Marc Tannous
Die Zombies von Uxmal Version: v1.0
Einen Moment lang vergaß Dan Walker, dass er in einem 300.000-Kilo-K...
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Marc Tannous
Die Zombies von Uxmal Version: v1.0
Einen Moment lang vergaß Dan Walker, dass er in einem 300.000-Kilo-Koloss mit 900 km/h durch die Lüfte jagte, und glaubte auf Wolken zu schweben. Walker konnte förmlich spüren, wie sein Geist von einem Be wusstseinszustand in einen anderen überging. Eben noch hatte er in einer Boeing in Richtung Mexiko gesessen, und schon im nächsten Moment fand er sich an einem blenden weißen Strand wieder. Er lief los, wollte dem Meer entgegeneilen, um sich, angezogen wie er war, in die Fluten zu stürzen – als sich plötzlich alles veränderte. Der Strand verschwand, und auch das Meer. Was blieb, war völlige Dunkelheit. Und eine grauenhafte Dämonenfratze, die urplötzlich darin aufblitzte!
Walker schrak hoch. Er brauchte einige Sekunden, um zurück in die Wirklichkeit zu finden, dann sah sich um. Hektisch, schweißge badet. Alles schien normal. Die junge Blondine, die neben ihm weit zu rückgelehnt und in leichter Schräglage saß, schlief wie die meisten anderen Passagiere. Walker fuhr sich mit einem Taschentuch über die schweißglän zende Stirn. Er wollte nicht daran glauben, dass ihn ein simpler Traum so aus der Ruhe bringen konnte. Ihn, den ehemaligen CIAAgenten, der tagtäglich im Auftrag des Vatikan gegen die Mächte des Bösen zu Felde zog. Nein, da war irgendetwas gewesen, das die Dämonenfratze von den üblichen Traumgestalten unterschied. Sie war plastischer ge wesen. Realer. So als würde sie nicht nur in seinen Gedanken exis tieren … Walker erhob sich leicht und spähte über den Rand des Sitzes sei nes Vordermannes hinweg. Alles war friedlich. Nicht das geringste Anzeichen dämonischer Aktivität. Und dann, just in dem Moment, als er sich in seinen Sitz zurück sinken ließ, fiel sein Blick auf die Spitzen seiner Stiefel. Vielmehr auf die feinen weißen Körner, die auf dem Leder klebten. So, als wäre er gerade durch feinen weißen Sand gelaufen … »Was, zum …?«, murmelte er. Walker beugte sich nach vorn und streckte seinen Zeigefinger da nach aus, als er ein leises, unterdrücktes Wimmern vernahm. Schnell setzte er sich auf, drehte den Kopf und sah in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Sein Blick fiel auf die Blon dine neben ihm, die vor Sekunden noch so unbeschwert gelächelt hatte. Jetzt war dieses Lächeln einem Ausdruck nackten Entsetzens ge wichen. Schweiß glänzte auf ihrer Haut und ihre Hände krallten
sich krampfhaft in die Decke, die sie sich bis über die Brust gezogen hatte. Ihr Atem war keuchend und ging stoßweise, als würde sie kaum noch Luft bekommen. Walker streckte die Hand nach ihr aus, um sie mit einer sanften Berührung an der Schulter zu wecken, hielt dann jedoch inne. Es mussten seine Instinkte sein, die er sich in den Jahren, die er als Dämonenjäger tätig war, antrainiert hatte. Urplötzlich war er davon überzeugt, dass der Zustand der jungen Frau und die Erscheinung, die er in seinem Traum gehabt hatte, in irgendeiner Verbindung standen. Und es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Sein Blick streifte noch einmal die Blondine. Ihr Gesicht war noch immer angstverzerrt, doch ihr Zustand schien stabil. Sie sah nicht so aus, als würde sie in ernsthafter Gefahr schweben. Walker lehnte sich zurück, schloss die Augen und begann mit den Entspannungsübungen, die er vor Jahren von den Mönchen eines taoistischen Klosters gelernt hatte. Ganz langsam ging er dazu über, seine Atmung zu kontrollieren, achtete dabei auf einen bestimmten Rhythmus. Gleichzeitig griff er sich einen Punkt aus der Dunkelheit unter seinen Augenlidern her aus, fokussierte ihn. Er zog ihn zu sich heran und spürte dabei den Strudel, der seinen Geist erfasste, bis er jeglichen Halt im Diesseits verlor und sich Morpheus’ Arme um ihn schlangen. Der Übergang war sanft und fließend. Diesmal fand er sich nicht an einem Strand wieder. Nein, um ihn herum waren die Stille eines Waldes, der Geruch von Harz und Tannennadeln, das leise Säuseln des Windes, das fröhliche Zwitschern eines Vogels … Walker sah sich um. Alles war so verdammt echt. Die Düfte und die Geräusche schienen nicht nur Ausgeburten seines Geistes zu sein, sondern tatsächlich und wahrhaftig zu existieren.
Langsam streckte er die Hand aus, berührte einen der Äste, die sich ihm wie nadelgespickte Skelettarme entgegenstreckten. Ganz deutlich spürte er den Schmerz, der durch seinen Finger zuckte, als sich eine der Nadeln in seine Haut bohrte. Kein Traum konnte derart real sein! Ein leises Röcheln ließ Walker aufblicken. Es war ganz in seiner Nähe aufgeklungen, daran gab es keinen Zweifel. Sofort lief er los, bahnte sich einen Weg durch das Geäst und musste immer wieder ausweichen, wenn einzelne Zweige ihm ur plötzlich entgegenpeitschten. Da sah er sie: eine kleine bucklige Gestalt auf einer Lichtung. Sie war vollkommen unbekleidet und hatte ihm den Rücken zuge wandt. Rippen zeichneten sich unter der pergamentartigen, bräunli chen Haut deutlich ab. Erst als sich Walker dem seltsamen Wesen langsam näherte, er kannte er, dass es nicht direkt auf dem grasbewachsenen Boden der Lichtung kauerte. Nein, es saß auf der Brust eines menschlichen Körpers. Einer junge Frau, die stöhnend unter ihm lag. Nein, korrigierte er sich schnell. Nicht eine Frau. Es war jene Blon dine, die in diesem Moment außerhalb seines Traumes in der Boeing direkt neben ihm saß. Der merkwürdige Gnom hatte ihn bisher nicht bemerkt. Er hatte sich über sein Opfer gebeugt, während das Röcheln der jungen Frau immer verzweifelter wurde. Sie klang, als würde sie einen baldigen Ertickungstod erleiden, wenn ihr nicht bald jemand zu Hilfe kam. Zweifellos handelte es sich bei der Kreatur um eine Art Alp, oder Nachtmahr, wie diese nordischen Dämonen noch genannt wurden. Walker hatte bisher noch nie selbst mit einem solchen Wesen zu tun gehabt. Er wusste jedoch, dass sie ihre Lebensenergie daraus bezo gen, dass sie Menschen im Schlaf den Atem raubten.
