie ich und die anderen«, zischte er. »Sie haben sich dem Bösen verschrieben …« Walker hörte sich konzentriert an, was ihm der Mann mitzuteilen hatte, auch wenn die nachfolgenden Worte nicht ganz leicht zu ver stehen waren. Sie waren abgehackt, teilweise unzusammenhängend. Und doch glaubte Walker zu verstehen, was ihm der andere mitzu teilen versuchte. Offenbar hatte ein Mitglied der Prager Wolfssippe den Pakt gebro chen, sich auf sein wölfisches Erbe zurückbesonnen und in den letz ten Tagen und Wochen andere Angehörige des Rudels auf seine Sei te gebracht. Fast niemand wusste, wer der Aufrührer war. Lediglich jener, den der Mann den »Ältesten« nannte, und bei dem es sich offenbar um den Anführer des Rudels handelte, hatte seine Identität angeblich in Erfahrung gebracht. Als dieser ihn daraufhin zur Rede stellen wollte – war er kurz darauf spurlos verschwunden. Schließlich stoppte der Redeschwall des Fremden. Das viele Spre chen hatte ihn seiner letzten Kräfte beraubt. Sein Kopf sank zur Sei te, die Augen schlossen sich, während das Leben endgültig aus sei nem Körper strömte. Walker blickte auf und seine Gedanken kreisten unwillkürlich um den alten Jaruslav, dann wieder um den verschwundenen »Ältesten«. Bevor er seine Überlegung fortsetzen konnte, lenkte ein Krächzen seine Aufmerksamkeit auf den anderen Verletzten. Ihn schien es noch schwerer als seinen Widersacher erwischt zu haben. Ein Blut schwall quoll glucksend über seine Lippen. Und er stieß ein Wort aus, das der Dämonenjäger nicht kannte. »Wiltschek?«, wiederholte Walker es fragend. Vielleicht ein Name? Der Sterbende schwieg – für immer …
* »Wiltschek« stand in blutroter Farbe auf dem weißen Segeltuch, das quer über den Eingang des kleinen Kunstateliers gespannt war. Die Ausstellung, die an diesem Abend eröffnet wurde, war noch in vollem Gange. Während er den Pavillon umrundete, erhaschte Walker einen Blick durch die breiten Fenster auf einige der Besucher. Die meisten von ihnen schienen ziemlich schrille Vögel zu sein, aber vielleicht lag es auch nur daran, dass der bürgerlichere Teil der Gäste längst den Heimweg angetreten hatte. Wieder einmal hatte es nicht mehr als einen Anruf benötigt, um Walker auf die hoffentlich richtige Spur zu bringen. Bei Wiltschek, so einer seiner Informanten, handelte es sich um den Künstlernamen eines aufstrebenden Prager Malers, der in den letzten Monaten von sich reden gemacht hatte. Doch das war nicht das eigentlich Besondere. Wiltschek, so hatte Walker herausge funden, war mehr als nur ein Name. Es war das tschechische Wort für »kleiner Wolf«… Spätestens da war Walker klar geworden, dass die Spur wohl heißer war, als er selbst es zunächst vermutet hatte. Wiltscheks Atelier lag versteckt in einer kleinen Seitengasse, un weit der Prager Burg. Walker hatte es mühelos ausfindig gemacht. Doch was nun? War es ratsam, dieses »Wölfchen« direkt zur Rede stellen? Oder war es sinnvoller, erst einmal abzuwarten und sich unbemerkt an seine Fersen zu heften? Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als eine rassige Rothaarige in einem tief ausgeschnittenen schwarzen Abendkleid mit wippenden Hüften aus der Dunkelheit rechts neben dem Ein