Walker hatte keine Zeit zu verlieren. Er rannte los, auf den Mahr und sein Opfer zu. Er hatte sie bis auf einige Schritte erreicht, als sich die Kreatur plötzlich blitzschnell zu ihm umdrehte. Sekundenlang blickte Walker in eine dämonische Fratze mit ge bleckten, nadelspitzen Zähnen, die auf seine Ankunft mit einem leisen Zischen regierte. Im nächsten Moment hatte Walker ihn auch schon erreicht, packte ihn an den knochigen Schultern und riss ihn von der Brust seines Opfers, das sich von der Last befreit hustend aufbäumte. Für den Bruchteil einer Sekunde schienen die grimassenhaften Züge des Mahrs zu zerfließen und das Gesicht eines Menschen kam darunter zum Vorschein. Sir …? Die weibliche Stimme erklang direkt in seinem Kopf. Einen Herzschlag später waren der Wald und der Gnom verschwunden. Sein Blick fiel auf die Lehne des Sitzes vor ihm, und er spürte eine rüttelnde Berührung an seiner Schulter. »Sir!« Da war sie wieder, diese Stimme. Walker drehte den Kopf und sah in das Gesicht einer Flugbegleite rin, die ihn aus großen, wasserblauen Augen besorgt ansah. »Sir, geht es Ihnen gut?«, erkündigte sie sich. Walker nickte, während er ein angestrengtes Husten vernahm. Die Blondine. Sie war erwacht und wurde von einer zweiten Flugbegleiterin be treut, die einen Arm um sie gelegt hatte und in ihrer Hilflosigkeit immer wieder von neuem fragte, ob alles in Ordnung sei. »Sie haben wild um sich getreten, Sir«, erklärte ihre Kollegin an Walker gewandt. »Ich sah mich leider gezwungen, sie zu wecken.« Er nickte und bedankte sich. Auch viele der anderen Gäste waren bereits auf das Treiben aufmerksam geworden. Einige hatten sich zu
ihnen umgedreht und tuschelten miteinander, wandten sich jedoch ab, als Walkers Blick dem ihren begegnete. Auch ein kleiner, aufgedunsener Wicht mit lichtem Haar war un ter den Gaffern. Der Dämonenjäger sah ihn nur ganz kurz, doch dieser Moment ge nügte, um das Gesicht genau zu erkennen. Es war dasselbe, das Walker gerade eben noch unter den Zügen des Mahrs erkannt hatte. »Entschuldigen Sie mich bitte«, murmelte er und erhob sich halb von seinem Platz. Die Stewardess machte Platz, während er sich an der Blondine vorbeischob. Er musste nicht weit gehen. Der Wicht saß nur fünf Reihen weiter. Als Walker neben ihm stehen blieb, tat der Kerl, als würde er schlafen. Sogar ein leichtes Schnarchgeräusch versuchte er zu imi tieren. Der Dämonenjäger ließ sich auf den freien Platz neben ihm sinken und starrte ihn an. Es dauerte nicht lange, bis der Mann durch Anwesenheit des Fremden sichtlich nervös wurde. Seine behaarten, schweißnassen Pranken öffneten und schlossen sich mehrmals hintereinander, und seine Augenlider begannen hektisch zu flattern. »Ich kann warten«, versicherte Walker leise. Er griff nach der Bordzeitschrift der Fluggesellschaft, die auf der Ablage neben den beiden Sitzen lag, und begann darin zu blättern. »Sieh an. Im Bord kino zeigen sie Forrest Gump.« Urplötzlich öffnete sein Sitznachbar die Augen und starrte Walker hasserfüllt an. »Was willst du?« Walker fiel auf, dass seine Augenbrauen zusammengewachsen waren. Ein Merkmal, dass laut der Literatur viele Nachtmahre besa ßen. »Ich weiß, wer – oder besser gesagt was – du bist«, sagte Walker
völlig unverblümt. »Ich bin mir zwar nicht sicher, wie du es machst, aber du schleichst dich in die Träume von Menschen ein und raubst ihnen die Lebensenergie, nicht wahr?« Der kleine Mann wich seinem Blick aus. »Ich töte niemanden«, murmelte er undeutlich. Er sprach mit einem leicht skandinavischen Akzent. »Ich labe mich lediglich an der Todesangst der Menschen. Sie brauche ich zum Überleben …« Walker runzelte die Stirn. »Das soll ich dir abnehmen?« Jetzt ruckte der Kopf des Gnoms wieder in die Höhe und der Blick seiner schmalen Augen schien Walker zu durchbohren. »Denkst du, ich wäre so verrückt, jemanden an Bord eines Flugzeugs zu töten? Unter den Augen Dutzender Zeugen?« Walker hielt dem Starren stand und suchte darin nach einem Anzeichen für den Wahrheitsgehalt der Worte. Das Argument an sich war seiner Ansicht nach nicht besonders überzeugend. Schließlich hätte niemand wirklich gesehen, wie sich der Mahr über sein Opfer her machte. Jeder hätte geglaubt, die Frau wäre an plötzlicher, wenn auch unerklärlicher Atemnot gestorben. Dennoch … Irgendwie erschienen ihm die Worte des Skandi naviers aufrichtig. Dazu kam, dass er hier an Bord nichts gegen ihn ausrichten konn te, wollte er nicht vom Flugpersonal in Gewahrsam genommen werden, und nach ihrer Ankunft in Puebla in einen mexikanischen Knast wandern. »Na gut«, sagte er schließlich. »Ich lass dich noch mal vom Haken. Aber denke immer daran, dass ich dich im Auge behalte. Auch ich habe so meine Fähigkeiten, musst du wissen.« Der Gnom sah betroffen zu Boden und nickte schnell. Er schien den Bluff zu schlucken. Walker schenkte ihm noch einen letzten, eindringlichen Blick. Dann stand er auf, drehte sich um und ging zurück zu seinem Platz.
Er hatte ohnehin keine Zeit, sich länger als nötig mit solch niederen Kreaturen zu befassen. Der Grund für seine überhastete Reise nach Mexiko war kein geringerer, als die Rettung der Menschheit vor den Mächten des Bösen. »Geht es Ihnen wieder besser«, fragte er die Blonde, nachdem er seinen Platz wieder eingenommen hatte. Die junge Frau sah ihn sekundenlang schweigend an, bevor sie sagte: »Wissen Sie, was merkwürdig ist?« Walker antwortete mit einem fragenden Blick. »Ich habe von Ihnen geträumt«, flüsterte sie wie in Trance. »Da war so ein Monster und Sie … haben mich vor ihm gerettet.« »Das war doch selbstverständlich.« Der Gesandte des Vatikans gegen das Böse grinste schelmisch und hielt ihr die Hand hin. »Gestatten. Dan Walker, Dämonenjäger.« Ihre Verwunderung wich einem amüsierten Lächeln – und ein hei teres Lachen perlte aus ihrer Kehle …
* Die Nacht nach seiner Ankunft in Puebla verbrachte Walker in einem Hotel in der Nähe des Flugplatzes, um am nächsten Tag zu dem weiter östlich, am Rande des Regenwaldes gelegenen Dorf San Filipos aufzubrechen. Von dort aus, so hatte er sich sagen lassen, war auch die Expediti on jenes Mannes gestartet, wegen dem er den langen Flug von Prag aus auf sich genommen hatte. Samuel Rockford. Milliardär. Abenteuer. Philantrop. Kunstsammler. Bis vor etwa vierzehn Stunden hatte Walker noch nie etwas von ihm gehört gehabt. Erst der Bericht des alten Jaruslav, Besitzer eines
Ladens für Magiebedarf und Oberhaupt der in friedlicher Eintracht mit den Menschen lebenden Prager Werwolfsippe, hatte ihn auf die Spur des Kanadiers geführt. Angeblich, so Jaruslav, war der Milliardär im Besitz zweier Teil stücke eines sagenumwobenen Tabletts, hinter dem Walker seit einigen Tagen her war. Das Tablett des Johannes … Der Legende nach verlieh es seinem Besitzer schier unbegrenzte Macht über die Menschen. Allein Kraft seiner Worte, so hieß es, war es diesem möglich, die Massen in seinem Sinne zu beeinflussen. So zumindest hatte es ihm Monsignore Travelli, Prälat des Vatikan und Walkers unmittelbarer Vorgesetzter, erklärt. Wer es besaß, so Tra velli, dem lag die Welt zu Füßen – buchstäblich. Ein britischer Geschäftsmann, in dessen Besitz sich das Tablett einst befunden hatte, hatte es vierteilen lassen, um es unter sich und seinen drei Söhnen aufteilen zu können. Unklar war indes, was nach dem plötzlichen, ungeklärten Tod aller vier Männer mit den Stücken geschehen war. Eines davon hatte Walker durch Zufall bereits in seinem Besitz ge wusst. In Mailand hatte er es einem Vampir abgeknöpft, der sich mit Hilfe der Reliquie zum uneingeschränkten Führer seiner Artge nossen aufgeschwungen hatte. Doch bevor Walker das Tablettstück in Sicherheit bringen konnte, war er von einer Horde Unsichtbarer, deren Identität und Herkunft nach wie vor ungeklärt war, überfallen worden. Da sie es ganz gezielt auf das Tablettstück abgesehen hatten, bestand für Walker nicht der geringste Zweifel, dass es sich noch ir gend ein anderer zur Aufgabe gemacht hatte, das Tablett in seinen Besitz zu bringen. Rockford? Walker hielt es durchaus für möglich, wenn auch für höchst un wahrscheinlich, dass der Milliardär die Unsichtbaren auf die noch
fehlenden Teile des Tabletts angesetzt hatte. Immerhin hatte er Ja ruslav eine fürstliche, wenn auch für seine Verhältnisse wohl eher geringe Summe, für dessen Teil des Tabletts geboten. Und der war zum Verkauf durchaus bereit gewesen, bevor es ihm von Luigi, dem Mailänder Vampir, gestohlen worden war. Nein, nach allem was Walker über Rockford in Erfahrung gebracht hatte, war er sich ziemlich sicher, dass der Milliardär die fehlenden Teile aus reiner Sammelleidenschaft suchte. Doch selbst das durfte Walker nicht zulassen. Es war zu riskant, das vollständige Tablett im Besitz eines Einzelnen zu wissen. Nur allzu leicht konnte es in die falschen Hände geraten. Deshalb hatte er auch von höchster Stelle sämtliche Befugnisse erhalten, um Rock ford seine Teile des Tabletts abzuschwatzen. Die Summe, über die Walker frei verfügen konnte, war enorm. Dennoch glaubte er nicht, dass er den Milliardär damit zum Verkauf überreden konnte. Nein, Walkers einzige Chance bestand darin, dem als Menschen freund und Wohltäter bekannten Rockford die Gefahr zu verdeutli chen, die von der Reliquie ausging. Ihn davon zu überzeugen, dass das Tablett in den geheimen und streng bewachten Schatzkammern des Vatikan am besten aufgehoben war. Doch dazu musste er den guten Mann erst einmal finden. Gleich nachdem Jaruslav seinen Namen erwähnt hatte, hatte Wal ker Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Kontakt zu Rock ford aufzunehmen. Wie sich jedoch herausstellte, war der Abenteurer erst vor wenigen Tagen zu einer Forschungsreise in den mexikanischen Regenwald aufgebrochen, von der er erst in einigen Monaten zu rückkehren würde. Walker hatte nicht lange überlegt und sich in den nächsten Flieger nach Mexiko gesetzt. Das Ziel des Milliardärs war ein Forschungscamp tief im mexi kanischen Busch, anderthalb Tagesmärsche von San Filipos entfernt
in der Nähe der Ruinen von Uxmal. Zwar war es möglich, das Camp über Funk zu erreichen, aber Walker war der Meinung, dass es schwierig sein würde, Rockford seine Bitte auf diese Weise zu un terbreiten. Nein, sicherlich war es sinnvoller, ihm persönlich gegen überzutreten und von Angesicht zu Angesicht mit ihm zu verhandeln. Das wiederum erforderte jedoch einige Vorbereitungen, die Wal ker zum Teil bereits vor seinem Abflug getroffen hatte. Über einen der vielen Kanäle, die ihm aufgrund seiner Verbindung zum Va tikan offen standen, hatte er die British Royal Explorers Society, die das Forschungscamp finanzierte, auf höchster Ebene kontaktiert. Und obwohl er über die Gründe seiner Reise Stillschweigen behal ten hatte, hatte man ihm versprochen, umgehend ein Team zu organisieren, dass ihn bis zu besagter Station – und wieder zurück – führen würde. Als Kontaktperson war ihm ein gewisser Alfredo genannt worden, der bereits in der Lobby des einzigen Hotels von San Filipos auf ihn wartete. Er saß mit aufgeschlagener Zeitung auf einem zerschlissenen Sofa und sah so aus, wie viele sich einen typischen Mexikaner wohl vor stellen. Klein, etwas untersetzt, mit einem breiten Schnurrbart, der bis über seine Oberlippe reichte. Fehlt nur noch ein breitkrempiger Sombrero, dachte Walker, und fertig ist der Stereotyp. Alfredo sprang sofort auf, als er Walker über den Rand der Zeitung hinweg erspähte. Entweder hatte man ihm sein Aussehen sehr genau beschrieben, oder es verirrten sich nicht sehr viele Weiße in diese gottverlassene Gegend. Walker tippte auf Letzteres. Auf kurzen Beinen eilte Alfredo zu ihm, wischte sich seine be haarte Pranke an seinem schweißdurchtränkten Hemd ab. Dann erst reichte er sie dem Besucher. »Senor Walker?«, versicherte er sich.
Walker nickte. »Und sie sind Alfredo …?« »Einfach nur Alfredo«, sagte der Mexikaner grinsend. »Sie wollen hinaus in den Busch?« Sein lauernder Blick ließ Walker vermuten, dass er in Wahrheit wissen wollte, weshalb es ihn in den Busch zog. »Gleich morgen früh nach Sonnenaufgang«, bestätigte er. Und um Alfredos Neugier zumindest ansatzweise zu befriedigen fügte er hinzu: »Ein Bekannter von mir befindet sich im Camp der Explorers Society. Ich muss ihn dringend sprechen.« »Ein Gringo?«, fragte Alfredo und hob die Hand über seinen Kopf. »Etwa so groß, dunkle Haare, eine Brille auf der Nase …?« In der Tat, das war Rockford, wie man ihn Walker beschrieben hatte. »Kennen Sie ihn?«, fragte er. »Er tauchte letzte Woche hier auf und reiste mit einem eigenen Team an.« »Diesen Luxus kann ich mir leider nicht erlauben«, sagte Walker. »Man hat mir versichert, dass Sie mich heil ins Camp bringen.« »Es war nicht ganz einfach, aber ich habe einige Einheimische angeheuert, die Sie sicher an Ihr Ziel bringen werden.« »Nicht ganz einfach?« Alfredo sah sich um, als würde einen heimlichen Zuhörer fürch ten. Dann senkte er seine Stimme und erklärte: »Die Gegend um das Camp wird von den meisten hier gemieden. In den letzten Jahren sind dort immer wieder seltsame Dinge geschehen.« Walker hob die Augenbrauen. »Dinge?« »Menschen, die spurlos verschwinden. Immer wieder sieht man seltsame, behaarte Gestalten durchs Unterholz huschen. Manche glauben an die Existenz eines Stammes von Mischwesen, der dort sein Unwesen treibt. Andere wiederum halten sie für Dämonen, die durch einen geheimen Zugang direkt aus der Hölle entwischt sind.«
»Wenn das so ist«, sagte Walker mit einem schwachen Lächeln, »ist es wohl an der Zeit, sie dorthin zurückzuschicken …« Alfredo schluckte nur, dann bekreuzigte er sich …
* Auch wenn Walker es sich nicht anmerken ließ, so hatten Alfredos Worte doch einen schalen Beigeschmack bei ihm hinterlassen. Nicht, dass er sich vor irgendwelchen monströsen Kreaturen ge fürchtet hätte. Nein, seine Sorge galt in erster Linie den drei Männer, die im Morgengrauen vor dem Hotel auf ihn gewartet hatten und ihn nun mit Macheten und Pistolen bewaffnet durch den Busch führten. Obwohl alle drei gestandene Kerle waren, kam Walker nicht um hin, die Angst in ihren hektisch umher huschenden Blicken zu be merken. Es war kaum zu übersehen, dass in diesen Momenten jeder einzel ne von ihnen lieber an jedem anderen Ort auf der Welt gewesen wä re. Der einzige Grund, warum sie die Tortur überhaupt auf sich nahmen, war wohl der fürstliche Lohn, den sie für ihre Mühen erhielten. Walker wäre fast vom sprichwörtlichen Stuhl gekippt, als Alfredo ihm eröffnet hatte, wie viel er pro Nase zu löhnen hatte. Doch am Ende war ihm nichts anderes übriggeblieben, als die Ab zocke stillschweigend zu akzeptieren. Er musste Rockford finden, koste es was es wolle, und die Rechnung würde ohnehin in die Spesenabteilung des Vatikan wandern. Der Marsch durch den Regenwald erwies sich zunächst als weniger umständlich, als Walker angenommen hatte. Zu verdanken war dies vor allem der Tatsache, dass sie sich nicht erst selbst eine Schneise bahnen mussten, sondern jene nutzen konnten, die Tage zuvor das Team um Samuel Rockford geschaffen hatte.
Kräftezehrend waren jedoch die brütende Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit, die für einen ständigen Schweißfirm auf der Haut sorgten. Irgendwann, die Sonne stand noch hoch am Horizont, schlugen sie ihre Zelte auf, um den Rest des Marsches am nächsten Morgen zu rückzulegen. Auch wenn sie es nicht offen aussprachen, so hatte Walker den starken Verdacht, dass seine Scouts es vorzogen, so weit wie möglich von der Gegend um das Forschungscamp entfernt zu nächtigen. Ihm war es recht. Wenn sie morgen in aller Frühe aufbrachen, würden sie das Camp gegen Mittag erreichen. Blieb genügend Zeit um Rockford seine Bitte zu unterbreiten und lange vor Sonnenun tergang den Rückweg anzutreten. Denn eines hatten seine Führer von Anfang an klargestellt: Ihr Honorar, so fürstlich es auch sein mochte, beinhaltete keine Übernachtung im Camp. Nicht, dass Walker damit ein Problem gehabt hätte. Auch er hatte nicht vor, länger als irgend nötig zu bleiben. Schließlich hatte er Wichtigeres zu tun. Das Tablett des Johannes finden, die Welt retten … Eben das Übliche, was sein Beruf so mit sich brachte … In diesem Moment ahnte er noch nicht, dass es zunächst einmal ganz anders kommen würde …
* Er schlief unruhig in dieser Nacht. Immer wieder schrak Walker hoch und griff nach seiner Magnum, die er vorsorglich direkt neben seinem Schlafsack platziert hatte. Und jedes Mal fiel es ihm schwerer, zurück in seinen von bizarren
Träumen bevölkerten Schlaf zu finden. Vielleicht lag es an den unzähligen Geräuschen, die die Nacht erfüllten. Vielleicht auch an der Hitze, die selbst zu späterer Stunde kaum schwächer geworden war. Seiner Uhr nach war es halb drei, als er sich aus dem Schlafsack wühlte, sich etwas überzog und durch das vor den Eingang ge spannte Moskitonetz nach draußen schlüpfte. Das Feuer in der Mitte der Lagerstelle war bereits zur Hälfte nie dergebrannt, und Pedro, einer der Scouts, war gerade dabei, neues Holz nachzulegen. Als er Walkers Schatten sah, hob er abrupt den Kopf, entspannte sich jedoch, als er den dunkelhaarigen Gringo erkannte. »Wenn du möchtest, kannst du dich etwas ausruhen«, bot Walker ihm auf Spanisch an. »Ich übernehme die Wache für eine Weile.« Pedro nickte und warf noch einige Scheite ins Feuer, bevor er sich auf seine Decke sinken ließ und die Augen schloss. Es dauerte nicht lange, und er war eingeschlafen. Walker ließ sich auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers nie der, zog die Beine an und legte sein Kinn auf die Knie. Wieder einmal kreisten seine Gedanken um die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit. Und wieder einmal fragte er sich, warum das Schicksal ausgerechnet ihn dazu auserkoren hatte, den Kampf gegen die Mächten des Bösen anzuführen. Jene Dämonen zu be kämpfen, die im Verborgenen daran arbeiteten, die Menschheit zu unterjochen. Doch wenn er genauer darüber nachdachte, unterschied sich sein heutiger Job eigentlich nur minimal von seiner Arbeit für die CIA, die er zehn Jahre lang ausgeübt hatte. Auch dieser Job hatte ihn in die entlegensten Flecken dieser Welt geführt. Und davon abgesehen, dass er es damals noch mit aus schließlich menschlichen Gegenspielern zu tun gehabt hatte, hatten