gang trat. In der Hand hielt sie flaches Cocktailglas. Abgesehen von einer auf einen Zahnstocher gespießten Olive war es leer. Ihr gla siger Blick ließ darauf schließen, dass es zuvor schon einige Male ge füllt gewesen sein musste. »Willst du nicht rein gehen, Hübscher?«, fragte sie und lächelte kokett. »Der Typ ist der helle Wahnsinn. Ich schwör dir, so was hast du noch nicht gesehen.« Eine Tschechin war sie vermutlich nicht. Sie sprach englisch mit einem leicht skandinavischen Akzent. Walker spielte noch einen Moment lang den Unentschlossenen, dann folgte er der Rothaarigen auf die fünfstufige Treppe, die zu dem von griechischen Säulen umrahmten Eingang des Pavillons führte. Das Innere des ganz in weiß gehaltenen Ausstellungsraumes war durch mehrere provisorisch aufgestellte Trennwände in vier Berei che unterteilt worden. Die verbliebenen Gäste standen in Grüppchen beieinander und waren in lebhafte Diskussionen vertieft. Die meisten von ihnen schienen Ausländer zu sein, da sie sich in englischer Sprache un terhielten. Walker wandte sich den Gemälden zu, die in großzügigen Ab ständen zueinander an den Wänden hingen. Das Hauptmotiv des Künstlers, der sich Wiltschek nannte, war schwer zu übersehen. Die meisten Bilder hatten einen surrealis tischen Touch, doch die Grausamkeit der Motive war allgegen wärtig. Walker erkannte zerfetzte Gliedmaßen und monströse Besti en, die sich in wilder Gier über ausgeweidete Leiber hermachten. Überall war Blut. Rot war die vorherrschende Farbe, die wie ein Schleier über den Szenarien hing, sie regelrecht darin ertränkte. »Wie gefallen sie dir?« Die Stimme gehörte der Rothaarigen. Walker hatte sie kurz aus den Augen verloren. Jetzt stand sie neben ihm, zwei randvolle Martini-Gläser in den Händen. Eines da
von reichte sie ihm. Walker nahm es dankend entgegen, nippte je doch nur der Form halber kurz daran. »Ich möchte wetten, dieser Wiltschek wurde früher häufig zum Schulpsychologen zitiert«, meinte Walker ohne eine Miene zu ver ziehen. Die Rothaarige lächelte, doch bevor sie antworten konnte, klang eine männliche Stimme in Walkers Rücken auf. »Jeder bedeutende Künstler trägt die Bestie in seinem Innern. Doch nur jene, die es wagen, sie zu entfesseln, steigen zu wahrer Größe auf.« Walker drehte sich ohne jede Eile um. Sein Blick fiel auf einen jungen Mann mit blondem kurzem Haar und bleicher Haut. Er sah aus, als sei gerade aus einem katholischen Knabeninternat geflohen. Zu einer grauen Bundfaltenhose trug er ein schlichtes blaues Hemd mit einer sauber geknoteten Krawatte. »Wiltschek«, stellte er sich vor. »Und Sie sind …?« »Ein interessierter Laie«, gab Walker zurück. »Sie sind extra aus den Staaten angereist?«, fragte der Maler, der Walkers amerikanischen Akzent bemerkt haben musste. »Nicht direkt«, antwortete Walker. »Ich hatte geschäftlich hier zu tun und hörte von ihrer kleinen Veranstaltung.« »Gefällt Ihnen, was Sie sehen?« »Ihre Kunst ist … ungewöhnlich … Doch ich muss gestehen, sie hat ihren Reiz.« Wiltschek gab nicht zu erkennen, was er von Walkers Kommentar hielt, sondern nickte nur. »Sehen Sie sich in Ruhe um. Alle Gemälde stehen zum Verkauf. Wenn Sie sich für eines davon interessieren, steht Ihnen meine … Assistentin zur Verfügung.« Die Rothaarige grinste vergnügt. »Jederzeit. Ich heiße übrigens Claudette.« Walker bedankte sich und wartete, bis Wiltschek sich von ihm abgewandt hatte und sich einigen der anderen Gäste widmete.
Jetzt drehte er sich um und trat durch einen schmalen Durchgang zwischen den beiden Trennwänden auf der rechten Seite. Claudette folgte ihm wie ein zugelaufenes Hündchen. »Gibt es hier irgendwo eine Möglichkeit, sich frisch machen?«, fragte er über die Schulter. Die Rothaarige dirigierte ihn vor sich her an einer weiteren Trenn wand vorbei und deutete auf eine geschlossene weiße Tür. Walker bat Claudette, auf ihn zu warten, ging zur Tür und öffnete sie. Ein kurzer Gang führte vorbei an einer Treppe, die rechterhand in die Tiefe führte, und endete an einer weiteren Tür. Sie war halb ge öffnet. Walker erkannte, dass es sich dabei um ein kleines Bade zimmer handelte. Er wartete noch einen kurzen Moment, um sicher zu gehen, dass ihm niemand gefolgt war, dann entschied er sich für die Treppe. Bereits nach wenigen Schritten fiel es ihm schwer, die Hand vor Augen zu sehen. Er zog sein Feuerzeug aus der Tasche und schnippte es an. Die Flamme erhellte ein Chaos aus unbemalten Leinwänden, Farbeimern und Staffeln, das sich unterhalb der Treppe in einem kleinen Kellerraum angesammelt hatte. Walker trat einige Schritte in den Raum hinein, die Dunkelheit wich weiter zurück. Sein Blick fiel auf ein quer über die gesamte Rückwand gespanntes weißes Tuch, das vom Durchzug aufgebläht wurde. Durchzug? Walker stutzte. Wo ein Durchzug war, gab es wahrscheinlich auch einen Durchgang. Behutsam bahnte er sich einen Weg durch das Gerümpel, bis er das Tuch erreichte, und hob es vorsichtig an. Tatsächlich. In der Wand dahinter befand sich ein Loch. Die
Ränder waren stark zerklüftet, als sei es nachträglich unfach männisch in die Wand geschlagen worden. Walker hob das Tuch weiter an und leuchtete mit dem Feuerzeug dahinter. Sein Blick fiel in ein karges Verließ mit unverputzten, rissigen Wänden. Der Boden war mit Schutt und Geröll übersät. Ansonsten war der Raum leer. Er wollte sich gerade wieder zurückziehen, als er ein leises Husten vernahm. Obwohl er mit eigenen Augen sah, dass sich niemand in dem Ver ließ befand, war er sich sicher, dass das Geräusch von genau dort gekommen war. Er sah sich noch einmal um, bevor er unter das Laken schlüpfte und sich durch die enge Öffnung dahinter zwängte. Vorsichtig betrat er die Kammer, doch nichts war zu sehen. Doch als er die Mitte erreichte, spürte er, dass der Boden unter seinen Fü ßen leicht nachgab. »Aha …«, murmelte er zufrieden. Er ging in die Knie, schob etwas Geröll beiseite und legte damit die spröde Oberfläche einer Spanplatte frei, die darunter verborgen gewesen war. Schnell fuhr er fort, bis er die Kante des Brettes ge funden hatte, und hebelte es in die Höhe. Ein eisiger Luftzug wehte ihm aus dem finsteren Loch entgegen, das unter dem Brett versteckt gewesen war. Es hatte einen Durch messer von knapp einem Meter und war offenbar mit roher Gewalt in den Boden geschlagen worden. Noch bevor Walker einen Blick hineinwerfen konnte, hörte er eine heisere Stimme. »Hallo? Ist da jemand?« Der Dämonenjäger rutschte bis an den Rand des Lochs, beugte sich hinab und hielt das Feuerzeug am ausgestreckten Arm in die Tiefe.
Ganz schwach erkannte er eine ausgemergelte Gestalt, die drei Meter weiter unten auf dem kargen Boden kauerte und vom Licht der Flamme gerade noch gestreift wurde. Walker erkannte das Gesicht eines älteren Mannes, der mit wa chen Augen zu ihm aufblickte. »Jaruslav?«, tippte er ins Blaue hinein. Seine Stimme hallte schau rig von den Wänden des Verlieses wieder. »Wer bist du?«, stellte der Alte die Gegenfrage. »Jemand, der Sie schleunigst hier rausholt. Warten Sie einen Moment!« Walker stand auf, ging zurück in den Nebenraum und sah sich um. Erleichtert stellte er fest, dass er sich nicht getäuscht hatte. Die Holzleiter, die an der linken Wand des Raumes lehnte, hatte er vor hin kaum wahrgenommen. Jetzt drängte sich ihm ihr Anblick förm lich auf. Mit zwei langen Schritten stieg er über mehrere Farbeimer hinweg, griff nach der Leiter und ging damit zurück in den Nebenraum, wo er sie achtsam in das Loch hinabließ. Es dauerte nicht lange, bis der Alte zwei Drittel der Sprossen er klommen hatte. »Wir müssen schleunigst hier raus«, sagte Walker. »Es wird nicht mehr lange dauern, bis jemand nach dem Rechten sieht.« Der Alte nickte. Gemeinsam durchquerten sie den Kellerraum und schlichen die Treppe hinauf. Vor der Tür hielten sie noch einmal inne. Da der einzige Weg hinaus durch den Ausstellungsraum führte, war es na hezu unmöglich, das Atelier ungesehen zu verlassen. Deshalb muss te es schnell gehen. Walker hoffte, dass die Anwesenheit der noch immer zahlreichen Besucher ihnen einen gewissen Schutz geben würde.