sich diese in der Grausamkeit kaum von den Mächten der Hölle un terschieden. Bei Geistern, Vampiren und Zombies wusste er wenigs tens, woran er war. Menschliche Dämonen waren meist erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Walker versuchte, die Erinnerungen an jene Zeit zurückzu drängen. Lange hatte er nicht mehr daran gedacht. An jenen schick salhaften Tag, an dem sein damaliger Partner durch seine Schuld in Marokko in einen Hinterhalt geraten war. Walker hatte schlicht und ergreifend den falschen Leuten vertraut. Und Ryan hatte diesen Feh ler mit dem Leben bezahlt. Kurz darauf hatte er seinen Dienst quittiert und sich in Selbstmitleid gesuhlt. Bis er die Bekanntschaft eines gewissen Monsignore Travelli gemacht hatte. Dieser hatte ihn aus seinem selbst gewählten Einsiedlerdasein gerissen und ihn in eine Welt eingeführt, von der Walker bis dahin noch nicht einmal et was geahnt hatte. Ein leises Geräusch schreckte ihn hoch. Erst jetzt stellte er fest, dass er so in Gedanken gewesen war, dass alles um ihn herum in den Hintergrund getreten war. Die Hand am Griff der Magnum ging er in die Hocke und schaute sich lauernd um. Da war es wieder! Ein Rascheln im Unterholz, von irgendwo jen seits seines Zeltes kommend. Walker warf einen schnellen Blick in Pedros Richtung. Der Mexi kaner schlief tief und fest. Der Dämonenjäger trat am Zelt vorbei und starrte in die Dunkel heit jenseits des Lichtkreises, den das Feuer um die Lagerstelle warf. Sekundenlang blieb alles still – bis urplötzlich ein erneutes Rascheln rechts neben ihm erklang! Walker fuhr herum, den Lauf der Magnum nach vorne gerichtet. Undeutlich sah er eine Gestalt, am Rande der Lichtung. Eine Frau …?
Ganz schwach nur zeichnete der Abglanz des Feuers ihre Kon turen nach, sodass sie aussah wie eine unvollständige Skizze. Sie hatte langes schwarzes Haar, das ihr glatt auf die Schultern fiel. Ihr schlanker Körper war, soweit es Walker erkennen konnte, bis auf einen Lendenschurz nackt. Langsam ließ er die Pistole sinken, um die junge Frau nicht zu erschrecken, und machte einen Schritt auf sie zu. Er blieb jedoch gleich wieder stehen, als er merkte, dass sie erschrocken zu sammenzuckte. Sekundenlang standen beide nur da, musterten sich schweigend im zuckenden Habdunkel. Mit einem Mal ging sie in die Knie und streckte die Hand aus. Es sah aus, als würde sie irgendetwas auf den Boden legen. Doch im nächsten Augenblick glaubte Walker, seinen Augen nicht mehr trauen zu können. Das Mädchen begann, sich zu verwandeln. Walker konnte aus der Entfernung keine Details erkennen, dennoch hatte er nicht den geringste Zweifel, dass sich ihr Körper bau veränderte. Gleichzeitig glaubte er zu sehen, wie Fell aus ihrer Haut spross und in Sekundenschnelle ihren gesamten Körper be deckte. Sofort musste Walker an seine Erlebnisse in Prag denken. An die Werwölfe, mit denen er es dort zu tun bekommen hatte. Doch was er hier vor sich sah, war kein Wolf. Dieses Ding, in das sich das Mädchen verwandelt hatte, erinnerte ihn vielmehr an eine Raubkatze. Eine Raubkatze auf zwei Beinen … Walker hob die Magnum erneut an, brachte es jedoch nicht fertig, den Abzug zu drücken. Nicht bevor er wusste, was es mit der mys teriösen Kreatur auf sich hatte. Sie stand noch einen Moment lang am Fleck, sah Walker aus
reflektierenden Augen an. Im nächsten Moment drehte sie sich um und verschwand im Busch. »Hey! Warte!« Walker lief los, eilte dem Wesen hinterher. Doch bereits nach wenigen Schritten musste er feststellen, dass sein Vorhaben aussichtslos war. Er ging noch bis zu der Stelle, an der sie gerade noch gekniet hatte. Tatsächlich. Sie hatte etwas zu Boden gelegt. Walker bückte sich, hob es auf und ließ es gedankenverloren durch seine Finger gleiten – ein rubinrotes Amulett. Wie seltsam … Wollte sie, dass er es an sich nahm? Es sah ganz danach aus. Aber weshalb? Walker zuckte mit den Schultern, ließ es in seiner Hosentasche verschwinden und ging zurück zum Lagerfeuer. Pedro war durch seinen Schrei geweckt worden und blickte ihn aus müden Augen an. Doch in seiner Hand lag eine Waffe. »Was ist los?«, fragte er. »Nichts«, gab Walker zurück und setzte sich ans Feuer. »Nur ir gendein Tier.« Pedro nickte. »Hierher ans Feuer wagen sie sich nicht.« Mit diesen Worten drehte er sich auf die andere Seite und schlief sofort weiter. Walker dagegen tat in dieser Nacht kein Auge mehr zu. Immer wieder hatte er das Gefühl, als würde irgendetwas das Lager um kreisen und ihn aus der Dunkelheit heraus beobachten. Aus glühenden Katzenaugen …
* Der Rest der Nacht verging ohne weitere nennenswerte Zwischen
fälle. Obwohl sich Walker am nächsten Morgen wie gerädert fühlte, brachten sie die übrige Strecke relativ schnell hinter sich. Statt der eigentlich geplanten fünf Stunden, waren es gerade einmal vier, bis sie die Lichtung erreichten, auf der das aus mehreren Zelten be stehende Forschungscamp eingerichtet war. Ihre Ankunft wurde schnell bemerkt. Ein junger, blonder Mann in khakifarbenen Shorts und einem beigen Hemd trat aus einem der Zelte und kam ihnen entgegen. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei ihm um Professor Ray Farnsworth, dem Leiter des Camps. Walkers Ankunft war ihm be reits per Funk von der Explorers Society angekündigt worden. Über den Grund seines Besuchs wusste er indes nichts. »Ich bin hier, um in einer dringender Angelegenheit mit Mr. Rock ford zu sprechen«, erklärte der Dämonenjäger. »Handelt es sich um einen Notfall?«, fragte Farnsworth besorgt. Er sah aus wie das Musterbeispiel eines kalifornischen BeachBoys. Blond, braungebrannt, durchtrainiert und von jener Sorte, von der man annahm, dass sie ihren College-Abschluss vor allem ihren sportlichen Leistungen zu verdanken hatten. Bei Farnsworth schien dieser äußere Eindruck jedoch zu täuschen. Nach allem, was Walker über ihn wusste, hatte er es hier mit einem äußerst kompetenten Biologen zu tun, der für sein Alter bereits eine beachtliche Anzahl renommierter Auszeichnungen eingeheimst hatte. Walker beantwortete seine Frage mit einem schnellen »Nein« und fügte hinzu: »Dennoch ist mein Anliegen von äußerster Wichtig keit.« Farnsworth schien zu akzeptieren, dass er keine weiteren Aus künfte geben wollte, und führte ihn ohne weitere Fragen zu stellen zu jenem Zelt, in dem der Milliardär während seiner Anwesenheit residierte.
Auf Farnsworths Ruf hin erschien ein älterer Herr mit dunklem Haar und dicker Brille im Eingang. Sein Blick ging am Professor vorbei, streifte die drei mexi kanischen Führer nur kurz und blieb dann an Walker hängen. »Ist das der Verrückte, der extra aus Europa angereist ist, nur um mit mir zu sprechen?«, fragte er. »Mein Name ist Dan Walker«, stellte sich der Dämonenjäger vor und reichte Rockford die Hand, die dieser sichtlich widerwillig er griff. Ohne jeden Zweifel war er misstrauisch bezüglich Walkers Motiven. Was dieser ihm nicht einmal verdenken konnte. Daher beschloss er, so dicht wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. »Ich komme im Auftrag des Vatikans«, erklärte er, »und wurde entsandt, um über ein christliches Relikt zu verhandeln, das sich in ihrem Besitz befindet.« Rockford rückte seine Brille etwas höher, trat zur Seite und bat sei nen Gast hinein. Walker vermutete, dass es weniger die Erwähnung seines Bröt chengebers war, die sein Misstrauen gesenkt hatte. Vielmehr war es wohl sein offenes Interesse an der Sammlung des Milliardärs, das den begeisterten Kunstsammler hatte hellhörig werden lassen. Nachdem Walker eingetreten war, schloss Rockford das Zelt hin ter ihnen. Es war äußerst geräumig und dazu noch gemütlich ein gerichtet. Der Kanadier bat seinen Gast, auf einem einfachen Campingstuhl Platz zu nehmen. »Na dann schießen Sie mal los«, forderte er ihn auf, nachdem auch er sich gesetzt hatte. »Es geht um einen Silberteller, genauer gesagt um zwei Teile da von, die sich in Ihrem Besitz befinden sollen.« Rockford ließ mit keiner Regung erkennen, ob dem tatsächlich so
war. »Sie werden wissen«, sprach Walker weiter, »dass es sich dabei um jenes sagenumwobene Tablett handeln soll, auf dem König He rodes dem alten Testament nach den Kopf von Johannes dem Täufer bringen ließ.« Rockford schwieg noch immer. »Der Vatikan bietet Ihnen eine wirklich großzügige Summe für das Relikt.« »Ausgeschlossen«, blaffte Rockford. »Der Teller ist unverkäuflich. Sie wissen nicht, was ich auf mich nehmen musste, um diese beiden Teile in meinen Besitz zu bringen.« »Wissen Sie denn, welche Bewandnis es mit dem Teller hat?« Falls Rockford es wusste, wollte er wohl dennoch hören, was Wal ker dazu zu sagen hatte, denn er sah ihn nur abwartend an. »Wer ihn besitzt, verfügt über die Fähigkeit, Kraft seiner Worte Macht auf die Massen auszuüben.« »Kindischer Aberglaube«, wies der Milliardär ihn zurecht. »Mich überrascht, dass die katholische Kirche etwas auf solch markt schreierischen Humbug gibt.« Walker sah ihn lange an. Die Empörung schien echt zu sein. Offen bar glaubte Rockford tatsächlich nicht an die magischen Eigen schaften des Tellers. Das wiederum machte einen möglichen Verhandlungserfolg unwahrscheinlicher. Wie, so fragte er sich, sollte er dem Milliardär begreiflich machen, welche Gefahr von dem Teller ausging, wenn er von vornherein nicht daran glaubte? Er wollte gerade zu einer Entgegnung ansetzen, als aufgeregte Schreie zu ihnen hereinschallten. Beide Männer sprangen gleichzeitig von ihren Plätzen auf. Walker war jedoch als Erster beim Zelteingang. Er zog den Reiß verschluss auf, wühlte sich durch die quadratische Öffnung – und
erstarrte. In der Mitte der Lichtung, knapp dreißig Meter vom Zelt entfernt, war die Hölle los. Walkers Blick fiel zunächst auf Pedro. Er war auf dem Boden zusammengebrochen und hatte sich beide Hände auf den Hals gepresst. Ein Schwall dunklen Blutes quoll zwi schen seinen Fingern hervor. Erst jetzt registrierte Walker die Kreatur, die wie ein Berserker über den Platz stürmte und dabei genau auf eine junge Frau zuhielt, die gerade mit einem Gewehr in der Hand aus einem der Zelte kam. Und obwohl sie den Lauf direkt auf den herannahenden Angreifer richtete, dachte dieser nicht einmal daran, auszuweichen oder in De ckung zu gehen. »Joanne!« Es war Rockford, der den Namen voller Panik rief. Kurz darauf knallte der Schuss. Der Angreifer ging unter der Wucht des einschlagenden Projektils zu Boden – jedoch nur, um sich sofort wieder zu erheben. Die Lady lud die Waffe mit einem ratschenden Geräusch durch, legte erneut an … Die nächste Kugel fuhr in die Brust des Rasenden. Wieder sackte er nach hinten. Und wieder vergingen keine drei Se kunden, bis er sich erneut auf die Beine stemmte. Dabei knurrte und fauchte er wie ein wildes Tier. Der Kerl hat kaum noch etwas Menschliches an sich, dachte Walker, während er bereits losrannte. Ein weiterer Schuss zerriss die Stille des Nachmittags. Und dieser Treffer – genau zwischen die Augen – schien auszurei chen, um ihm das Lebenslicht auszupusten. Wieder stürzte er zu Boden. Dieses Mal stand er nicht mehr auf. Schwer atmend kam Walker neben dem Leichnam zum Stehen.
Der Tote war auf die Seite gerollt. Der Dämonenjäger fasste ihn vorsichtig an der Schulter, drehte ihn herum und … Walker musste einen trockenen Kloß runterschlucken. Die Haut des Mannes war bläulich angelaufen, und an einigen Stellen seines Gesichts klafften tiefe Wunden, in denen sich Maden und Insekten eingenistet hatten. »Das ist James Tucker«, sagte Farnsworth keuchend, als er Walker erreichte. »Er ist einer unserer wissenschaftlichen Assistenten und wird seit drei Tagen vermisst.« Die junge Frau mit dem Gewehr kam zaghaft näher, den Lauf gesenkt, den Blick auf den Leichnam gerichtet. Sie hatte ein hüb sches, mädchenhaftes Gesicht mit einer kleinen Stupsnase. Ihr Haar war im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Mein Gott«, flüsterte sie. »Ich habe ihn getötet …« Walker blickte zu ihr auf und schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich diesbezüglich keine Sorgen, Ma’am. Dieser Mann ist schon vor einer ganzen Weile gestorben …«
* Wie Walker erfuhr, hieß die Frau Joanne Rockford, war Sam Rock fords Tochter, Farnsworths Verlobte und gleichzeitig seine Assis tentin. Pedro ging es den Umständen entsprechend gut. Er wurde in der medizinischen Station des Camps umgehend versorgt. Die Kreatur, die einmal James Tucker geheißen hatte, hatte ihre Zähne in wilder Raserei in seinen Hals geschlagen. Keiner konnte sich so recht erklären, was mit dem als freundlich und zuvorkommend bekannten jungen Mann geschehen war. Walker wusste es zumindest ansatzweise, hielt sich jedoch be
deckt. Tucker war zu einem Zombie mutiert, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Blieb die Frage, wer ihn dazu gemacht hatte. Nach Walkers Erfah rung wurden lebende Tote meist durch Menschenhand geschaffen, um irgendeiner fragwürdigen Sache zu dienen. Er war fest entschlossen, Licht ins Dunkel zu bringen. Aber nicht nur deshalb würde er seinen Aufenthalt im Camp verlängern. Nein, er hatte sich selbst von Anfang an darauf eingeschworen, nicht zu gehen, ehe er Rockford dazu gebracht hatte, ihm das Tablett zu verkaufen. Selbst wenn dazu noch Tage schweißtreibender Verhandlungen nötig waren. Pedro, der sich zwar auf dem Weg der Besserung befand, aber längst nicht transportfähig war, würde ohnehin noch hier bleiben müssen. Juan und Ricardo, die beiden anderen Scouts, waren dagegen nach den jüngsten Ereignissen erst recht entschlossen, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Sie erklärten sich je doch bereit, Walker von hier abzuholen, sobald dieser bereit dazu war. Bei einem gemeinsamen Abendessen in Farnsworths Zelt, erhielt der Gesandte des Vatikans die Gelegenheit, seinen Gastgeber etwas näher kennen zu lernen. Er erfuhr allmählich Einzelheiten über den Forschungsauftrag, der den Biologen an diesen Ort geführt hatte. Joanne Rockford war die erste, die Andeutungen darüber fallen ließ. Und obwohl Farnsworth sie zunächst mit einem strengen Blick ermahnte, war auch er mit fortschreitender Stunde zunehmend be reit, seinen Gast einzuweihen. Walker wusste nicht, was die Herren der Explorers Society dem Professor über ihn erzählt hatten, doch es hatte offenbar dazu ge führt, dass man ihm Vertrauen entgegenbrachte. »Offiziell dient dieses Camp der Erforschung seltener Pflanzen und ihres möglichen Nutzens für die Medizin«, erklärte Farnsworth