Er nickte dem alten Jaruslav ermutigend zu, riss die Tür auf und – wäre fast gegen die Gestalt gerannt, die im selben Moment von der anderen Seite öffnen wollte. Claudette! Ihr überraschter Blick verharrte nur kurz auf Walker, bevor er zu dem Alten wanderte. Noch bevor sie etwas sagen konnte, packte Walker sie am Arm, zerrte sie durch die Tür und presste ihr die Hand auf den Mund, während er sie den Lauf der Magnum betrachten ließ. »Du bleibst hier stehen und gibst keinen Laut von dir!«, warnte er mit schneidender Stimme. Claudette nickte und blieb auch dann noch stumm, als Walker die Hand von ihrem Mund nahm und sie unsanft an die Wand drückte. Er wandte sich von ihr ab, öffnete die Tür erneut und sah sich ein mal kurz in alle Richtungen um. Die Luft schien rein zu sein. Lediglich ein Dreiergrüppchen war vor einem von Wiltscheks Bildern in eine lebhafte Diskussion vertieft. Walker zog Jaruslav mit sich, eilte mit ihm quer durch den Raum und vorbei an einer der Trennwände. Der Ausgang befand sich nur noch wenige Schritte entfernt, als Walker die erschrockenen Blicke bemerkte, die ihm von allen Seiten zugeworfen wurden. Alarmiert wirbelte er herum. Jaruslav hatte sich einige Meter zurückfallen lassen und taumelte jetzt in die entgegengesetzte Richtung. Doch damit nicht genug. Er veränderte sich! Walker sah, dass die schlichte Kleidung an mehreren Stellen aufgeplatzt war und borstige graue Haarbüschel durch die Löcher quollen. Mit schweren Schritten steuerte er auf ein Grüppchen von sechs
Personen zu, das einige Meter entfernt stand. Jetzt, beim Anblick des seltsamen Wesens, wichen die Männer und Frauen zur Seite aus und gaben damit den Blick auf jenen Mann frei, der in ihrer Mitte gestanden hatte. Wiltschek! Walker ballte die Fäuste und verfluchte sich selbst dafür, dass er nicht besser aufgepasst hatte. Der Anblick seines Peinigers war für Jaruslav offenbar Grund genug, die Kontrolle über sich zu verlieren. Das Tier in ihm hatte ihn überwältigt. Der Künstler blickte zunächst überrascht, dann verhärteten sich seine Züge. Mit zu Schlitzen verengten Augen warf er das Glas, das er in der Hand gehalten hatte, zu Boden. Seine Nasenflügel blähten sich, und seine Augen verfärbten sich einen kurzen Moment lang gelb. »Ich habe dich immer behandelt wie einen Sohn«, stieß Jaruslav grollend aus. Seine Verwandlung war etwa zur Hälfte abge schlossen. Seine menschliche Gestalt war noch deutlich zu erkennen, doch der Wolf in ihm drängte weiter an die Oberfläche. »Du jedoch hast mich verraten!« »Verraten!«, schnaubte Wiltschek und lockerte seine Krawatte. »Damit kennst du dich ja bestens aus. Jahrelang hast du deine eigene Rasse verraten, indem du sie gezwungen hast, sich ihrer Na tur zu widersetzen. Irgendwann musste Schluss damit sein.« Noch während er sprach, setzte auch bei ihm die Veränderung ein. Seine Kieferknochen schoben sich vor, wuchsen in die Länge, wäh rend sich sein Brustkorb dehnte und seine Hemdsknöpfe einer nach dem anderen von oben nach unten abplatzten. Einige entsetzte Schreie klangen auf, unterlegt von einem leisen Gemurmel. Die Gästeschar wich zurück, konnte sich jedoch nicht entschließen, das Weite zu suchen. Ihre Schaulust schien die Angst zu besiegen. Vielleicht glaubten auch einige, nur eine bizarre Sho weinlage geboten zu bekommen.