verschwörerisch, nachdem Rockford und seine Tochter sich bereits verabschiedet hatten und zu Bett gegangen waren. »Doch es gibt noch einen anderen Grund, weshalb wir unsere Zelte ausgerechnet an dieser Stelle des Dschungels aufgeschlagen haben.« Er zögerte, und genoss sichtlich Walkers Blicke, der gebannt auf ihm ruhte. »Haben Sie schon einmal etwas von dem Volk der Puma-Men schen gehört, Mr. Walker?« Der verneinte. Aber vielleicht habe ich eine aus diesem Volk gesehen … »Es handelt sich dabei um einen sagenumwobenen Stamm mexi kanischer Ureinwohner, der irgendwo in der Nähe beheimatet sein soll. Der Legende nach geht der gesamte Stamm auf einen in dianischen Krieger zurück, der bei der Jagd von einem Puma angefallen und schwer verletzt wurde. Seitdem, so heißt es, habe er die Gabe besessen, sich selbst in ein Mischwesen zu verwandeln – halb Mensch halb Puma. Diese Eigenschaft habe er an seine Nach kommen weitergegeben.« »Ein Werpuma also …«, murmelte Walker, während das Bild jenes Mädchens, das ihm die Nacht zuvor begegnet war, vor seinem in neren Auge auftauchte. »Wenn Sie so wollen … Darüber hinaus sollen diese Wesen über telepathische Fähigkeiten verfügen.« Farnsworth lächelte schief. »In diesem Landstrich gibt es viele Sagen und Legenden«, sagte Walker schnell. »Die Menschen sind hier stärker mit der Welt der Geister und Dämonen verbunden, als in Europa oder Nordamerika.« »Das mag sein«, gab Farnsworth zurück. »Doch mit den PumaMenschen verhält es sich anders.« Walker signalisierte sein Interesse an einer weiterführenden Erklä rung, indem er die linke Augenbraue hob. »Es geschah vor nicht ganz einem Jahr, dass ich selbst einem von
ihnen begegnete. Damals durchquerte ich dieses Gebiet während einer Forschungsreise, die mich in nördlichere Regionen führen sollte. Eines Abends schlugen wir ganz in der Nähe unsere Zelte auf, um die Nacht hier zu verbringen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich von einem merkwürdigen Geräusch geweckt wurde. Rasch zog ich mich an, verließ mein Zelt – und da sah ich es. Ein seltsames Wesen, das aufrecht ging, jedoch am ganzen Körper be haart war und deutliche Merkmale eines Pumas aufwies. Bevor ich etwas unternehmen konnte, war die Kreatur auch schon im Dschungel verschwunden.« Walker gab sich Mühe, den Ungläubigen zu spielen. Einen Moment lang überlegte er, ob er Farnsworth von seinem Erlebnis von letzter Nacht erzählen sollte, entschied sich jedoch aus irgend einem Grund dagegen. »Deshalb also haben Sie dieses Forschungscamp errichtet?«, fragte Walker. »Um auf den Spuren der Puma-Menschen zu wandeln.« »Können Sie sich vorstellen, welch eine Sensation es wäre, ein sol ches Wesen lebendig zu fangen? Seit meinem Erlebnis bin ich fest entschlossen, genau dieses zu vollbringen. Ich werde nicht von hier weichen, ehe ich mein Ziel erreicht habe.« »Können Sie denn schon einen Teilerfolg vorweisen?«, erkundigte sich der Dämonenjäger. »Haben Sie, seit Sie hier sind, eines dieser Wesen gesehen?« »Leider nein«, knurrte der Professor und wirkte dabei sichtlich zerknirscht. »Wir haben lediglich Spuren gefunden, die von einem oder mehreren von ihnen stammen könnten. Sie alle …« Farnsworth stoppte, als der Eingang des Zeltes plötzlich auf gerissen wurde, und ein junger Mann roten Haaren und blasser Haut hereinstürmte. »Entschuldigen Sie, Professor«, bat dieser. »Aber es ist wirklich dringend.« »Schießen Sie los«, sagte Farnsworth ungehalten.
»Es ist wegen Rick Harris. Er ist seit heute Nachmittag spurlos verschwunden. Er wollte in den Wald, um die Fallen zu kon trollieren. Erst jetzt habe ich bemerkt, dass er noch immer nicht zu rück ist.« »Ich werde mich darum kümmern«, versprach Farnsworth und stand auf. »Entschuldigen Sie mich, Mr. Walker. Wenn Sie nichts dagegen haben, setzen wir unser Gespräch morgen fort.« Walker nickte, doch sein Blick verdüsterte sich. Zwei Vermisste innerhalb weniger Tage! Der erste, dieser James Tucker, war als seelenloser Zombie zurück gekehrt. Stand Harris dasselbe Schicksal bevor? Und was hatte es mit diesen mysteriösen Puma-Menschen auf sich? Hatten sie etwas mit der Sache zu tun? Gleich morgen früh, beschloss Walker, würde er sich daran ma chen, dem Busch sein Geheimnis zu entreißen …
* Walker erklärte sich dazu bereit, sich an der Suche nach Rick Harris zu beteiligen. Schon in der Nacht hatte eine erste Suchmannschaft die Gegend in unmittelbarer Nähe um das Camp erfolglos durch kämmt. Jetzt, bei Tageslicht, standen die Chancen sicherlich besser, den jungen Mann aufzuspüren. Auch wenn wenig dafür sprach, ihn noch lebend zu finden. Dass er sich verlaufen hatte, war nach Mei nung seiner Kollegen höchst unwahrscheinlich. Harris kannte den Busch wie seine Westentasche und hätte den Weg zurück ins Camp vermutlich mit verbundenen Augen gefunden. Nein, Walker hegte nicht als Einziger die Vermutung, dass dem jungen Mann etwas zugestoßen sein musste.
Gefahren lauerten im Dschungel auf Schritt und Tritt. Gefährliche Tiere, giftige Pflanzen … Es war sogar denkbar, dass er in eine jener Fallen getappt war, die seine Kollegen für die PumaMenschen aufgestellt hatten. Diese wurden auch als Erstes kon trolliert – ohne Erfolg. Schließlich wurde beschlossen, die Gegend in Zweiergrüppchen zu durchforsten. Walkers Partner hörte auf den Namen Sean Lancaster, stammte aus England und war Student der Biologie im sechsten Semester. Er war hier, um im Forschungscamp von Professor Farnsworth ein dreimonatiges Praktikum zu absolvieren, und würde bereits in wenigen Wochen die Heimreise nach London antreten. Gemeinsam nahmen sie einen gut befestigten Pfad, der vom Camp aus schnurstracks in südliche Richtung durch den Busch führte. Sie waren seit fast drei Stunden unterwegs und riefen dabei immer wieder laut den Namen des Vermissten, als Sean plötzlich innehielt und um eine Verschnaufpause bat. »Wir sollten ohnehin allmählich an den Rückweg denken«, meinte Walker. Sie hatten mit den anderen vereinbart, sich um fünf Uhr Nachmit tag im Lager zu treffen. »Ich gehe noch ein Stück weiter«, schlug der Dämonenjäger vor. »Wenn du willst, kannst du hier auf mich warten. Es wird nicht lange dauern.« Sean war einverstanden – und Walker war nicht gerade unglück lich darüber, den Jungen für eine gewisse Zeit loszusein. Weit kam er allerdings nicht. Bereits nach fünf Minuten wurde der Pfad, den Farnsworth und seine Leute angelegt hatten, zunehmend unwegsamer, sodass sich Walker ein ums andere Mal gezwungen sah, die Machete zu Hilfe zu nehmen. Er war schon kurz davor umzukehren, als er eine huschende Be
wegung im Augenwinkel bemerkte. Er wirbelte herum und sah ge rade noch einen Schatten am Rande des Weges, der im selben Moment im Dickicht verschwand. Walker stürmte los. Er war fest entschlossen, die Gestalt nicht ent kommen zu lassen. Denn so kurz er sie auch gesehen hatte, eines hatte er doch sehr deutlich erkannt: das bräunliche Fell, das den fast völlig unbekleide ten Körper bedeckte und das fest mit der Haut verwachsen zu sein schien. Wie ein Beserker hieb Walker seine Machete in das DschungelDickicht und bahnte sich so seinen Weg. Und tatsächlich tauchte der Puma-Mann immer wieder wenige Meter von ihm entfernt auf, um sich sogleich wieder umzudrehen und zu fliehen. Fliehen? Es war vielmehr so, als würde er versuchen, den Dämonenjäger immer tiefer in den Wald zu locken. Aber weshalb? Walker konnte nicht sagen, was für eine Strecke er zurückgelegt hatte, als die Vegetation plötzlich spärlicher wurde. Er blieb stehen und schaute sich um. Erst auf den zweiten Blick erkannte er die Reste einer Ruine, die fast komplett von Pflanzen überwuchert war. Eine Pyramide! Walker ließ die Machete sinken und ging langsam auf das Gebäu de zu. Hatte ihn der Puma-Mann darauf aufmerksam machen wollen? Mit andächtigem Blick trat der Dämonenjäger vorbei an steinernen Säulen und moosbewachsenen Mauern. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann hatte er es hier mit einem Bau werk der Azteken zu tun. Der stufenförmige Aufbau des Gebäudes, sowie die Götterstatuen, die sich teils umgestürzt, teils aufrecht dar
um befanden, ließen daran kaum einen Zweifel. Walker wusste zu dem, dass die Azteken einmal in dieser Gegend angesiedelt gewesen waren. Dennoch war irgendetwas merkwürdig … Im nächsten Moment wusste Walker auch, was es war. Es war diese Totenstille, die über allem lag. Kein Vogelgezwitscher, kein Rascheln von kleinen Tieren, die durch das Unterholz huschten – als sei die gesamte Lichtung unter einer Käseglocke verborgen, die sie von allen Geräuschen des Waldes abschottete. So leise wie möglich, die Hand am Griff seiner Magnum, um rundete Walker die Ruine, stets darauf gefasst, hinter der nächsten Ecke auf einen oder mehrere der mysteriösen Puma-Menschen zu stoßen. Nichts dergleichen geschah. Stattdessen entdeckte er eine rechte ckige Öffnung, die auf der Rückseite der Pyramide ins Innere führte. Walker spähte vorsichtig hinein, doch die Dunkelheit war bereits nach wenigen Schritten so undurchdringlich, dass nicht das Geringste zu erkennen war. Also zog er sein Feuerzeug hervor, schnippte es an und hielt es am ausgestreckten Arm durch die Öff nung. »Seltsam …«, murmelte er. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass der Lichtkreis, den die Flamme um sich zog, kleiner war, als er eigentlich hätte sein müssen. Es war, als würde irgendetwas das Licht absorbieren, das durch die Öffnung fiel. Dennoch reichte es gerade aus, um den winzigen Raum notdürftig zu erhellen, und Walker entdeckte eine weitere Öffnung in der gegenüberliegenden Wand. Er ließ seinen Blick noch einmal über die Umgebung schweifen, dann trat er durch die Öffnung. Momente später fand er sich in
einem engen Gang wieder, der schnurstracks ins Innere der Pyrami de führte. Ein modriger Hauch wehte ihm ihn entgegen. Er war so kalt wie aus einem Kühlraum. Walker hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Aber er ging trotz dem vorsichtig weiter und erreichte nach etwa zwanzig Schritten einen weiteren Durchgang, der in einen quadratischen Raum führte. Sein Blick fiel als Erstes auf die riesige Götzenstatue, die an der gegenüberliegenden Wand vom Boden bis zur Decke ragte. Das fratzenhafte Antlitz ähnelte dem eines Schakals mit weit auf gerissenem Maul und gefletschten Zähnen. Er schien lebendig, be wegte sich – aber das lag nur am flackernden Licht des Feuers. Doch so schaurig dieser Anblick auch war, er war nichts gegen das, was sich unterhalb der Statue befand. Ein steinerner Altar, etwa einen halben Meter hoch. Auf ihm lag, an Händen und Füßen gefesselt, ein menschlicher Körper. Schnellen Schrittes überwand Walker die wenigen Meter bis zum Altar. Es handelte sich um einen jungen Mann. Und obwohl er nicht wusste, wie Rick Harris genau aussah, war er sich in diesem Moment doch ziemlich sicher, den Vermissten gefunden zu haben. Er war tot, daran gab es keinen Zweifel. Seine rechte Schläfe war eingedrückt. Irgendjemand hatte ihm mit einem Stein den Schädel zerschmettert. Walker atmete zischend aus. Ihm war durchaus bekannt, dass Menschenopfer bei den Azteken an der Tagesordnung gewesen waren. Neu war jedoch, dass dieser Brauch noch heute praktiziert wurde. Die Puma-Menschen!, ging es ihm unwillkürlich durch den Kopf. Steckten sie etwa dahinter? Aber weshalb hatten sie ihn dann hierher gelockt?
Ein kalter Schauer kroch über Walkers Nacken, als ihm die einzig logische Erklärung in den Sinn kam – wenn sie bereits zwei Männer aus dem Camp geopfert hatten, würde der Dritte nicht lange auf sich warten lassen … Walker fuhr herum, die Magnum im Anschlag. Für einen Moment war er davon überzeugt gewesen, leise Schritte zu hören, die sich ihm von hinten näherten. Offensichtlich er hatte sich getäuscht. Er war noch immer allein in dem großen, nur von der kleinen Flamme in seiner Hand erhellten Raum. Langsam drehte er sich wieder um, blickte wieder auf den Leich nam – und erstarrte. Der Tote hatte die Augen geöffnet und starrte ihn an! Walker wich zurück. Rick Harris’ Blick war leer und seelenlos. So, als sei der Körper nur noch eine Hülle, der alles Menschliche geraubt worden war. Genau wie bei Tucker … Walker richtete den Lauf der Magnum auf die Stirn des Zombies. Aus dessen Kehle rollte ein heiseres Knurren. Der Finger des Dämonenjägers krümmte sich langsam um den Abzug, hielt jedoch im letzten Moment zögernd inne … Gerade eben, nur ganz kurz, erkannte Walker hinter der Fratze das Antlitz des Menschen, der der Zombie bis vor kurzem noch ge wesen war. Da bäumte sich die Kreatur brüllend auf und … Walker drückte ab. Die Kugel fuhr mitten in die Stirn des Untoten, schleuderte ihn zu rück auf den Altar, wo er regungslos liegen blieb. Tief durchatmend steckte Walker die Magnum wieder ein. Wer auch immer hinter diesem grausamen Treiben steckte, er
musste ihn finden und unschädlich machen. Der Dämonenjäger drehte sich um, um den Raum zu verlassen – als etwas auf dem Boden neben dem Altar im Licht des Feuerzeugs aufblitzte. Er ging in die Hocke, griff nach dem metallenen Gegenstand, der dort lag, und hob ihn auf. Es war ein silbernes Armband, das Walker schon auf den ersten Blick bekannt vorkam. Wo habe ich dich nur bereits gesehen?, überlegte er. Da fiel es ihm auch schon ein. Am Handgelenk von Ray Farnsworth! Walker war sich ganz sicher, dass der Professor das Schmuckstück noch gestern Abend beim Essen getragen hatte. Er musste also nach dem Verschwinden von Rick Harris hier ge wesen sein. Was das wiederum bedeutete, konnte sich Walker mühelos an zwei Fingern abzählen – er hatte seinen Mörder!
* Erst als er den Tempel verließ, wurde Walker bewusst, wie spät es mittlerweile geworden war. Die Sonne stand bereits tief am Himmel, als er und Sean Lancaster das Lager erreichten. Dort angekommen machte sich der Dämonenjäger umgehend auf, Farnsworth zu suchen, um ihn zur Rede zu stellen. Doch der Professor war wie vom Erdboden verschluckt. Sein Zelt, in dem ihn seine Mitarbeiter vermuteten, war verlassen. Es fehlte jede Spur von ihm. Walkers letzte Hoffnung war das Zelt von Samuel Rockford, aber
abgesehen von dem Milliardär selbst befand sich niemand dort. »Ray ist verschwunden, sagen Sie?«, vergewisserte sich der Ka nadier und zog die Stirn in Falten. »Sieht ganz danach aus.« Walker bemerkte die Sorge, die sich auf den Gesicht seines Gegenübers abzeichnete. Und er erfuhr auch den Grund dafür. »Joanne ist bei ihm«, sagte Rockford. »Sie wollte ihn in seinem Zelt treffen.« Verdammt! Es fiel Walker schwer, den Fluch, der sich in seinen Ge danken formte, zu unterdrücken. Wenn sowohl Farnsworth als auch Joanne das Camp gemeinsam verlassen hatten, dann gab es eigentlich nur noch eine Möglichkeit. Walker hoffte, dass er die beiden noch rechtzeitig einholen würde, um das Leben der jungen Frau zu retten …
* »Wollen Sie mir nicht endlich verraten, was das alles zu bedeuten hat?«, knurrte Rockford, als sie sich der Tempelruine im Schutz der Dunkelheit näherten. Der Milliardär hatte darauf bestanden, Walker zu begleiten. Alles, was er bislang wusste, war, dass es um Joanne ging, die spurlos verschwunden war. Walker war es nicht gelungen, Rockford davon zu überzeugen, im Camp zu bleiben. Ich hätte darauf bestehen sollen, dachte er. Der Milliardär war der reinste Klotz am Bein. »Seien Sie still!«, zischte Walker. »Wenn Ihnen das Leben Ihrer Tochter auch nur einen Cent wert ist, dann spielen Sie ab jetzt Mäus chen.«
Es waren harte Worte, aber Walker sah keine andere Möglichkeit, Rockford zum Schweigen zu bringen. Tatsächlich verfehlten sie ihre Wirkung nicht. Der Milliardär ver stummte augenblicklich und trottete von da an brav hinter ihm her. Der Eingang des Tempels stand noch immer offen. Walker spielte kurz mit dem Gedanken, Rockford darum zu bitten, vor dem Eingang zu warten, verwarf die Idee jedoch sofort wieder. Ihm fehlte die Zeit, um sich mit dem alten Sturkopf herum zustreiten. Im Moment war jede Sekunde kostbar. Denn jede konnte die letzte im Leben von Joanne Rockford sein. Der Dämonenjäger war sich noch immer nicht sicher, was genau das alles zu bedeuten hatte. Seine Erfahrung ließ ihn vermuten, dass der Professor aus irgendeinem Grund in den Bann einer ominösen Gottheit geraten war und ihr Menschenopfer darbrachte. Vermut lich wurden den Opfern in einer rituellen Zeremonie die Seelen ent rissen, sodass sie zu blutgierigen Zombies mutierten. Etwas Ähnliches hatte Walker schon vor zwei Jahren auf Sumatra erlebt, wo er den Kult eines Schlangengottes zerschlagen hatte … Bereits als sie den kleinen Vorraum des Tempels betraten, sah Walker den Lichtschein, der schwach aus dem Gang dahinter si ckerte. Er warf Rockford noch einen strengen Blick zu, dann rannte er mit gezogener Magnum weiter den Gang entlang. Fünf Schritte vom Eingang des Altarraums entfernt stoppte er und tastete sich nur noch ganz langsam vorwärts. Bereits aus einiger Entfernung fiel sein Blick auf die Gestalt, die sich hinter dem Altar und vor der Götzenstatue aufgebaut hatte – Joanne Rockford! Was, zum …, schoss es Walker durch den Sinn. Sie sah keineswegs aus wie ein wehrloses Opfer. Ganz im Gegen teil.