Walker war kurz davor, seine Magnum zu ziehen, sah jedoch nach kurzem Überlegen davon ab. Wenn er anfing, mit einer Schusswaffe in der Gegend herumzufuchteln, würde die Situation vermutlich eskalieren. Noch hoffte er auf einen friedlichen Ausgang. Er trat von hinten an Jarulsav heran, dessen Transformation beina he abgeschlossen war. Doch bevor er ihn erreichte, stürzte sich dieser mit wildem Heulen auf seinen Widersacher. Ineinander verkeilt krachten beide gegen die Trennwand in Wilt scheks Rücken und rissen sie zu Boden, während sie sich gegensei tig einen Prankenhieb nach dem anderen zufügten. Alles was Walker sah, war ein grollendes Knäuel aus Fell und Zähnen, in dem mal der eine, mal der andere die Oberhand zu ge winnen schien. Den übrigen Gästen wurde das Schauspiel mittlerweile wohl doch eine Spur zu intensiv. Auch wenn es vielen nach wie vor schwer fiel, ihre Blicke vom Kampfgetümmel zu lösen, sahen die meisten doch zu, aus der Gefahrenzone zu gelangen. Plötzlich erklang ein ohrenbetäubender gurgelnder Schrei. Walker ahnte, dass er auf eine Entscheidung des Kampfes hindeutete. Und tatsächlich. Einer der Wölfe ließ von seinem Gegner ab, der zuckend und in einer riesigen Blutlache auf dem Boden lag, und wich zurück. »Verdammt!«, knurrte Walker leise und wagte sich näher heran. In der Manteltasche hielt er die Magnum umklammert. Wenn es der alte Jaruslav war, der den Kampf verloren hatte, sah er sich gleich mehreren Problemen gegenüber. Zum einen war da eine blutrünstige Bestie, die nach allem, was er über sie wusste, in ihrem Blutrausch kaum zu stoppen war. Zum andern war Jaruslav seine einzige Spur auf der Suche nach dem Silbertablett des Hero des. Walker war jetzt nahe genug, um das Gesicht des Besiegten zu er kennen, der sich im Tod zurückverwandelte – Wiltschek.
Die Kehle des Malers war völlig zerfetzt. Schade, dass er siceh so nicht mehr sehen kann, dachte Walker in einem Anflug von Zynismus. Dieses Motiv hätte ihm bestimmt gefallen …
* Niemand hielt Walker auf, als er den leicht verletzten Jaruslav zu seinem Wagen brachte. Die meisten Besucher der Ausstellung hatten sich mittlerweile stillschweigend verdrückt. Was aus Walkers Sicht ein Segen war, auch wenn ihm natürlich klar war, dass mehrere Leute ihn gesehen und mühelos identifizieren konnten – allen voran Claudette. Egal. Er hatte ohnehin vor, die Stadt zu verlassen, sobald er her ausgefunden hatte, was er wissen wollte. Das Tablett, auf dem der Kopf Johannes des Täufers gelegen hatte … Walker sprach Jaruslav darauf an, nachdem er ihn in seine Wohnung gebracht hatte. Der Alte war zunächst überrascht, doch schließlich nickte er. »Tat sächlich war ich bis vor kurzem im Besitz eines Viertels dieses Tabletts. Leider wurde es mir gestohlen.« Walker nickte. Er wusste auch, von wem – Luigi, der Mailänder Vampir. »Sie sind übrigens nicht der Erste, der sich dafür interessiert«, fuhr Jaruslav fort. »Kurz vor dem Diebstahl erhielt ich den Anruf eines Kunstsammlers, der mir eine fürstliche Summe dafür bot. Er be hauptete, dass er bereits zwei der Teile besitzt und nun auf der Su che nach den beiden anderen ist.« Walker wurde hellhörig. »Wissen Sie zufällig, wo ich den Mann
finden kann?« Jaruslav wusste es. Und bereits drei Stunden später saß Walker im Flugzeug nach Me xiko … ENDE