Sie war völlig nackt, hatte die Arme nach vorn gestreckt und hielt mit beiden Händen einen Opferdolch, dessen Spitze genau auf die Brust des Mannes zeigte, der gefesselt unter ihr auf dem Altar lag. Ray Farnsworth! Walker konnte hören, wie der Professor hektisch auf sie einredete. Was er jedoch sagte, war nicht zu verstehen. Joanne ließ sich davon jedenfalls nicht beeindrucken. Ihre Augen waren geschlossen, während sich ihre Lippen wie bei einem stum men Gebet bewegten. Ihr Haar, zuvor zu einem Pferdeschwanz ge bunden, war jetzt offen und fiel glatt auf ihre Schultern. Im warmen Kerzenlicht, das ihren nackten Körper umschmiegte, sah sie aus wie eine Königin der Finsternis. »Was ist da los?«, zischte Rockford, der nun nicht mehr an sich halten konnte. »Ich kann nichts erkennen.« Das ist auch gut so, dachte Walker bei sich. Der Anblick seiner Tochter, die als aztekische Hohepriesterin kurz davor stand, ihren Verlobten einer dunklen Gottheit zu opfern, hätte ihn womöglich ein klein wenig überfordert. Walker bedeutete ihm zurückzubleiben, und Rockford nickte grimmig. Der Dämonenjäger pirschte sich weiter vor, blieb dann im Eingang stehen. Joanne schien ihre Beschwörungsformel beendet zu haben. Sie ver stummte, öffnete die Augen. Ihre Armmuskeln spannten sich, um den Dolch in die Brust ihres Verlobten zu rammen … Da fiel ihr Blick auf Walker – und auf die Waffe, deren Mündung genau auf sie zeigte. »Lassen Sie den Dolch fallen, Joanne!«, befahl Walker. »Sie wissen nicht, was Sie da tun.« Die junge Frau sah ihn sekundenlang nur an. Nein, durch mich hindurch! Walker war sich sicher, dass in diesem
Moment nicht sie die Herrin über ihr Handeln war. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass sich der Bann, unter dem sie of fensichtlich stand, nicht so einfach würde brechen lassen. Vielleicht gelang es ihm, sie noch eine Weile hinzuhalten, aber dann … Und wenn die einzige Möglichkeit, sie zu stoppen, darin besteht, ihr eine Kugel zu verpassen …? Der Gedanke gefiel dem Dämonenjäger gar nicht. Joannes kurzzeitige Irritation wich einer neuen Entschlossenheit. Ihr Körper spannte sich an, als sie den Dolch fester umklammerte. Sie reckte ihn hoch in die Luft, holte aus … Walkers Gedanken rasten. Er konnte den Raum stürmen und ver suchen, ihr den Dolch zu entwinden. Bis er sie erreicht hatte, blieb Joanne jedoch genügend Zeit, um ihren Verlobten dem Dolch gleich dreimal in die Brust zu rammen. Plötzlich spürte Walker ein Brennen am rechten Oberschenkel. Sei ne Linke fuhr in seine Hosentasche – und wäre fast zurückgezuckt, als seine Fingerkuppen den glühend heißen Gegenstand darin be rührten. Das Amulett der Puma-Frau! Der rubinrote Stein hatte sich in Sekundenschnelle so sehr erhitzt, dass es Walker kaum möglich war, ihn zu berühren. Er tat es dennoch, packte das Amulett und riss es hervor, wobei er den glühenden Schmerz ignorierte, der ihn durchzuckte. Die Gefahr geht von der Schakal-Statue aus. Da war sich Walker fast sicher – fast! In hohem Bogen schleuderte er das Amulett mit dem glühenden roten Stein in das aufgerissene Maul des Götzen. Ein gleißendes Licht zuckte durch den Altarraum. Walker jaulte vor Schmerz auf, als er plötzlich geblendet wurde. Es fühlte sich an, als würde man ihm mit glühenden Nadeln die Augen ausstechen. Er presste die Hände vors Gesicht und wandte
sich ab. Endlich kehrte die Dunkelheit zurück, und der Dämonenjäger schaute sich vorsichtig um. Noch immer tanzten helle Sterne vor sei nen Augen. Joanne war hinter dem Altar zusammengebrochen. Nur Kopf und Oberkörper lugten dahinter hervor. Farnsworth wirkte noch immer verwirrt, war jedoch ansonsten unversehrt. Walker lief zu ihm und befreite ihn von seinen Fesseln. »Kümmern Sie sich um Ihre Verlobte«, bat er und deutete auf ihre Kleider, die fein säuberlich neben dem Altar aufgeschichtet waren. »Ziehen Sie ihr das über. Und dann nichts wie raus hier!« Das ließ sich Farnsworth nicht zweimal sagen!
* »Werde ich irgendwann einmal verstehen, was in dieser Nacht passiert ist?«, fragte Farnsworth, als er, Walker und Rockford am nächsten Morgen in seinem Zelt beisammen saßen. »Wenn es so weit ist, dann erklär es mir bitte auch!«, knurrte der Milliardär und nippte an seinem Kaffe. Walker lächelte und winkte ab. »Alles was Sie verstehen müssen ist, dass Joanne nicht aus eigenem Antrieb gehandelt hat. Sie stand unter dem Einfluss einer fremden Macht. Machen Sie ihr also bitte keinen Vorwurf.« Farnsworth nickte. »Ich war vorhin bei ihr. Sie kann sich an nichts erinnern. Sie sagte, die letzten Tage seien komplett aus ihrem Ge dächtnis getilgt.« Und das ist auch gut so, fügte Walker in Gedanken hinzu. »Auf jeden Fall schulde ich Ihnen was«, erklärte Rockford schließ lich. »Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann …«
»Oh, da würde mir schon etwas einfallen«, entgegnete Walker mit lauerndem Blick. Rockford seufzte. »Ist ja schon gut. Sie können das verdammte Tablett haben. Holen müssen Sie es sich allerdings selbst. Es be findet sich auf meinem Anwesen im Norden Kanadas … Ich werde Ihnen eine Vollmacht zur Vorlage bei meinem Personal ausstellen. Dieses wird ihnen die Reliquie aushändigen.« Walker bedankte sich und saß in Gedanken bereits im nächsten Flieger. Kanada … Wenigstens eine angenehme Abwechslung nach dieser verfluchten Hitze, dachte er. Er ahnte dabei noch nicht, wie schweißtreibend seine Reise wirklich werden würde …
Epilog Walker schrak aus leichtem Schlaf hoch und schaute sich um. Er lag noch immer in seinem Zelt einige Meilen westlich des Camps, wo er und seine drei Scouts Zwischenstation machten. Ir gendetwas hatte ihn geweckt. Er schälte sich aus seinem Schlafsack und trat nach draußen. Ricardo, der eigentlich Wache halten sollte, war eingenickt und schnarchte in ohrenbetäubender Lautstärke. Doch das war es nicht, was den Dämonenjäger aus dem Schlaf gerissen hatte. Im Augenwinkel bemerkte Walker einen Schatten, fuhr herum – und sah sie! Die Puma-Frau, die ihm bei der Anreise jenes Amulett gegeben hatte, dass sich zuletzt als so überaus nützlich erwiesen hatte. Walker hob seine Rechte zum Gruß, und sie erwiderte die Geste. »Du und dein Stamm, ihr behütet den Tempel, nicht wahr?«, frag te er mit halblauter Stimme. Das Mädchen reagierte nicht, aber Walker hatte auch gar nicht da mit gerechnet, dass sie ihn verstand. Trotzdem sprach er weiter. »Ihr versucht, die Menschen davon fernzuhalten, indem ihr ihnen in eurer Tiergestalt gegenübertretet.« Jetzt bildete er sich ein, ein leichtes Nicken wahrzunehmen. »Bei den Einheimischen hat das ja auch hervorragend geklappt«, fügte er hinzu. »Leider habt ihr den Forschungsdrang der Weißen unterschätzt. Sie habt ihr mit eurer Gegenwart erst angelockt.« Das Mädchen senkte den Blick. Wir haben schon bei deiner Ankunft gespürt, dass du etwas Besonderes bist. Die tonlose Stimme klang urplötzlich in seinen Kopf auf, wie ein Teil seiner eigenen Gedanken.
Telepathie!, dachte Walker. Damit wäre auch dieser Teil der Legende bestätigt … »Danke«, sagte er. Doch sie drehte sich bereits um und verschwand schnellen Fußes im Dickicht des Dschungels … Fortsetzung folgt